Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen Reihe
Rechtsanwalt Dr. Uhlenhorst ist in seiner Wohnung tot aufgefunden wo...
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Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen Reihe
Rechtsanwalt Dr. Uhlenhorst ist in seiner Wohnung tot aufgefunden worden. Mord oder fahrlässige Tötung – eine andere Möglichkeit ist ausgeschlossen. Eine wertvolle Piranesi-Grafik im Schlafzimmer des Toten führt die Ermittlungen der Kriminalpolizei vom Tatort weg in eine entlegene Kreisstadt, in das dortige Museum, das wegen seines reichhaltigen Kupferstichkabinetts von Kennern und Laien gleichermaßen geschätzt wird. Hauptmann Meyerhoff und seine Leute, beileibe keine Kunstwissenschaftler und nur in Maßen Kunstkenner, sehen sich einem Fall gegenüber, der von ihnen neben dem unerläßlichen kriminalistischen Rüstzeug Kenntnisse in Museumskunde und künstlerischer Druckgrafik, Wissen über Sammlergepflogenheiten und Restaurierungen verlangt. Der Fall Uhlenhorst – verschwommen zunächst und ohne wesentliche Anhaltspunkte für die Ermittlung, zudem verknüpft mit einem weiteren kriminellen Delikt – gibt dem Leser Rätsel auf, deren Lösung Intelligenz und Bereitschaft zum Mitdenken fordert.
Karl Heinz Weber
Museumsräuber
Delikte Indizien Ermittlungen DIE Reihe
Verlag Das Neue Berlin
2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin-1977 (1976) Lizenz-Nr.: 409-160/163/77 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft, Dresden 622 2266 DDR 2,- M
1. Als Leutnant Gollus eintraf, trug man die Leiche aus dem Haus. Der braune Sarg, in dem man den Toten zur Klinik brachte, wurde in einen Krankenwagen geschoben. Nachbarn und Passanten standen auf der Straße, sie blickten verstört und neugierig. Gollus hatte den Toten gekannt. Dr. Uhlenhorst war ein angesehener Rechtsanwalt in Hakenfurt gewesen, Strafverteidiger, besonders für Eigentumsdelikte, und natürlich auch im Zivilrecht tätig. Vor Jahren hatte Gollus ihn in einer langwierigen und ziemlich verzwickten Erbschaftsangelegenheit um Rat gefragt. Danach waren sie sich hin und wieder im Gerichtssaal begegnet, nicht allzu häufig, doch ein bißchen gegenseitiges Wohlwollen war stets spürbar gewesen. Mord oder Totschlag, hatte Hauptmann Meyerhoff ihm ausrichten lassen, auf jeden Fall Tod durch äußere Gewalt. Uhlenhorst war niedergeschlagen oder umgestoßen worden. Mehr wußte Gollus noch nicht. Der Rechtsanwalt wohnte in einer Siedlung am Rande der Stadt, Heidering 12, parterre. Sein Büro lag in der Innenstadt. Gelegentlich hatte er seine Klienten auch zu Hause empfangen, denn der Einundsechzigjährige war nicht bei bester Gesundheit gewesen. Sein Kreislauf sei nicht in Ordnung, hieß es. Man hatte Uhlenhorst die Anfälligkeit schon angesehen: klein und hager, ein immer blasses, etwas traurig wirkendes Gesicht, fast dreieckig. Er war Witwer gewesen. Sein Sohn lebte in Berlin, befand sich aber, so erzählte man, viel auf Reisen. Die Wohnung wirkte klein und eng, sie bestand aus zwei Zimmern, dem Bad und der Küche. Leutnant Gollus wurde bereits erwartet. „Tut mir leid“, sagte Hauptmann Meyerhoff und deutete
mit dem Kopf nach draußen. Er meinte das herrliche Frühlingswetter an diesem dreizehnten Mai, Gollus hätte an diesem Tag eigentlich dienstfrei gehabt. Es gab sehr viele Möbelstücke auf den wenigen Quadratmetern der Wohnung, und die Offiziere mußten immer wieder den Technikern ausweichen, die sich um die Spurensicherung mühten. Die Stelle, wo der Tote gelegen hatte, war mit Kreide markiert, Bauchlage, ein Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt, beide Arme dicht neben dem Kopf, der Rumpf auf der Schwelle zwischen Diele und Schlafzimmer. „Das Bett ist unberührt“, erläuterte Meyerhoff. „Uhlenhorst war vollständig angezogen, als er niedergeschlagen wurde. Er hat mehrere Wunden an Stirn und Hinterkopf. Welche Verletzung zum Tod geführt hat, konnte der Arzt noch nicht sagen.“ „Hat er den Zeitpunkt des Todes schon näher bestimmen können?“ fragte Gollus. „Vor zwei Tagen, meint er, am Sonnabend also. Aber das sind vorläufige Angaben.“ Frau Marzahn, die bei Dr. Uhlenhorst den Haushalt besorgte, hatte den Toten am frühen Morgen gefunden und die Polizei benachrichtigt. Eine umsichtige, resolute Person, behauptete Meyerhoff. Sie habe nichts berührt oder verändert, nicht einmal von Uhlenhorsts Privatapparat habe sie angerufen, sondern die öffentliche Telefonzelle vor dem Grundstück benutzt. Nun wartete Frau Marzahn geduldig, daß man sie befragte, doch der Hauptmann wollte noch einige Ermittlungsergebnisse der Kriminaltechniker abwarten. Er führte Gollus in das Badezimmer und zeigte auf das
Fenster. „Der Täter kann hier ein- und ausgestiegen sein, aber es ist auch möglich, daß nur eines von beiden zutrifft. Am Wochenende hat es geregnet, an den Schuhsohlen hing nasser Sand, der auf der Fensterbank und auf den Fliesen Spuren hinterließ, aber natürlich keinen exakten Schuhabdruck.“ Das Badezimmer lag auf der Rückseite des Hauses. Man sah von hier aus auf einen ungepflasterten Hof mit Wäschestangen. Unter dem Fenster standen Mülltonnen. „Ein Kinderspiel, hier hereinzuklettern“, meinte Meyerhoff. „Bei offenem Fenster schon.“ „Als wir kamen, stand es offen.“ Die Kriminalisten gingen in das Wohnzimmer zurück. Auf einem Sessel lag Uhlenhorsts Aktentasche. „Seid ihr mit der Tasche schon fertig?“ fragte Meyerhoff die Kriminaltechniker. „Spuren gesichert, Schloß unbeschädigt!“ „Gut.“ Er nahm ein Schlüsselbund aus dem Jackett. „Aus Uhlenhorsts Mantel, der dort an der Garderobe hing. Mal probieren, ob einer davon paßt.“ Mit dem kleinsten Schlüssel ließ sich die Aktentasche öffnen. Meyerhoff griff nach einem Tuch und packte die in der Tasche befindlichen Sachen auf den Tisch: ein ND von Freitag, dem 10. März 1974; zwei belegte Brötchen, die schon vertrocknet waren; das Buch Kunstsammler der Vergangenheit, ex libris Dr. Eberhard Uhlenhorst; mehrere Nummern der Zeitschrift Marginalien; ein Briefumschlag mit verschiedenen Papieren; ein komplettes Toilettennecessaire; ein Rasierapparat für Batterie und Netzanschluß, Marke Philips; ein benutzter Schlafanzug. Das unbeschriftete Kuvert enthielt zwei ärztliche Rezep-
te, die nicht zu entziffern waren, einen Gepäckaufgabeschein für einen Koffer, ausgestellt am zehnten Mai auf dem Bahnhof Kronitz, Uhlenhorsts Versicherungsausweis und eine Visitenkarte mit dem Aufdruck Eleonore Arendt, Journalist, 7041 Leipzig, Theodor-Storm-Straße 67. „Schau an“, sagte Gollus. „Doktor Uhlenhorst war also verreist, vermutlich in Kronitz. Am zehnten Mai, also am Freitag, hat er dort zwar sein Gepäck aufgegeben, aber er ist Freitag noch nicht zurückgekommen. Beweis: Schlafanzug und Waschzeug hat er in der Aktentasche verstaut. Seinen Koffer hat er abgeschickt, bevor er selbst fuhr.“ „Oder er fuhr am Freitag ab, aber nicht sofort nach Hause. Er übernachtete an einem anderen Ort. Vielleicht bei Frau Arendt oder bei seinem Sohn in Berlin. Kronitz liegt in Mecklenburg, die Strecke nach Hakenfurt führt ohnehin über Berlin.“ Die beiden Kriminalisten hatten ohne viel Engagement gesprochen. Nicht weil sie unbeteiligt, sondern weil sie viel zu erfahren waren, als daß sie sich zu irgendwelchen vorschnellen Schlußfolgerungen hätten hinreißen lassen. Es waren Gedanken, die sich einfach einstellten und die sie einem anderen Partner gegenüber wahrscheinlich unausgesprochen gelassen hätten. Aber Meyerhoff und Gollus kannten einander gut genug und brauchten nicht zu fürchten, durch bislang noch unbewiesene Äußerungen Schaden anzurichten. Sie galten im Kollegenkreis als ein hervorragendes Gespann, obwohl sie im Grunde einander ziemlich unähnlich waren. Das zeigte sich allerdings nicht im Äußeren, sie waren beide groß und athletisch gebaut, sie hätten ihre Anzüge tauschen können, wie man so sagt. Etwa
gleichaltrig, Mitte Dreißig, hatten sie auch gleichartige Entwicklungswege hinter sich. Herkunft, Schule und Ausbildung, Zielrichtung in der beruflichen Arbeit und Tätigkeitsfeld wiesen keine wesentlichen Unterschiede auf. Allmählich hatte sich bei beiden sogar ein gewisses Nachahmen von Gewohnheiten des anderen eingestellt. Sie bevorzugten gleiche Redewendungen, häufig auch ähnliche Bewegungen, und es war schwer festzustellen, wer da wen kopierte. Dennoch setzte sich ihre enge berufliche Bindung in der privaten Sphäre kaum fort. Gollus und Meyerhoff waren einander zu wesensverwandt und gleichzeitig zu gegensätzlich, als daß es zu einer Freundschaft hätte kommen können. An Versuchen hatte es nicht gemangelt, aber meist war es Klaus Gollus gewesen, der die Kontakte wieder abgebrochen hatte. Er fürchtete, daß Meinungsverschiedenheiten im privaten Bereich, die bei ihrem unterschiedlichen Naturell bestimmt nicht ausgeblieben wären, die berufliche Harmonie stören könnten, und das wollte er unbedingt vermeiden. Dr. Uhlenhorsts Wohnung war sauber und aufgeräumt. Es hatte den Anschein, als habe hier seit Wochen niemand gelebt. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes oder Überfalls. Im Schlafzimmer war lediglich die Bettumrandung etwas verschoben und zusammengeknautscht, aber das brauchte nicht unbedingt auf Kampf hinzuweisen. „Und Uhlenhorsts Kleidung?“ fragte Leutnant Gollus. „Der Kragenknopf unter dem Krawattenknoten war abgesprungen, sonst nichts. Kein zerrissener Ärmel, keine Kratzspuren. Uhlenhorst hat sich vermutlich nicht gewehrt oder nicht wehren können.“
„Der Angriff muß demnach völlig überraschend erfolgt sein. Entweder hat Uhlenhorst den Täter nicht bemerkt, oder er kannte ihn und fühlte sich nicht bedroht.“ „Ein Bekannter, der durch das Badezimmer einsteigt, Klaus?“ „Vielleicht nur ausstieg. Uhlenhorst brachte einen Gast mit nach Hause. Von der Reise meinetwegen. Der überfiel ihn aus irgendwelchen Gründen und floh dann durch das Fenster über den Hof.“ „Merkwürdig, daß nichts gestohlen wurde. Ich meine, kein Möbelstück ist gewaltsam aufgebrochen worden.“ Sie standen vor Uhlenhorsts Schreibtisch. Schweres, dunkles Holz, poliert, mit eingeschnitzten Eulenköpfen – offensichtlich ein Hinweis auf den Namen des Eigentümers. Die Türen waren abgeschlossen. Die Experten versicherten, daß auch diese Schlösser unversehrt wären. Schlüssel seien nicht gefunden worden, und von denen am Bund paßte keiner. Natürlich fiel es nicht schwer, die Türen dennoch zu öffnen. Die Schubfächer enthielten genau geordnete Papiere, Briefe, Aktenhefter, Fotoalben, der Größe nach übereinandergeschichtet oder nach Sachgebieten sortiert. Hauptmann Meyerhoff ließ den Inhalt fotografieren. Am Nachmittag würde man sich Zeit nehmen müssen, die Sachen zu sichten. „Wenn aus dem Schreibtisch tatsächlich etwas gestohlen wurde, dann wußte der Täter genau, wo das Gesuchte lag. Oder er hatte viel Zeit.“ Daß die Schreibtischschlüssel fehlten, war natürlich verdächtig. Meyerhoff ließ sich noch einmal die schriftliche Aufstellung der Dinge vorlegen, die man in den Anzugtaschen des Toten gefunden hatte: zwei Taschentücher, ein Portemonnaie mit 120 Mark in Scheinen und 18,57 Mark
Kleingeld, ein Kamm, ein altes Straßenbahnbillett, Uhlenhorsts Personalausweis. „Wir müssen Frau Marzahn fragen, ob Doktor Uhlenhorst die Schreibtischschlüssel gewöhnlich am Schlüsselbund trug. Ist das der Fall, kennen wir vielleicht den ungefähren Ablauf der Tat. Zuerst wurde der Rechtsanwalt niedergeschlagen, dann nahm ihm der Täter die Schlüssel ab… Warum er sie allerdings vom Bund löste und das dann in die Manteltasche steckte… komisch, nicht?“ Klaus Gollus nickte. „Wenn der Täter wirklich durch das Fenster eingestiegen ist, muß er gewußt haben, daß der Rechtsanwalt zu Hause ist. Sonst wäre er ja nie an die Schlüssel gekommen. Entweder hat er von Uhlenhorsts Reise gar keine Ahnung gehabt, oder er kannte den Zeitpunkt seiner Rückkehr.“ Gedanken wieder nur, die sich zwangsläufig einstellten und ausgesprochen wurden. „Wenn es dem Täter um Geld gegangen wäre, hätte er auch die einhundertzwanzig Mark mitgenommen. Er stand nicht unter Zeitdruck. Ich meine, wenn er die Ruhe hatte, einen oder zwei Schlüssel vom Bund zu lösen… aber das wissen wir ja noch nicht.“ „Es kann natürlich auch noch etwas anderes gestohlen worden sein“, überlegte Gollus laut. „Etwas, das ein Außenstehender gar nicht kennt. Vielleicht ein Kunstgegenstand. Ich denke an das Buch in Uhlenhorsts Aktentasche, Kunstsammler der Vergangenheit. Und an die Zeitschriften. Soviel ich weiß, werden die Marginalien von der Pirckheimer-Gesellschaft herausgegeben. Eine Vereinigung von Bibliophilen und Grafiksammlern.“ Aber sah so die Wohnung eines Kunstsammlers aus? Ein Bild im Schlafzimmer, drei Miniaturaquarelle an der
Wohnzimmerwand, auf dem Schreibtisch eine Holzfigur – das war alles. „Sprechen wir mit Frau Marzahn“, schlug Gollus vor. Hauptmann Meyerhoff stimmte zu. Er gab noch ein paar Anweisungen, die eigentlich überflüssig waren, denn seine Mitarbeiter kannten ihre Aufgaben. Aber Meyerhoff war nun mal so, ein hervorragender Fachmann, gewissenhaft und konsequent bis zum Äußersten. Wenn er für etwas eintrat, tat er es radikal. Wenn er gegen etwas polemisierte, tat er es sehr entschieden. Differenzierungen und Zwischentöne lagen ihm nicht. Er war sicherlich begabter als Gollus, was sich auch in der höheren Dienststellung ausdrückte. Er besaß eine ungewöhnlich rasche und klare Auffassungsgabe und griff jeden Fall voller Selbstsicherheit an. Diese Vorzüge verloren jedoch an Glanz, wenn er sie auch außerhalb des Dienstes hervorhob. Meyerhoff wollte nicht nur ein hervorragender Fachmann, sondern unbedingt auch ein hervorragender Mensch sein. Ein hervorragender Kollege, ein prima Kerl sozusagen. Aber das war er nun mal nicht. Zumindest nicht in dem Sinne, wie er es anstrebte. Dafür fehlte es ihm an Leichtigkeit, Saloppheit, an einer gewissen Burschikosität auch. Frau Luise Marzahn wohnte im Nebenhaus. Sie war schmal und lang aufgeschossen, die Augen standen groß im Gesicht, um die Wangenknochen spannte sich die Haut. Sie hatte Kaffee vorbereitet und die Kinder auf die Straße geschickt. „Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung“, sagte sie etwas pathetisch. Sie lamentierte nicht, und das war angenehm für die Kriminalisten. Sie wartete jede Frage ruhig ab und be-
schränkte sich auf ihre strikte Beantwortung. Nur wenn sie aufgefordert wurde, ausführlich zu berichten, schweifte sie manchmal vom Thema ab. Frau Marzahn hatte den Rechtsanwalt seit dem Tode seiner Frau versorgt, gut drei Jahre nun schon. Dennoch hatte sie ihn selten gesehen und wußte eigentlich kaum etwas von ihm. „Das fällt einem immer erst auf, wenn man Auskunft geben soll. Ich habe Schlüssel und kann jederzeit in seine Wohnung, aber ich richte es meist so ein, daß ich dort bin, wenn er nicht zu Hause ist. Einfach, um nicht zu stören.“ „Also haben Sie auch heute morgen angenommen, Doktor Uhlenhorst sei nicht in seiner Wohnung?“ „Heute sowieso. Er wollte ja erst Ende der Woche aus dem Urlaub zurückkommen. Er war für drei Wochen nach Mecklenburg gefahren.“ „Können Sie den Tag nennen, an dem er wieder nach Hause kommen wollte?“ „Am Sonnabend dieser Woche, am Achtzehnten. So steht es auch an der Tür zu seinem Büro: Wegen Urlaub vom 29. April bis 17. Mai geschlossen.“ „Doktor Uhlenhorst hat Sie demnach von seiner vorzeitigen Rückkehr nicht verständigt. Entspricht das seinen Gepflogenheiten, oder hätten Sie eine Mitteilung erwartet?“ „Gott, wissen Sie, er war immer sehr darauf bedacht, andere nicht zu belästigen. Hätte er mir geschrieben, wäre ich natürlich für ihn einkaufen gegangen und so. Vielleicht wollte er das nicht.“ „Aus welchem Grunde haben Sie heute morgen seine Wohnung betreten, Frau Marzahn?“ „Ich gieße die Blumen. Doktor Uhlenhorst hatte mich
darum gebeten.“ „Täglich?“ „Nicht jeden Tag.“ „Wann zuletzt?“ „Am Freitag.“ „Haben Sie am Freitag das Badezimmerfenster geöffnet und nicht wieder geschlossen?“ „Das steht immer einen Spalt auf. Es ist eingehakt.“ „Aber jetzt ist es ausgehakt und steht ganz auf.“ „Ich habe es nicht geöffnet.“ „Haben Sie es geschlossen, als am Sonnabend der Regenguß niederging?“ „Nein. Das Bad liegt geschützt. Es regnet dort nie ‘rein.“ „Ist Ihnen am Wochenende irgend etwas an der Wohnung von Doktor Uhlenhorst aufgefallen? Haben Sie Licht gesehen oder Stimmen gehört?“ „Nein.“ „Wissen Sie, wo er seine Schreibtischschlüssel aufbewahrt?“ „Das kann ich nicht sagen.“ „Haben Sie in letzter Zeit, vor seiner Reise, irgendwelche Veränderungen an Doktor Uhlenhorst bemerkt? War er bedrückt, verstört oder besonders lustig?“ „Er war so wie immer.“ „Wie war er denn immer?“ „Höflich und ruhig. Zurückhaltend. Sehr zuvorkommend.“ „Sie kamen gut mit ihm aus?“ „Es gab nie ein böses Wort zwischen uns. Wirklich, nie!“ „Hatte Doktor Uhlenhorst Bekannte oder Freunde?“ „Ich kenne nur zwei, Herrn Scharf, den Optiker aus der Hauptstraße, und Herrn Doktor Kneisel, der den Antiqui-
tätenladen am Ring leitet.“ „Kennen Sie eine Frau Leonore Arendt?“ „Nein.“ „Wie sah es mit bestimmten Gewohnheiten bei Doktor Uhlenhorst aus? Wie verbrachte er seine Freizeit, hatte er ein Hobby?“ „Ich weiß nur, daß er sich oft mit den beiden Herren traf.“ „Hat er sich mit Kunstgegenständen beschäftigt? Malerei, Grafik, Porzellane?“ „Mir ist nichts aufgefallen. Daß er ein paar Bilder hängen hat, haben Sie ja gesehen. Und Porzellan… nee, nicht, daß ich wüßte.“ „Doktor Uhlenhorst hat in letzter Zeit häufig auch Klienten in seiner Wohnung empfangen. Wissen Sie etwas davon?“ „Nein.“ „Haben Sie irgendwann einmal einen Streit mit angehört? Hat sich Doktor Uhlenhorst ärgerlich oder wütend über jemanden geäußert?“ „Ich kann mich da an nichts erinnern, Herr Hauptmann.“ „Bekam er viel Post?“ „Kaum. Hier lag jedenfalls selten etwas im Briefkasten. Vielleicht im Büro.“ „Kennen Sie seinen Sohn?“ „Flüchtig. Er kommt nicht oft zu Besuch.“ „Und Doktor Uhlenhorst? Fuhr er nach Berlin?“ „Auch nur selten.“ „Frau Marzahn, Sie haben Doktor Uhlenhorst heute morgen tot aufgefunden und danach sehr umsichtig gehandelt. Vermutlich ist ein Verbrechen begangen worden. Wir müssen feststellen, ob etwas, aus der Wohnung ge-
stohlen wurde, und sind da ganz auf Ihre Hilfe angewiesen. Schauen wir uns gemeinsam jeden Raum aufmerksam an. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf.“ Die Kriminaltechniker hatten ihre Arbeit inzwischen beendet. Am späten Nachmittag würden die Ergebnisse zur Auswertung vorliegen. Der endgültige gerichtsmedizinische Befund über Todesursache und Tötungsart war erst am nächsten Tag zu erwarten, nach der Autopsie. Hauptmann Meyerhoff wollte die Zwischenzeit nutzen, um Uhlenhorsts Freunde zu befragen und das Büro des Rechtsanwalts aufzusuchen. Außerdem mußte der Sohn des Toten benachrichtigt werden, die Staatsanwaltschaft war einzuschalten, und einige Genossen der Morduntersuchungskommission würden wahrscheinlich auch in Kronitz, dem Urlaubsort von Dr. Uhlenhorst, Recherchen anstellen müssen. Außerdem würde ein langwieriges Treppauf-Treppab in den Nachbarhäusern beginnen: Fragen, ob dieser oder jener Bewohner vielleicht etwas Auffälliges, zumindest Ungewöhnliches oder Unübliches auf dem Grundstück Nummer 12 bemerkt hatte. Nachdem Frau Marzahn in allen Räumen der Wohnung gründlich nachgesehen hatte, war sie zu dem Schluß gekommen, daß nichts fehlte. Wäsche, Kleidung, Geschirr seien vollzählig vorhanden. Allerdings hatte sie bemerkt, daß zwei Fächer im Wohnzimmerschrank, wo Uhlenhorst das sogenannte gute Geschirr aufbewahrte, umgeräumt worden waren. „Die zwölf Sammeltassen standen bisher in beiden Fächern verteilt. Jetzt hat er sie übereinandergeschichtet und ein Fach frei gemacht. Den Grund kenne ich nicht. Aber die zwölf Tassen sind vollzählig.“ Über den Inhalt des Schreibtisches konnte sie nichts aussagen.
Die peinliche Ordnung in den Schubladen erstaunte sie nicht, denn Dr. Uhlenhorst sei in allen Dingen akkurat und gewissenhaft gewesen. Leutnant Gollus blieb schließlich allein in der Wohnung zurück. Meyerhoff hatte ihn aufgefordert, auf einen Kollegen zu warten, der mit dem Gepäckschein zum Bahnhof gefahren war, um Uhlenhorsts Koffer abzuholen. Eigentlich hätte Gollus die Wartezeit dazu benutzen können, den Schreibtischinhalt unter die Lupe zu nehmen. Frau Marzahn wäre bestimmt bereit gewesen, dabei als Zeugin zu fungieren. Aber Gollus verzichtete darauf, er mochte diese Arbeit ohnehin nicht. Man stieß meist auf irgendwelche Dinge, die nicht den Fall betrafen und einen kaum etwas angingen. Und da Meyerhoff sowieso den Nachmittag für diese unerläßliche Arbeit vorgesehen hatte, stellten sich bei Gollus auch keinerlei Gewissensbisse ein. Der Leutnant füllte die Zeit damit aus, die Umgebung des Verbrechens auf sich einwirken zu lassen. Er konnte das, und er hielt das auch für wichtig. Man muß die Luft atmen, in der ein Verbrechen geschehen ist, sagte er oft, man muß die ganze Atmosphäre schmecken, riechen, fühlen. Und dazu bot sich jetzt Gelegenheit: eine Zweizimmerwohnung, vollgestopft mit altmodischen, aber guterhaltenen Möbeln, die nicht zueinander paßten, aus der Vergangenheit wahrscheinlich herübergerettet. Ein einundsechzigjähriger Rechtsanwalt, der seit drei Jahren hier allein wohnte, unauffällig im Privatleben, angesehen in seinem Beruf. Ein Mensch, sicherlich mit Fehlern, aber ohne Laster, ohne Leidenschaften auch, und wenn letztere doch vorhanden gewesen waren, so hatte die Umwelt sie nicht wahrgenommen. Ein seit langem kränkelnder Mensch, der schon Ende April in Ur-
laub fuhr, der vorzeitig und unerwartet zurückkehrte, unauffällig auch das wieder, und der getötet wurde. Sogar das geschah unauffällig: kein Kampf, keine Gegenwehr, vielleicht nicht einmal ein Schrei. Er ging auf und ab, während er nachdachte, der vierunddreißigjährige Leutnant der Kriminalpolizei. Er liebte solche gleitenden, leisen Anfänge, ohne Sprünge, ohne Hektik. Sie hatten etwas Verführerisches und ließen der Phantasie freien Lauf. Gollus ging auf und ab und stellte sich den Alltag inmitten dieser Wände vor: Dr. Uhlenhorst, der abends vom Dienst nach Hause kam, müde seinen Mantel an die Garderobe hängte, Hausschuhe anzog und die Krawatte löste. Er bereitete sich ein einfaches Abendbrot, aß gleich in der Küche, hastig, obwohl er Zeit hatte, er aß hastig, weil er unlustig war, denn ihm fehlte Gesellschaft. Der dann im Wohnzimmer saß, las, Radio hörte oder Akten durcharbeitete, die er aus dem Büro mitgebracht hatte. Kein Fernseher, kaum Post, keine Briefschulden, vielleicht gelegentlich ein Telefonanruf. Früh zu Bett dann, Tabletten auf dem Nachttisch gegen Kreislaufschwäche und zum Einschlafen. Schlechter Schlaf möglicherweise, zu kurz und außerdem unruhig, Erwachen schon in der Nacht, Hinundherwälzen, endlich der Wecker wie eine Erlösung. Tag für Tag, über tausend Tage nun schon, seit seine Frau tot war. Und dann plötzlich der eigene Tod. Paßte ein solches gewaltsames Ende zum eben vorgestellten Alltag? Es mußte einen anderen Alltag geben, einen mit doppeltem Boden, mit Hintergrund. Klaus Gollus liebte es, Hintergründe zu erforschen, menschliche und politische. Er liebte es so sehr, daß er Vordergründe oft übersah oder sie einfach als „vorder-
gründig“ abtat. Eine Schwäche von ihm, die nicht zu belächeln war. Und da Gollus das wußte, zögerte er jetzt auch, eine zufällige Entdeckung, die er gemacht hatte, sofort in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Er zwang sich, sie vorerst nüchtern nur als das zu betrachten, was sie war: als den simplen Tatbestand, daß jenes Bild in Dr. Uhlenhorsts Schlafzimmer auch in dem Buch über Kunstsammler abgebildet und beschrieben war, das der Rechtsanwalt als Reiselektüre benutzt hatte. Gollus entnahm dem Buch, daß es sich um eine Radierung von Giovanni Battista Piranesi handelte, das Nymphaeum in den Licinius-Gärten. Ein mächtiger Kuppelbau war abgebildet, vor dem einige winzige Menschen standen. Etwas Schwerfälliges, Düsteres ging von der Ruine aus, und Gollus hätte sich das Bild sicherlich nicht über das Bett gehängt. Im dritten Jahrhundert war das Bauwerk entstanden, es gehörte zu den Palästen des Kaisers P. Licinius Gallienius. Ein Teil der Kuppel war 1828 eingestürzt, und ein Jahr später hatte der Blitz weitere Schäden angerichtet. Die Beschreibung brachte noch verschiedene Einzelheiten, auch Abkürzungen, die Gollus allerdings nicht verstand. Dr. Uhlenhorst hatte zwischen die Seiten des Buches, wo sich Abbildung I und Text befanden, ein Lesezeichen gelegt und den Passus am Rande angestrichen. Die Radierung, etwa 50 mal 70 Zentimeter, hing eingerahmt und unter Glas an der Schlafzimmerwand. Das helle Rechteck auf der Tapete darunter verriet, daß es sich um keine Neuanschaffung handelte. Klaus Gollus hütete sich, seiner Entdeckung mehr Bedeutung beizumessen, als ihr vorerst zukam. Schließlich besagte sie nichts weiter, als daß Uhlenhorst eine Grafik
besaß, die in einem wissenschaftlichen Werk abgebildet war und somit einen bestimmten Wert darstellte – vorausgesetzt, sie war keine Fälschung, aber das würde sich feststellen lassen. Bisher hatten die Kriminalisten keine Veranlassung dazu gesehen. Sie sahen sie auch am Nachmittag noch nicht, obwohl sich inzwischen einiges ereignet hatte, das den Bereich Kunst erneut ins Blickfeld rückte – zumindest für Gollus, der auf der Suche nach Hintergrund war. Da war einmal Uhlenhorsts Koffer, der gleich zwei Überraschungen barg. Gollus und sein Kollege hatten ihn mit einem der Schlüssel geöffnet, die Hauptmann Meyerhoff in Uhlenhorsts Manteltasche, am Bund befestigt, gefunden hatte. Der Koffer enthielt alle jene Kleidungsstücke, die Frau Marzahn den Kriminalisten schon aufgezählt hatte. Ein mustergültig gepackter Koffer, in dem sogar die benutzte Wäsche gefaltet und auf Rand gelegt war. Die Oberhemden waren in Plasttüten geschoben, in den Schuhen steckten nicht Socken oder Taschentücher sondern Spanner, die Taschen waren geleert, ausgebürstet vielleicht sogar, Hose und Jackett lagen obenauf wie frisch gebügelt. Dieser Koffer war also mit größter Sorgfalt reisefertig gemacht worden, ohne Eile, nicht überstürzt. Aber das überraschte die Kriminalisten kaum, eher schon die Gegenstände, die in den Seitenfächern gefunden wurden: zwei kleine Schlüssel, die zum Schreibtisch paßten, und ein Telegrammformular mit dem mehrmals korrigierten Text: Kaufe Lith. zum vereinb. Preis. Keine Adresse, keine Unterschrift, ein Entwurf vielleicht nur. Als Gollus Hauptmann Meyerhoff von dem Fund berichtete, lagen bereits erste Ergebnisse der Kriminaltechniker vor. Es stand fest, daß nur eine Person die Tat begangen
haben konnte. Sie war durch das Badezimmerfenster eingestiegen und wahrscheinlich auf diesem Weg auch wieder ins Freie gelangt. Fingerabdrücke fremder Personen waren nicht entdeckt worden, vermutlich hatte der Täter Handschuhe getragen. Im Kollegenkreis genoß Dr. Uhlenhorst Vertrauen. Auch Richter und Staatsanwälte, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, gaben positive Auskünfte. Die Abbuchungen von seinem Konto waren unregelmäßig erfolgt, auch die Einzahlungen, beide schwankten in ihrer Höhe. Es gab also keine Anzeichen, daß Uhlenhorst irgendwelche Verpflichtungen durch gleichbleibende Geldzuwendungen hätte erfüllen müssen. Auffallend war nur, daß er sich Anfang April einen Betrag von 2200 Mark hatte bar auszahlen lassen, von dem jetzt, etwa einen Monat später, 120 Mark übrig waren. Im Schreibtisch hatte Meyerhoff nichts gefunden, was ihm besonders erwähnenswert schien. Mehrere Briefe des Sohnes, ein Notizbuch mit Namen, Anschriften und Telefonnummern, Quittungen natürlich und Policen, Dinge also, die man in jedem Haushalt finden konnte. „Wir werden sie noch genau überprüfen, aber ich glaube nicht, daß sie uns weiterhelfen“, sagte der Hauptmann zu Gollus. Was half überhaupt weiter? Vorläufig hieß es: erst einmal geduldig recherchieren, treppauf, treppab, und natürlich Gedanken aussprechen, Vermutungen anstellen oder Versionen durchspielen, wie die Kriminalisten es nannten. „Ich frage mich, warum Uhlenhorst seine Schreibtischschlüssel nicht bei sich trug, sondern in den Koffer gepackt hat“, sagte Gollus. „Wahrscheinlich wird er seine Gründe gehabt haben, harmlose Gründe, schätze ich. Aber für uns ist dadurch bewiesen, daß nichts gestohlen wurde. Nichts
aus dem Schreibtisch, nichts aus der Wohnung.“ „Vielleicht ging es dem Täter gar nicht um einen Diebstahl.“ „Sondern?“ „Denk mal an Uhlenhorsts Beruf! Er war bei vielen Gerichtsprozessen als Verteidiger dabei. Seine Mandanten waren Straffällige. Für manchen hat er Freispruch oder ein milderes Urteil erreicht, für manche nicht. Vielleicht hat er den einen oder anderen nicht so wirkungsvoll verteidigt, wie der es erhofft hatte. Oder gar nicht verteidigt, hat es abgelehnt. Und nun kommt so einer aus der Haft, hat endlich seine Zeit abgesessen, die er angeblich Uhlenhorsts Laschheit oder gar Weigerung zu verdanken hat. Er will ihm einen Denkzettel verpassen, sozusagen eine alte Rechnung begleichen…“ „Und deshalb steigt er heimlich durchs Fenster? Wozu? Um Uhlenhorst zu verdreschen oder ihn umzubringen? Oder was?“ Meyerhoff antwortete nicht. Sein Mund verzog sich ärgerlich, und das war immer ein Zeichen, daß er dem anderen recht gab. Dennoch war er in solchen Momenten ganz Autorität. Seine tiefliegenden Augen blickten kühl und abwesend, abweisend auch, wenn man genau hinsah, und seine Gesichtszüge wirkten verschlossen. Gollus wußte, daß das wenig zu bedeuten hatte. Auch sein Einspruch hatte wenig zu bedeuten. Meyerhoff würde trotzdem seinem Gedanken nachgehen und Ermittlungen anstellen, und das war sicherlich auch richtig. Man muß zuerst immer an das denken, was man am leichtesten vergißt, pflegte er zu sagen. Gollus hatte nicht daran gedacht, daß Dr. Uhlenhorst schon durch seinen Beruf ständig mit Gesetzesverletzern zu tun hatte. Vordergrund,
na schön. Und was konnte er, Klaus Gollus, augenblicklich mehr bieten als seinen Einspruch gegen Meyerhoffs Version? Vorläufig auch nur Hinweise: die wertvolle Radierung über dem Bett; die drei Miniaturen im Wohnzimmer, vielleicht nicht minder berühmt; der Telegrammentwurf Kaufe Lith. zum vereinb. Preis; die verhältnismäßig hohe Abbuchung von 2200 Mark vor vier Wochen – wurde hier eine heimliche Leidenschaft sichtbar? Hauptmann Meyerhoff nickte und ließ offen. „Schon, schon… aber es wurde nichts gestohlen, Klaus.“ „Weil der Täter nicht mehr dazu kam. Uhlenhorst überraschte ihn.“ „Im Schlafzimmer?“ „Eben. Der einzige wertvolle Gegenstand im Schlafzimmer ist diese Radierung. Der Täter hat sie gekannt, er wußte, wo sie hängt. Vielleicht wußte er auch, daß Uhlenhorst verreist war, und wollte die Chance nützen. Er stieg durch das Bad ein, schlich über den Flur und öffnete das Schlafzimmer. Plötzlich stand ihm Uhlenhorst gegenüber…“ „Umgekehrt. Uhlenhorst betrat sein Schlafzimmer, da stand ihm der Eindringling gegenüber.“ „Wieso?“ „Weil aus der Lage des Toten eindeutig hervorgeht, daß der Rechtsanwalt an der Schwelle des Schlafzimmers niedergeschlagen worden ist. Der Täter muß also schon vor ihm im Raum gewesen sein.“ „Stimmt.“ Meyerhoff wartete. Als Gollus resigniert schwieg, lächelte |er, das heißt, er machte eine entsprechende Mundbewegung. „Du läßt dich zu leicht ins Bockshorn jagen.
Denk doch bis zu Ende! Die Lage des Toten und die Schlußfolgerung, die ich eben daraus gezogen habe, bestätigt ja deine Version viel eher, als daß sie ihr widerspricht. Ein gewöhnlicher Dieb hätte sich doch vor allem am Schreibtisch zu schaffen gemacht, weil er dort Geld und Schmuck vermutete. Ein einfacher Dietrich hätte genügt, ruck-zuck, und die Sache wäre klar gewesen. Er hat sich aber nicht am Schreibtisch zu schaffen gemacht, das ist bewiesen.“ „Dann bleibe ich also bei meiner These: Der Täter hielt sich im Schlafzimmer auf, um die wertvolle Radierung zu stehlen. Dabei wurde er von Uhlenhorst, der vorzeitig und unerwartet aus dem Urlaub zurückkam, überrascht.“ „Durchaus möglich. Immer vorausgesetzt, daß die Radierung tatsächlich wertvoll ist. Natürlich kann es auch noch andere Gründe geben, weshalb sich der Täter im Schlafzimmer aufgehalten hat. Vielleicht wollte er sich dort verstecken, er hörte Geräusche an der Wohnungstür und floh ins Schlafzimmer. Oder er wollte sich vergewissern, ob jemand zu Hause war. Es lassen sich also viele Erklärungen finden.“ Selbstverständlich hatte Hauptmann Meyerhoff nichts dagegen, daß die Radierung geprüft und ihr Wert geschätzt wurde. „Aber alles zu seiner Zeit“, sagte er, „jetzt müssen wir erst mal die wenigen Bekannten aufsuchen, die Doktor Uhlenhorst besaß. Optiker Scharf und Antiquitätenhändler Kneisel. Wen willst du übernehmen?“ Klaus Gollus entschied sich für Dr. Wilhelm Kneisel. Er traf ihn vor seinem Geschäft stehend und auf Kundschaft wartend. „Auf zahlende“, sagte er und wies bekümmert auf das Halbdutzend junger Leute, Studenten des Technikums offensichtlich, die mit wichtiger Miene
vor den Regalen standen. Dr. Kneisel war fett, einen anderen Ausdruck fand Gollus nicht. Große, abstehende Ohren, viel Speck an Hals und Handgelenken, aufgeworfene Lippen. Fett und trotzdem beweglich – man mußte gesehen haben, wie behende Kneisel eine Leiter hochsteigen konnte, wenn es darauf ankam. Es kam selten darauf an. Er war von angenehmem Wesen, hoch in den Sechzigern schon, älter also als Dr. Uhlenhorst. Er redete langsam, manchmal so bedächtig, daß der Zuhörer kribbelig wurde. Aber es war nicht Mattigkeit, sondern ein abgemessenes Tempo, das Kneisels Art entsprach. Ein Mann mit langsamem Pulsschlag wahrscheinlich. Vom Tod seines Freundes hatte er bereits erfahren. Er machte eine Armbewegung, die vieles ausdrücken konnte. „Es trifft jeden mal“, sagte er dann schleppend, „aber so…“ Sie gingen in Kneisels Büro, das gleichzeitig als Lagerraum diente. Kisten standen herum, an den Wänden Stellagen und Verpackungsmaterial, überall war Holzwolle verstreut. Auf dem Schreibtisch stand eine Kollektion röhrender Porzellanhirsche. „Tja“, sagte Kneisel. Auch er hatte nicht gewußt, daß Dr. Uhlenhorst vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekommen war. „Vielmehr“, korrigierte er sich sofort, „ich wußte nicht, daß er überhaupt zurückgekommen ist. Das Wort ,vorzeitig’ besagt ja, daß ich seine geplante Rückkehr gekannt hätte. Habe ich aber nicht.“ Es gab viele solcher Zurücknahmen und Verbesserungen. Kneisel nahm es mit den Formulierungen genau. Er lauschte seinen Worten nach und korrigierte anschließend. „Meine Bekanntschaft mit Eberhard Uhlenhorst
und Otto Scharf berührte nur einen kleinen Bereich, Herr Leutnant. Wenn wir zu dritt waren, spielten wir Skat, sonst Schach. Das war alles. Wir sind ziemlich regelmäßig zusammengekommen, auch häufig, immer reihum, aber der Zusammenhalt war doch so lose, daß wir uns nicht mal geduzt haben.“ Gollus mußte allerhand Geduld und Mühe aufwenden, um das Gespräch nicht schon nach wenigen Sätzen versanden zu lassen. Dr. Kneisel war keineswegs verstockt, er wollte bestimmten Fragen auch nicht ausweichen – er wußte einfach zuwenig. Und gegen Vermutungen, Ausdeutungen oder gefühlsmäßige Urteile hatte er etwas. Sie spielten also Skat oder Schach, tranken ein Fläschchen Wein dazu, manchmal auch zwei, und trennten sich dann wieder. Meist schon vor Mitternacht, denn keiner von ihnen war Spieler aus Passion. „Natürlich kamen hin und wieder auch andere Themen aufs Tapet: politische Ereignisse, Vorfälle in der Stadt; aber stets nur am Rande. Und Privates, Familiäres wurde völlig ausgespart. Es gab kaum Unstimmigkeiten zwischen uns, aber auch wenig weiterreichende Gemeinsamkeiten. Ich will sagen, sie traten nicht hervor. Dazu war unsere Bekanntschaft einfach zu begrenzt… ja, so könnte man es bezeichnen.“ So ging es eine ganze Weile. Gollus hatte sich nur wenige Notizen gemacht. Nach Kneisels Alibi für letzten Sonnabend zu fragen, erübrigte sich eigentlich. Dieser Koloß hätte sich trotz aller Behendigkeit ohnehin nie durch ein schmales Badezimmerfenster zwängen können. Trotzdem ließ er sich den genauen Tagesablauf schildern, und was er hörte, war lückenlos und jederzeit nachprüfbar.
Interessanter und auch aufschlußreich wurde das Gespräch, als Gollus die Lektüre erwähnte, die man in Uhlenhorsts Aktentasche gefunden hatte. Dr. Kneisel bestätigte, daß sich der Rechtsanwalt seit längerem mit dem Gedanken getragen habe, ein paar wertvolle Bilder anzuschaffen. „Nicht aus Leidenschaft, Herr Leutnant, das bestimmt nicht. Uhlenhorst suchte nach einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung, möchte ich mal sagen, nach einem Hobby mit Niveau. Er begann mit Briefmarken, dann wollte er alte Erstdrucke erwerben. Als ihm das zu kostspielig erschien, versuchte er es bei mir, Antiquitäten also. Aber dazu reichte sein Wohnraum nicht aus. Und zuletzt war er bei Gemälden gelandet. Die drei kleinen Aquarelle in seinem Wohnzimmer sind erste Ansätze.“ „Kopien oder echt?“ „Echt natürlich. Mit Talmi gab sich Uhlenhorst nicht ab. Er wollte sein Geld vernünftig anlegen.“ „Wissen Sie, wann er die Bilder gekauft hat?“ „Ziemlich genau sogar. Zu Weihnachten. Er hat sie sich selbst zum Weihnachtsfest geschenkt. So sagte er wenigstens.“ „Und die Radierung?“ „Was für eine Radierung?“ „Im Schlafzimmer hängt doch eine Druckgrafik. Ein Piranesi.“ „Ein echter Piranesi? Kenne ich nicht. Der muß neu sein.“ „Das Bild hängt mindestens zwei Jahre dort. Man sieht es an der Tapete, die ist…“ „Ach, Sie meinen diesen eingerahmten Edelkitsch über seinem Bett? Aber das ist doch niemals ein Piranesi, Herr Leutnant. Eine wertlose Strichzeichnung, die ihm seine
Frau – ich möchte mal sagen – hinterlassen hat. Und die hängt schon lange dort, da haben Sie recht.“ Gollus ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. „Wann haben Sie diese Strichzeichnung zuletzt gesehen, Herr Doktor Kneisel?“ „Ich würde sagen, seitdem ich bei Uhlenhorst ein und aus gehe, hängt das Bild da.“ „Wann haben Sie es zuletzt gesehen? Denken Sie genau nach, die Antwort ist sehr wichtig. Denn heute hängt nun mal ein Piranesi an der Wand, eindeutig.“ Kneisel gab sich alle Mühe. Man sah ihm an, wie er nachdachte. Die kleinen, immer etwas listig wirkenden Augen zogen sich zusammen, verschmolzen fast mit den Fettpolstern der Wangen, und über die sonst auffallend glatte Stirn zogen sich wulstige Falten. Er dachte nach, nahm dann seinen Terminkalender zur Hand, blätterte, murmelte Daten und Namen, sagte schließlich bedauernd: „Ich weiß es nicht.“ „Wann könnten Sie es theoretisch zuletzt gesehen haben? Wann waren Sie zum letzten Mal bei Doktor Uhlenhorst?“ „Vor seinem Urlaub. Mitte oder Anfang April.“ „Meinen Sie, daß Uhlenhorst Ihnen den Piranesi dann gezeigt hätte, wenn er ihn damals schon besaß?“ „Unbedingt. Ein Piranesi, ich bitte Sie!“ „Können Sie sich denken, von wem Doktor Uhlenhorst das Bild bekommen hat?“ „Keine Ahnung. Ich bin völlig perplex, wirklich.“ „Von wem kann man denn, allgemein gesprochen, bei uns echte Kunstwerke, Originale also, beziehen, Herr Doktor Kneisel?“ „Bei Künstlern unserer Republik ist das kein großes Pro-
blem. Die drei Miniaturen zum Beispiel hat Uhlenhorst in Berlin erstanden, direkt bei der Verkaufsgenossenschaft Bildender Künstler. Einen Piranesi allerdings… den müßte er aus Privathand erworben haben, das ist klar. Museen veräußern solche Stücke nicht, und es gibt auch keinen Handel damit.“ „Wie hoch würden Sie den Wert eines solchen Bildes veranschlagen? Es heißt Nymphaeum in den LiciniusGärten und ist etwa fünfzig mal siebzig Zentimeter groß. Eine Radierung, wie gesagt.“ „Ach, vom Preis her ist es nicht sehr bedeutend. Ich kenne das Exemplar zwar nicht… zwei-, dreihundert Mark vielleicht. Aber daß man da überhaupt rankommt! Uhlenhorst muß ja tolle Verbindungen geknüpft haben.“ Offensichtlich war Kneisel sehr beeindruckt. Sogar ein bißchen neidisch, wie es schien. „Auf jeden Fall wird ihm jemand den Piranesi angeboten haben, Herr Leutnant. Ich meine, er kann nicht selbst darauf gestoßen sein, dafür hatte er noch nicht den Blick. Schließlich begann er erst mit dem Sammeln.“ „Haben Sie ihm dabei geholfen?“ „Ich habe ihn gewissermaßen angespornt. Oder sagen wir, ich habe seine Absicht gebilligt… Unsinn, das käme mir gar nicht zu. Ich habe ihm gesagt, es sei vernünftig, daß er sich Bilder von Wert zulegen wolle. Allerdings war ich es, der ihm Druckgrafik vorschlug. Ich habe ihn auf die Zeitschrift Marginalien aufmerksam gemacht. Dort werden regelmäßig Grafiken angeboten.“ „Aber doch nicht Radierungen von Piranesi?“ „Wo denken Sie hin! Künstler der DDR bieten dort ihre Werke an. Aber auf die war Uhlenhorst offenbar nicht scharf.“
„Aus welchem Grund schlugen Sie Uhlenhorst vor, sich auf Druckgrafik zu beschränken?“ „Beschränken? Nun, das ist Geschmackssache. Sagen wir sich auf Druckgrafik zu konzentrieren. Einfach aus Platzgründen, Herr Leutnant. Als er mir die drei Aquarelle zeigte, sagte ich: ,Schön, sehr schön sogar. Aber wie nun weiter? Noch drei solcher Bilder, und Ihre Stube sieht aus wie ‘ne Galerie. Grafikblätter dagegen kommen in Mappen oder Passepartouts und können in jedem Schubfach aufbewahrt werden. Die können Sie echt sammeln, sich also eine Vielzahl davon anschaffen!’ Das hat Uhlenhorst dann wohl auch eingesehen. Daß er allerdings gleich mit einem solchen Knüller anfängt, Piranesi… wie, sagten Sie, heißt das’ Exemplar?“ „Nymphaeum in den Licinius-Gärten.“ „Das könnte zu den Römischen Veduten gehören. Piranesi hat mehrere Dutzend solcher Stadtansichten gemacht. Soviel ich weiß, sind einige auch in Bänden zusammengefaßt. Sie müßten sich mal mit Kruse-Kleeberg unterhalten. Kennen Sie ihn?“ Gollus wollte nicht ungebildet erscheinen. „Dem Namen nach.“ „Er wohnt in der Hopfengasse, der beste Grafiker in unserem Bezirk. Vielleicht kann der Ihnen etwas über Piranesi erzählen. Zur Zeit ist er allerdings krank.“ Gollus überlegte, ob es sinnvoll wäre, Dr. Kneisel zu bitten, er solle das Bild besichtigen. Aber dann sah er Meyerhoffs Gesicht vor sich und fürchtete, wieder einmal diesen oder jenen Gedanken nicht zu Ende gedacht zu haben. Außerdem gab es Sachverständige, die viel eher in der Lage waren, das Bild zu begutachten als Dr. Wilhelm Kneisel. Er verabschiedete sich also. Da Hauptmann Meyerhoff
den Dienstwagen benutzte, ging er zu Fuß. Im Hakenfurter Zentrum schoben und drängten sich die Menschen, es war Feierabend. Gollus hatte es nicht eilig, er blieb vor Schaufenstern stehen, kaufte sich Zigaretten und sah den Enten und Schwänen zu, die sich am Ufer der Hake sonnten. Ihm fiel ein, daß er Dr. Kneisel nicht nach Frau Eleonore Arendt gefragt hatte, jener Journalistin, deren Visitenkarte Uhlenhorst bei sich getragen hatte. Vielleicht war auch sie Kunstsammlerin, vielleicht war an sie das Telegramm Kaufe Lith. zu vereinb. Preis gerichtet. Es gab noch viele solcher Vielleicht. Gollus war sich nicht schlüssig, was er jetzt beginnen sollte. Offiziell war für ihn Dienstschluß, aber nach Hause gehen mochte er nicht. Er hatte auch keine Lust, das Büro aufzusuchen, obwohl er überzeugt war, daß er dort bestimmt noch Meyerhoff antreffen würde. Je länger Gollus herumstand, desto unruhiger wurde er. Er verstand seine Unruhe nicht. Was er von Dr. Kneisel erfahren hatte, war eindeutig und fügte sich maßgerecht in die bisherige Ermittlung ein. Uhlenhorst war Sonnabend nacht bestohlen worden. Bei seiner vorzeitigen Rückkehr hatte er den Täter überrascht und war von ihm niedergeschlagen worden. Der Eindringling flüchtete mit dem Diebesgut. Da es sich dabei wahrscheinlich um zumindest ideell wertvolle Bilder handelte, mußte man den Täter unter Künstlern, Kunstsammlern, Kunsthändlern suchen. Oder war das zu eindeutig, zu vordergründig? Um sicherzugehen, fuhr Gollus mit einem Taxi schließlich noch einmal in den Heidering. Er führte Frau Marzahn in Uhlenhorsts Schlafzimmer und bat sie, das Bild über dem Bett genau zu betrachten. „Das ist ja ein anderes“, sagte sie sofort.
„Und seit wann hängt es dort?“ Sie wußte es nicht. „Von Anfang an hing da ein Bild. Ich habe es mir nie richtig angesehen. Ich weiß nur, daß es nicht bunt war, sondern schwarzweiß wie auch dieses.“ Leutnant Gollus ließ sich daraufhin in die Stadtbücherei bringen. Im Sachwortkatalog suchte er unter dem Stichwort Kunstdiebstahl.
2. Am nächsten Morgen trug Gollus Hauptmann Meyerhoff seine Version vor. „Doktor Uhlenhorst hatte die wahrscheinlich einmalige Gelegenheit, eine Reihe von Piranesi-Radierungen zu erwerben. Vermutlich gehören sie zu den Römischen Veduten, einer Sammlung von Stadtansichten. Sagen wir, ihm wurden zehn Stück angeboten, zum Preis von je zweihundertzwanzig Mark. Daß er nicht mit Scheck bezahlte oder den Betrag überwies, sondern die zweitausendzweihundert Mark bar übergab, entsprach sicherlich einer Forderung des Verkäufers. Ein Bild, und zwar das Nymphaeum, hängte Uhlenhorst gerahmt über dem Bett auf, wo bisher eine unbedeutende Strichzeichnung hing. Die anderen neun legte er, lose oder in eine Mappe gepackt, in den Wohnzimmerschrank. Zu diesem Zweck hatte er dort ein Fach frei gemacht und die Sammeltassen übereinandergeschichtet. Stolz und glücklich, aber auch auf Wissen versessen, beschaffte sich Uhlenhorst Literatur über Piranesi und fuhr damit in den Urlaub. Jemand, der davon wußte – von seinem Erwerb und von der Reise –, beschloß, ihm die Bilder abzunehmen. Er oder ein Helfer drang in die verlassene Wohnung ein, nahm die Mappe aus dem Schrank – das Fach ist ja jetzt leer – und
wollte auch das Nymphaeum aus dem Schlafzimmer holen. Da kam Uhlenhorst überraschend zurück. Als er sein Schlafzimmer betrat, stand ihm ein Fremder gegenüber. Der stieß ihn zur Seite, stieß ihn vermutlich um und floh. Ein Toter und das Nymphaeum blieben zurück. Na?“ Meyerhoff nahm seine Kaffeetasse an den Mund. Er trank genußvoll und langsam. Er stellte sie ab, schob sie zurück, auch das bedächtig und nachdenklich. „Und die Strichzeichnung?“ fragte er dann. „Was ist mit der?“ „Das möchte ich von dir wissen. Uhlenhorst hat sie aus dem Rahmen genommen und gegen das Nymphaeum ausgetauscht, sagst du. Wo ist die Zeichnung geblieben, dieser Edelkitsch laut Kneisel?“ „Verbrannt, weggeworfen, was weiß ich.“ „Das solltest du aber wissen. Wenigstens als Frage müßtest du das aufwerfen. Ich glaube nämlich nicht, daß Uhlenhorst dieses Andenken an seine Frau einfach vernichtet hat. Wärst du gestern abend noch einmal zu mir gekommen, hätte ich dir zeigen können, wie viele Andenken an seine Ehe Uhlenhorst aufbewahrt hat.“ „Ich war in der Bibliothek.“ Gollus war ärgerlich und enttäuscht. „Hast du noch weitere Einwände gegen meine Theorie? Habe ich sie vielleicht zu ungeschickt formuliert?“ „Du hast sie blendend formuliert. Nur hast du dabei vergessen, einige Fragen zu stellen: Warum zum Beispiel hat der gewissenhafte Doktor Uhlenhorst seinen Wohnzimmerschrank nicht genauso verschlossen wie seinen Schreibtisch? Hätte er nicht viel eher Grund gehabt, diesen Schlüssel mitzunehmen und in seinem Koffer zu verbergen als die Schlüssel vom Schreibtisch?“ „Aber das sind doch Details, die wir später…“
„Auch Theorien setzen sich aus Details zusammen. Und der Teufel steckt bekanntlich… na, du weißt schon. Was hast du denn in der Bibliothek gemacht?“ Gollus nahm einen Zettel zur Hand. „Ich habe über Kunstdiebstähle nachgelesen. Das ist nämlich mein erster Fall dieser Art, und da will man schon etwas vorbereitet sein. Hör mal zu, da heißt es in einem Buch von Löschberg: ,Es ist bekannt, daß Kunstsammler mit Leidenschaft das Kunstleben verfolgen und manchmal das Letzte einsetzen, um ein bestimmtes Stück zu erhalten. Wie Briefmarkensammler fahnden sie in oft jahrelangen und weltweiten Nachforschungen und Suchaktionen nach dem letzten Stück, das zur Komplettierung eines Satzes fehlt. Sie sind häufig von einer fixen Idee besessen. Wenn ihre Sammlung Lücken hat, stehen sie unter dem Zwang, diese zu füllen. Sie werden Opfer eines alles verschlingenden Ungeheuers, das ihnen keine Ruhe mehr läßt. Die Jagd nach dem begehrten Meisterwerk führt bis an den Rand der Kriminalität.“ „Das ist doch eine Charakteristik, die niemals auf Doktor Uhlenhorst paßt.“ „Soll sie ja auch nicht. Er ist schließlich der Bestohlene. Aber sie sagt uns etwas über die Gedanken- und Gefühlswelt, in der sich der Täter befindet. Und hier sehe ich auch eine Möglichkeit, an ihn heranzukommen: Ein Bild fehlt ihm noch!“ „Du meinst, er wird noch einmal versuchen, an das Nymphaeum heranzukommen?“ „Das meine ich. Genau das. Sammler sind Besessene.“ Hauptmann Meyerhoff erhob sich. „Alles gut und schön, Klaus. Du hast bei Kneisel mehr Erfolg gehabt als ich
beim Optiker Scharf. Und deine Überlegungen können durchaus zutreffend sein. Ich werde sie im Auge behalten und auch mit Staatsanwalt Hederle darüber reden. Wir dürfen aber nicht in den Fehler verfallen, daß wir darüber andere Spuren vernachlässigen. Also, hier ist dein Dienstreiseauftrag, in einer Stunde geht der Zug. Du fährst nach Kronitz und suchst das FDGB-Heim auf, in dem Uhlenhorst seinen Urlaub verlebt hat. Um welche Fragen es geht, weißt du ja. Ich werde hier die Festung halten und auch mit dem Grafiker Kruse-Kleeberg sprechen, damit du beruhigt bist.“ Kronitz war ein kleines Städtchen, mit Wald und Wasser in der Nähe und einem milden Klima. Fachwerkhäuser, aus schlichtem grauen Backstein gebaut, eine hübsche alte Kirche, saubere Asphaltstraßen, am Ortsrand Einfamilienhäuschen, umsäumt von adretten Gärten. Gepflegt das alles und auf Gäste eingestellt. Der Leiter des Heimes hieß Zartmann. Nomen non est Omen in diesem Fall, denn der Mann war alles andere als zart: groß und breit, hoch aufgerichtet, mit durchgedrücktem Rückgrat – so empfing er Gollus. Die Gesichtszüge waren scharf, ein Cäsarenkopf. Eine eindrucksvolle Gestalt, ein eindrucksvoller Mensch vielleicht. Er konnte sich nicht sofort an einen Dr. Uhlenhorst aus Hakenfurt erinnern. Das sei schwer bei einer häufig wechselnden Belegung, sagte er. Aber er schaffte schnell Personen herbei, die sich sehr gut erinnern konnten. Eine von ihnen war Frau Eleonore Arendt. Eine sympathische Frau, Ende Dreißig, liebenswürdig und entgegenkommend. Zartmann redete sie mit Frau Doktor Arendt an. Dr. Uhlenhorst war ihr Tischnachbar gewesen. Über sei-
nen plötzlichen Tod war sie sichtlich erschrocken. Sie hatten viele Stunden gemeinsam verbracht. „Wir gingen konditern, wie man hier sagt, oder spazieren. Auch mal ins Kino. Ein sehr distinguierter Herr, alte Schule noch, ohne daß er dabei lächerlich gewirkt hätte.“ Sie hätten über alles mögliche gesprochen, erzählte sie. Familiäres war weitgehend ausgeklammert worden, sie wußte nur, daß Uhlenhorst Witwer war und in Hakenfurt lebte. Er habe sich niemandem außer ihr angeschlossen, so daß es schon Gemunkel gegeben hätte, die Redereien seien natürlich ausgesprochener Unsinn gewesen. In der zweiten Urlaubswoche habe er über Halsschmerzen geklagt. Er sei dann zu einem Arzt gegangen, der ihm empfahl, den Aufenthalt in Kronitz abzubrechen. „Wir tauschten unsere Adressen aus. Ich wollte Herrn Doktor Uhlenhorst zur Bahn bringen, aber er lehnte ab. So weiß ich gar nicht genau, wann er gefahren ist. Auf jeden Fall war er Sonntagmittag nicht mehr zum Essen da.“ Bei der Rezeption des Heimes erfuhr Gollus später den genauen Abreisetermin. Uhlenhorst hatte sich am Sonnabend, dem 11. Mai, mit einem Wagen zu einem Zug bringen lassen, der von Stralsund kam, um 18 Uhr 45 in Kronitz eintraf und um 19 Uhr 10 in Berlin sein sollte. Den Koffer hatte er am Tag zuvor aufgegeben. Abbruch des Urlaubs also aus Krankheitsgründen. Die Angestellten des Hauses bestätigten das, und Herr Zartmann wies eine Karteikarte vor, die ebenfalls diesen Vermerk trug. Als Leutnant Gollus sie in die Hand nahm und überflog, stutzte er plötzlich. Er fragte, ob hier nicht ein Irrtum vorliege und ein falsches Datum eingetragen worden sei. Die Sachbearbeiterin verneinte. „Herr Doktor Uhlenhorst ist nicht nur eher abgereist, er ist auch zwei
Tage später als der übrige Durchgang eingetroffen.“ „War das von Anfang an so vorgesehen? Ich meine, hatte er das angekündigt?“ „Ein Telegramm von ihm traf am Montag ein, an dem Tag also, an dem er eigentlich schon hier sein sollte. Es kam aus Ahrenshoop.“ „Aus Ahrenshoop?“ „Wir haben uns auch gewundert. Ich kann Ihnen das Telegramm gern heraussuchen, Herr Leutnant, nur im Augenblick… Sie verstehen, der Betrieb muß ja weitergehen.“ Das verstand Gollus, aber was Uhlenhorst in Ahrenshoop… komisch, die ganze Angelegenheit. Er versprach, später noch einmal vorbeizukommen. Er hatte sich ohnehin mit Frau Dr. Arendt verabredet. Während ihrer Unterhaltung hatte sie eine beiläufige Bemerkung gemacht, über die er mit ihr in Ruhe sprechen wollte. Da gerade der Gong zum Mittagessen ertönte, nannte sie ihm eine Gaststätte, in der sie sich treffen wollten. Gollus wollte sich bei der Rezeption nach der Adresse des Arztes erkundigen, der Uhlenhorst behandelt hatte. Aber Herr Zartmann winkte ab. „Die Urlauber müssen ja keine Krankschreibung vorlegen, wenn sie abreisen wollen“, erklärte er. Also mußte Gollus die vier Arztpraxen des Ortes aufsuchen, tatsächlich alle vier, denn erst bei der letzten hatte er Erfolg. Dr. Stubbe hieß der Arzt. Ein ziemlich junger Mann, der sofort Bescheid wußte. „Ich sehe ihn noch vor mir. Blaß und schmal, das Gesicht wie Edvard Munch etwa, nicht?“ Der Vergleich überraschte den Leutnant. „Sie beschäftigen sich mit Munch, Herr Doktor?“ „Überhaupt mit Malerei. Ich male sogar selbst ein biß-
chen, für den Hausgebrauch gewissermaßen.“ Er erzählte, daß er sich auch mit Uhlenhorst darüber unterhalten habe. „Ein sehr interessierter Herr der in die gleichen Fußtapfen treten will.“ „Will er auch malen?“ Der Arzt lachte. „Nein, das wohl nicht. Er sagte mir, daß er dabei sei, sich eine kleine Bildersammlung anzulegen.“ „Gab er eine besondere Richtung an?“ „Er war noch am Suchen. Auf jeden Fall mußte er sich auf kleinformatige Exemplare beschränken. Aus Platzgründen wohl. Druckgrafik erschien ihm am geeignetsten. Ich stimmte ihm zu, obwohl meiner Meinung nach…“ „Hat er Ihnen von einem Piranesi erzählt?“ „Nein. Besitzt Herr Uhlenhorst etwa einen?“ Überall dasselbe Erstaunen. Ein einundsechzigjähriger, unauffälliger Rechtsanwalt aus einer mittelgroßen Bezirkshauptstadt im Besitz eines Piranesi! Das schien an ein Wunder zu grenzen. Dabei hatte Gollus nur von einem Exemplar gesprochen. Wie groß würde die Verwunderung erst sein, wenn sich seine Version, daß Uhlenhorst eine ganze Kollektion solcher Radierungen gekauft hatte, als wahr erwies. Die Suche nach der Herkunftsquelle des Piranesi war sicherlich genauso wichtig wie die nach dem Dieb. Dr. Stubbe versicherte übrigens, daß er Uhlenhorst nicht etwa verordnet habe, den Urlaub abzubrechen. „Ich verschrieb ihm Medikamente und ordnete Bettruhe an, und ich stellte mehr nebenbei die Frage, ob er zu Hause nicht besser aufgehoben sei. Mit einer Angina soll man in seinem Alter und bei seiner körperlichen Konstitution nicht
spaßen.“ Das war am Donnerstag gewesen. Am Freitag hatte Uhlenhorst seinen Koffer in Kronitz aufgegeben, am Sonnabend war er nach Hakenfurt zurückgefahren. Warum erst am Sonnabend? Der Entschluß zur Abreise war ja bereits Freitag gefaßt worden, denn sonst hätte er sein Gepäck sicherlich noch zurückgehalten. Nachdem Gollus sich von Dr. Stubbe verabschiedet hatte, suchte er das Postamt auf. Dr. Uhlenhorst hatte am Freitag um 16 Uhr 25 tatsächlich ein Telegramm aufgegeben. Es war an Herrn Siegfried Uhlenhorst adressiert, 1052 Berlin, Schulzendorf er Straße 18. Der Text lautete: Eintreffe morgen 19 Uhr 10 in Lichtenberg. Vater. Ein Telegramm über den Kauf einer Lithographie gab es hier nicht. Dann ging Gollus in die Gaststätte, wo er sich mit Eleonore Arendt treffen wollte. Er saß da mit müden Beinen und wirrem Kopf und wartete auf die Journalistin. Das Restaurant war erst vor kurzem erbaut worden. Es lag in der Hauptstraße, gegenüber einer Grünanlage. Die Räume waren in hellen Farben gehalten, bequeme Möbel luden zum Sitzen ein, alles wirkte sauber und frisch. Im Hintergrund eine lange, halbrunde Bar, durch Gitterstäbe und Schlingpflanzen vom Restaurationsraum abgetrennt. Tische und Sessel standen in kleinen Nischen versteckt, an der Wand war eine Musikbox, Gott sei Dank außer Betrieb. Der Leutnant saß allein an einem Tisch, vor sich die leergetrunkene Kaffeetasse, den Aschenbecher mit den Kippen seiner Zigaretten, die Zuckerdose, einige Papierservietten. Das Lokal war jetzt, um die Mittagszeit, wenig besucht. Am Nebentisch saß ein älterer Herr, einen Stoß Zeitungen griffbereit vor sich, dahinter eine Schwarzhaarige mit dunkler, schwerer Sonnenbrille. Mehrere Teenager an der Fensterfront waren nicht zu
erkennen, aber zu hören, sie kicherten unaufhörlich. Dann kam ein sehr hübsches Mädchen herein, grazil, zierlich, Lederrock, Kopftuch über braunen Haaren, angenehme Beine, angenehmer Gang, die Augen neugierig, etwas frech. Sie nahm an einem leerstehenden Tisch Platz und blickte Gollus fröhlich an. Dann bestellte sie Eis mit Brandy und einen Brandy extra. Die Stimme war klirrend, nicht sehr wohl tönend. Klaus Gollus wurde gemustert, abgeschätzt, für annehmbar befunden. Er kannte diese Blicke und machte das Spiel, Augenliebe genannt, ganz gern mit, es lenkte ihn ab, blieb aber ohne Gefahr, denn für Zufallsbekanntschaften hatte er nicht viel übrig. Er war immer sehr vorsichtig in der Wahl seiner Partner, egal, ob es sich um Freunde oder Freundinnen handelte. Dem anderen Geschlecht gegenüber verhielt er sich sogar etwas mißtrauisch. Was seine offene, unproblematische Miene vor allem prägte, war der Ausdruck von Gutmütigkeit. In seinen versonnenen, etwas träumerischen Augen funkelte zwar manchmal eine derbe Verschmitztheit auf, aber selbst die war arglos. Frauen erkannten das sofort. Sie durchschauten, daß die Härte, die sein Gesicht auszudrücken schien, nur äußerlich war. Sie hielten ihn für lenkbar, und das zog sie unwiderstehlich an. Gollus hatte einige böse Erfahrungen gemacht. Deshalb also eine Augenliebe auf Distanz nur, gemäßigt und scheinbar nebenbei. Seine Gedanken kreisten währenddessen um Eberhard Uhlenhorst. Aus Krankheitsgründen hatte der Rechtsanwalt seinen Urlaub abgebrochen, das schien erwiesen. Auch dafür, daß er noch vierundzwanzig Stunden im
Heim geblieben war, nachdem er sein Gepäck abgeschickt hatte, konnte es eine Erklärung geben: Er wollte sich erst am Sonnabend in Berlin mit seinem Sohn treffen. Aber was, verdammt noch mal, hatte Uhlenhorst zu Beginn seines Urlaubs in Ahrenshoop zu suchen? Frau Dr. Arendt kam mit zehn Minuten Verspätung. Sie verlor kein Wort darüber. Sie setzte sich gar nicht erst, sondern schlug vor, das herrliche Wetter auszunutzen und einen Spaziergang zu machen. Gollus zahlte. Die Augenliebe tat desinteressiert und sah aus dem Fenster. Leutnant Gollus hatte Zeit, und die frische Luft tat ihm gut. Frau Arendt führte ihn aus dem Ort heraus, und sie folgten einem Weg, der sich um einen schmalen See schlängelte. An einer schattigen Stelle fanden sie eine Bank, auf der sie sich niederließen. Gollus wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und knüpfte an das Gespräch vom Vormittag an. Er stellte allgemeine Fragen zum Einstimmen und Auflockern: ob Dr. Uhlenhorst Besuch empfangen habe, ob sich bestimmte Gewohnheiten gezeigt hätten… und schließlich auch, ob sie etwas von Uhlenhorsts Aufenthalt in Ahrenshoop wisse. Frau Arendt antwortete bereitwillig, nicht überstürzt, sondern mit Vorsicht und Bedacht. Sie wollte helfen. Besuch habe Dr. Uhlenhorst ihres Wissens nicht empfangen, sagte sie, und was bestimmte Gewohnheiten anbelange, da müsse der Leutnant schon konkret werden, ihr sei nichts aufgefallen. Und von Ahrenshoop wußte sie gar nichts. Als Gollus nochmals nach jenem Sonnabend fragte, an dem Uhlenhorst abgereist war, sagte sie fast niedergeschlagen: „Auch da muß ich passen, Herr Gollus. Ich war an diesem Tag gar nicht in Kronitz. Vom Heimleiter war ein Omnibusausflug organisiert
worden, an dem ich teilgenommen habe… Nein, Doktor Uhlenhorst nicht. Ich hatte ihn auch nicht gefragt, weil er ja krank war und abreisen wollte.“ Vom Heimpersonal wußte Gollus, daß der Rechtsanwalt sein Zimmer bereits am frühen Morgen, gleich nach dem Aufstehen, geräumt hatte. Zum Mittagessen war er nicht mehr erschienen. Erst gegen siebzehn Uhr hatte er an der Rezeption bezahlt und die Formalitäten erledigt. Dann bat er um einen Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen sollte. Was hatte der an Angina erkrankte Mann acht oder neun Stunden lang gemacht? Wo war er gewesen? Frau Arendt konnte darüber keine Auskunft geben, und es wäre sinnlos gewesen, sie zum Mitraten aufzufordern. Aber da war jene beiläufige Bemerkung, auf die Gollus nun noch einmal zurückkam: Frau Arendt hatte am Vormittag erwähnt, daß sie zusammen mit Dr. Uhlenhorst das Belkower Museum besucht habe. „Wer hat den Vorschlag eigentlich gemacht, Frau Doktor Arendt?“ „Das weiß ich wirklich nicht mehr. Aber ich würde dem auch keine besondere Bedeutung beimessen. Belkow ist die nächstgelegene größere Stadt, zwanzig Kilometer von Kronitz entfernt. Die meisten Urlaubsgäste fahren irgendwann mal dorthin. Ich hätte auch ohne den Rechtsanwalt ein paar Einkäufe in Belkow erledigt.“ „Hatten Sie Erfolg?“ „Überhaupt keinen. Man soll in Gegenwart von Männern nicht einkaufen gehen. Doktor Uhlenhorst hatte sich einen Prospekt besorgt und führte nun. Alte slawische Schutzwälle, das Theater, das Schloß, der steinerne Roland, schließlich das Museum. Ich beklage mich nicht, es war ein erlebnisreicher Tag für mich, nur an Einkaufen
war eben nicht zu denken.“ „Das Museum war also weder erstes noch einziges Ziel gewesen?“ „Ich weiß nicht, ob Doktor Uhlenhorst überhaupt von Anfang an zielgerichtet vorging. Er durchwanderte die Straßen nach Landkarte und Stadtführer, würde ich sagen. Alles, was auf dem Weg lag, wurde mitgenommen. Ich glaub’ schon, daß wir uns im Museum am längsten aufhielten, aber ist das nicht verständlich?“ „Für viele bestimmt. Meinen Sie, daß man Doktor Uhlenhorst als einen Kunstkenner bezeichnen könnte?“ „Er war an Kunst interessiert, ohne Zweifel. Er hatte auch mehr Ahnung als ich, doch das besagt wenig. Mein Metier ist die Ökonomie, ich schreibe für eine Wirtschaftszeitung. Als ausgesprochenen Kenner würde ich Doktor Uhlenhorst trotzdem nicht bezeichnen.“ „Ist das Belkower Museum bekannt oder gar berühmt?“ „Das weiß ich nicht.“ „Groß?“ „Drei Etagen. Ein Saal ist als Heimatmuseum eingerichtet, mit alten Möbelstücken und Werkzeugen. In den anderen Räumen befinden sich Gemälde, alte Holländer vor allem. Und dann gibt es noch ein Kupferstichkabinett.“ „Hat sich Doktor Uhlenhorst irgendwelche Bilder zeigen oder erläutern lassen?“ „Er hat einmal, eben in diesem Kupferstichkabinett, wo Druckgrafiken und Handzeichnungen aufbewahrt werden, nach einem Maler gefragt. Er wollte wissen, ob das Museum von dem auch Bilder besitzt. Die Angestellte bejahte das.“ „Wollte Uhlenhorst diese Bilder nicht sehen?“ „Doch, ich glaube schon. Aber das Museum wurde ge-
schlossen, und wir mußten nach Kronitz zurück.“ „Können Sie sich an den Namen erinnern, nach dem Uhlenhorst gefragt hat?“ „Ein italienischer Name. Zumindest klang er so. Mir war er unbekannt.“ Gollus erfand ein paar Namen. „Vielleicht Valvenutto?“ „Nein.“ „Mostialgino?“ „Bestimmt nicht.“ „Piranesi?“ „Ja, Piranesi. Genau!“ Gollus hatte es erwartet. Er fand nichts Verwunderliches dabei. Uhlenhorst hätte wahrscheinlich in jedem Museum nach Piranesi gefragt, sich die Exemplare vorlegen lassen und stolz mit seinem eigenen Besitz verglichen. Gollus konnte sich das durchaus vorstellen. Und doch… irgend etwas war da noch nicht klar, er fühlte es. Witterte er wieder Hintergrund, weil ihm der Vordergrund zu einfach, zu logisch, zu verständlich schien? Nun gut, er würde ebenfalls nach Belkow fahren und ebenfalls nach Piranesi fragen. Wahrscheinlich würde sich seine Ahnung bestätigen: Uhlenhorst hatte den Sonnabend genutzt, um das nachzuholen, was er zusammen mit Frau Arendt nicht geschafft hatte – sich im Belkower Museum die Radierungen von Giovanni Battista Piranesi anzusehen. Und damit wurden Vordergrund und Hintergrund eins, und alles löste sich auf. „So löst sich eines nach dem anderen auf“, sagte auch Hauptmann Meyerhoff, nachdem er mit Gollus telefoniert hatte. Es war ein mühsames Gespräch gewesen, obwohl Gollus von der Belkower Kriminalpolizei aus angerufen hatte; die Verständigung war schlecht und die
Leitung voll mit knackenden und brummenden Nebengeräuschen. Meyerhoff war mitten aus einer Vernehmung gerissen worden. Er reagierte gewöhnlich sehr empfindlich darauf, und seine Sekretärin wußte das. „Aber da der Genosse Gollus heute nicht mehr zurückkommt…“, hatte sie gesagt. „Warum nicht?“ „Das will er Ihnen ja gerade sagen, Genosse Hauptmann.“ Also schön, Meyerhoff nahm den Hörer. „Was gibt’s denn, Klaus?“ Sein Ton war ungehalten und auf Eile drängend. Gollus schien bester Laune. Er berichtete ausführlich von seinen Gesprächen, Erkundigungen und Schlußfolgerungen, ohne sich durch kratzende Nebengeräusche oder Meyerhoffs Zeitdruck auch nur im geringsten beeinflussen zu lassen. „Ich übernachte hier“, schloß er endlich. „Morgen früh gehe ich in das Museum und versuche herauszubekommen, ob Uhlenhorst dort am Vor- oder Nachmittag des elften Mai gesehen worden ist. Soll ich anschließend nach Ahrenshoop fahren?“ „Das könnte dir so passen. Du kommst zurück.“ „Hältst du es denn nicht für wichtig, daß wir herausfinden, warum Uhlenhorst verspätet in Kronitz eingetroffen ist?“ „Doch. Aber dazu mußt du nicht in die Sommerfrische fahren. Hier liegen Dinge an, die vielleicht wichtiger sind.“ „Im Fall Uhlenhorst?“ „Nicht nur.“ „Verstehe. Und denk dran: Uhlenhorst wollte sich am Sonnabend in Berlin-Lichtenberg um neunzehn Uhr zehn mit seinem Sohn treffen.“
„Das wissen wir schon. Der Sohn war bereits hier.“ „Und? Haben sie sich getroffen?“ „Nein. Aber jetzt mach endlich Schluß!“ „Warst du bei Kruse-Kleeberg…?“ Aber da hatte Hauptmann Meyerhoff bereits aufgelegt. So löst sich eines nach dem anderen, sagte er noch und ging in sein Zimmer zurück. Dort saß ein junger Mann, Peter Brux mit Namen, ein knapp Achtzehnjähriger, der vor gut einer Woche aus der Jugendstrafanstalt entlassen worden war. Wie Gollus es vorhergesehen hatte, war Hauptmann Meyerhoff der einmal vorgedachten Spur konsequent nachgegangen. Er hatte im Büro des Rechtsanwalts sämtliche Prozeßunterlagen der zurückliegenden drei Jahre überprüfen lassen und war auf einige Klienten gestoßen, von denen sich Uhlenhorst im Unfrieden getrennt hatte. Dabei war man auf Peter Brux aufmerksam geworden. Brux, ein labiler Bursche, der zwar nach jeder Strafverbüßung Besserung versprach, aber nie die Kraft aufbrachte, sich über längere Zeit von kriminellen Taten fernzuhalten, hatte kleinere Einbrüche, Arbeitsbummelei, asoziales Allgemeinverhalten auf seinem Konto stehen. Sein Gesicht schien offen, auch sein Blick, das Haar hing bis auf die Schultern. Er war in Kleidung und Gestus einer von den vielen, die zwar auffallen wollen, aber eigentlich nur wegen dieses an Sucht grenzenden Wunsches auffielen. Sein Benehmen glich einer Mischung aus Angst und Arroganz. Meyerhoff kannte Brux. Er wußte den rechten Ton anzuschlagen, das frühere Du zum Beispiel benutzte er wie selbstverständlich, weil ein Sie nur distanzierend gewirkt hätte. „Doktor Uhlenhorst war damals dein Verteidiger, Peter. Zeitweise wenigstens. Dann hat er die Verteidi-
gung niedergelegt. Warum eigentlich?“ Natürlich kannte Meyerhoff den Grund, aber er wollte Brux zum Reden bringen. „Ich hatte ihm nicht alles gesagt. Und nicht so, wie es wirklich gewesen ist.“ „Du hast vor dem Gericht Dinge ausgesagt, die du deinem Verteidiger verschwiegen hattest. Hast du kein Vertrauen zu Doktor Uhlenhorst gehabt?“ „Doch, schon. Aber dann, vor den Richtern und Zuhörern, hatte ich plötzlich Schiß. Allein mit Uhlenhorst hatte ich keinen Schiß.“ „Du warst sehr zornig, als er es ablehnte, sich weiter für dich einzusetzen.“ „Ja.“ „Du sollst damals gesagt haben: Den kauf ich mir, wenn ich wieder draußen bin.“ „Möglich. In der ersten Wut, verstehen Sie. Aber heute? Man wird schließlich älter und ruhiger.“ „Du hast also keine Wut mehr auf ihn?“ „Wo werd’ ich denn! Ich bin froh, daß ich den Knast hinter mir habe. Nie wieder, Herr Hauptmann!“ „Schön. Sag mal, was hast du Sonnabend nacht gemacht? Die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag.“ „Am Sonnabend? Na, was wohl? Ein Jahr lang hatte ich kein Mädchen. Da können Sie sich vorstellen, was ich gemacht habe.“ „Aber doch nicht die ganze Nacht über.“ „Na ja. Erst mußte ich ja mal jemand suchen, nicht?“ „Du hattest Erfolg, schätze ich.“ „Klar. Ich war bei Waldheim, in der Kneipe neben dem Stadion. Die ganze Clique war da. Auch Betty.“ „Betty also. Und wie heißt sie weiter?“
„Weiß ich nicht. So was spielt bei uns keine Rolle.“ „Aber wie sie aussieht, weißt du doch noch. Kannst du sie beschreiben?“ „Klar. Schwarze Haare und so.“ „Und sonst?“ „Ich weiß nicht. Jeans hatte sie an und ’n Pullover.“ „Hör mal, Peter, du wirst für diese Nacht ein Alibi brauchen. Besinn dich also!“ „Ein Alibi? Aber weshalb denn? Ich habe doch nichts angestellt,“ „Das wollen wir ja gerade überprüfen. Also los, ich habe nicht allzuviel Zeit.“ „Na, meinen Sie ich? Ich war erst bei Waldheim, wie ich schon sagte. Da können Sie ruhig nachfragen. Dort habe ich Betty kennengelernt. So gegen neune sind wir beide losgezogen.“ „Wohin?“ „‘raus in die Botanik natürlich.“ „Etwas genauer bitte. Was heißt ,in die Botanik’?“ „Hoch zur Kirschplantage, da steht doch ‘ne offene Scheune!“ „Ach ja, ich verstehe. Vom Stadion zur Kirschplantage… Sag mal, da seid ihr doch durch den Heidering gekommen, nicht wahr?“ „Natürlich. Auch an Uhlenhorsts Haus vorbei, wenn Sie das meinen.“ „Du weißt, wo er wohnt?“ „Klar. War ja damals mehrere Male bei ihm. Er hat mich genausowenig vergessen wie ich ihn.“ „Woher weißt du das?“ „Weil er mit mir gesprochen hat. ,Wie geht’s Ihnen, mein Junge?’ hat er gesagt. So’n richtiger Oldtimer.“
„Wann war das?“ „Na, am Sonnabend. Als ich mit Betty durch den Heidering ging, stand er vor seiner Haustür und fummelte am Schloß ‘rum. Ich hab’ gegrüßt, und da sagte er das zu mir.“ „Moment mal! Doktor Uhlenhorst stand… Um wieviel Uhr war das?“ „So zwischen neune und zehne. Er hatte einen Mantel an und ‘nen Hut auf. In der Hand ‘ne Aktentasche oder so. Nee, zwischen die Beine geklemmt. Er fummelte ja mit beiden Händen am Schloß ‘rum.“ „Also wollte er abschließen und weggehen.“ „Möglich. Vielleicht auch aufschließen und reingehen. Ich habe mich nicht weiter darum gekümmert.“ „Regnete es denn nicht?“ „Doch, so’n bißchen hat’s noch genieselt.“ „War sonst noch jemand auf der Straße?“ „Schon möglich. Vielleicht auch nicht, keine Ahnung.“ „Schön, Peter. Du bist mit deiner Betty also weitergegangen. Zur Scheune. Wie lange seid ihr dort geblieben?“ „Weiß nicht genau. Es wurde schon hell.“ „Seid ihr denselben Weg zurückgegangen?“ „Nein, wir sind durch den Park zurück. Betty mußte ja zum Bahnhof.“ „Ach, keine von hier? Wohin ist sie denn gefahren?“ „Weiß ich auch nicht. Wirklich nicht, Herr Hauptmann.“ „Paß mal auf, Peter. Such diese Betty! Das ist wichtig. Habt ihr euch verabredet?“ „Für nächsten Sonnabend. Wieder bei Waldheim. Aber ohne Uhrzeit und auch nicht ganz fest.“ „So lange können wir nicht warten. Frag deine Freunde.
Irgendeiner aus eurer Clique wird doch ihren Familiennamen kennen.“ Zwischen „neune und zehne“ wollte Brux am Sonnabend Dr. Uhlenhorst gesehen haben. Um 19 Uhr 10 mußte der Rechtsanwalt in Berlin eingetroffen sein. Dem Sohn hatte er seine voraussichtliche Ankunft telegrafisch mitgeteilt. Siegfried Uhlenhorst hatte jedoch ausgesagt, daß aus dem Treffen nichts geworden sei, denn er habe das Telegramm erst am Sonntag, als er von einer mehrtägigen Auslandsreise zurückkehrte, vorgefunden. Meyerhoff hatte sich nach dem Gespräch mit Uhlenhorsts Sohn einen Fahrplan bringen lassen. Ein weiterer Zug von Berlin nach Hakenfurt fuhr um 19 Uhr 45 ab, Ankunft 20 Uhr 50. Vom Bahnhof bis zur Wohnung des Rechtsanwalts brauchte man zwanzig Minuten, wenn man zu Fuß ging. Dr. Uhlenhorst hatte kein Taxi genommen, wie inzwischen ermittelt worden war, und andere Fahrverbindungen zum Heidering gab es nicht. Peter Brux’ Zeitangaben konnten also stimmen. Stimmten aber auch seine anderen Aussagen? Hatte er wirklich nur höflich gegrüßt und war dann mit dieser Betty weitergegangen, einem Mädchen, von dem er nur eine Allerweltsbeschreibung geben konnte? Obwohl Meyerhoff aus Erfahrung wußte, daß man den allgemeinen Intelligenzgrad eines Täters niemals mit der Intelligenz gleichsetzen durfte, die er bei der Ausführung und Absicherung eines Verbrechens bewies, konnte er sich Brux einfach nicht als kühlen, cleveren Vorausberechner vorstellen. Brux war nicht der Mann, der die Möglichkeit einkalkulierte, daß irgend jemand ihn am Tatort sehen würde, und der deshalb seine dortige Anwesenheit zur fraglichen Zeit gleich selbst zugab – selbst-
verständlich verpackt in eine mehr oder weniger glaubhafte Geschichte. Psychologie der Täterpersönlichkeit – für Meyerhoff das interessanteste Fachgebiet der Kriminalistik, mit dem er sich auch in seiner Freizeit viel beschäftigte. Zwar ein weites Feld, aber doch eines, auf dem Meyerhoff sich ganz gut auszukennen glaubte. Übrigens teilte Staatsanwalt Hederle die Meinung des Hauptmanns über Brux. Als sie am späten Nachmittag zusammenkamen, waren sie sich in ihrer Einschätzung weitgehend einig. Inzwischen lag auch das medizinische Gutachten vor: Dr. Uhlenhorst war nicht an den Kopfverletzungen gestorben, sondern einem Herzversagen erlegen. Es war zwar erwiesen, daß der Täter ihn mit ziemlicher Gewalt niedergeschlagen oder umgestoßen hatte, den Tod hatte jedoch vermutlich der plötzliche Schreck hervorgerufen. „Also weder Mord noch Totschlag“, sagte der Staatsanwalt, „sondern Körperverletzung mit tödlichem Ausgang.“ Natürlich beeinflußte das nicht die Ermittlungsarbeit. Auf die innere Einstellung der Kriminalisten zum Fall wirkte es aber ein. Es war nun mal ein Unterschied, ob man einem gemeinen und hinterhältigen Mörder nachjagte oder jemandem, der fahrlässig getötet hatte. Staatsanwalt Hederle hatte Sorgen. Er sprach es unumwunden aus. „Der Einbruch gestern abend in die RolandApotheke macht mir zu schaffen. Es war eine Gruppe junger Leute, die es auf Barbiturate und ähnliche Medikamente abgesehen hat. Sie hatten keinen Erfolg, weil die Dinge gut gesichert waren, wurden aber weder gestört noch erkannt. Es besteht also die Gefahr, daß sie ihren Versuch in einer kleineren, weniger geschützten Apotheke wiederholen. Ich brauche einen guten Mann für den
Fall und dachte dabei an Sie, Genosse Meyerhoff. Übergeben Sie die Uhlenhorst-Sache an Gollus, und behalten Sie nur die Fäden in der Hand. Und dem Leutnant stellen wir noch die Genossin Albrecht zur Seite.“ „Warum denn gerade die?“ Meyerhoffs Frage klang schroff, obwohl er gegen Annegret Albrecht eigentlich nichts einzuwenden hatte. Ein vernünftiges Mädchen, eine talentierte Kriminalistin, etwas jung vielleicht noch, aber doch schon mit Erfahrung ausgerüstet. Trotzdem hielt er seine Frage für berechtigt: Warum gerade die Genossin Albrecht? „Aus zwei Gründen: Sie hat seinerzeit den Fall Keilz mitbearbeitet. Sie erinnern sich, dieser Maler, der Originale kopierte und fälschte. Sie versteht also ein bißchen was von Kunst, und Gollus marschiert ja in diese Richtung. Zweitens aber – und das scheint mir noch wichtiger – hat die Genossin Albrecht Jura studiert, bevor sie zur Kriminalpolizei ging. Sie ist so etwas wie eine Kollegin von Doktor Uhlenhorst. Ich denke, diese Überlegungen überzeugen auch Sie, Genosse Hauptmann.“ Das war Volker Hederle, wie Meyerhoff ihn kannte. Immer bedachte er alles im voraus, und was er sagte, war abgewogen, fast ausgereift. Der Staatsanwalt war noch jung, aber sehr ehrgeizig, tüchtig, fleißig vor allem. Er war verheiratet, doch von Frau und Kindern erzählte er kaum einmal. Dem Aussehen nach hätte er ein Fotomodell sein können, das die neuesten Anzüge kreierte: tadellos gekleidet, tadellos frisiert, nie salopp oder gar nachlässig angezogen. Hederle war vor etwa einem Jahr nach Hakenfurt versetzt worden, und Meyerhoff arbeitete gut mit ihm zusammen. Allerdings nicht immer gern. Es ging da oftmals um die berühmte Nasenlänge, um die ihm
Hederle meistens voraus war. In der Ermittlungsarbeit fiel das nicht auf, denn da mischte sich der Staatsanwalt kaum ein. Wenn aber Fragen der Organisation zur Sprache kamen, Überlegungen, wie die Kräfte am zweckmäßigsten einzusetzen seien, dann zeigte sich der Jüngere dem Älteren gewöhnlich überlegen. Meyerhoff begründete das im stillen mit Hederles Funktion. Als Staatsanwalt hat man halt einen größeren Überblick, sagte er sich, man ist frei von der täglichen Kleinarbeit und kann sich dem großen Ganzen widmen. Zu Gollus hatte er einmal gesagt: „Hederle hat nicht mehr Wissen als wir, sondern mehr Kenntnisse. Er erfährt mehr, das gibt den Ausschlag!“ Eine Rechtfertigung, in der sicherlich auch ein Fünkchen Eifersucht steckte. Sie berieten dann, was mit der Uhlenhorstschen Wohnung geschehen sollte. Der Sohn war aus Berlin gekommen, nicht bloß wegen der polizeilichen Ermittlungen, sondern vor allem, weil nach dem Tode seines Vaters einiges erledigt werden mußte. Die Wohnung des Rechtsanwalts aber war versiegelt. Das entsprach der Vorschrift, und Siegfried Uhlenhorst kam nicht recht vorwärts. Er war vorübergehend in ein Hotel gezogen. Er hatte gefragt, wie lange er noch warten müsse, und genau das fragte Meyerhoff jetzt den Staatsanwalt. „Setzen Sie morgen nochmals unsere Techniker an. Sie sollen das freie Fach im Bücherschrank unter die Lupe nehmen. Wenn dort, wie Gollus meint, mehrere Bilder gelegen haben… vielleicht finden sich Spuren, die das bestätigen oder widerlegen. Und dann muß die Strichzeichnung gesucht werden. Sie haben natürlich recht, Genosse Meyerhoff, es paßt nicht zum Charakter des Rechtsanwalts, daß er sie einfach in den Papierkorb wirft.
Vielleicht kann Ihnen der junge Uhlenhorst einen Hinweis geben. Weiß der übrigens von dem Piranesi im Schlafzimmer seines Vaters?“ „Nein. Aber er zeigte sich auch nicht sonderlich überrascht, als ich es ihm sagte. Sein Vater hatte ihm mal gesagt, daß er sich mit solchen Dingen beschäftigen wolle, aber das war bei dem Sohn ohne Eindruck geblieben.“ „Wie schildert er denn das Verhältnis zwischen Vater und Sohn?“ „Nüchtern, aber gerecht. Er meint, sein Vater habe ihm im Innern nie verziehen, daß er nicht auch eine akademische Laufbahn eingeschlagen habe. Siegfried Uhlenhorst ist Trainer einer Berliner Volleyballmannschaft.“ „Verheiratet?“ „Nein. Es gibt Gerüchte, daß er sich wenig aus Frauen macht.“ „Ach so. Und hat er für die Tatzeit ein Alibi?“ „Fast ein maßgeschneidertes. Von Sonnabend abend, einundzwanzig Uhr, bis Sonntag morgen, vier Uhr, saßen er und seine Mannschaft auf dem Flughafen Frankfurt am Main. Sie kamen von einem Spiel aus Paris und konnten wegen des Nebels nicht weiterfliegen.“ Als Täter kam somit keiner der wenigen Bekannten und Verwandten des Rechtsanwalts in Frage. Auch Dr. Kneisel und Optiker Scharf hatten einwandfreie Alibis vorgewiesen. Natürlich fielen sie dadurch noch nicht endgültig aus dem Kreis der Verdächtigen, denn einer von ihnen konnte ja der Auftraggeber, der Mann im Hintergrund, sein. Entscheidend blieb nach wie vor die Frage nach dem Motiv. Doch beide, Meyerhoff wie Staatsanwalt Hederle, meinten, daß sie Grund zu Optimismus haben könnten. „Eines löst sich nach dem anderen“, wiederholte der Hauptmann seinen
Ausspruch und zählte auf: „Wir kennen Frau Eleonore Arendt, wir haben die Schreibtischschlüssel gefunden und wissen auch, warum Uhlenhorst seinen Urlaub abgebrochen hat. Der ungefähre Zeitpunkt seiner Rückkehr ist uns bekannt, der geplatzte Treff mit dem Sohn, Todeszeit und Todesursache. Ich nehme an, daß Gollus aus Belkow und Kronitz weitere Ergebnisse mitbringen wird, und wir treten hier ja auch nicht auf der Stelle. So fügt sich Steinchen auf Steinchen…“ Mit diesem gegenseitigen Zuspruch verabschiedeten sich die Männer voneinander. Meyerhoff ging nach Hause, denn es war schon Abendbrotzeit. Doch als er an der Wohnungstür den Lärm seiner beiden Söhne hörte, machte er wieder kehrt. Ihm war jetzt nicht nach Ehealltag und Familienidylle. Er dachte an Gollus’ Frage am Telefon und fuhr in die Hopfengasse zu Adolf KruseKleeberg, dem bekannten Grafiker in Hakenfurt.
3. Dieser abendliche Besuch war in vieler Hinsicht aufschlußreich. Schon der Maler überraschte: ein feingliedriger Ästhet, so empfand Meyerhoff, blaß, mit schwarzem Haar und versunkenem Blick, mit leiser, vorsichtiger Stimme, die auf Gefallen und Wohlklang aus war. Ein Künstler, ohne Zweifel, einer, den man sich Hölderlin rezitierend vorstellen konnte oder Robert Schumanns Träumerei nachträumend. In Wohnung und Atelier war ein wenig Unordnung, ein wenig überflüssiger Schnickschnack hier und da, ein wenig Schmutz sogar, aber alles wie arrangiert und passend zu einem Interieur, das Seele und Gemüt verraten sollte: beschauliche Lehnsessel, ein kostba-
rer Gobelin an der Wand, gegenüber ein Frauenakt, Vitrinen und Schränke voll prächtiger Schnitzarbeiten, Grundtöne der Zimmer blau und golden. Stillos zwar, aber originell und nicht ohne Geschmack, so war Meyerhoffs Eindruck. Kruse-Kleeberg richtete sich auf ein langes Gespräch ein. Mit Sorgfalt wählte er mehrere Tabakspfeifen aus seinem Bestand, suchte mit gleicher Bedachtsamkeit zwei Ascher und stellte schließlich Gläser für einen Aperitif hin, den er nicht anbot, sondern kredenzte wie etwa ein französischer Schloßherr in der Champagne – würdevoll, mit ein ganz klein wenig Herablassung auch, die aber Meyerhoff weniger verletzte als amüsierte. „Herr Doktor Uhlenhorst war vor ungefähr einem Monat bei mir“, begann Kruse-Kleeberg dann. „Er saß genau dort, wo Sie jetzt Ihren Platz haben, Herr Hauptmann. Es war auch etwa die gleiche Uhrzeit, so um die siebte Abendstunde herum. Er wirkte sehr distinguiert, vornehm, könnte man sagen. Wir führten eine interessante und von beiden Seiten als angenehm empfundene Unterhaltung. Herr Doktor Uhlenhorst beherrscht noch die Kunst des Zuhörens, eine Tugend, die man heute nur selten antrifft.“ Meyerhoff bemühte sich um die gleiche Tugend. Er brauchte sich keinen Zwang anzutun, denn Kruse-Kleeberg verlor sich nicht in Nebensächlichkeiten. Es war, als ahne er, worum es dem Hauptmann ging, und danach richtete er sich. Dr. Uhlenhorst hatte ihn gefragt, ob es sinnvoll und vor allem aussichtsreich wäre, sich beim Sammeln auf Originale des Italieners Piranesi zu konzentrieren. Ihm sei ein verlockendes Angebot gemacht worden, aber bevor er zugreife, wolle er abwägen, ob es zweckmäßig sei, sich
ganz und ausschließlich auf diesen Maler zu konzentrieren. Seine Mittel seien beschränkt, und er wolle sich auf keinen Fall verzetteln. „Ich habe ihm nicht ab- und nicht zugeraten, Herr Hauptmann. Ich wollte die Ursache seines Wunsches erfahren, ob nämlich Doktor Uhlenhorst ein persönliches Verhältnis zu dieser Art Kunst hatte oder ob er sich vielleicht auf anderem Gebiet mit dieser Zeitepoche vor über zweihundert Jahren beschäftigte. Nun, ich merkte bald, daß der Piranesi durch einen puren Zufall ins Blickfeld des Rechtsanwalts gerückt war – eben durch jenes verlockende Angebot, das er erwähnte. Die Möglichkeit, auch später gelegentlich solche Radierungen zu erwerben…“ „Entschuldigen Sie, Herr Kruse-Kleeberg… Haben Sie zufällig gefragt, wer dem Rechtsanwalt dieses verlockende Angebot gemacht hat?“ „Ich bitte Sie!“ „Sie können es sich wohl auch nicht denken?“ „Ich habe keine Ahnung. Zumal ich ja nicht mal weiß, was ihm konkret angeboten worden ist. Piranesi war außerordentlich produktiv, allein seine Veduten di Roma umfassen etwa hundertvierzig Radierungen. Hinzu kommen die…“ „Eine dieser hundertvierzig römischen Stadtansichten hängt in Doktor Uhlenhorsts Schlafzimmer. Das Nymphaeum in den Licinius-Gärten.“ „Ah, ich kenne das Bild, ich meine… Sie verstehen schon.“ „Natürlich. Herr Doktor Uhlenhorst hat Ihnen sein Exemplar nicht gezeigt.“ „Eben das meinte ich.“
„Schön. Aber ich hatte Sie unterbrochen, Herr KruseKleeberg.“ „Ja, also, ich wollte sagen… ich habe Doktor Uhlenhorst gesagt, daß ich die Möglichkeit, auch weiterhin solche Radierungen zu erwerben, weder gänzlich ausschließen noch uneingeschränkt bejahen könnte. Der Kunstmarkt ist auch in unserer Republik unberechenbar und von vielerlei Strömungen abhängig. Meiner Meinung nach ist Piranesi im Kommen, das Interesse an seinen Zeichnungen nimmt zu, die Nachfrage wird steigen… ob das Angebot damit Schritt hält, wer will so etwas voraussagen?“ Meyerhoff wagte einen Einwand: „Sie meinen, Piranesi kommt in Mode? Ich kann mir das, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Der Arme Poet von Spitzweg, gut, der paßt zu Petroleumlampe und Bauerntruhe. Wozu aber sollte die akkurate, nüchterne Architektur des alten Rom passen, frage ich Sie?“ „Sehr schön.“ Kruse-Kleeberg lächelte auf eine herausfordernde, aber nicht unangenehme Weise, als erwarte er einen Disput und freue sich darüber. „Sehr schön. Aber sehen Sie, schon hier beginnen die Meinungsverschiedenheiten. Winckelmann beispielsweise lehnte Piranesi ab, weil ihm dessen Radierungen zuwenig akkurat und zuwenig nüchtern waren. Er warf ihm vor, die wirklichen Objekte auf eine schwärmerische, werbende Art und damit entstellt wiederzugeben, was zum Teil sicherlich zutrifft. Nur macht ja gerade diese persönliche Sicht Piranesi erst zum wahren Künstler. Und deshalb… warum sollte dieses Schwärmerische, zur Romantik Neigende nicht eines Tages das Gefallen vieler finden?“ Meyerhoff gab keine Antwort. Er wußte keine. Er sah zu, wie der Grafiker eine neue Pfeife stopfte und anzündete,
mit viel Andacht wieder und scheinbar ganz in diese Kulthandlung versunken, und als ihm das Schweigen zu lang wurde, meinte er schließlich: „Ich kenne mich da nicht aus und nehme Ihre Erklärungen gern als ein sachverständiges Urteil entgegen…“ „Tun Sie das bitte nicht! Ich habe meine ganz persönliche Ansicht ausgesprochen. Ich bin weder Kunstwissenschaftler noch Kunsthändler… ich mache ein bißchen Kunst, das ist alles.“ Kruse-Kleeberg legte eine kleine Pause ein nach dieser bescheidenen Selbsteinschätzung. Dann seufzte er hörbar, vielleicht weil der erhoffte Disput ausblieb oder weil Meyerhoff die dargebotene Bescheidenheit nicht genug honorierte, und schließlich fuhr er fort: „Auf jeden Fall schien Herr Doktor Uhlenhorst über meine vagen Antworten und Ratschläge nicht sehr erbaut. Ich merkte ihm das deutlich an. Er war enttäuscht – nicht aber entmutigt, das möchte ich eindeutig feststellen. Seine Absicht, sich intensiv mit Piranesi, seinem Leben und seinem Werk zu beschäftigen, bewies mir das. Er fragte nach Literatur, und ich versprach, mich darum zu bemühen. Wichtiger aber war wohl…“ „Ich muß Sie nochmals unterbrechen. Haben Sie ihm Literatur besorgt?“ „Ja, dieses Buch hier.“ Meister der Grafik, las Meyerhoff, Band VI. Giovanni Battista Piranesi, von Albert Giesecke. Und das Impressum verriet: Verlag Klinkhardt und Biermann, Leipzig 1911. „Die einzige deutschsprachige Abhandlung über Piranesi. Ich habe es aus unserer Verbandsbibliothek. Herr Doktor Uhlenhorst wollte es nach seiner Rückkehr bei mir abholen.“ „Sie wußten, daß er verreist war?“ „Er wollte Urlaub machen, sagte er mir. Wir kamen dar-
auf zu sprechen, als er erzählte, daß er seine Fahrt nach Mecklenburg zu einem Abstecher nach Ahrenshoop benutzen wollte.“ „Nach Ahrenshoop?“ Meyerhoff tat überrascht, und ein bißchen war er es ja auch. Er erfuhr dann, daß Kruse-Kleeberg versucht hatte, die beginnende Sammellust des Rechtsanwalts auf Objekte zu lenken, die zwar nicht so exklusiv, dafür aber weitaus leichter aufzuspüren waren, Werke der Gegenwartsgrafik nämlich. „Es gelang mir, Doktor Uhlenhorsts Desinteresse an moderner Grafik, nun, wenn auch nicht restlos abzubauen, so doch um einiges zu reduzieren. Er wurde aufgeschlossener, zugänglicher und zeigte an einigen Erläuterungen, die ich gab, sogar lebhafte Freude. Geradezu begeistert war er, als ich die Ahrenshooper Grafikauktion erwähnte, die nun schon zum dritten Mal stattfindet.“ „Und Doktor Uhlenhorst hatte die Absicht, daran teilzunehmen.“ „Ja. Ob er nun mitbieten und kaufen wollte, weiß ich nicht. Ihm ging es wohl vor allem darum, eine repräsentative Auswahl des derzeitigen Angebots original betrachten zu können. Er wollte die Gelegenheit jedenfalls wahrnehmen, so sagte er mir.“ Hauptmann Meyerhoff war zufrieden. In Gedanken wiederholte er noch einmal seine Worte vom Nachmittag, daß sich eines nach dem anderen aufkläre, und bezog, vielleicht etwas vorschnell, aber doch nicht unbegründet, auch gleich den vorgefundenen Telegrammentwurf mit ein: Kaufe Lith. zu vereinb. Preis, der wahrscheinlich mit dem Besuch in Ahrenshoop in Verbindung stand. Diese Zufriedenheit schien ihm allerdings unangebracht,
sobald er an das Verbrechen dachte, dem Dr. Uhlenhorst zum Opfer gefallen war. Je lückenloser sich die Handlungen des Rechtsanwalts in den Wochen und Tagen vor seinem Tod nachvollziehen ließen, je weniger Geheimnisvolles, Rätselhaftes zum Vorschein kam, desto unergiebiger wurde die Suche nach dem Tatmotiv. Natürlich war da Leutnant Gollus’ Version über den Diebstahl mehrerer Piranesi-Bilder aus dem Wohnzimmerschrank, aber konnte das tatsächlich als Erklärung dienen? Er fragte Kruse-Kleeberg danach. Der stutzte, tat sehr erstaunt, verdutzt direkt, denn obwohl er von Uhlenhorsts Tod bereits wußte, hatte er an einen solchen Hintergrund offenbar nicht gedacht. „Wenn Sie mich fragen, Herr Hauptmann, ob ich es für möglich halte, dann muß ich sagen: Ja, ich halte es für möglich, daß ein fanatischer Sammler, auch ein Sammler von Piranesi-Radierungen, zum Dieb werden kann. Das hat gar nichts mit dem Wert, Preis oder Kurs zu tun, nach dem ein Werk offiziell oder inoffiziell gehandelt wird. Ein Stück, das in einer Sammlung noch fehlt, kann alles in dem Mann auslöschen: Vernunft, Ehre, Anstand. Er steht unter einem Zwang, dem er nicht entfliehen kann.“ So ähnlich lautete auch der Textabschnitt, den Klaus Gollus kürzlich vorgelesen hatte. Meyerhoff nickte, aber sein Nicken fiel etwas ungehalten aus, eine Zustimmung, die nur widerwillig gegeben wurde. Natürlich war ihm das alles nichts Neues. Er wußte, daß die Atmosphäre des Kunstbetriebs ein besonderes Fluidum hervorrief, ein Verbrechen wurde hier nur allzu leicht heroisiert. Das niedrige kriminelle Delikt verlor an Bedeutung, wenn von Leidenschaft und nobler Passion die Rede war.
Der Fall Keilz, den Staatsanwalt Hederle am Nachmittag erwähnt und bei dessen Aufklärung auch die Genossin Albrecht mitgewirkt hatte, war Meyerhoff noch deutlich in Erinnerung, obwohl er bereits Monate zurücklag. Das Publikum im Gerichtssaal war über den Fälscher Keilz eher gerührt und begeistert als empört gewesen. Der Hauptmann hatte zufällig gehört, wie ein Zuhörer zu seinem Nachbarn sagte: „Fälscher sind auch Künstler, und Künstler sind immer kleine Irre, die man entweder bemitleiden oder bewundern muß.“ Oder was Kruse-Kleeberg eben über fanatische Sammler gesagt hatte: Sie stehen unter einem unentrinnbaren Zwang. Aber wenn dem so war – mußte man dann nicht tatsächlich damit rechnen, daß der Täter den Versuch wiederholen würde, um auch das Nymphaeum in seinen Besitz zu bekommen? Klaus Gollus hatte die Vermutung bereits ausgesprochen. Die Möglichkeit, den Dieb dabei in einen Hinterhalt zu lokken, war durchaus gegeben. Man mußte das Bild Jemandem „vererben“, der zuverlässig und leicht abzuschirmen war und keinen Verdacht erregte. Kruse-Kleeberg vielleicht? Mit diesen Gedanken im Kopf und Kleebergs Buch über Piranesi unter dem Arm, ging der Hauptmann endlich nach Hause. Seine Kinder schliefen, und auch seine Frau hatte sich zurückgezogen. Auf dem Tisch stand sein Abendbrot, Quarkschnitten und kalte Milch. Meyerhoff ließ es sich schmecken, denn er hatte Hunger und Appetit. Dann nahm er das Buch zur Hand und legte sich auf die Couch. Doch was er las, war nicht sehr spannend. Er fand keinen richtigen Zugang zu dem Stoff – und eigentlich, das sagte er sich beim Einschlafen, auch keinen zum Fall Uhlenhorst. Ein Täter, der unter Zwang handelte,
und das noch im Bereich der Kunst, lag ihm nicht. Er würde es zwar niemals laut aussprechen, aber im Grunde war er doch recht froh über Staatsanwalt Hederles Entscheidung. Der Einbruch in die Roland-Apotheke hatte andere Konturen, da waren Absichten und Ziele der Täter klar erkennbar. Was ihn dagegen im Fall Uhlenhorst erwartete… Meyerhoff dachte an Klaus Gollus, und er beneidete ihn nicht, Das erste, was Leutnant Gollus am nächsten Tag erfuhr, empfand er als einen Widerspruch. In der Druckgrafik kann es von einem Bild mehrere Originale geben. Frau Steinhof hatte es ihm erklärt. „Original heißt doch, daß das Bild direkt vom Künstler stammt. Von seiner Hand sozusagen. In der Grafik geht das so vor sich: Der Maler bringt seine Zeichnung auf ein gewähltes Material. Es kann ein Holzstock, eine Kupferplatte oder ein Lithographiestein sein. Dann setzt der Druckvorgang ein: Er überträgt die Zeichnung auf Papier. Der Künstler kann also von einem Holzstock, einer Kupferplatte, einem Lithographiestein eine größere Anzahl völlig gleicher und dementsprechend gleichwertiger Drucke herstellen, die alle Originale sind. Denken Sie an das berühmte Hundertguldenblatt von Rembrandt, das sich jeweils als Original im Besitz mehrerer Museen befindet. Übrigens auch in unserem.“ Frau Steinhof war die Direktorin des Belkower Museums. Hochgewachsen und wohlgeformt, das Haar von rötlichem Kastanienbraun, die Augen etwas verschleiert, schwermütig vielleicht. Sie sprach ruhig und gemessen, ihre Stimme hatte einen schönen, spröden Klang. Etwas Gelassenes ging von der Frau aus. Gollus schien es un-
denkbar, daß sie in irgendeiner Form einmal aus der Rolle fallen oder sich einer heftigen Leidenschaft hingeben könnte. Obwohl sie durchaus das hatte, was man SexAppeal nannte, ja, ihn regelrecht ausstrahlte. Frau Steinhof zog ihn an, Gollus wünschte, mit ihr befreundet zu sein. Gemeinsame Theaterbesuche, Streifzüge durch Nachtbars, bewundernde Blicke von allen Seiten, sie beide Hand in Hand – verrückte Gedanken waren das. Die Frau war verheiratet, sie trug einen Ehering, war sicherlich Mutter, wer konnte es wissen! Übrigens fiel es ihm schwer, ihr Alter zu bestimmen. Älter als er war sie bestimmt. Aber ob sie Anfang oder Mitte Vierzig war, ob Natur oder Kosmetik vorherrschten – Gollus war kein Fachmann und hatte keinen Blick für Make-up, Perücke oder andere Hilfsmittelchen. Gollus hatte sich bei der Direktorin telefonisch angemeldet und sie um eine Unterredung gebeten. Sie war sofort bereit gewesen, den Leutnant zu empfangen und ihm Rede und Antwort zu stehen, soweit das in ihren Kräften lag. Es ginge um einen Rechtsanwalt, hatte Gollus vorausgeschickt, über dessen Tod zur Zeit Ermittlungen liefen. Dabei sei man auf das Hobby dieses Mannes gestoßen, das Sammeln von Gemälden nämlich. Man habe einen echten Piranesi in seiner Wohnung gefunden, worüber allgemeines Erstaunen herrsche. Ob dieses Erstaunen gerechtfertigt sei, wollte er von Frau Steinhof nun wissen. Sie hatte ihm den Sachverhalt erklärt. Ruhig, liebenswürdig, belehrend auch, aber überaus charmant dabei, keineswegs herablassend. Bei Druckgrafiken gibt es meist mehrere Originale – das war die Quintessenz. „Und davon können sich einige auch in Privatbesitz befinden, verstehe ich Sie so richtig?“ fragte er.
„Selbstverständlich. Schauen Sie, vom Stein kann man etwa hundert Stück in guter Qualität herstellen, von einer Radierung – das ist eine Form des Kupferstichs – manchmal sogar fünfhundert. Es gibt aber auch komplizierte Drucktechniken, die keine so hohe Auflage ermöglichen. Dann schmälert jeder Abzug mehr die Schönheit des Druckes und verfälscht die ursprüngliche Aussage des Künstlers.“ „Und Piranesis Radierungen? Wie hoch ist bei denen die Auflage?“ „Einhundertfünfzig bis zweihundert, würde ich meinen, aber ich bin da kein Fachmann. Auf jeden Fall genug, so daß sich viele in Privatbesitz befinden.“ Frau Steinhof erzählte Gollus einiges von diesem Kupferstecher, Baumeister und Altertumsforscher. Es war eine kurze, lakonische Übersicht, ohne den Ballast von Zahlen und Namen, dargeboten ohne anbeterische Entzücktheit. Piranesi lebte von 1720 bis 1778 in Italien. Er schuf Stiche römischer Gebäude, Straßen und Ansichten. Zunächst verkaufte er sie als Einzelblätter an kunstliebende Reisende, später wurden einhundertvierzig Exemplare in einem Sammelband herausgegeben. Piranesi konzentrierte sich mehr und mehr auf barocke und antike Baudenkmäler und machte genaue archäologische Aufnahmen alter Baureste. Auch diese wurden zunächst als Einzelexemplare abgesetzt und dann in einem vierbändigen Werk zusammengefaßt. Zwanzig Jahre nach Piranesis Tod brachte sein Sohn die Kupferplatten nach Paris. Im 19. Jahrhundert wurden sie vom Vatikan aufgekauft. „Piranesi hat also schon zu Lebzeiten sehr viel publiziert, wie wir heute sagen würden. Nach seinem Tod wurden wiederholt Neudrucke herausgebracht, erst in Paris, spä-
ter in Italien, im Auftrag der Päpste. Es sind und bleiben immer Originale, Herr Gollus. Und weil sie ziemlich häufig vorkommen, gibt es auch keine Fälschungen. Wozu auch?“ Schön, das leuchtete ein. „Aber besteht denn nirgends eine – sagen wir mal – – Registratur über die Zahl der Originale? Weiß niemand genau, wieviel Drucke es von jedem Blatt gibt und wo sich die einzelnen Stücke befinden?“ „Wie sollte das möglich sein? Ich habe Ihnen ja erzählt, daß Piranesi seine Arbeiten irgendwelchen Reisenden verkaufte, die Rom besuchten. Das liegt mehr als zweihundert Jahre zurück. Aber auch die Neudrucke sind nicht jederzeit und umfassend nachweisbar. Ein Teil wurde von Museen und staatlichen oder kirchlichen Kunstsammlungen erworben. Viele aber gelangten sofort in Privatbesitz, und es sind dann die Kunsthändler oder privaten Sammler, die sie erwerben , und weiterverkaufen. Und natürlich gab und gibt es auch Zufallskäufer. Gerade im Privatbereich kann verkauft, vertauscht, verschenkt, verliehen werden, so wie bei jedem anderen Stück persönlichen Eigentums. Ich will damit andeuten, daß es mannigfache Möglichkeiten gibt, in den Besitz eines Kunstwerks zu gelangen. Meistens ist es sehr zeitaufwendig, den Weg eines Exemplares zu verfolgen, allerdings sehr spannend und aufregend für jemanden, der sich dafür interessiert. In Ihrem Fall, Herr Gollus, wage ich an den Zeitaufwand gar nicht zu denken, denn Sie sind ja gezwungen, vom Endpunkt her vorzugehen, weil Sie ja nicht den Verbleib, sondern die Herkunft dieses Bildes ermitteln wollen.“ „Gerade deshalb bin ich hier, Frau Steinhof“, sagte Gol-
lus mit etwas Pathos in der Stimme. „Ich bin hier, weil Sie mir vielleicht einige Hinweise geben können. Es ist schwer, in einem Bereich zu forschen, wo man Laie ist. Man steht einem Getriebe gegenüber, das undurchschaubar scheint.“ „Scheint, Herr Gollus. Sie können sicher sein, es ist nicht so wirr, wie es aussieht. Aber bitte, fragen Sie!“ „Sie sprachen davon, daß nach Piranesis Tod wiederholt Neudrucke herausgegeben worden sind. Kann es sich bei dem Nymphaeum, das Herr Doktor Uhlenhorst erwarb, um einen solchen Neudruck handeln?“ „Nein. Die Platten von Piranesis Frühwerken und den Veduten di Roma sind so stark abgenutzt, daß sie keine brauchbaren Abzüge mehr hergeben.“ „Das heißt also, Doktor Uhlenhorst muß sein Exemplar… Ich will meine Frage anders formulieren: Es gibt Hinweise, daß Rechtsanwalt Uhlenhorst das Bild nicht geschenkt oder geerbt, sondern gegen bares Geld gekauft hat, und zwar hier in unserer Republik. Wer käme da als Verkäufer in Frage? Gibt es Bereiche, die von vornherein ausscheiden?“ Das war etwa die gleiche Frage, die er am Vortag bereits an Dr. Kneisel gerichtet hatte. Allerdings hörte sich Frau Steinhofs Antwort wesentlich anders an. „Eigentlich scheiden nur Museen aus. Ansonsten gibt es auch bei uns einen staatlichen Kunsthandel, es gibt hin und wieder Kunstauktionen, Versteigerungen, es gibt Kunstantiquariate… übrigens habe ich in einem solchen Antiquariat vor etwa einem Jahr zwei Piranesi-Bilder für unser Museum gekauft.“ „Tatsächlich?“ „Ein Glücksfall natürlich. Ja, in einem Berliner Antiqua-
riat. Ein Bekannter hatte sie zufällig entdeckt und rief mich sofort an. Nun, die Exemplare waren einwandfrei, der Preis angemessen…“ „Einhundertfünfzig?“ „Was, einhundertfünfzig Mark? Aber ich bitte Sie! Das Zehnfache mindestens, und da sind Sie gut bedient.“ Gollus mußte ein sehr betroffenes Gesicht gemacht haben, denn Frau Steinhof wiederholte ihre Behauptung mit Nachdruck und fügte dann hinzu: „Wenn das Nymphaeum Ihres Rechtsanwalts nicht qualitätsgemindert oder der Verkäufer ein Laie gewesen ist, der nicht wußte, was er da anbot – dann hat Doktor Uhlenhorst bestimmt zweitausend und mehr dafür bezahlt.“ „Zweitausendzweihundert,“ sagte Gollus nachdenklich. Seine Version, die ohnehin nur auf schwachen Beinen gestanden hatte, schien nun vollends zusammenzubrechen. Wenn Uhlenhorst die Summe von seinem Konto ausschließlich für die Anschaffung des einen Bildes, des Nymphaeums, verwendet hatte – ja, Herrgott, was war denn dann gestohlen worden? Frau Steinhof sah ihn abwartend und etwas erstaunt an. Dann sagte sie: ,,Zweitausendzweihundert, das hört sich reell an. Die zwei Bilder, die ich in Berlin kaufte, waren ein wenig billiger. Sie gehören auch nicht zu den Veduten di Roma, sondern zu einer späteren Schaffensperiode.“ „Aber von den Veduten besitzt Ihr Museum auch Exemplare, nicht wahr? Auch Originale?“ „Eine ganze Anzahl. Auch das Nymphaeum.“ „Ach? Könnte ich es mal sehen?“ Sie nahm den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer. „Steinhof… Frau Abshagen, bringen Sie doch bitte
das Nymphaeum von Piranesi ‘rüber… Wie? – Ja, schon wieder. Danke.“ Sie legte auf. „Einen Augenblick wird es dauern. Wir können unser Gespräch ja inzwischen fortsetzen, wenn Sie wollen.“ „Gern. Sie nannten den Kunsthandel, Auktionen, Antiquariate… Gibt es noch andere Möglichkeiten, in der DDR an Werke von Piranesi heranzukommen?“ „Nun, den privaten Sektor. Ich denke da an Haushaltsauflösungen, überraschende Funde auf Dachböden… und dann natürlich den großen Kreis von Sammlern.“ „Kennen Sie Privatsammler? Ich könnte mir vorstellen, daß solche Leute Verbindung untereinander halten, wie Briefmarkenfreunde, Hundezüchter oder Amateurfunker zum Beispiel.“ „Nicht ganz so. Aber natürlich sind viele miteinander bekannt, und ich kenne auch einige. Und einen…“, sie machte eine kleine Pause und lächelte kokett, „und einen kenne ich sogar ganz genau. Meinen Mann nämlich. Er ist nicht nur ein eifriger Sammler, sondern auch ein großer Freund und Förderer der bildenden Kunst überhaupt.“ Die Auskunft überraschte Gollus. Nicht weil sie sensationell war oder eine neue Spur ahnen ließ, aber sie konnte vielleicht eine weitere Lücke in Uhlenhorsts letzten Lebensstunden ausfüllen. „Wäre es möglich, daß Rechtsanwalt Uhlenhorst sich am elften Mai, vor seiner Rückreise, mit Ihrem Mann getroffen hatte?“ Frau Steinhof fragte zurück: „Wann soll das gewesen sein? Am elften Mai?“ „Ja, am Sonnabend.“ „Nein, das ist nicht möglich. An den Wochenenden sind wir nicht in Belkow. Wir haben hier nur eine Dienstwoh-
nung. Unser eigentliches Zuhause ist in Sperebach bei Berlin.“ „Aber vielleicht kennt Ihr Mann Herrn Doktor Uhlenhorst?“ „Ich werde ihn fragen, wenn Sie es wünschen.“ „Entschuldigen Sie meine Unverfrorenheit – aber könnten Sie ihn nicht gleich fragen? Ich meine, bei ihm anrufen?“ „Ich würde Ihnen gern den Gefallen tun, Herr Gollus, aber mein Mann ist heute unterwegs. Ich sehe ihn erst am Abend, aber dann frage ich ihn bestimmt. Wenn er Herrn Doktor Uhlenhorst kennt, ruft er Sie an. Ich verspreche es Ihnen.“ „Und wenn er ihn nicht kennt, rufen bitte Sie mich an, ja?“ „Einverstanden.“ Er gab ihr seine Telefonnummer, die private und die dienstliche. Dann kam er noch einmal auf den 11. Mai zu sprechen, jenen Sonnabend, an dem sich Dr. Uhlenhorst für einige Stunden nicht in seinem Ferienheim in Kronitz aufgehalten hatte. „Da er sich schon einige Tage zuvor für Piranesi-Bilder Ihres Museums interessiert hatte, sie sich aus Zeitgründen aber nicht ansehen konnte, vermuten wir, dass er die freien Stunden am Sonnabend dazu benutzte. Ist das möglich und läßt es sich nachprüfen, Frau Steinhof?“ Leutnant Gollus wurde nicht enttäuscht. Das Museum sei auch am Sonnabend ganztägig geöffnet, sagte Frau Steinhof, alle Abteilungen seien dann zugänglich, bis auf die Verwaltung selbstverständlich, und im Kupferstichkabinett habe die Kollegin Keßler Aufsicht geführt. Kollegin Keßler war auch jetzt im Haus. „Kannst du mal einen Augenblick zu mir kommen, Hannelore?“
fragte Frau Steinhof am Telefon. Nach kurzer Zeit klopfte es, und sie trat ein. Lederrock, Pullover, braunes Haar, diesmal natürlich nicht unter einem Kopftuch versteckt, die gleichen fröhlichen, etwas frechen Augen, die angenehmen Beine – Gollus’ Augenliebe aus Kronitz. Sie erkannte ihn sofort wieder, blitzte ihn an, und Gollus verstand auch diesen Blick: Das ist also deine Masche, um an mich heranzukommen! Sie schien ihn zu bewundern. Die Bewunderung blieb auch, als Frau Steinhof Gollus mit Namen und Dienstrang vorstellte, sogar ein wenig Selbstgefälligkeit mischte sich darein, als sei sie geschmeichelt. Ein bißchen einfältig, die Kleine, dachte der Leutnant. Doch das täuschte. Hannelore Keßler konnte sehr präzise Auskünfte geben und ließ sich überhaupt nicht von seinem Dienstrang aus der Ruhe bringen. Der Herr auf dem Foto, das Gollus ihr vorlegte, sei am Sonnabend im Kupferstichkabinett gewesen und habe sich Bilder von Piranesi angesehen. „Nur die?“ „Nur die. Es reichte ja auch.“ „Wie meinen Sie das?“ „Er hat sich ziemlich lange mit ihnen beschäftigt. Endlos lange, möchte ich sagen.“ „Wann war das? Am Vor- oder am Nachmittag?“ „Gott, wann ist er gekommen? So gegen elf etwa. Dann arbeitete er ununterbrochen, zwei bis drei Stunden bestimmt.“ „Er arbeitete?“ „Er machte sich Notizen und verglich mit dem Katalog, den er bei sich hatte.“ „Sie meinen sicherlich ein Kunstbuch, einen dicken Wälzer mit grauem Einband: Kunstsammler in Vergangen-
heit und Gegenwart.“ „Wenn ich Katalog sage, meine ich auch Katalog“, entgegnete sie schnippisch. „Ein schmales Bändchen mit rotem Einschlag.“ Und dann, an Frau Steinhof gewandt: „Von der Berliner Ausstellung, weißt du.“ Gollus erfuhr, daß vor einigen Jahren in Berlin eine Piranesi-Ausstellung stattgefunden hatte, zu der es Kataloge zu kaufen gab. Sie enthielten eine Einführung, zahlreiche Abbildungen und ausführliche Erläuterungen. Frau Steinhof reichte ihm ein Exemplar aus ihrem Bücherschrank, fügte aber gleich hinzu, daß sie es nicht entbehren könne. „Und einen solchen Katalog, Fräulein Keßler, hatte der Mann also bei sich. Das wissen Sie genau.“ „Sonst hätte ich es nicht gesagt. Er nahm ihn aus seiner Aktentasche, genau wie seine Schreibutensilien. Ich hielt den Mann für einen Kunstwissenschaftler. Er war völlig in seine Arbeit vertieft und machte – wie soll ich sagen – einen richtig zufriedenen, glücklichen Eindruck. Irgendwie rührend.“ Wo war Uhlenhorsts Katalog geblieben? Leutnant Gollus wußte, daß man ihn weder in der Aktentasche noch im Koffer oder in der Manteltasche des Rechtsanwalts gefunden hatte. „Waren während dieser Zeit noch andere Besucher im Kabinett?“ fragte er. „Ach, der Besuch dort ist immer recht spärlich. Es klekkerte sich so hin.“ „Hat sich Doktor Uhlenhorst mit jemandem getroffen? Hat er mit jemandem gesprochen?“ „Nicht, daß ich wüßte. Aber ich habe ihn ja auch nicht ständig mit Argusaugen beobachtet. Da wäre ich ja irre geworden. Außerdem hat man schließlich zu tun, nicht?“
„Aber den Katalog hat er wieder mitgenommen?“ „Er hat ihn mir nicht geschenkt.“ Frau Steinhof schüttelte mißbilligend den Kopf über die patzigen Antworten ihrer Mitarbeiterin. Und Gollus dachte: Jetzt ist die Kleine enttäuscht, daß ich nicht ihretwegen hier bin. Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf, doch das schien auch nicht zu helfen. Das Telefon läutete. Frau Steinhof meldete sich. „Was? – Aber das ist doch Unsinn… Ja, ich komme.“ Sie wandte sich an Gollus. „Eine kleine Panne, das Nymphaeum muß mal wieder falsch einsortiert worden sein. Ich werde selbst nach dem Rechten sehen.“ Sie hatte nichts dagegen, daß Gollus sie begleitete. Unterwegs erzählte sie, daß das Museum etwa 7000 Handzeichnungen und mehr als 20000 druckgrafische Blätter besitze. „Da sie sehr lichtempfindlich sind, können sie nicht, wie Gemälde oder Plastiken, ständig ausgestellt werden. Sie werden in Kästen und Schränken aufbewahrt, und da kann es schon mal vorkommen, daß ein Blatt in eine falsche Abteilung gerät. Es ist mir sehr peinlich, aber…“ „Ich bitte Sie!“ Gollus wollte eigentlich hinzufügen, daß auch in seinem Arbeitsbereich hin und wieder etwas gesucht würde, aber er unterließ es. Er sah Meyerhoffs Miene vor sich und konnte sich dessen Worte vorstellen, wenn er davon erfuhr: ,Du untergräbst das Ansehen der Polizei in der Öffentlichkeit, mein Lieber!’ Ja, und dann standen sie im Belkower Kupferstichkabinett, einem langen, rechtwinkligen Raum mit zahlreichen großen Karteikästen, mit Schränken und Vitrinen und mehreren Tischen. Gollus sah sich verschiedene Schaukästen an, in denen die Techniken der Druckgrafik darge-
stellt waren, las die Schrifttafeln dazu, schaute aus dem Fenster, ging auf und ab, fragte schließlich, ob er beim Suchen helfen könne, bekam keine Antwort. „Ich begreife das nicht“, Frau Steinhof schien nicht mehr verlegen wie auf dem Weg hierher, sondern ratlos, „ich begreife das wirklich nicht.“ „Ist das Bild verschwunden?“ „Natürlich nicht. Es ist irgendwo reingerutscht. Aber nun blättere mal einer zwanzigtausend Bilder durch!“ „Woher wissen Sie, daß es nicht doch verschwunden ist?“ „Wie sollte es denn verschwunden sein? Das gibt es nicht. Außerdem ist das gleiche Theater erst vor ein paar Tagen passiert. Da hatte sich eine Schulklasse angemeldet und vorher schriftlich mitgeteilt, welche Bilder sie zu sehen wünschte. Darunter befand sich auch das Nymphaeum. Da standen wir plötzlich vor derselben Situation wie jetzt. Wir suchten und fanden das Bild schließlich. Falsch einsortiert. Stimmt’s?“ Sie blickte ihre beiden Mitarbeiterinnen an, die es bestätigten. „Wir haben damals alle mitgesucht“, sagte die kleine Keßler noch. „Zwei Tage nichts als suchen. Zum Mäusemelken, kann ich Ihnen versichern.“ „Und es besteht kein Zweifel, Frau Steinhof? Das Nymphaeum wurde wirklich gefunden?“ „Na, meinen Sie, ich würde sonst… Was denken Sie denn!“ Jetzt war ihre Stimme deutlich ungehalten. „Wir werden das Bild auch diesmal finden. Aber das macht natürlich einige Mühe und braucht seine Zeit. Wenn Sie darauf bestehen… ich meine, wenn das Bild für Ihre Ermittlungen wichtig ist, müssen wir eben eine Nachtschicht einlegen. Jetzt, während der Öffnungszeiten,
können wir nicht suchen.“ Das war deutlich. Das war grantig sogar. Frau Steinhof konnte also doch aus der Rolle fallen. Erste Eindrücke haben mal wieder getäuscht, sagte sich Gollus. Aber eine Nachtschicht wollte er nicht verlangen Und eigentlich hatte er auch kein Recht dazu, denn das Belkower Museum fiel nicht in seinen Dienstbereich. „Heute ist Dienstag“, sagte er. „Morgen nachmittag ist das Museum für Besucher geschlossen, vielleicht…“ Man einigte sich schließlich. „Mittwoch abend spätestens erhalten Sie Bescheid“, versprach Frau Steinhof. „Sollte das Bild bis dahin nicht gefunden sein, schließe ich den Laden. Dann mache ich Generalinventur. Wird sowieso mal Zeit!“ Die Direktorin schien böse auf irgendwas oder irgendwen. Sehr böse sogar, doch selbst dabei fand Gollus sie noch charmant. Die Radierung Nymphaeum in den Licinius-Gärten von Giovanni Battista Piranesi, seit 1909 im Besitz des damals noch Großherzoglichen Museums in Belkow, wurde in den Schränken und Kästen des dortigen Kupferstichkabinetts nicht gefunden. Es gab keine Notiz, daß es ausgeliehen, keinen Hinweis, daß es einem Konservator oder einer technischen Abteilung zugeleitet worden war. Frau Ingelore Steinhof, die Direktorin des Museums, rief am Donnerstagmorgen in Hakenfurt an und gab Gollus die Meldung durch. Sie hielt ihre Stimme sehr im Zaum, doch hin und wieder war ein deutliches Zittern zu spüren, es konnte von unterdrücktem Zorn oder tiefer Enttäuschung herrühren. „Und was werden Sie unternehmen?“ fragte Gollus.
„Weitersuchen, schätze ich.“ „Natürlich weitersuchen. Aber das genügt nicht. Meinen Sie, ich finde mich mit den Zuständen hier ab?“ „Wollen Sie Anzeige erstatten?“ „Was für eine Anzeige? Eine Vermißtenmeldung vielleicht? Gesucht wird eine Radierung von Piranesi, Größe sechsundvierzig-Komma-fünf mal neunundsechzigKomma-neun Zentimeter. Hinweise werden auf Wunsch vertraulich behandelt.“ „Aber müssen Sie nicht Ihre vorgesetzte Dienststelle benachrichtigen?“ „Das überlassen Sie bitte mir! Für solche Fälle gibt es exakte Vorschriften, die ich strikt einhalten werde. Da können Sie unbesorgt sein!“ Einige Sekunden war es still in der Leitung. Dann sagte sie leise: „Bitte, haben Sie Geduld. Machen Sie nicht die Pferde scheu und uns hier nicht nervös. Mir schwirrt der Kopf auch ohne Polizei, das können Sie mir glauben.“ Frau Steinhof wechselte plötzlich Thema und Ton und richtete von ihrem Mann aus, daß ihm ein Dr. Uhlenhorst nicht bekannt sei. Ob Gollus mit seinen Ermittlungen inzwischen weitergekommen war, schien sie nicht zu interessieren. Zumindest stellte sie keine Fragen, aber vielleicht war sie überzeugt, daß sie am Telefon sowieso keine Auskunft erhalten würde. Allerdings blieb sie auch bei den üblichen Abschieds- und Dankesfloskeln zurückhaltend. Auf Gollus’ Bemerkung, daß man sicherlich noch einige Male miteinander sprechen werde, reagierte sie sogar ausgesprochen kühl. „Soweit Sie unsere Hilfe benötigen – gern. Sollte sich jedoch in unserer Angelegenheit etwas Gesetzwidriges herausstellen, ist das wohl in erster Linie Sache der Belkower Behörden. Ich kann mir nicht den-
ken, daß ausgerechnet Hakenfurt dafür zuständig sein soll, Herr Leutnant.“ Und damit endete das Gespräch. Klaus Gollus legte den Hörer auf und berichtete. Er stand am Fenster, hatte das Jackett abgelegt und die Ärmelmanschetten umgeschlagen. Der Krawattenknoten war gelockert und etwas herabgezogen. Das sah nach Angabe aus, und er wußte das auch, aber ihm ging es um die Bequemlichkeit. Annegret Albrecht, die seit zwei Tagen der Ermittlungsgruppe angehörte, saß an Meyerhoffs Schreibtisch. Der Hauptmann hatte ihr diesen Platz zugewiesen, weil er sich als Leiter der Gruppe RolandApotheke die meiste Zeit bei den dort eingesetzten Kriminalisten aufhalten mußte. Auf die Nachricht aus Belkow war er aber ebenfalls gespannt, und er wollte sofort zu ihnen kommen, wenn sie vorlag. Es war gegen zehn Uhr. Die Fensterflügel standen weit offen, und von draußen drang der übliche Straßenlärm herein. Das Büro lag im ersten Stock, zur Hauptstraße hinaus, so daß die Kriminalisten weder von Autohupen noch vom Gequietsche der altmodischen Straßenbahn verschont blieben. Das Wetter war herrlich. Klaus Gollus reckte sich und sah seiner Kollegin zu, die für Meyerhoff den obligaten Kaffee zu filtern begann. „Na, was meinst du?“ fragte er dann. „Nichts vorläufig. Mach erst ‘ne Notiz über das Telefonat. Dann bitten wir den Hauptmann herüber. Rationell arbeiten, Kläuschen.“ Sie hatte ein helles, schüchternes Stimmchen und ein Lächeln, das um Verzeihung zu bitten schien. Überhaupt ging etwas Hilfloses, Schutzbedürftiges von ihr aus; die kleine, zierliche Gestalt mit Wespentaille wirkte zerbrechlich, die Bewegungen waren behutsam und vorsich-
tig. Annegret Albrecht erinnerte an ein junges Mädchen mit wenig Selbstvertrauen, das ein ständiges „Gestatten Sie“ und „Wenn ich darf“ bereithielt. Klaus Gollus wußte, daß dieser Eindruck nur zu einem Teil der Wirklichkeit entsprach. Sicherlich hatte Annegret Albrecht eine andere Erziehung genossen als er oder Meyerhoff. Ihr Vater war ein auch international anerkannter Archäologe; er pflegte noch heute einen Lebensstil, der als Ganzes zwar antiquiert und überholt war, im einzelnen jedoch manches von Wert überlieferte. Annegret nun behielt viele dieser anerzogenen Eigenschaften nicht nur bei, sondern kultivierte sie regelrecht, was ohne Zweifel aus Klugheit geschah. Die Sechsundzwanzigjährige hatte die Erfahrung gemacht, daß sie mit liebenswürdiger Höflichkeit und einer mädchenhaften Zurückhaltung mehr Respekt einflößte, als wenn sie mit kumpelhafter Schnoddrigkeit vorgegangen wäre. Solange es irgendwie möglich war, blieb sie bei dieser Haltung. Erst wenn nichts mehr half, griff sie zu anderen Mitteln: zu Schärfe und Härte im Beruf, zu Kratzbürstigkeit oder überlegener Ironie im persönlichen Bereich – letzteres hatte Gollus vor einem Jahr am eigenen Leib zu spüren bekommen, er konnte ein Lied davon singen und war gewarnt. Der Leutnant setzte sich an den Maschinentisch und tippte den Text des Gesprächs herunter, das er eben mit Frau Steinhof geführt hatte. Es ging schnell. Gollus war nicht der Mann, der über Unbequemlichkeiten oder zusätzliche Arbeit lange nörgelte. Auch wenn bestimmte Dinge nicht zu seinem Berufsbild gehörten – wie das Schreibmaschineschreiben – , lamentierte er nicht, sondern suchte nach Änderungen. Da er den Zustand nicht hatte ändern kön-
nen – Sekretärinnen waren auch bei der Kriminalpolizei rar – , änderte er sich: Er hatte einen Kursus belegt und beherrschte nun das Zehnfingersystem aus dem Effeff. Es gelang Gollus auch, sich voll auf den Text zu konzentrieren und trotzdem zwischendurch einige Worte mit Annegret Albrecht zu wechseln. Eigentlich wiederholten sie Bekanntes, das sie neu durchdacht hatten, oder sie gaben einander Informationen. Während Gollus’ Aufenthalt in Kronitz und Belkow war das freie Fach in Uhlenhorsts Wohnzimmerschrank nach Spuren untersucht worden, so wie Staatsanwalt Hederle vorgeschlagen hatte. Es gab keine Anzeichen, daß darin Bilder oder Mappen aufbewahrt worden waren, zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Das war allerdings ein Ergebnis, das nichts Endgültiges aussagte, denn als Zeitspanne war ohnehin nur etwa ein Monat in Frage gekommen. In Zusammenhang mit Frau Steinhofs Auskunft über den vermutlichen Preis des Nymphaeums bekam das Ergebnis ein neues Gewicht. „Wenn Doktor Uhlenhorst tatsächlich die zweitausendzweihundert Mark für dieses eine Bild brauchte“, sagte Gollus nachdenklich, „müßte er damit das verlockende Angebot gemeint haben, das er Kruse-Kleeberg gegenüber erwähnt hat. Aber unter einem verlockenden Angebot verstehe ich eigentlich mehr.“ „Ist es nicht möglich, Klaus, daß Uhlenhorst das Nymphaeum erwarb und mit weiteren Angeboten rechnete?“ „Die dann ausblieben?“ „Die dann ausbleiben mußten, weil es nicht mehr zum Geschäftsabschluß kam. Denk an das Telegramm: Kaufe Lith. und so weiter.“
„Aber Piranesi hat nur Radierungen gemacht.“ „Das weiß ich. Trotzdem.“ „Selbst wenn du recht hast, erklärt das noch nicht den Einbruch – es sei denn, Uhlenhorst hat seine Neuerwerbungen von der Reise mitgebracht, was der Täter gewußt haben müßte.“ Der Grafiker Kruse-Kleeberg hatte die Preisangabe von Frau Steinhof übrigens bestätigt. Wie Dr. Kneisel auf zweihundert Mark gekommen war, blieb ein Rätsel. Gollus wollte den Antiquitätenhändler gelegentlich danach fragen, wartete aber, bis sich ein günstiger Anlaß bot. Auf jeden Fall hatte sich wieder einmal gezeigt, daß man einseitigen Auskünften nicht blindlings vertrauen durfte und sie keineswegs zu wilden Spekulationen benutzen sollte. Meyerhoff hatte sich darüber lang und breit ausgelassen, in Annegret Albrechts Beisein noch dazu, was wirklich nicht nötig gewesen wäre, fand Gollus. Die Strichzeichnung, die bisher über dem Bett des Rechtsanwalts gehangen hatte, Edelkitsch laut Auskunft von Wilhelm Kneisel, war nicht gefunden worden. Man hatte buchstäblich jedes Stück der Wohnung hin und her gewendet und sowohl Frau Marzahn als auch Uhlenhorst junior hinzugezogen, aber alles war ohne Erfolg geblieben. Eigentlich hätte Staatsanwalt Hederle die Wohnung nunmehr freigeben können, aber er hatte sich die Entscheidung noch vorbehalten. Siegfried Uhlenhorst war inzwischen nach Berlin zurückgefahren, er konnte seine Mannschaft nicht länger allein lassen, denn wichtige Punktspiele standen bevor. Mit der Post war seit Uhlenhorsts Tod nur ein Brief vom Kulturbund gekommen. Darin wurde sein Aufnahmeantrag bestätigt, den er am fünfzehnten April, also unmit-
telbar vor seinem Urlaubsantritt, gestellt hatte. Uhlenhorst war Mitglied des „Freundeskreises Bildende Kunst“ geworden, ein Beweis vielleicht, daß es ihm mit seinen Neigungen sehr ernst gewesen war, ernster wohl, als seine Skat- und Schachpartner angenommen hatten. Ob sich in dieser Passion des Rechtsanwalts, die immer deutlichere Konturen bekam, wirklich eine Erklärung für den Einbruch und für Uhlenhorsts Tod finden ließ – das begann auch Klaus Gollus sich immer mehr zu fragen. Obwohl er selbst diesen Hintergrund aufgespürt hatte, stellten sich Zweifel bei ihm ein. „Meyerhoff war ja von Anfang an anderer Meinung“, sagte er zu seiner Kollegin. „Zuerst hielt ich das bei ihm für eine spontane, rein gefühlsmäßige Aversion. Du kennst doch seine Meinung über Kunst und Künstler.“ Annegret Albrecht lachte. „Und ob ich sie kenne! Damals, als wir den Fall Keilz bearbeiteten, hat er sie unmißverständlich zum besten gegeben. Diese ,traumselige Künstlerselbstgefälligkeit hängt mir zum Halse ‘raus’ und so.“ „Ja. Das Dämonische, Lyrische, Exaltierte… die Sache schmeckte unserem Hauptmann ganz und gar nicht.“ „Um so verwunderlicher ist es, daß er jetzt ständig mit diesem Kruse-Kleeberg zusammenhängt. Ob er einer neuen Spur nachgeht?“ „Glaube ich nicht. Erstens hätte er uns davon unterrichtet, und zweitens büffelt er auch das Buch über Piranesi wie ein Besessener durch. Du hast ja erlebt, wie er mit seinem neuen Wissen protzte.“ „Das war doch kein Protzen, Klaus, er hat dich korrigiert.“ „Auf einem Gebiet, das völlig nebensächlich ist! Ob Pi-
ranesis Radierungen eine Auflagenhöhe von einhundertfünfzig bis zweihundert Stück hatten, wie mir Frau Steinhof sagte, oder ob von manchen Platten sogar viertausend Stück gedruckt wurden, ist doch schnuppe. Für unsere Ermittlungen hat das überhaupt keinen praktischen Wert.“ „Ihm ging es darum, uns zur Gewissenhaftigkeit zu erziehen.“ „Schön, daß du ,uns’ sagst. Um Rechthaberei ging es dem Alten wieder mal, um nichts anderes.“ Wenn Klaus Gollus seinen gleichaltrigen Kollegen „den Alten“ nannte, lag immer ein Ausdruck von Gutmütigkeit auf seinem Gesicht. Er wollte damit die Kritik an seinem Vorgesetzten relativieren, ihr die Schärfe nehmen. Das starke Interesse, das Meyerhoff neuerdings künstlerischen Fragen entgegenbrachte, war allerdings auffällig. Nicht nur, daß er den Grafiker Kruse-Kleeberg wiederholt in dessen Atelier besucht hatte – für den nächsten Sonnabend hatte Meyerhoff das Ehepaar Kruse-Kleeberg sogar zu sich nach Hause eingeladen, wie Annegret Albrecht erzählte. „Ich war dabei, als er telefonierte. Zu einem kleinen Umtrunk, hat Genosse Meyerhoff gesagt. Schon die Wortwahl spricht Bände, finde ich.“ Gollus schüttelte den Kopf. „Ich staune, ich staune. Aber bestimmt steckt etwas dahinter. Meyerhoff schließt so schnell keine Bekanntschaften – es sei denn, er verfolgt damit einen Zweck. Einen berufsbedingten Zweck, wohlgemerkt.“ Vielleicht gehörte das einfach zur Arbeitsweise des Hauptmanns, sagten sie sich. Und sicherlich spielte auch Meyerhoffs Ehrgeiz eine Rolle. Er vertrug es nun einmal schlecht, wegen Unkenntnis von Bereichen ausgeschlos-
sen zu sein, in denen andere sich auskannten. Und da Annegret Albrecht sozusagen von Hause aus und Gollus durch sein Hintergrundsuchen über einige Aspekte, die den Fall Uhlenhorst berührten, besser informiert waren als er, konnten solche Empfindungen durchaus mitgewirkt haben. „Und doch wäre es schade, wenn es dabei bliebe“, sagte Annegret Albrecht. „Immer nur Dienst und Dienst. Und in der Freizeit? Fragen der Ballistik, Probleme der Daktyloskopie, seit einigen Monaten nun Psychologie der Täterpersönlichkeit. Auch wieder nur Dienst. Vielleicht kommt er nun, weil er sich mit Kunst beschäftigen muß, zur Kunst selbst. Zu wünschen wäre es.“ „Im Fall Keilz mußte Meyerhoff sich auch mit Kunst beschäftigen…“ „Das war etwas anderes. Keilz war ein Betrüger, und der Genosse Meyerhoff hatte den Auftrag, ihn zu überführen. Aber diesmal: Kruse-Kleeberg – ein Künstler, Doktor Uhlenhorst – ein Sammler… das sind doch ganz andere Bedingungen.’’ „Weiß man’s?“ „Na, hör mal!“ „Aber Meyerhoff als Kunstverehrer? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.“ In diesem Augenblick betrat der Hauptmann das Zimmer. Er grüßte mit einer Miene, als trüge er die ganze Welt auf seinen Schultern. Und wie er die beiden am Schreibtisch sitzenden Kollegen ansah, so ein wenig von oben herab, war er wieder einmal ganz Autorität, war er ganz der Vorgesetzte, der anweisen mußte und Meldungen entgegenzunehmen hatte. Für Annegret Albrecht waren solche Situationen immer
peinlich. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß ihre Anwesenheit nicht wenig zu so offensichtlicher Hervorkehrung des Unterstellungsverhältnisses beitrug; sie fühle sich stets verpflichtet, diese unechte Spannung zu lockern. Sie mochte Meyerhoff sehr, sie bewunderte seine Tüchtigkeit, sein Können, dieses Unbeugsame an ihm. Aber sie fühlte auch, und zwar deutlicher als Klaus Gollus, daß in Meyerhoff etwas Unfreies, Gezwungenes steckte, das er ständig zu verdecken versuchte: mal durch übertriebene Jovialität, dann wieder durch eine strenge, durch nichts gerechtfertigte Unnahbarkeit. So rochierte er fortlaufend von einem Extrem zum anderen, ohne wirklich er selbst zu sein. Annegret Albrecht war überzeugt, daß er Menschen in seiner Umgebung brauchte, die ihn nicht immer so verdammt ernst nahmen, die nicht jede seiner Haltungen akzeptierten, die ihn gelegentlich sogar einmal auslachten – aber dazu hatte natürlich auch sie keinen Mut. Zumindest aber wollte sie ihre bewährten Mittel anwenden. Und so lächelte sie ihn fröhlich an und sagte liebenswürdig: „Sie lockt bestimmt der Kaffeeduft her, Genosse Hauptmann. Er ist gerade fertig geworden, und wir wollten Sie sowieso herüberbitten.“ Gollus hatte währenddessen das Blatt aus der Maschine gespannt. „Frau Steinhof hat angerufen. Das Bild fehlt nach wie vor, die Stimmung dort scheint miserabel zu sein.“ Meyerhoff las die Aktennotiz, stellte sich dann an das Fenster wie vorher Gollus, reckte sich aber nicht und rührte auch den Kaffee nicht an. „Wie ihr wißt, habe ich Herrn Kruse-Kleeberg vorgestern Uhlenhorsts Nymphaeum gezeigt. Heute hat er mich zu Hause angerufen und darum gebeten, daß er das Bild
noch einmal sehen kann. Ihm sei etwas aufgefallen, worüber er sich Gewißheit verschaffen wolle. Er ist sich jetzt ganz sicher: Auf der Rückseite des Bildes ist eine Schabstelle vorhanden, offenbar ist dort der Eigentumsstempel des vorherigen Besitzers entfernt worden. Und zwar fachmännisch und mit äußerster Akribie. Wir müssen das Bild nach Berlin einsenden, damit es dort mit technischen Mitteln untersucht wird. Ich wollte das eigentlich sofort veranlassen. Da aber nun die Nachricht aus Belkow vorliegt, müssen wir es der Museumsleitung wenigstens zuvor zeigen. Wenn sie es als ihr eigenes erkennt, sehen wir weiter. Deshalb fahrt ihr morgen früh…“ „Aber entschuldige mal, wie sollte denn das Bild von Belkow nach Hakenfurt in die Wohnung…“ „Bitte, Klaus, stell jetzt keine Fragen. Ich habe gesagt: Wenn die Museumsleitung es als ihr eigenes erkennt, sehen wir weiter. Das genügt wohl. Wir treffen uns morgen um acht bei Staatsanwalt Hederle. Dort erhaltet ihr genaue Anweisungen. So. Und den Kaffee nehme ich mit, schönen Dank, Annegret.“ Meyerhoff balancierte mit der Tasse in der Hand um die Schreibtische, öffnete die Tür mit dem Ellenbogen, blieb dann aber plötzlich stehen. „Noch etwas, die Sache mit Peter Brux und seinem Mädchen, ihr wißt schon, Kirschplantage und so, da sind wir ein ganzes Stück weitergekommen… Ich schlage vor, wir essen zusammen, da erzähle ich euch alles. Sagen wir, um eins in der Kantine, einverstanden?“ Die beiden sahen sich an, als sie allein waren. „Jetzt tut’s ihm schon wieder leid“, sagte Gollus. „Ich glaube, manchmal kann er sich selbst nicht leiden, Klaus.“
4. So klärt sich eines nach dem anderen, hatte Meyerhoff mehrmals gesagt. Zu Klaus Gollus am Telefon, zu Staatsanwalt Hederle etwas später. Das war am Dienstagabend gewesen. Nun, knapp zwei Tage danach, wiederholte er den Satz abermals. Aber nur für sich und auch ohne rechte Überzeugung. Denn was sich bisher geklärt hatte, war eigentlich nur Beiwerk gewesen, dem Kern des Verbrechens hatten sie sich nur wenig genähert. Hauptmann Meyerhoff wollte sich nichts vormachen. Das schlimmste ist, wenn Scheinerfolge in Nebensachen den Mißerfolg in der Hauptsache zudecken, sagte er immer. Sie wußten manches über das Opfer, sie wußten etwas über die Tat, über Täter und Motiv wußten sie nichts. So schätzte er den Stand nach vier Tagen Ermittlungsarbeit ein. Am Nachmittag des 11. Mai, einem Sonnabend, hatte sich Dr. Uhlenhorst in Kronitz zum Bahnhof fahren lassen. Einige Stunden später war er in Hakenfurt, zweihundert Kilometer entfernt, mit einem bisher Unbekannten zusammengetroffen, der heimlich in seine Wohnung eingedrungen war. Diese Begegnung hatte mit dem Tod des Rechtsanwalts geendet. Von diesen nüchternen Fakten mußte man ausgehen. Der einzige, der Dr. Uhlenhorst in Hakenfurt am 11. Mai gesehen hatte, war Peter Brux gewesen, der ein paar Tage zuvor aus der Haftanstalt entlassen worden war. Abends, „so zwischen neune und zehne“, hatte er zusammen mit einem Mädchen den Rechtsanwalt vor dessen Haus getroffen und einen Gruß mit ihm gewechselt. Diese Auskunft konnte nunmehr als wahr angesehen werden, denn der Junge hatte seine Betty gefunden. Sie hieß Schauber und wohnte auch in Hakenfurt. Sie
war nach jener Nacht in der Scheune zu einer Freundin gefahren, die ihren Eltern bestätigen sollte, daß sie bei ihr übernachtet hatte. „Meine alten Herrschaften sind zwar prima, in diesen Dingen aber ein bißchen zurückgeblieben“, sagte die Sechzehnjährige. Sie hatte Peter Brux’ Auskünfte bestätigt, aber zusätzlich etwas beobachtet, das vielleicht wichtig für die weitere Ermittlung sein konnte. Im Erlenstieg, einer kleinen Nebenstraße des Heiderings und etwa zweihundert Meter von Uhlenhorsts Wohnung entfernt, habe ein Auto gestanden, erzählte Betty Schauber. Es sei ihr aufgefallen, weil der Wagen mit Standlicht parkte, obwohl nur wenige Schritte weiter eine Laterne brannte. Von ihrem Vater wisse sie, dass ein vernünftiger Fahrer stets die Batterie schone, wenn eine andere Lichtquelle zur Verfügung stünde. Nun reichte ein solcher Hinweis natürlich nicht aus, um sofort große Hoffnungen an ihn zu knüpfen. Schließlich konnte jeder seinen Wagen abstellen, wo und wie er es für richtig hielt, wenn nur die Verkehrsvorschriften eingehalten wurden. Aber die anschließenden Recherchen, die von Meyerhoff eingeleitet worden waren, das bekannte Trepp-auf-Trepp-ab also, hatten dann doch einige Ergänzungen gebracht: So besaß keiner der Anwohner des nur aus wenigen Häusern bestehenden Erlenstiegs ein Kraftfahrzeug, und niemand war am Abend des 11. Mai von einem Autofahrer besucht worden. Eine Ärztin, die sich bei einem Hausbesuch verfahren hatte und im Erlenstieg wenden mußte, sagte aus, daß ihr dort ebenfalls ein parkendes Auto aufgefallen sei. Ihre Zeitangabe deckte sich mit der von Betty Schauber, so daß Meyerhoff keinen Grund sah, an der Beobachtung des jungen Mäd-
chens zu zweifeln. Betty hatte sogar die ungefähre Klasse des Wagens angeben können. Um einen Kleinwagen habe es sich nicht gehandelt, davon war sie überzeugt. Wartburg, Wolga, Shiguli – diese Größenordnung etwa käme in Frage. Sie war überhaupt ziemlich beschlagen gewesen, die kleine Schauber. Meyerhoff mußte jetzt noch schmunzeln, wenn er an das Gespräch mit ihr dachte. Er hatte es doch tatsächlich nicht fertiggebracht, die Sechzehnjährige mit Du anzureden wie den um zwei Jahre älteren Peter Brux. Wie sie hereingekommen war – mein Gott, da konnte er einfach nicht anders! Ihr Selbstvertrauen schien aus allen Nähten zu platzen. Und so ganz ohne Gehabe war sie. „Ich gebe zu, es ging ein bißchen schnell mit Peter. Aber er hat mir sofort gefallen. Wenn das nicht ausreicht, möchte ich wissen, was!“ Und keine Spur von Ängstlichkeit war zu entdecken. Als Meyerhoff andeutete, daß er im Hinblick auf ihre Eltern so diskret wie möglich vorgehen würde, sagte sie: „Davon bin ich überzeugt, Herr Hauptmann. Warum sollten Sie mir Unannehmlichkeiten machen wollen? Ich mache Ihnen ja auch keine.“ Und dann, als Krönung gewissermaßen: „Halten wir es doch so: Sie sorgen dafür, daß meine Eltern meinetwegen nicht ins Gerede kommen, und ich sorge dafür, daß Peter nicht mehr rückfällig wird. Einverstanden?“ Eine Sechzehnjährige. Ein Früchtchen vielleicht, aber eines mit Format. Und hatte nicht auch ihr Freund Format bewiesen? Erzählte ihr schon am ersten Tag der Bekanntschaft von seiner Haft. Oder hatte er damit nur angeben wollen? Die Suche nach dem Fahrzeug war inzwischen eingeleitet worden. Es konnte dem Täter gehören,
jener Person also, die in Uhlenhorsts Wohnung eingestiegen war. Genausogut konnte aber auch der Rechtsanwalt damit nach Hause gebracht worden sein, denn es gab Anhaltspunkte, daß Uhlenhorst vielleicht gar nicht die Eisenbahn benutzt hatte. Bei der Obduktion der Leiche hatte man nämlich festgestellt, daß Dr. Uhlenhorst nur wenige Stunden vor seinem Tod ein Fleischgericht gegessen hatte, das von den Chemikern als saftiges, fettreiches Eisbein identifiziert worden war. Die Angina, wegen der Uhlenhorst seinen Urlaub abgebrochen hatte, konnte demnach nicht sehr schmerzhaft gewesen sein. Eigentlich ergab sich das auch daraus, daß der Rechtsanwalt die Medikamente, die ihm am Donnerstag in Kronitz verschrieben worden waren, nicht abgeholt hatte; er trug die Rezepte noch bei sich, als man ihn tot auffand. Aber nicht das war entscheidend, sondern im Speisewagen des D-Zuges von Stralsund nach Berlin war am 11. Mai kein Eisbein serviert worden. Man hatte die Reisenden mit der „abwechslungsreichen“ Standardkost, Knacker mit Salat’ und Rührei mit Salat, verwöhnt. Wo also hatte Dr. Uhlenhorst gegessen? War er überhaupt in Kronitz in den Zug gestiegen? Meyerhoff wollte Gollus und die Genossin Albrecht beauftragen, auch darüber Nachforschungen anzustellen. Wenn der Rechtsanwalt ein anderes Verkehrsmittel als die Eisenbahn benutzt hatte, wären alle Zeitberechnungen, die der Hauptmann mit Hilfe des Fahrplans angestellt hatte, umsonst gewesen. Auch Uhlenhorsts Telegramm an seinen Sohn und der darin vorgeschlagene Treff auf dem Berliner Bahnhof Lichtenberg mußten dann unter einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Auf jeden Fall, sagte sich Hauptmann Meyerhoff, wurde
es Zeit, intensiver als bisher diesen Fragen nachzugehen. Daß Dr. Uhlenhorst begonnen hatte, sich Gemälde oder Grafiken zuzulegen, wußte man. Daß er in letzter Zeit nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Mühe dafür aufgebracht hatte, war ebenfalls erwiesen. Und man durfte diese Dinge auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Aber wenn man sich einseitig auf sie konzentrierte, würde dies die weitere Ermittlung beeinträchtigen, Meyerhoff spürte es an sich selbst. Die ihm so fremde Welt der Kunst hatte etwas Faszinierendes bekommen. Er hätte nie gedacht, daß schon die Begegnung mit einem Mann wie Kruse-Kleeberg oder die Beschäftigung mit dem künstlerischen Werk eines Piranesi ausreichten, ihn, den hartgesottenen, nüchternen, im Alltag fest verwurzelten Tatsachenmenschen, in eine ganz andere Sphäre zu versetzen. Was als berufliche Notwendigkeit begonnen hatte und aus Ehrgeiz fortgesetzt wurde, war drauf und dran, in echte Begeisterung umzuschlagen. Davor aber scheute Meyerhoff zurück, denn Begeisterung dieser Art, so meinte er, trübe den Blick. Er hatte deshalb Kruse-Kleebergs Entdeckung beinahe als Erleichterung empfunden. Die Schabstelle auf der Rückseite von Uhlenhorsts Nymphaeum war wie ein Signal oder eine Weiche, die zurückführte ins Reich der Kriminalitätsbekämpfung, wo er sich zu Hause fühlte. Meyerhoff sagte sich, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei und das geweckte Kunstinteresse bestimmt Früchte tragen werde – vorerst aber galt es, mit aller Konsequenz dieses mysteriöse Verbrechen aufzuklären. Das war auch der Grund, warum er seine beiden Mitarbeiter, Gollus und Annegret Albrecht, nach Belkow und Kronitz schickte. Es ging nicht an, daß man ständig zwi-
schen Mecklenburg und Hakenfurt hin und her pendelte, nur um irgendeinem bisher nicht aufgetauchten Verdacht, einer Vermutung oder gar einer fixen Idee nachzujagen. Die Entfernung war zu groß und der Zeitaufwand nicht vertretbar. Gab es Hinweise, daß das Verbrechen an Dr. Uhlenhorst in irgendeiner Weise mit seinen Aufenthalten in Kronitz, Belkow oder Ahrenshoop in Verbindung stand – ja oder nein? Das sollten die beiden Genossen herausbekommen. Gegen zehn Uhr am nächsten Morgen fuhren sie los. In der Besprechung bei Staatsanwalt Hederle war ihr Auftrag zwar scharf umrissen, die Durchführung aber weitgehend ihnen überlassen worden. Meyerhoff hatte sich natürlich nicht verkneifen können, ihnen einige Verhaltensregeln mit auf den Weg zu geben, aber jetzt dachten sie einfach nicht daran. Daß der Hauptmann einen Dienstwagen für sie beantragt und bekommen hatte, fand Klaus Gollus „schwer in Ordnung“. Nicht nur der größeren Beweglichkeit wegen, sondern auch, weil er leidenschaftlich gern hinter dem Steuer saß. Er fuhr, als gelte es, den Großen Preis von Monte Carlo zu gewinnen. Nicht so schnell allerdings und wohl auch nicht so gekonnt, aber die Miene eines erfahrenen Rallyehasen aufzusetzen – das gelang ihm schon recht gut. Annegret Albrecht versuchte mehrmals, ein Gespräch über ihren Auftrag in Gang zu bringen, aber Gollus hatte wenig Lust zum Fachsimpeln. Er nickte, sagte ja oder nein, was gerade paßte, lobte auch hin und wieder ihre kluge Gedankenführung, aber ganz bei der Sache war er nicht. Schließlich berief er sich auf eine Anweisung von Meyerhoff, um nicht mehr reden zu müs-
sen. „Erst wenn Frau Steinhof in Belkow das Bild, das wir wohlverpackt auf dem Rücksitz liegen haben, als Museumseigentum identifiziert, stellen wir Versionen auf! Du solltest mehr Respekt vor den Befehlen deines Chefs haben.“ Versionen hatte Annegret auch nicht aufstellen wollen. Ihr ging es darum, über unverfängliche Sachen zu sprechen, um ein bestimmtes Gesprächsthema zu vermeiden. Noch immer stand ein Vorfall vom vergangenen Jahr zwischen ihnen, der ihr Verhältnis belastete und eine gewisse Unsicherheit schuf. Nach einem Polizeisportfest, an dem sie beide teilgenommen hatten, war Klaus Gollus ein bißchen – ein ziemliches bißchen sogar – ausfallend geworden, unbeherrscht und zudringlich. Mit liebenswürdiger Höflichkeit oder überlegener Ironie war da nichts zu machen gewesen. Sie mußte zu rabiateren Mitteln greifen und sich als kratzbürstiges Biest erweisen, wie er sie wütend genannt hatte. In den Wochen danach war er ihr einfach aus dem Weg gegangen. Vielleicht fühlte er sich gekränkt und in seiner Männlichkeit verletzt, vielleicht schämte er sich. Ein klärendes Wort von beiden wäre sicherlich angebracht gewesen, denn im Grunde mochte Annegret Albrecht diesen Mann, aber natürlich zeigte sie das nicht. Sie hatten sich dann ein wenig aus den Augen verloren, weil ihre Aufgabengebiete unterschiedlicher Art waren. Erst der Fall Uhlenhorst brachte sie wieder zusammen, enger als zuvor, und bei dieser Fahrt zu zweit bot sich nun vielleicht eine Möglichkeit, die Fronten endgültig zu klären. Annegret wünschte, daß Gollus sich entschuldigte, wünschte es andererseits aber auch nicht, um ihm eine
Demütigung zu ersparen. Da sie also selbst nicht wußte, wie eine solche Klärung aussehen könnte, flehte sie im Innern, daß er das unerquickliche Thema nicht anschneiden möge. Ihre Sorge war unbegründet. Klaus Gollus bereute sein damaliges Verhalten viel zu sehr, als daß er darauf zurückgekommen wäre. Er akzeptierte Annegrets Reaktion, er hatte sie eigentlich schon an jenem Abend akzeptiert, und sein brummiges oder gar beleidigtes Getue danach war tatsächlich nur Ausdruck eigener Scham gewesen. Sie sprachen also weder über Vergangenes noch über ihren Dienst, aber sie brauchten auch keine billige Konversation zu führen. Je mehr sie sich dem Mecklenburger Seengebiet näherten, desto stärker bestimmten Natur und Umgebung ihr Gespräch. Sie brachen in Bewunderungsrufe aus, und besonders Annegret Albrecht sagte immer wieder: „Das kenne ich, hier war ich schon mal!“ Sie begann dann ein buntes Bild der Vergangenheit zu malen und das Land zu bevölkern: mit keltischen und slawischen Stammeshorden, sie entdeckte mordende Schweden und plündernde Kosaken, wischte sie weg, sah Herzöge, Fürsten, Heerführer… „Mensch, hast du ‘ne Phantasie! Was soll das erst werden, wenn wir nach Rom oder Griechenland fahren?“ „Bin eben Vaters Tochter.“ „Ich beneide dich. Meiner hat mir beigebracht, wie man ‘nen Wasserhahn abdichtet.“ „Das kann ich auch.“ „Wirklich?“ „UTP, mein Lieber.“ Sie waren in eine Fahrzeugkolonne der NVA geraten, und Gollus mußte das Tempo stark drosseln. „Wollte
dein Vater nicht, daß du auch Altertumskunde oder so was studierst?“ „Er stellte mich vor die Wahl: Entweder du belegst selbst dieses Fachgebiet, oder du heiratest später einen Archäologen.“ „Ach du lieber Himmel!“ Gollus sah sie zweifelnd an. „Wirklich?“ „Wenn ich es dir sage!“ Annegret Albrecht fühlte sich frei und ungezwungen wie selten in den letzten Tagen. Ihre Befürchtungen, die Fahrt könnte einen peinlichen Verlauf nehmen, waren wie weggeblasen. Manchmal hatte sie den Wunsch, etwas Burschikoses oder gar Freches zu sagen, nur um ihre gute Laune zu zeigen und ihre Freude, daß Gollus sich vernünftig benahm, wie sie es bezeichnete. Kurz vor Belkow konnten sie endlich aus dem Armeepulk ausscheren und die Geschwindigkeit wieder erhöhen. Sie kamen eine halbe Stunde später als vorgesehen an und mußten sich beeilen. Im „Altdeutschen Hof“ hatte man zwei Zimmer für sie bestellt. Sie legten ihre Sachen ab, erfrischten sich und nahmen im Hotelrestaurant schnell einen kleinen Imbiß zu sich. Pünktlich um vierzehn Uhr betraten sie das Volkspolizeikreisamt und ließen sich bei der Abteilung K melden, so wie es vereinbart worden war. Sie wurden von einem Leutnant Claasen empfangen, der sich entschuldigte, daß ihr eigentlicher Gesprächspartner, der Genosse Wolf, plötzlich erkrankt sei und sie mit ihm vorliebnehmen müßten. Das war mächtig untertrieben, wie sich bald herausstellte, denn Claasen verfügte über genaue Sachkenntnis und zeigte sich bestens informiert. Ein Mann Anfang Vierzig etwa, mit grauen Schläfen und
Fältchen auf der Stirn. Er hatte ein schmales und sehr knochiges Gesicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und ihre Farbe war nicht zu erkennen. Claasen machte einen müden Eindruck, der so völlig im Gegensatz zu der Lebendigkeit stand, mit der er sie begrüßt hatte. Er bat die beiden Kriminalisten, Platz zu nehmen, und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, der sehr unaufgeräumt aussah. Fast unwillig wischte er einen Wust von Papieren zur Seite, stützte seine Ellenbogen auf die frei gemachte Stelle und hörte zu. Gollus sprach frei von der Leber weg, so wie es unter Genossen üblich war. Er verschwieg weder Fehlschlüsse noch Irrwege der bisherigen Ermittlung, nannte Vermutung eben Vermutung und sprach offen aus, was sie noch nicht wußten. Leutnant Claasen unterbrach den Bericht mit keinem Wort. Manchmal hielt er die Augen geschlossen, dann wirkte sein Gesicht eingefallen und traurig. Annegret Albrecht fragte sich, ob er vielleicht Kummer hatte oder nicht ganz gesund war. Wenn er aufsah und ihren Blick bemerkte, schien ihm das unangenehm, und er lächelte verlegen. Daß ihm von Gollus’ Ausführungen nichts entgangen war, bewies er, als er antwortete. Natürlich stünde ihnen der Belkower Polizeiapparat zur Verfügung, versicherte er. Die Federführung müsse zwar bei den Genossen aus Hakenfurt liegen, aber an Unterstützung würde es keinesfalls mangeln. Die Hilfe, die Claasen anbot und im einzelnen erläuterte, war umfassender, als man in Hakenfurt hatte voraussetzen können. In einigen Punkten schien sie Gollus sogar zu weit zu gehen, so daß er bremsen mußte. „Lassen Sie uns auch noch etwas übrig, Genosse Claasen. Die Prü-
fung des Bildes beispielsweise möchten wir schon selbst überwachen.“ Klaus Gollus hatte das Wort „überwachen“ ohne bestimmte Absicht gewählt, hielt es aber auch nicht für falsch. Schließlich waren er und Annegret für die Sicherheit von Uhlenhorsts Nymphaeum verantwortlich. Um so überraschter war er über Claasens Reaktion. „Was wollen Sie denn überwachen?“ rief er entgeistert. „Glauben Sie, die Steinhofs würden wider besseres Wissen das Bild Ihres Rechtsanwalts als Museumseigentum ausgeben, nur um ihren Bestand wieder vollzählig beisammen zu haben?“ „Davon war nicht die Rede“, entgegnete Gollus ruhig, „und ich muß sagen, auf diese Idee wären wir auch niemals gekommen.“ Einen Augenblick schwiegen die drei Kriminalisten. Dann meinte Claasen etwas unvermittelt: „Im Moment sind uns die Hände ohnehin gebunden. Einfach deshalb, weil von der Museumsleitung bisher keine Anzeige erstattet wurde. Die Genossin Steinhof hat uns zwar über Ihren Besuch vom Dienstag informiert, selbstredend auch über die Panne mit dem Bild, und zwar noch ehe sich Staatsanwalt Hederle mit uns in Verbindung setzte, aber sie hat uns eben nur informiert. Man glaubt dort nicht an einen Diebstahl.“ „Und was glauben Sie, Genosse Claasen?“ Er lächelte ein müdes Lächeln und winkte ab. „Ich glaube den Steinhofs. Ich glaube ihnen so lange, bis das Gegenteil erwiesen ist.“ „Ich verstehe nicht recht“, erwiderte Gollus, „Sie sagten, den Steinhofs? Was hat denn der Ehemann mit der Sache zu tun?“ „Nun, immerhin so viel, daß er fast zehn Jahre lang Di-
rektor dieses Museums war.“ Claasen legte eine kleine Pause ein, dann fuhr er fort: „Er mußte vor etwa sechs Monaten aus Krankheitsgründen seinen Beruf aufgeben, ist aber noch immer der gute Geist, man kann fast sagen, der Nerv des Hauses. Er hat das Museum schließlich zu dem gemacht, was es heute darstellt.“ „Ach so. Das wußte ich natürlich nicht. Und nach seiner Pensionierung hat man seine Frau…“ „Ingelore Steinhof ist ebenfalls langjährige Mitarbeiterin des Museums. Sie war – vor ihrer Heirat hieß sie Fräulein Degenhard – stellvertretende Direktorin. Geheiratet haben sie erst nach Steinhofs Weggang.“ „Wir sollten demnach nicht nur mit Frau Steinhof, sondern auch mit ihrem Mann verhandeln. Meinen Sie das?“ „Aber selbstverständlich. Darüber sollte es keine Diskussion geben. Lothar Steinhof ist sozusagen ein As auf dem Gebiet der bildenden Kunst. Staatliche Auszeichnungen, ein Publizist, der internationale Anerkennung genießt. Sie können es beinahe als einen Glücksfall bezeichnen, daß Sie ihn zum Partner haben.“ „Wir sind uns der Ehre bewußt“, sagte Gollus lachend. Doch sofort lenkte er wieder ein. „Sie haben sicherlich recht, zumal er ja ebenfalls Sammler ist, wie ich hörte.“ „Sammler, Gutachter und auch Mäzen. Nun, Sie werden ihn kennenlernen. Die Genossin Steinhof beabsichtigt übrigens, bei ihrer vorgesetzten Dienststelle – das ist die Abteilung Kultur beim Rat des Bezirks – eine Generalinventur zu beantragen. Das bedeutet Schließung des Museums für mehrere Wochen. Daß weder sie noch der Rat des Bezirkes darüber begeistert sind, versteht sich. Die Urlaubszeit beginnt jetzt, da reißt der Besucherstrom nicht ab. Und in dieser Situation Museumsschließung zu
beantragen… das nötigt Hochachtung ab, nicht?“ Annegret Albrecht merkte Gollus an, daß ihm manches an diesem Gespräch nicht paßte. Er schien verärgert oder enttäuscht zu sein, und auch ihr ging es so. Sie konnte nicht genau sagen, woran das lag. Manchmal hatte sie das Gefühl, als würde man sie hier in Belkow wie unliebsame Eindringlinge, wie Störenfriede betrachten, die mit ihrer Ermittlungsarbeit eine bisher so wohlgehütete und wohlfunktionierende Ordnung durcheinanderbrachten. Um diesen Eindruck abzuschwächen, sagte sie: „Uns interessieren die Vorfälle im Museum doch nur, falls sie den Fall Uhlenhorst berühren. Sobald das ausgeschlossen ist, bleiben die weiteren Schritte völlig Frau Steinhof überlassen.“ Leutnant Claasen nickte. „Das ist selbstverständlich“, brummte er. Dabei sah er zu Gollus, aber der schwieg und kaute mißmutig an seiner Unterlippe. Ihn beschäftigte die beantragte Generalinventur. Frau Steinhof hatte sie bereits bei seinem ersten Besuch erwogen, vielleicht nicht ernsthaft, aber geäußert hatte sie den Gedanken. Und am Telefon, zwei Tage später, als sie den Mißerfolg der Suchaktion meldete, war von Zuständen gesprochen worden, mit denen sie sich nicht abfinden würde. Die Radierung war also nicht gefunden worden, und die Leitung des Museums sah eine letzte Chance nur noch darin, das Haus vorübergehend zu schließen und eine Art Großeinsatz zu machen. Aber das alles mitten in der Saison und nur eines einzigen Bildes wegen? Klaus Gollus schüttelte unmerklich den Kopf. Doch Annegret hatte recht: Es war nicht ihre Aufgabe, über die Absichten der Direktorin Steinhof nachzusinnen. Entscheidend blieb, ob sich zwischen den Vorgängen in Belkow und denen in
Hakenfurt eine Verbindung herstellte. Oder zugespitzt gesagt, ob das Belkower Nymphaeum des Piranesi etwa gar identisch war mit jenem, das über Dr. Uhlenhorsts Bett gehangen hatte. Wenn das nicht zutraf – und davon war der Leutnant eigentlich überzeugt – , würde er der charmanten Frau Steinhof vermutlich zum letzten Mal aus dienstlichen Gründen begegnen, was er ein bißchen bedauerte. Sollten sich allerdings Verbindungslinien herausstellen, dann stünde der Fall Uhlenhorst plötzlich in einem ganz neuen Licht da, dann müßte… Klaus Gollus stoppte seine Gedanken. Versionen erst aufstellen, wenn…. hatte Meyerhoff angeordnet. „Wo soll denn das Bild abgeblieben sein?“ fragte Annegret Albrecht in diesem Augenblick. Vielleicht waren ihr ähnliche Überlegungen durch den Kopf gegangen. „Frau Steinhof ordnet eine Generalinventur an. Wozu eigentlich? Wenn das Bild wirklich verschlampt worden ist – entschuldigen Sie diesen Ausdruck – , dann doch wahrscheinlich nur im Kupferstichkabinett. Warum will sie das ganze Museum schließen? Ich verstehe das nicht, Genosse Leutnant.“ Claasen schien eine solche Frage erwartet zu haben. „Sie kennen die hiesigen Verhältnisse nicht so wie wir, das ist ganz logisch“, sagte er. „Und ich will gar nicht leugnen, daß ich vielleicht ein wenig voreingenommen bin. Ich verkehre mit den Steinhofs und kenne sie seit… seit… na, seitdem ich hier bin. Ich weiß, daß in den Jahren schon allerlei vorgekommen ist. Gesucht wurden Bilder dieser Art bereits x-mal, aber endgültig verschwunden ist noch nie eines. Ein Museum ist nun mal eine Institution mit einer ganz besonderen Struktur. Vielleicht ist sie erneuerungsbedürftig, Frau Steinhof erwähnte das gelegentlich. Ehe sie Anzeige erstattet, will
sie sicher sein, ob das Bild nicht doch nur verlegt worden ist. Das entspricht ihrer Pflichtauffassung.“ „Glaubt Frau Steinhof denn wirklich, daß das Bild noch gefunden wird?“ „Ich bin davon überzeugt. Sonst würde sie keine Minute zögern.“ „Womit zögern?“ „Uns, die Kriminalpolizei, einzuschalten.“ „Und Sie warten geduldig ab?“ „Was bleibt uns anderes übrig? Solange keine Anzeige erstattet ist…“ „Aber es liegen doch begründete Verdachtsmomente vor.“ „Eben nicht. Ich sagte Ihnen ja, daß wir schon des öfteren Bilder dieser Art gesucht haben.“ Annegret Albrecht registrierte dieses „wir“, ohne darauf einzugehen. Die Bekanntschaft zwischen Claasen und den beiden Steinhofs schien ziemlich eng zu sein, vielleicht bestanden sogar freundschaftliche Bindungen zwischen den dreien. „Sehen Sie“, fügte Claasen hinzu und machte eine unbestimmbare Handbewegung, „ich hätte meinen Beruf verfehlt, würde ich die Möglichkeit eines Diebstahls von vornherein ausschließen. Aber ein Kriminalist muß auch nicht gleich hinter jeder menschlichen Unzulänglichkeit ein Verbrechen wittern. Mißtrauen und Argwohn sollten wirklich nicht die beherrschenden Eigenschaften eines Polizisten sein. Ich glaube, wir sind uns da eins. Ist es bei Ihnen nicht auch so: Wenn jemand sagt, und zwar nicht zum ersten Mal und bisher stets ohne Grund, seine Brieftasche sei verschwunden, dann ist Ihre Reaktion: Nun such erst mal gründlich in deinen eigenen vier Wänden!
Und dieses Suchen müssen wir auch der Museumsleitung zubilligen. Finden Sie nicht?“ Darauf wäre vieles zu erwidern gewesen, aber Annegret Albrecht zog es vor, das Gespräch in Bahnen zurückzulenken, die ihr eigenes Anliegen berührten. „Vielleicht ist die ganze Inventur auch unnötig“, sagte sie, „vielleicht liegt das gesuchte Bild draußen in unserem Wagen. Dann ist ein Diebstahl erwiesen, und Ihnen sind die Hände nicht mehr gebunden.“ Diese kleine Spitze konnte sie sich nicht verkneifen, aber sie klang aus ihrem Mund eher freundlich als böse, so daß Leutnant Claasen nicht verletzt schien. „Das wäre natürlich eine tolle Schote“, rief er. „Demnach müßte die Prüfung des Bildes an erster Stelle stehen. Ich schlage vor, Sie treffen sich so schnell wie möglich mit Frau Steinhof. Tagsüber wird das heute nichts, die Direktorin ist zu einer Kulturbundsitzung geladen, aber für den Abend könnte ich vielleicht ein Treffen arrangieren. Sind Sie einverstanden?“ Den beiden Kriminalisten aus Hakenfurt kam der Vorschlag sehr entgegen. Sie verabschiedeten sich von Claasen und versprachen, gegen zwanzig Uhr in der Steinhofschen Wohnung zu sein. Das Haus der Steinhofs war ein gelblicher Steinbau, mit blauen Stuckornamenten abgesetzt. Es lag auf einem Hügel, von dem man eine wunderbare Aussicht auf die Stadt und die Wälder und den Belkower Haussee hatte. Das Tor der Autoauffahrt stand offen, der Weg war von Laternen beschienen. Eine Freitreppe führte zur Haustür. Frau Steinhof öffnete und begrüßte die Gäste. Sie trug einen dunkelroten Hausanzug, das Gesicht hatte sie ge-
schminkt, aber stärker als im Büro. Das Haar trug sie hochgesteckt zu einem Knoten, und Gollus fand, daß ihr die Frisur stand. Durch einen hellbraun getäfelten Flur, über eine massive Holztreppe gelangten sie ins erste Stockwerk. Es bestand aus einem einzigen großen Raum, kein Salon im alten Sinne, auch nicht die gute Stube, am allerwenigsten eine Kombination von beiden. Ein Raum eigener Art: groß und flächig, in einem wohlabgewogenen Halbdunkel gehalten, der Fußboden mit weichen Teppichen belegt. Nichts Affektiertes, weder Neureiches noch Altdeutsches, störte die Harmonie des Zimmers. An der breiten Fensterfront stand ein Schreibtisch, auf dem handschriftliche Manuskriptseiten lagen. Frau Steinhof bat Gollus, hier auch Dr. Uhlenhorsts Bild abzulegen. Es war noch immer eingepackt und verschnürt, aber niemand drängte, es vorzuzeigen. Die Arbeitsecke, deren Mittelpunkt der Schreibtisch bildete, war vorwiegend nach praktischen Gesichtspunkten gestaltet. Es gab nichts, was allein als Schmuck diente, kein überflüssiges Beiwerk, ohne daß die Ecke dadurch an Wärme oder Gemütlichkeit eingebüßt hätte. Alles war aufeinander abgestimmt. Selbst die vielen Gerätschaften, die Gollus entdeckte – eine moderne Diktieranlage, Globus, Schreibmaschine, Telefon und ein Mikroskop – , paßten in Form und Farbe oder einfach durch ihren Standort zum Interieur dieses Platzes. Alles war griffbereit und jederzeit benutzbar, nichts stand im Wege. „Das Zweckmäßige ist das Schöne“, sagte Lothar Steinhof. „Ein bekannter Ausspruch, den ich mir zur Maxime erkoren habe.“ Er sprach ohne Pathos. Wie etwas Alltägliches klang der Satz, nur das Wort „erkoren“ hörte sich
gestelzt an. Steinhof hatte die Gäste mit kräftigem Handschlag begrüßt, vor Annegret Albrecht hatte er eine dezente Verbeugung gemacht. Im Plauderton, wahrscheinlich einfach um das Gespräch in Gang zu bringen, fragte er, ob sie mit dem bekannten Archäologen Professor Albrecht in Hakenfurt verwandt sei. „Mein Vater“, sagte sie bescheiden. Sie gab sich mädchenhaft zurückhaltend und wurde sogar ein bißchen rot. Auf Steinhof schien die Antwort etwas irritierend zu wirken. Er stutzte einen Moment, sagte dann aber sofort: „Ich hatte leider noch nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater persönlich kennenzulernen. Seine wissenschaftlichen Beiträge lese ich immer voller Hochachtung. Er ist unbestritten eine Kapazität auf seinem Gebiet. Hat es Sie nie gereizt, in die gleichen Fußtapfen zu treten?“ Offensichtlich fiel es ihm schwer, die Berufswahl der Tochter mit der von ihm vermuteten streng konservativen Erziehung im Hause Albrecht in Einklang zu bringen. „Vielleicht sattle ich noch um“, entgegnete Annegret, wieder leicht errötend, und Gollus fragte sich ernsthaft, ob das echt sei oder gespielt. Sie hatten sich vor einem offenen Kamin niedergelassen, zwei Stufen führten hinab, und ein schmiedeeisernes Gitter zäunte die Vertiefung ein. In der Mitte des Raumes stand ein schwerer Eichentisch, um den mehrere Sessel gruppiert waren. Der massige Ofen gegenüber dem Kamin war mit wunderschönen Kacheln verziert, auf denen sich die Flammen der prasselnden Buchenscheite spiegelten. „Nur mit Holz“, sagte der Hausherr, „ich heize auch den Ofen nur mit Holz, denn Holz hat Seele.“ Annegret Albrecht mußte an einen Ausspruch ihres Vaters denken.
Im Beiwerk wird der Widerschein eines Charakters deutlich, sagte er immer, wenn ihm Kollegen oder Schüler vorwarfen, er würde sich in Nebensächlichkeiten verlieren. Daß es ihm dabei weniger um den Charakter eines Menschen ging, sondern um den einer Epoche, einer Literaturströmung oder Stilrichtung, lag in seinem Fachgebiet begründet und minderte in Annegrets Augen nicht die Allgemeingültigkeit dieses Satzes. Sie kamen schnell auf Piranesi zu sprechen. Steinhof, der das Feuer bediente und bewachte, gab den Anstoß. Er erzählte, daß sich Piranesi auch mit dem Entwurf und dem Bau von Kaminen beschäftigt habe. „Außerordentlich streitbar und rigoros sogar. An der unterschiedlichen Ornamentik und dem tektonischen Aufbau der Kamine entzündeten sich damals hitzige Dispute, bei denen Piranesi tüchtig mitmischte. Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen nachher ein Buch zeigen, in dem einige seiner Entwürfe abgebildet sind. Über die Vielfalt seiner Versuche und ihren Reiz kann man nur staunen.“ Klaus Gollus empfand es als angenehm, daß Steinhof den Grund dieser Zusammenkunft nicht aus den Augen verlor, sondern von Beginn an zielstrebig darauf zusteuerte. Er machte das mit leichter Hand, unauffällig sozusagen, was nicht ausschloß, daß er sich darauf vorbereitet hatte. Aber auch das würde den positiven Eindruck keineswegs einschränken, sagte sich Gollus, sondern eher noch unterstreichen. Daß sich weder Steinhof noch seine Frau ungeduldig zeigten und das Bild zu sehen wünschten, das man aus Hakenfurt mitgebracht hatte, führte Gollus auf das Taktgefühl der Eheleute zurück. Schließlich war es Sache der Gäste, den Zeitpunkt zu bestimmen, und noch schob ihn
der Leutnant hinaus. Er und auch Annegret Albrecht ertappten sich übrigens mehrmals dabei, daß sie sich lediglich als Gäste der Steinhofs fühlten. Sicherlich lag das an der Atmosphäre, die sie umgab und in der sie sich wohl fühlten. Die ungezwungene und doch formvollendete Art, sich zu bewegen, die große Herzlichkeit, die nichts von plumper Vertraulichkeit an sich hatte, strahlte unweigerlich auf sie aus, und vor allem Annegret Albrecht fühlte sich stark von ihr angezogen. Auch von Steinhof ging eine starke Anziehung aus, wie sie sich mit leichtem Erschrecken eingestand. Nicht daß er zu jener Sorte von Männern gehörte, bei deren Anblick alle Frauenherzen höher schlagen. Es war weniger das Äußere, das beeindruckte: ein eleganter Herr, Anfang der Sechzig, mit dichtem brünettem Haar und einem Gesicht, das auf den ersten Blick nichts Bemerkenswertes aufwies. Erst bei längerer Betrachtung entdeckte man eine große Nachdenklichkeit, eine Art Verinnerlichung darin. Er war schlank und mittelgroß, und sein Gang ließ auf irgendeine körperliche Mißbildung schließen, die zwar auffiel, aber nicht störte. Es war Steinhofs Stimme die Annegret Albrecht als erstes bezaubert hatte und die auch später nichts einbüßte von ihrer Wirkung. Sie war voller Wohlklang und reich an Zwischentönen, auch schmeichelnd, aber nur fürs Ohr, denn Steinhof schmeichelte nicht. Er hatte es nicht nötig, Charmeur zu sein oder zu mimen. Er wirkte einfach. Auch Klaus Gollus empfand das so. Steinhof gehörte zu jenen Menschen, die einen Raum ganz allein ausfüllen können, die nicht nur Persönlichkeiten sind, sondern Persönlichkeit ausstrahlen. Herr jeder Lage, so schien es, zumindest hier in den ei-
genen vier Wänden und an diesem Abend. Übrigens war auch Leutnant Claasen zu Gast. Er duzte das Ehepaar, und sie nannten ihn Robby. Steinhof verstand es, das Gespräch geschickt zu führen und unauffällig so zu dirigieren, daß sich niemand ausgeschlossen fühlte, auch Claasen nicht. Etwas Weltmännisches lag in Steinhofs Art. Ja, das war es, Gollus hatte das passende Wort gefunden. Wie Steinhof zum Beispiel einiges aus seiner eigenen Bildersammlung vorführte! Es hatte keiner besonderen Aufforderung bedurft, denn man sprach ja ohnehin von nichts anderem. Natürlich gab es gelegentliche Abschweifungen, das ließ sich nicht vermeiden, aber es brauchte niemand nachdrücklich „zur Sache“ zu sagen, um wieder auf das Thema Kunst zu kommen. Auf Piranesi speziell. Steinhof kannte sich aus. Er nannte die Namen einiger anderer Maler, die dem Italiener nahestanden, sei es als Zeitgenossen oder von ähnlichen künstlerischen Ambitionen her. Er stufte sie ein und gab kurze, kluge Beurteilungen. Niemals aufdringlich oder überheblich. Was er sagte, klang stets so, als spräche er lediglich aus, was die anderen bereits wußten, und als sei es rein zufällig, daß gerade er das Wort führte. Steinhof bat seine Gäste, in den vorderen Teil des Raumes zu kommen, wo sein Schreibtisch stand. Er zog mehrere Schubfächer eines hohen Biedermeierschrankes auf, in denen er Teile seiner Sammlung aufbewahrte. Von Piranesi besaß er eine Radierung. „Zehn Jahre jünger als das Nymphaeum. Die Striche sind reifer, die Handschrift hat sich gefestigt. An den stark aufgetragenen Linien hier unten können Sie den Übergang, von dem ich sprach, deutlich erkennen, die Abkehr vom Barock und die Hinwendung zum Romantischen. Sehen Sie es?“ Der Zeige-
finger fuhr behutsam über das Bild und zeigte, was eigentlich nur Steinhof sah. Aber das machte nichts. Man hörte seine Stimme und glaubte das alles selbst zu entdecken. Steinhof malte übrigens auch selbst, Pastellzeichnungen und Ölgemälde hauptsächlich. Sein letztes Bild hing noch an der Staffelei, die hinter einem Vorhang stand: ein grauer Turm am Meer, große Löcher im Gemäuer, aus denen nackte Vögel blickten; andere, mit schwarzen Schwingen, umkreisten den Turm; unten am Meer, fast ängstlich aneinandergedrängt, Elefanten mit Krallen an den Füßen. Ein düsteres Bild. Lothar Steinhof hielt es keineswegs für düster. Er meinte sogar, es sei lustig und heiter, aber mit seiner Begründung geriet er etwas ins Schwimmen, was er dann auch lachend zugab. Im übrigen war es keineswegs so, daß die Unterhaltung ausschließlich von ihm bestritten wurde. Er konnte schweigen und verstand es, auf eine sehr anregende Art zuzuhören. Klaus Gollus hatte sich überlegt, bei welcher Gelegenheit er Dr. Uhlenhorsts Nymphaeum vorzeigen sollte. Er wollte weder einen unangebrachten Spannungseffekt schaffen noch irgendeine Gleichgültigkeit vortäuschen. Die aufgeschlossene, zwanglose Stimmung sollte beibehalten und nicht durch eine vielleicht feierlich anmutende Handlung unterbrochen werden. Wie das Urteil auch ausfallen würde – entscheidend war, daß es von den beiden Steinhofs möglichst spontan gefällt wurde. Jetzt schien ihm der Zeitpunkt gekommen, die Radierung vorzulegen. Man hatte mehrere Bilder betrachtet und wollte wieder zur Kaminecke zurückgehen. Gollus nahm das verschnürte Paket vom Schreibtisch, wickelte es aus,
zögerte dann aber, weil er sich nicht sofort entscheiden konnte, wem er das Bild geben sollte. Er bemerkte, daß Leutnant Claasen sich umdrehte und dann Steinhof anstieß. ,,Ah“, sagte der, „der große Moment!“ Er kam Gollus entgegen, und es wäre sicherlich unpassend gewesen, seine ausgestreckte Hand zu übersehen. Gollus löste das Bild aus dem Rahmen und gab es Steinhof. „Unter Glas kennen Sie es ja nicht“, sagte er dabei. Lothar Steinhof warf nur einen kurzen Blick darauf. Eilig stieg er dann die zwei Stufen zur Kaminecke hinunter und ließ sich in einen Sessel fallen. Seine Frau trat hinter ihn und schaute ihm über die Schulter. Wortlos starrten beide auf die Radierung, während die drei Kriminalisten hinter dem schmiedeeisernen Gitter standen und von oben auf sie herabsahen. Als Gollus schließlich folgte und sich ihnen gegenübersetzte, erhob sich Steinhof und gab seiner Frau das Bild. „Bitte, Liebes“, sagte er. Daraufhin nahm sie Platz, und er stellte sich dahinter. „Was meinst du?“ fragte Ingelore Steinhof nach einer Weile leise. Ihr Mann richtete sich aus seiner gebeugten Haltung auf. „Ich würde sagen, es ist unser Piranesi, wenn es nicht absurd wäre. Und du?“ Seine Frau gab keine Antwort. Sie rieb mit Daumen und Zeigefinger eine Ecke des gelblichweißen Pergaments, als wollte sie seine Festigkeit prüfen. Inzwischen hatten auch Annegret Albrecht und Claasen ihre Plätze wieder eingenommen, nur Steinhof stand noch. Als eines der brennenden Scheite im Kamin gegen den Bockschutz rutschte und Funken versprühte, bückte er sich und stocherte mit einem Haken in der Glut.
„Ich glaube, ich könnte einen Kognak vertragen“, sagte plötzlich Ingelore Steinhof. Man hatte aus Rücksicht auf die Gäste, die mit dem Wagen gekommen waren, bisher keinen Alkohol angeboten, sondern Saft oder Kaffee gereicht. Jetzt ging Steinhof zur Hausbar, die im Mittelteil des großen Raumes stand. „Pur, Liebes?“ Frau Steinhof nickte. „Sie auch, Fräulein Albrecht?“ „Ja, aber bitte mit Selters.“ Gollus und Claasen lehnten ab, sehr ungern beide, wie sie zu verstehen gaben. Lothar Steinhof trank ebenfalls nicht. Er kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei leere Gläser standen. Unter dem Arm trug er eine Flasche Lafitte und das Margonwasser. Er schenkte seiner Frau ein, während sich Annegret Albrecht ihre Mischung selbst zubereiten wollte. Steinhof hatte eine Schallplatte aufgelegt, plötzlich war eine Melodie im Raum. Gitarre und Geige, eine ungewöhnliche Zusammensetzung, aber überaus lieblich im Klang. „Ist das nicht von Paganini?“ fragte Annegret Albrecht. Steinhof nickte ihr lächelnd zu und wollte wohl auch etwas entgegnen, aber seine Frau sagte: „Ich weiß nicht. Wenn man das Bild so vor sich hat…“ Ihre Stimme war genauso unsicher wie ihre Miene. „Aber es gibt kein Kriterium, verstehen Sie, kein Erkennungszeichen.“ Sie blickte hilflos zu Gollus, als suche sie in seinem Gesicht nach Verständnis. Der Leutnant zögerte, von der Schabstelle auf der Rückseite des Bildes zu sprechen. Hauptmann Meyerhoff hatte diese Entdeckung nicht nach Belkow gemeldet, weil er meinte, darauf müßte die Museumsleitung selbst zu sprechen kommen. Aber offenbar hatte Frau Steinhof gar
keinen Eigentumsstempel vermißt, als sie das Bild betrachtete. Annegret Albrecht hielt die Radierung jetzt gegen das Licht und tat, als versuchte sie den italienischen Text am unteren Bildrand zu entziffern. Gollus durchschaute ihre Absicht und beobachtete die Steinhofs. Aber die hoben kaum den Kopf. Als sie dann doch einmal nach oben sahen und die Schabstelle eigentlich hätten erkennen müssen, verriet nichts in ihren Gesichtern, daß sie etwas bemerkt hatten. Ingelore Steinhof senkte den Blick gleich wieder, während ihr Mann einige Sekunden verstreichen ließ, dann aber genauso schwieg wie sie und dabei die Genossin Albrecht anschaute, als müsse von dort eine Erklärung kommen. „Können Sie die Worte übersetzen, Herr Steinhof?“ fragte Annegret schließlich, während sie ihm das Bild hinüberreichte. „Das ist auch so eine Sache“, erwiderte der, ohne das Blatt zu berühren. „Man weiß bis heute nicht, bei welchen Radierungen Piranesi den Text selbst entwarf. Manche meinen, er sei nicht besonders gut im schriftlichen Ausdruck gewesen. Eine unrichtige Feststellung, soweit ich das beurteilen kann.“ Das war natürlich keine Antwort auf ihre Frage, aber Annegret Albrecht nickte höflich und gab sich zufrieden. Leutnant Gollus versuchte zu einem Ergebnis zu kommen. „Sie möchten sich also nicht festlegen, Frau Steinhof ?“ „Ich kann mich nicht festlegen! Wenn es von meinem Willen abhinge… was meinen Sie, wie gern ich das täte!“ „Welche Festlegung wäre Ihnen denn die angenehmste?“ „Das ist doch eine rein hypothetische Frage, Herr Gollus.“
„Trotzdem möchte ich sie stellen.“ „Nun, dann wäre es mir am liebsten, wenn es nicht unser Exemplar ist. Denn sonst…“ „Sonst?“ „Müßte es ja gestohlen worden sein, nicht?“ „Und das halten Sie für unmöglich.“ „Für ganz unwahrscheinlich.“ Gollus hatte diese Antwort erwartet und war nun neugierig, wie Frau Steinhof sie begründen würde. Es erstaunte ihn aber nicht, daß die Gesprächsführung jetzt prompt wieder an Lothar Steinhof überging. Gollus registrierte diese Verschiebung aufmerksam, erhob aber keine Einwände. Der Hausherr gab ohne weiteres zu, daß natürlich auch das Belkower Museum nicht vor Einbruch oder Diebstahl gefeit sei. „Warum wir bisher davon verschont geblieben sind, weiß ich nicht. Sicherlich liegt das weniger an unserer Alarmanlage oder den anderen Schutzvorrichtungen, die so wirkungsvoll nun auch nicht sind. Vielleicht haben wir einfach Glück gehabt. Aber wenn schon Einbruch und Diebstahl – entschuldigen Sie die Zuspitzung – , Herrgott, warum dann ausgerechnet der Griff nach einem Piranesi! Wir besitzen viel wertvollere Stücke, ausgesprochene Kostbarkeiten.“ Gollus hakte sofort ein, er war da keineswegs zimperlich: „Vielleicht fehlen auch ausgesprochene Kostbarkeiten. Die Piranesi-Radierung ist halt das erste Stück, dessen Fehlen bemerkt wurde.“ Steinhof lachte. „Sie spielen auf die längst fällige Inventur an, was? Nein, wirkliche Raritäten unseres Museums können nicht fehlen. Einfach deshalb nicht, weil sie ständig besichtigt werden. Ein Piranesi dagegen…“ „Eben, da hätten wir vielleicht den Grund. Der Dieb
nahm ein Bild, das nur selten verlangt wurde.“ „Aber warum, Herr Gollus? Ich meine, er geht doch ein großes Risiko ein, das sich weitaus mehr lohnen müßte.“ Und dann erzählte er von einem Mann, der im Mai 1959 aus dem Hamburger Museum die Innenseite des rechten Seitenflügels von dem weltbekannten Harvestehuder Altar gestohlen hatte. „Am hellichten Tage. Der Mann ist von einer Aufsichtsperson sogar gesehen worden, wie er in einer unnatürlichen, schiefen Haltung das Museum verließ. Unter dem Mantel trug er den Altarflügel, der immerhin achtundfünfzig mal achtunddreißig Zentimeter mißt. Es gibt zahlreiche ähnliche Beispiele, aber immer handelte es sich da um ausgesprochene Wertobjekte, Herr Gollus. Nicht unbedingt in finanzieller, sondern oft nur in ideeller Hinsicht. Beides scheint mir bei dem Nymphaeum zu fehlen, ich sagte es ja schon.“ Leutnant Gollus hatte mit der Genossin Albrecht vereinbart, daß sie sich in der Unterhaltung vorrangig auf künstlerische Belange beschränken sollte und er die kriminalistischen Fragen stellen würde – eine taktische Konzeption, die ihnen beiden die Möglichkeit des Zuhörens und Beobachtens bot, sie aber dennoch nicht von der Unterhaltung ausschloß. Es war also jetzt an Annegret Albrecht, einzugreifen. Sie fragte, wie das mit dem ideellen Wert zu verstehen sei und ob Herr Steinhof damit die Befriedigung einer Sammelleidenschaft meine. „Das auch. Aber vor allem die Freude an einem Kunstwerk und dem Wunsch, es zu besitzen. Das kann manchmal zur Manie werden, selbst Goethe blieb davon nicht verschont. Als er siebzehnhundertfünfundsiebzig in Marie Einsiedel den herrlichen Schongauerschen Stich Das Abscheiden der Marie sah, war er so ergriffen, daß
er fortan nicht von dem Bilde loskam. Er schrieb, daß er die Begierde, das gleiche zu besitzen, um den Anblick immer wiederholen zu können, nicht mehr unterdrücken konnte. Und er ließ nicht nach, bis er einen Abdruck erworben hatte. Für ihn hatte er einen rein ideellen Wert. Dieses Den-Anblick-wiederholen-Können ist für die meisten der nichtprofessionellen Sammler sicherlich das Hauptmotiv. „Mit Variationen“, warf Ingelore Steinhof ein. „Erzähl doch mal von der Entführten Venus, Lothar.“ Warum erzählt sie nicht selbst, fragte sich Gollus. Warum begnügt sie sich mit Stichworten, mit der Rolle eines Statisten? Er hatte überhaupt den Eindruck, hier einer anderen Frau gegenüberzusitzen als vor ein paar Tagen im Museum. Sie wirkte blasser, unbedeutender neben diesem Weltmann, aber nicht das allein fiel ihm auf. Das stark geschminkte Gesicht störte. Was soll diese Tusche, ging es ihm durch den Kopf. Und im selben Augenblick – Gollus war selbst überrascht – stellte sich ihm eine Assoziation zum Wort „vertuschen“ her. Er beobachtete die Frau, während Steinhof sprach. Sie hatte sich etwas nach vorn gebeugt und hielt die Augen nahezu geschlossen. Wenn sie aufsah, huschte ihr Blick über die Runde, ruhte etwas länger nur auf Gollus und auf ihrem Mann, senkte sich dann schnell wieder. Einmal lächelte sie zu Leutnant Claasen hinüber. Es war ein eigenartiges Lächeln, eigentlich nur eine Mundbewegung, ein Lächeln, das nicht von innen kam. Sie trank schon den vierten Kognak. Die ersten beiden Male hatte ihr Mann eingeschenkt, dann übersah er das leere Glas, und sie bediente sich selbst. Steinhof erzählte übrigens nicht von der Entführten Venus. Er tat, als habe er die Bitte seiner Frau nicht gehört,
und sprach noch immer über Goethe. Es war wenig interessant, dennoch ließ Gollus Steinhof ausreden. Dann sagte er: „Wenn sich herausstellt, daß die Grafik, die wir bei Herrn Doktor Uhlenhorst gefunden haben und die hier vor uns auf dem Tisch liegt, doch Eigentum des Belkower Museums ist – bliebe da nicht Diebstahl als einzig mögliche Erklärung?“ „Allerdings.“ „Und wüßten Sie eine Erklärung dieser Erklärung?“ „Zwei. Sie sehen mich erstaunt an, aber es gibt nun mal zwei, rein von der Logik her. Entweder ist der Dieb eingestiegen, hat sich sozusagen mit Gewalt Zutritt verschafft, oder es war jemand, der ohnehin Zugang hatte. Von Amts wegen also.“ „Sie meinen: ein Angestellter des Museums?“ „Natürlich, wer sonst?“ „Bitte, Lothar, du kannst doch nicht…“ Ingelore Steinhof sprach nicht weiter. Ihre Stimme hatte schneidend und scharf geklungen, obwohl ihre Haltung keinerlei Erregung verriet. Sie saß nach wie vor bequem in ihrem Sessel, etwas zurückgelehnt, in der Hand das Kognakglas, an dem sie nippte, sie hatte sich nicht einmal aufgerichtet. Steinhof hob beschwichtigend beide Hände. „Ich verdächtige doch niemanden. Wie käme ich dazu! Aber schließlich sind die Genossen aus Hakenfurt nicht zu ihrem Vergnügen hier. Sie stellen Fragen, die wir nach bestem Wissen und Gewissen beantworten. Das ist alles.“ „Nicht anders fassen wir das Gespräch auf“, sagte Gollus. „Und vorläufig sind unsere Fragen tatsächlich nur hypothetisch, wie Sie vorhin sagten, Frau Steinhof. Aber vielleicht gibt es noch eine dritte Erklärung: nämlich die, daß ein Besucher des Museums das Bild genommen hat.
Heimlich und unbemerkt natürlich, aber doch in aller Öffentlichkeit gewissermaßen.“ Steinhof sah Gollus an und schüttelte dann belustigt den Kopf. „Das wäre ein schlechter Dieb.“ „Wieso?“ „Weil er sozusagen gleich seine Visitenkarte zurückgelassen hätte. Sie wissen, Grafiken hängen bei uns nicht an den Wänden. Ein Besucher, der sie betrachten will, muß nach ihnen fragen. Er zeigt somit sein Interesse an bestimmten Bildern und geht nicht in dem anonymen Strom von Besuchern unter.“ Gollus empfand wieder einmal, daß er sich nur ungenügend informiert hatte. Er war noch nie in einem Kupferstichkabinett gewesen, abgesehen von dem Kurzbesuch vor zwei Tagen zusammen mit Frau Steinhof. Die wenigen Auskünfte, die die kleine Keßler damals gegeben hatte, waren Untergegangen in der Fülle anderer Ermittlungsergebnisse, und er hatte keinen Grund gesehen, tiefer nachzuforschen. Er wußte, daß Hauptmann Meyerhoff sicherlich nicht so darüber denken würde und wahrscheinlich auch nicht so wie er gehandelt hätte, doch das half jetzt nicht weiter. „Und was unseren speziellen Fall betrifft, Herr Gollus…“, Lothar Steinhof hatte eine kleine Pause gemacht und begann den Satz etwas zögernd, als müsse er seinem Gast Zeit lassen, „das Nymphaeum also, da wissen wir sogar ganz genau, wer sich dafür interessierte. Nur Ihr Doktor Uhlenhorst.“ „Das wissen Sie genau?“ „Als Besucher kommt nur er in Frage. Nach dem neunten Mai hat sich niemand mehr Bilder von Piranesi zeigen lassen. Das war unschwer festzustellen.“ „Aber ich verstehe nicht… wieso nach dem neunten Mai,
Herr Steinhof?“ „Hat Ihnen denn meine Frau nicht von der Schulklasse… Ingelore, hast du Herrn Gollus nicht erzählt, daß…“ Die Schulklasse, natürlich. Gollus hatte den Vorgang weder vergessen noch als nebensächlich beiseite geschoben, er hatte das Datum nicht gewußt. Er erinnerte sich jetzt sofort sehr deutlich an Frau Steinhofs Erklärung. ,Vor ein paar Tagen hatte sich eine Schulklasse angemeldet und vorher schriftlich mitgeteilt, welche Bilder sie zu sehen wünschte. Darunter befand sich auch das Nymphaeum. Wir suchten und fanden das Bild schließlich. Es war falsch einsortiert.’ Und die kleine Keßler hatte ergänzt, daß alle Mitarbeiter zwei Tage lang mitgesucht hätten. Am neunten Mai war das also gewesen, bis zu diesem Tag war das Nymphaeum folglich vorhanden. Damit war eigentlich alles geklärt. Nie und nimmer konnte Uhlenhorsts Bild jenes sein, das hier gesucht wurde. Es sei denn, Uhlenhorst selbst… aber das war ausgeschlossen, das mußte Unsinn sein, denn Doktor Uhlenhorst reiste bereits am elften Mai ab, zwei Tage später also. „Unser Nymphaeum“ fuhr Steinhof fort, „wurde am neunten Mai nicht nur von etwa zwei Dutzend Jungen und Mädchen betrachtet und von einem Lehrer erläutert, es wurde an diesem Tag auch fotografiert. Von unserem Hoffotografen, Herrn Leisegang.“ Er erzählte, mit dem Klassenlehrer sei vereinbart worden, daß ein Schüleraufsatz über Piranesis Nymphaeum mit der Fotografie an der Wandzeitung des Museums veröffentlicht werden sollte. „Wir baten Herrn Leisegang, im Anschluß an die Vorführung die Grafik zu fotografieren. Herr Leisegang arbeitet für das Museum, sein Atelier liegt gleich vorn an der Hauptstraße, Sie können es nicht verfehlen.“
Gollus nickte. Er fing einen Blick von Leutnant Claasen auf, der zu sagen schien: So ist das nun einmal. Ja, so war das nun einmal, oder wie Hauptmann Meyerhoff sagen würde: So klärt sich eines nach dem anderen. Hatte der Abend bei Steinhofs eine Klärung gebracht? Gollus stellte die Frage, als sie wenig später in Annegret Albrechts Zimmer saßen, sie auf dem Bett, er auf dem einzigen Stuhl. Sie rauchten. Der Ascher stand zwischen ihnen auf dem Boden neben den zwei Bierflaschen, die Gollus mit nach oben genommen hatte. „Meyerhoff hat uns den Auftrag gegeben, festzustellen, ob das Verbrechen an Doktor Uhlenhorst in irgendeiner Form mit seinen Aufenthalten in Kronitz, Belkow oder Ahrenshoop in Verbindung steht. Ja oder nein – eine andere Antwort läßt er nicht gelten. Und nun unsere Zwischenbilanz nach dem ersten Tag. Wie würdest du antworten?“ Annegret Albrecht drückte ihre Zigarette aus. Sie war kaum zu einem Drittel aufgeraucht. „Schmeckt mir nicht“, sagte sie. „Die Zigarette?“ „Ja, und deine Frage auch nicht. Zu früh, Klaus.“ Er nickte. Er hätte auch keine Antwort gewußt. „Eigentlich ein attraktives Paar, die beiden Steinhofs“, sagte er nach einer Weile. „Warum schränkst du ein?“ Er wußte es nicht. „Also gut: ein attraktives Paar.“ „Ein sympathisches Paar.“ „Durchaus.“ „Ein liebenswürdiges, kluges, elegantes Paar. Auch ein harmonisches?“ „Kaum.“
„Und warum nicht?“ „Sie steht in seinem Schatten.“ „Vielleicht gefällt ihr das.“ „Da könntest du recht haben. Würdest du im Schatten deines Mannes stehen wollen?“ „Das kommt auf den Mann an. Beruflich stehe ich ohnehin in eurem Schatten.“ „Na, na.“ „Nix ,na, na’. Ist so.“ Sie wollten ausspannen, sich entspannen, ohne das Thema aufzugeben. Der Abend war anstrengend gewesen, anstrengender, als sie vermutet hatten, sie spürten es erst jetzt. „Hast du gesehen, daß seine Hände zitterten?“ fragte Annegret. „Nein. Wann?“ „Als du ihm Uhlenhorsts Bild gabst, da ging er doch zu seinem Sessel, und Frau Steinhof stellte sich hinter ihn. Gleich danach aber reichte er ihr das Bild, und sie setzte sich.“ „Das habe ich gesehen, aber ich nahm an, daß er aus Höflichkeit aufstand. Und das Bild wird er ihr gegeben haben, weil schließlich sie die Direktorin ist.“ „Vielleicht. Aber er konnte das Bild nicht ruhig halten. Seine Hände zitterten, glaub mir.“ Klaus Gollus sagte: „Das Zittern braucht nichts zu bedeuten. Eine Nervensache vielleicht. Er riß ja auch oft völlig unmotiviert die Augen auf.“ Sie gaben ihre Eindrücke von Lothar Steinhof wieder, die sich zwar nicht widersprachen, aber auch nur selten ergänzten. Annegret Albrecht schlug vor, daß man vorsichtig sein solle, worüber Gollus sehr erstaunt war. „Er fas-
ziniert, und deshalb muß man aufpassen“, sagte sie. „Das ist billig. Steinhof wirkt überzeugend. Alles, was er sagt, stimmt.“ „Deshalb gerade sollte man aufpassen. Man fühlt sich ihm ausgeliefert: seiner Erfahrung, seinem Verständnis, seinem Können. Man kapituliert vor seiner Überlegenheit.“ Gollus schwieg. Er dachte an Ingelore Steinhof. Gedieh sie im Schatten ihres Mannes, oder war sie ein Mauerblümchen? Annegret Albrecht stand auf. Sie machte ein paar Schritte durch das Zimmer und lehnte sich dann an das Fensterbrett. „Ich bin irgendwie überwältigt, aber ich kann nicht sagen, wovon und warum. Das beunruhigt mich.“ Gollus versuchte, ihren Gedanken zu folgen, aber es gelang ihm nicht. Annegret, die seinem ratlosen Gesicht ablas, daß er ihre Gefühle nicht teilte, wollte erklären, begründen, Verständnis erzwingen. „Ich kann nicht beschreiben, was es ist, Klaus. Ein Gefühl, eine Ahnung, sogar Furcht. Keine Furcht um dich oder um mich und so, eher Furcht vor Enttäuschung. Vielleicht ist eine Frau in solchen Dingen sensibler als ihr Tatsachenmänner. Ich habe ständig das Bild von Steinhof vor Augen, diese schrecklichen nackten Vögel. Was muß in einem Menschen vorgehen, der so etwas malt!“ „Vielleicht nur eine Laune“, sagte Gollus. „Oder Spielerei. Meinst du, daß er es verkaufen will?“ „Wir hätten ihn fragen sollen.“ Annegret Albrecht öffnete das Fenster und ließ kühle Nachtluft einströmen. Auch Gollus erhob sich. Er räumte die leeren Bierflaschen und den Aschenbecher fort, dann gab er ihr die Hand. „Wir werden morgen weitersehen.“ Als er schon an der Tür stand, sagte sie plötzlich: „Und
die Schabstelle, Klaus, die muß ja nicht von einem Eigentums-Stempel herrühren, den jemand entfernt hat. Vielleicht war das Bild beschädigt und ist von einem Restaurator in Ordnung gebracht worden.“ Er blickte sie erstaunt an. Sie zuckte die Schultern. „Fiel mir gerade ein. Ein Cousin von mir ist Restaurator.“ Gollus wußte damit nichts anzufangen. Er war auch zu müde, das Gespräch jetzt fortzusetzen. „Stammst eben aus ‘ner musischen Familie“, sagte er grinsend. Sie ging auf den Ton ein. „Der allein besitzt die Musen, der sie trägt im warmen Busen, dem Vandalen sind sie Stein. Schiller.“ Und noch ehe er etwas erwidern konnte – sie sah seinem Gesicht und dem frechen Blick an, was da kommen sollte – , sagte sie: „Nun hau schon ab, alter Vandale!“
5. Am nächsten Morgen, als sie im Hotelrestaurant frühstückten, kam Leutnant Claasen. „Ein Fernschreiben von Ihrer Dienststelle, Genosse Gollus. Ich fürchte, wir müssen unsere Dispositionen ändern.“ Daß Claasen im Plural sprach, gefiel ihnen. Er machte überhaupt einen gelockerten Eindruck. Das Gesicht wies zwar auch jetzt Zeichen von Müdigkeit auf, aber die Haut schien frischer, irgendwie gesünder. Das Fernschreiben kam von Hauptmann Meyerhoff. Er teilte mit, daß für Dr. Uhlenhorst eine Nachnahmesendung eingetroffen sei, eine Lithographie, die ein Kind mit einem Stier zeigte. Die Rechnung belief sich auf 55 Mark zuzüglich Versandspesen. Als Absender war angegeben: G. Backhaus, Ahrenshoop, An der Gracht 7.
Der Auftrag war klar. Einer von ihnen mußte nach Ahrenshoop fahren und mit G. Backhaus sprechen. Annegret Albrecht fragte Claasen sofort nach den besten Zugverbindungen, aber der hatte einen anderen Vorschlag: „Ich muß sowieso auf den Darß und könnte das für Sie übernehmen. Außerdem kenne ich Frau Backhaus.“ „Eine Frau?“ „Gisela Backhaus, Malerin, sechsundfünfzig Jahre alt. Ihr Mann ist im vorigen Jahr verstorben. Die beiden Töchter studieren in Rostock.“ Sollte man – sollte man nicht? Gollus sah Meyerhoffs Gesichtsausdruck vor sich, und die Frage war entschieden. „Fahren Sie mit dem Wagen, Genosse Claasen?“ „Ja-“ „Dann kannst du ja mitfahren, Annegret. Teilt euch die Arbeit, dann geht es schneller.“ „Gut“, sagte Claasen, „ich hole Sie in zwanzig Minuten hier ab.“ Klaus Gollus suchte nach dem Frühstück das Belkower Museum auf. Mit Frau Steinhof war verabredet worden, daß er das Nymphaeum den Angestellten des Kupferstichkabinetts vorlegen sollte. Denn natürlich konnten sie es nicht bei einer einmaligen Begutachtung bewenden lassen, selbst wenn sie gründlicher erfolgt wäre als bei dem abendlichen Beisammensein in Steinhofs Wohnung. „Sechs oder acht Augen sehen mehr als vier“, hatte Lothar Steinhof gesagt. Gollus hatte angenommen, er würde die kleine Keßler treffen und vielleicht noch jene Frau Abshagen, die er ebenfalls schon bei seinem ersten Besuch im Museum kennengelernt hatte. Aber beide waren an diesem Vormittag außer Haus. Er wurde von einem
Mann namens Hentrich empfangen, der über sein Kommen zwar informiert war, aber keine Neigung zeigte, sich in ein Gespräch einzulassen. Er mochte etwa sechzig Jahre alt sein, trug eine Brille und einen blauen Kittel offen über dem Anzug. Aus der Westentasche hing eine silberne Uhrkette heraus, und immer wenn Gollus den Mann ansprach, nahm er die Taschenuhr, ließ sie aufschnappen und warf einen raschen Blick auf das Zifferblatt. Ein Mann in Eile demnach. Offensichtlich war eine Begutachtung des Bildes durch weitere Augenpaare nicht vorgesehen, statt dessen aber eine fachmännische Analyse. Hentrich sagte: „Ich werde Ihre Grafik prüfen. Über das Ergebnis fertige ich eine Expertise an, die ich Frau Direktor Steinhof übergebe.“ Mit diesen drei Sätzen schien Hentrichs tägliches Redepensum erfüllt zu sein. Gollus’ Frage, ob er warten und zusehen dürfe, wurde mit einem ärgerlichen Kopfschütteln beantwortet und mit einem wichtigtuerischen Blick auf die Taschenuhr. „Dann bringen Sie mir bitte alle Piranesi-Radierungen aus der Vedutenserie, ehe Sie anfangen.“ Hentrich entfernte sich. Er ging etwas gebückt, als schleppe er eine schwere Last. Die Last der Zeit vermutlich. Nach einigen Minuten kam er zurück. Auf beiden Armen trug er etwa ein Dutzend Grafiken, die in Passepartouts steckten. Die Bilder schienen von gleicher Größe wie das Nymphaeum. , „Bitte!“ Er packte den Stoß auf einen Tisch und bedeutete Gollus, Platz zu nehmen. Dann legte er ihm ein Schreibheft vor. „Eintragen.“ Während Gollus die vorgesehenen Spalten ausfüllte – Name, Anschrift, gewünschte Exemplare und Datum – ,
fragte er: „Handhaben Sie das immer so?“ Hentrich ließ die Taschenuhr aufschnappen. „Früher war das Vorschrift. Seit einer Woche auch wieder.“ Er machte kehrt, blieb aber noch einmal stehen. „Zählen Sie nach, genau zehn Stück.“ Mit diesen Worten ließ er Gollus allein. Sein erster Blick galt den Rückseiten der Radierungen. Auf keiner war ein Eigentumsstempel vorhanden. Dann nahm er das oberste Bild aus dem Wechselrahmen und verglich es mit den Maßen seiner Aktentasche. Es war so groß, daß es nicht hineingepaßt hätte. Aber er sah, daß jede Grafik eine Mittelfalte aufwies und sich leicht zusammenklappen ließ. Und so, auf die Hälfte des Umfangs reduziert, hätte es keinerlei Schwierigkeiten bereitet, sie in einer Aktentasche zu verstauen. Ist ja ein Ding, sagte sich Gollus. Da kann also jemand in aller Ruhe und Gemütlichkeit seinen unlauteren Absichten nachgehen, ohne mit Störungen rechnen zu müssen. Denn bald zwanzig Minuten verrannen, bevor ein neuer Besucher eintrat. Auch der wieder mit Mantel und Aktentasche, denn wegen Personalmangels war, wie Frau Steinhof erklärt hatte, die Garderobe des Kabinetts zur Zeit nicht besetzt. Leutnant Gollus verabschiedete sich mit sehr zwiespältigen Gefühlen von Herrn Hentrich. Sein nächster Besuch galt Fräulein Keßler. Er hatte sich ihre Adresse geben lassen, sie wohnte in Kronitz bei ihren Eltern, in einem der adretten Häuschen am Stadtrand. Gollus stellte den Wagen auf einem Parkplatz schräg gegenüber dem Haus ab. Das Gartentor des Keßlerschen Grundstücks hatte die Form einer Pagode, mit einem Dach darüber und Kletterrosen zu beiden Seiten. Ein schnurgerader Weg führte auf das Haus zu. Als er klingelte, kam ihm Hannelore Keßler entgegen, gar nicht überrascht, wie es schien, zumindest
war ihr nichts anzumerken. „Wir haben den Piranesi noch immer nicht gefunden“, rief sie und lachte dabei, als sei das ein Mordsgaudi. Sie führte Gollus in den Garten, wo unter einer mächtigen Linde eine Sitzecke eingerichtet war. „Oder wollen Sie ins Haus?“ fragte sie. Er wollte natürlich nicht. Fräulein Keßler bot Apfelsaft an und legte eine Packung Pall Mall auf den Tisch. Sie rauchte sehr hastig, aber selten auf Lunge, wie Gollus feststellte. Nach ein paar Gemeinplätzen über den schönen Garten und das herrliche Wetter der letzten Tage nannte er den Grund seines Besuches. Er sprach ihn sehr direkt aus. „Glauben Sie wirklich, Fräulein Keßler, daß man das Bild noch finden wird?“ Ihre Antwort war nicht weniger deutlich. „Wo denn?“ „Frau Direktor Steinhof hat eine Generalinventur beantragt.“ „Aber doch nicht wegen dieser Radierung! Mann, soll die etwa hinter irgend so einen Monumentalschinken gerutscht sein?“ Gollus erinnerte sich, daß Annegret Albrecht am Vortag genauso argumentiert hatte. „Aber wenn das Bild nicht gefunden wird… Wo soll es denn sein?“ „Weiß ich das?“ Sie sah ihn so aufrichtig naiv an, daß er lachen mußte. Aber naiv war Hannelore Keßler keineswegs. Sie verfügte über eine scharfe Beobachtungsgabe und vermochte die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, treffend einzuschätzen. „Ingelore wollte schon damals Inventur machen, als der Chef in Rente ging und sie Direktor wurde. Aber da sie mehrere Jahre seine Stellvertreterin gewesen war, den Laden also bestens kannte, unterblieb eine gro-
ße Übergangsinventur. Gefallen hat ihr das nie, und ich glaube, sie nimmt diese Panne mit dem Piranesi einfach als willkommenen Anlaß, nun endlich nachzuholen, was vor Monaten eigentlich schon drangewesen wäre. Daß sie noch damit rechnet, in irgendeinem Winkel das fehlende Bild aufzutreiben, glaube ich nicht… so einfältig ist sie nicht.“ Klaus Gollus ließ sich die Überraschung über diese Gedankengänge nicht anmerken. „Sie duzen Frau Steinhof. Sind Sie mit ihr befreundet?“ „Nee, aber wir stammen aus demselben Stall: Ministerium für Kultur. Als sie nach Belkow versetzt wurde, holte sie mich nach. Mir war es ganz recht, weil ich bei meinen Eltern wohnen kann. Und die Arbeit macht Spaß, wirklich, ich sage das nicht nur so.“ „Warum sollten Sie auch“, meinte Gollus und ging auf den saloppen Ton ein, „ich petze ja nicht.“ Ihr Gespräch sprudelte munter drauflos, ziellos scheinbar, denn Gollus ließ auch Abschweifungen zu. Hannelore Keßler kostete das weidlich aus. Es gab kein Thema, das sie mied, keine Frage, vor deren Beantwortung sie Scheu hatte. Manche ihrer Formulierungen klangen etwas drollig altklug, waren vielleicht auch nur aufgeschnappt, dadurch aber nicht weniger wichtig. Als sie auf das Verhältnis zwischen den beiden Steinhofs zu sprechen kamen, sagte sie: „Die Heirat war prächtig, nur die Ehe ist miserabel.“ Sie schien Gefallen an dieser Gegenüberstellung zu finden, schränkte sie jedoch gleich wieder etwas ein. „Das ist natürlich übertrieben, Herr Gollus, aber so richtig scheint es da tatsächlich nicht zu laufen. Ist das verwunderlich? Zwei so unterschiedliche Typen – da muß es ja ab und zu mal Stunk geben.“
Sie erzählte, daß es auch im Beruflichen – als Steinhof noch Direktor und das damalige Fräulein Ingelore Degenhard seine rechte Hand gewesen war – wiederholt zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sei. „Und nicht selten in grundsätzlichen Fragen. Das kann gar nicht anders sein. Wenn ein starker Willensmensch unter der täglichen Aufsicht eines anderen starken Willensmenschen arbeiten muß und beider Willen sich nicht haargenau ergänzen – das ist wie hü und hott zur gleichen Zeit. Kein Gaul hält das auf die Dauer durch.“ „Der Gaul waren in diesem Fall Sie und die anderen Mitarbeiter des Museums, schätze ich.“ „Der Gaul war meistens Ingelore, denn sie mußte letztlich nachgeben. Schon wegen der Gehaltsgruppe.“ Hannelore Keßler verstand es, mit wenigen Worten das unterschiedliche Naturell der beiden Steinhofs zu umreißen, zumindest so, wie sie es sah. „Der Chef ist der geborene Anführer. Einer, der vor keiner Schwierigkeit kapitulierte und unermüdlich tätig war, wenn es die Belange des Museums erforderten. Er konnte uns mitreißen und begeistern, er war wirklich ein Vorbild. Was ihm nicht lag, war der tägliche Kleinkram. Ingelore dagegen hat einen ausgesprochenen Ordnungssinn, sie würde nie einen zweiten Schritt wagen, bevor nicht der erste auf festem Boden getan ist. Die Großzügigkeit des Chefs nannte sie einmal ,eine geniale Wurschtigkeit’. Immer müsse jemand mit einer Kehrschaufel zur Stelle sein, um die Scherben einzusammeln, die er beim Vorwärtsstürmen zurückläßt. Diese Kehrschippenfrau wollte Ingelore nicht sein, das war der springende Punkt.“ Und da es sich hierbei nicht um Differenzen handelte, die auf die Arbeitssphäre beschränkt blieben, sondern um gegensätzliche
Charakterzüge, so meinte Hannelore Keßler abschließend, pflanzte sich so etwas natürlich auch in der Ehe fort. Gollus fand ihre Einschätzung sehr aufschlußreich, hielt sie aber auch für etwas überspitzt und einseitig. Denn immerhin hatten die beiden geheiratet, und das in einem Alter, in dem man eine gewisse Reife voraussetzen dürfe. „Oder war es eine Liebe auf den ersten Blick, so nach Cäsars Motto: Ich kam, sah und siegte?“ „Wen meinen Sie denn da mit ,ich’? Ingelore? Also geschwärmt haben wir ja alle für den Chef, und hätte er mich… ich glaube, ich hätte angebissen. Aber er hat eben nicht! Wir haben auch nie gemerkt, daß er sich an Ingelore herangemacht hat. Das muß in der Zeit geschehen sein, als er schon nicht mehr ihr Vorgesetzter war. Die Hochzeit schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sage ich Ihnen. Wir waren sprachlos. Aber wenn man die beiden so sieht… ein duftes Paar ist das schon, nicht?“ Sie beschrieb ihm dann die Hochzeitsfeier. Sehr pompös sei alles gewesen, nicht protzig, eben pompös, sie fand kein besseres Wort. Mit viel Prominenz, mit Sekt und Kaviar und zwei Tanzkapellen. „Natürlich waren wir auch eingeladen, was denken Sie denn! Niemals hätte der Chef seine Mitarbeiter ausgeschlossen, denn Allüren oder Dünkelhaftigkeit gab es bei ihm nicht. Und Ingelore, also ein Brautkleid hatte die an, ganz aus… aber das wird Sie ja nicht interessieren.“ Gollus versicherte sein außerordentliches Interesse, aber Hannelore Keßler winkte geringschätzig ab, als wollte sie sagen: Davon verstehst du doch nichts. Gollus war ihr dankbar. „Aber etwas anderes möchte ich gern wissen. Sie nennen Lothar Steinhof noch immer den Chef, Fräulein Keßler. Ich verstehe durchaus,
wie Sie das meinen: anerkennend und wohl auch ein bißchen verehrend. Sicherlich zu Recht. Ich frage mich aber, ob er nicht auch heute noch der eigentliche Chef des Museums ist. Jemand sagte mir, er sei der gute Geist, der Nerv dieser Einrichtung. Mit anderen Worten – wer hat denn nun das letzte Wort: er oder seine Frau?“ „Mein lieber Scholli, Sie picken sich ja wirklich die Rosinen ‘raus! Wie soll ich das beantworten?“ Sie rümpfte ihre Stupsnase und kniff ein bißchen listig oder durchtrieben die Augen zusammen. „Ich will mal so sagen: Es käme sicherlich keinem von uns in den Sinn, einen Hinweis des Chefs nicht zu befolgen…“ „Auch einen dienstlichen Hinweis?“ „Sie müssen zuhören, was ich sage: Es käme keinem in den Sinn – Konjunktiv. Aber der Chef gibt keine Hinweise. Er äußert Gedanken, Überlegungen, höchstens mal einen Vorschlag. Und doch bin ich davon überzeugt, daß nichts im Museum geschieht, was nicht seine Zustimmung findet.“ „Anweisungen erteilt also ausschließlich Frau Steinhof, aber es sind stets solche, die er auch getroffen hätte. So etwa?“ „Nee, so nicht. Das hieße ja, daß Ingelore bloß sein Sprachrohr wäre. Die Stimme ihres Herrn. Sie weiß genau, was sie will, und läßt sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen. Auch von ihrem Mann nicht. Die beiden werden sich, wie man so sagt, zusammenraufen. Wer dabei die meisten Federn läßt… schwer zu sagen. Ich glaube aber, Ingelore ist im Kommen.“ Was hieß „im Kommen“? War damit gemeint, daß Frau Steinhof durch die Funktion, die sie ausübte, nach und nach die Überlegenere werden und ihren Mann beiseite
drängen würde, oder bezogen sich Hannelore Keßlers Worte auf private Auseinandersetzungen? Auf jeden Fall hatte sie ein Bild von Ingelore Steinhof entworfen, das mit Gollus’ Eindruck vom vergangenen Abend nicht übereinstimmte. Von einer Frau, die im Schatten ihres Mannes stand, so wie Annegret Albrecht und er es empfunden hatten, war hier nicht mal in Andeutungen die Rede gewesen. Gollus wunderte sich zwar darüber, aber er grübelte nicht. Er fand gar keine Gelegenheit dazu. Hannelore Keßlers Redefluß war keineswegs gestoppt, und es kam darauf an, ihn schleunigst wieder in Bahnen zu lenken, die der Ermittlung dienlich waren. Ein Anlaß bot sich, als sie Beispiele anführte, die Ingelore Steinhofs „Kommen“ verdeutlichen sollten. Eines bezog sich auf die beantragte Generalinventur, und über sie kam man nochmals auf das verschwundene Nymphaeum zu sprechen. Der Leutnant schwenkte sofort ein und stellte die Frage, die ihm besonders auf dem Herzen lag und auf deren Beantwortung er sehr viel Wert legte: „Sie haben am vergangenen Sonnabend Herrn Doktor Uhlenhorst Piranesi-Radierungen gezeigt. Welche waren das, Fräulein Keßler?“ „Na, alle, die wir haben, die aus den Veduten di Roma und den Antichild Romanae.“ „Wieviel waren es insgesamt?“ „Laut Kartei besitzen wir elf Veduten und fünf Antichitä.“ „Ich möchte nicht wissen, wie viele PiranesiRadierungen das Museum laut Kartei besitzt, sondern wie viele Sie Doktor Uhlenhorst gebracht haben.“
„Herr Gollus, ich zähle doch die Bilder nicht vorher ab.“ „Ihr Kollege Hentrich hat sie heute morgen abgezählt.“ „Das hat Frau Steinhof so angeordnet. Aber erst, als das Kind schon im Brunnen lag. Und wenn Sie mich nun noch fragen, ob das Nymphaeum am Sonnabend dabei war, ob ich Doktor Uhlenhorst sechzehn oder nur fünfzehn gebracht, ob ich sechzehn gebracht, aber nur fünfzehn wieder eingeschlossen habe – dann kann ich nur lachen! Denn damit quält man mich seit Tagen. Der Chef, Ingelore, die Kollegen, Leutnant Claasen – alle haben sich bemüht. Aber niemand macht mir einen Vorwurf daraus.“ „Und ich erst recht nicht“, sagte Gollus beschwichtigend. Die junge Dame war ziemlich aufgebracht und zerdrückte ärgerlich ihre Zigarettenpackung. Allerdings hatte sie vorher die letzten Pall Mall herausgenommen, und das beruhigte Gollus. „Ich meine nur, daß es…“ „Das können Sie sich alles schenken! Ich bin doch nicht blöde und kann einschätzen, was von meinen Aussagen abhängt.“ Gollus gab nicht nach. „Vielleicht hängt mehr davon ab, als Sie ahnen. Fangen wir also noch mal an: Sonnabend, der elfte Mai, Doktor Uhlenhorst betritt das Kupferstichkabinett. Wann kam er, was sagte er, was machte er, wie war er gekleidet, was trug er bei sich, wie lange blieb er? Bitte genaue Angaben.“ Hannelore Keßler fügte sich, wenn auch mit einem tiefen Seufzer. Ihre Antworten kamen gestochen scharf, man merkte ihnen an, daß sie schon oft gegeben worden waren, Neues brachten sie nicht. Gollus variierte die Fragen, kreiste ein, umging, lockte, beschwor – vergebens. „Ich kann nur sagen, was ich wirklich weiß“, beharrte sie,
„und mehr weiß ich nicht.“ Punktum. „Ich war vorhin im Kabinett“, entgegnete Gollus unbeeindruckt. „Da saß ich fast zwanzig Minuten allein im Raum. Es wäre mir ein leichtes gewesen…“ „Auch Doktor Uhlenhorst war zeitweise allein, das sagte ich Ihnen schon bei unserem ersten Gespräch. Man hat schließlich zu tun. Er war allein und hatte eine Aktentasche bei sich. Na und? Er hat das Nymphaeum nicht genommen.“ „Nanu? Haben Sie seine Tasche kontrolliert?“ „Quatsch! Aber es fehlt ja nicht nur das Bild, sondern auch der Passepartout dazu, Sie Sherlock Holmes; Und die sind bei uns von ziemlich starkem Material. Um den auch in die Aktentasche zu bekommen, hätte Doktor Uhlenhorst ihn brechen und zerreißen müssen. Aber das traut sich niemand.“ Gollus tat, als sei ihm das auch aufgefallen, und gab ein paar verschwommene Erklärungen ab. In Gedanken suchte er derweil nach einer Rechtfertigung für seine Nachlässigkeit. Er fand sie darin, daß sich der Verdacht, Uhlenhorst könnte ein Dieb gewesen sein, zwar seit dem vergangenen Abend breitzumachen begann, er ihn aber niemals wirklich akzeptiert hatte. Obwohl er dieser Spur in bestimmtem Umfang nachging, kam sie ihm einfach widersinnig vor. Es gab so viele Fakten, die dagegen sprachen, daß es gar nicht lohnte, sie aufzuzählen. Angefangen von… aber wozu überhaupt darüber nachdenken, sagte sich Gollus. Wenigstens die Expertise des Uhrenmenschen Hentrich wollte er abwarten. Würde die nachweisen, daß es sich bei Uhlenhorsts Piranesi-Grafik um das Eigentum des Belkower Museums handelte, mußte man sich tatsächlich ernsthaft mit diesem idiotischen
Verdacht auseinandersetzen. Doch bis dahin… Was Leutnant Gollus in den folgenden Minuten noch mit Hannelore Keßler besprach, war nicht mehr von Belang. Was ihm wichtig erschien, war gefragt und gesagt worden. Die Unterhaltung hatte sich gelohnt. Ob alle Behauptungen der jungen Frau aufrichtig gemeint waren, ob sie durchweg mit offenen Karten gespielt hatte – man mußte abwarten. Klaus Gollus verabschiedete sich und fuhr zum Marktplatz von Kronitz, wo er anhielt und den Wagen abstellte. Er stieg aus, ging zu einem Kiosk neben dem Parkplatz und kaufte ein paar Zeitungen. Er wollte sich ablenken, bevor er weitere Schritte unternahm. Es stand noch vieles auf seinem Programm, am dringendsten war ein Besuch im FDGB-Heim. Der Urlauberdurchgang, dem Dr. Uhlenhorst angehört hatte, würde am nächsten Tag abreisen, also auch Frau Eleonore Arendt, die Journalistin und zeitweilige Tischnachbarin des Rechtsanwalts. Außerdem wollte Gollus mit dem Kraftfahrer sprechen, der Uhlenhorst am 11. Mai zum Bahnhof gefahren hatte, auch mit dem Heimleiter, Herrn Zartmann, noch einmal und vielleicht mit einigen anderen Urlaubern und Angestellten – aber, Herrgott, was sollte er denn in dieser Schwebesituation wirklich fragen? Genauso war es mit dem Lehrer der Schulklasse und dem Fotografen Leisegang. Beide wollte er besuchen, aber Sinn hatte das eigentlich erst, wenn die Expertise des Herrn Hentrich vorlag und eine Handhabe dafür bot. Also galt es, sich mit Geduld zu wappnen und die Stunde, die er sich als Pause genehmigt hatte, irgendwie herumzubringen. Gollus meinte, daß er das am besten bei einem kräftigen Mittagessen konnte.
Am frühen Nachmittag saß er dann den beiden Steinhofs erneut gegenüber. Sie hatten ihn wieder in ihrer Dienstwohnung empfangen, aber diesmal in einem kleinen Zimmer, gleich neben dem Eingang. Es war ein Raum, über dessen Verwendungszweck sich Gollus nicht klar wurde. Vor dem halbgeöffneten Fenster hingen grauweiß gewürfelte Vorhänge, zwei Kunstledersessel, ebenfalls grauweiß, standen auf einem roten Teppich, und zwischen ihnen, mitten im Zimmer, prunkte ein Schreibtisch. Ein Schaustück wahrscheinlich, denn nichts außer einer kalten, metallgetriebenen Garnitur wies darauf, daß hier gearbeitet wurde. An der Wand hing ein Bild, van Goghs Selbstbildnis, der Maler mit dem verbundenen Ohr und der Tabakspfeife zwischen den stumpfen, abgebrochenen Zähnen. Kein Schrank ergänzte die Einrichtung, kein Regal, kein Geschirr, keine Bücher – nichts, was auf Tätigsein wies. Ein toter Raum, so empfand Klaus Gollus. Er hatte sofort gespürt, daß sich die Steinhofs in einer gedrückten oder erregten Stimmung befanden. Vielleicht war er sogar in eine Auseinandersetzung hineingeplatzt. Die Begrüßung war zwar höflich gewesen, aber eben nur höflich, und eine gewisse Nachlässigkeit kam zum Vorschein, als sei sein Besuch eigentlich völlig unwichtig. Ingelore Steinhof nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Sehr ostentativ tat sie das, und sie warf ihrem Mann dabei einen herausfordernden Blick zu. Lothar Steinhof blieb stehen. Nach einigen Sekunden ging er dann zum Fenster und drehte den beiden den Rücken zu. Eine Stille herrschte, die wohltuend hätte sein können, aber spannungsgeladen war. Eine Luft zum Ersticken, fand Gollus, obwohl sie rein und frisch und würzig durch das Fenster drang.
Das Schweigen schien eine Ewigkeit anzuhalten. Endlich nahm Frau Steinhof ihre Handtasche, die hinter dem Schreibtisch gestanden hatte, und zog ein Schriftstück heraus. Ohne ein Wort der Erklärung oder Einleitung begann sie vorzulesen. Es war, wie Gollus nach den ersten Sätzen merkte, die Expertise des Herrn Hentrich, sie umfaßte mehrere Seiten. Obwohl Frau Steinhof sie deutlich und mit Betonung vortrug und sich Gollus aufs höchste konzentrierte, verstand er nur einen Bruchteil des Inhalts. Die Fülle von Fachausdrücken, Abkürzungen, Hinweisen und Bezügen verwirrte ihn, außerdem war der Stil altmodisch und umständlich, was eigentlich im Gegensatz zu Hentrichs Redegewohnheiten stand. Immerhin bekam der Leutnant so viel mit, daß dieser Sachverständige das vorgelegte Nymphaeum als das museumseigene identifizierte. Interessant war, daß er diese Schlußfolgerung unter anderem aus dem Vorhandensein der Schabstelle zog, der Fehlstelle, wie er fachmännisch sagte. Nach dem ersten Weltkrieg, so schrieb Hentrich, seien bei einer Umlagerung mehrere Piranesi-Bilder beschädigt worden, man habe sie 1928 von einem Konservator wieder ausbessern lassen. Da die alte Nomenklatur mit der jetzigen nicht übereinstimme, könne zwar nicht exakt nachgewiesen werden, daß auch das Nymphaeum dazu gehörte, er aber glaube es, und deshalb betrachte er das vorgelegte Exemplar als Eigentum des Museums. Wenn Gollus auch ziemlich erstaunt darüber war, daß die Beschädigung schon so alt sein sollte, so sah er doch keinen Anlaß, am Wahrheitsgehalt der Expertise zu zweifeln. Nachdem Frau Steinhof die Expertise vorgelesen hatte, griff sie wieder in ihre Handtasche, nahm einen
Durchschlag heraus und reichte ihn Gollus. „Für Sie, Herr Leutnant.“ Es war das erste Mal, daß sie ihn nicht mit Namen ansprach. Noch ehe Gollus die Papiere in den Händen hielt, sagte Steinhof vom Fenster her: „Du mußt noch unterschreiben, Liebes. Wenn das Schriftstück amtlichen Charakter haben soll, mußt du unterschreiben. Hentrich ist nicht zeichnungsberechtigt. Und du möchtest doch, daß alles amtlich wird, nicht?“ Daraufhin setzte Ingelore Steinhof ohne ein Wort und ohne das geringste Zögern ihren Namen unter die letzte Seite, faltete dann den Durchschlag und gab ihn Gollus. „Den Stempel können wir ja nachholen“, sagte sie ruhig. Für einen Moment sah es aus, als wollte sie es damit bewenden lassen und das Gespräch abschließen. Doch dann besann sie sich, es schien, als wäre ihr erst in diesem Augenblick klargeworden, daß die Dinge sich mit der Expertise geändert hatten. Sie saß einem Offizier der Kriminalpolizei gegenüber, der ein Verbrechen aufzuklären hatte, in das sie unmittelbar verwickelt war. Sie stand nicht mehr als Ratgeber oder Fachkraft am Rande des Geschehens, sondern als Bestohlene, als Opfer im Mittelpunkt. Empfand Ingelore Steinhof so? Die Verhärtung in ihrem Wesen, die plötzliche Distanz gegenüber Gollus, dieser nüchterne, fast abweisende Rahmen des Gesprächs konnten durchaus solchen Empfindungen entspringen – nichts sollte die Ermittlungen beeinflussen, weder Sympathie noch geknüpfte Kontakte. Eine Haltung, die Anerkennung verdiente, sagte sich Gollus, zumal Frau Steinhof vor zwei Tagen am Telefon ziemlich barsch die Frage der Zuständigkeit gestellt und dabei die Genossen aus Hakenfurt als nicht kompetent
bezeichnet hatte. Diese Haltung war inzwischen also revidiert worden – egal, ob aus eigener Erkenntnis oder durch freundschaftliche Belehrung von Leutnant Claasen. Entscheidend blieb, daß sich manches in ihrem veränderten Benehmen so erklären ließ. Aber nur manches. Keine Erklärung fand Gollus für die deutlich spürbare Zerrissenheit zwischen den beiden Ehepartnern. Sie waren außer Form geraten, ganz zweifellos. Sie waren böse miteinander, verbittert übereinander, enttäuscht voneinander. Natürlich war denkbar, daß sie sich gegenseitig Unterlassungen oder Fehler in der Arbeit vorwarfen, die einen Diebstahl erleichtert haben mochten. Hannelore Keßler hatte die unterschiedlichen Auffassungen der beiden über Ordnung ziemlich scharf herausgestellt, und Lothar Steinhof war dabei gar nicht gut weggekommen. Gollus konnte nur die Frau beobachten. Lothar Steinhof stand noch immer am Fenster, hinter ihm also. Und keiner sagte etwas. Aus dem Garten drang Vogelgezwitscher herein. Manchmal raschelten Blätter, wenn der Wind durch die Bäume wehte. Gollus hätte gern geraucht, aber er sah nirgends einen Aschenbecher. Er schlug die Expertise auf und wollte lesen, doch er konnte seine Augen nicht von der Frau wenden, wie sie dort hinter dem Schreibtisch saß, als hätte sie einen Sieg errungen. „Nun?“ fragte sie plötzlich. Sie sah ihn an, kühl abschätzend erst, dann wurde ihre Miene zugänglicher. „Beginnen Sie, Herr Leutnant, wir stehen zu Ihrer Verfügung.“ Gollus räusperte sich. „Womit soll ich beginnen, Frau Steinhof?“
„Mit der Vernehmung. Oder haben Sie nichts zum Schreiben bei sich?“ „Ich muß mich erst mit dem Genossen Claasen abstimmen. Vorschrift, Frau Steinhof.“ „Tun Sie es. Wollen Sie telefonieren?“ „Haben Sie es eilig?“ „Allerdings. Heute ist Sonnabend, wir möchten nach Hause.“ „Sie wohnen in Berlin?“ „In Sperebach. Bei Berlin. Wußten Sie das nicht?“ „Doch.“ „Also?“ Herrgott, was war los mit dieser Frau! Und Steinhof stand am Fenster, glotzte in den Garten und tat, als ginge ihn das alles nichts an! Gollus erhob sich. „Selbstverständlich können Sie fahren. Sie werden am Montag von uns hören. Wo ist übrigens das Nymphaeum?“ „Im Museum natürlich. Brauchen Sie es?“ Ingelore Steinhof war ebenfalls aufgestanden und kam auf ihn zu. Er sah zum ersten Mal die vielen Fältchen auf ihren Wangen, die Haut, die schlaff zu werden begann und diesmal ohne Schminke war, er blickte in ihre Augen, die seltsam leblos schienen und in denen eigentlich nichts anderes war als tiefe Hoffnungslosigkeit. „Wir brauchen es,“ sagte Gollus. „Rufen Sie bitte an, damit ich es abholen kann.“ Lothar Steinhof löste sich von seinem Fensterplatz, und beide begleiteten Gollus zum Wagen. Ehe er einstieg, sagte er noch: „Sie haben ja meine Telefonnummer, Frau Steinhof. Falls was ist.“ „Es wird nichts sein“, antwortete sie. Einen Augenblick war es, als wollte sie etwas hinzufügen. Dann hakte sie
plötzlich ihren Mann unter. Nicht spontan und wohl auch nicht aus Berechnung, eher gewohnheitsmäßig oder mechanisch. Gollus lächelte ihnen zu, und sie erwiderten sein Lächeln. Sie nahmen eine Pose ein, als sollten sie fotografiert werden. Als der Leutnant schon auf der Straße war und in den Rückspiegel blickte, standen sie noch immer so.
6. Wer ist der Täter, und was wollte er? Was trieb ihn zur Tat? Lust, Habgier, Not, Verzweiflung? Fragen, die unbedingt zur kriminalistischen Arbeit gehörten. Richtige Fragen, aber nicht ausreichend für diesen Fall, genauer gesagt: nicht mehr ausreichend. Die Ermittlungen im Fall Uhlenhorst hatten eine neue Stufe erreicht, eine Art Scheidepunkt, wie Hauptmann Meyerhoff es nannte. Er war am Sonntag nach Belkow gekommen, um mit den Genossen die künftige Zusammenarbeit festzulegen. Seine Forderung, eindeutig zu klären, ob das Verbrechen an Dr. Uhlenhorst mit dem Aufenthalt des Rechtsanwalts in Belkow und Umgebung in Verbindung stand, war erfüllt worden. In einer Weise allerdings, die niemand von ihnen erwartet hatte. Hauptmann Meyerhoff war am frühen Morgen angekommen, mit dem Zug natürlich, wie es sich für einen sparsamen Vorgesetzten gehörte. Er hatte sich die schriftlichen Berichte geben lassen und gebeten, daß man ihn eine Stunde ungestört ließ. Leutnant Claasen hatte in seinem Büro ein Zimmer zur Verfügung gestellt, wo die an den bisherigen Ermittlungen beteiligten Genossen später zusammentreffen wollten. Ein Scheidepunkt also. Ein Diebstahl in Belkow, ein Einbruch in Hakenfurt. Eine
Entfernung von etwa zweihundert Kilometern lag zwischen beiden Orten und beiden Verbrechen. Zwei Täter und zwei Taten, oder waren Täter und Opfer eine Person? Gollus und die Genossin Albrecht hatten sich schon am Sonnabend darüber ereifert. Gleich nach Annegrets Rückkehr aus Ahrenshoop, dann später auf ihrem Zimmer, während des Abendbrots, beim anschließenden Spaziergang, bei einem Glas Bier in einer Waldgaststätte und wieder auf Annegrets Zimmer. Sie mußten in ihre Überlegungen nunmehr einbeziehen, daß der biedere, kränkelnde einundsechzigjährige Rechtsanwalt Dr. Eberhard Uhlenhorst eine Piranesi-Radierung gestohlen hatte, aber weder Gollus noch Annegret Albrecht wollten da so recht mitziehen. Der Gedanke schien ihnen absurd. Doch als dieses Wort gefallen war, meinte Gollus: „Weißt du, ich muß an den Abend bei Steinhofs denken, als sie das Nymphaeum betrachteten. ,Was meinst du?’ fragte sie ihren Mann. Er antwortete: ,Ich würde ja sagen, wenn es nicht absurd wäre.’ Das Ja hat sich bestätigt, und das Absurde ist damit widerlegt. Kann man so sagen?“ Aber es kam gar nicht auf die Formulierung an. Annegret Albrecht verstand ihn schon. Und als sie daraufhin ihren Vater zitierte, lateinisch diesmal – Credo quia absurdum est: Ich glaube, weil es absurd ist – , wußte auch Gollus, was sie meinte. Daß eben auch Absurdes wahr sein konnte. Etwas später sagte sie dann: „Was meinst du, Klaus… wäre der Fall leichter oder schwerer, wenn es die Schulklasse am neunten Mai nicht gäbe?“ Er reagierte mit einer Gegenfrage: „Stört dich die Klasse?“ „Ungemein. Nehmen wir einmal an, die Klasse wäre
niemals im Museum erschienen. Dann hätte die Frau Direktor auf deine Frage beim ersten Besuch rein zufällig festgestellt, daß das Nymphaeum nicht auffindbar ist. Natürlich hätte sie nicht gewußt, seit wann die Radierung fehlte.“ „Und was hätten wir dadurch gewonnen?“ fragte Gollus. „Wir könnten annehmen, daß Doktor Uhlenhorst das Bild irgendwann einmal, vielleicht kurz vor seinem Urlaub, regulär gekauft hat. Natürlich nicht vom Museum, sondern unwissentlich von dem Dieb oder einem Hehler. Denk an die abgehobenen zweitausendzweihundert Mark, über deren Verwendung wir noch immer nichts wissen. Ich meine, wir bekämen Uhlenhorst damit aus der Diebstahlangelegenheit heraus.“ Aber die Schulklasse ließ sich nicht wegleugnen. Gollus hatte den Lehrer gefragt, er kannte den Aufsatz, den eine Schülerin über das Nymphaeum hatte schreiben müssen – ein miserabler Aufsatz übrigens – , und auch beim Hoffotografen Leisegang war er gewesen. Sehr gewissenhaft und gründlich hatte er sich die Aufnahme angesehen, das Negativ und die Abzüge. Nirgends gab es eine Lücke, nirgends auch nur den geringsten Grund, Zweifel anzusetzen – am neunten Mai war das Bild noch in Belkow gewesen. Damit mußte man sich abfinden, und davon mußte man ausgehen. Von Fakten, wie Meyerhoff gleich bei der Begrüßung auf dem Bahnhof gesagt hatte: „Die Fakten, Klaus, sind unser Gerüst, um das sich alle Vermutungen und Versionen ranken müssen, verstehst du?“ Gollus hatte verstanden und auch versprochen, künftig wirklich nur noch an Fakten zu „ranken“, und zu Annegret Albrecht hatte er gesagt: „Der Alte war gestern abend mit der Familie Kruse-Kleeberg zusammen, des-
halb sein blumiges Ranken.“ Aber wenn man sich das aus Fakten zusammengesetzte Gerüst einmal ansah, dann gab es nur zwei Pfeiler, die den gesamten Bau halten mußten: der neunte Mai, an dem das Nymphaeum von mehreren Dutzend Augenpaaren im Belkower Museum betrachtet worden war, und der dreizehnte Mai, an dem das gleiche Bild über dem Bett des Dr. Uhlenhorst entdeckt wurde. Und zwischen diesen beiden Daten lag der elfte Mai, lagen Uhlenhorsts vorzeitige Rückkehr, der Einbruch, der Überfall, sein Tod. „Nun ranke mal frisch drauflos“, sagte Gollus zu Annegret Albrecht. Sie saßen im Hotelrestaurant, gewissermaßen auf Abruf durch Hauptmann Meyerhoff, saßen, rauchten, tranken Bitter Lemon und sprachen immer wieder von derselben Sache, die ihnen Rätsel auf Rätsel aufgab. Es mußte Dr. Uhlenhorst gewesen sein, der das Bild gestohlen hatte, aber er konnte es nicht gewesen sein! So widersinnig etwa lautete der Endpunkt, an dem alle ihre Spekulationen zusammenliefen. „Halten wir uns mal seine Rückkehr vor Augen“, sagte Gollus, „spielen wir den Vorgang durch. Wir beide sind bestens geeignet dafür. Du warst nicht dabei, als wir am Montag die Wohnung betraten, bist also nicht vorbelastet, du warst ausschließlich auf Protokolle und Berichte angewiesen. Ich dagegen war unmittelbar am Tatort, kann also von dieser Seite einiges beitragen.“ Annegret Albrecht machte das Spiel mit, obwohl sie es bereits am Vortag bis zum Überdruß gespielt hatten. Es war nichts herausgekommen dabei, aber man mußte es wiederholen und nochmals wiederholen, weil es irgendwo eine Kleinigkeit geben konnte, die übersehen oder falsch gedeutet worden war.
„Also los. Doktor Uhlenhorst kommt am elften Mai, abends, zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr, nach Hause. Wenn er das Bild bei sich trägt, muß es in seiner Aktentasche verstaut sein. Zusammengefaltet paßt die Grafik ‘rein, ich habe mich selbst überzeugt. Wo der Passepartout geblieben ist, soll uns jetzt nicht kümmern. Doktor Uhlenhorst betritt seine Wohnung und legt den Mantel ab. Was macht er außerdem?“ „Er nimmt das gestohlene Nymphaeum aus der Aktentasche. Er muß es herausgenommen und in sein Schlafzimmer gehängt haben, denn dort fandet ihr es am Montag: Ordentlich in einem Rahmen und unter Glas. Und die Aktentasche war verschlossen, als ihr sie fandet. Und hier wäre die erste Frage, auf die wir keine Antwort wissen: Warum hat Doktor Uhlenhorst die Tasche wieder abgeschlossen, nachdem er das Bild herausgenommen hatte? Es gibt keinen plausiblen Grund dafür. Das Schloß war nicht beschädigt, das haben die Techniker festgestellt.“ „Und was leuchtet vor allem nicht ein, Annegret?“ „Daß Doktor Uhlenhorst dieses gerade entwendete Nymphaeum sofort in seiner Wohnung aufgehängt haben soll. Sollte Doktor Uhlenhorst so verbohrt, ja geradezu geil auf den Anblick der Grafik gewesen sein, daß er es nicht einmal fertigbrachte, sie wenigstens ein paar Tage versteckt zu halten? Eine sehr vernünftige Frage, du hast sie ja schon gestern abend gestellt, ohne daß wir eine Antwort gefunden hätten.“ Sie waren am Abend zuvor ein bißchen durch die Belkower Straßen gegangen, und Gollus hatte ein paar Erläuterungen zu den verschiedenen Zeitangaben gemacht. „Am neunten Mai, kurz nach achtzehn Uhr, ist das
Nymphaeum zuletzt im Museum gesehen worden. Die Schulklasse war schon abgezogen, und nachdem sich auch der Fotograf verabschiedet hatte, wurden alle Bilder im Kupferstichkabinett wieder eingeräumt. Darunter auch die Piranesi-Grafik. Kurz nach achtzehn Uhr, wie gesagt.“ „Am Abend des neunten Mai, kurz nach achtzehn Uhr“, wiederholte Annegret Albrecht. Sie war stehengeblieben und schaute in den klaren Nachthimmel. „Am Abend des elften fährt Doktor Uhlenhorst aus Kronitz nach Hakenfurt zurück. Zwei Tage später also. Das sind volle achtundvierzig Stunden, Klaus! Warum ignorieren wir die eigentlich? Muß denn das Bild erst am elften gestohlen worden sein? Muß es unbedingt Doktor Uhlenhorst gewesen sein?“ Und dann, nach kurzem Überlegen, heftig und impulsiv: „Überleg doch mal! Ist es wirklich nicht möglich, daß ein anderer der Dieb war und Uhlenhorst diesem anderen das Bild abkaufte? Er hatte keine Ahnung, daß die Radierung gestohlen war. Deshalb hängte er sie sofort über seinem Bett auf.“ Annegret Albrecht fühlte sich erleichtert. Es hatte ihr von Anfang an nicht in den Kopf gewollt, daß ein Mann wie Dr. Uhlenhorst die Tat begangen haben sollte. „Die Begleitumstände passen nicht zu ihm“, hatte sie immer wieder gesagt. „Wenn Uhlenhorst aus irgendeinem Reflex heraus das Bild tatsächlich an sich genommen hätte – er wäre halb gestorben hinterher.“ „Er ist ja ganz gestorben, hinterher“, hatte Gollus da eingeworfen. Einen Augenblick hatten sie einander wortlos angesehen, Gollus’ Bemerkung bedurfte keiner Erwiderung, sie war unlogisch, mehr ein frivoles Wortspiel, trotzdem auf schreckliche Weise wahr.
Aber das hatte nicht verhindern können, daß Annegret Albrecht und Gollus glaubten, eine Erklärung gefunden zu haben, die Uhlenhorst von dem Verbrechen freisprach und dennoch nachwies, wie das gestohlene Bild in seinen Besitz gekommen war. Eine Zeitlang wenigstens hatten sie das geglaubt. Doch je ausführlicher sie darüber gesprochen hatten, desto mehr Bedenken waren aufgetaucht. Beiden war klar, daß ihre Überlegung den Hakenfurter Rechtsanwalt zwar in ein gutes Licht rückte, daß sie in Hauptmann Meyerhoffs Augen aber noch lange nicht das sein würde, was er als bewiesene Tatsache bezeichnete. Am Abend zuvor hatte Annegret Albrecht auch ausführlich von ihrer Begegnung mit Frau Backhaus in Ahrenshoop berichtet. Nicht das, was sie in ihrem Bericht niedergelegt hatte und was Klaus Gollus schon kannte: zum Beispiel den Umstand, daß Uhlenhorsts Telegramm Kaufe Lith. zu vereinb. Preis nicht an Frau Backhaus gerichtet war; die Bildhauerin hatte den Rechtsanwalt zufällig kennengelernt, als er ihr ein Bild abkaufte und sie bat, es per Nachnahme nach Hakenfurt zu schicken – nein, Annegret sprach von dem Beiwerk, in dem nach den Worten ihres Vaters der Widerschein eines Charakters deutlich wurde. „Eine Frau, die dir auch gefallen würde. Man sieht ihr die Zweiundfünfzig nicht an. Nicht daß sie sich herausputzt… du hättest sie sehen sollen: struppiges Haar, Kittelschürze, Sandalen an den nackten Füßen, Meyerhoff hätte seine helle Freude an dieser Art Künstler. Nichts Verschrobenes, Überdrehtes. Sie kennt Lothar Steinhof, ich glaube, sogar ziemlich gut. Aber sie himmelt ihn nicht an.“ „Hat sie das gesagt?“
„Nicht gesagt, mein Eindruck ist so. Ich weiß nicht, was sie gegen ihn hat. Du weißt doch, wie das ist: Man glaubt plötzlich, irgend etwas herausgehört, einen Blick aufgefangen zu haben, und man kann nicht sagen, wieso.“ Annegret Albrecht berichtete dann von einer Begebenheit, die ihr Frau Backhaus erzählt hatte. „Sie gab keinen Kommentar dazu, machte keine Bemerkung, sie stellte nur den Vorgang dar. Aber ich muß das so erzählen, wie ich es aufgefaßt habe. Es sind also meine Worte, nicht die ihren.“ Es war auf einem Empfang, zu dem der Kulturbund eingeladen hatte. Irgendein Jahrestag oder ein Jubiläum wurde gefeiert. Lothar Steinhof war kurz zuvor mit einer Auszeichnung geehrt worden. Er war damals noch nicht verheiratet und kam mit einem Bekannten, einem Zahnarzt. Und wie er kam! Steinhof war in seinem Element. Er schüttelte Hände, grüßte und winkte nach allen Seiten. Er trank, er trank noch einmal, er prostete zu, ging von Gruppe zu Gruppe, spießte übermütig Krabben vom Teller seiner Nachbarin, was die mit einem hellen Girren quittierte, kaufte am Büfett teuerste Pralinenpackungen für die Damen, verschenkte, verteilte, umarmte enthusiastisch und mehrmals auch Frau Backhaus, redete mit volltönender Stimme, redete auch mit den gepflegten Händen, den strahlenden Augen – ein Allerweltskerl, der zu brillieren verstand. Steinhof lachte viel, fast nach jedem Satz, er wollte witzig sein, agil, immer in Bewegung. Und dann wieder, wenn die Umstehenden es ihm angebracht erscheinen ließen, wurde er der Ruhige, Bedächtige, der voller Konzentration sprach, der seinen Toast kaute, zwischendurch zuhörte, geneigten Hauptes und langsamer kauend, des-
sen Blick hin und wieder abschweifte. Ein Mann, dem in diesem Moment alles gestanden hätte: der Doktorhut nicht schlechter als eine Galauniform, aufgekrempelte Hemdsärmel nicht weniger als ein Smoking. Ein Mann, dem alles auf der Zunge lag: blendende Formulierungen über gewichtige Themen, landläufige Konversation, billige Phrasen, pikante Bonmots, ein ganzes Register von gern gehörten Gemeinplätzen. „So haben wir ihn aber nicht kennengelernt, Annegret“, hatte Gollus darauf gesagt. „Aber ich kann ihn mir so vorstellen. Ich kenne Menschen dieser Art. Bei uns zu Hause bin ich ihnen nicht selten begegnet. Und weißt du, was diese Typen antreibt und bewegt? Angst, mein Lieber. Die Angst, einmal nicht witzig, einmal nicht attraktiv, einmal nicht Mittelpunkt sein zu können. Das ist’s.“ „Schade, daß wir keine Schilderung von solch einem Empfang haben, an dem er mit seiner Frau teilgenommen hat, Annegret. Das würde mich interessieren. Ich sehe die beiden vor mir, wie sie Arm in Arm eine Freitreppe hochgehen, Pardon, empor schreiten, nach rechts und links huldvoll das Haupt neigen…“ „Auf rotem Teppich, von Scheinwerfern umstrahlt… Unsinn, so ein Typ ist Frau Steinhof nicht.“ „Sag das nicht, ich kann sie mir durchaus so vorstellen…“ Und Gollus hatte sich eine solche Szene vorgestellt, die aber immer etwas peinlich Weihevolles bekam, die unnatürlich, gestelzt wirkte, wofür er keine Erklärung fand. Er hätte jetzt, am Sonntagvormittag, während sie darauf warteten, daß Hauptmann Meyerhoff sie rufen würde, gern mit Annegret Albrecht darüber gesprochen, doch es fand sich keine Gelegenheit. Annegret wog noch
immer Argumente für und wider eine eventuelle strafbare Handlung von Dr. Uhlenhorst ab und fragte dann, ob Gollus noch einmal das Ferienheim in Kronitz aufgesucht habe. „Ja, aber nichts von Bedeutung erfahren. Ich habe Frau Arendt, Uhlenhorsts Tischnachbarin, vor allem nach dem Tagesablauf des neunten, zehnten und elften Mai gefragt. Ihr und einigen anderen Urlaubern fielen ein paar Begebenheiten ein, bei denen auch Doktor Uhlenhorst zugegen gewesen war, ein gemeinsamer Kinobesuch am Abend des neunten, ein Spaziergang am nächsten Vormittag, eine kurze Begegnung schließlich gegen halb fünf, als der Rechtsanwalt aus der Post gekommen war.“ „Aus der Post?“ „Ja, um sechzehn Uhr fünfundzwanzig hat er das Telegramm an seinen Sohn aufgegeben, ich habe die Zeitangaben verglichen.“ Anschließend hatte der Leutnant mit dem Fahrer gesprochen, der Uhlenhorst am elften Mai zum Bahnhof gebracht hatte. „Tja“, hatte der gesagt, „eine Aktentasche trug er auf jeden Fall bei sich, aber ob sonst noch was…? Wenn ich mich nicht irre, hatte er einen Mantel über dem Arm, aber beschwören kann ich das nicht.“ „Und Doktor Uhlenhorst ist wirklich mit der Bahn gefahren?“ Der Fahrer guckte, als hätte Gollus einen Witz ohne Pointe gemacht. „Na, warum hätte ich ihn denn sonst zum Bahnhof kutschiert?“ „Haben Sie gesehen, daß er in den Zug gestiegen ist? Oder daß er am Schalter eine Karte gekauft hat?“ „Nee, sollte ich das?“ Gollus war am selben Tag auch beim Rat des Bezirks,
Abteilung Kultur, gewesen und hatte Frau Steinhofs Antrag auf Generalinventur gelesen. Er war sehr bestimmt, zugleich aber auch ziemlich zurückhaltend abgefaßt. „Sie dringt auf eine Inventur, drängt aber nicht“, versuchte Gollus zu erklären. „Du meinst, sie genügt nur einer Pflicht, einer Vorschrift?“ „Das würde ich nicht sagen. Ihr scheint es schon ernst zu sein, aber vielleicht will sie die Urlaubssaison nicht dafür verwenden. Sie hat den Antrag ja zu einem Zeitpunkt gestellt, als… Oh, ich sehe den reitenden Boten.“ Ein uniformierter Polizist war eingetreten, der sich suchend im Lokal umsah. Jetzt entdeckte er die beiden Kriminalisten und kam an ihren Tisch. „Der Genosse Meyerhoff erwartet Sie.“ Er lachte gemütlich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hab’ ‘n Wagen draußen.“ Annegret schenkte ihm ihr liebenswürdigstes Lächeln, dann stolzierte sie voran. „Is ne Biene, was!“ sagte der Polizist und blickte Gollus verschmitzt von der Seite an. „Aber keine gewöhnliche“, meinte der, „die Königin.“ „Arme Drohne“, sagte der Polizist darauf mitleidsvoll. Hauptmann Meyerhoff eröffnete die Arbeitsbesprechung mit einer Art Presseschau über Kunstdiebstähle. Er verlas einige Zeitungsnotizen, die, wie er sagte, wahllos aus den letzten Ausgaben herausgegriffen waren: Diebstahl eines Tiziangemäldes, Suche nach einem gestohlenen Tiepolobild, Raub von tausend altrömischen Münzen. „Allein in Italien“, sagte er, „wurden im vergangenen Jahr fast fünfzehntausend wertvolle Kunstobjekte gestohlen, davon dreieinhalbtausend aus Museen. Die Schlagzeile im
Neuen Deutschland dazu lautet: Diebstahl von Bildern ist einfacher als Bankraub! – Kruse-Kleeberg hat mir neulich einen Aufsatz in der Zeitschrift Marginalien gezeigt, Heft fünfzig, neunzehnhundertdreiundsiebzig, darin wird zitiert: ,Der Reiz der Jagd ergriff Besitz von mir, und es war unmöglich, ihm zu entrinnen. Denn der Sammler ist wie ein Spieler oder Habsüchtiger, ein Sklave seiner Leidenschaft.’ Doktor Uhlenhorst hatte diese beiden Sätze dick unterstrichen. Zum gleichen Thema heißt es in dem Buch von Löschburg, Der Raub der Mona Lisa: ,Sammlerleidenschaft läßt manchmal geachtete Persönlichkeiten zu Dieben werden… Sie stehlen selbst, einer besonderen Versuchung, der Einmaligkeit der Situation erlegen, lassen aber auch für sich arbeiten.’ Viele, die Kunstgegenstände stehlen, tun es aus Fanatismus, Geltungsdrang, Wunsch nach Öffentlichkeit. Es werden Werke geraubt, die bekannt sind oder durch deren Beschaffung man Anerkennung oder Bewunderung erringen kann. Manche Sammler, schreibt Löschburg, sind so versessen auf ein bestimmtes Objekt, daß sie oft nicht nach der vielleicht zweifelhaften Herkunft des Gemäldes fragen. So, Genossen, ich finde, wir sollten die einschlägige Literatur zu diesem Thema gründlich studieren. Meine kleine Kostprobe war als Stimulans gedacht. Und nun frisch ans Werk!“ Meyerhoff schien bester Stimmung. Er rieb sich die Hände und strahlte in die Runde, als habe er die Lösung längst in der Tasche. „Das Nymphaeum“, begann er, „kann nur von Doktor Uhlenhorst gestohlen worden sein oder von einem Angehörigen des Belkower Museums. Alles andere scheidet aus. Es hat kein Einbruch stattgefunden, und außer Uhlenhorst hat sich niemand zwischen
dem neunten und dem elften Mai Piranesi-Bilder vorlegen lassen. Das sollte Ausgangspunkt Nummer eins für unsere weiteren Schritte sein. Ausgangspunkt Nummer zwei wäre, daß Uhlenhorst, wenn nicht er der Dieb war, mit dem Dieb zusammengetroffen sein und das Bild übernommen haben muß. Dafür stand eine Zeitspanne von rund achtundvierzig Stunden zur Verfügung, und um die geht es, so oder so. Sagt selbst: Sieht das nicht schon bedeutend geradliniger und vor allem übersichtlicher aus als noch vor ein paar Tagen?“ Na gut, schon, so gesehen, klar. Annegret Albrecht und Gollus hatten genickt und kurze Zustimmung gemurmelt. „Ich finde“, fuhr Meyerhoff fort, „wir sollten der zweiten Variante den Vorrang geben. Daß ein Dieb seine Beute sofort an die Wand hängt, scheint mir unwahrscheinlich. Außerdem hat sich Uhlenhorst schon vor Urlaubsantritt bei Kruse-Kleeberg über Piranesi informiert und von einem verlockenden Angebot gesprochen. Damals konnte er wohl nicht voraussehen, daß er in Belkow in jene ,Einmaligkeit der Situation’ geraten würde, von der Löschburg spricht. Jemand hat ihm also die Radierung von Piranesi angeboten, vermutlich zum Preis von rund zweitausend Mark, und dieser Jemand ist der Dieb.“ Das klang alles sehr einleuchtend, für Gollus jedoch ein wenig zu einleuchtend. „Und meinst du, daß Uhlenhorst von der Herkunft des Nymphaeums keine Ahnung gehabt hat? Daß er sozusagen im guten Glauben handelte?“ „Wer weiß“, sagte Meyerhoff und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. „Was meint ihr denn?“ Er war die ganze Zeit auf und ab gegangen, jetzt setzte er sich auf die Schreibtischkante und ließ übermütig die Beine baumeln. Er wirkte gelockert, wie ein Lausejunge, der sich auf den
Fußball freut. Da Annegret Albrecht und Gollus nicht gleich antworteten, fügte Meyerhoff noch hinzu: „Wir dürfen nicht vergessen, Uhlenhorst war Rechtsanwalt und mit den gesetzlichen Bestimmungen sicherlich vertraut. Wenn man etwas aus Privathand erwirbt, muß man sich vergewissern, daß der Verkäufer auch der rechtmäßige Eigentümer ist. Das trifft für Kunstwerke in besonderem Maße zu.“ „Aber auch ein Rechtsanwalt kann getäuscht werden“, warf Annegret Albrecht ein. „Wenn Uhlenhorst von der zweifelhaften Herkunft des Bildes gewußt haben soll, machen wir ihn sozusagen zum Komplizen des Täters. Das ist inkonsequent. Denn auch als Komplize oder Hehler hätte er die Radierung nicht gleich in seiner Wohnung aufgehängt.“ „Nicht nur das!“ sagte Gollus. „Warum sollte dann dieser andere, der Dieb also, durchs Badezimmerfenster einsteigen? Der klingelt an der Tür, sagt: ,Guten Tag, Herr Rechtsanwalt, hier bringe ich Ihnen die Grafik, nun mal her mit…“ „Laß die Vorgänge in seiner Wohnung vorläufig beiseite“, unterbrach ihn Meyerhoff, „die erörtern wir anschließend. Jetzt stehen wir vor der Frage, ob Uhlenhorst völlig ahnungslos in den Besitz des Piranesi gelangt ist oder ob er Bescheid gewußt hat. Was spricht für das eine, was für das andere?“ Für die Annahme, daß Uhlenhorst nichts von dem Diebstahl gewußt hatte, sprach sein Verhalten vor Antritt des Urlaubs und vor allem das arg- und harmlose sofortige Aufhängen der Radierung, als er zu Hause ankam. Und was sprach dafür, daß Uhlenhorst wider besseres Wissen die zweifelhafte Herkunft des Nymphaeums in Kauf
nahm, daß er vielleicht sogar von dem Diebstahl wußte? In erster Linie seine wiederholten Besuche im Belkower Museum. Hauptmann Meyerhoff formulierte schließlich das Ergebnis ihres Überlegens so: „Es ist undenkbar, daß ein Mann wie Uhlenhorst das Bild von einem ihm Unbekannten gekauft hat. Er wußte seinen Namen, bestimmt seine Adresse, vermutlich auch Beruf und Arbeitsstelle. Ich behaupte deshalb: Uhlenhorst kann nicht ganz ahnungslos gewesen sein, er muß etwas gewußt oder geahnt haben… oder zu irgendeinem Zeitpunkt, durch irgendeine Begebenheit plötzlich Verdacht geschöpft haben, daß an dem Geschäft etwas faul war. So, und nun kombiniert mal weiter. Denkt an den elften Mai, an Uhlenhorsts Rückkehr, an den Fremden, der ihn niederstößt… na?“ „Einwandfrei“, sagte Gollus, der sofort begriffen hatte. „Einwandfrei, wirklich. Der Fremde, der Dieb und Verkäufer also, trifft sich am Abend des elften Mai mit Uhlenhorst in dessen Wohnung…“ „Vielleicht fuhren sie sogar zusammen nach Hakenfurt zurück“, warf Meyerhoff ein. „Denkt an das Auto in der Seitenstraße, denn daß Uhlenhorst mit der Bahn reiste, ist ja inzwischen zweifelhaft geworden. In der Wohnung dann – das Bild hing schon eingerahmt an der Wand – sprach Uhlenhorst aus, was ihn bedrückte. ,Sagen Sie mal, woher…’ und so. Der andere fühlte sich ertappt und überführt, ein Wort gab das andere, ein unkontrollierter Schlag oder Stoß, der Rechtsanwalt fiel zu Boden, der Täter floh durchs Badezimmerfenster.“ Einen Augenblick schwiegen alle, doch dann zeigten sich auf Gollus’ Gesicht Bedenken, und Annegret Albrecht schüttelte leicht zweifelnd den Kopf. „Daß die beiden gemeinsam die Wohnung betreten ha-
ben, ist nicht möglich, Genosse Meyerhoff“, sagte sie schließlich. „Peter Brux und seine Betty haben den Rechtsanwalt am Abend des elften gesehen. Er war allein.“ „Und hast du mir nicht gleich am ersten Tag nachgewiesen, daß der Unbekannte eher im Schlafzimmer gewesen sein muß als Uhlenhorst?“ fragte Gollus. Meyerhoff wischte die beiden Einwände mit einer Handbewegung beiseite und ließ sich seine euphorische Stimmung nicht nehmen. „Das sind Details, die wir natürlich noch klären müssen, die aber am Gesamtbild wahrscheinlich nichts ändern werden. Ich bleibe dabei: Der Mann, der Uhlenhorsts Tod verursacht hat, war auch der Dieb des Nymphaeums, und Uhlenhorst hatte Lunte gerochen. Davon gehen wir aus, und damit basta!“ Wie sehr sich Hauptmann Meyerhoff tatsächlich in einem Hochgefühl befand, konnte durch nichts treffender bewiesen werden als durch das banale Geschichtchen, das er anschließend zum besten gab. „Wenn Kruse-Kleeberg zu seinem Töchterchen energisch wird, die Kleine ist gerade vier geworden, schließt er seine Befehle auch mit ,basta’ ab wie ich eben. ,Du gehst jetzt ins Bett, und damit basta!’ Und was macht die Kleine? Sie sagt: ,Nicht mit ,basta’, Pappi, ohne ,basta’.’ Ist das nicht putzig?“ Annegret Albrecht und Gollus lachten pflichtschuldig, warfen sich aber auch einen verstohlenen Blick zu. Es war seit langer Zeit das erste Mal, daß Meyerhoff die sonst bei ihm übliche scharfe Trennung von Privatem und Dienstlichem aufhob, und die beiden fragten sich, ob das dem Einfluß dieses Kruse-Kleeberg zu verdanken war oder dem günstigen Verlauf ihrer Arbeit: Denn na-
türlich wußten sie, daß ihr „Alter“ immer erst dann richtig in Fahrt kam, wenn ein Fall in überschaubare Bahnen eingemündet war. Was bei Meyerhoff hieß, wenn man die Aufklärung eines Verbrechens mit konkreten Fragen beginnen konnte. „Man muß wissen, was man wissen will“, pflegte er oft zu dozieren, „je genauer die Frage, desto genauer die Antwort, und auf Genauigkeit kommt es in unserem Beruf an.“ Hauptmann Meyerhoff lachte noch immer über sein Geschichtchen. Es war ein fröhliches, ehrliches Lachen, das auch auf seinem Gesicht blieb, als seine Stimme wieder ernst wurde und er Anweisungen erteilte. „Die nächsten Aufgaben sind also: erstens noch genauer jeden Schritt überprüfen, den Uhlenhorst in Kronitz und Umgebung zwischen dem neunten und dem elften Mai gemacht hat. Zweitens müssen wir in Hakenfurt alles herausfinden, was mit Uhlenhorsts Rückkehr zusammenhängt. Drittens gilt es, die Reiseroute des Rechtsanwalts zu ermitteln, und viertens schließlich muß schleunigst mit der Vernehmung aller Museumsangehörigen begonnen werden. Dazu brauchen wir Leutnant Claasen, und wenn er pünktlich ist, müßte er eigentlich jeden Augenblick hier auftauchen.“ Leutnant Claasen war pünktlich.
7. Die Arbeitsberatung war erfolgreich verlaufen. Hauptmann Meyerhoff konnte mit Annegret Albrecht und Klaus Gollus bereits am Nachmittag nach Hakenfurt zurückfahren. Sie hatten mit den Genossen aus Belkow die nächsten Aufgaben festgelegt, Fragen der Verantwortlichkeit geregelt und über Art und Weise einer um-
fassenden und schnellen Information gesprochen. Jedermann war zufrieden – zuletzt auch Leutnant Claasen. Anfangs hatte er Bedenken geäußert. Bedenken über sich selbst. Seine freundschaftlichen Beziehungen zu dem Ehepaar Steinhof könnten vielleicht bei der Arbeit hinderlich sein, hatte er gesagt und zur Debatte gestellt, ob er nicht befangen sei und besser durch einen anderen Genossen ersetzt werden sollte. Natürlich würde er sich alle Mühe geben und sich auch der notwendigen Objektivität befleißigen, ob es ihm jedoch immer gelänge – er habe nun mal viel übrig für die Steinhofs und wolle damit nicht hinter dem Berge halten. Meyerhoff war nicht wenig erstaunt über dieses Bekenntnis, während Annegret Albrecht und Gollus etwas Ähnliches erwartet hatten. Sie honorierten Claasens Ehrlichkeit mit deutlichem Wohlwollen, wie der Hauptmann bemerkte. Auch er war von ihr angetan, wenngleich er sich sagte, daß Claasen letztlich nichts weiter tat, als einer Pflicht zu entsprechen. Weitaus schwerer war es natürlich, nun eine gerechte Entscheidung zu treffen. Obwohl sie nicht ausschließlich bei Meyerhoff lag, sondern auch Sache der Kriminalpolizei in Belkow war, mußte der Hauptmann sich äußern, Ausflüchte gab es nicht. Sie hätten auch nicht seinem Charakter entsprochen. Eine ehrliche Frage forderte eine genauso ehrliche Antwort, und die mußte er jetzt finden. Meyerhoff machte es sich nicht leicht. Als Claasen einiges aber sein Leben und sein Verhältnis zu den Steinhofs erzählte, wurde er zeitweise hin und her gerissen. Der Junggeselle, bald fünfzig schon, immer ein wenig leidend und kränkelnd, hatte schwer Fuß fassen können in Belkow. Gut, er hatte einen Beruf, den er liebte, hatte Ge-
nossen, mit denen er sich verstand, aber außerhalb dieses Bereiches fand er nur schwer Anschluß. Er nannte sich selbst kontaktarm, ein bißchen melancholisch. Und in dieses Leben waren dann die beiden Steinhofs getreten, die ihm das Du und ihre Freundschaft anboten und in deren Haus er willkommen war, wann immer es ihm paßte. Das alles hatte Gewicht und mußte bedacht Werden. Nicht weil einer der Steinhofs besonders, sondern weil beide ebenso verdächtig waren wie die übrigen Angestellten des Museums. Wie also sich entscheiden? Claasens Mitarbeiter rieten dem Leutnant, weiter am Fall mitzuarbeiten. „Schön und gut, wir wissen das ja und berücksichtigen es, aber mach weiter mit.“ Und auch Annegret Albrecht und Gollus schienen so zu denken. Sicherlich war das ein Kriterium für Meyerhoff, er vertraute ihrer Menschenkenntnis, und sie kannten den Leutnant besser als er. Dennoch – die Verantwortung trug er nun mal allein. Es war dann Claasen selbst, der den Ausschlag gab. Die schwerfällige, etwas ungeschickte Art, mit der er sein Anliegen vorbrachte, die eckigen, oft verlegenen Bewegungen – da war nichts Geschliffenes, Wichtigtuerisches, nichts, was auf äußeren Effekt abzielte. Alles sprach dafür, daß Claasen sich wirklich Sorgen machte, daß es ihm um die Sache, nicht um seine Person ging. „Wenn Ihre Dienststelle keine Einwände erhebt, Genosse Claasen… von unserer Seite haben Sie grünes Licht“, hatte Meyerhoff schließlich gesagt und damit den Komplex abgeschlossen. Das Vertrauen, das sie Leutnant Claasen entgegengebracht hatten, erwies sich als gerechtfertigt. Schon während der Beratung wurde aus dem wortkargen und in sich
gekehrten Mann ein schwungvoller, energiegeladener Mitstreiter. Und das blieb so. In den folgenden Tagen bewältigte Leutnant Claasen ein erstaunliches Arbeitspensum, er „ackerte“, wie Klaus Gollus sagte. Nicht nur, daß Claasen die Museumsangestellten sehr gründlich und umfassend befragte, er und seine Leute prüften auch jede Aussage gewissenhaft nach. Sie fuhren dazu in die entlegensten Orte, wenn es notwendig war. Jedem Protokoll, das er nach Hakenfurt schickte, waren Zeugenaussagen oder andere Beweismittel beigefügt, bis hin zu Theater- oder Kinobilletts, Fahrkarten und abgestempelten Hotelrechnungen. Die von Claasen durchgeführten Befragungen waren so vielfältig, daß Meyerhoff sie nicht hätte besser machen können: Hatte einer der Angestellten Kontakt zu Dr. Uhlenhorst gehabt? Wer kannte ihn, wer hatte ihn gesehen? Wer besaß für den elften Mai, Uhlenhorsts Rückreisetag, kein lückenloses Alibi? Gab es Vorbestrafte? Wo waren sie früher beschäftigt gewesen? Was sagten die Kaderakten aus? Wie war die soziale Lage und die charakterliche und moralische Veranlagung des einzelnen, bei wem gab es Ansatzpunkte eines Abgleitens ins Kriminelle: Geldnot, Hang zu Ausschweifungen, verborgene Laster oder Schwächen? Das waren keine Kleinigkeiten, und was Leutnant Claasen da schaffte und berichtete, nötigte zweifellos Anerkennung ab. Daß man ihm auf seinen Wunsch die Befragung des Ehepaares Steinhof abnahm, war selbstverständlich. Meyerhoff beauftragte Gollus mit diesem Gespräch und empfahl, daß auch die Genossin Albrecht daran teilnehmen sollte. Um eine erneute Fahrt nach Belkow zu vermeiden, wurde vereinbart, die Steinhofs in
ihrer Privatwohnung in Sperebach bei Berlin aufzusuchen. Als Termin war der Mittwochnachmittag vereinbart worden, weil um diese Zeit das Belkower Museum für den Publikumsverkehr geschlossen und Frau Steinhof am ehesten abkömmlich war. Gollus hätte es zwar vorgezogen, die beiden Direktoren – so nannte er die Steinhofs – als letzte zu befragen, als Abschluß gewissermaßen, aber Meyerhoff wollte von diesen Überlegungen nichts wissen. Es blieb also bei dem vereinbarten Mittwochnachmittag, und bis dahin mußte noch vieles erledigt, gesichtet und geprüft werden. Das Verbrechen an Dr. Uhlenhorst war nicht der einzige Fall, den sie zu bearbeiten hatten. Meyerhoff und seine Leute wurden mehrmals mit anderen Ermittlungen beauftragt, so daß der Fall Nymphaeum zeitweise etwas in den Hintergrund trat. Dennoch nutzten sie jede Gelegenheit, darüber zu sprechen, und vor allem Gollus blieb hartnäckig und ließ sich durch keine noch so große Terminnot davon abbringen, den Fall weiterzuverfolgen. „Wir wissen nach wie vor nicht, warum Uhlenhorst seine Schreibtischschlüssel in den Koffer gepackt hat“, sagte er eines Tages zu Annegret Albrecht. „Und genauso unklar ist noch immer, zu welchem Zweck er ein Fach seines Wohnzimmerschranks frei machte.“ „Richtig.“ „Wir wissen ebenfalls nicht, wo die zweitausendzweihundert Mark geblieben sind, die Uhlenhorst von seinem Konto abgehoben hat.“ „Damit wurde die Radierung bezahlt. Von dieser Version gehen wir doch aus.“ „Doktor Uhlenhorst hat das Geld vierzehn Tage vor Urlaubsantritt abgehoben. Warum schon so früh?“ Achsel-
zucken. „Wir wissen nicht, wo Uhlenhorst am Abend des elften Mai das Eisbein gegessen hat. Im D-Zug nicht, nach seiner Ankunft in Hakenfurt auch nicht, wo also?“ „Ein Glück für uns, daß er gerade Eisbein gewählt hat. Hätte er ‘ne Bockwurst vorgezogen, wären wir nie auf diese Frage gestoßen.“ „Wir wissen außerdem nicht, was es mit dem Telegrammentwurf auf sich hat: Kaufe Lith. zu vereinb. Preis. An Frau Backhaus in Ahrenshoop war es nicht gerichtet, wie du erfahren hast. Aber außer dem Reitenden Jungen auf Stier von der Backhaus ist kein weiteres Bild für ihn eingetroffen. Denn das Nymphaeum zählt nicht. Es ist keine Lithographie, sondern eine Radierung.“ „Stimmt.“ „Dann: Uhlenhorst hat am Sonnabend, dem elften Mai, im Belkower Kupferstichkabinett einen Katalog über eine Berliner Piranesi-Ausstellung benutzt. Etwa achtzig Seiten, mit rotem Deckel. Fräulein Keßler hat gesagt, er habe ihn aus seiner Aktentasche genommen. Aber dort fanden wir keinen Katalog. Wo ist er geblieben?“ „Stimmt. Und wo ist die Strichzeichnung geblieben, dieser Edelkitsch laut Doktor Kneisel, der jahrelang über Uhlenhorsts Bett hing?“ „Und der Passepartout, in dem das Nymphaeum steckte! Den wird der Dieb wahrscheinlich an sich genommen und anschließend vernichtet haben, aber warum? Das Bild ohne Steckrahmen zu stehlen wäre doch viel einfacher gewesen.“ „Das war eben die Raffinesse des Täters: Ein leerer Passepartout, der zwischen den Piranesi-Grafiken liegt, fällt doch sofort ins Auge. Aber wenn beide, also Bild und
Rahmen, fehlen… Leuchtet dir das nicht ein?“ „Aber natürlich! Wenn Bild und Passepartout fehlen, merkt man es nicht nur später, sondern man wird vermuten, beides sei falsch einsortiert worden. Wie es schon geschehen ist. Denn das Nymphaeum wurde ja bereits einmal gesucht. Als sich die Schulklasse angemeldet hatte. Man fand es dann. Zwei Tage nichts als suchen’, hat die kleine Keßler gesagt. Es war falsch einsortiert worden. Offenbar mit Passepartout. Wir haben nicht danach gefragt, und ich glaube beinahe, wir haben zu diesem Komplex noch nicht gründlich genug ermittelt.“ Und dann gab Gollus nochmals wieder, was man herausgefunden hatte. Er sprach im Präsens, in kurzen Sätzen, die er ohne Pause aneinanderreihte: „Eine Schulklasse meldet sich an. Sie reicht eine Liste ein, in der die Grafiken verzeichnet sind, die sie betrachten will. Darunter das Nymphaeum des Piranesi. Im Museum wird alles vorbereitet. Die gewünschten Bilder werden bereitgelegt. Das Nymphaeum fehlt. Man sucht. Zwei Tage sucht man, dann wird es gefunden. Es war falsch einsortiert. Etwa eine Woche später will ich die gleiche Grafik sehen. Sie fehlt abermals - und nun endgültig.“ „Du kannst recht haben“, sagte Annegret Albrecht nachdenklich. „Wir müssen unsere Ermittlungen früher ansetzen: in den Tagen vor dem neunten Mai, in den Räumen des Belkower Museums, bei den Angestellten, die anwesend waren.“ „Und warum haben wir das nicht schon eher getan?“ Gollus machte sich Vorwürfe. Vor allem sich selbst, aber da er im Plural redete, von „uns“ und „wir“ sprach, schloß er auch seine Kollegin mit ein. „Wir werden das nachholen“, sagte Annegret Albrecht,
„am Mittwoch bei den Steinhofs gehen wir auf die Angelegenheit ein, und da wird sich zeigen, ob an deiner Idee etwas ist.“ Gollus nickte, aber beruhigt war er nicht. „Hoffentlich ist es nicht zu spät“, sagte er mehrmals. Was er damit meinte, konnte er allerdings nicht erklären. In den nächsten Stunden mußte Leutnant Gollus einen Zwischenbericht an Staatsanwalt Hederle abfassen. Einen Bericht voller Tücken, wie er bald merkte. Es war nicht leicht, die bisherigen Ergebnisse und Erkenntnisse zusammenzufassen und nach ihrer Wertigkeit zu ordnen. Was war wichtig und was nebensächlich? Was konnte ganz weggelassen werden? Man hatte erlebt, daß Dinge, die noch vor ein paar Tagen als unwichtig abgetan worden waren, inzwischen Bedeutung erlangt hatten. Aber auch die Formulierungen machten Gollus zu schaffen. Wenn man Hederle fragte, wie ein Bericht aussehen sollte, pflegte er zu sagen: „Kurz, aber gut“, als schlössen die beiden Adjektive einander gewöhnlich aus. Dabei war die Kürze wenigstens noch meßbar, fünf bis sechs Seiten lautete die Faustregel. Was aber war gut? Gollus feilte an jedem Satz, und je länger er es tat, desto unzufriedener wurde er. Vielleicht wurde er es auch, weil er den Auftrag überhaupt für unsinnig hielt. Die Ermittlungen in Belkow waren noch in vollem Gange, hätte man den Abschluß der Befragungen nicht abwarten können? Mit der Post waren zwei weitere Protokolle von Leutnant Claasen eingetroffen, die Gollus natürlich mit einbeziehen mußte. Das eine betraf die Vernehmung der Frau Abshagen, das andere eine. Aussage des Museumsangestellten Hentrich. Beide gaben an, daß sie Dr. Uhlenhorst nicht kannten, und beide hatten einwandfreie Alibis für den elften Mai geliefert.
Ob Hentrich oder Frau Abshagen auch an jenem neunten Mai eingesetzt waren, als die Schulklasse das Museum besuchte, und ob sie an der ersten erfolgreichen Suchaktion nach dem Nymphaeum beteiligt waren, hatte man natürlich nur beiläufig gefragt. Die Auskünfte gaben wenig her, und das war verständlich. Gollus machte den Genossen in Belkow keinen Vorwurf daraus, einen um so größeren aber wieder sich selbst. Warum, verdammt noch mal, hatte er diesen Dingen bisher sowenig Aufmerksamkeit geschenkt? Allerdings, so sagte er sich gleichzeitig, habe ja auch Hauptmann Meyerhoff diesen Fehler begangen, und das beruhigte ihn ein bißchen. Der Aussage des Herrn Hentrich war übrigens noch eine Erklärung beigefügt. Darin wiederholte er in knapper Form den Inhalt seiner früheren Expertise und führte einen weiteren Beweis dafür an, daß das Nymphaeum unbedingt als Eigentum des Belkower Museums zu betrachten sei. Und zwar ging es um den Bildschnitt, um bestimmte Abmessungen zur Randbreite, um technische Details also, die nur von einem Fachmann eingeschätzt und überprüft werden konnten. Leutnant Gollus ordnete an, Hentrichs Expertise dem Kriminalistischen Institut in Berlin einzusenden, wohin man das Nymphaeum bereits ein paar Tage zuvor zur wissenschaftlichen Überprüfung geschickt hatte. Dann machte er sich erneut an seinen Zwischenbericht, zunächst widerwillig, aber dann geriet er doch ganz schön in Fahrt und war gerade so richtig dabei, als Meyerhoffs Sekretärin ins Zimmer platzte. „Marika Rökk“, sagte sie und sah ihn an. Gollus blinzelte verständnislos. „Ja und?“ „Marika Rökk möchte Sie sprechen.“
„Mich?“ „Jemanden, der den Fall Uhlenhorst bearbeitet. Und da Hauptmann Meyerhoff nicht…“ „Die richtige Rökk? Quatsch.“ Nicht die, aber auch eine richtige Rökk. Marika Rökk, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft Hakenfurt, Seifenberger Straße 3, von Beruf Kontoristin. „Als ich auf den Namen Marika getauft wurde, hieß ich noch Richter“, erzählte sie munter drauflos. „Wer konnte damals ahnen, daß ich einmal einen Leutnant Rökk heirate! Ich habe meinen Heinz geheiratet und wurde somit vor sechs Jahren Marika Rökk. Spaßig, nicht?“ Sie war ein etwas pummeliges Frauchen mit langen blonden Haaren, die ihr bis über die Schultern fielen. Wenn sie sprach und Gollus ansah, kniff sie die Augen zusammen, als ob sie kurzsichtig sei und gewöhnlich eine Brille trug. „Schade, daß Sie nicht Schauspielerin geworden sind“, sagte Gollus, „oder Schlagersängerin. Stellen Sie sich mal die Vorteile vor.“ Die seien auch so schon gegeben, behauptete sie. „Ich komme in jedem Hotel unter. Telegramm genügt: benötige komfortables Doppelzimmer, Marika Rökk’. Es gibt dann meist lange Gesichter, wenn ich eintreffe, aber ich habe ja nicht gelogen.“ Sie lachte und gurrte dabei ziemlich übertrieben, wie es die echte ihrer Meinung nach vielleicht tat. Und dann erzählte sie, daß sie am Wochenende ihren Mann besucht habe, dessen Einheit in Oranienburg stationiert sei. „Wir trafen dort Doktor Uhlenhorst, und deshalb komme ich zu Ihnen. Als ich vor ein paar Tagen von seinem Tod hörte und dann erfuhr, daß die Kriminalpolizei irgendwelche Ermittlungen führt, habe ich sofort
meinen Mann angerufen. ,Natürlich mußt du die Begegnung melden’, sagte er. Wir gingen dann alle Einzelheiten noch einmal durch, damit meine Aussage auch ja keinen Fehler enthält. Ich darf ja nur über das berichten, was wir tatsächlich gehört oder gesehen haben, nicht aber Eindrücke und Empfindungen wiedergeben. Sagt mein Mann.“ Klaus Gollus respektierte das. Gespür und Erfahrung rieten ihm, auf keinen Fall irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit solcher ehelichen Empfehlungen laut werden zu lassen. Denn selbstverständlich konnten außer Tatsachen auch Vermutungen ausgesprochen werden, wichtig war nur, daß beide deutlich voneinander abgehoben würden. Aber offenbar hielt Marika Rökk ihren Mann, der, wie sie mehrmals beiläufig erwähnte, nun schon Hauptmann sei und demnächst mit einer weiteren Beförderung zu rechnen habe, für weitaus kompetenter als diesen einfachen, im Zivilanzug vor ihr sitzenden Leutnant der Kriminalpolizei. „Also schön, Frau Rökk…“ f„Genossin Rökk. Ich bin selbstredend Mitglied…“ „Wir müssen uns schon an die protokollarischen Vorschriften halten, und Parteizugehörigkeit spielt dabei keine Rolle. Bitte, Frau Rökk, erzählen Sie, was Sie am Wochenende in Oranienburg gesehen und gehört haben.“ „Ach so… Also mein Mann sagte, Sie würden mir Fragen stellen. Hart und ganz präzis. Und genauso hätte ich sie zu beantworten. Auf ein Referat bin ich nämlich, ehrlich gesagt, nicht vorbereitet.“ Gollus unterdrückte einen Seufzer. „An ein Referat habe ich auch nicht gedacht. Nun gut, dann stelle ich Ihnen erst einmal einige Fragen. Sie kennen Doktor Uhlenhorst?“
„Ja.“ „Woher?“ „Ich habe längere Zeit im hiesigen Rechtsanwaltkollegium gearbeitet. Als Sekretärin.“ „Gehörte Doktor Uhlenhorst dem Kollegium an?“ „Nein. Er war… Kann man freipraktizierend bei einem Juristen sagen?“ Was meint denn Ihr Mann dazu, hätte Gollus am liebsten zurückgefragt, aber er sagte: „Doktor Uhlenhorst gehörte dem Kollegium also nicht an. Dennoch kennen Sie ihn von dort?“ „Ja. Er kam ab und zu in unser Büro. Zu meinem damaligen Chef.“ „Kennen Sie Doktor Uhlenhorsts häusliche oder familiäre Verhältnisse?“ „Nein.“ „Kennt Ihr Mann Doktor Uhlenhorst?“ „Flüchtig. Noch flüchtiger als ich.“ „Wann fuhren Sie am Wochenende zu Ihrem Mann?“ „Ich fahre an jedem Wochenende hin, wenn er dienstfrei hat. Diesmal war es am Sonnabend, dem elften Mai.“ „Wann und wo sahen oder trafen Sie Doktor Uhlenhorst?“ „Am Abend. So um die siebte Stunde. Er kam ins ,Gehege’, das ist ein Gartenlokal, in dem mein Mann und ich saßen.“ „War Doktor Uhlenhorst allein?“ „Nein. Ein Herr war in seiner Begleitung.“ „Kennen Sie den Herrn?“ „Nein.“ „Können Sie ihn beschreiben?“ „Ja. Mein Mann und ich haben uns auf folgende Angaben
geeinigt: jünger als der Rechtsanwalt, vielleicht Anfang Fünfzig. Sehr gepflegt und elegant. Groß, das Haar angegraut. Er sprach ein wenig im mecklenburgischen Tonfall.“ „Wie war er gekleidet?“ „Dunkelblaue Schlaghose mit breitem Gürtel, Sport Jakkett darüber. Weißer Rollkragenpullover, Exquisit. Ohne Hut und Mantel. Übrigens auch Doktor Uhlenhorst.“ „Sie meinen, auch er betrat das Restaurant ohne Hut und Mantel.“ „Sagte ich doch.“ „Trug er eine Aktentasche bei sich?“ „Nein.“ „Die beiden Herren kamen also ins Lokal. Was machten sie?“ „Sie setzten sich an unseren Tisch. Es war ziemlich voll.“ „Hat Doktor Uhlenhorst Sie oder Ihren Mann erkannt?“ „Wahrscheinlich nicht. Denn sie grüßten und fragten, ob die zwei Plätze frei wären, wie man Fremde grüßt und fragt.“ „Was geschah dann?“ „Sie ließen sich die Speisenkarte bringen und bestellten. Doktor Uhlenhorst ein Eisbein, der andere nur eine Brühe.“ „Getränke?“ „Doktor Uhlenhorst ließ sich ein Bier bringen.“ „Unterhielten sich die beiden Herren?“ „Natürlich.“ „Worüber?“ „Wir haben nur Bruchstücke aufgeschnappt, denn mein Mann und ich sprachen auch miteinander.“ „Können Sie sich an dieses oder jenes Bruchstück erin-
nern?“ „Mein Mann sagte, es könnte vielleicht wichtig für Sie sein, daß mehrmals über medizinische Dinge gesprochen wurde.“ „Zum Beispiel?“ „Über Medikamentenmißbrauch. Über Süchtigkeit.“ „Wurden bestimmte Krankheiten oder Arzneimittel genannt?“ „Immerzu. Aber weder mein Mann noch ich haben darauf geachtet oder uns Namen gemerkt. Bedenken Sie, daß…“ „Ich bedenke das vollauf, Frau Rökk. Haben sich Doktor Uhlenhorst und sein Begleiter noch über etwas unterhalten, das nach Meinung Ihres Mannes für uns nicht so wichtig ist?“ „Über Katharina die Zweite von Rußland. Und dann, nach dem Essen, über irgendeinen Großherzog, der vor ein paar hundert Jahren gelebt hat.“ „Wo gelebt?“ „In Mecklenburg. Beide, Katharina und der Großherzog, sollen bedeutende Kunstschätze zusammengerafft haben. Darüber sprachen sie.“ „Zusammengerafft“ war schön. Gollus grinste innerlich. „War das ein regelrechter Dialog, oder sprach meistens nur einer von beiden, während der andere zuhörte und Fragen stellte?“ „Also, bei den medizinischen Dingen, da ging es hin und her. Wie beim Pingpong. Später dann sprach vor allem der andere.“ „Hat ihn Doktor Uhlenhorst niemals mit Namen angeredet?“ „Nein.“
„Duzten sie sich?“ „Nein.“ „Was geschah nach dem Essen?“ „Sie blieben noch eine Weile sitzen, zahlten dann und gingen.“ „Zahlte jeder für sich?“ „Ja. Ich glaube wenigstens.“ „Also streichen wir die Antwort. Sie wäre sicherlich nicht im Sinne Ihres Mannes.“ Gollus strich den Satz tatsächlich und deutlich sichtbar für Frau Rökk durch, was ja nichts bedeutete, ihm aber eine diebische Freude bereitete. „Ich möchte nun noch ein paar Zusatzfragen stellen, Frau Rökk. Allerdings werde ich damit das ansprechen, was Sie Eindruck und Empfindung nannten. Würde Ihr Mann sehr aufgebracht sein, wenn Sie auch diese Fragen zu beantworten versuchten?“ Gollus hatte voller Ernst gesprochen, sich zumindest bemüht. Dennoch schien ihr eine gewisse Ironie in seiner Frage nicht entgangen zu sein, denn sie sah ihn ziemlich unsicher, bald argwöhnisch an, und ihre Augen zogen sich noch mehr zusammen. „Wenn Sie meinen… Also, wenn das üblich ist… Mein Mann dachte nur…“ „Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden für keine dieser Antworten zur Rechenschaft gezogen. Wir kalkulieren bei solchen Dingen alles ein: Irrtum, falsche Erinnerung, unbeholfene Ausdrucksweise… aber das trifft ja bei Ihnen sowieso nicht zu.“ Marika Rökk lächelte ihn dankbar an. „Also: Hatten Sie das Gefühl, daß die beiden Herren in Eile waren?“ „Durchaus nicht. Ich meine, ich hatte durchaus nicht das Gefühl.“
„Gab es überhaupt Hinweise, daß sie zeitlich gebunden oder abhängig waren?“ „Ich habe nichts bemerkt.“ „Was dachten Sie, als Doktor Uhlenhorst das Lokal betrat?“ „Ich dachte: Ach, da kommt ja Doktor Uhlenhorst.“ „So meine ich das nicht. Der Rechtsanwalt wohnte schließlich in Hakenfurt, also etwa einhundertfünfzig Kilometer von Oranienburg entfernt. Dachten Sie, er wäre dienstlich dort oder im Urlaub oder nur auf der Durchreise?“ „Nichts eigentlich.“ „Doktor Uhlenhorst hat an diesem Sonnabend um achtzehn Uhr zehn in Kronitz – also etwa fünfzig Kilometer nördlich von Oranienburg – vermutlich den D-Zug aus Stralsund nach Berlin bestiegen. Allein, mit Aktentasche und den Mantel über dem Arm. Nun sind Sie ihm eine Stunde später in diesem Lokal begegnet. Er trug keine Tasche und keinen Mantel bei sich, war aber in Begleitung eines Herrn. Gibt es irgendwelche Äußerungen von Doktor Uhlenhorst, die diesen Vorgang erklären könnten? Offensichtlich hat er den Zug wieder verlassen. Vielleicht in Oranienburg, vielleicht schon früher. Ich weiß nicht, auf welchen Stationen zwischen Kronitz und Oranienburg der Zug gehalten hat. Ist darüber wirklich kein Wort gefallen, Frau Rökk?“ Sie dachte nach. Ernsthaft und lange. Schließlich: „Direkt ist darüber kein Wort gefallen. Jedenfalls habe ich keines gehört. Aber mir fällt eine Bemerkung ein, die Doktor Uhlenhorst gleich zu Beginn machte, als die Herren sich gerade gesetzt hatten. Er sagte sinngemäß: ,Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich das Telegramm nicht aufgegeben.’ Ob das aber von
Belang ist?“ Gollus hielt die Bemerkung durchaus für wichtig. Aber er wollte auch hören, warum Frau Rökk sich jenes Satzes erinnerte. Und als er danach fragte, kam auch prompt die Erklärung, die er erwartet hatte. „Ich denke mir – jetzt, nachdem Sie von dem D-Zug erzählt haben – , daß Doktor Uhlenhorst vielleicht telegrafisch etwas bestellt oder angekündigt hatte, das nun überflüssig oder gegenstandslos geworden war.“ Na, bitte! Noch welkte diese Frau nicht gänzlich im Schatten ihres Mannes dahin. Sie hatte noch eigene Gedanken, und das ließ hoffen. Daß es sich bei dem Telegramm um die Nachricht an seinen Sohn gehandelt hatte – Ankunft neunzehn Uhr zehn Berlin-Lichtenberg – , schien sicher. Demnach war Uhlenhorsts Rückreise nach Hakenfurt anders verlaufen, als er es ursprünglich vorgesehen hatte. Um achtzehn Uhr zehn hatte er in Kronitz den D-Zug bestiegen; um die „siebte Stunde“ aß er in Begleitung eines Mannes in Oranienburg Abendbrot; zwischen „neune und zehne“ sahen Peter Brux und Betty Schauber ihn vor seiner Haustür in Hakenfurt stehen; und zur gleichen Zeit parkte in einer Nebenstraße ein Auto. War Dr. Uhlenhorst von Oranienburg aus mit einem Pkw weitergefahren? War sein Begleiter der Fahrer dieses Wagens gewesen? War er Uhlenhorsts Mörder? Blitzgedanken, die kamen, aber sofort in irgendwelche Gehirnkammern gesperrt wurden. Leutnant Gollus war in Zeitnot und hatte die Aussage der Frau Rökk zuerst mehr als Störung denn als Bereicherung empfunden. Zu Unrecht natürlich, wie sich nun herausstellte, denn zweifellos war hier eine neue Spur zu erkennen. Aber das in solchen
Situationen sonst übliche Kribbeln, das Gefühl, vielleicht an einer entscheidenden Wende in der Ermittlungsarbeit zu stehen, wollte sich einfach nicht einstellen. Da keine Schreibkraft frei war – Meyerhoffs Sekretärin hatte für den Hauptmann etwas zu erledigen – , tippte Gollus das Protokoll gleich selbst in die Maschine, ließ Frau Rökk unterzeichnen und verabschiedete sich dann mit vielen freundlichen und dankbaren Worten von ihr. Wieder allein, seufzte er ärgerlich und schob die schon geschriebenen Bogen des Zwischenberichts an Staatsanwalt Hederle beiseite. Denn natürlich mußte er nun neu beginnen, er konnte Marika Rökks Auskünfte nicht einfach aussparen. Aber nicht nur das. Es galt, vor allem Maßnahmen einzuleiten, um diesen Mann, von dem Frau Rökk gesprochen hatte, ausfindig zu machen. Immerhin hatte sie den einzigen konkreten Hinweis gegeben, daß Dr. Uhlenhorst bei der Rückreise von Kronitz in Begleitung gewesen war. Bei der Schilderung des Herrn hatte Gollus sofort an Lothar Steinhof denken müssen, obwohl der ja versichert hatte, dass er den Rechtsanwalt nicht kenne. Aber das Aussehen, auch die Kleidung konnten durchaus auf ihn zutreffen. Was nicht passen wollte, war der mecklenburgische Tonfall, den Frau Rökk erwähnt hatte. Gollus versuchte sich Steinhofs Stimme zu vergegenwärtigen, an eine besondere Dialektfärbung vermochte er sich nicht zu erinnern. Aber er grübelte auch nicht lange, denn er hatte vollauf zu tun. Er kam an diesem Vormittag hinter seinem Schreibtisch nicht mehr hervor, und um das Maß voll zu machen, wurde ihm schließlich auch noch die Sache mit der Beerdigung übertragen.
Gollus erfuhr gegen dreizehn Uhr davon. Er traf Hauptmann Meyerhoff in der Kantine, der ihn im Vorbeigehen daran erinnerte. „Was für eine Beerdigung?“ fragte Gollus überrascht. „Doktor Uhlenhorsts. Um vierzehn Uhr dreißig. Waldfriedhof.“ „Ja, Herrgott, soll ich da etwa hingehen?“ „Wer sonst?“ „Du.“ „Ich habe Nachtdienst vor mir, und außerdem…“ „Dann eben Annegret.“ „Die hat Nachtdienst hinter sich und muß ein paar Stunden schlafen.“ Stimmte natürlich. Also schwang sich Gollus aufs Fahrrad, fuhr nach Hause und zog sich um: schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, schwarze Schuhe. Er fluchte und schimpfte, denn natürlich rissen die Schnürsenkel, und die Straßenbahn fuhr ihm vor der Nase weg. Er wartete ungeduldig auf die nächste, und als er dann endlich auf dem Friedhof eintraf, war er eine halbe Stunde zu früh da: Meyerhoff mußte sich im Termin geirrt haben. Der Waldfriedhof lag außerhalb der Stadt. Kein Baum weit und breit, links und rechts weite Felder, durch die sich eine Eisenbahnlinie zog, und in der Nähe türmte sich ein Schuttabladeplatz. Riesige Krähenschwärme hockten auf dem Müll. Wenn ein Zug vorbeiratterte, flatterten sie auf, träge und ohne Angst. Das fast sommerliche Wetter der ersten Maitage schien im Abklingen. Mattweiße Wolken sammelten sich am Himmel, dünn und klein noch, aber sie schoben sich schon ineinander und würden bald eine dunkle Wand bilden. Gollus ging die Wege entlang, die gepflegt und sauber waren, manchmal blieb er stehen, vor vertrauten
Namen oder vor Grabsteinen, deren Inschriften ihn eigenartig berührten: Nun ruhest du in Gottes Hand oder Schlafe in geweihter Erde. Hier wurde der Tod zum bloßen Ortswechsel erklärt, als Trost vielleicht für die Hinterbliebenen. Er lenkte seine Schritte zur Westseite des Friedhofs, an der Kapelle vorbei, wo die ersten Trauergäste eintrafen. Hinter einer Buchsbaumhecke lag das Grab eines Schulfreundes, der beim Baden ertrunken war und an dessen Beerdigung Gollus vor Jahren teilgenommen hatte. Er erinnerte sich, daß ihm, dem Sechzehnjährigen, damals zum ersten Mal das Widersinnige, wenngleich auch Verständliche dieses Nicht-wahr-haben-Wollens aufgefallen war. Als der Lehrer, der Klassensprecher, der FDJ-Sekretär am offenen Grab den Toten anredeten: Lieber Volker, du warst immer… nie werden wir dich…. da war ihm das wie eine makabre Totenbeschwörung erschienen. Er hatte mächtig rebelliert, damals vor zwanzig Jahren, und in der Klasse eine Aussprache provoziert, den ganzen Beerdigungskult wollte er umstoßen. Heute mußte er lächeln darüber, ein bißchen wehmütig lächeln. Der Leutnant sah auf die Uhr und machte schließlich kehrt. Die Friedhofskapelle war nicht einmal zur Hälfte besetzt. Gollus begrüßte den Sohn, grüßte auch zu Dr. Kneisel und Optiker Scharf und ließ sich dann in einer Bankreihe nieder. Er erkannte ein paar Juristen, Arbeitskollegen von Dr. Uhlenhorst, einige Nachbarn und natürlich Frau Marzahn, die einzige übrigens, die wirklich ergriffen aussah. Vielleicht, weil sie als Frau ihre Gefühle zu zeigen wagte! Der Redner, einer mit schriller, unangenehmer Stimme, sprach einen der üblichen Texte. Die wenigen persönlichen Daten des Toten waren eingefügt, wirkten gestelzt und paßten nicht recht. Am Grabe
dann das Aus Erde bist du geworden, zu Erde sollst du werden. Man warf eine Handvoll Sand auf den Sarg, vielleicht auch ein paar Blumen, blickte betont ernst. Was soll’s? fragte sich Gollus. Was sollte auch seine Anwesenheit hier? In Filmen gehen Kriminalisten immer zur Beisetzung des Opfers. Meist entdecken oder bemerken sie dann tatsächlich etwas, das der Klärung des Falles dienlich ist – aber in Wirklichkeit? Verlorene Stunden, sagte sich Gollus, überhaupt ein verlorener Tag. Aber da er nun einmal hier war und sich zu der Schreibtischarbeit nicht gerade zurücksehnte, nahm er die Einladung von Uhlenhorsts Sohn zu der traditionellen Kaffeerunde an. Im stillen beruhigte er sich damit, es der Wohnung wegen zu tun, die er auf diese Weise noch einmal unamtlich in Augenschein nehmen konnte. Natürlich hatte Staatsanwalt Hederle sie inzwischen freigegeben, und einige Möbelstücke waren auch schon abtransportiert worden. Die beiden Zimmer wirkten etwas kahl, aber geräumiger als zu Uhlenhorsts Lebzeiten. Die Trauergäste nahmen sich darin aus wie ungebetene Eindringlinge. Jeder spürte das und versteckte sein Unbehagen hinter steifer Gemessenheit. Die Gespräche liefen stockend, und auch der Kognak, der nach dem Kaffee gereicht wurde, änderte daran nichts. Gollus nutzte die Gelegenheit, ein paar Worte mit Dr. Kneisel zu wechseln. Noch immer hatte er ja nicht erfahren, wie dieser erfahrene Antiquitätenhändler auf den Preis von zweihundert Mark für ein PiranesiBild gekommen war. Als Gollus erzählte, daß man etwa das Zehnfache dafür aufbringen müsse, war Kneisel keineswegs erstaunt. „Das ist gut möglich“, sagte er in sei-
ner schleppenden Art. „Auch meine Zahl ist möglich, denn erfunden habe ich sie nicht.“ Er lauschte wie üblich seinen Worten nach, schien aber eine Korrektur für überflüssig zu halten. „Nein, erfunden habe ich sie nicht“, wiederholte er dann und erzählte, daß ihm vor einigen Monaten ein Kunde anvertraut habe, er könne einen echten Piranesi tatsächlich für nur zweihundert Mark erwerben. „Diese Summe hat sich in meinem Schädel festgesetzt, Herr Leutnant, anders kann ich mir das nicht erklären.“ Gollus wollte erst aufbrausen und fragen, warum Kneisel nicht schon bei ihrer ersten Begegnung davon gesprochen habe, besann sich aber noch rechtzeitig. Es gab keinen Grund, dem Mann Vorhaltungen zu machen, und wenn er es doch getan hätte, wäre es jetzt äußerst unklug gewesen. Gollus fragte nach dem Namen dieses Kunden, aber Dr. Kneisel konnte sich nicht entsinnen. „Er hat sich mir vorgestellt, bestimmt hat er das, denn wir haben uns eine ganze Weile unterhalten. Nicht über Piranesi, der Name fiel nur ganz beiläufig. Wir sprachen über Porzellane… ja, über Porzellane. Er verstand was davon, ein Sammler, wissen Sie. Er hat mir auch seinen Beruf genannt, etwas Akademisches, nein, er war Akademiker, er trug den Doktortitel, von Beruf war er Zahnarzt, jetzt weiß ich’s wieder.“ Dem Leutnant war, als hätte er kürzlich schon einmal von einem Zahnarzt gehört, und zwar in Verbindung mit den Ermittlungen im Fall Uhlenhorst. Im fiel nicht sofort ein, wer davon gesprochen hatte, aber er versuchte schon jetzt, von Dr. Kneisel alles, was er über diesen Zahnarzt wußte, in Erfahrung zu bringen. Kneisel behauptete sehr entschieden, daß es kein Hakenfurter Zahnarzt gewesen sei. „Also keiner, der hier prak-
tiziert, um exakt zu sein.“ Und auch beschreiben könnte er ihn ungefähr: „Hager, eine lange Latte, wie man sagt, und Brillenträger, hoch in den Sechzigern schon.“ „Und haben Sie auch darüber gesprochen, woher dieser Zahnarzt so preisgünstig eine Piranesi-Grafik bekommen wollte?“ Dr. Kneisel lachte behäbig und gutmütig. „Mein lieber Herr Gollus! Ich weiß nicht mehr, ob wir darüber gesprochen haben, aber ich weiß ganz genau, daß kein passionierter Sammler jemals einem Fremden die Quelle seines Schatzes verraten wird. Er wäre ja auch töricht. Außerdem… schickt es sich nicht, danach zu fragen.“ Wieder lauschte er mit geneigtem Kopf seinen Worten nach und ergänzte dann: „Das bezieht sich natürlich nur auf Leute wie wir. Ich will damit sagen, Sie dürfen selbstverständlich… Ich meine, von Ihnen wäre es nicht unschicklich…“ Dann stutzte er plötzlich und schaute Gollus an, als wollte er dessen Echtheit prüfen. „Mir fällt noch etwas ein, Herr Leutnant: Der Zahnarzt war mit einem Wagen vorgefahren, einem Shiguli. Und wissen Sie, was der Herr sagte? Er sagte, er müsse unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein, da er nachts nicht gut sehen könne. Aber als er das sagte und losfuhr, wurde es bereits dunkel. Er kann also gar nicht weit von Hakenfurt weg gewohnt haben, stimmt’s?“ Wilhelm Kneisel war mit einemmal so in Erregung geraten, daß er seine Gewohnheiten ganz und gar aufgegeben hatte. Er hatte schnell und überstürzt gesprochen, und jetzt sah er Gollus gespannt an, ohne den eigenen Worten noch irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. „Können Sie sich an den Tag erinnern, Herr Doktor Kneisel?
Oder ihn mit Hilfe Ihrer Geschäftsbücher feststellen? Vor einigen Monaten, das ist ziemlich unbestimmt.“ „Im März. Ich glaube, im März war es. Aber ich krieg’s raus! Ganz bestimmt kriege ich’s ‘raus.“ Irgendwie ließ sich Gollus von der Hektik dieses sonst so schwerfälligen und langsamen Mannes anstecken. Jetzt plötzlich stellte sich auch dieses Kribbeln ein, das Gespür, einen entscheidenden Punkt bei der Ermittlung erreicht zu haben. Obwohl es doch allem Anschein nach am Vormittag, bei seinem Gespräch mit Marika Rökk, viel eher angebracht gewesen wäre. Und eigenartigerweise verstärkte sich jenes Kribbeln noch, als er etwas später die Beileidskarten durchsah, die in einer Schale lagen. Unter ihnen befand sich nämlich eine Karte aus Sperebach, bei Berlin, in dem auch das Ehepaar Steinhof wohnte. Sie war von einem oder einer R. Mikat geschickt worden, die Handschrift ließ an eine ältere Person denken. Siegfried Uhlenhorst, der Sohn des Toten, kannte den Absender nicht, und auch den anderen Gästen war er fremd. Gollus rief noch am selben Tag das Polizeirevier in Sperebach an. Der Genosse am Apparat brauchte gar nicht erst in der Einwohnerkartei nachzusehen. „Rothilde Mikat, etwa siebzig Jahre, ehemalige Lehrerin“, sagte er, „eine sehr rüstige und geistig rege Dame… Ja, Dame, ein anderer Ausdruck paßt nicht zu ihr. Ziemlich wohlhabend, immer elegant und auffällig gekleidet und mit allerlei Ketten, Ringen und Broschen bestückt. Aktives Mitglied und Ehrenvorsitzende im Kulturbund.“ Am liebsten wäre Gollus sofort nach Sperebach gefahren, aber er hätte sich zuvor mit Hauptmann Meyerhoff beraten müssen, und der war nicht im Hause. Außerdem lag noch immer der angefangene Zwischenbericht für Staats-
anwalt Hederle auf dem Schreibtisch und wartete auf den Abschluß. Also kehrte Gollus in sein Büro zurück. „Eines steht allerdings fest“, sagte er, als er zum dritten Mal den Bericht zu formulieren begann, „es hat doch Sinn, an solchen Beerdigungen teilzunehmen.“
8. „So löst sich eines nach dem anderen“, meinte Hauptmann Meyerhoff am nächsten Morgen. „Wir wissen jetzt, wo Uhlenhorst das Eisbein gegessen hat, und können das als einen Erfolg werten.“ Gollus runzelte die Stirn, sagte aber nichts dazu. Er nahm den Bericht für Staatsanwalt Hederle entgegen, den Meyerhoff eben abgezeichnet und mit freundlichen Worten gelobt hatte. Annegret Albrecht bereitete Kaffee, denn es war abzusehen, daß der Hauptmann noch bleiben wollte. „Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren“, fuhr Meyerhoff fort, „Uhlenhorsts Begleiter zu finden, den Mann mit dem mecklenburgischen Dialekt. Die Maßnahmen, die du eingeleitet hast, Klaus, sind ausreichend. Auch daß Leutnant Claasen in Belkow Bescheid weiß, ist richtig. Ich rechne damit, daß wir in den nächsten Tagen eine Flut von Hinweisen erhalten und dann ganz schön auf Trab sein müssen. Immerhin kann dieser Mann Uhlenhorsts Mörder sein.“ „Das ist nicht gut möglich“, sagte Gollus mit Bestimmtheit. „Der Täter ist durchs Badezimmerfenster eingestiegen.“ „Na und?“ Meyerhoff schien die Situation zu genießen, doch noch ehe er sein „Na und?“ begründen konnte, läutete das Telefon. Der Hauptmann hob ab. Seine beiden Kollegen hörten in
den folgenden Minuten nur wenige Worte. Aber aus ihnen und aus Meyerhoffs Gesichtsausdruck konnten sie etwas von dem Inhalt des Gesprächs entnehmen. „Meyerhoff.“ Die Stimme war forsch, das Gesicht gelockert, unbeschwert. „Bin ich. Ach so. Ja. Guten Morgen. Schießen Sie los!“ Keine Veränderung. Kurz darauf: „So?“ Erste Überraschung im Ton, die Augen zogen sich zusammen. „Ja, wieso denn? Wir haben…“ Deutliches Unbehagen breitete sich auf seinem Gesicht aus… „Aber hören Sie, Genosse, das ist ganz ausgeschlossen, weil…“ Das Mienenspiel wechselte zwischen Ärger und Enttäuschung. „Ach so.“ Leise, zustimmend, der Gesichtsausdruck wurde nachdenklich und konzentriert. „Ja.“ Viermal in fast regelmäßigen Abständen, kurz abgehackt, harte, gefährliche Ja, dann schließlich: „Danke.“ Langsam legte Meyerhoff den Hörer auf. Einige Sekunden sah er mit müden Augen vor sich auf den Tisch, ohne seine Haltung zu verändern – er war offensichtlich ratlos. Aber wie immer in solchen Fällen straffte er sich kurz danach, wurde wieder ganz Autorität und versuchte das Gespräch in die alte Bahn zu lenken, indem er seine Genossen fragte, warum sie ihn so entgeistert ansähen. Daß er auch dann nicht gleich sagte, was eigentlich geschehen war, sondern aufstand und mit eigenartigen gravitätischen Schritten durch das Zimmer ging, war keine Masche von ihm; es war ein deutliches Zeichen, daß ihn die Nachricht wirklich tief bewegte. Er diktierte sie Annegret Albrecht schließlich als Aktennotiz in die Maschine und ließ die entscheidenden Sätze unterstreichen: „Das Kriminalistische Institut in Berlin
stellt eindeutig fest, daß die Schabstelle auf der Rückseite des Nymphaeums nicht von einer Beschädigung des Bildes herrührt, die neunzehnhundertachtundzwanzig ausgebessert worden ist. Es handelt sich zweifelsfrei um die sachgerechte Entfernung eines Eigentumsstempels, die erst vor wenigen Monaten erfolgt ist.“ Nachdem Hauptmann Meyerhoff unterschrieben hatte, sagte er: „Ich beantrage meine vorzeitige Entlassung aus dem Polizeidienst und werde Nachtwächter.“ Und schon an der Tür, fügte er hinzu: „Und zwar in einem Museum.“ Was denn nun: War das Piranesi-Bild tatsächlich Eigentum des Museums? Das Kriminalistische Institut schloß die Möglichkeit keineswegs aus, bestätigte sie aber auch nicht. Es war Klaus Gollus, der unsicher wurde. „Keine Grafik aus der Vedutenserie in Belkow trägt einen Eigentumsstempel. Ich habe mich selbst davon überzeugt.“ Annegret Albrecht zuckte die Schultern, sie saß neben ihm im Auto und sah in die Landschaft. Das Konzept der beiden Kriminalisten für diesen Mittwochnachmittag war durcheinandergeraten. Sie waren auf dem Weg zu den Steinhofs, hatten aber bis jetzt noch keine klare Vorstellung, wie sie sich dem Ehepaar gegenüber verhalten sollten. „Improvisiert!“ hatte Meyerhoff ihnen geraten. Er war natürlich noch einmal zurückgekommen, um mit ihnen die neue Lage zu besprechen. Aber konkrete Hinweise konnte er nicht geben. „Improvisiert, klopft auf den Busch, bewegt euch wie Fechter auf der Trainingsmatte. Schnellt vor und zurück, versucht aber Treffer nur dann anzubringen, wenn ihr euch des Erfolges sicher seid.“ „Und womit soll gekämpft werden?“ hatte Gollus iro-
nisch gefragt. „Florett, Degen und Säbel stehen zur Auswahl. Wir sind zwei gegen zwei. Schlägst du ein gemischtes Doppel vor, oder sollen Herren und Damen für sich kämpfen?“ Es war wirklich eine unerfreuliche Situation, vor der sie plötzlich standen. Sie hätten natürlich bei den Steinhofs unter irgendeinem Vorwand absagen können, und mehrmals war dieser Gedanke auch erwogen worden. Aber dann hätten sie auch Leutnant Claasen stoppen müssen und damit das ganze Unternehmen in Frage gestellt. An dem Ergebnis der Untersuchung im Kriminalistischen Institut gab es nichts zu rütteln. Wenn die Genossen dort behaupteten, daß ein Stempel von der Rückseite des Nymphaeums entfernt worden sei, dann stimmte das auch. Aber was Gollus mit eigenen Augen gesehen hatte, stimmte ebenfalls: Auf keinem anderen Piranesi-Bild in Belkow war ein Stempel, auf keinem eine Schabstelle. Der Sachverständige im Kriminalistischen Institut hatte am Telefon erklärt, daß es noch umfangreicher und vor allem zeitaufwendiger Untersuchungen bedürfe, um die bisherige Zeitangabe präzisieren zu können. Er tippe auf März oder April, aber diese Auskunft möge man als noch unbewiesen hinnehmen, der Genosse Hauptmann solle sie vorläufig nicht in seine Ermittlungsarbeit einbeziehen. Trotzdem hatte Meyerhoff sie seinen Genossen mitgeteilt. Die Schlußfolgerung, die er aus ihr zog, lautete: „Da von der Rückseite des Nymphaeums im März oder April ein Eigentumsstempel entfernt worden ist, muß es zu diesem Zeitpunkt bereits gestohlen gewesen sein. Es kann aber noch nicht gestohlen gewesen sein, denn am neunten Mai wurde es im Belkower Museum einer Schulklasse vorgeführt.“ „Nachdem man es dort zwei Tage lang gesucht hatte“,
warf Gollus ein. Wie berechtigt dieser Einwurf war, hatte sich wenig später durch eine weitere Tatsache bestätigt: Schon bald nach seiner Unterhaltung mit Dr. Kneisel war Gollus eingefallen, in welchem Zusammenhang kurz zuvor von einem Zahnarzt gesprochen worden war. Annegret Albrecht hatte ihn erwähnt, als sie den Empfang des Kulturbundes schilderte: Lothar Steinhof war dort in Begleitung eines befreundeten Zahnarztes erschienen. Und da sie dies wiederum von Gisela Backhaus wußte, hatte sie dort angerufen und nach dem Namen des Zahnarztes gefragt. Die Auskunft war eindeutig. „Martin Jäger aus Bulkendorf bei Berlin, ein ruhiger, zurückhaltender Herr, hoch in den Sechzigern, ein enger Freund von Lothar Steinhof… Ja, Brillenträger… Ob er einen blauen Shiguli fährt, weiß ich nicht, aber er ist etwas nachtblind, stimmt.“ Sie waren dann zu Dr. Kneisel gefahren, und der bestätigte die Angaben der Bildhauerin. „Richtig, Jäger hieß er. Ich wußte, daß es ein Beruf oder so etwas war. Übrigens: Am siebten April hat er mich aufgesucht, nicht schon im März, wie ich zuerst annahm.“ Mit diesem Wissen also waren sie losgefahren. Sie wollten erst in Bulkendorf, dem Wohnsitz von Dr. Jäger, Station machen und dann nach Sperebach weiterfahren. Wenn es die Zeit erlaubte, würden sie in Sperebach zuerst Frau Rothilde Mikat besuchen und anschließend mit den Steinhofs sprechen. Als Gollus den Wagen an der Anlegestelle einer Fähre stoppte und Annegret Albrecht ausstieg, wie es die Vorschrift verlangte, hatte er Gelegenheit, die vor ihnen liegenden Gespräche noch einmal in Ruhe zu durchdenken.
Sie würden voraussichtlich sämtlich auf ein Ereignis zielen: auf jenen neunten Mai, an dem das Nymphaeum nachweisbar und unwiderlegbar im Belkower Museum vorgeführt worden war. Dieser Tag markierte im Fall Uhlenhorst tatsächlich eine Zäsur, aber anders, als die Kriminalisten bisher gedacht hatten. Er war ein Wendepunkt, Schnittpunkt, Höhepunkt vielleicht – nur eines war er sicherlich nicht: der Ausgangspunkt des Falles. Was geschah davor? – Das war jetzt die wichtigste Frage. Man muß wissen, was man wissen will! Mit diesem Leitsatz von Meyerhoff im Kopf wurde Gollus ruhiger und zuversichtlicher, er zündete sich eine Zigarette an und schaute nach draußen, beobachtete Annegret Albrecht, die ihm fröhlich zuwinkte und seiner Stimmung zusätzlichen Auftrieb gab. Außerdem sah sie heute besonders reizend aus. Nicht so akkurat und adrett wie sonst, eher ein bißchen verwegen. Da sich das Wetter verschlechtert hatte, trug sie schwarze Kordhosen und einen Rollkragenpullover, darüber eine ärmellose Wildlederjacke und auf der Schulter eine Umhängetasche – alles ein wenig unkorrekt und salopp, wie Gollus es mochte. Der Wind, der über das Wasser strich, zerzauste ihr Haar, und auch das stand ihr. Sie beugte sich immer wieder über die Reling, um den Schwänen und Enten zuzusehen, rief ab und zu auch etwas, das Gollus aber nicht verstand und das sicherlich auch nicht wichtig war. Wieder im Wagen dann, hörte sie aufmerksam seine Argumente an, bestätigte und bekräftigte sie, und beide waren sich eins, daß Dr. Martin Jäger, der Zahnarzt in Bulkendorf und Freund von Lothar Steinhof, eine wichtige Figur im Spiel sei. Sie führten vornehmlich sachliche Gesichtspunkte ins Feld, aber auch ihr Gefühl sagte ihnen, daß sie auf einen ent-
scheidenden Punkt der Ermittlung gestoßen waren. „Ich spürte das berühmte Kribbeln, als Kneisel von einem Zahnarzt sprach“, sagte Gollus lachend, „und wenn’s bei mir kribbelt…“ Er hatte seinen alten Schwung wiedergewonnen. Doch nicht für lange, denn in Bulkendorf erwartete sie eine Überraschung. „Doktor Jäger wohnt nicht mehr hier“, sagte der Genosse auf der Meldestelle. „Der ist vor ein paar Tagen in die Bundesrepublik verzogen. Legal, mit Sack und Pack. Seine Praxis wurde dem Kreisambulatorium angegliedert.“ Gollus und Annegret Albrecht setzten sich daraufhin mit dem Bürgermeister und dem Abschnittsbevollmächtigten in Verbindung, um Näheres zu erfahren. „Doktor Jäger hat sich mit seiner Frau am fünfzehnten Mai abgemeldet. Sie haben den größten Teil ihres Eigentums mitgenommen, einiges wohl auch verkauft.“ Der Bürgermeister erzählte, daß Dr. Jägers Sammelleidenschaft im ganzen Ort bekannt gewesen sei. „Bilder, vor allem aber Porzellane. Er hat uns eine amtliche Bescheinigung vorgelegt, daß nichts von seinen Antiquitäten für den Kulturbesitz der DDR von Bedeutung sei, also durfte alles ausgeführt werden. Was er nun im einzelnen mitgenommen hat – da müßten Sie bei der Zollverwaltung nachfragen.“ Nach Berlin mußten sie also fahren. Mit einem Telefongespräch ließ sich das wahrscheinlich nicht erledigen. Sie versuchten es gar nicht erst, sondern fragten noch ein wenig in Bulkendorf herum. Der Bürgermeister hatte ihnen die Adressen verschiedener Leute genannt, die mit Dr. Jäger bekannt oder befreundet gewesen waren. Sie sprachen mit dem Betriebsleiter einer Holzfabrik, mit einem betagten Sanitäts-
rat, mit einigen ehemaligen Patienten. Die Auskünfte deckten sich fast aufs Wort: Dr. Jäger hatte seine Sammlung sozusagen unter Verschluß gehalten und nur ganz selten dieses oder jenes Exemplar vorgezeigt. Niemand wußte etwas von einem Piranesi. Das gleiche zeigte sich, als sie die Namen Uhlenhorst und Steinhof nannten. Natürlich hatte Dr. Jäger Besuche von außerhalb empfangen und wohl auch einen Freundeskreis besessen – wer aber dazu zählte, war nicht bekannt. Fehlanzeige auf der ganzen Linie also. „Und bei dir hat’s gekribbelt“, spottete Annegret Albrecht gutmütig. „Tadele den Tag nicht vor dem Abend! Auf meine Intuitionen kann ich mich verlassen. Es gibt nämlich auch eine männliche Sensibilität, verehrte Genossin.“ Gollus’ Stimme klang aber gar nicht zuversichtlich. Schließlich fragte er: „Und nun? Besuch der alten Dame?“ „Na klar. Und keine Bange, mit alten Damen kann ich umgehen.“ Rothilde Mikat wohnte am Rande von Sperebach. Eigentlich wohnte sie nicht, sondern stand vor einem improvisierten Museum oder einem geordneten Trödelladen, wie man es nun ansah. Natürlich würde sie in diesem verwinkelten Haus auch irgendwo essen, ruhen und es sich gemütlich machen, zu Gesicht aber bekamen die beiden Kriminalisten kein Fleckchen, das darauf hindeutete. Statt dessen sahen sie sich von einer Unzahl altertümlicher Gegenstände umgeben: Gemälden, vergilbten Kupferstichen, Holzschnitten, mittelalterlichen Landkarten, Folianten, Büchern mit Goldschnitt, chinesischen Wandschirmen aus leuchtender Seide, Vitrinen voller Figuren und Geschirr, bemalten Fensterscheiben alter Kirchen, Ikonen, liturgischen Geräten, ja sogar Waffen
aus der Ritterzeit. Überall hingen, standen oder lagen solche Dinge, im Flur, im Treppenhaus, in allen Zimmern, durch die Frau Mikat sie führte. „Wundern Sie sich nicht, ich bin etwas schrullig“, sagte sie mit froher Unbekümmertheit. Und dann zitierte sie: „Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode. Ich sammle nicht in die Tiefe, sondern in die Breite. Immer nur ein Stück pro Schule, Künstler, Richtung oder Zeit. Wenn man neunundsiebzig ist…“ „Neunundsiebzig?“ Annegret Albrechts erstaunter Ausruf entsprang nicht nur der Höflichkeit. Die Frau sah mindestens zehn Jahre jünger aus, und die geistige Regsamkeit, die sie an den Tag legte, machte sie geradezu attraktiv. Das Gespräch wurde vorwiegend von der Genossin Albrecht geführt, die sofort den rechten Ton fand. Gollus hielt sich anfangs zurück. Wenn er einen Satz einwarf, mußte er sich zwingen, nicht „gnädige Frau“ hinzuzufügen. Eine imposante Erscheinung, die da vor ihnen saß, nein, thronte: groß und stabil, mindestens ein Meter achtzig, das graue Haar zu einem Knoten zusammengebunden, die blauen Augen noch ganz klar und wach. Sie sprach sehr überlegt, wählte die Worte genau, und zwischen Haupt- und Nebensätzen fügte sie Pausen ein, um sie voneinander abzuheben. Offenbar lag ihr daran, ihre „gehobene Bildung“ zu zeigen: neu- und altsprachige Aussprüche wechselten sich ab, und das Zitieren irgendwelcher vergangener Größen nahm kein Ende. Einzig die Unmenge von Schmuck an Kopf, Armen und Kleidung sowie eine gewisse Schwatzhaftigkeit, vielleicht sogar Klatschsucht wiesen auf ihr fortgeschrittenes Alter. Ganz offensichtlich genoß Frau Mikat die Unterhaltung,
und dieses liebenswürdige Fräulein, mit dem sie vor allem sprach, schien ihr die geeignete Partnerin. Das Gespräch brachte überraschende Ergebnisse. Nicht nur Frau Mikats Meinung über Lothar Steinhof überraschte. „Lothar ist ein herzensguter Kerl“, sagte sie einmal und fügte dann mit verschmitztem Augenzwinkern an: „II est grand dans sons genre, mais sons genre est petit.“ Sie lachte auf eine sehr angenehme Art, Annegret Albrecht stimmte ein, und um sich nicht zu blamieren, zwang auch Gollus sich ein Lächeln ab. „Lothar möchte ein neuzeitlicher Maecenas sein und bleibt doch nur der ehrgeizige, jetzt auch noch pensionierte Museumsdirektor“, setzte Frau Mikat ein bißchen bissig hinzu. „Aber kann man ihm das zum Vorwurf machen?“ gab Annegret Albrecht zu bedenken. „Heutzutage ein Mäzen sein zu wollen…“ „Natürlich nicht. Und ich will auch nicht ungerecht sein, schließlich hat er mir eine große Kostbarkeit vermacht, die wertvolle Kopie eines Canaletto. Sie wissen…“ „Bernardo Belotto, genannt Canaletto. Vedutenmaler, vor allem Dresden und Warschau.“ Frau Mikat war begeistert. „Bravo, mein Kind. Möchten Sie es sehen?“ Die Frage brauchte nicht beantwortet zu werden. Kurz darauf hielt Annegret Albrecht das Bild in den Händen, und sie sparte nicht mit anerkennenden Worten. „Die Krakauer Vorstadt in Warschau. Hängt das Original nicht im Nationalmuseum?“ „Sie haben sicherlich nebenbei Kunstgeschichte studiert“, sagte Frau Mikat. „Meine Eltern sind sehr kunstinteressiert“, entgegnete
sie. „Und Sie wissen ja: Semper aliquid haeret.“ Daß nun auch Annegret mit diesem fremdsprachigen Unsinn begann, war zu erwarten gewesen. Trotzdem verzog Gollus sein Gesicht, als hätte er bittere Mandeln zerbissen. „Besitzen Sie auch etwas von Piranesi?“ fragte er dann und schluckte das „Gnädige Frau“ herunter. „Nein, mir genügen Canalettos Städtebilder. Ich sagte ja, von jedem Genre nur ein Exemplar.“ „Sieh mal“, sagte Annegret Albrecht und reichte ihm das Bild, das sie bis jetzt betrachtet hatte, „ganz anders als Piranesis Veduten.“ Gollus bemerkte, daß sie ihm das Gemälde absichtlich mit der Rückseite nach oben gab, und er entdeckte auch sofort die Schabfläche. Für einen Laien und mit bloßen Augen sah sie genauso aus wie die auf dem Nymphaeum. Auch die Stelle schien die gleiche zu sein. „War das Bild beschädigt?“ fragte er ungeniert. „Nein, wieso?“ „Es sieht aus, als sei hier retuschiert worden.“ „Das habe ich veranlaßt. Hier befand sich Lothar Steinhofs Stempel. Habe ich nicht erwähnt, daß ich das Bild von ihm bekommen habe? Und da ich Eigentumsstempel nicht leiden kann – es sei denn, es handelt sich um wertvolle oder originelle Exlibris in Büchern – , habe ich ihn entfernen lassen.“ „Von einem Fachmann, vermute ich.“ „Selbstverständlich. Da geht man doch nicht mit einem Küchenmesser ‘ran. Herr Pfützner hat das gemacht, ein bekannter Konservator in Berlin.“ Frau Mikat erzählte dann, daß sie Pfützner schon als Kind gekannt habe, auch seinen Vater, der dem Sohn ein komplettes Biedermeierzimmer hinterlassen habe.
„Eine Augenweide, Fräulein Albrecht. Wenn Sie daran interessiert sind, vermittle ich gern einen Besuch. Übrigens habe ich ihm auch schon Kundschaft verschafft, unter anderem Herrn Doktor Uhlenhorst, nach dem Sie mich gefragt haben.“ „Wollte er etwas retuschieren lassen?“ „Ganz recht, aber ich weiß nicht, worum es sich handelte.“ Es bedurfte keiner großen Bitten, Frau Mikat zum Erzählen zu bewegen. Sie hatte Dr. Uhlenhorst nur wenig gekannt. „Drei- oder viermal sind wir uns begegnet. Immer bei irgendwelchen Veranstaltungen. Er schien mir etwas… Ich meine, er tändelte noch, hatte sich noch nicht entschieden. Es fiel mir auf, weil man in seinem Alter eigentlich wissen müßte, was man sammeln will. Doktor Uhlenhorst wußte es offenbar nicht. Da er sich aber meist in Begleitung von Doktor Jäger befand, das war ein Zahnarzt im Nachbarort, nahm ich an, daß er in dessen Fußtapfen treten wollte. Porzellane nämlich. Also wenn ich an Jägers Porzellansammlung denke, dann könnte ich neidisch werden. Trauen Sie das so einer alten Frau zu, Fräulein Albrecht?“ Annegret Albrecht traute es ihr zu. Sie sagte das zwar nicht so direkt, sondern artiger, und schaffte es dabei noch, die alte Dame mit ein paar gefälligen Schnörkeln wieder auf das eigentliche Thema zurückzubringen. „Im Grunde bin ich schon am Ende. Bei unserem letzten Zusammentreffen fragte mich Doktor Uhlenhorst nach einem Konservator. Das überraschte mich. Ich schloß daraus, daß er sich Gemälden zuwenden wollte, und war ihm behilflich. It doesn’t matter, what you know, but whom you know. Das stimmt ja auch heute noch, nicht?“ Gollus quittierte diese angelsächsische Weisheit mit dem
beifälligsten Lächeln, dessen er fähig war, und fragte dann: „Können Sie uns sagen, wann und wo diese Begegnung stattgefunden hat?“ „Natürlich kann ich Ihnen das sagen. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, weil ich ein schlechtes Erinnerungsvermögen habe. Wissen Sie zufällig, von wem dieses Bonmot stammt, Fräulein Albrecht? – Ich auch nicht. Trifft aber genau auf mich zu. Also, ich traf Doktor Uhlenhorst in Berlin auf einer öffentlichen Veranstaltung der Akademie der Künste. Und zwar am fünfundzwanzigsten April.“ „War Doktor Uhlenhorst wieder mit Doktor Jäger zusammen?“ „Ich glaube nicht,“ „Nahm Lothar Steinhof auch an dieser Veranstaltung teil?“ „Das weiß ich nicht. Sehen Sie, das schlechte Erinnerungsvermögen. Tage und Orte bleiben haften, alles andere – wie weggeblasen.“ „Aber Sie können uns sicherlich sagen, ob Doktor Uhlenhorst mit Lothar Steinhof bekannt war.“ „Das weiß ich auch nicht. Ich möchte es allerdings annehmen, denn Lothar war mit Doktor Jäger eng befreundet. Damals wenigstens noch.“ Die letzten drei Worte hatte Frau Mikat mit einer eigenartigen Betonung gesprochen. So, als sollte man fragen, was dahinterstecke. Gollus hakte auch sofort ein. „Hat sich das Verhältnis zwischen den beiden denn verschlechtert?“ „Verschlechtert? Es soll zu einem regelrechten Zerwürfnis gekommen sein.“ „Kennen Sie den Grund?“
„Ich kenne die Sache so, wie Doktor Jäger sie mir geschildert hat. Kurz vor seiner Übersiedlung hat er darüber mit mir gesprochen. Am fünfzehnten Mai sind sie gefahren, und am Wochenende davor… das war der elfte, richtig, Sonnabend, der elfte, da kamen er und seine Frau zum Abschiedsbesuch zu mir. Es war ein wunderschöner Abend, und wir saßen bald bis Mitternacht beisammen. Allerhand für eine so alte Frau wie mich, nicht? Na ja, also da erfuhr ich einiges über ihr Zerwürfnis. Steinhof wollte ihm ein bestimmtes Bild abkaufen, aber Doktor Jäger hatte es schon anderweitig vergeben. Sie müssen wissen, daß er einiges aus seiner Sammlung veräußert hat, ehe er in die BRD übergesiedelt ist. Den herrlichen Fayenceteller dort in der Vitrine, sehen Sie ihn, Fräulein Albrecht, den hat er mir vermacht.“ Es war erstaunlich, mit welcher scheinbaren Leichtigkeit Rothilde Mikat das Thema zu wechseln verstand. Sie erging sich überschwenglich in der Beschreibung dieses Tellers, flocht ein paar kunsthistorische Betrachtungen ein und war dann mitten in einem Geplauder über Stilarten der Glasproduktion. Annegret Albrecht folgte bereitwillig, immer bestrebt, das Gespräch wieder in die alten Bahnen zu lenken – aber vergeblich. Gollus glaubte die alte Dame durchschaut zu haben. Sie hatte einen Köder ausgelegt, hatte gemerkt, daß man zubiß, und das genügte ihr. Eine solche Taktik war ihm. nicht unbekannt. Meist lag ihr ein unausgesprochenes „Ich will nichts gesagt haben“ zugrunde. Man hatte es aber gesagt, und das war beabsichtigt. Verbissenes Nachstoßen, um mehr herauszubekommen, half da in den seltensten Fällen. Am besten begegnete man dieser List mit betonter Gleichgültigkeit. Der Kontrahent wurde unsi-
cher, wußte nicht, ob man ihn richtig verstanden hatte, und gab dann selbst weitere Erläuterungen. Gollus stellte sich darauf ein. Er beteiligte sich ausgiebig am Gespräch der beiden Frauen und veranlaßte seine Kollegin, ihre Bemühungen ebenfalls aufzugeben. Der Erfolg blieb nicht aus. Die alte Dame wurde sichtlich nervös, sie wirkte zerfahren, unsicher, hatte das Gespräch nicht mehr in der Hand. Und schließlich war es soweit: Man schwieg, sah sich verlegen an, wartete. Unvermittelt sagte Frau Mikat plötzlich: „Lothar soll sich damals Doktor Jäger gegenüber unmöglich benommen haben. Wo er sich doch sonst so gut beherrschen kann! Richtig ausfallend ist er geworden, als würde eine Welt für ihn zusammenstürzen. Ist das nicht kindisch? Ich bin auch Sammler und weiß, wie einem zumute ist, wenn einem in letzter Minute ein Stück durch die Lappen geht – aber man muß doch Haltung bewahren.“ Gollus hielt die Zeit für reif. Er dachte an die Fechtanweisungen, die ihnen Meyerhoff mit auf den Weg gegeben hatte. Jetzt mußte die Trainingsmatte verlassen und ein Treffer angesetzt werden. „Wissen Sie, wem Doktor Jäger dieses Bild, das Steinhof ihm abkaufen wollte, gegeben hat?“ „Keine Ahnung. Unter Sammlern fragte man nicht danach. Es…“ „Es schickt sich nicht, ich weiß. Aber für uns ist es sehr wichtig, das zu wissen. Könnte es sein, daß Doktor Uhlenhorst der Glückliche war?“ „Doktor Uhlenhorst? Na, Sie kombinieren aber wild drauflos! O Pardon, das ist natürlich Ihre Pflicht. Sie denken an Uhlenhorsts Bemühen, einen Konservator zu finden. Nicht schlecht, wirklich, aber ich glaube es
nicht.“ „Und warum nicht?“ „Sehen Sie, wenn Doktor Jäger seinem Freund und Gönner Steinhof jemanden vorzieht, dann muß diese andere Person ihm sehr nahegestanden haben. Aber Doktor Uhlenhorst stand ihm nicht nahe. Das war eine Zufallsbekanntschaft, die zwar schon eine Weile dauerte, aber noch nicht vertieft war.“ „Um was für ein Bild es sich handelte, wissen Sie auch nicht, Frau Mikat?“ „Eine Grafik, sagte ich das nicht?“ „Sie sprachen nur von einem Bild. Eine Grafik also. Bei Doktor Uhlenhorst fanden wir eine Radierung von Piranesi. Wir wissen nicht, woher er das Bild hat. Es ist das Nymphaeum in den…“ „… Licinius-Gärten? Ich kenne es, Steinhof hat es in seinem Museum. Aber ich rate Ihnen, Steinhof selbst zu fragen. Er wird schließlich am besten wissen, über welches Bild er mit Doktor Jäger in Streit geraten ist. Wissen Sie, wo er wohnt?“ Rothilde Mikat stand auf, holte Bleistift und Papier und skizzierte den Weg, den sie einschlagen sollten. Da sie dabei nicht wieder Platz nahm, kam dies einer taktvollen Verabschiedung gleich. Sie trennten sich freundlich voneinander, und die alte Dame ließ es sich nicht nehmen, die beiden Kriminalisten bis zur Haustür zu begleiten. „Das hat gefetzt,“ sagte Gollus, als sie auf der Straße standen. „War urst“, bestätigte Annegret Albrecht. Sie brauchten diese Albernheiten, die nichts anderes als eine Denkpause darstellten, wie Gollus meinte. Und dann blödelten sie über dieses Wort: Pause vom Denken oder Pause zum
Denken. Andere Begriffe boten sich an. Seeräuber – raubten sie die See? Was raubt ein Museumsräuber? Sie versuchten abzuschalten und kamen doch immer wieder auf ihr Thema. Sie waren zum Wagen gegangen, wo sie das Gespräch mit Frau Mikat stichpunktartig zu Papier brachten. Eine Weile blieben sie sitzen und holten die Zigarette nach, die sie bei der alten Dame nicht hatten rauchen wollen. „Komm, wir gehen zu Fuß zu den Steinhofs, weit ist es ja nicht“, sagte Gollus schließlich, und Annegret Albrecht war sehr einverstanden, noch ein Weilchen an der frischen Luft zu sein. Sperebach zählte etwa viertausend Einwohner und erstreckte sich über ein großes Areal. Es war ein Villenort ohne Zentrum, ohne Hauptstraße, jeder hatte hier früher gebaut, wie und wo es ihm beliebte. Es war schwer, sich zurechtzufinden, und die Entfernungen, die Frau Mikat auf ihrer Skizze vermerkt hatte, waren größer als angenommen. Die beiden Kriminalisten beeilten sich nicht sonderlich. Der Spaziergang tat ihnen gut, und erst als sie in die Sperberstraße einbogen, an deren Ende die Steinhofs wohnten, begannen sie ihr Vorgehen nochmals abzustimmen. „Wir kümmern uns zuerst um ihre Alibis am elften Mai“, sagte Leutnant Gollus. „Geht das reibungslos, packen wir die Sache mit der Schulklasse an. Aber glasklar diesmal! Dann erst erwähnen wir den Bericht des Kriminalistischen Instituts. Einverstanden?“ Die Genossin Albrecht war einverstanden. Nicht ganz schlüssig waren sie sich, wie sie den Zahnarzt Dr. Jäger ins Gespräch bringen sollten. Obwohl Rothilde Mikat nicht gebeten hatte, ihren Namen zu verschweigen, sondern eigentlich durchaus bereit schien, für das Gesagte
einzustehen, hielten die Kriminalisten eine sofortige Preisgabe ihrer Wissensquelle für unklug. „Wir werden ja sehen“, sagte Gollus. „Improvisieren, Annegret! Meyerhoff s neue Losung beherzigen: vorund zurückschnellen, dabei aber immer hübsch auf dem Teppich bleiben, der Trainingsmatte also!“ Sie wiegte den Kopf, offenbar nicht ganz zufrieden mit dieser Taktik. Dann sagte sie plötzlich: „Und was machen wir, wenn Steinhof bestreitet, sich mit Doktor Jäger wegen eines Bildes gezankt zu haben?“ „Vorläufig gar nichts.“ „Du hast recht. Lothar Steinhof ist genauso glaubwürdig wie Frau Mikat. Ist dir übrigens aufgefallen, daß sie niemals seine Frau erwähnt hat?“ „Warum sollte sie? Es gab keinen Anlaß.“ „Doch. Als wir von dem Nymphaeum sprachen. ,Steinhof hat es in seinem Museum’, sagte sie. Ob man Frau Steinhof nicht ganz ernst nimmt?“ „Ich halte Steinhof für einen Blender“, sagte Gollus, ohne auf Annegret Albrechts Frage einzugehen. „Das ist er bestimmt nicht. Blender täuschen Können, Leistung und Stellung vor, aber Steinhof kann wohl wirklich was. Er braucht nur dauernd eine Bestätigung seiner Leistung.“ „Na gut. Du weißt’s mal wieder besser.“ Sie waren vor dem Haus der Steinhofs angelangt. Es sah sehr viel bescheidener aus als die Dienstwohnung in Belkow. Ein langgezogenes einstöckiges Gebäude, in dem zwei Familien wohnten. Zwei Gärten, zwei Garagen, zwei Eingänge. An dem einen stand „Steinhof“, ein fast unkenntliches Namensschild unter der Hausnummer 32. Gollus drückte den Klingelknopf, und sie warteten. Die
Fenster waren geschlossen, von den Wänden bröckelte an einigen Stellen Putz. Es meldete sich niemand. Da die Gartentür nur angelehnt war, betraten sie das Grundstück, es waren etwa fünfundzwanzig Meter bis zum Haus. An der Wohnungstür klingelten sie erneut. Wieder blieb es ruhig. Gollus sah auf die Uhr, und unwillkürlich tat Annegret Albrecht es ihm nach. „Wir sind die Pünktlichkeit in Person“, sagte sie. Sie hörten, wie im Nachbarhaus eine Tür geöffnet wurde. „Wollen Sie zu Steinhofs?“ fragte eine Frauenstimme. Gollus bejahte. Sie gingen ein paar Schritte zurück, um die Sprecherin zu sehen. Es war eine junge Frau, die ein Kätzchen auf dem Arm trug. „Einer von den beiden ist eben von einem Krankenwagen abgeholt worden“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob Herr oder Frau Steinhof. Ich kam gerade mit dem Fahrrad, da wurde die Trage schon in den Krankenwagen geschoben.“ „Und wohin er gefahren ist, ich meine, in welche Klinik…?“ Die Frau wußte es nicht. Gollus wies sich aus und fragte nach der Adresse des Abschnittsbevollmächtigten. Während Annegret Albrecht ihn holte, ließ Gollus sich Einzelheiten berichten. Und immerfort dachte er dabei an seine Befürchtungen vor ein paar Tagen. „Wenn es bloß nicht zu spät ist“, hatte er zu Annegret gesagt.
9. Meyerhoff wartete auf Leutnant Claasen. Der Offizier aus Belkow wollte nach Hakenfurt kommen und die restlichen Vernehmungsprotokolle übergeben. Anschließend würden beide auf die Rückkehr von Gollus und Annegret Albrecht warten. Dann lägen die wichtig-
sten Ergebnisse vor, und gemeinsam konnten die nächsten Schritte besprochen werden. Eine genaue Uhrzeit war nicht vereinbart worden, denn Claasen hatte nicht gewußt, ob er mit dem Wagen oder mit der Bahn kommen würde. Es war also möglich, daß er jeden Moment eintraf, und deshalb wurde Meyerhoff etwas unsicher, als ihm die Sekretärin jetzt den Grafiker Kruse-Kleeberg meldete. Er wollte ihn nicht brüsk abweisen, dafür standen sie einander inzwischen zu nahe, aber er mochte auch den Genossen Claasen nicht warten lassen, falls der inzwischen erschien. Doch Meyerhoff kam gar nicht dazu, lange abzuwägen: Kruse-Kleeberg, der feinnervige Ästhet, der Rücksichtsvolle, dessen Benehmen gewöhnlich auf Seele und Gemüt aus war, hatte die Sekretärin beiseite geschoben und stand jetzt vor Meyerhoff. Der Satz, den er ihm entgegenschleuderte, ohne Einleitung, ohne vorherige Begrüßung, gar nicht wohlklingend und gar nicht leise, war jedoch geeignet, dieses ungewöhnliche Eindringen zu rechtfertigen: „Wir haben den Mann, der Doktor Uhlenhorst nach Hause gebracht hat!“ Zuerst sagte Meyerhoff gar nichts. Dann stand er langsam auf, schickte die Sekretärin aus dem Zimmer und fragte: „Wer hat den Mann? Ich meine, wer ist wir?“ Kruse-Kleeberg wurde verlegen. Er machte den Eindruck eines bei seiner ersten Hochstapelei Ertappten und empfand wohl auch so. Er trat einen Schritt zur Seite, als müßte er vor Meyerhoff zurückweichen, und sagte: „Entschuldigen Sie, ich wollte sagen, der Mann… es ist Herr Schliers – weil der doch eben bei mir… Ich hielt es für wichtig.“ „Und wo ist der Mann?“ fragte Meyerhoff bedächtig.
Kruse-Kleeberg fuchtelte mit den Armen. „Er wird gleich hier sein, in ein paar Minuten… Ich bin nur schon vorausgelaufen.“ Der Hauptmann bat ihn, Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber. „Nun erzählen Sie mal der Reihe nach!“ Kruse-Kleeberg beruhigte sich, er lehnte sich in seinem Sessel zurück, atmete tief aus und berichtete dann, was ihn in so offensichtliche Aufregung versetzt hatte. Da war vor etwa einer Stunde dieser Herr Schliers zu ihm gekommen, ein Mann, der sich mit Fragen der bildenden Kunst befaßte und den Kruse-Kleeberg seit langem kannte. Sie hatten einiges zu besprechen, und am Schluß der Unterhaltung fragte Schliers nach der Adresse von Dr. Uhlenhorst. Der Grafiker erzählte vom Tod des Rechtsanwalts, erwähnte auch, daß ein Verbrechen begangen worden war, sogar das Datum nannte er, und da habe Schliers ausgerufen, gerade an diesem Tag, am Sonnabend, dem elften Mai also, sei er mit Uhlenhorst noch zusammen gewesen; er habe den Rechtsanwalt nach Hakenfurt gebracht. „Das war das Signal für mich“, fuhr Kruse-Kleeberg fort. „Ich fragte nicht weiter, vielleicht habe ich schon zuviel ausgeplaudert, auf jeden Fall bat ich Herrn Schliers, mit mir zu Ihnen zu gehen. Er sagte auch sofort zu, wollte nur noch eine wichtige Besorgung erledigen und dann nachkommen.“ Kruse-Kleeberg sah Meyerhoff abwartend und auch ein bißchen hoffnungsvoll an, und als der schwieg, fügte er hinzu: „Ich konnte Schliers doch nicht mit Gewalt herschleifen.“ „Natürlich nicht. Haben Sie ihm gesagt, wo er sich melden soll?“ „Nein. Ich wollte vor dem Haus auf ihn warten. Deshalb
auch meine Eile, verstehen Sie?“ Meyerhoff erhob sich. „Na, dann holen Sie den Mann mal ‘rauf. Aber ich muß mit ihm allein sprechen. Ich rufe Sie auf jeden Fall heute noch an.“ Der Grafiker nickte. Dann wischte er seine schweißfeuchten Hände an der Hose ab und hastete aus dem Zimmer. Eigenartig, dachte Meyerhoff, was so eine Bekanntschaft hervorbringen kann! Ich interessiere mich plötzlich für Malerei, und Kruse-Kleeberg spielt den Sherlock Holmes. Das berühmte andere Ufer, die Sehnsucht nach dem, was man nicht ist oder nicht hat. Dann nahm er die Akte Uhlenhorst aus dem Panzerschrank. Sie hatte einen ansehnlichen Umfang, die vielen Vernehmungsprotokolle und die regelmäßigen Zwischenberichte an Staatsanwalt Hederle umfaßten bereits mehr als fünfzig Seiten. An eigentlicher Substanz – darunter verstand der Hauptmann Angaben, die Antwort auf die berühmten W-Fragen der Kriminalistik geben konnten: Was? Wann? Wo? Wer? Warum? – war nach Meyerhoffs Meinung nur wenig enthalten. Vor allem über das Motiv der Tat gab es bisher nur vage Spekulationen. Was hatte den Täter getrieben, in Uhlenhorsts Wohnung einzudringen? Auf diese entscheidende Frage war noch immer keine befriedigende Antwort gefunden. Hauptmann Meyerhoff schlug den Ordner auf. Obwohl er genau wußte, an welcher Stelle jener Vorgang abgeheftet war, um den es bei dem Gespräch mit Schliers vor allem gehen würde, blätterte er die Akte von Anfang an durch, nicht Seite für Seite, aber doch so, daß er sich mehrmals festlas. Als es klopfte, erhob sich Meyerhoff und ging zur Tür. Im Vorzimmer stand ein Mann, Anfang Fünfzig viel-
leicht, groß, das Haar angegraut, sehr gepflegt gekleidet, überhaupt eine elegante Erscheinung. „Herr Schliers? Bitte, treten Sie ein. Ich bin Hauptmann Meyerhoff.“ Sie gaben einander die Hand. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ fragte der Hauptmann, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, auch aus dienstlichen Gründen zu seinem geliebten Kaffee zu kommen Natürlich rechnete er damit, daß auch Schliers diesen Wunsch äußern würde. Doch als der unbefangen sagte: „Gern. Ein Kännchen Tee bitte. Vielleicht mit Aufgußbeutel. Ich dosiere die Stärke am liebsten selbst. Mit Zucker und Zitrone, wenn möglich. Oder Sahne“, bereute Meyerhoff bereits sein Angebot. Doch er gab den Wunsch an seine Sekretärin weiter, einmal Kaffee und einmal Tee, aber er mied ihren Blick, und die genannten Extras verschwieg er gleich von sich aus. Ein Snob, dieser Herr Schliers, der eine VP-Behörde mit einem Interhotel verwechselt, dachte Meyerhoff. Aber er machte ein freundliches Gesicht und bat seinen Gast, Platz zu nehmen. Helmut Schliers, dreiundfünfzig Jahre, wohnhaft in Stralsund, tätig als Kunstkritiker bei mehreren Zeitungen, war kein Snob, wie sich bald herausstellte. Er gab sich selbstbewußt und erfolgsgewohnt, war aber keineswegs unsympathisch. Seine Stimme war voll und kräftig, und der mecklenburgische Tonfall, mit dem er sprach, machte sie angenehm im Klang. Schliers also war der Mann, den Frau Rökk in Begleitung von Dr. Uhlenhorst gesehen hatte. Auch er erinnerte sich an den Abend in Oranienburg. „Ich weiß, an dem Tisch, an den wir uns setzten, saßen schon ein Offizier der NVA und eine Dame.“
Helmut Schliers hatte Dr. Uhlenhorst in Ahrenshoop kennengelernt, bei jener Bilderauktion, von der bereits Kruse-Kleeberg und Frau Backhaus gesprochen hatten. „Die Begegnung war ganz zufällig“, erzählte er, „wir kamen über einige Grafiken miteinander ins Gespräch, und dann luden wir uns quasi gegenseitig zum Abendbrot ein. Dabei erfuhr ich, daß Doktor Uhlenhorst sozusagen auf gut Glück nach Ahrenshoop gekommen war und eigentlich schon in einem Ferienheim erwartet wurde. Kurz gesagt, er hatte kein Nachtquartier. Und da mein Schwiegersohn in der Gegend ein kleines Sommerhäuschen besitzt, kampierten wir dort gemeinsam. Am nächsten Morgen brachte ich ihn mit dem Wagen nach Ribnitz, wo er dann in den Zug stieg.“ „Was fahren Sie für einen Wagen, Herr Schliers?“ „Einen Wartburg. Aber das ist nicht der Wagen, in dem ich mit Doktor Uhlenhorst zwei Wochen später, am elften Mai also, von Oranienburg nach Hakenfurt gekommen bin. Ich nehme an, Ihre Frage zielt darauf.“ Meyerhoff anerkannte zwar das bereitwillige Mitdenken seines Gesprächspartners, aber schließlich wollte er es sein, der das Heft in der Hand hielt. Deshalb sagte er: „Gehen wir der Reihe nach vor, Herr Schliers. Mich interessiert, ob die Verbindung zwischen Ihnen und Doktor Uhlenhorst auch nach dem Ahrenshooper Treffen weiterbestand.“ „Ja, sie bestand weiter, aber es war eine noch sehr lose Verbindung, Herr Hauptmann, wenngleich eine sehr angenehme. Ich empfand das jedenfalls so, ich bewunderte den alten Herrn. Reist mit seinen einundsechzig Jahren und bei gar nicht guter Gesundheit einfach ohne jede Vorbereitung einige hundert Kilometer, um sich eine
Kunstauktion ansehen zu können. Wenn unsere jungen Künstler doch nur halb soviel Enthusiasmus aufbrächten! Und dann trafen sich natürlich unsere Interessengebiete. Wissen Sie, es hat für mich immer etwas Faszinierendes und Rührendes, wenn ich älteren Leuten begegne, die sich in ein neues Wissensgebiet verbeißen und nichts auslassen wollen, was ihre Kenntnisse bereichern könnte. Da steckt noch Mumm hinter, Herr Hauptmann, geistiger und charakterlicher Mumm!“ Und dann schilderte Helmut Schliers, daß Uhlenhorst und er vereinbart hatten, sich am elften Mai wiederzusehen. Und zwar wollte Schliers nach Kronitz kommen und dann über Berlin nach Dresden fahren, wo er erwartet wurde. Doch kurz vor dem Wiedersehen teilte ihm Dr. Uhlenhorst telefonisch mit, daß er erkrankt sei und am elften Mai nach Hause fahren müsse. Sie beschlossen, den gleichen Zug zu nehmen. „Das geschah dann auch“, erzählte Schliers. „Aber ich hatte mich inzwischen mit meiner Tochter und meinem Schwiegersohn verabredet, die mich in ihrem Wagen, einem Skoda übrigens, von Oranienburg aus mitnehmen wollten. Ich schlug Doktor Uhlenhorst vor, mit mir auszusteigen und sich uns anzuschließen. Wir würden über Hakenfurt fahren und ihn dort absetzen. Genauso lief es dann auch, Herr Hauptmann.“ Meyerhoff nickte. Er zweifelte nicht an Schliers’ Worten. Entscheidend würden die nächsten Antworten sein. Er fragte: „Sie haben Doktor Uhlenhorst vor seiner Wohnung abgesetzt?“ „Nein. Irgendwo in der Stadt. Er sagte: ,Lassen Sie mich bitte hier aussteigen, ich möchte den Rest zu Fuß gehen.’ Ihm war etwas übel geworden, er verträgt wohl das Auto-
fahren nicht so.“ „Und die Koffer?“ „Was für Koffer? Doktor Uhlenhorst hatte eine Aktentasche bei sich, nichts sonst.“ „In Oranienburg, in dieser Gaststätte, hatte er seine Aktentasche aber nicht bei sich, Herr Schliers.“ „Nein? Dann lag sie schon im Wagen. Mein Schwiegersohn hatte uns vom Bahnhof abgeholt und zu diesem Restaurant gefahren. Er mußte noch etwas erledigen, außerdem war meine Tochter noch nicht fertig. Ich nehme an, daß Doktor Uhlenhorst die Tasche und wohl auch seinen Mantel im Auto gelassen hat.“ Dann kann sie wirklich nichts Wertvolles enthalten haben, dachte Meyerhoff, ganz bestimmt kein gerade gestohlenes Piranesi-Bild. Aber diese Version war ja ohnehin schon aufgegeben worden. „Wie spät war es etwa, als Doktor Uhlenhorst sich in Hakenfurt von Ihnen verabschiedete?“ „Kurz nach einundzwanzig Uhr.“ Abends „zwischen neune und zehne“ hatten Peter Brux und seine Betty den Rechtsanwalt vor dessen Haustür getroffen. Die Aussagen deckten sich. Meyerhoff fragte: „Fuhren Sie dann sofort weiter, Herr Schliers?“ „Sofort. Wir hatten ja einen kleinen Umweg gemacht, den wir wieder aufholen wollten.“ „Und was wollten Sie heute bei Doktor Uhlenhorst?“ „In erster Linie ihn wiedersehen, also besuchen. Ich war mit Herrn Kruse-Kleeberg verabredet und fragte nach Uhlenhorsts Adresse. Da erfuhr ich von diesem schrecklichen Unglück. Oder Verbrechen.“ „Sie sagten, in erster Linie wollten Sie ihn besuchen.
Also gab es noch andere Gründe.“ „Ich wollte ihm einen Katalog wiedergeben, den er mir im Zug geborgt hatte. Hier, das ist er.“ Schliers nahm ein schmales Bändchen aus seiner Aktentasche, mit rotem Pappumschlag, etwa sechzig Seiten stark. „Ein Katalog über eine Piranesi-Ausstellung in Berlin. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wer Piranesi…“ Helmut Schliers brach ab, als er in Meyerhoffs Gesicht sah. Der Hauptmann hatte seine hochmütigste Miene aufgesetzt. Unwillkürlich wahrscheinlich, denn er war in diesem Augenblick alles andere als hochmütig. Er war dankbar. Allen war er dankbar: Gollus, der mit seinem Hintergrundsuchen so frühzeitig auf den Bereich Kunst gestoßen war; Annegret Albrecht, die ihm auf diesem Gebiet weit voraus war und ihn dadurch angestachelt hatte; Kruse-Kleeberg natürlich, der ihm die Kostbarkeiten und Schätze der Malerei näherbrachte; und Meyerhoff war auch sich selbst dankbar: daß er die Kraft aufgebracht hatte, sich mit Piranesi zu beschäftigen. So lässig, wie es seine Art überhaupt nur zuließ, sagte Meyerhoff schließlich: „Ich habe kürzlich einige seiner Briefe gelesen. In einem schreibt er ungefähr: ,Ich bin so kühn und glaube, wie Horaz ein Werk vollendet zu haben, das die Nachwelt erleben wird…’ Halten Sie dieses Selbstlob für berechtigt?“ Das war gelungen, großartig sogar. Schliers stutzte, horchte, spitzte dann den Mund, als wollte er einen Pfiff ausstoßen, ließ es selbstverständlich, aber daß er überrascht und auch beeindruckt war, konnte er nicht verbergen. Er räusperte sich mehrmals, ehe er antwortete, und auch dann bekam seine Stimme erst nach und nach ihren festen Klang wieder.
„Völlig“, sagte er. „Obwohl Piranesi bei weitem nicht so bekannt ist wie Horaz, halte ich seine Leistung für nicht minder bedeutsam. Bedenken Sie, er war ein Privatmann, der aus eigenen Mitteln, als sein eigener Zeichner und Ätzer und ohne jede wissenschaftliche Beihilfe ein solch epochemachendes Werk herausbrachte. Vier dicke Foliobände mit zweihundertvierundzwanzig großen Tafeln!“ „Und selbstgetätigtem Buchschmuck! Ich finde es auch phantastisch. Halten Sie es für möglich, daß das heutzutage auch eine Einzelperson schafft?“ „Ich glaube, heute könnte sich ein ganzes hochdotiertes Institut damit seine Sporen verdienen. Überlegen Sie nur mal…“ Meyerhoff hörte zu, aber was Schliers noch über Piranesi ausführte, war im Augenblick unwichtig. Was bezweckt werden sollte, war erreicht worden: Er hatte bewiesen, daß VP-Offiziere keine Kunstbanausen waren! Vielleicht konnte man später, wenn die Zeit es erlaubte, zusammen mit Kruse-Kleeberg das Gespräch fortsetzen, jetzt ging es wieder um das eigentliche Thema. „Entschuldigen Sie, daß ich unterbreche… Sie haben sich wahrscheinlich mit Doktor Uhlenhorst ebenfalls über Piranesi unterhalten, Herr Schliers.“ „Natürlich. Der Mann rührte mich, ich sagte es bereits. Er war geradezu besessen, nun bald ein PiranesiFachmann zu sein, ein Piranesi-Fan war er ja schon. Dabei besaß er gerade 1 ein Stück von ihm. Ich meine, auch das ist allerhand…“ „Wissen Sie, welches?“ „Das Nymphaeum aus den Licinius-Gärten. Nicht Piranesis bestes – aber das wissen Sie ja.“ „Hat er Ihnen das Exemplar gezeigt?“ „Nein. Wieso? Er hat mir erzählt, das Bild hinge über
seinem Bett. Und ich war ja nicht in seiner Wohnung, wußte nicht einmal Uhlenhorsts Adresse.“ „Hat er Ihnen gesagt, wie er zu dem Bild gekommen ist?“ „Nein. Es versteht sich, daß ich auch nicht danach gefragt habe. Er erwähnte lediglich, daß er es kürzlich erworben und zweitausendzweihundert Mark dafür gezahlt habe. Er fragte mich, ob dieser Preis angemessen sei, was ich nur bejahen konnte… Aber wissen Sie, das rührendste – ich muß immer wieder auf dieses Wort zurückkommen – das rührendste ist ja, daß er in seinem Wohnzimmerschrank extra ein Fach frei gemacht hatte, wie er mir erzählte, um dort seine künftige Piranesi-Sammlung aufzubewahren. Ich habe ihm mehrmals ganz behutsam beibringen wollen, daß Piranesi-Grafiken schließlich nicht an jeder Ecke angeboten werden und er vielleicht einer fixen Idee nachjage. Er hat auch brav dazu genickt, doch ob ich ihn überzeugen konnte…?“ „Hatten Sie das Gefühl, daß Doktor Uhlenhorst mit… mit weiterem Nachschub rechnete?“ Schliers überlegte einige Sekunden. Er ließ dabei den Blick durch das Zimmer schweifen, bis hin zur Tür, wo er haftenblieb, als wollte er nun endlich die Sekretärin mit dem Tee heranlocken. Meyerhoff hatte seinen Kaffee zwar inzwischen vergessen, aber durch Schliers’ Blick nun daran erinnert, wurde auch er ungeduldig. „Unser Haus ist nun mal nicht auf Tee eingestellt“, sagte er in entschuldigendem Ton. „Also, Herr Schliers, hatten Sie den Eindruck, daß Doktor Uhlenhorst…“ „Ich weiß es nicht, Herr Hauptmann. Ich weiß allerdings, daß er in Ahrenshoop auch moderne Grafik gekauft hat.“ „Ein Bild von Frau Gisela Backhaus.“ „Ja, das von ihr sofort, während er sich über eine Litho-
graphie des Malers Grünberg noch Bedenkzeit erbat. Falls er sich zum Kauf entschloß, wollte er ein Telegramm schicken.“ Sieh mal an! Kaufe Lith. zum vereinb. Preis, der Telegrammentwurf. Und nun schon zum wiederholten Male dachte Hauptmann Meyerhoff: So löst sich eines nach dem anderen. Die Sekretärin trat ein. Sie balancierte ein Tablett, und ihr Gesicht sah rot und verkniffen aus. Scheinheilig fragte sie: „Wer bekommt den Tee?“ Sie setzte ihn vor Schliers ab, der sich höflich bedankte, obwohl er weder Aufgußbeutel noch Zitrone oder Sahne entdeckte. Dann läutete das Telefon, und Meyerhoff ging an den Apparat. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Annegret Albrecht aus Sperebach. Der Hauptmann verzog für einen Augenblick das Gesicht, als sie meldete, daß einer der Steinhofs von einem Krankenwagen abgeholt worden sei. Er nahm einen Notizblock zur Hand und hielt fest, was ihm wichtig erschien. Er gab keine Anweisungen, sondern bestätigte lediglich, was sie vorschlug. Trotzdem klangen seine ständigen „Ja“ kurz angebunden, beinahe unwillig. Einmal sah er zur Uhr und sagte: „Gut, in einer Stunde“, und dann, am Ende des Gesprächs: „Sie hören von mir!“ Er legte auf und ging in das Vorzimmer, wohin auch seine Sekretärin inzwischen zurückgekehrt war. „Fragen Sie in allen Kliniken, die für den Ort Sperebach zuständig sein könnten, ob Herr oder Frau Steinhof eingeliefert worden ist. Wenn Sie es wissen, melden Sie die Angaben der Genossin Albrecht. Sie hält sich beim ABV in Sperebach auf, hier ist die Nummer.“ Als sich Meyerhoff wieder Helmut Schliers gegenübersetzte, wirkte er, als habe er in der Zwischenzeit lediglich
ein belangloses Privatgespräch geführt. Obwohl Annegret Albrechts Durchsage ihn überrascht hatte und stark beunruhigte, war ihm davon nichts anzumerken. Zumindest ein Außenstehender spürte kaum etwas. Gollus allerdings hätte an Meyerhoffs bewußt hervorgekehrter Unbekümmertheit dessen Erregung erkannt, das Vibrieren aller Nervenstränge, die sich nicht durch Handeln beruhigen ließen. Gollus und Annegret Albrecht hatten umsichtig und schnell gehandelt, es gab nichts auszusetzen, nichts zu ergänzen, und was von Hakenfurt aus erledigt werden konnte, machte seine Sekretärin. So mußte Meyerhoff abwarten, und das erforderte nicht nur Kraft, sondern auch Disziplin: Der Hauptmann brachte beides auf. „Also, Herr Schliers“, sagte er und nippte an seinem Kaffee, „Sie erwähnten den Maler Grünberg. Kennen Sie seine Adresse?“ Meyerhoff notierte sie und nahm auch die Personalien von Schliers’ Tochter und Schwiegersohn auf, außerdem ließ er sich deren Autonummer geben. Er überlegte, ob noch irgendwelche Fragen offengeblieben waren, und ihm fielen die Schreibtischschlüssel ein, die Dr. Uhlenhorst mit in seinen Koffer gepackt hatte. Dazu konnte Schliers nichts sagen, und Hauptmann Meyerhoff schloß das Gespräch ab. Da seine Sekretärin noch immer telefonierte, borgte er sich eine Schreibkraft von der Einsatzgruppe RolandApotheke aus, der er ebenfalls vorstand, und diktierte ihr das Protokoll. Helmut Schliers entpuppte sich als aufmerksamer und sehr kritischer Zuhörer, der hier und da verbesserte, meist konkretisierte, und so wurde dann die Niederschrift fast ein journalistisches Kleinod, das
Schliers schwungvoll und mit sichtbarem Wohlbehagen unterschrieb. Schließlich geleitete Meyerhoff seinen Besucher durch das Vorzimmer, sprach mit ihm noch ein paar Worte über Giovanni Battista Piranesi und verabschiedete sich. An der Tür prallte er beinahe mit Leutnant Claasen zusammen. Der stammelte etwas von „Zug nehmen müssen“ und „auch noch Verspätung“, überhaupt schien er gereizt und nervös. Während er seinen altmodischen Mantel auszog und ihn in den Schrank hängte, beendete die Sekretärin ihr Telefonat. Sie legte auf und sah abwechselnd die beiden Offiziere an. „Frau Steinhof ist in das Kreiskrankenhaus von Großkanten eingeliefert worden. Ihr Mann hat sie im Krankenwagen begleitet, ist aber inzwischen wieder gegangen. Diagnose über die Eingelieferte: Selbstmordversuch durch eine Überdosis Schlaftabletten.“ Gollus saß um diese Zeit in Berlin einem jungen Mann gegenüber. Es war Michael Pfützner, der Konservator, von dem Frau Mikat erzählt und geschwärmt hatte. Auf Gollus wirkte er wie ein Sedativ: beruhigend, aber auch einschläfernd. Bis auf sein Gebiß, das stark reparaturbedürftig aussah, hatte der Achtundzwanzigjährige nichts an sich, das in irgendeiner Weise bemerkenswert gewesen wäre oder besondere Konturen verriet. Alles an ihm war glatt, sauber, akkurat: das brünette, sorgfältig gescheitelte Haar, die blauen Augen, die von außen dirigiert schienen und kaum etwas von einem Innenleben widerspiegelten, der Maßanzug in stumpfem Grau. Selbst die Armbanduhr, die manchmal wie versehentlich unter dem Jackettärmel hervorlugte, fügte sich in den Gesamteindruck: solide, aber glanzlos, mit Leuchtziffern, die wahr-
scheinlich abgedunkelt waren. Je länger Gollus mit Pfützner sprach, um so häufiger hielt er nach etwas Belebendem Ausschau, nach Pfeffer und Paprika gewissermaßen, nach etwas Spritzigem, und wenn es nur ein bunter Schlips gewesen wäre oder mal eine übermütige Geste. Aber Michael Pfützner wurde nicht übermütig. Er wurde auch nicht böse, nicht ungehalten, er war weder erstaunt noch beunruhigt oder nervös. Er antwortete wie ein Automat, sicherlich wahrheitsgemäß, aber ohne Empfindung, wie es schien. Leutnant Gollus war von Sperebach sofort nach Berlin gefahren. Er hatte das Kriminalistische Institut aufgesucht, und nach vielem Hin und Her war es ihm gelungen, das Nymphaeum in Empfang zu nehmen, das den dortigen Spezialabteilungen zur Auswertung übergeben worden war. Gegen Quittung hatte er es bekommen, und natürlich nur als Leihgabe. Aber er hatte es, und nun lag die Grafik vor ihm auf Pfützners Arbeitstisch, der sie sofort wiedererkannte. „Ein Kunde hatte auf der Rückseite des Blattes offensichtlich mit einer Rasierklinge einen Stempel entfernt. Dabei waren an einigen Stellen kleine Beschädigungen entstanden, die ich beheben sollte. Es gelang nicht vollständig, wie Sie hier sehen können, doch das lag nicht an mir. Ich machte den Kunden von vornherein darauf aufmerksam, aber er nahm es in Kauf. Mußte er wohl auch, was sollte er sonst machen!“ „Wollen Sie mir den Namen des Kunden verraten?“ fragte Gollus. „Das ist nicht üblich.“ „Ich weiß. Es schickt sich auch nicht, danach zu fragen.
Trotzdem muß ich darauf bestehen.“ „Doktor Martin Jäger aus Bulkendorf. Zahnarzt.“ Gollus schwieg einen Moment. Die Antwort überraschte ihn. Deshalb fragte er noch mal: „Brachte Doktor Jäger Ihnen dieses Nymphaeum zum Restaurieren?“ „So habe ich Ihre Frage verstanden.“ „Und Sie irren sich nicht?“ „Ich irre mich nicht.“ Das klang wie: Ich irre mich nie! „Vielleicht sehen Sie doch vorsichtshalber in Ihren Unterlagen nach. Oder gibt es darüber keine?“ „Ich hatte die Arbeit privat übernommen. Und da ich Doktor Jäger seit Jahren kenne beziehungsweise kannte, denn jetzt wohnt er in der Bundesrepublik, bedurfte es keinerlei schriftlicher Aufzeichnungen.“ „War Doktor Jäger des öfteren Ihr Kunde?“ „Ja.“ „War auch Doktor Uhlenhorst Ihr Kunde?“ „Doktor Uhlenhorst? Ich kenne keinen Doktor Uhlenhorst. Weder als Kunde noch sonstwie.“ „Kennen Sie Lothar Steinhof?“ „Ja.“ „Gehört auch er zu Ihren Kunden!“ „Gelegentlich.“ „Kennen Sie seine Frau?“ „Flüchtig. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich solche Fragen beantworten muß, Herr Leutnant.“ Das war nicht etwa erregt gefragt oder unwillig, sondern durchaus sachlich. „Doch, Sie müssen.“ Als sei das Folgende völlig unwichtig, sagte Gollus: „Es geht um die Aufdeckung eines Verbrechens, und nach dem Gesetz ist jeder Bürger verpflichtet… Sie winken ab, wissen also Bescheid. Gut so.
Wann haben Sie die Arbeit für Doktor Jäger ausgeführt?“ „Im April dieses Jahres. Ende April.“ „Sie sagten, der Kunde hatte mit einer Rasierklinge auf der Rückseite der Grafik einen Stempel entfernt. Was für ein Stempel war das?“ „Er war ja entfernt. Und was entfernt ist, ist nicht mehr da.“ „Wirklich?“ „Wirklich.“ „Könnte es sich um einen Eigentumsstempel gehandelt haben?“ „Ja.“ „Um den Stempel des vorhergehenden Eigentümers also.“ „Vermutlich.“ „Das heißt also, Doktor Jäger hatte das Nymphaeum von jemandem erworben und daraufhin dessen Eigentumsstempel abgeschabt. Ich nehme an, daß das nichts Ungewöhnliches ist.“ „Es ist nicht ungewöhnlich.“ „Und nachdem er sein Werk vollendet hatte, stellte er fest, daß das Bild beschädigt war, und kam damit zu Ihnen.“ „Viele Menschen leben davon, daß andere etwas beschädigen, Herr Leutnant. In gewisser Weise auch Sie.“ Hätte Pfützner wenigstens diesen Satz ein wenig ironisch oder aggressiv ausgesprochen! Aber nichts da: langweilig, uninteressiert, lau. Ja, lau war das richtige Wort. Gollus überging die Anspielung, die vielleicht gar keine sein sollte, und sagte: „Aber hätte Doktor Jäger Ihnen, dem Fachmann, dann nicht gleich die ganze Arbeit überlassen sollen? Sie hätten den Eigentumsstempel doch vermut-
lich viel besser weggekriegt, und das Bild wäre unversehrt geblieben.“ Pfützners Gesicht verzog sich eine Spur. Ein ganz klein, wenig nur, und jemand, der ihn gut kannte, hätte wohl gesagt: Er setzte ein überlegenes Lächeln auf. Für Gollus war es nur ein grimassenhaftes Zucken, das er nicht zu deuten wußte. „Sie sind nicht vom Fach, Herr Leutnant. Offenbar wollte Doktor Jäger nicht, daß jemand die Herkunftsquelle dieser Grafik erfährt. Auch ich sollte sie nicht kennen. Aber – ich möchte das nachdrücklich betonen – das ist so üblich bei echten Sammlern.“ Gollus überlegte einige Sekunden. Er zündete sich eine Zigarette an, obwohl er nirgends einen Aschenbecher sah und Pfützner auch keine Anstalten machte, ihm irgendein Behältnis anzubieten. Schließlich fragte er: „Sie wissen also wirklich nicht, welcher Namensstempel vorher auf dem Nymphaeum war?“ „Ich weiß es nicht.“ Sekundenlang sahen die beiden einander an. Pfützners Blick war starr und undurchsichtig wie bisher. Als er ihn abwendete, ein paar Millimeter nur, als wollte er auf Gollus’ Stirn lesen, wirkten die Pupillen grau und leblos. Dennoch glaubte Gollus ihn verstanden zu haben. „Sie wissen es nicht, können es sich aber denken, ja?“ „Man hat schließlich einen Kopf.“ „Und was denken Sie?“ Pfützner antwortete nicht gleich. Zum ersten Mal veränderte er seine Haltung: Er rutschte ein wenig nach vorn, nicht auf dem Stuhl, sondern mit ihm, und legte seine Hände flach auf den Tisch. Gleich darauf kreuzte er die Arme über der Brust, gab aber auch diese Stellung wie-
der auf und nahm ein Lineal zur Hand, das er hin- und herwippen ließ. „Schreibt das Gesetz auch vor, Gedanken auszusprechen, Herr Leutnant?“ „Nein.“ Gollus entschied sich für diese knappe, wahrheitsgemäße Antwort. Er glaubte es sich erlauben zu können, denn Pfützner schien bereit zum Sprechen. „Nun gut. Ich vermute, daß es sich um den Namensstempel von Lothar Steinhof handelte.“ „Aha. Das hieße, daß Doktor Jäger das Bild von Steinhof erhalten hat.“ „Was sonst?“ „Richtig, was sonst? Demnach müßte das Nymphaeum – wie sagten Sie, Ende April? – bis Ende April Eigentum von Lothar Steinhof gewesen sein.“ „Bis zum achtzehnten April, Herr Leutnant. Aber, wie gesagt, das vermute ich. Am achtzehnten April feierte Doktor Jäger seinen fünfundsechzigsten Geburtstag. Steinhof und er waren eng befreundet. Doktor Jäger hatte schon mehrmals von Steinhof Bilder bekommen. Sie wissen sicherlich, daß Steinhof eine Art Mäzen ist. Oder sein will. Es macht ihm Spaß, anderen Sammlern zu helfen. Und da er früher selbst begeisterter Sammler war und es jetzt wohl auch wieder sein wird…“ „Moment, Herr Pfützner, warum diese Einschränkung?“ „Weil Steinhof, solange er Direktor des Belkower Museums war, nicht sammeln durfte. Jedenfalls keine Gegenstände, mit denen er beruflich zu tun hatte. Das ist Vorschrift. Er hätte sich vielleicht mit Briefmarken oder Streichholzschachteln beschäftigen können… Oh, Sie haben ja gar keinen Aschenbecher.“ Michael Pfützner sprang auf und holte einen schlichten Ascher, der vermutlich noch niemals benutzt worden
war. Der Mann gab sich jetzt überhaupt ein bißchen lokkerer. Es war nicht ganz klar, was ihn dazu bewegt haben mochte, vielleicht brauchte er einfach eine gewisse Zeit, um sich einem anderen aufzuschließen. Gollus konnte nun endlich die Asche der Zigarette abstreifen, mit der er bisher wie ein Jongleur balanciert hatte. Er sog tief und genußvoll den Rauch ein und überlegte dabei, ob diesem jahrelangen Sammelverbot, von dem er eben gehört hatte, irgendwelche Bedeutung zukam. Er gelangte zu keinem Ergebnis und wollte Pfützner gerade um einige Erläuterungen bitten, als der sagte: „Ich will ehrlich sein, Herr Leutnant. Eigentlich weiß ich, daß Doktor Jäger diese Grafik von Lothar Steinhof erhalten hat. Mit ziemlicher Sicherheit weiß ich es. Ich war zwar nicht auf dieser Geburtstagsparty, aber mir wurde berichtet, daß sich Steinhof mal wieder als großer Gönner gezeigt und Doktor Jäger eine wertvolle Grafik geschenkt habe. Und als Jäger wenig später mit dem Nymphaeum zu mir kam… Man ist ja nicht schwachsinnig, nicht?“ „Ganz gewiß nicht. Und bitte, halten Sie auch mich nicht für schwachsinnig, aber ich muß noch einmal meine Frage von vorhin stellen: Wir sprechen von dem PiranesiBild, das ich mitgebracht habe und das jetzt vor uns auf dem Tisch liegt.“ „Garantiert.“ „Gut. Dieses Bild fanden wir im Mai in der Wohnung des Rechtsanwalts Doktor Uhlenhorst in Hakenfurt. Demnach wäre es folgenden Weg gegangen: Lothar Steinhof schenkte es am achtzehnten April seinem Freund Doktor Jäger zu dessen fünfundsechzigstem Geburtstag, und der wiederum verkaufte oder verschenkte es vor seiner Ausreise an den Rechtsanwalt Doktor Uhlenhorst…“
„Das ist nicht gut möglich, weil… oder doch…“ „Was ist nicht gut möglich?“ „Doch, es ist möglich. Unterstellen wir mal…“ Michael Pfützner hob seine Stimme ein wenig, zum ersten Mal übrigens, und er schien jetzt in die Rolle eines Vertrauten schlüpfen zu wollen. Seine Augen bekamen etwas Glanz, seine Wangen etwas mehr Farbe, und Gollus bemerkte sogar, daß die Leuchtziffern der Armbanduhr doch nicht abgedunkelt waren. Pfützner begründete seinen anfänglichen Einwand damit, daß Dr. Jäger gewöhnlich auf die Stelle des abgeschabten Eigentumsstempels seinen eigenen setzte. Das sei diesmal jedoch nicht geschehen, wie das Bild beweise. „Aber es ist ja möglich“, ereiferte er sich, „daß sich Jäger, schon als er das Bild erhielt, zu einem Weiterverkauf entschlossen hatte. Er wußte, daß er rübergehen würde und es nicht mitnehmen konnte. Deshalb kennzeichnete er es gar nicht erst. Wäre das denkbar, Herr Leutnant?“ Das war durchaus denkbar. Gollus nickte und freute sich. Er zündete eine neue Zigarette an und merkte zu spät, daß Pfützner ihm hatte Feuer geben wollen. Sogar einen Kaffee bot er jetzt an. „Danke. Wirklich sehr freundlich, aber ein anderes Mal vielleicht.“ Denn natürlich hatte Gollus es eilig. Er wußte nicht, was mit den Steinhofs geschehen war, wußte auch nicht, wo Annegret Albrecht eingesetzt war und ob er gebraucht wurde. Außerdem glaubte er, von Pfützner erfahren zu haben, was er brauchte. Vorläufig wenigstens. Er zweifelte nicht an dessen Ehrlichkeit und hielt auch einen Irrtum für unwahrscheinlich. Wichtig war nun, das eben Gehörte in Ruhe zu durchdenken und es mit den bisherigen Kennt-
nissen, vor allem auch mit dem Bericht der Frau Mikat, in Einklang zu bringen. Das konnte Gollus aber nicht hier im Zimmer des Herrn Pfützner tun; auch wenn der jetzt gar nicht mehr einschläfernd wirkte, sondern äußerst lebhaft. Nachdem Gollus die Grafik wieder verpackt und verschnürt hatte, verabschiedete er sich von dem Konservator, bestieg seinen Dienstwagen und schlängelte sich durch den Berliner Nachmittagsverkehr. Es war etwa siebzehn Uhr, als er die Autobahn erreichte. Er überlegte, ob er gleich nach Hakenfurt oder zuvor noch nach Sperebach fahren sollte. Er könnte unterwegs in einer Ortschaft anhalten und von einer VP-Dienststelle aus mit Meyerhoff telefonieren. Aber er kam zu keinem Entschluß, weil alle diese Gedanken nur gelegentlich aufflackerten und von der entscheidenden Frage ständig überdeckt wurden: Wieso konnte Lothar Steinhof seinem Freund Dr. Jäger am achtzehnten April ein Nymphaeum schenken, das am neunten Mai im Belkower Museum einer Schulklasse vorgeführt wurde? Langsam und stockend, mit vielen Rücknahmen und Korrekturen, bildete sich schließlich eine Erklärung heraus, die nicht nur eine Antwort, sondern vielleicht sogar die endgültige Lösung des Falls darstellen konnte. Und genauso langsam und stockend formulierte Gollus sie, nicht nur in Gedanken, sondern laut, Satz für Satz, mit langen Pausen dazwischen und gelegentlichen Wiederholungen: „Steinhof erfährt von seiner Frau, daß man die Grafik nicht finden kann, die die Schulklasse zu sehen wünscht. Daraufhin fährt er zu Doktor Jäger und leiht sich bei ihm unter einem Vorwand das Bild aus, das er ihm drei Wochen zuvor schenkte. Er bringt es ins Museum, schmuggelt es in einem Karteikasten falsch ein, wo
man es am nächsten Morgen ,zufällig’ und ,endlich’ findet.“ Weiter: „Steinhof bittet Doktor Jäger, ihm das Bild wieder zurückzugeben. Darauf der: ,Geht nicht, mein Lieber, es ist bereits anderweitig versprochen.’ Für Steinhof bricht eine Welt zusammen, wie Rothilde Mikat sagte. Es kommt zum Krach, aber das hilft nichts. Steinhof muß das Bild wieder aus dem Museum holen und dem Zahnarzt zurückgeben.“ Schließlich: „Doktor Jäger erwähnte bereits am siebten April dem Antiquitätenhändler Kneisel gegenüber, daß er einen echten Piranesi für zweihundert Mark bekommen könnte. Vermutlich ahnte er damals nicht, daß er das Bild zu seinem Geburtstag sogar geschenkt bekäme. Trotzdem scheute sich dieser saubere Herr nicht, es für über zweitausend Mark dem Hakenfurter Rechtsanwalt Doktor Uhlenhorst zu verkaufen.“ Endlich: „Aus irgendeinem Grund, der noch nicht bekannt ist, braucht Lothar Steinhof das Nymphaeum abermals. Er weiß inzwischen, daß Jäger es an Uhlenhorst verkauft hat. Steinhof fährt am elften Mai nach Hakenfurt, steigt in die Wohnung des Rechtsanwalts, um die Grafik zu stehlen. Uhlenhorst überrascht ihn, Zusammenstoß der beiden. Steinhof flieht panikartig, als er den Mann am Boden liegen sieht. Die Grafik bleibt an ihrem Platz: über dem Bett im Schlafzimmer.“ So weit, so gut. Oder nicht? Je länger Gollus fuhr, desto mehr Bedenken tauchten auf. Ihm widerstrebte, Steinhof so rigoros zum Dieb zu stempeln. Dazu gab es bisher keine handfesten Indizien, von Beweisen ganz zu schweigen. Es gab lediglich jenes zwar gebräuchliche und auch vertretbare, aber doch unbefrie-
digende „Es kann eigentlich niemand anderes gewesen sein“. Mehr jedoch als durch diese Überlegung wurde Gollus durch bestimmte Verhaltensweisen Ingelore Steinhofs irritiert. Die machten ihm so zu schaffen, daß er auf dem nächsten Parkplatz anhalten mußte. Er stieg aus, knöpfte das Jackett zu, vergrub die Hände in den Hosentaschen und stiefelte um den Wagen herum. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten, sagte er sich: Entweder wußte Frau Steinhof von den Taten ihres Mannes, oder sie wußte nichts davon. Hätte sie im ersten Fall dem Kriminalisten Gollus bei seinem Besuch so fröhlich, stolz und unbekümmert gesagt: „Natürlich, unser Museum besitzt das Nymphaeum ebenfalls“? Wohl kaum. Also mußte man davon ausgehen, daß ihre Überraschung, ihr Ärger, ihre Sorge über das fehlende Bild echt waren. Wenn aber ihre Gefühlsausbrüche echt waren – wie konnte dann ihr Mann bereits am achtzehnten April… Das war’s. Hier konnte die Erklärung liegen: beim fünfundsechzigsten Geburtstag des Bulkendorfer Zahnarztes Dr. Martin Jäger. Und nun war Gollus auch klar, was er zu tun hatte. Er stieg in den Wagen und startete. Sein Ziel war Sperebach. Er wollte nicht zu der Wohnung der Steinhofs, nicht zum Büro des Abschnittsbevollmächtigten, wo Annegret Albrecht vielleicht noch saß. Sein Besuch galt ein zweites Mal Rothilde Mikat, der alten Dame. Frau Mikat saß in dem kleinen Vorgärtchen auf einer Bank und blätterte in einem Buch. Sie sah überrascht auf, als sie den Leutnant erkannte. „Kommen Sie nur ‘rein, die Tür ist auf“, sagte sie. „Wol-
len Sie sich hierher setzen, oder müssen wir ins Haus gehen?“ Gollus nahm neben ihr Platz. Diesmal mußte er Zeit übrig haben. Er wußte, daß von der richtigen Beantwortung seiner Fragen viel abhing. Der Leutnant steuerte zwar auf sein Ziel zu, aber nicht geradlinig, nicht offen, denn Rothilde Mikat sollte nicht merken, auf welche von den vielen Fragen, die er stellte, es ihm ankam. Und so ließ er sie erzählen: von der Geburtstagsfeier bei Dr. Jäger, von den Gästen, den Geschenken; er nahm Klatsch entgegen, nahm Abschweifungen in Kauf, er nickte zu fremdsprachigen Sentenzen, mit denen Frau Mikat auch diesmal freigebig umging, er nickte, auch wenn er sie nicht verstand, er lachte, schmunzelte, staunte. Seine Fragen kamen behutsam, sie gingen fast unter in ihrem Redefluß, es war, als bestimme sie den Ablauf des Gesprächs, und Gollus ließ sie in diesem Glauben. Als er sich nach etwa einer Stunde verabschiedete und zu seinem Wagen ging, wußte er, was er hatte wissen wollen: Ingelore Steinhof hatte an Jägers Geburtstagsfeier nicht teilgenommen, sie war in jenen Apriltagen gar nicht in der DDR gewesen.
10. Annegret Albrecht konnte Frau Steinhof erst spät am Abend sprechen. Da man ihr das nicht von Anfang an gesagt hatte, wartete sie – erst geduldig, dann weniger geduldig, schließlich mit einem quälenden Hungergefühl. Die Ärzte und Schwestern waren freundlich zu ihr. Sie brauchte nicht in einem der überfüllten Warteräume zu sitzen, auch nicht auf dem Gang herumzuste-
hen, man hatte sie in ein Bereitschaftszimmer geführt, wo es bequeme Sessel gab, Radio und Bücher. Das Kreiskrankenhaus in Großkanten war ein Neubau. Besser gesagt, ein Um- und Anbau, denn das alte Haus hatte man stehengelassen, als Kern gewissermaßen, an dessen beiden Längsseiten sich nun moderne mehrgeschossige Gebäude anschlossen. Es war Fremden nicht leicht, sich zurechtzufinden; die vielen Eingänge verwirrten, die Treppen und Flure noch mehr, und die Wegweisung oder Ausschilderung war nicht immer ganz eindeutig. Ingelore Steinhof lag auf der Intensivstation. Diese Auskunft hatte Annegret Albrecht von Meyerhoffs Sekretärin erhalten, die ihr auch gesagt hatte, in welches Krankenhaus die Museumsdirektorin eingeliefert worden war. Inzwischen wußte sie von dem zuständigen Arzt, daß bei Frau Steinhof keine Lebensgefahr bestand, überhaupt sei es ein leichter Fall, denn ihr Mann habe sie rechtzeitig eingeliefert. Den Umständen nach ginge es der Patientin sogar recht gut, trotzdem müßten natürlich die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, Magen auspumpen, Magenspülungen, Untersuchung auf toxische Schäden, Blutbild, Leber und so weiter. Wenn das alles vorüber sei und sich der Zustand der Kranken nicht verschlechtere, könne man getrost ein halbes Stündchen oder auch mehr mit ihr plaudern. Annegret Albrecht hatte sich mit dem Arzt immer nur kurze Zeit unterhalten können. Er wurde oft abgerufen, kam dann für ein paar Minuten wieder, und so war es zu keinem zusammenhängenden Gespräch gekommen. Er hatte bei der Einlieferung der Patientin mit Lothar Steinhof gesprochen. Der Ehemann habe die üblichen Fragen gestellt: ob Lebensgefahr bestünde, ob die Patientin
Schmerzen habe, wann er sie besuchen und was er für sie tun könne. Über den Grund des Selbstmordversuchs sei kein Wort gefallen, erzählte der Arzt. Er habe nicht gefragt, und Steinhof habe keine Erklärung abgegeben. „Das wundert mich nicht, denn niemand ist uns Ärzten gegenüber verpflichtet, über mögliche Beweggründe des Selbstmordversuchs zu sprechen. Trotzdem tun es die meisten Angehörigen, und deshalb erwähne ich es.“ Annegret Albrecht wollte wissen, welchen Eindruck Lothar Steinhof gemacht habe. Das war schnell beantwortet: „Er wirkte zerfahren, ängstlich und völlig hilflos. Aber in solchen Situationen reagieren die meisten so. Herr Steinhof bildet keineswegs eine Ausnahme.“ „War er vielleicht mit einem Schuldgefühl belastet?“ fragte Annegret. Doch da kam nur ein Achselzucken als Antwort, und dann folgten ein paar Gemeinplätze, daß wohl jeder in irgendeinem Maße Schuld am Schicksal seines Nächsten trage. Der Arzt wußte, daß Steinhof seine Frau dabei überrascht hatte, als sie im Schlafzimmer, schon im Nachthemd, mehrere Tabletten geschluckt habe und noch mehr schlucken wollte. „Das muß nach dem Mittagessen passiert sein, denn genau um vierzehn Uhr fünfzehn rief Herr Steinhof den Rettungsdienst an, der dann auch sofort losfuhr.“ Über diese Zeitangabe dachte Annegret Albrecht lange nach. Die Steinhofs wußten, daß um fünfzehn Uhr die Genossen der Kriminalpolizei kommen würden. Der Termin war vereinbart. Er konnte auch nicht vergessen worden sein, denn Gollus hatte am Vormittag noch einmal angerufen und gefragt, ob es dabei bliebe. Lothar Steinhof hatte das Gespräch entgegengenommen
und gesagt, man sei zu Hause am Nachmittag. Das war gegen elf Uhr gewesen. Folglich mußte das, was zu Ingelore Steinhofs Reaktion geführt hatte, anschließend passiert sein. Nach elf Uhr, aber vor dem erwarteten Besuch. Eigentlich war es müßig, in endlosen Monologen Ursachen für diese Kurzschluß- oder Panikhandlung aufzählen zu wollen. Annegret Albrecht sagte sich das immer wieder, doch die Gedanken waren hartnäckig, und an diesem ereignisreichen Tag, in dieser Umgebung ließen sie sich gleich gar nicht bezähmen. Was mag zwischen dem Ehepaar vorgefallen sein, bevor sich Frau Steinhof zu diesem Schritt entschloß, fragte Annegret sich wieder und wieder, aber eine Antwort fand sie natürlich nicht. Allerdings merkte sie, daß sie bei all ihren Überlegungen unwillkürlich für die Frau Partei ergriff. Liegt das daran, daß auch ich Frau bin, liegt es daran, daß Ingelore Steinhof die Leidende, sozusagen das Opfer zu sein scheint? überlegte Annegret. Vorsicht, ermahnte sie sich. Und noch mehr Vorsicht, wenn sich in dieser Parteinahme eine abschätzige Meinung über Lothar Steinhof äußern sollte! Diese Warnung an sich selbst kam gerade noch rechtzeitig. Als der Arzt sie holte, war Annegret Albrecht fest entschlossen, sich auf keinen Fall von irgendwelchen Mitleidsgefühlen überwältigen zu lassen. „Ich habe Frau Steinhof Ihren Besuch angekündigt“, sagte der Arzt. „Sie nahm es eigenartig auf. Erst erschrak sie, doch als ich Ihren Namen nannte, schien sie erleichtert. Vielleicht hatte sie den Besuch ihres Mannes befürchtet. Die Apathie, mit der sie sich ansonsten umgibt, ist nicht organisch bedingt. Sie verstehen, was ich meine. Klinisch gesehen, ist sie wohlauf, und wir haben sie be-
reits von der Intensivstation auf die Innere bringen können. Hier, bitte.“ Er öffnete eine Tür, sprach ein paar Worte in das Zimmer und ließ die Kriminalistin eintreten. Die beiden Frauen waren allein. Ingelore Steinhof lächelte ihr zu, aber es war ein Lächeln ohne Heiterkeit. Kein trauriges oder wehleidiges, eher ein schmerzhaftes Lächeln. Annegret Albrecht nahm einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. „Fühlen Sie sich einigermaßen kräftig, Frau Steinhof?“ Das Lächeln verschwand. „Kräftig wozu?“ Sie blickte ängstlich auf die Besucherin, und etwas Wehrloses lag in ihren Augen. „Um mit mir zu sprechen. Wenn Sie zu müde sind…“ „Nein, bitte, bleiben Sie. Ich werde verrückt, wenn ich allein bin. Ich wollte nicht sterben, Fräulein Albrecht, ich wollte nur einfach schlafen. Ein bißchen sterben. Vielleicht ein paar Tage. Ich wollte nicht mehr denken müssen. Es sind die Gedanken, die mich kaputt machen, nicht die Tabletten.“ Sie sprach mit einer kindlichen Stimme, die gelegentlich etwas brüchig klang. „Ich bin ein Mensch, der immer unterliegt. Manchmal nur ganz knapp, aber jedesmal bin ich es, der draufzahlt.“ Und wieder sah sie Annegret Albrecht an, fragend diesmal, als erwartete sie Widerspruch von ihr. Die Kriminalistin war nicht vorbereitet auf dieses Gespräch. Voller Erschrecken stellte sie es fest. Sie hatte kein Konzept, sie hatte die Wartezeit mit Grübeleien verschwendet, statt sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren. Sollte sie dieser blassen, furchtsamen Frau dort im Bett die gleichen Fragen stellen, die man den Steinhofs am Nachmittag hatte stellen wollen? Sollte sie Trost
spenden, den Arm streicheln oder sich eine Beichte anhören, eine ganze Lebensgeschichte vielleicht? Sie sollte dasein, nichts weiter. Annegret Albrecht erkannte schon bald die Rolle, die Frau Steinhof ihr zugedacht hatte. Die Kranke brauchte einfach einen Zuhörer. „Wissen Sie, was Lothar zu sagen pflegt? ,Ein guter Verlierer erreicht, daß seine Gegner sich schuldig fühlen, wenn sie gewonnen haben.’ Bei mir hat er es erreicht. Fast hätte er es erreicht. Sie sehen ja.“ Die Falten auf ihrem Gesicht hatten sich vertieft, am Hals traten die Sehnen stark hervor, und die Haut der Hände und Arme schien trocken und spröde. Sie blickte mit Augen, die keine Sicherheit mehr hatten. „Ich habe mich in seiner Gegenwart immer kleiner gemacht, als ich bin. Ich wollte ihn nicht erschrecken. Das hat er nie gemerkt“, sagte sie. Sobald sie von ihrem Mann sprach, klang ihre Stimme anders. Sie wurde breiter, zäher, und etwas Abschätziges lag darin. „Sie hätten ihn hören sollen, zu Hause. Es würde alles wieder gut werden, wenn ich noch einmal, nur noch dieses allerletzte Mal, ein Einsehen hätte. Gewinselt hat er, der Chef!“ Die Frau sprach zusammenhanglos und sprunghaft, sie reihte Satz an Satz, mit langen Pausen zwischendurch, die Annegret Albrecht absichtlich nicht mit Fragen ausfüllte. Hier schien ein Uhrwerk abzulaufen, ein schwaches, zerbrechliches, das bei der geringsten Störung stehenbleiben konnte. „Ich werde mich von ihm trennen. Ich muß mich ja von ihm trennen. Er hat sich so beleidigend ehrlich gebärdet, daß mir gar nichts anderes übrigbleibt.“
Wieder trat eine Pause ein. Annegret saß auf ihrem Stuhl, ein Bein übergeschlagen, die Handtasche auf dem Schoß, Unwillkürlich sah sie auf die Armbanduhr und dann auf die Hände der Frau. Kein Ehering, nur ein Armband aus Gold. „Aus Berechnung hat er mich geheiratet“, sagte Ingelore Steinhof. Sie hielt den Kopf zur Seite gewendet und sprach in das Kissen, undeutlich und leise. „Nur deshalb. Sein Werkzeug war ich, nichts weiter. Und so einfach lief alles ab. Genau wie er es vorausbedacht hatte. Ich habe ihm stets erzählt, was sich ereignete. Und er war ja so interessiert, wir alle bewunderten ihn: der Chef, der nicht von seiner Arbeit loskam, der mit allen Fasern seines Herzen an ihr hing. Aber nicht sein Herz war es, sondern sein Geltungsdrang. Und keine Inventur, bloß nicht. Wozu auch? Warum? Der Laden läuft doch. Du bist eine so ausgezeichnete Direktorin… Und ich, stehe ich nicht fest an deiner Seite?’ Aber dann saß er in der Patsche, der Chef. Und ich sollte ihm raushelfen. Zum letzten, wirklich zum allerletzten Mal.“ Sie hatte die Stimme ihres Mannes nachgeäfft, aber so, daß sie nach Annegret Albrechts Empfinden überhaupt nicht dem Original ähnelte. Eher schon der Gesichtsausdruck, den Frau Steinhof ebenfalls kopiert hatte: ein bißchen arglistig, witternd, von unten nach oben blickend. Sie richtete sich etwas hoch und stützte sich auf die Ellenbogen. Die Augen waren dem Fenster zugewandt, und es sah aus, als läse sie dort die Sätze ab, die sie sprach. „Das Nymphaeum, wissen Sie, das Nymphaeum brachte alles ins Rollen. Ich weiß, daß Lothar da mit drinhängt. Mir ist nur noch nicht klar, wie weit und in welchem Maße er beteiligt ist. Er behauptet nach wie vor, er habe Doktor Uhlenhorst nie
gesehen. Aber wenn ich zurückdenke, der bewußte Sonnabend damals, der elfte Mai, als er nach Hause kam, spätnachts, und bis zum Morgen durch das Haus tappte, ganz fahl im Gesicht… Mir hat er erzählt, er habe einen Verkehrsunfall miterlebt. Und das stimmte auch, denn am nächsten Tag kamen zwei Polizisten, die sich von ihm den Vorgang noch einmal schildern ließen. Trotzdem, ich weiß nicht…“ Frau Steinhof ließ sich zurücksinken. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Mehrmals wischte sie mit dem Handrücken darüber, dann nahm sie ein Taschentuch. Annegret Albrecht hatte Bedenken, das Gespräch fortzusetzen. Doch gleichzeitig fühlte sie, daß Ingelore Steinhof auf jeden Fall weiterreden würde, mit oder ohne Zuhörer, laut oder leise, weil sie das alles hinter sich bringen wollte. „Ich werde mich von ihm trennen.“ Sie sprach jetzt in einem ungehaltenen, störrischen Ton. Die Bettdecke bewegte sich, als habe Frau Steinhof mit dem Fuß aufgestampft. „Ich reiche die Scheidung ein. Und dann meine Kündigung. Wenn ich nicht sowieso rausfliege. Das wird ein Gerede geben bei den Kollegen.“ Annegret Albrecht hatte bisher nur wenig gesagt. Ab und zu ein Wort der Zustimmung oder des Erstaunens, meist hatte sie bloß genickt. Mitleidsgefühle waren ihr eigenartigerweise nicht gekommen. Vielleicht lag das an der Gehässigkeit, mit der Ingelore Steinhof über ihren Mann sprach. Annegret verübelte ihr diese Haltung. Leid, Trauer, Verzweiflung – das alles hätte sie gerührt, die Gehässigkeit stieß ab. Aber war es wirklich Gehässigkeit? Die Genossin Albrecht war zu jung und unerfahren, als
daß sie das hätte beurteilen können. Sie stellte sich diese Frage, um besser bewerten zu können, was an Frau Steinhofs Äußerungen wahr, was übertrieben, verzerrt oder bewußt gelogen war. Natürlich mußte auch die augenblickliche Verfassung, in der sich die Patientin befand, berücksichtigt werden, überhaupt die Tatsache, daß sie Patientin war. Von der Apathie allerdings, die der Arzt erwähnt hatte, spürte Annegret Albrecht nichts. Die Frau litt, daran bestand kein Zweifel. Aber sie litt nicht wie eine endgültig Geschlagene, bei Ingelore Steinhof war noch Widerstandswille zu spüren. Und Annegret fragte sich, ob sie diesen Willen anstacheln oder ignorieren sollte. „Als ich noch klein war“, sagte Frau Steinhof jetzt, und ihre Stimme klang wieder kindlich, „als ich etwa zehn Jahre alt war, da brachte mir meine Mutter mal…“ Was von Anfang an zu erwarten gewesen war, trat ein: Die Kranke begann aus ihrem Leben zu erzählen. Sie holte weit aus, sprach sprunghaft und zusammenhanglos, aber eines war unüberhörbar: Diese Frau war überzeugt, in ihrem Leben immer Pech gehabt zu haben, immer war sie diejenige gewesen, die hatte draufzahlen müssen. Es war eine harte Geduldsprobe für die Genossin Albrecht, denn die Zeit verstrich, und es kam nichts für sie heraus. Auch die paar Begebenheiten, die Ingelore Steinhof aus ihrer Ehe erzählte, brachten keine Anhaltspunkte für die Ermittlungsarbeit. Es waren ichbezogene Darstellungen, die voller Ichbezogenheit zum Ausdruck gebracht wurden. Bis dann doch eine Angelegenheit zur Sprache kam, die Annegret Albrecht Gelegenheit bot einzugreifen. Eigentlich eine belanglose Sache, aber da sie sich in den Maitagen dieses Jahres ereignet hatte, nutzte sie die Chance. Frau Steinhof hatte erzählt, daß ihr
Mann oft nach seinen Vorbildern befragt würde. Er habe dann stets eine Reihe von Namen genannt, die alle bombastisch geklungen hätten, aber den meisten unbekannt gewesen seien. Ein holländischer Sammler war darunter, der in vierzigjährigem Gehirntraining die Methode der konvergierenden Indizien ausgebaut hatte, die darin bestand, den auf einen gemeinsamen Schnittpunkt zulaufenden Hinweisen und Kennzeichen nachzugehen. „Diese Definition habe ich so oft hören müssen, daß ich sie auswendig kann“, sagte Frau Steinhof. „Lothar behauptete immer, daß er auch nach der Methode der konvergierenden Indizien vorgehe, aber ich bezweifle stark, daß er überhaupt weiß, was sie bedeutet. Übrigens: Lothar stieß zwar auf seiner Suche nach einem Vorbild zuerst auf diesen Holländer, aber dann schon recht bald auf sich selbst. Das nur nebenbei. Am achten Mai nun, von dem ich spreche, kam es zwischen Lothar und mir zu einer scharfen Auseinandersetzung wegen seiner albernen Überheblichkeit bei diesem Vorbildgetue. Sie müssen wissen…“ Und hier nun nahm Annegret Albrecht Anlauf. Sie setzte ihre liebenswürdigste Miene auf und sagte sehr ruhig: „Aber am achten Mai, Frau Steinhof, da waren Sie schließlich alle gereizt und aufgeregt. Da darf man doch einen Streit nicht auf die Goldwaage legen.“ „Warum sollten wir gereizt gewesen sein?“ „Nun, wegen des Nymphaeums. Für den neunten Mai hatte sich die Schulklasse angemeldet, und das PiranesiBild war nicht zu finden. Sie suchten doch wie verrückt.“ Ließ sie sich ablenken und lenken, oder beharrte sie stur auf ihrer Geschichte? Einen Augenblick stutzte Frau Steinhof, es war, als hätte sie gar nicht den Sinn des Einwurfs begriffen. Dann erschien ein sehr nachdenklicher
Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Die Schulklasse“, sagte sie langsam, „die Schulklasse, richtig. Und Lothar hat gelacht. Sie haben recht, er war sehr gereizt. Es war ein gereiztes Lachen. Stimmt, da fing er wieder an mit den faulen Tricks. Das Bild sei beim Restaurator, sollte ich sagen. Oder ausgeliehen. Einfach eine Ausrede finden – wie schon bei anderen Stücken. Aber ich bin hart geblieben. Mit Recht, wie sich zeigte. Denn das Nymphaeum war ja da, wir fanden es schließlich.“ „Wer fand es eigentlich? Ihr Mann?“ „Gottbewahre! Meinen Sie, der würde wie eine Wühlmaus Dutzende von Schränken und Kisten durchstöbern? Solche Arbeit überließ er immer uns. Nein, ich selbst habe das Bild gefunden.“ „Und wo?“ „Es war in einen anderen Block gerutscht, versehentlich natürlich. Ich hatte dort selbstverständlich schon suchen lassen, aber Sie wissen ja: Wenn man nicht alles selbst macht, dann…“ Sie brach mitten im Satz ab. Sie riß die Augen weit auf und starrte die Kriminalistin entsetzt an. Dann schlug sie beide Hände vor das Gesicht. „Mein Gott“, murmelte sie, „mein Gott.“ Ein leises, unterdrücktes Schluchzen war zu hören, und zwischen den Schluchzern immer wieder: „Mein Gott, mein Gott.“ Annegret Albrecht war für einen Moment ratlos. Was sollte sie machen? Sollte sie trösten oder hart werden, unerbittlich zum Reden auffordern oder besänftigen? Noch ehe die Genossin Albrecht einen Entschluß fassen konnte, klopfte es an der Tür, und der Arzt trat ein. Als er die Weinende sah, blickte er böse auf die Besucherin.
„So geht das aber nicht, meine Dame!“ sagte er vorwurfsvoll. Er schickte sie auf den Flur hinaus, wo Annegret gehorsam und verlegen wartete. Bald zehn Minuten vergingen. Als der Arzt endlich kam, zuckte er die Schultern. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Die Patientin brauchte eigentlich Ruhe, aber sie besteht darauf, daß sie weiter mit Ihnen sprechen darf. Das sei die beste Medizin für sie, behauptet sie. Solche Patienten habe ich besonders gern! Warum kommen sie überhaupt zum Arzt, wenn sie sowieso alles besser wissen? Na, meinetwegen! Warten Sie noch ein Viertelstündchen. Ich sehe dann mal nach, und wenn ich es verantworten kann, dürfen Sie wieder zu ihr.“ Das Protokoll war eindeutig. Der Zeuge hatte es unterschrieben, der aufnehmende Polizist gegengezeichnet. Es war ordnungsgemäß abgefaßt, alle Vorschriften waren eingehalten. Und doch hatte Hauptmann Meyerhoff es anfangs mit einem Blick betrachtet, als müßte er eine bewußte Irreführung darin entdecken. „Am Abend des 8. Mai“, so begann der Text, „verließ ich kurz vor 21 Uhr 30 meine Wohnung, um zum Bahnhof zu gehen. Im Erlenstieg bemerkte ich ein Auto, aus dem ein Mann stieg. Er bog in den Heidering ein, verließ die Straße und ging über einen Hof. Da ich denselben Weg nahm – Abkürzung zur Bahnhofstraße – , bemerkte ich ihn auf dem Hof wieder. Es sah aus, als wollte er eine der Mülltonnen besteigen, die dort stehen. Weil er offenbar meine Schritte hörte, ließ er von seinem Vorhaben ab und wartete, daß ich vorbeiging. Ich maß dem Vorfall damals wenig Beachtung bei. Ich bin heute aus meinem Urlaub zurückgekommen und habe von Dr. Uhlenhorsts Tod
gehört. Da sich jene Mülltonne gerade unter einem Fenster seiner Wohnung befand, melde ich hiermit meine Beobachtung, obwohl ich weiß, daß Dr. Uhlenhorst erst drei Tage später, am 11. Mai, umgekommen ist. Ich kann auch das polizeiliche Kennzeichen jenes Autos angeben, das sich mir wegen der auffälligen Zusammenstellung eingeprägt hat: GG 11 – 22.“ Ja, und der Wagen mit diesem Kennzeichen gehörte dem ehemaligen Museumsdirektor Lothar Steinhof aus Sperebach bei Berlin. Es war ein leichtes gewesen, das feststellen zu lassen. Aber als sie das Ergebnis in den Händen hielten, Meyerhoff und Leutnant Claasen, da hatten sie sich angesehen und gesagt: „Ist ja ein Ding“ und dann wieder überrascht, ungläubig, fassungslos auf das Protokoll gestarrt. „Zu rütteln gibt es daran nichts“, meinte Meyerhoff schließlich. Es klang, als müsse er die exakte Arbeit seiner Mitarbeiter verteidigen, weil Claasen diese vielleicht anzweifelte. Man konnte zwar diesen Eindruck haben, wenn man ihn so dahocken sah, niedergeschlagen und maßlos enttäuscht, aber Meyerhoff wußte natürlich, worauf sich diese Enttäuschung bezog. Claasen sagte, er hätte eigentlich schon recht bald erkannt, daß von den beiden Steinhofs Ingelore die Akkuratere, die Korrektere war. „Nicht unbedingt die Tüchtigere, aber Lothars Tüchtigkeit lag mir nicht, verstehen Sie? Immer häufiger hatte ich was gegen ihn, aber wenn Sie mich fragen, was mich irritierte, kann ich keine klare Antwort geben. Manchmal glaubte ich, er überschätze sich und verlöre den Boden unter den Füßen. Wenn man ihn nur flüchtig oder nicht lange genug kennt, merkt man das nicht. Er brilliert und reißt jeden mit. Auch mich riß er mit, und ich verdanke ihm manches. Ich meine so et-
was wie neuen Lebensmut, ein bißchen Schwung und so. Ich verehrte ihn, und trotzdem hatte ich was gegen ihn, komisch, nicht? Ich verehre auch Ingelore, aber anders, ganz anders. Ingelore ist mir weit überlegen, aber ihre Überlegenheit kann ich noch erkennen. Lothar dagegen schwebt in einer anderen Welt, aus der er sich nur gelegentlich zu uns herabläßt. So etwa.“ Und nun war Claasen mit der Tatsache konfrontiert, daß die Welt des Lothar Steinhof eine unredliche, sogar kriminelle sein konnte. „Erst hielt ich das für Blödsinn. Und als aus dem Blödsinn Sinn zu werden schien, glaubte ich, wir kämen weiter nichts als einer Schlamperei auf die Spur. Ich wußte ja, daß das Museum von Lothar nicht so exakt geleitet worden war, wie es den Anschein hatte. Aber immer war er gut über die Runden gekommen. Und nun sollte Ingelore ausbaden, was er eingebrockt hatte. Deshalb setzte ich meine ganze Energie ein, als es dann losging… verstehen Sie, als Sie mich einbezogen in die Ermittlungen. Ich wollte nicht nur mit Ihnen den Fall aufklären, sondern auch Ingelore die Möglichkeit bieten, nun endlich Ordnung zu schaffen. Dieser Wunsch beflügelte mich geradezu, ich wurde ein ganz anderer. Aber daß Lothar in irgendeiner Weise etwas mit dem Verbrechen hier in Hakenfurt zu tun haben könnte, das hielt ich für ausgeschlossen. Und ehrlich gesagt: Ich bin auch heute noch nicht restlos davon überzeugt, obwohl es ja ganz den Anschein hat.“ Den Anschein hatte es allerdings. Für Hauptmann Meyerhoff war es sogar mehr als nur ein Anschein. Denn er wiederholte seinen Satz von vorhin – „Zu rütteln gibt es daran nichts“ – und meinte jetzt ganz offensichtlich nicht nur die gewissenhafte Arbeit seiner Genossen. „Steinhof muß Doktor Uhlenhorst gekannt
haben, obwohl er das bestritten hat. Zumindest kannte er seinen Namen und seine Adresse. Denn er kann uns doch nicht weismachen, daß er am achten Mai abends plötzlich Lust bekam, mal kurz nach Hakenfurt zu fahren, um dort auf irgendeine Mülltonne zu klettern. Klar also. Ganz und gar nicht klar ist mir das Datum. Am achten Mai hielt sich Uhlenhorst nachweisbar in Kronitz auf. Wußte Steinhof das?“ Der achte Mai also. Claasen und Meyerhoff verbissen sich in dieses Datum, ohne recht voranzukommen. Natürlich, nach dem achten Mai war der neunte gekommen, jener Tag, an dem sich in Belkow eine Schulklasse das Nymphaeum des Piranesi angesehen hatte – diese Verbindung hatten sie stets im Sinn. Und zwar mit höchst eigenartigen Gefühlen, mit einem Kribbeln in Herz und Magen, hätte Gollus gesagt, nur auf etwas Konkretes, Faßbares stießen sie nicht. Denn alles, was ihnen für den achten Mai einfiel, wurde letztlich dadurch widerlegt, daß Dr. Uhlenhorst erst drei Tage später zurückgekommen und überfallen worden war. „Und damit basta!“ sagte Meyerhoff, dem es langsam zuviel wurde, immer das gleiche zu denken, immer das gleiche zu sagen und nicht vom Fleck zu kommen. Er hatte seine Sekretärin längst nach Hause geschickt und brühte nun selbst seinen Kaffee. Claasen hatte bereits nach der zweiten Tasse abgelehnt, aber Meyerhoff nahm, solange der Vorrat reichte. Er trank auch nicht, um wach zu bleiben oder wegen der anregenden Wirkung. Er trank aus Gewohnheit. Und natürlich machte er sich nicht die Mühe, den Kaffee zu filtern. Er bereitete ihn auf die ganz simple Art, die man fälschlich als türkisch bezeichnet: auf zwei Teelöffel Rondo ein Schuß kochendes Wasser, aus. Zucker und Sahne waren überflüssig, sie „verdarben
den Geschmack“. Mit dem Getränk balancierte er wieder hinter seinen Schreibtisch. Er pustete ein bißchen, rührte zweimal um, da läutete das Telefon. Der Abschnittsbevollmächtigte aus Sperebach rief an. Er meldete, daß Herr Steinhof soeben seine Wohnung betreten habe, und bat um Instruktionen. „Nichts unternehmen, solange er zu Hause bleibt!“ befahl Meyerhoff. „Falls er weg will, bitten Sie ihn höflich, zu bleiben und auf uns zu warten. Wenn er sich weigert: keine Gewaltanwendung, zu überzeugen versuchen! Fruchtet das nicht, lassen Sie ihn.“ Er legte auf und sagte zu Claasen: „Es wäre falsch, ihn vom ABV festnehmen zu lassen. Entkommen kann er uns sowieso…“ Es klingelte erneut. „Erst wartet man eine Ewigkeit, dann überstürzt sich alles. Ja, Meyerhoff… Ach du, Klaus, endlich. Wo steckst… Ja, ich höre… Moment, Moment, nicht so schnell. Also, Steinhof schenkte das Nymphaeum… Unser Nymphaeum, Klaus? – Ja, ich verstehe. Also Steinhof schenkte das Nymphaeum diesem Doktor Jäger, und der wiederum verkaufte es an Doktor Uhlenhorst, das kapiere ich, aber… und Frau Steinhof wußte nichts davon, na und? Ich verstehe nicht, warum du dieser Tatsache soviel Bedeutung… Ach so… aber der Eigentumsstempel… Wie bitte? Den hat Steinhof… aber wozu… Na, das ist ja ein Knüller… Nein, da bist du auf dem Holzweg, da weiß ich besser Bescheid. Steinhof hat am achten Mai… das erzähl’ ich dir später. Du fährst jetzt noch einmal zu dieser Frau Mikat und prüfst die Äußerung über den elften Mai nach. Auch Zeugen und so. Dann holst du Annegret ab… Ja, im Krankenhaus Großkanten ist sie, und wir treffen uns… Richtig. Gut, bis gleich.“ Hauptmann Meyerhoff blieb neben dem Telefon stehen. „Die Lösung
bahnt sich an“, sagte er. „Wir fahren nach Sperebach. Vorher muß ich nur noch die Genossin Albrecht anrufen.“ Er bekam die Verbindung schnell und ließ sich die Station geben, auf der Frau Steinhof lag. „Ihre Kollegin spricht zur Zeit mit Frau Steinhof“, sagte der verantwortliche Arzt. „Zum zweiten Mal bereits. Soll ich sie an den Apparat holen?“ Das war so eine Frage. Meyerhoff überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Nein. Richten Sie ihr bitte aus, daß der Genosse Gollus unterwegs ist und sie abholt. Wenn er eintrifft und die Genossin Albrecht dann noch immer bei Frau Steinhof ist, soll er nicht stören, sondern geduldig warten. Klar?“ Das war natürlich nicht der richtige Ton, wenn man mit einem leitenden Arzt sprach. Meyerhoff spürte förmlich die Kälte, die der Mann im weißen Kittel plötzlich verströmte. Deshalb fügte er schnell hinzu: „Bitte, seien Sie so gut.“ Doch es kam keine Antwort mehr. Meyerhoff hörte schwache Stimmengeräusche, dann meldete sich Annegret Albrecht. „Ich bin gerade fertig geworden, Genosse Hauptmann. Ich bin allein im Zimmer, soll ich sprechen?“ Diesmal sagte Meyerhoff kaum etwas. Er hörte zu, machte sich Notizen, und sein Gesicht sah ungemein ernst aus. Als er endlich auflegte, blieb er nachdenklich stehen. Der Blick, mit dem er Claasen ansah, war voller Unsicherheit. „Kommen Sie“, sagte er schließlich. „Bevor wir nach Sperebach fahren, muß ich noch zwei Wege erledigen. Zur Verkehrspolizei, weil Steinhof in der Nacht des elften Mai Zeuge bei einem Verkehrsunfall war. Wir müssen feststellen, wo und wann das passiert ist. Und dann
zu Staatsanwalt Hederle, um einen Haftbefehl zu erwirken.“
11. Sie hatten über Verlauf und Ergebnis ihrer Ermittlungen berichtet: Annegret Albrecht und Gollus, dann Leutnant Claasen noch mal für sie, auch der Abschnittsbevollmächtigte in Sperebach, bei dem sie saßen, und schließlich Meyerhoff selbst. Er hatte niemanden gedrängt und nahm sich sogar die Zeit, die wesentlichsten Punkte schriftlich niederzulegen. „Ordnung muß sein“, sagte er. Überhaupt strahlte er eine stoische Ruhe aus, denn er war sich des Erfolges sicher. Das zeigte sich auch in der anschließenden Aussprache. Jeder durfte unbehindert seine Version darlegen, und obwohl sie einander nur geringfügig widersprachen, ging es zeitweise doch recht turbulent zu. Meyerhoff ließ sie gewähren. Gelassen, scheinbar unbeteiligt, hörte er sich Meinung und Gegenmeinung an und brummte höchstens mal sein jüngstes Lieblingswort dazwischen: „Und damit basta!“ Die Zusammenfassung allerdings nahm er selbst vor. Sie war kurz und knapp und nach den kriminalistischen WFragen gegliedert: Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Warum? Nicht jede Frage konnte mit nur einem Satz beantwortet werden. Die Zeitfrage zum Beispiel. Da gab es ein sehr wichtiges, aber noch nicht bekanntes Datum, das vor dem achtzehnten April liegen mußte, dann den achten Mai, den neunten Mai und schließlich den elften Mai, Uhlenhorsts Todestag. Oder die Frage nach dem Tatbestand: Ein Bild war gestohlen worden, es war später ein zweites Mal entwendet worden, verbunden mit einem
Einbruch diesmal, ein zweiter Einbruch ereignete sich und der gewaltsame Tod eines Menschen. Bei der Ortsangabe dagegen brauchte Meyerhoff nur aufzuzählen: Belkow, Sperebach, Bulkendorf, Hakenfurt. Die Klärung des Motivs, besser der Motive, enthielt zwar noch einige Ungereimtheiten, aber die große Linie war ebenfalls schon erkennbar. Für ganz entscheidend hielt Meyerhoff, daß es ihnen gelungen war, nun auch den Ablauf der Tat zu rekonstruieren. Über diese Frage hatte es besonders erregte Debatten gegeben, weil einige Details einfach nicht in den Rahmen passen wollten. In der Zusammenfassung des Hauptmanns paßte alles zusammen. Sie hörte sich logisch an, ganz selbstverständlich eigentlich, und jeder fragte sich unwillkürlich, warum man nicht schon viel eher daraufgekommen war. Natürlich war das oberflächlich, es waren Gedanken, die im Nachhinein auftauchten, jetzt, da Meyerhoff alles so schön übersichtlich und sauber vorgetragen hatte. „Nun zu unserer Taktik“, sagte er anschließend. „Wir müssen von der Person des Täters ausgehen, von seinem Charakter und Temperament. Psychologie der Täterpersönlichkeit also. Wird er gestehen oder leugnen? Müssen wir ihn Schritt für Schritt überführen, oder genügt es, ihm deutlich zu verstehen zu geben, daß wir bereits bestens im Bilde sind? Bei welchem der Delikte fußen wir auf Indizien, bei welchem liegen exakte Beweise vor, und wo sind wir auf Schlußfolgerungen oder gar Vermutungen angewiesen? Stimmen wir uns ab!“ Auch das wurde gründlich und ohne Hektik durchgeführt. Viele Möglichkeiten wurden durchgespielt. Sie mußten mit einem klaren Konzept vorgehen, das zwar jederzeit den Gegebenheiten angepaßt und variiert, das in
seiner Grundlinie jedoch beibehalten werden konnte. Für diesen Fall sollte es lauten: den schwächsten Punkt des Täters bloßlegen und ihn als Hebel benutzen. „Schon von den ersten Minuten wird der weitere Verlauf des Gesprächs abhängen“, sagte Meyerhoff zum Abschluß. „Wie wird Steinhof sich geben, wie wird er uns empfangen? Also los, Genossen, die Aufgabe ist klar, das Ziel erkennbar, der Erfolg so gut wie sicher.“ „Und damit basta!“ Diesmal war es Klaus Gollus, der das sagte. „Ich habe Sie erwartet, meine Herren!“ Lothar Steinhof ignorierte Annegret Albrechts Anwesenheit bei diesen Worten. Sicherlich unbeabsichtigt, denn an der Haustür hatte er ihr, genau wie Meyerhoff und Gollus, beinahe kameradschaftlich die Hand gedrückt. Dann hatte er die Genossen in dieses Zimmer geführt, wo sie jetzt standen: im Halbkreis mit Steinhof als Mittelpunkt, der sich leicht verbeugte und sie gleichsam willkommen hieß. Er forderte zum Platznehmen auf und dirigierte in jeden der drei Sessel einen Kriminalisten, während er es sich zuletzt auf der breiten Couch bequem machte. Tatsächlich bequem machte: Steinhof schlug ein Bein über das andere, zupfte an der Hose, weil ein Stück Wade sichtbar geworden war; rutschte mehrmals, bis er endlich die angenehmste Stellung gefunden hatte. Er sah keineswegs verändert aus. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit Weste, ein Oberhemd nach neuestem Schnitt, und über den Rand der Brusttasche ragten zwei Zentimeter eines weißen Kavaliertaschentuches. Steinhof war auch diesmal wieder ganz Autorität, Hausherr und Gastgeber in einem. Keine Spur von Nervosität, auch nicht von Sorge um seine Frau, überhaupt schien er deren Abwesenheit nicht für erwäh-
nenswert zu halten. Vielleicht unterstellte er, daß die Kriminalisten Bescheid wußten und es an ihnen war, Fragen zu stellen. Er blickte in die Runde, und so, wie er sich Besuchern gegenüber gewöhnlich als gewandter Gastgeber produzierte und die erste Verlegenheitspause mit elegantem Plaudern überbrückte, ergriff er auch jetzt als erster das Wort. „Mein ganzes Leben“, sagte Steinhof, und seine Stimme war voll und kräftig wie immer, „habe ich mit einem Widerspruch in mir zu kämpfen gehabt. Ich hatte und habe noch heute das gleichzeitige Bedürfnis nach Abenteuer und Ordnung, nach Ungebundenheit und Disziplin. Mein Beruf und mein Hobby ermöglichten mir beides.“ Ein gelungener Auftakt, sagte sich Annegret Albrecht. Sie war gespannt, wie Meyerhoff reagieren würde. Man hatte sich geeinigt, daß der Hauptmann die Verhandlung führte. Gollus und sie sollten nur eingreifen, wenn es erforderlich war, oder vielleicht am Ende eine Art Zusammenfassung geben. Leutnant Claasen wartete bei dem Abschnittsbevollmächtigten von Sperebach. Er wollte nicht Zeuge dieses Gespräches werden, und sie hatten seinen Wunsch akzeptiert. Hauptmann Meyerhoff saß mit durchgedrücktem Rückgrat, angewinkelten Beinen, die Hände auf die Seitenlehnen gelegt. Nur den Kopf hielt er etwas schräg, das war seine Beobachterstellung, von ihm manchmal auch als Lauerstellung bezeichnet. Er beantwortete Steinhofs einleitende Bemerkungen mit einem erstaunten „Ach?“ und sagte dann: „Aber schlossen über viele Jahre Beruf und Hobby nicht einander aus, Herr Steinhof? Als Direktor des Museums durften Sie Ihrem Hobby doch nicht nachgehen.“
„Stimmt. Deshalb habe ich mich schon bald umgestellt. Da ich selbst nicht sammeln durfte, half ich anderen Sammlern. Glauben Sie mir, das verschafft die gleiche Genugtuung.“ „Zu den Sammlern, denen Sie halfen, gehörte auch der Zahnarzt Doktor Jäger aus Bulkendorf. Könnte man sagen, daß Sie so etwas wie sein Gönner waren?“ „Ich war in erster Linie sein Freund.“ „Zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag schenkten Sie ihm eine wertvolle Piranesi-Grafik. Das Nymphaeum. Meyerhoff hatte seine Stimme bei dem letzten Wort nur wenig gehoben. Man merkte nicht gleich, ob das als Frage oder Feststellung gemeint war. Sicherlich war es beabsichtigt. Steinhof schwieg. Er saß noch immer in unveränderter Haltung. Seine Augen schweiften über die drei Gesichter vor ihm, langsam gleitend, doch ohne eine Reaktion zu zeigen. „Ja“, sagte er dann, „ich habe Martin zum Geburtstag das Nymphaeum geschenkt.“ „Das Bild gehörte nicht Ihnen.“ „Nein.“ „Es war Eigentum des Belkower Museums.“ „Ja.“ „Wann haben Sie die Grafik dort entwendet?“ „Einige Tage vor Doktor Jägers Geburtstag.“ „Sie waren damals nicht mehr Direktor des Museums. Wußte Ihre Frau von diesem Diebstahl?“ „Nein.“ „Herr Steinhof, erzählen Sie uns, was Sie zu diesem Schritt bewogen hat.“ „Sehen Sie, Herr Meyerhoff, es gibt Anlässe und Ursachen. Der Anlaß für meine Tat ist schnell genannt: Ich
wollte Doktor Jäger eine Freude machen. Ich mochte ihn sehr, war sogar ein bißchen vernarrt in den Mann. Ich wußte, daß ich ihm mit dem Nymphaeum eine Riesenfreude bereiten würde, und ich bin gern der Urheber von Freude. Und in dieser Neigung, nämlich Freude zu spenden, liegt wahrscheinlich die Ursache für mein Verhalten.“ Und nun begann Lothar Steinhof die Ursache auszuloten. Zwar ging er nicht bis in seine Kindheit zurück, obwohl auch die gestreift wurde, aber doch bis in die Jugend, in die Zeit des Krieges und der Gefangenschaft, die ihn seelisch verkrüppelt hätte. In den Jahren danach, als er Erfolg und allgemeine Anerkennung errang, sei dann auch der letzte Rest von Eigenständigkeit verlorengegangen. Vor Erfolgen vom Schwindel befallen, zitierte Steinhof. Er sei weich und wankelmütig geworden, habe sich von jedermanns Lob geschmeichelt gefühlt, sei ein eitler Geck, ein Lackaffe gewissermaßen geworden, der Schein für Sein genommen habe. „Wie man sich früher Mätressen hielt oder Lakaien, so hielt ich mir Scharen von Jüngern, die nichts anderes waren als berechnende Lobhudler“, sagte er. „Eitelkeit, Gefallsucht, ja manchmal Größenwahn trieben mich dazu.“ Steinhof schonte sich nicht. Er sprach in einem ruhigen, trockenen Ton; man merkte ihm an, daß er ernst genommen werden wollte. Und immer wieder kam er auf seinen Werdegang zu sprechen. Er sei von einer Stufe moralischer Perversion zur nächsthöheren aufgestiegen, als habe er eine ihm vom Arbeitsamt angebotene Laufbahn eingeschlagen. „Ich war blind gegen mich, Herr Meyerhoff. Ich sah das Gute, das ich tat, wollte mir aber nicht eingestehen, daß Eitel-
keit die Triebfeder war. Lange Zeit habe ich das gar nicht erkannt, erst die schrecklichen Szenen heute mittag mit meiner Frau öffneten mir die Augen.“ Steinhofs Stimme war nun leiser geworden. Er schien auch ein wenig erschöpft, etwas außer Atem, doch noch immer war kein Ende abzusehen. Und während er weiterredete, wurde mehr und mehr deutlich, daß dieser wortaufwendige Monolog gar nicht die Rede eines wirklich gebrochenen Mannes war, eines Menschen am Rande seiner letzten Reserven. Es wurde sichtbar, daß sich in seinem devoten Verhalten ein Anspruch verbarg, daß er sich als gekränkter, mißverstandener Wohltäter empfand, dem Unrecht geschah. „Ich habe vieles aus meinem eigenen Fundus weggegeben. Gemälde, Grafiken, Zeichnungen. Ich habe sie verschenkt oder zu Preisen verkauft, die nur symbolische Bedeutung hatten. Aber ich habe gelegentlich auch mit Bildern geholfen, die dem Museum gehörten. Verliehen hatte ich sie, Herr Meyerhoff. Ich habe dabei den Instanzenweg nicht eingehalten, um mich als Gönner hochzuspielen. Dafür werde ich mich verantworten müssen. Aber ich tat das – abgesehen von dem Nymphaeum – nur so lange, wie ich Direktor war. Niemand hatte einen Schaden davon, aber vielen, besonders jungen Leuten, konnte ich ungeheure Glücksgefühle bereiten.“ Steinhof operierte mit einem altbekannten Trick, auf den ein Laie leicht hereinfallen konnte. Er stellte in ein richtiges Licht, wonach gar nicht gefragt war; er widerlegte Vorwürfe, die nie erhoben worden, er bewies seine Redlichkeit auf Gebieten, die nie in Zweifel gezogen worden waren. Nachdem dies erledigt war, kam die Ehe an die Reihe. Lothar Steinhof überging auch sie nicht. „Ingelore
war nicht die richtige Frau für mich“, sagte er. Um Kinn und Mund zeigte sich jetzt eine derbe Entschlossenheit. Als wollte er mit allem radikal aufräumen, folglich auch mit seiner Frau. „Sie suchte hinter allem nur den Zweck, während ich zufrieden war, Freude zu verbreiten und zu finden. Was ihr gänzlich fehlte, war die großartige, vielleicht geniale Leichtigkeit, die meinem Wesen eigen ist“, sagte er großspurig. Hatte er schon vergessen, daß er sich noch vor wenigen Minuten mit dem Attribut Größenwahn versehen hatte? Annegret Albrecht und Gollus waren unruhig. Wollte Meyerhoff nicht endlich Schluß machen mit dieser würdelosen Komödie? Steinhof hatte den Diebstahl gestanden, nun sollte er den Einbruch bei Uhlenhorst und die Folgen gestehen. Doch der Hauptmann saß starr und unbeweglich in seinem Sessel, noch immer den Kopf geneigt, als sei er vollauf zufrieden mit dem Verlauf dieser Unterhaltung. Er drängte nicht, unterbrach nicht, sah nicht einmal verstohlen zur Uhr. Und Steinhof redete noch immer, jetzt über die Last, Vorbild zu sein. „Denn mancher junge Anfänger sah in mir sein Vorbild. Und nach und nach ließ ich mich davon überzeugen, daß ich tatsächlich der sei, der ich in Wirklichkeit gar nicht war. So etwas korrumpiert ungemein, glauben Sie mir. Man wird…“ Und so weiter und so fort. Steinhof redete, als liefe ein Band in ihm ab, auf dem alles vorprogrammiert war: die Worte, die Betonung, die Gestik, das Mienenspiel. Und dann, scheinbar unvermittelt, war er wieder am Ausgangspunkt angelangt. Er tat das in einer Weise, als gehöre er zu jenen Menschen, die gegen Ende einer langen Unterhaltung durch Zufall auf
das kommen, was sie eigentlich hatten sagen wollen – selbst ein bißchen überrascht und verlegen, weil man die Geduld der Zuhörer über Gebühr strapaziert hatte. Steinhof zog eine Art Resümee: „Ich habe gefehlt, weil ich Gutes tun wollte. Ich wollte Gutes tun, um zu gefallen. Das ist die Antwort, Herr Meyerhoff. Die Ursache letztlich, warum ich das Nymphaeum genommen habe.“ Doch noch ehe der Hauptmann nun endlich etwas sagen konnte, fügte Steinhof plötzlich hinzu: „Eigentlich habe ich auch das Nymphaeum nur ausgeliehen. Allerdings wußte diesmal der Empfänger, Doktor Jäger, nichts davon.“ Diese Eröffnung kam so überraschend, daß Meyerhoff scharf zurückfragte: „Das erklären Sie mal etwas genauer!“ „Nun, ganz einfach. Als ich Doktor Jäger das Bild schenkte, wußte ich bereits, daß er in die Bundesrepublik ziehen wollte und das Nymphaeum auf keinen Fall mitbekommen würde. Zumindest war ich sicher, ihm das einreden zu können. Schäbig, nicht? Aber ich brauchte ihm das gar nicht einzureden. Als ich die Liste sah, auf der alle Kunstgegenstände aufgeführt waren, die Doktor Jäger mitnehmen wollte, fehlte dort das Nymphaeum. Ich war natürlich sehr erleichtert und nun fest davon überzeugt, daß ich es von ihm zurückbekommen würde. Damit hatte ich von Anfang an gerechnet.“ „Ja und?“ Meyerhoff begnügte sich mit diesen zwei Worten. „Ich hatte mich zu früh gefreut. Doktor Jäger dachte gar nicht daran, es mir zurückzugeben. Er hatte es verkauft.“ „An Doktor Uhlenhorst.“ „Ja, an einen Rechtsanwalt Uhlenhorst in Hakenfurt.“ „Erfuhren Sie das von Doktor Jäger?“
„Ganz recht. Er nannte mir auch die Adresse. Jäger besaß die Grafik zwar noch, aber der Kauf war bereits perfekt. Uhlenhorst hatte schon bezahlt, und die Übergabe des Bildes sollte in den nächsten Tagen erfolgen.“ „Was heißt ,in den nächsten Tagen’? Wann war das genau?“ „Als die Sache mit der Schulklasse passierte. Ich erfuhr davon erst am Vorabend, am achten Mai also. Meine Frau erzählte, daß man verzweifelt das Nymphaeum suchte. Erst habe ich mich bemüht, ihr irgendeine Ausrede schmackhaft zu machen. Sie sollte sagen, das Bild sei beim Restaurator. Später hätten wir mehr Ruhe und würden es bestimmt finden. Ich war ja hundertprozentig sicher, daß es mir Jäger in nächster Zeit zurückgeben würde. Aber meine Frau blieb stur und ließ weitersuchen. Wenn die Grafik verschwunden blieb, wollte sie Inventur beantragen. Ich saß also in der Patsche. Und so fuhr ich am achten Mai gleich nach dem Abendessen zu Doktor Jäger. „Ich brauche das Nymphaeum mal“, sagte ich und erzählte, daß ich an einem Artikel arbeitete, in dem ich auf Piranesi eingehen wollte. ,Schön’, sagte Doktor Jäger, ,aber bring es mir noch in dieser Woche zurück.’ Als ich nach dem Grund fragte, erfuhr ich, daß es verkauft sei. Ich war außer mir, fassungslos, wirklich… Seitdem sind wir übrigens geschiedene Leute, Doktor Jäger und ich.“ „Erzählen Sie weiter“, sagte Meyerhoff ruhig. „Ich habe von Doktor Jäger das Nymphaeum entgegengenommen“, begann Steinhof, durch Meyerhoffs nachdrückliche Aufforderung zum Reden nun etwas aus der selbstgefälligen Pose gebracht. Zum ersten Mal veränderte er seine Haltung, indem er sich nach vorn beugte und seine Hände
zwischen die Knie schob. „Ich bin aber nicht sofort nach Belkow gefahren, sondern zuerst nach Hakenfurt. Ich wollte mit Doktor Uhlenhorst sprechen. Ich wollte ihn bitten, von dem Kauf zurückzutreten. Ich hätte ihm die zweitausendzweihundert Mark aus meiner Tasche gezahlt und ihm außerdem Bilder aus meinem Besitz angeboten. Hauptsache, ich bekam den Piranesi zurück. Aber bei Uhlenhorst öffnete niemand. Ich ging mehrmals um das Haus herum, aber alles lag im Dunkeln. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, wußte nicht, was ich machen sollte. Ich fuhr schließlich nach Belkow und legte das Nymphaeum im Museum ab. Nicht genau dorthin, wo es hätte sein müssen, aber doch so, daß meine Frau es am nächsten Morgen finden mußte. Das geschah dann auch.“ „Ja und?“ fragte Meyerhoff wieder. Nichts an ihm verriet, wie er Steinhofs Worte aufgenommen hatte. Auch die anderen beiden Kriminalisten bemühten sich um gleichgültige Mienen. Es fiel ihnen schwer, denn allem Anschein nach war Steinhof dabei, ihnen eine klug ausgetüftelte Lügengeschichte zu servieren. „Das Weitere ist schnell erzählt. Ich wartete eine passende Gelegenheit ab, und die ergab sich am Freitag nach Dienstschluß. Ich konnte das Nymphaeum wieder an mich nehmen und bei mir zu Hause unterbringen. Am nächsten Abend, das war am Sonnabend, dem elften, brachte ich es Doktor Jäger zurück. Er erwartete mich schon ungeduldig. Ich konnte kaum zwei Worte mit ihm wechseln, da brauste er bereits mit dem Bild los. Wie mir seine Frau erzählte, fuhr er nach Hakenfurt, um es Doktor Uhlenhorst zu übergeben. Ich wollte seine Rückkehr abwarten und nochmals mit ihm in Ruhe sprechen, aber schließlich dauerte mir das zu lange. Ich fuhr nach Hau-
se, nach Sperebach also, und wurde dabei noch Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls. Ich war bedient, Herr Meyerhoff, restlos bedient.“ Steinhofs Bericht – das war den Kriminalisten klar – lief darauf hinaus, Doktor Jäger in Verdacht zu bringen. Niemand wußte genau, wann Dr. Uhlenhorst das Nymphaeum erhalten hatte. Die einzige brauchbare Aussage in diesem Zusammenhang war die des Herrn Schliers aus Stralsund. Er hatte den Rechtsanwalt am elften Mai nach Hause gebracht und während der Fahrt von Uhlenhorst erfahren, daß der die Grafik von Piranesi über seinem Bett hängen hatte. Aber damit allein konnte man Steinhof nicht aus dem Sattel heben, sagte sich Annegret Albrecht. Warum eigentlich sträubte sie sich, Steinhofs Aussage als wahr anzuerkennen? War es Intuition, Vorsicht oder Mißtrauen? Eines war ihr in aller Deutlichkeit bewußt: Wenn Steinhofs Version der Geschehnisse um das Nymphaeum nicht oder nur teilweise der Wahrheit entsprach, dann war sie doch so brillant arrangiert, daß man die Lüge kaum nachweisen konnte. Hier und jetzt auf keinen Fall. Da hätte Dr. Jäger befragt werden müssen, und der wohnte in der Bundesrepublik. Man müßte sich also an die dortigen Organe wenden, und das würde viel Zeit und Aufwand erfordern. Hatte Lothar Steinhof das alles einkalkuliert? Salopp, gelassen saß er da, jetzt wieder nach hinten gelehnt, und seine Miene drückte nichts anderes aus als untadelige Sicherheit. Auch ein bißchen Überlegenheit glaubte Annegret Albrecht zu erkennen, aber keine bornierte, sondern eine, die berechtigt erschien. In diese Gedankengänge platzte auf einmal Hauptmann Meyerhoff mit seiner Standardfrage, an der er an diesem Abend zu kleben schien: „Ja und?“
Nun geriet Steinhof doch ein bißchen außer Fassung. Zwar wurde er nicht nervös oder aufgeregt, aber er stutzte etwas, verzog dann sein Gesicht ein wenig ärgerlich und stützte die Hände auf die Couch, mit den Handflächen nach unten, als wollte er sie dort abkühlen oder trocknen. „Die Tage danach“, sagte er schließlich, „waren furchtbar für mich. Ich hoffte darauf, daß ich so bald wie möglich Doktor Uhlenhorst sprechen könnte. Dann würde sich alles noch zum Guten wenden, und wenn ich ihm meinen ganzen Besitz hätte anbieten müssen. Aber dann hörte ich plötzlich von meiner Frau, daß er tot sei, daß sich die Polizei eingeschaltet habe und nach der Herkunft des Nymphaeums forsche. Mir blieb nichts erspart. Meine Hoffnung konnte ich nun endgültig begraben, und ich mußte Sie, die Kriminalpolizei, ziemlich mies belügen. Am schlimmsten war es, als ich damals in Belkow das Bild in den Händen hielt. Ein einziges Wort von mir hätte genügt, aber ich konnte es nicht aussprechen. Mir ist klar, daß ich dadurch Ihre Arbeit ungemein erschwert habe. Aber mir blieb nichts anderes übrig, und zwar wegen meiner Frau.“ Jetzt trat doch eine Pause ein. Meyerhoff ließ einige Sekunden verstreichen, in denen er sich zu irgend etwas durchzuringen schien – ganz offensichtlich wollte er, daß man diesen Eindruck gewann. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, schluckte dann, schüttelte den Kopf, sah sogar verlegen zu Gollus und Annegret Albrecht hinüber. „Wir wollen mit offenen Karten spielen“, sagte er endlich. „Sie haben uns reinen Wein eingeschenkt, und wir werden das gleiche tun. Wir haben bereits mit Ihrer Frau gesprochen, Herr Steinhof.“ „Das weiß ich.“ „Das wissen Sie?“
„Ich nehme es an. An Ihrer Stelle hätte ich auch auf jeden Fall erst mit meiner Frau gesprochen. Aber Sie wollten eine Frage stellen, Herr Meyerhoff.“ „Keine Frage. Ich wollte Ihnen lediglich zu verstehen geben, daß wir nicht nur auf Ihre Informationen angewiesen sind. Aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen. Die Aussage Ihrer Frau weicht nur unwesentlich von der Ihren ab.“ „Wenn sie bei der Wahrheit geblieben ist, muß das ja so sein.“ „Eben. Die unwesentlichen Abweichungen beziehen sich vor allem auf einzelne Wörter. Zum Beispiel ,verliehen’ oder ,verschenkt’. Sie sagten, während Ihrer Zeit als Direktor des Belkower Museums hätten Sie gelegentlich Bilder des Museums an Bekannte verliehen. Ihre Frau meint, Sie hätten sie verschenkt. Wenn man nun in den Ermittlungen die Methode der ,konvergierenden Indizien’ anwendet – ich werde Ihnen gleich erklären, was damit gemeint ist – , dann kommt man unweigerlich zu dem Ergebnis, daß die Bilder tatsächlich verschenkt wurden. Ihre Frau hat also das richtige Wort gewählt. Es gibt noch andere Abweichungen, auf die ich aber jetzt nicht eingehen möchte. Was besagt die Methode der ,konvergierenden Indizien’? Sie besagt nichts anderes, als daß man den verschiedenen Indizien so lange nachgehen muß, bis sie sich in einem Punkt treffen. Der Schnittpunkt kann dann ein neues Indiz ergeben oder, wie in Ihrem Falle, Herr Steinhof, ein Motiv. Wir werden das jetzt mal gemeinsam durchspielen. Was wollen wir als Beispiel wählen? Ihre Heirat vor einem halben Jahr? Das Nymphaeum? Die bereits vorher verliehenen oder verschenkten Bilder? Ihr Verhältnis zu Doktor Jäger? Doktor Uhlen-horsts
Tod? Es ist völlig egal, was wir wählen, denn die genannten Indizien laufen sämtlich auf einen gemeinsamen Schnittpunkt zu. Also fangen wir an!“ Steinhof hatte sich nicht mehr in der Hand. Auf seinem Gesicht spiegelte sich anfangs steifes Befremden wider, als habe der Hauptmann mit der Erwähnung der „konvergierenden Indizien“ eine unerhörte Taktlosigkeit begangen; dann deutliches Unbehagen, zunehmende Unruhe, schließlich Unbeherrschtheit. Es war, als wollte er jeden Moment aufbrausen, auf den Tisch schlagen, irgend etwas herausschreien. Und in diesem Augenblick, auf die Sekunde genau, sagte Meyerhoff: „Ihre bisherige Offenheit verdient Lob, Herr Steinhof. In Ihrer Selbsteinschätzung sind Sie zwar ein bißchen zu weit gegangen, haben Sie sich zu negativ dargestellt, aber wir respektieren die gute Absicht dabei; auch sie findet Anerkennung. Aber ich glaube, die Grenze ist jetzt erreicht. Die letzten Tage waren sehr aufregend für Sie. Es wird besser sein, wenn wir gehen und morgen wiederkommen. Schlafen Sie sich aus, besuchen Sie Ihre Frau im Krankenhaus, und rufen Sie uns anschließend an.“ Lothar Steinhof hatte sich erhoben. Er wirkte weder erleichtert noch erlöst, sondern ganz offensichtlich noch mehr aus dem Konzept geraten. „Ich weiß nicht… Ich meine, das ist sehr großzügig von Ihnen, Herr Meyerhoff, und ich…“ „Großzügig ist nicht das richtige Wort. Wenn es um die Aufdeckung eines Verbrechens geht, ist Großzügigkeit fehl am Platze. Sagen wir ,taktvoll’.“ Und nun stand der Hauptmann ebenfalls auf, die beiden Männer blickten einander an, und Meyerhoff fuhr fort: „Wir sind so taktvoll, Sie nicht klein und kümmerlich vor uns sehen zu
wollen. Wir verzichten darauf, Sie in die Enge zu treiben und das Geständnis eines Mannes zu hören, der schlängelt und mogelt, der blufft und uns für dumm verkaufen will. Das ist nicht Ihr Stil, Herr Steinhof. Sie wissen so gut wie wir, daß Ihre Partie verloren ist. Nun legen Sie die Karten auf den Tisch. Verlieren Sie so, wie Sie zeitlebens gewonnen haben: mit Format!“ Steinhof senkte den Kopf. Dann sackte er auf die Couch, vielleicht geschlagen. Hauptmann Meyerhoff, der Steinhof zum ersten Mal begegnet war und ihn vorher nur aus den Akten und von den Berichten seiner Kollegen kannte, hatte mit seinem Scharfblick die verwundbarste Stelle dieses Mannes bloßgelegt. Übersteigertes Geltungsbedürfnis und maßlose Eitelkeit waren die Triebfedern seiner Taten gewesen – nun bewirkten sie seine Kapitulation. Meyerhoff hatte es verstanden, sie zu umkleiden und „Format“ zu nennen, und auf Format wollte ein Mann wie Steinhof nicht verzichten. Steinhof schien von etwas befreit. Er nickte wieder und wieder, als wollte er Meyerhoff nachdrücklich recht geben. Und dann bat er ihn, nicht erzählen zu müssen. Er könne das nicht, und er wolle das nicht, er habe Angst vor seinen eigenen Worten. „Bitte, fragen Sie. Ich sage die Wahrheit, aber erlassen Sie mir, das alles zusammenhängend und logisch abzuwickeln. Jeder Satz würde sofort ein Satz der Rechtfertigung, ich kenne mich. Aber ich will mich nicht mehr rechtfertigen.“ Meyerhoff nickte. Dann gab er Annegret Albrecht und Gollus einen Wink, das folgende Gespräch mitzustenografieren. „Das Nymphaeum war nicht das erste Bild, das Sie aus dem Museum entwendet haben. Wissen Sie, wieviel es
sind?“ „Fünf. Das Nymphaeum ist das fünfte.“ „Sie haben die anderen vier ebenfalls an Bekannte gegeben. Verschenkt oder verkauft?“ „Verschenkt. Ich habe keinen Pfennig dafür genommen.“ „Sie haben die vier Bilder als Ihre eigenen ausgegeben?“ „Ja.“ „Dazu haben Sie auf die Rückseite Ihren Namensstempel gesetzt?“ „Das mußte ich machen. Vielen war ja bekannt, daß ich meine Bilder in dieser Art kennzeichnete.“ „Vier Bilder haben Sie also in den vergangenen Jahren entwendet. Traten nie Komplikationen ein? Wurde niemals eines dieser Bilder im Museum verlangt?“ „Selten, aber es kam vor.“ „Und wie umgingen Sie dann die Schwierigkeiten?“ „Ich fand eine Ausrede. Das Exemplar sei gerade ausgeliehen oder bei einem Restaurator. Ich vertröstete die Besucher. Dann ging ich zu jenem Bekannten, dem ich das Bild geschenkt hatte, lieh es unter einem Vorwand aus und schmuggelte es wieder in unseren Bestand. Ein paar Tage später, nachdem der Interessent es gesehen hatte, gab ich es dann zurück.“ „Das ging so lange gut, wie Sie Direktor des Museums waren. Doch dann wurden Sie pensioniert. Auf welche Weise hofften Sie diesem Umstand zu begegnen?“ „Ich möchte darüber nichts sagen. Ich denke, Sie wissen ohnehin Bescheid.“ „Da es aber zur Sprache kommen muß, will ich es sagen. Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas falsch darstelle. Solange Sie Direktor waren und ziemlich selbstherrlich regierten, konnten Sie Ihre Handlungen irgendwie abdek-
ken. So, wie Sie es uns eben geschildert haben. Nun aber, als Sie gehen mußten, komplizierte sich die Lage für Sie. Ihnen blieben nur zwei Möglichkeiten: Sie mußten entweder die vier verschenkten Bilder endgültig ins Museum zurückholen und in Zukunft auf solche Manipulationen verzichten, oder Sie etablierten im Museum eine Vertrauensperson, die Ihre früheren Taten notfalls abschirmte. Sie haben sich für die zweite Möglichkeit entschieden. Wer aber konnte sich für eine solche Funktion besser eignen als eine Frau, die zu Ihnen aufschaute, die gewissermaßen in Ihrem Bann stand? Die damalige stellvertretende Museumsdirektorin, Ingelore Degenhard, die als Ihre Nachfolgerin vorgesehen war, kam am ehesten dafür in Frage. Sie bezogen Fräulein Degenhards Verliebtheit, ihre Liebe, ihre Sehnsucht nach Schutz, Geborgenheit und Zärtlichkeit in Ihr Kalkül ein und machten ihr mit auffallender Deutlichkeit den Hof. Sie konnten auch erklären, warum Sie sich erst jetzt, nach der Pensionierung, um Fräulein Degenhard bemühten. Solange Sie ihr Chef waren, flüsterten Sie ihr ein, wäre dies nicht gut möglich gewesen, weil man die Leitung des Museums wahrscheinlich einem Ehepaar nicht anvertraut hätte. So argumentierten Sie, und Fräulein Degenhard glaubte Ihnen. Sie wurde Direktorin und bald darauf Ihre Frau.“ Steinhof hatte aufmerksam zugehört. Zeitweilig etwas distanziert, als wäre das nicht sein Fall, über den da gesprochen wurde. Es war, als habe er Meyerhoffs Aufforderung zur Korrektur ganz ernsthaft aufgefaßt. Er saß da wie ein Lehrer, der Zensuren zu verteilen hatte. Als Meyerhoff jetzt schwieg und sich aller Augen auf Steinhof richteten, wurde er verlegen. „Ich habe Ingelore sehr gern gehabt“, sagte er unbeholfen. „Nur eben… es gibt viele
Gründe, warum ich sie geheiratet habe. Der, den Sie genannt haben, spielte auch eine Rolle. Ich gebe es zu.“ „Ist Ihre Rechnung aufgegangen, Herr Steinhof?“ „Sagen Sie bitte nicht Rechnung. Das klingt so kommerziell. Es waren Hintergedanken, die mitspielten, ich sagte es ja schon.“ „Nun, die Hintergedanken erwiesen sich für Sie als richtig. Anfangs lief alles wie am Schnürchen. Zweimal ist es nach Ihrer Pensionierung vorgekommen, daß Bilder, die Sie entwendet hatten, im Museum verlangt wurden. Da Ihre Frau Ihnen von den betrieblichen Angelegenheiten sowieso viel erzählte, kam sie auch damit zu Ihnen. Und nicht vergeblich. ,Ich habe das Bild Herrn X geliehen. Sag dem Besucher, es sei beim Restaurator, er soll in ein paar Tagen wiederkommen. Bis dahin hole ich es zurück.’ So ähnlich argumentierten Sie, nicht?“ Steinhof nickte. Er sah jetzt blaß und unscheinbar aus, er verschwand gewissermaßen neben seinen Taten. „Meine Frau hat immer nur gewußt, daß ich die Bilder verliehen hatte“, sagte er. „Sie ist an der ganzen Sache völlig schuldlos.“ Darüber war Annegret Albrecht anderer Meinung, und Frau Steinhof hatte ihre Mitschuld auch erheblich höher eingestuft. Aber es war richtig, daß Meyerhoff darauf jetzt nicht einging. „Es lief alles wie am Schnürchen“, fuhr er fort, „aber die Schnur war nicht unbegrenzt haltbar. Ihre Frau wurde mißtrauisch, denn ihr fehlte, wie Sie sagten, die geniale Leichtigkeit. Sie wollte nicht mehr mitmachen. Sie wußte von zwei angeblich verliehenen Bildern, ahnte aber, daß es mehr als zwei waren, und fürchtete, daß sie von Ihnen verschenkt worden waren. Sie hatte keine Übersicht und forderte eine gründliche
Inventur. Und in diese Situation nun, die ohnehin angeheizt war durch gegenseitige Vorwürfe, durch Ängste und Ahnungen, platzte die Sache mit dem Nymphaeum. Und auf die wollen wir jetzt zurückkommen. Haben Sie Doktor Jäger das Bild geschenkt oder verkauft?“ „Ich habe es ihm geschenkt. Als ich ihm zum ersten Mal andeutete, daß ich das Nymphaeum besäße und es ihm unter Umständen ablassen würde, hat er nicht auf eine Schenkung spekuliert, sondern nach dem Preis gefragt. Ich nannte damals die Summe von zweihundert Mark, das ist etwa ein Zehntel des Wertes. Ich habe meine eigenen Bilder oft so billig abgegeben, immer mit Verlust, Herr Meyerhoff. Aber für das Nymphaeum wie auch für die vier anderen Bilder habe ich kein Geld genommen… sie waren ja gestohlen.“ Und nun ging es doch wieder mit ihm durch: Das Wort „gestohlen“, nun von ihm selbst gebraucht, schien eine Schleuse zu öffnen, und etwas längst Angestautes lief einfach über. Er gab den Diebstahl zu, aber die Wahrheit sei eigentlich, daß gar nicht er, sondern etwas in ihm, etwas Fremdes, ein unwiderstehlicher Drang, dafür verantwortlich zu machen sei, gegen den er einfach nicht ankommen konnte. Bis hierhin hörte Hauptmann Meyerhoff geduldig zu. Doch als Steinhof sogar so weit ging, daß er sein Versagen als eine Art Berufskrankheit zu entschuldigen suchte, der jeder echte Sammler einmal erliege, da wurde es dem Hauptmann zuviel. Er unterbrach Steinhof mit ziemlicher Heftigkeit und sagte scharf: „Später, vor Gericht, können Sie so etwas meinetwegen anführen, da gibt es Sachverständige, die beurteilen können, ob das mildernde Umstände sind. Wir halten uns hier an die Tatsachen. War Herr Doktor Jäger davon überzeugt, daß das Nymphaeum
Ihr Eigentum ist?“ „Völlig. Ich hatte es ja mit meinem Stempel versehen.“ „Und was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Frau an Doktor Jägers Geburtstagsfeier teilgenommen hätte? Sie wußte doch, daß Sie das Nymphaeum nicht besaßen, sie kannte Ihre Sammlung. Früher, als Sie noch unverheiratet waren, bestanden diese Sorgen nicht, aber nun als Ehemann einer Expertin, die sowieso schon mißtrauisch geworden war…“ „Es war gerade umgekehrt. Wenn meine Frau nicht zu dieser Tagung ins Ausland gemußt hätte, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen… Das soll keine Entschuldigung oder Rechtfertigung sein, aber es gehört dazu. Es kam eben eines zum anderen: die Abwesenheit meiner Frau, der Geburtstag, Jägers bevorstehende Übersiedlung in die BRD. Zufälle, die es einem so labilen Menschen wie mir leicht machten, verstehen Sie?“ „Rechneten Sie tatsächlich damit, daß Doktor Jäger Ihnen das Bild zurückgeben würde?“ „Ja. Und selbst wenn Doktor Jäger die Piranesi-Grafik hätte mitnehmen wollen, konnte ich das verhindern. Alle Kunstgegenstände, die ausgeführt werden sollen, müssen von einer Kommission genehmigt werden. Ich kenne verschiedene Herren dieser Kommission sehr gut, und mancher ist mir zu Dank verpflichtet. Nur daß Doktor Jäger das Nymphaeum verkaufen würde, einfach aus Geldgier verkaufen, das habe ich nicht erwartet, das hat mich umgeworfen.“ Und nun schilderte Steinhof nochmals die Auseinandersetzung mit Dr. Jäger, von der auch Frau Mikat berichtet hatte. Für Steinhof war wirklich eine Welt zusammengebrochen, denn nun besaß das Bild ein ihm unbekannter
Rechtsanwalt in Hakenfurt, der nicht zu seinen Jüngern gehörte und auf den er keinerlei Einfluß ausüben konnte. Als Steinhof von dem Verkauf erfuhr, hing das Nymphaeum bereits im Schlafzimmer von Dr. Uhlenhorst. Es stimmte nicht, daß Jäger es am achten Mai noch besaß, als Steinhof es zurückholen wollte, so wie er in seiner geschickten Verteidigungsrede den Genossen zunächst hatte weismachen wollen. Richtig aber war, daß jener Streit am Abend des achten Mai stattfand und daß Steinhof anschließend nach Hakenfurt gefahren war. „Ich wollte tatsächlich nichts anderes, als das Bild von Doktor Uhlenhorst zurückkaufen. Und zwar sofort, denn fünfzehn Stunden später wollte ja die Schulklasse kommen.“ Aber Uhlenhorst war nicht zu Hause. Steinhof erfuhr, daß er im Urlaub sei und erst in zehn Tagen zurückkäme. Durch Zufall hörte er das, und zufällig sah er auch das offene Badezimmerfenster und die Mülltonnen darunter. Er stieg ein, fand das Nymphaeum und nahm es mit nach Belkow. Am Nachmittag des nächsten Tages wurde es dort vorgeführt, erläutert, fotografiert sogar. Und dann kam der Sonnabend, der elfte Mai, und am Abend dieses Tages hielt sein Shiguli zum zweiten Mal im Erlenstieg, in der Nebenstraße des Heiderings. Und zum zweiten Mal stieg Steinhof in die fremde Wohnung ein, diesmal mit dem Bild, das er zurückbrachte, in den Rahmen schob und über das Bett hängte. „Ich weiß nicht, was im einzelnen geschah. Plötzlich war einer in der Wohnung. Ich hörte Schritte, jemand zog sich den Mantel aus, und dann wurde auch schon die Tür zum Schlafzimmer geöffnet. Im Lichtschein der Korridorlampe stand ein Mann, klein, schmächtig. Er konnte
mich nicht sehen, ich wollte an ihm vorbei, und da habe ich wohl… Ich weiß nicht, ich war wie von Sinnen, wie betäubt. Ich lief durchs Bad, kletterte aus dem Fenster und rannte zu meinem Wagen.“ Und dann kam Steinhof noch ein weiteres Mal ein Zufall zu Hilfe: Während seiner Rückfahrt wurde er Zeuge eines Verkehrsunfalls. Da der Unfall sich zwischen Bulkendorf und Sperebach ereignet hatte, beschloß Steinhof, dieses Unglück als Alibi zu benutzen. Er meldete sich als Zeuge und wollte bei Rückfragen angeben, daß er aus Bulkendorf von Dr. Jäger kam. Lothar Steinhof gestand seine Taten und gab zu, schuld am Tode eines Menschen zu sein. Ursprünglich hatte er lediglich den Diebstahl zugegeben, sich aber aus den Geschehnissen in Hakenfurt heraushalten wollen. Doch ein solches Vorgehen hätte nicht dem entsprochen, was Hauptmann Meyerhoff „Format“ genannt hatte. Wie hilflos er dahockte, zermürbt, verschlissen. Nun doch ohne Format. Mit vor Scham verengten Augen starrte er vor sich hin, blaß und eingefallen im Gesicht und die beiden Mundwinkel tief nach unten gezogen. Ein Mann, dem täglich ein falsches Image eingeredet worden war und der mehr und mehr daran geglaubt hatte. Das hatte sein Verhalten reguliert und seine Geltungssucht gefestigt. Steinhof war jetzt wirklich ein gebrochener Mann, der vor allem daran litt, daß er sich selbst den Weg verbaut hatte. Zeitlebens war ihm der Gedanke, an den Rand geschoben zu werden, am unerträglichsten gewesen. Um das zu verhindern, hatte er sich über vieles hinweggesetzt: über Anstand und Moral und schließlich über das Gesetz. Sie saßen dann noch lange zusammen: die drei Krimina-
listen aus Hakenfurt und Leutnant Claasen. Sie hatten das Protokoll vor sich, Steinhofs Geständnis, und sie sprachen darüber. Anfangs über den Mann, der sich doch um vieles verdient gemacht hatte, der Begabung und Energie in sich vereinte, dann auch über Ingelore Steinhof, die sich ebenfalls verantworten mußte und vielleicht die Unglücklichere von den beiden war. Doch schließlich bezog sich ihr Gespräch mehr und mehr auf den Tatvorgang, auf kriminalistische Aspekte und auch auf Fragen, die offengeblieben waren. Man hatte nicht erfahren und würde vermutlich auch nie erfahren, warum sich Uhlenhorsts Schreibtischschlüssel in seinem Koffer befand. Eine Marotte von ihm, Nachlässigkeit, Versehen? Die Antwort war nicht mehr wichtig, genauso wie die Suche nach der Strichzeichnung, dem Edelkitsch, wie Dr. Kneisel sie bezeichnet hatte, bedeutungslos geworden war. Jahrelang hing sie über Uhlenhorsts Bett, ein Andenken an seine Frau, aber dann, als das Nymphaeum in seinen Besitz gelangte, war sie plötzlich unwichtig für ihn, vielleicht ebenfalls als Kitsch erkannt und deshalb vernichtet worden. Das alles waren Dinge, die, anfangs zwar wichtig wie jedes Detail, nun aber an Bedeutung verloren hatten. Selbst der akkurate, manchmal sogar pedantische Hauptmann Meyerhoff tat sie als nebensächlich ab. Und dann sah er Claasen an, der bisher vorwiegend zugehört hatte, nun aber eine Frage auf dem Herzen zu haben schien. Meyerhoff ahnte auch, was es war. „Was hätten Sie denn getan“, wollte Claasen von dem Hauptmann wissen, „wenn Lothar Steinhof nicht gestanden hätte?“ Die Antwort kam langsam, aber nicht zögernd: „Ich war
überzeugt, daß er gestehen würde. Ich habe ihn beobachtet, habe ihn reden lassen und das, was ich über ihn gelesen und gehört habe, bestätigt gefunden. Ich kannte Motiv und Ablauf der Tat, ich kannte das Gespräch, das die Genossin Albrecht mit seiner Frau geführt hatte…“ „Trotzdem. Als Sie aufstanden und sich quasi verabschiedeten… ich meine, wären Sie wirklich gegangen?“ „Bis zur Tür vielleicht. Hätte er dann nicht reagiert, hätte ich das gleiche gesagt wie am Tisch.“ „Aber Steinhof hatte sich doch eine nicht ungeschickte Verteidigung aufgebaut. Er gestand den Diebstahl im Museum, unterschob ihm edle Motive, sparte dabei nicht mit Reue und Selbstzerfleischung, distanzierte sich dadurch aber gleichzeitig von den Vorgängen in Hakenfurt. Wenn er nun dabei geblieben wäre?“ „Er konnte nicht dabei bleiben. Wissen Sie, es ist eine alte Erfahrung, daß eigentlich nur naive Lügen Chancen haben. Die intellektuell durchkonstruierten versagen meist, weil sie überzüchtet sind. Steinhof scheiterte daran, daß er nicht nur eine Tat von sich weisen, sondern sie einem anderen unterstellen wollte. Am elften Mai war das Ehepaar Jäger zum Abschiedsbesuch bei Frau Rothilde Mikat zu Gast. Wir haben es nachgeprüft. Steinhof konnte den Jägers also an diesem Tag gar nicht das Nymphaeum zurückgebracht und gleich gar nicht bei Frau Jäger auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet haben. Meinen Sie nicht, daß er sich in diesem Strick verfangen hätte?“ Und das war das letzte ,Hätte’ an diesem Abend. Claasen verabschiedete sich, und da er noch mit dem nächsten Zug nach Belkow fahren wollte, brachte Meyerhoff ihn zum Bahnhof. Gollus begleitete Annegret Albrecht nach
Hause. Sie suchten nach einem anderen Thema und fanden es schließlich in dem bevorstehenden Polizeisportfest von Hakenfurt. Mal sehen, wie es diesmal läuft, dachte jeder für sich. Und beide waren optimistisch.