Andy Green
Kate & Leopold
Roman
Based on the screenplay KATE LEOPOLD by James Mangold
Copyright © 2001 Miramax Fil...
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Andy Green
Kate & Leopold
Roman
Based on the screenplay KATE LEOPOLD by James Mangold
Copyright © 2001 Miramax Film Corp.
All rights reserved.
This translated edition published by arrangement with Hyperion
Ungekürzte Lizenzausgabe
der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH
und der angeschlossenen Buchgemeinschaften
Copyright © 2002 Burgschmiet Verlag GmbH & Co. KG,
Burgschmietstraße 2-4, 90419 Nürnberg
Satz: Reiner Swientek Fotosatz
Einbandgestaltung: HildenDesign, München/Andrea Barth
Einbandfoto: © Twentieth Century Fox
Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck
Printed in Germany 2002
Buch-Nr. 002616
www.derclub.de
www.donauland.at
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Unaufhaltsam schritten die Zeiger der Kirchturmuhr voran, angetrieben von einem Uhrwerk, das für die Menschen so unsichtbar war wie die Zeit selbst und von derselben gnadenlosen Verlässlichkeit wie diese. Noch eine Minute bis drei Uhr. Eine Minute näher der Ewigkeit, wie manch einer in den Straßen des alten New York zu sagen pflegte, wenn sein Blick hinauf zur Turmuhr der Trinity Church ihm das Verrinnen der Zeit bewusst machte. Eine Minute, die so unwiederbringlich sein würde wie die unnennbare Zahl von Stunden, Minuten und Sekunden, welche seit dem Anbeginn der Zeit verflossen waren. Unwiederbringlich... Der Minutenzeiger schritt voran, gehorsam folgte der Stundenzeiger ihm auf seiner Bahn. Die Turmuhr schlug an, erst viermal, um die volle Stunde, dann dreimal, um die Zahl der Stunden nach Mittag anzuzeigen. Ihr Klang hallte über das gesamte Lower Manhattan des Jahres 1876 hinweg, übertönte sogar das Gerumpel der Kutschen, Karren und Handwagen auf dem Kopfsteinpflaster, drang in die Betriebsamkeit der Menschen ein, die seiner freilich so wenig achteten wie ihrer eigenen Vergänglichkeit. Sogar bis an das Ufer des East River drang der Klang der Glocke, wo sich eine Vielzahl von Würdenträgern der Stadt um eine Rednertribüne versammelt hatte, auf der ein bärtiger Mann mit von Stolz geschwellter Brust und in emphatischem Ton eine Rede hielt. Aber eigentlich war nicht er die Hauptattraktion, sondern die im Entstehen begriffene Brücke hinter ihm. Zwei riesige Pfeiler, auf denen sich gotische Doppelbögen erhoben, ragten hoch in die Luft, einer auf jeder Seite des East River. Ihre Fertigstellung galt es mit diesem Festakt zu feiern. Diese Brücke wollte mehr sein als die Verbindung der beiden Städte New York und Brooklyn. Sie sollte 5
die Brücke in eine neue Zeit sein und der Nachwelt unauslöschlich jene New Yorker in Erinnerung rufen, die nicht nur Mut und Selbstbewusstsein besessen hatten, sondern auch eine Vision. John August Roebling, der die gewaltige Hängebrücke entworfen hatte und sie nun vom Podium herab voller Pathos pries, war seinen Mitbürgern auf dem Weg in die neue Zeit vorangegangen. Sein starker deutscher Akzent, den er auch nach vielen Jahren in der neuen Heimat nicht hatte ablegen können, nahm seiner Rede nichts von ihrer Wirkung, und selbst wenn er sich manchmal in der Wortwahl vergriff, sah man nachsichtig darüber hinweg. „Es heißt von der Zeit, sie sei die vierte Dimension", rief er aus, „doch für uns Sterbliche hat die Zeit keine Dimension. Wir sind wie Pferde mit Scheuklappen. Wir sehen nur, was unmittelbar vor uns liegt, wir versuchen, die Zukunft vorherzusagen und formen aus der Vergangenheit das, was wir Geschichte nennen. Wie, so werden Sie fragen, kann der Mensch seine Grenzen überwinden? Wie kann er seine ach so beschränkte Gegenwart hinter sich lassen und sich ruhmvoll im Kontinuum der Zeit verewigen? Ich werde es Ihnen verraten, meine Damen und Herren!" Roebling kostete den Moment gespannter Erwartung aus, sein Blick glitt über die versammelte Menge, verharrte vor allem auf seinen Gegnern, die das Projekt zu hintertreiben versucht hatten und die nun Zeugen seines großen Triumphes sein mussten. Denn dass es ein Triumph war, daran gab es nicht mehr den Hauch eines Zweifels. Die Brooklyn Bridge würde noch hier sein, wenn sie alle schon längst die feuchte Erde bedeckten. „Der Mensch kann seine Beschränkung nur durch eines überwinden", nahm er seinen vorherigen Gedanken wieder auf, „durch seine Errungenschaften und seine Schöpfungen." Applaus brandete auf, Rufe der Zustimmung erklangen. Sogar die Arbeiter auf den Brückenpfeilern, die die Stahlseile befestigten, hatten den Worten des großen Konstrukteurs gelauscht und klatschten nun laut Beifall. „Ausgezeichnet", sagte auch der junge Mann, der am Rande der Zuhörerschaft stand und als Einziger jedes Wort mitgeschrieben hatte. Bereits auf den ersten Blick war zu erkennen, dass er ein 6
Edelmann war, nicht nur aufgrund seiner Kleidung, sondern auch an der Tatsache, dass er einen persönlichen Diener an seiner Seite hatte. Der Name des Edelmannes: Leopold, Duke of Albany. Leopold war so fasziniert von den Worten des von ihm hochverehrten deutschen Ingenieurs, dass ihm die verstohlenen Blicke der Damen, denen seine elegante Erscheinung die einzige wohlgefällige Abwechslung in dieser für sie ansonsten völlig langweiligen Veranstaltung bot, gänzlich entgingen. Er indes schrieb unablässig auf seinem Block, ließ den Federkiel mit flinker Hand über das Papier gleiten, um nur ja keines der inspirierten Worte verlustig zu gehen, unterbrach nur, um die Feder in dem Tintenfass in seiner Westentasche neu mit Tinte zu füllen. „So wie die Pyramiden die ägyptische Kultur unvergänglich gemacht haben", fuhr John Roebling unterdessen fort, „so wird dieses Bauwerk bis ans Ende der Zeiten an unsere Kultur erinnern! Denn siehe, dies wird die größte Erhebung auf diesem Kontinent, die größte Erhebung unserer Zeit, ja sogar die größte Erhebung auf der Erde werden!" Damit war John Roebling am Ende seiner Rede. Er verneigte sich kurz, während eine Blaskapelle zu spielen begann. Die Menge applaudierte begeistert, hinter den Ehrengästen hatten sich auch viele der Arbeiter versammelt, die „Bravo!" riefen und ihre Hüte in die Luft warfen. Wieso aber stimmte Leopold nicht in den allgemeinen Jubel ein? Ausgerechnet er, dem John Roeblings Worte so tief aus dem eigenen Herzen gesprochen gewesen waren? Er starrte nur einen Mann an, der ein Stück entfernt von ihm stand und vor Vergnügen lachte. Dann hielt er etwas, das Leopold nicht erkennen konnte, an seinen Mund und sprach ein paar Worte. Mit niemandem, nur mit sich selbst. Wer war dieser Mann? Ein Spion? Ein Saboteur? Da bemerkte der Fremde, dass er beobachtet wurde. Statt zu grüßen, wie es sich geziemt hätte, trat er ein paar Schritte zurück und versuchte so, in der Menge unterzutauchen. Leopold bedurfte keines weiteren Beweises: Dieser Mann führte nichts Gutes im Schilde. Leopold drückte seinem bereits ergrauten Diener Otis Block, 7
Feder und Tintenfass in die Hände und machte ein paar Schritte auf den Unbekannten zu. Doch in diesem Moment flammte ein greller Blitz vor ihm auf, blendete seine Augen und ließ ihn zurückschrecken. Im nächsten Moment erfüllte ein beißender Geruch die Luft. „Für den Herold, Euer Gnaden", sagte ein Mann, den Leopold, noch immer geblendet, nur als Silhouette wahrnahm. Erst da begriff er, dass es sich um das Blitzlicht eines Fotografen gehandelt hatte. „Wie ich höre, werden Sie heute Abend den Namen Ihrer Braut öffentlich bekannt geben?" „Gewiss", sagte Leopold nur. „Doch bitte entschuldigen Sie mich jetzt." Leopolds Augen hatten sich wieder vom grellen Blitz erholt. Angespannt suchten sie die Menge ab. Männer im Frack standen in Gruppen beieinander und diskutierten angeregt über das Brückenbauprojekt, während ihre Frauen sich über gesellschaftliche Themen ausließen. Im Hintergrund schmetterte noch immer die Blaskapelle einen forschen Marsch, eine Hymne an den Fortschritt. Endlich machte Leopold zwischen all den Menschen den Fremden aus. Sich immer wieder nach seinem Verfolger umblickend, drängte er zur Straße, wo eine Reihe Mietdroschken auf zahlende Kundschaft wartete. Leopold drängte sich schon in diese Richtung, als er die Blicke einer Gruppe vornehmer junger Damen kreuzte, die lächelnd zu ihm herübergrüßten. Wollte er die Etikette nicht aufs Schamloseste verletzen, musste er wohl oder übel wenigstens kurz seine Aufwartung machen. Zähneknirschend fügte er sich ins Unvermeidliche, trat grüßend vor sie hin, fragte nach dem Befinden und wünschte mit einer angedeuteten Verbeugung noch einen schönen Tag. Wertvolle Minuten waren verloren, in denen Leopold aus dem Augenwinkel beobachtet hatte, wie der Fremde, sich immer wieder umblickend, auf eine der Droschken zugehalten hatte. Als der Fremde nun bemerkte, dass Leopold sich von den Damen gelöst hatte und seine Schritte beschleunigte, wurde auch er schneller. Doch schon im nächsten Moment wurde seine Flucht unerwartet unterbrochen, denn er rannte in einen Mann hinein, der ein Schild 8
mit der Aufschrift: „Diese Brücke ist eine Gotteslästerung!" in der Hand hielt. Der Protestierer war ein wahrer Schrank von einem Kerl. Sein Gesicht war von einer dichten schwarzen Haarpracht fast völlig überwuchert, wobei nicht zu unterscheiden war, wo das Haupthaar endete und der Bartwuchs begann. Mit Donnerstimme dröhnte er: „Gott allein steht es zu, auf dem Wasser zu wandeln, nicht dem Menschen." Dem Fremden waren durch den Zusammenstoß eine Reihe seltsam aussehender Gerätschaften aus der Hand geglitten, die er nun, eine Entschuldigung murmelnd, fieberhaft aufsammelte. Ein rascher Blick nach hinten zeigte ihm, dass sein Verfolger aufgeholt hatte. Leopold beschleunigte seine Schritte erneut. Nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten. Nichts? Nichts außer einem scheinbar aus Unachtsamkeit fallen gelassenen makellos weißen Taschentuch. Es lag plötzlich unübersehbar vor ihm, das hübsche Mädchen, dessen Gesicht von üppigen, mit der Brennschere erzeugten Korkenzieherlocken umrahmt wurde, wollte von seinem gleichwohl genau berechneten kleinen Malheur nichts bemerkt haben und drehte weiter mit unnachahmlicher Grazie den leichten Sonnenschirm in den weiß behandschuhten Fingern. Leopold seufzte. Er sah, wie der Fremde in eine Droschke sprang und wie diese wenig später lärmend die Straße hinabpolterte. Aber wie hätte er seine Pflicht und Höflichkeit gegenüber einer Lady vergessen können? Unmöglich! Deshalb bückte sich Leopold und hob das Taschentuch auf. Doch gleichzeitig fand er noch etwas anderes. Einen Stift, dessen Verwendung ihm im ersten Moment nicht klar war. Sicher war nur eins: Er gehörte dem Fremden. Leopold reichte dem jungen Fräulein das Taschentuch. Es blinzelte heftig und hauchte wohl auch Dankesworte, von denen aber keines in Leopolds Bewusstsein drang, denn der unbekannte Gegenstand nahm seine Aufmerksamkeit völlig in Beschlag. Bowery Savings Bank, stand auf der Seite, seit 1856. Daneben ein Abbild der klassizistischen Fassade. Während die junge Frau, die auf etwas Konversation mit dem adeligen Herrn gehofft hatte, enttäuscht abzog, drückte dieser einen Knopf an einem Ende des Stiftes, ein Klicken erklang und auf der anderen Seite fuhr eine Spitze heraus, 9
von der sich, als Leopold sie berührte, herausstellte, dass sie Tinte abgab. Ein Schreibgerät also. Fasziniert betätigte er den Knopf erneut. Klick. Die Spitze zog sich in ihr Gehäuse zurück. Klick. Raus. Klick. Rein. Klick. Raus. Klick. Rein. Woher aber nahm dieses Schreibgerät die Tinte? „Euer Gnaden", erklang da Otis' Stimme an Leopolds Seite. Der alte Diener atmete schwer. Er war hinter seiner Herrschaft hergeeilt, was für einen Mann seines Alters, der zudem zeitlebens nur den gemessenen Schritt geübt hatte, eine ungewohnte Anstrengung bedeutete. „Holen Sie die Kutsche, Otis", sagte Leopold und blickte auf. Ein Stück die Straße hinab sah er, wie die Droschke des Fremden anhielt. Vermutlich kreuzte ein Fuhrwerk. Mit etwas Glück würden sie ihn vielleicht noch einholen. Und dann würde Leopold ihm eine ganze Menge Fragen stellen. Wenig später fuhr Otis mit der gräflichen Kutsche vor, deren Einstiege mit dem Familienwappen versehen waren. Leopold gab Otis Anweisung, der Droschke des Fremden zu folgen. Dann wandte er sich wieder dem Schreibgerät zu, machte damit ein paar Striche auf sein Blatt, deren Gleichförmigkeit ihn überraschte. Er betrachtete die Spitze genau. Keine Feder. Vielmehr eine winzige Kugel, die sich innerhalb der Hülse drehte. Verstehe, dachte er. Dahinter befindet sich die Tinte, die sich beim Abrollen auf die Kugel legt. Aber würde die Tinte nicht im Nu aufgebraucht sein? Die weitere Untersuchung erbrachte, dass die Hülle sich aufschrauben ließ. Eine Sprungfeder kam zum Vorschein, vermittels der sich die Hülse vorschob und wieder zurückzog. Der Grund lag auf der Hand: So sollte verhindert werden, dass die Tinte auf der Kugel eintrocknete. „Genial", sagte Leopold tonlos, fasziniert von so viel technischer Finesse, die sich in dem kleinen Gegenstand zeigte und die dem Bau jener Brücke nach Brooklyn kaum nachstand. Es sind nicht nur die großen Dinge, dachte er, auch mit den kleinen Dingen des Alltags können wir uns ein Denkmal errichten. So wie jener Fremde, der wohl der Erfinder dieses meisterlichen Schreibgerätes war, dem zweifellos ein Siegeszug durch sämtliche Schreibstuben Amerikas und Europas bevorstand. In diesem Moment erschien Otis' Gesicht im Seitenfenster der 10
Kutsche. „Wir haben die Droschke verloren", teilte er mit. „Es ist fast schon fünf Uhr. Sollten wir nicht..." „Dieses kleine Ding hier steckt voller Wunder, Otis", entgegnete Leopold nur. „Wer ist dieser Fremde? Ist er ein Erfinder? Oder wie ist er sonst in den Besitz dieses Gegenstandes gekommen?" Sein Blick fiel wieder auf den Schriftzug. „Bringen Sie mich zur Bowery Savings Bank!" Otis seufzte. Die Begeisterung seines Herrn für technische Gerätschaften ließ diesen nicht zum ersten Mal alles andere vergessen. Und weit schlimmer: Er betätigte sich sogar mit Leidenschaft selbst als Erfinder. Darüber vernachlässigte er nur allzu gerne seine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Vor allem jene, sich eine Frau zu wählen, die dem Geschlecht der Grafen von Albany einen Erben sichern würde. „Darf ich vorschlagen, den Besuch bei der Bank auf morgen zu verschieben, Euer Gnaden?", sagte Otis schließlich. Leopold seufzte. Natürlich wusste er, weshalb Otis die Verschiebung vorschlug. Nur noch eine Stunde trennte sie vom Beginn des Festes, zu dem sein Onkel Millard eine Schar vielversprechender junger Damen der Gesellschaft geladen hatte, aus denen Leopold sich eine erwählen sollte. „Wie kommt es", fragte Leopold, „dass dem dritten Grafen von Albany nicht gestattet ist, das zu tun, was ihm beliebt?" „Als Graf haben Sie Verpflichtungen, Mylord", entgegnete Otis streng, „derer Sie sich nicht entledigen können." Ein Satz, den Leopold in seinem Leben schon so oft gehört hatte und der ihm von Mal zu Mal weniger gefiel. Resigniert sank er zurück in den Sitz und gab Otis mit einer müden Handbewegung zu verstehen, dass er sich in sein Schicksal fügte und seinen Befehl zurückzog. Er musste wieder daran denken, mit welch hehren Vorstellungen er einst in dieses Land gekommen war. Gleichheit aller Menschen, ohne Ansehen der Herkunft – das hatte er für eine Grundfeste dieser neuen Welt gehalten. Freier unter Freien hatte er sein wollen, dem Fortschritt der Menschen zugewandt. Denn eines war für ihn sicher: Menschen wie Roebling gehörte die Zukunft, während die 11
Welt, aus der er kam, die Welt des Adels und der Privilegien, ahnungslos ihrem Untergang entgegendämmerte. Aber wenn er dies also wusste, wieso gelang es ihm dennoch nicht, mit der Tradition seiner Familie zu brechen, sich den Ansprüchen seines Onkels zu entziehen und sein eigenes Leben zu leben? Wollte er überhaupt mit allem brechen? Nein. Er respektierte die Leistungen der Vorväter sehr wohl. Ohne Tradition, ohne Geschichte gab es keine Zukunft und keinen Fortschritt, sondern nur ein Vorandrängen ungezügelter Energien, die die ganze Welt in tiefes Elend reißen würden. Die Zeit wird über uns befinden, dachte er, während er beständig den Druckknopf des Schreibgerätes betätigte. Mit Unbehagen sah Leopold schon bei der Anfahrt zum Haus seines Onkels die Vorbereitungen zu der abendlichen Festlichkeit. Diener schmückten die Bäume im Garten mit Girlanden und entzündeten Lampions, obwohl dunkle Wolken heraufzogen und baldigen Regen ankündigten. Mit einer Forschheit, die seine Nervosität verdecken sollte, sprang er aus der Kutsche, noch ehe Otis ihm den Schlag öffnen konnte. Ein Butler öffnete die Tür mit einem formellen Gruß, den Leopold unbeantwortet ließ. Seine lehmigen Stiefel hinterließen Abdrücke auf dem glatten Marmor der Halle. Auf dem Weg zur Treppe kam Leopold an einem Klavier vorüber und strich mit dem Finger über die Tasten. Der Stimmer, der gerade in den Eingeweiden des Instruments herumhantierte, fuhr erschrocken hoch und stieß sich den Kopf am Deckel. Als er Leopold erblickte, schluckte er die Verwünschung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, wieder hinunter. Inzwischen war auch Otis herein gekommen. Er schnippte einen Diener herbei, deutete stumm auf die Fußabdrücke seiner Herrschaft. „Leopold! Wo warst du?" Leopold blieb am Treppenabsatz stehen. Ein weißhaariger Mann in festlichem Frack humpelte aus dem Salon in die Halle. Klack – klack – klack, machte sein Stock auf dem Marmor. Onkel Millard. Seine schlechte Laune stand ihm in das faltige Gesicht geschrieben. Die buschigen Brauen waren dicht zusammengezogen, die Stirn lag in Falten, die Mundwinkel hingen nach unten. Ehe er ganz an 12
Leopold herangehumpelt war, war dieser bereits weitergegangen, was Onkel Millard noch mehr verdross. „Otis!", rief er dem Diener seines Neffen zu, der seinem Herrn folgt. „Ich verlange eine Erklärung! Es ist bereits halb sechs. Und er ist noch nicht einmal angezogen!" „Er wird rechtzeitig fertig sein, Mylord", versicherte Otis ruhig. Aber das reichte Onkel Millard nicht. „Fertig ist nicht genug", stieß er verächtlich aus. „Er soll strahlen!" „Sehr wohl, Mylord." Onkel Millard stieß mit seinem Stock auf, dass es durch das ganze Haus hallte. Das Betragen seines Neffen missfiel ihm zutiefst. Seine Ideen, diese so genannten Erfindungen – Luftschlösser allesamt! Stets hatte er den Kopf in den Wolken und vergaß darüber ganz den Boden, auf dem er ging. Und dieser Boden, das war die Familie, das war das adelige Blut, das in ihrer beider Adern floss und ihre herausragende gesellschaftliche Stellung sicherte. Wieso wollte Leopold sich etwas erarbeiten, was er von Geburt an besaß? Unablässig den Kopf über seinen Neffen schüttelnd, humpelte Onkel Millard zurück in den Saal, um die Vorbereitung des Balls zu überwachen. Unterdessen bereitete Otis seinem Herren ein Bad. Leopold, der sich einen Brandy eingeschenkt hatte, kleidete sich aus und ließ sich in die Wanne gleiten. Draußen schlugen erste Regentropfen gegen die Fenster. Er nahm das Schreibgerät und betrachtete es nachdenklich, nippte dabei immer wieder an seinem Brandy. Das Material irritierte ihn. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Es war kein Metall, auch kein Holz. Wasser perlte daran ab. Wie konnte etwas Derartiges existieren, ohne dass er davon wusste? Und wenn er es recht überlegte: Für eine brandneue Erfindung wirkte es zu ausgeklügelt, zu vollkommen. Otis trat mit einem Eimer dampfenden heißen Wassers herein und goss es vorsichtig in die Wanne. Von der Straße drang das Gepolter einer vorfahrenden Kutsche herauf. Zweifellos trafen die ersten Gäste ein. Otis stellte den Eimer ab und streckte Leopold die Hand hin. „Sie erlauben?" Widerwillig reichte Leopold ihm das Schreibgerät. 13
Mit spitzen Fingern, wie eine tote Ratte, fasste Otis es an und durchquerte damit das Badezimmer seines Herrn. Er nahm ein Stück der Stuckverzierung von der Wand ab und legte so ein Geheimfach frei, in dem sich eine Schatulle aus Zinn befand. In diese legte Otis das Schreibgerät hinein, klappte sie zu und schob sie zurück in das Fach, das er daraufhin ebenfalls wieder verschloss. Dann nahm er das bereitliegende Badetuch und trat vor Leopold hin. „Erlauben Sie mir ein Wort, Euer Gnaden?", fragte er. Seiner Miene war zu entnehmen, dass es wichtig war. Obwohl der Standesunterschied zwischen ihnen stets gewahrt blieb, war der alte Otis für Leopold mehr als nur ein Diener. Im Grunde hatte er nach dem Tod seines Vaters - die Mutter war schon viel früher verstorben – jene Rolle des väterlichen Beistandes eingenommen, die Onkel Millard sich angemaßt oder vielleicht auch nur aufgehalst hatte, jedenfalls aber nicht ausfüllte. „Was ist?", fragte Leopold. „Sie haben unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht, dass die bevorstehende Festivität Sie mit Unbehagen erfüllt, Mylord", sagte Otis. „Erlauben Sie mir vorzuschlagen, dennoch das Beste daraus zu machen?" Leopold schwenkte den Brandy in seinem Glas. „Man hat mich feilgeboten wie importierten Käse", sagte er, nicht ohne Bitterkeit. „Sie wollen mir hoffentlich nicht ernsthaft weismachen, unter all den kernigen Debütantinnen, die mein Onkel dort unten für mich versammelt hat, könne eine Amors Pfeile in mein Herz schießen." Otis wog den Kopf hin und her. „Vielleicht findet sich unter ihnen ja doch eine Perle. Nicht nur in unserem Verstand lässt der Funke der Begeisterung sich entfachen, Leopold. Es gibt auch noch das Herz. Wie sagt man doch? Die Liebe erfordert einen Sprung." „Sagt man das?" Leopold dachte einen Moment nach. Sicher, wenn er die Richtige gefunden hätte. Eine, die es nicht nur darauf abgesehen hatte, sich mit seinem Namen und seiner Herkunft zu schmücken wie mit einem Diamantdiadem. Leider war ihm eine solche Frau noch nicht begegnet. „Vielleicht traue ich mir diesen Sprung eines Tages ja zu", sagte er, „wenn ich eine Frau treffe, die wenigstens eine Unze jener Verachtung für all dies hegt, die ich in mir trage." 14
Leopold leerte den Brandy mit einem Zug. Otis betrachtete ihn traurig. Die Bitterkeit in den Worten seines Herrn war unüberhörbar. Bitterkeit über und Verachtung für eine Welt, die einem Mann nicht erlaubte, seiner Berufung zu folgen, nicht einmal in einem angeblich freien Land wie diesem. Er neigte sein Haupt und zog sich zurück. Nachdem Leopold aus der Wanne gestiegen und seine Unterwäsche angelegt hatte, trat er in sein Schlafzimmer. In einer Ecke, aber unübersehbar, stand das Modell einer Erfindung, die ihn seit langem schon beschäftigte: ein Aufzug, der mittels Elektrizität Lasten und Personen befördern sollte. Noch war seine Erfindung nicht ausgereift, doch er war voller Zuversicht, auch was die Bedeutung seiner Erfindung anlangte. Mit einem elektrischen Aufzug würden die Häuser ein vielfaches Mehr an Stockwerken haben können als sie derzeit besaßen. Das Gesicht der Städte würde sich unweigerlich verändern, die Gebäude würden in den Himmel wachsen. Vielleicht bleibt das alles aber auch ein schöner Traum, dachte er mit einem Mal und machte sich einen neuen Drink. Dann läutete er nach Otis, damit dieser ihm beim Ankleiden behilflich war. Wie einen Fremden betrachtete Leopold sich im Spiegel, während Otis und ein weiterer Diener die enge Kammgarnhose hochzogen. Mitleidslos knöpfte Otis den engen Kragen zu und band die Schleifenkrawatte. Zuletzt hielt er ihm den reich mit Goldstickereien verzierten schwarzen Frack aus Brokat hin. Leopold schlüpfte hinein und ließ den Blick über die stattliche Erscheinung im Spiegel gleiten. Sein Äußeres war makellos und seinem Stand entsprechend. Die Damenherzen würden unweigerlich aus dem Takt geraten. Leopold zog nur die Braue hoch. Ihm für seinen Teil war der Kerl im Spiegel zuwider. Aber obwohl ihm die Heiratskandidatinnen, die ihm gleich vorgestellt werden würden, jetzt schon langweilten, würde er seine Rolle mit Bravour spielen – wie immer. „Oh, Miss Blaine", scherzte er mit träger Zunge, denn der Alkohol zeigte Wirkung, „Sie tanzen wie eine Kuh. Sie sind eine der seltenen Damen, die einen Raum zum Strahlen bringen... indem 15
Sie ihn verlassen." Leopold folgte Otis' warnendem Blick und bemerkte, dass Onkel Millard, auf seinen Stock gestützt, in der Tür stand. Obwohl oder gerade weil seiner Miene zu entnehmen war, dass ihm die Spottrede nicht gefiel, fuhr Leopold fort: „Sie sind hoffentlich reich, Miss Blaine. Sie müssen wissen: Ich mag zwar von gräflichem Geblüt sein, doch das kleine Geheimnis meines Standes ist, neben seiner völligen Nutzlosigkeit, dass er stets bis über beide Ohren in Schulden steckt." Leopold sah Millard provozierend an. Dieser trat neben das Modell des Aufzugs und sagte, während er es betrachtete: „Es war schon immer ein Unglück, Leopold, wie sehr du dich am Klang deiner eigenen Stimme erfreut hast." „Grenzt es nicht an ein Wunder, dass mich in einem so öden Leben wie dem meinen überhaupt etwas erfreuen kann?", versetzte Leopold. Er trat einen Schritt an seine Erfindung heran, bat seinen Onkel, der eben die Hand danach ausstrecken wollte: „Fass bitte nichts an." Doch Millard ließ sich nicht abhalten, sondern zog an einem Hebel. „Das ist das Gerät, worüber du ständig schwatzt?", fragte er spitz. „Wozu soll es dienen? Mönche auf ihre Klostertürme zu befördern?" „Jeden dahin zu bringen, wohin es ihn verlangt", sagte Leopold. Seine Stimme wurde sogleich lebhaft. „Die Gebäude werden wachsen, Onkel. Schon bald werden sie die Kraft unserer Beine übersteigen." Millard kicherte in sich hinein. Doch die Heiterkeit war nur vordergründig. So sehr ihn das Pathos seines Neffen einerseits amüsierte, empörte es ihn andererseits zutiefst, dass dieser sich mit Dingen beschäftigte, die seinem Stand in keiner Weise entsprachen. Millard humpelte durch das Zimmer, blieb vor Leopold stehen und brachte seine Schleifenkrawatte in Ordnung, obwohl es daran eigentlich nichts zu verbessern gegeben hatte. „Du sprichst von Erfindungen und von Fortschritt, Leopold", sagte er. „Was ich dir anzubieten habe, ist die Wirklichkeit." Sein Ton wurde vertrauensvoll, einschmeichelnd. „Such dir eine Frau. Heirate." 16
Leopolds Miene verhärtete sich. Sein Onkel tat, als sei dies die einfachste Sache der Welt. Aber vermutlich redeten sie ohnedies von verschiedenen Dingen. Onkel Millard meinte eine gute Partie. Liebe war in seinen Augen von untergeordneter Bedeutung, eine bürgerliche Sentimentalität. Für die Liebe war bestenfalls eine Mätresse zuständig, nicht eine Ehefrau. „Die Ehe gründet auf dem Versprechen ewiger Liebe", sagte Leopold schließlich. „Als Ehrenmann kann ich nichts für eine Ewigkeit geloben, was ich nicht einmal einen Augenblick lang empfunden habe." Millard tat seine Worte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Falten der Sorge und der Missbilligung traten auf seine Stirn, als er erwiderte: „Mit Privilegien geboren zu sein und sich ihrer zu schämen, das ist deine Tragödie. Es würde meinem Bruder das Herz brechen, dich so zu sehen. Du bist kein Graf, Leopold." „Natürlich nicht!", rief Leopold aus. „Die Monarchie ist tot. Wir sind die Überreste einer vergangenen Zeit. Das ist die Realität. Der neue Adel ist geistiger und unternehmerischer Art. Ihm gehören Männer wie Roebling mit seiner Brücke, Edison, Diesel, Bell und Westinghouse an." Millard verabscheute solche Reden nicht nur, er verachtete sie, vor allem, wenn sie von jemandem kamen, der in seinem Leben noch nichts geleistet hatte. Der Jähzorn des alten Mannes, vor dem sein Personal zitterte, machte auch vor seinem Neffen nicht Halt. Völlig überraschend fuhr seine Hand zu einer kräftigen Ohrfeige vor, die einen geröteten Abdruck auf Leopolds Wange hinterließ. „Diese Männer haben aus dem Nichts etwas geschaffen", stieß Millard aus. „Dir hingegen wurde alles in die Wiege gelegt. Und was hast du daraus gemacht? Nichts! Was dich angeht, wasche ich meine Hände in Unschuld. Nur eines rate ich dir noch: Sieh dir deine Tanzkarte genau an, Leopold, eine wohlhabende Braut ist deine einzige Sicherheit." Damit wandte Millard sich ab und humpelte aus dem Zimmer. In regungsloser Betroffenheit verharrte Leopold vor seiner Erfindung. Hatte Onkel Millard Recht? War er wirklich ein Versager und seine Erfindung ein Hirngespinst, dem keine Zukunft beschieden 17
sein würde? Verzweiflung wollte sich seiner bemächtigen, doch er rang sie nieder, trat ein letztes Mal vor den Spiegel, um einen prüfenden Blick auf sich zu werfen, und verließ dann sein Schlaf gemach. Aus dem Ballsaal drang die Musik eines kleinen Orchesters in die Halle. Noch immer beherrscht von trüben Gedanken, schritt Leopold die Treppe hinab. Otis empfing ihn am Treppenabsatz, drückte ihm die von Onkel Millard erstellte Tanzkarte in die Hand und geleitete ihn dann in den Saal. Leopold kam sich eher vor wie ein Kalb, das zur Schlachtbank geführt wurde. Geduldig arbeitete er seine Tanzkarte ab, verbarg die Ödnis, die seine Seele erfüllte, hinter Galanterie, die Leere in seinem Kopf hinter floskelhafter Konversation, welche gleichwohl meist nach wenigen Sätzen erstarb. Mit Erleichterung stellte Leopold irgendwann fest, dass den Miss Minnies, Miss Claras, Miss Bonnies ohnehin sein zweifellos gewinnendes Äußeres genügte. Sie schmachteten ihn an, schwelgten in Fantasien, von denen so manche in ihrer Zügellosigkeit gewiss Anstoß erregt hätte. Die Musikkapelle spielte einen Walzer nach dem anderen. Leopold, der ein vollendeter Tänzer war, wirbelte seine Partnerinnen durch den Saal, bis ihnen die Sinne vergingen, er behielt auch dann die Haltung, wenn die Eleganz seiner Partnerin über die eines Tanzbären nicht hinausreichte. Mehr als einmal war Leopold nahe dran, schreiend aus dem Saal zu rennen. Aber die Blicke seines Onkels, die er ständig auf sich spürte, hielten ihn davon ab. Als Leopold gerade mit einem kräftigen Drink in der Hand – und wie hätte er all das auch aushaken sollen, ohne sich langsam aber sicher zu betrinken? – eine korpulente Tänzerin über das Parkett manövrierte, bemerkte er einen Mann, der von der Halle aus durch die offene Tür in den Saal blickte. Merkwürdig nur, dass er dabei mit einem Auge durch einen kleinen Kasten schaute. Eine Art Opernglas? Leopold dachte nicht lange darüber nach, erkannte er in dem Mann doch jenen Fremden, den er an Roeblings Brücke nach Brooklyn verfolgt hatte. Im Nu war er nüchtern. Er ließ seine Tänzerin los, die daraufhin noch ein wenig über den Tanzboden torkelte, drückte den in der Nähe stehenden Otis sein Glas in die Hand und eilte in die Halle. 18
Doch der Fremde war nicht mehr da. Leopold sah eben noch, wie er die Treppe hinauf verschwand. Was wollte er hier? Suchte er etwas Bestimmtes? Diesmal sollte er ihm nicht entwischen. Diesmal sollte er Rede und Antwort stehen. Auf leisen Sohlen begab Leopold sich nach oben. Aus seinem Schlafgemach waren Laute zu hören. Ein eigenartiges Klicken, gefolgt von einem kurzen Summton. Leopold schob die halboffen stehende Tür ganz auf. Der Fremde schien sich seine Skizzen durchgesehen zu haben, denn die Mappen lagen offen da, und betrachtete gerade das Aufzugmodell durch sein eigenartiges Gerät, welches immer wieder klickte und summte. Leopold trat ein. „So viele Träume", sagte er, eine seiner Skizzen betrachtend, „aber alle sind nutzlos." Der Fremde fuhr herum und ließ sein eigenartiges Glas, das, wie Leopold nun sah, mehr einer kleinen Schachtel ähnelte, in der Hosentasche verschwinden. „Sie müssen mir mehr über dieses automatische Schreibgerät erzählen", sagte der Graf. „Es ist eine Neuheit, die gewiss eine große Zukunft vor sich hat." Plötzlich machte der Fremde einen Satz in Richtung der Tür. Im nächsten Moment war er hinaus und eilte die Treppe hinab. Leopold folgte ihm. Der Fremde hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, aber Leopold holte rasch auf. In der Halle würde er ihn spätestens einholen. Offenbar erkannte der Verfolgte dies ebenfalls. Deshalb nahm er den kürzeren Weg zum Ballsaal, offenbar in der Hoffnung, Leopold zwischen all den Menschen abschütteln zu können. Doch der ließ sich nicht beirren. Vorbei an einem mit offenem Mund dastehenden Otis und einem noch viel bestürzteren Onkel Millard, der beinahe das Glas Punsch, das er sich gerade geholt hatte, fallen gelassen hätte, hetzte Leopold hinter dem Fremden her. „Leopold!", erklang da die Stimme einer Frau. Leopold blieb stehen. Er kannte die Frau nicht. Sie hatte kurze blonde Haare, wundervolle Augen und trug ein eigenartiges Kleid, das der Mode in keiner Weise entsprach. Sie schien außer Atem zu sein, so als sei sie gelaufen. Wieso rief sie ihn, als würde sie ihn kennen? Sogar sehr gut kennen? 19
Leopold riss sich von ihrem Anblick los. Er hatte schon einen Moment zu lange gezögert, denn der Fremde nutzte die Gunst des Augenblicks und rannte zur Tür. Als Leopold die Verfolgung aufnahm, war er schon in der Halle, wenig später an der Tür. Doch Leopold gab nicht auf. Er folgte ihm hinaus. Heftiger Regen schlug ihm ins Gesicht. Er sah nur noch, wie der Fremde in eine Droschke sprang, die Peitsche des Kutschers knallte, das Gefährt setzte sich in Bewegung. Als Leopold an der Straße anlangte, raste es schon mit hoher Geschwindigkeit davon. Fieberhaft sah Leopold sich nach einer Droschke um. Vergebens. Dafür aber entdeckte er ein Pferd, das angebunden an der Straße stand. Eilig machte er es los, sprang auf und folgte der Kutsche. Der Regen schlug ihm ins Gesicht. Blitze erhellten immer wieder für Sekunden die Nacht. Wo will er hin?, dachte Leopold. Schon wenig später wusste er es: zur Brücke. Majestätisch Wind und Wetter trotzend, streckte sich der Brückenturm in die sturmdurchtoste Nacht. Er erinnerte an die Ruine einer gotischen Kathedrale. Als Leopold ankam, sah er eben noch, wie die Droschke davonfuhr, während der Fremde begann, an einem Baugerüst emporzuklettern. Leopold sprang aus dem Sattel. „So warten Sie doch!", rief er ihm hinterher. Keine Antwort, dafür ein Blitz, der die Nacht grell erhellte. Leopold schwang sich ebenfalls auf das Baugerüst und kletterte immer höher. Nichts konnte ihn abhalten, so als ginge es um sein Leben. Als er das Ende erreicht hatte und am Beginn eines der beiden gotischen Bögen stand, sah er den Fremden ein gutes Stück vor sich. Wo wollte er hin? Das alles ergab keinen Sinn. Doch jetzt war nicht die Zeit für Fragen. Leopold eilte ihm nach. Durch einen Schleier aus Regen sah er, wie der Fremde plötzlich stehen blieb. Dann verschwand er plötzlich um eine Ecke. Wohin? Dort war nichts mehr. Leopold befürchtete das Schlimmste. Als er an der Stelle ankam, wo der Mann verschwunden war, erblickte er ihn auf einem der vorgelagerten Balken, auf dem die Eisenträger der Brücke aufgelegt werden sollten. Er starrte auf etwas in seiner Hand. Ein Kompass? Leopold stieg auf den schmalen Sims, den auch der Fremde genommen haben musste, um von dort auf den wackligen Balken zu springen. Sein Herz schlug vor Aufregung 20
bis zum Hals. Unter ihnen trieb das schwarze Wasser des East River träge dahin. Leopold hielt den Atem an - und sprang mit einem beherzten Satz auf den Balken, der, aus der Balance gekommen, schwankte, sich aber wieder einpendelte. Erst jetzt bemerkte der Fremde, dass sein Verfolger ihm schon so nah gekommen war. Er wandte sich zu ihm um. Seine Miene war erfüllt von schierem Entsetzen, ja von Panik. „Bleiben Sie, wo Sie sind!", rief er Leopold zu. „Gehen Sie wieder zu Ihrem Ball. Sie haben ja keine Ahnung, was Sie tun!" Doch Leopold zeigte sich entschlossen, den Mann, den er für einen Selbstmörder hielt, zu retten. „Sie dürfen das nicht tun!", flehte er ihn an, während von Ferne und durch das Prasseln des Regens nur ganz schwach das Schlagen einer Kirchturmuhr zu hören war. Mitternacht. Der Fremde zog eine Dose hervor. „Gehen Sie weg!", schrie er mit sich überschlagender Stimme. Er schien verzweifelt. „Ich flehe Sie an. Ich will Sie nicht verletzen. „Bleiben Sie ganz ruhig", versuchte Leopold mäßigend auf ihn einzuwirken. Doch die Verzweiflung in den Augen des Mannes schien mit jedem Schlag der Kirchturmuhr eher noch zu wachsen. Als der letzte Schlag erklungen war, wandte er sich von Leopold ab. Seine Absicht war klar: Gleich würde er springen. Richtig! Doch Leopold packte ihn mit der einen Hand am Arm, während die andere eines der Seile ergriff, die von einem Gerüst herabhingen. „Lassen Sie mich los!", schrie der Mann und hielt die Dose vor Leopolds Gesicht. Dieser wusste nicht wie ihm geschah, den plötzlich erklang ein Zischen, aus der Dose schoss ein Schwall Gas auf ihn zu. Ein heftiges Brennen und Tränen der Augen folgte. Leopold griff nach irgendwas, um sich festzuhalten, erwischte aber nur den Arm des Fremden. Der aber hatte sich gerade abgestoßen und war auf dem Weg in die Tiefe, wohin er Leopold unwiderruflich mitnahm.
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Gelangweilt lehnte Kate McKay am Ausgang des Vorstadtkinos. Nur gelegentlich verirrte ihr Blick sich auf die Leinwand, über die gerade eine jener Hollywood-Liebesszenen flimmerte, die Millionen Kinobesucher einmal mehr mit Träumen und Erwartungen an ihr Dasein erfüllen sollte, denen das reale Leben in keiner Weise gerecht werden konnte. Darüber war Kate längst hinweg. Die Fragen, ob die beiden sich am Ende kriegen würden – was eigentlich ja keine Frage war, womit die ganze Verlogenheit ja schon begann – interessierte sie nicht. Sie interessierte nur, ob die Herren in den dunklen Anzügen, die in der letzten Reihe des Kinos saßen, am Ende mit ihrer Arbeit zufrieden sein würden. Diesem Kinoabend war eine intensive Vorbereitung vorausgegangen. Probezuschauer, die das gesamte Spektrum des amerikanischen Kinopublikums repräsentierten, mussten ausgewählt, Termine vereinbart, ein Saal angemietet werden. Die Arbeit war nur durch Kates Routine verkürzt worden. Sie hatte in den Jahren eine Kartei mit „Versuchskaninchen", wie die Probanden in der Agentur genannt wurden, aufgebaut, deren Ausmaß sogar dem CIA imponiert hätte, weshalb sie auch kurzfristig angeforderte Veranstaltungen wie diese problemlos auf die Beine stellen konnte. Kate rollte die Augen, als sie das frisch verliebte Paar in Übergröße durch den Regen spazieren, eine Kissenschlacht veranstalten, Pizza essen und bei allem sich herzen und küssen sah. Sie stieß ihre Kollegin und Freundin Darci sanft in die Seite. „Wir müssen", flüsterte sie ihr zu. „Wir haben nur noch fünf Minuten." Mit großen Schritten durchquerte Kate das Kinofoyer. Die kleine, etwas pummelige Darci hatte alle Mühe, mitzuhalten. „Was meinst du?", fragte sie Kate, als sie am Getränke- und Popcornstand angekommen waren, wo ein paar Praktikanten auf sie warteten. Darci meinte natürlich den Film. Kate zuckte nur die Schultern. „Wird gehen", sagte sie, „mit ein paar Änderungen. Die Frau war unsympathisch." Darci zog erstaunt die Brauen hoch. „Ich fand sie witzig." 22
„Schon, aber auf eine verbitterte Art. So jemanden mag keiner." „Aber ich mag dich doch auch." Kate wandte den Kopf und sah sie teils erstaunt, teils entrüstet an. „Willst du damit sagen, ich sei verbittert?" Darci schluckte. Sicher, sie hielt ihre Freundin für verbittert, denn war eine Frau von Anfang Dreißig, die nach ein paar - na gut, nach einer stattlichen Anzahl – Enttäuschungen von Liebe und Romantik nichts mehr wissen wollte, etwa nicht verbittert? Gleichwohl hätte sie ihr das niemals gesagt und deshalb verneinte sie Kates Frage in größter Aufrichtigkeit. „Ich wollte nur sagen –" Kate spürte einen Stachel im Herzen. Verbittert, dachte sie einen Moment, man hält mich also für verbittert. Bin ich verbittert? „Ich bin enttäuscht", widersprach sie Darci und der Stimme in ihrem Innern. „Enttäuscht ist drei Stadien von verbittert entfernt. Mindestens." Sie wandte sich ein paar Praktikanten zu, die vorher kaffeetrinkend dagesessen hatten, nun aber aufgestanden waren, und verteilte Kugelschreiber und Fragebögen an sie. Verbittert, hallte es erneut in Kate nach, als sie etwas später unter dem Vordach des Kinos eine Zigarette rauchte. Es schüttete wie aus Eimern. Immer wieder trugen Windböen ein paar Regentropfen bis an die Tür, aber Kate merkte gar nicht, dass sie nass wurde, denn Darcis Worte ließen sie nicht los. Habe ich Grund, verbittert zu sein?, fragte sie sich. Sicher, sie hatte ein Talent dafür, sich immer Kerlen an den Hals zu werfen, die ihre Gutmütigkeit schamlos ausnützten, und der letzte Reinfall dieser Art war noch nicht einmal einen Monat her und hatte fünf Jahre gedauert. Aber hatte sie nicht einen klaren Schlussstrich gezogen? Hatte sie nicht das ganze Leben vor sich? Zweiunddreißig – das war doch kein Alter! Schon gar nicht für jemanden, der so blendend aussah wie sie mit ihren blonden Haaren und den kecken blauen Augen. Außerdem, und das war überhaupt das Wichtigste, gab es im Leben einer Frau zum Glück noch anderes als Männer. Die Karriere, zum Beispiel. Wenn sie so weitermachte, würde J.J. sie eines nicht allzu fernen Tages vielleicht sogar zu seiner Partnerin machen. Jedenfalls war es ein offenes Geheimnis in der Agentur, dass 23
J.J. sich nach einem Partner umsah. Wieso sollte also nicht sie das große Los ziehen? Kate schnippte die Zigarette in eine Pfütze und kehrte ins Kino zurück. Im Saal waren eben die Lichter angegangen, die Praktikanten waren eifrig damit beschäftigt, Fragebögen und Kugelschreiber zu verteilen. Langsam schritt sie den Gang hinab, ließ dabei ihren Blick über das Publikum schweifen. Sie konnte eine Stimmung erfühlen. Euphorisch war sie gewiss nicht. Gleichzeitig suchte sie Leute für eine Fokusgruppe aus, die unmittelbar befragt wurde, sodass die Studioleute noch an diesem Abend ein vorläufiges Ergebnis der Testvorführung mitnehmen konnten. Meistens bestätigte die Auswertung der Bögen nur noch dieses Ergebnis. Zwei der Produzenten traten an Kate heran. Auch sie wirkten nicht überschwänglich, schienen ziemlich nervös zu sein. „Was glauben Sie, wie der Film angekommen ist?", fragte der eine, Barry. Kate machte eine Handbewegung, die sagen sollte: soso lala. Aber soso lala "war natürlich nicht gut genug, wenn man viele Millionen Dollars in Stars und Produktion investiert hatte, weshalb mittleres Entsetzen in die Mienen der beiden Produzenten trat. „Die Frau ist unsympathisch", erklärte Kate kühl. Die beiden Männer pflichteten bei. „Wir müssen die Szene ändern, in der sie mit ihrem Boss ins Bett steigt", schlug Barry vor. „Am besten schneiden wir sie ganz raus." „Wie bitte?", ertönte da eine raukehlige Stimme in ihrem Rücken. Der Regisseur höchstpersönlich. Ein Mann mit krausem Haar, der einen schlecht sitzenden, verknitterten Leinenanzug trug. „Worüber sprechen Sie?" Er klang besorgt. Wenn zwei Produzenten die Köpfe zusammensteckten, hieß das im Allgemeinen nichts Gutes. „Wir reden über deinen Film, Tony", entgegnete Barry kühl. Es klang ein stiller Vorwurf darin mit. Tony ahnte wohl, dass seine weibliche Hauptfigur auf Kritik stieß. „Ich finde Julie sympathisch", verteidigte er sie deshalb, ehe jemand etwas gegen sie sagen konnte, „sehr sympathisch sogar. Sie ist realistisch." Er wandte sich an Kate. „Mal ehrlich: Haben Sie nie mit dem falschen Kerl geschlafen?" 24
Kate räusperte sich. „Wie bitte?" Gleichzeitig fragte sie sich: Hab ich jemals mit dem Richtigen geschlafen? Einem, der sich hinterher nicht als Niete herausgestellt hat? „Ich finde Sie ja auch sympathisch, Ms. McKay", fuhr Tony unverdrossen fort. „Obwohl Sie bestimmt auch nicht immer ein perfektes Leben geführt haben." „Ich bin ja auch nicht die Hauptfigur in einem Film, der ein Blockbuster werden soll", versetzte Kate schlagfertig. Die beiden Produzenten lachten. Sie kannten offenbar den Unterschied zwischen einem Film und der Wirklichkeit. Für sie ließ er sich in Dollars ausdrücken. Tony hingegen zog die Brauen zusammen und sah Kate finster an. Sein alter Groll gegen die Meinungsforscher kam zum Vorschein. Waren sie mit ihren angeblich repräsentativen Publikumsbefragungen nicht dafür verantwortlich, dass Hollywood zum künstlerischen Brachland verkommen war, in dem auch der letzte Keim von Kreativität ausgemerzt wurde? „Ihr mit euren Tests", stieß er verächtlich aus, „ihr saugt allem den letzten Rest von Leben aus." Kate lachte auf. Sie wusste, dass sie überheblich klang. Irgendwie genoss sie es sogar, diesen armen Tropf leiden zu sehen. Wo lebte er eigentlich? Nicht für die Enttäuschungen, die ihr das Leben bereitet hatte, wollte sie ihn leiden sehen, sondern für die Illusionen, die die eigentliche Ursache der Enttäuschung gewesen waren. Als ob ein Film wie dieser jemals etwas mit dem Leben zu tun haben könnte. „Sie sind der Regisseur", sagte sie dann kalt, „Sie treffen die Entscheidungen." Dann wies sie mit einer Bewegung des Kinns zu den Zuschauern, die eifrig ihre Fragebögen ausfüllten und meinte: „Ich sage Ihnen nur, was sie davon halten." Tonys Augen blitzten böse. „Bis jetzt haben sie noch keinen Ton von sich gegeben", sagte er spitz. „Das wird sich ändern." Kate winkte Darci heran und nannte ihr die Leute, die sie für die Fokusgruppe ausgewählt hatte. Sie wurden gebeten, in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Die anderen Zuschauer hatten ihre Bögen abgegeben und nach und nach das Kino verlassen. Kate stellte der Fokusgruppe sämtliche Fragen noch mal, diesmal wurde jedoch per Handzeichen abgestimmt. 25
„Wie viele von Ihnen halten den Film, den Sie eben gesehen haben, für schwach?", fragte sie. Eine stattliche Anzahl von Händen fuhr in die Höhe. Kate konnte sich einen schadenfrohen Blick zum Regisseur, der mit den Produzenten ein paar Reihen dahinter saß und heftig mit ihnen tuschelte, nicht verkneifen. „Danke", sagte sie dann. „Nun möchte ich gerne wissen, warum Ihnen der Film nicht gefallen hat. Was hat Sie am meisten gestört?" Eine Frau mittleren Alters meldete sich zu Wort. „Eigentlich mag ich Julie Gönners", sagte sie, „wie in dem Film, in dem sie mit dem schwulen Kerl zusammenlebt. Aber hier... ich weiß auch nicht..." „Sie hat mit zu vielen Typen gepennt", sagte ein junger Mann. „Sie hat den gesamten Film gebraucht, um rauszufinden, wer der Richtige für sie ist." Zustimmendes Nicken von den meisten Leuten. Nur der Regisseur schüttelte fassungslos den Kopf. „Sie wirkte sehr verbittert", fügte eine Frau hinzu. Eben, dachte Kate. Mit erhobener Stirn verließ Kate kurze Zeit später mit Darci im Gefolge das Kino. Gleichwohl nagten in ihrem Inneren Zweifel, denen sie nicht so leicht Paroli zu bieten wusste wie diesem Tony. Zweifel an ihrer Arbeit, Zweifel an sich. Vielleicht lenkte sie gerade deshalb all ihre Verachtung auf Tony: weil ein dumpfes Gefühl ihr sagte, dass an seinem Vorwurf mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit war. Auf der Taxifahrt zurück nach Downtown Manhattan sprachen die beiden Frauen lange kein Wort, schauten nur in die Regenwand, hinter der sich verschwommen die Wolkenkratzer abzeichneten. Das Schaben der Wischblätter auf der Frontscheibe und das gelegentliche Knacken und Rauschen aus dem Funkgerät des Fahrers waren die einzigen Geräusche. „Ihr saugt allem das Leben aus", wiederholte Kate schließlich Tonys Worte. „Was für ein Jammerlappen." „Vielleicht hat er nicht ganz Unrecht", entgegnete Darci vorsichtig. Sie wusste, dass sie sich auf vermintes Gelände wagte. „Hattest du etwa noch nie das Gefühl, dass das, was wir tun, ein bisschen ..." 26
Kate hatte auch während sie redete aus dem Fenster gesehen. Jetzt fuhr ihr Kopf plötzlich herum, ihre Augen blitzten angriffslustig, als sie ausstieß: „Was?" Darci rutschte unruhig auf dem Sitz herum. „Na ja... sind wir nicht oft... ziemlich kalt... und schroff... ?" Damit hatte Darci den Nerv getroffen. Kates Wangen röteten sich, ihre Haltung wurde aufrecht, die Stimme nahm mehr und mehr einen aggressiven Unterton an, als sie entgegnete: „Wir finden nur heraus, was normale Leute wollen, und geben dieses Wissen weiter. Ist das etwa schroff? Oder kalt ? Wenn du mich fragst, nicht. Wir machen Erdnussbutter cremiger, Cornflakes knuspriger, Sitcoms witziger und tödlich langweilige Kinofilme kürzer. Wir haben Smuckers dazu gebracht, die Körner aus ihrer Erdbeermarmelade zu nehmen. Wir sind Helden! Wahrscheinlich lässt es sich nicht vermeiden, dass ab und zu ein eingebildeter Trottel den Kopf aus seiner Höhle steckt und sagt: ,He, Leute, ich mag die Körnchen in meiner Erdbeermarmelade. Ohne Körnchen ist sie ja nur Gelee. Ihr Leute saugt meinem Frühstück das Leben aus!' Und weißt du, was ich zu solchen Leuten sage?" Kate gestikulierte heftig, ihr ganzer Körper war ein explosives Bündel. „Ich sage: Junge, du bist nur ein Prozent von einem Prozent. Deine Meinung ist völlig irrelevant. Ich war fünf Jahre mit einem solchen Visionär zusammen. Ich habe fünf Jahre seine Miete bezahlt, weil er sich nicht dazu herablassen konnte, sich wie wir alle anständige Arbeit zu suchen.'" Darci hatte es kommen sehen und sie bereute schon, überhaupt etwas gesagt zu haben, denn wenn Kate in dieser Stimmung war – und sie hatte schon im Kino bemerkt, dass sie wieder in dieser Stimmung war –, würde jedes Gespräch irgendwann bei ihrem Exfreund enden. „Es geht hier nicht um Stuart", wandte sie schwach ein, wurde aber von der Verve in Kates Redeschwall überrannt. „Entschuldigung, dass ich in einem Geschäft tätig bin, dessen erklärtes Ziel es ist, die Leute zufrieden zu machen. Entschuldigung, dass ich eines Tages von dieser Insel aus Beton, Stahl und Glas weg will. Entschuldigung, dass ich mir ein eigenes Leben schaffen will!" Stumm saß Darci da und starrte aus dem Fenster. Kate wandte sich ebenfalls ab und schaute ihrerseits wie vor ihrem Ausbruch in den 27
Regen. Nun, da ihre Wut sich abreagiert hatte, spürte sie nur noch eine Leere in ihrem Innern, nicht zum ersten Mal; eine Leere, die ihr Angst machte. Das Taxi setzte sie vor ihrem Apartmenthaus in SoHo ab. Der Abschied von Darci war knapp. Sie waren beide müde. Im Aufzug bereute Kate die Heftigkeit, mit der sie auf Darci eingeredet hatte. Sie war alles andere als souverän gewesen. Und war Souveränität nicht eines der wichtigsten Merkmale einer angehenden Juniorpart nerin? Sie wünschte, sie wäre nicht auch noch eine enttäuschte, verletzte Frau gewesen, die Ansätze von Verbitterung zeigte. Unversehens wurde Kate aus ihren Gedanken gerissen. Ein Ruck war durch den Aufzug gegangen, nur noch eine Notbeleuchtung erhellte die Kabine. Auch das noch. Was sollte sie jetzt machen? Sie hatte keine Lust, die halbe Nacht im Aufzug zu verbringen. Im nächsten Moment ging das Licht wieder an, die Türen fuhren auseinander. Allerdings befand sich der Aufzug noch nicht auf gleicher Ebene mit dem Korridor. Kate seufzte, kletterte aber lieber aus der Kabine, statt auf Hilfe zu warten. Erschöpft schlug sie kurz darauf die Wohnungstür hinter sich zu. Endlich zu Hause. Sie warf ihre Umhängetasche in einen Sessel und legte mit ihr den letzten Rest ihrer Geschäftsfrauen-Fassade ab. Jetzt war sie nur noch die völlig ausgelaugte Kate McKay, vom Leben enttäuscht und – ja, ja, auch ziemlich verbittert. Kate tauschte ihren Hosenanzug gegen ein ausgeleiertes Sweatshirt, das ihr bis über die Oberschenkel reichte, und einen bequemen Bademantel, ließ ein Bad einlaufen. Dann nahm sie ihr Abendessen – Chicken Chop Suy – aus der Mikrowelle, schaltete den Fernseher an und zappte, während sie das lauwarme Zeug hinunterschlang, durch die Kanäle. Das Spiel der Knicks musste jeden Moment zu Ende gehen. Nicht, dass sie sich für Basketball interessiert hätte. Die Faszination der Männer für Sport war ihr gänzlich fremd. Aber mit der einen oder anderen ebenso beiläufigen wie fundierten Bemerkung würde sie bei J.J. zweifellos punkten. Deshalb war sie erleichtert, im Sportkanal eben noch die letzten Sekunden des Spiels zu erwischen. Eilig kritzelte sie die Schlussbemerkung des Sportkommentators auf einen Block. Da vernahm sie aus der Wohnung über ihr das Bellen eines 28
Hundes. Bart. Mit gerunzelter Stirn schaute sie an die Decke. Jeder Schritt des Tieres drang deutlich zu ihr durch. Dieser Stuart! Wieso konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Überzeugt davon, dass jegliche Lebensäußerung ihres Ex-Freundes nur den einen Zweck hatte, sie zu belästigen, war sie schon drauf und dran, ihm einmal mehr ihre Meinung zu sagen, als Schritte und Bellen erstarben. Doch nicht für lange. Kate lag gerade in der Badewanne – der erste wirklich entspannende Moment an diesem endlos langen Tag –, als sie von oben erneut Geräusche vernahm. Erst ein Knall, so als sei etwas zu Boden gefallen, dann Schritte und zu all dem Barts Gebell. Kate nahm die Gurkenscheiben von ihren Augen und starrte an die Decke. Da war noch etwas, das sie hörte. So als würde etwas über den Boden geschleift. Was hatte das zu bedeuten? Kate stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog ihren Bademantel an. Sie fragte sich, was Stuart nun schon wieder anstellte. Eilig verließ sie die Wohnung – allerdings nicht durch die Wohnungstür, sondern über die Feuerleiter. Das alte rostige Eisen knirschte bei jedem Schritt, weshalb sie nur vorsichtig auftrat. Es regnete noch immer und würde in dieser Nacht auch nicht mehr aufhören. Schon von weitem hörte sie Barts Gebell und Stuart, der ihn ausschimpfte. Mit vor Aufregung wild pochendem Herzen wagte sie einen Blick ins Innere von Stuarts Wohnzimmer. Eine Unzahl von Leuchtdioden und Anzeigen blinkten. Was waren das für Apparaturen? Das Zimmer wirkte wie ein gewaltiger Kontrollraum. War das wieder eine von Stuarts seltsamen Erfindungen, von denen er ständig gefaselt hatte, ohne dass sie je ein Wort davon begriffen hatte? Kate beobachtete, wie Stuart Bart in die Küche zerrte, was kein leichtes Unterfangen war, denn Bart war ein voll ausgewachsener Bernhardiner, der die Ausmaße eines Kalbes hatte. Erst zuletzt bemerkte Kate, dass jemand auf dem Sofa lag. Leider konnte sie nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn die Person kehrte ihr den Rücken zu. Trotzdem stand für Kate fest, dass es eine Frau war. In welcher Bar Stuart sie wohl abgeschleppt hatte? 29
Da kehrte Stuart aus der Küche zurück. Er kam genau auf das Fenster zu. Kate zog rasch den Kopf ein. Ihr Herz schlug so laut, dass sie fürchtete, er könnte es hören. Hoffentlich kommt er nicht raus, dachte sie. Sie hätte ein schönes Bild abgegeben, zusammengekauert und im Bademantel und das auch noch auf seinem Balkon. Aber zum Glück öffnete Stuart nur das Fenster. Kates Verlangen danach, Zeugin von Stuarts Liebesgeflüster und weitergehender Aktivitäten zu werden, hielt sich in Grenzen. Sie wusste jetzt schon mehr als genug. Deshalb ergriff sie die nächste Gelegenheit, um zu verschwinden.
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Stuart stand am Fenster und sog die feuchte Nachtluft tief in seine Lungen. An seinen Schläfen spürte er ein unablässiges Pochen. Vermutlich Nachwirkungen des Sprungs. Da wandte er sich eilig um und betrachtete den Mann auf dem Sofa. Er lag wirklich da. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, hätte er das Ganze vermutlich für einen Traum gehalten. Aber er war da! Stuart trat zu ihm. Der Mann hing im Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen fest, die ganze Zeit hatte er schon vor sich hingemurmelt, meist Unverständliches. Als Stuart ihn nun an der Schulter berührte, drehte er sich um. Der Regen hatte seine feinen, maßgeschneiderten Kleider durchnässt. Stuart löste die Seidenkrawatte von seinem Hals, lockerte den obersten Knopf seines Hemdes. Ohne die Augen zu öffnen, setzte sich sein Gast sogar halb auf, streckte die Arme etwas von sich und ermöglichte es Stuart so, ihm den goldbestickten Rock auszuziehen. „Ich wollte ihn retten, Otis", sagte er benommen, „doch er beschimpfte mich dafür und sprühte mir Pfeffer in die Augen. Mit brennenden Augen stürzte ich ins Wasser. Noch jetzt klingen mir seine Schimpfwörter in den Ohren." Stuart bemerkte, wie er mehr und mehr zu Bewusstsein kam. Sein Herz schlug heftig. Er konnte das alles noch immer nicht fassen. Wie hätte er auch? Vor ihm saß sein Ururgroßvater Leopold Alexis Elijah Walker Gareth Thomas Mountbattan, der Graf von Albany. Und nun öffnete er seine Augen, die allmählich aufhörten zu tränen, und sah seinen Nachfahren ahnungslos an. „Wer seid Ihr?", fragte er, überrascht, nicht seinen Diener Otis vor sich zu sehen. „Stuart. Mein Name ist Stuart." Leopold griff in eine Tasche seiner Samtweste und legte eine Goldmünze auf den Tisch. „Ihr Diener soll eine Droschke kommen lassen", sagte er im feinsten Oxford Englisch. „Teilen Sie der Gesellschaft mit, der Graf sei unpässlich..." Was absolut der Wahrheit entsprach, denn Leopolds Blick 31
verschleierte sich, er verdrehte die Augen und fiel zurück in seine Ohnmacht. Stuart betrachtete den regungslos daliegenden Mann. Eine Gänsehaut lief über seinen gesamten Körper. Da kam Bart, den es nicht in der Küche gehalten hatte, heran. Er stupste Leopold mit seiner feuchten, kalten Nase an, blickte dann winselnd zu seinem Herrchen. Stuart verharrte noch eine Weile regungslos. Dann wurde er sich klar, dass das niemals hätte geschehen dürfen. Leopold durfte nicht hier sein. Er wurde in einer anderen Zeit gebraucht, sogar dringend gebraucht. Nicht zuletzt musste er heiraten und Kinder zeugen. Denn wenn er das nicht tat, würde es ihn, Stuart, dann überhaupt geben ? Noch war er da. Aber wie lange noch? Jederzeit konnte er aus dem Zeitkontinuum herausfallen, so als hätte es ihn nie gegeben. Und das stimmte ja: Wenn er den Fehler nicht berichtigte, würde es ihn nie gegeben haben. Die Paradoxons des Raum-Zeit-Kontinuums verfluchend, nahm Stuart das Telefon. Wenn einer Rat wusste, dann war es der schwedische Physiker Hans Reisendorf. Schließlich hatte er die Theorie entworfen, nach der Stuart seine Zeitreise unternommen hatte. Vor Jahren hatte Stuart an einem seiner Seminare teilgenommen. Er kramte Reisendorfs bahnbrechendes Buch aus einem Berg von Unterlagen auf seinem Schreibtisch und wählte eine Telefonnummer, die er einst auf die Innenseite des Umschlages geschrieben hatte. Während Stuart noch überlegte, wie spät es in Europa gerade war und ob er den armen Professor aus dem Bett holen würde, erklang am anderen Ende der Leitung eine Stimme. Leider gehörte sie nur einem Anrufbeantworter. „Hier ist Stuart Besser", sagte Stuart. „Ich habe 1996 an ihrem Raum-Zeit-Seminar an der Columbia University teilgenommen, Herr Reisendorf. Sie sagten damals, ich solle Sie anrufen, wenn ich auf der anderen Seite gewesen bin. Nun, ich war da. Heben Sie also ab." Stuart wartete einen Moment, rief sich dabei ins Bewusstsein, dass der Professor das damals mehr im Scherz gemeint hatte. Da niemand abhob, war Reisendorf wohl wirklich nicht da. Stuart bat dringend um Rückruf, hinterließ seine Nummer und legte auf. 32
Ratlos ging er in der Wohnung auf und ab, blieb stehen, betrachtete Leopold auf dem Sofa und ging wieder weiter. Bart sah ihm zu, kaum "weniger ratlos, wenn auch aus anderen Gründen. Schließlich holte Stuart ein dickes Buch aus dem Regal, ein umfangreiches Nachschlagewerk über die Mitglieder der englischen Königsfamilie, in dem viele Originaldokumente abgedruckt waren. Er schlug es an einer eingemerkten Stelle auf. Da schrillte das Telefon. Stuart zuckte zusammen. Hoffnung flammte in ihm auf. Er nahm ab. „Hans ?", rief er aufgeregt in den Hörer. „Mein elektronischer Terminplaner", drang es in sein Ohr. „Der liegt noch bei dir rum." Kate. Ein enttäuschtes Seufzen entfuhr Stuart. Ständig rief sie mit meist fadenscheinigen Vorwänden an, verfolgte ihn mit eifersüchtigen Unterstellungen und Anschuldigungen. Dabei war sie es gewesen, die vor einem Monat Schluss gemacht hatte, angeblich weil er keine Perspektive habe, sein Leben vielmehr mit hirnrissigen Ideen verplempere. „Weißt du, wie spät es ist?", fragte Stuart genervt. Da er es selbst nicht wusste, sah er auf seine Armbanduhr. Drei Uhr morgens. „Offensichtlich bist du noch auf, also können wir auch reden", kam es schnippisch zurück. Stuart kannte diesen Ton aus langer leidvoller Erfahrung. Er verhieß nichts Gutes. Selbst wenn er ihren Terminplaner gehabt hätte, würde Kate erst auflegen, nachdem sie ihm alles an den Kopf geworfen hatte, was sie während ihrer fünfjährigen Beziehung an ihm gestört hatte. Und das war nicht wenig! „Ich weiß nicht, wo dein digitaler Terminplaner ist", sagte er, „und ich habe jetzt keine Zeit für so was. Ich erwarte einen wichtigen Anruf." Stuart legte auf und wandte sich wieder dem Buch zu. Noch war alles beim Alten. Das alte Foto, das Leopold neben dem Prototypen des von ihm erfundenen Aufzugs zeigte, war noch immer da. Das Zeitkontinuum war also noch intakt. Nur für wie lange? Das Telefon klingelte erneut. Aufgeregt hob Stuart ab. „Hans?" 33
„Wie du weißt, wird nach einer Trennung üblicherweise der gemeinsame Besitz aufgeteilt", kam erneut Kates Stimme, die nun noch spitzer, noch beleidigter klang. „Die einzige Ausnahme ist eine Schachtel mit Urlaubsbildern, die in einem Schrank aufbewahrt wird, der so was wie eine neutrale Zone darstellt. Aber irgendwann hat die verletzte Partei sich damit abgefunden, dass der Kerl, der auf den Bildern vermeintlich liebevoll den Arm um sie legt, in Wirklichkeit ein nichtsnutziger Sukkubus ist, dessen einziges Verdienst es war, ihr Kreditkartenkonto hoffnungslos zu überziehen, den ganzen Tag vor dem Fernseher rumzuhängen oder Studentinnen nachzusteigen." Stuart hatte nur mit einem Ohr zugehört, denn er hatte nebenbei in seinen wissenschaftlichen Unterlagen gekramt. Die letzten Worte aber waren zu verletzend, um unerwidert zu bleiben. Er war keineswegs der Taugenichts, den sie aus ihm machte. Er hatte in den vergangenen Jahren hart gearbeitet. Hätte sonst ausgerechnet er den Menschheitstraum der Zeitreise wahrmachen können? „Du wirst noch bereuen, was du eben gesagt hast", hielt er Kate entgegen. „Ach. Und warum sollte ich?", kam es schnippisch zurück. „Weil ich einen großen Durchbruch erzielt habe." Er knallte den Hörer auf die Gabel. Nur wenig später fuhr Bart, der sich mittlerweile zur Ruhe gelegt hatte, ebenso überraschend wie scheinbar grundlos auf und begann unter Schmerzen zu winseln. Stuart begriff im ersten Moment nicht, was er plötzlich hatte. Aber dann fiel ihm ein, dass Kate noch eines dieser elektronischen Geräte besaß, mit denen man per Funk in Barts Halsband einen kleinen Stromstoß auslösen konnte, sodass er zu bellen aufhörte. Offenbar hatte sie sich entschlossen, ihn die ganze Nacht zu terrorisieren. Stuart nahm dem Bernhardiner das Halsband ab und bereitete dem Spuk so ein Ende. Gleichzeitig wälzte Leopold sich unruhig im Schlaf, stöhnte und murmelte Unverständliches, so als durchlebte er einen Albtraum. Da klingelte das Telefon erneut. Schon wieder Kate. Wollte sie ihn zum Wahnsinn treiben? „Hör bitte auf damit, Kate", sagte er. „Ich hab jemanden hier." „Das weiß ich. Ich hab sie gesehen." 34
Stuart verstand. Sie glaubte, er habe eine Frau hier, und glühte vor Eifersucht. Unter anderen Umständen hätte ihm das vielleicht eine innere Genugtuung verschafft, doch jetzt wollte er nur seine Ruhe haben. „Es ist ein er, falls dich das beruhigt", sagte er und konnte sich dabei eine gewisse Herablassung nicht verkneifen. „Da du also weißt, dass ich in dieser Nacht mit niemandem mehr ins Bett gehe, kannst du jetzt in Ruhe schlafen gehen." Er knallte den Hörer auf die Gabel. Wenn Stuart geglaubt hatte, Kate sei nun zufrieden, hatte er sich verrechnet. Im Gegenteil. Ihre Neugierde war jetzt erst recht geweckt. Deshalb klingelte es gleich wieder. Stuart versuchte zuerst, ihren Fragen nach der Herkunft des Mannes auf seiner Couch und den Umständen ihres Zusammentreffens auszuweichen, erging sich dabei in so allgemeinen Formulierungen wie: „etwas Besonderes ist geschehen" oder: „Mein Leben erhält dadurch Sinn", was Kates Wissbegierde natürlich nur noch steigerte. Zuletzt sah Stuart keine andere Möglichkeit mehr, als ihr die Wahrheit zu sagen. „Ich habe eine Riss im Zeitgefüge gefunden, Kate", gestand er. „Er befindet sich über dem East River. Ein Portal, das genau zum 28. April 1876 führt. Ich bin heute von der Brooklyn Bridge gesprungen und im Jahr 1876 spazieren gegangen. Ich folgte meinem Ururgroßvater durch die Straßen des alten New York. Hörst du mir zu?" „Und wie." „Jetzt kommt das Problem. Er ist mir nach Haus gefolgt." Fassungslose Stille in der Leitung. „Dein Ururgroßvater, der Viscount von Buffalo ist dir nach Hause gefolgt und zwar durch einen Riss in der Zeit", wiederholte sie, offenbar schwankend, ob sie laut herauslachen oder umgehend einen Arzt verständigen sollte. „Er ist der Graf von Albany", stellte Stuart richtig, „Albany in England. Ich hab dir doch von ihm erzählt. Er war ein brillanter Ingenieur und hat sich den Aufzug patentieren lassen, der mit Gegengewichten arbeitet. Er hat die heute gebräuchliche Form des Aufzugs erfunden!" Erneut folgte langes Schweigen von Seiten Kates. Sie schien zu überlegen. Natürlich wusste Stuart, wie abenteuerlich sich diese Geschichte für sie anhören musste. Andererseits hatte er ihr 35
jahrelang von seinem Plan erzählt, dies war im Grunde nur die Erfüllung. Aber vermutlich reicht ihre Fantasie nicht, um etwas zu akzeptieren, was ihren beschränkten Alltagsvorstellungen nicht entspricht, dachte er. Stuart hatte Recht. Kates Fantasie reichte bei weitem nicht. Dabei hatte sie durchaus Fantasie. „Wir sind schon seit einem Monat nicht mehr zusammen, Stuart", sagte sie schließlich, „du kannst mir also ruhig die Wahrheit sagen. Du hast am Times Square einen Transvestiten aufgelesen, oder?" Stuart atmete enttäuscht durch. Zeigte ihr Verhalten nicht, woran sie beide letztlich gescheitert waren? Sie hatte ihm nie vertraut, nie an ihn geglaubt. Er fragte sich, wieso sie sich überhaupt in ihn verlieben konnte, wenn sie ihn die ganze Zeit für einen Spinner gehalten hatte. Da die Wahrheit sie offenbar nicht zufrieden stellte und er endlich seine Ruhe haben wollte, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen, gab er nach und erzählte ihr die Lüge, nach der sie so dringend verlangte. „Er ist ein Computerhacker, ein Engländer", sagte er. „Ich hab ihn an der Uni kennen gelernt, er ist für kurze Zeit in der Stadt. Wir haben ein paar Guinness zu viel getrunken, deshalb ist er auf meiner Couch eingeschlafen. Bist du damit zufrieden? Ist das plausibel genug für dich und dein beschränktes Fokusgruppengehirn?" Wieder langes Schweigen. Stuart hörte, "wie Kate atmete. Ihr Zorn, ihre Eifersucht hatten sich verflüchtigt. Sie klang verletzt und enttäuscht, als sie nach einer Weile sagte: „Ich hab meine besten Jahre an dich verschwendet, Stuart." „Wenn das schon deine besten Jahre waren", sagte er, wohl wissend, wie grausam das war. Er genoss es nicht, aber er konnte nicht anders. Er hatte genug davon, für alle Missgeschicke in ihrem Leben verantwortlich gemacht zu werden. „Gute Nacht", sagte er noch, und: „Es tut mir Leid." Kate legte auf. Traurig und verletzt. Sie klammerte sich an ihr Kissen. Bloß nicht weinen, dachte sie. Bloß nicht. Hatte Stuart Recht? Hatte sie wirklich nie an ihn geglaubt? Waren sie beide wirklich daran gescheitert? Natürlich hatte sie nicht an ihn geglaubt! Wie hätte sie an jemanden glauben sollen, der von Zeitreisen faselte? Sie war eine 36
rationale Frau. Nein, daran war ihre Beziehung nicht zugrunde gegangen. Stuart war unfähig gewesen, ein Leben in geregelten Bahnen zu führen. Wenn er wenigstens Künstler gewesen wäre, das hätte sie vielleicht noch tolerieren können. Aber so war er nur einer dieser verrückten Professoren, die man in billigen Horrorfilmen sah. Plötzlich vernahm sie aus Stuarts Wohnung Klavierklänge. Eric Satie. Sie hatte es immer geliebt, wenn Stuart Klavier spielte. Deshalb hatte sie ihm nach ihrer Trennung schon beim leisesten Ton, der von oben kam, mit der Polizei gedroht, wenn er nicht sofort aufhörte. Diesmal unterließ sie es. Und da war sie doch, die Träne, die sie hatte vermeiden wollen. Sie wischte sie eilig fort. Liebe ich ihn denn immer noch?, fragte sie sich. Da war noch ein Gefühl für ihn, aber war das Liebe? Sie war sich nicht sicher. Zumindest reichte es, um sie zornig und eifersüchtig zu machen. Aber vielleicht war sie gar nicht eifersüchtig, sondern nur neidisch. Sie hätte es nicht ertragen, wenn er eine neue Beziehung eingegangen wäre, während sie nichts vorzuweisen gehabt hätte außer ihrer Verbitterung. Kate hatte das Gefühl, das alles nicht mehr zu ertragen. Die Fotos auf ihrer Kommode, die sie als junges Mädchen mit Zöpfen lachend zwischen ihren Eltern zeigten. Damals war sie noch voller Hoffnungen und Erwartungen gewesen. Hatte sie seither jemals wieder so frei gelacht? Auch die Musik von oben ertrug sie jetzt nicht mehr. Sie presste das Kissen auf ihren Kopf, nur um sie nicht mehr hören zu müssen. Sie ertrug ihr ganzes Leben nicht mehr, das sie in diesem Moment als von Grund auf gescheitert empfand. Doch das würde vorübergehen. Es war nur eine Stimmung. Eine Stimmung, wie sie vermutlich viele weibliche Singles, die sich entschlossen hatten, Karriere zu machen, zuweilen hatten. Ein Zwischentief. Schon morgen früh würde die Sonne wieder scheinen und Kate sich an diese Nacht nur mehr wie an einen diffusen Traum erinnern.
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Leopold schlug die Augen auf. Von draußen sickerte das Licht der Morgensonne durch die Vorhänge. Mühevoll hob er den Kopf, der sich schlimmer noch als nach einer durchzechten Nacht anfühlte. Und offenbar war der Rausch nicht vorüber, denn was er um sich erblickte, konnte unmöglich die Wirklichkeit sein. Was waren das für seltsame Gerätschaften mit blinkenden Lämpchen? Gegenstände, die er nie zuvor gesehen hatte. Kein Zweifel, er war mitten in einem Fiebertraum erwacht. „Otis", rief er, „bringen Sie mir Medizin. Am besten alles, dessen Sie habhaft werden können." Erst jetzt setzte Leopold sich vollständig auf. Dabei fiel ihm ein Kästchen voller kleiner Knöpfe in die Hände, das zwischen den Kissen lag. Neugierig geworden, drückte er einen der Knöpfe. Schlagartig und wie durch einen Zauber erschienen in einem Kasten am anderen Ende des Raumes Gestalten, die so natürlich wirkten, dass sie unmöglich gemalt sein konnten. Und nicht genug damit, sie bewegten sich auch noch und redeten miteinander! Leopolds Herz begann vor Schreck zu rasen, gleichzeitig ergriff ihn Furcht. Dennoch war er zu sehr Forscher, um nicht auszuprobieren, was das schwarze Kästchen noch zu bieten hatte. Deshalb drückte er einen weiteren Knopf. Plötzlich schmetterte höllischer Lärm durch den Raum. Entsetzt sprang Leopold auf und hielt sich die Ohren zu. Obwohl der Krach rhythmische Elemente, ja sogar Melodien und Gesang aufwies – „I can't get no satisfaction", brüllte eine offenbar gepeinigte Seele –, hätte Leopold es niemals Musik zu nennen gewagt, denn es spottete jedem kultivierten Geschmack. Von der Seite wurde er zudem wild angebellt. Wenigstens das Tier, ein Bernhardiner, war echt, zumindest schien es so, wenngleich Leopold an seinen Sinnen zu zweifeln begann, denn ihm dämmerte, dass dies möglicherweise doch kein Traum war. Verzweifelt rief er nach Otis, nach Medizin, nach einem Arzt. Seine Hilferufe blieben unbeantwortet. 38
Leopold fürchtete um sein Leben. Er musste fort aus dieser Hölle, auch auf die Gefahr hin, dass ihn der bellende Zerberus zerreißen würde. Er rannte zur Tür, fand sie aber verschlossen und lief deshalb an eines der Fenster, riss die Vorhänge auf – und erstarrte vor Entsetzen und Staunen. Wohin um alles in der Welt hatte man ihn entführt? Von einer Stadt wie dieser, in der die Häuser Hunderte von Metern aufragten wie babylonische Türme, hatte er nie zuvor gehört. Befand er sich überhaupt noch auf der Welt? Oder war er vielleicht tot? Gefangen in einer Zwischenwelt? Er, der ganz dem wissenschaftlichen Denken ergeben war, war kurz davor, Dinge für möglich zu halten, die er vor kurzem noch verlacht hätte. Schlagartig verstummte der Krach, jemand brachte mit einem Wort den Hund zum Schweigen. Leopold fuhr herum. Der Fremde, dem er auf den Brückenturm gefolgt war, stand vor ihm. Da erinnerte er sich wieder. Er war mit ihm in den East River gesprungen. Mehr wusste er nicht mehr. „Wo bin ich?", fragte Leopold und wies mit der Hand auf die Türme. „Das lässt sich nicht so leicht erklären." „Wenn Sie auf ein Lösegeld aus sind, Sir", sagte Leopold kühl und verschränkte die Arme vor der Brust, „dann lassen Sie sich gesagt sein: Mein Onkel wird keinen Cent zahlen. Leider scheine ich durch das Gas, das Sie mir in die Augen gesprüht haben, noch immer nicht klar zu sehen. Deshalb frage ich Sie noch mal: Wo bin ich?" „Setzen Sie sich doch erst einmal." Leopold zögerte. „Glauben Sie mir, es ist besser so." Widerwillig nahm Leopold Platz. „Mein Name ist Stuart Besser." Das war das Einzige, was Leopold zu glauben imstande war. Der Rest hörte sich allzu abenteuerlich an. Was sollte er von Zeitreisen und seltsamen Apparaturen, von Theorien und Zeitportalen halten, von denen der Mann ihm berichtete? Dieser Mensch musste ein Wahnsinniger sein, ein aus einer Anstalt Entsprungener, dem noch weit Schlimmeres als eine Entführung zuzutrauen war. 39
„Sie wollen mir also weismachen, ich befände mich in der Zukunft", fragte Leopold nach, auf einem schmalen Grad zwischen Lachen und Weinen balancierend, „in einer Zeit, die lange nach mir kommen wird?" Stuart nickte. „Und Sie wollen mein Nachfahre sein, ferner Sprössling einer Heirat, die ich erst schließen werde? Sie wollen, dass ich Ihnen glaube, Sie hätten einen Riss in der Zeit gefunden, durch den Sie von einem Jahrhundert in ein anderes geschlüpft seien?" „Wenigstens Sie als Wissenschaftler sollten unvoreingenommen sein", entgegnete Stuart. „Sie sind Ingenieur. Sie haben den Fahrstuhl erfunden." Leopold Erregung wuchs. „Worüber reden Sie? Was ist ein Fahrstuhl? So sagen Sie mir endlich, wo ich mich befinde!", flehte er zuletzt. „In New York City. Das sagte ich doch schon." Leopold sprang auf und wies mit ausgestreckter Hand zum Fenster hinaus, zu den Türmen, die sich bis in den Himmel zu strecken schienen. „Das, Sir, ist nicht New York!", beharrte er. „Ich fürchte doch", kam da eine Stimme vom Fenster. Leopold wandte sich um. Am offenen Fenster stand eine junge Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Da er ihr vorher noch nie begegnet war – noch nie begegnet sein konnte, wenn die Geschichte dieses Mannes stimmte –, musste sie ihn wohl an jemanden erinnern. Kate war der Lärm in der Wohnung über ihr natürlich nicht entgangen. Erst der Fernseher, dann das Gebrüll der Stereoanlage, Barts Gebell, eilige Schritte. Die letzte Nacht mit all ihren emotionalen Turbulenzen lag für sie an diesem strahlenden Morgen wie hinter einem Nebelschleier, sie erinnerte sich daran nur wie an einen unangenehmen Traum. Heute war sie wieder ganz die ehrgeizige, coole Geschäftsfrau, der in naher Zukunft eine Juniorpartnerschaft angeboten werden würde. Trotzdem brannte sie vor Neugier, zu erfahren, wer in Stuarts Apartment übernachtet hatte. Noch immer hegte sie leise Zweifel, ob es nicht vielleicht doch eine Frau gewesen war. Deshalb war sie irgendwie erleichtert, als sie diesen seltsam gekleideten, ansonsten 40
aber blendend aussehenden jungen Mann in Stuarts Wohnung erblickte. „Wie heißen Sie?", fragte sie nun. „Leopold." „Angenehm. Ich bin Kate. Sie kennen Stu also von der Uni. Oder sind Sie vielleicht doch aus der Vergangenheit angereist?" Sie musterte mit einem raschen Blick seinen Aufzug. „Oder sind Sie Sgt. Pepper? Eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden, Lionel, das muss ich zugeben." Leopold sah sie ratlos an. „Er behauptet, ich sei sein Vorfahre", sagte er dann und deutete auf Stuart. Kate zog die Brauen zusammen. Verstehe, dachte sie, die beiden haben sich abgesprochen. Glaubt Stu im Ernst, jemand würde ihm die Geschichte abkaufen? „Können wir ein wenig unter uns sein ?", fragte Stuart da erbost, trat ans Fenster, ließ es niedersausen und zog die Vorhänge zu. Kate klopfte heftig gegen die Scheibe. „Ich will meinen elektronischen Terminplaner!", rief sie. Während Bart anfing zu kläffen, rannte Stuart in sein Schlafzimmer und holte den Terminplaner, den Kate bei ihm liegen gelassen und den er bisher nicht zurückgegeben hatte, damit sie einen Grund haben würde, ihn anzurufen. Seit ihrer Trennung spielten sie dieses Spiel, führten vermeintlich zufällige Begegnungen herbei und taten so, als sei ihnen das im höchsten Grade unangenehm. „Wer ist die Frau?", fragte Leopold, der ihm folgte wie sein Schatten. „Sie kommt mir irgendwie –" „Die Frauen haben sich in den letzten hundert Jahren verändert", sagte Stuart nur, wobei er den Terminkalender, der die Größe einer Hand hatte, in einen Umschlag steckte. „Sie sind zu einer Gefahr geworden." Damit lief er zurück ins Wohnzimmer. Da Kate schon wieder nach unten verschwunden war, warf er den Umschlag mit dem Kalender einfach auf ihren Balkon. „Sie haben gesagt, dies sei keine Entführung", meinte er nun. „Wieso haben Sie dann die Tür abgeschlossen?" Stuart stemmte die Arme in die Seite. Leopold hatte also versucht, die Wohnung zu verlassen. „Bei allem Respekt, Leopold", 41
sagte Stuart nun, bemüht, ernst, aber nicht bedrohlich zu klingen, „ich kann Sie da draußen nicht einfach frei rumlaufen lassen. Die Leute würden Ihnen wehtun. Sie würden glauben, Sie seien aus einer Irrenanstalt ausgebrochen." Leopolds Blick fiel bleischwer zu Boden. Zum ersten Mal schien er in Erwägung zu ziehen, dass Stuarts Geschichte vielleicht doch stimmte. Diesem war klar, was das für ihn bedeutete: Die Menschen, die er kannte, die Welt, in der er gelebt hatte, gab es längst nicht mehr. Er war ganz allein. Tröstend legte Stuart ihm die Hand auf die Schulter. „Ich verstehe Ihre Angst. Das ist vollkommen normal. Aber ich verspreche Ihnen: Ich werde Sie wieder nach Hause bringen. Das Portal öffnet sich nächsten Montag noch einmal. Das war mein Reservetermin für den Fall, dass ich es letzte Nacht nicht geschafft hätte, zurück zukommen. Es öffnet sich zyklisch, verstehen Sie. Alle fünfundzwanzig Jahre. Verstehen Sie?" „Gewöhnlich verstehe ich alles", entgegnete Leopold. „Seit ich Ihnen begegnet bin aber rein gar nichts. Ich bin entweder in einem Albtraum gefangen – oder tot." In diesem Moment fing Bart wieder an zu bellen. Er ließ sich auch nicht mehr beruhigen, denn er brauchte seinen Morgenspaziergang, und zwar dringend. Während Stuart in die Küche ging, um Kaffee zu holen, ließ Leopold sich auf die Couch fallen. Die Gedanken hinter seiner Stirn jagten sich. Was war von dieser abenteuerlichen Geschichte zu halten? Zweierlei durfte als gesichert angesehen werden: Er war weder tot noch in einem Traum. Dafür war alles zu real. Aber was war mit dieser Stadt da draußen vor dem Fenster? Stuart kam nicht nur mit einer Tasse Kaffee zurück, sondern brachte auch einen Stapel loser Papiere, dazu Notizblöcke und Ordner. Sie enthielten Stuarts Mitschriften aus Reisendorfs Seminar, eigene Berechnungen und Theorien. Er bat Leopold, sie durchzusehen. „Vielleicht verstehen Sie dann mehr." Dann legte er Bart die Leine an und verschwand, jedoch nicht, ohne die Tür von außen abzuschließen. Zufrieden mit sich selbst trat Stuart an den Aufzug und drückte den Knopf. In seiner Hosentasche hatte er noch immer den Film, den 42
er auf seiner Reise in die Vergangenheit belichtet hatte. Die Bilder würden die Sensation des Jahres sein und ihn nicht nur reich machen, sondern ihm die Türen zu allen Universitäten der Welt öffnen. Ehrendoktorwürden, Auszeichnungen, Empfang im Weißen Haus. „Der Nobelpreis ist mir sicher", sagte Stuart und sah Bart an, während die Fahrstuhltüren auseinander fuhren. Noch immer Bart zugewandt, machte Stuart einen Schritt nach vorne. Als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte, war es schon zu spät. Er trat ins Leere, fiel wie ein Stein in die Schwärze des Fahrstuhlschachts. Und keine Zeit, sich zu fragen, wo der Fahrstuhl geblieben war. Ruckartig wurde sein Fall gestoppt. Erst da wurde Stuart bewusst, dass er an der Hundleine hing. Mit allen Vieren stemmte Bart sich dagegen, vom Gewicht seines Herrchens in den Abgrund gezogen zu werden. Es war ein Kampf um Zentimeter, ein Kampf, den Bart und Stuart verlieren würden. Ungehört verhallten Stuarts Hilferufe. Barts Hundetreue indes hatte ihre Grenzen. Und einer dieser Grenzen näherte er sich gerade zentimeterweise. Der Bernhardiner senkte den massigen Kopf. Sein Halsband rutschte tiefer und tiefer, über seinen Hals, die Ohren, den Kopf. Gerade als die Fahrstuhltüren sich schlössen, hatte Bart sich die Leine vollständig abgestreift. Stuart sackte tiefer, doch sein Fall wurde erneut aufgefangen. Das Halsband hatte sich zwischen den Türen verfangen. Hoffnung keimte in ihm auf. Doch wie sollte er sich aus dieser Lage befreien? Er wurde einer Beantwortung dieser Frage enthoben, denn mit einem heftigen Ruck wurde das Halsband durch den Schlitz gezogen. Unaufhaltsam fiel Stuart in die Tiefe, fünf Stockwerke tief... Fassungslos blätterte Leopold Stuarts Unterlagen durch. Doch all die undurchschaubaren Algorithmen und Gleichungen brachten keine Klarheit, im Gegenteil, sie vergrößerten seine Verwirrung nur. In einer Mappe befanden sich Zeitungsausschnitte und Fotogra fien, viele davon in Farbe. Auf einer erblickte Leopold Roeblings Brücke im fertigen Zustand und aus der Luft (vielleicht aus einem Ballon?) aufgenommen. Sie sah majestätisch aus. Er bewunderte 43
auch die Qualität der Fotografie, deren Farben vollkommen natürlich wirkten. Ein Klingeln schreckte Leopold auf. Es kam nicht von der Tür, sondern mitten aus dem Raum. Nach einem Piepton vernahm er die Stimme einer Frau, ihr Englisch enthielt einen schweren, vermutlich schwedischen Akzent. „Hier ist Margo Reisendorf. Sie können sich weitere Anrufe sparen. Hans ist schon seit zwei Jahren tot." Die Frau verstummte. Leopold stand auf. Er ging in jeden Raum, auf der Suche nach der geheimnisvollen Frau. Doch er war allein. Das Badezimmer gewann sein Interesse. Was für eine eigenartige Toilette. Wozu der Knopf wohl gut war? Leopold zog daran. Lautes Rauschen hob an. Erschrocken sprang er erst zurück, wagte sich dann aber gleich wieder vor. Die Toilette füllte sich wieder mit Wasser. „Faszinierend", murmelte er bewundernd und probierte es gleich noch einmal. Dann wurde er auf die vielen eigenartigen Dinge aufmerksam, die vor dem Spiegel standen. Er griff sich eine Dose, auf der „Rasierschaum" stand. Eine Reihe von Abbildungen zeigten ihren Gebrauch. Leopold schüttelte und drückte auf ein Ventil an der Oberseite, ein Schwall Rasierschaum schoss quer durch das Bad. Wie bequem, dachte er und rieb sich das Kinn. Eine Rasur hätte er in der Tat vertragen können. Leopold war eben mit der Rasur fertig, als es heftig an der Tür klopfte. „Stuart! Zu dem Planer gehört auch ein Stift! Gib ihn mir!" Das war zweifellos wieder die Frau von vorhin, diese Kate. Wenig später wurde die Tür aufgeschlossen – sie hatte also einen Schlüssel, was auf eine sehr nahe Bekanntschaft schließen ließ – und Kate stand in der Wohnung. Hastig knöpfte Leopold sein Hemd zu. Kate betrachtete ihn aufmerksam, mit einem gewissen Wohlgefallen, wie ihrem Blick leicht zu entnehmen war. Auch Leopold musterte sie. Er fand sie hübsch, nur ihre Garderobe – sie trug einen Pullover und eine Herrenhose - empfand er als wenig damenhaft. „Man hat mich vor Ihnen gewarnt", sagte er. Kate zog die Brauen hoch, ein amüsierter Ausdruck trat auf ihr 44
Gesicht. Ihre Mundwinkel spitzten sich, Grübchen traten auf die Wangen. „Hat man das", sagte sie. „Und was hat die größte Enttäuschung meines Lebens wohl von mir erzählt?" „Dass Sie gefährlich sind." Leopold lächelte verhalten und fügte nach einer Pause hinzu: „Auch wenn man es Ihnen nicht ansieht." „Was Sie nicht sagen, Lionel." „Eine Frau in Hosen ist nicht gefährlich. Sie sieht lediglich unvorteilhaft aus. Sie sind wohl eine dieser arbeitenden Frauen." „Allerdings", gab Kate pikiert zurück. „Marktforschung." „Eine Tätigkeit, die mir dem weiblichen Wesen gemäß zu sein scheint." Kate lachte laut auf. Wie gewählt er sich ausdrückte. Diese Engländer sind doch alles feine Pinkel, dachte sie. Das ändert aber nichts daran, dass er ein Macho ist. Sie begann nun, die Wohnung nach ihrem Stift zu durchsuchen, ohne Leopold weiter zu beachten. Schließlich fand sie auf Stuarts Schreibtisch, was sie suchte. „Ich werde das Gefühl nicht los, wir sind uns schon begegnet", sagte Leopold. Obwohl Stuart ihn vor ihr gewarnt hatte, empfand er Sympathie für Kate. Sie aber entgegnete spitz: „Da ich keinen von Stuarts Freunden jemals kennen gelernt habe – und offen gesagt wusste ich nicht einmal, dass er welche hat -, können wir uns gar nicht begegnet sein." Damit ließ sie ihn stehen. Wenig später fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Nachdenklich und auch ein wenig verwirrt blieb Leopold zurück. Diese Frau faszinierte ihn, gerade wegen ihrer Kratzbürstigkeit. Er hatte eben Rock und Stiefel angezogen, als die Tür erneut aufflog und Kate Bart hereinzerrte, wobei sie Leopold vorwurfsvoll ansah. „Er hat da draußen eine Riesenpfütze gemacht", sagte sie. „Sie können ihn doch nicht einfach auf den Gang werfen und das war's dann." Während Leopold verdattert dastand, legte Kate dem Bernhardiner eine Hundeleine an und drückte Leopold das andere Ende in die Hand. Dann wandte sie sich um und ging Richtung Aufzug. Da 45
Leopold weiterhin wie angewurzelt dastand, drängte sie ihn: „Worauf warten Sie? Gehen wir!" Zögernd folgte ihr Leopold. Er erinnerte sich an Stuarts Warnung. Andererseits war er viel zu neugierig auf diese seltsame neue Welt, als dass es ihn noch länger in Stuarts Wohnung gehalten hätte. Da der Fahrstuhl nicht funktionierte, nahmen Kate und Leopold die Treppe. Bart schien im Flur nur dem allergrößten Drang abgeholfen zu haben, denn er zerrte kräftig an der Leine, während er hechelnd vor ihnen herlief. In der Lobby entschuldigte sich Portier Gracy für den Defekt des Fahrstuhls, den er sich nicht erklären konnte. Kate holte die Post aus ihrem Brieffach. Die Briefe durchsehend, trat sie auf die Straße, ohne weiter auf Leopold zu achten. Kaum war Leopold ins Freie getreten, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Im nächsten Moment machte er einen Satz nach hinten und rempelte dabei einen Passanten an. Dieser nahm sich nicht einmal die Zeit, Leopolds Entschuldigung entgegenzunehmen, sondern ging, eine grobe Bemerkung bellend, sofort weiter. Leopolds Herz raste. So viele Menschen hatte er noch nie gesehen! Und was für ein Lärm! Was für ein unangenehmer Gestank! Mit Verwunderung betrachtete er die unzähligen Fahrzeuge aus Blech, die sich die Straßen hinabschoben und dabei stinkende Wolken hinter sich herzogen. Da sie kein Zugtier vorgespannt hatten, fragte er sich, was sie wohl antrieb. Eine Dampfmaschine? Bunte Lichter schienen den Verkehr zu regeln. Broadway, las Leopold auf einem Schild. Stuart hatte ihn also nicht belogen. Das war New York. Dann stimmte wohl auch der Rest seiner Behauptung: Leopold war in einer anderen Zeit. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, eine Mischung aus Schauder und Faszination. Unterdessen hatte Kate ihre Post durchgesehen. Sie warf die meisten Kuverts ungeöffnet in den nächsten Mülleimer. Der Briefträger hatte fälschlicherweise Stuarts Kreditkartenabrechnung in ihr Fach geworfen. Dafür war sie nicht mehr zuständig. Es bereitete ihr eine tiefe Genugtuung, sie Leopold in die Rocktasche zu stecken. Dann beschrieb sie ihm mit knappen Worten den Weg 46
zu einer Grünfläche, in der Bart sein Geschäft würde verrichten können. „Schönen Tag noch", sagte sie nur noch, sprang in ein Taxi, das sie eben herbeigewinkt hatte, und weg war sie. Bart schien den Weg zum Grün zu kennen. Er zerrte an der Leine und bog an der von Kate beschriebenen Ecke auch richtig ab. Doch dann blieb er schlagartig stehen, denn er hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Afghanische Windhunddame bemerkt, die ihm vielsagende Blicke zuwarf, während ihr Frauchen an einem Kiosk eine Zeitschrift kaufte. Leopold war ebenfalls wie gebannt stehen geblieben – nicht wegen der Hundedame, sondern weil etwas in einem Schaufenster seine Aufmerksamkeit fesselte. Inmitten zahlreicher Geräte, über deren Funktion er nur rätseln konnte, entdeckte er sein eigenes Abbild. Es folgte jeder seiner Bewegung wie ein Spiegelbild, doch das vor ihm war kein Spiegel. Er merkte bald, dass dieses Bild durch eine Linse eines fotografischen Apparates aufgenommen und auf seltsamen Wegen auf den Schirm projiziert wurde. Eine Welt voller Wunder war das! Doch Leopold blieb keine Zeit, die Wunder weiter zu bestaunen, denn plötzlich spürte er an der Hundeleine einen Ruck. Bart hatte sich spontan entschlossen, der Hundedame seine Aufwartung zu machen und zerrte den überraschten Leopold mitten auf die viel befahrene Straße. Hupen ertönten, Bremsen quietschten. Die Fahrer kurbelten ihre Scheiben herunter und schrien wüste Beschimpfungen. Leopold, der Bart nun wieder im Griff hatte, entschuldigte sich nach allen Seiten, wenn auch äußerst indigniert durch die derbe Sprache, mit der diese ungehobelten Menschen das Ohr eines Edelmannes zu beleidigen sich unterstanden. Zügigen Schrittes strebte Leopold nun mit Bart dem Battery Park entgegen. Nach dem Gestank in den Straßen war die frische Seeluft, die vom offenen Ozean herüberwehte, eine Wohltat. Während Bart sein Häufchen machte, wandte Leopold sich – peinlich berührt – ab, blickte abwechselnd aufs Meer hinaus oder zu den auf der anderen Seite hoch aufragenden Häusern. „Sie lassen das hoffentlich nicht liegen", sagte da eine weibliche Stimme in seinem Rücken. 47
Leopold wandte sich um. Vor ihm stand eine kräftig gebaute Frau in Polizeiuniform. Er sah sie ratlos an, denn er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie von ihm wollte. Sie wies mit ihrem Schlagstock auf den beträchtlichen Haufen, den Bart hinterlassen hatte. „Heben Sie das auf und werfen Sie es in einen Mülleimer", verlangte sie brüsk. Leopolds nahm eine vollkommen aufrechte Haltung an und sah die Polizistin mit einer Mischung aus Empörung und Herablassung an. Er, ein Graf und Mitglied der königlichen Familie, sollte einen Hundehaufen beseitigen? So barbarisch konnte auch diese Zeit nicht sein. „Das werde ich gewiss nicht tun", verwahrte er sich. „Sie wollen also das Gesetz übertreten?", versetzte sie und sah ihn unter zusammengezogenen Brauen heraus finster an. „Wollen Sie behaupten, Madam, es existiere ein Gesetz, das von einem Gentleman verlangt, die Hinterlassenschaften eines Hundes zu beseitigen?", fragte Leopold fassungslos. „Sie heben die Hundekacke auf und werfen Sie weg, und zwar sofort!" Leopold verschränkte die Arme vor der Brust. „Bei allem Respekt, das werde ich keinesfalls tun!" „Wie Sie wollen." Die Polizistin zückte nicht ihren Schlagstock oder ihre Schusswaffe, wie Leopold schon befürchtet hatte, sondern einen Schreibblock. „Name?" „Leopold Alexis Elijah Walker Gareth Thomas Mountbattan." „Ihren Namen, nicht Ihren Stammbaum", versetzte die Polizistin. Da bemerkte sie das an Stuart adressierte Kuvert in Leopolds Fracktasche. Sie trug einfach den daraufstehenden Namen ein und reichte Leopold einen Durchschlag des Strafzettels. „Schönen Tag noch, Stuart", sagte sie und ging. Noch peinlich berührt von diesem Vorfall, ging Leopold mit Bart ein wenig am Wasser entlang spazieren. Plötzlich aber blieb er stehen, denn er hatte etwas bemerkt, das ihm beinahe den Atem verschlug. Was da über die Häuser ragte – das musste Roeblings Brücke nach Brooklyn sein! „Komm, Bart", sagte er und beschleunigte seine Schritte, „das sehen wir uns an." 48
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Reiner Zufall? Auch im Gebäude von MRG Research, der Marktforschungsgesellschaft, für die Kate arbeitete, waren sämtliche Fahrstühle außer Betrieb. Ausgerechnet heute, da Kate sowieso schon spät dran war. Inmitten eines Heeres von Büroangestellten, das tagsüber den Wolkenkratzer bevölkerte wie Termiten ihren Bau, quälte sie sich die Treppen hinauf und führte dabei mittels ihres Handys erste Telefonate. Als sie das Büro betrat, fand sie Darci wie jeden Morgen in einem ihrer Schundromane schmökernd vor. „Was ist mit den Fahrstühlen los?", wollte Kate wissen. „Außer Betrieb", entgegnete Darci, ohne aus ihrem Buch aufzublicken, auf dessen letzten Seiten sie sich befand. „In der ganzen Stadt. Kam eben in den Nachrichten." Eigenartig, dachte Kate. Ein Stromausfall konnte jedenfalls nicht schuld sein, denn alle anderen technischen Geräte liefen offenbar einwandfrei. Vielleicht eine Art Fahrstuhl-Virus, dachte sie. „Wann sind sie denn endlich am Traualtar?", fragte Kate ungeduldig, denn Darci machte nicht den Anschein, als würde sie ihre Lektüre unterbrechen, ehe sie die letzte Zeile verschlungen hatte. In der Tat, sie las unbekümmert weiter, seufzte schließlich erleichtert auf und schlug das Buch zu. „Irgendwelche Anrufe?", fragte Kate. Darci sah auf ihren Notizblock. „Die Ergebnisse der Testvorstellung von gestern sind da, ich hab sie dir auf den Schreibtisch gelegt", teilte Darci mit. „Der Termin mit den Filmleuten ist um vier. Um drei findet im Konferenzraum die Besprechung in der Margarine-Sache statt. J.J. will dich vorher sprechen." Kates Miene hatte sich schon bei der Erwähnung von J.J. verfinstert. Wann würde Darci endlich lernen, wichtige Dinge von unwichtigen zu unterscheiden und vor allem entsprechend zu handeln? Nur Kates hohes Maß an Selbstbeherrschung verhinderte, dass sie einen Wutanfall bekam. „Sieh mich an, Darci", sagte sie, streng zwar, aber ansonsten 49
völlig ruhig. „Wieso bin ich jetzt wohl wütend?" Darci legte den Zeigefinger an die Lippe und dachte scharf nach, dachte lange nach, unerträglich lange. Schließlich zuckte sie die Schultern. „Ich weiß nicht, Kate." „J.J. hat heute Morgen angerufen!", platzte es aus Kate heraus, ein wenig schärfer als zuvor. „Statt mich sofort anzurufen, hast du weiter über Lord Montague und die Stallmagd mit den Riesenmelonen gelesen. Du sollst doch –" „Aber er hat nicht angerufen", entgegnete Darci in schon kindlich anmutender Unschuld. „Er hat nur mal eben den Kopf reingesteckt und ein paar Sätze gesagt." Kate fasste es einfach nicht. J.J. war also schon zurück! Und Darci hielt es nicht für nötig, ihr das mitzuteilen. Das Ernüchterndste daran aber war: Es hatte keinen Sinn, Darci Vorhaltungen zu machen. Sie war absolut nicht lernfähig. Wenn sie nicht eine Freundin gewesen wäre, hätte Kate sie längst gefeuert. Hastig holte Kate ihren Spiegel aus der Handtasche und prüfte ihr Aussehen. Für J.J. musste sie perfekt sein. Sie kannte seine Schwäche für junge Frauen. Eigentlich gefiel ihr der Gedanke nicht, über ihr Aussehen Eindruck bei ihm zu machen. Aber da ihre Leistungen in Ordnung waren, brauchte sie sich keinen Vorwurf zu machen. So lief das nun mal, sie hatte die Regeln nicht gemacht, sie wollte sie lediglich nutzen, wenn sie schon mal zu ihren Gunsten waren. „Margo aus der PR-Abteilung hat gesagt, J.J. werde nächste Woche wegen der Fusion eine Ansprache halten", teilte Darci unterdessen mit. „Was hat J.J. gesagt, als er den Kopf hereinsteckte?", wollte Kate nur wissen, während sie ihr Haar ordnete. „Jedes Wort, hörst du?" „Er sagte: .Können Sie Kate fragen, ob es ihr was ausmacht, wenn ich bei der Besprechung mit den Leuten von Farmer's Bounty dabei bin?'" Kate zuckte zusammen. Das war nicht Darcis Stimme. Das war eine Männerstimme, die sie sehr genau kannte. Sie blickte sich um und errötete. J.J., ein grau melierter Herr in fortgeschrittenem Alter, lehnte lässig und sich seines Sex-Appeals wohl bewusst im Türrah men und betrachtete Kate mit sichtlichem Wohlgefallen. Wie lange stand er schon da? In Gedanken ging sie in Windeseile durch, 50
was sie und Darci in den letzten Minuten gesprochen hatten. Nichts Verfängliches. Gott sei Dank! „Guten Morgen, J.J.", grüßte Kate, ihre Fassung rasch wiedergewinnend. „Zu dumm, dass die Knicks gestern Abend am Ende die drei Punkte nicht mehr gemacht haben", sagte sie. „Sie haben das Spiel gesehen?", fragte J.J. erstaunt. Kate antwortete nicht (sie hätte J.J. nie belegen), sondern setzte stattdessen noch einen drauf. „Die Knicks können Ewings Ausfall einfach nicht kompensieren", sagte sie, nicht prahlerisch, sondern wie beiläufig. Sie hoffte, J.J. würde keine weiteren Fachsimpeleien anstellen, denn sie war mit dem, was sie gestern eben noch vom Spielkommentar mitbekommen hatte, restlos am Ende. Kate hatte Glück. J.J. nickte nur zustimmend, sagte noch: „Wir sehen uns dann in der Besprechung", und verließ das Büro. Erleichtert atmete Kate auf. Fürs Erste. Es war nicht zu übersehen: J.J. hatte mindestens ein Auge auf sie geworfen, vermutlich sogar alle beide – eines auf Kate, die fähige, ehrgeizige Mitarbeiterin, und das andere auf Kate, die blühende junge Frau. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. Hatte sie Grund zur Freude – oder zum Weglaufen? Leopold stand noch immer unter dem Eindruck des eben Gesehenen. Roeblings Brücke übertraf im fertigen Zustand all seine Erwartungen. Stolz erfüllte ihn. Seine Zeit hatte nicht nur ein imposantes Bauwerk hinterlassen, es erfüllte auch noch nach über hundert Jahren seine Funktion. Alleine hätte Leopold den Weg zurück sicher nicht gefunden. Doch er konnte sich getrost Barts Führung anvertrauen. Der Bernhardiner zog ihn hinter sich her und nutzte den Umstand, dass er ungestört den einen oder anderen Umweg einschlagen konnte, um einer besonders verlockenden Duftspur zu folgen. Als Herr und Hund schließlich in Stuarts Straße einbogen, blieben sie erstaunt stehen. Vor dem Haus standen Wagen mit blinkenden Lichtern, Sanitätsautos, wie Leopold sofort und richtig schloss. Gracy, der Pförtner, kam sogleich auf Leopold zu. Völlig außer sich berichtete er, dass er Stuart im Aufzugsschacht gefunden 51
hatte. „Es ist ein Wunder, dass er noch lebt", sagte der Mann immer wieder und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. In diesem Moment wurde Stuart auf einer Trage herausgebracht. Als er Leopold sah, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen, er streckte seine Hand nach ihm aus, konnte aber nichts mehr sagen, denn einer der Sanitäter schob eine Sauerstoffmaske über sein Gesicht. Gleich darauf wurde er ins Innere des Wagens geschoben, schwere Türen schlugen zu und wenig später fuhr die Ambulanz mit heulenden Sirenen davon, ins City Hospital, wie der Pförtner Leopold mitteilte. Armer Stuart, dachte Leopold immer wieder, während er mit Bart die Treppe hinaufging. Gracy hatte ihm Stuarts Schlüssel, die er im Schacht neben dem Verletzten gefunden hatte, ausgehändigt. In der Wohnung angekommen, ruhte sich Leopold von seinem Spaziergang aus, schlief sogar ein Weilchen, bis ihn Hunger überkam. Er trat in die Küche und öffnete eine Schranktür. Voller Erstaunen zog er die Brauen hoch. Aus dem Innern des Schrankes strömte ihm kalte Luft entgegen. Offensichtlich wurden hier verderbliche Güter aufbewahrt. Er erinnerte sich an einen Mann, den er flüchtig gekannt und der ebenfalls an einer solchen Maschine gearbeitet hatte. Doch es war nichts im Vergleich zu dem, was Leopold vor sich sah. Während er den teils rätselhaften Inhalt des Kühlschrankes untersuchte, klingelte es im Wohnzimmer. Doch erst als er Stuarts Stimme hörte, wurde Leopold hellhörig und ging nach nebenan. Keine Spur von Stuart. Konnten die Menschen dieses Jahrhunderts sich etwa unsichtbar machen? „Haben Sie keine Angst, Leopold", sagte Stuart da, „ich spreche von einer Maschine aus, die Anrufbeantworter heißt, und was Sie eben gehört haben, war meine Ansage. Sie müssen den grünen Hörer nehmen, dann können wir miteinander sprechen." Leopold folgte dem Klang der Stimme. Sie kam aus einem Kasten, der auf dem Klavier stand. Beils sprechender Telegraph, dachte er fasziniert. Er erinnerte sich, den Prototyp bei einer Messe gesehen zu haben. „Nehmen Sie den grünen Hörer und halten Sie ihn an Ihr Ohr!", forderte Stuart ihn unterdessen erneut auf, dringlicher noch als 52
zuvor. Da entdeckte Leopold den Hörer, den Stuart vermutlich meinte. Er nahm ihn in die Hand und hielt ihn ans Ohr. „Hören Sie mich, Stuart?", fragte er unschlüssig in die Sprechmuschel. „Leopold! Gott sei Dank!", kam es erleichtert aus dem Hörer. „Ich kann nicht lange reden, denn sie bringen mich gerade zum Röntgen. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles gut wird. Sie dürfen die Wohnung auf keinen Fall verlassen." Leopold kam aus dem Staunen nicht heraus. Er hörte Stuarts Stimme so klar, als stünde er neben ihm. Es war wie ein Wunder. „Bleiben Sie unter allen Umständen in der Wohnung", wiederholte Stuart seine Worte eindringlich. „Ich komme heute Abend zurück, ich verspreche es Ihnen. Und Montag bringe ich Sie zurück. Tun Sie also nichts – " Leopold hörte, wie sich jemand einmischte und Stuart mit dieser Person in Streit geriet. Kurze Zeit später machte es „Klick" und sämtliche Stimmen waren fort. „Stuart!", rief Leopold mehrmals. Doch er erhielt keine Antwort. Deshalb legte er den Hörer weg, allerdings nicht auf die Gabel, sondern daneben auf den Tisch. Da das Gespräch mit Stuart seine Aufmerksamkeit vollkommen in Anspruch genommen hatte, hatte er nicht bemerkt, dass ein etwa zehnjähriger Junge die Wohnung betreten, eine Tüte Chips aus einem Schrank genommen und sich damit auf das Sofa geworfen hatte. Erst als er jetzt den Fernseher anmachte, schreckte Leopold auf. „Hi", sagte der Junge nur. Er schien sich hier vollkommen zu Hause zu fühlen. Er hatte den Mann in der seltsamen Aufmachung mit einem raschen Blick gemustert – es gab zu viele Verrückte in New York, die in allen möglichen Klamotten rumrannten - und sich dann dem Fernseher zugewandt, von dem seine Augen sich nun nicht mehr lösten, auch nicht, als er mit Leopold sprach. „Wo ist Stuart?", wollte er wissen. „Der ist leider... verhindert", entgegnete Leopold, der noch immer nicht wusste, was er von diesem Besucher halten sollte. „Wer bist du?" „Hector. Meine Mutter arbeitet mittwochs, deshalb sehe ich die Power Rangers immer mit Stuart zusammen. Chips?" 53
Er hielt Leopold die Tüte hin. Dieser sah ihn einen Moment unschlüssig an. Warum nicht?, dachte er dann und ließ sich neben dem Jungen auf der Couch nieder. Kate war in Höchstform. Sie spürte es. Sie genoss es. Und J. J., der sich zwar bei der Besprechung zurückhielt, dafür aber alles umso aufmerksamer beobachtete, sah es auch. Bei der Kampagne für Farmer's Bounty, einer Margarine, die neu am Markt platziert werden sollte, ging es nicht nur um viel Geld. Auch das Prestige der Agentur stand auf dem Spiel. Würde die Kampagne zu einem Erfolg, würde das auch die Verhandlungsposition von MRG bei der bevorstehenden Fusion stärken. Ein paar Probespots waren bereits gedreht, doch keiner fand vor Kates kritischem Blick Gnade. Keiner der Darsteller vermochte zu überzeugen. Vor den anderen auf und ab gehend, verlas Kate die niederschmetternden Werte der Testvorführungen wie Todesurteile. „Zwielichtig", „ohne Sex-Appeal", „gruselig" - einen Kandidaten nach dem anderen liquidierte sie auf diese Weise. Phil, der für das Casting und die Produktion des Spots verantwortlich war, hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Wo sollte er so schnell jemanden auftreiben? Jemanden, der besser war als die, die bisher vorgesprochen hatten. „Der Spot soll in vier Tagen landesweit starten", sagte er, äußerlich ruhig, während er innerlich brodelte. „Das Produkt ist in der Auslieferung." Kate zuckte nur mit den Schultern. „Wir müssen morgen noch mal einen Anlauf machen. Ich habe meine Assistentin veranlasst, die nötigen Buchungen durchzuführen." J. J. lächelte zufrieden. Selbst unter Druck blieb Kate ruhig und konzentriert. Eine bessere Juniorpartnerin hätte er sich nicht wünschen können. In diesem Moment erschien Darci hinter der Scheibe, die den Besprechungsraum nach hinten abschloss. Nur Kate, die auf dem Weg zu ihrem Platz war^ konnte sie sehen. Darci hielt ein Blatt hoch, auf das sie geschrieben hatte: „Stuart hat angerufen! Es ist ein Notfall!" Diese Störung brachte Kate aus dem Konzept. Was war mit Stuart los? War ihm etwas zugestoßen? Andererseits war es bei ihm immer ein Notfall, der Mann war überhaupt ein einziger Notfall. Derart in 54
Gedanken, verfehlte Kate ihren Stuhl, als sie sich setzen wollte und landete nicht nur wenig damenhaft auf dem Boden, sondern riss dabei auch noch ihre Tasse vom Tisch. Ein Rest Milchkaffee ergoss sich über ihren Pulli und hinterließ einen unübersehbaren Fleck. Sofort waren alle aufgesprungen, um Kate aufzuhelfen. Phil war als Erster bei ihr und reichte ihr die Hand. Kate wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie wusste: Aus einer solchen Situation kam man nur mit Humor wieder heraus. Aber ihr fiel nichts ein. Nichts, außer ein paar derben Flüchen, die sogar einen Hafenarbeiter in Erstaunen versetzt hätten und die sie besser für sich behielt. Ein Glück, dass die Besprechung zu Ende war. Erhobenen Hauptes, innerlich aber schwer angeknackst, kehrte Kate in ihr Büro zurück. Darci versuchte sie zu trösten. Kate indes winkte ab, versuchte die ganze Zeit nur, sich J. J.'s Gesichtsausdruck in Erinnerung zu rufen. Hatte er geschmunzelt? Fand er sie vielleicht zu tollpatschig, um als Juniorpartnerin die Agentur auch nach außen zu repräsentieren? Über diesen Gedanken vergaß sie Darcis Mitteilung über Stuart völlig. Zu ihrer Überraschung brachte wenig später ein Lieferant von Barney's ein Paket, in dem sich ein Kaschmirpullover befand. Zweifellos von J.J. Kate zog ihn sogleich an. Er fühlte sich nicht nur wunderbar weich an, er stärkte auch Kates Selbstbewusstsein. Sie ging sogleich los, um sich bei J.J. für die nette Geste zu bedanken. Er schien sie erwartet zu haben und bat sie, sich zu setzen. Alles war so groß hier: die Aussicht, der Schreibtisch, sogar die Pflanzen. Irgendwie bewunderte Kate J.J. Er war ein Mann, der immer nur seinen Vorteil suchte, geschäftlich und bei Frauen. Sie hatte immer nur an das Wohl anderer gedacht und ihre eigenen Ziele dabei viel zu oft vergessen. Nachdem J.J. ein paar allgemeine lobende Worte über Kates Arbeit verloren hatte, fragte er unvermittelt: „Was ist eigentlich mit Ihnen los, Kate?" Kate schluckte. Wie meinte er das ? Da sie nicht gleich antwortete, fuhr er fort: „Nicht, dass es mich überraschen würde. Sie haben schon immer hart gearbeitet. Aber in letzter Zeit sprühen Sie nur so vor Energie. Woher kommt das?" 55
Kate wich seinem Blick aus. Sie war sich nicht im Klaren, wie genau er das wirklich wissen wollte. „Ich hab im letzten Monat ein paar Dinge in meinem Leben verändert", sagte sie schließlich vage. „Und ich habe mich eben angestrengt..." „Es ist mehr als das", entgegnete J.J. „Es gibt nicht viele Frauen wie Sie, Kate. Sie haben keine Illusionen. Sie lassen sich nicht von Gefühlen bestimmen. Sie ziehen keine Show ab." „Nicht?", fragte Kate ein wenig unsicher zurück. Sie wusste nicht, ob das Komplimente waren. Irgendwie hörte es sich nicht so an. „Sie verstehen die Männer. Sie sind selbst wie einer. Wie ein Mann, der die Frauen versteht. Ihre Sehnsüchte. Ihre Bedürfnisse. Sie verstehen sie, ohne doch ganz wie sie zu sein. Ich glaube, deshalb fühlen sich unsere Kunden, vor allem die männlichen Kunden, bei Ihnen so gut aufgehoben. Sie schätzen Ihre prägnanten Analysen. Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich so offen bin?" „Ganz und gar nicht", entgegnete Kate und setzte ein Lächeln auf, hinter dem sie ihre wahren Gefühle verbarg. Noch immer wusste sie nicht, ob J.J.'s Worte wirklich so schmeichelhaft waren, wie sie sich im ersten Moment anhörten. Wollte er ihr damit sagen, dass sie so was wie ein Mannweib war? J.J. nahm die Wasserflasche, die auf seinem Schreibtisch stand, und trank einen Schluck, ließ Kate dabei jedoch nicht aus den Augen. „Ich werde bei dieser Feierlichkeit, die Jansen für nächsten Montag arrangiert hat, eine wichtige Ankündigung machen", sagte er dann. „Zweifellos sind die Gerüchte darüber längst bis zu Ihnen gedrungen." Kate nickte. Die Fusion. Die Ernennung eines Vizepräsidenten. „Ich bin wirklich froh", sagte J.J. dann, „dass Sie die Sache mit Farmer's Bounty in die Hand genommen haben. Jansen ist ein kritischer Kunde und Farmer's Bounty ein schwieriges Projekt." Er neigte sich vor und nahm Kate fest in den Blick. „Diese Firma ist in einer herausragenden Position, Kate. Es geht bei Marktforschung längst nicht mehr nur um Filme und Margarine. Man braucht uns mittlerweile überall. Es gibt nur eines, was unserer Expansion im Wege stehen könnte." „Qualitätsmangel", ergänzte Kate. 56
J.J. lächelte. Wieder bestätigte sich seine Annahme. Kate erfasste sofort, worauf es ankam. „Ich kann mich nicht mehr mit allem beschäftigen", sagte er, „und brauche einen Vize, der genau weiß, worum es geht. Wenn Sie Ihre Leistung auf diesem Niveau halten, könnten Sie das sein." Kate spürte, wie ihr Herz vor Aufregung schneller schlug, sich von ihrer Bauchgegend aus eine wohlige Wärme im ganzen Körper ausbreitete. Ihre Opfer waren nicht umsonst gewesen, die vielen Überstunden im Büro, die Nach- und Vorarbeiten zu Hause hatten sich ausgezahlt. Halt!, sagte da eine Stimme in ihrem Innern. Noch ist es nicht so weit. Noch wedelte er nur mit einer Karotte vor ihrer Nase herum, um noch mehr Leistung aus ihr herauszukitzeln. Aber bei Gott, sie würde noch mehr leisten, denn nichts auf der Welt wollte sie so sehr wie diesen Posten. Sie war bereit, alles dafür zu tun. „Was halten Sie davon, wenn wir alles Weitere bei einem Abendessen besprechen?", fragte J. J. da. Kate sah ihn einen Moment unschlüssig an. „Klar", sagte sie dann. „Morgen Abend um acht. Im Commune. Passt Ihnen das?" „Ich kann es bestimmt einrichten", entgegnete Kate. J. J. lachte entspannt und wie um ein stillschweigendes Einverständnis zu besiegeln. Kate stimmte ein, obwohl ihr etwas an J. J. Unbehagen bereitete. Vielleicht, wie er seine Augen kurz zusammenkniff? Zwinkerte er ihr etwa zu? Doch Kate schüttelte aufkommende Bedenken sogleich wieder ab und konzentrierte sich nur noch auf die Karotte. Sie dankte J. J. für sein Vertrauen und verließ sein Büro. Da kam Darci ihr entgegen. Sie war aufgeregt. „Stuart ist am Telefon", rief sie schon von weitem. Doch Kate hatte keine Lust, sich ausgerechnet von Stuart ihr Hochgefühl trüben zu lassen, und winkte ab. „Er ist im Krankenhaus", sagte Darci da und es klang äußerst besorgt. Todmüde lag Stuart da. Aber er konnte trotzdem kein Auge zutun. Zu viele Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Außerdem war ihm in seiner Lage nicht zu unbeschwertem Schlummer 57
zumute. Bis zur Hüfte steckte er in einem Streckverband, sein linker Arm hing in einer Schlinge. Die Ärzte hatten unzählige Brüche aufgezählt und mit langen lateinische Namen um sich geworfen, die Stuart sofort wieder vergessen hatte. Er wusste auch so, wie es um ihn stand: Er war ein Wrack. Ein Hoffnungsschimmer glomm in seiner düsteren Stimmung auf, als Kate das Zimmer betrat. Er hatte ihr am Telefon in wenigen Worten berichtet, was ihm zugestoßen war. Nach allem, was zwischen ihnen gewesen war, rechnete er es ihr hoch an, dass sie ihn nicht im Stich ließ. Doch sie war weit davon entfernt, zu verstehen, was sein wirkliches Problem war, ein Problem, neben dem sich seine Knochenbrüche wie kleine Schrammen ausnahmen. Während Kate Stuart das Kissen gerade rückte und seine Decke aufschüttelte, redete sie unablässig von irgendwelchen Knochenspezialisten und von Anwälten, die die Hausverwaltung auf zig Millionen Dollar Schmerzensgeld verklagen würden. Stuart hörte nicht hin. Als Kate nach einiger Zeit endlich Luft holte, sagte er nur, scheinbar zusammenhanglos: „Leopold sitzt in meinem Apartment. Ihm könnte weiß Gott was zustoßen. Er war heute sogar draußen." „Natürlich war er draußen", entgegnete Kate, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Ich hab ihm gesagt, er soll den Hund ausführen." „Aber das kannst du nicht machen!", rief Stuart aus. „Er darf nicht auf die Straße. Er kennt unser Großstadtleben nicht. Außerdem hat er kein Geld." „Nun hör schon auf." Kate verstand nicht, wieso Stuart sich sorgte. Selbst wenn er vom Land oder aus Europa kam, war Leopold ein erwachsener Mann, der auf sich selbst aufpassen konnte. Stuart indes sah sie ernst an, versuchte sogar, sich ein wenig aufzusetzen, was ihm allerdings kläglich misslang. „Ihm darf auf keinen Fall etwas zustoßen", beschwor er Kate. „Allein schon seine Anwesenheit hier hat eine Okklusion erzeugt." Kate zog die Brauen hoch. „Eine was?"
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Stuart zögerte, denn eine Krankenschwester kam herein, um nach Stuarts Zimmergenossen zu sehen, der, durch eine Anzahl von Schläuchen versorgt, im Medikamentenrausch schlummerte. Ein Überwachungsgerät blinkte schweigend vor sich hin. „Ich rede von einem Riss im Raum-Zeit-Kontinuum", sagte Stuart mit gedämpfter Stimme. „Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn er nächsten Dienstag nicht wieder zurück in seiner Zeit ist? Ich werde aufhören zu existieren!" Stuart bemerkte, dass Kate und die Krankenschwester, die offenbar mit gespitzten Ohren lauschte, einen seltsam verständnisvollen Blick tauschten. Trotzdem fuhr er fort: „Ich bin sein Nachfahre, Kate. Und es gibt noch eine Menge anderer. Wenn Leopold nicht zurückkehrt, kann er nicht heiraten und Kinder haben. Was mit den Fahrstühlen passiert ist, wird auch mit mir passieren!" Er war sichtlich verzweifelt, was es für Kate nicht eben einfacher machte. Die Blicke der Krankenschwester wurden immer bohrender. Für sie war Stuart jemand, der zu viele Folgen Star Trek gesehen hatte. Kate dachte ebenso. „Das wird langsam peinlich." Kate erhob sich. „Ich hab im Moment eine Menge um die Ohren und muss jetzt gehen..." Stuart packte ihre Hand. „Bring mich nach Hause." „Bist du verrückt?", rief Kate aus. „Sieh dich doch an. „Jemand muss auf Leopold aufpassen." „Der kann sehr gut auf sich selbst aufpassen." „Warte!" Stuart griff in eine Schublade seines Nachtschränkchens, in das man seine Sache gelegt hatte, und holte eine Filmrolle heraus. „Lass den Film entwickeln", forderte er sie auf. „Du kannst auf die Bilder warten, es dauert nur eine Stunde. Dann wirst du sehen." Kate sah den Film an. Was, wenn die Bilder Stuarts Geschichte bestätigten ? Unsinn, dachte sie gleich wieder. Es gibt keine Zeitreisen und was immer diese Bilder möglicherweise zeigen, es würde nicht aus dem letzten Jahrhundert sein. Sie nahm den Film nicht, sah Stuart nur ins Gesicht und meinte: „Es tut mir Leid, dass du so schwer verletzt bist." Stuart sank in sich zusammen. „Es ist passiert", sagte er erschöpft. 59
„Ich bin dort gewesen. Warum, glaubst du, funktionieren die Aufzüge nicht mehr?" Kate beugte sich herab wie zu einem Kind. „Ich bin erwachsen, Stuart", sagte sie, „und Erwachsene glauben nicht an solche Geschichten." Damit verließ sie ihn. Verzweifelt blieb Stuart zurück. Was sollte er jetzt machen? Er musste hier weg, musste zu Leopold, bevor ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstand. Seine Blicke trafen die der Krankenschwester, die ihn streng ansah, als wolle sie sagen: Sie sollten nicht einmal daran denken!
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Ein langer, abwechslungsreicher Tag ging seinem Ende entgegen. Dachte Kate zumindest, als sie, schwer bepackt mit Einkaufstüten, ihre Wohnung betrat. Doch als sie den Seesack ihres Bruders Charlie auf der Couch sah und zudem Gesang und Klaviergeklimper aus Stuarts Wohnung vernahm, ahnte sie, dass dieser an überraschenden Wendungen so reiche Tag noch lange nicht vorüber war. Das ist mal wieder typisch Charlie, dachte Kate, während sie ihre Einkäufe in der Küche abstellte. Ihr kleiner Bruder fand nichts dabei, einfach zu kommen und zu gehen, wie es ihm gefiel. Er hielt es nicht einmal für nötig, vorher anzurufen. Vermutlich hatte man ihn aus der Schauspielschule in L. A. rausgeworfen. Oder wahrscheinlich hatte er es selbst hingeschmissen. Vielleicht hatte ihn aber auch nur seine Freundin – wie war noch mal ihr Name? – an die frische Luft gesetzt. Es gab tausend Gründe, warum der liebe Charlie bei ihr aufgetaucht sein konnte. Oder eigentlich nur einen: weil er ein Weichei war, das nicht genug Rückgrat hatte, eine Sache mal durchzuziehen. Kate bereute es, ihm einen Wohnungsschlüssel gegeben zu haben. Aber das tat sie eigentlich jedes Mal, wenn er wieder bei ihr aufkreuzte, nachdem sich eine seiner Hoffnungen nicht erfüllt hatte. Und trotzdem nahm sie ihm den Schlüssel nicht weg. Er war eben ihr kleiner Bruder, für den sie seit dem Unfalltod ihrer Eltern vor zehn Jahren sorgte. Kurze Zeit später stieg sie die Feuerleiter zu Stuarts Wohnung hinauf. Das Bild, das sich ihr durch das offene Fenster bot, war geradezu idyllisch. Charlie und der kleine Hector standen neben dem Klavier und sangen zusammen mit Leopold Lieder aus uralten Musicals, zu denen letzterer die Begleitung spielte. Leopold trug ein paar von Stuarts Sachen, während seine eigenen auf Kleiderbügeln hingen. Offenbar hatte er sie gewaschen. „Kann ich dich kurz sprechen, Charlie?", rief Kate dazwischen. Die drei bemerkten sie erst jetzt. Sie grüßten sie mit einer Freundlichkeit, die in ihrer arglosen Herzlichkeit im ersten Moment entwaffnend wirkte. Charlie klopfte seinen beiden Sangesgenossen 61
auf die Schulter und verabschiedete sich, jedoch nicht ohne Leopold zum Abendessen einzuladen. Da dieser in gleicher Weise Appetit auf ein leckeres Essen wie auf ein Wiedersehen mit Kate hatte, dankte er für die Einladung und sagte sein Kommen zu. Kate lächelte gequält. Gemeinsam stiegen sie und Charlie die Feuerleiter hinunter und standen sich wenig später gegenüber. Natürlich spürte Charlie, dass die Luft brannte, aber er tat so, als merke er es nicht, und versuchte die Spannung mit Geplänkel zu überdecken. Kate schnitt ihm einfach das Wort ab. „Wieso bist du schon wieder da?", fragte sie. „Und wieso hast du nicht wenigstens vorher angerufen?" „Ich dachte –" „Du hast dir was gedacht?", rief Kate aus. „Das wäre ja mal ganz was Neues. Nein, du hast dir gar nichts dabei gedacht, Charlie, und das ist genau das Problem. Deshalb hast du auch Stuarts ausgeflippten Freund zum Essen eingeladen – in meine Wohnung! Bestimmt ist er genauso ein Parasit wie du. Er trägt sogar schon Stuarts Kleider." Charlie hörte Vorwürfe dieser Art nicht zum ersten Mal. Er hatte ein dickes Fell. „Leo ist gewissermaßen gestrandet", nahm er Leopold in Schutz. „Stu ist im Krankenhaus. Außerdem hilft er mir dabei, meinen britischen Akzent zu verbessern." Kate rollte die Augen und wandte sich ab. Doch da sah sie Leopold durch das offene Fenster hereinsteigen. Er hatte ebenfalls den Weg über die Feuerleiter genommen. Er trug nun wieder seinen samtenen und mit Gold bestickten Frack, machte eine formvollendete Verneigung zu Kate und hielt ihr eine Blume hin. „Meine Verehrung", sagte er. Kate rollte erneut mit den Augen und verschwand in die Küche, wo man schon bald Töpfe und Pfannen schlagen hörte. „Die beruhigt sich schon wieder", sagte Charlie unbekümmert und zwinkerte Leopold zu. „Sie ziehen das bis zur letzten Konsequenz durch, was? Sind Sie einer von diesen Lee-StrasbergTypen? Method Acting und so? Die Rolle nicht spielen, sondern leben?" Leopold hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung, wovon Charlie sprach. Deshalb schwieg er lieber. Charlie indes bewunderte ihn noch mehr. Er war überzeugt, dass Leopold mal als 62
Schauspieler ganz groß rauskommen würde, so ernst wie er die Rolle nahm, auf die er sich offensichtlich vorbereitete. Kate konnte kaum ihre Augen davon lösen, wie formvollendet Leopold sein Besteck handhabte. Davon hätte selbst Knigge noch eine Menge lernen können. Dabei war das auf seinem Teller keine Haute Cuisine, sondern nur ein Truthahnburger, garniert mit ein paar Salatblättern. „Wann kommt Stuart nach Hause?", fragte Charlie, denn Kate hatte eben von ihrem Krankenhausbesuch berichtet. „Vielleicht in einer Woche", entgegnete sie. Leopold blickte erstaunt auf. „Er versprach mir, heute Abend zurück zu sein", sagte er. „Stuart ist nicht gerade groß darin, Versprechungen einzuhalten", gab Kate spitzzüngig zurück. Als Leopold seinen Burger aufgegessen hatte, schob er den Teller von sich und sagte: „Man kann nun den zweiten Gang auftragen." Kate und Charlie sahen sich erstaunt an, ehe sie ihre Augen Leopold zuwandten. Charlie unterdrückte ein Grinsen. „Es gibt keinen zweiten Gang", versetzte Kate mit empörtem Unterton. Leopold nahm seine Serviette und tupfte sich die Mundwinkel. Es lag nicht in seiner Absicht, seine Gastgeberin zu düpieren, dennoch konnte er sich eine Anmerkung nicht verkneifen: „Wo ich herkomme, ist ein Abendessen das Ergebnis zahlreicher Erwägungen. Das Menü wird im Voraus genau abgestimmt, jeder Gang im exakt richtigen Moment aufgetragen. Man sagt, ohne kulinarische Verfeinerung wäre die Barbarei des Lebens unerträglich." „Sagt man das", entgegnete Kate. Sie für ihren Teil war mit einem Gang in dieser Gesellschaft mehr als bedient. Deshalb erhob sie sich. Doch sie hatte ihren Stuhl noch nicht einmal weggeschoben, als Leopold ebenfalls aufsprang. „Was ist?", fragte sie und sah ihn abwartend an. „Wie meinen?" „Warum stehen Sie auf?" Ihre Frage überraschte ihn. „Es ziemt sich für einen Gentleman nicht, sitzen zu bleiben, wenn eine Dame sich erhebt", erklärte er. Charlie erhob sich nun ebenfalls. Kate sah die beiden an. War das 63
ein Spiel? Wollten sie sich über sie lustig machen? Sie hatte jedenfalls nichts für diese Art Spaße übrig, schon gar nicht, wenn sie auf ihre Kosten gingen. Sie beschloss, es einfach zu ignorieren, nahm ihr Glas und verschwand damit in die Küche. Dort schenkte sie sich Wein nach, und zwar randvoll. Vielleicht kann ich ja mitlachen, wenn ich betrunken bin, dachte sie. Sie hörte, wie die beiden sich wieder setzten und wie Leopold berichtete, dass er am Morgen Stuarts wissenschaftliche Papiere durchgesehen habe und äußerst interessant fände. „Haben Sie jemals darin gelesen?", fragte er. Charlie verneinte. „Aber ich", sagte Kate, die mit dem vollen Glas zurückkehrte. Leopold erhob sich unverzüglich. „Ich wollte zeigen, dass ich mich für seine Arbeit interessiere", fuhr sie fort und nahm Platz. Leopold folgte. „Arbeitet Stuart etwa immer noch an der Zeitmaschine?", fragte Charlie. „Das ist ja das Besondere daran, Charles", sagte Leopold, „dass es, wie Stuart herausgefunden hat, keiner Maschine bedarf. Es galt vielmehr, Formeln zu entwickeln, die eine Vorhersage darüber erlaubten, wann sich ein Portal öffnet, ein natürliches Fenster innerhalb des Zeitgewebes. Offensichtlich hat Stuart eines gefunden, indem er auf moderne Methoden der Wettervorhersage zurückgriff." Kate hielt das nicht länger aus. Wie konnten die beiden sich über ein derartiges Hirngespinst unterhalten als wäre es Realität? „So ein Blödsinn!", rief sie aus, stellte die Teller ineinander und erhob sich. Leopold schoss ebenfalls hoch. Kate verschwand in die Küche. „Was ist ein Zeitportal?", hörte sie ihren Bruder fragen. „Eine Öffnung, die nur für eine kurze Zeitspanne existiert", erklärte Leopold vollkommen ernsthaft, was Kate noch rasender machte. „Man muss aus großer Höhe hindurchspringen, denn es bedarf einer gewissen Geschwindigkeit, um sie passieren zu können. Der Geschwindigkeit der Schwerkraft, um genau zu sein." Charlie hatte Leopold genau beobachtet, um auch das kleinste Zwinkern, irgendeine Unsicherheit, einen Bruch zu entdecken, durch den der wahre Mensch hinter der Rolle sichtbar geworden wäre, der Schauspieler. Aber da war nichts. Seine Bewunderung 64
wuchs ins Unermessliche. Dieser Mann würde alle Robert de Niros und Dustin Hoffmans zu Nichts verblassen lassen. Plötzlich stürmte Kate aus der Küche. Sie hatte ein für allemal genug von diesem Gerede. „Raus hier!", schrie sie. „Alle beide! Ich hab genug von eurem Quatsch!" Ihre Augen sprühten Funken. Leopold erhob sich und machte eine galante Verbeugung. „Ich bedaure es sehr, wenn mein Betragen Sie in irgendeiner Weise gekränkt haben sollte." Dann wandte er sich um und stieg durch das Fenster hinaus. Kate und Charlie lauschten auf das Quietschen der Feuerleiter. „Was war das denn eben?", fragte Charlie verärgert. „Der Kerl hält sich für einen Grafen aus dem neunzehnten Jahrhundert", entgegnete Kate. Damit war für sie alles gesagt. Welcher Erklärung hätte es noch bedurft? „Und ist er nicht gut?", entgegnete Charlie. „Nein!" „Er ist ein Schauspieler! Er spielt!" „Ach", versetzte Kate schnippisch. „Und wo ist er engagiert?" Charlie zuckte zurück, als habe ihn etwas körperlich getroffen. Kates Unverständnis verletzte ihn. Was war das nur für eine Welt, die den Wert künstlerischen Bemühens nur an der Höhe der Gage bemaß ? „Nur weil man kein Engagement hat", sagte er schroff, „heißt das noch lange nicht, dass man nicht an sich arbeitet." Sprach's, machte auf dem Absatz kehrt und ließ die Türen schlagen. Meine Türen, dachte Kate ärgerlich. Obwohl die Krankenschwester schon vor geraumer Zeit das Licht gelöscht hatte, lag Stuart noch immer wach. Vom Gang drangen gelegentlich die Schritte der Nachtschwester herein, von draußen ertönte immer wieder das Sirenengeheul der ankommenden und abfahrenden Krankenwagen. Stuart war nicht nach Schlafen zumute. Seine Machtlosigkeit quälte ihn. Während er hier festgezurrt in einer Streckvorrichtung lag, rückte die Auslöschung seiner Existenz unaufhaltsam näher. Ihm blieb nur eine Hoffnung. Vielleicht genügte es, Leopold Anweisungen zu geben. Springen musste er ohnehin alleine. Und wenn er die Unterlagen studiert hatte, würden vielleicht ein paar erklärende Worte genügen, sodass er 65
wusste, was er wann und wo zu tun hatte. Nervös betrachtete Stuart das Telefon auf seinem Nachtschränkchen. Immer wieder schimmerte es im pulsierenden Licht der Kontrolllampe am Überwachungsgerät seines Zimmergenossen auf. Er wartete noch einen Kontrollgang der Nachtschwester ab, stellte sich schlafend, als sie von der Tür aus einen Blick herein warf und versuchte dann unter Schmerzen, nach dem Hörer zu greifen. Es gelang ihm. Und er schaffte es auch, die Nummer zu wählen. Umso größer die Enttäuschung, umso tiefer die Verzweiflung, als er nur das Besetztzeichen hörte. Er wollte den Hörer zurück auf die Gabel legen, doch er entglitt ihm und verfing sich in den Drähten seines Zimmergenossen. Entnervt ließ Stuart sich in sein Kissen zurücksinken. Im nächsten Moment begriff er, dass Leopold wahrscheinlich nach dem Gespräch von heute Morgen den Hörer nicht richtig aufgelegt hatte. Woher sollte er auch wissen, wie man das machte? Blieb nur eins: Stuart musste Kate anrufen. Sein Blick fiel auf den in den Drähten gefangenen Hörer. „He, Kamerad", rief Stuart dem Schlummernden neben sich zu. Doch der hörte nicht. Deshalb versuchte Stuart selbst, den Hörer zu befreien, hängte sich dazu halb aus dem Bett und zog dann vorsichtig am Kabel. Doch der Hörer hing rettungslos in den Drähten fest. Verzweifelt zog Stuart ein wenig heftiger – und erschrak bis ins Mark. Das gleichförmige leise Summen des Gerätes erstarb. Offenbar hatte er irgendwo einen Stecker herausgezogen. Nach ein paar Sekunden hob ein fürchterliches Pfeifen an. Noch ehe Stuart zurück in sein Bett kehren konnte, stürmte die Nachtschwester, eine korpulente Jamaikanerin, schon herein und knipste das Licht an. Schuldbewusst sah Stuart sie an. Ihre ohnehin schon wenig freundliche Miene verfinsterte sich weiter. Sie brachte die Maschine des friedlich schlummernden Patienten in Ordnung und wandte sich Stuart zu. „Was hat das denn zu bedeuten?", herrschte sie ihn an. „Wollen Sie den Mann umbringen?" „Ich wollte telefonieren", versetzte Stuart. „Verstehen Sie doch, ich muss hier raus!"
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Sie stemmte ihre wuchtigen Arme in die nicht weniger wuchtigen Seiten. „Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Sie gehen gar nirgends hin, solange Dr. Fienstein einer Entlassung nicht zustimmt." „Haben Sie schon mal was vom Raum-Zeit-Kontinuum gehört?", fragte Stuart. Die Schwester schüttelte den Kopf und wandte ihm ihren breiten Rücken zu. „Das Raum-Zeit-Kontinuum ist beschädigt und ich bin der Einzige, der es reparieren kann. Deshalb sollten Sie jetzt Dr. Fienstein anrufen und ihn fragen, ob ihm an der Zukunft der Zivilisation etwas liegt. Wenn ja, dann muss er mich umgehend–" Stuarts Rede brach genau in dem Moment ab, in dem die Krankenschwester sich ihm wieder zuwandte und ihm mit einer Spritze bedrohlich nahe kam. Ehe er sich wehren konnte, hatte sie sie schon an seinem Unterarm platziert. Er spürte nur ein kurzes Pieksen, dann ein Ziehen – und im nächsten Moment schwanden ihm die Sinne.
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Kate befand sich gerade inmitten ihrer morgendlichen Tai-ChiÜbungen, als ein lauter Heulton aus Stuarts Apartment zu ihr drang. Zweifellos der Feuermelder. Was, um Himmels willen, hatte dieser Leopold jetzt schon wieder angestellt? Wollte er das Haus niederbrennen? Kate verließ zuerst die Position des liegenden Hundes und dann, über die Feuerleiter, ihre Wohnung. Als sie Stuarts Fenster erreichte, drang ihr schon der Geruch von Verbranntem entgegen. Er kam aus der Küche. Dort fand sie Leopold völlig entnervt neben dem Toaster, um den herum verkohlte Toastscheiben aufgehäuft waren. „Dieses Ding ist eine Gefahr!", stieß er aus. „Es ist ein Toaster, nichts weiter", entgegnete Kate, nahm ein Backblech und wedelte damit so lange vor dem Rauchmelder herum, bis er verstummte. Dann riss sie das Küchenfenster auf, damit der Rauch entweichen konnte. „Wieso kann man dann damit keinen angemessenen Toast herstellen?", fragte Leopold. „Bei einmaligem Gebrauch erhält man nur warmes Brot, bei zweimaligem Gebrauch Kohle. Es fehlt eine Zwischenstufe. Man hätte doch erwarten dürfen, dass dieser General namens Electric seinen Toaster ausprobiert, ehe er ihn den Leuten andreht." Kate stutzte zuerst. General namens Electric? Dann sah sie das Herstellerlogo auf dem Gerät: General Electric. Wie witzig, dachte sie wenig amüsiert. „Dieser General namens Electric schert sich einen feuchten Kehricht darum, dass man den Toast zweimal in den Toaster stecken muss", sagte sie. „Und wissen Sie, warum? Weil das hier alle so machen!" Leopold zog die Brauen hoch. „Nicht dort, wo ich herkomme." „Sicher. Dort, wo Sie herkommen, ist Toast das Ergebnis zahlreicher Erwägungen", äffte Kate ihn nach, was Leopold keineswegs entging. „Sie sollten sich nicht über mich lustig machen", entgegnete er würdevoll. „Eines Tages, wenn Sie nach angenehmem Schlummer 68
beim Duft einer mit Marmelade und cremiger Butter bestrichenen warmen Brioche erwachen, werden Sie vielleicht verstehen, dass es im Leben nicht auf Zweckmäßigkeit, sondern auf Geschmack ankommt." Kate stand wie vom Donner gerührt da. Sprachlos. Leopold war perfekt. Genau das, was sie für Farmer's Bounty brauchte. Der Tonfall. Das Mienenspiel. Dieses leicht elitäre Gehabe, das dennoch nicht blasiert wirkte, sondern Kultiviertheit ausstrahlte. Und zu allem Überfluss sah er nicht weniger zum Anbeißen aus als die von ihm beschriebene Brioche. „Bin gleich wieder da", sagte Kate nur und verließ die Küche. Leopold verharrte erstaunt, hörte nur das Quietschen der Feuerleiter. Wenig später kehrte Kate mit einem Blatt Papier zurück. „Lesen Sie das vor", sagte sie und hielt es ihm hin. Unschlüssig nahm Leopold und las: „Frische Butter. Gibt es etwas Wohlschmeckenderes? Das gibt es allerdings. Und Sie werden mir zustimmen, wenn sie Farmer's Bounty erst probiert haben. Jeder Bissen bester Buttergeschmack. Mit Farmer's Bounty –" Mit jedem Wort, das Leopold gelesen hatte, hatte sich das zufriedene Lächeln auf Kates Gesicht verbreitert. Sie hatte genug gehört. Leopold war der Richtige, die Nadel im Heuhaufen. Und sie hatte sie gefunden. Sie schnappte ihm das Papier weg und sagte aufgeregt: „Ziehen Sie sich an." Damit verschwand sie erneut. Kurze Zeit später saßen Kate und Leopold in einem Taxi. Letzterer trug seinen goldbestickten Rock und die samtene Weste. Mit Erstaunen sah er Kate dabei zu, wie sie mit ihrem Handy telefonierte. Wie konnte ein Fernsprechapparat ohne Drähte funktionieren? Es grenzte an Zauberei. Und auch dieses Fortbewegungsmittel, das Kate Auto genannt hatte, faszinierte ihn. „Fahrer", fragte er den verschwitzten kleinen Mann am Steuer, „wird dieses Gefährt durch Verbrennung angetrieben?" „Ha?", machte der Fahrer nur. Da öffnete Leopold die Autotür, um die Bewegung der Räder zu studieren. Schon vorher war ihm aufgefallen, dass sie offenbar aus Gummi oder einem ähnlichen Material bestanden. Vielleicht waren 69
sie deshalb so leise. Kein Vergleich mit den polternden Pferdekutschen. „He, Mann, sind Sie wahnsinnig?", schrie der Fahrer ihn an. Aber erst als Kate ihn dringend aufforderte, die Autotür zu schließen, befolgte Leopold dies. Das Taxi hielt vor einem Hochhaus, in dem MRG seinen Sitz hatte. Während Kate dem Fahrer ein paar Dollarnoten auf die Hand zählte, beharrte Leopold darauf zu erfahren, wieso das Auto so leise war. „Es besitzt einen Schalldämpfer oder so was", entgegnete Kate und stieg aus. Zielstrebig ging sie in Richtung Eingang. Leopold indes, den dieses Problem nicht losließ, blieb stehen. „Wie funktioniert dieser Schalldämpfer?", fragte er den Taxifahrer, der lässig den Ellbogen aus dem heruntergekurbelten Seitenfenster hängen ließ. Der zuckte erst mit der Schulter und meinte dann: „Es ist, wie wenn sie mit einer Socke im Arsch furzen." Leopold zog die Brauen hoch. Ein sehr anschaulicher Vergleich, fand er, bedankte sich und folgte Kate, die bei der Eingangstür auf ihn wartete. Auf dem Weg zu ihrem Büro ließ Leopold es sich nicht nehmen, nicht nur Kate jede Tür aufzuhalten, sondern auch anderen Damen, die des Weges kamen und sich von so viel Galanterie tief beeindruckt zeigten. In den Bürofluren von MRG angekommen, eilte den beiden schon Darci entgegen, die Kate durch die Glastür erblickt hatte. Kate machte sie mit Leopold kurz bekannt, allerdings ohne stehen zu bleiben, denn sie wurde beim Vorsprechen erwartet. Darci zeigte sich sehr angetan von Leopold. Nicht nur seines Aufzugs wegen kam er ihr vor wie einer jener romantischen Helden in den historischen Romanen, die sie so gerne las. Er verströmte auch diese aristokratische Aura. Ihn im Augenwinkel behaltend, brachte sie Kate mit wenigen Worten auf den Stand der Dinge: J. J. war noch nicht da, das Vorsprechen hatte gerade erst begonnen, sie hatte nichts verpasst. „Setz Leopold als letzten auf die Liste für das Vorspre chen", trug ihr Kate auf. Darci nickte. Leopold wunderte sich die ganze Zeit schon über das Tempo, das Kate vorlegte. In seiner Zeit wäre keine Frau von Stand und Ehre so 70
ausgeschritten, nicht einmal, wenn sie in Eile war, denn sich zu verspäten war das Vorrecht der Damen. Schließlich wandte Kate sich zu Leopold um. „Darci bringt Sie in den Warteraum, Leopold", sagte sie. „Es wird ein wenig dauern." Sie wollte schon weg, wandte sich dann aber noch mal um. „Wenn Sie mit jemandem ins Gespräch kommen sollten", fügte sie hinzu, „erzählen Sie ruhig Ihre Grafen-Geschichte. Aber lassen Sie alles weg, was mit Portalen, Rissen und diesem Raum-Zeit-Ding zu tun hat." Ehe Leopold etwas sagen konnte, war sie schon fort. Darci drückte ihm seinen Text in die Hand und brachte ihn in den Warteraum. Zahlreiche Schauspieler saßen hier auf Stühlen oder gingen unruhig auf und ab, sprachen sich dabei stumm oder murmelnd ihren Text vor. Niemand schien von Leopold Notiz zu nehmen. Umso faszinierter beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. „Das ist ein absolutes Desaster." Phil sprach aus, was alle im Kontrollraum dachten. Die Stimmung war drückend, wie vor einem Gewitter. Auch Kate ließ sich von der nervösen Unruhe anstecken. Eben hatte ein weiterer so genannter ausgebildeter Schauspieler den Farmer's-Bounty-Text aufgesagt, doch schon jetzt war klar, dass die Fokusgruppe ihn nicht mögen würde. Die zumeist weiblichen Zuschauer, die auf der anderen Seite einer Glaswand saßen, drückten ein paar Knöpfe an der Unterseite ihrer Monitore, wenig später bestätigte sich Kates Vermutung. Sie blickte verstohlen über ihre Schulter, denn im Hintergrund des Raumes saß J.J. Er telefonierte zwar gerade, aber zu glauben, er sei unaufmerksam, wäre ein schwerer Fehler gewesen. „Wir sind durch mit unseren Bewerbern", sagte Kollege Bob trocken und schaute auf sein Clipboard. „Zum Glück hat Kate noch einen Anwärter aufgetan. Mr. Leopold Duke aus Albany. Keine Referenzen, keine Gewerkschaft, nicht einmal einen Agenten." Er zog die Brauen hoch, als erwarte er sich von diesem Bewerber noch weniger als von allen anderen. Kates Anspannung wuchs. Auf der Fahrt hierher war sie sich noch so sicher gewesen, doch jetzt überkamen auch sie Zweifel. Was, 71
wenn Leopold nun doch das Nervenflattern bekam und versagte? In der Studiosituation hatte schon so manches Talent weiche Knie bekommen und alles vergeigt. Kate spürte J.J.'s bohrende Blicke in ihrem Nacken. Ihre Hände wurden feucht. Eine Assistentin brachte Leopold in den Studioraum und stellte ihn an die Markierung. Er konnte Kate und ihre Leute hinter der Scheibe nicht sehen. Leopold trieb den Toningenieur beinahe zum Wahnsinn, weil er ständig am Mikrofon herumfummelte. Phil seufzte. Er hasste es, mit Amateuren und Halb professionellen zu arbeiten. Und das hier war sogar ein blutiger Anfänger. Außerdem dieser Aufzug. Was wollte man von so einem erwarten? „Den können wir uns doch schenken", sagte er zu Kate. „Wir haben genug Zeit verschwendet. Wir müssen endlich eine Entscheidung treffen." „Sieh ihn dir an, Phil", bat ihn Kate. „Ich finde, er sieht aus wie dieser Kerl aus der Müsli-Werbung", versetzte Phil gereizt. „Hier geht es nicht darum, was du denkst, sondern was sie denken", entgegnete Kate und wies auf die Fokusgruppe. Die Frauen unter ihnen begannen miteinander zu tuscheln. Kate kannte diese Art von Tuscheln, es war ein ganz bestimmtes Frauentuscheln, und deshalb wusste sie, worüber die Frauen sprachen, auch wenn sie kein einziges Wort davon verstand. Sie sagten: Ist der nicht süß? „Ein Mann wie er ist ein Traum", fuhr Kate fort. „Er sieht gut aus, ist aufrichtig, höflich. Er steht auf, wenn eine Frau den Raum betritt, liest Gedichte, bringt das Frühstück ans Bett. ,Wenn Sie unsere Margarine essen, werden Ihre Hüften schlanker und vielleicht steht eines Tages so ein Kerl vor Ihrer Tür.' Das ist die Botschaft, Phil." Phil atmete tief durch und ließ den Kugelschreiber, mit dem er die ganze Zeit ungeduldig gespielt hatte, fallen. „Na schön", sagte er, „wenn ich dir damit eine Freude mache." Unterdessen wurde Leopold von einem Regieassistenten mit Headset eingewiesen. „Das da ist der Teleprompter, Mr. Duke", sagte er und zeigte auf den Kasten vor Leopold. „Dort erscheint ihr Text." Leopold nickte. Dabei hatte er noch immer keine so rechte 72
Ahnung, was hier eigentlich vorging. Er spielte nur mit, um Kate einen Gefallen zu tun. Außerdem interessierte er sich für all die technischen Geräte. „Was ist das da?", fragte er. Der Regieassistent sah hinter sich. Nicht sicher, ob Leopold ihn auf den Arm nehmen wollte, sagte er: „Das ist die Kamera." Phil und die anderen im Kontrollraum lachten, auch wenn es, zumindest was Phil anging, ein eher bitteres Lachen war, das im Bruchteil einer Sekunde in einen Wutanfall übergehen konnte. Kate kaute nervös an den Nägeln. J. J. schaute gelangweilt vor sich hin, und das war alles andere als ein gutes Zeichen. „Ruhe bitte!", kam nun die Stimme des Regieassistenten aus dem Studio. „Und... Action!" Leopold schaute ratlos in die Kamera. Phil hielt sich krampfhaft an der Tischkante fest. Kate bekam einen Schweißausbruch und schickte Stoßgebete zum Himmel. Leopold war dabei, sie bis auf die Knochen zu blamieren. Ade, Vizepräsidentin Kate McKay. „Nun fang schon an, Junge", raunte der Kameramann Leopold zu. Und erst da begriff dieser, dass es losgehen sollte. In die Kamera lächelnd hob er an: „Frische cremige Butter. Gibt es etwas Wohltuenderes? Das gibt es. Und sicher stimmen Sie mir zu, wenn Sie das fettreduzierte Farmer 's Bounty erst probiert haben. Jeder Bissen herzhafter Buttergeschmack." Leopold wurde so sehr von der Begeisterung für Farmer's Bounty ergriffen, dass er die Markierung auf dem Boden vergaß und einen Schritt auf die Kamera zu machte. Sein Gesicht füllte nun sämtliche Monitore im Kontrollraum, während er fortfuhr: „Mit Farmer's Bounty haben sie den gesamten Buttergeschmack ohne Reue für Ihre schlanke Linie. Probieren Sie Farmer's Bounty noch heute und verlieren Sie an Gewicht und nicht an Lebensgenuss." Kate hatte eine Gänsehaut bekommen. Leopold hatte seinen Text schon beendet, als sie noch immer wie gebannt auf den Bildschirm, auf sein Gesicht starrte. Dann tauschte sie einen Blick mit Phil. Zufrieden grinsend sah er sie an. Sie wussten beide, dass sie den perfekten Mann für den Spot gefunden hatten. Jeder im Raum wusste das. Auch die Fokusgruppe war sich in ihrer Begeisterung einig. Kate atmete erleichtert durch. Sieg auf der ganzen Linie. 73
J. J. sah das nicht anders. Er erhob sich und trat mit einem zufriedenen Lächeln zu ihr. „Gratuliere", sagte er. „Kate ist die Beste", sagte Phil. Und er meinte es. „Das weiß ich wohl", entgegnete J. J. Kate errötete verlegen. Sie erhob sich und verließ zusammen mit J. J. den Kontrollraum. Auf dem Gang warteten schon Leopold und Darci. Leopold machte nicht im Geringsten den Eindruck, als sei er sich seiner Leistung und dessen, was er für Kate getan hatte, bewusst. Dafür schien Darci vor Freude fast zu platzen. J. J. schenkte Leopold nur flüchtige Beachtung, drückte Kate zum Abschied an den Schultern – die Andeutung einer Umarmung - und verschwand, doch nicht ohne sie an die abendliche Verabredung zu erinnern. Wie hätte Kate das vergessen können! Auch Darci verabschiedete sich. „War nett, Sie kennen gelernt zu haben", sagte sie zu Leopold. Er verneigte sich und küsste ihre Hand. „Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite", sagte er. Und es wirkte nicht im mindesten affektiert oder angestrengt. Betört und beschwingt von so viel Galanterie wandte Darci sich um und verließ die beiden, wobei Kate einen besonderen Schwung in ihren Hüften feststellte, den sie sonst nie an ihr gesehen hatte. Sie sah Leopold forschend an, kniff dabei die Augen etwas zusammen. Entweder er hatte es wirklich drauf oder er war der durchtriebenste Kerl, der ihr je begegnet war. Aber im Moment war das völlig egal, im Moment musste sie endlich ihrer Freude Ausdruck verleihen, und das tat sie auch, kaum dass sie keine neugierigen Blicke mehr spürte, indem sie einen Freudentanz aufführte, der einem Fußballspieler nach dem spielentscheidenden Tor alle Ehre gemacht hätte. „Sie sehen zufrieden aus", sagte Leopold lächelnd, nachdem sie wieder etwas zur Ruhe gekommen war. „Zufrieden?", entgegnete sie. Begriff er wirklich nicht, was er eben getan hatte? „Der Spot wird einschlagen wie eine Bombe. Sie werden ein Star!" Leopold hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Während sie die Agentur verließen und nach unten gingen, beschäftigte ihn etwas anderes. Die Blicke, mit denen J.J. Kate angesehen hatte, waren ihm nicht entgangen, und die angedeutete Umarmung war seines 74
Erachtens weit jenseits dessen, was ein Mann sich einer Frau gegenüber in der Öffentlichkeit herausnehmen durfte. Aber es war nicht nur ihre Ehre, derentwegen er sich Sorgen machte. Aus einem Grund, dessen er sich selbst nicht vollkommen bewusst war, wollte er nicht, dass Kate sich mit diesem Mann traf. „Sie 'werden heute Abend mit diesem Mann ausgehen?", fragte er, äußerlich ruhig, doch innerlich angespannt. Sie durchquerten gerade die Eingangshalle in Richtung des Ausgangs. „Sie meinen J.J.?", entgegnete Kate ahnungslos. „Ja. Er ist mein Boss." „Sie sollten nicht ohne Begleitung gehen, Kate. Die Absichten dieses Mannes sind zu offensichtlich." Kate seufzte. Was sollte das denn jetzt bedeuten? „Ich bin doch auch mit Ihnen allein", sagte sie. „Und weit und breit ist kein Anstandswauwau." Leopold lächelte und hielt ihr die Tür auf. „Ich mache Ihnen ja auch nicht den Hof", sagte er, während sie nach draußen ging. Kate war innerlich noch immer zu aufgewühlt, um den bedauernden Unterton herauszuhören. „Wenn dem so wäre, hätte ich als Ehrenmann Ihnen selbstverständlich meine Absichten in einem Billet zukommen lassen." Kate zog ihre Brauen hoch. Wann würde er endlich mal aufhören, diese Rolle zu spielen? Jemand wie Darci ließ sich von diesem piekfeinen, altmodischen Gehabe vielleicht beeindrucken, aber für sie war klar, dass Männer grundsätzlich nur eine Show abzogen, um ihr wahres Ich zu verbergen. Da machte auch Leopold keine Ausnahme. Kate trat an den Straßenrand und hielt Ausschau nach einem Taxi. Ein Taxi zu kriegen war in New York ohnehin schon ein Problem, aber hier am Central Park mit all den Touristen beinahe ein Lotteriespiel. Leopold blieb ein paar Schritte hinter ihr und fragte sich, warum sie nicht eine der Pferdekutschen nahm, die ein Stück weiter die Straße hinunter standen und auf Kundschaft warteten. „Wieso nehmen wir nicht eine von diesen?", fragte er, nachdem mehrere Taxis einfach an ihnen vorübergerauscht waren, und wies auf die Kutschen. 75
Kate antwortete nicht, sah ihn nur an, als zweifle sie an seinem Verstand. Oder wollte er sie nur auf den Arm nehmen? Um ein Haar hätte sie durch Leopolds Ablenkung das Taxi verpasst, das quietschend vor ihr anhielt. Doch eine andere Frau – ein zierliches Persönchen, das hinter seinen Einkaufstaschen beinahe verschwand – hatte das Taxi ebenfalls erspäht und schoss wie von der Sehne geschnellt darauf zu. Sofort entbrannte ein heftiger Streit. Leopold stand ein Stück abseits und sah verwundert zu. Auch zu seiner Zeit hatte man sich zuweilen um Mietdroschken gestritten, aber dass zwei Damen von Stand sich jemals dazu herabgelassen hätten, war ihm nicht erinnerlich. Doch da wurde seine Aufmerksamkeit von einem Mann in Anspruch genommen, der sich den beiden mit offenbar wenig ehrenhaften Absichten näherte. Weniger sein Äußeres machte ihn verdächtig, als die vorsichtigen Blicke, die er um sich warf. Zweifellos ein Vertreter der langfingrigen Profession. „Kate, passen Sie auf!", rief Leopold und lief los, doch er war nicht schnell genug bei ihr, um den Diebstahl zu verhindern. Flink wie es nur ein Taschendieb sein konnte, griff er sich Kates Handtasche. Als Kate auf Leopolds Rufe reagierte, war es schon zu spät. Doch sie war nicht die Frau, die sich so etwas gefallen ließ. Sie beließ es nicht bei üblen Verwünschungen, sondern nahm sofort die Verfolgung auf. Der Dieb rannte in den Park, rempelte aufgeschreckte Touristen um und brachte Rollerblader zu Fall, sprang über Picknickkörbe und Sonnenanbeter hinweg. Kate hielt wacker mit, doch allmählich ließen ihre Kräfte nach. Immer größer wurde der Abstand zwischen ihr und dem Räuber, bis der Mann schließlich zwischen den Bäumen untertauchte. Kate gab ihre Handtasche schon verloren, als sie Hufgetrappel hinter sich vernahm. Keuchend blieb sie stehen und wandte sich um. Sie glaubte kaum, was sie sah. Über die Liegewiese hinweg galoppierte ein Mann auf einem weißen Pferd genau auf sie zu. Leopold! „Nehmen Sie meine Hand!", rief er und streckte ihr schon von weitem seine Rechte entgegen. Was hatte er vor? Kate blieb kaum Zeit zum Überlegen. Was immer es war, Leopold wirkte so sehr von sich überzeugt, dass sie 76
ihm in spontanem Vertrauen ihre Hand entgegenstreckte. Kurz bevor er sie erreichte, verringerte er sein Tempo, nahm mit der einen Hand die ihre, fasste sie mit der anderen unter der Achsel und zog sie auf das Pferd. Kate entfuhr ein Schrei. Ehe sie sich versah, saß sie vor ihm auf dem Schimmel. Leopold gab dem Tier seine Absätze zu spüren, sodass es sogleich wieder schneller wurde. „Was zum Teufel soll das?", fuhr Kate Leopold an und klammerte sich gleichzeitig an ihm fest. „Ducken Sie sich", entgegnete er nur. Sie zog den Kopf ein, keine Sekunde zu früh, denn schon tauchten sie unter den Bäumen ein, dort, wo auch der Taschendieb verschwunden war. Zweige wischten dicht über ihren Köpfen vorüber, während das Pferd schnaubend einen Hügel erklomm. Wenig später tauchte vor ihnen der Dieb auf. Er hatte sein Tempo verlangsamt, wähnte sich offensichtlich in Sicherheit. Als er sich nun umblickte, erstarrte er zunächst, ehe er zu rennen begann. Vergebens, wie es zunächst schien, denn seine Verfolger kamen rasch näher. Er sah ein, dass er keine Chance hatte und seine Strategie ändern musste. Ein von Parkbesuchern viel benutzter Weg näherte sich dem Wäldchen. Der Dieb sprang aus dem Unterholz, mitten hinein in eine erschrocken auseinander springende Menschenmenge. Leopold begriff sogleich, dass er die Menschen wie einen Schutzschild verwenden wollte. Doch da hatte er sich verrechnet. Kate schrie auf, der Schimmel machte einen Satz und landete auf dem asphaltierten Weg. Funken sprühten unter seinen beschlagenen Hufen, als er hinter dem Dieb herjagte. Aber da tauchte schon das nächste Hindernis auf: eine Reihe von Parkbänken. Der Räuber schob sich zwischen ihnen hindurch, jenseits davon erstreckte sich eine kleine Grünfläche. Kate riss die Augen auf. Ihr Herz setzte aus, als sie in Leopolds Miene blickte. Wilde Entschlossenheit spiegelte sich darin. „Das ist nicht Ihr Ernst!", stieß sie aus. „Nein! Halten Sie sofort das Pferd an! Gütiger Himmel!" Zu spät. Schon hoben sich die Vorderhufe des Tieres, im nächsten Moment auch die Hinterbeine. In hohem Bogen setzten sie über die Bank hinweg, um auf der anderen Seite weich zu landen. Kate hatte die 77
Augen geschlossen und sich noch fester an Leopold geklammert. Als sie sie nun wieder öffnete und feststellte, dass sie weich gelandet waren, entfuhr ihr ein zufriedenes, ja begeistertes Lachen. Ein Lachen von der Art, wie sie es als Mädchen oft gelacht hat, ein Lachen, das sich nicht darum kümmerte, wie es von anderen aufgenommen wurde, ob es zu laut war und zu wenig damenhaft. Ein Lachen, das ganz sie selbst war. Es tat gut, dieses Mädchen von damals wieder in sich zu spüren, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, denn die Verfolgungsjagd ging unvermindert weiter und ließ ihr keine Zeit, sich länger damit aufzuhalten. Der Dieb hatte einen schmalen, abgelegenen Weg genommen, der sich zwischen Hügeln hindurchwand. Erst viel zu spät bemerkte er, dass er sich in einer Falle befand. Unter einer Brücke endete der Weg an einer unüberwindlichen Absperrung, zu beiden Seiten stiegen hier die Hügel steil an, nackter Fels trat aus ihnen hervor. Als der Mann sich umwandte, war es schon zu spät, um nach einem Ausweg zu suchen. Leopold preschte in hohem Tempo heran und brachte den Schimmel dicht vor ihm zum Stehen. Schnaubend tänzelte das Tier vor dem Dieb, dessen Augen panische Angst verrieten. Leopold löste seinen Gurt, zog ihn heraus und schwang ihn drohend mit der Schnalle vor dem Mann. „Ich warne dich, Schurke", zischte er ihn, bebend vor Zorn, an. „Ich habe das Reiten in der Königlichen Akademie erlernt und wurde bei der Palastgarde im Nahkampf ausgebildet. Du hast nicht den Hauch einer Chance. Egal, wohin du rennst, ich werde hinter dir sein. Und sobald ich nah genug dran bin, wird diese Gürtelschnalle dir ein Loch in den Schädel schlagen. Deshalb rate ich dir gut, den Besitz dieser Lady fallen zu lassen und in die Schatten zurückzukehren, aus denen du gekrochen kamst!" Mit schlotternden Knien stand der Dieb da. Er schien nicht jedes einzelne Wort Leopolds begriffen zu haben, aber immerhin so viel, dass er sich auf eine Tracht Prügel gefasst machen konnte, wenn er seine Beute nicht herausgab. Nachdem er die Lage kurz eingeschätzt hatte, ließ er die Handtasche fallen und rannte davon. Auf der Fußgängerbrücke hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die nun laut Beifall spendete. 78
Leopold verneigte sich kurz in Richtung seines Publikums, dann half er Kate vom Pferd, um zuletzt selbst abzusteigen. Er hob die Handtasche auf und reichte sie Kate, deren Hände zitterten. „Danke", sagte sie nur, noch immer wie gebannt. Was eben geschehen war, kam ihr so unwirklich vor. Oder konnte es etwas noch Unwirklicheres geben als eine Verfolgungsjagd zu Pferde im Central Park? Unwirklich erschien ihr aber auch der Mann vor ihr, der so tat, als sei dies das Natürlichste von der Welt. Eine Sekunde erwog sie sogar die Möglichkeit, dass Stuart Recht hatte und Leopold aus einem vergangenen Jahrhundert kam. Unsinn, dachte sie sofort. Dennoch: Leopold war etwas ganz Besonderes. Ihr Herz schlug heftig: vor Aufregung, aber auch vor Rührung. „Kehren wir zurück", sagte Leopold da. „Der Kutscher, der so freundlich war, mir sein Pferd zu borgen, wartet." Er schwang sich wieder auf den Rücken des Tieres und streckte Kate seine Hand entgegen. Sie zögerte zuerst, aber dann ergriff sie sie und ließ sich nach oben ziehen. In gemächlichem Tempo trabten sie so zum Ausgang des Parks, ohne viel miteinander zu reden. Jeder hing seinen Gedanken nach. Der Kutscher erwartete sein Pferd in der Tat. Doch Leopold ließ es sich nicht nehmen, den Schimmel selbst anzuschirren. Er erledigte es fachmännisch, gerade so, als habe er in seinem Leben nie etwas anderes getan. Kate nahm unterdessen in der Kutsche Platz und rauchte ein Zigarette. Der Kutscher gesellte sich zu ihr. „Ihr Freund ist ein verdammt guter Reiter", sagte er. Kate nickte. „Haben Sie Lust auf eine kleine Kutschfahrt?" Sie nickte erneut. Wenig später hatte Leopold das Pferd angeschirrt und kam zu ihr in die Kutsche. Der Kutscher nahm auf dem Bock Platz und ließ die Peitsche knallen. Rumpelnd setzte sich die Kutsche in Bewegung und verschwand im Central Park. Kate wusste noch immer nicht, was sie sagen sollte. Bisher war für sie klar gewesen, dass Leopold ihnen allen etwas vorspielte. Aber war die wilde Verfolgungsjagd durch den Park auch gespielt gewesen? Sie beobachtete ihn, wie er seine Blicke über die Parklandschaft gleiten ließ. Etwas an ihm bewegte sie tief in ihrem 79
Herzen. Seine Augen waren vollkommen klar und aufrichtig, seine Andersartigkeit fiel ihr immer deutlicher auf. Wie er all das ansah. So voller Respekt. Staunend. Ganz und gar nicht „cool". Es schien, als habe er sich etwas zutiefst Kindliches bewahrt. Da trafen sich ihrer beider Blicke. Sie lächelte. Und er erwiderte das Lächeln, auch wenn eine Spur Schwermut darin lag. „Als dieser Park in meiner Zeit angelegt wurde", sagte er, „gab es einen gewaltigen Aufschrei. Wieso ein so riesiges Gebiet mitten auf der Insel un bebaut lassen?, wurde gefragt. Niemand sah einen Sinn darin, denn es gab ringsum noch eine Menge Natur. Erst jetzt begreife ich die Weitsicht meiner Zeitgenossen." Kate wandte ihren Blick von ihm ab und ließ ihn über die Parklandschaft schweifen. Auf den Liegewiesen genossen Sonnenhungrige die Spätnachmittagssonne, andere spielten Frisbee; ältere Damen führten Pudel aus; Rollerblader fegten die Wege hinab; Kinder schleckten Eiscreme. Schon unzählige Male hatte sie all das gesehen, •war achtlos an all dem vorübergegangen. Nie zuvor war ihr aufgefallen, wie schön das alles war. Und nie zuvor hatte sie Dankbarkeit für jene Menschen empfunden, die diesen Park nicht für sich, sondern vor allem für spätere Generationen angelegt hatten. Schließlich wandte sie ihre Augen wieder Leopold zu. „Sind Sie echt?", fragte sie sanft. Er zog erstaunt die linke Augenbraue hoch. „Wie bitte?" „Sind Sie echt, Leopold?" „Ich denke schon", sagte er da. „Dann sind Sie also wirklich ein Graf?" Leopold lächelte milde. „Ich wurde als Graf geboren. Aber ich habe mich nie als solcher gefühlt." Kate nickte. Dann sah sie wieder auf die Parklandschaft hinaus. Sie kam zu der Überzeugung, dass Leopold glaubte, was er sagte. Im Moment war es ihr seltsam gleichgültig. Spielen wir nicht alle eine Rolle?, fragte sie sich. Das ist doch gar nicht das Entscheidende. Die Frage ist doch, ob wir unsere Rolle gut spielen. Und Leopold spielte sie brillant.
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Zunächst hatte Stuart sich gegen den Besuch eines Psychiaters gewehrt. Schließlich war er nicht verrückt. Aber dann hatte er begriffen, dass die Ärzte seine Weigerung als einen weiteren Hinweis für seinen wahnhaften Zustand auffassten. Deshalb gab er zuletzt nach und ließ sich zum krankenhauseigenen Psychiater bringen. Dr. Bernstein saß hinter seinem Schreibtisch und betrachtete den Patienten mit einem Blick, der nicht preisgab, was er dachte. Vielleicht lag das auch an seiner reichlich schmierigen Brille. Stuart saß in einem unbequemen Plastikstuhl vor ihm, sein eingegipstes Bein lag auf einem zweiten Stuhl. Von Zeit zu Zeit griff die Hand des Psychiaters in eine Schachtel mit Erdnüssen, die er dann genüsslich zwischen seinen Zähnen zermalmte. Er hatte alle Zeit der Welt, während für Stuart nichts dringlicher war, als von hier wegzukommen. Und das hatte er Dr. Bernstein auch schon mehrfach zu verstehen gegeben. „Ich begreife nicht, wieso Sie mich hier behalten wollen", sagte er gerade wieder am Rande der Verzweiflung, „wenn Sie mir doch selbst bestätigen, dass ich meiner Verletzungen wegen nicht bleiben muss." „Es besteht dringender Verdacht, dass Sie für sich selbst eine Gefahr sind, Mr. Besser", entgegnete Dr. Bernstein völlig sachlich. „In solchen Fällen verlangt das Gesetz –" „Ich soll eine Gefahr für mich selbst sein?", fuhr Stuart empört dazwischen. Wollte man ihn etwa entmündigen? Er griff sich seine Krücken und erhob sich umständlich. „Tut mir Leid", sagte er entschlossen, „aber ich muss Sie leider verlassen." Er humpelte zur Tür, doch nur um zu seiner weiteren Empörung festzustellen, dass sie abgeschlossen war. Nachdem er eine Weile mit wachsender Heftigkeit daran gerüttelt hatte, fuhr er herum und sah Dr. Bernstein an. „Wieso ist diese Tür abgeschlossen?" Hasserfüllte Blicke trafen den ungerührt dasitzenden Psychiater. „Warum sind Sie in den Fahrstuhlschacht gesprungen?", fragte dieser nur und schob sich erneut eine Hand voll Erdnüsse in den Mund. Stuart stieß einen Unmutslaut aus. „Ich bin nicht gesprungen", sagte er dann. „Ich bin gefallen. Da besteht ein nicht unwesentlicher Unterschied." „Und wieso sind Sie gefallen?", entgegnete Dr. Bernstein. 81
„Weil da kein Fahrstuhl war!", brüllte Stuart ihn an. Sein Gesicht wurde vor Zorn feuerrot, die Adern an den Schläfen schwollen gefährlich an. Nicht, dass das Dr. Bernstein im mindesten beeindruckt hätte. Emotionalität war Teil des Prozesses und j e heftiger, desto besser. „Und Sie geben sich dafür die Schuld", sagte er nur kühl. Stuart humpelte ein wenig heran und sagte nicht mehr ganz so laut: „Indirekt. Schauen Sie, wenn Sie Ihren Ururgroßvater aus seiner Zeit herausreißen, bevor er den Fahrstuhl erfunden und Ihren Urgroßvater gezeugt hat, ist es doch nur logisch, dass die Natur den daraus folgenden Fehler korrigiert. Das heißt, sie lässt alle Fahrstühle und Sie selbst verschwinden." Dr. Bernstein war während Stuarts Rede mit der Zunge an seinen Zähnen entlanggefahren, um Erdnussreste zu beseitigen, während seine Hand sich schon wieder in die Schachtel grub. „Aber Sie existieren doch", sagte er wie beiläufig. „Vielleicht hatte ich bisher nur Glück", entgegnete Stuart und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. „Morphische Resonanz ist ein äußerst kompliziertes und schwer zu prognostizierendes Geschehen." Stuart sah im Gesicht des Psychiaters, dass jedes Wort verschwendet war. Und natürlich schwante ihm auch, wie verrückt sich seine Geschichte für jemanden anhören musste, der von der Materie rein gar nichts verstand. „Sie sind doch bestimmt ein äußerst beschäftigter Mann", sagte er. „Es gibt bestimmt eine Menge Leute, die dringend Ihre Hilfe brauchen. Zum Glück gehöre ich nicht zu ihnen. Deshalb bitte ich Sie: Öffnen Sie diese Tür!" Dr. Bernstein rührte sich keinen Millimeter. Er sah aus wie eine wiederkäuende Kuh. Seine Gelassenheit trieb Stuart fast zur Weißglut. Er humpelte zurück zur Tür und hämmerte mit der Faust dagegen. „Aufmachen!", schrie er. „Hört mich denn niemand? Ich werde hier gegen meinen Willen festgehalten!" Es dauerte nicht lange, bis die Tür sich tatsächlich öffnete. Doch Stuarts aufkeimende Hoffnung wurde rasch wieder zunichte gemacht. Die blonde Sprechstundenhilfe stand in der Tür, hinter ihr ein Schrank von einem Mann, dessen Augenbrauen so dicht und 82
buschig waren, dass man sie für seinen Haaransatz hätte halten können. „Alles in Ordnung?", flötete die Sprechstundenhilfe. „Alles bestens, Gretchen", entgegnete Dr. Bernstein. Die Tür schloss sich wieder. Und mit Gretchen und dem Schrank verließ Stuart auch die letzte Hoffnung, dass er hier jemals wieder herauskommen würde. Unterdessen holte Dr. Bernstein seinen Rezeptblock heraus. „Ich verschreibe Ihnen ein Mittel gegen Ihre Ängste", sagte er und kritzelte auf den Block. „Keine Bange, es ist nur ein sehr leichtes Mittel. Es hilft Ihnen, die Zeit bis zu unserer nächsten Sitzung zu überstehen." „Wenn es mich dann noch gibt...", entgegnete Stuart resignierend.
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Seit sie mit Leopold aus dem Central Park zurückgekommen war, erfüllte Kate eine seltsame Unruhe. Ihr Puls ging schneller als gewöhnlich, ein flaues Gefühl machte sich in der Bauchgegend bemerkbar. Sie vermutete, dass das bevorstehende Abendessen mit J.J. dafür verantwortlich war, denn schließlich hing viel davon ab. Tief in ihrem Innern aber wusste sie, dass das nicht der wirkliche Grund war. Während sie sich anzog, musste sie die ganze Zeit an die Erlebnisse im Park denken: an die wilde Verfolgungsjagd ebenso wie an die romantische Kutschfahrt. Als junges Mädchen hatte sie fest daran geglaubt, dass eines Tages ein Märchenprinz auf einem weißen Pferd angeritten kommen würde, um sie zu seiner Prinzessin zu machen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie diesen Traum erst vor kurzem endgültig begraben, als sie festgestellt hatte, dass sie mehr noch eine unerklärliche Schwäche für Hofnarren als für Prinzen hatte. Männer wie Stuart eben. Und vermutlich gehörte auch Leopold zu ihnen, auch wenn er wirklich auf einem weißen ROSS angeritten gekommen war und sie ritterlich verteidigt hatte. Oder vielleicht gerade deswegen. In ihrem eleganten Hosenanzug trat sie aus dem Schafzimmer und vor den Garderobenspiegel. Ihr Bruder Charlie saß im Wohnzimmer und sah sich ein Baseballspiel an, während Leopold versuchte, Bart ein paar grundsätzliche hündische Anstandsregeln beizubringen. „Sitz, treuer Freund", hörte sie ihn sagen, „sitz! Und jetzt komm. Bei Fuß." Während Kate sich frisierte, wanderten ihre Augen immer wieder zu ihm, doch wenn er ihren Blick auffing, schaute sie sofort weg. Hör auf damit, Kate, dachte sie errötend. Konzentrier dich! Leopold betrachtete Kate mit sichtlichem Wohlgefallen. Die Art, wie sich die Frauen dieses Jahrhunderts kleideten, beeindruckte ihn. In seiner Zeit trugen Frauen nur selten Hosen, eigentlich nur diese Frauenrechtlerinnen, über die die Männer entweder lachten oder schimpften. Seitdem hatte sich offenbar einiges getan, sowohl was die Stellung der Frau als auch den modischen Zuschnitt der 84
Damenhosen anging. Kate jedenfalls strahlte trotz ihrer Hosen damenhafte Eleganz aus. Seit dem heutigen Nachmittag fand Leopold die Tatsache, dass Kate den Abend mit einem Mann verbrachte, dessen Absichten zweifellos über das Geschäftliche weit hinausgingen, noch beunruhigender als zuvor. Er mochte Kate. Vielleicht sogar mehr als das. Sie war so vollkommen anders als die Frauen seines Jahrhunderts, die ihre Zeit mit dem Lesen von Modejournalen oder romantischen Schundromanen, dem Austausch von Klatsch und der Planung von Abendgesellschaften vertändelten. Kate bemerkte, dass er sie anstarrte, und es gefiel ihr. Sie ahnte, was in ihm vorging. Er hatte sie seit ihrer Rückkehr aus dem Park wiederholt auf ihre Verabredung mit J.J. angesprochen und seine Bedenken geäußert. Seine Besorgtheit rührte sie, so sehr, dass ein Teil von ihr am liebsten geblieben und den Abend mit ihm verbracht hätte. Der andere Teil aber sagte ihr, dass J.J. eine Absage nicht gefallen würde. Bevor sie die Wohnung verließ, trat sie ins Wohnzimmer und fragte Charlie, der mit einer Dose Bier vor dem Fernseher saß, was er und Leopold für den Abend vorhätten. Charlie zuckte die Schultern. „Vielleicht gehen wir nach dem Spiel einen trinken", entgegnete er. Kate wandte sich zur Tür. Dort stand schon Leopold und hielt ihr den Mantel hin. „Ich möchte mein Angebot, als Ihr Begleiter zu fungieren, wiederholen", sagte er, während sie in den Mantel schlüpfte. „Das ist nett von Ihnen", entgegnete Kate geschmeichelt, „aber es ist nicht nötig." Leopold wandte sich an Charlie um Beistand. „Finden Sie es als ihr Bruder nicht unangemessen, Ihre Schwester einfach so gehen zu lassen?", rief er ins Wohnzimmer. Für ihn war unbegreiflich, dass Charlie einfach so zusehen konnte, wie Kates Ruf befleckt wurde. „Als ihr Bruder finde ich es unangemessen, dass meine Schwester mir nicht auch ein Vorsprechen zu diesem Spot verschafft hat", kam es beleidigt von der Couch zurück. „Du bist nicht gerade der ideale Sprecher für Margarine-Werbung, Charlie", entgegnete Kate sachlich. 85
Charlie blickte über die Couchlehne hinweg seine Schwester an. Dass sie Leopold vom Fleck weg ins Studio mitgenommen, ihn aber nicht einmal in Erwägung gezogen hatte, kränkte ihn schwer und umso mehr, als sie ihm seine Erfolglosigkeit ständig unter die Nase rieb. „Ich kann alles, was du willst", sagte er. „Schließlich bin ich Schauspieler. Wenn du willst, kann ich auch mit britischem Akzent sprechen." Er gab eine kurze Kostprobe seines Könnens, die aber weder Kate noch Leopold überzeugte. Da klingelte es an der Tür. „Das wird das Taxi sein", sagte Kate. Sie verabschiedete sich, erneut gerührt von Leopolds besorgter Miene, und verließ die Wohnung. Leopold gesellte sich zu Charlie auf die Couch, ohne sich jedoch für das Spiel zu interessieren. Er hing seinen Gedanken nach, von denen die meisten mit Kate zu tun hatten, und ließ sich dabei auch nicht von Charlies Anfeuerungsrufen für die Mets stören. Nach einer Weile kam Bart zu ihnen und legte seinen Kopf auf Leopolds Knie. Nachdem das Spiel mit einem Sieg der Mets zu Ende gegangen war, machte Charlie sich zurecht. Dann verließ er zusammen mit Leopold die Wohnung. „Wir beide machen jetzt einen drauf", sagte er verheißungsvoll. Leopold hatte jedoch nur eine vage Vorstellung davon, was er damit meinen könnte. New York vibrierte vor Leben. Leopold kam aus dem Staunen nicht heraus. Die Straßen waren voller Menschen und Autos, Leuchtreklame blinkte und glitzerte, Musikfetzen drangen an sein Ohr und die unterschiedlichsten Gerüche – billiges Parfüm, Abfall, Hotdogs – in seine Nase. Schließlich blieb Charlie vor dem Fenster einer Bar stehen und schaute durch das Fenster nach drinnen. Irgendwie sehnsuchtsvoll, wie Leopold fand. „Ist da jemand, den Sie kennen?", fragte er. Charlie nickte. „Die Brünette mit den langen Haaren", sagte er. „Sie heißt Patrice." Leopold musterte die Menschenmenge im Innern der Bar und fand Patrice. Soweit er sehen konnte, war sie wirklich sehr hübsch, mit ihren großen dunklen Augen, der hohen Stirn und den schwungvollen roten Lippen, die wie von einem Künstler gemalt wirkten. „Sie ist eine Schönheit", sagte Leopold. 86
„Und sie gehört mir", entgegnete Charlie. „Gratuliere." Ein warmes Gefühl strömte von Charlies Bauchgegend aus bis in die letzten Winkel seines Körpers. Er hätte gewünscht, die Sache zwischen ihm und Patrice sei auch nur halb so sicher, wie er sie darstellte. Die beiden betraten die Bar. Zielstrebig schritt Charlie auf einen Tisch zu, an dem mehrere junge Frauen in angeregter Unterhaltung saßen; Leopold blieb einen Schritt hinter ihm. Er staunte über die gewagte Damenmode dieses Jahrhunderts und wusste kaum, wohin mit seinen Blicken. Denn wohin er auch schaute, er traf stets auf nackte Frauenbeine und tief dekolletierte, eng anlie gende Tops, die nur allzu einladend präsentierten, was sie eigentlich vor zudringlichen Blicken schützen sollten. Charlie stellte Leopold den jungen Frauen vor. Dennis, Allison, Monica. Leopold deutete vor jeder eine Verneigung an. Da kam auch schon Patrice mit mehreren Cocktails heran, die sie für sich und die anderen Mädchen mitgebracht hatte. Charlie warf sich in eine Pose, die ganz besonders lässig wirken sollte, und sagte, auf die vielen Drinks in Patrices Hand anspielend: „Und das ist die unersättliche Patrice, Leo." Er ließ sich auf einen leeren Stuhl fallen. „Mann, die Cocktails sehen aber toll aus." Patrice begrüßte Leopold kurz, aber höflich, und lächelte Charlie dann umso breiter an. Leopold indes konnte nicht mit ansehen, wie Patrice die vielen Gläser balancierte. „Lassen Sie mich helfen", sagte er und nahm ihr ein paar Getränke ab, um sie auf den Tisch zu stellen. Dann rückte er ihren Stuhl heraus. Sie sah ihn mit einer Mischung von Erstaunen und Wohlgefallen an und nahm Platz. Auch die anderen Frauen hatten ihre Gespräche kurz unterbrochen, um diesen unerhörten Vorfall zu beobachten. Charlie bemerkte die Blicke, die Leopold einheimste. Dunkel schwante ihm, dass es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, Patrice galant und zuvorkommend zu behandeln. Als Patrice gleich darauf eine Zigarette nahm, zückte er schon sein neues Feuerzeug und ließ eine gewaltige Flamme vor ihrem Gesicht aufleuchten, die ihr fast das Haar versengte. „Siehst gut aus, Patrice", versuchte er neben 87
dem zuvorkommenden nun auch den galanten Teil abzudecken, „richtig zum Anbeißen." Patrice lächelte gezwungen, Leopold zog eine Braue hoch. Dann nahm er Platz und überließ Charlie das Feld. Dieser riss sogleich die Aufmerksamkeit an sich, erzählte in großer Geste von einem Schauspieler-Workshop, an dem er vor kurzem teilgenommen hatte, von spannenden künstlerischen Erfahrungen – er benützte das Wort „spannend" in jedem zweiten Satz - und kam auf verschlungenen Wegen zu der Ansicht, dass die Schätze des Lebens wie in einem Keller versteckt seien. „So ähnlich wie im Louvre", warf Leopold ein. Alle Blicke wandten sich ihm zu. Fragende Blicke. Offenbar wussten ein paar der Mädchen nicht einmal, was der Louvre war. „Das Museum in Paris", erklärte er, peinlich berührt von so viel Unwissenheit. „Verzeihen Sie", sagte er, an Charlie gewandt, „ich wollte Sie nicht unterbrechen." Charlie indes war völlig aus dem Konzept gekommen. Ihm schwante, dass er auf nahezu verlorenem Posten kämpfte, denn während er sich den Mund fransig redete, hatte eine beiläufige Bemerkung Leopolds genügt, um die Mädchen und vor allem Patrice in beinahe ehrfürchtiges Staunen zu versetzen. „Was ist mit dem Louvre, Leo?", wollte Patrice wissen. „Gar nichts", entgegnete Leopold, dem die Situation peinlich war, „Charles' Geschichte war viel interessanter." Charlie kniff die Augen zusammen. War dies etwa Leopolds Masche: Erst mit einer beiläufigen Bemerkung Interesse wecken und sich dann bitten lassen? Wie auch immer, er musste es sich merken, denn es funktionierte ausgezeichnet. Alle wollten nur noch die Louvre-Geschichte hören, während Charlie und seine intensiven künstlerischen Erfahrungen komplett abgemeldet waren. Vor allem bei Patrice, und das schmerzte am meisten. Als Leopold merkte, dass die Mädchen sich erst zufrieden geben würden, wenn er ihnen vom Louvre erzählte, warf er Charlie einen bedauernden Blick zu und sagte dann: „Die meisten Menschen wissen es nicht, doch nur ein geringer Teil der Kunstschätze des Louvre hängt an den Wänden. Der große Rest befindet sich in den Kellern." 88
Zu Charlies ausgesprochenem Missfallen wurden die Augen der Mädchen immer größer. Dennis neigte sich ihm sogar zu und fragte ihn leise, ob Leopold schwul sei, wartete dann aber die Antwort gar nicht ab, sondern meinte für sich: „Bestimmt ist er schwul. Die richtig tollen Männer sind immer schwul." „Waren Sie etwa schon mal in den Kellern des Louvre?", fragte Patrice. „Gewiss doch", entgegnete Leopold, entzündete dann wie selbstverständlich Monicas Zigarette, nahm sich selbst eine aus Charlies Packung und bot sogar Charlie eine an, der aber nicht reagierte, sondern ihn nur mit offenem Mund anstarrte. „Ich hatte Kunst als Hauptfach", sagte Patrice. „Was ist denn nun im Keller des Louvre?", wollte Monica endlich wissen. Leopold entledigte sich mit größter Eleganz der Asche an seiner Zigarette und sagte: „Dort beginnt die wirklich interessante Ausstellung. Werke, an die kein dilettierender Schüler oder Restaurator je Hand angelegt hat. Werke von da Vinci. David. Entwürfe von Rodin. Herausragende Kunstwerke der Menschheit lehnen dort an den Wänden, umgeben von Naturschwämmen, die die Feuchtigkeit aufnehmen." Ehrfürchtiges Staunen in allen Gesichtern. Dies war der Moment, in dem Charlie Leopold zu hassen begann. Und in dem er begriff, dass er eine Wendung herbeiführen musste, wollte er Leopold das Feld – und Patrices Herz – nicht ganz überlassen. „Was haltet ihr davon, wenn wir eine Runde tanzen?", schlug er vor. Der Vorschlag fand allseits Zustimmung. Kurze Zeit später stand Leopold am Rande der Tanzfläche und wunderte sich über die erstaunliche Wandlung, die das Verständnis von Musik und Tanz in den letzten hundert Jahren genommen hatte. Ohrenbetäubend wummerten die Bässe, bunte Lichter blitzten, die Tanzpaare verrenk ten ihre Körper, ohne sich dabei zu berühren. Leopold beobachtete, wie Charlie mit Patrice tanzte. Das heißt, eigentlich hüpfte er vor ihr herum. Sie indes blickte immer wieder verstohlen zu Leopold herüber. Die anderen Mädchen hatten sich ebenfalls Tanzpartner gesucht. Trotzdem kamen Monica und Dennis nach einer Weile auf Leopold 89
zu und versuchten, ihn zum Mitmachen zu überreden. Da sie nicht locker ließen, trat er schließlich auf die Tanzfläche und versuchte ein paar zaghafte Schritte. Zunächst wirkte er dabei eher steif. Aber dann fand er sich in den schnellen Rhythmus, schaute sich ein paar Bewegungen ab und entwickelte so einen ganz eigenen Tanzstil, eine Art Techno-Walzer, mit dem er nicht nur die Aufmerksamkeit der neben ihm Tanzenden auf sich zog, sondern auch die von Patrice. Wie von einer seltsamen Kraft angezogen entfernte sie sich immer mehr von Charlie und näherte sich Leopold. Charlies Miene verfinsterte sich. Als er sah, wie Patrice vor Leopold tanzte und dabei sogar seinen eigenwilligen Tanzstil nachzuahmen versuchte, wusste er, dass der Abend für ihn gelaufen war. Schweigend gingen Leopold und Charlie die Straße hinab, Leopold einen halben Schritt hinter Charlie. Obwohl es schon kurz vor Mitternacht war, herrschte reges Leben in den Straßen, die Lokale waren noch immer zum Bersten voll. „Ich war so nah dran", brach Charlie schließlich das Schweigen. Er war verärgert. Mehr als verärgert. Er war wütend. „Heute Abend hätte sie mir bestimmt ihre Telefonnummer gegeben. Aber dann kommen Sie mit Ihrem Getue daher." „Ich bitte um Verzeihung", sagte Leopold kleinlaut. Doch Charlie beachtete es nicht. Einmal in Fahrt gekommen, war er nicht mehr so leicht zu bremsen. „Dieses ständige Stühlerücken. Sitzen Sie bequem? Nach Ihnen, ich bitte Sie... Und dann mussten Sie zu allem Überfluss auch noch anfangen, französisch zu sprechen – das war wirklich der absolute Hammer." Leopold seufzte nur. Was hätte er machen sollen? Die Mädchen hatten ihn mit solchem Nachdruck darum gebeten, dass ihm klar war: Sie würden erst Ruhe geben, wenn er ihre Bitte erfüllte. Da blieb Charlie schlagartig stehen. „Machen wir uns nichts vor", sagte er bitter. „Patrice hält Sie für süß. Vielleicht schwul. Aber auf jeden Fall süß. Süß ist so gut wie tot. Für mich natürlich." Mit weit ausholenden Schritten ging er weiter. Leopold hatte Mühe, hinterherzukommen. Er zog eine Serviette aus seiner Jackentasche. „Ich nehme an, das hier ist ihre Nummer", sagte er. 90
Charlie blieb wie vom Blitz getroffen stehen und fuhr herum. Seine Hand schnappte nach der Serviette. Fassungslos las er: Patrice 555 7856. Sie hatte ihm ihre Nummer gegeben, schon am ersten Abend. Und was das Schlimmste war: Leopold hatte sie vermutlich nicht einmal darum gebeten. „So wie ich das sehe", sagte Leopold sachlich, „hat Patrice nicht die leiseste Ahnung, was Sie für sie empfinden. Das ist allerdings auch kein Wunder, wenn Sie ständig den dummen August geben, Charles." Charlie war nahezu sprachlos. „Den was?" „Sie benehmen sich wie ein Spaßmacher und werden natürlich auch als solcher gesehen. Doch Frauen erwarten in Gefühlsdingen Ernsthaftigkeit. Hören Sie endlich auf, dieses Spiel zu spielen. Welche Frau will schon von einem Hanswurst umworben werden?" Charlie spürte, dass Leopold Recht hatte, und das war vielleicht das Schlimmste. Er hatte es von Anfang an falsch angestellt. Patrice hielt ihn für einen Clown, und das vollkommen zurecht. „Rufen Sie Patrice morgen an", riet Leopold. „Sie hat die Nummer aber Ihnen gegeben", wandte Charlie bedrückt ein. Leopold lächelte. „Doch nur, weil ich Patrice von Ihren Gefühlen erzählt habe." Charlie schluckte. Sollte er sich über diesen Freundschaftsdienst freuen? Oder erschien er dadurch bei Patrice nicht noch lächerlicher als ohnehin schon? „Was haben Sie ihr gesagt?", wollte er wissen. „Lediglich, dass Sie sie bewundern, ihr bisher aber nicht offen den Hof machen wollten, weil Sie gehört hätten, ein anderer werbe um ihre Gunst." „Verdammte Scheiße", entfuhr es Charlie, „das ist gut. Was hat sie gesagt?" „Sie gab mir die Serviette." Das, was nun in Charlie aufstieg, war mehr als nur ein Hoffnungsfunken – es war ein regelrechtes Hoffnungsfeuerwerk. Aller Groll gegen Leopold war vergessen, am liebsten wäre er ihm um den Hals gefallen. Er unterließ es jedoch und lief stattdessen auf ein öffentliches Telefon zu, das ganz in der Nähe stand. „Es ist schon spät, Charles", gab Leopold zu bedenken, während Charlie die Nummer wählte. 91
„Ich weiß", entgegnete dieser. „Patrice ist vermutlich noch nicht zu Hause. Es wird also ihr Anrufbeantworter rangehen. Ich hinterlasse meine Nummer. Dann ist es an ihr, den Ball mir wieder zuzuspielen." Leopold schüttelte den Kopf. „Sie wollen vielleicht kein Clown mehr sein, aber seien Sie auch kein Stratege. Das Entscheidende ist doch, dass Sie den Ball spielen und damit das Heft in der Hand behalten." Charlie rieb sich das Kinn, während es im Hörer tutete. Ehe der Anrufbeantworter anging, legte er auf. „Sie haben Recht", sagte er. Seine Bewunderung für Leopold wuchs. Er wusste, wie man eine Frau rumkriegte. „Es ist nicht nötig, heute Abend noch etwas zu tun", versicherte Leopold unterdessen mit einer Selbstsicherheit, die keinen Platz für Zweifel ließ. „Morgen machen Sie Ihren ersten Zug, aber auch das ist nur ein Auftakt. Sie offenbaren Ihre Absichten. Aber denken Sie daran, Patrice zu erfreuen und nicht zu verärgern." Charlie seufzte. Zweifel überkamen ihn, ob er das jemals schaffen würde. Leopold klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Morgen sehen Sie klarer. Wir sollten jetzt heimkehren. Kate ist bestimmt schon zu Hause." „Das glaube ich nicht", widersprach Charlie. Leopold hörte es nicht gerne. Er musste wieder an J. J.'s Vertraulichkeiten im Studio denken. Eine tiefe Falte bildete sich zwischen Leopolds Brauen. „Es ist schon fast Mitternacht", sagte er. Charlie blickte auf. Schlagartig begann er zu verstehen. Heiterkeit legte sich auf sein Gesicht. „Sie stehen auf meine Schwester, hab ich Recht?", sagte er. Leopold erwiderte nichts, sondern ging einfach los. Sein Herz schlug heftig, er spürte, wie seine Wangen sich erhitzten. Einerseits weil die Vorstellung, Kate verbringe mehr als nur den Abend mit diesem widerlichen J. J., ihn erzürnte; andererseits gefiel es ihm nicht, von Charlie durchschaut zu werden. Der schloss schnell zu ihm auf und hielt ihn am Arm fest. „Wieso ist mir das nicht früher aufgefallen", rief er aus. „Sie sind in meine Schwester verknallt." Charlie zog spöttisch die Brauen hoch und ahmte Leopolds britischen Akzent nach, als er sagte: „Sie haben Ihre 92
Absichten doch bestimmt offenbart, nicht wahr? Das haben Sie doch?" Leopolds Blick fiel zuerst zu Boden und dann auf Charlie. Er wirkte verärgert. Charlie lachte auf. Offenbar war es eine Sache, gute Ratschläge zu erteilen, und eine ganz andere, sie selbst zu befolgen. „Wissen Sie was", sagte Charlie da. „Das Commune ist hier gleich um die Ecke. Vielleicht sollten wir auf einen Sprung reinschauen. Sie können mir dabei ja ein paar von Ihren Tricks zeigen. Die Sache mit dem Stühlerücken. Ein paar galante Gesten hier und da." Er lachte laut auf und stieß Leopold kumpelhaft in die Seite. „Mit Patrice war es einfach, was ? Wenn einem nichts daran liegt. Aber wenn es um etwas geht, wenn Sie das Mädchen gern haben, dann haben Sie genauso die Hosen voll wie ich." Leopold antwortete nicht, sondern ging weiter. Es sah verdammt nach einem Fluchtversuch aus, fand Charlie. „Wer ist jetzt der dumme August?", rief er ihm hinterher. Da blieb Leopold stehen und wandte sich um. „Wo ist dieses Commune?", wollte er wissen. Das Commune war erst vor kurzem eröffnet worden, doch es hatte sich im Nu einen Namen als eines der besten französischen Restaurants in ganz Manhattan gemacht. Kein Wunder also, dass sich hier die Creme de la creme der New Yorker Gesellschaft – oder was sich dafür hielt – ein Stelldichein gab. Die Kellner sprachen alle mit französischem Akzent, obwohl die meisten von ihnen aus New Jersey oder Connecticut kamen. J.J. und Kate hatten ein mehrgängiges Menü hinter sich, ein Kellner räumte gerade die Teller weg, als J.J. erneut – zum wievielten Mal eigentlich? – Kates Geschick in der Farmer'sBounty-Angelegenheit lobte. „Wo haben Sie diesen Kerl nur aufgetrieben?", fragte J.J. gerade. Er meinte Leopold. „Sie haben Phil vor seiner eigenen Unentschlossenheit gerettet." „Ich wusste einfach, dass er der Richtige ist", sagte Kate und hob das Glas. „Aus dem Bauch heraus." Sie setzte es an die Lippen und nahm einen Schluck Wein. Oh mein Gott, dachte sie dabei. Ich flirte 93
hemmungslos mit J.J. Wie weit bin ich für diesen Posten zu gehen bereit? Sie spürte, wie ihr der Alkohol mehr und mehr zu Kopf stieg. „Ich zähle auf diesen Bauch", entgegnete J.J. unterdessen lächelnd. „Ihr Freund wird ein Star, das verspreche ich. Gehen Sie eigentlich mit ihm ins Bett?" Kate verschluckte sich und hätte fast den Wein ausgespuckt. „Natürlich nicht!", antwortete sie empört. J.J. schien zufrieden und ließ die Dessert-Karte kommen. Während er sie überflog, fing er an von seinem Landhaus zu erzählen, in dem sie ihn unbedingt besuchen müsse, und als Kate sich unentschlossen zeigte, fragte er, wie es mit einem Opernwochenende stünde. „La Boheme wird in der Met gegeben." Kate stammelte ein wenig und zerknüllte dabei ihre Serviette. „Ich habe Sie noch nie so nervös erlebt, Kate", sagte J.J. amüsiert, „dabei habe ich noch nicht einmal versucht, Sie zu küssen." Kate spürte, wie sie errötete. Wie kam sie da nur wieder heil heraus, ohne J.J. vor den Kopf zu stoßen? Oder war er etwa gerade dabei, die Bedingungen für ihren Aufstieg in der Firma zu diktieren? „Diese ganze Sache beunruhigt mich wirklich ein wenig, J. J.", sagte sie vorsichtig. „Ich bin regelrecht zerrissen. Ja, zerrissen ist ein gutes Wort dafür." Sie räusperte sich. „Ich meine... ich mag Sie. Aber ein Arbeitsverhältnis wie unseres verlangt... verlangt..." Sie wusste nicht mehr, wie sie den Satz beenden sollte. Die ungute Ahnung beschlich sie, dass der Abend kurz davor war zu kippen. „Vielleicht sollten wir klären, welche Art von Arbeitsverhältnis wir überhaupt haben." J.J. kam nicht dazu zu antworten, denn plötzlich erscholl ein Ruf quer durch das Restaurant. „He, Kate!" Kate wandte den Kopf. Zu ihrem Erstaunen sah sie Charlie auf sich zukommen. Leopold folgte in kurzem Abstand. „Was macht ihr denn hier?", fragte sie ihren Bruder, als dieser grinsend neben ihr stand. „Och", entgegnete er, „wir waren gerade in der Nähe und dachten, wir sagen kurz Hallo." Er wandte sich an J.J. und streckte ihm die Hand entgegen. „Sie müssen Kates großer Boss sein. Ich bin Kates Bruder Charlie. Der Schauspieler." Er betonte es auf eine Weise, die ein ganzes Bewerbungsschreiben ersetzte. Dann wies er hinter sich, wo Leopold in einigem Abstand wartete. Leopold war peinlich 94
berührt, denn derart in ein Abendessen zu platzen, widersprach allem, was man ihm über Takt und Höflichkeit beigebracht hatte. „Das ist Leopold", stellte Charlie seinen Freund vor. J.J. nickte nur und musterte Leopold dabei mit einem raschen Blick. Natürlich erkannte er ihn sofort wieder. Wie hätte er sich nicht an den Mann, der die Farmer's-Bounty-Kampagne gerettet hatte, erinnern sollen? Leopold trat näher und deutete eine Verbeugung gegen J.J. an, die gleichwohl nur Höflichkeit und nicht Wertschätzung ausdrücken sollte. Dann wandte er sich an Kate. „Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?", sagte er mit ernster, ja besorgter Miene. „Was?", fragte Kate. Sie konnte sich schon denken, was er wollte. Aber sie war kein kleines Mädchen mehr. Selbst wenn sie vorgehabt hätte, mit J.J. zu schlafen, wäre das alleine ihre Sache gewesen. „Setzen Sie sich doch zu uns, Leopold", forderte J.J. Leopold gönnerhaft auf. „Ich habe Kate gerade von meinem Landhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert erzählt, das ich in Sussex gekauft habe." Leopold sah J.J. mit einem geringschätzigen Blick an. Doch da sein Angebot ihm mehr als gelegen kam, nahm er Platz. Charlie folgte. Kate kniff verärgert die Augen zusammen. Sie ahnte Schlimmes und schwor schon jetzt Rache, wenn die beiden sie bei J.J. blamieren sollten. „Mit Verlaub", meinte Leopold an J.J. gewandt, kaum dass er sich gesetzt hatte, „wo, sagten Sie, liegt Ihr Landhaus?" „In Sussex", entgegnete J.J. und lehnte sich lässig zurück. Doch seine Lässigkeit war gespielt. Schon nach der Probeaufnahme hatte er mit sicherem Instinkt in Leopold den Rivalen gewittert. Nervös zündete sich Kate eine Zigarette an. „Etwa in der Nähe von Ballmour?", fragte Leopold nach. J.J. nickte.
„Sie sind vollkommen sicher?"
„Natürlich."
„In der Umgebung von Ballmour gibt es nichts außer Farmland."
„Sie müssen sich irren."
„Keinesfalls."
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Jeder am Tisch spürte die Spannung, die sich zwischen J.J. und Leopold aufbaute. Nur an der Oberfläche ging es dabei um die Existenz oder Nichtexistenz eines Landhauses irgendwo im grünen Nichts; in Wahrheit war es ein Duell mit Worten, das mit Säbeln kaum schärfer und unerbittlicher hätte geführt werden können. Kate war klar, dass sie etwas tun musste. J.J. war unberechenbar, wenn ihn jemand bloßstellte und in seiner Eitelkeit kränkte. „Sie irren sich ganz bestimmt, Leopold", sagte sie. „Das tue ich mitnichten", beharrte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Er spürte einen heftigen Tritt gegen sein Schienbein, zweifellos von Kate, denn Charlie verfolgte die Szene mit diebischem Vergnügen. Leopold ließ sich indes nicht abhalten. Er hatte sich entschlossen, diesen aufgeblasenen Geck angemessen in die Schranken zu weisen. „Ballmour ist das einzige Landhaus im ganzen County", sagte er. „Es ist sogar das einzige Gebäude dort. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich dort aufgewachsen bin." „Leopold ist nämlich ein Graf", warf Charlie ein. J.J. setzte das herablassendste Grinsen auf, dessen er fähig war. „Ein Graf, der sich darum bewirbt, in einem Werbespot für Margarine auftreten zu dürfen", sagte er und betrachtete seine perfekt manikürten Fingernägel. „Ich tue das nur Kate zuliebe", entgegnete Leopold. „Verstehe." Und ob J.J. verstand. Von der ersten Sekunde an hatte er verstanden. Wie Leopold Kate nach dem Vorsprechen angesehen hatte, war ihm nicht entgangen. Und sein vermeintlich zufälliges Auftauchen hier – was musste man noch mehr sagen? „J. J. liebt übrigens die Oper", mischte Kate sich ein, um von der Landhaus-Frage abzulenken. Sie hoffte, damit weniger vermintes Gelände zu betreten, doch Leopolds hochgezogene Augenbrauen ließen auch hier nichts Gutes erwarten. Nervös zündete sie sich eine Zigarette an und merkte erst dann, dass sie noch eine nicht einmal halb gerauchte im Aschenbecher liegen hatte. Charlie drückte sie lächelnd aus. „Haben Sie auch eine Lieblingsoper?", fragte Leopold unterdessen. 96
„La Boheme", antwortete J. J. „Mit dieser Oper habe ich Französisch gelernt." „Sie sprechen Französisch, JJ.?", fragte Kate erstaunt. J.J. sah die Bewunderung in ihren Augen und ließ sich zu der leichten Übertreibung hinreißen, dass er es nicht nur spreche, sondern flüssig spreche. Leopold erkannte, dass J.J. ihm in seiner übertriebenen Eitelkeit vielleicht eine offene Flanke geliefert hatte. „Te bisoux m'arrive sur la jou comme le vent d'une fenetre", sagte er mit perfekter Aussprache. Alle Blicke wandten sich Leopold zu, doch niemand sah ihn so entgeistert an wie J.J., der natürlich begriff, dass er kurz davor stand, von Leopold hingerichtet zu werden. „Was hat er gesagt?", wollte Kate von J.J. wissen. Sie hätte nie gedacht, den stets souveränen J.J. einmal erröten zu sehen. Jetzt aber nahm er erstaunlich schnell die Farbe einer Tomate an. Leopold indes war zu sehr Ehrenmann, um J.J. gänzlich der Lächerlichkeit preiszugeben. Er hatte mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig ließ, bewiesen, was außer J.J. sowieso jeder am Tisch wusste: dass J.J. ein aufgeblasener Angeber war. Deshalb lieferte er selbst die Übersetzung und half J.J. so aus der Bredouille: „Deine Küsse berühren meine Wange wie die Brise von einem offenen Fenster." „Das gefällt mir", sagte Kate. „Es stammt aus der Eröffnungsszene von La Boheme", erklärte Leopold. „Eine wunderbare Arie." „Andre singt sie für Mimi", fügte J.J., der den Schreck rasch verdaut hatte, hinzu. Leopold zuckte zusammen. J.J. konnte es nicht lassen, glänzen zu wollen, wo er keinen Glanz besaß. Schon trumpfte dieser wieder auf. „Ich habe Kate gebeten, mich nächste Woche in die Met zu begleiten", fuhr er fort. „Doch sie hat abgelehnt. Können Sie sich das erklären, Leopold?" Kate wusste, worauf das hinauslief. Ihr Herz hämmerte wie wild, ihre Eingeweide schienen sich zu verknoten. Sie zündete sich schon wieder eine Zigarette an, was allerdings niemandem auffiel, da sich alle Aufmerksamkeit auf Leopold konzentrierte. Showdown, dachte Charlie gerade. 97
„La Boheme ist sicherlich ein Meisterwerk, das man nicht verpassen sollte", sagte dieser äußerlich ruhig, doch innerlich zum Zerreißen gespannt. Er hatte sich entschlossen, J.J. nun so zu behandeln, wie er es verdiente. „Vielleicht hat Kate Ihnen aufgrund moralischer Bedenken eine Absage erteilt." J.J. verbarg sich hinter einer Maske aus Gelassenheit und Überheblichkeit. Doch auch in seinem Inneren rumorte es heftig. „Und die wären?", wollte er wissen. „Wir sollten die Rechnung kommen lassen", warf Kate ein, ein letzter hilfloser Versuch, das Unvermeidliche abzuwenden. Niemand beachtete sie. Auch Leopold nicht, der in wohlgesetzten Worten und spitzem Ton sagte: „Manch einer mag finden, dass Ihre Werbung um die Gunst dieser Dame nichts weiter ist, als der schlangenhafte Versuch, aus einer Lady eine Hure zu machen." J. J. saß wie erstarrt da. Sprachlos. Kate verschluckte sich fast an ihrem Wein, zu dem sie in ihrer Verlegenheit gegriffen hatte. Charlie blinzelte ungläubig. Hatte Leopold das wirklich gesagt? Hatte er J.J. wirklich eine Schlange genannt? „Dieser Kerl gefällt mir", sagte J.J. mit rauer Kehle, sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren. „Der Margarine-Graf hält mich also für eine Schlange." „Aber nein. Er hat nur einen Scherz gemacht." Kate rang sich ein Lachen ab. Doch niemand lachte mit. Vor allem, weil Leopold gleich noch einen draufsetzte. „Nicht für eine Schlange", sagte er. „Nein. Das wäre zu viel der Ehre. Sie sind ein Angeber und Schuft. Der zudem noch weniger Französisch kann als ich, was allerdings kaum möglich ist." Leopold erhob sich. Mit einem solchen Menschen wollte er nicht an einem Tisch sitzen. Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, drehte sich dann aber noch mal um und sagte: „Übrigens: Es gibt in der ganzen Boheme keinen Andre. Die Hauptfigur heißt Rudolfo. Und es wird auch kaum auf Französisch gespielt, denn es wurde auf Italienisch geschrieben." Kate saß da wie in Stein gemeißelt, was ausgezeichnet zu ihrer Gesichtsfarbe passte, die weiß wie Marmor war. J.J. indes lief zum zweiten Mal an diesem Abend feuerrot an. Leopold fuhr herum und schritt auf den Ausgang zu. Ein paar Sekunden herrschte Totenstille 98
am Tisch. Dann fing Charlie plötzlich lauthals zu lachen an, sprang auf und eilte Leopold nach. Unruhig tigerte Leopold im Wohnzimmer auf und ab. Hinter dem Sofa, wo Charlie sich mit einem Videospiel die Zeit vertrieb, wechselte sich virtuelles Maschinengewehrfeuer mit virtuellen Bombenexplosionen ab. Auf dem Nachhauseweg hatte Charlie seinem Freund auf die Schulter geklopft und ihn beglückwünscht, es diesem, wie er sich ausdrückte, „aufgeblasenen Lackaffen" ordentlich gezeigt zu haben. Leopold aber wusste, dass er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Er bedauerte nicht, J.J. die Meinung gesagt zu haben, aber dafür umso mehr, Kate dadurch bloßgestellt und vielleicht sogar ihrer Karriere geschadet zu haben. Nach schier endloser Zeit des Wartens wurde endlich die Wohnungstür aufgeschlossen. Kate. Auch Charlie unterbrach sein Spiel und blickte über die Lehne der Couch hinweg herüber. Leopold trat auf Kate zu. Sie war noch immer aschfahl im Gesicht, was jedoch nur ein schwacher Abglanz der Verwüstung war, die in ihrem Innern herrschte. Sie fühlte sich vollkommen leer. „Erlauben Sie mir ein Wort", begann Leopold, sichtlich betroffen. Kate streckte ihm nur abwehrend die Hand entgegen. Sie konnte jetzt nicht sprechen, schon gar nicht mit Leopold. Tränen drängten in ihre Augen. Sie wandte sich ab und trat in ihr Schlafzimmer. Leopold folgte ihr, doch die Tür fiel vor seiner Nase zu. Er wollte schon klopfen, unterließ es dann aber. Nachdem er Charlie eine gute Nacht gewünscht hatte, verschwand er über die Feuerleiter in Stuarts Wohnung. Er musste Kate mitteilen, wie Leid ihm sein Verhalten tat. Da sie nicht mit ihm sprechen wollte, blieb ihm nur der Weg, ihr zu schreiben. Er suchte sich Papier und Kugelschreiber zusammen und setzte sich. Dann begann er zu schreiben. Doch der erste Versuch missfiel ihm. Er nahm einen zweiten Anlauf, einen dritten, einen vierten. Der Haufen an Papierkugeln zu seinen Füßen wurde immer größer. Leopold betrachtete den Kugelschreiber. Gewiss eine treffliche Erfindung. Doch in seinen Augen völlig ungeeignet, um etwas von Herzen Kommendes aufs Papier zu bannen. Er erhob sich und schaute sich suchend im Zimmer um. Sein Blick fiel auf eine Vase, in 99
der ein paar vertrocknete Schilfstängel steckten. Er nahm einen davon heraus und schnitt ihn zurecht, sodass er als Schreibfeder dienen konnte. In einer Schublade fand er auch ein Tintenfass. Diesmal besser gerüstet, versuchte er erneut, seine Gefühle in Worte zu fassen.
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Als Kate am nächsten Morgen erwachte, gab sie sich kurze Zeit der Illusion hin, der gestrige Abend sei nur ein schlimmer Albtraum gewesen, der nie wirklich stattgefunden hatte. Doch die allzu wohlgefällige Selbsttäuschung hielt nicht lange an und ihr wurde klar, dass Leopold tatsächlich ihren Boss aufs Übelste beleidigt hatte. Nachdem Leopold und Charlie gegangen waren, hatte sie sich wortreich bei J. J. entschuldigt, er aber hatte nur geschwiegen, eine Art von Schweigen, die sie nie zuvor an ihm gesehen, ja, dessen sie JJ. überhaupt nicht für fähig gehalten hatte. Ein Schweigen, wie sie es nur von Menschen kannte, die an sich zweifelten. Und dieses Schweigen hatte auch noch auf der Rückfahrt im Taxi angehalten. Erst als Kate schon hatte aussteigen wollen, hatte J.J. gesagt: „Sie können sich glücklich schätzen, einen solchen Verehrer zu haben. Er ist gebildet, hat Stil und, wenn es nötig ist, eine spitze Zunge. Und nicht zuletzt besitzt er so was wie Anstand. Ein fürchterlich altmodisches Wort, finden Sie nicht?" Kate hatte gelächelt, obwohl ihr nicht danach gewesen war, und war ausgestiegen. Erst als das Taxi mit J.J. schon weggefahren war, war ihr klargeworden, dass er nicht über sich, sondern über Leopold gesprochen hatte. Kate setzte sich im Bett auf und rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen. Schon möglich, dass Leopolds Absichten ehrenhaft gewesen waren. Trotzdem hatte er mit all seinem Anstand und seiner Ehrenhaftigkeit wertvolles Porzellan zerschlagen, das zu kitten ihr als eine unlösbare Aufgabe erschien. Als Kate, fertig für den Tag, ihr Schlafzimmer verließ, drang ihr frischer Kaffeeduft in die Nase. Zu ihrem Erstaunen sah sie schon von weitem, dass der Frühstückstisch aufwendig gedeckt war. Offenbar Charlies Werk. „Kaffee?", fragte er. Kate schüttelte den Kopf, nahm Tasche und Mantel. „Ich hab dir eine Zeitung besorgt", sagte er, denn er wusste, dass sie immer gut informiert im Büro erscheinen wollte. „Willst du sie lesen?"
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Erneut schüttelte Kate den Kopf. „Ich will ins Büro und versuchen, etwas von dem Schaden wieder gutzumachen, den ihr gestern angerichtet habt." Damit verließ sie die Wohnung. Mist, dachte sie, als sie das Schild vor der Fahrstuhltür sah. Der Aufzug war noch immer außer Betrieb. Mit gummiweichen Beinen stieg sie die Treppen hinab. Da hörte sie Charlie hinter sich. Kate blieb stehen. Wenig später stand ihr Bruder vor ihr. „Wenn du schon kein Frühstück willst, solltest du wenigstens eine Kiwi für unterwegs mitnehmen", sagte er und setzte dieses Lächeln auf, mit dem man ihm einfach alles verziehen hätte. Kate ließ zu, dass er die Frucht in ihre Tasche gleiten ließ und sagte nur: „Das ist keine Kiwi, sondern eine Papaya." „Dachte mir schon, dass sie ein bisschen groß ist für eine Kiwi." Kate rang sich ein Lächeln ab. Dann ging sie weiter. Charlie sah ihr nach, bis sie am Ende der Treppe verschwand. Die Besprechung an diesem Morgen war in mancherlei Hinsicht heikel. Nicht nur für Kate, die noch nicht dazu gekommen war, mit J.J. zu sprechen. Es ging um Toilettenpapier. Ausgerechnet ihr Kollege Bob, den sie insgeheim Mister Etepetete nannten, breitete sich über eine neue Sorte aus, die zwar ein großer Prozentsatz der Testbenutzer als angenehm weich beschrieben hatte, ein noch größerer Prozentsatz aber als zu weich und dadurch zu wenig effektiv. Bob räusperte sich bei jedem zweiten Wort, während er diese Ergebnisse präsentierte. Immer wieder sah Kate zu J.J., doch dessen Aufmerksamkeit war anderweitig in Anspruch genommen. Die langbeinige blonde Praktikantin schien es ihm angetan zu haben. Offenbar hatte der gestrige Abend seinem männlichen Selbstbewusstsein nicht geschadet. Angewidert wandte sie ihre Augen ab. Um nicht dazusitzen wie eine komplette Idiotin, holte Kate wahllos eine Mappe aus ihrer Tasche. Als sie sie aufschlug, fand sie zu ihrem Erstaunen einen Brief. Kate, war in geschwungener Handschrift darauf geschrieben. Zweifellos stammte er von Leopold, denn wer sonst hätte einen Brief mit Siegelwachs verschlossen? Während Kate das Siegel vorsichtig erbrach, überlegte sie, wie der Brief in ihre Tasche gekommen sein konnte. Charlie fiel ihr 102
wieder ein. Natürlich! Mit der Papaya musste er ihr auch den Brief in die Tasche gesteckt haben. Kate entfaltete das Papier und las: „Liebste Katherine, ich habe mich letzte Nacht wie ein Dummkopf benommen; teils wegen meines kindischen Stolzes, teils – und dies vor allem – wegen Ihrer Schönheit. Seien Sie meines tiefsten Bedauerns versichert und gewähren Sie mir, als Zeichen, dass Sie mir verzeihen, die Gunst eines gemeinsamen Abendessens auf dem Dach Ihres Hauses. Wäre Ihnen acht Uhr recht? In tiefster Verbundenheit Ihr Leopold." Kate war von der Aufrichtigkeit dieser schlichten und doch schönen Zeilen ergriffen. Jedes Wort war mit Bedacht gewählt und in geschwungener, eleganter Schrift auf das Papier gesetzt. Wieder und wieder las sie den Brief, jedes Mal aufs Neue gerührt. Konnte sie Leopold da noch länger böse sein? Zumal alles, was er über J. J. gesagt hatte, stimmte. J. J. war ein aufgeblasener, aalglatter Typ. J.J.'s Stimme riss Kate aus ihren Gedanken. „Wie steht es mit Farmer's Bounty, Kate?", drang sie wie aus dem Hinterhalt auf sie ein. „Wollen Sie uns einweihen?" Erschrocken blickte Kate auf und fand sich unversehens mit den erwartungsvollen Mienen ihrer Kollegen konfrontiert. Sie wich J.J.'s Augen aus und kramte in ihren Papieren herum. Darci hatte ihr vor Beginn der Konferenz die Werte zu Leopolds Probeaufnahmen gegeben. Sie waren beeindruckend. „Wir haben sechsundneunzig Prozent Zustimmung", sagte Kate. „Die Frauen, die für den Spot ja die wichtigste Zielgruppe darstellen, haben ihn als ,gut aussehend' und .romantisch' empfunden, ein paar haben sogar von Hand ,Was für ein Mann!' dazugekritzelt." Verhaltene Heiterkeit machte sich breit, nur J. J. blieb ernst. „Ausgezeichnet", sagte er knapp, klappte sein Notebook zu und stand auf. Die Sitzung war beendet. Kate steckte die Mappe mit Leopolds Brief ein und eilte J.J. nach, der eilig den Raum verließ. Um einem Gespräch mit ihr zu entgehen ? Kate rief ihm hinterher, er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Ich wollte mich noch mal für gestern entschuldigen", sagte sie. „Es hätte ein so schöner Abend sein können." „Ich weiß das zu schätzen, Kate", entgegnete er kühl. 103
„Dann ist alles in Ordnung?" J.J. sah sie an. Er wusste natürlich, was sie meinte: die Position, die er ihr in Aussicht gestellt hatte. „Alles bestens", sagte er, lächelte sogar, wenn auch gezwungen. Dann verschwand er in sein Büro, die Praktikantin folgte nur Sekunden später. Im Vorübergehen warf sie Kate einen bösen Blick zu. Offenbar vermutete sie in ihr eine Konkurrentin. J.J.'s Versicherung hatte Kates Bedenken nicht gänzlich zu zerstreuen vermocht. Wie viel würden seine Versprechungen morgen noch wert sein? Leopold zweifelte nicht, dass Kate seine Entschuldigung und die Einladung annehmen würde. Deshalb verließ er schon früh Stuarts Wohnung, um Besorgungen für das Dinner zu machen. Vorher läutete er allerdings bei Charlie und ließ sich von ihm die besten Geschäfte für die Dinge auf seiner Einkaufsliste nennen. Charlie kam der Bitte gerne nach. Er hatte seinerseits Besorgungen, vor allem wollte er Patrice mit einem Blumenstrauß beeindrucken. Bei der Auswahl hoffte er auf Leopolds Rat, was dieser gerne zusagte, zumal er ebenfalls Floristisches auf seiner Liste hatte. Zudem passte es vor trefflich, dass Leopold die zurückliegende schlaflose Nacht dazu verwendet hatte, auch für seinen Freund Charlie ein paar Zeilen aufzusetzen, die diesem bei seiner Werbung um Patrices Gunst hilfreich sein -würden. Die beiden verabredeten sich für später in einem Blumenladen. Dann ging jeder seiner Wege. Als erstes suchte Leopold einen von Charlie als exquisit beschriebenen Gourmet-Markt auf. Kritisch betrachtete er die verschiedenen Käsesorten, Fleisch und Geflügel in der Auslage. Die Ware machte einen guten Eindruck. Das konnte man von dem vierschrötigen Verkäufer hinter dem Tresen allerdings nicht sagen. Unfreundlich herrschte er seine Kunden an, diese ließen die Behandlung widerwillig, aber ohne vernehmbares Murren über sich ergehen. „Habe ich richtig gelesen?", fragte Leopold, als er an der Reihe war. „Kostet eine Taube wirklich sieben Dollar und fünfundneunzig Cent?" „Das Pfund", brummte der Verkäufer und wischte sich die Hände an der Schürze ab. 104
„Das kommt mir dennoch sehr teuer vor." „Dann kaufen Sie eben nichts. Der Nächste!" Leopold überlegte kurz. Die Ware sah gut aus und er hatte keine Ahnung, wo er sonst einkaufen sollte. Deshalb entschloss er sich, seinen Ärger über das Betragen des Verkäufers hinunterzuschlucken. Er griff in seine Westentasche, holte ein paar englische Goldmünzen heraus und legte sie auf den Tresen, zum Zeichen, dass er nun doch zu kaufen gewillt sei. Die alte Lady neben Leopold sah die Münzen mit Erstaunen an, ebenso der bullige Verkäufer. „Nur amerikanisches Geld", bellte er. „Nun, vielleicht gewähren Sie mir ja Kredit", entgegnete Leopold kühl. Der Verkäufer kniff die Augen zusammen. Wollte dieser Schnösel mit seinem britischem Akzent ihn etwa auf den Arm nehmen? Dann hatte er sich dafür aber den Falschen ausgesucht. „Verpiss dich!", schnauzte er ihn an. „Wie bitte?", entgegnete Leopold, schockiert über ein solches Ausmaß an Vulgarität, welches noch gesteigert wurde durch die Tatsache, dass eine Vielzahl älterer Ladys zuhörte. „Du hast mich ganz gut verstanden", grollte der Mann. „Darf ich Sie daran erinnern, dass ich, wie all die anderen in diesem Laden, Kunde bin und Sie mir somit Respekt schulden. Ohne uns wären Sie nichts. Ein Bettler." „Geben Sie es ihm!", kam von hinten der unterdrückte Ausruf eine alten Dame. Weitere Kundinnen pflichteten durch Nicken bei. Der Verkäufer brodelte vor Wut. Er umrundete die Verkaufstheke und baute sich vor Leopold auf. So wirkte er noch größer als hinter dem Tresen, ein wahrer Fleischberg. „Mach, dass du hier rauskommst, du Früchtchen!", schrie er Leopold an und packte ihn am Kragen. Leopold war darauf vorbereitet und die Ausbildung bei der Königlichen Garde nicht vergebens. Mit einer flinken Bewegung entwand er sich dem Griff, packte seinerseits den Arm des Mannes und dreht ihn ihm auf den Rücken. Das alles wirkte so leicht, dass die Ladys aus dem Staunen nicht herauskamen. Sie spendeten spontanen Beifall. Der Fleischberg versuchte sich zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Als Leopold ihn endlich losließ, stolperte er noch ein paar 105
Schritte weiter, ehe er sich fing. Leopold indessen verließ erhobenen Hauptes den Laden. Und mit ihm die alten Damen. Eine von ihnen stellte sich als Ethel vor. „Früher wurde man in dem Laden gut bedient", erklärte sie, „aber seit der Besitzer gewechselt hat, haben sich auch die Umgangsformen schlagartig verschlechtert." „Wir hätten schon längst woanders kaufen sollen", sagte eine andere der Damen, „aber ein alter Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier. Die Straße runter ist noch ein Fleischer, der ist auch nicht schlecht." Ethel neigte sich Leopold zu und dämpfte ihre Stimme, als sie sagte: „Mein Mann ist Juwelier, deshalb kenne ich mich mit alten Münzen gut genug aus, um zu wissen, dass das, was sie da in Ihrer Tasche haben, einen Haufen Geld wert ist. In einer Stadt wie dieser sollten sie nicht einfach so damit herumlaufen. Bringen Sie es lieber zu einer Bank." Leopold bedankte sich für den Rat, ließ sich den Weg zur nächsten Bank beschreiben und verabschiedete sich. Wenige Minuten später stand er vor der klassizistischen Fassade der Bowery Savings Bank. Obwohl er noch nie hier gewesen war, erkannte er sie sofort wieder. Sie war auf dem Kugelschreiber abgebildet, den Stuart im Jahr 1876 verloren und mit dem alles angefangen hatte. Eine Viertelstunde später verließ Leopold die Bank. Statt seiner Goldmünzen hatte er nun mehrere dicke Bündel Banknoten in den Taschen. Eilig erledigte er seine restlichen Einkäufe, um sich dann an dem vereinbarten Blumenladen mit Charlie zu treffen. Der erwartete ihn schon voller Ungeduld. „Haben Sie schon etwas ausgesucht?", fragte Leopold und ließ den Blick über die floristische Pracht aus Rosen, Tulpen, Chrysanthemen und Narzissen schweifen. „Ich dachte, ich schicke ihr diesen kleinen Strauß", entgegnete Charlie unsicher und zeigte auf einen der fertig zusammengestellten Sträuße zum Sonderpreis. Leo betrachtete den Strauß und schüttelte den Kopf. „Das wird nicht gehen, Charles", sagte er. „Sehen Sie doch. Die Begonie und der Lavendel stehen für Gefahr und Misstrauen. Jede Blume hat eine Bedeutung, Charles. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Wieso nehmen sie nicht Amaryllis, die ein Kompliment an die 106
außergewöhnliche Schönheit der Empfängerin darstellt. Oder die Zentifolie, die Botschafterin der Liebe." Charlie schluckte. Er empfand Bewunderung für seinen stilsicheren Freund, aber auch eine Portion Skepsis, ob Patrice die subtile Blumensprache verstehen würde. „Sie wird", wehrte Leopold seinen Einwand ab, „wenn nicht mit ihrem Verstand, dann mit ihrem Herzen." Einige Zeit später verließen die beiden den Laden, über und über bepackt mit Blumensträußen und Gebinden, ganz abgesehen von all den anderen Tüten mit Leopolds Einkäufen. Er hatte alles aus einem Bündel Hundert-Dollar-Noten bezahlt. Charlie winkte ein Taxi heran und wenig später waren sie auf dem Weg nach Hause. Als die beiden mit Taschen und Blumen bepackt die Lobby betraten, kam Pförtner Gracy hinter seinem Tresen hervor und hielt Leopold den Schlüssel zum Dach hin. Dieser setzte eine seiner Taschen ab und steckte den Schlüssel ein. „Um sieben kommt ein Geiger", teilte er mit. „Schicken Sie ihn bitte aufs Dach." Leopold hatte ihn an einer Straßenecke spielen gehört und sofort engagiert. Nun reichte er Gracy für seine Bemühungen hundert Dollar und ging weiter, ohne auf die Dankesworte des Pförtners für das großzügige Trinkgeld zu reagieren. „Die Sachen, die Sie mir aufgeschrieben haben", sagte Charlie wenig später im Treppenhaus, „ich meine, das, was ich zu Patrice sagen soll. Ich kann das nicht. Das bin ich nicht, verstehen Sie? Patrice wird mich auslachen." „Das ist alles nur eine Frage der Übung, Charles", entgegnete Leopold. „Außerdem sind Sie Schauspieler, oder?" Gemeinsam gingen sie hoch in Stuarts Wohnung. Leopold schielte sofort zum Telefon. Er wusste inzwischen, wie der Anrufbeantworter funktionierte und hoffte, eine Nachricht von Kate vorzufinden. Doch das rote Licht blinkte nicht. Dafür war ein Fax eingegangen. „Mit großer Freude nehme ich Ihre Einladung an. Kate", stand darauf. Sein Herz frohlockte. Er fragte sich nur, wie der Bote in die Wohnung gekommen war, um den Brief abzugeben. Bester Dinge half Leopold Charlie dabei die Lebensmittel im Kühlschrank zu verstauen und die Blumen ins Wasser zu stellen. Dann schickte er Charlie ins Wohnzimmer, denn er wollte beginnen, 107
das Dinner für Kate vorzubereiten. „Außerdem haben Sie etwas zu tun", erklärte er. „Patrice hat Ihre Blumen bestimmt erhalten." Widerwillig stapfte Charlie ins Wohnzimmer. Ein Vorsprechen für eine Hauptrolle in einem Steven-Spielberg-Film hätte ihn nicht nervöser machen können als das, was vor ihm lag. Endlich rang er sich dazu durch, Patrice Nummer zu wählen. Er breitete den Spickzettel mit Leopolds kleinen Formulierungshilfen vor sich aus. „Hallo?", meldete sich Patrice. Sie klang erwartungsvoll. Weil sie ahnte, dass er am Apparat war? Sein Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals. „Hi, Patrice", sagte er. „Ich bin's, Charlie. Ich wollte nur fragen, ob du meine Blumen gekriegt hast... ich meine, deine Blumen... also, die Blumen, die ich dir geschickt habe." Charlie schwitzte Blut und Wasser. Das war so ziemlich das Schwerste, was er je gemacht hatte. Zu schwer, fürchtete er, während sein Blick zwischen Leopolds Notizen herumirrte, ohne irgendwo Halt zu finden. „Ich hab mich gefragt, ob du Lust hast, heute Abend mit mir ins Kino zu gehen. Und nachher... vielleicht könnten wir nachher was essen gehen. Ich meine, ich würde mich sehr darüber freuen. Riesig, sogar." Einen Moment herrschte Schweigen in der Leitung. Charlie befürchtete, dass jeden Augenblick ihr Gelächter über ihn hereinbrechen würde wie ein Tornado. Doch der Sturm blieb aus. „Bist das wirklich du, Charlie?", fragte sie. Charlie blickte auf. Er bemerkte, dass Leopold in der Küchentür stand und ihm zusah. Das machte es nicht gerade leichter. „Ich will dich nicht bedrängen", sagte er, ein Stichwort vom Spickzettel aufgreifend, „ich würde es natürlich verstehen, "wenn du schon andere Verabredungen für heute Abend getroffen hättest... Ich wollte auch nur sagen..." Charlie zuckte zusammen. Jetzt kam der schwierigste Teil. Mit einem Blick flehte er Leopold an, ihm den Rest zu erlassen. Doch der blieb unnachgiebig, trat einen Schritt näher und sah Charlie streng an. „Was?", kam Patrices samtene Stimme aus der Leitung. „Was wolltest du sagen?" Charlie schluckte trocken, während Schweiß auf seiner Stirn stand. „Ich wollte nur sagen, dass du einen ziemlichen Eindruck auf 108
mich gemacht hast. Nicht nur dein Aussehen, obwohl du natürlich prima aussiehst ... echt spitzenmäßig... es ist auch..." „Was?" „Du bist so..." - er schloss die Augen, als gälte es eine besonders dicke Kröte zu schlucken - „... so anmutig. Wie du dich bewegst, wie du sprichst. Ich meine, jemand anders könnte das vielleicht viel besser ausdrücken als ich. Was ich eigentlich sagen möchte, ist... dass ich dich sehr gern hab." Langes, tiefes Schweigen folgte. Nicht einmal Patrices Atem war zu hören. Charlie fragte sich, ob sie nicht vielleicht schon längst in Ohnmacht gefallen war. „Wie passt dir sieben Uhr?", kam es da aus dem Hörer. Charlie hörte nur noch ein Rauschen in seinen Ohren. Wie wild pulsierte das Blut durch seine Adern. Hatte sie das wirklich gesagt? Oder bildete er es sich nur ein? Aber sie hatte es gesagt. Sieben Uhr, hatte sie gesagt. Die Worte kamen ihm süßer noch als Honig vor, lieblicher als Rosenduft. „Sieben Uhr ist perfekt!", rief er aus. „Sieben Uhr ist meine Lieblingsuhrzeit. Um sieben Uhr bin ich bei dir! Mach's gut. Bis dann!" Er legte auf und sah Leopold an. Nun, da alle Last von ihm abgefallen war, fühlte er sich leicht wie eine Feder. „Es hat funktioniert", sagte er fassungslos. „Es hat funktioniert!" Leopold lächelte nur. Natürlich hatte es funktioniert. Wieso auch nicht? Vieles mochte sich in den letzten hundertzwanzig Jahren verändert haben, eines jedoch bestimmt nicht und das würde auch in tausend Jahren noch so sein: Der Königsweg zum Herzen einer Frau war mit Komplimenten gepflastert.
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Stuart fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen. Man hatte ihn in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses verlegt und gab ihm viele bunte Pillen zu schlucken, die er aber stets nur unter die Zunge schob und sofort ausspuckte, nachdem die Tür hinter der Kran kenschwester zugegangen war. Vermutlich handelte es sich bei dem Zeug um Schlafmittel und Tranquilizer. Als endlich abendliche Ruhe auf der Station einkehrte, setzte Stuart sich auf und zog seine Krücken heran. Er brauchte unbedingt ein Telefon. Und er wusste, wo er eines finden würde. Leise humpelte er zur Tür, zog sie einen Spalt breit auf und spähte auf den Gang. Niemand da. Auch die Schwesternstation war verwaist. Vorsichtig schob Stuart sich hinaus und zog die Tür lautlos hinter sich zu. Die Zeit drängte, denn die Nachtschwester konnte jeden Augenblick zurückkommen. Sein Herz schlug wie eine Urwaldtrommel, als er die paar Meter zur Schwesternstation hinabhumpelte. Dort angekommen, nahm er das Telefon, wählte Kates Nummer und ließ sich auf den Boden sinken, sodass er von draußen nicht gesehen werden konnte. Kate war seine einzige Hoffnung, wenn es ihm nicht doch noch gelingen sollte, von hier zu fliehen. Stuart atmete schon auf, als er Kates Stimme hörte, doch sein Mut sank sofort wieder, als er begriff, dass es nur die Ansage auf ihrem Anrufbeantworter war. „Geh ran, Kate", beschwor er sie mit gedämpfter Stimme. „Ich kann es vermutlich später nicht noch mal probieren, also heb bitte ab!" Er wartete quälende Sekunden, nichts geschah. „Na schön", sagte er dann. „Ich wurde auf eine andere Station verlegt, Kate. Der Punkt ist, dass man mich nicht gehen lassen will, obwohl es mir schon besser geht. Du musst unbedingt kommen und mich hier rausholen, Kate. Heute ist Freitag. Bis Montag ist es nicht mehr lange. Leopold muss am Montag unbedingt zurückkehren. Du solltest ihn also besser im Auge behalten." Stuart wollte den Hörer auf die Gabel legen, doch da bemerkte 110
er mit Schrecken, dass er nicht alleine war. Hinter ihm stand die Nachtschwester. Sie hatte ihre Arme in die Seiten gestemmt und sah tadelnd auf ihn herab wie auf einen ungezogenen Jungen. Hol mich hier raus, Kate!, dachte Stuart verzweifelt. Wo steckst du bloß? Kate stand in dem dekolletierten schwarzen Trägerkleid vor dem Spiegel und betrachtete sich. Sie fand sich einfach umwerfend. Aus dem Wohnzimmer drang laute Musik herein. Einmal hatte sie geglaubt, das Klingeln des Telefons zu hören, doch sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert, denn der Anrufbeantworter war ja an. Außerdem fiel es ihr schwer, sich von ihrem eigenen Anblick zu lösen. Leopold wird beeindruckt sein, dachte sie, fragte sich aber sofort, warum ihr so viel daran lag, einen Mann zu beeindrucken, der verrückt genug war, zu glauben, er stamme aus dem neunzehnten Jahrhundert. Niemand ist vollkommen, dachte sie dann, und wenigstens hat er Manieren. Mit einem Kribbeln im Bauch verließ Kate die Wohnung und stieg die Treppe zum Dach hinauf, was in ihren hochhackigen Schuhen einem Hindernislauf gleichkam. Die Mühe sollte mehr als nur belohnt werden. Kaum hatte Kate die schwere Eisentür aufgeschoben, drang ihr süßer Blumenduft entgegen. Sprachlos vor Erstaunen stand sie da. Das Dach hatte sich in ein Blumenmeer ver wandelt. Zwischen Kaminen und Wasserbehältern war ein üppig gedeckter Tisch aufgebaut, Kerzen brannten und im Hintergrund funkelten die Lichter der Stadt. Etwas abseits der Tafel stand ein Geiger und spielte ein Stück von Vivaldi. Im ersten Moment war Leopold von Kates Anblick so geblendet, dass er beinahe vergessen hätte, sie zu begrüßen. Dann trat er um so rascher an sie heran, nahm ihre Hand, verneigte sich und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. Kate war überwältigt. „Das ist ja... wundervoll", sagte sie beinahe sprachlos. „Genau das war es, was ich hören wollte", entgegnete Leopold zufrieden. „Darf ich bitten?" Er bot ihr seinen Arm an, sie hakte sich ein, und so führte er sie an ihren Platz. Dann setzte er sich ihr gegenüber. Es gab gebratene Tauben, nach einem neuen französischen Rezept zubereitet, wie er 111
sagte. „Einem alten französischen Rezept, meinen Sie wohl", scherzte Kate lächelnd. Leopold sah sie einen Moment an, dann verstand er. „Gewiss", sagte er und goss ihr Wein ein. Das Essen schmeckte vorzüglich. Auch alles andere war vorzüglich. Kate sog das wundervolle Ambiente mit jeder Pore ihrer Haut ein. Kein Mann hatte jemals etwas Derartiges für sie getan. „Verzeihen Sie mir mein schlechtes Benehmen?", fragte Leopold nach einer Weile. „Eigentlich sollte ich es nicht tun", entgegnete Kate, „denn dann würden Sie vielleicht noch einmal etwas so Wundervolles für mich anrichten." Leopold verstand und atmete auf. Auch in dieser Hinsicht hatte sich die Mühe also gelohnt. Als Kate mit dem Essen fertig war, lehnte sie sich zurück. Sie spürte, wie ihr der Wein allmählich zu Kopf stieg. Immerhin hatte sie schon ihr drittes Glas. Sie nahm ihre Stoffserviette. Natürlich hatte sie gleich erkannt, dass es ihre eigenen waren. Sie hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Genau wie das Geschirr. Vermutlich hatte Charlie Leopold die Dinge gegeben. „Meine Mutter hat französische Stoffe geliebt", sagte Kate. „Sie war eine solche Romantikerin. Als Prinz Charles und Lady Di heirateten, veranstaltete sie ein Party. Es gab haufenweise Pfannkuchen mit Marmelade und war so was wie eine Super-BowlParty für Mütter. Zum Glück musste sie nicht miterleben, wie die Ehe der beiden endete. Es hätte ihr das Herz gebrochen." „Ich kenne die Geschichte von Prinz Charles und Lady Di leider nicht", entgegnete Leopold. „Das ist auch besser so. Es ist eine Geschichte, die einen vorsichtig werden lässt; die als Beweis dienen könnte." Leopold hörte Traurigkeit aus ihren Worten heraus. „Als Beweis wofür?", fragte er. „Dass es ein Happy End nur in Märchen gibt." Kate betrachtete Leopold. Wahrscheinlich denkt er jetzt auch, dass ich eine verbitterte Frau bin, dachte sie; eine verbitterte Frau, die zuweilen Trost im Alkohol sucht. Sie leerte ihr Glas und schenkte nach. 112
Lächelnd sah Leopold ihr zu. Vielleicht steht er ja auf verbitterte Frauen, dachte Kate und erwiderte das Lächeln. „Ich hab kein Glück mit Männern", sagte sie dann resigniert. „Vielleicht haben Sie ja einfach noch nicht den Richtigen gefunden", gab Leopold zu bedenken. Kate atmete schwer. Wie oft hatte sie das schon gehört? Von ihrer Mutter. Von Darci. „Vielleicht ist das, was von der Liebe erzählt und geglaubt wird, so was wie das Märchen vom Weihnachtsmann, nur eben für Erwachsene", sagte sie. „Ein Mythos, den man uns seit unseren Kindertagen eingeimpft hat, damit wir diese Magazine mit echten und erfundenen Liebesgeschichten kaufen, allen möglichen Clubs beitreten, Therapien machen und uns Filme ansehen, in denen lange Montagen mit romantischen Popsongs unterlegt werden. Aber ist das alles nicht ein jämmerlicher Versuch, uns zu erklären, warum unser Liebesweihnachtsmann ständig im Kamin stecken bleibt? .Dieses Jahr habe ich es nicht geschafft, aber im nächsten Jahr bin ich um einiges besser, und dann vielleicht Leopold lachte. Nicht über Kate, denn er spürte, wie tief empfunden jedes Wort war. Es amüsierte ihn nur auf eine traurige Weise, dass er genau die gleichen Gedanken gehabt hatte. Sein Lachen verebbte. „Mein Diener Otis hat immer zu mir gesagt", begann er dann, „dass die Liebe ein Sprung sei. Bedauerlicherweise empfand ich niemals einen ausreichenden Anreiz für diesen Sprung. An meinem dreißigsten Geburtstag ließ mein Onkel mich wissen, dass ich in seinen Augen Schande über die Familie brächte. Mein Onkel war es, der mich nach Amerika geholt hat, aber nur unter der Bedingung, dass ich eine Amerikanerin heiratete. Ein Mädchen mit einer Menge –" „Charme?", fiel Kate ein, obwohl sie ahnte, was er sagen wollte. Leopold lächelte. „Geld", berichtigte er dann nüchtern. „Seit dem Tod meiner Eltern ist das Familienvermögen... nun, ein wenig geschrumpft." Erneut trat ein Lächeln auf seine Lippen, es war nicht ohne Bitterkeit. Er dachte an die langen Vorträge seines Onkels, die letztlich immer auf dasselbe hinausliefen: Wir brauchen Geld, aber wir dürfen auf keinen Fall dafür arbeiten. Wie oft hatte Leopold ihm 113
vorgeworfen, dass diese Denkweise veraltet war. In der Zeit, in die er unversehens und ohne sein Zutun geraten war, würde man sie, so viel hatte er schnell begriffen, sogar für anstößig halten. „Wenn ich Stuart nicht gefolgt wäre", fügte er nach sekundenlangem Schweigen hinzu, „wäre ich jetzt verheiratet. Ich sollte an jenem Abend den Namen meiner Auserwählten verkünden." „Ach", sagte Kate erstaunt. „Und wer war sie?" Leopold zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Irgendeine." Leopold sah Kate an. Etwas Unausgesprochenes hing zwischen ihnen. Und sie erriet, was es war: Wenn du unter ihnen gewesen wärst, wäre die Wahl mir nicht schwer gefallen. Kate erschrak. Vor allem über sich. War sie wirklich dabei, ihm – und Stuart – diese abenteuerliche Geschichte von Zeitreisen und temporären Portalen abzukaufen? Oder begann sie, sich in einen durchgeknallten Typen zu verlieben, der sich für einen Grafen aus dem neunzehnten Jahrhundert hielt? Verloren zwischen Glück und Verzweiflung entfloh Kate seinen wundervollen dunklen Augen und ließ ihren Blick über die funkelnden Lichter der Stadt gleiten, die wie ein zweites Firmament vor ihr prangten. Doch es gelang ihr nicht, ihre Ruhe wiederzufinden. Deshalb erhob sie sich schließlich, um den Tisch abzuräumen. Leopold ließ es nicht zu. Er trat neben sie und nahm ihre Hand. Noch immer wich sie seinem Blick aus, starrte auf den Boden. Die Unruhe in ihrem Innern erreichte ein unerträgliches Maß. Kate hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, ihre Kehle war wie zugeschnürt, in ihrem Bauch glühte es. „Gewähren Sie mir einen Tanz?", fragte Leopold. Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm ihre Hand in die seine, legte die andere an ihre Taille. Er hatte den Geiger angewiesen, bei einem solchen Verlauf des Abends einen Walzer zu spielen, was dieser nun in fließendem Übergang auch tat. So schwebten die beiden nun im Walzertakt über das Dach, hinter ihnen, wie ein flitterbehängtes Gebirge, die Silhouette von Downtown Manhattan, über ihnen das Firmament. „Ich bin keine besonders gute Tänzerin", sagte Kate nach den ersten Drehungen verlegen. 114
„Sie tanzen ausgezeichnet", versicherte Leopold. Kate bemerkte, dass an den umliegenden Gebäuden die Menschen an die Fenster und auf ihre Balkone traten, um ihnen beim Tanzen zuzusehen. Wahrscheinlich halten sie uns für ein Liebespaar, dachte sie, und diese Szene für ach so romantisch, wie aus einem Liebesfilm. Und so ist es ja auch. Aber nur jetzt. Was ist nachher? Was ist morgen? Sie sah Leopold an. Er wirkte so glücklich. „Das ist alles wunderschön, Leopold", sagte sie – es war nur ein Flüstern -, „aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Springen, meine ich. Obwohl der Anreiz groß ist, das gebe ich zu. Die Leute halten mich für stark. Aber das bin ich nicht." „Mutig ist einfach nur derjenige", sagte Leopold, „der am klarsten sieht, was vor ihm liegt, und der, einerlei, ob es sich um Ruhm oder Gefahr handelt, sich nicht scheut und darauf zugeht." Kate blinzelte eine Träne weg, die vor Rührung in ihre Augen steigen wollte. Leopold verlangsamte unwillkürlich das Tempo und näherte seine Lippen den ihren. Kate wich ihm nicht aus. Wenig später waren sie in einem leidenschaftlichen Kuss vereint, ihre Herzen schlugen aneinander. Kates Knie wurden weich, knickten beinahe ein, doch selbst wenn, sie spürte Leopolds starken Arm, der sie hielt. Schließlich löste Kate sich aus dem Kuss. Wann hatte sie etwas Vergleichbares empfunden? Dennoch war auch Wehmut in ihrem Herzen. „Sobald ich anfange, an dich zu glauben, wirst du verschwinden", sagte sie. „Das geht mir immer so. Ach, was soll's..." Leopold wollte etwas sagen, doch er kam nicht mehr dazu, denn Kate knebelte ihn mit einem Kuss voller Kraft und Leidenschaft, vor allem voller Trotz gegen ihr Schicksal, das ihr das, was sie einmal zu lieben begonnen hatte, bestimmt auf eine ebenso niederträchtige wie banale Weise wieder wegnehmen würde. Leopold schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Von draußen schaute eine Katze durch das Fenster. Sie schien sich ebenfalls zu fragen, was er hier machte. Nach und nach fiel ihm wieder ein, was am Abend davor geschehen war. Er und Kate hatten getanzt. Dann hatten sie sich geküsst. Und dann... Mit einer raschen Bewegung wandte Leopold sich um. Kate lag neben ihm und schlummerte friedlich. Eine Strähne ihres wirren 115
Haares hing vor ihren leicht geöffneten Lippen und stieg mit jedem Ausatmen in die Luft. Wie zauberhaft sie aussah. Am liebsten hätte er geweint vor Glück. Leopold stand auf und trottete, noch reichlich verschlafen, in die Küche, wo er sogleich Kaffee zu machen begann. Inzwischen hatte er eine Lösung gefunden, wie er den Toaster dazu brachte, den Toast genau richtig zu rösten: mittels einer Zeitschaltuhr, die das Gerät nach exakt zwei Minuten abschaltete. So erhielt er Toast, wie er zu sein hatte: goldfarben wie Honig, an der Oberfläche knusprig und innen weich. Es dauerte nicht lange, bis Charlie, angelockt vom Kaffeeduft, aus seinem Zimmer in die Küche stapfte. Sein Haar stand kreuz und quer vom Kopf ab, seine Augen waren nur schmale, lichtempfindliche Schlitze. Er und Patrice waren sich am Abend näher gekommen, es sah ganz so aus, als gäbe sie ihm eine Chance. Allerdings würde er sich anstrengen und noch mehr von dem anbringen müssen, was er für sich „Leopold-Schmus" nannte. Diese Aussicht gefiel ihm nicht unbedingt. „Guten Morgen, Charles", grüßte Leopold. „Wie ist Ihr Abend mit Patrice gelaufen?" „Gut", entgegnete Charlie. „Schön. Und bei Ihnen?" „Gut. Schön", ahmte Leopold Charlie nach. Charlie grinste. Er beobachtete Leopold eine Weile, wie er den Brotkorb mit Brötchen füllte, Marmelade und Käse auf ein Tablett stellte und so ein Frühstück zauberte, das einem, zusammen mit dem Kaffeegeruch, das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Charlie wusste, was es bedeutete, wenn ein Mann bis zum Morgen blieb und Frühstück machte. Die Sache zwischen Leopold und seiner Schwester war ernst. „Halten Sie die Zeit nicht für gekommen, mir endlich zu sagen, wer Sie wirklich sind?", fragte er deshalb. Leopold blickte auf und sah ihn erstaunt an. „Was meinen Sie damit?", fragte er. „Mir macht es nichts aus, den ganzen Tag diese Grafen-Show abzuziehen", erklärte Charlie, „aber ich habe keine Lust, mir ,Stuart - Teil 2' anzusehen. Ich meine, wenn man Kate nicht näher kennt, könnte man sie für ziemlich widerstandsfähig 116
halten. Aber sie hat es nicht immer leicht gehabt und tief drin ist sie ziemlich –" Leopold legte Charlie beruhigend die Hand auf die Schulter. Die Sorge um seine Schwester ehrte Charlie und rührte Leopold. „Ich verstehe Sie sehr gut", versicherte er. „Wirklich?", fragte Charlie. Ja." „Dann raus damit: Wer sind Sie?" Leopold sah Charlie ernst, ja feierlich in die Augen. „Ich bin der Mann, der Ihre Schwester liebt", sagte er mit einer Eindringlichkeit, die auch nicht den Hauch eines Zweifels duldete. Das ist immerhin ein Anfang, dachte Charlie und ließ es dabei bewenden. Sein Blick fiel in d ie Spüle, wo sich das gesamte Geschirr des abendlichen Dinners auftürmte. „Höchste Zeit, unserem Grafen den Gebrauch der Spülmaschine zu erklären", murmelte Charlie. Unterdessen erwachte auch Kate aus ihrem Schlum mer. Als erstes griff sie auf die andere Seite des Bettes und erschrak, als sie sie leer fand. Sie wusste nur zu genau, was es zu bedeuten hatte, wenn ein Kerl am Morgen danach klammheimlich das Weite suchte. Doch dann hörte sie aus der Küche das Geklapper von Geschirr. Und war das Kaffeegeruch, der da in ihre Nase drang? Eilig stand Kate auf und warf sich ihren Morgen mantel über. Lautlos glitten ihre Pantoffeln über den Boden. Sie fand Leopold und Charlie mit der Spülma schine beschäftigt. „Dann die Türe schließen", erklärte Charlie gerade, „und auf diesen Knopf drücken. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Immer erst einschalten, wenn Kate es auch sehen kann. Denn wenn sie nicht sieht, dass Sie es gemacht haben, glaubt sie, es sei von alleine passiert." Das ist mal wieder typisch mein Bruder , dachte Kate nachsichtig lächelnd. Sie wartete noch ein paar Sekunden und machte sich dann mit einem Räuspern bemerkbar. „Jetzt, Leo", raunte Charlie Leopold zu. Dieser schloss die Tür der Spülmaschine und schaltete das Gerät ein. Dann wandte er sich Kate zu. „Eine Tasse Kaffee?" 117
„Sehr gerne." Kate sah den hübsch gedeckten Früh stückstisch und konnte es kaum glauben. Stuart hatte nie für sie Frühstück gemacht. Sie näherte sich und nahm vorsichtig Platz, so als fürchte sie, eine allzu heftige Bewegung könne das wunderschöne Bild wie eine Seifenblase zerplatzen lassen. Auch Leopold setzte sich. Er hielt ihr den Brotkorb hin. Sie nahm eine Scheibe Toast und bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Charlie stand ein Stück abseits und beobachtete die Szene, die wie aus einem dieser Möbelhauskataloge zu sein schien. Trautes Heim, Glück allein. Niemandem gönnte er es so sehr wie seiner Schwester. „Setzen Sie sich zu uns, Charles", forderte Leopold ihn auf. „Es ist genug da." Charlie schüttelte den Kopf. „Bin zu müde", sagte er. „Ich leg mich noch mal hin." In Wahrheit wollte er nicht stören. Kate war erstaunt. Seit wann hatte ihr Bruder so viel Taktgefühl? Nach dem Frühstück besuchten Kate und Leopold das Museum of Modern Art. Nicht ohne Hintergedanken, was Kate anging. Sie hoffte, er würde sich verraten, indem er ein Bild identifizierte, das er, wenn er wirklich aus dem Jahr 1876 gewesen wäre, gar nicht kennen konnte. Doch Leopold erkannte zwar einen Monet -„Diese neue Malweise scheint sich durchgesetzt zu haben", sagte er -, stand aber völlig ratlos vor Picasso, Max Ernst und Jasper Jones. Kate gab es auf, ihn überlisten zu wollen. Da die Sonne vom Blau des Himmels lachte, das nur ab und zu von ein paar Schönwetterwolken durchbrochen wurde, entschieden sie, in den Central Park zu gehen. Hand in Hand schlenderten sie zur Bethesda Fountain, wo sie nicht das einzige Liebespaar waren, mieteten sich ein Boot und ruderten auf den See hinaus. Kate war so glücklich wie schon lange nicht mehr. Es war schon Nachmittag, als sie den Park verließen. Leopold wurde zunehmend nachdenklicher. Er wünschte, er hätte hier bleiben können, bei Kate. Aber er musste auch an Stuart denken. Und an Otis, den väterlichen Freund, der ihm fehlte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als er sich bewusst machte, dass Otis schon seit vielen Jahrzehnten unter der Erde liegen musste. 118
Kate wollte ihn eben fragen, wieso er mit einem Mal so still geworden war, als Leopold stehen blieb und ein altes, aber gut erhaltenes Stadthaus anstarrte. Im nächsten Moment löste sich seine Hand aus der von Kate und er rannte über die Straße. Keine Minute später sah sie ihn in der offenen Haustür des Hauses verschwinden. Kate verstand überhaupt nichts mehr. Sie rannte ihm nach und fand ihn in der Mitte eines großen Saales stehend und ergriffen um sich blickend. Wie hätte sie ahnen sollen, dass er sich im Haus seines Onkels befand, in eben jenem Raum, in dem der Ball stattgefunden hatte, an dem er seine Braut hätte erwählen sollen? Ein paar Tage war das für ihn her - und doch schon mehr als hundertzwanzig Jahre. Inzwischen hingen andere Tapeten an den Wänden, das Mobiliar war ein anderes. Doch der Raum war in seiner steifen Würde derselbe geblieben. „Wo sind wir?", fragte Kate. „Im Haus meines Onkels Millard", erklärte Leopold. Dann fiel ihm etwas ein. Mit eiligen Schritten durchquerte er den Saal, verschwand durch eine Tür und lief eine Treppe hinauf. Kate folgte ihm, blieb am Fuße der Treppe aber stehen und betrachtete ein Gemälde. Ein Mann, eine Frau, ein Junge. Auf einer Messingplakette am Bildrahmen stand: Lord Leopold, Graf von Albany, die Gräfin und ihr Sohn, Leopold der Zweite. Mehrmals las Kate den Schriftzug, blickte dazwischen immer wieder zu dem Bild auf, betrachtete vor allem den Jungen. Die Ähnlichkeit mit Leopold war unübersehbar. Doch es war etwas anderes, was sie seltsam betroffen machte. Wirkte er in seiner steifen, repräsentativen Haltung nicht schrecklich unglücklich? Sie hatte Mitgefühl und fragte sich, ob das wirklich Leopold war oder nur ein Vorfahre, mit dem er sich aus ihr unerfindlichen Gründen identifizierte. Kate fand Leopold wenig später in einem Zimmer, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Büro angebracht war. Sie trat an Leopold heran und sagte weich, aber doch auch ein wenig drängend: „Ich weiß nicht, wem dieses Haus gehört, aber wir können nicht einfach –" Leopold wandte sich um und der bewegte Ausdruck auf seinem Gesicht brachte sie zum Verstummen. „Das sind meine früheren Gemächer", sagte er. Da fiel sein Blick in den Spiegel, den man trotz 119
der Umgestaltung an seinem Platz gelassen hatte. Leopold musste wieder an den Abend des Balles denken, an dem er sich genauso im Spiegel gesehen hatte. Und an Stuarts Kugelschreiber, den Otis in das nur ihnen beiden bekannte Versteck im Badezimmer gelegt hatte. Vielleicht war er ja noch da. Aufgeregt lief Leopold nach nebenan. Als Kate ebenfalls eintrat, sah sie ihn schon an der Stuckverzierung hantieren, Farbe blätterte ab. Es gelang ihm, das Fach zu öffnen. Er griff hinein. Die Zinnschatulle war noch da. Mit zitternden Händen öffnete er sie. Kate kam näher. Die Schatulle enthielt Goldmünzen, Anstecknadeln und allerlei Krimskrams; es lag aber auch ein Kugelschreiber der Bowery Savings Bank darin. „Hier habe ich alles aufbewahrt, was mir wichtig war und was mein Onkel nicht finden sollte", sagte Leopold und nahm einen Ring heraus. „Der gehörte meiner Mutter." Kate betrachtete den goldenen Ring, an dem Rubine und Diamanten funkelten. „Er ist wunderschön", sagte sie. Sie spürte, wie sehr Leopold all das aufwühlte. Auch sie war von einer tiefen Rührung ergriffen. Gleichzeitig verstand sie immer weniger, was hier vorging. Bedeutete das nun, dass er wirklich aus einer anderen Zeit kam? Leopold steckte den Ring in seine Westentasche, legte die Schatulle zurück an ihren Platz und lächelte. Er war glücklich, ein Stück seiner persönlichen Vergangenheit wiedergefunden und in diese neue Zeit gerettet zu haben. Trotzdem hatte er nicht die leiseste Ahnung, wie es mit ihm weitergehen sollte - mit ihm und Kate. Sie verließen Millards altes Stadthaus. Leopold bekam plötzlich Lust, die Brooklyn Bridge zu sehen. Sie war für ihn nicht nur eine Brücke von Manhattan nach Brooklyn, sondern auch vom Heute zum Gestern, von Kates Gegenwart zu seiner. Mit dem Bus durchquerten sie Manhattan, was auch an einem Samstag, an dem weni ger Verkehr herrschte als sonst, einige Zeit in Anspruch nahm. Die ganze Fahrt über erzählte Leopold von sich und seiner Zeit: von seinen Eltern, die früh verstorben waren, von seinem strengen Onkel Millard, der einer schon damals verlorenen glorreichen Zeit nachgetrauert hatte, von Otis, dem treuen Diener und Freund. Und immer wieder von seinen Erfindungen, nicht zuletzt seinem 120
Personenaufzug, dessen Notwendigkeit sich ihm durch die Zeitreise auf so wundervolle Weise bestätigt hatte. Beim Anblick der Brücke mit ihren neugotischen Türmen verstummte er zunächst. Auch Kate sagte nichts. Bisher hatte sie nur wenig Aufmerksamkeit an die Bauwerke verschwendet, an denen sie, seit sie in New York lebte, so oft vorübergekommen war. Doch diesmal war es anders. Leopolds Faszination übertrug sich auf sie. Plötzlich sah sie die Stadt mit seinen Augen. Die beiden überquerten die Brücke und ruhten sich auf einer Bank aus. Leopold legte dabei seinen Arm um Kates Schultern. Die Sonne stand schon schräg am Himmel, gleich würde sie die Wolkenkratzer berühren und sich und den Himmel zunehmend rot färben, so als sei sie von den Spitzen der Hochhäuser aufgeschlitzt worden. „Schon merkwürdig", sagte Kate nach langem Schweigen. „Ich lebe auf einer Insel, die mit dem Rest der Welt nur durch Brücken verbunden ist. Aber ich hab keine von ihnen jemals überquert. Ich lebe hier seit zehn Jahren und ich hab nie mal etwas von der anderen Seite gesehen." Erst als sie es sagte, begriff Kate, wie sehr diese Aussage auf ihr Leben überhaupt zutraf. Sie hatte immer nur ihre Seite gesehen. „Bist du nie verreist?", fragte Leopold erstaunt. Kate schüttelte den Kopf. Sie schwiegen wieder, verloren sich einen Moment an den Sonnenuntergang. Dann wandte Kate den Kopf und fragte: „Vermisst du deine Welt?" Sie wusste nicht, ob sie ihm wirklich glaubte, aber im Moment waren sie sich so nah, dass sie fast nicht anders konnte. Leopold sah sie ebenfalls an. „In gewisser Weise", sagte er nach kurzem Überlegen. „Ich vermisse ihren Rhythmus." „Er war ein wenig gemächlicher, was?" „Ein wenig, ja." Er lächelte sie an. „So wie der heutige Tag für uns?" Leopold nickte. Als Kate und Leopold nach Hause kamen, war es schon längst Nacht. Aus einem chinesischen Restaurant hatten sie sich etwas zu essen mitgebracht. Nun saßen sie am offenen Fenster, streckten die Füße hinaus und aßen aus Pappschachteln Glasnudeln, 121
Bambussprossen, Hühnchen und Gemüse in süßsaurer Soße. Dann hörten sie irgendwo aus einem anderen offenen Fenster eine Uhr Mitternacht schlagen. Kate vergrub ihr Gesicht an Leopolds Schulter. „Es ist Sonntag", sagte sie mit einem Anflug von Verzweiflung. „Ich will mehr 1876." „Aber wir haben doch noch den ganzen Tag", entgegnete Leopold verwundert. „Du musst nicht arbeiten und wir können uns noch ein wenig der Langsamkeit hingeben." „Ich nicht. Sonntag ist der Tag vor Montag. Er ist schon vom Montag infiziert." „Verstehe." Sie nahm ihren Kopf von seiner Schulter. „Außerdem ist morgen der Dreh für unseren Werbespot." Das hatte Leopold ganz vergessen. Kate lehnte sich wieder an ihn und so lauschten sie gemeinsam in die Stadt. Manchmal drang eine Polizei- oder Krankenwagensirene zu ihnen, aus einem anderen Apartment kamen Stimmen oder Musik oder die Geräusche eines Fernsehers. Kate war so entspannt, dass ihre Augen zufielen und sie zu dösen begann. Leopold griff in seine Westentasche und holte den Ring seiner Mutter heraus. Die ganze Zeit über hatte er schon etwas tun wollen und nun hatte er das Gefühl, der richtige Moment dafür sei gekommen. Er spürte, wie sein Puls schneller wurde. „Kate", sagte er sanft. Sie ließ nur einen Laut hören, der ihr ganzes Wohlbefinden ausdrückte. „Würdest du...", begann Leopold, brach ab und setzte erneut an: „Hast du in Erwägung gezogen...?" Da schlug Kate die Augen auf und sah ihn an. „Was?" Leopold atmete tief durch, seufzte - und ließ den Ring wieder in seine Westentasche gleiten. „Es ist Zeit, schlafen zu gehen", sagte er nur. Kate nickte, erhob sich aber nicht. Leopold legte seine Arme um sie, hob sie auf und trug sie ins Schlafzimmer. Sie schmiegte sich eng an ihn, murmelte etwas, das Leopold nur halb verstand. Es war auch nicht wichtig. Sie fühlte sich wohl, das war alles, was zählte. Im Schlafzimmer legte er Kate ins Bett und deckte sie zu. Ihre Augen waren die ganze Zeit geschlossen, doch das Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie sehr wohl wahrnahm, was geschah. „Du 122
bedienst mich so, wie dein Otis dich bedient hat", sagte sie schließlich. „Du bist mein Otis." „Sehr wohl, Euer Gnaden", entgegnete Leopold lächelnd. Dann wollte er gehen. Doch Kate nahm seine Hand und hielt ihn zurück. „Geh nicht", sagte sie. „Bleib bei mir." Leopold machte das Licht aus und legte sich neben Kate. Sie ergriff sofort aufs Neue seine Hand. Auf ihren Lippen lag noch immer dieses selige Lächeln, während sie langsam einschlief. Leopold betrachtete ihr vom hereinfallenden Mondlicht beschienenes Gesicht. „Ich liebe dich, Kate McKay", sagte er nach einer Weile.
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Leo saß in einem altmodischen Ohrensessel, einem samtbezogenen Ungetüm mit muffigem Atem, und betrachtete wie von einem Thron herab die emsige Filmcrew, die den Dreh des Werbespots vorbereitete. Im Studio war eine Kulisse aufgebaut worden, die Leopolds Schlafzimmer auffällig ähnelte. Das lag daran, dass die Kulisse gemäß Leopolds Anweisungen errichtet worden war. Jenseits der Kameras saßen Regisseur und Techniker, außerdem ein paar Leute von Farmer's Bounty und MRG. Als Letzte stieß auch Kate zu ihnen. Doch es blieb keine Zeit für eine Begrüßung, denn schon rief der Regisseur sein „Action!" durch das Studio. Leopold nahm eine sehr gemessene Haltung an. Dann trat ein als Butler gekleideter Schauspieler ein und brachte auf einem Silbertablett ein Brötchen und eine Packung Farmer's Bounty herein. Leopold sagte seinen Spruch auf und schmierte dabei das Brötchen. Dann nahm er einen Bissen - und sein Lächeln erstarb auf seinem Gesicht, verwandelte sich sogar in einen Ausdruck von Ekel. Kaum hatte der Regisseur die Aufnahme abgebrochen, zog Leopold sein Taschentuch heraus und spuckte den Bissen angewidert hinein. „Verzeihen Sie", sprach er den Regisseur an und wies auf den Inhalt seines Taschentuches, „war das auf dem Brötchen etwa Farmer's Bounty!" Der Regisseur sah ihn erstaunt an. „Ja", entgegnete er. „Warum?" „Es schmeckt wie die Seife, mit der ich meinen Sattel zu reinigen pflege." „Na und?" Leopold fasste es nicht. War das dem Mann etwa völlig egal? Er setzte zu einem lautstarken Vortrag über seine Prinzipien an, unter denen die Wahrhaftigkeit einen besonderen Rang einnahm. Oder wollte man hier einen jener Marktschreier aus ihm machen, die auf den Straßen falsche Wundersalben anpriesen? Während er über den Regisseur herzog, wurde Leopold immer klarer, dass er eigentlich nicht ihn meinte, sondern die Person, die ihn in solcher Weise und vor aller Welt entwürdigt hatte: Kate. 124
Kate bekam den Streit zwischen dem Regisseur und Leopold zunächst nicht mit, erst als er sich in einen regelrechten Aufruhr auswuchs, der schließlich damit endete, dass Leopold wütend den Set verließ und sich alle Blicke hilfesuchend ihr zuwandten, bemerkte sie, dass die Sache aus dem Ruder gelaufen war. Sie eilte ihm nach. Er war nicht weit gelaufen. Auf dem Flur vor der Studiotür ging er unruhig auf und ab. Sie sah ihm eine Weile zu, dann sprach sie ihn an. „Was ist los, Leo ? Sie brauchen dich, um den Rest des Spots drehen zu können." Er sah sie mit blitzenden Augen an. „Ich will nichts damit zu tun haben", sagte er. „Ich weigere mich." Kate zuckte zurück. Sie wollte ihn berühren, zog die Hand aber wieder zurück. „Warum?", fragte sie nur. „Hast du diesen Unrat jemals versucht?" „Farmer's Bounty? Nein." Sie verstand noch immer nicht, wo sein Problem lag. „Trotzdem hattest du keine Bedenken, es mich anpreisen zu lassen." „Wirfst du mir vor, ich hätte dich betrogen?" „Ich sage nur, dass die Sache stinkt. Genau wie dieser Brotaufstrich." „Mein Gott", rief Kate aus, „es ist nur Margarine." Leopolds Miene wurde noch ernster und zugleich vorwurfsvoller. Es fragte sich, ob sie ihn nicht verstehen konnte oder ob sie es nicht wollte. „Es ist mein Name. Es ist mein Gesicht. Ich stehe mit allem, was ich bin, dafür ein. Es wird aufgezeichnet und überallhin ausgestrahlt." Kate konnte es nicht begreifen. Wieso machte er wegen einer solchen Lappalie einen solchen Aufstand? Alle möglichen Stars priesen mit ihrem so genannten guten Namen jedes erdenkliche Zeug an und kein Mensch glaubte allen Ernstes, dass sie diese Dinge auch selbst verwendeten. „Ich bitte dich", sagte sie. „Es tut mir zwar Leid, dass dir Farmer's Bounty nicht schmeckt, aber das hier ist die Realität und in der Realität muss man eben auch mal was runterschlucken können und eine Sache zu Ende bringen." Leopold zuckte zusammen, als er das Wort Realität hörte. Onkel Millard führte es auch nur allzu gerne im Mund und er hatte eine tief 125
verwurzelte Abneigung dagegen, weil es meistens bedeutete, dass man seine Selbstachtung opfern sollte. Kates Stimme wurde eindringlich, ja fordernd, als sie fortfuhr: „Es geht hier um einen wichtigen Auftrag für meine Firma, Leo. Wenn du nicht wieder reingehst, werde ich alles verlieren, wofür ich gearbeitet habe. Bedeutet dir das überhaupt nichts?" Ihre Worte hatten nicht die gewünschte Wirkung. Im Gegenteil. Leopolds Groll wuchs noch, ebenso seine Verachtung. „Das ist also deine Arbeit, Kate?", stieß er aus. „Forschung, die nur dazu dient, die Menschen hinters Licht zu führen ? Lügen so lange zu verfeinern, bis sie sich wie die Wahrheit anhören?" Kate stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Ich hab keine Zeit für diesen Quatsch", rief sie. „Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass du mir mit deinen altmodischen Prinzipien die Tour vermasselst. Und diesmal wirst du es nicht wieder mit einem romantischen Dinner auf dem Dach gutmachen können." Leopold trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Er verstand diese Welt nicht. „Was ist nur mit euch los?", fragte er. „Ihr habt alle nur erdenklichen Annehmlichkeit, jeden Komfort, aber ihr schert euch nicht um Integrität." „Das tue ich auch nicht", versetzte Kate. „Und ich hab auch keine Zeit für die hochtrabenden Reden eines Mannes aus einem längst vergangenen Jahrhundert, der keinen einzigen Tag in seinem Leben arbeiten musste." „Du hast keine Ahnung, was ich mit meinem Leben gemacht habe." „Und du hast keine Ahnung, was ich mit meinem getan habe. Als ich bei MRG in einem Ferienjob angefangen habe, war ich ein Niemand. Als meine Eltern starben, bin ich geblieben. Ich bin geblieben und habe meinem kleinen Bruder die Schule bezahlt. Du irrst dich, wenn du glaubst, mein Leben sei voller Annehmlichkeiten und Komfort gewesen, Leo. Ich hab mein ganzes Leben nur Schulden bezahlt. Und ich bin es so Leid. Ich brauche Ruhe, verstehst du? Und wenn ich dafür diesen Dreck namens Farmer's Bounty verkaufen muss, dann tue ich es eben!" Ihr Wut traf ihn wie ein Feuersturm. Er musste zugeben, dass seine Vorwürfe vielleicht etwas übereilt gewesen waren. 126
Andererseits gefiel ihm ihre Arbeit nicht besser, nur weil er Verständnis für ihre Motive hatte. Dennoch lenkte er ein. „Wie du willst", sagte er nur und kehrte zurück ins Studio. Kate blieb noch einen Moment vor der Tür stehen. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Wut hatte sie hinweggetragen. Sie hatte Dinge gesagt, von denen sie gehofft hatte, dass sie nie jemand erfahren würde. Nun war es nicht mehr zu ändern. Aber da war noch etwas anderes, das sie beunruhigte. Zum ersten Mal hatte sie erfahren, dass sie und Leopold wirklich aus zwei verschiedenen Welten kamen. Stuart saß im Gruppenraum der psychiatrischen Abteilung und spielte mit einem der Patienten Mensch-ärgere-dich-nicht, was allerdings ziemlich reizlos war, denn er hätte schummeln können, ohne dass sein ausdruckslos vor sich hin stierendes Gegenüber etwas davon bemerkt hätte. „Du bist dran", sagte Stuart und schaute aus dem vergitterten Fenster. Sein Blick fiel auf eine große Digitaluhr auf dem Dach einer Bank, die wechselweise die Temperatur und die Zeit anzeigte. Sonntag – 16.30. Er wandte sich um und erblickte Gretchen, Dr. Bernsteins Krankenschwester. Ein Klemmbrett in der Hand lehnte sie an der Wand und beobachtete Stuart. Er hatte gleich gemerkt, dass sie eine Schwäche für ihn hatte. Vielleicht ähnelte er ihrem Bruder oder ihrem Ex-Freund, der sie wegen einer anderen sitzen gelassen hatte und den sie trotzdem nicht aufhören konnte zu lieben. Wie auch immer, Stuart entschloss sich, aus dieser Sympathie Kapital zu schlagen. „Ich mag Sie, Gretchen", sagte er, „und ich halte Sie für klüger als ihren Chef, Dr. Bernstein." „Wirklich?", fragte sie und kam näher. Ihre Augen weiteten sich, zwei kleine blaue Meere. „Dr. Bernstein sieht nur das Offensichtliche", fuhr Stuart fort, „aber es gibt Dinge, die sind nicht zu sehen und es gibt sie trotzdem. Wie die Zeit, zum Beispiel. Wissenschaftler nennen sie die vierte Dimension. Aber leider erkennen unsere Sinne nur drei Dimensionen. Wie diesen Stuhl, zum Beispiel. Oder Ihr hübsches Gesicht." 127
Gretchen lächelte und kam noch einen Schritt näher. Stuart sah sie mit traurigem Ernst an. „Glauben Sie, ich weiß nicht, wie verrückt es sich anhört, wenn ich behaupte, es gäbe über dem East River einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum? Aber es ist nicht anders, als würde ein Hund plötzlich einen Regenbogen erkennen. Hunde sind farbenblind, müssen Sie wissen." „Ach." Stuart erkannte, dass er auf dem richtigen Weg war. Gretchens Griff um ihr Klemmbrett hatte sich gelockert, sie folgte seinen Worten aufmerksam. Zum ersten Mal schien sie ihn nicht als Verrückten zu sehen. „Stellen Sie sich vor, Gretchen", sagte er, „wir könnten die Zeit plötzlich sehen, statt sie nur zu fühlen. Was läge vor uns? Eine Welt, die für uns so unvorstellbar ist wie ein Regenbogen für einen Hund. Die aber trotzdem genauso real ist wie der Stuhl, auf dem ich sitze. Wenn wir die Zeit wirklich sehen könnten, würden wir vielleicht auch die Lücken und Risse sehen. Und das ist genau das, was ich gefunden habe. Ein Riss von etwas, das keiner sehen kann. Ich bin der Hund, der den Regenbogen gesehen hat. Und keiner der anderen Hunde glaubt mir." Eine Träne der Rührung stieg Gretchen in die Augen. Sie hatte unzählige dieser Filme gesehen, in denen niemand dem Helden glaubte, dass die Welt von Außerirdischen, Monstern oder sonst einer unglaublichen Gefahr bedroht war. Niemand, bis auf eine Person, meistens die romantische Heldin. Gretchen entschied, dass sie diese Person sein wollte. Einige Zeit später humpelte Stuart auf seinen Krücken den Krankenhausflur hinab, Richtung Ausgang. Als die automatische Tür hinter ihm zuging, blieb er einen Moment stehen, um den Duft der Freiheit zu genießen. Doch nicht lange, denn er wusste, dass die Zeit drängte. Es wurde schon Abend. Leopold lag auf der Couch. Vor seinen Augen flimmerten auf dem Fernseher die kleinen und großen Katastrophen des vergangenen Tages vorüber, doch er bekam nichts davon mit. Die ganze Zeit musste er an den Streit mit Kate denken, an die Worte, die sie auf der Heimfahrt im Taxi zu ihm gesagt hatte. „Wir haben uns 128
was vorgemacht. Wir sind völlig verschieden. Was wissen wir schon voneinander? Ich weiß nicht mal, wer du wirklich bist." Das hatte ihn schwer getroffen. Er hatte angenommen, dass sie ihm endlich glaubte, was er ihr erzählt hatte. Mit ein paar Sätzen hatte sie alles zerstört, was zwischen ihnen entstanden war. „Wir hatten ein tolles Wochenende", sagte sie zuletzt, „und das war's. Es ist Sonntagabend, das Wochenende ist vorüber." Sie hatte ihn nicht einmal angesehen, als sie das gesagt hatte. Da vernahm er, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Bart, der eben noch neben dem Sofa gelegen und Leopold traurig betrachtet hatte, sprang auf und rannte bellend zur Tür. Leopold folgte. Zu seinem Erstaunen sah er Stuart hereinkommen. An den hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Bart sprang an Stuart hoch und hätte ihn wohl umgerissen, wenn dieser sich nicht gegen die Wand hätte fallen lassen. Dann trafen sich die Blicke der beiden Männer. Leopold wusste, was Stuart von ihm verlangen würde, noch ehe er den Mund aufmachte. Stuart humpelte näher. „Es muss sein", sagte er nur. Leopold schüttelte den Kopf. Er konnte Kate nicht einfach zurücklassen. Vielleicht würde sie sich ja besinnen. Während Stuart ihm mit wachsender Aufregung erklärte, dass er gehen müsse, weil sich sonst seine Nachkommen, einschließlich Stuart und aller anderen, die noch in diesem Land lebten, plötzlich in Nichts auflösen würden, dachte Leopold nur an sie. Als Stuart zu Ende war, erwiderte er nur: „Selbst wenn ich zurückginge, werde ich nicht heiraten. Wie sollte ich mir eine Frau erwählen, da ich mich doch hier verliebt habe ? Ich würde sie und mich nur unglücklich machen." Stuart sackte innerlich zusammen. Eine Ahnung beschlich ihn. „Kate?", fragte er raukehlig. Leopold nickte. Dann erzählte er ihm, was geschehen war. Ergriffen hörte Stuart zu. Obwohl er noch immer viel für Kate übrig hatte, empfand er keine Eifersucht. Wäre es für ihn nicht um Leben und Tod gegangen, hätte er den beiden ihr Glück gegönnt. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als Leopold die Liebe zu Kate auszureden. „Sie müssen zurückkehren, Leopold", drängte er immer wieder und forderte ihn zuletzt auf, mit ihm zu kommen, damit er ihm etwas 129
zeigen konnte. Stuart humpelte an seinen Schreibtisch, nahm seine Chronik der königlichen Familie und schlug sie auf. Die Seitenzahl kannte er auswendig. „Lesen Sie", bat er ihn und zeigte auf einen kurzen Artikel, der offenbar aus einer alten Zeitung stammte und überschrieben war: Tragödie eines Dieners ohne Herren. Mit jeder Zeile, die Leopold daraufhin las, wuchs seine Betroffenheit. Schließlich blickte er auf und fragte. „Wann müssen wir gehen?" „Es hat noch etwas Zeit", entgegnete Stuart erleichtert. „Sie werden genau am 28. April zurückkehren. Aus diesem Grund werden Sie vielleicht manche Dinge wiederholen. Wahrscheinlich werden Sie auch mich sehen. Das macht gar nichts. Sie sollten mir dieses Mal nur nicht folgen. Konzentrieren Sie sich nur darauf, sich die Frau auszusuchen, die Sie heiraten werden." Leopold spürte einen Stich im Herzen. Seine Finger glitten in die Tasche in seiner Weste, in der er den Ring seiner Mutter aufbewahrte. Um ein Haar hätte er ihn Kate gegeben. Es war gut, dass er es nicht getan hatte. Einen Moment dachte er daran, sich wenigstens von ihr zu verabschieden. Stuart schien seinen Gedanken zu erraten. „Nein", sagte er nur. Leopold nickte. Es war besser so. Kate erwachte lange bevor ihr Wecker für gewöhnlich klingelte. Es war eben erst hell geworden, die Stadt, die niemals schlief, schien sich kurz vor dem Ausklang der Nacht doch ein Nickerchen gegönnt zu haben, aus dem sie sich nun räkelnd erhob. Das Gleiche galt für Kate. Auch sie hatte in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan. Bis weit nach Mitternacht hatte sie versucht, Leopold einen Brief zu schreiben, sich für ihre Härte zu entschuldigen, ihm alles zu erklären... Aber sie hatte nicht die Worte gefunden, stattdessen nur einen Haufen Papierknäuel hinterlassen. Nun stand sie auf und zog sich an. Von oben, aus Stuarts Wohnung, kam kein Laut. Natürlich nicht, fiel ihr dann ein, es war gerade mal sechs Uhr. Leopold würde bestimmt noch schlafen. Kate wartete noch eine Viertelstunde, dann hielt sie es nicht mehr aus. Über die Feuerleiter stieg sie hinauf zu Stuarts Wohnung und schaute durch das einen Spalt breit geöffnete Fenster hinein. 130
Entschlossen schob sie das Fenster ganz auf und stieg ein. Ratlos stand sie einen Moment da. Dann fiel ihr Blick auf Stuarts Schreibtisch, wo zwischen seinen unzähligen Papieren ein dickes Buch aufgeschlagen dalag. Sie trat näher. Kate erschrak, als sie das alte Foto sah. Es zeigte eindeutig Leopold. Offenbar handelte es sich um den Nachdruck eines Ausschnitts aus dem New York Herald aus dem Jahre - ihre Augen suchten die Datumsangabe –1876! Hastig überflog sie den Artikel. Darin wurde vom Selbstmord des Grafen Leopold von Albany berichtet, der sich in der Nacht des 28. April das Leben genommen hatte, indem er von der unfertigen Brooklyn Bridge gesprungen war. Damit zu Ende, fand Kate noch eine weitere Notiz. Unter der Überschrift: Tragödie eines Dieners ohne Herren las sie: „In der gleichen Nacht, in der der Graf von Albany sich das Leben nahm, erlag auch sein Diener Otis einem Herzanfall. Kurz nachdem er vom Tod seines Herren erfahren hatte, brach er auf offener Straße zusammen." Der Otis, von dem Leopold mit so viel Respekt, ja Liebe gesprochen hatte. Sollte Leopolds und Stuarts Geschichte vielleicht doch stimmen? Kate trat einen Schritt zurück. Ihr Herz pochte wie wild. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Die Liebe ist ein Sprung, hatte Leopold, Otis zitierend, gesagt. Nicht nur die Liebe, auch der Glaube. Ihr Blick fiel auf eine Skizze Stuarts. Sie nahm sie in die Hand. Auf ihr war der genaue Ort eingezeichnet, an dem sich der Riss in der Zeit auftun würde. Er lag über dem East River, wenn man von der Brücke sprang, flog man mitten hindurch. Stuart hatte auch die Stelle, von der man abspringen musste, markiert. Sie kannte sie, denn sie war mit Stuart oft dort gestanden. Aus romantischen Gründen, wie sie geglaubt hatte. In Wahrheit aber aus wissenschaftlichen, wie sie jetzt feststellen musste. Du bist ein Idiot, Stuart, dachte sie wieder und ließ die Skizze zu den übrigen Papieren fallen. Das alles ist kompletter Unsinn. Dann verließ sie die Wohnung, machte sich nicht einmal mehr die Mühe, nach Leopold zu sehen, was ja der eigentliche Grund ihres Kommens gewesen war. Ich habe wahrhaft Wichtigeres zu tun, als einem Kerl nachzulaufen, der nicht erwachsen werden will, dachte sie. Am 131
Abend veranstaltete Jansen einen kleinen Empfang, um den Beginn der Werbekampagne zu feiern. Bei dieser Gelegenheit würde J. J. verkünden, wer sein zukünftiger Partner in der Agentur sein würde. Trotz des verpatzten Abendessens hatte Kate noch immer gute Aussichten. J. J. mochte weder Moral noch Anstand haben, wie Leopold richtig erkannt hatte, aber er war Geschäftsmann genug, um zu wissen, dass sie einfach die Beste war. Nach dem Erfolg in letzter Sekunde in Sachen Farmer's Bounty herrschte bei MRG an diesem Tag eine gänzlich entspannte Atmosphäre. Die Anspannung der letzten Wochen war verschwunden, statt nervöser Blicke tauschte man wieder freundliche Worte aus. Auch Kate hatte einen ruhigen Tag, sie erledigte ein paar Telefonate, wertete Statistiken aus, es war eher wie ein Zeitvertreib. Dabei wäre sie für ernsthafte Ablenkung dankbar gewesen. Dann hätte sie nicht die ganze Zeit an Leopold denken müssen. Kurz vor Feierabend brachte Darci ein in Folie verpacktes Abendkleid herein, das sie in Kates Auftrag in die Reinigung gegeben hatte. „Du solltest dich umziehen", drängte sie. „Der Empfang beginnt um acht und es ist schon fast sieben." Kate schreckte hoch. Sie war in Gedanken bei Leopold gewesen und hatte ihre Assistentin gar nicht bemerkt. „Stimmt was nicht mit dir?", fragte Darci. „Alles okay", entgegnete Kate. „Lässt du mich einen Augenblick allein?" Darci ging nach draußen, beobachtete Kate aber verstohlen durch die Glastür. Kate war zu einem Entschluss gekommen. Sie hatte gestern überreagiert, wahrscheinlich aufgrund des Drucks, der wegen dieses Werbespots auf ihr gelastet hatte. Im Grunde hatte Leopold ja Recht, ihr Job war in gewisser Weise verlogen. Jedenfalls war ein solcher Streit kein Grund, eine Sache zu beenden, die so hoffnungsvoll begonnen hatte. Sie liebte ihn, das spürte sie jetzt deutlicher als je zuvor. Sie griff zum Telefon und wählte Stuarts Nummer. Leider meldete sich nur der Anrufbeantworter. „Hi, Leopold", sagte sie, „hier ist Kate. Ich wollte nur sagen ... es tut mir Leid, was passiert ist. Vielleicht können wir ja noch mal reden. Nach der Arbeit. Ich hab 132
später noch diesen Empfang von Jansen. Vielleicht können wir uns ja vorher treffen... oder nachher. Ich hoffe, ich sehe dich heute Abend noch. Ich vermisse dich..." Damit legte sie auf. „...Ich hoffe, ich sehe dich heute Abend noch. Ich vermisse dich..." Klick - sie hatte aufgelegt. Stuart stand auf seinen Krücken neben dem Telefon und hörte jedes Wort. Arme Kate, dachte er. Armer Leopold. Sein Bedauern war echt. Aber es war nur ein Wermutstropfen in seiner überwältigenden Freude. Wenn es in dieser Sache einen Sieger gab, dann war er es. Stuart humpelte zum Klavier, ließ sich auf den Hocker fallen und schlug zuerst nur ein paar Akkorde an, ehe er begann, etwas aus Bachs Wohltemperiertem Klavier zu spielen. Vor ihm auf dem Notenständer befanden sich zwar keine Noten – er konnte dieses Stück auswendig –, doch was er sah, war ebenfalls wie Musik für ihn. Er hatte die Fotos seiner Reise in die Vergangenheit entwickeln lassen. Bilder von der unfertigen Brooklyn Bridge. Vom alten New York. Und eine ganze Menge von Schnappschüssen, die er bei Leopolds Ball gemacht hatte. Und alles in brillanten Farben. Diese Fotos würden ihn reich und berühmt machen. „Hi, Stu", erklang da eine Stimme in seinem Rücken. Charlie. Er hatte die Musik gehört und war über die Feuerleiter heraufgekommen. „Wie geht's? Wo ist Leo?" Stuart wandte sich um, sagte aber nichts. Dann drehte er sich zurück und spielte weiter. Charlie kam an Klavier. Über Stuarts Schulter hinweg sah er die Fotos auf dem Notenständer. Erstaunt riss er die Augen auf. „Heiliges Kanonenrohr", rief er aus. „Was ist das denn?" Stuart genoss sein Erstaunen. So wie Charlie würde schon bald die ganze Welt Augen und Mund aufreißen. Er aber hüllte sich in bedeutungsvolles Schweigen. Charlie nahm die Fotos und blätterte sie durch. „Sind die echt?", fragte er. „Oder wie hast du das gemacht? Mensch, sieh dir das mal an! Hast du das gesehen? Auf dem ist ja Kate drauf! Und hier auch!" Stuart griff daneben, das Klavier gab einen Missklang von sich, als wäre ihm jemand auf die Zehen getreten. Mit einer heftigen Bewegung 133
entriss er Charlie die Fotos. In der Tat, auf einem der Ballfotos war Kate zu sehen, im Hintergrund zwar, aber unverkennbar. Er blätterte die Bilder durch und bemerkte sie auch auf anderen Aufnahmen. Aber wie war das möglich? Die Gedanken fuhren hinter Stuarts Stirn Karussell. Was konnte das bedeuten? Wie kam Kate auf die Fotos? Was hatte sie in Leopolds Zeit zu suchen? Genauso viel wie Leopold in unserer Zeit, antwortete etwas in ihm. Nach einer Weile begriff er, dass er die Frage falsch stellte. Nicht, was die beiden in der ihnen fremden Zeit zu suchen hatten, war die Frage, sondern was sie gefunden hatten. Und erst da wurde Stuart gänzlich klar, was geschehen war und was noch geschehen musste. Kate hatte gehofft, Leopold würde wenigstens zurückrufen. Aber nichts, kein Sterbenswörtchen, nicht das geringste Lebenszeichen. Bedeutete das, dass er die Sache abgeschlossen hatte? Hatte er womöglich die Stadt schon verlassen? Ihr Herz raste bei diesem Gedanken. Nach einer letzten Schonfrist kam Darci herein, nahm das Kleid, das noch immer unberührt an einem Aktenschrank hing, und stellte sich fordernd vor Kate. „Ist ja schon gut", rief diese, ehe Darci etwas sagen konnte, nahm das Kleid und verschwand auf die Damentoilette, um sich umzuziehen. Darci folgte ihr. Kate sah in dem silbern schimmernden Kleid wundervoll aus. Darci half ihr bei ihrer Frisur. „Ich versteh einfach nicht, wohin Leopold verschwunden ist", sagte sie, während ihre Assistentin an ihren Haaren herumzupfte. „Wo wird er schon hin sein", entgegnete Darci. „Vielleicht besäuft er sich. Er ist auch nur ein Kerl wie jeder andere, tolle Manieren hin oder her. Das hat Zeit bis morgen. Du bist ohnehin schon spät dran. Der Wagen wartet." Kate schminkte sich Lippen und Augen, puderte sich die Nase, dann schob Darci sie auf den Gang. Kate wollte schon ins Treppenhaus, aber Darci ging zielstrebig zum Fahrstuhl. Nanu, dachte Kate. „Sie gehen wieder", erklärte Darci, „auf genauso geheimnisvolle Weise wie sie ausgefallen sind." 134
Kate wusste nicht warum, aber irgendwie beunruhigte sie das. Hatte Stuart nicht behauptet, die Fahrstühle seien ausgefallen, weil Leopold aus seiner Zeit gerissen worden war, ehe er diese technische Erfindung hatte machen können? Unsinn, widersprach die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Reiner Zufall. Ihr Blick wanderte zur Anzeige der Stockwerke. Eins nach dem anderen wurde heruntergezählt. Plötzlich durchfuhr sie etwas wie ein Stromstoß. Etwas, das immer da gewesen, ihr aber nie aufgefallen war. Auf der metallenen Abdeckplatte stand Otis. Sie hatte das immer für den Namen des Fahrstuhlherstellers gehalten. Und das war er ja auch. Aber plötzlich glaubte sie auch zu wissen, warum diese Firma diesen Namen trug: in Anerkennung an einen Freund des Gründers. „Oh mein Gott!", stieß Kate aus. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, so als schieße all ihr Blut in Sekundenschnelle vom Kopf in die Beine. Schlagartig wurde ihr klar, dass Stuart und Leopold die Wahrheit gesagt hatten. Leopold war aus der Vergangenheit gekommen. Dass die Fahrstühle wieder funktionierten, konnte nur eines bedeuten: Er war mit Stuarts Hilfe wieder zurück in seine Zeit gereist und hatte dort seine Erfindung gemacht. Vorher aber hatte er sich an jenem Abend eine Braut erwählt und mit ihr eine Familie gegründet. Der Fahrstuhl setzte auf. Tränen füllten Kates Augen. Als die Türen auseinander fuhren, wankte sie durch die Lobby nach draußen. „Alles okay?", fragte Darci. Gar nichts war okay. Sie liebte einen Mann, der vor über hundert Jahren gelebt hatte. Was sollte daran okay sein?
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Leopold sprang aus der Kutsche und ging mit weit ausholenden Schritten auf den Eingang des Hauses zu. Otis eilte hinter ihm her. Im Garten waren Diener damit beschäftigt, die Bäume mit Girlanden zu schmücken und Lampions aufzuhängen. Ein Butler öffnete die Tür, grüßte, doch Leopold antwortete nicht. Seine Stiefel hinterließen Lehmspuren auf dem glatten Marmor der Halle. So lief er auf die Treppe zu. Der Sprung von der Brooklyn Bridge hatte Leopold, wie von Stuart vorhergesagt, zurück in seine Zeit gebracht, und zwar genau in den 28. April 1876. Er hatte sich plötzlich bei der unfertigen Brücke wiedergefunden, kurz bevor Roebling mit seiner Rede begann. Doch die Erinnerung an die Zukunft, vor allem an Kate, hatte ihn nicht verlassen. Auch Stuart hatte er wiedergesehen und sogar den Kugelschreiber, den dieser verloren hatte, aufgehoben. Doch gefolgt war er ihm diesmal nicht. „Leopold! Wo warst du?", erklang da eine altbekannte Stimme. Onkel Millard, richtig. Wie beim ersten Mal humpelte er auch diesmal mit verärgert in Falten geworfener Stirn auf seinen Neffen zu. Leopold ging einfach weiter, hörte nicht auf die zornigen Worte seines Onkels, die Otis nun statt seiner entgegenzunehmen hatte. Leopold verschwand in seinem Zimmer und machte sich einen Brandy. Die ganze Zeit hielt er Stuarts Kugelschreiber in der Hand, ließ die Miene vor und zurückfahren. Klick – klick – klick. Seine Gedanken weilten die ganze Zeit bei Kate. Was soll's, dachte er dann. Ich trauere einer Frau nach, die erst in ungefähr hundert Jahren geboren werden wird. Wenig später kam Otis herein und ließ wissen, dass das Bad angerichtet sei. Leopold entkleidete sich und stieg in die Wanne, allerdings nicht ohne einen weiteren Brandy und den Kugelschreiber. Wie beim ersten Mal nahm Otis ihm das Schreibgerät auch jetzt ab und legte es in das Geheimfach hinter der Stuckverzierung. „Erlauben Sie mir ein Wort, Euer Gnaden?", fragte er dann.
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Leopold gestattete es, er wusste ohnehin, was kommen würde. Otis riet, wie beim ersten Mal, er solle das Beste aus dem Abend machen und gab zu Bedenken, dass sich unter den Ladies ja vielleicht eine Perle befände. „Die Liebe ist ein Sprung", schloss er. „Die Liebe ist eine Lüge", gab Leopold zurück und leerte sein Brandyglas. Otis war betroffen von so viel Bitterkeit, die aus diesen Worten sprach. Schweigend reichte er seinem Herrn ein Handtuch. Leopold erhob sich aus dem Wasser. Schon die ganze Zeit hörte er, wie Kutschen vor dem Haus vorfuhren. Die ersten Gäste trafen ein. Die Limousine, die Jansen Food geschickt hatte, kam zum Stehen. Kate schaute nach draußen, blinzelte, wandte sich ungläubig an den Fahrer. „Das kann es nicht sein", sagte sie. „336 Madison Avenue - das ist die Adresse, zu der ich wollte." Der dunkelhäutige Chauffeur drehte sich zu ihr um. „Das hier ist 336 Madison Avenue", sagte er höflich. Noch immer ungläubig stieg Kate aus. Sie stand vor Leopolds Haus, oder vielmehr dem Haus seines Onkels Millard, wie Kate sich erinnerte. Die Leute von Jansen Food hatten es offensichtlich für den Empfang angemietet. Zufall? Fügung? Oder einfach nur seelische Grausamkeit von Seiten sadistischer Schicksalsmächte? Kate fasste sich und trat ein. In der Halle begegneten ihr Phil und Bob. Die beiden musterten sie mit einem raschen Blick. Offenbar gefiel ihnen, was sie sahen. „Du siehst klasse aus", sagte Phil. Kate versuchte zu lächeln, doch es misslang. Sie ging an den beiden vorbei, hörte Bob nur noch raunen: „Hast du das gesehen? Kate trägt tatsächlich ein Kleid!" Der Salon war überfüllt von Herren in Anzügen und Damen in Abendkleidern. Tische mit den Produkten von Jansen Food waren aufgestellt worden, mit Farmer's Bounty bestrichene Brötchen lagen unberührt auf silbernen Tabletts und überall hingen Plakate der neuen Werbekampagne. Leopolds Bild lächelte Kate in Übergröße an, beobachtete sie aus Dutzenden von Augen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nach kurzem entdeckte sie J.J. in der Menge. Sie drängte sich zu ihm, fing dabei Bruchstücke inhaltsleerer Konversationen über neue BMWs, Schönheitsoperationen, Mobiltelefone auf. An einem 137
anderen Ort hätte sie all das vielleicht besser ertragen, doch nicht in Leopolds Haus. Als sie sich zu J.J. gesellte, fiel sie trotz der vielen Menschen eine seltsame Leere. Was habe ich hier verloren?, fragte sie sich plötzlich. Was habe ich mit all diesen Menschen zu schaffen? J.J. begrüßte sie und stellte sie seinem Gesprächspartner vor. Kate nahm auch dies wie einen Film wahr, der vor ihr ablief, in dem sie aber keine Rolle spielte. „Ich muss hier weg", sagte sie, mehr für sich. „Was?", fragte J.J. „Entschuldigt mich. Ich bin gleich zurück." „Phil hält gleich seine Rede. Ich glaube, er möchte, dass du danach auch ein paar Worte sagst." Kate hörte es kaum noch, sie war schon weg. Eilig verließ sie den Saal, lief, vorbei an Leopolds Familiengemälde, die Treppe hinauf und in seine Gemächer. Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass sie etwas Unwiederbringliches verloren hatte. Die Gefühle überwältigten sie, Tränen liefen über ihr Gesicht und verschmierten ihre Wimperntusche. Sie trat in Leopolds Schlafgemach und blieb vor dem Spiegel stehen. Ich sehe grauenhaft aus, dachte sie, nicht nur wegen der zerlaufenden Schminke. Wie gebannt verharrte ihr Blick im Spiegel, während die Tränen ungehindert über ihr Gesicht flössen. Angewidert von sich selbst und vom Leben betrachtete sich Leopold im Spiegel. Otis und ein Diener hatten ihn angekleidet, nun stand er im Frack da, eine Erscheinung, nach der die Damen sich verzehren würden. Leopold wandte sich zu seinem Onkel um, der eben seine Erfindung begutachtet und mit herablassenden Worten bedacht hatte, und nun näher kam. „Du sprichst von Erfindungen und Fortschritt, Leopold", sagte er. „Was ich dir anzubieten habe, ist die Wirklichkeit. Such dir eine Frau. Heirate." Leopold fand, dass dieses Gespräch in der Wiederholung nicht besser wurde, ganz im Gegenteil. Deshalb war ihm sehr daran gelegen, es abzukürzen. „Reden wir nicht lange drum herum", sagte er. „Sag mir einfach, wen ich heiraten soll. Welche von den unten versammelten Damen hat das meiste Geld." 138
Ein zufriedenes Lächeln trat auf Onkel Millards Gesicht, auch wenn ihm der sarkastische Ton seines Neffen missfiel. Immerhin schien Leopold allmählich Vernunft anzunehmen, gerade noch rechtzeitig. „Miss Tree ist aus sehr vermögendem Hause", sagte er. „Aber natürlich –" Leopold brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. „Betrachte es als beschlossen, dass Miss Tree meine Frau werden wird", sagte er. „Holen Sie den Ring, Otis. Ich werde meine Wahl um Mitternacht bekannt geben." Otis, der bei der Tür gewartet hatte, nickte und trat ins Badezimmer, um den Ring aus der Zinnschatulle zu holen. Kate trat in Leopolds Badezimmer. Im Geheimfach in der Wand musste noch immer die Schatulle liegen. Sie war das Einzige von ihm, was ihr geblieben war. Er würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie sie an sich nahm. Aus dem Saal drang Phils durch die Lautsprecheranlage verstärkte Stimme herauf. Phil war nicht gerade das, was man einen begnadeten Redner nannte. Er würde bestimmt nicht mehr sagen, als er unbedingt musste. Sie musste sich also beeilen. Kate öffnete das Geheimfach. Die Zinnschachtel war noch da. Da Leopold wieder in seine Zeit zurückgekehrt war, lag auch der Ring wieder darin. Doch als sie ihn berühren wollte, löste er sich vor ihren Augen in Luft auf. Sie erschrak. Was hatte das zu bedeuten? Dass Leopold ihn einer anderen an den Finger gesteckt hatte? Kate fühlte sich unbehaglich. Was habe ich hier verloren?, fragte sie sich. Nein, sie wollte nichts von Leopold haben. Er hatte eine andere geheiratet. Sie schob die Schatulle zurück an ihren Platz, verschloss das Geheimfach und begab sich wieder nach unten. Auf der Treppe kamen ihr zu ihrer Überraschung Stuart und Charlie entgegen. „Was macht ihr denn hier?", fragte sie die beiden. „Wie seid ihr reingekommen?" Stuart drückte ihr einen Umschlag in die Hand, der die Fotos enthielt. „Du musst dir das ansehen, Kate", sagte Stuart aufgeregt. „Ich habe eine Entdeckung gemacht –"
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„Ich hab genug von deinen Entdeckungen!", fiel Kate ihm aufgebracht ins Wort und wollte ihm den Umschlag zurückgeben. Doch er nahm ihn nicht an. Sie wollte an ihm vorbei, doch Stuart stellte sich ihr in den Weg. „Es dauert nur eine Minute", beteuerte er. „Ich weiß, als Freund "war ich eine Niete. Das tut mir Leid. Auch, dass ich dich so oft habe hängen lassen. Du wolltest immer was Verlässliches. Jemand Vernünftigen. Verzeih mir, dass ich das nicht sein konnte. Aber bevor du weggehst, solltest du mir wenigstens zuhören. Vielleicht waren unsere gemeinsamen Jahre ja doch nicht verschwendet. Vielleicht gab es einen Grund dafür, dass wir zusammen waren." Kate verstand kein Wort. „Wovon redest du?" „Ich glaube, es war mein Schicksal, dich und Leopold zusammenzubringen." Kate sah Stuart entgeistert an. Was redete er da? War er inzwischen völlig durchgedreht? Und doch nahm sie die kleine Spur von Hoffnung, die er in ihr weckte, so dankbar an wie ein Ertrinkender etwas woran er sich festhalten konnte, selbst wenn es nur ein Strohhalm war. „All das musste geschehen", erklärte Stuart. „Ich glaubte, ich hätte die Zeit überlistet. Aber ich hätte nie gedacht, dass das Schicksal auch Herr über die Zeit ist. Es war vorherbestimmt, dass ich meine Zeitreise unternehmen und auch, dass Leopold mir folgen würde. Er sollte dich kennen lernen und wieder in seine Zeit zurückkehren. Und du solltest ihm folgen. Heute Nacht. Ehe es zu spät ist." „Wie?", fragte Kate verwirrt. „Das Zeitportal ist noch bis Mitternacht offen", erklärte Stuart. Aus dem Saal drang Phils Stimme heran. Er verkündete gerade Kates Auftritt, wiederholte seinen Aufruf, als sie nicht erschien. „Wo steckst du denn Kate?" Es klang scherzhaft und locker, aber sie wusste, dass er nervös wurde. „Du hörst es selbst", sagte Kate. „Ich muss." Sie schob sich an Stuart vorbei - ein letzter Versuch, ihm den Umschlag zurückzugeben, misslang - und betrat mit längst wiederhergestelltem Make-up den Saal. Phil bat sie wortreich ans Rednerpult. Kate entschuldigte sich, dass sie die Anwesenden hatte warten lassen. In ihrer Nervosität entglitt ihr der Umschlag mit den Bildern, 140
einige fielen heraus und verteilten sich über das Pult. Kate achtete nicht darauf. Stattdessen stotterte sie, fieberhaft nach einem Einstieg für ihre Ansprache suchend, verlegen herum. „Erzähl uns, wie du Mr. Duke für den Spot gefunden hast", sprang Phil bei. „Ach so. Ja." Sie warf Phil einen dankbaren Blick zu und begann: „In unserem Geschäft kommt es auf zwei Dinge an: Zahlen und Instinkt. Was Leopold betrifft, habe ich mich vollkommen auf meinen Instinkt verlassen. Wir steckten fest mit dieser Kampagne, deshalb überlegte ich mir, wie der Mann aussehen müsste, dem ich Margarine abkaufen würde." Und dem ich mein Herz, mein Leben schenken würde, dachte sie. Schmerz stieg in ihr auf, sie rang ihn nieder, wenigstens so weit, dass sie "weitersprechen konnte. „Ich stellte mir den idealen Mann vor. Natürlich müsste er gut aussehen, eine männliche Ausstrahlung haben... Die Frauen unter Ihnen wissen, wovon ich rede. Er sollte aber auch kultiviert sein; eine eigene Meinung haben, vielleicht auch einen Akzent. Außer dem, und dies vor allem, sollte er nett sein. Ein Mann mit Klasse, der einer Frau geduldig zuhört und der sie sieht, wie sie ist. Ein Mann mit Integrität." Ja, das war Leopold gewesen: ein Mann mit Integrität. Und sie hatte ihn gezwungen, seine Werte zu opfern, für sie zu lügen und all das in den Schmutz zu ziehen, was ihn zu etwas Besonderem gemacht hatte. Es wunderte sie nicht mehr, dass er sie verlassen hatte. Da fiel ihr Blick auf die Fotos, die die ganze Zeit schon unbeachtet vor hi r lagen. Sie zeigten Leopold, wie er mit einer Frau tanzte. Im Hintergrund aber erblickte sie sich selbst, in dem Kleid, das sie gerade trug. In dem Kleid, das sie gerade trug ? Das war unmöglich! Das Kleid war neu, sie trug es zum ersten Mal. Schon gar nicht konnte sie es auf einem Ball angehabt haben, der – wenn man Stuart glauben durfte – im Jahr 1876 stattgefunden hatte! Sie blickte auf, bemerkte Stuart und Charlie an der Tür. Offenbar warteten sie auf sie. Da fällte sie einen Entschluss. „Ist es nicht komisch", sagte sie nur noch. „Wir feiern hier die Markteinführung von Farmer's Bounty und überall stehen Tabletts mit Margarinebrötchen, aber kein Mensch rührt die Dinger an. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir natürlich alle, warum. Unter uns 141
gesprochen: Jeder hier im Saal weiß, dass Farmer's Bounty schmeckt wie... Haargel." Kate begann zu lachen. Aber sie war wohl die Einzige, die das komisch fand. Ein paar der Anzugträger begannen miteinander zu tuscheln. J. J. wandte sich Phil zu, seine Miene war besorgt und ärgerlich. Kate kümmerte sich nicht darum. „Ich muss jetzt leider gehen", sagte sie nur. „Einen schönen Abend noch." Die Fotos in der Hand, verließ sie eilig das Podium und rannte wenig später mit Stuart und Charlie aus dem Haus. Auf der Straße wartete schon ein Taxi. Die drei sprangen hinein. „Zur Brooklyn Bridge", wies Stuart den Fahrer an, „und zwar schnell." Kate hielt Stuart die Fotos hin, die sie noch immer in der Hand hielt. „Kannst du mir erklären, wie ich auf diese Fotos komme?", fragte sie. „Ganz einfach", entgegnete Stuart. „Weil du dort warst." „Aber das war ich nicht! Glaub mir, das wüsste ich." Stuart sah sie an. Kate glaubte etwas wie Rührung oder Mitgefühl in seinen Augen zu lesen. Bedauerte er sie wegen ihrer Unwissenheit? Oder war da noch etwas Anderes? „Vom jetzigen Zeitpunkt aus gesehen, wirst du ja auch erst da sein", sagte er. „Das heißt, wenn wir es rechtzeitig schaffen." Er schaute aus dem Seitenfenster, wo die Autos auf drei Fahrspuren Kolonnen bildeten. „Aber diese Fotos stammen aus der Vergangenheit", beharrte Kate, „nicht aus der Zukunft." „Das stimmt nicht ganz. Theoretisch liegt die Zukunft von jemandem, der in die Vergangenheit gehen wird, in der Vergangenheit. Und diese Fotos stammen aus deiner Zukunft in der Vergangenheit." Kate schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht." Der Taxifahrer auch nicht. Er betrachtete Stuart misstrauisch im Rückspiegel. „Du musst das auch gar nicht verstehen, Kate", besänftigte Stuart sie und nahm die Fotos aus ihrer Hand. „Du liebst ihn doch, oder?" Sie nickte. „Mehr brauchst du nicht zu wissen. Du musst einfach in die Vergangenheit reisen und den Mann, den du liebst, heiraten, ehe er 142
jemand anders heiratet." „Das ist verrückt." „Aber ziemlich aufregend", meldete sich nun auch Charlie zu Wort. Kate lächelte, zum ersten Mal. Sie dachte daran, Leopold schon bald wiederzusehen. Doch dann verfiel sie auf einen anderen Gedanken. „Warte mal", sagte sie an Stuart gewandt. „Wenn ich Leopold heirate und du sein Nachfahre bist, dann bist du ja auch mein –" Stuart wollte dieses heikle Thema lieber nicht vertiefen und tat so, als habe er es nicht gehört. Stattdessen wandte er sich an den Fahrer und trieb ihn weiter an. Die Türme der erleuchteten Brooklyn Bridge tauchten vor ihnen auf. Das Taxi hielt am Straßenrand. Die Zeit drängte. Kate und Charlie liefen los, doch der Taxifahrer packte Stuart am Ärmel und hielt ihn zurück. „Was ist mit dem Geld?" Während Stuart seine Geldbörse herausholte, bemerkte er, dass Kate und Charlie stehen geblieben waren. Von Ferne erklang das Schlagen einer Turmuhr. Nicht mehr lange bis Mitternacht. „Renn weiter, Kate!", rief Stuart ihr zu. „Du kennst den Ort. Dort, wo wir beide so oft standen." Kates Herz wurde schwer. Erst jetzt begriff sie, dass sie die Menschen, die sie liebte – und trotz aller Differenzen gehörte auch Stuart immer noch zu ihnen –, nie mehr wiedersehen würde. Sie gab alles auf für den Mann, den sie liebte. Mit Charlie rannte sie die Fußgängerbrücke entlang, bis sie an der Stelle, an der sie abspringen musste, angekommen war. Sie kletterte über die Brüstung. Unter ihr lag in nächtlichem Dunkel das Wasser des East River. Kates Knie zitterten. Sie sah sich nach Charlie um. Auch dies war ein Abschied für immer. „Geh schon, Kate", sagte er mit tränennassen Augen. „Dir steht eine wundervolle Zukunft bevor. Mach dir um mich keine Sorgen. Leopold hat mir, ehe er ging, fünfzigtausend Dollar auf das Kopfkissen gelegt. Tu mir einen Gefallen und mach einmal etwas für dich!" „Du warst immer ein großartiger Bruder, Charlie", sagte sie weinend und küsste ihn. „Ich werde dich immer lieben." 143
„Hör schon auf", entgegnete Charlie. „Das hier ist nicht Casablanca. Beeil dich!" „Springen Sie nicht!", kam da eine Stimme in ihrem Rücken. „Bitte! Was für Probleme Sie auch haben, es gibt dafür bestimmt eine andere Lösung!" Kate und Charlie wandten sich um. Ein Polizist kam mit zögerlichen Schritten näher. Kate blickte wieder in die Tiefe. Sie nahm allen Mut zusammen, schloss die Augen und dachte: Die Liebe ist ein Sprung. Dann gaben ihre Beine nach, sie spürte nichts mehr unter sich, das sie trug, nur noch den Fahrtwind. Leopold atmete schwer. Der Moment, vor dem er sich so lange gedrückt hatte, rückte bedrohlich näher. Eben hatte es Mitternacht geschlagen. Otis trat zu ihm. „Der Ring, Euer Gnaden." Er hielt ihm den Ring hin. Leopold dachte an den Moment, in dem er ihn beinahe Kate an den Finger gesteckt hätte. Auch jetzt noch hatte er das Gefühl, dass er in Wahrheit ihr gehörte. Doch zwischen ihnen lagen über hundert Jahre. Leopold trat vor die Ballgesellschaft. Die Mädchen blinzelten ihm neckisch zu, ihre Mütter und Väter platzten schier vor Erwartung. So zufrieden wie in diesem Moment hatte er seinen Onkel Millard noch nie gesehen. Leopold blickte sich um. Er bemerkte Stuart im Hintergrund, der heimlich Fotos gemacht hatte und ließ ihn unbehelligt verschwinden. Damit war für ihn eine Rückkehr zu Kate endgültig verbaut. Ein tiefer Schmerz erfüllte sein Herz. „Sie wissen durch meinen Onkel", sagte er nun, „dass ich mir an diesem Abend unter den hier anwesenden Damen diejenige auswählen möchte, mit der ich mein Leben zu teilen beabsichtige." „Leopold", erklang da eine Stimme. Aus der Menge löste sich eine junge Frau und trat vor Leopold hin. Er traute seinen Augen nicht. Kate! Wie kam sie hierher? „Was machst du hier?", fragte er. „Wie lange bist du schon hier?" „Lange genug, um zu "wissen, dass es mir hier gefällt", entgegnete sie. Ihre strahlende Miene ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr 144
überall gefallen hätte, wo Leopold war. Er sah sie erstaunt an. „Du willst bleiben?" „Ich liebe dich, Leo", sagte sie da. „Ich will bei dir sein, wo immer du bist, ob in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft." Leopolds Herz schlug heftig vor Glück. Er wandte sich an die unruhig werdenden Ballgäste. „Hiermit verkünde ich den Namen meiner Braut: Kate McKay." Während die Enttäuschten mäßig Beifall klatschten, schloss er Kate in die Arme. Onkel Millard indes schien mit der Wahl seines Neffen nicht zufrieden. Wer war diese fremde Frau? Umso glücklicher sah Otis drein. Offenbar hatte sein Herr doch eine Perle gefunden. Kate hatte Leopold viel zu erklären. Doch jetzt war nicht der Moment dafür, denn die Musik setzte ein. Die beiden schwebten im Walzertakt über das Parkett, hinein in eine glückliche Zukunft.
HAPPY END
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