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Felix Guattari
Gilles Deleuze
Tausend Plateaus
Dualismen Intermezzo Rhizom Orient Okzident Manniglattig~eiten .~eute Bande ~Orde Segmentaritat MIlieus Outsider Karte machen Epistrata Parastrata GefOge molar molekular abstrakte Maschinen junge Mädchen Pathos konstante Variablen kontinuierliche Variation Intensitäten Figur und Metamorphose Chromatik
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Karten zu Tausend Plateaus Mit Beiträgen von Gilles Deleuze, Arnauld Villani, Toni Negri, Brian Massumi, Glemens-Garl Härle und Alain Badiou Herausgegeben von Glemens-Garl Härle
Merve Verlag Berlin
Inhalt
Die Übersetzung der fremdsprachigen Texte wurde vom Herausgeber besorgt
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Vorwort
9
Gilles Deleuze Brief an Kuniichi Uno
13
Gilles Deleuze Bis zum Ende
15
Arnauld Villani Physische Geographie von Tausend Plateaus
41
T oni Negri
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Tausend Plateaus des neuen historischen Materialismus
© 1993 Merve Verlag Berlin. Postfach 150927, 10671 Berlin. Druck- und Bindearbeiten: Dressler, Berlin Umschlagentwurf: Jochen Stankowski, Köln ISBN 3-88396-100-0
66
Brian Massumi Everywhere you want to be. Einführung in die Angst
104
Clemens-Garl Härle Karte des Unendlichen
133
Alain Badiou Deleuze, Leser von Leibniz
163
Nachweise
Vorwort Worin besteht die Aktualität eines Buchs? Gewiß nicht im Datum seiner Publikation, durch das es sich in die Zeitrechnung einschreibt; in den Worten, die es für die Sache findet, die den Zeitgenossen bewegt; im Oberton der Rede, durch den es den Leser herausfordert, bald schont, bald sich seines Einverständnisses versichert; in dem Unterfangen, den Zeitgeist zu deuten und auszubeuten. Aktuell ist ein Buch einzig durch die Kraft, mit der es seine Leser trifft - gleich an welchem Ort und zu welcher Zeit, aber auf völlig unvorhersehbare Weise. Durch Qiese Kraft entkommt es den Kompromissen und Befangenheiten des Alltags, der Meinungsmache der Medien, den Archiven der Bibliotheken. Diese Kraft macht das Werden eines Buches aus. Der Abhub der Erfahrungswelt wird von ihr fortgespült. Tausend Plateaus ist einzigartig in seiner Anlage. Es verbindet phänomenalen Reichtum mit höchster begrifflicher Artikulation. Der Gedanke bewegt sich in dem Intervall, das durch diese Extreme eröffnet wird. Er rührt, indem er diese Grenze abschreitet, an das Reale in der Form des Experiments. Kraft wächst ihm eben dadurch zu, daß er, in der Zone des Sensiblen ebenso wie in der des Intelligiblen, unerschütterlich seine Möglichkeit erprobt und bis an die Grenze der Erschöpfung seiner Möglichkeit geht. Vielleicht gewahren wir nur in dieser Probe und dieser Erschöpfung, was hier und jetzt, im Gegenwärtigen, in jeglicher Situation, schlechthin unerträglich ist. Der politische nicht weniger als der Akt des Denkens hat eine Chance einzig, wenn er sich rückhaltlos preisgibt an diese Erfahrung. Nur so vermag er die erbärmlichen Synthesen des Zeitgeistes zu durchbrechen und hinter dem Neuesten das wahrhaft Neue, das Ereignis aufspüren. Weil sie den ungeschützten, zerbrechlichen Affekt, die Spannung und Erschöpfung, die dem Denken und dem Politischen beigemischt sind, nicht unterschlagen, eignet den Texten von Deleuze und Guattari, wie wenigem im zeitgenössischen Schrifttum, ein Moment von Enthusiasmus. Nur halbgewitzten, um Orthodoxie besorgten Kritikern mochte es beifallen, dies als Schwärmerei zu denunzieren. Felix Guattari. mit dem zusammen Deleuze Tausend Plateaus 7
geschrieben hat, starb während der Vorbereitung dieses kleinen Bandes. Sein Name steht für eine psychiatrische und politische Praxis, die heutzutage ihresgleichen sucht. Seinem Gedenken sei er gewidmet. Paris, August 1993
c.-c.
Gilles Deleuze Brief an Kuniichi Uno
den 23. Juli 1984
H. Lieber Kuniichi Uno,
Du fragst mich, wie wir uns, Felix Guattari und ich, kennengelernt und wie wir zusammen gearbeitet haben. Ich kann Dir darauf nur für mein Teil antworten, Felix würde das vielleicht ganz anders sehen. Denn es gibt sicher kein Rezept und keine allgemeine Formel_dafür, wie man zus~'!!l!'~~"~~~-iten_~.Q"ll: Es begann kurz nach dem Mai '68 in Frankreich. Wir kannten uns nich~c!P'er~!!U.!~unQ. von _1J!i.LJ!!lil"J"E[!lx:ilj~~~!--daß ~ir ~11_s_ kerme_n!.erl'l~.!!_sQ.!!!~~_~!!Lg~l!~r§!~!lI?!i.qk"9..@_~_"nl(;"~!~,
worüber wir uns hätten. verständigen können. "Felix hat immer viele -seilen gehabt,-arbeitet"i"n-derPö"litik:inder Psychiatrie un~"l!'it(]iuriP~D :_~"usarijiTi~~::}:r. ist-eine "Art~(3"rü"PQ€in"~:S~~rü. Qder vielleic~t sQllt~ ""I'T'I~!LJ.hn ~rujL~iJ!~"I1'L~eEl.LJI'.~rgJ~i.91:IE;~n: einer Oberfläche, die scheinbar immer in Bewegung ist, die fortwä-hre-ndgHfiertun-atllnkeif.Erkann von einer Tätigkeit zur- andern"wechseln'-- schiafCwenig;-"relsf,-horlnie au!.-Er- hat etwas Unerschöpfliches und verfügt übe"r außerordentliChe Geschwindigke-iten.. Ich bin "aägegen"-ehe"r"\Yle-efn-Fels: Ich bewege michwe"nig "ün"d kilrinunmÖglic"h"zwer"SaChen"zugleich machen:" Meine-Gedanken sind fixe Ideen, und wenn· ich mich :"selt~l1g"enÜg"~-ru'tlre,· l-iaildeifei"slCh um-innere Bewegungell. Ich scb!eibEUl.~r~~ßII~!n!uat>~!_"Lctl. sl:>"re9h~ _r:lll::tlL~o'ld~r1jch geU!,..il_~~ei d~n in den Kursen an der Uni, wo das W()!!..Eliner ande!~Jl_Qrdnun..9~LJ'ltE!rsteht. Z"l!§CilT)m~n .h~!t.~I"! .. F~Ii)Umc:1 .i<:h ~Ül~JJ" glJten Jlipanischen Ring~r abgegeben. Wenn man Felix jedoch aus der Nähe betrachtet, merkt man, daß er ziemlich allein ist. Oft übermannt ihn zwischen einer Tätigkeit und einer andern, oder inmitten einer Versammlung, eine große Einsamkeit. Er zieht sich zurück, spielt Klavier, liest oder schreibt. Ich habe selten einen Menschen gekannt, 8
9
der so schöpferisch ist wie er. Er h9-J stänQ.!H J:l_~.~!'!JQe_e!1Lo
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[email protected]!J1"l.
über das Ritornell und die Musik, die Kriegsmaschine, die Nomaden und das Tier-Werden geschrieben haben. Angefeuert von Felix, hatte ich das Gefühl, daß wir auf Territorien stießen, wo ganz eigentümliche Begriffe lebten. Tausend Plateaus ist ein Buch, das mich glücklich gemacht hat und in dem ich, wenigstens was mich anbelangt, immer wieder etwas Neues entdecke. Ich sage das ganz ohne Eitelkeit, denn ich spreche hier für mich und nicht für den Leser. Nachdem das Buch fertig war, war es dann notwendig, daß jeder wieder eine Zeitlang für sich zu arbeiten begann, um Atem zu schöpfen. Aber daß wir auch in Zukunft wieder zusammen arbeiten werden, steht für mich außer Frage. Ich hoffe, lieber Uno, wenigstens einen Teil Deiner Fragen beantwortet zu haben. Lieben Gruß, Gilles Deleuze
12
Gilles Deleuze Bis zum Ende
Bis zum Ende war die Arbeit mit Felix für mich Anlaß der Freude und neuer Entdeckungen. Doch ich will nicht über die Bücher sprechen, die wir zusammen verfaßt haben, sondern über die, die er allein geschrieben hat. Mir scheint, daß sie von unerschöpflichem Reichtum sind. Drei Gebiete werden darin durchforstet und dem schöpferischen Eingriff neue Wege erschlossen. In der Psychiatrie hat Felix, ausgehend von der Institutionsanalyse, zwei wichtige Begriffe eingeführt: den Begriff des Gruppensubjekts und den einer transversalen, d.h. nicht-hierarchischen Beziehung. Man sieht, diese Begriffe sind zugleich psychiatrischer und politischer Natur. Denn das Delirium, die Realität der Psychose, ist eine Kraft, die' unmittelbar das gesellschaftliche und politische Feld heimsucht: es betrifft nicht nur die psychoanalytischen Instanzen von Vater und Mutter, sondern umspült Kontinente, Rassen und Stämme. Es ist ein pathologischer Prozeß, der als solcher der Heilung bedarf, und zugleich ein heilendes Potential, das politisch bestimmt werden muß. Vielleicht träumte Felix ganz allgemein, und das ist das zweite Terrain, von einer Art System, dessen Teile sich in die Wissenschaften, die Philosophie, die Kunst und die Erfahrung usw. verzweigen. Er nähert sich immer wieder einer eigentümlichen Ebene, die in sich die Möglichkeit von wissenschaftlichen Funktionen, philosophischen Begriffen, gelebten Erfahrungen und künstlerischen Schöpfungen aufweisen könnte. Diese Möglichkeit selbst ist gleichartig, während das jeweils Mögliche von einer Ungleichartigkeit bearbeitet wird. Das eindrucksvolle vierköpfige System, das in Cartographies entfaltet wird: "Territorien,Ströme, Maschinen und Universa", deutet dies an. Und wie könnte man drittens nicht betroffen sein von den Untersuchungen, die Felix zu Balthus oder Fromanger geschrieben hat oder auch über die Literatur, wie den grundlegenden 13
Text über das Ritornell bei Proust, das von den Ausrufen der Marktleute bis zu dem kleinenThema von Vinteuil reicht, oder den pathetischen zu Genet und dem Captif amoureux. Das Werk von Felix ist noch zu entdecken, und vielleicht ist das die schönste Weise, in der er mit uns fortlebt. Das Zerreissende an der Erinnerung eines toten Freundes sind die Blicke und Gesten, die uns erreichen und noch in uns eindringen, auch wenn er schon tot ist. Felix' Werk erteilt diesen Gesten und Blicken eine neue Substanz, einen neuen Gegenstand, so daß die Kraft, die in ihnen aUfgespeichert ist, uns auch weiterhin erreicht.
Arnaud Villani Physische Geographie der Tausend Plateaus
Von Tausend Plateaus sprechen, heißt auf ein Buch, das noch ganz jung und schon sehr alt ist, ein. Abecedarium nach Art '-,/1.... einer Fibel, einen Almanach voller Anspielungen, Kniffe, neuer Gedanken und Wendungen hinweisen. Tausend Plateaus lesen, . heißt sich in ein Labyrinth begeben und unbekannten Meridianen folgen. Ohne Zweifel hat dieses Buch und seine lange Entstehungszeit viele befremdet, trotz der zahlreichen Spuren, Kafka. Für eine kleine Literatur 1, Rhizom 2 und Dialoge 3, die auf seine Abfassung deuten. Aber dieses Befremden nimmt nicht Wunder, wenn man bedenkt, daß sich die intellektuelle Landschaft Frankreichs zu Beginn der aOer Jahre von Grund auf geändert hat und Tausend Plateaus gegen diese Wende gerichtet ist. Unter dem Deckmantel, träumerisch den . Diskurs des Wunsches und der Schizoanalyse fortzusetzen, wird eine gänzlich neue Synthese erarbeitet, eine konkrete Mechanologie, die direkt politische Probleme aufgreift und grundlegende Elemente einer neuen Philosophie erörtert, in erfrischender Freiheit des Geistes und der Sprache. Diese Geistesfreiheit, dieser Witz bilden den Ort des Buches: es vollzieht an sich selbst die Bewegung, die es beschreibt, und modelliert einen organlosen Körper, an dem es entlanggleitet. Auf den Leser übt dieser Tanz ohne Schleier eine unvergleich- r;.: Iiche Verführung aus. VersuenCe(-ihil nachzuahmen, so wird er in eine widerstreitende Bewegung hineingezogen - gleichviel, ob sie die Gestalt einer nach innen gewandten Reflexion oder einer Abkehr hat, ob sie eher Kierkegaard oder Hölderlin folgt. Er wird zum Adressaten einer "negativen Botschaft", einer Botschaft ohne "materieHeUbertragunQ'\ denn in Tausend PlaSelteaus wird' GelelirsaITlkelfnu':-aufgeböte"ri-:-um" ---,,--_.... ,<._--_.. . ----_.---,_.~-
--~---,-~.-".----.-._-,:-
am untern"
...-.,...,-"."'~~_.
1 Paris 1975, dt. Frankfurt/Main 1976 2 Paris 1977, dt. Berlin 1977 3 Paris 1977, dt. Frankfurt 1980
14
15
tenrand-.eilLWeite~§.
Rhizom anzulegen,eine Art "unterirdische
babyIQl}l~IJ1L'§Jt:>JjQ~h~X~l'LI~gt.Jl}g~[Tl_]~LlS.(;]D.g~glq!~J~L!s..
gas bibliographische Referential unterläuft und die überlieferte Territorial,{~fli;l=~§!JrJg~d~r,~1nt~llekt~aliti!L§g!iQgCIii:f.9res'ganz wesentlich zur Entfaltung eines Raumes für ein neues, unerhörtes Denken und Schreiben- bei. .. -.~-,--"--,,,--... ~. _d_ ··d" ,. Meine-AbsichTist hier, zu zeigen, daß eine Lektüre von Tausend Plateaus, die nicht nur verstreute Behauptungen herausklauben will, um ein vorab bestehendes Vorurteil zu bestätigen, und sich zugleich der Versuchung einer bloßen Lobrede widersetzt - auf diese Weise würde man Deleuze abermals in jene phi/osophia perennis einschreiben, die er gerade destruiert -, mit großer Genauigkeit den Elementen zu folgen hat, die dem Text seine Notwendigkeit und Strenge verleihen, etwa dem Motiv des Sockels, der Erde, des Plateaus usw., um ein - freilich nicht unwesentliches - Beispiel zu geben. Strenge bezeichnet den logischen, Notwendigkeit den organischen Charakter eines Denkens. Aber wie kann man eine solche Forderung geltend machen, wenn das Denken, dem man auf die Spur kommen will, in oder mit "zwei Köpfen" denkt? Wider Erwarten ist diese Schwierigkeit nicht ganz so groß. Wir sind weit von jener "sokratisch-platonischen Mauer" entfernt, wo eine Gestalt in die andere übergeht, so daß man zuletzt auf Hypothesen angewiesen ist, um Sokrates von Platon zu unterscheiden, oder Gefahr läuft, die Unterschiede überzubetonen und der Schüler zum Verräter wird und Platon zum zweiten Mal den Tod Sokrates' stirbt. 4 Nichts dergleichen in unserem Fall. Das Denken Guattaris trim sich mit dem von Deleuze, am Anfangihrer Begegnung 'Tfegt ein Rhizom. 5 Die 'wechseiseitige Ariregünifund Be'iäTcherÜniffötirte -sehlle'ßlich dazu, daß das Abenteuer einer-'zehnJahrigen"ZÜsammenarbeit' unvermeidlich w~rd.~:, ~hr,g,~!!.t .~1~~~f§~lIu[g:~~~~b~tf8:c.htjii:hen philosophi4 M. Vilhena, Le probleme de Socrate und Socrate et la legende platonicienne, Paris 1952. Vgl. dazu S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie (1841), dt. Frankfurt/Main 1976 5 Vgl. ein unveröffentlichtes Interview in Briefform (November 1981)
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schen Werks durch Deleuze voraus, niedergelegt vor allem aUße!.._i!!.~.~~itisc.!!~.~=-1ilil!.0~QRfije9eschiChtlichen Studien - in Qi1ter~.J1Ly!!.q ...'t!tL(}
:~~x~~:~~t~sc~~ie~i~~~iia~b~~~te~~~'5~~9JÖ~~~eX~~E~~h~-r~~;~
wird so zu einer unmittelbareren Auseinandersetzung mit dem "Konkreten" geführt, aus der es verwandelt, obschon in wiedererkennbarer Gestalt, hervorgeht. Es erscheint uns darum statthaft, bei passender Gelegenheit deutlich zu machen, welche Begriffe eher dem einen oder dem andern verdankt sind. 9 Nehmen wir den Titel beim Wort: Tausend Plateaus. Auf den ersten Blick erklärt er nichts, schlimmer noch, er scheint eine bloße Metapher zu sein, und dies obgleich die Autoren immer wieder betonen, daß die Metaphern durch eine Metamorphose, . nogr.aeine veritable Verwandlung zu ersetzen sind. In der M~ phie wird auf den Ausspruch Kafkas verwiesen: "Die Me' ern " sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzw 'feln läßt."10 Die Kohärenz des Texts verlangt also, daß "Plateau" nicht nur metaphorisch gemeint - es sei denn, man lege Nietzsches Begriff der Metapher zugrunde - oder als ein TrompeI'oeil verstanden wird. Das französische Wort plateau hat einen genauen geographischen, mechanischen und bühnentech- /. nisC?~~n_~ir:m:r:n§lD_:.sQr191iC~rÜ?@~~i(i1)1 ·Bl~~]~E"i~.C~Ine Co. ' -
6 Paris 1969, dt. München 1992 7 Paris 1969, dt Frankfurt/Main 1993 8 Vgl. die Bemerkung von M. Nadeau in La Quinzaine Litteraire, Nr. 265, Oktober 1977: "Mit Guattari: Aufgang einer neuen Sonne". Dieser Beitrag wurde wiederabgedruckt als Nachwort zur NeuaUflage von La revolution moleculaire, Paris 1980 9 Zur Klärung dieser Frage sind außer den Werken von Deleuze insbesondere Psychoanalyse et transversalite, Paris 1972dt, teilweise, Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt/M. 1976 und La revolution moleculaire, Paris 1977, von F. Guattari heranzuziehe 10 F. Kafka, Tagebücher 1910-1923, hrsg. v. M. Brod, FrankfurtlMain 1973, S. 343
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Hochebene oder Tafel, die sich durch Erosion oq~LAblage!UIlg bildet, eine Scheibe, durch die eine KJH>1!!J.!!19....Q.Qf.lr G'iQgsQ!Jmtung verzahntvyi~~_L..-~!!!~.. _~r_b~!ts-, .. W~r~.:._()..9~1_J~r~_~_~9bl'l~.,. Ob als Träger einer Schichtung oder Raumausfüllung, als Welle eines Differentials oder Getriebes, oder als ebener Sockel, auf dem Versatzstücke verschoben werden: stets bezeichnet der Ausdruck einen Prospekt, eine Kombinatorik von Flächen oder ,:'" Ebenen. Ein Plateau stellt die Sonderform einer Fläche, Ebene "e od~.Qt:>e~rf!~cl!e dar,Jn Sinn-,wie-derAusdrUckiri- der"Logik des Sinns verwendef wircCWir ·haben-däher-zü.~!i~g!iri-=-Wle ausgehend von d~I}'Lg~9metrischen !!~9!.i!t_Q~~s~~Il~J!~!.J;Je~ g!!fi deLE!~l~~.!!~.R~Qliget ~lJI{l[Q· . '!Y"!~_J~t~_il]~U~t>~ne?--'n~de_L.B.~l:lel wird ~ine EQ.elle als Inter!?_~~ tion oder Schnitt zweier Geraden definiert. Aber was ist ein Schnitt von Geraden? -Seit~öiiierenz'iindWiädiiihöjiini{'kreE,t das Denken v2nJ?~..!..euze um diese Fra~ Den Anlaß dazu gab ein Artikel des Altphilologen E. Laroche, der zu zeigen versuchte, daß die indogermanische Wurzel wnem- zwei ungleiche, zeitlich aufeinanderfolgende Bedeutungen aufweist: eine frühere, die "sich auf einer Oberfläche verteilen" meint und zu ; fr(omade führt, und eine später~, die "gemäß einer Regel teileh-Oder verteilen" besagt und' Nomos ergibt 11 Deleuze hat unablässig über diese Doppelung nachgedacht und das Problem, das in ihr enthalten ist, als Verhältnis von Strömungen thematisiert: ein Strom kann der Richtung des größten Gefälles folgen und zufällig und frei die andern Ströme, auf die er stößt, anschneiden, oder er kann sich eine Bahn schaffen und immer wieder in sein Strombett zurückkehren, wenn andere Ströme ihn abzulenken suchen. 12 Im ersten Fall bleibt die Richtung der Strömung der Natur überlassen und steht die Bahnung, der Einschnitt erst noch bevor (wir werden auf die Fragen zurückkommen, die in dieser Vorstellung enthalten sind), im zweiten Fall bildet sich ein System von Kanälen und Verteilun-
dem'·
11 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 60 12 J. Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Die Schrift und die Differenz (1967), dt Frankfurt/Main 1974, S.302 ff.
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gen heraus 13 ,vondenen man Karten anlegen kann. 14 Um zu verst'ehen: was eine Ebene ist, muß man also alle möglichen Verbindungen, Verästelungen und Überschneidungen von Linien in Erwägung ziehen, nicht um die Zahl der Beispiele unnötig zu vermehren, sondern um Begriffe oder Funktionen zu bilden. In Wahrheit gibt es keine jungfräuliche, unberührte Oberfläche, keine Ebene oder Fläche ohne Aufriß; solange keine Unie gezogen ist, ist das apeiron, die Vorstellung einer Unbestimmtheit ohne Bahnung oder Skansion, eines Meers oder Tartarus ohne peras, das Glatte in der Sprache von Tausend Plateaus (Kapitel 14), hochgradig überdeterminiert. Die Leinwand des Malers, schreibt Deleuze in Logique de la sensation 15, ist nicht die vielbeklagte leere, weiße Fläche, sondern enthält potentiell eine Polymorphie von Unien und Zügen, zu denen auch all die Stereotypien gehören, mit welchen die Mode und der Zeitgeist unser Sehen konditionieren. Schaffen heißt, diese parasitären Fusseln geistig ausschalten oder solange traktieren, bis die einzigartige, notwendige Linie hervortritt, die den künstlerischen Gedanken offenbart. Schaffen verlangt, daß das Jungfräuliche theoretisch in die Fülle des Zusammengebrachten umgewendet wird, daß man, nach der Art eines Gegen-Alexander, im Gewühle der Züge den Wert des Vereinfachenden entdeckt. 16 Schaffen heißt Knoten aufspüren und an die Fäden heranlangen, nicht den Knoten zer13 R. Ruyer untersucht recht eindrucksvoll die Bildung von solchen Kanälen im Zusammenhang seiner in La cybernetique et I'origine de /'information, Paris 1954, entwickelten Informationstheorie. 14 Obwohl von einem anderen Ansatz ausgehend, kommt M. Serres in der Untersuchung dieser ZWänge zu ähnlichen Ergebnissen. Er legt die Gleichverteilung eines Gases (Isotropie) zugrunde und zeigt, wie infolge von Anisotropie parallele Streifen oder Kerben entstehen. VgL M. Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrece, Paris 1977, und Kapitel 14 von Tausend Plateaus. 15 Paris 1981 16 Wie Nietzsehe in der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung im Hinblick auf Wagner glänzend formuliert. VgL F. Nietzsehe, Unzeitgemäße Betrachtungen (1867), in: Werke, Band 1, hrsg. v. K. Schlechta, München 1969, S. 381
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hauen. Nur so wird verständlich, daß die zugleich glatte und gekerbte, nomadische und normale, sich polymorph öffnende (das +Xa- des offenen Mundes) und laminare Strömungen freigebende Oberfläche (das +Xe- des Regens der Atome, wie Michel Serres in La naissance de la physique dans le texte de Lucrece darlegt) in Wirklichkeit ein Ort von Einschreibungen ist. Sie ist eine Matrix, die unablässig den Übergang regelt von der "Differentiation" (schon in Differenz und Wiederholung wird von der Virtualität gesagt, sie sei "real ohne aktuell und ideal ohne abstrakt zu sein") zur "Differenzierung", dem Eintritt des Realen, wo die Filigrane des Möglichen fettgedruckt werden. 17 Heißt das, daß die Oberfläche als ein abstraktes Verhältnis zu verstehen ist, wie die Notation von Deleuze suggeriert? Im Gegenteil, in Wirklichkeit ist nichts konkreter als eine Oberfläche, man denke nur an das Beispiel des Eis. Vorgeblich einfach und homogen, weist seine Oberfläche Tausende von Gradienten eines "organisierenden Dynamismus"18 auf, Ebenen, Schnitte, Drehungen und unwahrscheinliche Wölbungen. Ohne sie könnte die Ontogenese nie mit solcher Leichtigkeit und Intensität vonstatten gehen. Im Körper des Eis ist das Rätsel der Konstitution beschlossen, er bezeichnet den status nascendi. Im allgemeinen aber sind wir durch die festgestellten Formen und den 17 Vgl. dazu das 5. Kapitel (Asymmetrische Synthese des Sinnlichen) von Differenz und Wiederholung" a.a.O., und zum Verhältnis von intensiver und differentieller Quantität insbesondere S. 264. "Differentiation" und .Differenzierung" werden von Deleuze als zwei aufeinander irreduzible Weisen der Differenz eingeführt, deren Verhältnis oder Interaktion den Gegenstand konstituiert. In Anlehung an die Notation der Phonologie schreibt Deleuze dieses Verhältnis von frz. differenitiation und frz. differenciation mitunter auch als c - . Vgl. Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 265 und 308 ff. [A.d.Ü.] t
18 Vgl. A. Dalcq, L'oeuf et son dynamisme organisateur, Paris 1941. Das Buch wird in Differenz und Wiederholung (S. 317) und abermals in Tausend Plateaus (S. 211) zitiert. Das Ei stellt eine Variation der Differenz in allen ihren Formen dar. 20
"schönen Schein" (deren Macht in den Anfängen der Philosophie nicht in solchem Maße befestigt war und mit Nietzsche und Heidegger abermals zu schwinden beginnt) so verblendet, daß wir den Primat der bildenden Kräfte, des Werdens und der Metamorphose des Eis, des "Quasisubjekts", der "Larve", die unbemerkt in uns fortlebt, gänzlich vergessen. Seit Anti-Ödipus macht dieses Thema eine Verwandlung durch - im Sinne eines Übergangs zu einem Über- oder lebendigen Begriff wie bei Nietzsche - und taucht unter dem Namen "organloser Körpers" (oK) auf. So wird das diesbezügliche Kapitel von Tausend Plateaus: "Wie scham man sich einen organlosen Körper?" (S. 205) bezeichnenderweise durch das Ei der Dogons illustriert. 19 "Man sagt: was ist der oK - aber man ist bereits auf ihm, man kriecht wie Ungeziefer, tastet wie ein Blinder oder rennt durch die Gegend wie ein Verrückter, wie ein Reisender in der Wüste oder ein Nomade in der Steppe." (S. 206) Man kann also vom konstituierten Körper, der festen Form des Körperbilds, aus den Organismus in einer Art epoche Zug um Zug "außer Kraft setzen" und sich einen organlosen Körper schaffen. Nicht von ungefähr sind die Vorbehalte und "Widerstände" gegen den Text - das Wort in der (schizo)analytischen Bedeutung verstanden - an keiner Stelle so mächtig wie hier, ein Zeichen dafür, daß er ins Schwarze trifft. Je mehr er sich seinem geheimen Zentrum nähert, desto mehr werden seine Begriffe vernebelt, banalisiert und mißverstanden. Aber die Klinik zeigt, daß im Körper des Paranoikers, Hypochonders, Schizophrenen oder Masochisten eine solche Tendenz zu einer idealen Verschweißung, zur "Rundung des Eis" besteht, wie sie H!Jmpty-Dumpty in der Logik des Sinns ankündigt. Auch die Literatur kennt diese Tendenz, man den19 Die Illustrationen, die den Kapiteln von Tausend Plateaus vorangestellt sind, verdienten eine eindringliche Analyse. Sie stellen ähnlich wie die Bildtafeln in Anti-Ödipus und vor allem die .Den-Briefzur-Post-bring-Maschine" (S. 4) eher Paradigmen als ikonographische Beispiele dar und transportieren ein Maximum an Sinn. Ähnliche BeZiehungen bestehen zwischen dem Text von R. Roussel und den nur scheinbar naiven, in Wirklichkeit höchst aufschlußreichen Illustrationen von Henri A. Zoo
21
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ke an den progressiven Verlust der Differenzierung und der Beweglichkeit des Körpers bei Beckett (die im Namenlosen eine äußerste Grenze erreicht) oder an die Bemerkung Artauds: "Es gibt nichts Nutzloseres als ein Organ."20 Umgekehrt kann man vom organlosen Körper aus verfolgen, wie sich die Glieder differenzieren und der Körper festgestellt wird. In beiden Fällen bedeutet die Annulierung der Norm, daß zu der sie begründenden Instanz: zum Nomaden zurückgegangen wird. Die familiale wird durch eine präparentale Urszene ersetzt, die ödipal nur unter der Bedingung genannt werden kann, daß das Wort im Sinne von Levi-Strauss verstanden wird, d.h. als die ungelöste Frage einer maternalen oder chtonischen Geburt, als Option für oder gegen Verwandschaftsverhältnisse. Die Urszene oder experientia princeps dieses neuen Ödipus, der zugleich ein Anti-Ödipus ist, dieses Menschenungeheuers, das zu allem fähig ist, zu Lenzens "Irrgang" durchs Gebirge ebenso wie zum "Umschlag" auf der und als Einschreibeoberfläche 21 , konstituiert ein Modell der Intelligibilität des Realen in statu nascendi und zugleich ein Modul der Maschinerie des Lebenden selbst. Abgang der Psychoanalyse, die die Phantasmen nur in klingende Münze umsetzt, statt sie zu destruieren, und nicht wirklich zu jenem Nullpunkt vorstößt, der einzig den Boden für eine Aekonstruktion abgeben kann. Offenbar wird hier vom Blickwinkel der Philosophie aus gedacht und geschrieben, was einerseits Sicherheit gewährt, andererseits aber auch Gefahren heraufbeschwört. Der Wunsch nach dem zerstückelten oder verschweißten Körper ist so mächtig, daß mitunter improvisiert und sozusagen mit fliegenden Händen geschrieben werden muß, damit der Text nicht entgleist und a.a.O., S. 206 (Artaud-Übersetzung geändert) 21 An dieser Stelle kreuzt sich die Problematik von Deleuze ohne Zweifel mit der physis Heideggers und der Vorsokratiker. Heidegger hat gr. bole - der Ausdruck benennt die eigentümliche Bewegtheit der physis - mit Umschlag übersetzt. Vgl. M. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der physis (1939), in: Wegmarken, FrankfurtlMain 1967, S. 237 ff. Auf diese Affinität hin angesprochen, meinte Deleuze, daß physis in seinem Werk eine zwar nicht unwesentliche, aber - ähnlich wie andere Schlüsselbegriffe - eher implizite Rolle spiele. 20 Tausend Plateaus,
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der Umschlag nicht zum unfreiwilligen Abstieg ins Inferno der Drogenabhängigkeit gerät, zu einer "ungezügelten Entschichtung", einer Verblendung durch Thanatos, zum Sieg der sich selbst attackierenden Kriegsmaschine. Auch kann man in einem Jahrhundert, in dem der Kampf gegen alles der Metaphysik Verdächtige gleichsam zu einer Gewohnheit wurde, nicht gänzlich den Gedanken abweisen, daß in dem Verlangen nach einem organlosen Körper sich abermals die Suche nach einer transzendenten Einheit des eigenen Körpers verbergen könnte, eine Suche, die so unterschiedliche Erfahrungen wie die einer Mary Barnes oder eines Mezz Mezzrow miteinander verbindet. 22 Haben wir es, mit anderen Worten, nicht abermals mit dem phi-Iosophischen Wunsch zu tun,' zu einer Art Grund, einem uner-schütterlichen Boden oder einem "radikalen Anfang" (Husserl) zurückzukehren? Einem Wunsch, der umso diabolischer ist, als er, sozusagen "um das Konto auszugleichen", eine Annullie-rung vollzieht, die negativ ist, wenn man ihr vorhält, positiv zu sein, und positiv, wenn man sie des Gegenteils bezichtigt, und der sich, im Namen einer leeren Mitte, im voraus sowohl der Heidegger'schen Kritik des Satzes vom Grund als auch der Kritik des Freud'schen Todestriebs entzieht?23 Notwendigkeit und Strenge implizieren, daß Deleuze derartige Einwände vorweggenommen hat, nicht zuletzt darum, weil der Begriff einer Oberfläche, die die Ströme, die sie ihrerseits kon22 M. Barnes ,Meine Reise durch den Wahnsinn. Aufgezeichnet von Mary Barnes und kommentiert von ihrem Psychiater Joseph Berke,
FrankfurtIM. 1983 . M. Mezzrow, La ragre du vivre, Paris 1959. 23 Zum Begriff des meson bzw. der leeren Mitte vgl. die Untersuchungen von J.-P. Verant Mythe et pensee chez les Gracs, Paris 1990, 8.238 ff (.Espace et organisation politique en Grece ancienne") und M. Detienne, Les Maftres de verii8 dans la Grece archaique, Paris 1973 (.Le proces da laicisation"), Zum .Radikalismus des anfangenden Philosophen", den Husserl im .cartesianischen Umsturz" und in der .Zweckidee einer absoluten Begründung der Wissensct:Jaft" verwirklicht sieht, vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen (1929), Den Haag 1950, passim.
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stituieren, trägt, schon in den früheren Schriften erarbeitet worden ist. Gegeben sei also eine Ebene oder ein Plan, oder genauer - denn es gibt keine Ebene, die gänzlich unmarkiert ~äre, es sei denn, man berufe sich, entgegen der Warnung Bergsons, auf die Negation oder eine Art "indirekter Ausstreichung" -, eirl_E:n~emble von Kräften, Trieben, Wünschen oder Strömen, die Bahnungen brechen und, indem sie ihrer präferentiellen Richtung folgen, da, wo zunächst nur ein idealer, isotropischer Raum bestand, eine reale Oberfläche trassieren. Die Kräfte affizieren einander in ihrer aleatorischen Bewegung und produzieren in dieser Ko-Tangenz (Kontingenz) erste Konfigurationen oder archaische Komplexe. Es ist darum nicht überraschend, wenn man in Tausend Plateaus unablässig auf das Thema des Nomadismus stößt, auf eine "Abhandlung über Nomadologie" (die eine Parodie auf die Monadologie darstellt, ähnlich wie eine berühmte Genealogie durch eine Geologie der Moral ersetzt wird, in der neue, höchst ungewöhnliche Denkweisen erprobt werden und Humor und bitterer Ernst, wie bei Kafka, einander die Waage halten, Kapitel 12 und 3) oder auf eine Abhandlung über "Linien, Meridiane, geodätische Linien, Wendekreise, Zeitzonen" (S. 276), die uns durchqueren und sich zu Systemen zusammenschließen (Kapitel 8). In der Begegnung der Wunschströme werden Synthesen, oder wie Deleuze auch sagt, einfache Maschinen produziert. Zu beachten ist hierbei, daß es der Wunsch selbst ist, der maschinelle Gefüge produziert. Maschinell - die mechane der Griechen - hat nichts mit mechanisch zu tun, und Boutang irrt, wenn er da!) <3~g~n!eil b~l1auptet.24 Es sind dieselben Maschinen, mit welchen die Fabrik des Unbewußten ausgerüstet ist und welche die für das Leben notwendigen Energien liefern 24 Vgl. die Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen in Anti6dipus, a.a.O., S. 497 und Boutang, Apocalypse du desir, Paris 1978
25 .An die Stelle des Unbewußten als Fabrik trat das antike Theater, an die Stelle der Produktionseinheiten des Unbewußten trat die Repräsentation, an die Stelle des produktiven Unbewußten trat ein solches, das sich nur mehr ausdrücken konnte." Anti-Odipus, a.a.O., S.33
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und erhalten. 25 Sobald ein Strom von anderen Strömen geschnitten wird, werden Ableitungen, Konjunktionen und Vereinnahmungen möglich. Nähert man sich dieser KontaktsteIle, so stößt man auf das mathematische Problem des Differentials: wenn dx gegen 0 strebt, streben Gerade und Kurve gegen den "Tangentialpunkt", wo die Gerade zur Kurve wird. Diese Tangentialpunkte sind über den organlosen Körper verstreut und bilden Netzwerke, in denen sich der Produktionsprozeß des Wunsches nicht erschöpft, sondern aus denen er neue Energien schöpft und sich potentialisiert: Kopplung von Brust und Mund, von Magen und Mund... Von dieser Konnexionssynthese kann unterschiedlich Gebrauch gemacht werden: man kann sie immanent - indem die Kopplungspunkte der Serie einfach nur verbunden werden, ohne daß eine organische Summe fixiert wird - oder transzendent - wenn die Serie festgestellt wird einsetzen. Die erste Synthese stammelt so fortwährend ihr "und... und ... und dann". Sie stellt ein genaues Äquivalent der ersten Bedeutung von "nem diu. (Anti-Ödipus, S. 21, 160) Die zweite Synthese ist disjunktiv und illustriert die zweite Bedeutung von *nem-: teilen, ver- und umverteilen. Die Ströme werden nunmehr gebunden und vereinnahmt. Im Fall des immanenten Gebrauchs ist diese Disjunktion positiv: man verbindet ein menschliches mit einem animalischen, ein männliches mit einem weiblichen Element. Der transzendente Gebrauch dagegen ist exklusiv: an die Stelle de!;> "sei es, daß ... sei es, daß" tritt ein "entweder... oder", das selektiv Begegnungen ausschließt und Versuche abtreibt, bestimmte Maschinentypen untersagt und Möglichkeiten opfert. (AntiÖdipus, S. 38) In der dritten, der konjunktiven oder konsumativen Synthese, wird aus dem Vorangegangenen Bilanz gezogen: GenUß, Mehrwert, "Einkunft", würde Lyotard sagen. In ihrem immanenten Gebrauch kommt die naive Freude angesichts einer unerwarteten, erfüllenden Begegnung zum Ausdruck, die Verwunderung wie in dem "das war es also" oder der Liebe zwischen Daphnis und Chloe. Der transzendente Gebrauch dagegen konfisziert den Genuß zugunsten des Sozialen, der großen Signifikanten und des Phantasmas der ödipalen
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Triangulation, wie in dem "Ich war es" des Ödipus oder dem Vorwurf "Du und dein schmutziges kleines Geheimnis". Die ganze Anstrengung des Anti-Ödipus ging darauf, die Schuldgefühle wegzuschaffen, die durch den transzendenten Gebrauch der dritten Synthese produziert werden. Im Anti-Ödipus wurden Kriegsmaschinen gegen die Psychoanalyse errichtet. In Tausend Plateaus werden aus diesem Krieg die Konsequenzen gezogen und eine neue Konstruktion gewagt - ähnlich wie die Überschrift des 7. Kapitels: "Das Jahr Null - Erschaffung des Gesichts" den Titel von Rossellinis Film: .Deutschland im Jahre Null" aufnimmt und weiterführt. Ein Plateau stein also eine immanente Synthese dar (in Proust und die Zeichen2 6 war von einem höchst empfindlichen .Spinnennetz": dem Netz des Schriftstellers die Rede). Als solche ist es zunächst Verkopplung zweier Ströme, energetische Stromentnahme, durch die die Potenz der beiden Kräfte gesteigert wird, (spinozistisches) Bewußtsein des Mehr-Seins im Genuß. Aber das wurde schon in Differenz und Wiederholung und in Anti-Ödipus gesagt. 27 In Tausend Plateaus jedoch wird es in einem veränderten, durchweg positiven und heiteren Ton dargetan und um eine Theorie der Linien und Zeichensysteme und eine Theorie der Plateaus ergänzt. Die Linientheorie wird im 8. Kapitel ("Drei Novellen oder 'Was ist passiert?"') vorgetragen. Im Begriff der Spaltungslinien und der Linien geschmeidiger Segmentarität werden die immanenten konnektiven und disjunktiven Synthesen wiederaufgenommen, während die Schnittlinien und Linien harter Segmentarität der transzendenten disjunktive Synthese entsprechen. Die Bruchlinien sind im Grunde nichts anderes als die schon aus dem AntiÖdipus bekannten "Fluchtlinien". Aber die Zäsuren sind so verschoben und umverteilt worden, daß alte Polemiken in den Hintergrund treten und nunmehr all das herausgearbeitet wird, 26 Paris 1964, dt. Berlin 1992 27 A nti-Odipus, a.a.O., S. 21, 47-53, 68, 93; Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 60, 102, 109, 131, 145, 151; Tausend Plateaus, a.a.O., S. 185, 703-706.
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was Beweglichkeit und Kreativität begünstigt. Aber wenn man so von der Hypothese ausgeht, daß der Gefüge und Maschinen produzierende Wunsch zwischen der Scylla der Stromunbestimmtheit - auf der sein schier unbegrenztes Verwandlungsvermögen und die Fruchtbarkeit seiner Konnexionen beruhen, die verhindern, daß Personen und Körper sich strukturell stabilisieren - und der Charybdis der rigiden Stromeinschreibung - die das ganze System in den Tod stürzen läßt - hin und her pendelt, stellt sich die Frage, welcher Spielraum dann noch für den polymetis bestehen bleibt, um im Rhythmus eines solchen sich ständig verschiebenden Fließgleichgewichts fortzutreiben. 28 Die Theorie der Plateaus, die ausdrücklich den Ertrag der Synthesen berücksichtigt, ist, so scheint uns, in der Lage, die Richtung einer Antwort auf diese Frage· anzuzeigen. Zunächst: Warum haben wir auf der Ebene des Plateaus eine Differentialität am~usetzen, die nicht mehr von makroskopischenEinheiten wie Körpern oder. Personen, sondern von p~unktuellen seriellen uEleme!ltt3fJ =a_bhäng(jergestafC aal3~ie BeZiehungen der Körper ihrerseits singuläre Begegnungen darstellen und. einer Mikrologie unterliegen? Abgesehen von Guatfiujs Projekt einer politischen Mikrologieenthält vor allem ein kurzer, 1973 erschienener Text von Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus? 29 wichtige Hinweise zum Verständnis des Durchbruchs, der mit dieser Verschiebung erzielt wurde. 30 Der linguistische und ethnologische Strukturalismus lehrte zum Beispiel, daß der Sinn eines Satzes sich aus der Überlagerung von paradigmatischer Achse (der Serie der Substantive: Hund, Katze und der Verben bel/en, kratzen usw.) und syntagmatischer Achse ergibt und das Syntagma 28
Majakowski und die Oktoberrevolution. Zum Rhythmus vgl. E. Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (1966), dt. München 1974, S. 363ff und M. Heidegger, Das Wort (1958) in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 217 ff. 29 dt. in Geschichte der Philosophie, Band 8, hrsg. v. F. Chätelet, Hamburg 1975 ,S.2691. Als Einzelausgabe erschienen Berlin 1992. 30 Wir verweisen auf diesen Text, obwohl ihn Deleuze inzwischen für überholt hält.
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Hund bellt, Katze kratzt als Konnexion der Serie der Substantiva und der Serie der Verben verstanden werden kann. Ähnlich ergibt sich der Sinn des Mythos aus einer Überkreuzung von Serien: "Ödipus heiratet seine Mutter" und "Die Spartaner vernichten die Drachen", wobei der Akzent auf der Verbindung von Serien - wie im Fall der Metapher - oder auf den Verhältnissen, die innerhalb einer Serie walten, liegen kann - wie im Fall der Metonymie. Kann man diese Prinzipen der Serialität, der seriellen Differentialität und der inter- und infraseriellen Beziehungen, die die Konstitution von Elementen (Phonemen, Mythemen, Philosophemen usw.) regeln und dem Diskurs oder der Wissenschaft vom Diskurs zugrundeliegen, auch auf das Leben selbst anwenden? In der Tat, es genügt, daß man zwei Serien nimmt, die zwei Körper repräsentieren und ein Element wie Mund zugleich "essen" und "sprechen" bedeutet. Deleuze hat in Logik des Sinns anhand der Kofferwörter von Lewis Caroll und der Anspielungen von Artaud die Bildung solcher Serien vorgeführt. Ihre Elemente sind Singularitäten, Haecceitates, glänzende Punkte - Namen, die alles, was blinkt und den Wunsch entzündet, bezeichnen. Die Metonymie fungiert als Besetzungsübertragung von Sinn zu Sinn, von einem zum andern Organ innerhalb der Körperserie, während die Metapher Qie Begegnung zweier Körper repräsentiert. Folgt man B4ta,Hle, der sagte, man wisse nicht, was Schwimmen heißt, un~""Deleuze, der ganz analog den Ausspruch Spinozas "Man weiß nicht, was ein Körper vermag" zitiert, so ist die Begegnung zweier Körper in doppeltem Sinn ein Rätsel, nicht nur auf der metaphorischen - Ebene des Diskurses, sondern auch - infolge ihrer fortwährenden Metamorphose - auf der Ebene der Körper, ihrer oberflächlichen Tiefe und der Mannigfaltigkeit ihrer glänzenden Punkte. Das Spiel von Metapher und Metamorphose deutet an, daß man in die "Physik" und in das Leben selbst eintritt. Entzückung desjenigen, der wie Baudelaire unerwartet einer Vorübergehenden begegnet. Der organlose Körper ist eine solche Entgrenzung des Individuums in Ansehung seiner Sinne und Organe, deren Ort und Funktion lange Zeit für end-
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gültig erachtet wurde. Er bezeichnet den Versuch, "die feste Abgegrenztheit der menschlichen Körper" aufzulösen, an der Kafka irre ward. 31 Vielleicht wird so deutlicher, was mit Entgrenzung gemeint ist: denn nur dann, wenn man nicht weiß, was ein Körper vermag, wenn man nicht weiß, wo und wer der "eigene" Körper ist, wenn man Sinne und Organe ein wenig flottieren läßt, so daß sie wie Schlittschuhläufer ungeregelt übers gefrorene Eis gleiten (was alles andere als gefahrlos ist: ein Dichter konnte hierbei den Tod finden 32), können die Elemente des Körpers und des Denkens einander wirklich begegnen und sich verwandeln. Eine solche Verwandlung ist wie bei Kafka in doppeltem Sinne hündisch", sie ist zugleich "kynisch" und Hund-Werden eines Körperteils, Verwandlung der Stimme, sich schämen, mit dem Schwanz wedeln... 33 . Und wie an Kafkas existentiellem Schwebezustand deutlich wird, wird man niemals gänzlich und an allen Stellen des Körpers Ratte, Sängerin, Dachs, Käfer, sondern immer nur an einer oder mehreren Zonen. Sie treten mit den Zonen eines anderen, fremden Organismus in Kontakt und "schwirren" mit ihnen zusammen los. Das Rätsel des "Werdens" und der "Werdensblöcke" löst sich damit auf. Die merkwürdige Verwandlung Challengers im 3. Kapitel ("Geologie der Moral") und das lange Kapitel über das Frau-, Kind- und Molekular-Werden (Kapitel 10, "Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden") sind als ein Kommentar zu dem "physischen" Bindeglied zu lesen, das die gelehrten Karten des Strukturalismus abpaust und parodiert. Fassen wir zusammen. Während sich der Strukturalismus mit den kognitiven Elementen von parallelen Serien befaßt, geht es dem "Poststrukturalismus" (freilich müßte eine solche Namenszuschreibung präzisiert werden, denn "post" bezeichent 31 F. Kafka, Tagebücher 1910-1923, a.a.O., S. 342, und ähnlich in der Erzählung Beschreibung eines Kampfes in: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, Frankfurt! Main 1969, S. 33 32 Georg Heym kam bekanntlich ums Leben, als er seinen Freund, der beim Schlittschuh laufen einbrach, retten wollte. 33 Das eindrucksvollste Beispiel dafür findet sich in In der Strafkolonie.
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nicht nur ein "später" im zeitlichen Sinn, sondern auch und vor allem die Ergänzung, Umkehrung und Anwendung des oder der Begriffe, deren Posterität oder Erbschaft in Frage steht) um die singulären Punkte von aneinander gekoppelten Serien und um ihr wechselseitige~ Werden, ihren "Werdensblock". Dieser Block bildet die kleinste Einheit einer Verwandlung. Er besteht aus einer Ebene, die durch die miteinander verkoppelten Serien definiert ist, und wenigstens zwei Blinkelementen mit variabler Ladung, die - wie vom Peitschenhieb des Kutschers, der in die Sturmnacht hinausfährt, mitgerissen - zusammenschießen und verschmelzen. In dieser Fusion entstehen, ohne daß man wüßte woraus, die tausend Plateaus, die wir suchen. Das einfachste und bekannteste - und insofern überdeterminierte - Plateau, das Modell, welches ein Gutteil der Ablagerungen der abendländischen Ontotheologie getragen hat, ist der Aufriß des Gesichts, "schwarze Löcher auf weißem Grund" (Kapitel 7, "Das Jahr Null - Die Erschaffung des Gesichts"). Souveräne Intensität und Beweglichkeit des Auges, "Augenblick", da die Welt begegnet, Blinzeln und Glanz von Kinderaugen. Ein Abenteuer beginnt mit dem Auge, das Sehen bildet den Begriff der kartographischen Urszene. Es ist kein Zufall, wenn Deleuze eines der schönsten Kapitel von BewegungsBild. Kino 1 34 der Großaufnahme widmet. Aber auch hier lauert die Transzendenz: mit der Verwandlung des Antlitzes Christi wird, gleichsam als "Einkunft", jener höhere Signifikant installiert, dessen "Entzauberung" einen Picasso, man denke an die Verzerrung der Gesichter in Les Demoiselles d'A vignon, unendliche Mühe kosten wird. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem "poststrukturalistischen" Übergang. Seit langem schon findet sich bei Deleuze der Gedanke, daß es im Grunde nur eine Linie gibt: das Zickzack des Blitzschlags, eine Linie, die untrennbar ist von einem "dUiik-efn -Vorstrom" oder "Vorboten" und in der das "Ungeheuerliche", das Unbestimmte und Unvorhersehbare, das Vielge-
staltige "andi~ Operfläche tritt".35 Ir!L Augenblick ges _Blitzschlags hat nichts mehr Sinn noch Stelle, verlieren die Formen ihre Begrenzung. Im Blitz geht es um die "absolute DeterritoriaIisierungsgeschwindigkeit", um eine Bewegung auf de-r Stelle, ~ine Reise außerhalb des Raums. Um das plötZliche Licht einer reinen Gewalt, die keinen Bildersturm anstiftet, sondern tiefer greift und, scheinbar unbewegt und unwahrnehmbar, unbekannte Erdstriche aufleuchten läßt. Nicht um das Licht des Wissens, sondern eher um den keraunos Heraklits -oder das Licht- Fichtes, um das Füllen des Tao, das wie ein Blitz über den Graben setzt, um den Strahl der griechischen Tragiker. Um einen shunt oder Kurzschluß, wie er bei Berührung von Polen mit entgegengesetzter Ladung entsteht: die beiden Enden entzünden sich und gehen ineinander über. (die Negation ist, wie Kant wohl wußte, nur ein umgekehrtes Vorzeichen). ~ Deleuze hat nie einen Hehl aus seiner Vorliebe für die "kleinen,i Autoren gemacht, die den großen Signifikanten den Rücken kehren und mit unerhörten Beschleunigungen experimentieren, wie Melville, Thoreau, Miller, Kerouac, D.H. Lawrence, Lenz, Schiller, Kleist, Artaud, Beckett, Gombrowicz. Sie alle erzählen von Verwandlungen und aberwitzigen Begegnungen. Die konnektive Stromverkopplung hat den Charakter einer "Zündung", "Leitung" oder "Übernahme". Aber Leitung (prise) ist fast nicht von verleiten (emprise) und Übernahme (captage) nur schwer von Vereinnahmung (capture) zu unterscheiden. Was ist eine Vereinnahmung, und wie haben wir Kapitel 12 ("Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine") und 13 (" Vereinnahmungsapparat") zu lesen? Vereinnahmung heißt, durch einen Köder ein Element, das dem Organismus äußerlich ist, so umfunktionieren, daß es als Organ des Organismus selbst fungiert. Es gibt zahlreiche solche miteinander interagierenden, räumlich verteilten "Organismen" wie Wespe und Orchidee, und je nachdem, welche Form und Farbe das von der Pflanze imitierte Organ hat, spricht man von FliegenWespen und Hummelorchideen. 36 Vereinnahmung impliZiert
34 Paris 1983, dt. Frankfurt/Main 1991 35 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 157 f.
36 Deleuze kommt darauf im Zusammenhang des Maschinenbuchs
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von Samuel Butlers Erewhon
zu sprechen.
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einen solchen "natürlichen" Gebrauch von Teleorganen und führt zur Bildung von frei beweglichen, wandernden und doch zugleich relativ stabilen Ensembles. Erfaßt die Vereinnahmung auch den Menschen, spricht man von Gefügen, wie im Fall der Kombination Pferd-Mensch-Steigbügel oder Pferd-MenschBogen, wo ungleichartige Elemente ruckartig zu einem Block zusammentreten. Durch die Erfindung von Gefügen kann ein Volk einen Zeitvorsprung erringen, seine Herrschaft befestigen oder andere Völker erobern, wie der Einfall der Hyksos in Ägypten zeigt. Gefüge sind Maschinenbegriffe und bilden den Sockel der Hominisation, wie Aischylos am Beispiel des Prometheus gezeigt hat. Aber eine solche fulgurante Fügung hat den Nachteil, daß sie zu lange vorhält und nur schwer aufgebrochen werden kann. Bekannlich überdauern tote technische oder intellektive Maschinen oftmals ihre "Zeit". Nur ein sorgfältiges, geduldiges Verständnis dieser Maschinen bietet die Gewähr, daß durchgebrannte oder fossile "Kriegsmaschinen", die nur mehr den Tod verbreiten, entwaffnet werden können, und ermöglicht, die Thanatokratie wirksam zu denunzieren. Eine kurze Überlegung genügt, um sich zu vergewissern, daß der Begriff der Maschine - entgegen einem verbreiteten Vorurteil, das oftmals zu Fehlinterpretationen geführt hat - nichts mit der' Welt der Technologie, die vielmehr nur eine Art Ableger ist, zu tun hat. Hegel hatte das erkannt und die Maschine als das einfache Negative oder das Selbst bezeichnet. Ein Arm, mit einem Stein bewaffnet wie in den Anfängen der Menschheit, ein Bogenschütze, ein Ritter in Rüstung, ein Maurer auf einem Gerüst oder ein Esel am Schöpfrad sind nicht weniger Maschi. nen als Autos oder Computer im Augenblick ihres Gebrauchs. Der Begriff der Maschine verweist immer auf Energie, Motor, Bewegung, Vehikel, Sollwert, Abweichung vom Sollwert, Vergleich, Rückkoppelung des Informationseingangs mit der Energiezufuhr (durch den Schieber). Würde man diesen Gedanken nur ein wenig weiter vorantreiben, so würde deutlich, daß es der technologischen Welt, die im Grunde nichts anderes als eine riesige "Ma~chinenmaschin~~,J~t, vor allem an einer Vergleichsinstanz, an einer Reflexion auf den Zweck und einer
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philosophischen Rückkoppelung dieses Vergleichs mit dem technischen Fortschritt mangelt. Eine solche "philosophische Mechanologie" könnte eine wesentliche Denkrichh.mg-' des kommenden Jahrhunderts ausmachen. Eine Ahnung davon liefert das 5. Kapitel von Tausend Plateaus, das unter dem Titel "Über einige Zeichenregime" in den komplexen Bereich der geschmischten Gefüge einführt. In diesen Gefügen stellen Energie und Motor zugleich Sollwert und Vergleich dar. Es handelt sich, wie im Fall des prüfenden Blicks des Herrschers oder der Paranoia des Eifersüchtigen, um ein Ensemble selbstbezüglicher, spiral- oder schneckenförmiger Bewegungen, in dem sämtliche Indikatoren durcheinandergewirbelt werden und in dem der Sollwert die Implosion des Systems bedeutet. Das Zentrum wird durch die Peripherie fortWährend verdoppelt und schlägt zugleich das Auge immer mehr in seinen Bann. Die Gefüge greifen dabei unwillkürlich auf Interpretationen, Vorstellungen, Bilder und Diskurse zurück und parodieren die reale und notwendige Rückkoppelung. Baudrillard hat diese Mechanisrnen wiederholt beschrieben und zuletzt auf einen abstrakten Code, der den Wunsch reglementiert, zurückgeführt. Aber ein Zeichenregime ist immer doppelköpfig: nach einer Richtung hin wird Entropie produziert, nach der andern brechen "Fluchlinien" (der Sündenbock) auf, in denen die Vereinnahmung wieder in bewegliche Kraftzentren zurückverwandelt wird. In Anti-Odipus wurden diese Prozesse am Beispiel der realen Maschinen, die an unsere Pforte pochen und sich anschicken, das gesamte System zu "mobilisieren", dargestellt. Wir rühren hier an den Nervenpunkt des Systems von Tausend Plateaus. Deleuze hat immer wieder dargetan - und die analytische Praxis Guattaris hat diese Annahme bestätigt -, daß die kl~~!)ische Theorie des Wunsches als Mangel, ob nun in Ge~a!tdes i:ros _als Sohn der Penia, des Negativen -bei Hegel oder des Buchstabens a bei Lacan, unhaltbar ist. Ihr liegt die Vorstellung eines negativen Wunsches zugrunde, eines Wunsches, der sich gegen sich selbst kehrt und das Individuum von innen her zerstört, ohne daß dafür ein anderer Grund als
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das bloße Schicksal ("Entsetzen der Ananke") angegeben werden könnte. Im Geiste Nietzsches geht Tausend Plateaus davon aus, daß der Wunsch nur als ungeteilte,. bejahende Kraft verstanden werden kann, die an sich selbst nichts Negatives hat. Das System der Negativität hat lediglich den Charakter einer "Wirkung", eines "Oberflächeneffekts" und muß als Folge der Verkehrung der Fabrik in ein Theater, der Wunschmaschine in einen Spiegelungswunsch, als Effekt der "Mimesis" und des Primats der Repräsentation in den Gefügen begriffen werden. Schon in Proust und die Zeichen und Differenz und Wiederholung wurde das Bild eines Denkens, welches das Reale vereinnahmt und zu seinem äußeren Organ herabsetzt, verworfen. 37 Aber wie haben wir dann die "Disparität" zu verstehen, den Blitzschlag, der einer Diagonalen oder Transversalen entlang asymmetrische Elemente durchläuft, zersetzt und verschweißt?38 Die Auflösung, die mit dem zerstückelten Körper Orpheus' oder Dionysos' geschieht, den Schnitt des Zuges, der eine Landschaft durchfährt und unwiderruflich in Segmente teilt? Ist nicht gerade dieses "dispars" das Negative selbst? Man kann das gesamte theoretische Werk von Deleuze als Versuch betrachten, dieser Frage eine bündige Antwort zu erteilen. Auch die Entscheidung, "mit zwei Händen und mit zweifachem Gehör" (Derrida) zu schreiben, läßt sich so verstehen, zumal sich die Arbeiten Guattaris ihrerseits in Richtung einer solchen Transversalität bewegen. Diese Antwort, die implizit in den Schriften von Deleuze enthalten ist, konstituiert gewissermaßen eine "vierte Synthese". Man könnte sie disparative Synthese nennen, nicht weil sie eine Disparition, ein reines Verschwinden anzeigt, sondern ein Disparat- oder UngleichWerden, einen Übergang. Denn der Blitzschlag, der die beiden Elemente verschweißt, verschwindet nur, um auf ein anderes Plateau überzuspringen und dort abermals Partikel zu verschmelzen. Die Regel, nach dem ein Rhizom angelegt wird,
lautet also: eine Ebene trassieren, auf dieser zwei Punktreihen eintragen und zwischen einigen Punkten der Reihen asymmetrische Verbindungen herstellen. Anschließend die Linie, die die Punkte verbindet, verlängern, bis sie eine andere Ebene erreicht und wie eine Fluchtlinie an den Punkten der neuen Reihe entlang fortläuft. Ein Rhizom ist ein solches unbestimmtes Netzwerk oder Labyrinth im Sinne Nietzsches, Modell des positiven, sich immer wieder erneuernden Wunsches. Wir verstehen nun, was die Autoren meinen, wenn sie von Deterritorialisierung, Intermezzo oder Fluchtlinie sprechen: die Ausdrükke spielen darauf an, daß alles, was geschieht, nicht an einem Ort, sondern zwischen zwei oder mehreren Orten geschieht, in einem Zwischenraum, wo die Dinge eingefädelt und aufgefädelt werden. 39 Die Diagonale oder Transversale "vergiBt" die Plateaus, auf denen sie entlang gleitet und ist einzig bestrebt, Plateaus oder Kopplungen abermals zu verkoppeln (vielleicht könnte man sich auch die Abfolge der Akte eines Lebens als eine solche "rhythmische Sequenz" vorstellen - jedenfalls hat die Philosophie diese Frage bislang nie gestellt). Kraft dieser Indifferenz mißachtet die Diagonale die Zeit, ist sie Vergessen der historischen Zeit, "absoluter Überflug" der Zeit. In Anti-Ödipus war der Schizo mit dem Vermögen· begabt, die Geschichte augenblicklich zu überfliegen, um sich singulären Punkten anzuverwandeln: Bonaparte, Jeanne d'Arc, Ludwig XIV. Tausend Plateaus ist ein solcher Überflug, der den historischen Zeitgang dereguliert: von 1947 bis zum Jahre Null, von 1923 bis 587 v. Chr., von 1227 bis 7000 vor unserer Zeitrechnung. Die Plateaus bezeichnen die Schwungbahn eines aleatorischen Pendels, sie legen histologische Schnitte in das Gewebe der Geschichte. Der Zufall hat im Rhizom keine andere Bedeutung als die einer Instanz, welche die Erwartung wohlgeordneten Funktionierens, wie sie einer phantasmatischen, aus Erinnerungsbildern rekonstruierten Geschichte zugrundeliegt, enttäuscht.
37 Vgl. Proust und die Zeichen, a.a.O., S.78ff. und Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 169 ff. 38 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 158
39 Man kann dieses Modell auch mathematisch ausdrücken, etwa in Gestalt einer Katastrophentheorie oder als geblätterte Riemannsche Fläche.
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Vor allem aber wird, sobald die Epochen in einer Achronie ohne Ursprung und Referenz zu flottieren beginnen, sichtbar, wie die Diagonalen funktionieren. Die Zurückweisung des Ursprungs kann vielerlei Formen annehmen: während sie bei Foucault eher den Charakter eines endlosen Schritts zurück hat und bei Derrida als differance oder Aufschub gedacht wird, als Leerraum zwischen Buchstaben, "arche" des Hymen und pharmakon, die die Erstmaligkeit verschieben und zu einer "zweitmaligen Erstmaligkeit" machen 40 , wird bei Deleuze der Ursprung darum unauffindbar, weil, wie Serres sagen würde, kein lineares, sondern ein tabulares Modell zugrunde gelegt wird. 41 Wie sollte man auch den Anfang eines Rhizoms ausfindig machen? Wenn die Geschichte rhizomatisch ist, wird sie autoreferentiell und genealogisch. Diesem "Perspektivismus" liegt die radikale Einsicht Nietzsches zugrunde. Man hüte sich also, jene Genealogie, die in Tausend Plateaus ("Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie", Kap.1, S.21) verurteilt wird: Aboreszenz und "Stammbaumlinearität", mit der nietzscheanischen Genealogie zu verwechseln, die Deleuze und Guattari geradezu aktiv praktizieren, wenn sie Maschinen, unterirdische Gänge und Spinnennetze anlegen und nicht dem Sinn, sondern Kraftlinien nachspüren. Rhizom ist die erste philosophische Untersuchung, die ausschließlich geographisch und kartographisch verfährt. Mag sein, daß diese Neuorientierung durch die Begegnung mit Kafka ausgelöst wurde. Kafkas Bemerkungen über Landkarten sind bekannt42 , desgleichen seine Vorliebe für Architektur und Kartographie, die zweifellos auf die allzu kurze
40 Wie Derrida in L 'arch{]ologie du frivole, Paris 1973 und 1990, treffend formuliert. 41 M. Serres, Hermes I, Kommunikation (1968), dt. Berlin 1991. Ähnlich das von G. Simondon in Du mode d'existence des objets techniques, Paris 1969, erstellte "Diagramm für Interaktionen in integrierten Umwelten". 42 "Mit dem Stundenplan hast Du mir Freude gemacht. Ich studiere ihn wie eine Landkarte. Wenigstens eine Sicherheit." (F. Kafka, Briefe an Milena , Frankfurt/M. 1966, S. 185)
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Freundschaft mit O. Pollack zurückgeht. Aber man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß die Geographie hier zu einer Physik wird, den Ausdruck im Sinn der (Meta)Physik Bergsons, oder besser: einer Geographie der physis verstanden. Bekanntlich hat Deleuze sich in seinem gesamten Werk um den Begriff des Lebens, um den Umschlag oder den elan des Lebens, um die Geburt bemüht. Die Geschichte wird in den Untergrund hineingetrieben und verschmilzt mit dem unmerklichen, grasüberwachsenen Sockel, mit der unbestimmten, wüstenartigen Erstreckung, in der sich das Wesentliche abspielt: Kopplungen und Konnexionen, welche die Vermögen der Körper und ihrer Gefüge steigern und zuletzt ihrerseits Wurzel und Ursprung werden. Naturgeschichte der Verwandlungen des Menschen. Der Mensch ist nicht in Grenzen eingeschlossen, er ist nicht ein für allemal festgestellt, er ist kein Wesen, das denkbar wäre ohne Rest. Er ist unendlich dem Möglichen geöffnet. "Nichts ungeheuerer, als der Mensch." (Chor der Antigonä, 325 ff.) Einesteils göttlich, andernteils animalisch, unbezähmbar, von Abgrund zu Abgrund schreitend, biegsam und unverderblich, leichtträumend, die Erfahrung des Meeres suchend und der Schiffahrt mächtig. Er bringt in sich die Synthese aller lebenden Organismen hervor, hebt sie über sie selbst hinaus und steigert die Potenz des Realen. Das ist mit Bewegung des Realen gemeint. Eine entgegengesetzte, phantasmatische und illusorische Bewegung jedoch blockiert alle diese Synthesen, unterwirft die Plateaus, begünstigt die Schwere der übercodierten Signifikanten (Wissen, Besitz, Gesicht, Name des Vaters, Gesetz, Gott). Die ..Metaphysik" von Tausend Plateaus möchte uns von diesem Phantasma befreien. Sie entwirft keine noumenale, unverifizierbare Totalität, sondern eine phänomenale Summe der bloßen Alltäglichkeit. Sie beschreibt die ..Physik" der tausend Ebenen, die Augenblick für Augenblick von den unter veränderlichen Sonnen blinkenden Facetten unserer Körper gebildet werden... AugenzvvinJ~Ul.'·.. ge§ ..B~alen. Es handelt sich weder um Anarchle-riochum Revolution,· auch nicht um die Glorifikation des gewaltsamen Wunsches der Kriegsmaschinen,
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die sich früher oder später gegen sich selbst wenden. J::s handelt sich nicht darum, die Schizophrenen, Drogenabhängigen oder Ausgeflippten zu rühmen, sondern vielmehr darum, .~; einen ungenierteren, freieren Blick auf die Lawine der Fakten zu werfen, auf Begegnungen und Einzelheiten, auf die Verschachtelungen des Realen, die uns, wie der Kosmos Gombro\A{iQz's, von allen Seiten her angehen und Tag für Tag modeln und umgestalten, wie hartlebig auch immer unser Glaube an die Identität unserer Person sein mag. Es handelt sich darum, dem Akt, der Gerechtigkeit des singulären Akts Platz zu machen, und auch hier weist Kafkas Beharren auf dem absoluten Primat des Akts, sein apodiktisches Prinzip einer schuldlosen Schuldhaftigkeit, den Weg. Es handelt sich darum, wie bei Parmenides und Spinoza zwischen dem Realen, das allseitig produziert und wirkt, und dem Phantasma zu unterscheiden, welches das Reale zwangshaft überwölbt und verkehrt, ohne freilich an dessen Prinzip, das Leben, heranzureichen. Wir selbst sind, flüstert das Buch uns zu, Geschwindigkeit und Metamorphose, trotz der Hartnäckigkeit, mit der unser Spiegelwesen fortbesteht. Aber einzig der äUßersten Redlichkeit des künstlers und Philosophen ist es gestattet, das zu sagen und zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Aller Ehrgeiz geht darauf, nicht- mit Begriffen, die "groß wie Hohlzähne" sind, sondern wie ein Mikrologe zu arbeiten, um wie ein minute philosopher - so der Spottname Berkeleys - "Einzelheiten aufzustöbern", wie Proust sagte. nMikrophysikalische Revolution" der Philosophie heißt, Revolutionierung des philosophischen ",", Blicks, der nicht länger den groBeri~'Ähnlichkeiten, sondern ..I.y)den winzigen Differenzen folgt. Nur auf diese Weise d.h. in äußerster" Nüchternheit, können die neuen Gesetz~ dieses Textes freigelegt werden. Wenn man im Hinblick auf Tausend Plateaus von Strenge und Notwendigkeit sprechen kann, so eben aufgrund dieser Gesetze. 43
In der sophokleischen Tragödie muß Odipus zuerst, obwohl und weil er sieht, dem Phantasma, der Täuschung erliegen, bevor er, in Ödipus auf Kolonnos, zu dem, der er in Wahrheit ist, wird. In den beiden Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie haben Deleuze und Guattari in gewisser Weise eine alternative Version der Tragödie geschrieben. Am Rande des Sch'auplatzes liegt ein Kadaver und erhebt sich. Es ist der nicht-analytische Odipus, der befreit ist von seiner Vaterfigur, von der Ahnenreihe der Mutter und des genos, der Ödipus eines andern Reichs, ein Gegen- oder Anti-Odipus. Abermals ein Held, doch nun mehr befreit von der Last des Ressentiments und des Schuldgefühls, ein Odipus, der in der Zerstreuung lebt, der Energien umwandelt und differenziert, der Zwischenspiel und immanent geworden ist. Obschon unter dem Banne der chtonischen und nicht-chtonischen, elterlichen Serien stehend, ist um den Hinkenden ein eigentümliches Leuchten: des Augenlichts verlustig und die Fäden seines Tuns entwirrend, zieht er eine Fluchtlinie nach Kolonnos aus. Dort übt er sich, um .die letzte und höchste Verwandlung zu bestehen,welgenossen wurden - und auf der anderen Seite theoretische Texte, die von den 68er Ereignissen inspiriert sind und offen ihr Abweichendes einbekennen, geschrieben. Dies behaupten nur jene, die nicht wirklich lesen. Die Abhandlungen zu Spinoza, Nietzsehe und Kant verraten eine originale philosophische Konzeption, und das Rhizom ist deren erweiterte Gestalt. Diese Konzeption wird auch bei wechselnder Thematik beibehalten, so daß etwa Differenz und Wiederholung und die beiden dem Film gewidmeten Schriften,Das Bewegungs-Bild(1983), dt. Frankfurt 1990, und Das Zeit-Bild(1985), dt. Frankfurt 1992, als zwar gänzlich verschiedene, aber streng homothetische Gegenstände betrachtet werden können. Man könnte unschwer zeigen, daß die Elemente dieser Konzeption in zusehends angemesseneren Formen und Begriffen dargestellt werden und sich gleichsam potentialisieren. Der Begriff der Oberfläche beispielsweise macht eine solche Verwandlung durch: er wird zu Plateau, Immanenzebene, Überraum
43 Tausend Plateaus muß grundsätzlich im Zusammenhang mit dem vorangehenden und nachfolgenden Werk von Deleuze gelesen werden. Deleuze hat nicht auf der einen Seite klare und anregende Bücher für den Gebrauch der Akademie - obschon auch sie ein Moment von Parodie der Orthodoxie enthalten und kundtun, daß verbotene Früchte
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che die von Schweigen erfüllte Wüste aufgespart hat: das Plateau, auf das wir nicht aufmerken, weil es uns trägt 44 .
Toni Negri Tausend Plateaus des neuen historischen Materialismus
1.
44 Die eigentümliche Wüste, die sich in Hölderlins Anmerkungen zum Oedipus und zur Antigonä auftut: die Wüste, in die Antigonä eintritt, in der sich das Schicksal der Danae und Niobe .kategorisch wender und durch die schon der Sophokleische des Landes vertriebene Ödipus irrt, weist eine Reihe von (näher auszuarbeitenden) Ähnlichkeiten mit Deleuze' Begriff des Plateaus auf, etwa in Ansehung der Vorstellung der Zeit als reiner Sukzession ohne Verinnerlichung in einem Gedächtnis.
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Mit großem Nachdruck wird in Sein und Zeit das Ende der Geisteswissenschaften* und ihrer spätaufklärerischen und hegelianischen Tradition verkündet, und zwar vor allem in dem Abschnitt, wo Heidegger den Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck kommentiert. Letzterem hält er zugute, "aus der Erkenntnis des Seinscharakters des menschlichen Daseins selbst... die klare Einsicht in den Grundcharakter der Geschichte als 'Virtualität'" gewonnen zu haben. "Das Interesse, Geschichtlichkeit zu verstehen, bringt sich", so Heidegger, "vor die AUfgabe einer Herausarbeitung der 'generischen Differenz' zwischen Ontischem und Historischem'''. An dieser Stelle jedoch gilt es, einen anderen Weg einzuschlagen: denn obwohl Yorck diesen Unterschied herausgearbeitet hat, kehrt er sich wieder von der Virtualität ab und wendet sich dem Mystischen zu. Vielmehr hat die Untersuchung, nachdem gezeigt wurde, daß die Frage nach der Geschichtlichkeit nicht die Sphäre des Ontischen betrim, sondern "eine ontologische Frage nach der Seinsverfassung des geschichtlich Seienden" ist, abermals auf Dilthey und seine wie immer auch verworrene Lebensphilosophie zurückzulenken. 1 Heidegger verfolgt mit dieser Bewegung zweierlei. Einerseits vertreibt er die Geisteswissenschaften* aus jenem zentralen metaphysischen Ort, der ihnen als Erbe der AUfklärung und Abkömmling des Hegelianismus zugefallen war. Andererseits vollendet er den kritischen Übergang, der sich in Diltheys Historizismus trotz der Beschränkungen, auf die Yorck hingewiesen hatte, zum ersten Mal abzeichnet will sagen den kritischen Übergang, der zur Erforschung des M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1979, S. 403 ff.
* Im Original deutsch 41
Sinns von Geschichte führt, d.h. von der Theorie der Objektivität zu der des Ausdrucks und von der erkenntniskritischen Betrachtung der Historiographie zu ihrer Verankerung inmitten des transzendentalen Schematismus. Geschichtlichkeit offenbart sich hierbei als eine ontologische Dimension, so daß der Geschichtsschreibung nurmehr der Charakter eines ontischen Residuums zukommt. 2 Bemerkenswert ist, daß Heidegger in diesem Zusammenhang - wie übrigens an mehreren Stellen seines Werks - ,,zweideutig" mit seiner "geschichtlichen" Kritik, die die "Seinsverfallenheit" der Moderne betont, bricht und in der Moderne auf paradoxale Weise eine andere Linie entdeckt: jene Linie, die von Machiavelli zu Spinoza und Nietzsehe führt und in der Geschichtlichkeit als absolute Virtualität und das Sein als eine Macht oder Potenz des Daseins verstanden wird. Die virtus Machiavellis hat hier ihren Ort, desgleichen Spinoza, der in dem Theologischpolitischen Traktat den Sinn der Geschichte als Verwirklichung eines Vermögens, der Einbildungskran, begrein. In der Verwirrung der ersten Erkenntnisgattung entstanden, löst die Einbildungskran sich schöpferisch in der zweiten Erkenntnisgattung auf und leitet zu der absoluten Potentialität der ethischen Konstruktion des Seins über. Es ist diese Pulsation des Seins als Eröffnung der Geschichtlichkeit, diese schlechthin immanente Bestimmung des Sinns der Geschichte, die bei Heidegger eine ,,zweideutige" Aufnahme und Auslegung findet. "Unzweideutig" dagegen ist die Art, wie Nietzsehe diesen Springpunkt, von dem aus zugleich aller Historismus destruiert und die Eröffnung der Geschichtlichkeit ermöglicht wird, behandelt: er erblickt in ihm das Zentrum einer Theorie des unzeitgemäßen, virtuellen, schöpferischen Seins. 3 Die Selbstüberwindung der eigenen Zeit wird hier in actu vollzogen': sie besteht darin, zur Geschichte ein solches Verhältnis zu gewinnen, daß sie zum Ort der Erlösung wird - nicht in der Adulation der Vergangenheit, sondern 2 A. Negri, Saggi sullo storicismo tedesco, Band 1, Mailand 1959, Kap. 1-3 3 G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1960), dt. München 1976
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in dem Bewußtsein, daß einzig die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunn den Stoff der Möglichkeit, die ontologische Entscheidungspotenz freigibt. Man gedenke des Zarathustra: "Die Vergangnen zu erlösen und alles 'Es war' umzuschaffen in ein 'So wollte ich es!' - das hieße mir erst Erlösung! Wille so heißt der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich euch, meine Freunde! Aber nun lernt dies hinzu: der Wille selber ist noch ein Gefangener. Wollen befreit: aber wie heißt das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt? 'Es war': also heißt des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal... Ohnmächtig gegen das, was getan ist - ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer. Nicht zurück kann der Wille wollen; daß er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit, Begierde - das ist des Willens einsamste Trübsal. Daß die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; 'das, was war' - so heißt der Stein, den er nicht wälzen kann."4 Der Sinn der Geschichtlichkeit besteht in diesem Wälzen. Aber kehren wir zu Dilthey zurück. Mehr als anderswo verscham sich in seinem Werk die Spannung zwischen der Arbeit historischer Forschung und der Notwendigkeit einer Veränderung der Frage des Sinns von Geschichtlichkeit Ausdruck. Das Verstehen von Geschichte beginnt in seinem Werk, den Boden für eine Konstitution freizulegen, den er - gewiß ein wenig grobschlächtig - bald Geschichtsphilosophie, bald verstehende Psychologie oder ähnlich nennt. Besessen vom Problem der geschichtlichen Subjektivität, hat Dilthey im Verlauf seiner Forschung sozusagen alle die möglichen Formen inventarisiert, in denen die Geschichtswissenschaft sich der Geschichtlichkeit öffnen kann. Von der positivistischen, obschon dem "Eunuchenturn" der geschichtlichen Objektivität gegenüber höchst kritisch gesonnenen Antrittsvorlesung bis zu der in Erlebnis und Dichtung ausgesprochenen Einsicht, daß "die Geschichte...der höchsten wissenschanlichen Vollendung, welche sich imstande zeigt, aus den zusammenwirkenden Ursachen einen gewissen Umkreis von Phänomenen zu erklären, schlechter4 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883), in: Werke, Band 2, hrsg. v. K. Schlechta, München 1969, S. 394
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dings nicht fähig (ist), auch nicht unter der Voraussetzung der größten Steigerung ihres wissenschaftlichen Charakters"S; von der kantianischen Bemühung der Einleitung in die Geisteswissenschaften, in der die Spannung zwischen der Behauptung des Ichs ("Nun gilt es, der Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr zu werden und, von ihr ausgehend, festzustellen, was Natur und Geschichte dieses inneren Lebens sind"6) und einer segmentierten, fraktalen und dlffusiven AUffassung des Ichs ("Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen, welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren"7) unverhüllt zum Austrag kommt, bis zu der Konstruktion geschichtlicher Typologien als dem Versuch, Allgemeines und Einzelnes methodisch übergreifend zu erfassen; von der Rückkehr zur Psychologie in den Ideen, die in der Absicht unternommen wurde, dem Geschichtssubjekt eine dynamische und produktive Konsistenz zu verleihen und ihm die Potenz des Erlebnisses* - als ein Gesamt von Vitalität und Konnexion, Ausdruck und objektiver Bestimmung· zuzuerkennen. bis hin zu den vitalistischen Stellungnahmen der Spätzeit, wo der pyschologische Kern sich der Ausdrucksfunktion erschließt und in eine Präsenz übergeht, die eine ethische Öffnung freigibt: stets werden die Geisteswissenschaften*, in welcher Form auch immer. als Krisis begriffen, führen die vielfältigen kritischen Übergänge auf das Problem einer Geschichtlichkeit, die freilich nicht näher bestimmt wird. Diese Unentschiedenheit Diltheys, sein Schwanken zwischen Psychologismus und Lebensphilosophie, sind als ebensoviele Versuche zu verstehen, über vorübergehend eingenommene philosophische Positionen immer wieder hinauszugehen. Sie erhellen die Intensität des ontologischen Übergangs, den er vollfOhrt, und geleiten an die Schwelle der Entdeckung des neuen Sinnes von Geschichtlichkelt8. 5 W. Dilthey, Erlebnis und Dichtung (1905), Leipzig 1929, S. 271 6 W. Dilthey, Einleitung In die Geisteswissenschaften (1883), In: Gesammelte Schriften, Band 1, leipzig 1922, S. 408 7 W. Dilthey, a.8.0., 5. 51 8 R. Aron, La philosophie cr/tique da I'h/stoire, Paris 1950
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Warum ist diese Suche Diltheys so wichtig? Weil sie einerseits nahe an die Folgerungen Heideggers heranführt und andererseits eine Vielzahl anderer möglicher Wege sichtbar werden läßt. Heideggers ontologische Entscheidung, den Sinn von Geschichtlichkeit als Virtualität zu begreifen, wird nur dann verständlich. wenn sie als Extrakt und Verfeinerung dieser Übergänge betrachtet wird. "Man muß unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen; man muß dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurückgeben; endlich muß man die Souveränität des Signifikanten aufheben."9 Auch das Programm Foucaults, wie etwa inOrdnung des Diskurses formuliert, verdankt sich einer solchen EngfOhrung und Kritik der Geschichtsschreibung und der GeisteSWissenschaften", der expressiven Spannung, die aufbricht, wenn, wie im Übergang von Dilthey zu Heidegger, Geschichte als Virtualität verstanden wird. Auch er hat, ähnlich wie Dilthey, in seiner wissenschaftlichen Erfahrung zahlreiche, mitunter zwiespältige Pfade beschritten. Von der frühen Untersuchung zu Binswanger bis zu den Arbeiten über Weizsäcker und die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Kants hat Foucault sämtliche Versuchungen einer abermaligen Behauptung des Ichs als einer moralischen, psychologischen oder biologischen Instanz gegenüber der historischen Objektivität erprobt - und zurückgewiesen 10 . Wenn er, insbesondere in den späten Arbeiten, endlich und endgültig das Thema der Geschichtlichkeit als "agencement" aufgreift, ist der Rahmen komplett: Geschichte ist Produktion von Subjektivität, ist Sorge um sich, ist unmittelbarer und direkter ontologischer Ausdruck. Ähnlich wie bei Dilthey, aber ungleich radikaler in der Durchführung, verdichten sich bei ihm die vorübergehenden psychologistischen, kulturalistischen und vitalistischen Versuche, das geschichtlich Reale zu begreifen, zu einem neuen Gesichtspunkt: zur Auffassung der Präsenz der Welt als Gewebe des Seins, das man durchlaufen muß und das in jedem Augenblick 9 M. Foucault, Die Ordnung des Dlskures (1971), dt. München 1974 5.35 10 A. Negrl, Macehina tempo, Mailand 1982, S. 70 ff.
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neu zu erschaffen ist. Auch Foucault vollführt den Übergang von der Geschichtstheorie zu einer fundamentalen Apperzeption der Geschichtlichkeit - freilich, nach Heidegger, d.h. nachdem das Niveau des historischen Bewußtseins im Rekurs auf Nietzsches neu definiert worden ist. Er hat auf diesem Weg, in einer Reihe von Schüben und Durchbrüchen, die analoge Probleme aufwerfen und analoge Diskurse provozieren, Dilthey gleichsam wiederaufgenommen und zuletzt an den Punkt geführt, wo Geschichtlichkeit zum Gegenstand einer Erfindung wird, an die Grenze, wo das geschichtliche Handeln zur einzigen Perspektive der Interpretation des Seins wird. Das Ende der Geisteswissenschaften" ist Erneuerung der Ontologie 11 Diesem "starken" Projekt war freilich im Feld des zeitgenössischen Denkens nicht gerade ein großer Erfolg beschieden. Etwas ganz anderes ist geschehen: gewiß, die Geisteswissenschaften" sind im Zuge der Bewegung, die von Nietzsehe zu Heidegger und von Dilthey zu Foucault geht, unwiderruflich destruiert worden, und ihr Kadaver ist unauffindbar. Aber zugleich wurden die kritische Erneuerung, die Erforschung der Geschichtlichkeit aus dem Blickwinkel der Konstitution und die Entdeckung der Potenz des Seins durch neue Disziplinen, neue Wissensverteilungen und Erfahrungsbegriffe neutralisiert und wieder zurückgenommen, im Umkreis eines philosophischen Klimas, das sich zusehends relativistischer und skeptischer gebärdet. Ein sanfter, eine Art Oberflächenvitalismus trat an die Stelle jenes anderen, mitunter strotzenden, stets aber dramatischen Vitalismus, der von der Historiographie zum Sein, das sich der Geschichtlichkeit öffnet, geführt hat. Nachdem Objektivismus und "Eunuchentum" der Historiographie gestürzt waren, nachdem man den Hegelianismus und mit ihm die Apologie der rohen Wirklichkeit und die Dialektik mit ihren Ausflüchten aufgegeben hatte, nachdem eine Perspektive "von unten" gewonnen wurde, die dem historischen 11 P. Macherey, Chroniques d'un dinosaure, in: Futur Anterieur, Nr. 9, 1992
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Subjekt ermöglicht, ontologische Gefüge anzulegen - nachdem all das geschehen war, wurde die Öffnung abermals auf die Dimensionen und Horizonte des Relativismus und Skeptizismus zurückgebogen. Die mannigfaltigen aufeinandef folgenden Schulen der Hermeneutik, die ausdrücklich die Erbschaft Diltheys und Foucault für sich in Anspruch nehmen, haben uns die Vergnügungen des "schwachen Denkens" beschert. Die Komplexität der Prozesse, die von den historischen Subjekten ausgehen, wird zum Vorwand genommen, das ontologische Gewicht ihrer Emergenz zu leugnen. Man entreißt die Bewegung der Konstitution der Totalität und gibt sie der Prekarität tmd Singularität anheim, die ihrerseits den Launen der Partikularität ausgeliefert ist. Man ging vom Ende des Historizismus aus, kam unmerklich, aber desto sicherer beim "Ende der Geschichte" an. Das "Eunuchenturn" der Objektivität, gegen das sich die Kritiker der Geisteswissenschaften" erhoben haben, feiert fröhliche Urständ: der Historizismus hat einmal mehr gewonnen, diesmal in Gestalt einer Enzyklopädie des Wissens fOr den Mediengebrauch. Das geschichtlich offene Sein wird Gespräch und gesprächig. Das Ende der Geisteswissenschaften" kulminiert im Triumph der Konversation. In der neuen Synthese von Erfahrung und Verstehen, als welche sich die "Postmoderne" darstellt, ist die Pervertierung der kritischen Lehren Diltheys und Heideggers durchaus sichtbar. Allein, für den großen Gadamer und für die kleinen Rortys und Vattimos öffnen sich Verstehen und Erfahrung nicht auf die Geschichtlichkeit, es sei denn, man verstehe darunter eine historische Bedingtheit, eine grundsätzliche Endlichkeit, die den subjektiven Gesichtspunkt der Konstitution nicht freigibt, sondern in der Zerstreuung der Ereignisse verebben läßt, in einem Sinnbedürfnis, das in sich selbst kreist, in einer pessimistischen und totalisierenden Auffassung des Seins, die sich religiös zu rechtfertigen sucht, aber ihren Grund nur in der Leere von Mystik oder Demokratie findet. An Dilthey feiert man die Zirkularität von Verstehen und Erfahrung, ohne zu bemerken, daß diese Zirkularität im Ausdruck aufbricht. Von Heidegger übernimmt man die Kritik der Empirie und des 47
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- allein ermogllcht, daß Dlltheys Auffassung von der expressiven, schöpferischen Geschichtlichkeit ihr Recht widerfährt. Diese durch ontologische Apperzeption gestählte Kritik des Ontischen, die den Ausgangspunkt der historischen Kritik darstellt, die Öffnung auf die Fruchtbarkeit der Erfahrung als Erfahrung der Geschichtlichkeit, erscheint uns dagegen gerade als das Wertvollste an Heidegger. Indes wird jener Heidegger, der bewußt Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen aufgreift und unbewußt den Spinozismus der Einbildungskraft wiederholt, von seinen postmodernen Adepten schlechterdings nicht zur Kenntnis genommen. Die Geschichte ist zu Ende, flößen sie uns ein. Die Geschichtlichkeit des Seins wird nicht als konstituierend begriffen, sondern gerinnt zu einer weinerlichen, melancholischen npietas". Die Entdeckung der Geschichtlichkeit wird vom Schauer des Endes der Geschichte erdrückt und liefert uns wehrlos einer epochalen Schranke aus.
2 Schwerlich läßt sich zu diesem epochalem Abschluß ein tieferer Gegensatz denken als Tausend Plateaus. Die Geisteswissenschaften werden darin abermals umgeschrieben und der Standpunkt der GeschichtJichkeit als ontologische und konstitutive Dimension erneuert, wobei '~ei$t" von Deleuze und Guattari freilich, der Tradition folgend,;· in der sie stehen, mit Gehirn übersetzt wird. Die TP sind im voraus gegen die Postmoderne und die Theorien der schwachen Hermeneutik gerichtet: sie gehen von einer Theorie des Ausdrucks, einer ontologischen Perspektive aus und bearbeiten mit diesem Werkzeug die Postmoderne, oder besser: sie entgrenzen und destruieren deren Struktur. Es ist ein starkes Denken, auch dann noch, wenn es sich den Schwächen der-Alltäglichkeit 48
zuwendet. Der Plan ist, das Geschaffene aus dem Blickwinkel seiner Erschaffung zu begreifen. Ein solches Programm ist alles andere ais idealistisch: die schöpferische Kraft ist ein materielles Rhizom, Maschine und Geist zugleich, Natur und Individuum, Singularität und Mannigfaltigkeit. Der Schauplatz ist die Geschichte: von 10 000 v. ehr. bis zur Gegenwart. Moderne und Postmoderne werden wiedergekäut und verdaut: ausgeschieden und abgeführt, dienen sie als kraftvoller Dünger für eine Hermeneutik der Zukunft. Liest man das Buch zehn Jahre nach seinem Erscheinen ein weiteres Mal, so beeindruckt mehr als alles andere das unglaubliche Vermögen, mit dem darin spätere Entwicklungen vorweggenommen sind. Informatik und Automation, Mediengesellschaft und kommunikative Interaktion, Innovationen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und wissenschaftlichen Technologie, Elektronik, Biologie, ÖkoIgie usw. werden nicht nur antizipiert, sondern als epistemologischer Horizont angesetzt, mehr noch: als ein in rasanter Beschleunigung befindliches Gewebe von Phänomenen. Die Oberfläche des Bilds, auf dem sich die Dramaturgie der Zukunft abspielt, ist ontologischer Natur - eine harte, irreduzible Oberfläche, die ontologisch und nicht transzendental, konstitutiv und nicht systematiSCh, schöpferisch und nicht liberal ist. Wir können hier wenigstens vier grundlegende Themen· von TP aufgreifen und durchnehmen. Das erste betriffl die Theorie des Ausdrucks und der agencements, das zweite die reseaux, das dritte die Nomadologie. Das vierte behandelt die ontologische Theorie der Oberfläche. Vier Punkte, vier Dimensionen, die die Konstitutionsarbeit der neuen Geisteswissenschaften zusammenfassen und den Boden beschreiben, auf dem diese sich als Produkte einer Öffnung der Möglichkeit, oder besser: der Potenz des Seins entwickeln können. a) Die Theorie des Ausdrucks und der agencements stellt die prima philosophia von Deleuze und Guattari dar. Die Psychoanalysekritik des A nti-Odipus hat dieses Kraftfeld freigelegt. Die Kraft des Ausdrucks ist ontologisch, schöpferisch und strukturiert. Das heißt, die Theorie der Singularität ist unmittelbar mit einer Definition des sich expandierenden Raums,
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mit Bergsons Bild einer offenen und zugleich strukturierten Bewegung verbunden. Die individuelle oder kollektive Singularität, die Bestimmung des Verhältnisses Akteur-Ereignis wird in Bewegung versetzt. Die Haecceitas, von Deleuze schon früh als entscheidender Problembegriff der Philosophiegeschichte herausgearbeitet, ist ursprünglich aktiviert und dehnt sich entlang der Dimensionen der Bewegung als Bündel von Wünschen oder maschinellen Elementen aus. Die Initialkraft ist subjektiv und konstruktiv, ist agencement, Gefüge. Unter diesem Terminus ist zu verstehen: Ausdruck plus Organisation, organisierter Ausdruck, organisierte Kraft, Ausdehnung und Bewegung. Sein und Geschichte werden als Produktion und Produkt von subjektiven Gefügen bzw. Verkettungen betrachtet. Die Welt wird von unten konstruiert und rekonstruiert. Die Geschichtlichkeit ist als Präsenz gegeben. In diesem Knotenpunkt konvergieren die metaphysische Bestimmung der Bewegung bzw. eine gute bergsonianische Phänomenologie des Raums, die Befreiung des analytischen Wunsches als allseitige, offene und singuläre Potentialität und eine - im Sinne Spinozas - ethische Auffassung der Singularität, die Deleuze so sehr gefällt. Der Gesamtrahmen ist, wenigstens auf den ersten Blick, animistisch, hylozoistisch und präsokratisch. Aber mit derselben Bewegung, mit der dieser Vitalismus affirmiert wird, wird er auch wieder umgestülpt: er ist keine Hülle des Realen, auch keine Weltanschauung; er bezeichnet nicht die unterschiedslose Kraft der Produktion des als Natur oder Geschichte begriffenen ~ Realen, sondern wird in allen seinen Formen in den Dienst der Produktion von Singularität, der Emergenz von Singularität gestellt. Die widersprüchliche, obschon konvergente Verflechtung der Forschungen Diltheys, Nietzsches und Heideggers findet hier ihre Auflösung. Wenn das Sein Geschichtlichkeit ist, kann die Ontologie an den Punkt der Produktion und das Moment des ursprünglichen Ausdrucks geführt werden, von wo aus sich Produktion und Ausdruck auf die Materialität der Moderne öffnen. Das Verhältnis Mensch-Maschine, das die Moderne kennzeichnet, wird Inhalt und Form des subjektiven agencements. Die Ma-
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schinen, die vom Kapitalismus konstruierte Realität, sind keine Phantasmen der Moderne, hinter denen das Leben unverwandt seinen Gang geht. Sie sind vielmehr die konkreten Formen, in denen sich das Leben organisiert, die Welt sich verwandelt, die materialen Verknüpfungen, in denen die Subjektivität sich produziert. "Ordo et connexio rerum idem est ac ordo et connexio idearum." Gleichwohl ist der Verhältnis Mensch-Maschine stets ein singuläres Ereignis, d.h. ein Ereignis, das im Durchgang durch die Materialität Subjektivität produziert. Die Konstruktion des Seins als universale Aufgabe wird so von der Basis des Gesamtprozesses aus, d.h. als Prozeß von Ereignissen und Singularitäten ins Auge gefaßt. Ein Ereignis ist Produktion von Körpern, historische Produktion des Inbegriffs der Körper und ihrer Beziehungen. Die atomistische Kosmogonie Spinozas wird im Lichte des Vitalismus der Geschichtlichkeit, den uns die Großen der Moderne gelehrt haben, neu interpretiert und zur Diskussion gestellt. Die Produktion von Körpern ist Produktion von Geschichtlichkeit, und Geschichtlichkeit ist Produktion von Körpern. Auf einer wichtigen Seite von TP fragen die Autoren: "Ist schließlich Spinozas Ethik nicht das große Buch Ober den organlosen Körper (oK)?"12 Der organlose Körper erweist sich als das absolute Immanenzfeld des Wunsches, als die der Geschichtlichkeit eigene Konsistenzebene. Die Welt hat eine Nul/matritze, solange der Konstitutionsprozeß der Subjektivität nicht aufgewiesen ist und die Untersuchung nicht der unbestimmten Spannung der Konstitution folgt. 13 b) Dem Rhythmus der Konstitution folgend erschließt sich uns eine weitere Dimension, die Theorie der Netzwerke oder reseaux. Nachdem in der Kraft des Wunsches und der maschinellen Öffnung der Produktionspunkt ausgemacht ist, gehen Deleuze-Guattari zur Analyse des Ausgedehnten, der Ausdehnung in actu und ihrer Bewegung über. Dieser Raum wird durch das Rhizom definiert. Das Rhizom ist eine Kraft, ein Phylum, die sich entlang einer unbezähmbaren Linie baum12 G. Deleuze/F. Guattari, Tausend Plateaus (1980), dt. Berlin 1992, S. 211 13 a.a.O., Kapitel 6
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artiger Differenzierungen öffnet, in einem Prozeß, in dem sich die Singularität immer weiter singularisiert. In diesem Reichtum der Produktion von Singularität stellt sich der Lebenszusammenhang als ein Ensemble von Beziehungen dar: Einheit und Mannigfaltigkeit, Konnexion und Heterogeneität, Abbrüche und Horizonte treten in einer sich fortwährend erneuernden Kartographie zusammen und bilden unablässig expandierende, nicht zentrierte Systeme. 14 Hier, wo die rhizomatischen Spannungen und mechanischen Gefüge sich als subjektive Aussagengefüge darstellen, ist der Raum einer Neuorganisation der Geisteswissenschaften: die konstitutiven Dynamiken gehen von der Physik des Rhizoms zu der sprachlichen Ordnung über, die für die Wissenschaften kennzeichnend ist. Die Oberfläche der Welt wird in sprachlichen Ordnungen organisiert, ohne daß sie dabei ihrer maschinellen Konsistenz, die auf der Ebene der Aussage erneuert wird, verlustig gingen. Es gibt also ein reseau oder Netzwerk der Geisteswissenschaften: die Rhizomatik verweist auf die Schizoanalyse, diese wiederum auf die Stratoanalyse und zuletzt auf eine Pragmatik und Mikropolitik. Wir waren schon bei der Darstellung des Grundverhältnisses auf die Beziehungen zwischen SchizoanaIyse und Rhizomatik gestoßen und brauchen hier nur einige Folgerungen nachtragen. Stratoanalyse bedeutet, daß die Wissenschaft in dem Systemhorizont situiert ist, der durch die baumartige Differenzierung des Rhizoms gebildet wird, und dessen. Konfliktualität entdeckt. System und Konflikt sind voneinander untrennbar. Wenn das System selber wie ein Baum differenziert ist, wird der Konflikt sich an den Stellen, wo es sich verästelt, entzünden: als ein Konflikt, den das System nicht absorbieren, vereinfachen oder reduzieren kann, da er die Regel darstellt, nach der sich die realen Netzwerke konstituieren, und insofern sich fortwährend reproduziert. Der Gesichtspunkt der Geschichtlichkeit ist nicht nur konstitutiv, sondern auch konfliktuell: es ist - wie bei Spinoza - der Krieg, der das Leben erzeugt. Die Netzwerke sind zwiespältige Öffnun-
gen und Verkettungen: sie öffnen sich, schließen sich, öffnen sich abermals und provozieren Konflikte. Jeder Punkt des maschinellen oder Aussagegefüges verlängert sich auf diese Weise, aufwärts und abwärts einer Konfliktregel folgend, in andere Gefüge und Netzwerke hinein. Wir sind so restlos in ein Ensemble von zeichenproduzierenden Systemen eingeschachtelt, und die Geisteswissenschaften haben von diesen Systemen und der fortwährenden Verwandlung, der sie unterliegen, Rechenschaft abzulegen. Auch die epistemologische Dimension ist ein Kriegshorizont. Die Segmentierung von Aussage und Ausdruck erfolgt kontinuierlich. Das Werden des Realen wie der Wissenschaft ist Resultat dieser Prozesse. Das Werden ist das innovative Ergebnis des Magmas des Ausdrucks, ist in gewisser Weise die Lösung des Kriegs und eben darum Aufriß neuer Konfliktszenarien. Die Rhizomatik verweist auf eine hobesianische Welt, deren Protagonisten freilich nicht die appropriierenden Individuen, sondern - Spinoza folgend - die produktiven, wünschenden Singularitäten sind, seien sie nun individueller oder kollektiver Natur. Die Geisteswissenschaften sind mithin Konfliktwissenschaften und werden von den Akteuren getragen, die am Konflikt teilnehmen und sich im Konflikt bilden: sie akzeptieren rückhaltlos das Terrain, das die Frage Nietzsches freigelegt hat. 1 5
14 a.a.O., Kapitel 1 und 2
15 a.a.O., Kapitel 5, 9 und 10
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c) Pragmatik und Mikropolitik werden als Nomadologie konstituiert. Der Horizont des Kriegs wird mithin von pragmatischen Instanzen aus anvisiert. Die geschichtliche Welt, die in einer Geologie der Aktion konstituiert ist, wird von einer regelrechten, kontinuierlichen, unerschöpflichen Genealogie der Moral bearbeitet. Die Subjektivitäten sind nomadisch, d.h. frei und dynamisch und werden im Konfliktfeld der Bifurkationen produziert. Wie wir sahen, organisieren sich die Subjektivitäten in maschinellen Gefügen, d.h. als Kriegsmaschine. Die Kriegsmaschinen stellen das molekulare Gewebe des menschlichen Universums dar. Ethik, Politik und Geisteswissenschaft
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verschmelzen miteinander: die Kriegsmaschinen interpretieren das Projekt und konstituieren in der Unterscheidung von Wunsch und Gegenwunsch, Freiheit und Notwendigkeit die menschliche Welt. Abermals Rhizome. Bäume und Bifurkationen - aber nunmehr in einem Sinnhorizont. Es ist die Wahl im Krieg, die den Sinn der Geschichtlichkeit bestimmt. Aber was heißt hier Sinn, wenn der Horizont immanent und der Schauplatz ateleologisch ist? Er ist Ausdruck des Wunsches, Aussage und Organisation der Wunsches als Ereignis, als Ausschluß von Transzendenz, als Feindschaft gegen alle Blockierungen des Werdens. Politisch wird die Kriegsmaschine als Positivität bestimmt, da sie gegen den Staat gerichtet ist. Deleuze-Guattari erfinden eine neuartige Form der Geisteswissenschaften, indem sie alle Formen des Historizismus oder Hegelianismus, alle im Staat sublimierten Gestalten des objektiven Geistes angreifen. Die molekulare Ordnung, die vor dem Staat und insbesondere vor dem Staat des reifen Kapitalismus gesetzt ist, organisiert spontan ein molares Dispositiv und entwickelt notwendig eine Gegenmacht: eine Gesellschaft wider den Staat, oder anders und besser gesagt, das Ensemble der Subjektivitäten des Wunsches mit seinen unendlichen Differenzierungen, die sich im nomadischen Rhythmus ihrer Emergenz gegen alle festen, zentralisierenden und kastrierenden Maschinen wenden. In Wirklichkeit können Subjektivität und Sinn der Geschichte nur pragmatisch erlernt und bewertet werden. Die Nomadologie organsiert eine veritable .Philosophie der Praxis". Nomade in der Ordnung der produzierten und festen Geschichte sein heißt, frei sein in der Ordnung der Produktion von Geschichtlichkeit, heißt fortwährend Maschinen- und AussagengefOge produzieren, die neue rhizomatische Differenzen erschließen und auf diese Weise das Reale konstituieren. Politik wird so zum Entwurf von Mikroordnungen, zur Konstruktion von molekularen Netzen, die den Wunsch verlängern und ihn immer wieder von neuem zur Materie der Pragmatik machen. Die Pragmatik der Mikropolitik ist der einzige operative Gesichtspunkt der Geschichtlichkeit: Pragmatik als Praxis des Wunsches, Mikropolitik als Terrain der Sub-
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jektivität, das beständig durchlaufen werden kann und durchlaufen wird. Der Wechsel der Gesichtspunkte und die Konvergenz der konstruktiven Bestimmungen kommen nie zur Ruhe. Ziel der molaren Ordnung ist die Absorption der Kraft des Wunsches und die Umverteilung der Regeln dergestalt, daß der pragmatische Fluß des Molekularen blockiert wird: das Molare ist definitionsgemäß ontologische Behinderung des Molekularen. Der molekulare Strom dagegen ist unvereinnahmbar, er versucht fortwährend die Regeln der Blockierung zu revolutionieren, um der Geschlchtlichkeit freie Bahn zu schaffen. Aber was heißt hier Revolution? Nichts anderes als: Ausdruck der Unendlichkeit dieses Prozesses als Ereignis. Die Politik von TP besteht darin, die molekulare Ordnung des Wunsches zum Widerstand, zur Umgehung, zur Flucht vor der molaren Ordnung aufzurufen. Der Staat kann weder reformiert noch destruiert werden: die einzig mögliche Zerstörung des Staats ist die Flucht. Eine Fluchtlinie, die organisiert wird von der Kreativität des Wunsches, von der unendlichen molekularen Bewegung der Subjekte, von einer immer wieder neu zu erfindenden Pragmatik. Revolution ist das ontologische Ereignis der Weigerung und die aktuale Verwirklichung ihrer unendlichen PotentiaIität. 16 d) Ausgehend von diesen Bemerkungen, die den Gesichtspunkt der Konstitution in die Welt hineintragen, um ihn als Genealogie von Subjektivität und als Ereignis einzuschreiben, können wir nunmehr auf den allgemeinen ontologischen Rahmen von TP zurückblicken. Tausend Ebenen einer Oberfläche. Eine Oberfläche voller Poren, Bruchlinien, Konstruktionen und Rekonstruktionen, ein fortwährend sich faltendes und verschiebendes Territorium. Es bewegt sich in einer einzigen Richtung, gemäß einer einzigen Teleologie: die der wachsenden Abstraktion der Beziehungsmuster als Folge der Komplexifikation der Bifurkationen, der EntWicklung der Rhizome und Expansion der Konflikte - Abstraktion, die ihrerseits ein Territorium ist, 16a.a.0.,
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Territorium, das sich abermals faltet, immer wieder andere Schatten wirft und immer wieder neue Alternativen freigibt. Die Potenz des Wunsches hat sich in die Oberfläche eines Territoriums verwandelt, eine Verwandlung, die sich fortwährend wiederholt. Dieses neue Territorium ist immer produktiv, unendlich produktiv. Denn die Welt ist ein Territorium, das immer territorialisiert, besetzt, rekonstruiert und bewohnt werden muß. Eine Spannung, die durch eine mannigfaltige schöpferische Aktion befriedigt werden kann. Das Verhältnis zwischen Maschine und Aussage, Wissenschaft und Ontologie ist damit komplett. Die Wissenschaft ist konstitutiv, indem sie das Reale abbildet, mimetisch wiedergibt; sie folgt ihm, um es zu konstruieren, sie pojektiert es, indem sie es lebt. Die Wissenschaft konstruiert Referenzebenen, die zu ontologischen Konsistenzebenen werden, wenn das Ensemble der Aussagefunktionen Gegenstand einer Pragmatik wird oder sich im Ereignis, in einer Bestimmung realisiert. Auch die Subjektivität geschieht als Oberfläche, als Faltung der Oberfläche. Aber wir wissen, welcher Preis für diese Leichtigkeit des stärksten Ereignisses der Subjektivität entrichtet werden muß: maschinelle Verkettung, Durchquerung des Konflikts, Aussage des Projekts, Ausdruck des Wunsches, Verwirklichung des Unendlichen im Ereignis. 17
des Prozesses (die einzige Teleologie, die mit der absoluten Immanenz verträglich ist): der Sinn des Prozesses ist der Sinn der Abstraktion. Das Subjekt, das entlang des Gesamthorizonts seiner Projektionen die Welt produziert, produziert immer mehr auch sich selbst. Auf den ersten Blick erscheint der Welthorizont, den Deleuze-Guattari entwerfen, animistischer Natur: aber sofort wird deutlich, daß dieser Animismus sich der höchsten Abstraktion verdankt, einem unanhaltbaren Prozeß mechanischer Gefüge und Subjektivitäten in Richtung einer immer höheren Abstraktion. In dieser Welt von Poren, Faltungen, Bruchlinien und Rekonstruktionen ist das menschliche Gehirn in erster Linie damit beschäftigt, jenseits der Konflikthaftigkeit seine eigenen Verwandlungen, seine eigenen Verschiebungen zu verstehen, und dies im Reich der höchsten Abstraktion. Aber auch noch diese Abstraktion ist Wunsch.
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Eine neue Welt wird hier beschrieben. Wenn jede Philosophie eine ihr eigene Phänomenlogie entwirft und bestimmt, dann haben wir es hier mit einer höchst ungewöhnlichen neuen Phänomenologie zu tun. Eine Phänomenologie, die durch die Reduktion der Welt auf Produktion, der Produktion auf Subjektivität, der Subjektivität auf die Potenz des Wunsches, der Potenz des Wunsches auf das System der Aussagen und die Aussagen auf den Ausdruck - und umgekehrt - charakterisiert ist. Gerade in dieser Umkehrung, d.h. im Rückgang oder Übergang vom subjektiven Ausdruck zur Oberfläche der Welt, zur Geschichtlichkeit in actu offenbart sich der allgemeine Sinn
TP umschreibt das Terrain, auf dem der historische Materia- ' lismus des XXI. Jahrhunderts konstruiert wird. Der pädagogische Essay Qu'est-ee que Ja philosophie?, den Deleuze-Guat-; tari 1991 als An~amg zu TP veröffentlicht haben, verdeutlicht; diese Hypothese. f8 Die Verknüpfung der wissenschaftlichen, ästhetischen und philosophischen Untersuchungen, die in TP unermüdlich, und mit einer Überschwenglichkeit, die der behandelten ontologischen Materie würdig ist, durchgeführt werden, wird darin um eine volkstümlich~t ~ädagogik ergänzt. Sie illustriert die begrifflichen Operationen', die dem Darstellungsprozeß von TP zugrundeliegen, und legt mit großer Klarheit die methodischen, theoretischen und praktischen Funktionen dar. Wir glauben, daß TP, zusammen mit der pädagogischen Abhandlung gelesen, .grundlegende Elemente einer Erneu-
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G. DeleuzelF.Guattari, Qu'est-ce que la philosophie? Paris 1991
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erung des historischen Materialismus enthält, und zwar in eben der Gestalt, die der neuen Dimension der Entwicklung des Kapitalismus angemessen ist, d.h. der maximalen Abstraktion, der "realen Subsumtion" der Gesellschaft unter das Kapital, zu der die sozialen Kämpfe geführt und von der sie nunmehr auszugehen haben. Hierbei darf nicht vergessen werden, daß in der Philosophie der Geisteswissenschaften von DeleuzeGuattari derselbe ethisch-politische Impetus der Befreiung der menschlichen Wesenskräfte wie im historischen Materialismus zum Ausdruck kommt. Welcher Art ist also die produktive Umwelt, in der wir uns bewegen und von der aus der historische Materialismus als Grundlage der Geisteswissenschaften erneuert werden kann und muß? Deleuze-Guattari erteilen dieser Frage eine unmißverständliche Antwort. Sie beschreiben und erarbeiten in umfangreichen Untersuchungen einen Sachverhalt, der schon Marx in den Grundrissen in den Abschnitten über das System der Maschinerie als allgemeine gesellschaftliche Tendenz vor Augen stand und von ihm unter dem Titel General Intel/ect verzeichnet wurde. 19 Es handelt sich um die Beobachtung, daß die Interaktion zwischen Mensch und Maschine, Gesellschaft und Kapital, so eng geworden ist, daß die Ausbeutung der materiellen und zeitlich meßbaren Lohnarbeit nicht länger die allgemeine Form ist, unter der angesichts der Macht der neuen sozialen, intellektuellen und wissenschaftlichen Mittel die Verwertung des Kapitals, der elende Grund der Ausbeutung, vonstatten geht. TP geht davon aus, daß die von Marx beobachtete Tendenz sich inzwischen verwirklicht hat und entwickelt ausgehend von dieser neuen Gesellschaft den historischen Materialismus. Das Buch erprobt die Konstruktion eines neuen Subjekts, das sich in den Wesenskräften der gesellschaftlichen, intellektuellen und wissenschaftlichen Arbeit manifestiert. Es handelt sich um ein maschinelles Subjekt, das zugleich ethisch ist, ein 19 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie(Rohentwurf 1857/58), FrankfurUMain o.J., S. 582 ff. Vgl. T. Negri, Marx au-defa de Marx, Paris 1979
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intellektuelles Subjekt, das zugleich Körper ist, ein Wunschsubjekt, das zugleich Produktivkraft ist, ein vielfältiges und zerstreutes Subjekt, das gleichwohl im konstitutiven Trieb des neuen Seins seine Einheit findet. Und umgekehrt, in allen möglichen Bedeutungen. Entscheidend ist jedoch, daß sich die produktive Verwertung gänzlich von der Sphäre der direkten materiellen Ausbeutung in die politische Herrschaft verlagert. Diese Verlagerung wird durch die gesellschaftliche Interaktion zwischen der entwickelten kollektiven Subjektivität einerseits und den intellektuellen und wissenschaftlichen Potenzen der Produktion andererseits bewirkt. Im Zuge dieser Verschiebung wird auch die produktive gesellschaftliche Interaktivität dem molaren Widerspruch der Herrschaft unterworfen und ausgebeutet: der Antagonismus intensiviert sich und wirkt in einer paradoxalen Implikation durch das ausgebeutete Subjekt hindurch. Die Machtanalysen Foucaults weiterführend, betont Deleuze den Übergang von der "disziplinären Gesellschaft" zur "Kontrollgesellschaft" und erblickt darin das distinktive Kennzeichen der zeitgenössischen Staatsform. 20 Innerhalb dieses Rahmens, der in TP in allen seinen Varianten untersucht wird, verändern sich die Formen der Herrschaft. Ihr Fortbestand wird ebenso abstrakt wie parasitär, so daß sich der Antagonismus seiner äußersten Zuspitzung gleichsam entleert und das Kommando nutzlos und überflüssig wird. Die Kontrolle der produktiven Gesellschaft ist darum unmittelbar mystifizierend: sie kennt nicht einmal die Würde der Organisationsfunktion, die der Gestalt des Ausbeuters in der Gesellschaft der disziplinären Staatsform gleichsam naturwüchsig zukam. Trifft diese Beobachtung zu, dann ist die produktive Arbeit des neuen gesellschaftlichen Subjekts unmittelbar revolutionär und stets ein Werk der Befreiung und Innovation. Von dieser Grundlage aus wird der historische Materialismus implizit in der Phänomenologie von TP und explizit in der in Qu'est-ce que la philosophie? erarbeiteten Methodologie erneuert. Diese Erneuerung betrifft insbesondere den wissenschaftlichen 20 G. Deleuze,Unterhandlungen (1990), dt. Frankfurt/M.1993
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Status des historischen Materialismus. Die pädagogische Abhandlung lehrt, daß die wissenschaftliche Tätigkeit durch "partiale Beobachter" erfolgt, die auf "Referenzebenen" "Funktionen" verknüpfen. Was ist, vorm Hintergrund dieser Beobachtung, der historische Materialismus, wenn nicht die Einnahme des "Gesichtspunkts des Proletariats", von dem aus die Widersprüche der Referenzebene einer dynamischen Kritik unterzogen werden? Wenn nicht die Selbstbewegung eines partiellen Subjekts auf dem Boden einer Tendenz, die eine Hypothese für die Lektüre des Realen vorzeichnet? Des Realen der kapitalistischen Entwicklung, die als der globale Referent der Widersprüche, die von der Bewegung der abstrakten Arbeit veranlaßt werden, bestimmt werden muß? Referenzebene bezeichnet hierbei die Welt der realen Subsumtion, der vollständigen Unterwerfung der Gesellschaft unter das Kapital. Die Arbeit ist das Rhizom, welches das Reelle produziert und in dieser Produktion das Reale von der molekularen in die molare Ordnung überführt. Es durchquert in der beschriebenen unaufhaltsamen Tendenz den Krieg und definiert im Krieg die Befreiung. Die Referenzebene ist die Umwelt" der gesellschaflichen Arbeit und ihrer Widersprüche. Die Philosophie ist in diesem Feld als Pragmatik, Ethik und Politik situiert. Der "partielle Beobachter" der Wissenschaft verwandelt sich hierbei in eine "Begriffsperson"der Philosophie. Und was bedeutet Begriffsperson, personnage conceptuel , wenn nicht eine neue Gestalt des Proletariats, des General Intellect als subversive Potenz? Eine neue Gestalt des Proletariats, die, je mehr sie räumlich verteilt und insofern im strengen Sinn eine spinozistische nmultitudo" ist, desto mehr als gesellschaftliches und intellektuelles Produktionsvermögen vereinigt ist? Die Philosophie von Deleuze-Guattari nimmt diese neue Realität des modernen Proletariats vorweg und skizziert den Modus seiner notwendigen Subversion. Die Begriffsperson gibt so einerseits das Reale wider und offenbart es in seiner konfliktgeladenen Variation und in der Tendenz, die sich darin realisiert. Andererseits stellt sie sich als Wunsch, als unaufhaltsame utopische Produktion dar. In dieser Form 60
vollzieht die prpletarische Begriftsperson einen unversöhnlichen, kontinuierlichen Bruch mit allen materiellen Referenzen, denen sie unterworfen ist. Der "Immanenzplan", den die Philosophie konstruiert, ist eine ununterbrochene Insurrektion, die im absoluten Überflug des Realen, in der radikalen Nichtkoinzidenz von molekularer und molarer Ordnung, in der unzeitgemäßen Präsenz des Widerstands erfolgt. .. ~~ .. . DieKunst-LJndesgibt eine KiJnst des revolutionären Denkens - trägt wesentlich zu dieser Dynamik der Transformation und der Subversion des Begriffs bei. Sie artikuliert die Bereiche des Imaginären und entwirft sie in Richtung auf das Drängen der Praxis. Das didaktische Schema von Qu'est-ce que la philosophie? legt die Fäden bloß, die in dem phänomenologischen Gewebe von TP dionysisch ineinander verwoben sind. Aber mit welcher Akribie! Und selbst dann noch, wenn man sie aufeinander projiziert, bewahren beide Bücher ihre Selbständigkeit; das letztere stellt nicht einen bloßen Anhang des ersteren dar. Aber wir dürfen die Unterschiede zwischen den beiden Texten auch nicht verwischen, und hier fällt unser Urteil eindeutig zugunsten von TP aus. Trotz der extremen Reduktion, die unserer Darstellung auferlegt war, ist deutlich geworden, daß darin eine äußerst komplexe und differenzierte Phänomenologie der Begriffsperson General Intellekt entfaltet wird, der halb Maschine und halb Subjekt und zugleich ganz Maschine und ganz Subjekt ist. Darüberhinaus kommt in TP eine revolutuionäre Erfahrung zum Ausdruck. Die Jahre des Wunsches und der umwälzenden Erlebnisse*, die auf 68 folgten, sind in dem Buch in Gestalt einer fulminanten Kasuistik, wie nur große revolutionäre Augenblicke sie liefern, eingesammelt und aufbewahrt. Man hört zuweilen, es gäbe kein Buch, das 68 "auf den Begriff bringt". Aber diese Behauptung ist falsch, denn eben das geschieht in TP. Es stellt den historischen Materialismus unserer Epoche in actu dar und ist darin ein zeitgenössisches Äquivalent von Marxens Klassenkämpfe in Deutschland und Frankreich. Wenn der Text nie zu Ende kommt und sich nie mit schlüssigen Definitionen befriedigt, so 61
darum, weil er - wie ähnliche Schriften von Marx - ein neues Subjekt präsentiert, das noch ganz in seinem Bildungsprozeß befangen Ist und doch zugleich in der Vielzahl seiner Mikround Makroerfahrungen und in den Ethiken und Politiken, denen es Raum und Bedeutung gibt, äußerst konsistent ist. TP st das ,) Pulsieren eines kollektiven und tausend singulärer Körper. Oie politische Idee, die darin interpretiert und ausgedrückt wird, ist die der "multitudo" Spinozas, einer verwüstenden Beweglichkeit der Subjekte auf dem Schauplatz des eben sich konstituierenden Weltmarkts. Es geht um die radikalste Demokratie aller Subjekte, die Verrückten nicht ausgenommen, um eine Demokratie, die als Waffe gegen den Staat gekehrt wird, den Organisator der Ausbeutung des Arbeiters, der Disziplinierung der Wahnsinnigen, der Kontrolle des General Intellekt. Ausdrücklich wird in TP auf die gesellschaftlich zerstreuten und autonomen Kämpfe der Frauen, Kinder, Arbeiter, Homosexuellen, Ausgestoßenen, Einwanderer usw. verwiesen, einer Perspektive folgend, in der längst alle Mauern gefallen sind. Der Reichtum dieser Bewegungen konstituiert das Milieu, in dem der wissenschaftliche Gesichtspunkt und die absolute Konstruktion des Begriffs möglich werden. Begriff heißt Ereignis: das System der Begriffe bricht die Geologie der Aktion vermittels einer Geologie des Wunschereignisses auf. Damit sind die Bedingungen der Rekonstruktion der Geisteswissenschaften" durch eine Theorie des Ausdrucks und auf dem Boden einer Geschichtlichkeit, die zugleich Bewegung des Seins selbst und Geburtsstätte der Subjektivität ist, erfüllt. Es mag genOgen, die Behandlungsart der Philosophiegeschichte in TP und Qu'est-ce que la philosophie? und die darin erarbeiteten Hypothesen und Methoden als Beispiel anzuführen. Beide Male wird die Geschichte der Philosophie in Ihre historiographische Kontinuität und ontische Teleologie aufgelöst. Oie Geschichtlichkeit der Philosophie wird so als Geschichtlichkeit schlechthin begriffen, d.h. als singuläre Begegnung des Denkens und der aktuellen Probtematizität des Seins. Auch die Geschichte der Philosophie ist nur als Ereignis, als unzeitgemäße, einbrechende Präsenz verstehbar und rekon-
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struierbar. Oie Philosophie ist stets ein spinozistisches Scholium der Entwicklung des Realen. Das Schema der Geisteswissenschaften ist also immer horizontal, vom Ereignis getragen, interdisziplinär, blättrig wie die Beziehungen seiner mannigfachen Elemente. Aber wo bleibt in dieser Vision die Vergangenheit, deren Produkt wir sind? Faktisch ist dem Rhizom der Gegenwart und Kreativität ein mechanische Phylum entgegengesetzt, das zugleich Resultante und Residuum der Vergangenheit ist. Oie Geisteswissenschaften entstehen dort, wo dieses mechanische Phylum von der Bestimmtheit einer neuen Schöpfung, eines neuen Ereignisses aufgezehrt wird. Oie materiellen Bestimmungen und ihre Akkumulation, der undurchdringliche Untergrund der Vergangenheit bilden ein totes Ensemble, das nur durch lebendige Arbeit wiederbelebt wird, das von den neuen Maschinen der Subjektivität stets von neuem wieder erfunden werden muß. Geschieht das nicht, ist das Vergangene nicht nur tot, sondern wahrhaftig ein Gefängnis. TP entwirft so eine materialistische Theorie der gesellschaftlichen Arbeit und versteht diese als das schöpferische Ereignis der tausend Subjekte, das sich auf die Gegenwart öffnet. Diese Öffnung geschieht auf der Grundlage einer mechanischen Konditionierung, die von dieser Arbeit konstruiert worden war und einzig von ihr als lebendiger, gegenwärtiger Arbeit abermals verwertet und verwandelt werden kann.Theorie des Ausdrucks, absoluter Immantentismus und Vitalismus in der von uns dargestellten Gestalt bilden die Grundlage für die Rekonstruktion der Geisteswissenschaften. Aber wie kann verhindert werden, müssen wir fragen, daß dieser neu gewonnene Horizont nichtabermals in Skeptizismus oder einer andern Spielart von schwacher Lektüre des Wertes endet? Nichts liegt TP ferner als die Versuchung, ein inneres Element des .Prozesses zu verabsolutieren - und sei es das Sein selbst -, um auf diese Weise eine nachträgliche Relativierung zu provozieren. Es ist vielmehr gerade der Begriff der Oberfläche und die offene Ontologie der Geschichtlichkeit, wobei letztere im Sinne der Präsenz von Subjektivität verstanden wird, was die Wiedergeburt der Geisteswissenschaften ermöglicht. Blicken
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wir einen Augenblick zurück: obwohl Heidegger eine Umkehrung des Ontischen ins Ontologische vollführt und die Umwandlung von Geschichtsschreibung in Geschichtlichkeit als unvermeidlich begreift, erblickt er andererseits in dieser Umkehrung, in ihrem logischen Einschnitt und in der Verweigerung des Schicksals die einzig mögliche Bedeutung des Daseins. Diese heideggersche Operation blockiert das leben und bringt den metaphysischen Übergang in einem Endpunkt zum Stehen. Heidegger gleicht darin Hiob, der im Augenblick, da er Gott sieht, erblindet. In TP dagegen heißt Gott sehen: eine neue Apperzeption des Seins, des offenen Seins ,konstruieren und -spinozistisch die Methodologie aus der Sphäre des Ontischen in die des Ontologischen transponieren. Nicht um Gott ein weiteres Mal zu bejahen, sondern um ihn ein für allemal auszuschließen, nicht um ein Absolutes zu erreichen, sondern um die Konstruktion des Seins "omnino absoluta" zu vollziehen. Ausgehend von der Arbeit der Singularität, in der menschlichen Arbeit. Di~ Humanwissenschaften können also, insofern sie rhizomatisch und zuinnerst von Präsenz erfüllt sind, rekonstruiert werden., als Wissenschaft, d.h. als Referenzebene; und als Philosophie, d.h. als Konsistenzebene. Als Annäherung an das Ereignis, als ethischer Impuls, der ontologische Maschinen durchquert. In den Humanwissenschaften konvergieren diese Ansätze als ein Ensemble von immer abstrakter werdenden subjektiven Gefügen und Verkettungen. Man kann das Sein nicht anders in Betracht ziehen, als das man es ist und macht. Man kann, zehn Jahre nach ihrem Erscheinen, TP getrost als eine äußerst wirksame Phänomenologie der Gegenwart lesen. Aber noch wichtiger ist, daß man das Buch als die erste Philosophie der Postmoderne begreift. Als eine Philosophie, die in der alternativen, immanenten, materialistisctlen Linie der Moderne wurzelt und die Basis für eine Rekonstruktion der Geisteswissenschaften abgibt. Und weil Geist.. als Gehirn und Gehirn - gemäß der Voraussage von Marx und der Rhythmik der Krise der kapitalistischen, transzendalistisehen und idealistischen Moderne entsprechend - als General Intellekt buchstabiert werden muß, kündigen TP die Renais-
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sance eines historischen Materialismus, der auf der Höhe der Zeit ist, an. Er wartet nur, bewahrheitet, d.h. im Ereignis der Revolution vollbracht zu werden.
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Brian Massumi Everywhere you want to be* Einführung in die Angst Vorbemerkung: Es entspricht der Arbeit von Deleuze und Guattari mehr, nicht über sie, als von ihr aus zu denken und zu schreiben. Wir wollen darum im folgenden einen zentrifugalen Gebrauch von ihr machen. Statt Texte zu paraphrasieren oder zu interpretieren, brechen wir abermals auf. Wir verknüpfen das, was Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus über die kapitalistische Axiomatik und ihre Subjektivierungsformen gesagt haben, mit dem Begriff der Virtualität, den Deleuze vor allem in seinem Buch uber Bergson herausgearbeitet hat. Diese Verkettung schaffen wir dann nach Nordamerika hinüber und zeigen, wie die neueste Form der modernen Massenmediengesellschaft funktioniert. Nur gelegentlich werden wir Deleuze und Guattarl ausdrücklich zitieren; aber der Essay ist, so hoffen wir, vom Geist ihrer Arbeit getragen.
They Take 8 Licking, But They Keep on Ticking** (Aus einer Timex-Anzeige)
Lynn Hili, Weltmeisterin im Klettern, stürzte 75 Meter ab und landete auf dem Steißbein, da es ihr nicht gelang, rechtzeitig das Gurtwerk zu schnüren. Schon ein Sturz aus 20 Meter Höhe kann tödlich sein, aber Lynn kam mit Schürfungen und Prellungen davon. Lynn trägt eine Armbanduhr aus der Timex Women's Fashion Serie. Das Modell hat ein Sicherheitsarmband. Sein Preis: ungefähr 45 Dollar. Der Pilot Hank Dempsey fiel in über 2000 Meter Höhe aus einem Flugzeug, als er eine Türluke, die klapperte und plötzlich aufsprang, verriegeln wollte. Er klammerte sich unten ans Flugzeug und wurde, als sein Kopilot 20 Minuten später zur Notlandung ansetzte, hautnah über die * Werbeslogan für die Visa-Kreditkarte ** Trotz Schlag tickt sie weiter
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Startbahn geschleift. Auch Hank trug eine Fluguhr, eine Timex Zulu Time. Sie hat einen Zeitzonenanzeiger und koste~ 60 Dollar. Die 52-jährige Helen Thayer machte mit ihrem Hund eine Skitour an den magnetischen Nordpol. 27 Tage lang hat sie einen Schlitten über eine Strecke von 450 km gezogen, wurde sieben Mal von Eisbären angegriffen, überstand drei Schneestürme, war nahe am Verhungern und Tage lang blind. Helen trug ein vergleichsweise urbanes Modell aus der Timex Serie. Es ist für 40 Dollar zu haben. Den wirklichen Helden unserer Zeit begegnet man nicht im Fernsehen, in Fußballstadien oder im Kino. Sie fahren Taxi, arbeiten in Büros, gehen mit Maschinen um. Es sind gewöhnliche Menschen, Leute wie nwir", nur daß ihnen etwas Ungewöhnliches passiert ist - und daß sie überlebt haben. In gewissem Sinn sind wir freilich alle Überlebende. Auch wir sind einmal gestürzt, wenn nicht von einem Fels oder aus dem Flugzeug, so doch die Treppe hinab. Auch ein solcher Sturz kann tödlich sein. Unser Eisbär ist der Köter des Nachbarn, unser Nordpol der Kaufmarkt. RaubOberfälle auf Parkplätzen tun ein übriges, damit der Gang zum Auto nach Einbruch der Nacht für uns so tückisch wird wie für andere die Expedition an den Pol. Selbst das Büro wird zur Gefahrenzone, der Stress ist ein Killer, der Manschetten trägt. Liest man nicht, daß die Arbeitsunfälle wieder zugenommen haben? Früher oder später wird auch uns, die wir ein ganz gewöhnliches Leben führen, etwas Ungewöhnliches passieren. Auch uns lauern Gefahren auf. Werden wir sie alle überleben? BERLINER
DISKOTHEK
ACHILLE LAURO
MOGADISCHO
OLYMPIADE
MÜNCHEN
McDoNALDS
In the lang run, we are all dead. (John Maynard Keynes) Am 7. Dezember 1989 drang ein Schwerbewaffneter in den Fachbereich für Ingenieurswissenschaften der Universität MontfE~al ein. Er unterbrach die Vorlesung und befahl den Stu-
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denten, sich in die eine, und den Studentinnen, sich in die andere Ecke zu stellen. Dann fluchte er über Feminismus und schoß auf die Frauen ein. Vierzehn Studentinnen kamen bei dem Überfall und der anschließenden Schießerei ums Leben. Die Medien waren sofort zur Stelle. Wenige Minuten später schon wurden Passanten, "gewöhnliche Leute", um ihre Meinung gefragt. Fernsehjournalisten beeilten sich, ein Porträt des Killers zu entwerfen. Doch dann waren alle plötzlich verlegen. Denn aus den Erklärungen seiner Familie, seiner Freunde und Bekannten ging unzweideutig hervor, daß der "verrückte" Schütze ein ganz und gar gewöhnlicher Mensch war. Was ihn in den Augen der Journalisten noch viel ungewönlicher machte. "Das könnte auch mein Sohn sein," hieß es allenthalben. Wer weiß schon, was im Innern eines Menschen vorgeht. Die wenigen Feministinnen, denen man Gelegenheit zu einer Stellungnahme gab, griffen die Presse an, weil sie den Vorfall wie eine Schauergeschichte im Stil der 50er Jahre kolportiert hat: ein freundlicher junger Mann hat Schwierigkeiten mit seiner Freundin und verwandelt sich unbegreiflicherweise in ein Scheusal. In ihren Augen war an dem Fall nicht so interessant, daß hinter dem Gewöhnlichen das Ungewöhnliche auflauert, sondern daß das Ungewöhnliche zur Gewohnheit wird. In der Tat hatte die Zahl der Vergewaltigungen, Überfälle und Mordanschläge, die von männlichen Partnern verübt wurden, in den Monaten, die dem Überfall folgten, in MontreaI schlagartig zugenommen. Ein Jahr später wurde ernst und feierlich des Anschlags gedacht. Die Studentinnen des Polytechnikums befanden sich in ehrwürdiger Gesellschaft. Zwei Wochen vor dem Gedenktag hatte sich zum 17. Mal die Ermordung John F. Kennedys gejährt, einen guten Monat zuvor zum 12. Mal die Ermordung von Martin Luther King. Zehn Tage später beging man den 10. Jahrestag des Attentats auf John Lennon. Im Taumel der vorweihnachtlichen Einkaufszeit schoben sich die Bilder der blutbefleckten Sitzbänke zwischen die Klischees von dem durchschossenen Schädel des Präsidenten und die Photos von den pathetischen Szenen auf dem Balkon in Memphis. Das Mas-
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saker von Montreal ging in die Annalen der Mediengeschichte ein. Man fand es der Erinnerung, oder wenigstens der TV-Erinnerung wert, die es zu einem Element in einer Serie macht. Wie in anderen Fällen so blieb auch in diesem nichts zurück außer einem Nachgeschmack von Angst und die unbestimmte Ahnung, daß sich Ähnliches bald wiederholen wird. Denn Medien-Ereignisse sind generisch und austauschbar, sozusagen Ereignisse ohne Eigenschaften. LOCKERBY
KANARISCHE INSELN
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Wer fällt, der war. (Zugspringer, Rio de Janeiro) Träger einer Timex-Uhr wie Lynn Hili, Hank Dempsey und H~ len Thayer sind nicht darum ungewöhnliche Menschen, weil sie besondere Qualitäten aufweisen, durch die sie aus dem Alltäglichen herausragten, sondern darum, weil ihnen etwas, oder vielmehr: nichts passiert war. Sie waren in Gefahr und haben die Gefahr überlebt, um uns davon zu erzählen (und eine Uhr zu kaufen). Ihre Berühmtheit wurde nicht durch sie selbst sondern hat sich sozusagen an Ihnen produzlen. Worauf es an'kommt, ist das Ereignis, das ihnen widerfahren ist und durch das sie Berühmtheit erlangt haben. Ihr persönlicher Wert ist eine bloße Kontingenz, was sie auszeichnet, ist ein Unfall (oder, wie im Fall von Helen, der Umstand, daßsieeinem Unfall knapp entgangen sind). Die Identität dieser Musterkonsumenten wird durch ein äußerliches Ereignis bestimmt, durch den Unfall bzw. sein Ausbleiben. Um welche Art von Unfall es sich handelt, ja, selbst die Frage, ob er wirklich stattgefunden hat, ist nicht weiter wi.chtig. Es kommt nur auf seine Bedingung an, d.h. darauf, daß wir alle auf unsicherem Grund leben. Die "Erfahrung" einer Lynn oder eines Hank ist in solchem Maße überbestimmt, daß das bloße Fallen als ein exemplarisches Ereignis, das die Identität des Konsumenten ausmacht, betrachtet werden kann. Oder genauer, die generische Identität des Konsumenten: seine Zuge-
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hörigkeit zur Klasse der Menschen mit ungewöhnlicher Erfahrung, wird durch diese allgemeine Bedingung, daß es keinen wirklich sicheren Grund gibt, konstituiert. Seine spezifisChe Identität hingegen wird durch die Ware und ihr Preisschild konstituiert: Lynn ist durch ihre fancy watch ("das Kostüm der Frau") mit Sicherheitsschloß zum Preis 60 Dollar individuiert· der Großverdiener Hank, der von Berufs wegen zwischen Zeit~ zonen hin-und herfliegt, durch den Besitz einer 50-Dollar ZuluUhr, die seine Manneskraft unterstreicht. Das erste Axiom der Timex-Philosophie lautet also: Identität ist das Produkt eines Kautakts unter der Bedingung allgemeiner Grundlosigkeit.
BUDDY HOll Y
OTIS REDDING
JAMES OE AN
JANE MANSFIElD
LYNYRD SKYNYRD
Und - wer von uns ist nicht schon einmal gefallen? Oder wird einmal fallen, denn "in the end, we are all dead". Die wirklich ungewöhnlichen Menschen sind nicht auf dem Bildschirm zu sehen. Sie sind genauso gewöhnlich wie "wir". Wir alle sind Lynn oder Hank oder Helen. Wir alle sind Otis Redding und Jane Mansfield. Wir alle sind Untermengen der Klasse ungewöhnlicher Menschen. "Wir" sind Timex-Philosophen. Waren slatten uns mit identifizierbaren Qualitäten aus. Sie determinieren unseren sozialen Status, Charakterzüge und Geschlecht. Waren stehen für unser Dasein. Der Grund bzw. die Grundlosigkeit, die sie absorbieren, ist der Unfall, das Akzidenz, sagen wir: die Zufallsform, die als Sturz, als ein unqualifiziertes oder generisches Grundereignis erscheint. Unsere generische Identität, Subjektform oder Menschlichkeit, ist das generische Ereignis, die Zufallsform; unsere spezifische Identität, .Individualität" oder "Selbsf', ist die Gesamtsumme unser",r Kaufakte (Zweites Axiom). Anders gesagt, Kontingenz ist die Form der Identität, und Identität ist inhaltlich durch den Vollzug einer Serie grundloser Kaufakte bestimmt. Wir wissen, daß wir leben, oder uns wenigstens in einern am Faden der Kreditkarte hängenden, lebensähnlichen Zustand befinden - zumindest
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solange wir kauten. "Ich kaufe, also bin ich." (Drittes Axiom). Durch den Erwerb von Waren wird das Subjekt des Kaufs nicht nur spezifiziert, sondern auch aktualisiert. Im Kapitalismus existiert das Subjekt nur als Funktion im Warenverhältnis. In der Dezembernummer (1990) von Vogue, der wir die TimexAnnonce entnommen haben, findet man sage und schreibe fünfzehn Anzeigen fOr Uhren. Die meisten haben die Themen Unfall oder Tradition als "Aufhänger". Tag Heuer warnt Skifahrer, "unter Druck zusammenzubrechen". Noblia versucht uns zu überreden, eine Geschenkuhr für unsere Urgroßenkel zu erstehen. Unfall und Tradition sind komplementäre Dimensionen der Zeit und als solche nicht unvereinbar, suggeriert eine Fendi-Reklame. Sie zeigt einen Steinbock, der, mit einer Uhr bekränzt, auf einern unwegsamen Berggipfel eingepfercht ist und wie ein antikes Götterbild unter dem ätherischen Himmel erstrahlt. Wenn wir auf unserer Gipfeltour nicht abstürzen, werden wir Besitzer der Uhr und dürfen uns überdies an der Kultursonne bräunen (generische KUltur). Die Kontinuität der Zeit hilft uns, drohende Unfälle zu vermeiden, und trägt uns zum Gipfel empor. In Wirklichkeit ist die scheinbar glatte Zeitlinie des Traditionshorizonts jedoch diskontinuierlich: eine Gipfelerfahrung ist durch Abgründe von der andern getrennt; um andere Kulturhöhen zu erklimmen, bedarf es eines abermaligen Aufstiegs. Natürlich sind die Berge Preisschilder und die Gipfel Kaufakte. Die Diachronie ist die Aura, der special effect, der die Kaufakte umgibt, eine Art (vermiedener) Unfall. Ihre scheinbare Kontinuität entsteht durch die Überblendung der Nachbilder, die die Waren hinterlassen. Die Lücken zwischen den Kaufakten werden so mit der "Gebrauchszeit" gefOllt, d.h. der Zeit, die für den Konsum der Waren erforderlich ist. Wer kauft, läßt sich von der Woge des Kredits von einem zum andern Kaufakt treiben und "verzehrt" in der Zwischenzeit, was er zuvor erstanden hat. Der Konsum oder Gebrauch ist nicht Zweck, sondern Mittel. Die Grunderfahrung ist die Gipfelerfahrung. Die Gebrauchszeit ist leer und ein Anhängsel der Kaufzeit, die primär ist. In ihr glüht der Schein vergangener Besteigungen nach und produziert eine Art sekundäre persönliche Präsenz, 71
eine vermeintlich kontinuierliche Aura. Die Identität des Konsumenten ist das BOndei der Effekte, die die Kaufakte am Körper des Käufers hinterlassen, eine optische Spiegelung, die die Leere der Zufälle Oberblendet. GebrauchsgOter bilden das Scharnier zwischen zwei Zeitlichkeiten oder Zeitformen. Eine primäre, Unfall- oder Zufalls(vermeidungs)form konstituiert die generische Identität oder Menschlichkeit des Konsumenten, eine sekundäre, die persönlich-kulturelle Kauftradition, konstituiert seine spezifische Identität, sein Selbst. Die spezifische Identität besteht aus der Doppelung von Vollzug (Kaut) und Verzehr (Konsum) und verschmilzt die beiden Formen zu einer Sichselbstgleichheit. Die generische Identität oder kapitalistische Subjektform ist keine Synchronie, die diese Doppelung oder Diachronie erganzte. Sie ist auch keine Simultaneität oder Synthesis aufeinanderfolgender Momente. In ihr geschieht vielmehr die vollständige Durchdringung von sich wechselseitig ausschließenden Zeitformen: das grOndende-grundlose Ereignis ist zugleich ein Augenblick und eine Ewigkeit. Es ist immer schon geschehen ("die Weltmeisterin im Klettern war abgestOrzt") und besteht als Möglichkeit fort ("unter Druck nicht zusammenstOrzen"). Der Unfall ist Versprechen und Drohung: einerseits reine Vergangenheit einer plötzlichen, unkontrollierbaren Kontingenz, andererseits ungewisse Zukunft einer Wiederkehr. Waren sind Scharniere, die durch die Doppelung von Vollzug und Verzehr die LOcke zwischen Vergangenheit und Zukunft fOlien und so den Ort der Gegenwart besetzen ("Lynn trägt eine Modeuhr mit Sicherheitsarmband ... sie kostet ..."). Waren sind Zeitschnallen, und Zeitschnallen eine Art Sicherheitsgurt. Sie versichern uns, daß wir sind und, dank der Tradition im ROcken (oder an der Hand), sein werden. Mit ihnen halten wir uns an den grundlosen Gipfeln fest. Kaufen ist Vorsorge, eine Art Lebensversicherung. Wir wissen, daß unsere Tage gezählt sind, aber wenn wir dem kapitalistischen Imperativ folgen - Lassen Sie sich nicht einschOchtern, wählen Sie die richtige Uhr! -, brauchen wir nicht besorgt sein, daß es auch mit uns eines Tages zu Ende gehen wird. Auch wenn uns jemand einen Schlag 72
versetzt, das Konsumgut tickt weiter. Wir Oberleben in den Gadgets unserer Urgroßenkel. Die Präsenz des Kaufakts mag vergehen, nicht aber die Zukunft seiner Vergangenheit. Das Nachbild des Nachbilds unserer zerklOfteten Gegenwart wird nicht verglOhen, sondern zu einem objektivierten Gedächtnis werden. Du wirst gekauft haben: die Zukunft als Vergangenheit ist die fundamentale Zeitform des Konsumenten. Sie ist der unverhüllte Ausdruck des Imperativs des Kapitals und zugleich die Form des kapitalistischen Heils.
Was hält im Wirklichen den Platz für das Mögliche frei? "Was ist dann Terror, wenn das nicht Terror ist", sagte Begin zu Arafats Absage an den Terrorismus. (Montreal Gazette, 27. März 1989)
Die Ermordung Kennedys bezeichnet eine Zäsur in der amerikanischen Kultur. Sie bedeutet das Ende von Gamelot*. Von nun an konnte man sich nicht mehr in dem Glauben wiegen, die Gegenwart sei durch eine Art Nabelschnur mit dem Goldenen Zeitalter verbunden und dessen Fortbestand hiermit gesichert. Im Bildsucher der Waffe des Attentäters waren die Vergangenheit und die utopische Zukunft ihrer Wiederkehr jäh aufeinandergeprallt und zerschellt. Kennedys Tod bedeutet das Ende der mythischen Kulturzeit als Zeitschema der amerikanischen Gesellschaft. Nichts wird mehr so sein wie zuvor. Zwar schien es unmittelbar nach dem Mord fOr kurze Zeit möglich, an diesem Schema festzuhalten: viele glaubten, es habe sich um eine Verschwörung gehandelt, Oswald sei Agent des KGB, ein Krimineller, der durch die Ritzen in das System ein• Mythischer Ort der Artusrunde, während Kennedys Amtszeit als heroische 5elbstbeschreibung der amerikanischen Gesellschaft in Umlauf gebracht.
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gedrungen war. Im Zeitalter der brutalen "Unschuld" kam der Feind von außen, "aus der Kälte", von jenseits der nationalstaatlichen Grenze. Aber nun war das Gespenst der Subversion im Inneren aufgetaucht. Der Kalte Krieg war ein äußerer, ein Zweifrontenkrieg. Aber Vietnam hat offenbart, daß die Niederlage nicht anderswo, sondern zu Hause, im Innern stattgefunden hat. Es ist nicht eine Ideologie der andern erlegen, sondern die Ideologie als solche unterlag. Nicht der Todesschütze hat gewonnen, sondern, falls man überhaupt von Gewinner sprechen kann, die Kugel. Ihr sinnloser, augenblicklicher Einschlag, das "Es wird gewesen sein". Überall brachen Risse auf. Der Grund gab nach. Der Schuß hätte an jedem Ort, zu jeder Zeit abgefeuert werden können. Der unmittelbare Erbe Oswalds war nicht James Earl Ray, der Mörder von Martin Luther King, sondern jener "Scharfschütze", der im Texas Tower wild um sich auf Passanten schoß, ohne das geringste Motiv und für Durchschnittsamerikaner unverständlich. Die allgemeine Unsicherheit nahm zu. Wie kam es zu den Straßenschlachten von Watts? Zwischen den Rassen brach der Bürgerkrieg aus. Die "generation gap" drohte die kulturelle Tradition zu unterminieren, die auf der Weitergabe der elterlichen Werte an die Nachkommen begründet war. Der Feminismus verwandelte die Geschlechtszugehörigkeit in einen Kampfplatz. Zur gleichen Zeit fingen Flugzeuge an, vom Himmel zu fallen. Eine für unverbrüchlich erachtete Ubidoökonomie war gestört. Die Lust blieb aus oder trat anderswo auf, Körper unterwanderten das Selbst, die Jugendkultur frönte dem Genuß des Fleisches. Man versuchte, dem Niedergang, der überall fühlbar war, durch den Kauf von Kosmetikartikeln und Maschinen zur Körperertüchtigung Einhalt zu gebieten. Zuletzt geriet selbst die Industrie, der man den Fortschritt zu verdanken hat· te, in die Krise und beschwörte den Zusammenbruch des Ökosystems herauf. Der Kollaps begann, allgegenwärtig zu werden.
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THREE MILE ISLAND
T SCHER NOBYL
S EVESO
A LASKA
B HOPAI.
LOVE CANAL
"Wir" leben hier. Das ist unsere Kultur: der drohend bevorstehende Unfall, oder besser: die Immanenz des Unfalls. Verschwörungstheorien, die als Reaktion auf die Morde von Kennedy und Martin Luther King ins Kraut geschossen waren, beschuldigen nunmehr einen inneren Feind, die CIA. "We have met the enemy and he is us", heißt es in einem Comic. Der Feind ist nicht länger anderswo. Ja, er ist oft nicht einmal mehr als solcher identifizierbar. Allgegenwärtige Gefahren verschwimmen ineinander und werden zuletzt ununterscheidbar. Sie vergiften infolge ihrer Nähe zur Lust und Verflechtung mit den notwendigen Funktionen von Körper, Familie und Nationalökonomie die Lichtseite des Lebens. Der politisch codierte Kalte Krieg hat sich in einen Zustand generalisierter Abschreckung gegen einen Feind ohne Eigenschaften verwandelt. An allen Orten und in jedem Moment der sozialen Raumzeit droht ein gesichtsloser Gegner aufzutauchen. Vom Wohlfahrtsstaat zum Belagerungszustand: wir befinden uns in einer Art Notstand in Permanenz gegen einen unbestimmbaren inneren und äußeren Feind. SCHWARZE PEST
SVPHILL IS
TUBERKUL OSE
GRIPPE
KREBS
AIDS
Die gesellschaftliche Erwartungshaltung hat sich geändert. Man rechnet nicht mehr mit der Rückkehr ins gelobte Land, sondern mit einer Zerrüttung, die bereits Besitz von uns ergriffen hat und die Fiber unseres Alltagslebens angreift. Der Inhalt der drohenden Katastrophe spielt keine Rolle. Sie ist ohne Kontur, denn sie kann sich jederzeit und auf verschiedenste Weise bemerkbar machen. Einzig ihre Größe, ihr Ausmaß zählt. In welcher Gestalt der unbestimmte Feind auch immer auftreten mag, er ist unendlich groß und unendlich klein zugleich, viral und ambiental. An die Stelle des kommunistischen Feindbilds tritt die Bedrohung durch die Doppelgestalt von Aids und globaler Umweltkrise. Die ungesehenen und un-
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sichtbaren Gefahren wirken in unmenschlichen Maßstäben. Der, Feind ist nicht bloß unbestimmt, maskiert und versteckt. Weil die Drohung universal ist, ist er nicht dort, wo man ihn vermutet, und darum ungreifbar, Er existiert in einer anderen Aaumdimension, nicht in einem menschlichen "Hier", und in einer andern Zeitdimension, nicht in einem "Jetzt", weder im Fortschritt noch im kulturellen Erbe der Vergangenheit, aber auch nicht in der Utopie, in der wir die Vergangenheit wiederzufinden hoffen. Anderswo, in einem anderen Augenblick, jenseits von Kausalgesetzen und Klassifikationen. Daß das HIVVirus die direkte Ursache von Aids ist, wird zusehends bestritten; die Zahl der Kofaktoren nimmt zu, die Symptome werden unübersichtlicher. Aids ist ein Symptom, ähnlich wie die globalen Katastrophenmeldungen: ein Komplex von Wirkungen, die nicht auf einzelne, isolierbare Ursachen zurückführbar sind, keine lineare Entwicklung aufweisen und fortwährend ihr Erscheinungsbild ändern. Die Frage, die man stellen muß, lautet nicht: Wer? oder Wo? Wann? nicht einmal Was? Der Feind ist kein Etwas, sondern ein Nichtwas, eine multidimensionale, unspezifierbare Eventualität. In einem Wort, er ist virtuell. Discovery Countdown: so reibungslos, daß man Angst bekam. (Schlagzeile, Montraal Gazette)
Der Start der Challenger-Raumfähre war angsterregend. Aber war der take-off nicht geradezu perfekt verlaufen? Keine Unauffälligkeit, keine Störung, und dann plötzlich der Knall. Der Unfall und seine Vermeidung sind tendenziell vertauschbar geworden. Ob eine Rakete abhebt oder abstürzt, macht keinen allzu großen Unterscheid. Ob man die Bombe zündet oder nicht, der Palastinenser bleibt, wo er ist. Das Ereignis ist per definitionem angsterregend, ebenso wie der politische Gegner per definitionem ein Terrorist ist. "Angsterregend" drückt nicht die Qualität eines Gefühls aus, ebensowenig wie "Terrorist" eine
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politische Position oder ein Werturteil bezeichnet. Es geht nicht um Prädikate, die Eigenschaften eines Trägers, dem sie zugeordnet werden, bezeichnen, sondern um einen Modus der sich selbst gleich bleibt: um die Imminenz oder lmmanen~ des Unfalls. Dieser kennt nur das futurum exactum mit doppelter Klammer: "00' wird [(abgestürzt) sein]". Angst ist nicht nur ein Gefühl. Angst ist die Objektivität der Subjektivität im Spätkapitalismus. Sie ist die Existenzweise der Bilder und Güter und der grundlosen Wirkungen, die durch ihre unablässige Zirkulation veranlaßt wird. Angst ist die Übersetzung der doppelten Unendlichkeit des Möglichen in menschliche Verhältnisse und Maßstäbe. Sie stellt den ökonomischsten Ausdruck der Unfallform als Subjektform des Kapitals dar: Sein als Virtualität, Virtualität als Möglichkeit der in Warenform gebrachten Katastrophe, die Warenform als spektrales Kontinuum am Ort der Bedrohung. Wenn wir kaufen, kaufen wir uns von Angst und Absturz frei und stopfen Lücken mit Präsenzeffekten. Wenn wir konsumieren, konsumieren, d.h. verbrennen und vernichten wir unsere Möglichkeiten. Indem wir besitzen, werden wir von den Kräften des Markts besessen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Komplize des Kapitals, wird der Körper sich selbst zum Feind. Killergeständnis: Mickey-Maus hat meinen Mann getötet. (Montraal Gazette, 24. Februar 1989) Angst ist die Direktwahrnehmung der heutigen Bedingung der Möglichkeit des Menschseins. Stellt das HIV-Virus die Anwesenheit der ungreifbaren, multikausalen Matrix eines Aids (der Name ist wenig mehr als ein label) genannten Syndroms auf der Ebene des Diskurses dar, so bedeutet Angst die Anwesenheit jenes anderen Syndroms: unserer spätkapitalistischen Daseinsform, deren Matrix nicht weniger ungreifbar ist, auf der Ebene der Körper der Menschen und in ihrem Affekt.
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Generalprobe für eine dunklere Zukunft War Discovery darum so angstvoll, weil Challenger der Vorbote (oder der Wunsch?) einer noch schlimmeren Katastrophe war, deren Möglichkeit dem nächsten Rakentenstart per definitionem eingeschrieben ist? Oder war es angstvoll, weil wir in Challenger unsere vergangene Zukunft wiedererkannten - die ewige Wiederkehr der Katastrophe? Oder war umgekehrt das Nichtereignis von Discovery die "dunklere Zukunft", für die der Absturz von Challenger nur eine Art Generalprobe war? Was macht mehr Angst: die vergangene Zukunft des Ereignisses oder die Gegenwart seines Stattfindens? Der Unfall oder seine Vermeidung? Jeder Mensch stirbt täglich um 24 Stunden ab. Marx, Das Kapital Das Schlagwort der achziger Jahre war power, "Macht". Mit dem power lunch wurde selbst das Essen zu einer produktiven Tätigkeit. Was früher in den Bereich der Reproduktion fiel, wird jetzt der Produktion integriert. Der Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit wird hinfällig, die "Freizeit" verschwindet. Seit dem Aufkommen der Einschaltquotenmessung heißt den Fernseher einschalten, die Kontrollkarte einer Marketinggesellschaft stempeln. Freizeit ist "Selbstverwirklichung". In der Regel jedoch dient sie dazu, die Wettbewerbsfähigkeit des "Selbst" zu steigern, um den Arbeitsplatz zu halten oder einen zu finden, oder die Gesundheit zu schonen, um bis zur nächsten Lohnerhöhung zu überleben. Der ImageWert tritt an die Stelle des Gebrauchswerts, denn niemand hat mehr Zeit, um die "Früchte" der Arbeit zu genießen. Ein TVRecorder ist mehr ein Konsumversprechen als ein tatsächlicher Konsumvollzug. Hat man einen festen Arbeitsplatz, so arbeitet man immer mehr, um immer überflOssigere Gadgets, zu deren "Gebrauch" man immer weniger Zeit hat, zu kaufen. Was gekauft wird, sind Bilder und Dienstleistungen, die direkt wiederum 78
in die Produktion integriert sind, oder Dauergüter, die nichts weiter repräsentieren als eine immerfort aufgeschobene Wunscherfüllung. Waren sind Zeitformen, in denen die Zukunft aufbewahrt ist, sei es als gespeicherte Zeit, die ein andermal verwertet werden kann, oder als gesparte, nicht verausgabte Zeit, die die Optimierung zukOnftiger Outputs ermöglicht (Alliezl Feher 1987, 351). Diese beiden Modi der Zukunft sind wie eine Schleife ineinander geschlungen: man steigert die Produktivität, um Zeit zu sparen, spart Zeit, um mehr zu verdienen, verdient mehr, um mehr Waren zu kaufen, Waren, in denen man die Zeit speichern kann, die man dadurch gewonnen hat, daß man die Produktivität gesteigert hat, um so mehr kaufen zu können ... Imagepflege, Selbstverwirklichung: was wir kaufen, ist in letzter Instanz unser Selbst. Gesparte Zeit ist gespeicherte Zeit: indem wir uns selber kaufen, kaufen wir Zeit. Einmal mehr erscheint das Subjekt des Kapitals als Zeitform: eine Zukunft (Erfüllung), die fortwährend aufgeschoben wird, fungiert als Komplement einer Vergangenheit (Produktion), die immer schneller entschwindet. Das Schema wiederholt die TimexPhilosophie, die Aufhebung der Gegenwart in der vergangenen Zukunft, nur daß man jetzt von der "Arbeit" bzw. dem "Arbeitslohn" ausgeht, während es zuvor aus dem Konsum abgeleitet war. Aber wenn die Reproduktion ihrerseits Produktion wird, konvergieren Lohn-und Warenverhältnis, werden formell identisch und faktisch untrennbar. Wenn Waren ein Scharnier zwischen Vergangenheit und Zukunft bilden, so bildet die Subjektform, pie die leere Gegenwart überbrückt, das Scharnier zwischen den beiden Achsen des Kapitalverhältnisses. Das Subjekt des Kapitals wird am Kreuzungspunkt von Lohn- und Warenverhältnis produziert. Es ist dieser Kreuzungspunkt, an dem der gelebte Raum verzeitlicht und die Zeitlichkeit kapitalisiert wird. Kapitalisierung bedeutet potentieller Profit. Die Gesamtheit des Seienden ist unter das Kapitalverhältnis subsumiert. Sein ist zum Mehrwert geworden, dem kapitalistischen Ausdruck von Virtualität. Das Wachstum von Informations-, Bild- und Dienstleistungsmärkten zeigt die gegenwärtige Richtung der Kapitalexpansion 79
an. Es ist komplementär zur extensiven Expansion der indust~i ellen Produktion und Konsumtion in den Ländern der sog. Dntten Welt und betreibt die intensive Expansion des Kapitalverhältnisses im "Zentrum", wo es immer mehr mit dem Leben selbst zusammenfällt. Durch die Realsubsumtion der Gesellschaft gelingt es dem Kapital, die eigenen.. potentiell .katastrophischen Grenzen zu internalisieren (Negn 1.988). Die .exte~ sive Expansion verinnerlicht die Grenze .zwls~hen ~enphene und Zentrum; die intensive Expansion vennnerllcht die Grenze zwischen Produktion und Reproduktion, Zirkulation und Produktion, Konsumtion und Produktion, Freizeit und Arbeit, Leben und Tod. Gesundheit wird ihrerseits käuflich. Der Tod trampt durch die Bilder, die, unendlich reproduzierbar, das Unbewußte kolonisieren (Mickey-Mouse).
Zukunft und Vergangenheit in einer Timex-Uhr, ohne dialektische Synthesis. Auch der Begriff der gesellschaftlichen Revolution ist davon betroffen. Diese findet heute als beschleunigte Systemveränderung statt, in manchen Gesellschaften auch als Ausbruch aus überkommenen disziplinären, normativen Codierungen oder als Erfindung eines Selbst von einem Nullpunkt aus. Aber auch dieses Selbst wird noch durch die Ware und als Ware produziert. Die Revolution kommt zwar, aber ihr Eintritt ist vorkapitalisiert. Sie fällt gänzlich mit ihrer Aneigung zusammen, in der sie sich sozusagen überschlägt. Koexistenz von abrupten Veränderungen und extremen Formen des Konservativismus - das wäre eine mögliche Definition der Postmoderne. 1789
Die 52-jährige Roseann Greco aus West Islip hatte 1985 in einer Garteneinfahrt ihres Hauses ihren Ehemann Felix umgebracht und wurde dafür wegen Mordes angeklagt. Während des Prozesses erklärte sie im Augenblick der Tat sei ihr der Körper ihres Mannes wie ein Comic erschienen. Sie wurde trotzdem für verhandlungsfähig befunden. ROADRUNNER COYOTE
MICKEY MouSE
FLINTSTONES
SIMPSONS
MUTANT TEENAGE NINJA TURTLES
Aber der Begriff der Verinnerlichung ist unangemessen. Wenn das Kapitalverhältnis den gesamten geographischen und gesellschaftlichen Raum besetzt, gibt es kein Innen mehr, in das etwas eingeführt werden könnte. Vielmehr entsteht ein ungebundener Raum, wo Innen und Außen koextensiv sind, ein Immanenz- oder Äußerlichkeitsfeld. Verinnerlichung bedeutet nicht Integration, sondern eine Verschiebung und Intensivierung. Einander sich ausschließende Formen werden auf diese Weise zu einer prekären Koexistenz gezwungen. Peripherie und Zentrum treffen sich in der South Bronx, wie 80
1848
1871
1917 1929
1968
1977
1987
Die Krise der Produktion wird produktiv, wenn man neue Wege findet, um aus der Zirkulation des Kapitals Mehrwert zu "pressen". Keynes Maxime, "die Gegenwart vor der Zukunft der Katastrophe zu schützen", ist für die Ökonomie nicht länger verbindlich (Negri 1988, 25). Nunmehr geht es darum, "aus der Krise selber Geld zu schlagen". Das klassische Problem des kapitalistischen Akkumulationszyklus, die Unvermeidlichkeit periodischer Zusammenbrüche, wurde dadurch gelöst, daß man die Krise zu einer permanenten "Institution" erhob, so jedoch, daß die Profite darunter nicht leiden. Die vergangene Zukunft der Katastrophe ist zur betäubenden Allgegenwart der Krise geworden. Das Kapital befindet sich in einer Art von freiem Fall, und hängt nurmehr am dünnen Faden des Kredits. 1929 stürzten sich die Kapitalisten von den Fensterbänken ihrer Büros, 1987 bestand dazu nicht mehr die geringste Veranlassung: man hatte inzwischen die Vorstellung, Gleichgewichtszustände seien erreichbar oder auch nur wünschbar, über Bord geworfen. Die borderline abzuschreiten ist in Geldangelegenheit ebenso normal wie der Hinweis auf Bewußtseinsstörungen vor Gericht. 81
Die Polizei ist nicht dazu da, um Unordnung zu schaffen, sondern um Unordnung aufrechtzuerhalten. Richard J. Daley, ehemaliger Bürgermeister von Chicago Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem mittellosen Zugspringer von Rio und den Börsenmaklern der Wall Street. Beide sind durch den Satz "Wer fällt, der war" definiert. Für beide folgt die Subjektform aus der Unfallform. Die schiere Identität besteht darin, daß das Kapitalverhältnis alle Koordinaten.. der gesellschaftlich-geographischen Raumzeit übergreift. Die Okumene der kapitalistischen Ökonomie subsumiert beide unterschiedslos, wie alles übrige auf der Erde und im Weltraum. Und doch besteht zwischen ihnen eine unleugbare Differenz. Kapitalisten setzen ihr Geld, der Zugspringer seinen Körper aufs Spiel. Der Stress mag am Körper des Kapitalisten nagen, aber Schlimmeres als Bankrott braucht er nicht zu befürchten. Obwohl also die Subjektivität von Kapitalist und Lumpenproletariat gleichermaßen durch die Kreuzung von Lohn- und Warenverhältnis . konstituiert wird, wird die allgemeine Bestimmung unterschiedlich aktualisiert: im Fall des Ersteren durch den Zugang zu, im Fall des Letzteren durch den Ausschluß aus der Sphäre von Geld und Ware. Die Ausgeschlossenen agitieren das Kapitalverhältnis direkt an ihrem Körper aus: sie fallen, und waren. Niemand erinnert sich ihrer. Ausgeschlossen vom Konsum als dem Medium von Präsenzeffekten, können sie die Lücke nicht schließen. Sie verkörpern an sich selbst die Ungreifbarkeit der Präsenz des Kapitals, die Katastrophe. . Das Kapitalverhältnis produziert eine subjektive Sichselbstgleichheit und führt zugleich Unterschiede in diese ein. Es vereinheitlicht nicht, ohne zu teilen. Dieses Dispositiv hat, ähnlich wie die zuvor erwähnten, nichts mit dialektischen Widersprüchen und ihrer Synthesis zu tun. Es enthält weder einen Paralogismus noch eine logische Paradoxie, sondern beschreibt eine reale Koinzidenz. Wir sagten, daß die Grenzen des Kapitals dem Kapital selbst immanent geworden sind. Das bedeutet nicht, daß sie einfach nur verschwunden oder sus-
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pendiert sind. Sie koinzidieren vielmehr real oder virtuell: die Grenze ist an jedem Raumzeitpunkt real, potentiell gegenwärtig, ohne daß sie darum notwendig an einem bestimmten Punkt lokalisiert wäre. Die Unfall- oder Subjektform ist eine Form der Virtualität, der reinen Möglichkeit. Im Prinzip hat sie keine Grenze, was nicht heißt, daß es in der Praxis keine Grenzen gibt. Denn in der Bewegung, die vom Prinzip zur Praxis fOhrt, in der Aktualisierung der Subjektform, werden in der Tat Grenzen gesetzt. Mit anderen Worten: die generische Identität des Subjekts des Kapitals stellt eine allgemeine Form unendlicher Möglichkeit dar, die nur jedoch dadurch in die Existenz übergeht, daß ihre Form in einen bestimmten Inhalt entläßt, "entfremdet", d.h. in spezifische Identitäten, deren Präsenzeffekte notwendig begrenzt und divergent sind. Eine spezifische Identität ist dadurch gekennzeichnet, daß sie einem gegebenen Körper der Zutritt zum Lohn- und Warenverhältnis ermöglicht oder versperrt, und durch die Art und Weise, wie dieser Zutritt bzw. Ausschluß erfolgt: Wie verzehrt sich das Selbst? Welche Präsenzeffekte produziert es (nicht)? Welche Gipfel ersteigt es (nicht)? Es gibt besondere Technologien, die mit den bestimmten Unterschieden der spezifischen Identitäten, ihren Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten, beschäftigt sind, als da sind: Alter, Geschlecht, Rasse, geographische Herkunft, kleine und große Unterschiede usw. Oie Disziplinen und die Biomacht Foucaults, ebenso wie die Testverfahren Baudrillards (Rückkoppelungsschleifen, die zwischen Produktion und Konsumtion, dem Produkt und den vermeintlichen Wünschen und Bedürfnissen, die es befriedigt, vermitteln und das Henne-Ei-Problem sozusagen auf der Ebene der sates promotion lösen), stellen solche Apparate der Aktualisierung der Subjektform des Kapitals dar. Zwischen den im einzelnen höchst unterschiedlichen Aktualisierungsapparaten besteht keinerlei Widerspruch. Sie existieren zusammen und bewirken eine Art nichtexklusive Verteilung der Körper. Aufgrund bestimmter sozialer Kennzeichen werden Körper ausgewählt und in die Kanäle, die den Zugang zur Lohn-und Konsumform regeln, eingeschleust. Der
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prioritäre Zugang zu einem Kanal schließt nicht automatisch den Zugang zu anderen ein oder aus. Aber oft wird ein und derselbe Körper mit einer gewissen Zwangsläufigkeit - zugleich oder sukzessiv - in andere, parallele Apparate eingeführt. Zuerst die Familie, dann die Schule, dann das Gefängnis. In allen diesen disziplinären Institutionen gibt es unterschiedliche Arten von Biomacht und Testverfahren. Der Körper einer Negerin wird zugleich medikalisiert und für disziplinäre Institutionen präpariert. Auf der Ebene der generischen Identität fallen Funktionen zusammen, die sich in der Praxis ausschließen können oder auch nicht (Kapitalist/Arbeiter, Produzent/ Konsument, Verbrecher/Bankier). Die spezifische Identität dagegen erfordert im Übergang zur Praxis die Trennung der Funktionen, sei es als Ausschluß, sei es .in der Form einer selektiven Kombination. Auf diese Weise kommt ein komplexes Gewebe von sich fortwährend verschiebenden gesellschaftlichen Trennungen und Distinktionen zustande. Die Grenzen sind durchlässig, sie errichten keine unüberwindlichen Schranken. Sie funktionieren nicht wie Mauern, sondern wie Filter. Ein Schwarzer aus der South Bronx kann zum Kapitalisten werden, auch wenn die Chancen dafür gering sind. Es ist nicht so sehr der Ausschluß als eine Art anonymer Wahrscheinlichkeitskalkül, was die Trennung und (Re)Kombination der Funktionen und Distinktionen regelt. Die Aktualisierungsapparate, die diese Prozesse steuern, sind Machtmechanismen. Macht ist keine Form, kein Abstraktum, sondern die Bewegung der Verinhaltlichung der Form, ohne welche diese funktionslos bliebe. Durch Macht geschieht der Übergang des Abstrakten zum Besonderen, die Übersetzung der generischen Identität in spezifische Identitäten, des Menschlichen in ein individuelles Selbst. Sie hat nicht den Charakter einer Form, sondern ist ein Bildungsprozeß; sie ist kein Sein, sondern ein Werden und mithin weder generisch noch spezifisch. Die Macht ist nicht weniger allgegenwärtig wie die Subjektform und ebenso variabel wie die individuellen Selbste. Sie ist weder das eine noch das andere, aber darum nicht unbestimmt. Sie weist charakteristische Modi auf, die in
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ihren Funktionen unterschieden sind und die Aktualisierung eines gegebenen Körpers bewirken, d.h. einem Leben einen gesellschaftlich erkennbaren Inhalt verleihen. Machtmechanismen können auch durch die Zeitgänge, die sie provozieren, bestimmt werden. Sie können an der Zukünftigkeit der vergangenen Zukunft ansetzen und insofern als Überwachungsstrategien, die sich auf die Vorwegnahme von Ereignissen beziehen, betrachtet werden. Oder sie setzen an der Vergangenheit an und haben dann eher statistischen oder p robabilistischen Charakter und analysieren und quantifizieren geschehene Ereignisse. In der Timex-Anzeige wurde die Vergangenheit numerisch festgehalten: es ging um einen Sturz aus 70 Meter und um ein Flugzeug in 2000 Meter Höhe, um wenige Zentimeter über der Startbahn, 27 Minuten vor der Landung, das Alter von 52 Jahren, einen 80 kg schweren Schlitten, 27 Tage und 450 km, drei Schneestürme usw. Überwachungsmechanismen und statistische Kalküle greifen ineinander und erlauben Vorhersagen. Das Macht-Wort der Vorhersage ist Abschreckung : sie ergibt sich aus einer Synthese von vergangener und zukünftiger Macht, in welche die leere Gegenwart wie eine Art spähendes, warnendes Auge eingerückt ist. Gegenwart ist der Versuch der Vermeidung künftiger Unfälle durch vergangene Erfahrungen. In ihr kehrt sich die Macht dem Ereignis zu, d~r Subjektform und der Virtualität. Macht im Spätkapitalismus hat zwei Seiten. Die eine ist der Subjektform zugekehrt und prodUZiert Abschreckung. In der Abschreckung geht es nicht um eine bestimmte Aktualität, sondern um eine unbestimmte Möglichkeit, die Möglichkeit der Zerstörung der Menschheit. Auf der andern Seite produZiert Macht Bestimmtheit. In den Disziplinen, in der Biomacht und durch Testverfahren erhält die Zerstörung ein Gesicht: die Eventualität der Zerstörung wird spezifiziert, indem in die Körper individualisierte Abschreckungsmechanismen eingeschrieben werden. Indem ein Selbst ausgewählt, produziert und konsumiert wird, erhält die Lebensform einen Inhalt. Das Intervall zwischen generischer und spezifischer Identität ei-
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nerseits und das Hin- und Her zwischen Abschreckung und Disziplin, Virtualität und Aktualität andererseits bilden das extensive und intensive Feld, in dem das Kapitalverhältnis agiert. Als gesellschaftliche Selektion und probabilistische Kontrolle fällt die Macht mit dem Kapital zusammen (Deleuze 1990). In der Macht erscheint die Kapitalisierung als Schicksal. In einer Welt, in der Gleichgewichtsvorstellungen ad acta gelegt sind und Abschreckung der Horizont und Unfälle die "Substanz" der Erfahrung sind, ist Unordnung ein Motor für Kontrolle. In letzter Instanz bedeutet Schicksal nichts anderes als die Notwendigkeit einer realen Möglichkeit: die Unvermeidlichkeit des Ereignisses, die Verflüchtigung konsumtiver Produktion, ausgezehrtes, verbranntes Leben, Tod. Der Kaufakt, durch den das kapitalistische Selbst konstituiert wird, erschien zunächst bloß als eine Funktion des Warenverhältnisses, als unbeschränkter Akt von Tausch und Konsum. Aber es genügt, ihn am Schnittpunkt von Lohn- und Warenverhältnis zu situieren, um zu erkennen, daß er durch eine allgemeinere Form bestimmt ist. Das Lohnverhältnis produziert Ausschlüsse und er.möglicht oder begleitet die Übersetzung bzw. Rückübersetzung von Bedürfnissen und Wünschen. Machtmechanismen spezifizieren diese Prozesse und verleihen der subjektiven Form einen gesellschaftlich wiedererkennbaren Inhalt. Was wir "Wahlfreiheit" nennen, ist ein Gefüge von variablen gesellschaftlichen Bestimmungen, das die notwendige Subjektform Überlagert und eine Art Zufallsform bildet, in deren Umkreis sich "Chancen" auskristallisieren. Das Syndrom des Selbst resultiert aus einer solchen funktionellen Überlagerung von freiem Spiel und freiem Fall, d.h. dem Fehlen fester Bestimmungen und der Überbestimmtheit des sich verflüchtigenden Inhalts. Dies erklärt seine Prekarität und Anfälligkeit. Diese funktionelle Koinzidenz von Freiheit und Bestimmtheit stellt eine ontologische Entfremdung dar. Die Subjektform existiert nur um den Preis ihrer Alienation in einen Inhalt. "Wir" können unsere Einheit nicht verwirklichen, ohne uns zu teilen. Die spätkapitalistische Form der Macht vollführt einen
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fortWährenden Krieg gegen einen ubiquitären Feind, der "wir" selbst sind. Unsere "Selbst"bestimmung ist eine Verleiblichung der Abschreckung, die Aktualisierung der Immanenz des unbestimmten kapitalistischen Aggressors in unseren Körpern und in unserem Selbst. Wenn es zutrifft, daß der Kapitalismus in letzter Instanz Kriegswirtschaft ist und 5ich nur durdl eine siCh fortwähren
Man braucht nur "geographischer Raum" durch "Kulturraum", "Erde" durch "Stadt", "Siedlung" durch "Nachbarschaft" und "biologisch" durch "gesellschaftlich" zu ersetzen - und schon sind wir beim Massaker IIon Montreal. Die kapitalistische Macht ist aktualisiert in einem grundsätzlich unbewohnbaren Raum der Angst. Die Merkmale der unbewohnbaren Angstlandschaft, in der ein gegebener Körper lebt, wechseln dabei gemäß den gesellschaftlich anerkannten Unterscheidungen, die einem Körper durch die Machtmechanismen, die über das soziale Feld verstreut sind, aUferlegt werden. Eine Frau im metropolitanen Nordamerika wohnt in einem Raum potentieller Belästigung und Vergewaltigung. Ihre Bewegungen und Gefühle werden durch die Immanenz sexueller Gewalt, die an allen ~unkten der soziogeographischen Raumzeit wirksam ist, gefiltert, kontrolliert und kanalisiert. Das anonyme wie insistente "Wir", leerer Ausdruck einer abwesenden Einheit, bewohnt die Zwischenräume, die zwischen dem Killer, seinem Opfer und der Polizei bestehen. "Wir" sind wie auch immer gewöhnliche
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oder ungewöhnliche Alltagsmenschen, Frauen und Männer ohne Eigenschaften, verbunden nur durch Angst. "Sie" dagegen hat normale Eigenschaften, eine "privilegierte" spezifische Identität und eine vorhersehbare Funktion - als Opfer. Die kapitalistische Macht bestimmt die Existenz einer Frau als vergangene Zukunft männlicher Gewalt. Das könnte in etwa das Szenarium des Massakers sein. Aber ebenso gut könnte es das Szenarium von TWin Peaks sein. Der Unterschied ist schwer auszumachen. Die "Injektion von Dummheit", die wir in den zeitgenössischen Gesellschaften beobachten können, besteht in der Übersetzung des "sie" in ein "wir", von "jeder Frau" in ,jeder von uns". Diese Übersetzung zieht einen Verlust von Besonderheit in der Angstlandschaft nach sich und fördert die Revirtualisierung des Unfalls, der auf diese Weise nicht mehr aktuell ist, sondern mit seiner möglichen Variation zusammenfällt. Inhalt wird in Form zurückübersetzt. Natürlich handelt es sich um die Warenform, um ein Medienbild und seine Abwandlungen. Die Massenmedien sind in ihrem normalen Funktionieren darauf abgestellt, solche Dummheit einzutrichtern. Dummheit ist nicht Mangel an Information oder Intelligenz, sondern wie Angst eine objektive Bedingung der Subjektivität. Dummheit ist der den Medien eigentümliche Affekt, die existentielle Haltung, die dem Medienverbund und den vom ihm geförderten Sozialisierungspraktiken entspricht. Als Entspezifizierung des intellektuellen Gehalts ist sie eine dem kaufenden, gaffenden Körper konsUbstantielle Eigenschaft. Wer vor dem Fernseher sitzt, veblödet, wenn er der "physischen Mentalität", die das Medium erwingt, nicht durch Humor, Zynismus, zapping, Wut, spielenden Umgang usw. entgegenwirkt. Andernfalls führt die Serienübertragung von Angstbildern zum Verlust des konkreten Wer? Wo? Wann? und Was? Der Medienaffekt, ob Angst oder Dummheit, ist die unmittelbare kollektive Wahrnehmung der heutigen Bedingung des Menschseins. Er stellt die kapitalisierte Unfall- oder Zufallsform dar, die Dire.ktwahrnehmung der EXistenzmöglichkeiten des Kapitals. Er ist vage und grell zugleich: nichts ist so drastisch wie 88
Panik, nichts so unbestimmt wie eine Wahnvorstellung. Die derart induzierte Angst ist nicht mit einer Phobie zu verwechseln, denn anders als diese ist Angst ohne spezifisches Objekt. Es handelt sich nicht um eine akute, sondern um eine diffuse Angst, um ein ständig präsentes, fluktuierendes Angstniveau, um eine Art kontinuierliche "radioaktive" Strahlung, die das im Vollzug der Konsumakte sich ausagierende Dasein berieselt. Man könnte von Panik, Furcht, Beklemmung oder Wahn sprechen, Befindlichkeiten, die sich zu diffuser Angst ähnlich verhalten wie das HIV-Virus zu Aids. In diesen Befindlichkeiten kündigt sich die Möglichkeit an, aktualiter zu dem mediatisierten Menschenopfer zu werden, das wir alle virtuell eh' schon sind. In ihnen drückt sich die "Subjektivität", das Selbst in der kapitalistischen Krise aus. Wie Aids, so ist auch das Selbst ein Syndrom: es äußert sich in einer Reihe von emotionalen Verkrüppelungen, in eigentümlichen, bizarren Symptomen und nicht so sehr - oder erst zuletzt - als akute Erkrankung. JOHN LENNoN GHANDI
JFK
MARTIN LUTHER KING
ANwAR SADAT
INDIRA
(RONALD REAGAN)
Die emotionale Verfassung eines g~gebenen, von Angst ergriffenen Selbst stellt eine beschränkte, abweichende AktuaIisierung der Subjektform dar: einen gesellschaftlich bedeutsamen Ausdruck der "Individualität" der spezifischen Identität, wie sie durch Machtmechanismen besonderen Körpern eingeprägt wird. Emotionen und die besonderen Sozialcharaktere, die damit einhergehen, verkörpern den spezifischen gesellschaftlichen Inhalt des Angstaffekts. Sie sind in gewisser Weise Ableitungen einer Gleichung, sekundärer Ausdruck der kapitalistischen Existenzmächte. Ein Charakter ist eine Ableitung einer Machtgleichung und als Präsenzeffekt machtbestimmt. Das emotionale make-up ist die Seite, welche die Macht dem verkäuflichen, tendenziell inkonsistenten und leeren Inhalt eines individuellen Lebens zukehrt. Ein individuelles Leben ist eine serialisierte, kapitalistische Mini-Krise, ein Desaster, das deinen Namen trägt. 89
JOHN HINCKLEY
CHARLES MANsaN
HILLSIDE STRANGLER
MARK
CHAPMAN
Briefpapier mit Namenszug ist einer der kleinen, aber absolut unentbehrlichen Luxusartikel, die man im Leben braucht. Ted Bundy, Massenmörder Der Kurzschluß der Besonderheit des Ereignisses, den die Medien herbeiführen, eröffnet den Machmechanismen die Möglichkeit, die gefährdeten sozialen Identitäten auf geschichtlich überlieferte Muster "zurOckzuschrauben", genauer, auf das Muster, das bislang vorherrschend war: das des weißen, heterosexuellen Mannes. Daß eben diese Gruppen die größten Chancen haben, aus der gesellschaftlich-ökonomischen Verflüssigung des Kapitals Nutzen zu ziehen, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Die Verflüssigung und Restabilierung von Grenzen ist keine widersprüchliche Bewegung. Soziale Räume, die durch Grenzziehungen markiert sind, haben den Charakter von Variationsfeldern. Tendenziell invariant ist nur die hohe statistische Wahrscheinlichkeit, daß das Macht(un)gleichgewicht sich mit dem Machtfeld so verschiebt, daß die bevorzugten Gruppen auch weiterhin bevorzugt bleiben. Wenn die Grenzen verschiebbar sind, ist es angemessener, ein Individuum durch die Linien, die es überschreitet, als durch die, die es respektiert, zu definieren: wie oft und mit wem hat man die Grenze der Familie in Kindheit und Jugend, in Verliebtheit, Ehe und Scheidung überschritten? Wie geht man mit der ebenso alltäglichen wie vagen Scheidelinie von Arbeit und Freizeit um? Wie oft hat man die Stelle und den Beruf gewechselt? Wie oft den Sexualpartner und die Sexualität? Wie oft den look? (Wie) Hat man den Übergang vom Warenkonsum zur Selbstverwirklichung geschafft? Das Selbst ist nichts als der Prozeß solcher Grenzüberschreitungen. Dasselbe gilt für den Staat. Im Zeitalter der Internationalisierung des Kapitals, der Intensivierung des Welthandels und Proliferation von
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supranationalen Organisationen (IWF, Weltbank, Internationaler Gerichtshof, UNO, EG, nord- und mitteIamerikanische Freihandelszone) wird ein Staat durch die Prozesse, auf die er wenig oder keinen Einfluß hat, genauso bestimmt wie durch die Formen, in denen er seine angestammte Souveränität nach innen hin ausübt (in den USA beispielsweise durch das System der checks and balances, durch das die Apparate aufeinander einwirken). Keine dieser supranationalen Institutionen ist souverän im Sinne des klassischen, nationalstaatlichen Souveränitätsbegriffs oder unterwirft die bestehenden Staaten einer höheren, übergreifenden Struktur. Aber durch die Verallgemeinerung der kapitalistischen Unfallform werden die Grenzen virtuell und haben nunmehr den Charakter von internen Schwellen. Jede Schwelle ist potentiell überall anzutreffen und macht sich nur bemerkbar, wenn man sich ihr nähert. Sie beschreibt weniger eine unüberschreitbare Grenze - als solche erscheint sie allenfalls im Innenhorizont sondern wird in der Überschreitung aktualisiert. In gewisser Weise gibt es weder ein Innen noch ein Außen und auch keine Überschreitung. Alles geschieht in einem Äußerlichkeitsfeld, einem Netzwerk von mehr oder weniger regUlierten Schwellenübergängen. Die Staatsgrenzen werden kontinuierlich aktualisiert und reaktualisiert, nach innen hin durch Schwankungen in der Rechtssprechung, nach außen hin durch die Kanalisierung von Menschen- und Warensträmen (Zoll- und HandeIsvereinbarungen) und gelegentliche Gewaltströme (Invasionen, Terrorismus). Wir werden uns nicht auf ein anderes Vietnam einlassen. George Bush Das Kapitalverhältnis kann keine Einheit herstellen, ohne zugleich neue Teilungen zu installieren. Es kann die Menschenund Warenströme nicht optimieren und globalisieren, ohne zugleich lokale Verhärtungen zu produzieren. Es kann nicht verflüssigen, ohne da und dort zu verhärten. Daß mit dem Ende 91
des kalten Kriegs und dem Eintritt des ehemaligen Sowjetblocks in den Weltmarkt die Zahl der heißen lokalen Kriege zunimmt, ist in gewissem Sinne unvermeidlich. Der politökonomische Ausdruck der kapitalistischen Unfallform und generalisierten Abschreckung kann nicht aktuell werden, ohne sich in den schlechthin grauenhaften Inhalt lokaler Katastrophen zu entäußern. Die enormen, aber geographisch begrenzten Zerstörungen, die der Golfkrieg angerichtet hat, waren motiviert durch die Verhinderung bzw. Abschreckung einer anderen, globalen - einer allgemeinen Energiekrise. KOREA
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
PANAMA
IRAK
VIETNAM
GRENADA
LVBIEN
Es wird also weitere Vietnams geben. In beliebiger Zahl, und wie auch immer maskiert. Kriege gegen die Droge und gegen das Verbrechen, "Schlachten" für die Familie.... Der Wahrnehmung einer Gefahr korrespondiert die Mobilisierung der Abschreckung. Wo abgeschreckt wird, bestehen immanente Grenzen, und wo immanente Grenzen bestehen, herrscht organisierte Gewalt. Mit Grenzen, die erst durch ihren Übertritt aktualisiert werden, die Welt regieren zu wollen, ist ein abenteuerliches Unterfangen, das wenig Raum für Krisenmanagment läßt. Die gesellschaftliche und politische Verflüssigung im Spätkapitalismus bedeutet nicht, daß die staatliche Gewalt einfach abstirbt. Im Gegenteil, sie ist ihrerseits verflüssigt und intensiviert worden. Mobile Einsatztruppen sind ein Beispiel dieser veränderten Staatsgewalt. Zur ihren Aufgaben gehört, überall und zu jeder Zeit - sozusagen aus dem Nichts heraus - kampfbereit zu sein. Sie bewirken eine Virtualisierung der Staatsgewalt, die allen Koordinatenpunkten des sozialen Feldes immanent wird und dieses als Angsttraum konstituiert. Das jederzeit einsatzbereite SWAT-Team* ist für spätkapitalistische Verhältnisse ebenso charakteristisch wie die produktiven Mechanismen, in denen durch Disziplin und Proba• Abk. für Special weapons and tactics team
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bilisierung Macht in virtuelle Kontrolle transformiert wird. Die Virtualisierung von Macht als Gewalt durch Sondereinsatzkommandos geht einher mit der Veränderung der Befehlsstrukturen. Der Befehl wird entpolitisiert, d.h. er wird aus dem Bereich möglicher Verhandlung herausgenommen und "ungebunden" an Experten delegiert. "Ich werde die Hände der Generale nicht binden", tönte Bush. Der Befehl wird bedingungslos und unbedingt.
Affirmation und Verwerfung Der Krieg wird kommen, und mit ihm Demonstrationen dagegen. Frauen werden ermordet, an Universitäten finden teach-ins gegen Sexismus und Gewalt statt. Aber demonstriert wird ständig. Für die Medien ist es einfacher, Demonstrationen kurzzuschließen als den Krieg, gegen den sie angetreten waren, und teach-ins sind so unbedeutend, daß man sie gar nicht erst kurzzuschließen braucht. I Niemand nimmt sie zur Kenntnis. Mitunter gelingt es, durch Ausübung von Druck auf die Regierung einzuwirken, aber auch so werden nur Teilerfolge erzielt. Die einzige (Nicht)Reaktion der Regierung auf das Massaker von Montreal war, den kanadischen Frauenzentren die Finanzmittel zu entziehen. Aber trotz angespannter Finanzlage hat dieselbe Regierung unverzüglich drei Millionen Dollar pro Tag bereitgestellt, als es galt, die amerikanische Expedition am Golf zu unterstützen. Es erscheint schwierig, wenn nicht unmöglich, den "Spieß umzukehren" und den Angst- und Leidensraum aufzubrechen, der im Spätkapitalismus unsere tägliche Umwelt ist - nicht zuletzt darum, weil Einsatztruppen bereitstehen, die jederzeit gegen militante Oppositionelle vorgehen können. Es ist schwierig, neue Strategien zu erfinden. Es ist nicht einfach, nicht zu verzweifeln. Die globale Wirkung der Medien und Machtmechanismen lähmt alle lokalen Widerstandsversuche . Die Untersuchung der kapitalistischen Unfallform könnte helfen,
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neue Wege für radikale Änderungen zu finden. Aber es ist leichter, anhand der vorliegenden Ergebnisse die Unzulänglichkeit der meisten Forschungsansätze, die heutzutage praktiziert werden, aufzuzeigen. Der Versuch, Ursachen ausfindig zu machen oder durch "besseres Wissen" die "wirklichen" Gründe der Krise zu erkennen, um auf diese Weise das gestörte soziale Gleichgewicht wiederherzustellen, geht aus zweierlei Gründen fehl. Die Distanz zwischen Ursache und Wirkung ist nicht bloß eine "Mystifikation" der Wahrheit. Sie ist real und einerseits durch die Schleifen der Massenmedien, andererseits durch die intensive und extensive Kolonisierung des Daseins im Spätkapitalismus bedingt. Die Konvergenz von einstmals unterscheidbaren Sphären wie Produktion und Konsumtion, die Rückkoppelung beider Bereiche, die Verflechtung von Vergangenheit und Zukunft, der prosp~~tiven und retrospektiven Dimension der Machtapparate (Uberwachung und Wahrscheinlichkeit), das alles bedeutet, daß - auch dann, wenn man von der durch 'die Medien herbeigeführten Entdifferenzierung absieht - Ursache und Wirkung nicht länger das sind, was sie waren, oder besser: was wir glauben möchten, daß sie waren. Eine Mystifikation wäre es, wollte man zu Begriffen einer linearen Kausalität zurückzukehren. Auch die Katastrophentheorie kann nicht auf die Medienanalyse angewandt werden (Doane, MeIlencamp), denn sie setzt Perioden relativer Stabilität, die von diskontinuierlichen Krisen erschüttert werden, voraus. Wenn es zutrifft, daß die menschliche Existenzbedingung eine Art generalisierter Ungleichgewichtszustand ist, stellen Gleichgewicht und Kontinuität keine zentralen Begriffe mehr dar, auch dann nicht, wenn sie dem Katastrophenbegriff untergeordnet werden. Aber auch vor apokalyptischen Visionen ist ZU warnen Wenn die Apokalyse tatsächlich so nahe ist wie sie überhaupt nur sein kann, besteht keine Notwendigkeit, sie abermals anzukündigen (KrokerfKroker). Apokalypse heißt, daß das Tausendjährige Reich kein Ereignis ist. Schließlich wird die Vorstellung von Basis und Überbau hinfällig, wenn ökonomische wie subjektive Existenz gleichermaßen auf freiem
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Fall beruhen. Vielleicht sollte man den Kausalitätsbegriff erweitern, in Richtung auf Rekursivität, Ko-Kausalität oder Mehrfaktorenanalysen. Wahrscheinlich ist die Kausalität aber auch so nicht zu retten, und was bleibt, sind Wirkungsnetze und Syndrome. Syndrome bedeuten das Ende der Kausalanalyse. Man kann sie nicht erschöpfend begreifen, sondern nur durch experimentelle Eingriffe pragmatisch verändern und muß dabei in mehreren Syndromfeldern zugleich operieren. Die Virtualisierung der Grenzen führt auf eine andere Reihe von Fragen. Untersuchungen zum Beispiel, die die zeitgenössische Funktionsweise von Angst in Begriffen wie "moralische Panik" darstellen, bleiben in der Freudschen Vorstellung befangen, daß individuelle Phantasien und Wünsche auf kollektive Prozesse projieziert würden. Die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderem wird dabei zwar als durchlässig erachtet, bleibt aber als solche intakt. Das Selbst wird als gebundener,begrenzter Raum behandelt. Wer von solchen Vorstellungen aus "Entfremdung" überwinden und die Gesellschaft nach "menschlichen" Prinzipien organisieren will, übersieht, daß das "Menschliche" jenseits oder außerhalb der "Entfremdung" nicht aufzufinden ist; daß die grundsätzliche Unmöglichkeit einer Koinzidenz des Selbst den einzigen Ort des "Menschlichen" darstellt; daß Teilung die einzige Universalie des "Menschen" ist. Alle diese Ansätze gehen davon aus, daß Grenzen mehr oder weniger unverrückbar und insofern konstitutiv sind. Aber wenn die Grenzlinien fluktuieren und kontingent und intermittierend sind; wenn sie nur unter der Bedingung, daß sie eine Form, die anderer Natur ist, aktualisieren, als eine effektive Begrenzung oder Schranke fungieren; wenn sie, anders gesagt, abgeleitet sind und die Gleichung, aus der sie abgeleitet sind, eine Potentialität ausdrückt dann verschiebt sich das Problem von Grund auf. ' Diese gleichsam tektonische Verwerfung ist folgenreich, insbesondere wenn man sich ein Urteil über die zahlreichen kollektiven Widerstandsbewegungen bilden will, denen es um die Verteidigung von besonderen Identitäten geht. Eine Identitätspolitik, die nur darauf abgestellt ist, die Interessen einer
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Gruppe, die durch bestehende gesellschaftliche Unterscheidungen definiert wird, zu wahren, greift offenbar zu kurz. Sie neigt dazu, eh schon eingespielte Grenzlinien zu verfestigen und appelliert zuletzt an vorkapitalistische Bindungen. Man verteidigt das eigene Haus, das angestammte Territorium, d.h. Schwellen und Grenzlinien, die, auch dann, wenn sie reformiert und mit neuen Werten ausgestattet werden, immer schon als Wirkungen und Unterscheidungen des Kapitalverhältnisses und seiner Aktualisierungsmacht gesetzt und verschoben worden sind. Auch wenn diese Merkmale noch so politisiert werden, sie bleiben Residuuen und Produkte der kapitalistischen Verflüssigung. Zwar kann es geschehen, daß die eine oder andere Verschiebung gerade darum erfolgt, weil man die Ansprüche einer Interessengruppe nicht länger übersehen kann. Aber auch eine politisch noch so artikulierte Identität stellt im besten Fall eine statische Oase in der höchst beweglichen Wüste des Kapitals dar, eine lokale Reterritorialisierung, die in unwirtlichem Gelände Grenzpfähle errichtet. Eine Gemeinschaft, die sich aufgrund ihrer Identität stabilisiert, ist ein Archaismus, wenn nicht trotz, so wegen ihres Erfolgs. Ihr potentiell revolutionäres Potential wird durch die konstitutive Nichtanpassung an die deterritorialisierte Strömung, in der sie forttreibt, aufgezehrt. Die Schwäche aller Identitätspolitiken ist, etwas Abgeleitetes zur Heimstatt zu erklären. Das Verhältnis entgleitet ihnen. Eine Gemeinschaft, die sich auf der Basis gesellschaftlich anerkannter Unterscheidungen - betreffen diese nun Sexualität, Klasse, Rasse, Abstammung, Nationalität oder Religion - definiert, hinkt immer zurück hinter der Verschiebung des sozialen Feldes, die durch das Kapital herbeigeführt wird. Solche Gruppen werden nach außen hin durch ihre Kämpfe für spektakuläre soziale Errungenschaften (Sicherheit des Arbeitsplatzes, Zugang zum öffentlichen Dienst, Bürgerrechte usw.) aufgerieben, Errungenschaften, die sich jederzeit wie Imponderabilien verflüchtigen können, und müssen nach innen hin fortwährend ihre Mitglieder disziplinieren, um sie trotz aller laufenden Veränderungen "bei der Stange zu halten". Auf Identität aufgebaute Gruppen definieren Zugehörig-
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keiten aufgrund von empirischen Merkmalen und bevorzugen ein lineares Zeitschema, so daß die Gegenwart als Übergang aus einer schmerzvollen Vergangenheit in eine hoffnungsvollere Zukunft erscheint. Sie versuchen in einem Milieu, dessen Horizont das futurum exactum ist, eine Gegenwart aufrechtzuerhalten, und verlangen nach einem Sein, obgleich ihr Inneres von einem Werden bearbeitet wird. Damit wird nicht gesagt, daß Gemeinschaften, die auf besonderen Zugehörigkeiten basieren, sich nicht um die kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder kümmern und ihre Kämpfe für das Recht, kritische Machtschwellen zu überschreiten, nicht intensivieren sollten. Oder daß man die bekannten Strategien der Oppositionspolitik (Demonstrationen, Interessenvertretung, Öffentlichkeitsarbeit, ziviler Ungehorsam) einfach aufgeben soll. Man darf nur nicht aus dem Auge verlieren, daß Grenzen, wie auch immer beschaffen, "künstlich" sind und sich ständig verschieben. Im übrigen kann man sicher sein, daß Identitäten, die sich nicht selbst bestimmen, anderweitig bestimmt werden, was in der Regel zu unerträglichen Ausschlüssen führt. Es geht also weniger darum, Identitätspolitiken einfach aufzugeben, als um den Versuch, sie zu ergänzen und komplizierter zu gestalten. Dies kann erstens dadurch geschehen, daß man eine neue Perspektive anfügt. Denn man kann das Besonders-Sein einer Gruppe in einem linearen Zeithorizont auch als ein Werden des Besonderen in einer fraktalen Zeit, in der eine Identität immer anders sein wird, als sie war, verstehen. Auf diese Weise wird dem Umstand Rechnung getragen, daß auch Zugehörigkeitsgruppen fortwährend ihre innere Zusammensetzung ändern. Man geht davon aus, daß es eine Öffnung gibt, die die eigene Identität übersteigt, und Kräfte wirken, die ins Unbekannte weisen. Statt die besondere Identität als eine empirische Gegebenheit aufzufassen und vollends zu dem zu machen, was sie ist, statt sie zu positivieren, muß man sie affirmieren, d.h. als das nehmen, was sie ist und nicht ist oder sein könnte. Sie wird also nicht definiert, sondern als ein Potential verkörpert, das, indem es sich mit den Kräften des
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Außens (dem Unfall, Zufall, Ereignis) verbindet, die Möglichkeit des Anders-Werdens enthält. Wenn Subjektivität und Kapital verschweißt sind und tendenziell koinzidieren, dann bedeutet die Verkörperung eines Potentials die Verkörperung eines generischen Verhältnisses. Es geht daher zweitens darum, eine Bewegung anzufügen. Denn durch Anfügung einer Bewegung wird ein Prozeß in Gang gesetzt, der von der spezifischen Identität zu ihrer Aufsplitterung führt, vom Besonders-Sein zu einem mannigfachen Singulär-Werden des Besonderen. Das Anders-Werden setzt das Verwandlungspotential frei, das in der spezifischen Identität gleichsam aUfgestaut ist, aber die Bewegung produziert als Rückstrom ein Generisches. Eine besondere Identität, deren Teile singulär geworden sind, ist eine Menge, die sich in eine wechselnde Konstellation von neuen Mengen verwandelt, die jeweils nur ein Element aufweisen. Jedes singularisierte Element oder Mitglied konstituiert eine Spezies, deren einziges Exemplar es ist. Es erwirbt so eine Generizität, die gänzlich inhaltslos ist und keine weitere Besonderheit aufweist. Die Singularisierung verändert die Bedeutung des Generischen. Dieses stellt nun nicht länger eine Identitätsform dar, die durch den Inhalt, der sie spezifiziert, erfüllt wird (die Inhalte bilden dann eine Untermenge, die als Standardvariation einer Form definiert werden kann). Das Generische selbst vielmehr verwandelt sich: es ist nicht mehr ein leerer Behälter des Seins, sondern wird zu dem Ort oder Situs, an dem die Transformation geschieht. Jeder Körper, wo immer er sich auch befinden mag, hat zu diesem Ort Zuritt, ohne sich dabei um einen Inhalt kümmern zu müssen. Und wenn ein Situs eine Transformation stimuliert, heißt Zutritt soviel wie Übertritt. Der Zutritt zu der Potentialität, die am Situs des Generischen lagert, wird also durch bestehende soziale Unterschiede geregelt. Wenn es um eine Abweichungstendenz geht, die gegen Inhalte gleichgültig ist, stellt sich nicht länger die Frage nach der empirischen Zugehörigkeit. Es gibt keine extern bestimmten Zugangskriterien zu einem Ort, der sich von sich selbst abstößt. Das Generische bleibt durch diese singuläre Mutation so leer 98
und unbestimmt wie es war, obschon auf andere Weise: es bezeichnet die Leere des unmittelbaren Zugangs zu einem unbegrenzten, virtuell ungebundenen Potential. Die zweite Bewegung, das Generisch-Werden des Singulären im Kapital (Badiou 1989, S. 85 ff.) entbindet oder deterritorialisiert also alle kapitalisierten Potentiale. Sie ergänzt die erste Bewegung, das Singulär-Werden des Besonderen. Die erste Bewegung ist eine Simulation, oder Produktion einer "Kopie ohne Modell", die zweite eine Fabulation, oder Produktion eines "Modells ohne Kopie". (Gemeinhin wird der Begriff des Generischen abwertend gebraucht, generisch sind verschliffene, identische Kopien. Aber hier geht es nicht um diese abwertende Bedeutung, und wenn sie sich nicht eiimieren läßt, muß man den Ausdruck eventuell austauschen.) Wenn die Simulation ein Singulär-Werden ist und Singulär-Werden heißt, das einzige Exemplar einer Spezies werden, dann kann man sich die Simulation auch als "Monstration", als Geburt eines Monsters vorstellen (Haraway 1991, S. 21 f.). Eine Demonstration verhält sich zu einer Monstration wie eine empirisierende Designation zu einer ungewöhnlichen Exemplifizierung (Agamben 1989). Bedeutet Simulation das konkrete Auftauchen eines singulären Wesens, so Fabulation die Abstraktion seiner Beispielhaftigkeit - ein Exempel, das nichts exemplifiziert außer seiner Singularität. Simulation - die Aktivierung einer bloßen Kopie, der Kopie als solcher, und das heißt: Abweichung - und Fabulation - die Emission eines bloßen Beispiels, reine Exemplarität, und das heißt: Attraktion - sind untrennbare, einander welchselseitig ergänzende Aspekte des Werdens. Es sind paradoxe, aber nicht widersprüchliche Bewegungen, die sich einander wie Grenzen annähern, aber nicht überschritten werden können. Simulation und Fabulation stellen kein binäres Gegensatzpaar dar. Es handelt sich um Bestimmungen, die sich kreuzen, d.h. um Bewegungen, die einander begleiten und in unterschiedliche Richtungen laufen, wie Strömungen in einer Welle. Singularisierung und Fabulation sind als Abweichung und Anziehung unmittelbar kollektiv. In der Singularisierung geschieht 99
ein geteilter, gemeinsamer Aufbruch: Mitglieder eines konstituierten Kollektivs trennen sich, von einander und vom Kollektiv. In der Fabulation dagegen geschieht die Anziehung der abweichenden Singularitäten: sie treten in eine neue Konstellation ein und kristallisieren eine neue Kollektivität, eine Kollektivität freilich, die kaum daß sie sich bildet, sich auch schon wieder auflöst. Während Identität ein Individuum auszeichnet, produziert das Werden das Dividuale (Deleuze 1993, 258). Dividual ist die Bewegung einer Kollektivs, das nicht fortschreitet, ohne zu stolpern, das sich nicht als Einheit bewegen kann, ohne sich zu differenzieren. Ähnlich wie das System des Kapitals kann auch ein werdendes Kollektiv keine Einheit herstellen, ohne zu teilen. Aber die Bedeutung von "Einheit" und "Teilung" hat sich hier von Grund auf verändert. Einheit bezeichnet nicht mehr die vermeintliche Ewigkeit einer subsumierenden Totalität, sondern den Eintritt der Zukunft als koordinierte Abweichung, und Teilung meint nicht die Gegenwart der Konkurrenz, sondern die geschehend-geschehene Vergangenheit der Konvergenz einer Gruppe. Einheit und Teilung bilden keinen Gegensatz, sondern stehen in einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis. Der Kapitalismus universalisiert generische Bedingungen (des freien Falls), die sich in spezifische Situationen teilen (das kontinuierliche Floaten). Freier Fall und Floaten verschlimmern sich statt sich zu ergänzen. Sie provozieren einen Widerspruch, der nur durch einen sich selbst annulierenden Kaufakt aufgelöst werden kann. Das individuelle oder aktualisierte Subjekt gleicht einem Span, der durch die Reibung der generischen und spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Existenz sich im Kaufakt entzündet und im Konsum verbrennt. Auch wenn das Werden Bewegungen, die im Kapitalismus begonnen haben, verlängert und in mancher Hinsicht eine Ausdehnung des Kapitalismus darstellt, trennt es sich am Ende von der Bewegung des Kapitals. Während diese durch Teilung Einheit herstellt, globalisiert das Werden die Singularität. Auch die Unterscheidung global/ singulär ist eine "Kreuzbestimmung" und stellt damit eine Alternative zu binären Unterscheidungen wie universal/partikulär, 100
GanzeslTeil, Gesellschaft/Individuum usw. dar. Das Werden ist eine Kaskade von Simulationen und Fabulationen, die durch den Kaufakt wirbeln. Das Dividuale kennt den Kaufakt nicht; es ist ein Singulär-Werden, das die Spezifizierung unterwandert, und ist mit einem Generisch-Werden verbunden, das die Identitätsform zersetzt. Wenn das Singulär-Werden, die Simulation, eine Affirmation ist, so stellt das Generisch-Werden, die Fabulation, eine Verwerfung oder Abjektion dar. Fabulieren heißt, die Identitätsform im Prozeß der Singularisierung der jeweiligen Besonderheit abwerfen oder verwerfen. Man verliert den Boden unter den Füßen und praktiziert an sich den freien Fall, den man im Kaufakt zu bannen sucht, indem man ihm die Form des Seins erteilt. Eine Verwerfung ist reine Angst, Angst als solche, die durch keine Identität geschützt wird und nicht im Koordinatennetz des Kapitalverhältnisses vermeßbar ist. Sie empfängt den Unfall, kennt keine Abschreckung, keine mittlere, sondern nur hohe Intensität. Nur der Witz der Simulation, von dem sie aufgefangen wird, kommt ihr an Intensität gleich. Das inviduelle, aktualisierte kapitalistische Subjekt entstand an der KontaktsteIle von generischer und spezifischer Identität, an dem Punkt, wo sich Waren- und Lohnverhältnis überschneiden. Das Werden verschiebt den Situs der kapitalistischen Aktualisierung. Das Dividuale fungiert dabei als Scharnier zwischen dem Singulären und dem Exemplarischen. Da Singularität und Exemplarität Grenzen oder Schwellen darstellen, die nicht überschritten werden können, sind sie immer nur tendenziell miteinander verknüpft. In dieser tendenziellen Verknüpfung ist eine Spannung, ein Sehnen oder eine Sehnsucht angelegt (Hooks 1990, 27). Eine Sehnsucht ist ein Für-sichWerden des Subjekts, dessen An-sich-Sein Gegenstand von Tausch und Kauf ist. Sie ist kein Gefühl, da sie nicht Inhalt einer spezifischen Identität ist, auch kein Affekt, der die körperliche Inhärenz des Gefühls bezeichnet, sondern eine freie, schwebende Affektivität: das Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden. Sehnsucht ist eine Tendenz ohne Ende, sie erlöscht nie, verzehrt sich nicht. In ihr ergänzen sich 101
Donzelot, J.•Une anti-sociologie", Esprit, Dez. 1972 Haraway, D.•The Actors are Cyborg, Natureist Coyote, and the Geography isl elsewhere? Postcript to 'Cyborgs at Large'" in: Teehnoeulture, hrsg. v. C. Penley u. A. Ross, Minneapolis 1991, S. 21 ff. Hooks, 8., "Postmodern Blackness", in: Yearning, Boston 1990 S. 23 ff. Kroker, A./Kroker, M. (Hrsg.), Body Invaders: Panie Sex in Amerlea, New York 1987 dies., Panie Eneyelopedia: The Definite Guide to the Postmodern Scene, Mantreal 1989 MeIlencamp, P., TV- Time and Gatastrophe, or Beyond the Pleasure Prineiple of Television, in: dies., Logies of Television: Essays in Gultural Gritieism, 81oomington 1990, S. 240 ff. Negri, A., Revolution Retrieved. Seleeted Writings on Marx, Keynes, GapaitaUst Grisis and New Social Subjets 1967 - 1983, London 1988 Trinh, T., Woman, Native, Other, 810omington 1989
paradoxale Bewegungen zu einer Art von Exzeß, der weder Sein noch Mehrwert ist, der weder identifiziert noch kalkuliert und vorallem nicht gekauft oder akkumuliert, sondern nur verkörpert werden kann. Ein Werden ist virtuell von der Universalität der kapitalistischen Spezifizierung abgelöst und kehrt an den Körper, den Ort einer globalen Abweichung, zurück. Es ist die exemplarische Verkörperung des singularisierenden Exzesses. Im Werden ist die Zeitlichkeit des Futurum exaktum in eine Deontologie des Nicht-Funktionierens eingewoben. Es bildet die Pragmatik der nachkapitalistischen Affektivität. Wer fällt, wird. Wer mit andern fällt, wird singulär. Wer mit andern fällt, wird singulär in der globalen Umfassung der andern. Wer mit andern fällt, wird singulär in der globalen Umfassung der andern und teilt den Impuls einer Ethik des Sehnens. Die Gleichung, die abgeleitet werden muß, impliziert eine wechselseitige Addition und tritt an die Stelle der kapitalistischen Teilung. Oder weniger binär ausgedrückt: ist die kapitalistische Gleichung erst einmal abgeworfen, so verwandelt sich in jeder Teilung die Natur des zu Teilenden.
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Clemens-Carl Härle Karte des Unendlichen
1. Ereignis Deleuze hat kein System formuliert und sein Werk nicht unter einem Titel, der Schule machen könnte, vorgetragen. Seine Bücher liefern kein Losungswort, das ein Programm entwirft oder eine Richtung des Denkens anzeigt. Diese Zurückhaltung gegenüber den überlieferten Formen der philosophischen Darstellung hat - nicht nur im deutschen Sprachraum, wenn auch hier im besonderen Maße - ihre Aufnahme erschwert, sowohl in der Akademie wie in der öffentlichen Diskussion. Sie erfüllen nicht die Erwartung, die der Zeitgeist an den Ausdruck des Gedankens stellt. Bekanntlich muß ein Werk ja, ob im Bereich der Kunst oder der Philosophie, ein Erkennungszeichen tragen, um bemerkt und "rezipiert" zu werden. Die Folge dieser Unbekümmertheit um die Bedingungen der Aufnahme war, daß die Schriften von Deleuze und Guattari, die im übrigen nur zögernd übersetzt wurden, sprunghaft und zerstreut gelesen wurden und an den Universitäten, von gelegentlichen Ausfällen abgesehen, wenig Beachtung fanden. Deleuze' Absage an System, Programm und Kennwort ist nicht nur dem Bestreben geschuldet, sich den Wechselfällen des Markts und den ZWängen der Akademie zu entziehen. Sie verweist auf eine Schwierigkeit, die aus der Verfassung der Philosophie selbst resultiert. Im Unterschied zu anderen Gestalten des Wissens kann die Philosophie ihre Gegenstände nicht als gegeben voraussetzen und ihre Begriffe nicht als Entsprechungen zu dieser Gegebenheit einführen. Zwischen dem Denken und dem Gedachten waltet ein Intervall, dergestalt, daß die Darstellung des Gedachten für die Philosophie zu einer Aufgabe sui generis wird. System, Methode und Programm sind Mittel, diese Lücke, in der die Möglichkeit der Philosophie beschlossen ist, zu überspringen, um den Gedan104
ken dem Aufnehmenden trotz allem faßlich zu machen. Eben darum sind sie anfällig: sie werden zur Etikette und zum Jargon angesichts der Subsumtion von Mitteilung und Sprache unter die Warenform. Die Rücksicht auf DarsteIlbarkeit entspricht mithin einer Nötigung, die aus dem Impuls des Denkens selbst erwächst. 1 Nicht zuletzt darum hat Deleuze immer wieder dargetan, daß Philosophie nicht so sehr als Reflexion oder Argumentation, sondern als Erfindung und Verfertigung, als "Disziplin der Erschaffung von Begriffen" zu verstehen ist. 2 Die Reflexion verweist auf die Selbstpräsenz eines Bewußtseins und die Innerlichkeit eines Subjekts, die Argumentation auf die Ordnung der Sätze und die Tatsächlichkeit ihrer Referenfen. In Begriffen dagegen schießt die Kraft des Denkens zu einer Figur zusammen, einer Konstellation ineinander geschlungener Motive, die als Darstellung desjenigen aufgefaßt werden kann, was im Denken sich der Darstellung entzieht. Die Bücher von Deleuze - diejenigen, die er mit F. Guattari zusammen verfaßt hat, nicht ausgenommen - zeugen von dieser unabgesetzten Sorge für den Begriff, der stets wieder von I neuem erfunden, verkettet und umgeschaffen wird. Wenn ihr' Verständnis mitunter Schwierigkeiten bereitet, so darum, weil der philosophische Ausdruck darin das Ausgedrückte nicht reproduziert, sondern allererst konstituiert, und die Variation das Motiv als solches nicht festhält, sondern in die Durch-,. führung hineinzieht, abwandelt und umbildet. Die Begriffs- ..:::::" kaskaden von Deleuze sind ohne feste Sigle, die die Identifi-; kation und Wiedererkenntnis des Gesagten verbürgen könnte. tn ihnen hallt, unvernehmlich, der Schrei der Eule der Minerva wider, das Rascheln des Flügelschlags ihres unzeitigen Flugs. Denn anders als Hegel meinte, resümiert der Gedanke das
1 Auf die Frage der Darstellung von Philosophie geht Deleuze ausdrücklich ein im Vorwort zu Differenz und Wiederholung (1968), dt. München 1992, S. 11 ff. 2 G. Deleuze/F. Guatlari, Du'est-ce que la philosophie, Paris 1991, S. 10. HInfort zitiert nach der Sigle DPh.
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Ereignis nicht, sondern erzittert unter seinem Einbruch. 3 Ein Begriff kann nicht auf ein Wort, das er markiert, und auf .. den Satz, in den er eingerückt ist, reduziert werden. Er insistiert in der Sprache und wirkt in ihr so, daß die Sätze zum Medium seiner Darstellung werden. Wenn der Syntax des philosophischen Texts eine eigentümliche Spannung eignet, so darum, weil sie von Begriffen skandiert wird, die nicht unmittelbar syntaktischer oder semantischer Natur sind. Begriffe, so Deleuze, sind Bündel von intensiven Zügen oder Merkmalen. Ein Begriff, oder Bestandteile eines Begriffs, können Bestandteile eines anderen Begriffs sein. Ein Begriff drückt mithin nicht aus, was mehreren Objekten gemein ist, sondern ist durch die jeweils besondere Verdichtung der Merkmale, die er herstellt, gekennzeichnet. Ein Begriff ist nicht universell, denn Universalien sind relativ auf den Standpunkt, von dem her sie ins Auge gefaßt werden, mithin auf andere Begriffe. Er konstituiert vielmehr ein fragmentarisches Ganzes, insofern distinkte, ungleichartige Merkmale in ihm untrennbar verknüpft sind. Durch eben diese 'Konsistenz entfernt sich der Begriff von der zufälligen Wirrnis des Chaos und kann von dem Medium, in das er eingelegt ist, abgehoben werden. --Um ein Beispiel zugeben: der Begriff des Gesichts in Tausend Plateaus (TP 229 ff.) umfaßt Momente, die nicht Arten einer Gattung sind, sondern Phasen darstellen, die das Auftauchen und die Verwandlung des Gesichts beschreiben: Dekodierung der Voluminosität eines Körpers (der im Fall des Menschen den Kopf einschließt); Freilegung einer Oberfläche an einem Körperareal, seine nGesichtung"; Auflösung oder Entstaltung des Gesichts, das unmenschlich, ausdrucksvoll oder ausdruckslos werden kann. Die Subjektivität wird in dieser Weise als eine Folge der Erschaffung des Gesichts, als ein Konsti-
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3 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari, Tausend Plateaus (1980), dt. Berlin 1992, S. 111. Hinfort zitiert nach der Sigle TP, Bereits in dem Gespräch, das Deleuze aus Anlaß des Erscheinens von Tausend Plateaus mit R. Maggiori u.a. führte, wird das Buch als .livre de concepts" bezeichnet. Vgl. Entretien sur Mille Plateaus (1980), in: G. Deleuze,Unterhandlungen (199) dt. Ffm 1993 S. 41
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tutum, verstehbar und schwankt zwischen dem unauslöschlichen Grund der Animalität einerseits und ihrer virtuellen Transfiguration in Sakralität andererseits. Der Begriff des Gesichts kann als Komponente in andere Begriffe (psychiatrische, literarische, malerische, kinematographische Zeichenregime) eintreten, die auf unterschiedliche historische Situationen verweisen. Er gewinnt seine Konsistenz dadurch, daß die Übergänge zwischen den Phasen als Wirkungen einer immanenten abstrakten Maschine erfolgen, die ihrerseits zwei Pole (weiße Wand/Signifikanz, schwarzes Loch/Subjektivität) aufweist. Konsistenz bedeutet nicht, daß ein Begriff eine selbstgenügsame, sich in sich selbst bewegende Entität darstellt. Er kann zwar abgehoben werden, existiert aber nicht als eine autonome Entität, sondern insistiert in der Sprache. Eine eigentümliche Verschränkung von Begriff und Chaos, Synthesis und Nicht-Synthesis, ist vielmehr grundlegend für Deleuze' Auffassung vom Begriff. Begriffe sind grundsätzlich auf ein Feld oder eine Zone bezogen, die nichtbegrifflicher Natur ist. Sie sind, wie Deleuze sagt, in einer oder auf eine Erstreckung (spatium) verteilt und bevölkern einen Plan, eine Ebene oder Plateau. (DW 291) Diese nichtbegriffliche Ebene ist kein äußerlicher, empirischer Sachverhalt, keine historische Realität, die vor oder unabhängig von den Begriffen besteht. Sie ist auch keine Grenze oder Unterschied zwischen (fertigen) Begriffen, sondern bezeichnet sozusagen eine innere Grenze, ein Außen im Innen des Begriffs. Die Philosophie erschafft Begriffe und setzt sie in Konfigurationen, eben weil sie eine bestehende Welt nicht bloß abbildet und verdoppelt. Aber diese Erschaffung ist kein reiner Akt, keine bloße Selbstanschauung des Geistes (noesis noeseos). Die Philosophie erschafft vielmehr Begriffe. " und kann dies nur darum, weil sie eine Bifurkation (schize); i<'" vollzieht und ineins mit der Verfertigung und Erarbeitung des Begriffs die Zone des Nichtbegrifflichen abschreitet, die Ebene der Begriffe auslegt. Was haben wir unter diesem Außen im Innen des Begriffs zu verstehen? Adorno würde sagen, es ist das Nichtidentische, 107
das Einspruch erhebt gegen die Reduktion des Seienden auf einen bloßen Begriffszusammenhang (und der Sprache auf einen Diskussionszusammenhang, möchte man hinzufügen). Deleuze setzt den Akzent anders und bestimmt das Nichtbegriffliche, dasjenige, das in der Synthesis des Begriffs nicht synthetisiert wird, worauf aber die Synthesis in ihrem Vollzug bezogen ist, als Ereignis. Die Philosophie erschafft Begriffe, nicht aus dem Nichts, sondern indem sie das Sein als Ereignis ausdrückt. "Der Begriff ist der Umriß, die Konfiguration, die Konstellation eines kommenden Ereignisses." (OPh 36) Oder genauer: der Begriff sagt das Ereignis, indem Philosophie in ihrem Tun eine doppelte Operation vollzieht: indem sie den Begriff erfindet und ineins damit die Ebene, in der die Begriffe verteilt sind, den absoluten Horizont der Begriffe, trassiert. Es ist die Bifurkation von Begriff und Ebene, die ermöglicht, daß der Begriff Ausdruck eines oder des Ereignisses ist. Auf diese Weise wird deutlich, warum Deleuze den Begriff nicht als Antwort auf die Frage nach dem Was, als Bestimmung des Wesens eines Dings (quidditas), aber auch nicht, wie in den Wissenschaften, als abstrakte Merkmalseinheit, die einem Ensemble von Individuen zukommt, versteht. Erstere setzt eine Ontologie der Substanz oder ein Vermögen der Wesensanschauung voraus, letztere eine empirische Gegebenheit und eine formalisierte Sprache, in der die Satzfunktion formuliert wird. Aber die Autarkie von Ding, Subjekt und Satz zurück· weisen, heißt nicht, den Begriff mit Hegel als "das eigene Selbst des Gegenstandes", als "Trieb, der sich durch die Objektivität hindurch seine Realität vermittelt" anzusetzen. Für die Dialektik geschieht im Begriff zwar ein "absolutes sich selbst doppelt Sehen", mit der Folge, daß der Gegenstand sich nicht bloß als ein Sein, sondern als das Werden des Begriffes darstellt. Aber diese Doppelung und dieses Werden werden nicht als Wirkung der Differenz von Begriff und nichtbegrifflicher Ebene verstanden, sondern spekulativ als ein "Schauen des Selbst in das Selbst".4 Auch die Dialektik unterschlägt das 4 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), ed. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 49 und 414; Wissenschaft der Logik (1812), Band 11, ed. Lasson, Hamburg 1934, S. 415 108
Ereignis, nicht zwar wie der Essentialismus, der es a pnoTl ausschließt, oder die Sprachanalytik, die es zu einem bestehenden Sachverhalt herabsetzt, sondern indem sie es in der Selbstbewegung des Geistes "erinnert", als dasjenige, was geworden bzw. gewesen sein wird. Ein Ereignis ist dasjenige, das "in sich selbst sich selbst und die Ebene überfliegt", "der Teil in allem, was geschieht, der sich der Aktualisierung entzieht" (QPh 148, 147). Oder anders gesagt: das Ereignis aktualisiert sich zwar in einem Sachverhalt, einem Körper, einem Erlebnis und birgt doch zugleich in sich ein Element, das sich unaufhörlich der Aktuatisierung entzieht oder hinzufügt. Eben darum hat ein Ereignis weder Anfang noch Ende, sondern hält in sich eine unendliche Bewegung aufgespeichert, der es Konsistenz erteilt. Der Begriff kann zum Ausdruck des Ereigniss9s werden, wenn die Philosophie der Vorstellung der konstituierendl:m Subjektivität entsagt und an sich selbst die Trennung zwischen den Begriffen und dem Feld, das sie besetzen, vollführt. Sie offenbart hierbei die Subjektivität als ein Konstitutum, das in der Affizierung, die es verzehrt, eine passive Synthesis vollzieht: "Von allem, was ein Subjekt erleben mag, von dem Körper, der ihm gehört, den Körpern und Objekten, die sich von seinigen unterscheiden, von dem Sachverhalt oder physikalisch-mathematischen Feld, durch das sie bestimmt sind, hebt sich eine Wolke ab, die ihnen nicht gleicht und in der Schlachtfeld, Schlacht und Wunde nurmehr Bestandteile oder Variationen eines reinen Ereignisses sind, eines Ereignisses, das nur eine Anspielung ist auf die Zustände, die uns betreffen." (QPh 150) 5 Wir sind ausgegangen vom Begriff, sind auf das Außen im Innen des Begriffs gestoßen und haben dieses Außen in doppelter Weise bestimmt, als nichtbegriffliche Ebene der Begriffe \ und als Ereignis. Diese Doppelung des Außen ist entscheidend für Deleuze' Verständnis der Philosophie. Philosophie ist Erschaffung von Begriffen, oder anders gesagt: das Denken 5 Zur Subjektivität als Konstitu1um vgl. G. De/euze, Emplrlsme et subjectivite, Paris 1953, S. 118 ff, zur passiven Synthesis vgl. Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 102 ff. 109
erfüllt sich nicht in der - anschaulichen, intellegi~len, sprac~ lichen _ Bestimmung dessen, was ist oder geschieht, der seienden Welt. Indem das Denken Begriffe produziert, ist es reine Selbstaffizierung, Setzung des Begriffs. Eben weil es Selbstaffizierung ist, vermag es, den Sachverhalten und dem Gelebten das Ereignis zu entziehen "den Teil in allem, .w~s geschieht, der sich der AktualisierU~g e~tzieht". "Das Erelg~ls der Dinge und Wesen freizulegen, Ist die Aufgabe der PhIlosophie, wenn sie Begriffe schafft." (QPh 147, ~6) Indem das Denken in der Selbstaffizierung freisetzt, was Im Sachverhalt und im Gelebten nicht aktualisiert ist, kehrt es die seiende Welt gegen sich selbst. Die Philosophie str~~t nicht nach dem Ewigen, nach dem Ansich jenseits der Phanome~e, sondern zeigt die Bedingungen auf, unter denen die erschelne~d~ we~ eine Schöpfung, d.h. die Produktion von Neuem ermoghc~t. Aber eine solche Schöpfung oder Erschaffung von Begriffen ist nur möglich, wenn das Denken im Vollzug seiner Selbstaffizierung in sich selbst ein Außen gewahrt, die Ebe~e oder den Plan der Begriffe, "dasjene was dem Denken zutnner~t und doch zugleich das absolute Außen ist. Ein Au~en, das. auß~r Iicher als alle äußere Welt ist, da es ein Innen Ist, das tiefer Ist als die innere Welt." (Q Ph 59) Die Philosophie sagt im Begriff das Ereignis, und indem sie das Ereignis sagt, drückt sie .a~s, daß das Denken in seinem Innern von einem Außen affiZiert ist einem Ungedachten oder Undenkbaren, das gleichwohl nu~ gedacht werden kann. Das Denken ist Selb~~affizierung, da Schaffung von Begriffen, aber diese Selbstafflzlerung vollbringt nicht die Selbigkeit von Denken und Sein,. sondern I~gt zwischen Denken und Sein eine fortWährend Sich verschiebende Falte. Von dieser Disposition her wird verständlich, warum sich für Deleuze die Philosophie sich nicht als System artikuliert. Wenigstens die klassische Idee des Systems impliziert.: daß eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen oder Gegenstanden der Einheit eines Prinzips unterstellt bzw. aus einem solchen 6 G. Deleuze, Le pli. Leibniz et /e baroque,
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Paris 1988, S. 107
deduziert werden kann. Es fordert einen logischen Übergang zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Prinzip und dem, was durch dieses erschlossen oder konstituiert ~erden soll. Deleuze bestreitet die Möglichkeit eines solchen Ubergangs: die Begriffe müssen erfunden werden und können nicht aus dem Plan, der nicht die logische Allgemeinheit ist, deduziert werden, ähnlich wie der Plan nicht aus den Begriffen erschlossen werden kann, sondern mit der Erfindung der Begriffe aufbricht und trassiert werden muß. Die Differenz zwischen Begriff und der Sphäre des Nichtbegrifflichen ist keine Begriffsdifferenz. Das Reale ist nicht die Verwirklichung der idealen Form des Begriffs, sond~rn dasjenige, was zum Vorschein kommt, wenn in der Erfindung des Begriffs die konstituierte, bestehende Realität gegen sich selbst gekehrt wird. Andererseits kann aber die Mannigfaltigkeit der Begriffe auch nicht induktiv, durch bloße Aneinanderreihung lokaler, konstituierter Komplexe, gewonnen werden. Erfindung des Begriffs heißt ja, daß in den Poren der Aktualität des Gegebenen die Virtualität des Ereignisses aUfgespürt und in der Begriffsynthese ausgedrückt wird. Die Erfindung der Begriffs bedarf mithin einer Erfahrung, die nicht lediglich "Aufmerksamkeit auf ein Gegenwärtiges als solches" ist7 , Erfahrung des Gegenwärtigen als eines Gewordenen, sondern Erfahrung des Werdens selbst im Gegenwärtigen. Deleuze hat diese Erfahrung, die ein Unerfahrbares, das gleichwohl nur in der Erfahrung zugänglich ist, visiert, ausgehend von der unendlich variablen Intensität, die in jeglicher Affizierung, in jedem Affekt waltet, bestimmt. Intensiv bis hin an die Grenze der Empfindungslosigkeit (Anästhesie) ist Empfindung des Unsinnlichen in der Sinnlichkeit, die ErschOtterung der Sinnlichkeit, die "das Gedächtnis wachrüttelt und das Denken erzwingt".8 Die Erfindung der Begriffe verlangt dergestalt einen radikalen Empirismus, der die Bedinungen nicht der möglicheh, sondern der 7 Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O. 8 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 300
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wirklichen Erfahrung aufzeigt, des Werdens in den Spalten des Gegebenen. Diese Erfahrung stellt sozusagen die "subjek· tive" Seite der Erschaffung des Begriffs dar. Indem sich die Erfahrung nicht das Gegebene oder Gewordene aufgreift, sondern sich der nichtsinnlichen Grenze des Sinnlichen annähert, verwandelt sich der Charakter der Induktion: sie ist nicht länger Antizipation des Allgemeinen, sondern wird, in einer paradoxalen Umkehrung, zur Apprehension der Singularität und Komprehension der singulären Variation der Merkmale und Züge, die die Konsistenz des Begriffs ausmacht. I Adorno bemerkt, daß "das ästhetische Moment der Philosophie nicht akzidentell" ist. 9 Deleuze greift diesen Gedanken auf, wenn er dem Begriff ein gedoppeltes Außen zuordnet: das Ereignis, das der Begriff ausdrückt, und d~e nicht.be~riffli~h_e \ Ebene, die er bevölkert. Eben aufgrund dieser Nlchtldentltat des Denkens mit sich selbst kann "der Begriff als solcher Begriff des Affekts und der Affekt Affekt des Begriffs sein" (Q Ph 65). Deleuze hebt dergestalt die - Karnische - T~e~nung auf, die die Theorie der Sinnlichkeit als Form der möglichen und die Theorie der Kunst als Reflexion der wirklichen Erfahrung ansetzt. 10 Daß der Philosophie ein ästhetisches Moment nicht akzidentell ist, besagt, daß an der Wurzel des Denkens ein nichtsinnlicher Impuls, eine Affizierung liegt, vermöge der es im Begriff die singulären Bedingung der wirklichen Erfahrung erreichen kann. Die Philosophie wird darum nicht zur Kunst: denn die Immanenzebene, auf die in der Bifurkation des Denkens die Begriffe bezogen sind, ist ein Noumenon, ein Bild ~es Seins-Denkens, während die Produktionen der Kunst auf el~e Kompositionsebene bezogen sind, die Phänomen oder Bild des - unendlich großen, unendlich kleinen - Universums ist. Die Begriffe phänomenalisieren sich nicht, sie werden nicht anschaulich, aber sie "inspirieren neue Perzepte und neue Affekte", da sie in den Körpern das Unkörperliche und im Ge9 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, ? 26. 10 Zu dieser Transformation der transzendentalen Asthetlk vgl. Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 132 und Platon und das Trugbild (1967), in: Logik des Siinns (1969), dt. Franfurt 1993, S. 318 112
lebten das Unlebbare aufspießen. Eben weil die Begriffe eine nichtbegriffliche Ebene bevölkern, weil die Philosophie, indem sie Begriffe schafft, zugleich die Grenze des Begriffs als ein diesem innerliches Intervall aufreißt und trassiert, ist Philosophie, so Deleuze, dem Verständnis durch Nichtphilosophen zugänglich und bedarf dessen wesentlich. 11 Die zerstreute, sprunghafte und leidenschaftliche Aufnahme, die die Schriften von Deleuze und Guattari, abseits der Aufmerksamkeit der Medien und der Akademie gefunden haben, legt Zeugnis ab von diesem virtuellen, politischen Impuls, der in den Begriffen aufgespeichert ist.
2. Verwanqlung Wir haben Adorno erwähnt, nicht um die Besonderheit des Werks von Deleuze in Frage zu stellen, sondern um den Punkt zu bezeichnen, wo es sich einen Augenblick lang mit der Negativen Dialektik berührt. Deleuze und Guattari haben selber auf diese Affinität hingewiesen, wenn sie die Bewegung, in der die Philosophie die relative Deterritorialisierung des Kapitals ins Absolute steigert, das Kapital als innere Grenze der gesellschaftlichen Erfahrung suspendiert und gegen sich selbst kehrt, um die Sphäre des Begriffs zu erreichen, in der Kommunikation, Tausch, Konsens und Meinung vernichtet sind, der Anstrengung, die Adornos negative Dialektik unternimmt, verwandt erachten (QPh 95). Stets geht es darum, der "kapitalistischen Version der Gesellschaft der Freunde" den ,'\' Krieg zu erklären, sei es, um den "Schein von Identität" zu durchbrechen und das "Begriffslose mit Begriffen aUfzutun"12, 11 Vgl. G. Deleuze, Lettre a Reda Bensmaia, sur Spinoza (1989), in: Unterhandlungen, a.a.O., S. 237 und Qu'est-ce que la philosophie?, a.a.O., S. 43 12 Negative Dialektik, a.a.O., S. 15, 19. ,AUf diese Affinität hinzuweisen bedeutet nicht, den Unterschied zwischen Deleuze und Adorno in der AUffassung des Begriffs zu unterschlag~n. Der Begriff steIn für Adorno ein Moment der Naturbeherrschu~g dar, d.h. er streift seine propositlonale Form nicht gänzlich l,lb und bleibt auf Ontisches, das 113
sei es, um die Immanenzebene zu erreichen und dem Ere.ignis Ausdruck zu verschaffen, das "nach einer neuen Erde, einem neuen Volk verlangt". (ibid.) Vielleicht kann man auch in dem Vorhaben, das in Tausend Plateaus ausgeführt wird, einen solchen BerÜhrUngspun~t entdecken, auch wenn Adorno die Fluchtlinie, die da an sem Denken streift, sich wohl nicht hätte träumen lassen. Denn was anders ist Tausend Plateaus, wenn nicht ein großartiger Versuch den Gedanken ins "Sachhaltige (zu) geleiten", "in reale B~reiche hinein(zu)treiben", wie Adorno es von der Philosophie verlangt hat, damit sie abermals "i~h~lt1iche.r E,insicht" mächtig werde?13 Die Vielfalt der Matenallen, dIe m de~ Buch herangezogen und aufgearbeitet werden - aus Ethnologie und Linguistik, Ökonomie und Naturgeschichte, Ethologie und Literatur, Ästhetik und Politik -, läßt keinen Zweifel, daß es sich um den - dem Zeitgeist freilich eher widerstrebenden ~,/ Versuch einer Phänomenologie, oder genauer:~eatphiIOSoP.h~ handelt. Tausend Plateaus fOhrt den Gedanken"'aLJsder Sphäre der bloßen Selbstreflexion heraus und folgt der Maxime "Zu den Sachen selbst". Aber das bedeutet nicht, daß er sich unversehens dem Gegebenen zuwendet. Die Schrift besticht vielmehr durch die Begriffe. mit denen sie in die "Sachlichkeit" der Sachen, um die es zu tun ist, eingreift, und durch die . ungewöhnliche Darstellung, die es von ihnen gibt. Gemeinhin denkt man, daß Titel wie Phänomenologie oder Realphilosophie, ihrem Gebrauch bei Hegel folgend, di~ Konstruktion einer Totalität, sei es der Erfahrung oder des Wissens, bedeuten, eine Art enzyklopädische Darstellung des Wirklich~n und seiner Genesis. Anders dagegen Tausend Plateaus: hier wird kein System errichtet, sondern eine offene, d.h. un~bge schlossene, unabschließbare Reihe von Konstellationen Besondere Einzelne oder Qualitative, als auf einen transzendenten Sachverhait bezogen. Deleuze dagegen vindiziert dem B~Wiff, d~r das Ereignis sagt, ontologische Dignität, ohne Ihn darum freIlich - wie kommen darauf zurück - dem identitätslogischen Schema zu unterwerfen. 13 a.a.O., S. 8, 17
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vorgeführt, Eine Konstellation ist die Verdichtung eines Ereignisses in einem Netzwerk variabler, mobiler Begriffe. Sie nimmt nicht auf eine anschauliche, gegenständliche Gegebenheit Bezug, sondern enthält ein Schema von Funktionen und Verhältnissen, das ermöglicht, Sachverhalte oder Situationen von immer neuen Perspektiven aus zugänglich zu machen, ohne daß darum zwischen diesen eine naturate oder historische jedenfalls ontische Kausalität angenommen werden muß. Da~ Ereignis entspringt hierbei, gleichsam als Resultat, aus der begrifflichen Kontraktion ungleichartiger Situationen, und das Ensemble der Ereignisse, der "Kosmos·, wird durch die Reihe der Konstellationen gebildet, eine "unendliche Summe, die ihre eigenen Elemente nicht totalisiert".14 Der Kosmos, der in Tausend Plateaus dargestellt wird, hat nicht den Charakter einer "als vorgegeben gedachten realen Welt" (Husserl), sondern voll-zieht die Produktion des Mannigfaltigen, und die Bewegung, die ihn trägt, ist nicht linear noch zyklisch, sondern dadurch gekennzeichnet, daß sie, an unterschiedlichen Orten und Zeitpunkten, immer wieder neu einsetzt, um Konstellationen, Pla-teaus freizugeben, in denen sie Konsistenz gewinnt. Offenbar kann ein solches Unterfangen nicht von einer Ontologie des Dings (sei dieses auch in Bewegung) bzw. einer Kosmologie des Alls der Dinge aus in Angriff genommen werden. Das Wirkliche, die politisch-gesellschaftlichen ästhe-
-in
tischen~p'raChllc'hen-'SItuätionen-,-um~die'es t;ws~na
Piä-
teaus',,·-geht,'sind,miteirie-m. WorfB~nni, "Verwarldlungs- .;;~' zonen . Verwand~~l1.gsz()ne!l(;lißt. daß.die,E:inhelt des Objekts ~ner Nichtidentität lieg!, in seiner fortlaufenden oIfferenzierunQ~_in de!"' SC~i:lbe'"!._~~r=.A.t>wandlüngen;denen-es-unfer-- liegt, oder ,.mite.~IlI1_ g~l)pr()G.h~n,-)m-experiment~ljenAnsatz", in der Bewegung, "die nicht immer in einer eindeutigen Richtung verläuft, nicht Irfiffier-Tri-äTn.e' - EnifanÜrl~Cvon-=~riiA.n14 Die anti-aristotelische Auffassung der Natur als Produktion des Mannigfaltigen und ,unendliche Summe", die distributiv und nicht kollektiv, konjunktiv und nicht attributiv ist, hat Deleuze insbesondere am Beispiel des antiken Naturalismus dargetan. Vgl. Lukrez und das Trugbild(1961), in: Logik des Sinns, a.a.O., S. 352 115
werdenden Formen und. A~verfahren. mün.~et"15. Das ist Immanenz von Schichtung und Reale in Tausend Entschichtung, Ordnung und Unordnung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Die Abwandlungen, Schübe oder Variationen sind nicht wechselnde Qualitäten, Akzidentien oder Zustände eines beharrlichen Seins, bloßer Gestaltwandel, sondern Faktoren oder Differentiale einer KompräSenz, die nicht attributiver, sondern konnektiver oder distributiver Natur ist und keines substantiellen Trägers~darf. Deleuze hat immer wieder auf die Bedeutung des "~nd'~ hingewiesen, aber erst in Tausend Plateaus wird die ontologische Matrix erarbeitet die der Konnexion des Ungleicl:1artigen ihre Stelle '., " .. anweist.
PliifBaus
Es wäre unzureichend, wollte man die Konnexion nach dem Vorbild des physischen oder logischen Atomismus verstehen, als eine Beziehung, die zu den Elementen, zwischen denen sie waltet, hinzutritt. Verwandlungszone bedeutet vielmehr, daß Element und Beziehung untrennbar ineinander verschränkt sind, dergestalt daß der Veränderlichkeit der BeZieh~ng eine Veränderlichkeit der Elemente bis ins kleinste entspricht. Element und Beziehung gehören nicht unter~c_h..!~I~chefl.-Sp.här~~ ~n, die analytisch gefrennt -unanäcf11r8glicb.aufein.anderJ2rOJIziert-werden köi:fnten~'sondern konstituierenglelch~rm.!:tß_en (fas·'Wfi-kiiche.16 Element und Beziehung oder, um in den~S.~ 15 Vom .Gebiet der Verwandlungszone" spricht Benn, w~nn .auch zuweilen In, wie uns scheint, anthropologisch verengtem BlickWinkel, vor allem in Texten der späten 40er Jahre. Vgl. G. Benn, Doppelleben (1950), in: Gesammelte Werke IV, w~esbaden 197!, S. 1.45 16 Der logische Atomismus unterscheidet bekanntlich. ZWls~hen der Ebene der einfachen Gegenstände, deren. Konflgura~lOn den Sachverhalt konstituiert, und der Ebene der logischen Verbindungen, die durch die Verknüpfung von Termen mit logischen Kon~tanten hergestellt wird. Die Ontologie wird al~ Theorie de~ gegeneinander gleichgOltigen Gegenstände,. die L.oglk al~ Th~one .der .Satzve!bindungen und ihrer Wahrheitsfunktionen el~gefuh~t, die ~lldth.eone regelt die Koordination der beiden E~enen. Die Logik _hat hlerb~1 ~en Status eines Apriori, das durch Bedingungen der Adaquanz mit Sich selbst (tautologischer Charakter der logischen Umf?r":,ungen) u~d dem Realen (Nichttautologie und Widerspruchsfreiheit alsBedln-
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i-.griffen,_~?!1_Tau.s~!!c1..elgteaus-,.zu.reden, lnhaJLundAu~druck
. sind vielmehr'ineinander verschlungen, so daß "die kontinuier~ liche Variation notwendig Inhalt und Ausdruck zugleich erfaßt, i so jedoch, daß diese, als Momente ein und desselben Werdens . oder als Quanten ein und desselben Stroms, dissymmetrische ~ Rollen einnehmen". (TP 707) (Eine Zone bedeutet eine Erstreckung mit wechselnder Skansion und unbestimmter Kontur, das glissando, das dem unisono des Tons eine Vibration erteilt. Substanz und Form, Element und Beziehung, aber auch die klassischen Kategorien der Individuation, Ding und Person, stellen gegenüber den Singularitäten und Intervallen, die in und über einer Zone verteilt sind eine vergleichsweise sekundäre, makroskopische Aggregatio~ oder Idealisierung dar. Aber es geht, um die· Verwandlung zu erfassen, die in der Zone geschieht, nicht nur darum, die individuierende Differenz als dem Gattungs- und Artunterschied vorhergehend zu begreifen. Es gilt vielmehr, in der konstituierten Individualität jene infinitesimalen Kräfte, Foyers und Potentiale auszumachen, die das "Milieu" der Konstitution _bilden und das scheinbar Unteilbare teilen. Der Begriff der Singularität bezeichnet jene Inflexion, der die Einheit des Einen teilt, so daß die Unterscheidung von Element und Beziehung ihrerseits hinfällig und indifferent wird. Eine Verwandlungszone stellt eine Emission oder Streuung von vorindividuellen und unpersönlichen Singularitäten dar, dergestalt, daß eine gegenständliche oder personale Identität nurmehr als lokale Konvergenz von an sich divergenten Serien von Singularitäten konstituiert werden kann. Tageszeiten, eine Verfärbung oder Temperatur, Gebärden, eine Manier, Affekte, das unpersönliche Man sind Beispiele einer solchen subindivigungen der Referenz der Sätze) definiert ist. Der Immanentismus von Deleuze benimmt der Logik dieses Apriori und konstituiert die Sprache als variable.s, in sich heterogenes GefOge des Realen, dem gegenOber anderen, mchtsprachlichen Gefügen keinerlei Primat zu kommt. (vgl. 20. November 1923 - Postulate der linguistik, TP 105, und zur Heterogeneltät TP 358 ff.). Der formale Logikkalkül wird als reduktives die wissenschaftliche Aussage lediglich verdoppelndes Regelsyste~ behandelt (vgl. Prospects et concepts, QPh 128).
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duellen Individuation (Erinnerungen einer Haecceitas, TP 354). Die Qualität wird hier in die Alteration hineingezogen, die Quantität zur intensiven Größe, das Akzidenz zum unerahnten Vorkommnis, die Gestaltung Entstaltung. 17 Zu sagen, daß der Begriff keine Wesenheit oder Urteilsfunktion ausdrückt. sondern in einer Situation das Ereignis verdichtet und freigibt, bekommt nunmehr einen konkreten Sinn: der Begriff pointiert das Wann und Wo, das Wie und Wieviel. die Umstände und Koeffizienten der Verwandlung, der ungerichteten inneren Abweichung, von der das Seiel"l,de" bearbeitet wird. Wenn der Begriff der Mannigfaltigkeit in Tausend Plateaus eine solch grundlegende Roh~spielt, so darum, weit das Reale eine kontinuierlich-diskontinuierliche Emission und Dissemination von Singularitäten ist und die Singularität, als Inflexion verstanden, die Unterscheidung von Element und Beziehung bzw. Menge nicht zuläßt. Mannigfaltigkeit bedeutet zUnächst, daß ein Ding nichts weiter ist als unwesentliche Verhältnisse, die es durchqueren: Fluktuation, Disparität, Teilbarkeit,· schiere Ununterscheidbarkeit, und eine Person nichts weiter ist als die Folge der Zustände, die sie in immer wieder abweichenden Wiederholungen und Differenzierungen durchläuft. 18 Der Begriff der Mannigfaltigkeit bedeutet das Viele jedoch nicht als ein empirisches, gegebenes Mannigfaltiges (der Phänomene, Sinnesdaten oder Qualitäten), im Gegensatz zur identitätsoder reflexionslogischen Vorstellung von Einheit, sei diese nun als transzendente Entität, Unteilbarkeit der Substanz oder Einheit der Apperzeption gefaßt. Als Mannigfaltigkei t wird das Viele nicht als Prädikat genommen, das zum Subjekt hinzutritt, sondern seinerseits als Substantiv ausgesagt. Eine Mannigfaltigkeit ist solch ein Mittleres zwischen dem 17 Entstaltung nennt Benjamin die Auflösung des festen Umrisses einer in ein Farbenfeld eingetauchten, sich verfärbenden Figur, vgl. W. Benjamin, Der Regenbogen(1917), in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. VII,2 Frankfurt/Main 1989. 5560-564 18 Zu diesem Anklang an Lelbniz: dem Ausgang vom Unwesentlichen und Rückgang auf das Infinitesimale vgl. Differenz und Wiederholung, a.a.O., 5. 70
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Vielen und der Einheit jedoch nur dann, wenn Typen oder Arten von Mannigfaltigkeiten unterschieden werden, wenn der äußere, endliche Unterschied zwischen Prädikat und Subjekt in einen inneren Unterschied im Vielen umgeformt wird. Diesen typologischen Aspekt haben sowohl Riemann, der zwischen diskreten und kontinuierlichen Mannigfaltigkeiten unterscheidet und auf dessen Topologie der Begriff zurückgeht, wie Bergson, der von aktuellen und virtuellen Mannigfaltigkeilen spricht, herausgestellt. 19 In Tausend Plateaus wird dementsprechend zwischen geschichteten und entschichteten Mannigfaltigkeiten (Plateaus) und, auf der Ebene der Theorie der Linien, zwischen Linien, die Konturen und biunivoque Gabelungen beschreiben (konkrete Linien, Baum), und dimensionalen Linien mit variabler Richtung (abstrakte Linien, Rhizom) unterschieden (Baum und Rhizom, TP 16, und Das Modell der Ästhetik (Nomadenkunst), TP 682). Erstere Mannigfaltigkeit begünstigt die Teilung, Segmentierung und Stratifikation, wo die Variation limitiert ist, d.h. im Inlerval einer vorausgesetzten, relativen Konstanten erfolgt; die andere ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ein Medium darstellt. das sich nicht teilt, ohne zugleich seine Natur oder Dimension zu verändern, so daß jeder Teilung eine Modifikation des Maßverhältnisses entspricht. Wenn Deleuze und Guattari hier von Typologie sprechen. so darf man darunter freilich keine Klassifikation verstehen. Es geht nicht darum, mit dem Begriff der Mannigfaltigkeit unterschiedliche, nebeneinander bestehende Regionen des Seienden gegeneinander abzugrenzen (Ontik), sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie ungleichartige Mannigfaltigkeiten in ein und demselben Objekt ineinanderspielen (Ontologie). wie das Objekt = x in ungleichartigen SpMren schwingt und als solches dieses sich krOmmende Schwingen ist. Nur aufgrund einer solchen Verschachtelung 19 Zur Theorie der Mannigfaltigkeiten vgl. Das Modell der Mathematik (Mannigfaltigkeiten), TP 669 ff. und insbesondere Bergson zur Einflihrung(1966), dt. Hamburg 1989, 5. 53 ff. Zur Nichtreduzierbarkeit der Mannigfaltigkeit auf den mathematischen Mengenbegriff vgl. die Auseinandersetzung mit A. Badlou in QPh 143 1. und den Beitrag von Badiou in diesem Band.
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kann das Reale als Übergang, Auflösung oder Verwandlungszone gedacht werden. Die Funktion der Begriffe ist hierbei, die jeweils besonderen Bedingungen anzugeben, die die Richtung, Blockierung (Reterritorialisierung) oder Freisetzung (Deterritorialisierung) der Verwandlungen festlegen. Eben darum wächst ihnen eine eminent praktische, politische Bedeutung zu, stellen sie konkrete Regeln abstrakter Maschinen dar. AUf zwei Aspekte dieser Synthesis des Ungleichartigen, welche die Verwandlung ist, ist hierbei besonders hinzuweisen. Erstens: Schichtung und Plateau, Teilungslinien und Fluchtlinien sind, als Mannigfaltigkeiten betrachtet, gleichermaßen positive Tendenzen des Realen. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf die Materien, die sie erfüllen, die Raumzeitverhältnisse, die in ihnen walten, die Kräfte, die in ihnen wirken, die Semiotiken, die sie anregen. Stets handelt es sich um bestimmte Verhältnisse, auch wenn zwischen der Dimension einer Mannigfaltigkeit und der einer anderen keine direkte Entsprechung besteht. Anders gesagt, die Ontologie von Tausend Plateaus geht von ungleichartigen, koexistenten Realitäten aus: sie werden nicht durch einen allgemeinen Ober- oder Gattungsbegriff umfaßt, und die eine stellt nicht die Degradation oder Negation (oder die Uneigentlichkeit, wie Heidegger sagen würde) der andern dar. Nunmehr wird klar, warum Deleuze beharrlich gegen die Dialektik polemisiert. Die Dialektik trägt das Nichtsein in das Sein hinein, sie kann alles Bestimmte oder Konkrete nur als Resultat, als Synthesis mit der Negation, "der Zauberkraft des Todes", begreifen. Sie geht nicht von ungleichartigen Realitäten aus, sondern von der Abstraktion des Seins und kann das Werden (das Ereignis) nur erfahren, indem sie diesem die nicht weniger abstrakte Vorstellung des Nichts entgegensetzt, ein Werden übrigens, das für den spekulativen Rück-Blick immer schon zu einem Gewordenen geworden ist. Im Durchgang durch die Negativität läuft die Dialektik Gefahr, die unendliche Zirkulation des Identischen zu wiederholen, erweist sich ihr Negieren als eine Scheinbewegung, als imaginär. 20 20 Zur Kritik der hegeischen Dialektik vgl. Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 74 ff.
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Zweitens: Die Synthesis des Ungleichartigen impliziert also nicht die Negation. Aber ihr ist ganz entschieden, unter dem Namen des Chaos, eine Nicht-Synthesis, eine eigentümliche Abstoßung aller Synthesis beigesellt. "Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit", bemerkt Nietzsche.21 Deleuze und Guattari nehmen diese Kritik der "ästhetischen Menschlichkeiten" in freilich nuancierter Form auf. Ein erster Anhaltspunkt dafür findet sich in Tausend Plateaus , wenn neben der absoluten Deterritorialisierung, die die Erde entschichtet und die Plateaus in eine nomadische Mannigfaltigkeit überführt, von einer bloß relativen Deterritorialisierung die Rede ist, die gleichsam den Übergang verfehlt und die zunächst ausgelegten Fluchtlinien abermals segmentarisiert, so daß die Verwandlung umklappt, sich reterritorialisiert oder "in schwarze Löcher hineinstürzt" (DeterritoriaJisierung, TP 703). Terminologisch präziser wird die Nicht-Synthesis, die im Chaos stattfindet, in Qu'est-ce que la philosophie? gekennzeichnet: "Das Chaos ist weniger durch Unordnung definiert als durch die unendliche Geschwindigkeit, mit der alle Form, kaum daß sie sich abzeichnet, sich auch schon wieder aUflöst . Es ist eine Leere,kein Nichts, sondern ein Virtuelles, das alle möglichen Teilchen enthält und alle möglichen Formen annimmt. Aber sie tauchen nur auf, um sogleich wieder zu verschwinden, ohne KonSistenz, Referenz oder Konsequenz." (QPh 111, 44) Wenn also der "Gesammt-Charakter der Welt" Chaos ist, so darum, weil die - physischen, sprachlichen und mentalen - Verkettungen oder Gefüge des Realen virtuell von einer "unendlichen Geschwindigkeit des Entstehens und Vergehens" durchspült werden und diese Geschwindigkeit zu bannen (Schichtung), freizugeben (Deterritorialisierung) oder ihr Konsistenz zu erteilen suchen (nomadische Mannigfaltigkeit). V~1. F. Nietzsehe, Die fröhliche Wissenschaft (1882/87), in: Samtllche Werke. KSA, Band 3, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, M\?nchen ~988, S. 468 und den Kommentar dazu von M. Heldegger in semem N1etzsche (1939). Erster Band, Pfullingen 1961, S. 349 ff.
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Wir sind nun in der Lage, die Innovation, die der Begriff der Verwandlungszone für die Philosophie bedeutet und damit den Rang von Tausend Plateaus, deutlicher anzugeben. Die Synthesis des Ungleichartigen, die in der Verwandlung geschieht, verlangt einerseits - so sagten wir -, daß unterschiedliche Mannigfaltigkeiten nicht als verschiedene Regionen des Seienden aufgefaßt werden, sondern im Objekt ineinander verschränkt sind, und impliziert andererseits, daß ihr die NichtSynthesis des Chaos beigeordnet ist. Eben aufgrund dieser komplexen Disposition können in Tausend Plateaus wesentliche Elemente der klassischen Ontologie zurückgewiesen werden. Wie unterschiedlich auch im einzelnen formuliert, so beruht diese doch zuletzt auf der Vorstellung einer Seinsidentität, einer Identität des Objekts mit sich selbst, auch dort wo sie, wie im Fall der Dialektik, als unendliche Identität die Nichtidentität des Objekts einbegreift. Die transzendente Identität von Sein und Denken in der Idee stellt nur die folgerichtige Ergänzung dieser Grundannahme dar und überträgt die ontologische Zweiwertigkeit (Sein/Nichts) in den Bereich des Denkens. 22 Was immer ist und geschieht, ist in der Sphäre dieser Zweiwertigkeit angesiedelt, ist Genesis oder Zerfall, Übergang von Unordnung zu Ordnung oder umgekehrt. Was der Seinsidentität des Objekts nicht entspricht, wird ausgeschlossen und in die Sphäre des Nichtigen verbannt, was sich der Denkidentität entzieht, wird als Paradox gebrandmarkt 22 Adorno hat die Kritik der Seinsidentität als Angelpunkt der Ontologie aus eher geschlchtsphilosophischer Perspektive durchgefÜhrt. G. Günther hat mit aller wünschenswerter Deutlichkeit ihre Implikationen für die Logik und die Theorie des Denkens herausgearbeitet. Wenn wir im Hinblick auf Deleuze von einer .transklassischen Ontologie" sprechen, so in Anlehnung an Günthers Programm einer nichtaristotelischen, transklassischen Logik. Anders als Günther jedoch sucht Deleuze der Zweiwertigkeit nicht auf der Ebene des LogikkalkOls, sondern durch den Eingriff in die innere Zusammensetzung des Seinsbegriffs zu entkommen. Zu G. Günther vgl. insbesondere' Metaphysik, Logik und Theorie der Reflexion (1957), in ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Erster Band, Hamburg 1976. S. 31 ff. 122
und dem Schein oder der Einbildung überantwortet. Anders dagegen die Disposition der Begriffe in Tausend Plateaus, die der logisch-ontologischen Zweiwertigkeit widerstreitet. Die Sphäre der nomadischen Verteilung, entschichteten Mannigfaltigkeit oder des organlosen Körpers - Namen, die dem allzugewitzten Bewußtsein zuweilen apokryph erscheinen - ist grundsätzlich nicht auf den Gegensatz von Ordnung und Chaos, bestimmter Wirklichkeit - sei's der Person, des Organismus, des physischen oder mathematischen Körpers - und unbestimmtem Abgrund - den sinnlosen Laut, die Nacht, in der kein Unterschied statthat und alle Kühe schwarz sind - reduzierbar, aber ebensowenig auf die Aktualität oder Referenz, wie sie in der Schichtung statthat. Sie ist bestimmt und weist eine immanente Konsistenz auf, ohne darum ein aktuelles Bestehen zu haben, und zugleich ein Intervall, ein Werden oder, mit Klee zu sprechen, eine Zwischenwelt, ohne darum in der unendlichen Geschwindigkeit des Abgrunds. des Entstehens und Vergehens zu versinken. 23 Die Kritik der Negation hat in der Freilegung der Positivität der nomadischen Verteilung, die die scheinbar vollständige Disjunktion von Ordnung (Schichtung) und Chaos ihrer Unvollständigkeit überführt, ihre pars construens. Die nomadische Verteilung hat den ungeschmälerten Status eines eingeschlossenen Dritten, und die Bedeutung von Tausend Plateaus liegt nicht zuletzt darin, in immer erneuten Einsätzen und gegen den scheinbaren Zwang der Logik die Wirksamkeit dieses Dritten in der Erfahrung aufzuzeigen.
3. Bewegung Adorno hielt bekanntlich dafür, daß das Erfordernis der Seinsidentität dem Programm der Ontologie unaufhebbar eingeschrieben ist, und erachtete die Identität und das schier unaus23 Die Kritik der Zweiwertigkeit von bestimmtem Sein und Unbestimmtheit des Chaos ist ein konstantes, obschon wenig beachtetes Thema in den Schriften von Deleuze. Vgl. Logik des Sinns, a.a.O., S. 139 ff. 123
rottbare Begehren nach ihr zu Recht mit der Affirmation des Bestehenden verschworen. Er hätte den Gedanken einer "transklassischen" Ontologie - im besten Falle - ein Oxymoron genannt, denn das Nichtidentische schien im einzig ontisch, als Begriffsloses, Einzelnes und Besonderes zugänglich und, via negationis, in Mikrologien oder Modellen aufweisbar. Deleuze dagegen, von einem Impuls des Philosophierens getragen, der in seiner Radikalität demjenigen Adornos durchaus ver} gleichbar ist, bekräftigt - nicht ohne eine sanfte .IJ)1p~rtinenz . der nomadischen Verteilung, der abstraKterr" Masctih,e oder dem organlosen Körper durchaus eine Pertinenz in Ansehung des Seins. Die Ausarbeitung einer "Ontologie", die nicht dem Verdikt Adornos unterliegt, erfordert freilich einen scharfen Eingriff in die innere Zusammensetzung des Seinsbegriffs. Einen Aspekt dieses Eingriffs haben wir bereits erörtert: er betrifft die Theorie der Mannigfaltigkeiten und die Zurückweisung des Identitätspostulats. Der andere Aspekt betrifft die Seinsweise; ihm wenden wir uns nunmehr zu. Entscheidend ist, daß Deleuze zwischen wenigstens zwei Modalitäten des Realen: zwischen aktueller und virtueller Existenz unterscheidet. 24 Aktualität hat, was diskret ist oder dabei ist, als Zahl, Form, Körper oder Person diskret, d.h. als eine Einheit unterscheidbar oder wahrnehmbar zu werden. Die kontinuierliche Variation der Qualitäten, Dimensionen und Intensitäten dagegen, die auf oder in der Konsistenzebene geschieht, hat die Seinsweise der Virtualität. Das Virtuelle steht also nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber und "muß als ein strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert werden - als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in eine ob-
24 Wir lassen die Frage außer acht, inwiefern dem Kunstwerk ein Seinsmodus sui generis zukommt. Vgl. dazu QPh S. 168 ff., wo die Kunst als ein aus Perzepten und Affekten zusammegesetzter "Empfindungsblock" definiert wird, der das virtuelle Ereignis nicht aktualisiert noch in einem Begriff ausdrückt, sondern ihm einen Körper verschafft, der ein mögliches Universum präsentiert.
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jektive Dimension eingelassen wäre. "25 Zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen besteht keinerlei Ähnlichkeitsbeziehung, wohl aber ein äußerlich diskontinuierlicher, innerlich kontinuiertlicher Übergang, dergestalt, daß man nicht sagen kann, wo das Aktuelle endet und das Virtuelle beginnt. In der Aktualisierung und in der Virtualisierung erfolgt eine Heterogenese. eine Enstehung des Einen in und aus einem Anderen, des Werdens im Gewordenen, des Gewordenen aus dem Werden, beides stets jedoch in einer Welt. Die Aktualisierung, die in der SchiChtung erfolgt, geschieht durch Territorialisierung und Segmentierung abstrakter Linien, d.h. als Unterordnung der Variation unter Bedingungen relativer Konstanz, während die Virtualisierung oder Deterritorialisierung die Schichten nicht einfach annulliert, sondern abstreift und wie geborstene Ringe mit sich schleift. Sie entreißt den gespaltenen Schichten nomadische Singularitäten, konsolidiert sie in einer Konsistenzebene und intensiviert so das Werden, die Virtualität an der einen oder anderen Zone des Objekts. Es hieße jedoch die begriffliche Komplexität von Tausend Plateaus verkennen, wollte man die Seinsmodalitäten eindeutig den Mannigfaltigkeiten zuordnen. Zwar ist Schichtung modal als Aktualität charakterisiert, aber der Modus der Virtualität kennzeichnet das Chaos, das keine bloße Leere oder Zufalls25 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 264 ff. Das Virtuelle ist nicht mit dem Möglichen zu verwechseln. Das Mögliche ist eine bloße Verdoppelung des Wirklichen und von diesem nicht dem Inha" nach, sondern nur dadurch unterschieden, daß der mögliche Inhalt nicht in Raum und Zeit existiert. Verwirklichung des Möglichen heißt denn auch in den klassischen kosmologischen, theologischen oder ästhetischen Realisationstheorien, daß ein präexistenter, an und für sich identischer Inhalt • in einer Art Sprung, d.h. im Prozeß seiner Verwickllchung zu verändern - in die raumzeitliche Existenz gesetzt wird. Die Bemerkungen von Deleuze zu den Seinsmodi sind grundlegend für jede Erörtung ModalItätsbegriffe. Sie gehen aus von Bergsons Essay Das Wirkliche und das Mögliche (1920) (dt. in: Denken und schöpferisches Werden, Aufsätze und Vorträge. Meisenheim 1948) und machen dessen Befunde für die verschiedensten Bereiche der Philosophie fruchtbar.
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verteilung ist, und die nomadische Verteilung der Konsistenzebene gleichermaßen. Nicht zuletzt in diesem Symmetriebruch manifestiert sich der transklassische Charakter der Ontologie von Deleuze. Diese zeigt nicht nur, daß das Reale nicht durchgängig aktualisiert ist (wie die zweiwertigen klassischen Verwirklichungstheorien vorgeben), sondern inchoativ, d.h. in einer nicht weniger realen, immer wieder einsetzenden Verwandlung begriffen ist. Sie tut außerdem dar, daß zwischen Chaos und nomadischer Verteilung einerseits eine Affinität besteht, insofern beide Zustände virtuell sind, andererseits jedoch eine irreduzible Differenz statthat, da das Chaos in der nomadischen Mannigfaltigkeit Konsistenz gewinnt. Auch die nomadische Mannigfaltigkeit wird von einer unendlichen Geschwindigkeit erfüllt, aber in ihr ist sie nicht mehr chaotisches, instantanes Entstehen und Vergehen, sondern kontinuierliche Variation, reines Werden. Eben weil sie eine unendliche Bewegung in sich trägt, vermag sie dem Ereignis Ausdruck zu verschaffen, dadurch, daß dieses sich nicht in seiner Aktualisierung in Situationen, Sachverhalten und Schichten verzehrt, sondern, als nichtlokalisierbare Virtualität und Außersein, seine Unheimlichkeit, sein Geheimnis, sein Erschütterndes bewahrt. 26 Der unverwechselbare Zug der philosophischen Bemühung von Deleuze, und dies macht ihren "Naturalismus" aus, liegt darin, daß er die distributiven, variablen Verhältnisse, die zwischen den Mannigfaltigkeiten und den Seinsweisen walten, in Begriffen von Bewegung erläutert. Was in der Verwandlungszone geschieht, ist eine unabgesetzte Modifikation, und der Modus ist, wie Deleuze im Anschluß an Spinoza erläutert, keine metaphyische Entität oder bloße logische Möglichkeit, 26
Der Begriff des Außerseins geht auf A. Meinong zurück und bezeichnet das .minimale" Sein dessen, was sich der (kategorischen) Affirmation und Negation entzieht, und gleichwohl nicht nichts ist. In Logik des Sinns, a.a.O., S. 29 f, hat Deleuze die eigentümliche Insistenz des nicht in verifizierbaren Sätzen aussagbaren und nicht in ontischen Sachverhalten verwirklichten Ereignisses als ein solches Außersein gekennzeichnet.
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sondern eine physische Realität. 27 Das Werden ist reine Bewegung, d.h. eine Vielheit von wechselnden Verhältnissen von Geschwindigkeit und Langsamkeit. Bewegung oder Werden ist, als Modifikation betrachtet, immanente Affizierung, und die unabgeschlossene Reihe dieser Affizierungen bildet ein aktuell unendliches Ensemble. Auch das Denken, so Deleuze, fordert von Rechts wegen die unendliche Bewegung oder die Bewegung des Unendlichen und ist nur darum von der Meinung oder vom wissenschaflichen Sachverhalt (dem Gehirn) unterschieden. Nur wenn das Denken fOr sich die Bewegung des Unendlichen reklamiert, Wächst ihm die Chance zu, Innovation im Begriff und nicht nur bloße Verdoppelung des eh schon Gegebenen zu sein. Die Bewegung des Unendlichen verweist nicht auf Distanzen und wechselnde Positionen von bewegten Körpern bzw. die raumzeitlichen Koordinaten, im Hinblick auf welche bewegte Körper variieren. Sie geht nicht auf mobile Objekte, aber auch nicht auf Subjekte, die sich selbst als bewegt erleben mögen. In der unendlichen Bewegung ist vielmehr alles wechselseitig affiziert, sie entschlägt sich jeglichen Referentials. In ihr bewegt 27 G. Deleuze. Spinoza und die Philosophie des Audrucks (1968), dt. München 1993, S.170 ff. Mit der Auslegung der physischen Realität des Modus als Bewegung erstattet Deleuze die Zeit in gewisser Welse nicht nur der Anschauung, sondern auch an die .Physik" zurück. Er erklärt damit die .modernen" Versuche Augustinus', Hegels, Husserls und Heideggers, den Ursprung der Zeit dem Bewußtsein, dem dialektischen Begriff bzw. dem Dasein zu vindizieren, für gescheitert. Es wäre interessant, ist aber an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich, den Weg zu verfolgen, der Deleuze von der Theorie der Synthesen der Zeit (Habitus, Gedächtnis, Wiederholung, vgl. Die Wiederholung für sich selbst, in Differenz und Wiederholung, a.a.O., ~. 99 ff.) und der Theorie des Aon (vgl. 23. Serie der Paradoxa: Vom Aon, in Logik des Sinns, a.a.O., S. 203 ff.) zum Thema von dem innovativen, schöpferischen Vermögen des Begriffs führt, von dem her die Resorption der Zeit in der Immanenz der unendlichen Bewegung zu verstehen ist. Die beiden dem Film gewidmeten Bücher Das Bewegungsbild (1983), dt. Frankfurt 1989 und Das Zeitbild (1985), dt. Frankfurt 1991, in denen das kinematographische Bild von dem variablen Verhältnis von Zeit und Bewegung her bestimmt wird, stellen auf diesem Weg die entscheidende Etappe dar.
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sich der Horizont selbst, nicht jedoch als Umkreis eines Subjekts, sondern als variable Krümmung einer Immanenzebene: "Der relative Horizont entfernt sich, wenn das Subjekt sich ihm nähert, aber vom absoluten Horizont sind wir in der Immanenzebene stets schon umfangen." (QPh 40) Das Denken bedarf einer Immanenzebene, als des ortslosen Orts, in dem seine Bewegung geschieht, ähnlich wie die Verwandlung sich in eine Zone hinein erstreckt, die von ihren Modifikationen erfüllt wird. Immanenzebene heißt, daß die Bewegung der Ebene oder Dimension, in der sie erfolgt, immanent geworden ist. Eben darum ist sie unendlich, d.h. ohne Telos, ohne Ende und unvollendbar, sie will ihr Ende nicht, setzt immer wieder von neuem ein, "währt fort". Oie unendliche Bewegung des absoluten Horizonts geschieht in der Immanenzebene als Übergang des Denkensin Sein und des Seins in Denken, als fortwährende Verschiebung der Zwiefalt von Sein und Denken. Diese Zwiefalt wird nicht in einer Selbigkeit aufgehoben, als transzendente Identität von Denken und Sein in der Idee fixiert, sondern als Differential erhalten, entbunden und abermals gebunden. Das Denken ist zuinnerst von einem Ungedachten affiziert, einem Außen, das ihm von innen her widerfährt, und nur darum ein Werden und der Erschaffung von Begriffen fähig. "Man denkt nicht, ohne anders zu werden, etwas, das nicht denkt, ein Tier, ein Gewächs, ein Molekül, ein Teilchen, die das Denken bedrängen und abermals in Bewegung setzen." (QPh 44)28 Einzig durch diesen stets erneut einsetzenden Einsatz bleibt die Immanenz sich selbst immanent, geschieht das reine Werden im Gewordenen selbst - und nicht nur für das zusehende, wissende Auge des Geistes, wie in Hegels Phänomenologie. Wird die Bewegung dagegen 28 Wenn Deleuze das Werden, das im Denken statthat, als Affizierung durch ein Ungedachtets begreift, so erschüttert er den Ausschluß, den das Widerspruchsprinzip installiert. Aristoteles unterstreicht in seiner subtilen Argumentation diesen Ausschluß durch das wenig subtile Diktum, daß diejenigen, deren Sprechen sich nicht diesem "festesten Prinzip· unterwerfe, einer "Pflanze gleichen" (Metaphysik IV, 1006a 14).
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unterbrochen und die Immanenz einem Etwas oder einem Subjekt zugeschrieben, dann wird die Welt zu einem bloß phänomenalen Feld (eines Bewußtseins) herabgesetzt und ihr gegenüber eine supplementäre. transzendente Einheit befestigt, als nicht gegebenes, verborgenes Prinzip des Gegebenen. 29 Am Beispiel des Unwahrnehmbar-Werdens haben Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus diese Unterscheidung der Ebenen und die innere Komplexion der Bewegung besonders eindrucksvoll herausgearbeitet - nicht von ungefähr, denn das Verhältnis von Bewegung und Wahrnehmbarkeit ist keineswegs "evident". Es verlangt nach begrifflicher Artikulation, nicht zuletzt darum, weil für eine Philosophie. die sich, wie die Deleuze'sche, als radikaler Empirismus versteht, wenn nicht, wie für Zenon, das Paradox des (Nicht)Seins von Bewegung, so doch die Frage nach den Arten der Erfahrung, in der sie zugänglich ist, entscheidend ist. "Die Bewegung hat ein wesentliches Verhältnis zum Unwahrnehmbaren, sie ist von Natur aus nicht wahrnehmbar", wird in Tausend Plateaus gesagt (TP . 3~2) Wahrnehmbar ist sie bloß als Ortsveränderung eines -Körpers oder als Entwicklung einer Form. In diesem Fall wird die Bewegung als bewegtes Objekt referentialisiert und ist sie 29 Unter dem Begriff der Organisationsebene wird in Tausend Plateaus ein Typ von subjektiv-objektiver Transzendenz erörtert, die die, statt ein Ritornell, Gefüge oder Singularitäten freizusetzen, die Formen der Schichtung bloß entwickelt und deren Substanzen subjektiviert. Die Immanenz- oder Konsistenzebene dagegen wird als abstrakte Maschine bezeichent, insofern sie weder Formen noch Substanzen, Entwicklungen noch Subjekte kennt. "Abstrakt" bezeichnet hier keine logische Verallgemeinerung, kein generelles Merkmal, das einer unbestimmten Menge von Elementen oder Individuen unterschiedslos zukommt, sondern zeigt ein bestimmtes, singuläres politisches, linguistisches, ästhetisches usw. Dispositiv an, das als solches keine Formen, Substanzen usw. aufweist und eben darum den Charakter einer Maschine oder eines Diagramms hat. Vgl. Erinnerungen eines Plan- und Plänemachers, TP 361. Zuweilen wird die Unterscheidung klassisch/romantisch/modern ausgehend von der Differenz von Organsiationsebene und abstrakter Immanenzebene interpretiert, so in 1837 - Zum Ritornell, TP 460 ff. 129
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als Variable einer Funktion berechenbar und aussagbar in (wissenschaftlichen) Sätzen. 30 Im Werden erscheint der Körper dagegen als Ausdrucksmaterie, die Qualitäten freisetzt und ineinander übergehen läßt, während die Form in die Intervalle ihrer Abweichung hineingezogen wird. Die Unwahrnehmbarkeit der ~ewegung rührt mithin daher, daß sie, als relD~s Verhältnis von "tresChwindigkeit ull<.tlangsamkeit, nicht länger· itfefnem . WahrnehmiirigsbElwußtsein verankert ist. Wahrnehmbar ist Bewegung stets nur innerhalb von wie immer auch relativen Schwellen, d.h. insofern sie auf eine Organisationsebene bezogen, durch die das reine Verhältnis von Geschwindigkeit und Langsamkeit als ein koordiniertes Ensemble von Variablen, Abständen und Grenzen für ein Subjekt konstituiert wird. Andererseits jedoch ist die Bewegung, wie Tausend Plateaus ') dartun, obschon unwahrnehmbar, ein reines percipiendum, etwas das nur wahrgenommen werden kann und wahrgenommen werden muß, undzwar dann, wenn sie auf die Immanenzebene bezogen wird. Denn Immanenz bedeutet, daß die Konstitution dem Konstituierten innerlich ist, als kontinuierliche Variation oder sich differenzierendes Differential. "Die Bewegung wird hier nicht mehr durch eine relative Schwelle, der sie von Natur aus unendlich entgleitet, vermittelt. Sie ist, wie langsam oder schnell auch immer, eine absolute, obschon differenzierte, die eins ist mit der Konstruktion dieser oder jener Region der kontinuierlichen Ebene."(TP 383) Der Begriff der Bewegung bezeichnet mithin gleichsam die Mitte, wo die Be30 Fügen wir sogleich hinzu, daß die Wahrnehmbarkeit des (bewegten) Objekts in den Wissenschaften, dem Beispiel der Mikrophysik folgend, entfallen kann, wenn dessen "Präsenz" durch denotative Zeichen (etwa Spektrallinien, die eine Frequenz ausdrücken, die auf energetische Verhältnisse verweist) hinreichend deutlich angezeigt wird. Der Seinsmodus der auf diese Weise postulierten Teilchen bleibt dabei gleichwohl die Aktualität, auch dann, wenn, wie im Falle der Unbestimmtsheitsrelationen der Quantenmechanik, ihrer Identifizierbarkelt Grenzen gesetzt sind. Zur Bedeutung der Semiotik für die Erhellung des epistemologisch-ontologischen Status der Mikrophysik vgl. M. Bense, Aesfhetica, Baden-Baden 1965, S. 51 H. und 140 H. 130
dingungen der empirischen Erfahrung und dasjenige, was diesen Bedingungen gemäß nicht erfahrbar ist, sich in der Erfahrung berühren, dergestalt, daß die Wahrnehmung, entgegen ihrer eigenen Bestimmung, Wahrnetunung..,des-.Unwabrnehmbaren wird. Oder anders gesagE die Immanenzebene nefirifaän Ort einer Erfahrung nicht nur der besonderen Dinge in Ruhe und Bewegung, sondern des reinen Verhältnisses von Langsamkeit und Geschwindigkeit, von Ruhe und Bewegung als unendlichen Weisen der spinozistischen facies universi totius, des entstalteten Antlitz des gesamten Universums. Man mag hier an das Kleist'sche Marionettentheater denken, an die seellose Grazie ihrer Gebärden, oder an das Naturtheater von Oklahorna in Kafkas Amerika, das die "Auflösung des Geschehens ins Gestische" vollzieht und von dessen Gestalten Benjamin sagt, "keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriß: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nachbarn tauscht."31 Adorno hatte die Negative Dialektik als einen Versuch verstanden, den "Begriff philosophischer Erfahrung" zu exponieren. Es gibt in der gegenwärtigen Philosophie wenig Anstrengungen, die dieser Aufforderung so rückhaltlos entsprechen wie Tausend Plateaus, auch wenn sie - und vielleicht gerade weil sie - für dieses Vorhaben andere Begriffe erschaffen als diejenigen, mit denen Adorno diese Aufgabe in Angriff nehmen wollte. Tausend Plateaus tut dar, daß wir in die Einbildungskraft eingetaucht sind und daß doch zugleich etwas im
31 W. Benjamin, Franz Kafka (1934), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11, Frankfurt/Main 1977, S. 415 und 418. Zu bemerken wäre, daß Benjamin immer wieder Aspekte des Deleuze'schen radikalen Empirismus trifft, diese dann aber bald dem Mythos bald der messianischen Theologie zuschreibt. Es genagte, die Vergängnis als ein Werden zu lesen, um die großartige Bestimmung der Ordnung des Profanen, des Glücks als "Rhythmus dieses.... in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen" aus dem Fragment von 1920 als ein Hinweis auf die Immanenzebene zu verstehen.
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Denken die Einbildungskraft übersteigt, ohne darum deren H.ülle abzustreifen. Aber diese Bewegung des Unendlichen, die von Rechts wegen das Denken ist, ist nicht auf ein Cogito als gründenden Grund bezogen, und auch nicht, wie' die analytische Philosophie fordert, an die Form des Satzes, die logische Proposition. Deleuze fordert für die Philosophie eine immanente Ebene: das Denken ist nicht Denken eines Seienden sondern eines Undenkbaren, das gleichwohl nur gedacht werden kann und nur im Denken zugänglich ist. Im Denken, in allen seinen Modi: der Empfindung, Wahrnehmung, Erinnerung, in der Sprache und im Wunsch, widersetzt sich etwas den Synthesen der reproduktiven Einbildungskraft, etwas, auf das man nicht zeigen kann, das kein Gegenstand und kein Sachverhalt ist das. nicht existiert, sc>ndern. insistiert: ~jn. Ereignis. In seine~ "mal1nigfaltigen Streuung kündigt es sich inden Modi des Denkens auf jeweils verschiedene Weise an, als eine innere Grenz~: an I di~ das V.ermögen des Denkens im Akt seiner Ausübung stoßt~-!Phllosophlsche Erfahrung heißt, die Modi des Denkens gegenläufig ineinander verschränken, dergestalt, daß ein jeder Modus in seiner Abweichung die Virtualität, das Außersein, eines Ereignisses ausdrückt. Man könnte, ein Wort Hölderlins aufnehmend, sagen, daß in dieser unendlich abweichenden Verwandlung die Welt als ein - hörbarer-unhörbarer - "Wechsel der Töne" dargestellt ist.
Alain Badiou Deleuze, Leser von Leibniz Ein Buch exponiert einen Begriff, in unserem Fall den Begriff der Falte. Es zeichnet seine Geschichte nach, legt seinen Anwendungsbereich fest und tut dar, welche Folgerungen er nahelegt. Der Begriff wird ausgehend von der Beschreibung des Situs, an dem er gedacht wird, eingeführt und durch die Erzählung des Gebrauchs, der von ihm gemacht wird, konkretisiert. Er wird als das Gesetz seiner Stätte und dessen, was stattfindet, eingeschrieben. Er bezeichnet den Einsatz, um den es geht. Die Worte des letzten Satzes auf der letzten Seite wiederholen: " Stets geht es darum, zu falten, zu entfalten, zusammenzufalten." (189)* Der Begriff, den Deleuze vorschlägt, wird durch eine höchst subtile, gelehrte und detaillierte Darstellung der Leibniz'schen Philosophie fortlaufend erläutert. Sie bezeichnet die Kraftlinie, entlang der er erarbeitet wird. Der vorletzte Satz des Buches lautet: ,,wir bleiben Leibnizianer." (ibd.) Es kommt also nicht so sehr auf Leibniz an, wie man sieht, sondern darauf, daß wir, seine Nachfahren, da mit Faltung, Entfaltung und Zusammenfaltung beschäftigt, Leibnizianer bleiben. Man mag fragen, was dieses "bleiben" bedeutet. Haben wir, den Gepflogenheiten der Akademie gemäß, über die historische Genauigkeit der Lektüre von Deleuze, der sich einmal mehr als ein kongenialer Leser erweist, zu befinden? Haben wir seinem ebenso beweglichen wie tiefsinnigen Leibniz einen nominalistischen und gewieften Leibniz, einen Eklektiker voller List entgegenzuhalten? Haben wir Texte zu vermessen und den Streit um Genealogien zu entfachen? Lassen wir all das auf sich beruhen. Dieses seltene, bemerkenswerte Buch gibt den Blick auf unsere Welt frei und versucht sie denkend zu erfassen. Hier ist von Philosoph zu Philosoph zu sprechen: von einer intellektuellen beatitudo, von dem Genuß * Die Seitenangaben beziehen sich auf G. Deleuze, Le pli. Leibniz et
Je baroque,
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Paris 1988
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des Stils, der Verflechtung von Schrift und Gedanke, der Faltung von Begriff und Nichtbegriff. Vielleicht wird an dieser Stelle auch eine Diskussion notwendig. Sie ist indes schwer zu führen, da sie mit der Auseinandersetzung Ober eine Nichtübereinstimmung, über das Sein der Nichtübereinstimmung zu beginnen hätte. Denn Deleuze kennt und darin folgt er Leibniz, keinen Unterschied zwischen Wahr~ heit und Falschheit, sondern nur den zwischen verschiedenen 1 Möglichkeiten. Leibniz hat, in der Rede von der besten Welt diesem Unterschied noch ein göttliches Maß untergelegt. Abe; bei Deleuze entfällt auch dieses. Unsere Welt ist die einer "erweiterten Chromatik", ein sich selbst gleicher Schau-platz, wo "Sextus Lukrezia vergewaltigt und nicht vergewaltigt" (112). ~ine Nichtübereinstimmung ist nur das "und" einer Ubereinstimmung. Deleuze verweist auf die Musik, deren "unaufgelöste Akkorde" (ibid.) ein Beispiel für eine solche Harmonie liefern. Um der Aufmerksamkeit und Spannung, die der philosophischen disputatio eignen, zu entsprechen, bleibt also kein ande~er Weg, als dem Leitfaden des Grundegriffs zu folgen, auf die Gefahr hin, die Krümmungen zu forcieren, die Deleuze so geduldig abschreitet. Man muß die Falte unbedingt entfalten und ihr den gelinden Zwang einer unsterblichen Entfaltung antun. Legen wir das Netz, mit dem Deleuze uns zu fangen sucht, aus. Spannen wir es in einen dreifachen Raster. Falte, das bedeutet erstens einen anti-extensionalen Begriff des Mannigfaltigen, seine Auffassung -als·Unmittelbar qualitative, labyrinthische Komplexion, die grundsätzlich nicht in Elemente zerlegt werden kann. Es bedeutet des weiteren einen anti-dialektischen Begriff des , Ereignisses bzw. der Singularität. Dieser fungiert als Operator, der das Eine und Andere von Denken und Individuation zueinander ins Verhältnis setzt. Schließlich impliziert "Falte" einen anti-cartesignischen (oder anti-Iacanianischen) Begriff des Subjekts ais einer "kommunizierenden" Gestalt der absoluten Innerlichkeit, die der Welt 134
angeglichen ist und einen Gesichtspunkte von ihr darstellt. Oder anders gesagt, man kann mit der Falte einen Aussageakt ohne Aussage, eine Erkenntnis ohne Objekt denken. Die Welt ist nicht länger Phantasma eines Ganzen, sondern präzise Halluzination des Innen als reines Außen. Alle diese "anti-" werden von Deleuze mit geradezu verfäng-: Iicher Milde und unerschütterlichem Gleichmut vorgetragen.! I Sein Stil ist Bejahung und Raffinement. Er teilt unentwegt, umj':"'-die Teilung als solche zu hintergehen. Er beschwört das Manl nlgfaltige und verführt das Eine, verknüpft das unwahrscheinl liehe und zitiert das Merkwürdige. Schneiden wir also. Schneiden wir rasch.
1. Das Mannigfaltige, das Organische Vielleicht braucht man dem Buch gar nicht erst ein Schema auferlegen, um der Ausflucht von Deleuze auf die Spur zu kommen. Ein Beispiel: kaum hat man die ersten zwanzig Zeilen gelesen, stößt man auf den folgenden Satz: "Mannigfaltig ist etwas, das nicht nur viele Teile hat, sondern vor allem vielfach gefaltet ist." (5) Man könnte versucht sein, einzuwenden, daß ein Mannigfaltiges nicht aus Teilen, sondern aus Elementen besteht. Oder daß eine Falte denken heißt, sie als ein Mannigfaltiges ausfalten und auf die Zugehörigkeit ihrer Elemente reduzieren, ähnlich wie einen Knoten denken heißt, seine algebraische Gruppe dartun. Wie könnte etwas, das "vielfach gefaltet ist", überhaupt gefaltet, in unzählbare Falten topologisiert werden, wenn es nicht schon in seinem bloßen Mannigfaltig-Sein, seiner kantorischen Verfassung oder Kardinalität, die gleichgültig ist gegenüber aller Faltung, una!,-, zählbar wäre? Einzig vermöge dieser Kardinalität hat das Mannigfaltige ein Sein und ist an sich selbst qualitätslos . Aber warum gegen Leibniz-Deleuze auf der Irreduzibilität des Punkts bestehen? Die auf Mengen und Zugehörigkeiten beruhende Ontologie der Mengentheorie wird ja von ihnen entschieden zurückgewiesen. Fast könnte man von der klassischen 135
Frontlinie in der d isputatJo über das Eine und das Viele sprechen. Deleuze-Leibniz vertreten die These, daß der Punkt bzw. das Element nicht als Einheit der Materie betrachtet werden kann. "Die Einheit der Materie, das kleinste Element des Labyrinths, ist nicht der Punkt, sondern die Falte." (9) Daher das fortwährende Schwanken zwischen der ,,Zugehörigkeit" (eines Elements) und der "Inklusion" (eines Teils). Man könnte sagen, daß die Ontologie von Leibniz-Deleuze das Mannigfaltige als Punkt-Teil, d.h. als Extension (Entfaltung) oder Kontraktion (Faltung) begreift und weder Atome noch Leere kennt. Es läßt sich kaum ein größerer Gegensatz zur Mengentheorie vorstellen. Denn diese webt einerseits aus der Leere die größte Komplexität und reduziert andererseits die verwikkeltsten Topologien auf Zugehörigkeiten. Schon an diesem Punkt unserer Analyse indes stoßen wir auf Verästelungen, Ausfaltungen, Komplikationen. Die List von Leibniz-Deleuze ist, kein Gegensatzpaar in Ruhe zu lassen und den Schemata der Dialektik auch nicht die geringste Konzession zu machen. Wir haben von Punkten und Elementen gesprochen. Aber wir müssen sogleich hinzufügen, daß LeibnizDeleuze zwischen mindestens drei Arten von Punkten unterscheidet: dem materiellen, phySischen Faltungspunkt, der "elastisch oder plastisch" ist; dem Punkt der Mathematik, der einerseits reine Konvention (sofern er als Randpunkt einer Strecke betrachtet wird), andererseits "Situs, Brennpunkt, Ort, Schnittpunkt von KrOmmungsvektoren" ist; und drittens dem metaphysischen Punkt, der Seele oder dem Subjekt, der den Gesichtspunkt (die Position) besetzt, den der mathematische Punkt im Gewebe der Faltungspunkte anzeigt. Wir müssen i also zwischen "Inflexionspunkten, Positionspunkten und Inklusionspunkten" (32) unterscheiden. Und dies, obgleiCh es unmöglich ist, wie wir sahen, die Punkte unabhängig voneinander zu bestimmen, da ein jeder die andern beiden voraussetzt. Wie könnte man dieser verästelten (Aus)Flucht des Punkts unter dem Zeichen der Falte ohne Pedanterie ein Mannigfaltiges "an sich" entgegenhalten? Offenbar hängt die Schwierigkeit, an der wir laborieren, damit 136
zusammen, daß die Philosophie für Deleuze weniger Inferenz als Erzählung ist. Was er am Barock beobachtet, trim uneingeschränkt auch auf seinen Denkstil zu: "Die Beschreibung " tritt an die Stelle des Gegenstands, der Begriff wird narrativ",' das Subjekt zu einem Gesichtspunkt oder Aussageakt" (174). ' Wir haben es also nicht so sehr mit dem Mannigfaltigen als mit der Beschreibung seiner Gestalten und Figuren zu tun, mehr \ noch: mit dem beständigen Übergang von einer Figur zur andern. Statt eines Begriffs des Mannigfaltigen wird uns eine Erzählung geliefert, die zeigt, wie das Mannigfaltige Welt wird, . genau in dem Sinn, wie Leibniz' Philosophie - wie Deleuze treffend bemerkt - nicht mehr ein "Symbol des Kosmos", sondern "Signatur der Welt" ist (ibid.). Als solche bedarf sie keiner Theorie des Subjekts, sondern der Aufmerksamkeit auf die Einschreibung und den Gesichtspunkt. Das Subjekt wird auf '-ein~n ~olchen Gesichtspunkt reduziert, der selbst wiederum nur der Endpunkt einer wahrscheinlich divergenten, d.h. einer Reihe ohne Vernunft ist. Wenn Deleuze Leibniz zugute hält, er habe das "Verhältnis des Einen und Vielen" neu bestimmt (173), so betrifft das also in erster Linie dessen transversalen, subversiven, undeutlichen ! Aspekt. Denn "subjektiv", d.h. von der Monade aus gesehen, muß es "auch eine Mannigfaltigkeit des Einen und eine Einheit des Mannigfaltigen geben". Das führt dazu, daß das "Verhaltnis" EineslVieles zuletzt in die Quasiverhältnisse Eines/Eines und VieleslVielesumgewandelt und aUfgelöst wird. Diese Quasiverhältnisse werden unter den begriffslosel1 Begriff der Falte sub-' sumiert, solange, bis die Falte des Einen als Umkehrung der Falte des Vielen erscheint, und in der Beschreibung (die das Thema des Barock verlängert), der Erzählung (dem Spiel der Welt) oder in einem positionellen Aussageakt (Deleuze argumentiert und Widerlegt nicht, sondern sagt aus) aargestellt. Sie können weder deduziert noch aus einer Axiomatik oder einer anderen anfänglichen Entscheidung gefolgert werden. Ihre Aufgabe ist, jegliche Art von Unterscheidung, Gegensatz,oder Binarismus zu verhindern. Die Maxime ihres Gebrauchs ist das Helldunkel. Leibniz-Deleuze spricht von einer Färbung 137
der Idee: "Auch geht das Helle ins Dunkle über und verschwindet unablässig darin. Es ist von Natur aus Helldunkel, Entwicklung des Dunkeln. Durch das Sensible wird es als mehr oder weniger hell offenbart." (120) Diese Methode ist typisch für Leibniz, Bergson und Deleuze. Sie verrät eine subjektive, im Aussageakt angelegte Aversion gegen das ideale Thema des Klaren, das von Platon (der als Sonne gedachten Idee) bis zu Descartes (der klaren Idee) reicht und zugleich Metapher für einen bestimmten Begriff des Vielen ist - jenen Begriff, der besagt, daß die Elemente, durch die es gebildet wird, sich von Rechts wegen ungetrübt dem Denken darbieten und dieses sie nach ihrer Zugehörigkeit unterscheiden kann. Leibniz-Bergson-Deleuze hält dem nicht entgegen, daß das Dunkle übergreift, er sucht nicht frontale \ Polemik. Im Gegenteil, er nuanciert. Die Nuance fungiert hier . als antidialektischer Operator par excellence. Sie löst den latenten Gegensatz, in dem das Klare überwiegt, auf und stellt eine lokale Kontinuität her. Es findet so in jedem Realpunkt ein Wertewechsel statt, mit der Folge, daß das Paar Hell/Dunkel untrennbar bleibt und a fortiori nur um den Preis einer globalen Abstraktion hierarchisiert werden kann - einer Abstraktion, die dem Leben der Welt ganz fremd ist. Wenn das Denken des Mannigfaltigen in der Form, die ihm leibniz-Deleuze erteilt, so flüchtig ist, Erzählung ohne lücke, noch Außen der Faltung und Entfaltung der Welt -, so darum, weil es weder einem anderen Denken entgegengesetzt ist noch an der Grenze eines anderen Denkens konstituiert wird. Es versucht vielmehr, sie alle ungetrennt in sich zu befassen und im Vielen die möglichen Weisen, das Viele zu denken, zu vervielfachen. Denn das "real Unterschiedene ist nicht notwendig getrennt oder trennbar", und "nichts ist trennbar oder getrennt, sondern alles konspiriert" (75). Es ist diese AUffassung der Welt als einer geschachtelten, gefalteten, untrennbaren Totalität, in der jede Unterscheidung . zu einer bloß lokalen Operation herabgesetzt ist; diese "moderne" Überzeugung, daß das Mannigfaltige so beschaffen ist, daß es als Mannigfaltiges nicht einmal unterschieden, sondern
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nur als Falte "aktiviert" werden kann; diese Kultur der seriellen; Divergenz, in der auch die radikalsten Ungleichartigkeiten noch kompossibel sind; diese "Öffnung" ohne Widerpart, "eine Welt weniger der Abschlüsse als der Einvernahmen" (111) - es ist all dies, was die ebenso freundschaftliche wie tiefe Beziehung zwischen Deleuze und Leibniz begründet. Das Viele als ein großes Tier, das seinerseits aus Tieren besteht; der organische Atem, der allen Organen entströmt; das Mannigfaltige als lebendes, lebendiges Gewebe, das sich in einer Art vitalen Aufbäumung (ent)faltet, im Gegensatz zu der punktuellen" durch Stoß und Gegenstoß skandierten Ausdehnung Descartes' _ es ist dieses abweichende, allumfassende Leben, dem die.' Philosophie Deleuze' auf der Spur ist. Was Wunder, daß Leibniz gerühmt wird, der mehr als alle anderen Denker "die eine und selbe Welt und zugleich den unendlichen Unterschied oder die unendliche Mannigfaltigkeit in dieser Welt affirmiert" (78). Und daß die eigentümliche Kühnheit des "Barock" gepriesen wird, "eine Kontextur, die von einem integralen Organizismus zeugt, von der Allgegenwart von Organismen" (155). In der Tat gab es immer nur zwei Schemata oder Paradigma des Mannigfaltigen, das mathematische und das organizistische, Platon oder Aristoteles. Der Menge die Falte oder Descartes Leibniz entgegensetzen, heißt das organlzistische Schema wiederbeleben. Leibniz-Deleuze läßt keinen Zweifel, daß das mathematische Schema unzureichend Ist: "In der Mathematik konstituiert die Individuation eine Spezifikation. Aber im Fall der physischen Dinge und organischen Körper sind die Verhätlnisse anders gelagert." (87) Tier oder Zahl: das ist die crux der Metaphysik. Die Größe von Leibniz-Deleuze, dem Metaphysiker der divergenten Welt der Moderne, besteht darin, ohne Umschweife für das Tier Partei zu ergreifen. Man täusche sich nicht, "nicht nur eine Tierpsychologie, auch eine Tiermonadologie sind wesentliche Bestandteile des Systems von leibniz" (146). Die Frage, um die es in Wahrheit geht, betrifft den Status der Singularität: wo und wie kreuzt das Singuläre den Begriff? Welches Paradigma liegt dieser Kreuzung zugrunde? Wenn 139
Deleuze die Stoiker, Leibniz und Whitehead liebt und Platon, Descartes oder Hegel wenig Sympathie entgegenbringt, so darum, weil erstere dem principium individuationis, eine strategisch wichtige Stelle einräumen, während letztere ihm diese bestreiten. Die "Ieibnizianische Revolution" wird denn auch in der geschmeidigen Erzählung Deleuze' mit größtem stilistischen Enthusiasmus begrüßt, als "Heirat von Begriff und Singularität" (91). Allein, was ist das Singuläre oder Einzelne? Mir scheint, daß diese Frage wie ein roter Faden sich durch das Buch von Deleuze zieht. Wenn Leibniz angerufen wird, 50 als Zeuge des Singulären. Kein anderer Philosoph hat wie er das Denken an der Unendlichkeit der Gelegenheiten, Inflexionen, Arten und Individuen gestählt.
11. Das Ereignis, die Singularität Das Kapitel "Was ist ein Ereignis?" bildet die Mitte des Buchs (103-119) und handelt weniger von Leibniz als von Whitehead. Aber die Kategorie des Ereignisses ist zentral und kehrt im ganzen Buch wieder, sie trägt, entfaltet und dynamisiert die der Singularität. Deleuze-Leibniz geht von der Welt als einer "Reihe von Inflexionen oder Ereignissen" aus: sie ist "reine Emission von Singularitäten" (81). Einmal mehr beunrUhigt die Art, wie Deleuze die zentrale Frage nach dem Denken des Ereignisses aufwirft bzw. bei Whitehead und Leibniz aufgeworfen sieht, den Leser und fordert ihn heraus. Geben wir sie im Wortlaut wieder: "Welches sind die Bedingungen eines Ereignisses, dergestalt, daß alles Ereignis ist?" (130). Man ist versucht, sogleich einzuwenden: wie kann man das Ereignis von der Tatsache, von dem, was in der Welt gemäß dem Gesetz der Präsentation geschieht, unterscheiden, wenn "alles Ereignis ist"? Wäre es nicht richtiger, zu fragen: "Welches sind die Bedingungen eines Ereignisses, dergestalt, daß fast nichts ein Ereignis ist?" Ist das, was sich präsentiert, und 140
eben dadurch, daß es sich präsentiert, wirklich singulär? Mir scheint, man könnte mit gleichem Recht behaupten, daß der Lauf der Welt im allgemeinen nur Allgemeinheiten offenbart. Wie kann also Leibniz-Whitehead-Deleuze ausgehend von dem organizistischen Schema des Mannigfaltigen eine Ereignistheorie des Singulären formulieren, wenn Ereignis bedeutet: alles was geschieht, und insofern alles geschieht? Das Rätsel löst sich, wenn man bedenkt, daß Leibniz-Whitehead-Deleuze dasjenige "Ereignis" nennen, was die Kontinuität in jeder ihrer lokalen Falten singularisiert., während man gemeinhin unter "Ereignis" die Singularität eines Bruches versteht. Andererseits jedoch bedeutet auch für Leibniz-Whitehead-Deleuze "Ereignis" den stets singulären bzw. lokalen Ursprung einer Wahrheit (eines Begriffs), etwa dort, wo Deleuze von der "Unterordnung des Wahren unter das Singuläre oder Bemerkenswerte" (121) spricht. Das Ereignis ist also zugleich allgegenwärtig und schöpferisch, struktural und unerhört. Die Begriffsreihen, die sich auf das Ereignis beziehen, verzweigen und verdichten sich deshalb unaufhörlich an ein und demselben Punkt. Führen wir dafür drei Beispiele an. 1. Mit Leibniz-Deleuze das Ereignis als eine immanente Inflexion des Kontinuums denken, enthält eine doppelte Annahme: es bedeutet einerseits, daß wir vom Punkt dieser Immanenz aus (und nicht "zuvor" oder "von außen") vom Ereignis sprechen, und impliziert andererseits, daß uns gleichwohl eine wesentliche Präexistenz - die des globalen Gesetzes der Welt - entgleiten muß, damit wir überhaupt von ihm sprechen können: "Leibniz' Philosophie verlangt diese ideale Präexistenz der Welt, jene dunkle und schattige Zone des Ereignisses. Wir können vom Ereignis nur sprechen, insofern es die Seele, die es ausdrückt, und den Körper, der es verwirklicht, affiziert hat. Und doch könnten wir von ihm nicht einmal sprechen, wenn es nicht eine Zone gäbe, die der Seele und dem Körper entzogen bleibt." (142) Dieses Bild von der "dunklen und schattigen Zone des Ereignis- . ses" ist bemerkenswert und treffend. Sehen wir jedoch genauer zu, dann zeigt sich, daß es für Leibniz-Deleuze das Ganze, das 141
dem Ereignis präexistiert, ist, was am Ereignis exzessiv, d.h. schattig ist. In der organizistischen Ontologie des Mannigfaltigen ist das Ereignis notwendig wie eine spontane Gebärde :auf oder vor dem dunklen Grund einer umfassenden, alles umhüllenden Animalität. Deleuze tut glänzend dar, daß es bei Leibniz einen zweifachen "Manierismus" gibt, einen Manierismus, der gegen den Klassizismus Descartes' gerichtet ist: "Der eine betrifft die Spontaneität der Manieren, die dem Essentialismus der Attribute entgegengesetzt sind, der andere die Allgegenwart eines dunklen Grunds, der gegen die Klarheit der Form gekehrt ist und ohne den es nichts gäbe, woraus die Manieren entspringen könnten." (76) Die Präexistenz der Welt als "dunkler Grund" veranlaßt, daß das Ereignis für Leibniz-Deleuze zu einer Manier wird, was folgerecht ist im Rahmen eines Organizismus der Mannigfaltigkeiten. Denn diese Konzeption erlaubt, daß man die Verbindung der Immanenz mit der ihr vorangehenden, exzessiven Unendlichkeit "Ereignis" nennt. Das Ereignis denken oder, was dasselbe ist, das Singuläre zum Begriff erheben, verlangt stets, daß eine Verkörperung und ein Entzug, die Welt (oder die Situation) und das Unendliche, miteinander verknüpft werden.
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2. Das dichteste und, wie mir scheint, gelungenste Kapitel des Buchs von Deleuze ist das IV. Kapitel. Es trägt den lapidaren Titel "Hinreichender Grund". Warum erreicht hier die Virtuosität von Deleuze, aber auch seine Treue zu Leibniz, ihren Höhepunkt? Weil Deleuze' Auslegung des Grunds als "Identität von Ereignis und Prädikat" (55), die er in dem Satz resümiert: "Alles hat einen Begriff!", in Wirklichkeit ganz und gar die Maxime seines eigenen Genies ausdrückt, das Axiom, ohne weiches er den Mut verlöre, zu philosophieren . Auch hier wiederum gelingt es Deleuze, durch die äußerste Nuancierung der philosophischen Bestimmungen eine eingeschliffene Dialektik zu hintergehen: der Satz vom Grund erlaubt in der Tat, daß Nominalismus und Universalismus zuletzt an
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jedem Punkt zusammenfallen. Das Denken von Deleuze findet hier seinen tiefsten Ausdruck: .Die einen, die Nominalisten, halten dafür, daß einzig Individuen existieren und Begriffe nur wohleingerichtete Wörter darstellen; die andern, die Universalisten, dagegen behaupten, daß der Begriff sich unendlich zu besondem vermag, so daß das Individuum nur auf zufällige oder außerbegriffliche Bestimmungen verweist. Aber für Leibniz existiert einzig das Individuum und es existiert zugleich nur vermöge des Begriffs, als Monade oder Seele. Auch besteht dieses Vermögen des Begriffs (sein Subjekt-Werden) nicht in der unendlichen Besonderung einer Gattung. sondern in seiner Kraft, Singularitäten zu verlängern und zu verdichten. Singularitäten sind keine Allgemein- ' heiten, sondern Ereignisse, Tropfen von Ereignissen." (86)
Gestehen wir zu, daß der Gegensatz von Universalismus und Nominalismus überwunden werden muß. Aber kann das wirklich durch die "monadische" Aussage: Alles hat einen Begriff! geschehen? In Wirklichkeit kehrt Deleuze das Axiom, das, obschon verborgen, dem Nominalismus und Universalismus gleichermaßen zugrundeliegt. um, das Axiom, daß das Viele als sol-I ches begriffslos sei. ,I Für den Nominalismus existiert das Viele oder Mannigfaltige, aber der Begriff, das Eine, ist nur sprachlicher Natur. Für den' Universalisten existiert das Eine gemäß dem Begriff, während das Viele unwesentlich ist. Leibniz-Deleuze dagegen sagt: das Viele oder Mannigfaltige existiert als Begriff, oder existiert im Einen. Von daher wird klar, worin die Funktion der Monade besteht: sie hat im Vielen das Eine zu erfassen, und zwar so, ' daß dieses Viele einen Begriff hat. Es kommt so eine fruchtbare Äquivokation zwischen ontologischen Kategorien und Kategorien des Wissens zustande, zwischen "Element sein von" oder "enthalten sein" einerseits und "eine Eigenschaft haben" oder "ein bestimmtes Prädikat haben" andererseits. Deleuze läßt darüber keinen Zweifel: "Zuletzt hat eine Monade kein abstraktes Attribut. .... sondern andere Monaden als Eigenschaft." (148) 143
An dieser Stelle erreicht das Denken eine äußerste Spannung. Denn - entweder ist das Mannigfaltige ein reines Mannigfaltiges von Mannigfaltigem, und dann gibt es jenes Eine, von dem man sagen könnte: Alles hat einen Begriff, nicht; - oder das Mannigfaltige "besitzt" Eigenschaften. Es kann diese Eigenschaften dann aber nur als Elemente oder untergeordnete Mannigfaltigkeiten aufweisen, mit der Folge, daß wir es mit einer Begriffsinhärenz, d.h. mit Wesenheiten zu tun haben. Deleuze rühmt Gabriel Tarde, der beobachtet hat, wie bei Leibniz das Haben in'gewisser Weise an die Stelle des Seins tritt. Das Sein der Monade ist eine Summe: das nuancierte, hierarchisierte, kontinuierliche Inventar dessen, was sie "besitzt". "Neu ist, daß die Untersuchung nunmehr auf die Arten, Grade, Verhältnisse und Variablen des Besitzes ausgedehnt wird, der so zum Inhalt oder zur Entfaltung des Seinsbegriffs wird." (147) Nun weiß auch Deleuze, daß Ausdrücke wie "Besitz", "haben", "gehören" Metaphern sind. Aber die Analytik des Seins in Begriffen des Habens (oder der Herrschaft) durchzuführen, dient ihm dazu, den Begriff in die Sphäre des Vielen gleiten zu lassen, ohne darum in der Frage des Einen klar Stellung beziehen zu müssen. Das Problem ist im übrigen für Deleuze größer als für \ Leibniz, der im Gottesbegriff noch über eine umfassende . Sprache, d.h. eine Reihe verfügt, die alle Mannigfaltigkeiten in sich aufzunehmen vermag. Ohne diesen Haltepunkt und in Er•mangelung des Einen läßt die Dissemination den Begriff zu einer Fiktion werden (ähnlich wie auch bei Leibniz der entscheidende Begriff des Unendlich-Kleinen, der sich verflüchtigenden Größe, zu einer Fiktion wird). Zweifellos gibt es einen Ausweg aus dieser Zwangslage. Deleuze deutet ihn an, indem er segmentweise vorgeht, d.h. zwischen Wissensoperationen (oder enzyklopädischen Begriffen) und Wahrheitsoperationen (oder Ereignisbegriffen) unterscheidet. Vom Standpunkt der Situation, d.h. der "monadisehen" Immanenz aus, ist es sicher richtig zu sagen, daß al144
les einen (enzyklopädischen) Begriff hat und nichts Ereignis ist, sondern nur Tatsachen bestehen. Vom Standpunkt des Ereignises aus dagegen wird es eine Wahrheit (der Situation) gegeben haben, die zwar lokal als enzyklopädischer Begriff "erzwingbar" ist, aber global indiszernibel, ununterscheldbar bleibt. Im Grunde geht es um diese Unterscheidung, wenn LeibnizDeleuze im Denken der Welt "zwei Stockwerke" ausmacht, eine Ebene der Aktualisierung (Monade) und eine Ebene der Realisierung (Körper) (vgl. 41). Man könnte sagen, daß die Monade unendlich verifiziert, was auf der Ebene der Körper verwirklicht wird. Oder daß die Monade eine Wahrheitsfunktion vollführt, während in den Körpern enzyklopädische Verkettungen stattfinden. Urnso mehr, als der Aktualisierung die mathematische Metapher einer "Kurve mit unendlicher Neigung" (136) korrespondiert und der Reailsierung das Bild von .Koordinaten, die Extremwerte bestimmen" (ibid.). Man erkennt hier ohne Schwierigkeit die "offene" Bahn der Wahrheit wieder und, gegen diese abgesetzt, die "situative" Stabilität" des Wissens. Aber zugleich versucht Deleuze, die beiden Ebenen, die er zunächst unterschied, zu "verschweißen" oder ineinander zu falten. Wollte man den Abstand aufrechterhalten, so müßte das Ereignis das "Ganze des Begriffs" an einem Punkt durchbrechen und eine Störung der Bedeutung auslösen können. Aber Leibniz-Deleuze gibt zu verstehen, daß dergleichen Störungen nur scheinbar sind und auch eine abgetrennte Punktualität in Wirklichkeit nur eine höhere List der Kontinuität darstellt. Deleuze zündet ein regelrechtes Feuerwerk, wenn es darum geht, etwaige Unzulänglichkeiten in Leibniz' Logik "auszubessern". Hat man nicht immer wieder gegen Leibniz eingewandt, daß die Monadologie nicht erlaube, die Beziehung zu denken? Im Gegenteil, erwidert Deleuze, Leibniz "hat in Wirklichkeit nichts anderes getan als das" (72). Und gibt beiläufig die folgende verblüffende Begriffsbestimmung dessen, was ein Ver145
hältnis ist, d.h. "die Einheit des Nicht-Verhältnisses mit einer GanzesfTeile-Materie" (62), die überzeugt und zwingend ist nur daß in der mathematischen Ontologie das Paar Ganzes/ Teile durch das Paar Mannigfaltiges/Leeres ersetzt werden müßte. Ist nicht immer wieder behauptet worden, daß zwischen dem Satz des zureichenden Grundes (der verlangt, daß alles seinen Begriff hat und über das Requisit seiner Tätigkeit verfügt, und folglich alles mit allem verbindet) und dem Prinzip der Indiszerniblen (das behauptet, daß kein reales Wesen mit einem anderen identisch ist, und folglich alles von altem trennt) ein unaufhebbarer Widerspruch bestehe? Aber Deleuze tut dar, daß die Verkettung der Gründe und die Unterbrechung der Indiszerniblen darauf abgestellt ist, die bestmögliche Strömung, eine höhere Kontinuität zu erzeugen: ..Das Prinzip der Indiszerniblen richtet Schnitte ein; aber diese Schnitte stellen keine Lücken oder Unterbrechungen der Kontinuität dar, sondern verteilen vielmehr das Kontinuierliche so, daß keine Lücken entstehen, d.h. auf die 'bestmögliche' Weise." (88) Aus diesem Grund ..kann man auch nicht wissen, wo das Sinnliche aufhört und wo das Intelligible anfängf' (ibid.). Man sieht, wie für Deleuze-Leibniz die universelle Ereignishaftigkeit zugleich eine universelle Kontinuität bedeutet. Oder anders gesagt: für Leibniz-Deleuze heißt ..Alles geschieht" soviel wie: es gibt : keine Unterbrechungen. Darum hat alles einen Begriff, der es, als Biegung oder Einschnitt, in eine Kontinuität einschließt. Eben dies heißt falten. 3. Welche Freude, daß Deleuze Mallarme, den Dichter und Denker, erwähnt und wie selbstverständlich zu den größten zählt. Auf S. 43 nennt er ihn einen "großen Barockdichter". Warum? Weil "das Tun" Mallarmes ganz wesentlich ein "Falten" ist. Er führt den Fächer an, zitiert "Falte um Falte", nennt die Blätter des Buchs ..Falten des Denkens". Die Falte, so Deleuze, ist ..Einheit, die das Sein gibt, Mannigfaltigkeit, die einschließt, konsistent gewordene Kollektivität." (ibid.). 146
Als Beschreibung verstanden, ist diese Topologie sicher unbestreitbar. Sie führt Deleuze zuletzt dazu, das Buch Mallarmes als eine "Falte des Ereignisses" auszulegen. Auf S.90 wird Mallarme, nunmehr in Begleitung Nietzsches, angerufen, weil er "ein Welt-Denken, das den Würfelwurf wagt", vorführt. Der Würfelwurf, schreibt Deleuze, ..ist die Kraft, den Zufall zu bejahen und das Ganze des Zufalls, der gewiß kein Prinzip, sondern die Abwesenheit von allem Prinzip ist, zu denken. Auch erstattet der Zufall der Abwesenheit oder dem Nichts zurück, was aus dem Zufall entsteht oder dem Zufall zu entkommen sucht, indem es ihn durch ein Prinzip begrenzt." Man ahnt sogleich, worum es Deleuze geht: um den Nachweis, daß es unsere Welt ist, die uns In Leibniz' Barock entgegentritt, um dem Schauplatz eines Spielers, der "die Inkompossiblen in ein und dieselbe geborstene Welt eintreten läßt" (ibid.). Der Versuch, sich in dieser Absicht auf Mallarme als Zeuge zu berufen, ist paradoxal, ich werde darauf zurückkommen. Indes gibt uns der Verweis auf Mallarme einen Wink, warum die Liste derjenigen, die nach Deleuze das Ereignis denken - die Stoiker, Leibniz, Whitehead -, nur solche Denker erwähnt, die man ebensogut dafür, daß sie allem Ereignisbegriff zutiefst entgegengesetzt sind, anführen könnte: erklärte Gegner der Leere, des Clinamen', des Zufalls, der disjunktiven Trennung, der radikalen Unterbrechung, der Idee, kurz, all dessen, was den Einbruch, den das Ereignis darstellt, zu denken erlaubt. Was das, was ohne Innen noch Verbindung ist: die abgetrennte Leere allererst hervortreten läßt. Tatsächlich bedeutet "Ereignis" bei Deleuze genau das Gegenteil vön alledem: es nennt eine immanente Tätigkeit auf dem Grunde einer Totalität, auch eine Erschaffung und das Neue, gewiß, aber nur insofern diese in der Innerlichkeit des Kontinuierlichen denkbar sind. Einen elan vital. Oder auch eine Komplexion von Extensionen, Intensitäten und Singularitäten, die zugleich in einem Punkt gespiegelt wird und in einem Strom verwirklicht ist (vgl. 109). "Ereignis" ist jene Geste ohne Halt noch Zweck, die das anarchische, allbe147
fassende Welttier an unzählbaren Stellen affiziert. Ereignis nennt ein gestisches Prädikat der Welt - "Prädikate oder Ereignisse", wie schon Leibniz sagt. "Ereignis" heißt, daß im Kampf gegen die platonisch-cartesianische Tradition, gegen das attributive Urteil, das essentialistisch ist und EWigkeitsansprüche erhebt, einzig eine Subjekt-Verb-KomplementSprache für angemessen erachtet wird. "Die Inklusion beruht bei Leibniz auf dem Schema Subjekt-Verb-Komplement, die seit der Antike dem Schema der Attribution widersteht:: eine barocke Grammatik, in der das Prädikat in erster Linie Beziehung und Ereignis und nicht Attribut ist." (71) Deleuze verteidigt die Immanenz, schließt die Zäsur und die Unterbrechung aus und verlagert nur· den Akzent von der Qualifizierung (oder des Begriffs) des attributiven Urteils (d.h. des Seins des Einen) auf das Schema der Tätigkeit, die subjektiviert und komplementiert. Denn Deleuze-Leibniz will, jenseits aller Leere, lesen, was am Leib der Fülle und in der Intimität der Falte "geschieht". Die Innerlichkeit liefert den Schlüssel, der zu dieser Lektüre den Zugang eröffnet.
111. Das Subjekt, die Innerlichkeit Deleuze zögert nicht, Leibniz auch dort zu folgen, wo dessen Unternehmen in höchstem Maße paradoxal erscheint: in dem Versuch, die Monade als eine "absolute Innerlichkeit" ~inZUführen und zugleich die strengstmögliche Analytik der Außerlichkeitsverbindungen (oder des Besitzes), insbesondere der Verbindung von Körper und Seele, anzulegen. Das Außen als die exakte Umkehrung des Innen, als eine "Membran" bestimmen, die Welt als Textur der Intimität auslegen, das Makroskopische (oder Molare) als Krümmung des Mikroskopischen (des Molekularen) begreifen: in diesen Operationen erreicht der Begriff der Falte zweifellos seine äußerste Wirksamkeit. Ein Beispiel: "Die 'Einseitigkeit' der Monade erfordert, als Be-
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dingung ihrer Geschlossenheit, eine Krümmung oder unendliche Faltung der Welt. Letztere können sich, dieser Bedingung gemäß, nur entfalten, indem sie die andere Seite nicht als der Monade äußerlich darstellen, sondern als das Äußere oder Außen ihrer eigenen Innerlichkeit: als eine Trenn- oder Scheidewand, eine biegsame, eng anliegende Membran, die dem gesamten Innen koextensiv ist." (149) Man sieht, wie Deleuze von der Faltung ausgehend eine Figur der Innerlichkeit (oder des Subjekts) sucht, die weder Reflexion ist (wie das Cagito) noch Beziehung auf oder ein Meinen (wie die Intentionalität), aber auch nicht einfach ein reiner leerer Punkt, ein Verschwinden. Weder Descartes noch Husserl noch Lacan. Eine absolute und doch zugleich "umgekehrte" Innerlichkeit, die durch ein Band mit dem Ganzen verbunden ist, "ein primäres nicht-IokaIisierbares Band, das die absoluet Innerlichkeit umhüllt" (149). Dieses primäre Band, durch das die absolute Innerlichkeit in ein allumfassendes Außen eingefügt oder eingefaltet ist, nennt Leibniz vinculum. Durch dieses Band ordnet sich das monadische Innen die "äußeren" Monaden unter und erwirbt Klarheit, ohne darum die Innerlichkeit "verlassen" zu müssen. Die Analyse des zentralen Begriffs des Vinculum, die Deleuze von der Falte aus vornimmt, ist schlechthin bestechend (Kapitel VIII). Wir sehen eine Intelligenz am Werk, die fasziniert ist von der Entdeckung, die sie gemacht hat: sie geht einer gänzlich neuen Spur nach, der Freilegung eines Subjekts, das die Abgeschlossenheit des klassischen, reflexiven Subjekts - ohne dessen reflexive Klarheit - und die barocke Porosität des empiristischen Subjekts - ohne dessen mechanische Passivität direkt verknüpft. Eine Intimität, die der Welt gleich ist, eine Seele, die gänzlich in den Körper eingefaltet ist - welch eine Überraschung! Sehen wir zu, wie Deleuze diese Requisiten rekapituliert: ,,1) Jede individuelle Monade besitzt einen Körper. der von ihr unabtrennbar ist. 2) Jede Monade besitzt einen Körper, insofern sie das konstante Subjekt des Vinculum, das an ihr anliegt, Ist (ihr vinculum). 3) Die anderen Monaden bilden, als Menge betrachtet,
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Variablen dieses Vinculum. 4) Diese Monadenmengen sind untrennbar von Unendlichkeiten materieller Teile, denen sie angehören. 5) Diese materiellen Teile konstituieren den organischen Teil eines Körpers, dessen durch die Variablen definiertes Vinculum seine spezifische Einheit gewährleistet. 6) Dieser Körper gehört der individuellen Monade an und ist ihr Körper, insofern er dank des Vinculum, das nunmehr durch die Konstante definiert wird, bereits über eine individuelle Einheit verfügt."( 152)
Dies~. Auffassung eines Subjekts als Innerlichkeit, deren eigenes Außeres die eigentliche Verbindung mit dem unendlich Mannigfaltigen der Welt bildet, impliziert dreierlei. Erstens. Sie entbindet die Erkenntnis von jeglicher Beziehung auf ein .Objekt". Die Erkenntnis bewerkstelligt eine Summmierung der immanenten Wahrnehmungen, sie ist die innere Wirkung ~iner. "Me~bran", eine Subsumtion oder Beherrschung von Vlelhelten, die als "Masse" betrachtet werden. Erkennen \heißt, eine innere Komplexität entfalten. Insofern kommt Leibniz-Deleuze mit dem, was ich das moderne Problem eines "Subjekts ohne Objekt" genannt habe, überein: "Stets entfalte ich zwischen zwei Falten, und wenn Wahrnehmen Entfalten heißt, dann nehme ich immer in und zwischen Falten wahr. Eine Wahrnehmung hat immer etwas von einer Halluzination da die Wahrnehmung ohne Objekt ist'. (125) , Zweitens. Bei Deleuze-Leibniz wird das Subjekt als eine Reihe bzw. als Ausfaltung von Prädikaten verstanden, und nicht als Substanz oder als reiner leerer, reflexiver Punkt, sei er nun verschwindend oder transzendentales Korrelat eines Objekt = \ x. Das ~ubjekt ist bei Leibniz-Deleuze unmittelbar mannigfaltig, und dann besteht seine Kraft. "Alles Reale ist ein Subjekt. Sein Prädikat wird durch ein serialisiertes Merkmal gebildet, dergestalt, daß das Verhältnis zwischen den Grenzen dieser Serien das Ensemble der Prädikate konstituiert." (64) Und w~n~ Deleuze hinzufügt, daß "man Grenze und Subjekt nicht miteinander verwechseln darf", so nicht nur, um der leibniz'schen Orthodoxie Genüge zu tun. Die Bemerkung ist vielmehr gegen den zeitgenössischen Humanismus der Rede von den
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.Menschenrechten" gemünzt, der von der stummen Vorstellung des Subjekts als Grenze regelrecht kontaminiert wird. Aber das Subjekt ist in Wirklichkeit höchstenfalls das, was auf mannigfache Weise eine Mannigfaltigkeit von seriellen Grenzen ins Verhältnis setzt. Drittens. Leibniz-Deleuze macht das Subjekt zu einem (Gesichts)Punkt, von dem aus es eine Wahrheit, oder eine Wahrheitsfunktion, gibt. Das Subjekt ist nicht Quelle, Urheber oder Garant einer Wahrheit, sondern der Punkt, von dem aus eine Wahrheit ist. Innerlichkeit heißt, daß ein solcher (Gesichts)Punkt eingenommen wird. Ein Vinculum fügt Wahrheitsfälle zu einer Ordnung. Deleuze ist durchaus zuzustimmen, wenn er erklärt, daß eine solche, in gewisser Hinsicht "relativistische" Auffasung der Wahrheit keinen Abbruch tut. Denn nicht die Wahrheit variiert gemäß dem jeweiligen Gesichtspunkt (dem Subjekt, der Monade, der Innerlichkeit), sondern die Tatsache, daß die Wahrheit Variation ist, bewirkt, daß sie immer nur wahrheit fOr einen (Gesichts)Punkt ist. "Es handelt sich nicht um die Variation einer Wahrheit gemäß dem Subjekt, sondern um die Bedingung, unter der dem Subjekt die Wahrheit einer Variation erscheint" (27). Diese Auffassung der Wahrheit als Variation oder Prozeß bedeutet, daß sie stets von einem Punkt aus oder fallweise ins Auge gefaßt wird. Das Wahre erscheint nur, wenn eine Variation in ihrem Verlauf verfolgt wird: "In jedem Variationsbereich ist der Gesichtspunkt das Vermögen, die Fälle zu ordnen, und somit Bedingung der Erscheinung des Wahren" (30). Die Schwierigkeit besteht zweifellos darin, daß diese Überlegungen an die Vorstellung von der "Ungetrenntheit" des Ereignisses und damit an (Gesichts)Punkte gebunden sind. Deleuze drückt dies mit wünschenswerter Klarheit aus, wenn er sagt, daß es "zwischen zwei Gesichtspunkten gewiß keine Leere gibt" (28). Durch den Ausfall der Leere wird zwischen den Gesichtspunkten eine perfekte Kontinuität hergestellt. Eben weil die Kontinuität zuletzt eine Funktion des Ganzen ist, ist sie der jeweils singularen Variation entgegengesetzt. Aber 151
könnte man nicht umgekehrt das Variiert-Werden eine Wahrheit nennen? Und da dieses Werden von allem anderen durch den Abgrund der Leere getrennt ist, bildete eine Wahrheit eine Bahn, die dem Zufall anheim gegeben ist. Indes können weder Leibniz noch Deleuze dieser Folgerung zustimmen, denn der ontologische Organizismus schließt - gemäß dem Gesetz (oder Wunsch, was dasselbe ist) der großen animalischen Totalität - die Leere aus.
IV. Natur und Wahrheit Deleuze' Vorhaben ist von äußerster Tragweite, wie diskret und bescheiden auch immer die Prosa sein. mag, in der es angekündigt wird. Denn Deleuze ist ein großer Philosoph, er will, er erschafft ein reales Quantum philosophischer Größe. Das Paradigma dieser Größe ist die Natur. Deleuze will und erschaffl eine Philosophie "der" Natur, oder vielmehr eine Na1 tur-Philosophie. Darunter ist eine denkende Beschreibung des . Lebens der Welt zu verstehen, und zwar so, daß das beschriebene Leben die Beschreibung seiner selbst als eine seiner lebenden Gesten miteinschließt. Ich spreche nicht leichthin von Leben. Strom, Wunsch, Falte: diese Begriffe fangen das Leben ein. Es sind deskriptive Fallen, die das Denken der lebenden, gegenwärtigen Welt stellt. Deleuze' Vorliebe für barocke Autoren ist berühmt, denn für :,,-...., sie "sind die Prinzipien der Vernunft wahrhaftig Schreie: Nicht ! )alles ist Fisch, aber überall sind Fische... Es gibt keine Universalität, sondern eine Ubiquität des Lebenden;" (14) Die Begriffe müssen sich der Prüfung durch die Biologie unterziehen, der der Falte nicht ausgenommen: "Entscheidend ist, daß beide Auffassungen, Epigenese und Präformation, den Organismus als ursprüngliche Falte, Faltung oder Entfaltung begreifen. Nie wird die Biologie auf diese Bestimmung des Lebens, die heute in der Doppelfaltung der Globularproteine wiederkehrt, verzichten können." (15) 152
Die Frage nach dem Körper und der Affizierung des Denkens durch den Körper ist für Deleuze entscheidend. Die Falte stellt ein angemessenes Bild für das unbegreifliche Band zwischen Denken und Körper dar. Der gesamte dritte, abschließende Teil des Buchs trägt den Titel "Einen Körper haben". Hier heißt es: "Wie zwischen dem Organischen und dem Anorganischen auf Seiten der Körper und den 'Arten' der Monaden auf Seiten der Seelen, so verläuft auch zwischen dem Körper und der Seele eine Falte. Diese Falte ist vielfach verästelt, eine Art Zickzack, eine primitive, nicht-Iokalisierbare Verbindung." (162) Wenn Deleuze von "zeitgenössischen Mathematikern" spricht, denkt er an Denker wie Thom oder Mandelbrot, die, in der Tat, nicht nur große Mathematiker sind, sondern darüber hinaus eine morphologische, modellierende, deskriptive Projektion einer Reihe von mathematischen Begriffen auf empirische, geologische, organische und soziale Gegebenheiten versucht haben. Indes wird die Mathematik nur erwähnt und angegangen, insofern sie ohne Vermittlung ein Teil einer naturalen Phänomenologie zu sein beansprucht (vgl. 22-23). Ich spreche hier nicht leichtfertig von Beschreibung. Beschreibung, Erzählung: wir sahen, daß Deleuze gegen das essentialistische ~~ent und die dialektische Entwicklung vor alle~_. diesen (jenkst~ geltend macht. Deleuze läßt den Gedanken das Labyrlr'iffi der Welt durchstreifen, legt Fäden aus und markiert Wege, stellt Tieren und Schatten mentale Fallen. Monadologie, Nomadologie: er selbst bringt das Buchstabenspiel auf. Er liebt es, Fragen indirekt und lokal anzugehen, ihm gefällt, daß der Spiegel eine Patina trägt und. die Kontur d~S" Seins nur durch einen Filter, der das Auge blinzeln macht, 10 den Blick kommt. Es geht um die Verfeinerung der Wahrnehmung, die Verstrickung in Netzen, die Lancierung hypothe- ; tischer Gewißheiten. ............ Zuletzt weiß man, wenn man Deleuze liest, nicht einmal mehr wer spricht, wer das, was gesagt wird, verbürgt oder für die ... Gewißtheit einsteht. Leibniz? Deleuze? Oder der Leser, der, dem Autor vertraut? Der Künstler, der sich auf Taubenfüßen naht? Das nachgerade geniale Schema, das Deleuze im
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Romanwerk von Henry James angelegt sieht, ist zugleich eine Allegorie für die Wege und Umwege seines eigenen philosophischen Werks: "Wären Sie geneigt, was ich Ihnen sage und woran auch Sie in diesem Augenblick denken, auch über ihn zu sagen - vorausgesetzt, man weiß, woran man bei ihr ist und ist sich darüber einig , wer sie ist und wer er ist?" (30) Ei~ solcher Satz bewerkstelligt eine mentale Beschreibung. Es geht weniger darum, zwischen den verschiedenen Eventualitäten (ihm, ihr, was usw.) zu unterscheiden, als darum, sacht an den Punkt oder die Scheidelinie zu rühren, wo diese Eventualitäten zu einer Gestalt, einer Geste oder einem Ereignis zusammenschießen. Wäre Deleuze weniger vorsichtig oder direkter, dann lieferte er vielleicht ähnlich weitläufige Beschreibungen, wie Platon im Timaios oder Descartes in derWeIl, Hegel in der Naturphilosophie oder Bergson zuletzt in der Evolution creatrice . Auch dieses Genre hat ja Tradition. Aber Deleuze deutet eher die leere Möglichkeit - oder zeitgenössiche Unmöglichkeit - von '; solchen Unterfang~n an. Er deutet sie an, indem er Begriffe, / Verfahrungsweisen und "Einl?!~J?~: __~Qrobt. Nach Differenz, Wiederholung, Wunsch, Strom, molekular und molar, Bild, Bewegung usw. ist Falte wahrscheinlich der wichtigste Vorschlag in dieser Richtung. In unvollständigen Beschreibungen behandelt Deleuze diese Begriffe als mögliche Instrumente für eine umfassende Bescheibung, die das Leben der Welt im ,ganzen einzufangen vermöchte und doch nie vollendet wäre.
V. Fünf Punktierungen Der Autor dieser Zeilen hat eine andere ontologische Wahl vollzogen, zugunsten der Subtraktion, der Leere und des Mathems. Für ihn spielen Zugehörigkeit und Inklusion eben die Rolle, die Deleuze Begriffen wie Falte oder Welt zugedacht hat. Für beide jedoch steht das Wort "Ereignis" an entscheidender 154
Stelle und bildet einen Rand, oder Sims, des Seins, so daß das Wahre der Singularität des Ereignisses anvertraut ist. Weder für Deleuze noch für mich bedeutet Wahrheit Adäquation oder . Struktur. Sie ist ein unendlicher Prozeß, der aleatorisch an einem Punkt entspringt. Daraus ergibt sich ein merkwürdiges Verhältnis, d~s zuglei~h eine infinitesimale Nähe und unendliche Ferne anzeigt. Ich will dafür einige Beispiele anführen. Das Denken von Deleuze wird hierbei, im Kontrast, abermals dargestellt.
1. Das Ereignis Ich räume ein daß eine Begebenheit, ein Ereignis schöpferisch I ist daß in ih~ ein Überschuß (ob an Licht oder Schatten, läuft aU'f dasselbe hinaus) enthalten ist. Aber ich würde diesen Überschuß ganz anders verteilen als Deleuze, der in ihm die unerschöpfliche Fülle der Welt wiedererkennt. Mich dünkt, daß die unerschöfliche Reserve, der stumme (oder ununterscheidbare) Überschuß des Ereigni.sses nicht, und sei es auf ideale Weise, der Welt geschuldet Ist, sondern vielmehr daher rührt, daß das Ereignis mit der Welt unverbunden, von ihr abgetrennt ist, daß es eine Lücke bezeichnet oder - wie Mallarme sagen würde - "rein" ist. Die globale oder· ideale Verweltlichung des Ereignisses - sein suspensiver Effekt, das was ich eine Wahrheit nenne - geschieht durch das, was nadhträglich in Seelen ausgesagt oder in Körpern verwirkli?ht wird. Der Überschuß eines Ereignisses ist zwar auf eine Situation bezogen, aber diese ist nicht ein organischer "dunkler Grund" sondern ein Mannigfaltiges, zu dem das Ereignis nicht hinZUg~zählt, sondern von dem es abgezogen wird. Sein stummer oder subtraktiver Teil ist eine kommende Unendlichkeit eine Nachexistenz. Durch sie wird der reine, abgetrennte pun'kt des supplementären Ereignisses in der m.ühe~olle~, unabschließbaren Gestalt einer unendlichen Inklusion In dIe Welt wiedereingeführt. Wo Deleuze eine "Manier" des Seins erblickt, würde ich sagen, daß die welthafte Nachexistenz 155
einer Wahrheit das Ereignis als Trennung einschreibt. Das folgt aus dem mathematischen Charakter des Mannigfaltigen und ist nicht mit der Annahme organischer Mannigfaltigkeiten vereinbar. "Ereignis" heißt: es gibt das Eine, um den Preis des Kontinuums und unter AUßerkraftsetzung der Bedeutungen. Darum gibt es auch einige Wahrheiten, aleatorische Trajektorien, die - dank der Treue, die dem überzähligen Einen gelobt wird - der Enzyklopädie des Begriffs entzogen sind.
2. Wesenheit, Beziehung, Ganzes In seinem Kampf gegen die Wesenheiten. setzt Deleuze auf das Aktivum des Verbs und den Eingriff des Komplements. Er stützt diese gegen das attributive Urteil gerichtete "Dynamik" auf die unerschöpfliche Tätigkeit des Ganzen. Aber genügt es, den Vorrang des relationalen Verbs über das attributive Adjektiv zu betonen, um die Singularität zu retten und uns von den Wesenheiten zu befreien? Muß man nicht das Ereignis aus jeglicher Art von Beziehung - und nicht nur aus der Attribution - herauslösen, aus dem Tun des Verbs nicht weniger als aus dem Sein der Kopula? Ist es angemessen, das Kontinuum bzw. Intervall zwischen Verbsubjekt und Komplement als Stätte des Ereignisses anzusetzen? Das große Ganze lÖscht ebenso sicher die lokale Geste der Singularität aus, wie die transzendente Wesenheit die Individuation erdrückt. Die Singularität verlangt nach dem Absolutum einer trennenden Distanz, d.h. nach dem Leeren als Punkt des Seins. Sie duldet weder die innere Präexistenz des Einen (Wesenheit) noch des Ganzen (Welt).
3. Mal/arme Die Phänomenologie der Falte ist zwar deskriptiv zutreffend, aber sie ist nicht geeignet, den Einsatz der Dichtung Mallarmes zu bestimmen. Sie stellt nur einen Sekundäraspekt, einen 10156
kaien Übergang, eine deskriptive Stasis dar. Man kann ruhig zugestehen, daß die Welt gefaltet, Einfalt~ng. un~ Entfaltu~~ ist. Aber der Einsatz des Gedichts Mallarmes Ist nicht der F.acher der Welt oder der verwaiste Stein. Man muß der Falte Im Gegenteil den Sternpunkt entgegensetzen, das kalte Feuer, das die Falte in absentia versetzt und gerade das, was faltenlos ist als reiner Begriff" verewigt. Wer wollte glauben, daß der M~nn de~ "ruhigen Blocks", der Konstellation, .die "außer ~~, brauch gekommen und in ihrem Vergessensem erkaltet..Ist , des kühlen Gesteins", des enthaupteten Kopfes des heiligen Joha~nes, der Mitternacht usw. - daß dieser Mann sich zur Aufgabe gesetzt hat, "zu falten, zu entf~lt~n, zusam~enz~ falten"? Der "operative Akt" eines Mallarme Ist der Schnitt, d~e Trennung, der transzendente Einstand des reinen Punkts, dl~ Idee, in der aller Zufall ausgeschaltet ist, kurz, das Gegenteil einer Falte, die eine Metapher für Hindernisse und Verschach" telungen ist. Das Gedicht ist die Schere der Falte... Das Buch Mallarmes ist nicht "Falte des Ereignisses, sondern dessen reiher Begriff, d.h. die dichterische Freilegung der Abwesenheit von al/ern Ereignis. Allgemeiner gesproche~, Deleuze kann Mallarme nicht für seine Zwecke (als Zeuge fur die Divergenz der Serien der Welt und für die Aufforderung, zu falten, zu entfalten und zusammenzufallten) in Anspruch nehmen und zwar aus folgenden Gründen: a) Der Zufall ist nicht Abwesenheit von allem Prinzip, sondern nur "Negation von allem Prinzip". Diese "Nuance". tr~nnt .Mallarme von Deleuze und bringt ihn auf eine Bahn, die In Richtung ..' .. Hegel weist. b) Als Gestalt des Negativen ist der Zufall grundsatzlIch Tra~er einer Dialektik ("Das Unendliche tritt aus dem Zufall, den Ihr geleugnet habt, heraus") und nicht eines Spiels (im Sinne von Nietzsche). c) Der Zufall ist in allen Gestalten, in denen er auftritt,. Se/~stverwirklichung seiner Idee. Er ist ein umgrenztes affIrmatives Vermögen und nicht Korrelation der Welt (der Ausdruck "WeItDenken" ist hier ganz unangebracht). . d) Die Verwirklichung des Zufalls durch das Denken, die zu157
gleich das reine Denken des Ereignisses ist, gibt nicht das "Inkompossible" oder ein spielerisches Chaos frei, sondern führt auf "eine Konstellation", eine isolierte Idee, deren Schema die Zahl ist ("die einzige Zahl, die keine andere sein kann"). Die Dialektik Hegels und das Intelligible von Plato gleichen sich hier einander an. e) Es geht nicht darum, das, was dem Zufall entgegengesetzt ist, in die Sphäre des Nichts zu verbannen, sondern darum, sich vom Nichts so abzusetzen, daß die transzendente stellare Isolierung hervortritt, die die absolute Trennung des Ereignisses symbolisiert. Der Schlüsselbegriff Mallarmes ist gewiß ,1 nicht die Falte, sondern wohl eher: Reinheit. Die zentrale Maxime, am Ende von Igitur ausgesprochen, lautet: "Wenn das Nichts zerstäubt ist, bleibt das Schloß der Reinheit." !
4. Der Zusammenbruch der Gegenstandskategorle
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Eine der Stärken von Deleuze liegt zweifellos darin, mit Leibniz die Möglichkeit einer Erkenntnis ohne Gegenstand ins Auge zu fassen. Der Zusammenbr~ch der Gegenstandskategorie ist gewiß einer de( bemerkenswertesten iOgeder zeitgenössischen Philosophie. Freilich reicht diese Stärke, wie Pascal sagen würde, "nur bis zu einem gewissen Punkt". Im Labyrinth des Ganzen gefangen und das Leere leugnend, kann Deleuze den Ausfall des Objekts nur der monadischen Innerlichkeit zuschreiben. Indes rührt dieser Ausfall des Gegenstands daher, daß eine Wahrheit weniger der Prozeß einer Ausfaltung als der Prozeß der Lücken im Wissen ist. Daß das Subjekt das Differential einer unterbrochenen Trajektorie und nicht so sehr das Eine des primären Bandes welthafter Mannigfaltigkeiten ist. Mir scheint, daß Deleuze wenn nicht den Gegenstand, so doch die Spur der Gegenständlichkeit aufrechterhält, solange im Herzen des Erkenntnisproblems das Begriffspaar aktivl passiv (Faltung/Entfaltung) verankert bleibt. Und da seine Theorie des Mannigfaltigen organizistisch oder vitalistisch ist, kann er sich einer solchen Verankerung nicht entschlagen. In
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der mathematischen Konzeption der Mannigfaltigkeit impliZiert die Generizität (oder die Lücke) des Wahren weder Aktivität noch Passivität, sondern eher Begriffe ·wie Trajektorie oder Begegnung.
5. Das Subjekt Deleuze hat Recht, das Subjekt als Verhältnis von Mannigfaltigkeiten, als "Verhältnis von Grenzen" und nicht als einfache Grenze (was zum Subjekt des Humanismus zurückführte) zu denken. Allein, auch als Konfiguration von Mannigfaltigkeiten muß man das Subjekt formell von anderen Grenzverhältnissen, wie sie in jeder beliebigen Situation vorkommen, unterscheiden. Ich habe dafür als Kriterium den Begriff des endlichen Fragments vorgeschlagen: ein Subjekt ist eine endliche Differenz im Prozeß einer Wahrheit. Natürlich kommt man, wenn man Leibniz folgt, zum gegenteiligen Ergebnis: zum Einen der Innerlichkeit; der auf dem Wege über das Vinculum unendlich viele Mannigfaltigkeiten untergeordnet sind. Die Ilumerische Ausdruck des gefalteten Subjekts von Deleuze ist .1.. Das ist die Formel der Monade, auch wenn deren klarerooreil ~ ist (vgl. 178). Sie artikuliert das Eine und das Unendliche. Meine Überzeugung geht eher dahin, daß jede endliche Formel ein Subjekt ausdrückt, sofern sie das lokale Differential eines Wahrheitsverfahrens ist. Man ist dann auf die charakteristischen Zahlen solcher Verfahren und die ihnen entsprechenden Typen verwiesen. Wie immer dem sei, Ausdrücke wie L. führen uns unweigerlich in die lJntiefen eines Subjektbegriffs zürück, dessen Paradigma Gott, das Unendlich-Eine, ist. An dieser Stelle rächt sich das Eine dafür, daß es aus der Analytik des Ereignisses verbannt wurde: wird das Ereignis auf die Tatsache reduziert, so daß "alles Ereignis ist", dann muß das! Subjekt sowohl für das Unendliche wie für das Eine einstehen. Auch Leibniz-Deleuze entkommt dieser Regel nicht. Um dies zu verhindern, muß man die Vorstellung einer reinen
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Innerlichkeit - auch dann, wenn diese als Inversion und der Äußerlichkeit koextensiv begriffen wird - aufgeben. An deren Stelle tritt die Vorstellung des lokalen Differentials eines Zufalls, der, da Vermählung einer Endlichkeit und einer Sprache (einer Sprache, die die unendliche Variation des Subjektpunkts ihres endlichen Variiert-Werdens "erzwingt"), ohne Innen noch Außen ist. Im Subjekt von Leibniz-Deleuze steckt noch zuviel Substanz, zuviel konkave Faltung. Es gibt nur Punkt und Name.
Abwendung ineinander gefügt. In einem Punkt ist Deleuze Recht zu geben: wir können uns von diesem Ineinander nur trennen um den Preis des Untergangs. Aber es ist zugleich dasjenige, an dem wir zugrunde gehen, wenn wir sorglos uns mit ihm zufrieden geben.
Um zu schließen
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Deleuze häuft die Mittel einer "deskriptiven Mathesis" und prüft lokal deren Leistungskraft, ohne sich weiter um deren systematischen Wert zu kümmern. Aber kann und darf die Philosophie es bei der Immanenz einer Beschreibung des Lebens der Welt belassen? Ein anderer Weg steht offen: der Weg, der der Welt entsagt. Es ist der weg der Rettung der Wahrheiten. Er verfährt subtraktiv und aktiv, im Unterschied zu Deleuze, dessen Verfahrungsweise vergegenwärtigend und spielerisch ist. Er setzt der Falte die entfaltete Verflechtung des Leeren entgegen. Dem Strom die stellare Trennung des Ereignisses. Der Beschreibung die Inferenz und das Axiom. Dem Spiel und dem Versuch das Band der Treue. Dem schöpferischen Kontinuum den gründenden Bruch. Am Ende verbindet er nicht, sondern trennt. Er setzt dem Tun des Lebens die Taten der Wahrheit entgegen. Wer spricht hier, Deleuze oder Leibniz: "Durch ihre Präsenz und nicht durch ihr Tun ist die Seele der Grund des Lebens. Die Kraft ist Präsenz, sie ist kein Tun." (162) Mir scheint, daß in diesem Satz in äußerster Verdichtung ausgesprochen wird, wovon die Philosophie sich abzukehren hat. Man müßte sagen können: "Durch die Leere, deren Tun sie unterhält, ist eine Wahrheit der Grund eines Subjekts. Eine Wahrheit ist eine Tat, keine Präsenz." Unauslotbar sind in dem, was den Namen Philosophie trägt, sie selbst und ihr Anderes, ihr innerer Gegner, ihre königliche
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Nachweise
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Gilles Deleuze, Brief an Kuniichi Uno (Lettre Kuniichi Uno), auf Japanisch veröffentlicht in: La Revue de la pensee d'aujourdhui. Tokyo, Sep. 1984. Hier übersetzt aus dem Manuskript. Gilles Deleuze, Bis zum Ende, ohne Titel veröffentlicht In: Chimeres 18, 1992/93 Arnauld Villani, Physische Geographie von Tausend Plateaus (Geographie physique de Mille Plateaux) , veröffentlicht in: Critique 455, April 1983 Toni Negti, Tausend Plateaus des neuen historischen Materialismus (I Mille Piani dei nouvo metarialismo storico), Originalbeitrag Brian Massuml, Everywhere you want to 00. Einführung in die Angst (Everywhere you want to be. Introduction to Fear), Originalbeitrag Glemens-Garl Härle, Karte des Unendlichen, OriglnalOOitrag Alain Badiou, Deleuze, Leser von Leibniz (Gilles Oeleuze, Le pli. Leibniz et le baroque), veröffentlicht in: L'Annuaire philosophique 1989/90, Paris 1990 WIr danken Dominique S8glard (Paris) für freundliche Hilfe.
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Foucault, Mikrophysik der Macht Lowien, Weibliche Produktivkraft - andere Ökonomie? Deleuze/Guattari, Rhizom Foucault/Deleuze, Der Faden ist gerissen Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten Cixous, Die unendliche Zirkulation des Begehrens Lyotard, Intensitäten Foucault, Dispositive der Macht Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen Virilio, Fahren, fahren, fahren ... Baudrillard, Agonie des Realen Irigaray, Das Geschlecht das nicht eins ist Klossowski/Foucault/Blal1chot/Deleuze, Sprachen des Körpers Deleuze, Ein Nietzsche-Lesebuch Klossowski, Römische Damen Charles, John Cage oder Die Musik ist los Lyotard, Apathie in der Theorie . Virilio, Geschwindigkeit und Politik Cixous, Weiblichkeit in der Schrift Deleuze, Kleine Schriften Godard, Liebe Arbeit Kino Szeemann, Museum der Obsessionen Lyotard, Affirmative Ästhetik Kneubühler, Im Wald des einzigen Bildes Heiner Müller, Rotwelsch Bonito Oliva, Im Labyrinth der Kunst Minus Delta t, Das Bangkok-Projekt Genet, Fragmente Foreman, Warum ich so gute Stücke schreibe Seitter, Der große Durchblick Baudrillard, laßt Euch nicht verführen I Barthes, Cy Twombly Lotringer, New Yorker Gespräche Charles, Musik und Vergessen Virilio/Lotringer, Der reine Krieg Fitzgerald, Der Knacks / Deleuze, Porzellan und Vulkan Seitter, Lacan und Szeemann, Individuelle Mythologien Foucault, Von der Freundschaft Cage/Chartes, Für die Vögel Lyotard, Immaterialität und Postmoderne Böhringer, Begriffsfelder. Von der Philosophie zur Kunst Kneubühler, Malerei als Wirklichkeit Veyne, Aus der Geschichte Vuarnet, Der Künstler-Philosoph Kneubühler, Wegsehen Lyotard, Malerei und Philosophie im Zeitalter ihres Experimentierens Kostelanetz, Autobiographien. Berlin - New York
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Böhringer/LischkaiLotringer/Marcade/Weibel, Philosophen-Künstler Virilio, Asthetik des Verschwindens Foucault, Vom Licht des Krieges Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung Borngräber (Hg.). Berliner Design-Handbuch Blixa Bargeld, Stimme frißt Feuer Jeudy, Die Welt als Museum Borges/Santiago/Casares, Die Anderen (Drehbuch) Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie de Certeau, Kunst des Handeins Seitter, Das politische Wissen im Nibelungenlied Hosokawa, Der Walkman-Effekt Luhmann, Archimedes und wir Glanville, Objekte Ingold, Das Buch im Buch Philosophien der neuen Technologie. Hg. ars .~lectronica Charles, Zeitspielräume. Performance Musik Asthetik Foucault u.a., Pariser Gespräche. Hg. F. Ewald Virilio, Die Sehmaschine JabSs, Die Schrift der Wüste. Hg. F.Ph.lngold Böhringer, Moneten. Von der Kunst zur Philosophie Baecker u.a., Im Netz der Systeme. Hg. ars electronica Deleuze, Kants kritische Philosophie Seitter, Versprechen, versagen Acker, Ultra light-last minute-ex+pop-literatur Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt Weibel, Virilio, Flusser u.a., Von der Bürokratie zur Telekratie Wiener, Probleme der Künstlichen Intelligenz Platz machen, Hg. A. Brandolini und "steirischer herbst" Prigogine/Stengers/Pahaut/Serres, Anfänge Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Lotringer. Foreign Agent. Kunst in den Zeiten der Theorie Rössler, Endophysik. Die Welt des inneren Beobachters Virilio, "Das irreale Monument". Der Einstein-Turm Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus? Foucault, Was ist Kritik? Bonito Oliva, Eingebildete Dialoge Baudrillard, Transparenz des Bösen Deleuze, Proust und die Zeichen Seitter, Piero della Francesca. Parallele Farben Glasmeier (Hg.), Periphere Museen in Berlin Zischler. TaoA!':H,ic:<>"
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und Schizophrenie