Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung
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Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung
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Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung Herausgegeben von
Heiner F. Klemme
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020272-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhalt Siglen ................................................................................................................. VIII Heiner F. Klemme Einleitung ...............................................................................................................1 Begriff und Perspektiven der Aufklärung ...................................................5 Wolfgang Bartuschat Kant über Philosophie und Aufklärung ............................................................7 Oliver R. Scholz Kants Aufklärungsprogramm: Rekonstruktion und Verteidigung ............. 28 Gunnar Hindrichs Die aufgeklärte Aufklärung .............................................................................. 43 Axel Hutter Kant und das Projekt einer Metaphysik der Aufklärung ............................. 68 Günter Zöller Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft ................. 82 Claudio La Rocca Aufgeklärte Vernunft – Gestern und Heute ................................................ 100 Lothar Kreimendahl Kants vorkritisches Programm der Aufklärung .......................................... 124 Maximilian Forschner Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie ............................... 143
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Inhalt
Bernd Dörflinger Kants Projekt der unsichtbaren Kirche als Aufgabe zukünftiger Aufklärung......................................................................................................... 165 Kontexte, Kritik und Interpretationen .................................................... 181 Rainer Forst Toleranz, Glaube und Vernunft. Bayle und Kant im Vergleich ............... 183 Paul Guyer Ist und Soll. Von Hume bis Kant, und heute .............................................. 210 Birgit Recki „Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen“. Kants Kabinettstück zu einer aufgeklärten Mythologie .................................................................. 232 Marcus Willaschek Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen praktischen Vernunft ....................................................................................... 251 Volker Gerhardt Die Menschheit in der Person des Menschen. Zur Anthropologie der menschlichen Würde bei Kant....................................................................... 269 Christel Fricke Passt der Mensch in die Welt? ....................................................................... 292 Andrea Marlen Esser Aufklärung der Praxis. Kantischer Konstruktivismus in der Ethik ......... 319 Herlinde Pauer-Studer Rechtfertigungen der Normativität. Eine Verteidigung David Humes gegenüber Christine M. Korsgaards Neo-Kantianismus ........................... 336 Heiner F. Klemme John McDowell und die Aufklärung. Eine Kritik der neo-aristotelischen Ethik .................................................................................................. 369
Inhalt
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Manfred Baum Politik und Moral in Kants praktischer Philosophie .................................. 386 Christoph Horn Was ist falsch an einer moralischen Deutung von Kants Politischer Philosophie? ...................................................................................................... 400 Katrin Flikschuh Kant’s Non-Individualist Cosmopolitanism ................................................ 425 Jan C. Joerden Kants Lehre von der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ und ihre möglichen Konsequenzen für das Strafrecht .............................................. 448 Georg Mohr „nur weil er verbrochen hat“ – Menschenwürde und Vergeltung in Kants Strafrechtsphilosophie ......................................................................... 469 Reinhard Brandt Immanuel Kant – Was bleibt? ....................................................................... 500 Die Autoren ...................................................................................................... 543 Personenregister ............................................................................................... 551
Inhalt
Siglen Die Siglen beziehen sich auf den Abdruck der Schriften in der AkademieAusgabe von Kants Gesammelten Schriften (AA); nur die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Paginierung der ersten (1781, A) und zweiten (1787, B) Auflage zitiert. Schriften Kants, für die keine Siglen angegeben sind, werden z.B. zitiert: AA IV 421. AA
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Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (= AkademieAusgabe), hrsg. von der Preußischen / Deutschen / Göttinger / Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA VII. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV. Kritik der praktischen Vernunft, in: AA V. Kritik der reinen Vernunft (A: 1781; B: 1787), in: AA III u. IV. Kritik der Urteilskraft, in: AA V. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: AA VIII. Metaphysik der Sitten, in: AA VI. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, in: AA II. Prolegomena zur einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: AA IV. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: AA VI. Der Streit der Fakultäten, in: AA VII. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: AA VIII. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: AA II. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: AA VIII. Was heißt sich im Denken orientieren?, in: AA VIII. Zum ewigen Frieden, in: AA VIII.
Einleitung Heiner F. Klemme Mit seinem Ende 1783 in der Berlinischen Monatsschrift publizierten Aufsatz „Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?“1 gelingt dem Pfarrer und Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft Johann Friedrich Zöllner nahezu en passant der große Wurf: in einer Anmerkung eine Frage zu formulieren, die die auch innerhalb der Aufklärungszirkel kontrovers geführte Debatte über ein Zuviel und ein Zuwenig an Aufklärung auf den Punkt bringt. Diese Frage versucht seitdem jeder zu beantworten, der sich in historischer Absicht mit der Philosophie der Aufklärung in ihrer Vielheit und Einheit beschäftigt oder ein plausibles Urteil über ihre Relevanz für die Gegenwart und Zukunft philosophischer Reflexion treffen möchte: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“2 Weil Zöllners Überzeugung nach eine konsequent säkular verstandene Aufklärung die „Köpfe und Herzen der Menschen“ verwirrt, „die ersten Grundsätze der Moralität“ ins Wanken bringt und „den Werth der Religion“3 herabsetzt, deutet sich bei ihm eine Kritik bestimmter Erscheinungsformen der Aufklärung an, die uns bis heute vertraut ist: Wer mit Verweis auf die innerweltliche Autorität der Vernunft für die kompromisslose Aufklärung der Menschen plädiert, die Alternativlosigkeit ihrer eingespielten sozialen Rituale und die Evidenzen ihrer tradierten Überzeugungen hinterfragt, führt uns nicht in eine bessere Zukunft, sondern vernichtet ihre Grundlage. Vernunft und Freiheit, Wissenschaft und Technik sind nicht die Vorboten einer Welt selbstbestimmter Lebensführung, sondern stellen Symptome eines Denkens dar, das uns in ein Zeitalter der
_____________ 1 Reprint in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Hinske. 4., um ein Nachwort erweiterte Auflage, Darmstadt 1990, 107116. 2 Zöllner 1990, 114. 3 Zöllner 1990, 114.
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Heiner F. Klemme
normativen Bodenlosigkeit und des Totalitarismus einer Rationalität führt, die sich ebenso blind wie gefühlskalt gegenüber den Besonderheiten unserer Kulturen und Lebensgeschichten geriert. Datieren wir den Beginn der pointiert am Aufklärungsbegriff orientierten Debatte um den Geltungssinn und die Geltungschancen der modernen Vernunftphilosophie auf den Zeitpunkt der Publikation von Zöllners Aufsatz, dann weiß sich diese Philosophie somit von Anfang an mit dem Vorwurf einer (vermeintlichen) „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer u. Adorno) konfrontiert. Dass Zöllners Frage nicht mit einem Pinselstrich zu beantworten ist, wird nicht zuletzt in Kants programmatischem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) deutlich, in dem er die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“4 bestimmt. Kant begreift die Aufklärung als einen Prozess, als ein auf Zukunft hin angelegtes Projekt, das diverse Dimensionen – geschichtliche, moralische, rechtspolitische und metaphysische – umfasst. Dieser Prozess vermag nach Kant den Menschen schon insofern in normativer und praktischer Hinsicht nicht zu überfordern, als der Mensch von Anfang an die Freiheit besitzt, sich für oder gegen die Beförderung seiner eigenen Mündigkeit zu entscheiden. „Die Geschichte der Natur fängt […] vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.“5 Kant ist davon überzeugt – oder hegt doch zumindest die Hoffnung –, dass der destruktive Schatten des Bösen durch das segensreiche Wirken von Natur und Vernunft im Verlaufe der Menschheitsgeschichte immer kürzer wird. Als eine kollektive, als eine gattungsethische Anstrengung kann die Aufklärung vollendet werden. Doch die Aufklärung ist keineswegs ein Selbstzweck. Sie führt den Menschen zur Verwirklichung seiner moralischen-rechtlichen Bestimmung, zur Kultur und zum Frieden – und wenn er Glück hat, auch zum diesseitigen Glück. Die kantische Kritik der Vernunft ist Philosophie der Aufklärung, weil und insofern sie à la Locke die Quellen, den Umfang und die Grenzen unserer Erkenntnis zu bestimmen beansprucht. Mit seiner Kritik des theoretischen und praktischen Gebrauchs unserer Vernunft sowie der Urteilskraft, deren reflektierender Gebrauch eine Brücke zu schlagen erlaubt zwischen der mechanistischen Welt der Naturwissenschaft und der Welt der Freiheit, die uns befähigt, Natur wie Kunst zu betrachten, legt Kant eine Philosophie vor, die verspricht, alle zukünftigen sozialen, politischen
_____________ 4 AA VIII 35. 5 AA VIII 115.
Einleitung
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und technisch-wissenschaftlichen Veränderungen deutend verstehen und normativ einholen zu können. Worin genau dieses Versprechen besteht und welche Aspekte der kantischen Philosophie tatsächlich gegenwarts- und zukunftsfähig sind, diese Fragen werden in den Beiträgen des vorliegenden Bandes aus verschiedenen historischen und systematischen Perspektiven thematisiert. Einen einheitlichen Forschungsansatz oder gar eine Konvergenz der Interpretationsergebnisse zu erwarten, kann angesichts der Komplexität der kantischen Philosophie, der Vielschichtigkeit ihrer begrifflichen und historischen, ideengeschichtlichen und systematischen Kontexte, Vernetzungen und Perspektiven weder erwartet noch ernsthaft angemahnt werden. Dies gilt umso mehr, als die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes zwar das Interesse an der Philosophie Kants teilen, dieses Interesse aber in unterschiedlicher Weise materialisieren und zum Ausdruck bringen. Neben Beiträgen zur Bestimmung von Kants Begriff der Aufklärung, seiner historischen und systematischen Perspektiven, finden sich Aufsätze, die der Interpretation und Bewertung spezifischer Kontexte und Lehrstücke vor allem von Kants praktischer Philosophie gewidmet sind. Für die Leserinnen und Leser mag der Band somit die Chance bieten, sich ein Urteil sowohl über die Zukunftsfähigkeit der kantischen Philosophie wie über die Heterogenität der modernen Kant-Forschung zu bilden. Der vorliegende Band geht auf eine gleichnamige internationale Fachtagung6 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg zurück, die vom 9. bis 13. Oktober 2007 in Greifswald stattfand. Mein Dank gilt der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, für ihre großzügige Unterstützung der Tagung sowie namentlich ihrem Wiss. Direktor, Herrn Prof. Dr. Klaus Pinkau, und ihrem Wiss. Geschäftsführer, Herrn Dr. Reinold Schmücker. Es war ein großes Vergnügen, in den Räumen des Wissenschaftskollegs über Kant zu diskutieren. Mein Dank gilt ferner der KantGesellschaft e.V., Bonn, für ihre Unterstützung, allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre freundliche Bereitschaft, ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung zu stellen, sowie meinem Mitarbeiter Frank Brosow (Mainz) für die Durchsicht der Beiträge und die Erstellung der Druckvorlage. Mainz, im April 2009
Heiner F. Klemme
_____________ 6 Einen Überblick über alle Vorträge geben Frank Brosow und Andreas Thomas in ihrem Tagungsbericht „Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung“, in: Kant-Studien 99/2 (2008), 229-237.
Begriff und Perspektiven der Aufklärung
Kant über Philosophie und Aufklärung Wolfgang Bartuschat
I. Ich möchte in meinem Beitrag die Rolle erörtern, die Kant für den Prozess gelingender Aufklärung der Philosophie zugesprochen hat. Es ist nahe liegend, sich hierfür auf Kants kleine Schrift von 1784 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? zu stützen. Dort definiert Kant die Aufklärung wie folgt: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (AA VIII 35)
Mit diesem vielzitierten und wegen der Griffigkeit seiner Formulierungen zu recht berühmten Satz beginnt Kant seine Schrift. Hier hebt er darauf ab, dass die Aufklärung das Herausgehen aus einer Unmündigkeit ist, die der Mensch selbst verschuldet hat und aus der er deshalb auch selbst muss herauskommen können. Hierfür müsse er selbst etwas tun, nämlich den eigenen Verstand gebrauchen. Es zu unterlassen sei nichts anderes als ein Mangel an Entschlusskraft, gegen den ein Mut zu mobilisieren ist und damit etwas, das in einer Einstellung oder subjektiven Haltung gründet, an die zu appellieren ist. Betrachtet man nun die Abhandlung selbst, von der man annehmen sollte, sie gibt eine Explikation dieser Definition, dann ist festzustellen, dass sie sich nur sehr eingeschränkt auf den im Eingangssatz genannten Wahlspruch der Aufklärung bezieht. Denn sie handelt im Wesentlichen von etwas anderem, zumindest bezieht sie sich nicht auf den so hervorgehobenen Punkt eines Muthabens und eines Angehens gegen Bequemlichkeit. Zwar knüpft der erste Absatz der Abhandlung nach der Definition noch daran an mit der Betonung von Faulheit und Feigheit als Ursachen von Unmündigkeit: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich […]
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Wolfgang Bartuschat
einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ (AA VIII 35) Es ist das Bestimmtsein durch die Anweisungen eines anderen, denen zu folgen einen unmündig macht und denen zu folgen bequem ist, weil man sich selbst dann nicht anstrengen muss. Doch schon im nächsten Absatz sagt Kant, wer dieser andere ist; es sind nicht Personen, sondern Institutionen, und auf sie beziehen sich dann die weiteren Überlegungen Kants. Es sind Satzungen und Formeln, die die Spontaneität des Selbstdenkens unterbinden oder zumindest erschweren, von Kant „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ (AA VIII 36) genannt. Aus ihnen herauszukommen, so betont er mit Nachdruck, ist alles andere als leicht, weil es im Hinblick darauf nicht nur darauf ankommt, sich überhaupt seines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern auch und vor allem darauf, ihn so einzusetzen, dass der Status von Institutionen begriffen wird. Und ein solches Begreifen verlangt von dem Einzelnen offenbar mehr, als lediglich im subjektiven Kräftehaushalt seine Entschlusskraft zu mobilisieren, worauf die schon in der Aufklärung vor Kant geläufige horazische Formel eines sapere aude anspielt.1 Wir leben, wird Kant gegen Ende der Abhandlung sagen, in einem Zeitalter der Aufklärung, das er anerkennend auch „das Jahrhundert Friederichs“ (AA VIII 40) nennt, deshalb aber keineswegs auch schon in einem aufgeklärten Zeitalter. Kant erläutert dies beispielhaft an „Religionsdingen“, im Hinblick auf die die Menschen noch nicht befähigt seien, zu einem im eigenen Verstand gegründeten Urteil zu gelangen, sondern immer noch der Leitung durch einen anderen, nämlich durch den Priester als Repräsentanten der Kirche, bedürften. Für Kant ist dies ein zu konstatierender Tatbestand, dem das Zeitalter der Aufklärung noch nicht hat abhelfen können. Dass dem so ist, liegt nun aber nicht an einer Mutlosigkeit der Menschen, den eigenen Verstand zu gebrauchen, sondern offenbar an der Komplexität dessen, was es mit Religionsdingen auf sich hat, die auch die bisherigen Aufklärer in Kants Augen nicht hinreichend beachtet haben. Was unter dem Titel einer „Aufklärung“ daherkommt, hat bislang nicht dazu geführt, die Menschen aufgeklärt sein zu lassen, weil die Vertreter der Aufklärung in Kants Augen ein falsches Verständnis von Aufklärung hatten und es sich zu leicht gemacht haben. Vorschnell vorgehende Aufklärer waren bestrebt, das die Menschen in Unmündigkeit belassende Joch der Satzungen von Kirche und Obrigkeit möglichst schnell zu beseitigen, haben aber das, was sie an deren Stelle propagierten,
_____________ 1 Zur mehrfachen Bedeutung des „sapere aude“ vgl. Brandt 2003, 65-76.
Kant über Philosophie und Aufklärung
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dem Volk wiederum nur aufzwingen wollen, indem sie ihm bloß weismachten, dass dessen Befolgung besser für es sei. Ein Beispiel dafür mag die Forderung nach Toleranz sein, die Kant in seiner Aufklärungsschrift beiläufig erwähnt (AA VIII 40). Dass Toleranz ein „hochmüthiger Name“ sei, wie Kant schreibt, liegt offenbar daran, dass die Aufklärer mit ihr etwas Falsches verbinden. Sie zu praktizieren, wird von den Aufklärern gefordert, während es der Sache nach gerade von niemanden gefordert werden kann, muss Toleranz doch einer internen Geisteshaltung entspringen, der nichts verordnend aufgezwungen werden kann, weil sie eine Form eigenständiger Einsicht voraussetzt. Solange bei den Menschen eine solche Form selbständiger Gedankenführung nicht erreicht ist, leben sie Kant zufolge noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. In ihm muss das Volk selbst aufgeklärt sein und nicht erst durch andere, die es vermeintlich oder auch tatsächlich besser wissen, aufgeklärt werden. Mit einer Belehrung von oben herab wird nicht erreicht, was für Kant die Bedingung aller Aufklärung ist, nämlich eine „wahre Reform der Denkungsart“ (AA VIII 36), die allein verhindere, dass alte Vorurteile nur durch neue ersetzt werden, die wiederum „zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen“. Nicht revolutionärer Umschwung, so plausibel er angesichts von „gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung“ sein mag, sondern reformistische Veränderung verlangt Kant, weil es die Denkungsart der Menschen ist, die es zu verändern gilt und die, so meinte Kant, erst zu einer Reform auch der Institutionen zu führen vermag. Reformen gehen aber, im Unterschied zu Revolutionen, zwangsläufig langsam voran. „Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen“ (AA VIII 36), schreibt Kant denn auch in diesem den Fortgang der Abhandlung bestimmenden Zusammenhang. Es muss selbst dahin „gelangen“ und kann nicht von anderen dahin gebracht werden. Was kann dann die Philosophie angesichts eines durch die Verfassung der Menschen vorgegebenen langsamen Tempos über eine Reform der Denkungsart zu einer gelingenden Aufklärung beitragen? Aufklärung hat als Reform der Denkungsart selbst ein Prozess der Reform zu sein und nicht der Revolution, lautet die Vorgabe. In der Kritik der reinen Vernunft, seinem theoretischen Hauptwerk, hat Kant in der zweiten Auflage von einer „Revolution der Denkart“ (B XI) gesprochen, die schon früh die Mathematik und in neuerer Zeit auch die Naturwissenschaft den sicheren Gang einer Wissenschaft hat nehmen lassen und von der Kant glaubte, er könne sie auch für die Philosophie so fruchtbar machen, dass mit ihr auf einen Schlag und ein für allemal philosophische Klarheit in die Fragen hineingebracht wird, mit denen sich die Metaphysik vor ihm in intern widersprüchlicher Weise herumgeschlagen hatte. Die Revolution, der Kant hier das Wort redet, ist eine Revolution unserer Betrachtungsweise
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der Dinge: Bevor wir Aussagen über Sachverhalte machen, ist zunächst die Instanz hinsichtlich von Reichweite und Geltungsanspruch kritisch zu analysieren, kraft deren wir solche Aussagen machen. Damit vollzieht Kant für die Rechtfertigung objektiver Aussagen eine methodische Wende mit dem Ziel, die Bedingungen zu erörtern, unter denen wir eine sichere, gegen bloß Wahrscheinliches resistente Erkenntnis von Dingen erlangen können. Dieses, wenn man will revolutionäre, Unternehmen hat zu einer grundlegend veränderten philosophischen Theorie geführt, die für sich beansprucht, mit verfehlten Theorien des mit unserem Erkennen verbundenen Anspruchs auf Objektivität aufgeräumt zu haben. Eine solche die bisherige Erkenntnistheorie verändernde Revolution kann jedoch nicht auf das Programm der Aufklärung angewendet werden.2 Denn in ihm geht es nicht um eine Befreiung aus der Unklarheit über das Fundament sicheren theoretischen Wissens. Aufklärung ist vielmehr ein Erfordernis, das sich angesichts von Sachverhalten stellt, die sich einem solchen Wissen gerade entziehen. Gleich am Anfang der Aufklärungsschrift sagt es Kant: Der Aufklärung bedürfen die meisten Menschen, „nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen“ (AA VIII 35) haben, gleichwohl immer noch. Die Natur unterliegt den Gesetzen, die wir kraft unseres nach bestimmten Regeln verfahrenden Verstandes in sie hineinlegen, und ist darin, was ihre Erkennbarkeit angeht, das Erzeugnis einer Aktivität unseres Verstandes, befreit von übernatürlichen Gesetzgebern göttlicher Provenienz, deren Weisheit wir, sie respektierend, hinzunehmen hätten, und sie ist, was ihren Umgang mit ihr angeht, den Erzeugungsregeln unseres empirischen Verstandes unterworfen, kraft deren wir uns in ihr weitgehend zurechtfinden. Mit dem Appell an den Mut des Einzelnen, den eigenen Verstand zu gebrauchen, um sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien, findet sich in den Anfangssätzen der kantischen Aufklärungsschrift noch der Widerhall eines an der Grundlegung von Wissenschaft orientierten cartesischen Rationalismus. Der Verstand als die Fähigkeit richtig zu urteilen (le bon sens) sei bei allen Menschen gleich und insofern die bestverteilte Sache der Welt, so beginnt Descartes seinen Discours de la méthode (Descartes 1897-1910, Bd. VI, 1), französisch geschrieben und darin nicht nur an die Welt der Gelehrten sich richtend. Der Verstand ist gleichsam eine Naturausstattung der Menschen, und dass es Kluge und Dumme gibt, Aufgeklärte und Nicht-Aufgeklärte, liegt nicht am Umfang eines unter den Menschen schlecht verteilten Verstandes, sondern allein daran, dass die Menschen ihn nicht in rechter Weise gebrauchen. Der richtige Gebrauch,
_____________ 2 Vgl. hingegen Scholz 2006, 163.
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der eines methodischen Vorgehens bedarf, ist über die hierfür anzugebenden Regeln hinaus aber ganz wesentlich, so hebt Descartes immer wieder hervor, auch von einer subjektiven Haltung der Aufmerksamkeit und des Sichzusammennehmens abhängig, deren der Mensch bedarf, um die Ablenkung durch Gewohnheit und tradierte Erkenntnismuster niederhalten zu können. Irrtum ist dann letztlich auf subjektive Disziplinlosigkeit zurückzuführen, nicht aber auf objektive Sachverhalte, die allem menschlichen Bemühen, sich auf den eigenen Verstand zu konzentrieren, immer schon vorgegeben sind. Genau auf solche objektiven Sachverhalte bezieht sich aber Kant im Verlauf seiner Abhandlung mit dem Verweis auf Satzungen und Formeln, die, sofern sie den Menschen von außen auferlegt sind, deren Unmündigkeit verursachen; und im Hinblick darauf genügt es nicht, gegen sie und den von ihnen ausgehenden Zwang einfach an die subjektive Disposition des Menschen zu appellieren, den eigenen nach methodischen Regeln vorgehenden Verstand doch zu gebrauchen. In der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft meint Kant andererseits, dass der Geist der Kritik, durch den eine Klärung von Prinzipienfragen in theoretischer Hinsicht erbracht worden ist, „sich nun auch in anderen Arten von Erkenntnis wirksam beweisen“ würde. Er verweist in diesem Zusammenhang anerkennend auf die Verdienste der sein Zeitalter bestimmenden bisherigen Aufklärung, die darin bestünden, auch diejenigen Instanzen einer Kritik unterworfen zu haben, die sich „gemeiniglich derselben entziehen wollen“ (A XI). Er hat dabei die Instanzen der auf ihre Heiligkeit sich berufenden Religion und der auf ihre Majestät sich berufenden staatlichen Gesetzgebung im Blick, gegen die er im Geist der Aufklärung nun auch die kritisch gereinigte Vernunft glaubt mobilisieren zu können. Dass diese Instanzen sich für kritikimmun halten, das allein schon, schreibt Kant, rufe vor der Vernunft nicht nur Verdacht, sondern auch Verachtung hervor, denn sie bewillige eine unverstellte Achtung nur demjenigen, was eine freie und öffentliche Prüfung durch sie selbst, die Vernunft, hat aushalten können. Mit diesem in der Kritik der reinen Vernunft nur anmerkungsweise gegebenen Hinweis hat Kant die Gesichtspunkte in den Blick gebracht, die dann in seiner Aufklärungsschrift zentral sind: wogegen die Aufklärung sich richtet und welche Mittel es sind, die sie dabei einzusetzen hat. Religion und staatliche Gesetzgebung sind Gegenstand aufklärerischer Kritik, insofern und solange sie mit ihren Satzungen und Formeln die Unmündigkeit der Menschen bewirken, und eine recht verstandene Aufklärung hat gegen deren Wirksamkeit auf eine Vernunft zu setzen, deren Merkmal es ist, die Ansprüche jener Instanzen frei und öffentlich zu überprüfen. Betrachten wir also die Trias Vernunft, Freiheit, Öffentlichkeit in deren internem Zusammenhang und in ihrer möglichen Leistungskraft für
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das Programm einer recht verstandenen Aufklärung, deren Aufgabe es ist, die Menschen von dem unmündig machenden Druck von Kirche und Staat zu befreien. Die Religion, dieser traditionelle Feind der Aufklärung, ist durch rationale Kritik, beginnend mit Spinozas Theologisch-politischem Traktat, in ihren theoretischen Aussagen radikal beschnitten worden. Auch für Kant hat sie nur noch innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine praktische Bedeutung für die Stabilisierung des menschlichen Zusammenlebens, aber so, dass die für eine solche Stabilisierung erforderlichen Satzungen und Glaubensartikel, die eine empirische Kirche erlässt, nicht aus reiner Vernunft gewonnen werden können. Auch die Rechtsgesetzgebung hat seit den mit Hobbes einsetzenden philosophischen Staatstheorien im rationalen Kalkül überlebenswilliger Menschen ein Fundament erhalten, das den Zwangscharakter der Rechtsgesetze über deren Funktion, die menschliche Freiheit allererst zu sichern, rechtfertigt. Auch dem folgt Kant, wenn auch unter einem veränderten Verständnis von Freiheit, aber auch hier mit der Einschränkung, dass sich die tatsächliche Gesetzgebung eines empirischen Staates nicht aus kalkulierender, geschweige denn aus reiner Vernunft herleiten lässt. Wenn Gesetze und Satzungen, die von den empirischen Institutionen Kirche und Staat erlassen werden, nicht aus der Vernunft folgen, heißt das freilich nicht, dass sie nicht vernunftverträglich sein könnten. Sie enthalten Vorschriften, denen Menschen nicht zwangsläufig unterliegen, sondern zu unterliegen haben, wenn diejenigen, die Gesetze und Satzungen erlassen, mit ihnen nicht nur etwas erbitten, sondern auch durchsetzen wollen. Als erlassene Vorschriften sind sie zufällige Setzungen, denen selbst keine Notwendigkeit zukommt; es steht den Menschen frei, sie aufgrund davon abweichender Präferenzen nicht zu befolgen, es sei denn der Gesetzgeber zwingt sie zu deren Befolgung kraft seiner Macht durch Drohungen oder auch Versprechungen, die in dieser Form ein äußerer Zwang sind. Enthält ein äußerer Zwang eine Fremdbestimmung, die den Menschen unmündig macht, dann kann das Programm der Aufklärung, das dagegen angeht, durchaus als das Programm einer Befreiung aus der Unmündigkeit verstanden werden. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass Gesetze, die dem Menschen von außen auferlegt werden, angesichts der menschlichen Verfassung unerlässlich sind, ihre Äußerlichkeit also bei aller Zufälligkeit der Gesetzgebung doch einen Grund in der Sache hat. Denn zur Verfassung des Menschen gehört eine Komponente, die der Eingangssatz der Aufklärungsschrift mit seinem emphatischen Rekurs auf den menschlichen Verstand ausgeblendet hat, seine Sinnlichkeit. In praktischer Hinsicht zeigt sie sich für Kant vor allem als ein im Dienst der Eigenliebe stehender, auf den eigenen Vorteil bedachter Egoismus, der das eigene Selbst auf Kosten der anderen zur Geltung zu bringen sucht. Die
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aus diesem Tatbestand entspringenden zwischenmenschlichen Konflikte bedürfen einer Regulierung, die sich auf Vorschriften stützt, die sich der Privateinschätzung in sinnlich-individueller Perspektive entziehen und die der Einzelne zu akzeptieren hat, mögen sie ihm auch von außen auferlegt worden sein und mag insofern auch ein anderer für ihn denken. Für eine Befreiung aus dieser Form von Unmündigkeit genügt es dann nicht, einfach an den Gebrauch des eigenen Verstandes zu appellieren, zumindest nicht, ohne dass näher bestimmt würde, was denn unter dem Verstand, den es zu gebrauchen gilt, zu verstehen ist. Denn auch der neigungsorientierte Mensch, dem der Mut seinen Verstand, den er nun einmal hat, auch zu gebrauchen, nicht allzu schnell abgesprochen werden sollte, wird seinen Verstand gebrauchen. Aber er wird ihn in den Dienst seiner Neigung stellen und darin die gesetzlichen Vorschriften, die seine Neigung zügeln, zu unterlaufen suchen. Wird eine solche Form des selbstisch-kalkulierenden Verstandesgebrauchs gestattet, dann ist gesetzlichen Vorschriften jeder Sinn genommen. Aufklärung bestünde darin, Menschen dazu zu bringen, mit dem von den Vorschriften ausgehenden Zwang diese selbst abzuschaffen. Entgegen dem ersten Satz der Aufklärungsschrift hebt Kant deshalb im Fortgang dieser Schrift nicht darauf ab, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern bringt das Vermögen der Vernunft ins Spiel.3 Diese vermögenstheoretische Unterscheidung, die von dem mit der kantischen Philosophie nicht vertrauten Leser leicht überlesen wird, trifft Kant, weil Aufklärung nicht Aufklärung über Sachverhalte ist, die in wissenschaftlicher Exaktheit, der Domäne des Verstandes, zugänglich wären, sondern Aufklärung über die Struktur von Institutionen, im Hinblick auf die der Verstand, wird er eingesetzt, nur allzu leicht zur Instanz eines Nutzenkalküls verkommt, die in einer Privatheit verbleibt, welche gesetzliche Regelungen in deren möglichen Bezug auf Allgemeinheit überhaupt nicht in den Blick zu bringen vermag. Vernunft ist demgegenüber die Instanz eines Entwerfens von Ideen, mit denen empirische Sachverhalte, also auch die Satzungen und Erlasse der empirischen Kirche und des empirischen Staates, zwar nicht begriffen, wohl aber kritisch beurteilt werden können. Weil die Vernunft in ihrem überprüfenden Urteil des Empirischen nichts apodiktisch formuliert, sondern nur eine Hinsicht entwirft, unter der sie das Empirische beurteilt, bedürfen solche überprüfenden Hinsichten, die der Mensch im Medium der Vernunft als Maßstab der Überprüfung anlegt, selbst einer Überprüfung. Von der Vernunft Gebrauch zu machen, muss deshalb heißen, von ihr öffentlich Gebrauch zu machen. Denn nur
_____________ 3 Vgl. hierzu La Rocca 2004, 125ff.
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so kann sich der Einzelne in seiner kritischen Beurteilung der bestehenden Ordnungen einer Kritik durch andere stellen und darin sein Urteil gegebenenfalls auch korrigieren. Bedingung hierfür ist, dass Menschen in dem Gebrauch ihrer Vernunft nicht behindert werden, mit anderen Worten, dass sie frei sind, sich im öffentlichen Raum zu äußern, und ihnen darin die Chance gegeben wird, ihre eigenen Entwürfe auch durch andere beurteilen zu lassen. Diese Freiheit ist für Kant die einzige Voraussetzung einer gelingenden Aufklärung. Im 5. Absatz der Aufklärungsschrift heißt es: zur wahren Aufklärung „wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (AA VIII 36). In allen Stücken heißt uneingeschränkt, nämlich im Hinblick auf alles, was die Machthaber, seien sie heilig, seien sie weltlich, verordnet haben.
II. Was hier zur wahren Aufklärung erfordert wird, ist eine Forderung an die Machthaber, dem Einzelnen den öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft uneingeschränkt zuzugestehen. Um sie dazu zu bringen, suggeriert ihnen Kant, dass ein solches Zugeständnis für sie selbst unschädlich sei. Hierfür beruft er sich allerdings nicht auf das, was in dem Begriff einer freien Äußerung der Vernunft gelegen ist, dass nämlich dieser Begriff von Freiheit nicht der Beliebigkeit des Privaten, sondern gerade deren Beschränkung durch die Öffentlichkeit das Wort redet. Er beruft sich darauf, dass die Obrigkeit einen anderen Vernunftgebrauch nicht nur einschränken dürfe, sondern sogar von der Sache her müsse. Diesen anderen Gebrauch nennt Kant, im Unterschied zum öffentlichen, den privaten. Das ist nicht ein Gebrauch, der in dem Sinne im Privaten verbliebe, dass er bloße Ansichten enthielte, die gar nicht geäußert werden, denn hier gäbe es ja auch nichts zu verbieten. Unter dem privaten Gebrauch der Vernunft versteht Kant vielmehr den Gebrauch, den jemand in einer bestimmten Funktion (Kant sagt: auf einem ihm anvertrauten bürgerlichen Posten) von seiner Vernunft im Hinblick auf diese Funktion macht, die ihren Ort in einem begrenzten Raum hat. Der öffentliche Gebrauch ist demgegenüber derjenige, den jemand nicht als Funktionsträger, sondern in einer anderen Rolle von seiner Vernunft macht. Darin reflektiert er nicht auf das, was mit seiner Funktion verbunden ist, sondern offenbar auf einen anderen Zusammenhang, den er nur in den Blick bringt, sagt Kant, wenn er sich als „Gelehrter“ äußert. Kant gibt folgendes Beispiel: So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit
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dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigerweise nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publicum zur Beurtheilung vorzulegen. (AA VIII 37)
Das klingt auf den ersten Blick eigenartig. Klar scheint der erste Teil des Satzes zu sein. Der Offizier ist Glied einer ihm übergeordneten Organisation, die Kant auch Maschine nennt, für deren Ablauf ein gewisser Mechanismus notwendig sein müsse. Als Teil eines solchen Mechanismus ist der Offizier zur Passivität bloßen Ausführens verurteilt, weil ein Räsonnieren über die Richtigkeit des Auszuführenden den Mechanismus, also die Effizienz der Organisation, nur stören würde. Der zweite Teil des Satzes scheint weniger klar zu sein, tröstet er doch den Offizier damit, dass er ja auch noch als Gelehrter die Freiheit habe, zwar nicht den Befehlen, die er für strategisch falsch hält, sich zu widersetzen, aber doch, immerhin, „Anmerkungen“ zu dem, was er für falsch hält, einem Publikum gegenüber zu machen. Wie sollte ein Offizier aber auch Gelehrter sein können? Man ist versucht zu meinen, er sei Offizier geworden, weil er gerade kein Gelehrter ist. Doch meint Kant Folgendes. Als Gelehrter sich äußern bedeutet, in der Qualität eines Gelehrten sich äußern, d.h. in seinen Äußerungen den Merkmalen zu genügen, die einen Gelehrten auszeichnen. In diesem Kontext versteht Kant die Qualität des Gelehrten nicht so, dass er über ein umfangreiches und intern durchdachtes Wissen verfügen müsste, sondern, viel schlichter, dass er die Gedanken und Überlegungen, die er hat, in einem Buch niederschreibt und dieses der Öffentlichkeit vorlegt. Wenn es unter diesem Aspekt gleichgültig ist, ob das Buch gute oder schlechte Gedanken enthält, von einem Wissenschaftler also oder von einem Pinsel stammt, dann wäre der Offizier in der Tat nicht schon vom Stand des Gelehrten ausgeschlossen. Der entscheidende Punkt ist für Kant, dass der Vorzug eines veröffentlichten Buches darin besteht, sich uneingeschränkt an Leser zu wenden, also an ein Publikum, das prinzipiell alle, sofern sie lesen können und auch lesen wollen, umfasst. Durch eine Schrift wird eine umfassende Leserschaft, eine Leserwelt, angesprochen und nicht nur eine partikulare Gemeinschaft Gleichgesinnter. Bücher sind aufgrund ihrer Schriftform zudem der Augenblicklichkeit des Hörens bloß verbaler Mitteilungen zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum entzogen; und sie sind, einmal gedruckt, der subjektiven Ansicht ihres Autors entzogen, der gegenüber sie sich gleichsam objektiviert haben. Weil die in Schriftform vorgetragene Ansicht der kritischen Überprüfung durch jedermann zugänglich ist, kann der in Schriften sich niederschlagende Vernunftgebrauch mit gutem Grund öffentlich genannt werden.
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Der Gebrauch, den jemand als Amtsträger von seiner Vernunft macht, ist hingegen privat, sofern die in ihm artikulierte Ansicht, sei es über die Falschheit, sei es über die Richtigkeit einer Anordnung zwar geäußert, nicht aber niedergeschrieben wird und sich darin nicht an die Öffentlichkeit wendet, sondern immer nur an ein beschränktes Publikum, wie groß dieses auch sein mag, an eine, wie Kant in Bezug auf den Geistlichen in dessen Gemeinde sagt, häusliche Versammlung, die im Falle des Offiziers die Truppe wäre, die auf ihn hört. Wendet sich die verbale Äußerung nicht an eine Leserschaft, sondern bloß an ein Auditorium, dann ist sie natürlich auch anfällig für alle Gefahren einer in geschickter Rhetorik gekleideten Demagogie, die die Hörer nicht überzeugen, sondern für sich einnehmen, also überreden will. Diesen Punkt hebt Kant freilich nicht eigens hervor, weil ihm ein anderer Gesichtspunkt wichtiger ist, dass nämlich dem Privatgebrauch der Vernunft jene Freiheit, die er für deren öffentlichen Gebrauch reklamiert, aus sachlichen Gründen nicht zugestanden werden darf. Reflektiert ein Amtsträger im Gebrauch seiner Vernunft als Amtsträger über sein Amt, dann darf er in dieser Funktion keinen Spielraum freien Auslegens der Regeln haben, welche die Institution, deren Angestellter er ist, für ihn aufgestellt hat. Der Geistliche muss als „Geschäftsträger der Kirche“ seine Predigt als etwas verstehen, „in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren“, ist er doch angestellt, es „nach Vorschrift und im Namen eines andern vorzutragen“. Wenn er das vor seinem Gewissen nicht kann, bleibt ihm, um die eigene Freiheit zu bewahren, nur, sein Amt niederzulegen, denn im Amt, sagt Kant ohne Bedenken, ist er „nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet“ (AA VIII 38). Von dieser Einschränkung sagt Kant, dass sie geschehen dürfe, „ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern“ (AA VIII 37). Denn sie zu gestatten heißt nicht, dass der Priester als Amtsträger einer bestimmten und insofern partikularen Kirche unmündig in dem Sinne sein müsste, dass er einem anderen blind gehorcht und nicht selbst auch nachdenklich sein dürfte. Er wird durchaus eigene Überlegungen haben können, sogar solche, die nicht im Einklang mit den Satzungen der Kirche sind, und gleichwohl sein Amt im Einklang mit den Satzungen pflichtgetreu ausüben können, weil, so ist Kants Begründung, „es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin [in den Satzungen, W.B.] Wahrheit verborgen läge“ (AA VIII 38). Das ist nun eine bestimmte Interpretation kirchlicher Satzungen, von der Kant unterstellt, dass der Kirchendiener dann frei bliebe, wenn er genau sie sich zueigen macht. In Kants Verständnis sind die Satzungen die Einkleidung eines wahren Kerns, die in dieser Form für das Gemeindeleben einen praktischen Nutzen haben mag, auf den hin der Priester in seiner Amtsführung verpflichtet ist, die aber
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nicht als eine absolute Wahrheit genommen werden darf, an der es nichts zu verändern gäbe, so dass der Priester frei ist, Vorschläge zur Veränderung zu machen. Dass Satzungen als für immer festgeschrieben und insofern einer Reform entzogen angesehen werden, das macht es gerade, dass sie zu „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ werden. Sie zu verändern bedeutet allerdings nicht, sie durch irgendwelche andere zu ersetzen, sondern sicherzustellen, dass sie nicht durch Festschreibung ihren wahren Kern verdecken. Insofern muss eine Kritik an allen Versuchen der Festschreibung erlaubt sein, die deshalb auch dem Kirchenangestellten zuzubilligen ist, aber allein so, dass sie öffentlich geschieht, d.h. nicht vor der Gemeinde, sondern in Form einer Schrift, die jedermann zugänglich ist und die der Kirchenangestellte dann als Gelehrter verfasst, worin er auch diejenigen erreichen könnte, die zu dieser Gemeinde nicht gehören.
III. Wie ist nun dieses Programm zu beurteilen, dass wahre Aufklärung in einer Beförderung des Selbstdenkens der Menschen besteht und zwar nicht nur einiger, sondern aller und dass dies durch Bücher zu geschehen habe, die einen Raum eröffnen, der allen zugänglich ist? Wer sind denn die Adressaten von Büchern? Potenziell sind es alle Menschen, das ist durch die Öffentlichkeit garantiert, faktisch aber keineswegs alle, sondern allenfalls diejenigen, die ein Interesse an dem Inhalt der Bücher haben. Für Kant bringen in der Tat nicht irgendwelche Bücher eine Aufklärung in Gang, sondern nur solche bestimmten Inhalts. Darunter versteht er aber nicht populäre Bücher, die den Umfang der empirischen Leserschaft möglichst groß sein lassen, sondern Bücher, deren Inhalt die Menschen in deren elementaren Status des Menschseins angeht und deshalb einem jeden nicht gleichgültig sein kann. In ihnen ist der Mensch nicht als Privatperson angesprochen und damit auch nicht in seiner Rolle als Funktionär einer Organisation, sondern als Mensch. Unter diesem Aspekt wird das Buch eines Geistlichen nicht die Praxis von Seelsorge und Gemeindekommunikation unter gegebenen Kirchensatzungen und deren Vorgaben zu seinem Gegenstand haben, mit dem Ziel darzulegen, wie sich diese Praxis am besten gestalten lasse. Es wird vielmehr die Satzungen selbst zum Gegenstand machen und erörtern, unter welchen Bedingungen er sie auch von sich aus vertreten kann. In einer solchen Erörterung wird er nicht auf sich als Funktionär in der Kirche, sondern auf sich als Mensch reflektieren. Kant deutet in der gerade erwähnten Passage an, was er dabei zu erwägen hat, wieweit nämlich die Satzungen nicht nur Vorschriften sind, die den Menschen von außen lei-
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ten, sondern Vorschriften, die auch Raum lassen für eine „innere Religion“, der sie nicht widersprechen dürfen und die Kant in seiner Religionsschrift (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft) dann als die wahre Religion bezeichnen wird. Sie widerspricht nicht dem, was den Menschen in seinem Menschsein ausmacht, seiner Autonomie, und wird „alle wohldenkenden Menschen zu ihren Dienern (doch ohne Beamte zu sein) haben“ (AA VI 152f.). Und das Buch eines Offiziers, wenn er denn eins schreibt, das die Kriegskunst zum Gegenstand hat, d.h. die Frage wie ein Krieg zu führen ist, damit er erfolgreich ist, wird lediglich Experten interessieren, nicht aber das Volk, dem das ganz gleichgültig ist, weil es ohnehin nichts davon versteht, dies aber auch nicht zu verstehen braucht. Nicht wie ein Krieg erfolgreich geführt werden kann, wenn er denn einmal geführt wird, ist etwas, das den Menschen als Menschen berührt, schon eher die Frage, ob er denn überhaupt statthaben soll und wie die mit ihm verbundene Gewalt mit der von niemanden anzutastenden Würde verträglich sein kann, die dem Menschen als Menschen zukommt. Beide Fragen zu beantworten, die nach dem Status von Religion wie vom Krieg, setzt kein Expertenwissen voraus, das immer nur ein Wissen bloß des Verstandes ist, der die Frage nach dem, was der Mensch ist, und damit auch nach dem, was ihm von außen zugemutet werden kann, nicht zu beantworten vermag. Schriften, die eine Aufklärung in Gang bringen, sind Schriften, die auf den Status des Menschen angesichts des Tatbestandes reflektieren, dass der Mensch faktisch in Unmündigkeit gehalten wird, weil er in Herrschaftsformen eingebunden ist, die ihn nach dem Willen der Herrschenden in seiner Selbständigkeit unterdrücken. Insofern sind es Schriften, die sich gegen Herrscher richten, die an dieser Form von Herrschaft festhalten wollen. Eine Publikationsfreiheit für Schriften „in Ansehung der Künste und Wissenschaften“ zu fordern, hält Kant deshalb auch nicht für erforderlich, weil in diesen Feldern „unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Unterthanen zu spielen“ (AA VIII 41). Religion, aber auch Krieg sind hingegen Bereiche, die der Herrscher sich für sein Interesse an Vormundschaft über seine Untertanen nutzbar zu machen sucht; sie zu erörtern, ist also von unmittelbarer politischer Bedeutung. So sind es generell politische Schriften, die Kant als Motor der Aufklärung ansieht, „Schriften, wodurch […] Unterthanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen“. Verfasst von Untertanen, sind es Schriften, die in der Reflexion auf die Struktur des Staates Überlegungen zur Rolle anstellen, die der Untertan in ihm einnimmt. Nun ist klar, dass Untertanen Schriften dieser Art in der Regel gar nicht verfassen. Hingegen hat es, neben anderen, der Untertan Kant getan, der, gestützt auf philosophische
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Überlegungen, im Unterschied zum Volk, auch weiß, wann Untertanen erst mit sich im Reinen sein können, dann nämlich, wenn sie nur solche Anordnungen der Obrigkeit zu befolgen haben, denen sie zwar nicht als interessegeleitete Privatpersonen faktisch zustimmen, denen sie aber als Mensch haben zustimmen können. Genau diese Einsicht formuliert Kant in seiner Aufklärungsschrift, womit er auf eine Theorie anspielt, die er anderswo (in seiner Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II. Abschn.) näher begründen wird: „Der Probirstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte“ (AA VIII 39). Diese Einsicht folgt aus einer philosophischen Theorie, die in einem bestimmten Verständnis der Freiheit des Menschen gründet, die in elementaren Fragen der Lebensführung Selbstbestimmung einschließt und darin weit mehr umfasst als die wohl nur wenige Menschen befriedigende Freiheit, unzensiert publizieren zu dürfen. Weil Freiheit der Selbstbestimmung etwas ist, das zum Menschsein selbst gehört, lässt sich in dieser Perspektive sagen, dass deren Unterdrückung durch die kritikresistente Festschreibung einmal erlassener staatlicher oder kirchlicher Anordnungen „ein Verbrechen wider die menschliche Natur“ (AA VIII 39) wäre. Von dieser philosophischen Theorie war Kant überzeugt, dass sie die Natur des Menschen angemessen beschreibt, doch konnte er nicht davon überzeugt sein, dass Menschen in ihrem Verhalten und Verlangen diese Theorie auch übernehmen und die ihnen zuzubilligende Freiheit nicht ganz anders verstehen, nämlich als eine im bloß Privaten verankerte Erlaubnis der Willkürdurchsetzung nach dem Gesichtspunkt dessen, was der Einzelne für das Beste hält. Das wusste Kant sehr wohl und damit auch, dass Menschen nicht so mutlos sind, sich selbst nichts zuzutrauen. Genau deshalb hat er die die subjektive Willkür zügelnde Gesetzgebungsautorität der überindividuellen Instanz Staat als unerlässlich anerkannt, trotz aller Schwächen, die ihr innewohnen und deren größte die ist, den zu Recht geforderten Gesetzesgehorsam der Untertanen nicht an eine mögliche Gesetzeszustimmung zu knüpfen. Hat der Mensch nur allzu oft ein falsches Verständnis von Freiheit und hat der Philosoph kraft seiner Theorie das richtige, und besteht Aufklärung darin, der richtig verstandenen Freiheit den Weg zu bahnen, dann müsste die Philosophie der Motor im Prozess der Aufklärung sein. Aber wie? Sie fordert Publikationsfreiheit und verknüpft diese als für den Staat harmlos ausgegebene Form der Freiheit zugleich mit einer Freiheit, die allenfalls für einen optimalen Staat harmlos ist, weil er auf ihr beruht, keineswegs aber für den Staat, gegen den sie erst einzufordern ist. In dieser engen Verknüpfung versteht Kant die Publikationsfreiheit offenbar nicht
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als ein geeignete Medium, mit dem sich etwas von der Freiheit der Selbstbestimmung Verschiedenes erreichen ließe, sondern so, dass sie selbst schon diese Freiheit enthält, zumindest aber als deren unabdingbare Voraussetzung anzusehen ist. Dafür spricht, dass Selbstbestimmung nicht bedeutet, befreit von institutionellen Anordnungen einfach den eigenen Ansichten zu folgen, sondern im Rahmen von Institutionen ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Bedingung hierfür ist aber, dass die Menschen ihre Rolle innerhalb dieser Institutionen begreifen oder, wie Kant es formuliert hat, dass sie als Untertanen ihre Einsichten ins Reine bringen. Die Möglichkeit zu publizieren dient nun genau dem, diese Einsichten zu reinigen, d.h. aber zu verbessern. Eine Möglichkeit ist dies allerdings nur, wenn Menschen nicht einfach am Gängelband von anderen, die sie führen, dahinleben, sondern sich auch Gedanken machen über sich und ihre Rolle in einem sie übergreifenden Gefüge, anders formuliert, wenn sie ihren Verstand auch tatsächlich gebrauchen, der aber deshalb nicht auch klar durchdachte Gedanken hervorbringt. Gedanken, die ein jeder hat, sofern er nur Mensch ist, mögen sie klar oder verworren sein, wird der Mensch, wenn ihm deren Äußerung untersagt ist, in der Sphäre belassen, der sie entspringen, der Privatheit eigenen Überlegens. Aus der Verborgenheit des Geheimen entlässt er sie erst, wenn er sie auch äußern kann. Das kann auf dem Marktplatz, in Versammlungen oder im Gemeindesaal geschehen, aber nur wenn sie in Form einer jederzeit überprüfbaren Schrift geäußert werden, kann aus ihnen mehr werden, als sie faktisch sind. Was der Einzelne aus seiner Sicht zu den Anordnungen des Staates und zu der Rolle, die er dabei einnimmt, äußert, sind, wie Kant sagt, in der Tat nur Anmerkungen. Es sind bloße Ansichten, die noch nicht zur Klarheit gelangt sind und die gerade deshalb des Gedankenaustausches mit anderen bedürfen. Gibt schon das einfache Äußern seiner Ansichten dem Einzelnen die Chance, sie revidieren und darin auch verbessern zu können, so schafft doch erst deren Publikation im Raum der Öffentlichkeit das Klima einer freimütigen Diskussion, die nicht nur vorübergehend ist, sondern auch andauert und an der sich jeder unabhängig von seiner Präsenz beim Hören, sofern er will, beteiligen kann. In dieser langfristig gewährten Beteiligung wird der Einzelne eine Aktivität des eigenen Denkens erfahren, die ihm nicht erst von anderen gewährt wird und die er deshalb, weil er sie selbst erfährt, sich nicht wird nehmen lassen. An ihr festzuhalten bedeutet, sich von einer Vormundschaft durch andere zu befreien, mit der Folge, dass sich der Mensch kraft seines in Gang gehaltenen Denkens auch aus der vormundhaften Obrigkeit von Kirche und Staat wird befreien können. So könnte eine uneingeschränkte Publikationsfreiheit, die eine Aktivität derer, die Bücher lesen, wenn nicht bewirkt, so doch ermöglicht, es zugleich möglich ma-
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chen, dass aus passiven Untertanen aktive Staatsbürger werden, die am Verfahren der staatlichen Gesetzgebung partizipieren, die sie dann als ihre Gesetzgebung ansehen können, der sie sich in ihren privaten Präferenzen frei unterwerfen. Die Einsicht, dass zwischen Publikationsfreiheit und selbstbestimmter politischer Freiheit ein enger Zusammenhang besteht, bringt Kant dazu, von der Obrigkeit das Zugeständnis uneingeschränkter Publikationsfreiheit zu fordern.4 Die Freiheit, seine Meinungen und Ansichten öffentlich äußern zu dürfen, gilt natürlich nicht nur für Philosophen, sondern für einen jeden. Doch wird nicht jeder davon auch tatsächlich Gebrauch machen und Bücher schreiben; allenfalls als Leser wird er von Geschriebenem profitieren können. Bücher schreiben in der Regel die Gelehrten im eigentlichen Sinne, und Bücher, die den Menschen als Menschen zum Gegenstand haben und in Bezug darauf eine öffentliche Diskussion in Gang bringen, diejenigen Bücher also, die Kant für den Gang der Aufklärung favorisiert, schreiben Philosophen. Wendet sich ein philosophisches Buch, wie jedes andere Buch auch, der Möglichkeit nach an eine universelle Leserschaft, so setzt es den Prozess der Aufklärung doch erst in Gang, wenn es eine Leserschaft auch tatsächlich erreicht. Wenn Kant der Obrigkeit suggeriert, veröffentlichte Bücher seien nicht weiter gefährlich für sie, dass sie sich also vor deren unzensierten Publikationserlaubnis nicht zu fürchten bräuchten, dann hat er vielleicht auch im Auge, dass der damit dem Selbstverständnis der Obrigkeit entgegenkommt, die einem Philosophen, der bloß publiziert, kaum zutraut, einen Prozess in Gang zu bringen, der eine Vielzahl von Menschen ergreift und deshalb für sie, die sich als Vormund der vielen versteht, gefährlich werden könnte. Doch unabhängig davon, ob diese Einschätzung richtig ist, zeigt sich hier ein Problem, das Kants Verständnis von Aufklärung unmittelbar tangiert. Wie kann der Autor eines Buches, allemal ein philosophischer Autor, der nicht als deklamierender Volkstribun auftritt, sondern eben nur Bücher schreibt, erreichen, dass es überhaupt Leser gibt, die aus dem Publizierten Gewinn für sich selbst ziehen? Was durch ein Buch in Gang kommen soll, ein über seine Lektüre und Diskussion stattfindender Prozess zunehmender Selbstverständigung der Untertanen, kann nicht von dem Verfasser des Buches gesteuert werden. Er kann auch gar nicht der Anführer dieses Prozesses sein wollen, denn eine Belehrung des Volkes durch einen anderen ist nicht eine wirkliche Befreiung aus dessen Unmündigkeit. Der Philosoph hat sich hier zurückzuhalten und kann nur hoffen, wenn auch vielleicht mit Berechtigung, dass ein dahingehender
_____________ 4 Vgl. auch Hinske 1986.
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Prozess in Gang kommt, dem er dann aber nur, wenn auch mit Genugtuung, zuschauen kann.
IV. Doch gibt es in Kants Augen eine andere Einflussnahme der Philosophie auf den Prozess der Aufklärung, auf die ich abschließend eingehen möchte. Kant hat gesehen, dass es mit der von der Obrigkeit zuzugestehenden Freiheit des Publizierens nicht getan ist, solange der in ihr sich manifestierende Geist nicht auch auf die Obrigkeit selbst ausstrahlt. Sie muss Publikationen nicht nur als unschädlich für sich selbst zulassen, sofern sie eben nur Erwägungen enthalten und nicht auch Taten sind, sondern auch den Geist, der in Publikationen sich manifestiert, als ihr selbst förderlich aufgreifen. Die Regierung selbst muss deshalb aufgeklärt werden, und hier hat die Philosophie eine genuine Aufgabe, auch hier nicht durch Belehrung, aber durch ihr Wirken in einer staatlichen Organisation, nämlich der Universität.5 In seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“, 15 Jahre nach der Aufklärungsschrift, reflektiert Kant auf den Status der Universität und die Rolle der Philosophie im Kanon der Fakultäten. Dort schreibt er, dass ein Fortschritt zum Besseren, als der die Befreiung aus der Unmündigkeit ja zu verstehen ist, „nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab“ (AA VII 92) zu erwarten sei. An der Forderung der Publizität in Form von Schriften als dem Motor der Aufklärung hält er dabei unverändert fest, jetzt aber in ausdrücklichem Bezug auf diejenigen, die durch Satzungen und Formeln das Joch der Unmündigkeit gelegt haben. Philosophen sind „Volksaufklärer“, schreibt Kant in der Erläuterung des Streits der philosophischen Fakultät mit der juristischen, wenn sie in ihren Schriften von den Pflichten und Rechten eines jeden Menschen im Staat handeln. Doch wenden sie sich in ihrem Medium nicht direkt an das Volk, weil dieses, so Kants einleuchtende Begründung, „von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt“ (AA VII 89). Sie wenden sich vielmehr an den Staat und zwar, wie Kant schreibt, „ehrerbietig“, womit er aber nur meint, nicht polemisch angreifend, wohl aber kritisch erwägend.6 Adressat ist natürlich nicht der Herrscher, der ja von philosophischen Schriften auch nichts versteht; vielmehr sind es diejenigen Funk-
_____________ 5 Vgl. hierzu die gründliche Untersuchung von Reinhard Brandt (Brandt 2003) zu Kants Streit der Fakultäten, die ich habe dankbar auswerten können, der ich aber einen anderen Akzent hinzufügen möchte. 6 Vgl. auch Gerhardt 1995,131ff.
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tionsträger des Staates, über die der Staat Einfluss auf das Volk zu nehmen sucht. Das sind die Gelehrten im eigentlichen Sinne, die an der Universität in den drei sogenannten oberen Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin tätig sind. Angestellt vom Staat sind sie für die Ausbildung derer verantwortlich, die der Staat dann mit einem Amt bekleidet und zwar, Kant sagt es rücksichtslos, „als Instrumente der Regierung […] zu ihrem eigenen Zweck“ (AA VII 18), wobei er nicht versäumt in Klammern hinzuzufügen: „nicht eben zum Besten der Wissenschaften“. Wenn auch wissenschaftlich ausgebildet sind die Ausgebildeten später in ihrer Funktion doch nur „Geschäftsleute oder Werkkundige der Gelehrsamkeit“, die als Werkzeuge der Regierung in Gestalt von Geistlichen, Justizbeamten und Ärzten einen gesetzlichen Einfluss auf das Publikum nicht nur haben, sondern sich auch nehmen. Sie sind autorisiert vom Staat (deshalb gesetzlich) und sie sind anerkannt vom Volk (deshalb Einfluss). Denn das Volk, Kant sagt es illusionslos, setzt sein Glück nicht in das, was die Philosophie lehrt, die Freiheit vernunftgeleiteter Selbstbestimmung, sondern in die Befriedigung der natürlichen Zwecke der Menschen, die um Seligkeit nach dem Tode, Sicherung äußerer Güter und physischen Lebensgenuss kreisen und für die sich die Menschen Rat von Priestern, Juristen und Ärzten suchen. Wie diese Zwecke zu realisieren sind, dafür holt sich das Volk freilich nicht Rat von den Gelehrten der drei Fakultäten, deren Weisheit ihm zu hoch ist und deren Bücher es nicht lesen wird, sondern von den Geschäftsmännern derselben, die, der bloßen Theorie enthoben, als Praktiker nur das Machwerk verstehen (savoir faire), denen das Volk sich aber gerne anvertraut, weil es sie auch in diesem Felde für klug genug hält, da sie ja studiert haben. Genau das hat Kant am Anfang seiner Aufklärungsschrift als Unmündigkeit beschrieben: habe ich „einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“. Dagegen ist aber nicht an den Mut der Einzelnen zu appellieren, sondern für eine bessere Ausbildung derer zu sorgen, denen das Volk sich natürlicherweise anvertraut. In diesem Kontext kommt nun der Philosophie eine wesentliche Rolle zu; sie soll zwar nicht beanspruchen, Priester, Rechtskundige und Ärzte ausbilden zu können, also nicht direkt in das Ausbildungsprogramm der übrigen Fakultäten eingreifen. Aber sie kann eine Rolle innerhalb der Universität mit deren Fakultäten spielen, nämlich der Tendenz des Staates entgegenwirken, den praxisorientierten Fakultäten eine Theorie aufzudrängen, die auf den staatsgenehmen Einfluss abzielt, den die von ihnen auszubildenden Amtsträger später auf das Volk haben werden. Unter einem dahingehenden Druck des Staates wären die Fakultätsgelehrten genötigt, ihre Wissenschaft nicht als Wissenschaft, die reiner Gelehrteneinsicht ent-
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springt, zu verstehen, sondern als ein Werkzeug im Dienst einer effizienten Verwertbarkeit, von der die Regierung im besten Falle glaubt, dass sie für das Volk von Nutzen ist, aus der sie im schlechteren Falle aber nur Nutzen für sich selbst, die Oberen, ziehen will. Kant glaubt, dass die Gelehrten der drei Fakultäten, besonders die Juristen, anfällig für ein solches staatliches Ansinnen sind, also korrumpierbar, nicht weil sie von schlechtem Charakter wären, sondern weil sie nicht kritisch genug sind. Ihr unkritischer Geist zeigt sich darin, dass sie ihre Lehre im wesentlichen auf Bücher gründen, die willkürlich gesetzte Statute oder Satzungen enthalten, mit denen ein bestimmter Zweck verfolgt wird, den die Universitätslehrer in ihrem Unterricht dann einfach an ihre Studenten weitergeben. Der Theologe schöpft seine Lehre aus der Bibel, der Rechtslehrer aus dem Landrecht und der Arzneigelehrte aus der Medizinalordnung, nicht aber aus einer Vernunft, die das, was in der Bibel steht, was das Landrecht formuliert und die Medizinalordnung vorschreibt, auch auf seinen Wahrheitsgehalt hin beurteilt. Verfahren die Gelehrten so, dann bedienen sie sich in ihrer Lehre nur des Verstandes, zwar nicht räsonierend wie der Privatmann, der auf den eigenen Vorteil bedacht ist, aber doch lediglich beschreibend, wie es der Naturwissenschaftler tut, der auf ihm vorgegebene empirische Daten, wie sie auf die ihnen vorgegebenen Bücher, angewiesen ist. Dass die Fakultätsgelehrten ihre Lehre auf Büchern gründen, ist gut und gerade im Hinblick auf die Studenten unerlässlich, denn wenn das, was sie in praktischer Hinsicht lehrend vermitteln, eine Norm enthält, an der es sich auszurichten gilt, dann muss diese auch einem jeden zugänglich sein, was allein durch ein Buch in seinem öffentlichen Charakter garantiert ist. Aber die Gelehrten, so lautet Kants Vorbehalt, nehmen die Bücher, auf die sie sich stützen, nicht als Ausdruck einer Ansicht, die es vernunftkritisch zu überprüfen gilt. Das ist, so konzediert Kant, in bestimmter Hinsicht auch unvermeidlich, denn nähmen sie das, was sie lehren, als bloße Ansicht, würden sie die Autorität der Regierung, deren Angestellte sie sind, untergraben. Schlecht ist aber, wenn sie eine solche kritische Beurteilung überhaupt nicht zulassen wollten und einer von ihren Fakultäten verschiedenen Fakultät, der philosophischen und namentlich der Philosophie selbst, nicht das Recht zubilligten, sich zu ihren Themen ebenfalls zu äußern, und zwar gerade nicht aus einem fachspezifischen und darin bloß verständigen Blickwinkel, sondern einem, der allein der Vernunft verpflichtet ist. Wird dies zugestanden, dann ergibt sich ein sachlicher Streit zwischen der philosophischen Fakultät und den anderen Fakultäten, der aus der unterschiedlichen Betrachtungsweise der jeweiligen Sache resultiert, und ihm könne die Regierung, so will Kant ihr weismachen, ruhig zusehen, weil er eine rein innerakademische Angelegenheit sei. Kant ist in der Tat
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weit davon entfernt, den doktrinenhörigen und darin staatstreuen Positivismus der anderen Fakultäten durch die Philosophie aufheben zu wollen oder auch nur zu behaupten, die Philosophie müsse das Fundament der positiven Doktrinen sein. Der Streit der Fakultäten wird bleiben, weil er sich angesichts der Spannungen in der Betrachtungsweise nicht durch einen Schlag und ein für allemal beenden lässt. Ist der langwierige Prozess der Wahrheitsfindung im Wechselspiel von vernunftkritischer Beurteilung und empirischer Positivität aber einmal in Gang gekommen, dann ist zu hoffen („es könnte wohl dereinst dahin kommen“, AA VIII 34), dass die die Philosophie auszeichnende Vernunftorientierung in den anderen Fakultäten so an Boden gewinnt, dass diese sich der Beurteilung ihrer Lehren durch die Philosophie nicht werden entziehen können. Was Kant nicht explizit macht, dafür war er zu vorsichtig gegenüber der Regierung, woraufhin seine Universitätsschrift aber gelesen werden kann, ist, dass in diesem innerakademischen Streit, der gar kein Streit mit der Regierung ist, die Regierung Federn lassen muss, weil das Organ, über das sie einen ihr genehmen Einfluss auf das Volk ausübt, durch den bloß internen Streit zu einem Organ wird, das sich einer solchen Einflussnahme entzieht. Selbst im Beharren auf den staatlich sanktionierten Doktrinen kann nämlich in der Anerkennung der allein vernunftorientierten philosophischen Fakultät erreicht werden, dass die Lehrer der praxisorientierten oberen Fakultäten ihren Studenten, die später als Beamte den eigentlichen Einfluss auf das Volk haben, ein kritisches Bewusstsein für das, was sie zu tun haben, vermitteln und darin „die Beamten immer mehr in das Gleis der Wahrheit bringen“ (AA VII 29). Die Universitätslehrer würden so verhindern, dass die Studierten in ihrer Praxis nur dem folgen, was gerade machbar ist, sei es dass sie die Anordnungen der Regierung blind befolgen, sei es dass sie den neigungsbedingten Erwartungen des Volkes entgegenkommen. Die Geschäftsmänner der Gelehrsamkeit könnten dann, nicht selbst Gelehrte, in ihrer Ausbildung aber beeinflusst von kritisch gewordenen Gelehrten und darin „auch über ihre Pflicht besser aufgeklärt“ (AA VII 29), einen Einfluss auf das Volk nehmen, der dem Geist der Aufklärung entspräche, insofern er das Selbstdenken der Menschen im Rahmen ihres konkreten praktischen Tuns fördert. Ein solcher Einfluss ginge nicht direkt von der Philosophie aus, wäre aber durch sie vermittelt, nämlich durch den Einfluss, den sie in der inneruniversitären Diskussion auf die anderen Fakultäten nimmt. Das wäre eine nie zu beendende Aufklärung durch den Gang von oben herab, in welchem die Philosophie an das Oben mit all seinen Beharrungstendenzen gebunden bleibt, weil sie Satzungen und Formeln des Gesetzgebers nicht aufheben will, sondern nur allmählich reformieren kann.
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V. Für eine solche Reform, so hat Kant in seiner kleinen Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? hervorgehoben, bedarf das Medium des Philosophen, die Vernunft, einer gesetzlichen Disziplin, die sie vor „Freigeisterei“ bewahrt, weil sonst die auf gesetzliche Regelungen erpichte Obrigkeit die Freiheit zu denken „gleich anderen Gewerben den Landesverordnungen“ sich unterwerfen könnte. Dort schreibt Kant, dass die Aufklärung „die Maxime, jederzeit selbst zu denken“ sei, und dass Selbstdenken heiße, „den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen“ (AA VII 146). Die Vernunft als eine Instanz der Überprüfung zu gebrauchen, heißt, so erläutert Kant dort weiter, für den Einzelnen, der sie gebraucht, nicht nach seiner Privateinschätzung zu urteilen, sondern sich zu fragen, ob das Beurteilte sich auch „zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs […] machen“ lasse. Diese Form der Verallgemeinerung schließe schon Gesetzlichkeit ein, und die Probe der Verallgemeinerung könne ein jeder mit sich selbst anstellen, weil er sich hierfür „bloß der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ (ebd.) bedienen müsse. Doch wird man der Vernunft selbst wohl kaum eine Tendenz zur Selbsterhaltung zusprechen können, sondern allenfalls, nimmt man den neustoischen Gedanken der Selbsterhaltung auf, dem einzelnen Subjekt, dem, so denkt wohl Kant, dies am besten gelingt, wenn es sich dabei der eigenen Vernunft bedient. Sofern der Einzelne im Hinblick auf staatliche Satzungen und Verordnungen von den Entwürfen seiner eigenen Vernunft aber gerade nicht schon weiß, inwiefern sie, wenn er sich unter sie stellt, ihm auch wirklich dienlich sind, bedürfen sie in seinem eigenen Interesse der Publizität, weil sie nur so auch durch andere erörtert und gegebenenfalls korrigiert werden können und darin ihn selbst voranbringen. Auch in seiner Universitätsschrift setzt Kant deshalb unverändert auf seine Forderung nach freier Publikation, und er hält daran fest, dass auch die innerakademische Diskussion über Bücher zu geschehen habe, nicht aber in Gremiumssitzungen und einem dort stattfindenden Austausch von Gedanken, also nicht in einem Medium, in dem die Gelehrten nur unter sich sind. Kant hat der Macht des gedruckten Wortes vertraut und darin auf Leser gehofft, die die Mühe des Durchdenkens von Geschriebenem auf sich nehmen. Dies ist etwas, das man von den Gelehrten erwarten sollte, zu dem aber auch die Studenten, über das Hören in Vorlesungen hinaus, zu bringen sind, letztlich auch jedermann, wie schwer das auch sein mag. Auf jeden Fall muss man diese Mühe den Lesern selbst lassen, ohne versuchen zu wollen, sie zu etwas zu überreden. Die Form des Buches ist dafür ein Garant, mag auch die Gefahr, die allen Büchern inne-
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wohnt, bestehen, dass Leser dem Buch nur Partikulares oder allzu sehr in die Augen Fallendes entnehmen, worin das Ganze seiner Überlegungen verfehlt wird und falsche, weil einseitige Auslegungen die Folge sind. Mehr als einen indirekten Einfluss hat Kant, der weltbürgerliche Philosoph, der Philosophie für den Gang der Aufklärung nicht zusprechen wollen. Es ist ein Einfluss, den die Philosophie ausübt, indem sie erörtert, was einen jeden Menschen angeht, und das ist die Praxis des Menschen in der ganzen Fülle der Beziehungen, innerhalb derer sie sich vollzieht. Seine Schriften zur praktischen Philosophie, mögen sie Fragen der Grundlegung oder der Anwendung betreffen, hat der Universitätsphilosoph Kant mit aller Pedanterie des Schulgerechten verfasst, und er hat ihnen mehr zugetraut als dem zu-Rate-gezogen-Werden in öffentlichen Diskussionszirkeln partikularen Zuschnitts. Unter dem vielen Richtigen, das Kant gelehrt hat, scheint mir auch das kein unverächtlicher Gedanke zu sein. Um ihn umzusetzen, muss die Philosophie allerdings etwas leisten, das schwer genug ist und wohl kaum allein durch Bücher in Gang gebracht werden kann: dass ihre Rolle als eine unabdingbare kritische Instanz innerhalb der Universität überhaupt anerkannt wird und zwar gerade auch dann, wenn, was ihre mögliche Wirkung angeht, ihre Vertreter in Bescheidenheit auftreten und nicht vorgeben, mehr zu können als vernünftige Bücher zu verfassen.
Literatur Brandt, Reinhard (2003): Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants ‚Streit der Fakultäten‘, Berlin. Descartes, René (1897-1910): Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam, Paul Tannery, Paris. Gerhardt, Volker (1995): Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘, Darmstadt. Hinske, Norbert (1986): „Pluralismus und Publikationsfreiheit im Denken Kants“, in: J. Schwardtländer / D. Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, Kehl, 31-49. La Rocca, Claudio (2004): „Was Aufklärung sein wird. Zur Diskussion um die Aktualität eines Kantischen Konzepts“, in H. Nagl-Docekal / R. Langthaler (Hrsg.), Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin, 123-138. Scholz, Oliver (2006): „Aufklärung: Von der Erkenntnistheorie zur Politik“, in: Uwe Meixner / Albert Newen (Hrsg.), Philosophiegeschichte und logische Analyse, Paderborn, 156-171.
Kants Aufklärungsprogramm: Rekonstruktion und Verteidigung Oliver R. Scholz Für Nadja R.
1. Aufklärung: Programm, Bewegung, Epoche Bevor ich mich der Rekonstruktion und Verteidigung von Kants Aufklärungsprogramm zuwende, ist eine begriffliche Klärung vonnöten. Der Terminus „Aufklärung“ ist systematisch mehrdeutig. Dies ist kein Mangel1; man sollte aber darauf achten, wenn einem daran gelegen ist, Begriffsverwirrungen zu vermeiden. „Aufklärung“ bedeutet primär (1.) ein Programm. Ohne die regionalen und nationalen Unterschiede herunterzuspielen, darf man den Kern dieses Programms folgendermaßen fassen: Der Mensch soll sich mittels des richtigen Gebrauchs seines Vernunftvermögens selbst befreien und kognitiv, vor allem aber moralisch vervollkommnen. Als Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Programms werden die allgemeine Menschenvernunft als Naturanlage und die Gewährung von Grundfreiheiten (wie Denk-, Rede- und Publikationsfreiheit) als äußere Bedingung betrachtet. Dies ist also der primäre Sinn. Abgeleitet können dann auch (2.) eine Bewegung, die sich bemüht, dieses Programm zu verwirklichen, und (3.) eine Epoche, die durch es geprägt ist, „Aufklärung“ heißen.2 Der Hinweis auf diese systematische Mehrdeutigkeit und die sachliche Priorität des Programmbegriffs ist keineswegs eine müßige Haarspalterei, sondern zielt auf Unterschiede von allergrößter Bedeutung – nicht zuletzt, wenn es um die kritische Bewertung der Aufklärung geht. Es macht of-
_____________ 1 Wie wir seit Aristoteles wissen, sind viele Begriffe – nicht zuletzt auch Grundbegriffe der Philosophie – systematisch mehrdeutig. 2 Eine weitere systematische Mehrdeutigkeit ist noch zu erwähnen: Wie andere Ausdrücke, die auf „-ung“ enden, dient „Aufklärung“ sowohl zur Bezeichnung von Handlungen und Prozessen als auch von deren Resultaten bzw. Produkten.
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fenbar einen fundamentalen Unterschied, ob das Programm, die Bewegung oder die Epoche (positiv oder negativ) bewertet werden soll.
2. Kants Aufklärungsprogramm Wenden wir uns also Kants Aufklärungsprogramm zu. Ohne die besonderen historischen Anlässe und Kontexte zu verkennen3, konzentriere ich mich auf die systematische Kohärenz und Rechtfertigung des Programms: Wie hängen die Ideen der Aufklärung Kant zufolge miteinander zusammen? Wie gut sind ihre Ziele und Ideale begründet? Erst nach einer Beantwortung solcher Fragen ist eine Bewertung des Aufklärungsprogramms möglich. Unter den tragenden Ideen der Aufklärung kann man mit Norbert Hinske4 zwischen Basis-, Programm-5 und Kampfideen sowie abgeleiteten Ideen unterscheiden. Viele verbinden mit der Aufklärung an erster Stelle das, wogegen sie gekämpft hat: Vorurteile, Aberglauben, Schwärmerei, Fanatismus und anderes mehr. Neben diesen Kampfideen sollte man freilich nicht vergessen, wofür sie positiv eintrat: Selbstdenken, Mündigkeit, Selbstvervollkommnung u.a. Im Hintergrund stehen Basisideen wie die Idee der Bestimmung des Menschen und die der allgemeinen Menschenvernunft. Schließlich gibt es eine ganze Reihe wichtiger Ideen, die aus den genannten drei Gruppen abgeleitet werden können: Publikationsfreiheit, Toleranz, Kosmopolitismus etc.
_____________ 3 Gerade in dem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ verbinden sich allgemeine Thesen zum Programm der Aufklärung mit Stellungnahmen zu speziellen zeitgenössischen Debatten. Wie Norbert Hinske und Eberhard Günter Schulz nachgewiesen haben, nimmt Kant etwa in dem umfangreichen, die Aufklärung in „Religionssachen“ betreffenden Teil seines Aufsatzes (AA VIII 38ff.) zu einer Diskussion Stellung, die sich an Moses Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) entzündet hatte. (Vgl. Hinske 1973, XLVI-LVII und 519-589; Schulz 1974, auch in ders. 2005, 1-24.) 4 Vgl. Hinske 1985 und 1990. 5 Unter „Programmideen“ versteht Hinske die Ideen, in denen die „positiven Zielsetzungen“ der Aufklärung artikuliert werden (Hinske 1990, 412). Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn ich von dem „Programm der Aufklärung“ spreche, verwende ich „Programm“ in einem umfassenderen Sinne, der etwa auch die negativen Zielsetzungen (Bekämpfung von Vorurteilen, Aberglauben, Schwärmerei, Fanatismus etc.) einschließt. Das Kompositum „Programmidee“ verwende ich dagegen stets in Hinskes Sinne. (Ich danke Hans Friedrich Fulda für Hinweise, die mich zu dieser Anmerkung veranlasst haben.)
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Kant hat sich zu allen Ideen der Aufklärung ausführlich geäußert. Dies geschieht nicht nur in den Vorlesungen6 und in den Beiträgen zur Berlinischen Monatsschrift7 bzw. den Berliner Blättern, sondern auch in den kritischen Hauptwerken8. Der Königsberger Philosoph hat wesentlich zur Klärung, Präzisierung und Systematisierung der leitenden Aufklärungsideen beigetragen. Man kann sagen: Er hat das Aufklärungsprogramm auf Prinzipien gebracht, genauer: Er hat das Programm der Aufklärung als ein System von Maximen dargestellt. In allen Fällen gelingt ihm eine genauere Herausarbeitung der jeweiligen Idee sowie ihrer Zusammenhänge mit anderen Aufklärungsideen; und diese Präzisierungs- und Systematisierungsleistungen stehen in direktem Zusammenhang mit seinem erkenntniskritischen Unternehmen und dessen Folgen für die praktische Philosophie. Wie ich betonen möchte, ist Kants Arbeit am Aufklärungsprogramm weder eine späte, noch eine periphere Bemühung. Vielmehr gilt: (I) Kants gesamte theoretische und praktische Philosophie dient direkt oder indirekt der Begründung der Ideen der Aufklärung. (II) Leitfaden dieses Unternehmens ist (i) die Idee der Freiheit, insbesondere in ihrem positiven Verständnis als Autonomie, Selbstgesetzgebung. Drei weitere Leitideen begleiten und ergänzen diese zentrale Leitidee: (ii) die Idee der Selbsterkenntnis der Vernunft – samt ihrer Grenzen, (iii) die Idee der Gesetzmäßigkeit – und zwar sowohl des Reichs der Natur als auch des Reichs der Freiheit, (iv) schließlich die Idee des Weltbürgertums, d.h. die Idee, dass wir als autonomiefähige Personen zugleich Weltbürger in einer wesentlich gemeinschaftlichen Welt sind. Im Folgenden werde ich zunächst Kants Explikationen des Aufklärungsbegriffs kommentieren und miteinander vergleichen. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als habe Kant den Terminus „Aufklärung“ an verschiedenen Stellen sehr unterschiedlich erläutert. Horst Stuke gibt dem
_____________ 6 Die ergiebigste Quelle sind die Logik-Vorlesungen; aber auch die Vorlesungen zur Anthropologie und zur Philosophischen Enzyklopädie enthalten wichtige Ausführungen zur Aufklärung. 7 Berühmt wurden die Aufsätze „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) und „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (1786), die aber, wie gesagt, keineswegs die einzigen und auch nicht die ersten Äußerungen Kants zum Thema darstellen. Die Gedankenarbeit, die in Kants Beiträgen für die Berlinische Monatsschrift ihren Niederschlag findet, ist zu ihrem wesentlichen Teil schon seit den 1770er Jahren – wenn nicht noch früher – geleistet worden. 8 In der KrV ist neben den „Vorreden“ vor allem die „Methodenlehre“ zu nennen (dort besonders KrV A 738ff./B 766ff.); in der KU enthält der Exkurs über die „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ im § 40 bedeutsame Ausführungen zu den Ideen der Aufklärung.
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Kant gewidmeten Abschnitt seines Artikels „Aufklärung“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen geradezu die Überschrift: „Die Mehrdeutigkeit des Aufklärungsbegriffs bei Kant“ (Stuke 1972). Obsessiv, ja geradezu wollüstig, suchen er und viele andere bei Kant nach schädlichen Vieldeutigkeiten und Ungereimtheiten. Ich möchte dagegen verdeutlichen, dass Kants Aufklärungskonzeption einen klar identifizierbaren und gut nachvollziehbaren Kern hat. Dabei gehe ich mit Bedacht nicht in chronologischer Reihenfolge vor, sondern setze ein mit einer besonders klaren Charakterisierung des Aufklärungsprogramms, um im Ausgang von ihr andere Äußerungen zu beleuchten. Ich beginne deshalb mit einer Anmerkung aus dem 1786 erschienenen Aufsatz „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ In diesem Beitrag zur Berlinischen Monatsschrift reagiert Kant auf eine Gefährdung der Aufklärungsbewegung durch die neue Gefühlsphilosophie und Genieschwärmerei von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) und anderen.9 Der Aufsatz gipfelt in zwei Appellen; der zweite lautet: Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten ist! Nehmt an, was Euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen nun Facta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein. Widrigenfalls werdet Ihr, dieser Freiheit [= der Freiheit im Denken; ORS] unwürdig, sie auch sicherlich einbüßen und dieses Unglück noch dazu dem übrigen, schuldlosen Theile über den Hals ziehen, der sonst wohl gesinnt gewesen wäre, sich seiner Freiheit gesetzmäßig und dadurch auch zweckmäßig zum Weltbesten zu bedienen! (AA VIII 146f.)
An den Begriff „Probierstein der Wahrheit“ ist die folgende Anmerkung angehängt, die vollständig zitiert zu werden verdient: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauch seines Erkenntnisvermögens ist, und öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauch derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er
_____________ 9 Der unmittelbare Anlass ist bekanntlich der Jacobi-Mendelssohn-Streit, der durch Jacobis Schrift „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn“ (1785) ausgelöst worden war.
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gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objektiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich bloß der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen. Ein Zeitalter aber aufzuklären, ist sehr langwierig; denn es finden sich viele äußere Hindernisse, welche jene Erziehungsart theils verbieten, theils erschweren. (AA VIII 146f.)
Aus dieser Anmerkung lassen sich eine Reihe von Definitionen und Maximen herauspräparieren: (D 1) (M 1) (D 2) (M 2) (D 3)
(M 3)
Die Aufklärung ist die Maxime, jederzeit selbst zu denken. Maxime: Du sollst jederzeit selbst denken! Selbstdenken heißt das oberste Wahrheitskriterium in seiner eigenen Vernunft zu suchen. Maxime: Du sollst das oberste Wahrheitskriterium jederzeit in Deiner eigenen Vernunft suchen! Sich seiner eigenen Vernunft bedienen heißt, sich bei allen zu beurteilenden Gedankeninhalten fragen, ob es tunlich ist, den Grund, aus dem man etwas annimmt (oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt) zu einem allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs zu machen! Maxime: Du sollst Dich bei allen zu beurteilenden Gedankeninhalten fragen, ob es tunlich ist, den Grund, aus dem Du etwas annimmst (oder auch die Regel, die aus dem, was Du annimmst, folgt) zu einem allgemeinen Grundsatz Deines Vernunftgebrauchs zu machen!
Aufklärung besteht also nicht in dem materialen Besitz von Kenntnissen, in irgendwelchen spezifischen Denkinhalten, Lehren oder Kenntnissen, die man etwa in einer Liste zusammenfassen und dann jedermann einpauken könnte; sie ist vielmehr „ein negativer Grundsatz im Gebrauche unseres Erkenntnisvermögens“ (AA VIII 146). Im Kern handelt es sich um einen Verallgemeinerungstest bezüglich beliebiger Maximen der Überzeugungsbildung und -festigung. Nicht zufällig erinnert er an den kategorischen Imperativ als Test moralischer Maximen; der oft gerügte formale Charakter erweist sich in beiden Fällen – dem theoretischen und dem praktischen – als eine Stärke. Ein wichtiger Fingerzeig besteht schließlich in dem Umstand, dass die Anmerkung zu Selbstdenken und Aufklärung dem Begriff „Probierstein der Wahrheit“ angehängt ist. Wie wir im Folgenden sehen werden, hängt Kants Aufklärungsprogramm tatsächlich aufs engste mit seiner Wahrheitstheorie, und zwar genauer: mit seiner Lehre von den Wahrheitskriterien, zusammen.
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Nach diesen Klärungen wollen wir uns zunächst dem locus classicus zuwenden, dem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (AA VIII 35), so lautet die berühmte Eingangsformel von Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Halten wir wiederum fest: (D 4)
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Diese vielzitierte Formel wird erst zu völliger Klarheit gebracht, wenn man in sie die Bestimmungen einsetzt, die Kant im Anschluss daran für die zentralen Begriffe gibt. Unter Unmündigkeit versteht Kant „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (AA VIII 35). Selbstverschuldet ist solche Unmündigkeit, wenn sie nicht auf einem Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes beruht. Insgesamt ergibt sich also: (D 4*) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seinem an einem Mangel der Entschließung und des Mutes (nicht an einem Mangel des Verstandes) liegenden (und insofern selbstverschuldeten) Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Merkwürdig – im Doppelsinn von „bemerkenswert“ und „seltsam“ – bleibt das Geschrei, das von Hamann bis heute wegen des Zusatzes „selbst verschuldet“ erhoben wurde. Wenn man liest, welche Dummheiten und Gemeinheiten Kant in diesem Zusammenhang unterstellt worden sind, beginnt man geradezu an die Wirksamkeit eines eigentümlichen Willens zum Missverstehen zu glauben. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Was besagt dieser erste Satz der „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“? Fragen wir uns als erstes nach seinem Status. Es handelt sich ersichtlich um den Versuch einer Definition. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Textzusammenhang. Der gesamte erste Absatz ist als direkte Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ intendiert. Der erste Satz bringt die Definition des Begriffs „Aufklärung“. Der zweite und dritte Satz liefern Definitionen zentraler in der Aufklärungsdefinition gebrauchter Begriffe: „Unmündigkeit“ und „selbstverschuldet“. Der letzte Satz leitet daraus die Maxime der Aufklärung ab – in einer freien und anspielungsreichen Deutung des HorazWortes „Sapere aude!“ Auf den ersten Absatz, der sich der Definitions-
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aufgabe entledigt hat, folgen Betrachtungen über die Ursachen der Unmündigkeit und über geeignete und zugleich zulässige Gegenmittel. Kehren wir nun zu der Frage zurück, ob in dem Satze „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ etwas Anstößiges behauptet wird. Zunächst kann man fragen, ob in dem so geschmähten Satz überhaupt eine inhaltliche Behauptung getroffen wird, das hängt davon ab, ob mit der Definition das Wesen der Aufklärung mit behauptender Kraft zum Ausdruck gebracht oder lediglich ein Begriff erläutert wird; in Kants Terminologie, ob es sich um ein synthetisches oder um ein analytisches Urteil handelt. Entscheidend ist etwas anderes: dass der Zusatz „selbst verschuldet“ einschränkend zu verstehen ist: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, soweit sie selbst verschuldet ist.“ (Machen wir die Gegenprobe und lassen den Zusatz einmal fort: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit.“ Diese Definition wäre ungeeignet; sie hätte Geschrei verdient. Ganz unsinnig wäre: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus fremdverschuldeter Unmündigkeit.“) Dass das Beiwort „selbst verschuldet“ einschränkend gebraucht ist, zeigt unmissverständlich der dritte Satz: „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn sie nicht auf einem Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes beruht. [Meine Hervorhebung; ORS]“ Kants Kritiker haben den berühmten ersten Satz in einer heroischen Anstrengung des Missverstehens anders gelesen, etwa folgendermaßen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit; und die Unmündigkeit ist in jedem Falle selbst verschuldet.“ oder gar so: „Wer nicht aufgeklärt ist, ist in jedem Falle selbst schuld daran.“ Es sollte klar geworden sein, dass dies den Inhalt von Kants Satz nicht trifft. Freilich äußert Kant auch Vermutungen über die Ursachen der Unmündigkeit und darüber, wer für die Unmündigkeit verantwortlich ist. Dies geschieht, wie gesagt, in den Absätzen, die auf den ersten folgen. Kant trennt natürlich methodisch zwischen Definition und Diagnose: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. (AA VIII 35)
Über diese diagnostische Hypothese mag man streiten. Kausale Hypothesen sind immer schwer zu beweisen. Ganz abwegig scheint Kants Diagnose aber nicht zu sein. Für jede einzelne Person ist es nach Kant schwer, sich aus der zur zweiten Natur gewordenen Unmündigkeit zu befreien. Dass hingegen ein Publikum sich aufkläre, sei nicht nur leichter möglich, sondern „beinahe unausbleiblich“, sofern man diesem Publikum die dazu nötige Freiheit
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lässt. Diese Freiheit ist die, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (AA VIII 36). Die raisonnierende Öffentlichkeit wird damit zum Medium der Aufklärung, wobei die Freiheit zu solchem Raisonnieren die entscheidende rechtliche und politische Voraussetzung der Aufklärung ist. Zu beachten ist dabei, dass das gemeinschaftliche öffentliche Raisonnieren für Kant keineswegs nur aufklärungsstrategische oder didaktische Bedeutung hat; vielmehr kommt der Diskussionsgemeinschaft eine prinzipielle erkenntnistheoretische Bedeutung zu.10 Das geht aus Kants differenzierter Wahrheitstheorie hervor, die wir jetzt kurz betrachten wollen. Kant unterscheidet zunächst zwischen Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterien. Tatsächlich ist es bei vielen Begriffen sinnvoll, zwischen Definitionen des Begriffs und Kriterien für die korrekte Anwendung des Begriffs zu unterscheiden, so auch bei der Wahrheit. Bei der Definition eines Begriffs geht es um die semantische Frage: Was bedeutet der Begriff? Bei dem Kriterium für die korrekte Anwendung des Begriffs geht es um die epistemische Frage: Wie kann ich erkennen, ob das, was der Begriff bezeichnet, vorliegt? Mit der Nominaldefinition von „Wahrheit“ als der „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ (KrV B 82) macht sich Kant die traditionelle Adäquations- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit zu Eigen, wie er sie etwa bei Aristoteles und Thomas von Aquin vorfinden konnte. Auf der Seite der Kriterien ist weiter zu unterscheiden zwischen Wahrheitskriterien der Materie (d.h. dem Inhalt) und Wahrheitskriterien der Form nach. Die formalen Wahrheitskriterien werden durch die allgemeinen Gesetze des Verstandes, allen voran den Satz vom Widerspruch, bereitgestellt (KrV B 83). Wie Kant zu Recht betont, kann es dagegen kein allgemeines materiales Wahrheitskriterium geben: „[…] von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach lässt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen […].“ (KrV B 83) Die Wahrheitskriterien unterscheiden sich naturgemäß nach den Gegenständen und Beschaffenheiten, über die geurteilt wird. Aber wir stehen in diesem Punkt doch nicht mit ganz leeren Händen da. In der „Methodenlehre“ am Ende der ersten Kritik wird deutlich, dass man immerhin eine notwendige Bedingung angeben kann: die Möglichkeit, das Urteil „mitzuteilen und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden“ (KrV B 848f.). Das intersubjektive Moment dieses äußerlichen Wahrheitskriteriums wird in mehreren Schriften aufschlussreich entfaltet. Schon in dem Aufsatz „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ heißt es dazu:
_____________ 10 Dies betonen Hegselmann 1985, IX-X und Hinske 1986.
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[…] wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme […]. (AA VIII 144)
Der § 40 der Kritik der Urteilskraft enthält unter dem Titel „Vom Geschmacke als einer Art des sensus communis“ eine Skizze von Kants Theorie der Intersubjektivität. Der Geschmack als „sensus communis aestheticus“, als ästhetischer Gemeinsinn, ist dem „sensus communis logicus“, dem gemeinen oder, wie man auch sagt, gesunden Menschenverstand, verwandt. Kant fügt in diesem Zusammenhang mit Bedacht ein zentrales aufklärerisches Lehrstück ein: eine Übersicht über die „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“11: 1. Selbstdenken; 2. an der Stelle jedes anderen denken; 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Oder etwas ausführlicher: (MGM 1) (MGM 2) (MGM 3)
Du sollst jederzeit selbst denken! Du sollst an der Stelle jedes anderen denken! Du sollst jederzeit mit Dir selbst einstimmig denken!
Die grundlegende Maxime des Selbstdenkens heißt auch Maxime der vorurteilsfreien Denkungsart oder noch grundsätzlicher Maxime einer niemals passiven (sondern autonomen) Vernunft. Die Aufklärung kann – insbesondere als Bekämpfung von Aberglauben und von Vorurteilen überhaupt – als Befreiung von dem Zustand der passiven Vernunft gekennzeichnet werden. Der Maxime des Selbstdenkens wird nun charakteristischer Weise die Maxime des an-der-Stelle-jedes-anderen-Denkens gleichberechtigt zur Seite gestellt. Diese Maxime der Intersubjektivität heißt auch Maxime der erweiterten Denkungsart. Das zugehörige Verfahren besteht darin, sich bei der Urteilsbildung nach Kräften in den Standpunkt anderer Personen zu versetzen, um sich von Privatbedingungen des Urteils frei zu machen und einen allgemeinen Standpunkt zu bestimmen, aus dem man über sein eigenes Urteil kritisch reflektiert. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) unterscheidet Kant mehrere Formen des Egoismus, von denen für unseren Zusammenhang die Eigenliebe des Verstandes, der sog. logische Egoismus, von Interesse ist:
_____________ 11 Vgl. als Parallelstellen: AA VII 200 und 228f.; Anth, wo sie als Maximen zur Erlangung der Weisheit erscheinen. In der Jäsche-Logik ist von allgemeinen „Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrtums überhaupt“ die Rede (AA IX 57).
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Der logische Egoismus hält es für unnötig, sein Urteil auch am Verstande anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probiersteins (criterium veritatis externum) gar nicht bedürfe. Es ist aber so gewiss, dass wir dieses Mittels, uns der Wahrheit unseres Urteils zu versichern, nicht entbehren können, dass es vielleicht der wichtigste Grund ist, warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil, wenn diese verweigert wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer Urteile zu prüfen, und wir dem Irrtum preisgegeben werden. (AA VII 128f.)
Die einzige sinnvolle Alternative zum logischen Egoismus ist der logische Pluralismus, die erweiterte Denkungsart des Weltbürgers: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i.: die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ (AA VII 130, vgl. 219) Der aufgeklärte Mensch ist also nicht allein in rechtlicher und politischer, sondern auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein Weltbürger. Die dritte Maxime ist die der „konsequenten“, „folgerechten“ oder „bündigen“ Denkungsart; sie zielt auf Konsistenz, oder allgemeiner: Kohärenz im Verstandesgebrauch. Kant betont die Notwendigkeit und den Zusammenhang aller drei Maximen12, wobei der Maxime des Selbstdenkens freilich der erste Rang gebührt. Ohne vorurteilsfreie Denkungsart (MGM 1) wäre es kaum möglich, einen allgemeinen Standpunkt einzunehmen (MGM 2); und ohne Befolgung von (MGM 1) und (MGM 2) könnte das Bemühen um Konsistenz (MGM 3) auch in einem intern konsistenten System von Vorurteilen und Aberglauben stecken bleiben.13 Zu den abgeleiteten Ideen der Aufklärung gehören die Ideen der Öffentlichkeit und der Publikationsfreiheit. Für Kant ergeben sie sich direkt aus seiner Lehre von den Wahrheitskriterien und der eben betrachteten Maxime des logischen Pluralismus. Dies wird sehr schön aus Norbert Hinskes Rekonstruktion der kantischen Argumentation ersichtlich: Der Mensch hat die moralische Pflicht, die Ergebnisse seines eigenen Nachdenkens allen anderen zur Prüfung vorzulegen und deren Urteil als äußeres Kriterium der Wahrheit zu betrachten. Jede Pflicht aber ist untrennbar mit dem Recht verbunden, von allen denjenigen Mitteln Gebrauch zu machen, die zu ihrer Erfüllung notwendig sind.
_____________ 12 Vgl. dazu auch die klärenden Erläuterungen von Allison 2000, 41f. und Mayer 2002, 193ff. 13 Freilich würden bei strenger Anwendung einer Maxime des kohärenten Verstandesgebrauches viele Formen von Vorurteilen und Aberglauben kaum längere Zeit bestehen können.
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Also hat der Mensch ein Recht darauf, von allen den Mitteln Gebrauch zu machen, die notwendig sind, um die Ergebnisse seines eigenen Nachdenkens allen anderen zur Prüfung vorzulegen. Bei der Publikationsfreiheit handelt es sich um ein derartiges Mittel, ja sie ist sogar das einzig sichere Mittel, dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Also hat der Mensch ein Recht auf Publikationsfreiheit.14
3. Einwände Zum Abschluss möchte ich das Aufklärungsprogramm gegen einen Einwand verteidigen. Zuvor möchte ich anmerken, dass die meisten ablehnenden Reaktionen sich nicht zum geistigen Niveau eines Einwandes emporgeschwungen haben. In einer früheren Arbeit habe ich drei typische Reaktionen unterschieden (und kritisiert): Historisierung, Resignation, Denunziation.15 Daneben gibt es aber auch ernstzunehmende Einwände. Der Einwand, den ich diskutieren möchte, lautet, allgemein gesprochen: Das Programm der Aufklärung ist nicht realisierbar. Ich möchte mich mit einer besonderen Variante beschäftigen. Das Programm der Aufklärung scheint auf eine deontologische Auffassung von epistemischer Rechtfertigung festgelegt zu sein. Menschliche Erkenntnis sollte im Sinn der neuzeitlichen Aufklärung in der Tat etwas sein, das individuell zurechenbar und verantwortbar ist.16 Es werden epistemische Normen formuliert, in denen epistemische Gebote, Verbote oder Erlaubnisse zum Ausdruck kommen. Nun gilt natürlich auch in diesem Bereich: Sollen impliziert Können. In neuerer Zeit sind schwere Bedenken gegen deontologische Auffassungen von epistemischer Rechtfertigung erhoben worden.17 Sie setzen einen doxastischen Voluntarismus voraus, d.h., die Auffassung, dass unsere Überzeugungsbildung unserer willentlichen Kontrolle unterliegt, so lautet der Einwand, und dieser doxastische Voluntarismus sei unhaltbar. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass unsere Überzeugungen nicht unserer willentlichen Kontrolle unterliegen; insbesondere gelte dies für Wahrneh-
_____________ 14 Hinske 1986, 45. Zur weiteren Explikation und Begründung der Prämissen siehe ebenda, 45-49. 15 Scholz 2006. Vgl. auch die Beantwortung stereotyper gegen die Aufklärung gerichteter Anschuldigungen in Darnton 1996, 12-21. 16 Vgl. z.B. Descartes, AT X, 424-425 und Leibniz, NE II, XXIX, 4: „blamable […] en mon pouvoir“ (Leibniz 1962, 265); dazu die Hinweise bei Gäbe 1976, 80 u. 86. 17 Vgl. besonders Alston 1989, Kapitel 5 und ders. 2005, Kapitel 4.
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mungsüberzeugungen, introspektive Überzeugungen, Erinnerungsüberzeugungen und Überzeugungen, die auf Schlüssen beruhen. Eine umfassende Diskussion ist in diesem Rahmen natürlich nicht möglich. Wir können uns für unsere Zwecke auf zwei Fragen konzentrieren: Welche Art von Voluntarismus setzt das Programm der Aufklärung voraus? Ist dieser Voluntarismus unplausibel und das Programm der Aufklärung damit als undurchführbar entlarvt? Zunächst ist klar, dass stärker differenziert werden müsste, zum einen zwischen unterschiedlich starken voluntaristischen Thesen und zum anderen zwischen den unterschiedlichen doxastischen Einstellungen18 und subdoxastischen Zuständen. Für unseren Zusammenhang genügt es jedoch, auf einen entscheidenden Unterschied hinzuweisen. Sicherlich bin ich in dem, was ich – aufgrund von Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Schlüssen – glaube, nicht so frei, wie in dem, was ich mir etwa in meiner Phantasie vorstelle. Und das ist ja auch gut so! Denken Sie an die Wahrnehmung: Wahrnehmungsmeinungen wären von geringem Nutzen, wenn sie nicht zu einem wichtigen Teil von den Eigenschaften der äußeren Wirklichkeit abhingen. Was wir aber in jedem Falle beeinflussen und steuern können, ist die Art und Weise, wie wir etwas untersuchen. Mit anderen Worten: Was wir wählen können, sind Forschungsmaximen. Diesen Ausdruck möchte ich in einem weiten Sinne verstanden wissen, der nicht auf wissenschaftliche Forschung beschränkt ist. Wenn ich nicht erkennen kann, ob ein Turm, den ich in der Ferne erblicke, rund oder eckig ist, kann ich näher herangehen. Wenn ich ein Geräusch nicht identifizieren kann, kann ich versuchen, genauer hinzuhören oder störende Nebengeräusche auszuschalten. Wenn ich unsicher bin, ob das Resultat der Rechnung stimmt, kann ich noch einmal nachrechnen. Wenn ich im Zweifel bin, ob ich einem Zeitungsbericht Glauben schenken soll, kann ich Berichte aus anderen Zeitungen zum Vergleich heranziehen etc. Allgemeiner gesagt: Wir sind oft in der Lage unsere epistemische Position zu verbessern. Vor allem aber sind wir
_____________ 18 Selbst bei den gerne bemühten Wahrnehmungsmeinungen liegen die Dinge komplizierter, als es zunächst scheinen möchte. Betrachten wir ein Beispiel, das aus dem Leben gegriffen ist. Mir fällt es oft schwer, in Warenhäusern zu erkennen, ob ein Stoff (etwa einer Hose) schwarz oder dunkelblau ist. Das dürfte zum einen an einer gewissen Farbschwäche meiner Augen, zum anderen an der in Warenhäusern üblichen elektrischen Beleuchtung liegen – beides mögliche Einflüsse, deren ich mir bewusst bin. Meinen Wahrnehmungseindruck kann ich natürlich nicht direkt, sondern allenfalls indirekt beeinflussen (z.B. kann ich mit der Hose ans Tageslicht gehen); aber ich kann mein Wahrnehmungsurteil zurückhalten. Meines Erachtens unterschätzen manche gegenwärtige Erkenntnistheoretiker unsere Möglichkeiten der Urteilsenthaltung.
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in der Lage zwischen allgemeinen epistemischen Hintergrundeinstellungen und den entsprechenden Forschungsmaximen zu wählen und für die jeweilige Wahl sind wir dann auch verantwortlich. Kant hat das Problem klar gesehen. In der Jäsche-Logik wirft er die Frage auf: „[…] Ob das Wollen einen Einfluß auf unsere Urteile habe?“ (AA IX 73) Kant räumt ein: „Unmittelbar hat der Wille keinen Einfluß auf das Fürwahrhalten; dies wäre auch sehr ungereimt.“ (AA IX 73) Er erkennt jedoch die Möglichkeit eines Einflusses auf den Verstandesgebrauch und damit eines indirekten Einflusses auf die zu bildende Überzeugung an: „Sofern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die Überzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des Verstandes abhängt.“ (AA IX 74) Und schließlich ist nach Kant eine kritische Zurückhaltung des Urteils möglich; wir können (und sollen) der Maxime folgen, „ein bloß vorläufiges Urtheil nicht zu einem bestimmenden werden zu lassen“ (AA IX 74).19 Handelt man gegen diese Maxime, drohen nämlich Vorurteile.20 Der Aufklärer Kant braucht also keineswegs vorauszusetzen, jede einzelne Überzeugung unterliege einer direkten willentlichen Kontrolle. Er hält Menschen allerdings für frei, zwischen Maximen der Überzeugungsbildung zu wählen und sich so für eine bestimmte Denkungsart zu entscheiden. Dabei unterlag Kant keineswegs einer naiven Illusion, dies sei leicht. Es ist vielmehr schwer, aber eben durchaus möglich: Die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist: ‚der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘. Statt dessen, daß bis dahin andere für ihn dachten und er bloß nachahmte oder am Gängelbande sich leiten ließ, wagt er es jetzt, mit eigenen Füßen auf dem Boden der Erfahrung, wenn gleich noch wackelnd, fortzuschreiten. (AA VII 229)
Literatur Allison, Henry E. (2000): „Kant’s Conception of Enlightenment“, in: Mark D. Gedney (Hrsg.), The Proceedings of the Twentieth World Congress of Philosophy, Volume 7: Modern Philosophy, Bowling Green, 35-44.
_____________ 19 Kant betont, dass dies „eine sehr schwere Sache“ sei und „eine geübte Urteilskraft“ erfordere (AA IX 74). 20 Dazu Reisinger/Scholz 2001, 1258f.
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Oliver R. Scholz
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Die aufgeklärte Aufklärung Gunnar Hindrichs
I. Der Kern der Aufklärung ist die Kritik. Kants Bestimmung, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit (AA VIII 35), führt direkt auf diese Gleichsetzung. Unmündigkeit stellt nach Kant das Unvermögen dar, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen aber bedeutet mehr als nach eigener Willkür zu denken. Sich einer Sache zu bedienen muss das Ziel, das man erreichen will, und die Angemessenheit der Sache für dieses Ziel im Blick haben. Von beiden Forderungen wird die Willkür dessen, der sich einer Sache bedient, eingeschränkt. Nun ist das Ziel dessen, der sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedient, offenkundig die Einsicht. Er hat demnach dieses Ziel – die Einsicht in Sachverhalte oder Normen – und die Angemessenheit seines Denkens zur Einsicht in den Blick zu nehmen. Die Angemessenheit seines Denkens zur Einsicht in den Blick zu nehmen erfordert indessen, die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens zu erkennen, die es vor dem Ziel der Einsicht gelingen oder misslingen lassen. Sich seines Verstandes zu bedienen heißt also: in dessen Möglichkeiten und dessen Grenzen sich auskennen, um über ihn so verfügen zu können, dass er auf dem Wege zur Einsicht nicht scheitert. Das ist die Forderung, die dem, der sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedient, auferlegt ist. Der Forderung zu genügen bedeutet, Kritik zu vollziehen. Denn die verschiedenen Wurzeln des Kritikbegriffes – die medizinische, die juristische, die philologische, die ästhetische1 – fügen sich zu der folgenden Bestimmung zusammen: Kritik ist ein richterliches Denken, das das Wahre vom Falschen, das Authentische vom Korrupten, das Schöne vom Hässlichen scheidet und so zu einem Urteil gelangt, das einen Zustand der
_____________ 1 Zu den Wurzeln des Kritikbegriffs siehe Röttgers 1975, 21ff., und Höffe 2003, 34ff.
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Unentschiedenheit überwindet. Ebendieses richterliche Denken tritt indessen in Kraft, wenn es darum geht, die Möglichkeiten und Grenzen des Verstandes zu erkennen. Unentschieden ist der vorkritische Zustand des Verstandes. Man weiß nicht, ob er dazu fähig ist, das Ziel der Einsicht zu erreichen. Entschieden wird der Zustand durch die Scheidung der dieses Ziel hindernden Vollzüge von den es fördernden Vollzügen des Denkens und durch das Urteil darüber, wo die Grenze zu ziehen und wo die Möglichkeiten zur Einsicht zu nutzen seien. Das Vermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen, beruht daher auf Kritik; und auch der Weg dorthin besteht in nichts anderem als der Kritik. Die Kritik ist sonach der Kern der Aufklärung. Die Gleichsetzung von Aufklärung und Kritik, die in Kants Bestimmung beschlossen liegt, ist nicht deren Erfindung. Sie prägt das aufklärende Denken insgesamt. Kants berühmte Formulierung „Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“ (KrV A XII) spricht diese übergreifende Prägung aus. Sie lässt sich bereits am Gebrauch des Begriffes „Kritik“ ablesen. Nach einer langen Vorgeschichte erfreute er sich im 18. Jahrhundert einer Beliebtheit, die ihn als Schlüsselkonzept der Zeit, in der das aufklärende Denken sich selbst begriff, ausmachen lässt (Tonelli 1978). Vor allem die Kritik der Vorurteile springt hierbei ins Auge (Schneiders 1983). Das Denken sollte von Verzerrungen befreit werden, die dem Urteilen vor genauer Prüfung entspringen. Diese Kritik der Vorurteile wurde im Nachhinein sogar als das Charakteristikum der Aufklärung gefasst, das die geschichtliche Wirklichkeit unseres Seins verstelle: Das aufklärerische Vorurteil gegen die Vorurteile verfehle den Sachverhalt, dass diese die Bedingungen des Verstehens darstellten (Gadamer 1990, 275ff.). Aber die Aufklärung unterzieht nicht nur Vorurteile – religiöse, medizinische, politische – der Kritik. Vielmehr beansprucht ihre Kritik jene universale Reichweite, die Kants Bestimmung enthält. Pars pro toto stehe der Artikel „Fait“, den Diderot für die Encyclopédie schrieb. Dort unterscheidet Diderot drei Arten von Fakten: göttliche Handlungen, natürliche Phänomene, menschliche Handlungen. Diese drei Arten von Fakten seien – so Diderot weiter – die Gegenstände dreier Wissenschaften: Theologie, Philosophie, Historie. Doch wenn auch die Dreiheit der Fakten eine Dreiheit von Wissenschaften bedinge, so seien sie doch alle gleichermaßen Gegenstände des einen Vollzuges der Kritik. „Tous sont également sujets à la critique“ (Diderot 1761, 383). Die universale Kritik durchdringt demnach die besonderen Glieder des Wissens. Hier ist der Bereich der Vorurteile durch den Bereich der Wissenschaften ersetzt. In diesem Sinne geht es der aufklärenden Kritik insgesamt um Klarheit: sei es die Klarheit über Vorurteile, sei es die Klarheit über Unwissenheiten, sei es die Klarheit über Traditionen. Diese Universalität der Kritik kennt kei-
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ne Grenze. Thron und Altar, Naturerkenntnis und Geschichtsschreibung, Staat und Gesellschaft, Vorurteil und Wissenschaft werden ihr alle miteinander unterworfen. Es gibt nichts, was sich der Kritik entzöge. (Auch nicht „das Verstehen“.) In solch universalem Zugriff entzaubert die Aufklärung die Welt (Gay 1977, 127ff.). Geheimnisse können nicht geduldet werden, da sie sich der kritischen Prüfung entziehen. Stattdessen hat sich das Bestehende in jeder Hinsicht – in seiner göttlichen, natürlichen und geschichtlichen Dimension – vor dem richterlichen Denken zu verantworten; ihm Rechenschaft zu geben zerstört den Zauber, der von sich aus gelten will. Der Universalitätsanspruch der Kritik führt in seiner Folgerichtigkeit zur universalen Weltentzauberung. In sie mündet das aufklärende Denken. Wenn aber der Kern der Aufklärung die Kritik ist, dann bildet den Kern der Aufklärung die Rechtsprechung in einem Prozess. Die judikative Kritik verlangt die Durchführung rechtsförmiger Verfahren. In diesem Sinne stellt der Artikel „Critique“ der Encyclopédie fest, dass die aufklärende Kritik bestehende Ansprüche vor „das Gericht der Wahrheit“ lade („appeler au tribunal de la vérité“; Marmontel 1761, 494). Die Feststellung spricht den Kern des richterlichen Denkens der Kritik aus. Die Weltentzauberung geschieht nicht naturwüchsig, sondern als Rechtsprozess. Kant hat ihn ausdrücklich zum Wesenszug seiner Philosophie gemacht. Die Kritik der reinen Vernunft bilde den „oberste[n] Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation“ (KrV A 669/B 697). Das ist keine leere Metaphorik, sondern lässt sich bis in die Form der philosophischen Argumentation verfolgen: Die transzendentale Deduktion der Kategorien und die Antithetik der reinen Vernunft stellen Rechtsverfahren dar.2 Als solcher Gerichtshof verrechtlicht die Vernunftkritik das Denken. Und da die Aufklärung in einer universalen Kritik des Gegebenen besteht, nimmt sie sonach eine universale Verrechtlichung vor. Erst innerhalb dieses Rechtsprozesses, den die universale Kritik vollzieht, erhalten die anderen Charakteristika der Aufklärung ihren vollen Sinn. Das gilt insbesondere für ihren analytischen Zug. Die analytische Auflösung von Gesamtheiten stellt eine der auffälligsten Eigenschaften des aufklärenden Denkens dar; sie ist dementsprechend von den Strömungen, die sich selber als antiaufklärerisch begriffen, als ein Hauptübel bekämpft worden (Frank 1993). Ihr methodisches Vorbild fand sie in der Analysis der Mathematik (Engfer 1982). Aus
_____________ 2 Zur Rechtsförmigkeit des kantischen Denkens jetzt umfassend Brandt 2007, 271351. – Auffälligerweise spielt die Rechtsförmigkeit des kantischen Denkens trotz einiger wichtiger Arbeiten aus den achtziger Jahren in dessen gegenwärtiger Rezeption kaum eine Rolle (einen Überblick gibt Hindrichs 2004). Man scheint mehr an den doktrinalen Gehalten als der kritischen Form interessiert zu sein.
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diesem Blickwinkel erscheint die Aufklärung weniger juridisch als mathematisch verfasst. Allein, die Zergliederung, die die Aufklärung um der Klärung des Gegebenen willen vollzieht, darf nicht verwechselt werden mit der mathematischen Analysis. Denn obzwar die mathematische Methode ein herausragendes Erkenntnisideal darstellte, dient sie dem aufklärenden Denken letztlich als Beweismittel in einem Rechtsprozess. Die Ansprüche, die vor dem Gerichtshof der Wahrheit verhandelt werden, können durch sie in ihrem Recht bestätigt oder widerlegt werden. Indem komplexe Sachlagen auf ihre einfachen Bestandteile zurückgeführt werden, lassen sie sich durchschauen; die Verwirrungen, die ein komplexer Sachverhalt aufgrund seiner Vielschichtigkeit auslösen kann, vermag man aufzulösen und methodisch zu beseitigen; die Rechtsgründe der zu verhandelnden Ansprüche treten so zutage. In solchem Zuge wird die der Mathematik abgewonnene Analysis in das rechtsförmige Denken überführt. Es unterscheidet die aufklärende Analyse von mathematischen Modellen, die nicht judikativ, sondern in der Form einer zergliedernden Logik verfasst sind. Zugleich grenzt die Rechtsförmigkeit der Aufklärung sie von einem weiteren Methodenideal ab: dem therapeutischen Gedanken einer medicina mentis. Auch dieser Gedanke macht sich im Denken der Aufklärung geltend. Es will die Ansichten und Meinungen von Verzerrungen und Pathologien heilen. Aber letztlich unterläuft das Konzept der Therapie das Niveau der Kritik. Der Gedanke, dass Ansprüche zu einer Gerichtsverhandlung drängen, verschwindet zugunsten des Gedankens, dass Denkungsarten Krankheiten darstellen. Das Konzept der Therapie orientiert sich so am Bild des Arztes, der den Patienten kuriert, nicht am Bild des Richters, der widerstreitenden Ansprüche verhandelt. Der Arzt aber ist durch seine Ausbildung zur Behandlung befähigt, während der Richter nicht nur durch seine Ausbildung befähigt, sondern auch durch eine allgemeine Gesetzgebung und ein verfasstes Organ zum Urteilsspruch legitimiert ist. Die therapeutische Konzeption gibt dieses Legitimationsmodell auf, das im Rechtsdenken der Kritik beschlossen liegt, um sich auf die Autorität des Arztes zurückzuziehen. Daher stammt die stete Forderung der Aufklärung nach Öffentlichkeit, vor deren Forum Ansprüche verhandelt werden sollen. Der Arzt und seine Therapie benötigt keine Öffentlichkeit; der Rechtsprozess hingegen verlöre seine Legitimität. Dem kritischen Denken muss daher die therapeutische Form einer medicina mentis letztlich ebenfalls zu dem Mittel eines Rechtsprozesses werden: Die Heilung von den Verhexungen des Denkens hat der juridischen Argumentation coram publico zu dienen. Das unterscheidet die Aufklärung wohl grundlegend von der philosophischen Analyse des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch diese greift – wie
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die Aufklärung – auf das Modell der Analysis zurück. Aber sie nutzt es nicht als Mittel in einem Rechtsprozess, sondern will mit seiner Hilfe die Philosophie als Therapie gestalten. Für die therapeutische Auffassung der analytischen Philosophie gilt Wittgensteins berühmte Festlegung: „Das Resultat der Philosophie sind nicht ‚philosophische Sätze‘, sondern das Klarwerden von Sätzen“ (Wittgenstein 1984, 4.112). Das heißt, der analytische Blick beabsichtigt, überflüssige und verkehrte Meinungen wegzuanalysieren, indem ihm Sätze klar werden. In diesem Sinne strebt die philosophische Analyse – mit den Worten Friedrich Waismanns – nicht nach einer „Vermehrung unserer Sätze, sondern eher [nach] einer Verminderung derselben, nämlich [nach] dem Wegfallen jenes ganzen Trosses von Scheinwahrheiten und eingebildeten Erkenntnissen, die im Gefolge [ei]ner falschen Vorstellung einherzogen“ (Waismann 1973, 42). Die Analyse soll von fehlerhaften Meinungen kurieren, indem sie diese hinsichtlich ihrer Bestandteile untersucht. Eine derartige Philosophie führt keinen Rechtsprozess durch. Auch sie zieht sich auf die Überlegenheit des Arztes zurück. Hierdurch nimmt die philosophische Analyse ein wesentliches Moment des aufklärenden Denkens zurück: Sie verlässt den Gerichtshof der Kritik zugunsten der ärztlichen Praxis. Die Aufklärung hingegen findet ihre Form in der Rechtsförmigkeit des Prozesses. Sie verwandelt Analysis und Therapie in Argumentationsmittel eines öffentlichen Verfahrens. Dies Verfahren ist universal, und es entzaubert alles Gegebene. Hierdurch sucht es den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Der Rechtsprozess der aufklärenden Kritik beinhaltet Freiheit.
II. Die Rechtsförmigkeit des Denkens, die die Kritik bedeutet, verleiht der Aufklärung eine eigentümliche Gestalt. In einem Prozess werden Geltungsansprüche geschieden und beurteilt. Sie sind Rechtsverhalte, keine Sachverhalte. Sachverhalte bestehen oder bestehen nicht; sie können als solche beschrieben, nicht aber beurteilt werden. Beurteilt werden kann nur ein Geltungsanspruch, der angesichts ihrer erhoben wird, etwa der Anspruch der Behauptung, dass ein Sachverhalt bestehe, oder der Anspruch darauf, dass aus einem Sachverhalt etwas folge. Rechtsverhalte hingegen betreffen die Geltung einer Sache. Diese Geltung wird nicht beschrieben, sondern in einem Rechtsurteil anerkannt. In der kantischen Terminologie: Sachverhalte sind die Gegenstände der quaestio facti, Rechtsverhalte sind die Gegenstände der quaestio iuris (KrV A 84/B 117). Das aufklärende Denken stellt die Rechtsfrage. Anders gesagt: Es ist nicht deskriptiv, sondern
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präskriptiv. Das heißt nicht, dass es mit deskriptiven Größen nichts zu tun hätte. Zur Verhandlung kann ja auch der Geltungsanspruch einer Aussage stehen. Doch der Geltungsanspruch einer Aussage ist selber keine Aussage. Er beansprucht vielmehr das Recht der Aussage auf Geltung. Dieses Recht der Aussage auf Geltung kann man nicht beschreiben, man muss es beurteilen, indem man Gründe und Gegengründe anführt. Die Beurteilung eines Geltungsanspruches erfolgt im „logischen Raum der Gründe“ (Sellars 1963, 169). Anders gesagt: Sie steht von Anfang an im Raum der Rechtsverhalte. Und am Ende steht ein richterliches Urteil. So ist das Denken über die Ansprüche von deskriptiven Größen selber präskriptiv. Sein Raum der Rechtsverhalte ist das Reich der Aufklärung. Vom Raum der Sachverhalte hält sie sich hingegen fern. Mit der Kritik der Geltungsansprüche ist der Schritt in den Raum der Rechtsverhalte getan. Die richterliche Scheidung und Beurteilung jener Ansprüche setzt freilich voraus, dass die Geltung des Anspruches überhaupt in Frage steht. Hier tritt die medizinische Wurzel des Kritikbegriffes am eindringlichsten zutage: Es muss eine entscheidungsbedürftige Situation eintreten, damit das richterliche Denken anzusetzen vermag. Eine solche Situation bedeutet die Krise von Geltung. Die Geltung von Ansprüchen – seien sie theoretisch, moralisch oder politisch – ist ins Wanken geraten, und die verschiedenen Ansprüche prallen aufeinander. Kurz, eine Entzweiung von Instanzen hat statt, in der die Geltung von Ansprüchen zweifelhaft geworden ist. In diesem Rahmen einer entzweiten Welt und ihrer Krise bewegt sich Kritik. Historisch kann man diese Entzweiung in jener „Krise des europäischen Geistes“ (Hazard 1935) erkennen, die die Bewegung der Aufklärung initiierte.3 Aber sie ist auch systematisch die Voraussetzung einer jeden Kritik: Ohne Krise der Geltung bleibt eine Gerichtsverhandlung zu ihrer Klärung unnötig. Kant selber zeigt mehrere Möglichkeiten, wie die Krise entstehen kann. Sie kann durch den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, entstehen, mit dem man vorhandene Geltungsansprüche in Frage stellt. Sie kann durch öffentliche Debatten erfolgen, in denen die Mutigen auch den mutlosen großen Haufen zur Hinterfragung jener Ansprüche bewegen (AA VIII 35f.). Sie kann aber zudem, und das ist wohl das Wichtigste, dadurch entstehen, dass Geltungsansprüche eines Denkens miteinander kollidieren. Das geschieht zum Beispiel in der Metaphysik, deren Widerstreit eine Kritik der reinen Vernunft nötig macht.4 Hier ist es nicht der Mut zum Selbstdenken oder die öffentliche Debatte, sondern eine immanente Unvereinbarkeit von
_____________ 3 Eine Einschätzung von Hazards Untersuchung auf dem Stand der neueren Forschung gibt Jacob 1987. 4 KrV A VIIff. und KrV A 740/B 768ff.
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Geltungsansprüchen, die die Krise anzeigt. Aus ihr vermag nur das kritische Denken hinauszuführen. Ohne Krise aber ist Kritik nicht denkbar: Sie geht mit der Krise der Geltungsansprüche Hand in Hand. Die Krise der Geltung und das richterliche Denken bilden die beiden Hauptmomente der Kritik und hiermit Merkmale der Aufklärung. Ein drittes Merkmal tritt zusammenfassend hinzu: die Reflexion des Denkens auf sich selbst. Das kritische Denken, das die Möglichkeiten und Grenzen des Verstandes zur Einsicht bedenkt, bedenkt ja nichts anderes als seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Es kehrt aus der Beschäftigung mit den Sachverhalten zu seinen Vollzügen zurück, um deren Prüfung und Rechtfertigung zu unternehmen. Anders gesagt: Das Denken wendet sich als kritisches Denken auf sich selbst. Freilich wendet es sich auf sich selbst, insofern es auf anderes bezogen bleibt. Denn es will seine Möglichkeiten und Grenzen im Hinblick auf die Einsicht in Sachverhalte oder Normen bedenken, die als die Inhalte seiner Einsicht von ihm unterschieden sind. Das Denken ist in der Reflexion bei sich, insofern es bei etwas anderem ist (Wagner 1959, 36). Seine Reflexion ist Selbstbezug und Fremdbezug zugleich. Nur in solch doppelt ausgerichteter Reflexion vermag das Denken seine Möglichkeiten und Grenzen der kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Reflexion des Denkens führt zur Hinterfragung hingenommener Meinungen und Verfahrensweisen; die Hinterfragung der Meinungen und Verfahren gebiert eine Geltungskrise; aus ihr entspringt der Rechtsprozess des Denkens, der den Widerstreit der Geltungsansprüche in eine befriedete Argumentation bringt; das Urteil des Prozesses vollendet schließlich die Reflexion des Denkens durch eine Auskunft darüber, welcher Geltungsanspruch, den die Reflexion auf seine Rechtsgründe befragte, denn nun legitim sei. In der Reflexion des Denkens laufen daher die Fäden der Aufklärung zusammen. Der Kern der Aufklärung als Kritik ist zugleich ihr Kern als Reflexion. Hieraus entspringt indessen ein Problem. Wenn Kritik sich als Reflexion des Denkens vollzieht, dann wird irgendwann auch der Punkt erreicht, an dem das Denken sich in seiner kritischen Funktion kritisiert. Nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens zur Einsicht in Sachverhalte und Normen, sondern auch die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens zur Kritik geraten dem sich selbst reflektierenden Denken zum Thema. Die Kritik wird selber der Kritik unterzogen. Auch dies also liegt in dem Universalitätsanspruch der Kritik beschlossen: dass sie sich auf sich selber erstreckt. Und das heißt nach dem Gesagten: Die Aufklärung klärt sich auf. Allein, was ist der Maßstab der Kritik der Kritik? Die Kritik des nach Einsicht strebenden Denkens konnte seine Maßstäbe dem Bezug des Denkens auf das, worein es Einsicht zu erlangen suchte, entnehmen. Die Kritik der Kritik des nach Einsicht strebenden Denkens aber
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scheint dieses Sachbezuges zu entbehren. Sie kritisiert ja nicht die Verfasstheit einer Sachbezogenheit, sondern die Verfasstheit der Überprüfung von Sachbezogenheit. Unhintergehbare Regeln des Denkens müssten hervortreten, die sich ohne den Bezug auf etwas anderes als das Denken, ja sogar ohne den Bezug auf die Bezogenheit des Denkens auf etwas anderes rechtfertigen ließen. Denn noch die Bezogenheit des Denkens auf etwas anderes gehört zu dem Bereich des nach Einsicht in Sachverhalte oder Normen strebenden Denkens, der von der Kritik der Kritik verlassen wurde. Solche Regeln ohne Sachbezogenheit scheinen nur formale Regeln sein zu können. Ein Beispiel für sie wäre der Satz vom Widerspruch. Die Kritik der Kritik stellte demnach eine bloß formale Überprüfung des kritischen Denkens auf seine Widerspruchsfreiheit dar. Das hieße, die aufgeklärte Aufklärung verharrte bei der negativen Bedingung unserer Urteile, und sobald sie meinte, durch die formale Überprüfung etwas Positives über die Kritik des nach Einsicht strebenden Denkens erzielt zu haben, missverstünde sie ihre Urteile als analytische Urteile. Doch hiermit verfehlte die Kritik der Kritik ihr Ziel. Weil die negative Kritik der Kritik vor deren positiver Begründung Halt macht, kann sie das richterliche Urteil über die Geltung der Kritik nicht fällen, auf das sie aus ist. Sie kann nur darlegen, dass die Kritik möglicherweise Geltung besitzt, da sie sich nicht in Widersprüche verstrickt, nicht aber, dass sie auch tatsächlich gilt. Die Kritik der Kritik scheint daher mehr als nur formale Maßstäbe zu benötigen – und zugleich bleibt es unklar, woher diese stammen könnten. Die aufgeklärte Aufklärung verharrt im Vagen. In der kantischen Perspektive ist das umrissene Problem das Problem einer vierten Kritik.5 Kants drei Kritiken haben die Prüfung und Beurteilung der Ansprüche des Denkens im Grundriss vollzogen. Sie geben gleichsam dessen Verfassung wieder. Doch woher besitzt die Verfassung des Denkens, die dessen Urteile legitimiert, ihre eigene Legitimität? Die Rechtsförmigkeit des aufklärenden Denkens erfordert hier eine Art verfassungsgebender Versammlung. Der pouvoir constitué des Denkens muss in einem pouvoir constituant verankert werden. Hierzu wäre eine vierte Kritik vonnöten. Allein, Kant hat den Gedanken verworfen, und dies mit Gründen. Denn die gesuchte Konstituante könnte im Rahmen der Vernunftkritik nur in der Form einer Letztbegründung des Denkens bestehen. Sonst entstünde die neue Frage nach der Legitimität der verfassungsgebenden Gewalt – und mit ihr ein unendlicher Regress von Folgelegitimationen. Eine Letztbegründung des Denkens wiederum müsste die Selbstbegründung des Denkens sein. Sonst würde etwas Vorkritisches
_____________ 5 Siehe zu dem Problem der vierten Kritik Brandt 2007, 497ff.
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eingeführt, auf dem die Kritik beruhte, was ihrem Universalitätsanspruch widerspräche. Es kann daher nur das kritische Denken selbst sich begründen. Um sich selbst zu begründen hätte es sich indessen selbst zum Thema zu werden. Und dies ist nicht möglich. Das kritische Denken kann sich nicht selber begründen, da es sich in seiner Begründung, die selber eine kritische zu sein hätte, immer schon voraussetzt.6 Die vierte Kritik hätte diese Einsicht verletzt. Darum konnte sie aus sachlichen Gründen nicht geschrieben werden – es sei denn um den Preis der Aufgabe des kantischen Rahmens. Innerhalb dieses Rahmens bleibt das kritische Denken ein Denken, das sich selbst nicht einzuholen vermag. In der Sprache des Rechtes ausgedrückt: Es ist immer schon verfasstes Denken, nie verfassungsgebendes. Alles, was es vermag, ist seine Verfasstheit zu erhellen. Aber die Reflexion des Denkens treibt über die Verfasstheit hinaus, indem sie alles Gegebene, auch die Verfassung selber, der Kritik unterzieht. Der Rahmen, den die rechtsförmige Reflexion gefunden hat, scheint daher gesprengt werden zu müssen. Und die Frage entsteht: Wie lässt sich eine verfassungsgebende Versammlung der Vernunftkritik entwerfen? Die Antwort auf sie würde eine wahrhaft aufgeklärte Aufklärung hervorbringen.
III. Eine Möglichkeit, den pouvoir constituant des Denkens zu ergründen, besteht in dem Übergang in eine Metakritik. Dieser Übergang, dessen Varianten von Hamanns Weg in die Sprache bis zu Habermas’ Lehre von den Erkenntnisinteressen reichen (Kortian 1979), meint, aus dem Verfahren der Kritik in deren inhaltliche Voraussetzungen zurückgehen zu können. Er akzeptiert sowohl, dass die Kritik der Kritik inhaltliche Begründungen verlangt, als auch, dass sie diese Maßstäbe nicht selber aufweist, und schließt daraus, dass man hinter sie in eine Metakritik zurückgreifen müsse. In diesem Sinne versteht bereits Hamann die Metakritik als die Konsequenz der Kritik (Hamann 1951, 277), und auch Habermas sieht sich als den Erben des kantischen Unterfangens.7 Allein, das metakritische
_____________ 6 Der Zirkel gleicht hier dem Zirkel der Subjektivität, den Kant in der Behandlung der Paralogismen aufzeigt (KrV A 346/B 404). Das kommt daher, dass die Selbstbegründung des kritischen Denkens die Einheit des Denkens und also die Einheit der Subjektivität begründen müsste. Siehe zu letztgenanntem Problem Henrich (1955). 7 Habermas 1973, 244ff. Der metakritische Zug des Habermas’schen Denkens wurde auch nach Erkenntnis und Interesse nicht aufgegeben. Die Theorie des kommunikativen Handelns verlegt den pouvoir constituant der Kritik in kommunikative Strukturen der
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Unternehmen muss daran scheitern, dass es meint, die Voraussetzungen der Kritik als einen vorkritischen Raum konstruieren zu können. Die Metakritik glaubt, das präskriptive Denken der Rechtsverhalte durch den Rückgang auf das deskriptive Denken von Sachverhalten grundzulegen. Diese Sachverhalte sind – je nach Position – die Sprache, die Geschichte oder das Erkenntnisinteresse, und sie lassen sich beschreiben. Doch die Voraussetzungen der Kritik sind der Kritik nicht vorgängig, sondern unterliegen, als Erkenntnisse der Reflexion des kritischen Denkens auf seine Bedingungen, ebenfalls der kritischen Prüfung. Sie befinden sich daher ebenfalls im logischen Raum der Gründe und nicht in dem Raum der Tatsachen. Somit verschiebt die Metakritik das Problem nur. Nun werden die Maßstäbe der Metakritik fraglich, und die Suche nach einem Maßstab der Kritik der Kritik, der eine inhaltliche Bestimmtheit aufwiese, beginnt auf einer höheren Stufe von neuem. Das kritische Denken ist von einer Metakritik nicht hintergehbar. Benötigt wird vielmehr die Möglichkeit, die Kritik zu kritisieren, ohne in die Illusion zu verfallen, man könne hinter sie zurückgehen. Eine solche Möglichkeit eröffnet Hegels Weg. Sein Begriff der Spekulation benennt nichts anderes als die Kritik der Kritik.8 Er bildet mithin eine Variante der aufgeklärten Aufklärung. Sein Kerngedanke lautet: Das prüfende Verfahren der Kritik bietet, auf sich selber angewandt, das Mittel, um aus der Kritik heraus zu deren Prinzip zu gelangen. Dieses Prinzip liegt ihr nicht in einem vorkritischen Reich voraus. Vielmehr wird es allererst erreicht durch die Selbstkritik der Kritik. Denn die kritische Reflexion gelangt in ihrem unhintergehbaren Vollzug zu einem Zusammenhang, in dem sie ihren Grund findet. Das Prinzip der Kritik ist daher kein Anfang (principium), sondern das Ende des kritischen Denkens – es ist etwas Nachkritisches, das das Verfahren der Kritik in sich aufgenommen hat. Der so strukturierte Kerngedanke rechtfertigt sich dadurch, dass die kritische Reflexion ihre unterschiedlichen Betätigungsfelder zusammenschließt. Dies geschieht aus dem folgenden Grund. Der Gegenstand der Kritik ist der Geltungsanspruch, den eine bestimmte Position erhebt. Diese Position wird kritisiert, indem man sie auf ihre Konsistenz, versteckten Prämissen und heimlichen Folgen überprüft. Der Geltungsanspruch der Position wird somit nicht einfach hingenommen, sondern bezweifelt. Er gilt der Kritik bis zur weiteren Überprüfung als Schein, dem mit Skepsis zu begegnen sei. Auf der Grundlage solcher Skepsis entsteht die Krise der
_____________ Lebenswelt, die es vor deren Kolonialisierung durch das System zu retten gelte. Zum Zusammenhang siehe auch Müller-Dohm 2000. 8 Das Verhältnis des Hegel’schen Denkens zum Begriff der Kritik erhellen Bubner 1970 und Bubner 1973. Siehe aber auch Rosen 1982, 28ff.
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Geltung, die das richterliche Denken zu entscheiden sucht. Nun lässt sich das Verfahren, einen erhobenen Geltungsanspruch zunächst zu bezweifeln, angesichts eines jeden beliebigen Anspruches vollziehen. Was überhaupt mit einem Geltungsanspruch auftritt, muss das kritische Denken bezweifeln, um das Rechtsverfahren anzustoßen. Damit gerät alles und jedes, was in dem Raum der Rechtsverhalte auftritt, zu einem Betätigungsfeld der Kritik. Hierdurch lässt es sich aufeinander beziehen. Die verschiedenen Positionen werden zu den Momenten eines einheitlichen Zusammenhanges der kritischen Betätigung. Der Zusammenhang der Positionen ist einheitlich, weil ansonsten die Kritik dem Kritisierbaren äußerlich bliebe. Würde sie nicht voraussetzen, dass es eine Vernunft gebe, die in den verschiedenen Positionen und in ihr zur Sprache käme, so begriffe sie sich selber als einen Standpunkt des Denkens, dem ein anderer Standpunkt fremd gegenüber stünde. Sie könnte den anderen Standpunkt dann nicht erfassen und der richterlichen Prüfung unterziehen; sie könnte ihn nur hinnehmen – oder despotisch auf ihrem Recht, das ihm äußerlich bliebe, beharren.9 Das kritische Denken setzt somit voraus, dass die Positionen, die es kritisiert, und es selber die Momente eines Zusammenhanges darstellen. Und damit werden auch die Positionen untereinander die Momente eines Zusammenhanges, der sich durch den Bezug auf die Kritik errichtet. Sie befinden sich in dem Gesamtzusammenhang des Kritisierbaren. Das aber heißt, dass ihre Geltungsansprüche nicht mehr nur als Schein aufgefasst werden müssen, wie es der kritische Zweifel zunächst meinte. Sie können auch als die einzelnen Erscheinungen einer Einheit begriffen werden. In jeder Position erscheint nun der Gesamtzusammenhang dessen, an dem die Kritik sich zu betätigen vermag, weil eine jede Position in ihrer Kritisierbarkeit auf die Universalität der Kritik verweist. Damit ist eine Einheit erreicht, die als der Gesamtzusammenhang des Kritisierbaren selber kein Kritisierbares darstellt. Wohlgemerkt: Diese Einheit liegt dem Kritisierbaren nicht voraus. Sie besteht nur als die Einheit des Kritisierbaren, die im Einsatz des kritischen Denkens erscheint. Aber sie übersteigt das Kritisierbare, da sie dessen Gesamtzusammenhang darstellt. Der Gesamtzusammenhang des Kritisierbaren ist kein Gegenstand der Kritik mehr: Er enthielte sich sonst selbst.
_____________ 9 So bereits Hegels Einleitungsaufsatz zum Kritischen Journal aus dem Jahre 1802 „Ueber das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere“ (Hegel 1968, 117ff.).
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Hegels Titel für das umrissene Geschehen lautet: „der sich vollbringende Skepticismus“ (Hegel 1980, 56).10 Das kritische Denken ist ein Skeptizismus, weil es die Geltungsansprüche, die ihm gegenüber erhoben werden, zunächst bezweifelt. Aber es kommt zu seinem Ende, insofern es die einzelnen Positionen, die es kritisiert, zu dem Gesamtzusammenhang des Kritisierbaren zusammenschließt. Indem es so den Schein zur Erscheinung dieses Zusammenhanges macht, gelangt es zu einer Größe, die sich der Kritik entzieht und also keinen Schein mehr darstellt. Diese Größe ist zuletzt die Einheit des kritischen Denkens. Und das heißt, dass die Einheit des kritischen Denkens selber nicht mehr kritisierbar ist. Hegel nennt diese Einheit des kritischen Denkens „Geist“. Die Verwandlung der Positionen vom Schein in Erscheinungen – Phänomene – geschieht daher als Phänomenologie des Geistes. In unserem Zusammenhang gibt das Programm einer solchen Phänomenologie des Geistes die Antwort auf die Frage, auf welcher Grundlage eine Kritik der Kritik möglich sei. Die Grundlage einer Kritik der Kritik ist – so müssen wir schließen – das kritische Denken selbst. Indem die Kritik der Kritik nichts anderes macht, als dem kritischen Denken zu folgen und dabei zu sehen, dass dieses seine Gegenstände zu einem Gesamtzusammenhang zusammenschließt, gelangt sie zu einer Instanz, die sich selber der Kritik entzieht. Den Geist zu denken bedeutet, das nicht mehr Kritisierbare zu denken. Das Denken, das den Geist denkt, ist daher das „absolute Wissen“ (Hegel 1980, 422ff.). Sich ihm gegenüber kritisch zu verhalten hieße, seinen Inhalt zu verkennen. Das Denken des Geistes ist folglich keine Kritik des Geistes. Es ist die Kritik der Kritik, die in ein akritisches Denken mündet, ohne die Kritik durchzustreichen. Das Denken des Geistes ist daher auch weder präskriptiv noch deskriptiv. Diese Unterscheidung hilft hier nicht weiter. Denn obwohl das Denken des Geistes sich nicht mehr als richterliches Urteil vollzieht, beschreibt es doch auch nicht einfach einen wie immer auch komplexen Sachverhalt. Vielmehr leitet es den Geist als die Voraussetzung des präskriptiven Denkens aus diesem her. So hebt das Denken des Geistes das präskriptive und das deskriptive Denken gleichermaßen auf. Hegels Begriff für diese Aufhebung lautet: „Spekulation“. Demnach haben wir Hegels ‚Geist‘ als die Form einer aufgeklärten Aufklärung zu verstehen. Er bietet eine Lösung für das Problem, das sich in Kants Begriff der Kritik zeigte. Die Kritik der Kritik findet ihr Prinzip in der Einheit des kritischen Denkens, die selber nicht mehr kritisiert werden kann. Der Maßstab der Kritik der Kritik besteht dementsprechend
_____________ 10 Zu Hegels Verhältnis zum Skeptizismus siehe Forster 1989 sowie die Beiträge in Fulda/Horstmann 1996.
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darin, dass sie sich zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt. Dies erfolgt im Vollzug der Kritik, mithin in der Arbeit an dem Kritisierbaren. Das kohärente Ganze solcher Arbeit wird als das Prinzip der Arbeit begriffen. Daher entgeht es einem neuerlichen Rechtsprozess ebenso wie dem Verdacht, es sei bloß beliebig und könne auch anders sein. Denn um den Verdacht sinnvoll äußern zu können, müsste man das Ganze der Kritik in eine Mannigfaltigkeit von Denkweisen stellen, die es seiner Voraussetzung nach – der Einheit des Denkens – nicht zulassen kann. Das kohärente Ganze der Kritik bildet somit keinen Zusammenhang unter anderen Zusammenhängen. Es ist der Gesamtzusammenhang des kritischen Denkens und als solcher einzig. Der Maßstab der Kritik der Kritik – ihre kohärente Einheit – ist ein absoluter Maßstab. Die Aufklärung aufzuklären bedeutet somit, durch die Reflexion des Denkens dessen absolute Kohärenz zu erarbeiten.
IV. In der Wissenschaft der Logik erhellt Hegel die hierfür benötigten begrifflichen Strukturen noch einmal von anderer Seite. Dies geschieht vor allem in der Untersuchung über die Reflexion, die Hegel zu Beginn der Wesenslogik durchführt.11 Eine Seite der kritischen Reflexion ist ihre negative Kraft. Sie bestätigt nicht einfach erhobene Ansprüche, sondern verneint sie zunächst, um ihren Rechtsgrund zu erkunden; in solcher Verneinung der Geltungsansprüche drückt sich deren Krise aus. Durch die Universalität der Kritik aber wird auch die Verneinung universal. Und das heißt, dass – in Hegels Worten – die „reflektierende Bewegung […] die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück“ darstellt (Hegel 1934, 13). Die Reflexion ist eine Bewegung von Nichts zu Nichts, weil die Verneinung der Geltungsansprüche das Gegebene zerreibt. Doch dann droht am Ende nichts übrig zu bleiben. Der Blick der Kritik unterstellt prinzipiell die Nichtigkeit der Ansprüche auf Geltung. Hierin birgt die durch die Reflexion erzeugte Krise die Gefahr des Nihilismus.12 Dieser Gefahr ist vorzubeugen, sofern die Reflexion ihre prüfende Untersuchung mit einem Ergebnis beschließen will. Wie aber kann die kritische Reflex-
_____________ 11 Die Frage, inwiefern die Wissenschaft der Logik selber eine Kritik ist, nämlich eine Kritik der Metaphysik durch deren Darstellung, bleibt im Folgenden ausgeklammert. Zu ihr siehe Theunissen 1980. 12 Den Vorwurf des Nihilismus hatte Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Sendschreiben an Fichte gegen den transzendentalen Idealismus erhoben (Jacobi 1818, 20ff.). Er spricht in ihm die Gefahr des kritischen Denkens aus. Hegels Logik der Reflexion zeugt von dem Gewicht des Vorwurfes.
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ion aus der Unterstellung der Nichtigkeit von Geltungsansprüchen zu einer Affirmation gelangen? Hegels Mittel, dem Nihilismus der Reflexion eine Affirmation abzuringen, ist der Begriff des Grundes, in den er die Reflexion münden lässt. Der Grund ist das Netz, in dem die Krise der Geltung aufgefangen wird. Dadurch erreicht Hegel die Bejahung, die in den Verneinungen der Reflexion zerrieben zu werden schien. Um diesen Weg der Verneinungen in die Bejahung des Grundes nachzuvollziehen, ist auf Hegels Begriff des Widerspruchs zurückzugreifen. Die zunächst fremdartige Gedankenführung wird am Ende die Idee eines kohärenten Ganzen erläutern. Hegels Betrachtungen zum Widerspruch gehen davon aus, dass die Bestimmungen, die die Reflexion aufweist, selbständige Bestimmungen zu sein beanspruchen. In dieser Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen liegt ein Doppeltes beschlossen. Einerseits ist eine Bestimmung dadurch selbständig, dass sie unabhängig von anderen Bestimmungen besteht. Eine solche Unabhängigkeit einer Bestimmung von anderen Bestimmungen erfordert, dass die Bestimmung sich auf keine andere bezieht. Die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen verlangt mithin, dass der Bezug auf anderes ausgeschlossen wird. Nun gibt es freilich nicht nur eine einzige Reflexionsbestimmung, und die mehreren Reflexionsbestimmungen stehen im Verhältnis des Andersseins zueinander. Wenn also die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen ihren Bezug auf anderes verbietet, dann muss das Verhältnis ihres Anderssein so gedeutet werden, dass es nicht zu einem Bezug auf im strengen Sinne anderes, nämlich Äußeres, führt. Hierzu müssen die Reflexionsbestimmungen sich wechselseitig enthalten. Der Bezug der einen Bestimmung auf die andere ist dann der Bezug der einen Bestimmung auf einen ihrer eigenen Inhalte, den sie als ihr anderes begreift. Er ist ein Selbstbezug und nicht ein Bezug auf etwas Äußeres. Das ist die eine Seite der Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen. Ihre andere Seite besteht darin, dass eine jede Bestimmung auch dann, wenn sie die anderen Bestimmungen enthält, diese verneint. Die Bestimmung der Identität ist ja nicht die Bestimmung des Unterschieds. Umgekehrt wird dementsprechend auch jede Bestimmung durch die anderen verneint. Die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen führt also dazu, dass die Bestimmungen sich gegenseitig enthalten und sich zugleich gegenseitig verneinen. Das heißt, die Reflexionsbestimmungen enthalten ihre eigenen Verneinungen.13 Sie sind folglich einerseits mit sich selbst gleich, weil sie den Bezug auf anderes durch dessen Vereinnahmung in einen Selbstbezug verwandeln; sie sind aber andererseits mit sich ungleich, weil sie in ihrem
_____________ 13 Zur Rekonstruktion des Argumentationszusammenhanges siehe Henrich 1978.
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Inneren auf ihre eigene Verneinung treffen. Hegel nennt die Gleichheit mit sich – die Selbstbejahung – das „Positive“ und die Ungleichheit mit sich – die Selbstverneinung – das „Negative“ (Hegel 1934, 49). Die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen läuft hiernach darauf hinaus, dass sie sowohl ein Positives als auch ein Negatives sind. Im Zusammenstoß des Positiven und des Negativen besteht der Widerspruch. Das Positive und das Negative können nicht unbeschadet nebeneinander bestehen. Eines verneint das andere, und beide heben sich folglich gegenseitig auf. Aber zugleich stellen das Positive und das Negative nicht nur die Verneinungen des jeweils anderen dar, sondern sind etwas. In Hegels sperriger Begrifflichkeit: Sie sind „das Setzen ihrer“ (Hegel 1934, 49). Denn das Positive – die Selbstbejahung – sagt, dass die jeweilige Reflexionsbestimmung die Bestimmung ist, die sie ist, und das Negative – die Selbstverneinung – sagt, dass die jeweilige Reflexionsbestimmung die anderen Bestimmungen in sich enthält. Beide setzen sich demnach als etwas: Das Positive setzt sich als die Reflexionsbestimmung, die es ist, das Negative setzt die Reflexionsbestimmung, die es nicht ist. Wir können dies auch in dem Satz ausdrücken, dass sowohl das Positive als auch das Negative reale Größen darstellen – freilich solche Größen, die in ihrem Gesetztsein auf ihr Gegenteil bezogen sind. Die Selbstbejahung bejaht schließlich etwas, das seine eigene Verneinung enthält, und die Selbstverneinung ist ohne die Einheit, die ihre eigene Verneinung enthält, nicht möglich. Beide bekräftigen so durch ihre eigene Realität zugleich die Realität ihres Gegenteils. Ihr Gegenteil aber verneint sie. Das Positive und das Negative sind also Größen, deren Realität die Realität ihrer eigenen Verneinung beinhaltet. Sie sind zwar nicht nichts, aber nur insofern etwas, als sie von etwas anderem, dessen Wirklichkeit sie durch ihren verneinenden Bezug auf es bejahen, verneint werden. Hegel nennt sie darum „negative Einheiten“. „Einheiten“ sind das Positive und das Negative, weil sie beide reale Größen darstellen. Und „negativ“ sind sie beide, weil sie nur im Bezug auf ihr sie verneinendes Gegenteil sind. Sie heben sich deshalb gegenseitig auf: Die Einheit der negativen Einheiten „das Positive“ und „das Negative“ ist „die Null“ (Hegel 1934, 51). Die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen hat somit zur Folge, dass sie, die nur insofern mit sich selbst gleich – positiv – sind, als sie mit sich selbst ungleich – negativ – sind, in die gegenseitige Vernichtung der Bestimmungen mündet.14 Bis hierhin ist freilich kein einziger Schritt über die Krise der Geltung hinaus getan. Vielmehr scheint die Krise nun erst recht verschärft worden
_____________ 14 Hegels Überlegungen sind eine Weiterführung von Kants frühem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA II 165-204). Das zeigt Wolff 1982.
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zu sein. Das Resultat der Verneinungen lautet ja „Null“ – der Nihilismus scheint siegreich. Doch genau an dieser Stelle der scheinbaren endgültigen Verneinung, das „rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten“ (Hegel 1934, 51) vor Augen, erfolgt der Überstieg in die Bejahung. Denn die gegenseitige Verneinung der Reflexionsbestimmungen entpuppt sich als der Vorgang eines Selbstbezuges. Weil die Reflexionsbestimmungen negative Größen darstellen, sind sie durch ihren verneinenden Bezug aufeinander bestimmt. Sie bestehen nur in Abhängigkeit voneinander. Verneint nun die eine die andere, so verneint sie das, von dem sie abhängt. Das, von dem sie abhängt, ist aber das, was ihre Abhängigkeit herbeiführt. Verneint also eine Bestimmung die andere, so verneint sie ihre Abhängigkeit. Ja, genauer gesagt: Sie verneint ihre Abhängigkeit durch eben den Bezug, durch den sie sie auch hervorbringt: durch die Verneinung der anderen. Die Verneinung der anderen Bestimmungen bedeutet darum die Abhängigkeit von den anderen und ebenso die Verneinung dieser Abhängigkeit. Die Verneinung der Abhängigkeit aber bedeutet Selbständigkeit. Das, was die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen verneinte, ihr verneinender Bezug aufeinander, führt demnach gerade zur Selbständigkeit. Die nun erreichte Selbständigkeit wiederum steht selber nicht mehr in Abhängigkeit von etwas anderem, das sie verneinte. Denn sie verneint ja nur die Verneinung der anderen – also ihren eigenen Kern. So bezieht sich diese Form der Verneinung auf sich selbst. Es ist der verneinende Bezug der Bestimmungen selbst, der nicht mehr in Abhängigkeit von einem anderen steht und sich nur noch auf sich selbst bezieht. Er ist selbstgenügsam. In diesem Selbstbezug der Verneinungsbeziehung ist der Selbststand gefunden, den zu haben die einzelnen Bestimmungen vorher nur behauptet hatten und der in der gegenseitigen Verneinung der negativen Größen aufgerieben wurde. Der Widerspruch der Bestimmungen verschwindet dadurch nicht. Vielmehr zeigt gerade er, dass die Bestimmungen als solche keine wahrhafte Selbständigkeit besitzen und man die Kette der Verneinungen erst dann aufzufangen vermag, wenn man das Verhältnis der negativen Größen als die Einheit begreift, die es ist. Denn indem der Bezug der Verneinung sich auf sich selbst bezieht, wird das Beziehungsgeflecht der wechselseitigen Verneinungen, in dem die Reflexionsbestimmungen stehen, thematisch. Und dadurch zeigen die Reflexionsbestimmungen, die selbständig zu sein behaupten, sich als das, was sie in Wahrheit sind: Implikate eines Beziehungsgeflechtes von Verneinungen. Sie finden daher nicht aus eigener Kraft einen Stand, sondern sitzen dem Geflecht der Verneinungen auf, dessen Knotenpunkte sie darstellen. Das Selbständige sind somit nicht sie selbst, das Selbständige ist der Zusammenhang der Verneinungen, während die Reflexionsbestimmungen bloß die Kennzeichnungen der jeweili-
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gen Knoten jenes Zusammenhanges ausmachen. In Hegels Worten: Im Blick auf den Zusammenhang der Beziehungen wird offensichtlich, dass die scheinbar selbständigen Reflexionsbestimmungen „nur Bestimmungen“ (Hegel 1934, 52) sind. Denn sie bilden nichts anderes als die Beschreibungen bestimmter Punkte der Verneinungsverhältnisse. Die Einheit der widersprechenden Bestimmungen, das Ergebnis ihres Widerspruches, ist also nur solange gleich Null, wie der Zusammenhang der negativen Größen und mit ihm deren Charakter, „nur Bestimmung“ zu sein, nicht in den Blick genommen wird. Sobald hingegen dieser Zusammenhang erfasst wird, erweist sich die Einheit der Bestimmungen als das, was durch die Bestimmungen seine Bestimmung erfährt und was umgekehrt selber seinen Bestimmungen, die isoliert genommen eben „nur Bestimmungen“ sind, erst ihren Stand verleiht. Hegel nennt deshalb die Einheit der widersprechenden Bestimmungen den „Grund, der seine Bestimmungen erhält und trägt“ (Hegel 1934, 62). Der Zusammenhang der Verneinungen führt zum Begriff des selbständigen Grundes. Durch diesen Überstieg aus den Verneinungen in ihren Zusammenhang ist der Begriff des kohärenten Ganzen aus der Krise der Geltung selber hergeleitet worden. Hegels Beobachtung, dass die Reflexion in Verneinungsverhältnissen bestehe, führt zu deren Selbstbezüglichkeit und hierdurch zur Aufhebung der Verneinungen in eine Bejahung. Der Blickwechsel von den widersprüchlichen Bestimmungen auf ihre Einheit schafft die Grundlage, auf der man – vorerst – zu stehen vermag. Um diesen Schritt gehen zu können, muss das Denken die krisenhafte Verneinung in einer anderen Tonart hören. Dann erweist das Verneinungsgeschehen sich selber als etwas, das die Vernichtung des Verneinten überlebt, weil es als ihr Zusammenhang ihre Voraussetzung darstellt. Hierin findet die kritische Reflexion ihren Halt. Die Sicht der Phänomenologie des Geistes, wonach die Einheit der Kritik den Maßstab bilde, an dem die Kritik sich auszuweisen habe, vermag somit durch die Wissenschaft der Logik ausgewiesen zu werden. Sie legt dar: Weil die Reflexion dadurch aus den Verneinungsverhältnissen herausgelangt, dass sie ihren Zusammenhang begreift, kann sie sich durch ihren Zusammenhang begründen. Die Kritik als Vollzug der Reflexion gründet folglich ebenfalls in ihrem Zusammenhang. Das kohärente Ganze ist der Grund der Kritik. Und das heißt, dass die Kritik der Kritik in dem spekulativen Gedanken eines Gesamtzusammenhanges ihren Abschluss findet. Ihn zu denken vollendet die Kritik.
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V. In dem wichtigsten Forum der deutschen Aufklärung, der Berlinischen Monatsschrift, erschien 1784 ein „Fabelchen“ namens „Der Affe“. Es geht wie folgt: Ein Affe steckt’ einst einen Hain Von Zedern Nachts in Brand, Und freute sich dann ungemein, Als er’s so helle fand. „Kommt Brüder, seht, was ich vermag; Ich, – ich verwandle Nacht in Tag!“ Die Brüder kamen groß und klein, Verwunderten den Glanz, Und alle fingen an zu schrein: Hoch lebe Bruder Hans! „Hans Affe ist des Nachruhms werth, Er hat die Gegend aufgeklärt!“15
In dieser Fabel stellt die Aufklärung sich selber der Gefahr der bloßen Verneinung. Sie grenzt sich von ihrem Affen ab, der die Aufklärung der Welt als deren Zerstörung betreibt. Seinem Selbstverständnis zufolge hat der Hauptstrom der Aufklärung diese Abgrenzung schon immer vollzogen. Seit Beginn der historischen Bewegung richtete er sich nicht nur gegen die Hüter der unkritisch übernommenen Tradition, sondern auch gegen deren ungehemmten Verneiner. Die geistige Auseinandersetzung der Aufklärungsepoche verlief zwischen drei Parteien: Konservativen, moderater Aufklärung, radikaler Aufklärung (Israel 2001). Das gilt auch systematisch. Mäßigung und Radikalität sind zwei sachliche Möglichkeiten des kritischen Denkens. Und hierbei bildet nichts anderes als die Rechtsförmigkeit der Kritik das Mittel, in der Auseinandersetzung mit Konservativen und Radikalen sowohl die Ansprüche der Tradition zu hinterfragen als auch zerstörerische Exesse zu verhindern. Denn die Rechtsförmigkeit befriedet den Widerstreit der Parteien und setzt an die Stelle eines naturwüchsigen Krieges und seiner Gewalt die Gesetzlichkeit des status civilis. Aufklären heißt dann nicht, äffisch die Welt zu erhellen, indem man sie abbrennt. Vielmehr heißt es: den Gerichtshof einzurichten,
_____________ 15 Z. 1784. – Die Autorschaft ist unklar. Schwartz (Schwartz 1925, 8) vermutet den Probst der Nikolaikirche und das Mitglied der Mittwochsgesellschaft Johann Friedrich Zöllner als Verfasser.
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der Licht auf die Rechtsgründe der Geltungsansprüche wirft. So wird die Verneinung in ein mäßiges Verfahren eingebaut. Allein, die Abgrenzung der moderaten Aufklärung von ihrer radikalen Schwester verdeckt, dass ihnen beiden das Verfahren der universalen Kritik eignet. Denn es ist die folgerichtige Kritik, die in ihrer prinzipiellen Verneinung herangetragener Geltungsansprüche eben jene universale Verneinung birgt, die die moderate Aufklärung ihrem Affen, nicht aber sich selber zuschreibt. Wenn die Kritik alle Geltungsansprüche zunächst für nichtig erklärt, um sie dem Gerichtsprozess zu unterwerfen, dann macht sie, ernst genommen, tabula rasa mit dem Gegebenen. Hegels Untersuchungen über die Begriffstruktur der Reflexion legen diese Folgerichtigkeit frei. Sie zeigen, dass die kritische Reflexion zu ihrem Kern die Verneinung hat – eine Verneinung, die am Ende nichts übrig zu lassen droht. Wenn sonach aber die universale Verneinung die folgerichtige Kritik birgt, dann stellt die radikale Aufklärung nur die folgerichtige Gestalt der moderaten Aufklärung dar. Die radikale Aufklärung ist radikal im wörtlichen Sinne: Sie offenbart die Wurzel der Aufklärung, die auch am Grunde der moderaten Aufklärung versteckt liegt. Im Blick auf die radikale Aufklärung, die alle Geltungsansprüche für nichtig erachtet, um sie dem Rechtsprozess zu unterwerfen, werden die negativen Implikationen der Kritik, die Hegels Untersuchung der Reflexion zutage fördert, erkennbar. Sie dem Affen zuzuschieben bedeutet bloß, das eigene Wesen nicht sehen zu wollen. Simius humanae naturae simia. So wird auch die Rechtsförmigkeit des aufklärenden Denkens von der Verneinung eingeholt. Ihre Mäßigung verdeckt nur ihre Wurzel. Das zeigt sich spätestens bei der Frage nach der Legitimation des Gerichtshofes der Vernunft. Wir sahen, dass er einer verfassungsgebenden Versammlung bedarf, um die Frage nach seiner Legitimität zu beantworten. Das heißt: Solange es keinen pouvoir constituant gibt, der die Verfassung des kritischen Denkens rechtfertigt, ruht auch die rechtliche Befriedung der Streitigkeiten auf nichts. Seinen pouvoir constituant vermag das kritische Denken jedoch nicht zu erfassen, da es selber unter der Bedingung der universalen Kritik immer schon vorausgesetzt wird. Und also scheint seine eigene Verfassung der Kritik keine Rechenschaft leisten zu können. Die Nichtigkeit des Fundamentes tritt zutage. Hier wendet sich die prinzipielle Verneinung der Geltungsansprüche zu Beginn der gerichtlichen Untersuchung gegen das kritische Denken. Noch dessen höchste Instanz, das Vernunftgericht selbst, verfällt dieser Verneinung, weil der Rechtsprozess, der zu seiner Legitimation geführt werden müsste, nicht geführt werden kann: Es wäre hierzu – wie gesehen – eine Selbstbegründung des Denkens vonnöten, die das kritische Denken nicht zu leisten vermag. So bleibt das Nein zur Vernunftkritik, das die folgerichtige Kritik zu Beginn des Pro-
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zesses sagt, stehen, weil der Prozess nicht geführt zu werden vermag. Die Aufklärung muss ein abschlägiges Urteil über die Rechtsgründe ihrer Verfassung fällen – und darf es doch nicht fällen, weil sie sich dadurch selber die Legitimation entzöge. Das ist das volle Problem einer Aufklärung der Aufklärung. Die Refelxion der Kritik mündet durch die Unfähigkeit, das Rechtsverfahren selber zu rechtfertigen, in die Verneinung der Rechtsansprüche des aufklärenden Denkens. Vor ihm gewinnt Hegels Konzeption ihre Kraft. Sie überzeugt durch die folgerichtige Weiterführung des gestellten Problems. Anstatt die Kritik durch eine ursprüngliche Rechtssetzung zu legitimieren, rechtfertigt sie die Verfassung aus der verfassten Vernunft selbst. Denn indem sie die kritische Reflexion in den Abschlussgedanken eines kohärenten Ganzen überführt, verwickelt sie sich gar nicht erst in die Suche nach der verfassungsgebenden Gewalt. Es ist das Beziehungsgeflecht der immer schon verfassten Kritik, die deren Grund und Maßstab darstellt. Die Verfassung des kritischen Denkens bleibt mithin so unhintergehbar, wie es aus Kants Erwägungen folgte. Aber zugleich vermag sie sich dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Vollzüge möglicher Kritik zu einem kohärenten Ganzen zusammendenkt. Auf diese Weise rechtfertigt sich das kritische Denken immanent. Das bedeutet, dass die Aufklärung sich selber aufklärt, allein indem sie ihre Vollzüge in der Tonart ihres Geflechtes hört. Denn dann geht sie über in den Gedanken eines Gesamtzusammenhanges der Kritik, der den Grund und den Abschluss des kritischen Denkens darstellt. Die Aufklärung benötigt sonach keine verfassungsgebende Versammlung, sondern die Einheit des verfassten Denkens, um sich in ihrem eigenen Rechtsgrund zu erhellen. Das ist das Ergebnis der Hegel’schen Kritik der Kritik. Mit ihm scheint Hegels Konzeption das aufklärende Denken zu seiner Vollendung zu führen. Allein, sie zerbricht daran, dass sie ein wesentliches Merkmal der Kritik auf dem Weg zu deren Vereinheitlichung verliert: den Bezug auf das Andere des Denkens (Hindrichs 2006). Um diesen Bezug zu sehen, gilt es nochmals den Einsatz der Kritik zu betrachten. Das kritische Denken überprüft die Geltungsansprüche von theoretischen und praktischen Überzeugungen. Diese Überzeugungen handeln von Sachverhalten oder Normen. Die Sachverhalte oder Normen sind selber keine Überzeugungen, sondern Inhalte von Überzeugungen. Sie sind etwas anderes als das Denken. Wenn das kritische Denken die Geltungsansprüche jener Überzeugungen überprüft, so überprüft es sie demnach hinsichtlich deren gelingender oder misslingender Bezogenheit auf das Andere des Denkens. Für diese Überprüfung sucht die Kritik der Kritik den Maßstab zu begründen. Sie findet ihn in dem kohärenten Zusammenhang des kritischen Denkens. Der kohärente Zusammenhang des kritischen Denkens wiede-
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rum sieht von der Bezogenheit des Denkens auf sein Anderes ab. Er besteht einzig in der Bezogenheit des Denkens auf sich selber. Das war ja die Forderung, die die Reflexion des Denkens erhoben hatte: Es müsse sich zuletzt ein Maßstab finden lassen, der von der Bezogenheit des Denkens auf etwas anderes absehe. Doch indem er von ihr absieht, begründet er die Überprüfung dessen, ob sich das Denken misslingend oder gelingend auf sein Anderes bezieht, ohne Blick auf das, worum es eigentlich geht. Das Denken kreist immer nur um sich. Es kann daher nicht verständlich machen, wie es aus sich selbst heraus zu dem Bezug auf anderes gelangt. Hegels absolute Kohärenz überdeckt diese Lücke nur. Seine Kritik der Kritik streicht dem kritischen Denken den Bezug auf anderes, und die Aufklärung wird so über sich aufgeklärt, dass nicht mehr begriffen werden kann, inwiefern sie eine Aufklärung von Überzeugungen über das Andere des Denkens darstellt. Hegels immanente Legitimation der verfassten Kritik scheitert sonach an der Aufgabe, die sie auf sich genommen hatte. Die Einsicht darein, dass die Suche nach der Konstituante der Aufklärung im Nichts endet, überführte sie in die Konzeption des sich selbst zusammenschließenden Denkens. Hierdurch aber erblindete ihr Blick auf das Andere des Denkens. Die Legitimität der aufklärenden Kritik wurde mit dem Preis der Selbstbefriedigung des Denkens bezahlt.
VI. Das kantische Problem, einer Kritik der Kritik zu bedürfen, ist somit zurückgekehrt. Es ist indessen insofern zurückgekehrt, als der folgerichtige Ansatz zu seiner Lösung bereits reflektiert wurde. Wir können uns daher mit dem Problem nicht begnügen, sondern müssen es als ein Problem begreifen, das nach einer bestimmten Lösung verlangt, die selber wiederum auf es zurückführt. Die Aufklärung drängt nach ihrer eigenen Aufklärung und hat zugleich einzusehen, dass diese eines ihrer Kernmerkmal nicht zu begreifen vermag. Theoriekonstellativ betrachtet, heißt das: Das aufklärende Denken bleibt zwischen Kant und Hegel eingespannt, ohne dass es zu einer der beiden Seiten übergehen könnte. Verzichtete es auf die Kritik der Kritik, so setzte es den Raum der Rechtsverhalte zu einem bloßen Sachverhalt herab, den man nur konstatieren, nicht aber einer richterlichen Prüfung unterziehen könnte. Indem es vor dem letzten Schritt der Kritik stehen bliebe, machte es die Aufklärung zu einer hinzunehmenden
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Tatsache und striche somit deren eigenen Ansatz durch.16 Die Kritik der Kritik wiederum mündet in jene Kohärenz des kritischen Denkens, die dessen Bezogenheit auf sein Anderes verliert. Indem sie zu dem Gesamtzusammenhang in sich geschlossenen Denkens übergeht, kann sie nicht begründen, wie das Denken von einem Anderen zu handeln vermag. Der kritische Raum der Rechtsverhalte lässt sich somit weder vollenden noch in einer Unvollendetheit, die ihn zu einer wie immer auch flüssigen Tatsache machte, belassen.17 In dieser Spannung zwischen den beiden Polen der klassischen deutschen Philosophie befindet sich die aufgeklärte Aufklärung. Aus ihr scheint sie nicht hinauszukommen. Es liegt daher nahe, den zwischen Kant und Hegel aufgespannten Raum der Kritik insgesamt zu verlassen. Und in der Tat bietet die Philosophie unserer Zeit hierzu fruchtbare Möglichkeiten. An die Stelle der Geltungsreflexion tritt die phänomenologische Beschreibung; das richterliche Urteil weicht der Therapie der Sprache; die entscheidungsbedürftige Krise verschwindet zugunsten des umsichtigen Verstehens lebensweltlicher Horizonte. Oder – und das betrifft wohl die Mehrzahl der gegenwärtigen Ansätze – man entwickelt mit zeitgemäßen Mitteln Doktrinen letztlich traditioneller Machart. Sie setzen die Kritik als eine Propädeutik des sicheren Denkens voraus, ohne dass sie einen wirklichen Einfluss auf die Konstruktion der Ontologien, Erkenntnistheorien, Handlungslehren nähme. Allein, so fruchtbar die Ergebnisse solchen Denkens auch sind – das kritische Geschäft können sie letztlich nicht hinter sich lassen. Denn sie alle treten mit dem Anspruch auf Geltung auf. Sobald das Denken jedoch dem Geltungsanspruch begegnet, begegnet es auch der Frage nach seinem Rechtsgrund. Und diese Frage ist der Einsatzpunkt der Kritik. Das kritische Denken der Aufklärung bleibt so lebendig. Mit ihm aber bleibt auch die Spannung der aufgeklärten Aufklärung lebendig. Sie wäre nicht aufzulösen, sondern zu begreifen. Dann wüsste die kritische Reflexion um den Zwiespalt, in dem sie steckt, und wäre vor der Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit gefeit, die ihre historischen Gestal-
_____________ 16 Die Verwandlung der Aufklärung aus einer Rechtssache in eine Tatsache scheint mir den Kern von Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung darzustellen. Sie verhandeln ihn unter dem Titel eines Umschlags der Aufklärung in Mythos. Die Dialektik der Aufklärung diffamiert daher keineswegs das Aufklärungsprogramm, sondern steht selber im kantischen Horizont. 17 Das zweite Glied der Konjunktion schließt auch das frühromantische Unendlichkeitstreben als gelingende Alternative zuletzt aus. Dieses wollte aus der Not der Unvollendetheit eine Tugend machen. – Eine immanente Darstellung des frühromantischen Denkens im Blick auf das Thema der Kritik gibt Frischmann 2001.
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ten oftmals begleiteten. Statt über die Dunkelmänner zu triumphieren, vollzöge sich Aufklärung in dem Bewusstsein um ihre eigene Schwäche. Vielleicht liegt hierin ihre Zukunft.
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Tonelli, Giorgio (1978), „‚Critique‘ and Related Terms Prior to Kant. A Historical Survey“, in: Kantstudien 69, 119-148. Wagner, Hans (1959): Philosophie und Reflexion, München und Basel. Waismann, Friedrich (1973): „Was ist logische Analyse?“ in: ders.: Was ist logische Analyse? Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main, 42–66. Wittgenstein, Ludwig (1984): „Tractatus logico-philosophicus“, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main, 7-85. Wolff, Michael (1982): Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Königstein/Ts. Z. (1784): „Der Affe. Ein Fabelchen“, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 4, Band, Berlin, 480.
Kant und das Projekt einer Metaphysik der Aufklärung Axel Hutter
I. Der Begriff der Aufklärung besitzt einen systematisch-historischen Doppelaspekt. In rein systematischer Hinsicht verweist er auf das eigentümliche Streben nach freiem Wissen, d.h. nach vorurteilsloser Erkenntnis, das für das Selbstverständnis der Wissenschaften grundlegend ist. In rein historischer Hinsicht bezeichnet „Aufklärung“ eine Epoche in der Geschichte der europäischen Neuzeit, die sich zeitlich weitgehend mit dem achtzehnten Jahrhundert deckt. Diese historisch sehr spezifische Bedeutung kann freilich dadurch erweitert werden, dass man andere Geschichtsepochen in einem besonderen Verwandtschaftsverhältnis zur Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts begreift. In diesem Sinne hat sich etwa die Bezeichnung „griechische Aufklärung“ für das fünfte vorchristliche Jahrhundert Griechenlands eingebürgert. Die folgenden Überlegungen werden an diese Grundbedeutungen des Aufklärungsbegriffs unmittelbar anknüpfen. Zugleich werden sie sich aber sehr entschieden gegen die ebenfalls weit verbreitete Ansicht wenden, der Begriff der Aufklärung ließe sich noch genauer durch seine historische wie systematische Opposition zur Metaphysik bestimmen. Es ist zwar richtig, dass die Kritik an der alten, überkommenen Metaphysik ein wichtiges Moment in der aufklärerischen Kritik des achtzehnten Jahrhunderts darstellt; wichtiger aber – und für das angemessene Verständnis der Aufklärung letztlich entscheidend – ist der Umstand, dass aus der Kritik des achtzehnten Jahrhunderts nicht zufällig, sondern mit innerer Konsequenz das große Unternehmen der kantischen Transzendentalphilosophie hervorgeht, eine
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neue Metaphysik zu begründen, die sich gleichermaßen von der alten Metaphysik und einer pauschalen Metaphysikverwerfung abgrenzt.1 Damit ist die Leitthese des Vortrags vorab angedeutet: Das kritische Unternehmen der kantischen Philosophie kommt nur dann vollständig in den Blick, wenn es in den übergreifenden Kontext einer kritischen Metaphysik der Aufklärung gestellt und aus ihm heraus begriffen wird. Denn die Metaphysik ist wesensmäßig ein philosophisches Unternehmen, das der Aufklärung nicht vorangeht, sondern aus dem Aufklärungsprozess selbst mit innerer Folgerichtigkeit hervorgeht; deshalb wird der Begriff der „Aufklärung“ verkürzt und am Ende sogar verfehlt, wenn man ihn der Metaphysik einfach pauschal entgegensetzt. Vielmehr ist der Aufklärungsbegriff erst dann angemessen bestimmt, wenn einsichtig wird, wie aus ihm die kritische Idee einer Metaphysik erwächst, die das Anliegen der Aufklärung fortführt und zugleich gegen eine Dialektik schützt, die im Aufklärungsprozess selbst angelegt ist. Der folgende Gedankengang gliedert sich deshalb in zwei Teile: Im ersten Teil wird die Problematik einer Dialektik der Aufklärung exponiert und gezeigt, inwiefern Kants Philosophie an diese Problematik anschließt; der zweite Teil will dann den systematischen Grundriss von Kants Metaphysik der Aufklärung etwas genauer darlegen.
II. Ein erster, zur anfänglichen Orientierung dienender Begriff von Aufklärung lässt sich aus seiner normalen Alltagsverwendung gewinnen. So spricht man von der notwendigen „Aufklärung“ des Patienten durch den Arzt vor einer anstehenden Operation. Hier ist die Aufklärung im Kern eine Aufklärung des Unwissens. Der Patient weiß nicht oder nur unzureichend, was ihm bevorsteht; der Arzt – als der Experte in dem fraglichen Wissensgebiet – klärt den Unwissenden auf, indem er ihm sein Wissen mitteilt. Das von diesem Beispiel nahe gelegte Modell der Aufklärung ist einfach: dasjenige, was aufzuklären ist, ist das Nicht-Wissen oder (ein dem Nicht-Wissen gleichzusetzendes) falsches Wissen im Sinne eines sachlich
_____________ 1 Die Erkenntnis, dass Kants Vernunftkritik nur angemessen verstanden werden kann, wenn sie zugleich als Kritik der überkommenen Metaphysik und als Begründung einer neuen Metaphysik begriffen wird, beginnt sich in letzter Zeit auf breiterer Front durchzusetzen. Eine wichtige Station in dieser Befreiung vom Diktat eines vermeintlich „nachmetaphysischen“ Denkens markiert der Kongressband Henrich/Horstmann 1988.
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unzutreffenden Vorurteils; beides – Unwissen und Vorurteil – wird in der „Aufklärung“ durch ein sachlich angemessenes Wissen ersetzt. Aufklärung ist somit im Kern Wissenszuwachs. Die Lichtmetaphorik, die im Zusammenhang der „Aufklärung“ so wichtig ist, wird dann ebenfalls leicht verständlich. So wie die Dunkelheit die Abwesenheit des Lichts ist, so ist das Unwissen die Abwesenheit des Wissens. Die Aufklärung bringt Licht ins Dunkle, indem sie die nächtliche Leere des Unwissens mit dem kontinuierlichen Wissenszuwachs der Forschung anfüllt. Der Prozess der Aufklärung bewegt sich also in dieser Hinsicht auf einer linearen und kontinuierlichen Skala zwischen dem absolut dunklen Nullwert des reinen Nichtwissens und dem absolut lichten Maximalwert des Allwissens, der freilich vom Menschen niemals erreicht, sondern nur angestrebt werden kann. Für ein angemessenes und unverkürztes Verständnis der Aufklärung ist es nun entscheidend, von diesem ersten und unmittelbaren Begriff der Aufklärung einen zweiten, reflexiven Begriff der Aufklärung zu unterscheiden. Diese reflexive Form der Aufklärung ist nicht länger eine Aufklärung des Unwissens, sondern eine Aufklärung des Wissens. Genau deshalb stellt sie eine genuine Form der Reflexion dar, weil sich in ihr das Wissen, als Wissen des Wissens, auf sich selbst bezieht. Offenkundig kommt es hier nun vor allem darauf an, das Problem richtig zu kennzeichnen, auf das die reflexive Form der Aufklärung eine Antwort zu geben versucht. Denn es leuchtet zwar unmittelbar ein, dass das Unwissen ein Problem darstellt, welches mit Hilfe von Wissenszuwachs, also mit Hilfe des ersten Aufklärungsbegriffs zu lösen ist; genau deshalb leuchtet es aber zunächst überhaupt nicht ein, dass die Problemlösung, also das Wissen, selbst zum dialektischen Problem werden kann.
III. Eine noch ganz vorläufige Exposition der nun zu thematisierenden Möglichkeit einer Dialektik der Aufklärung lässt sich – vor dem Hintergrund des soeben exponierten Begriffs der Aufklärung – im Ausgang vom Begriff des Wissens gewinnen. Die Souveränität und Macht, die das Wissen verleiht (oder zumindest verspricht), kann nämlich in eine neue Form der Ohnmacht umschlagen, wenn der Wissensfortschritt die Menge der Einzelerkenntnisse derart anwachsen lässt, dass der Überblick verloren geht. Gerade der mengenmäßige Zuwachs an Wissen – der als solcher nicht bezweifelt, sondern gerade vorausgesetzt wird – kann auf diese Weise auch als ein Weniger an Wissen, nämlich als ein Weniger an bewusst angeeignetem Wissen betrachtet werden. Die übergroße Mange an Teilerkenntnis-
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sen verhindert die Einsicht in den Zusammenhang, verhindert also die Erkenntnis des Ganzen oder das Wissen des Wissens: Man sieht – wie es sehr treffend heißt – den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Historisch tritt diese Einsicht in die Möglichkeit einer Dialektik des Wissens und der Aufklärung beim platonischen Sokrates auf, dessen kritische Reflexion auf das überbordende Wissensangebot der Sophisten reagiert. So warnt Sokrates im Dialog Protagoras ausdrücklich nicht vor den Gefahren des Unwissens, sondern vor den Gefahren des „falschen“ Wissens. Und es ist bezeichnend für die reflexive Form der sokratischen Aufklärung, dass hier das „Falsche“ des Wissens nicht im Sinne einer sachlichen Unrichtigkeit verstanden wird, sondern in dem Sinne, dass für sich genommen richtiges Wissen auch dann schädlich sein kann, wenn es dem nach Wissen Strebenden für seine bewusste Lebensführung unbrauchbar ist und dergestalt die Seele von der Beschäftigung mit dem für sie wahrhaft brauchbaren Wissen abhält oder ablenkt. Sokrates vergleicht den Sophisten mit einem Kaufmann oder Kleinkrämer, der Kenntnisse (d.h. Nahrungsmittel nicht für den Körper, sondern für die Seele) verkauft und feilbietet. Er fährt dann fort: Daß also nur nicht der Sophist uns betrüge, Freund, was er verkauft uns anpreisend, wie Kaufleute und Krämer mit den Nahrungsmitteln für den Körper tun. Denn auch diese verstehen selbst nicht, was wohl von den Waren, welche sie führen, dem Körper heilsam oder schädlich ist, loben aber alles, wenn sie es feil haben; noch auch verstehen es die, welche von ihnen kaufen, wenn nicht einer etwa ein Arzt ist […] Ebenso auch die, welche mit Kenntnissen in den Städten umherziehen und jedem, der Lust hat, davon verkaufen und verhökern, loben freilich alles, was sie feil haben; vielleicht aber, mein Bester, mag auch unter ihnen so mancher nicht wissen, was wohl von seinen Waren heilsam oder schädlich ist für die Seele, und ebenso wenig wissen es die, welche von ihnen kaufen, wenn nicht etwa einer darunter in Beziehung auf die Seele ein Heilkundiger ist. (Protagoras 313c-e)
Es ist offenkundig, dass diese kritische Reflexion unmittelbar auf Wissen, nicht auf Unwissen reagiert: Sie reagiert auf einen kommerziellen Wissensmarkt, auf dem eine unüberschaubare Menge von Informationen angeboten wird. Die wahre Unterweisung oder Aufklärung ist deshalb für Sokrates jene subtile Kunst, die – wie die Heilkunst des Arztes – gerade dadurch zu helfen versteht, indem sie – wie eine Diät – dem Menschen etwas nimmt (während der Sophist marktschreierisch verspricht, immer neues Wissen zu geben).2 Diese kritische Wende überführt die unreflektierte Aufklärung, die einfach dadurch zu nützen vermeint, dass sie Wissen
_____________ 2 Vgl. Sophistes 229-30. Das hier angedeutete Verständnis der sokratisch-platonischen Aufklärung findet sich ausführlich dargelegt in Wieland 1999.
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vermehrt, in eine reflektierte Aufklärung, die nicht länger eine Kritik des Unwissens, sondern eine Kritik des Wissens ist. Freilich ist diese Kritik des Wissens am Ende ebenfalls eine Kritik des Unwissens, jedoch eines Unwissens, das überhaupt erst durch das Wissen (und seine überbordende Quantität) möglich wird: So reagiert Sokrates kritisch auf die Unfähigkeit zu entscheiden, welches Wissen unter all dem angebotenen Wissen für die „Seele“, d.h. für die bewusste Lebensführung des Einzelnen förderlich oder schädlich ist. Der spezifische Sinn der sokratischen Aufklärung würde daher verkannt, wollte man sie bloß als Moralisierung des Wissens verstehen. Vielmehr wird in der moralischen Selbsterkenntnis nur eine selbstbezügliche Dimension des Wissens besonders deutlich, die letztlich jedem Wissen zu Grunde liegt. Die reflexive Aufklärung reagiert mithin auf eine Gefahr, die in jeder unreflektierten Aufklärung des bloßen Unwissens angelegt ist; die Gefahr, durch die bloße Anhäufung von Einzelkenntnissen, die sich in kein verantwortbares Wissen mehr integrieren lassen, eine neue Unmündigkeit zu befördern. Eine solche Unmündigkeit, die durch die blinde Wissensakkumulation einer unreflektierten Aufklärung überhaupt erst möglich wird, droht jedoch den eigentlichen Zweck der Aufklärung, die reflexive Dimension der Selbsterkenntnis, wieder zu verdecken. Die kritische Rettung dieser Dimension gegen einen unreflektierten Begriff des Wissens ist aber – so meine These – das Projekt der Metaphysik als einer Aufklärung der Aufklärung.
IV. Die von Kant geleistete Aufklärung der Aufklärung, die ich im Folgenden als eine reflexive Metaphysik der Aufklärung rekonstruieren will, knüpft deshalb nicht zufällig an Sokrates an, wenn sie zwischen dem Wissen, das für die Einzelwissenschaften kennzeichnend ist, und der Weisheit unterscheidet, welche die eigentümliche Wissensform der Philosophie darstellt. So heißt es bei Kant: Einem jeden Vorwitze nachzuhängen und der Erkenntnißsucht keine andre Grenzen zu verstatten als das Unvermögen, ist ein Eifer, welcher der Gelehrsamkeit nicht übel ansteht. Allein unter unzähligen Aufgaben, die sich selbst darbieten, diejenige auswählen, deren Auflösung dem Menschen angelegen ist, ist das Verdienst der Weisheit. Wenn die Wissenschaft ihren Kreis durchlaufen hat, so gelangt sie natürlicher Weise zu dem Punkte eines bescheidenen Mißtrauens und sagt, unwillig über sich selbst: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich nicht einsehe! Aber die durch Erfahrung gereifte Vernunft, welche zur Weisheit wird, spricht in dem Munde des Sokrates mitten unter den Waaren eines Jahrmarkts mit heiterer Seele: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich alle nicht brauche! (AA II 368f.; Hervorhebung: A.H.)
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Vor diesem Hintergrund muss Kants oft zitiertes und oft missverstandenes Diktum von der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ verstanden werden, aus der die Aufklärung den Menschen befreien soll. Die Ursache der Unmündigkeit liegt nämlich Kant zufolge durchaus nicht an einem schlichten Unwissen, d.h. durchaus „nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes“, sich des Verstandes „ohne Leitung eines Andern zu bedienen“. Mut und Entschlossenheit bilden dergestalt bei Kant das Gegenstück zu „Faulheit und Feigheit“ – eine Opposition, die sich offenkundig nicht als Differenz zwischen Wissen und Unwissen verstehen lässt.3 Vielmehr reflektiert Kant auf die genuin praktisch verfasste Selbstbezüglichkeit jedes Wissens, die das wahrhaft aufgeklärte Denken in einem Selbstdenken begründet und allein durch diese Begründung von aller Bevormundung befreit. Die aufgeklärte Vernunft beruht demnach für Kant wesentlich auf dem nicht delegierbaren Risiko des selbstverantwortlichen Denkens, das bei Kant zum Einheitspunkt des menschlichen Wissens avanciert: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da […] öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgeklärt ist. (AA VIII 146 Anm.)
Der Reichtum an Kenntnissen steht also, wie Kant unzweideutig betont, nicht von vornherein im Einklang mit dem Motiv der Aufklärung, sondern kann in einer dialektischen Wendung ins Gegenteil der Aufklärung umschlagen. Die „Faulheit und Feigheit“, die nach Kant der selbstverschuldeten Unmündigkeit zugrunde liegt, wird von hier aus als Hang zu der eigentümlichen Bequemlichkeit verständlich, sich im Denken vertreten zu lassen. „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“ (AA VIII 35). Das Denken der Aufklärung schlägt demnach dort in eine neue, selbstverschuldete Unmündigkeit um, wo es der Versuchung eines überwältigend bunten Wissensmarktes erliegt und die leidige Anstrengung des Selbstdenkens an Experten und Spezialisten delegiert. Ein solches Denken kann aber mit gutem Grund unmündig und damit unaufgeklärt genannt werden, wobei diese Unmündigkeit „selbstverschuldet“ ist, weil sie nicht Unwissen, sondern Wissen voraussetzt.
_____________ 3 Vgl. AA VIII 35; WA.
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V. Für die kritische Rekonstruktion der Metaphysik als Aufklärung der Aufklärung ist es nun von entscheidender Bedeutung, dass Kant mit dem soeben umrissenen Programm einer Aufklärung, die aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herausführen will, in einer ganz expliziten und nachdrücklichen Weise das Programm einer Neubestimmung der Metaphysik verbindet. Die aufklärerische Kritik an der überkommenen Metaphysik, die Kant keineswegs zurücknehmen will, hat nämlich im Zuge des selbstverschuldeten Unmündigwerdens der Aufklärung zu einem, wie Kant sagt, „gänzlichen Indifferentismus“ geführt, der die ursprüngliche Humanität der Aufklärung konterkariert. Denn die unreflektierte Aufklärung schickt sich nach Kants Einsicht an, inmitten eines sich ständig beschleunigenden Wissensfortschritts zu einem „Überdruß“ am Wissen zu führen, der – so Kant weiter – „die Mutter des Chaos und der Nacht“ ist.4 Dieser auf paradoxe Weise aus dem Wissen geborenen Nacht gilt Kants reflexive Metaphysik der Aufklärung. Kants Kritik der reinen Vernunft dient also, wie es in der Vorrede zur zweiten Auflage heißt, der „Beförderung einer gründlichen Metaphysik“ (KrV B XXXVI) – eine Wendung, die sich offenkundig gleichermaßen gegen die nicht gründliche Metaphysik der Tradition und die pauschale Metaphysikverwerfung des skeptischen Indifferentismus wendet. Die transzendentale Vernunftkritik geht dabei von der grundlegenden Beobachtung aus, dass es aus philosophisch noch zu klärenden Gründen „unmöglich“ ist, dem Denken „die Fragen abzugewöhnen“, die unweigerlich auf das Programm einer Metaphysik der Aufklärung führen. Denn diese Fragen, so Kant, sind so mit der Natur der Vernunft verwebt, daß wir ihrer nicht los werden können. Auch alle Verächter der Metaphysik, die sich dadurch ein Ansehen heiterer Köpfe geben wollen, hatten, selbst Voltaire, ihre eigene Metaphysik. Denn ein jeder wird doch etwas von seiner Seele denken (AA XXIX 765).
Der Hinweis auf die Seele ist hier sehr instruktiv. Denn er macht deutlich, dass Kant die Notwendigkeit einer Erneuerung der Metaphysik unter Bedingungen der neuzeitlichen Aufklärung deshalb für unumgänglich hält, weil das in einer spezifischen Weise „freie“ Wissen der Aufklärung wesensmäßig in der fundamentalen Freiheit des selbstbewußten Verhältnisses des Menschen zu sich selbst (Seele) verankert ist. Die Möglichkeit einer Dialektik der Aufklärung ergibt sich nun aus dem Umstand, dass das freie Selbstbewußtsein des Menschen im reflexi-
_____________ 4 Vgl. Kants Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV A X).
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ven Bezug auf sich selbst zwar jeder Aufklärung zu Grunde liegt, durch ein einseitiges und verkürztes Verständnis des aufgeklärten Wissens aber fortschreitend untergraben und gefährdet werden kann. Im kritischen Gegenzug hierzu lassen sich bei Kant alle Grundfragen einer Metaphysik der Aufklärung in die eine Frage zusammenfassen: „Was ist der Mensch?“ (AA IX 25).5 Dabei ist bei Kant die Überzeugung leitend, dass der Mensch sich zwar auch auf eine unmetaphysische oder sogar antimetaphysische Weise verstehen kann, dass er sich aber auf diese Weise nicht vollständig verstehen kann, sondern in der Einseitigkeit seines Selbstverständnisses eine Dunkelheit seines bewußten Selbstbezuges fördert, die dem Programm der Aufklärung direkt zuwiderläuft. Die kritische Erkenntnis von der Fundierung des gegenständlichen Wissens in einem ungegenständlichen Selbstwissen des Menschen ist dergestalt geeignet, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Kant bringt diese kritische Erkenntnis in einem zentralen Lehrstück seiner Transzendentalphilosophie auf den Begriff, das zwar häufig angeführt, doch selten in seiner systematischen Tragweite verstanden wird: im Lehrstück vom „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (AA V 119ff.).6 Denn die reine praktische Vernunft ist bei Kant genau jenes Grundvermögen des freien reflexiven Selbstwissens, das allem anderen Wissen zu Grunde liegt und daher einen „Primat“ besitzt, den es kritisch zu verteidigen gilt gegenüber einem Monopolanspruch der gegenständlichen, „spekulativen“ Wissensform. Daher sagt Kant: Die reine praktische Vernunft, „wenn allererst dargetan worden, daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält“ (AA V 16). Auch hier wäre es völlig verfehlt, Kants kritischen Ansatz bei der reinen praktischen Vernunft als eine Moralisierung des Wissens zu verstehen und dadurch zu bagatellisieren. Vielmehr macht Kant mit seiner Lehre vom Primat der reinen praktischen Vernunft erneut deutlich, dass am Ende jedes Wissen in einer selbstbezüglichen Freiheitsdimension des Menschen begründet ist, die in der genuin moralischen Vernunfterkenntnis nur besonders deutlich wird. Eine über die Grenzen der Moralphilosophie hinaus verallgemeinerte Lehre vom Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen führt aber genau auf jenes Projekt, das hier als Metaphysik der Aufklärung rekonstruiert werden soll.
_____________ 5 Vgl. hierzu Hutter 2003, 88ff. 6 Vgl. Hutter 2003, 150ff.
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Denn Kant selbst verknüpft den Begriff der Metaphysik mit seinem Programm einer reflexiven Rückbesinnung auf das zunächst moralisch zu deutende Selbstverhältnis der menschlichen Freiheit: kein moralisches Prinzip gründet sich […], wie man wohl wähnt, auf irgend einem Gefühl, sondern ist wirklich nichts anders, als dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt; wie der Lehrer es leicht gewahr wird, der seinen Lehrling über den Pflichtimperativ und dessen Anwendung auf moralische Beurtheilung seiner Handlungen sokratisch zu katechisiren versucht (AA VI 376).
Ganz offenkundig stellt sich Kant hier in die Tradition der sokratischen Aufklärung, die er auf eine neue Weise fortführen will, indem er sie an die gegenüber der antiken Sophistik veränderte Gestalt der Dialektik der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert anpaßt.
VI. Die konkrete Durchführung von Kants Metaphysik der Aufklärung setzt mit der systematischen Unterscheidung zwischen einer endlichen oder bedingten Erkenntnisweise sowie einer unendlichen oder unbedingten Erkenntnisweise ein, die für die Architektur der transzendentalen Vernunftkritik schlechthin grundlegend ist und von Kant terminologisch in die systematische Leitdifferenz von Verstand und Vernunft gefasst wird. In diesem Sinne sagt Kant mit großem Nachdruck: Die Unterscheidung der Ideen, d. i. der reinen Vernunftbegriffe, von den Kategorien oder reinen Verstandesbegriffen, als Erkenntnissen von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch, ist ein so wichtiges Stück zur Grundlegung einer Wissenschaft, welche das System aller dieser Erkenntnis a priori enthalten soll, daß ohne eine solche Absonderung Metaphysik schlechterdings unmöglich oder höchstens ein regelloser, stümperhafter Versuch ist […] Wenn Kritik der reinen Vernunft auch nur das allein geleistet hätte, diesen Unterschied zuerst vor Augen zu legen, so hätte sie dadurch schon mehr zur Aufklärung unseres Begriffs und der Leitung der Nachforschung im Felde der Metaphysik beigetragen, als alle fruchtlose Bemühungen, den transzendenten Aufgaben der reinen Vernunft ein Gnüge zu tun, die man von je her unternommen hat, ohne jemals zu wähnen, daß man sich in einem ganz andern Felde befände als dem des Verstandes und daher Verstandes- und Vernunftbegriffe, gleich als ob sie von einerlei Art wären, in einem Striche hernannte. (AA IV 328f.)
Mit anderen Worten: die kritische Unterscheidung von Vernunftideen und Verstandeskategorien ist Kant zufolge das zentrale Lehrstück einer transzendental erneuerten Metaphysik der Aufklärung. Dabei ist es für das nähere Verständnis von Kants Metaphysik der Aufklärung entscheidend, dass die qualitative Differenz zwischen Ver-
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stand und Vernunft nicht als simpler Dualismus missverstanden werden darf. Vielmehr verhalten sich die vielen Verstandeserkenntnisse zur einen Vernunftidee wie die Teile zum Ganzen: Sie sind von der Vernunfteinheit qualitativ verschieden und gerade in dieser Verschiedenheit – als Teile – auf das Ganze bezogen. Der Begriff des Teils impliziert deshalb den notwendigen Verweis auf ein Ganzes, das vorauszusetzen ist, um überhaupt von einem Teil sprechen zu können. Dabei lässt sich leicht zwischen einem Ganzen unterscheiden, das selbst wiederum Teil eines umfassenderen Ganzen ist, und einem Ganzen, das selbst nicht als Teil gedacht werden kann, weil es exakt dadurch definiert ist, das schlechthin Umfassende zu sein, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Das erstgenannte Ganze könnte man das relative oder bedingte Ganze nennen, das letztgenannte hingegen das absolute oder unbedingte Ganze. Wird also irgend etwas als „Teil“ gedacht, dann bewegt sich das Denken – wenn es die logischen Implikationen des Begriffs „Teil“ konsequent zu Ende denkt – über das relative Ganze zum unbedingten Ganzen, das die logische Bedingung der Möglichkeit darstellt, überhaupt etwas als „Teil“ zu verstehen. Das unbedingte Ganze lässt sich nun – und das ist für den weiteren Gedankengang entscheidend – nicht in gleicher Weise thematisieren wie ein Teil oder ein bedingtes Ganzes. Denn einem relativen Ganzen kann das Bewusstsein gegenübertreten und es in einer äußeren Relation thematisieren, von der das thematisierte Ganze und das Bewusstsein jeweils einen Teil bilden. Dem unbedingten oder absoluten Ganzen kann das Bewusstsein jedoch offenkundig nicht in gleicher Weise objektivierend gegenübertreten, da dann das Bewusstsein ein Teil außerhalb des absolute Ganzen wäre, das absolute Ganze also selbst zu einem Teil der übergreifenden Relation zwischen Ganzem und Bewusstsein würde, was der Definition des absoluten Ganzen unmittelbar widerstreitet. Das absolute Ganze kann sich deshalb nur selbst thematisieren, weil das Denken, welches das absolute Ganze thematisiert, nur als ein Teil des Thematisierten zu verstehen ist. Von Kant wird dieser zentrale Gedanke folgendermaßen ausgedrückt: Der Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft den reinen Verstand einschränkt, erfüllt nicht ihre eigene ganze Bestimmung. Jede einzelne Erfahrung ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Erfahrung und dennoch ein notwendiges Problem für die Vernunft, zu dessen bloßer Vorstellung sie ganz anderer Begriffe nötig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe, deren Gebrauch nur immanent ist, d.i. auf Erfahrung geht, so weit sie gegeben werden kann, indessen daß Vernunftbegriffe auf die Vollständigkeit, d.i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung, und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinausgehen. (AA IV 327f.)
Kant nennt demnach die stets relative Erkenntnisweise, die auf Einzelund Teilerkenntnisse abzielt, den Verstand; die Vernunft thematisiert
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hingegen das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung, das aus den angegeben Gründen selbst keine Erfahrung, also Teil eines größeren Ganzen sein kann, sondern allein in der Form einer vernünftigen Selbsterkenntnis zu thematisieren ist. Bei aller Verschiedenheit von Verstandes- und Vernunfterkenntnis gilt es aber festzuhalten, dass es sich bei beiden Erkenntnisweisen um Formen der Einheitsbildung handelt, da Erkenntnis als Erkenntnis für Kant stets Synthesis, d.h. Verbindung und In-Beziehung-Setzen ist.7 Allerdings gewinnt das Einheitsmoment, das den Verstand als Erkenntnisvermögen ausmacht, im Zuge der Verstandeserkenntnis nur eine relative Geltung und bleibt so eher unthematisch; die Vernunfterkenntnis ist hingegen bei Kant gerade dadurch definiert, dass sie das dem Verstand Unthematische und Verborgene reflexiv ins Bewusstsein hebt und auf diese Weise nicht nach einer Einheit der Erkenntnis, sondern nach der Einheit der Erkenntnis fragt.8 „So bezieht sich“, wie Kant es formuliert, „die Vernunft nur auf den Verstandesgebrauch“, „um ihm die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinaus geht, alle Verstandeshandlungen in Ansehung eines jeden Gegenstandes in ein absolutes Ganzes zusammen zu fassen“. (KrV B 383)
VII. Der Mensch, der die Naturwirklichkeit mit dem Verstand zu erkennen vermag, geht genau deshalb selbst im Naturzusammenhang nicht auf, da das stets bedingte Wissen des Verstandes ein Wissen „von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch“ zur Bedingung seiner Möglichkeit hat. Dieses aus transzendentaler Freiheit entspringende unbedingte Selbstwissen der Vernunft versucht Kants kritische Metaphysik der Aufklärung gegen dogmatische wie skeptische Missverständnisse gleichermaßen zu verteidigen. Das dogmatische Missverständnis verkennt die qualitative Differenz zwischen Verstandes- und Vernunftbegriffen und versucht ein positives Verständnis der letzteren am Leitfaden des vertrauten Gebrauchs der ersteren zu gewinnen. Dieses Unternehmen einer dogmatischen Metaphy-
_____________ 7 „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien.“ (KrV B 359) 8 Der „eigentümliche Grundsatz der Vernunft“ besteht also, wie Kant es formuliert, genau darin, „zu der bedingten Erkenntnis des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“. (KrV B 364)
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sik muss aber Kant zufolge notwendigerweise misslingen, da sich Vernunftbegriffe nicht in derselben Weise rechtfertigen lassen wie Verstandesbegriffe. Das skeptische Missverständnis schließt aus dem Scheitern der dogmatischen Metaphysik vorschnell auf die Unmöglichkeit einer jeden Metaphysik. Denn die Skepsis teilt mit der Dogmatik gerade den systematischen Grundirrtum: die Vermischung von Verstandes- und Vernunftbegriffen. Gerade deshalb leuchtet der Skepsis, wie Kant kritisch darlegt, der Fehlschluss vom Scheitern der Dogmatik auf die Nichtrealität der Vernunftbegriffe überhaupt ein. Gegenüber der dogmatischen wie skeptischen Neutralisierung der spezifischen Geltungsweise der metaphysischen Begriffe macht der kritische Weg Kants die Eigenlogik der Vernunftbegriffe geltend, die allesamt aus der transzendentalen Freiheit des Menschen entspringen. Diese zentrale Einsicht begründet aber die entscheidende Wende in Kants kritischer Metaphysik: die kopernikanische Wende zum Primat der praktischen Vernunft, d.h. zur Maßgeblichkeit jener Vernunft, welche die Wirklichkeit nicht länger als ein gegenständlich Gegebenes, sondern als ein Ensemble von Mitteln für Zwecke begreift, als ein Ensemble mithin, das in letzter Instanz auf einen unbedingten Zweck verweist, der sich nicht wiederum zu einem Mittel für höhere Zwecke depotenzieren lässt.9 Die Antwort auf die nicht anthropologisch, sondern metaphysisch gemeinte Vernunftfrage „Was ist der Mensch?“ lautet also bei Kant am Ende, dass der Mensch sich erst dort angemessen selbst versteht, wo er seine natürliche Existenz als Mittel für jenen unbedingten Selbstzweck begreift, der sich in der unbedingten Autonomie der Vernunft artikuliert. Dass dies keineswegs eine abstrakte oder leere Auskunft ist, zeigen jene besonders beeindruckenden Passagen in Kants Werk, die mit großer Eindringlichkeit die Selbsterfahrung des Menschen in der Spannung zwischen natürlicher und vernünftiger Existenz vergegenwärtigen. Die wohl beeindruckendste dieser Passage steht am Ende der Kritik der praktischen Vernunft, wo es heißt: Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht […]: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. […] Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen […] Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat […] Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs
_____________ 9 Vgl. Marquard 1973, 42.
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[…] Der zweite erhebt dagegen meinen Werth, als einer Intelligenz, unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart […] (AA V 161f.)
Diese Passage, die es wahrlich verdient, aus dem Museum für häufig zitierte, aber kaum mehr ernst genommene Zitate befreit zu werden; diese Passage macht erneut Kants leitende Einsicht deutlich, dass der Mensch von vornherein in metaphysische Überzeugungen verstrickt ist, und zwar deshalb, weil er Mensch und damit ein Vernunftwesen ist, dem wahre Unendlichkeit zukommt. Die Frage ist also nie, ob er eine Metaphysik besitzt oder nicht, sondern stets, ob er eine schlechtere oder bessere Metaphysik besitzt. Deshalb sagt Kant sehr treffend: Daß der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist eben so wenig zu erwarten, als daß wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Atemholen einmal lieber ganz und gar einstellen würden. Es wird also in der Welt jederzeit, und was noch mehr, bei jedem, vornehmlich dem nachdenkenden Menschen Metaphysik sein. (AA IV 367)
VIII. Die Dialektik der Aufklärung, die mit einer ungelösten Dialektik der Vernunft einhergeht, lässt sich von hier aus durch die abschließende Überlegung bestimmen, dass eine politische Aufklärung, die sich von einem auf den bloßen Verstand verkürzten Vernunftbegriff leiten lässt, stets Gefahr läuft, die genuin metaphysische Idee der Freiheit auf eine gelungene Form der natürlichen und damit endlichen Selbsterhaltung zu reduzieren. Eine solche Verwechslung der unendlichen Freiheit mit der endlichen Natur führt aber notwendigerweise zu einer Versperrung jener genuin politischen Dimension im menschlichen Selbstverständnis, die nicht den endlichen Zwecken der natürlichen Selbsterhaltung, sondern allein den Anforderungen einer metaphysischen Selbsterhaltung der Vernunft entspringt. Ein strikt naturalisierter Begriff der menschlichen Selbsterhaltung kann deshalb nur auf eine Selbsterhaltung ohne Selbst hinauslaufen, weil sich der Mensch nur in einem Freiheitszusammenhang als wahrhaft unendliche Person verstehen und erhalten kann. Die quantitativ enorme Vermehrung an positivem Wissen, die jeder epochale Wissensschub mit sich bringt, scheint zwar notwendig zu einer Verminderung der relativen Bedeutung des Wissens zu führen, das der je Einzelne besitzt. Dies darf aber nicht dazu verleiten, die absolute Bedeutung und die darin implizierte Undelegierbarkeit des Selbstdenkens, die nach Kant dem Projekt der Aufklärung zu Grunde liegen, zu relativieren und damit ins Gegenteil ihrer selbst zu verkehren. Angesichts der quantita-
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tiven Übermacht des fremden Wissens in einer professionalisierten Experten- und Spezialistenkultur vermag das Selbstdenken des je Einzelnen somit nur dann den unverfügbaren Rang eines letzten Probiersteins der Wahrheit zu wahren, wenn ihm mit guten Gründen ein absolutes Moment zugesprochen werden kann, dessen immanente Unendlichkeit sich in qualitativem Sinne von der relativen Übermacht der äußeren Wissensmenge unterscheidet. Paradigmatisch für ein solches Vorgehen ist Kants reflexive Antwort auf den Wissensschub der klassischen Physik und Astronomie, der sich mit dem Namen Newtons verbindet. Es steht nun m.E. außer Zweifel, dass wir spätestens seit Beginn des 20 Jahrhunderts (etwa in der modernen Physik und Biologie) einen neuen Wissensschub von vielleicht bislang unbekanntem Ausmaß erleben, der bis heute andauert; ebenso unzweifelhaft erscheint mir aber auch, dass die dringende Notwendigkeit einer reflexiven Antwort auf diesen Aufklärungsschub des Unwissens vermittels einer erneuerten Aufklärung des Wissens zwar bisweilen deutlich als Aufgabe gesehen wurde, aber bis heute nicht wirklich geleistet worden ist. Wenn meine These richtig ist, dass das Resultat einer erfolgreichen Reflexion der Aufklärung eine undogmatische Metaphysik der Aufklärung ist, dann wäre es geradezu naiv und weltfremd zu meinen, wir lebten in einem nachmetaphysischen Zeitalter. Das Gegenteil ist richtig: Wir leben – hoffentlich – erneut in einem vormetaphysischen Zeitalter. Aus dieser aktuellen und systematisch motivierten Problemlage ergibt sich demnach am Ende meines Vortrags die konkrete Möglichkeit, aber auch die konkrete Verpflichtung, die metaphysischen Epochen der Tradition mit neuen Augen zu betrachten, um zu erkennen, dass wir heute zum wiederholten Male vor der Aufgabe stehen, die Moderne vor den Pathologien einer unreflektierten, dogmatisch verfestigten Aufklärung und einer daraus notwendig entspringenden schlechten Verstandesmetaphysik der verabsolutierten Endlichkeit zu bewahren.
Literatur Henrich, D. / Horstmann, R.-P. (1988): Metaphysik nach Kant?, Stuttgart. Hutter, Axel (2003): Das Interesse der Vernunft, Hamburg. Marquard, Odo (1973): Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main. Wieland, Wolfgang (1999): Platon und die Formen des Wissens, 2. Aufl., Göttingen.
Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft Günter Zöller Ziel der folgenden Ausführungen ist die Verortung Kants im modernistischen Projekt der Aufklärung. Auf der Grundlage von Kants expliziten Stellungnahmen zum Begriff der Aufklärung wird das Ausmaß an Nähe wie Distanz, das Kants Verhältnis zum Vorhaben der Aufklärung in der Sache kennzeichnet, erörtert. Dabei wird für Kant ein vertieftes Verständnis von Aufklärung geltend gemacht, das die emanzipatorische Dimension der Selbstbefreiung der Vernunft um die disziplinatorische Dimension der Selbstbegrenzung der Vernunft ergänzt. Insbesondere wird herausgestellt, dass für Kant Aufklärung etwas anderes bedeutet als die Liberalisierung des Denkens durch Abschaffung von vorgegebenen Ordnungen und Denkgewohnheiten. Kern von Kants Aufklärungsbegriff ist der öffentliche und selbstgesetzliche, „freie“ Gebrauch der Vernunft. Der erste Abschnitt behandelt die Sonderstellung Kants in der deutschen Spätaufklärung. Der zweite Abschnitt widmet sich der doppelten Anforderung von Selbständigkeit und Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs in Kants Aufklärungsbegriff. Der dritte Abschnitt erörtert die Aufnahme des Konzepts der Selbsterhaltung der Vernunft in den Aufklärungsbegriff bei Kant. Der vierte Abschnitt thematisiert die spezifische Funktion der Aufklärung als Maxime selbständigen Denkens im Kontext von Kants Überlegungen zur Idee eines Gemeinsinns.
1. Die Aufklärung und Kant Die Aufklärung gilt heute zumeist als eine auf das 18. Jahrhundert datierte historische Epoche der europäischen Kultur.1 Sie ist damit ein Untersu-
_____________ 1 Für eine umsichtige Gesamtdarstellung, die auch eine aktuelle Bibliographie zum Thema enthält, siehe Stollberg-Rilinger 2000.
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chungsgegenstand der Geistesgeschichte („intellectual history“), dem man sich mit den Methoden des Historikers, in Einzelfällen auch denen des Philosophiehistorikers, nähert. Wer darüber hinaus auf die historische Epoche der Aufklärung Bezug nimmt, tut dies oft in abwertender oder polemischer Absicht. Konservative beklagen den durch die Aufklärung herbeigeführten Wandel oder gar Verfall traditioneller Werte und Institutionen. Ökologisch Gesinnte beklagen den von der Aufklärung in Gang gesetzten Fortschrittsoptimismus und die damit einhergehende technologische Zurichtung der Natur. Liberal Gesinnte bemängeln das sozialtechnologische Erbe der Aufklärung mit seiner Vorstellung von der wissenschaftlich steuerbaren Gesellschaft. Linksgerichtete schließlich bemängeln an der Aufklärung deren heimliche Kontinuität mit voraufklärerischen Strukturen von Herrschaft und Gewalt, die Aufklärung zu dem regredieren lassen, als dessen gerades Gegenteil sie antrat. Gering ist die Zahl derer, die die Epoche der Aufklärung in Hochschätzung halten und die deren Leitideen und Programmen im Wesentlichen weiterhin geistig und philosophisch verbunden sind.2 Das mag auch daran liegen, dass die historischen Errungenschaften der Aufklärung – die Abschaffung von Folter und Leibeigenschaft, das Erstreiten von Gedanken- und Pressefreiheit, die Praxis von religiöser und politischer Toleranz, die Entlarvung des Aberglaubens und die Beschränkung der institutionellen Macht von Staat und Kirche – zu selbstverständlichen Grundannahmen menschenwürdigen Lebens geworden sind, wenn nicht in der Praxis, so doch zumindest in vielen Köpfen. So profitiert noch die teils antimoderne, teils nachmoderne Aufklärungsschelte parasitär am bedingten historischen Erfolg der Aufklärung. Die historische Undankbarkeit gegenüber der Epoche der Aufklärung ist besonders auffällig in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte. Der schwere Stand der Aufklärung ist hier sicher bedingt durch die beiden Entwicklungen zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die die deutsche Spätaufklärung zum Zeitpunkt ihrer Hochblüte innerhalb weniger Jahre im kulturellen Bewusstsein der jüngeren Zeitgenossen und der Nachwelt bis heute verdrängt haben: die literarische Romantik und der philosophische Idealismus. So haben deutsche Romantiker und Naturphilosophen in gezielter Gegenbewegung zur Zukunftsorientierung und Lichtmetaphorik der Aufklärung das Vergangene, das Dunkle und die Nacht poetisch, politisch und philosophisch aufgewertet, und deutsche Idealisten und Geistphilosophen haben die Aufklärung geschichtsphilosophisch wie philoso-
_____________ 2 Unter den deutschen Intellektuellen ist hier in erster Linie Jürgen Habermas zu nennen. Siehe besonders Habermas 1962. Zur Debatte um die Aktualität der Aufklärung siehe Schmidt 1996.
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phiegeschichtlich klassifiziert, relativiert und im Rahmen ihrer fortgeschrittenen Theoriebildung für überwunden erklärt. Doch eher noch und wohl auch nachhaltiger als die Dichter und Denker in Jena, Heidelberg, Berlin und München hat ein anderes Phänomen zum historisch-distanzierten Verhältnis des kulturellen Deutschland zur Aufklärung beigetragen. Es war der wohl größte Exponent der Aufklärung, Immanuel Kant, durch dessen kritisches Werk die Aufklärung in substantieller und methodischer Hinsicht faktisch deklassiert und marginalisiert wurde. Gewiss: Kant fühlte sich durchgängig dem Geist der Aufklärung verpflichtet und verstand sein Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft als innerphilosophische Fortsetzung der aufklärerischen Kritik an Dogmen und Autoritäten.3 Doch übertraf der Anti-Dogmatismus Kants an Radikalität und Reflektiertheit alles in der Praxis von Kritik zuvor in der Aufklärung Gekannte und für möglich Gehaltene. Und dies so sehr, dass nun auch wesentliche Grundannahmen der Aufklärung selbst Gegenstand von aufklärerischer Metakritik wurden. So stellt sich der kritische Kant explizit gegen die im späten 18. Jahrhundert nicht nur in Deutschland weit verbreite letztinstanzliche Inanspruchnahme des gesunden Menschenverstandes, gegen die epistemologische Position des naiven Realismus, gegen die metaphysische Grundannahme des Naturalismus, gegen die moralische Grundlehre des Eudaimonismus und gegen den ästhetischen Empirismus. Diesem Cluster von der Aufklärung verpflichteten Positionen setzt Kant gezielt den methodologischen Szientismus, den epistemologischen Idealismus, den metaphysischen Supranaturalismus, den moralischen Rigorismus und den ästhetischen Apriorismus entgegen. Insbesondere aber konfrontiert Kant den Synkretismus und Eklektizismus der Aufklärung, wie er insbesondere die deutsche Spätaufklärung und zumal deren Berliner Institutionen prägte, mit dem Absolutheitsanspruch der kritisch, im Geiste des transzendentalen Idealismus neubegründeten Ersten Philosophie. Besonders augenfällig und anstößig für die Zeitgenossen war dabei die Konfrontation der auf Einfachheit und Eingängigkeit abzielenden Popularphilosophie, die in Deutschland insbesondere von Christian Garve und Friedrich Nicolai repräsentiert wurde, mit den hochkomplexen Argumentationsverläufen bei Kant und seinen Nachfolgern.4 Im offensichtlichen
_____________ 3 Siehe KrV A XIff. (Vorrede A). Zur durchgängigen Präsenz der Aufklärung in Kants Denken siehe Scholz 2006. 4 Siehe dazu die weniger von Unverständnis als von Unmut geprägten Rezensionen der Kritik der reinen Vernunft durch Garve und Feder bzw. Garve aus dem Jahre 1782 bzw. 1783. Wiederabdruck in Kant 1989, 192-200 bzw. 219-246. Siehe auch Kants Replik mit der Zurückweisung von Wahrscheinlichkeit und Mutmaßung sowie von
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Gegensatz zur programmatischen Weltläufigkeit des spätaufklärerischen Denkens schien hier eine auf Gelehrtenzirkel beschränkte neue Schulphilosophie oder Scholastik zu erstehen, deren Exklusivität und Esoterik die von der Aufklärung propagierte Öffnung der Philosophie gegenüber breiteren Kreisen zu gefährden schien. Mit dem konstitutiven Abzielen auf Wissen statt Meinen, auf Gewissheit statt Vermutung, auf Wahrheit statt Wahrscheinlichkeit etablierte Kants kritisches Denken ein den Zeitläufen gänzlich unvertrautes Ideal von Philosophie als strenger Wissenschaft. Unter dem teils einschüchternden, teils abschreckenden Eindruck der kantischen Vernunftwissenschaft übersahen dabei die meisten Zeitgenossen die bei Kant von Anfang an intendierte und von ihm und seinen Nachfolgern, insbesondere Reinhold und Fichte, auch eigens durchgeführte Integration der Vernunfttheorie des Wissens mit der Vernunfttheorie der Freiheit sowie den Übergang vom Wissen zum Vernunftglauben und von der Philosophie als Schulwissenschaft zur Philosophie als Weltweisheit.5 Was sich der Wahrnehmung der meisten Zeitgenossen aber vollends entzog, war die bei Kant vorliegende konzeptuelle Vertiefung und Radikalisierung der Aufklärung, die in doppelter Hinsicht festzustellen ist. In formaler Hinsicht kommt es bei Kant zum Reflexivwerden der Aufklärung. War die Aufklärung bislang überwiegend ein sozialpädagogisches Anliegen mit dem Ziel, Unwissenheit und Aberglauben bei anderen aufzudecken und zurückzudrängen, so wendet sich der autoritätskritische Geist der Aufklärung mit Kant der Aufklärung selbst zu, um deren eigene Vorurteile bloßzustellen und durch eine Aufklärung höherer Stufe zu überwinden. Kant entlarvt den Dogmatismus im Herzen der skeptischen Aufklärer und etabliert den Kritizismus oder die Selbstkritik der Vernunft als den ersten und einzigen nicht-dogmatischen Typus des Philosophierens. In inhaltlicher Hinsicht geht Kant über die im wesentlichen negativ-kritische Haltung der Aufklärung als einer intellektuellen Befreiungsbewegung hinaus und gelangt zu substantiellen Einsichten in die Bedingungen und Grenzen des Freiheitsgebrauchs, ohne dabei den emanzipatorischen Impuls der Aufklärung aufzugeben. Dadurch wird bei Kant der aufklärerische Geist
_____________ Berufung auf den gesunden Menschenverstand als unverträglich mit wissenschaftlicher Philosophie in AA IV 369-371 (Prol, Auflösung der allgemeinen Frage der Prolegomenen). 5 Zum Ergänzungsverhältnis zwischen Wissen und Glauben bei Kant siehe, AA IV 350-365 (Prol, Beschluß von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft), KrV B XXIVff. (Vorrede zur zweiten Auflage), AA V 132ff. (KpV, Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft) und das umfangreiche Fragment einer Preisschrift zur Frage Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf's Zeiten gemacht hat? in AA XX 253-332 und 333-351 sowie AA XXIII 469-476.
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zutiefst in die Grundlagen wie die Anwendungsdimension des philosophischen Denkens integriert.
2. Das Selberdenken und der öffentliche Vernunftgebrauch In Deutschland mündet die Aufklärung in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts in eine öffentliche Debatte über die Bedeutung der Begriffe „Aufklärung“ und „aufklären“, an der sich, außer Moses Mendelssohn, auch Immanuel Kant beteiligt.6 Ausgelöst wird der Meinungsaustausch durch einen Beitrag des Berliner Pfarrers Johann Friedrich Zöllner gegen die Institution der Zivilehe in der Berlinischen Monatschrift, dem zentralen Publikationsorgan der deutschen Spätaufklärung, in der kurz zuvor ein anonymes Plädoyer für die nicht-kirchliche Eheschließung erschienen war. Zöllner bemängelt die „unter dem Namen der Aufklärung“ gestiftete intellektuelle und moralische Verwirrung und wirft den Vertretern der Aufklärung die unzureichende theoretische Grundlegung ihres Unternehmens vor: Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit?, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge!7
Als erster stellte sich Moses Mendessohn Zöllners Herausforderung.8 Für Mendelssohn sind Aufklärung, Bildung und Kultur Formen der Verbesserung menschlicher Sozialexistenz. Dabei fungiert Bildung als Gattungsbegriff für die progressive gesellschaftliche Formation, während Kultur und Aufklärung die spezifisch praktisch-technische bzw. spezifisch theoretisch-kognitive Ausprägung der jeweiligen Bildungsprozesse bedeuten. Durchgängig setzt Mendelssohn die Bildungsanstrengungen ins Verhältnis zu der teleologisch konzipierten Norm menschlichen Gesellschaftslebens oder der „Bestimmung des Menschen“9. Für Mendelssohn gehört nur die Aufklärung, also die kognitive Sozialisation, wesentlich zur Bestimmung des Menschen als Mensch, zu der dann die jeweilige Sozialisierung zu speziellen praktischen Funktionen im Rahmen von Kultur oder Kultivierung hinzutritt: „Der Mensch als Mensch bedarf keiner Kultur: aber er bedarf Aufklärung.“10
_____________ 6 Für eine repräsentative Sammlung der einschlägigen Text siehe Kant/Erhard 1989. 7 Kant/Erhard 1989, 3. 8 Mendelssohn 1784. 9 Zu Mendelssohns Verständnis der Bestimmung des Menschen siehe Zöller 2001. 10 Mendelssohn 1784, 5.
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Kants unabhängig von Mendelssohn praktisch zeitgleich vorgenommene „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“11 setzt ein mit der berühmten definitorischen Festlegung, der zufolge Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“12 ist. Wie Mendelssohn versteht Kant die Aufklärung als Erkenntnisfortschritt, und auch Mendelssohns Subordination der Aufklärung unter die Bestimmung des Menschen hat ihr Gegenstück bei Kant, wenn dieser die Aufklärung vom „Beruf jedes Menschen, selbst zu denken“ her auffasst. Allerdings ist die teleologische Konzeption menschlicher Existenz bei Kant nicht mehr, wie bei Mendelssohn, auf eine objektiv vorgegebene inhaltlich spezifische Ordnung hin orientiert. Vielmehr wird bei Kant das Ziel von Aufklärung und damit von Menschheitsentwicklung formalisiert zum mündigen, selbständigen oder eigenen Verstandesgebrauch. Aufklärung ist bei Kant die Befreiung von intellektueller Bevormundung mittels und zum Zweck des selbständigen Gebrauchs des eigenen Verstandes. Intellektuelle Selbständigkeit ist nämlich nicht nur das Ziel der Aufklärung, sondern auch deren Bedingung. Denn ohne ein zumindest ansatzweises Vorliegen selbständigen Denkens wird der bequeme Zustand der Unmündigkeit, in dem andere einem das Denken abnehmen, kaum verlassen werden. Man könnte es geradezu als das Paradox von Kants Aufklärungskonzept formulieren, dass nur der Aufgeklärte der Aufklärung fähig ist, aber genau darum ihrer nicht mehr bedarf. Damit stellt sich Kant das sozialpädagogische Problem, wie Aufklärung überhaupt herbeizuführen ist. Kants Antwort besteht darin, den Aufklärungsprozess von der Ebene individueller Selbst- und Fremdaufklärung zu verlagern auf die Ebene kollektiver, genauer: wechselseitiger Aufklärung. Im Regelfall ist es nicht der einzelne, der Aufklärung für sich selbst und durch sich selbst vollzieht, sondern eine interpersonelle Diskursgemeinschaft oder „ein Publicum“13. Insbesondere sind, nach Kants Auffassung, einzelne „Selbstdenker“, darunter nicht zuletzt Vormünder der großen Zahl Unmündiger, geeignet, den Aufklärungsprozess innerhalb einer Gemeinschaft intellektuell Interagierender in Gang zu setzen. Auf diese Weise konstituiert sich durch Aufklärung und mit dem Ziel der Verbreitung von Aufklärung eine kritische Öffentlichkeit, deren Mitglieder sich im mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch wechselseitig aufklären.
_____________ 11 Kant/Erhard 1989, 9-17; AA VIII 35-42. Erstveröffentlichung in Berlinische Monatsschrift vom Dezember 1784. Im Folgenden wird die Schrift nach der Textgestalt der Akademie-Ausgabe zitiert. 12 Kant/Erhard 1989, 9; AA VIII 35 (im Original Hervorhebung). 13 Kant/Erhard 1989, 10; AA VIII 36.
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Kant benennt als einziges Erfordernis für diese Art von Aufklärung die „Freiheit […] von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“14. Unter dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft versteht Kant dabei den Gebrauch, den der Mensch als Mensch – bloß als vernunftfähiges Wesen betrachtet – von seiner Vernunft macht und der immer frei sein soll. Dagegen ist der von Kant sogenannte „Privatgebrauch“ der Vernunft deren Einsatz in Ausübung gesellschaftlicher Verantwortung („bürgerlicher Posten oder Amt“); der aber unterliegt billigerweise Freiheitsbeschränkungen im Interesse eines funktionierenden Gemeinwesens.15 Kant rechtfertigt den uneingeschränkt-freien Vernunftgebrauch für Aufklärungszwecke also gerade nicht mit dessen Ausübung innerhalb einer rechtlich geschützten Privatsphäre, wie dies ein dem Denken John Lockes verpflichteter Liberalismus tun würde. Vielmehr erwachsen das Bedürfnis und die Befugnis zur Aufklärung der Mitgliedschaft des Menschen in einer die Einzelstaatlichkeit und deren Rechtsform transzendierenden „Weltbürgergesellschaft“16, die wegen ihrer intellektuell-diskursiven Interaktionsform auch als supranationale „Gelehrtenrepublik“ zu charakterisieren wäre.17 Streng genommen ist, so Kant, einzig diese ideale Gemeinschaft der Menschen bloß als endlicher Vernunftwesen, unabhängig von partikularen sozialen oder politischen Interessen und Verpflichtungen, ein „Publicum im eigentlichen Verstande“. Alle andere Gemeinschaft erscheint dem gegenüber als „eine häusliche, obzwar noch so große Versammlung“18. Eigentliche Öffentlichkeit ist kosmopolitisch. Kants supraindividuelles, auf intellektuelle Wechselwirkung abzielendes Aufklärungskonzept zeigt sich auch in der zu Ende seines Aufsatzes mit einer charakteristischen Modifikation wieder aufgenommenen Eingangsdefinition von Aufklärung. Diese fasst er nunmehr pluralisch statt singularisch als „Ausgang der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit“19. In dieser Umformulierung ist berücksichtigt, dass nicht der Mensch als solcher in Unmündigkeit gerät, sondern dass es einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen sind, die andere in Unmündigkeit bringen und darin erhalten, wie Kant dies namentlich im Hinblick auf
_____________ 14 Kant/Erhard 1989, 11; AA VIII 36. 15 Der kantischen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch entspricht in Mendelssohns Aufklärungsaufsatz die Unterscheidung zwischen dem Menschen als Menschen und dem Menschen als Bürger. 16 Kant/Erhard 1989, 11; AA VIII 37. 17 Der literarische Entwurf eines solchen aufklärerischen Denkerstaates ist Klopstocks Gelehrtenrepublik aus dem Jahre 1774 (Klopstock 2003). 18 Kant/Erhard 1989, 11f. bzw. 13; AA VIII 37 bzw. 38. 19 Kant/Erhard 1989, 16; AA VIII 41 (Hervorhebung von mir).
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„Religionsdinge“ ausführt. Dabei insistiert Kant auf der Unrechtmäßigkeit aller von einer geistigen Obrigkeit als unveränderlich ausgegebenen Bekenntnisse oder Glaubensvorschriften. Solcherart auf immer das Selberdenken in Religionsfragen verhindern zu wollen, ist ein „Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht“20. Allerdings konzediert Kant auch, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die meisten Menschen noch nicht in der Lage sind, „in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Andern sicher und gut zu bedienen“21. Für Kant bezeichnet deshalb „Aufklärung“ auf die Gegenwart bezogen nicht das tatsächliche Erreichen universaler intellektueller Mündigkeit, sondern die sukzessive Annäherung an dieses sozialpolitische Fernziel.
3. Das Selberdenken und die Selbsterhaltung der Vernunft Knapp zwei Jahre nach dem Aufsatz zu Zöllners Frage hat Kant noch wichtige Ergänzungen an seinem Aufklärungsbegriff vorgenommen, die sein Denken über Aufklärung unmittelbar verbinden mit dem Autonomiegedanken aus seiner Grundlegung der Moralphilosophie. Diese weitergehenden Ausführungen finden sich in Kants Intervention im Spinozismusstreit zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi in der Schrift „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (1786).22 Gegenstand der Abhandlung ist die kritische Einschätzung der von Mendelssohn vorgenommenen und von Jacobi aufgegriffenen Berufung auf eine der spekulativen Vernunft an Erschließungskraft angeblich überlegene Instanz, die bei Mendelssohn unter den popularphilosophischen Titeln „Gemeinsinn“, „gesunde Vernunft“ und „schlichter Menschenverstand“ auftritt und der auf Seiten Jacobis die Berufung auf das (natürliche) „Gefühl“ entspricht. Für Kant ist die vorgebliche Entlastung der Vernunft durch Gemeinsinn oder Gefühl gleichbedeutend mit deren „Entthronung“ zugunsten der Willkürherrschaft von Schwärmerei und Aberglauben. Den Anschluss an die Debatte über Begriff und Bedeutung der Aufklärung stellt Kant her durch Überlegungen zu den Bedingungen und Möglichkeiten des „Selbstdenkens“, insbesondere zu dessen Voraussetzung in Gestalt der „Freiheit zu denken“.
_____________ 20 Kant/Erhard 1989, 14; AA VIII 39. 21 Kant/Erhard 1989, 15; AA VIII 40. 22 AA VIII 131-147.
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Das für Aufklärung konstitutive Selbstdenken fasst Kant nun nicht mehr nur privativ, als Freiheit von intellektueller Bevormundung. Vielmehr setzt er das Selbstdenken affirmativ in Beziehung zu derjenigen Instanz, der dieses Denken zu folgen hat: Selbstdenken heißt den Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.23
Damit ist einmal mehr die liberalistische Auffassung abgewiesen, aufgeklärtes Denken bestehe in einem von externen Autoritäten befreiten und in das Belieben des einzelnen gestellten Dafürhalten. Solche Privatisierung des Denkens führt, Kant zufolge, geradewegs zur Selbstabschaffung der Vernunft und zur selbstverschuldeten neuen Bevormundung durch innersubjektive, aber außervernünftige Instanzen wie Gefühl und Empfindung. Konstitutiv für Aufklärung ist dagegen die Befolgung der „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“, die in dem subjektiven Prinzip besteht, eine anstehende kognitive Leistung auf die mögliche Universalisierbarkeit der für sie herangezogenen Gründe bzw. Regeln hin zu befragen. Die Maxime lautet: […] bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen.24
Mit der Verpflichtung der Aufklärung auf die mögliche Universalität von epistemischen Gründen und Regeln rückt Kants fortentwickelter Aufklärungsbegriff in unmittelbare Nähe zu seiner Konzeption von der Selbstgesetzlichkeit der Vernunft. Dies zeigt sich insbesondere an der dritten und letzten der von Kant unterschiedenen Bedeutungshinsichten der Gedankenfreiheit. Zunächst reklamiert Kant, in Übereinstimmung mit seinem früheren Aufsatz zum Aufklärungsbegriff, die Freiheit des aufgeklärten Diskurses vom bürgerlichen Zwang, der äußerlich durch das Innehaben von Positionen und Ämtern auferlegt ist, sowie vom Gewissenzwang, der innerlich das eigene Denken durch Ausübung geistlicher Autorität verhindert. Über diese beiden privativen Freiheiten der Aufklärung hinausgehend, wird dann noch als Drittes die Freiheit der Vernunft von allen anderen Gesetzen als denen, „die sie sich selbst giebt“25, eingefordert. Wer Aufklärung mit grenzenloser oder wilder Freiheit gleichsetzt, begibt sich nur in eine neue Abhängigkeit, etwa von zufälliger Eingebung. Einzig wer sich
_____________ 23 AA VII 146 Anm. 24 AA VII 146f. Anm. 25 AA VII 145.
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im Denken unter solche Gesetzlichkeiten begibt, denen jedermanns Vernunft zustimmen könnte, bringt es zum Selbstdenken und damit zur Aufklärung.26
4. Das Selberdenken und die Grenzen des Wissens Die bei Kant vorliegende betonte Dissoziation der Aufklärung vom bloß privaten Vernunftgebrauch und dem lediglich privativen Freiheitsverständnis, an deren Stelle die emphatische Assoziation der Aufklärung mit kritischer Öffentlichkeit und vernünftiger Selbstgesetzlichkeit tritt, findet ihren systematischen Abschluss in der vernunfttheoretischen Einordnung der Aufklärung, die Kant in der Kritik der Urtheilskraft (1790) vornimmt. Im Kontext seiner Ausführungen über den Geschmack als „eine[r] Art sensus communis“27 präsentiert Kant drei „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“, die nicht in den speziellen Zusammenhang der „Geschmackskritik“ gehören, sondern zur „Erläuterung ihrer (sc. der Geschmackskritik) Grundsätze dienen“. Gegenstand von Kants Überlegungen ist die semantische und evaluative Umdeutung des Gemeinsinns vom „gemeinen Menschenverstand“ zum „gemeinschaftlichen Sinn[es]“. Die übliche und auch von Kant in anderen Zusammenhängen gepflegte Verwendung des Ausdrucks „gemeiner Menschenverstand“ entspricht dem französischen Terminus „bon sens“ und dem englischen Ausdruck „common sense“ und benennt den gesunden Verstand im kognitiven Naturzustand, noch diesseits seiner künstlichen Kultivierung durch Erziehung und Bildung. In der Erkenntnistheorie der Aufklärung wird dem natürlich-ungeschulten Verstand vielfach nicht nur die Fähigkeit zu wahrem Erkennen zugesprochen, sondern eine grundsätzliche Überlegenheit gegenüber dem geschulten Verstand, der dann als indoktriniert und damit als manipuliert und denaturiert angesehen wird. Besonders ausgeprägt ist die Aufwertung des gesunden Menschenverstandes zur paradigmatischen Erkenntnisform in der schottischen Aufklärung bei Thomas Reid, James Oswald und James Beattie. Im Unterschied zur skeptizistischen Epistemologie des Schotten David Hume mit ihrer Reduktion vermeintlichen Wissens auf den natürlichen Glauben („belief“) vertritt die schottische „common sense philosophy“ die Möglichkeit des verlässlichen
_____________ 26 Zum Zusammenhang von vernünftigem Denken und kognitiver Selbstbegrenzung bei Kant siehe Zöller 2009. 27 AA V 293-296 (§ 40).
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kognitiven Zugangs zu einer unabhängig vom erkennenden Subjekt vorliegenden Wirklichkeit. In der deutschen Spätaufklärung entstand unter dem Einfluss der schottischen Philosophie des „common sense“ die Strömung der „Popularphilosophie“, die in Absetzung von der wissenschaftlichen Methodik und der rationalistischen Dogmatik der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie den untrainierten Verstand zum Standard der Ermittlung wie der Überprüfung philosophischer Erkenntnis erhob.28 Dabei konnte sich die Kritik an der falschen Subtilität scholastischen Philosophierens durchaus auf das aufklärerische Anliegen berufen, das Wissen aus den Händen der wenigen Eingeweihten zu überführen in den Besitz aller, die sich ihres (gesunden) Verstandes zu bedienen fähig waren. Hauptvertreter der deutschen Popularphilosophie war der seinerzeit einflussreiche und hochgeachtete Christian Garve, der sich auch als Übersetzer antiker Hauptschriften zur praktischen Philosophie (Aristoteles, Cicero) einen Namen gemacht hatte. Auf der Grundlage seines aufklärerischen Verständnisses von Wissen und Erkennen als Gemeingut attackierte Garve auch, in anonymer Form, Kants Kritik der reinen Vernunft in der berühmt-berüchtigten Göttinger Rezension.29 Kant sah sich so mit dem impliziten Vorwurf konfrontiert, mit den subtilen Gedankengängen seiner Grundlegung der Transzendentalphilosophie gegen das aufklärerische Anliegen allgemein zugänglichen Wissens zu verstoßen. In den teilweise in Reaktion auf die Göttinger Rezension verfassten Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik kritisiert Kant denn auch schon in der Vorrede die Berufung auf den „gemeinen Menschenverstand“ in Sachen der reinen, erfahrungsunabhängigen Philosophie (Metaphysik). Nach Kants Einschätzung ist der nicht durch „kritische Vernunft“ in seine konstitutiven Schranken verwiesene natürliche Verstand ebenso in Gefahr, sich in objektiv unbegründete Erkenntnisansprüche („Spekulationen“) zu versteigen wie der geschulte dogmatische Verstand.30 Kant diagnostiziert beim „gemeinen Verstand“, entgegen dessen Berufung auf kognitive Natürlichkeit, eine drohende Selbstdenaturierung. Die Gesundheit des „gesunden Menschenverstandes“ ist nur durch das künstliche Mittel der Kritik zu erhalten. Bezogen auf das publizitäre Grundanliegen der Aufklärung – der allgemeinen Verbreitung von Wissen
_____________ 28 Zum historischen Phänomen siehe Holzhey 1981. 29 Zur komplizierten Verfasserschaft der Rezension siehe Günter Zöller: „Editor’s Introduction“ in Kant 2003, 20f. Die Göttinger Rezension und der Originaltext Garves sind im Rahmen dieser Edition erstmals in englischer Übersetzung verfügbar (187-216). Für den deutschen Originaltext siehe Kant 1989, 192-200 sowie 219-246. 30 Siehe AA V 259.
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– bedeutet dies die Einsicht in das demagogische Potential der Popularität und in die Verantwortung des Aufklärers, die kontigente Geltung von Ansprüchen im Sinne ihrer faktischen Akzeptanz von deren möglicher universeller Gültigkeit zu unterscheiden. Nachdem Kant so gegenüber der drohenden Pseudo-Aufklärung der Popularphilosophie die kritische Beschränkung des gemeinen Menschenverstandes und speziell dessen Ausschluss von Grundfragen der theoretischen Philosophie vertreten hat, unternimmt er in der Kritik der Urtheilskraft eine späte Ehrenrettung des Ausdrucks „gemeiner Menschenverstand“, die diesen in einen unmittelbaren systematischen Zusammenhang mit dem kantischen Verständnis von Aufklärung setzt. Kant verzeichnet zunächst die gängige Auffassung des Gemeinsinns oder sensus communis als „gemeine[m] Menschenverstand“, worunter die dem Menschen als solchem, unabhängig von Schulung und Unterricht, zukommende „Urteilskraft“ zu verstehen ist. In der Kennzeichnung der natürlich vorliegenden Urteilskraft als „gemein“ liegt dabei, Kant zufolge, eine „Zweideutigkeit“, insofern die in allen Menschen anzutreffende kognitive Kapazität des „gesunden […] Verstandes“ nicht nur in extensionaler Hinsicht allgemein oder generell verbreitet, sondern auch in intensionaler Hinsicht gewöhnlich oder ordinär ist und keinerlei Verdienst auf Seiten dessen, der sie besitzt und ausübt, beinhaltet. Den pejorativen Aspekt des gemeinen Menschenverstandes verdeutlicht Kant im Rückgriff auf das Lateinische durch die Wendung „das vulgare“.31 Gegenüber der zunächst festgestellten despektierlichen Bedeutung des Ausdrucks „Gemeinsinn“ macht Kant im Folgenden eine weitere, genuine Bedeutung von „Gemeinsinn“ oder „sensus communis“ geltend, die diesen mit der „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“32 identifiziert. Die Kennzeichnung des Gemeinsinnes als „gemeinschaftlich“ gilt dabei nicht dem Umstand, dass dieser Sinn bei allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (im Maximalfall: der ganzen Menschheit) faktisch vorliegt. Vielmehr handelt es sich um den als Norm („Idee“) vorgestellten Sinn für etwas Gemeinschaftliches, genauer: um den Sinn für das Gemeinschaftliche als solches – dafür, dass die jeweilige Ausübung der Urteilskraft unter gedanklicher Berücksichtigung aller anderen geschieht. Doch anders als in der prinzipiellen Rücksicht auf den anderen (idealerweise auf alle anderen) im Handeln, das die kantische Moralphilosophie thematisiert, geht es Kant bei der „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ um die grundsätzliche Berücksichtigung des anderen (im Idealfall: aller anderen) in der (theoretischen) Er-
_____________ 31 AA V 293. 32 AA VI 293.
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kenntnis33, und zwar speziell in der Urteilsbildung. Der Gemeinsinn als Idee stellt das Urteilen unter die normative Bedingung, dass man in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten.34
Kant formuliert hier die kognitive Anforderung, bei der eigenen Urteilsbildung immer zugleich darauf achtzuhaben, wie eine Sache aus dem Gesichtspunkt der Betrachtung („Vorstellungsart“) eines anderen (im Prinzip: aller anderen) beurteilt würde. Damit soll verhindert werden, dass die in die eigene Urteilsbildung eingehenden „subjektiven Privatbedingungen“ das Urteil unbemerkt beeinflussen und bloß subjektive Umstände fälschlich für objektiv gehalten werden. Die Objektivität des Urteilens ist erst sichergestellt, wenn nicht die je eigene Art, sich etwas vorzustellen, den Ausschlag gibt, sondern der gedankliche Einbezug der Art und Weise, wie der andere (im Prinzip: jeder andere) eine Sache vorstellt. Damit liefert Kant ein kognitives Pendant zum kategorischen Imperativ der Willensbestimmung durch reine praktische Vernunft. Analog zur unbedingt zu fordernden Universalisierbarkeit privat-subjektiver Handlungsgrundsätze („Maximen“) werden die Gründe theoretischer Urteilsbildung auf solche eingeschränkt, deren Vorstellungsart verallgemeinerbar ist. Die von Kant vorgesehene epistemische Praxis, dass sich der Urteilende „in die Stelle jedes andern versetzt“35, kann natürlich nicht eigentlich ausgeführt werden. Kant denkt aber auch gar nicht an ein gigantisches Gedankenexperiment, bei dem jeder so viele andere wie möglich mitberücksichtigt. Die angestrebte Desubjektivierung oder Deprivatisierung wird, statt positiv durch die Inklusion anderer Standpunkte zu erfolgen, negativ durch die Exklusion „von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälligerweise anhängen“36, vollzogen. Die vorgesehene Privation vom Privaten, die Kant als einen Vorgang des Abstrahierens auffasst, besteht in der systematischen Vernachlässigung dessen, was in kognitiver Hinsicht ein irreduzibel Privat-Subjektives qualitativer Art darstellt – das, was bei Kant „Empfindung“ heißt und was heute zumeist
_____________ 33 Die parenthetische Spezifikation der Erkenntnis als theoretisch trägt dem Umstand Rechnung, dass auch in die Bestimmung des Willens im Hinblick auf das Handeln Erkenntnis eingeht, und zwar die praktische Erkenntnis dessen, was (bedingter oder unbedingterweise, als Mittel-Zweck oder Endzweck) sein soll, im Unterschied zur theoretischen Erkenntnis dessen, was (notwendigerweise oder zufälligerweise) der Fall ist. 34 AA V 293. 35 AA V 294. 36 AA V 294.
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unter dem Titel „Quale“ diskutiert wird. Die von Kant anvisierte Praxis besteht darin, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d. i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat.37
Im Kontext der spezifischen ästhetischen Problemstellung der Kritik der Urtheilskraft besteht die geforderte Abstraktionsleistung darin, bei der ästhetischen Beurteilung „von Reiz und Rührung zu abstrahiren, wenn man ein Urtheil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll“38. Doch die normative Funktion des Gemeinsinns als Idee gilt nicht nur für ästhetische Urteile, sondern für Urteile aller Art, insofern diese über den eingeschränkten Status von Privaturteilen hinausreichen und Objektivität beanspruchen sollen. Im Hinblick auf die weitere Ausdehnung der Idee des sensus communis formuliert Kant drei „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“, bei denen es sich um subjektive Grundsätze („Maximen“) für die Gewinnung objektiv gültiger Urteile handelt. Die Maximen bestimmen so die grundsätzliche Art und Weise, in der der einzelne denken soll, weshalb Kant sie auch als Maximen der „Denkungsart“39 bezeichnet. Die drei Maximen lauten in der knappen Form von Imperativen der dritten Person: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“40 Kant bezeichnet die Maxime des Selbstdenkens auch als die der „vorurtheilsfreien […] Denkungsart“. Die Maxime, an der Stelle jedes anderen zu denken, nennt er auch die „der erweiterten […] Denkungsart“. Die Maxime, jederzeit mit sich einstimmig zu denken, schließlich kennzeichnet er als die „der consequenten Denkungsart“.41 Mit der Aufstellung der drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes ergänzt Kant die vorangegangenen Ausführungen zur Einnahme eines überprivaten „allgemeinen Standpunkte[s]“42, der nun als Zielvorgabe der zweiten Maxime fungiert, um zwei weitere subjektive Prinzipien objektiven Urteilens. Dabei ist die dritte Maxime (der gedanklichen Konsequenz), Kants Ausführungen zufolge, „am schwersten zu erreichen und kann auch nur durch die Verbindung beider ersten und nach einer zur
_____________ 37 AA V 294. 38 AA V 294. 39 AA V 294. 40 AA V 294. 41 AA V 294. 42 AA V 295.
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Fertigkeit gewordenen Befolgung derselben erreicht werden“43. Als Synthesis („Verbindung“) der ersten beiden Maximen hat die Maxime der Konsequenz im Denken, außer der schon behandelten erweiterten Denkungsart (2. Maxime), die vorurteilsfreie Denkungsart (1. Maxime) des Selberdenkens zur Voraussetzung. Nur wer, ohne Vorurteilen und bloßen Privaturteilen zu unterliegen, urteilt, kann überhaupt damit rechnen, sich in seinem Urteilen „konsequent oder in Übereinstimmung mit sich selbst“ zu verhalten. Wer sich dagegen in seinem Urteilen von Vorurteilen und Privaturteilen bestimmen lässt, verbleibt in Abhängigkeit von Faktoren, die sich vernünftiger Überlegung und damit rationaler Kontrolle entziehen und den Urteilenden zum Spielball unvorhersehbarer und schwankender Gründe machen. Während man sicher das Gesamt der Maximen des gemeinen Menschenverstandes als ein Regelwerk aufklärerischer Geisteshaltung ansehen könnte, macht Kant selbst den Begriff der Aufklärung speziell an der ersten Maxime, der vorurteilsfreien Denkungsart, fest. Im Rückgriff auf die eigene definitorische Festlegung der Aufklärung mittels der Aufforderung zum Gebrauch des eigenen Verstandes in seinem einschlägigen Aufsatz kennzeichnet er die vorurteilsfreie Denkungsart auch als „Maxime einer niemals passiven Vernunft“44 – einer Vernunft, die sich nicht von präterrationalen Instanzen Vorschriften machen lässt, sondern die selbständig operiert. Den gegenteiligen „Hang […] zur Heteronomie der Vernunft“ identifiziert Kant kurzerhand mit dem „Vorurtheil“.45 Für die in der Kritik der Urtheilskraft zu verzeichnende Fortentwicklung von Kants Aufklärungsbegriff, bei der es sich um eine Spezifikation von Kants bisherigem Verständnis handelt, ist es nun charakteristisch, dass er unter „Aufklärung“ nicht, oder jedenfalls nicht primär, die Befreiung von Vorurteilen aller Art („Vorurtheilen überhaupt“) versteht, sondern „vorzugsweise“ die Befreiung von jenem Vorurteil, das er als „das größte unter allen“ ansieht und das darin besteht, „sich der Natur Regeln, welche der Verstand ihr (sc. der Natur) durch sein eigenes wesentliches Gesetz zum Grund legt, als nicht unterworfen vorzustellen“46. Das Vorurteil par excellence ist für Kant „der Aberglaube“47, bei dem die natürlichen Regeln des vernünftigen Denkens unter Berufung auf außernatürliche Instanzen als außer Kraft gesetzt angesehen werden.
_____________ 43 AA V 295. 44 AA V 294. 45 AA V 294. 46 AA V 294. 47 AA V 294 (im Original Hervorhebung).
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Mit der dezidierten Ausrichtung der Aufklärung auf die Befreiung vom Aberglauben integriert Kant seinen Aufklärungsbegriff in das kritische Unternehmen der Grenzbestimmung des uns möglichen Wissens. Der Funktion der Vernunftkritik, Scheinwissen über erfahrungstranszendente Gegenstände (Unsterblichkeit der Seele, Wirklichkeit der Freiheit, Existenz Gottes) als solches zu entlarven und dem Wissenwollen über Transzendentes disziplinierend entgegenzuwirken, entspricht genau die negative Funktion der Aufklärung gegenüber den vielfältigen Angeboten von angeblicher Einsicht in das objektiv Unwissbare. In Kants Einschätzung ist die aufklärerische Maxime des Selberdenkens zwar „etwas ganz Leichtes für den Menschen […], der nur seinem wesentlichen Zweck angemessen sein will“48. Letzteres besteht, so wäre Kants Überlegung zu erläutern, im Wesentlichen in der Moralität der Handlungen, die jeder nach Maßgabe des kategorischen Imperativs in jedem Fall zu ermitteln in der Lage ist. Das Selberdenken (Autognosie) fällt in dieser Hinsicht mit der Selbstgesetzlichkeit der Willensbestimmung (Autonomie) zusammen. Dagegen hat die Maxime der Aufklärung einen schweren Stand, wenn jemand „das, was über seinen Verstand ist, […] zu wissen verlangt“49. Die Bestrebung über die Grenzen des Erkenntnisvermögens hinaus ist aber, Kant zufolge, „kaum zu verhüten“ und führt den über Gebühr Wissbegierigen geradewegs in die Arme jener, „welche diese Wißbegierde befriedigen zu können mit vieler Zuversicht versprechen“50. Die Schwierigkeit der Aufklärung besteht also nicht in der Einführung des Selberdenkens im Hinblick auf das, was innerhalb der Sphäre möglichen Wissens liegt. In der Erkenntnis der Erfahrungswelt wie in der Erkenntnis des sittlich Gesollten ist das Selberdenken oder der eigene Verstandes- und Vernunftgebrauch im Prinzip leicht zu realisieren. Doch aufgrund des subjektiv unvermeidlichen („natürlichen“) Wissenwollens dessen, was objektiv unwissbar ist, kommt es immer wieder dazu, dass die als begrenzt erlebten Ressourcen von Verstand und Vernunft verlassen werden und man sich anderen Instanzen der angeblichen Vermittlung von Einsicht anvertraut. Kant denkt hier nicht an die von ihm selbst vertretene zweckmäßige Ergänzung des selbstbegrenzten Vernunftwissens um den mit diesem kompatiblen Vernunftglauben – in den praktischen Vernunftpostulaten der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes –, sondern an solche (philosophischen und religiösen) Instanzen, die der Gesetzlichkeit des Verstandes und der Vernunft geradezu widersprechen und so die Exemp-
_____________ 48 AA V 294 Anm. 49 AA V 294 Anm. 50 AA V 294 Anm.
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tion von den Gesetzen des Verstandes beinhalten. Im Vergleich zu den vermeintlichen positiven Leistungen gegenaufklärerischer Instanzen („Aberglaube“) ist die Aufklärung mit ihrem Aufruf zum Selberdenken in der undankbaren Lage, fremdbestimmtes Denken und Scheinwissen zu kritisieren, ohne die dadurch freibleibende Stelle mit eigenem Wissen ausfüllen zu können. Dieses „bloß Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht)“ ist, Kant zufolge, denn auch der Grund dafür, dass Aufklärung „eine schwere und langsam auszuführende Sache“ ist.51 Im Hinblick auf die schon zu Kants Zeiten zu verzeichnende und seither immer wieder geltend gemachte angebliche Defizienz der Aufklärung als unkonstruktiver, ja destruktiver Zersetzungsbewegung bedeutet dies, dass, was die Aufklärung aufhebt, nur das scheinbare Wissen ist und dass erst die Befreiung von angeblichen außervernünftigen Wissensinstanzen den Menschen zu jenem vorurteilsfreien, erweiterten und konsequenten Denken („Denkungsart“) befähigt, das als einziges seiner würdig ist – und das als einziges verdient, „frei“ genannt zu werden. Im Hinblick auf die Zukunft der europäischen Aufklärung beinhaltet Kants spezifisch kritische und kognitive Konzeption der Aufklärung das Programm einer doppelten, wechselseitigen Selbstbeschränkung von Wissen und Glauben. Was legitimerweise Gegenstand des Wissens ist, kann nicht rechtens Gegenstand des Glaubens sein, und umgekehrt kann, was mit gutem Recht als Gegenstand des Glaubens gilt, nicht mit ebensolcher Berechtigung Gegenstand des Wissens sein. Für das kantische Projekt der Gebietsbereinigung von Wissen und Glauben gilt zum einen: Wo Scheinwissen war, soll Wissen (oder Nichtwissen) werden. Und zum anderen gilt: Wo Aberglaube war, soll Vernunftglaube werden – ein durch das Wissen und speziell das Wissenswissen der Kritik der reinen Vernunft ebenso ausgegrenztes wie eingegrenztes, damit aber auch als solches ermöglichtes freies Fürwahrhalten, das subjektiv zureichend sein mag, objektiv aber unzureichend ist und bleiben wird, ohne darum sich auf ein bloßes Meinen zu reduzieren.52
Literatur Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Berlin.
_____________ 51 AA V 294 Anm. 52 Zur Unterscheidung von Meinen, Wissen und Glauben bei Kant siehe KrV B 848/A 820 – B 859/A 831.
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Holzhey, Helmut (1981): Artikel „Popularphilosophie“, in: J. Ritter und K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel, 1093-1100. Kant, Immanuel (1989): Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, hg. v. R. Malter, Stuttgart. Kant, Immanuel (2003): Prolegomena to Any Future Metaphysics That Will Be Able to Present Itself as Science, hg. v. G. Zöller, Oxford. Kant/Erhard/Hamann/Herder/Lessing/Mendelssohn/Riem/Schiller/ Wieland (1989): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hg. v. E. Bahr, Stuttgart. Klopstock, Friedrich Gottlieb (2003): Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Werke, Bd. VIII. Die deutsche Gelehrtenrepublik. 2 Bde, hg. von K. Hurlebusch, Berlin. Mendelssohn, Moses (1784): „Über die Frage: was heißt aufklären?“ in Kant/Erhard 1989, 3-8. Erstveröffentlichung in Berlinische Monatsschrift vom September 1784. Schmidt, James (Hrsg.) (1996): What is Enlightenment? Eighteenth Century Answers and Twentieth Century Questions. Berkeley/Los Angeles/London. Scholz, Oliver R. (2006): „Aufklärung: Von der Erkenntnistheorie zur Politik. Das Beispiel Immanuel Kant“, in: Logical Analysis and History of Philosophy. Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 9. History of Ontology and a Focus on Plato. Geschichte der Ontologie und ein Schwerpunkt zu Platon, hg. v. U. Meixner und A. Newen, Paderborn, 156-172. Stollberg-Rilinger, Barbara (2000): Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart. Zöller, Günter (2001): „Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant“, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des 9. Internationalen Kant-Kongresses (26. bis 31. März 2000 in Berlin), hg. v. V. Gerhardt, R. P. Horstmann und R. Schumacher, Berlin/New York, Bd. 4, 476-489. Zöller, Günter (2009): „In der Begrenzung zeigt sich der Meister: Der metaphysische Minimalismus der Kritik der reinen Vernunft“, erscheint in: Kants Kritik der Metaphysik. Studien zur Transzendentalen Dialektik der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, hg. v. K. Cramer und J. Stolzenberg, Neue Studien zur Philosophie. Bd. 19, Göttingen.
Aufgeklärte Vernunft – Gestern und Heute Claudio La Rocca Jesus antwortete: Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse ist; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich? Johannes, 18, 23 Betrachtet man die verschiedenen Konzeptionen der Vernunft, die von den Denkern der europäischen Aufklärung vertreten wurden, so muss man feststellen, dass sie kein einheitliches Bild ergeben. Es lassen sich freilich in historischer Hinsicht einige tragende Grundideen der Aufklärung identifizieren1; dabei muss man aber anerkennen, dass diese Ideen auf unterschiedliche Weise interpretiert und entwickelt wurden. Keine davon kann für sich beanspruchen, die Aufklärung zu verkörpern. Nimmt man sich dennoch vor, Aufklärung als offene Frage zu behandeln, die eine Zukunft besitzt und fast schon verlangt, so steht man vor der Aufgabe, eine bestimmte Gestalt des Aufklärungsprojekts ins Auge zu fassen, die als besonders geeignet erscheint, als paradigmatischer Hintergrund für die heutige Problematik zu dienen. Kants Auffassung der Aufklärung ist in dieser Hinsicht ein vielversprechendes Modell, und zwar nicht nur deswegen, weil sie eine systematisch komplexe und reife Form des Aufklärungskonzepts darstellt, sondern auch deshalb, weil in ihr die die Aufklärung kennzeichnenden Motive aufs engste mit dem gesamten philosophischen Projekt verbunden sind, das Kant entwirft. Kants Philosophie ist nicht bloß durch die Parolen und tragenden Ideen der Aufklärung bestimmt, sozusagen vom Geist der Aufklärung inspiriert und bewegt, sondern er entwickelt ein Modell der menschlichen Vernunft, das von vornherein diese Ideen in sich einschließt und gleichzeitig auf eigentümliche Weise umdeutet. Aufklärung ist bei Kant kein bloß politischer oder geschichtsphilosophischer Begriff, son-
_____________ 1 Vgl. Hinske 1990.
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dern eine Perspektive, die in der Entwicklung des kritischen Verständnisses der menschlichen Vernunft eine immanente Rolle spielt.2
1. Kants aufgeklärte Vernunft Es ist selbstverständlich keine leichte Aufgabe, Kants Konzept einer aufgeklärten Vernunft darzustellen. Das lässt sich von verschiedenen Gesichtspunkten her und mit unterschiedlichen Betonungen durchführen. Im Folgenden möchte ich einige Grundzüge dieser Konzeption kurz skizzieren und erläutern, um dann die heutige Problematik anhand einer Transformation und Weiterführung kantischer Ansätze anzugehen. Unter Kants verschiedenen definitorischen Aussagen zur Aufklärung gibt es auch jene, nach der sie „Befreiung von Aberglaube“ sei (AA V 294; KU § 40). Dabei unterstreicht Kant, dass zwar Aufklärung im Allgemeinen als Befreiung von Vorurteilen zu verstehen sei, der Aberglaube aber „doch vorzugsweise (in sensu eminenti) ein Vorurtheil genannt zu werden“ verdiene, denn er versetze in eine Blindheit, die „den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht“ (AA V 294, kursiv C.L.R.). Aufklärung ist Selbstdenken, also aktive − das bedeutet hier: autonome − Vernunft. Aberglaube, d.h. missdeutete Religion, erschöpft sich nicht in dem, was das Gegenteil einer autonomen Vernunft ist, stellt aber eine besonders exemplarische Gestalt dessen dar, was sich der aufgeklärten Vernunft entgegensetzt. Diese kennzeichnende, symptomatische Rolle der Religionsfrage wird in der Aufklärungsschrift von 1784 auch unter einem anderen Gesichtspunkt bestätigt, und zwar dort, wo Kant behauptet, er habe „den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt“, weil die Religion eine besondere politische Rolle spiele, also das Interesse der Beherrscher stark angehe, aber auch weil jene Form der Unmündigkeit die „schädlichste“ und die „entehrendste“ unter allen sei. (AA VIII 41) Der Bezug der Vernunft zur Religion ist zwar ein Sonderfall, aber auch ein Fall von eigentümlicher Brisanz in der Aufgabe des Selbstverständnisses der menschlichen Vernunft. Wegen dieser besonderen Rolle der Religion werden wir im zweiten Teil unserer Ausführungen auf das Verhältnis zwischen Vernunft und
_____________ 2 Vgl. auch Scholz 2004, 253: „Kants gesamte theoretische und praktische Philosophie […] dient direkt oder indirekt der erkenntnistheoretischen Begründung der Ideen der Aufklärung sowie ihrer Präzisierung und Systematisierung.“ Gegenüber Scholz würde ich vielleicht etwas stärker die Transformation betonen, der das Aufklärungsprojekt bei Kant unterworfen wird.
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Religiosität zurückkommen. Nun sei zunächst betont, dass Kants Idee der selbstdenkenden, autonomen Vernunft in einen allgemeinen Rahmen eingefügt ist, der für ein angemessenes Verständnis dieser Autonomie nicht unberücksichtigt bleiben darf. Kant versucht, ein Modell der Vernunft zu entwerfen, das als Basis für die gesamte Organisation der menschlichen Kultur und der menschlichen Diskurse dienen soll. Wenn wir diesen allgemeinen Rahmen − den Gesamtentwurf der menschlichen Vernunft − in eine unmittelbare Verbindung mit dem Aufklärungsgedanken bringen bzw. diese Verbindung entdecken und aufweisen wollen, so bietet sich gleichsam eine Nebentür, die einen schnellen Zugang zu dieser Verflechtung erlaubt. Kants Übersetzung des lateinischen Horaz-Wortes, das er selber zum „Wahlspruch“ der Aufklärung gewählt hat, des berühmten „sapere aude“, gibt einen Wink, der zu diesem Zweck nicht unnütz sein kann. Dabei beziehe ich mich nicht auf die freie „Übersetzung“, die Kant bekanntlich in der Schrift Was ist Aufklärung? von dem Spruch gibt − „habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ −, sondern auf zwei weitere Übersetzungen, die er in späteren Jahren gibt.3 Die erste davon lautet: ‚sapere aude‘ Versuche dich Deiner eigenen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen. (AA XXI 117)
Die zweite Übersetzung ist die wörtlichste und auch diejenige, die gleichzeitig dem lateinischen Wort und dem kantischen Ansatz am meisten angemessen ist: Zu allem Wissen (Scientia) dessen sich der vernünftelnde Mensch zu seinem Wohlseyn bedienen kann ist das Selbsterkentnis (nosce te ipsum) ein Gebot der Vernunft welches Alles enthält: sapere aude sey weise. (AA XXI 134)
Durch die erste angeführte Übersetzung werden wir mit einem Schlag daran erinnert, dass die Aufgabe, sich seines Verstandes selbstständig zu bedienen, auf keinen Fall mit einer individualistischen Unabhängigkeit des Einzelnen zu tun hat − etwa nach jener manchmal auftauchenden Interpretation des Selbstdenkens, die es mit einer selbstsüchtigen und übermenschlichen Einstellung verwechselt. Im Selbstdenken bezieht sich die Vernunft − also nicht bloß der Verstand, kraft dessen der Mensch im Unterschied zu Tieren „sich selbst Zwecke setzen kann“ (AA VI 434) − auf absolute Zwecke. Dass Aufklärung in der „Erkentnis dessen, was zu seinen Wahren und notwendigen Zwecken gehört“, besteht, wird von Kant auch anderswo, nämlich in einer Reflexion aus den Jahren 17761778 behauptet (R 2076, AA XVI 222-223).
_____________ 3 Darauf bin ich näher eingegangen in La Rocca 2004.
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Der Bezug auf absolute Zwecke und die Beziehung zur Weisheit führen direkt ins Zentrum der kantischen Architektonik der Vernunft. Die umfassendste Definition der Philosophie, die Kant in der ersten Kritik gibt − Philosophie nach ihrem „Weltbegriff“4 als teleologia rationis humanae − bezeichnet sie als „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntniß auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (AA VI 434). Eine ähnliche Formulierung betrifft in einer frühen Reflexion die Weisheit („Weisheit“ − schreibt Kant − ist die Beziehung zu den wesentlichen Zwecken der Menschheit“) (R 1652, AA XVI 66). Die Weisheit wird als oberster Standpunkt auch in einer anderen wichtigen Definition der Philosophie aus der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft erwähnt: Metaphysik also sowohl der Natur, als der Sitten, vornehmlich die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, welche vorübend (propädeutisch) vorhergeht, machen eigentlich allein dasjenige aus, was wir im ächten Verstande Philosophie nennen können. Diese bezieht alles auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst und keine Verirrungen verstattet. (KrV A 850/B 858)
Philosophie ist bei Kant kein Fachwissen, auch nicht die „Königin der Wissenschaften“, sondern vielmehr die Endform der menschlichen Vernunft, die den Horizont bietet, innerhalb dessen jeder Gebrauch der menschlichen Fähigkeiten seinen Sinn findet. Gegenüber der idealisierten Figur des Philosophen sind alle andere Gelehrten eigentlich „Vernunftkünstler“ − alles Wissen ist also grundsätzlich Technik, Anwendung von rationalen Fähigkeiten im Hinblick auf bedingte Zwecke. Diese funktionale Rationalität weist an und für sich keinen Sinn auf: nur im allgemeinen Horizont der Philosophie als Weisheitslehre, als teleologia rationis humanae wird sie zu einer in kantischem Sinn vollständigen Rationalität.5 Klingt das alles im Bezug auf das übliche Verständnis der Aufklärung nicht wie etwas eigentlich Fremdes? Wo bleibt die oft der Aufklärung zugeschriebene Verehrung der technischen Rationalität? Erscheint die Berufung auf wahre absolute Zwecke nicht als ein Schritt zurück, als eine Restauration gegenüber etwa dem freien esprit der französischen philosophes? Ist eine absolute Teleologie nicht ein allzu rigides Gebäude gegenüber der Vielfalt und Pluralität des menschlichen rationalen Verhaltens? Einige Bemerkungen zum Wesen des kantischen Vernunftprojekts können dabei helfen, diese Problematik besser zu artikulieren. Kants teleologische Konstruktion lässt sich nicht ohne weiteres auf ein geschlossenes System von vorgegeben Zwecken reduzieren. Es han-
_____________ 4 Zur Unterscheidung zwischen Schul- und Weltbegriff der Philosophie vgl. KrV A 838/B 866ff. 5 Zur Weisheit als Vollendung der Philosophie bei Kant vgl. La Rocca 2003, 217-242.
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delt sich dabei vielmehr um eine Theorie der Vernunft, welche die Fähigkeit, Zwecke zu setzen und zu verfolgen, als wesentliches Moment der menschlichen Rationalität identifiziert. Kant verzichtet nicht darauf, die menschliche Fähigkeit, autonom Zwecke zu setzen, vor dem Hintergrund einer umfassenden, natürlichen Zweckmäßigkeit zu sehen. Das Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken (die so genannte äußere Zweckmäßigkeit) kann aber nach seiner Ansicht nur dort auftauchen, wo organisierte Wesen existieren, d.h. diejenigen, die nach der Kritik der Urteilskraft aufgrund des Begriffs einer inneren Zweckmäßigkeit verstanden werden können. So können Wasser, Luft und Erden nicht als Mittel zu Anhäufung von Gebirgen angesehen werden, weil diese an sich gar nichts enthalten, was einen Grund ihrer Möglichkeit nach Zwecken erforderte, worauf in Beziehung also ihre Ursache niemals unter dem Prädicate eines Mittels (das dazu nützte) vorgestellt werden kann. (AA V 425; KU § 82)
Äußere Zweckmäßigkeit, Verhältnis von Mitteln zu Zwecken, kann nur dort bestehen, wo ein Wesen existiert, dessen Möglichkeit nur nach Zwecken begriffen werden kann. Dieses Prinzip verführt Kant dennoch nicht dazu, der Natur eine allzu naiv konzipierte Zweckmäßigkeit zuzuschreiben. Einerseits wird die innere Zweckmäßigkeit nur unter dem AlsOb-Vorbehalt auf organisierte Wesen angewendet, also bewusst projiziert (in kantischen Termini: nur für eine reflektierende Urteilskraft in Anspruch genommen). Andererseits sind die Zweck-Mittel-Verhältnisse, die den Menschen als letzten Zweck der Natur erscheinen lassen, sehr schwach konzipiert: Die Natur ist nicht so geordnet, dass alles in ihr letztendlich als Mittel für menschliche Zwecke gesehen werden kann. Im System der Natur ist der Mensch − so heißt es in der Metaphysik der Sitten − „ein Wesen von geringer Bedeutung“ (AA VI 434). Der Mensch ist kein Ziel einer faktischen Teleologie. Vielmehr darf man sagen, nach dem Prinzip der Abhängigkeit der äußeren Zweckmäßigkeit von der inneren, dass wenn eine äußere Zweckmäßigkeit in der Natur zumindest gedacht werden kann, der Mensch dann die Möglichkeit hat, der letzte Bezugspunkt dieser Zweckmäßigkeit zu sein, insofern als er das einzige Wesen ist, „welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann“ (AA V 427; KU § 82). Der Vorzug des Menschen, der ihn als letzten Zweck erscheinen lässt, ist nicht auf seiner Stellung im Kosmos gegründet, sondern auf seiner ihn auszeichnenden teleologischen Fähigkeit, die sich in zwei Aspekte gliedert: 1. die Fähigkeit, die Welt nach Zwecken zu betrachten; 2. die Fähigkeit, sie systematisch − nach einem umfassenden System der Zwecke − zu deuten. Natur hat keine tatsächlich immanente Teleologie, sie ist nicht objektiv zugunsten des Menschen organisiert. Es gilt vielmehr nach einer um-
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gekehrten Perspektive, dass die Natur einen teleologischen Sinn erhalten kann, wenn der Mensch − als einziger, der das vermag − sie im Rahmen eines zweckmäßigen Zusammenhanges begreifen kann. Die Zwecke, die dabei gesetzt werden können, dürfen aber nicht der Natur angehören, denn der Inbegriff aller durch die Natur möglichen Zwecke, d.h. die Glückseligkeit, ist nach Kant ein für den Menschen wesentlich unerreichbares Ziel: „denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden“6. Alle Naturzwecke müssen also in Richtung einer Zweckmäßigkeit überschritten werden, die nicht der Natur angehört. Dies hat zur Folge, dass die Qualität des Menschen, letzter Zweck der Natur zu sein, weder auf dem bloßen Besitz natürlicher Eigenschaften (des Verstandes als eines Vermögens, „sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen“7) noch auf einer wesentlichen metaphysischen Bestimmung gründet. Sie bezeichnet hingegen nur eine Möglichkeit, die ihrerseits bedingt ist: Der Mensch ist zwar letzter Zweck der Natur − schreibt Kant − „aber immer nur bedingt, nämlich daß er es verstehe und den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug, mithin Endzweck sein könne, der aber in der Natur gar nicht gesucht werden muß“8. Es geht mit anderen Worten nicht um Mittel-Zweck-Verhältnisse, die von einem technischen Verstand erfasst werden können, sondern um eine Zweckmäßigkeit, die sich im Rahmen der Vernunft, also im Horizont von „absoluten wahren Zwecken“ begreifen lässt. So wird auch die teleologische Beziehung zur Natur unter dem Gesichtspunkt einer Vernunft gesehen, die an ein Prinzip gebunden ist, das jenseits jeder technischen, verstandesmäßigen Rationalität liegt. Es interessiert uns im gegenwärtigen Zusammenhang nicht, wie weit es Kant gelungen ist, die Spannungen tatsächlich zu überwinden, mit denen er in der Kritik der Urteilskraft konfrontiert ist und die durch die Begriffspaare Natur/Freiheit, Sinnliches/Übersinnliches und Glückseligkeit/Moralität ge-
_____________ 6 „Aber selbst wenn wir entweder diesen auf das wahrhafte Naturbedürfniß, worin unsere Gattung durchgängig mit sich übereinstimmt, herabsetzen, oder andererseits die Geschicklichkeit sich eingebildete Zwecke zu verschaffen noch so hoch steigern wollten: so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der That sein eigener letzter Naturzweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden.“ (AA V 430; KU § 83) Hinzu kommt, dass die Natur keineswegs als für die Glückseligkeit des Menschen angelegt betrachtet werden kann. 7 Vgl. AA V 431; KU § 83. 8 AA V 431; KU § 83.
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kennzeichnet werden können. Hervorzuheben ist nur, dass der Vorrang des praktisch-moralischen Gesichtspunktes einer teleologischen Vernunft nicht auf metaphysischen, sondern auf formalen Gründen basiert. Äußere Zweckmäßigkeit kann sich nur im Bezug auf Wesen zeigen, die als solche nur aufgrund einer zunächst selbstständigen Zweckmäßigkeit gedacht werden können. Dies hat wie gesehen zwei Ebenen: 1. Leblose Naturdinge können nicht untereinander, sondern nur in Beziehung auf organisierte Naturzwecke − die an sich funktionell gedeutet werden − in einem MittelZweck-Verhältnis stehen. 2. Ein System der (natürlichen) Zwecke kann als letzten Bezugspunkt nur ein Wesen haben, das ein Verhältnis mit einer Zweckmäßigkeit herstellen kann, die sich selbst genügt, also nicht über sich hinaus verweist. Ein Wesen, dessen Dasein, wie Kant schreibt, „den höchsten Zweck selbst in sich“ hat (AA V 435; KU § 84): das in diesem Sinne Endzweck ist. Das Besondere an diesem teleologischen System ist es gerade, dass es keinen bestimmten, inhaltlich charakterisierten Zweck angibt. Unter dem Anschein der Restauration von einem metaphysischen Gebäude der Zwecke, innerhalb dessen (und vor allem auf der Grundlage dessen) sich die menschliche Rationalität bewegen darf, an das sie also gebunden wäre, bietet Kant etwas wesentlich anderes: ein Modell der Rationalität, in dem die Möglichkeit, Erkenntnisse und Verhaltensregeln (also alles, was er letztlich als Technisch-Praktisches bezeichnet) in einem einheitlichen Sinnzusammenhang zu sehen, an die formale Fähigkeit gebunden ist, die dem Menschen oder besser allen Menschen – allen und jedem einzelnen Menschen – eigen ist, nämlich eine unbedingte Zweckmäßigkeit herzustellen. Wie dies mit der kantischen Konzeption der Aufklärung aufs engste zusammenhängt, ist schon durch den anfangs in Erinnerung gebrachten Verweis auf die „absoluten Zwecke“ und auf die Weisheit in den späten Übersetzungen vom sapere aude klar geworden. Durch wenige Bemerkungen können weitere innere Verbindungen gezeigt werden. Wie schon angedeutet, ist die Philosophie − aber nur nach ihrem „Weltbegriff“ − die Wissensform, die in Kants Augen die höchste Form der Rationalität verkörpert, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie sich jenem System der bedingten Zweck-Mittel-Beziehungen entzieht, dem jedes Wissen unterworfen ist. In einem Entwurf zum sogenannten „Jachmann-Prospekt“ ist Philosophie als Weisheitslehre jenem Gebiet des „Technisch-Praktischen“ entgegengesetzt, dem auch philosophische Erkenntnis als Instrument (nach ihrem Schulbegriff) zugehören kann: jener Sphäre nämlich, in der jede „Geschicklichkeit“ − wie Kant schreibt − „ihren Preis“ hat und „wie
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jede andere Arbeit oder Waare unter einander verkehrt werden kann“.9 Auch in der Kritik der Urteilskraft ist die Geschicklichkeit als technische Komponente der Kultur (die Fähigkeit, Zwecke zu entwerfen und zu realisieren)10 für sich unzureichend, den gesamten Umfang einer „Tauglichkeit zu Zwecken“ zu erschöpfen, die auch die „Bestimmung und Wahl der Zwecke“ mit einschließen soll.11 Die Geschicklichkeit, der gesamte technisch-praktische Gebrauch der Vernunft, der für Kant alle Wissenschaften umfasst, sofern sie nicht im Hinblick auf die letzten Zwecke der Menschheit gesehen werden, bildet also eine zweckabhängige, letztendlich ökonomische Rationalität, die jenem Bereich entspricht, den Kant in der Aufklärungsschrift als das Feld des privaten Vernunftgebrauchs auffasst. Der „private“ Vernunftgebrauch ist derjenige, der im Dienste einer äußeren Instanz und nicht im Rahmen einer autonomen, sich selbst Zwecke gebenden Vernunft geführt wird. So ist jeder heteronom bedingte Gebrauch der Vernunft als Privatgebrauch zu sehen, weil er nicht das Wesentliche der menschlichen Rationalität verkörpert, die sich dadurch auszeichnet, von jeder vorgegeben Zweckbeziehung unabhängig zu sein. Öffentlicher Vernunftgebrauch ist nicht nur jener, der sich an jeden denkenden Menschen − also ein „Publikum“ − wendet, sondern auch jener, der prinzipiell frei von fremden, vorgegebenen Zwecken ist. Man kann sagen: Der öffentliche Gebrauch wendet sich an ein allgemeines Publikum und kann es tun, weil er frei von jeder bedingten, eben nur privat gültigen Zwecksetzung ist. Die Idee einer unbeding-
_____________ 9 Vgl. I. Kant, Entwurf zum Jachmann-Prospekt, in Henrich 1966, 42. Im Anklang damit ist der Anfang des § 11 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten (AA VI 434-435): „Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth (pretium vulgare). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das giebt ihm doch nur einen äußeren Werth seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d.i. ein Preis, als einer Waare, in dem Verkehr mit diesen Thieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigern Werth hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Werth daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird. Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subject einer moralischpraktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth).“ 10 Kultur ist eigentlich nach Kant die „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt“ (AA V 431; kursiv C.L.R.), also der Prozess der Herstellung dieser Fähigkeit. Hier können wir uns in einem lockeren Sinne auf das Ergebnis dieses Prozesses, also auf die Fähigkeit beziehen. 11 Vgl. AA V 431-432; KU § 83.
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ten Zwecksetzung als Horizont der autonomen Vernunft dient also als Prinzip der Befreiung von jedem heteronomen Ziel. Die Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes ist zugleich Ausdruck dieser öffentlichen Rationalität und − wie es im Entwurf zum Jachmann-Prospekt heißt − „Lehre von dem Endzweck der menschlichen Vernunft“, die einen „unbedingten Werth“ besitzt, der sich in der Weisheit ausdrückt. Diese Weisheit „von unten hinauf“, wie Kant schreibt, die der Mystik als „vom Himmel zur Erde“ herab gehende Weisheit entgegensetzt wird, ist als Vorschrift aufgefasst, jenem Zweck „wenigstens“ nachzustreben.12 Der wesentlich formale Charakter des Endzwecks wird dabei durch die prägnante Formulierung bestätigt, nach der die praktische Vernunft „ihr eigener letzter Zweck“13 ist. Wird dieser formale Charakter des teleologischen Vernunftprojekts anerkannt und berücksichtigt, so lässt sich Kants Distanz von einem rationalistischen Verständnis der Vernunft bestätigen, auf die Onora O’Neill mit Nachdruck verwiesen hat. Vernunft setzt keine als Axiome verstandenen Prinzipien voraus, die als Autorität gelten und aus denen Wahrheiten abgeleitet werden können. Sie bietet keine Inhalte und auch keine formalen Algorithmen als „Anweisungen, die uns präzise durch jeden Denkoder Handlungsprozess führen“; im Allgemeinen liefert sie überhaupt „keinen Algorithmus für den vernünftigen Erwerb von Überzeugungen“14. Kants aufgeklärte Vernunft basiert auf Formen, die keine dogmatischen Sätze und festen Ableitungsregeln voraussetzen, sondern vielmehr erlauben, Rationalität in einem gesetzmäßigen, öffentlichen Prozess herzustellen. Die teleologische Gestalt der Vernunft bindet den Menschen nicht an vorgegebene Zwecke, an eine ihm fremde Bestimmung, schließt ihn also nicht in einen teleologischen Käfig ein. Weder seine Zwecke in der Natur − die Glückseligkeit − noch seine moralischen Zwecke sind inhaltlich durch Vernunft vorbestimmt, denn das würde der menschlichen Vernunft und in gleichem Maße der Vernunft jedes einzelnen Menschen ihre Autonomie entziehen. Wenn also − wie O’Neill betont − der öffentliche Vernunftgebrauch, als Verfahren, das sich dazu verpflichtet, die Möglichkeit von Kommunikation und allgemeingültiger Verständigung offenzuhalten, für Kants Verständnis der Vernunft und der Aufklärung entscheidend ist, so darf man vielleicht hinzufügen, dass die intersubjektive Verständigung in Kants Projekt nur im Rahmen einer Rationalität ihre Rolle hat, welche die Mög-
_____________ 12 Entwurf zum Jachmann-Prospekt, in Henrich 1966, 42. 13 A.s.o. 14 Vgl. O’Neill 1996, 214, 224.
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lichkeit absoluter und systematischer Zwecksetzung (also Vernunft in ihrem engen kantischen Sinne) als ihren eigenen wesentlichen Zug anerkennt. Das ließe sich beispielsweise an der wesentlichen Verbindung der drei Vernunftmaximen zeigen, die Kant im § 40 der Kritik der Urteilskraft aufstellt. Die erste Maxime, die das Selbstdenken vorschreibt und direkt auf die Aufklärung bezogen ist, lässt sich nur im Rahmen der zweiten und dritten Maxime adäquat verstehen, welche jeweils Intersubjektivität der Urteilskraft und systematische Einheit der Vernunft vorschreiben. Alle drei Maximen werden übrigens in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zur „Weisheit, als die Idee vom gesetzmäßig-vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“ gezählt (AA VII 200).15 Doch wichtiger ist zu zeigen, auf welche Weise der Bezug zur unbedingten Zwecksetzung eine zentrale Rolle spielt.16 Wie wir vorhin in Erinnerung gebracht haben, ist der Mensch als Zweck an sich selbst der letzte Bezugspunkt eines systematischen Ganzen, das Mittel-Zweck-Verhältnisse organisieren soll. Diese Aufgabe in einen konkreten Entwurf zu übersetzen, der den tatsächlichen Weltverlauf mit berücksichtigt, wird als eine nie völlig realisierte Möglichkeit aufgefasst, die in der ideellen Figur des Philosophen als Lehrer der Weisheit und als Gesetzgeber der menschlichen Vernunft dargestellt wird. Die Rolle der Weisheit spielt darauf an, dass das systematische Ganze der Zwecke nicht als ein realisiertes Gefüge, sondern als eine unerreichbare Perspektive zu fassen ist, die aber als ein verpflichtendes Ideal verfolgt werden soll. Kommunikation und Verständigung einer sich als solche konstruierenden Rationalität kann projizierte Einheit der Zwecksetzungen nur dann voraussetzen, wenn der letzte Horizont, der alle besonderen Zwecksetzungen einschließt aber auch eingrenzt, derjenige einer nicht mehr verfügbaren Dimension ist, die in der Möglichkeit eines jeden Menschen besteht, Ort einer absoluten Zwecksetzung zu sein. Es ist nicht die Tatsache, dass sich der Mensch vorgegebenen Zielen einer ihm fremden teleologischen Weltordnung fügt, was ihm – gegenüber allem anderen, was bloß Mittel sein kann, also nur äußeren Wert, Preis hat – Würde, absoluten inneren Wert
_____________ 15 Ausführlicheres dazu in La Rocca 2004. 16 Zu diesem Punkt ist die Formulierung hervorzuheben, die Kant in seiner Anmerkung zum § 40 der Kritik der Urteilskraft verwendet: „mit seiner Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein“ ist ganz leicht für den Menschen, „der nur seinem wesentlichen Zwecke angemessen sein will und das, was über seinen Verstand ist, nicht zu wissen verlangt“ (AA V 296). Beide Aspekte, der vernunftmäßige Bezug zum wesentlichen Zweck und die kritische Selbsteinschränkung des Verstandes kennzeichnen die eigentümliche Einstellung der aufgeklärten Vernunft.
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verleiht.17 Eine solche objektive Ordnung erkennt die kritische Rationalität nicht an; sie misst also nicht jeden Wert daran. Jeder Mensch ist sozusagen gleichberechtigter Träger einer Möglichkeit18 − der Möglichkeit, einen umfassenden Sinn zu entwerfen − und nur die Fähigkeit, dieser Qualität Rechnung zu tragen, ist der Erweis der eigentlichen Rationalität des Denkens und des Handelns. Der rationale Diskurs findet die Möglichkeit seiner Selbstregelung nicht nur in dem Prinzip, intersubjektive Verständigung offenzuhalten und zu ermöglichen, sondern auch darin, dass die Suche nach einer umfassenden Sinngebung als Aufgabe, die prinzipiell jedem Einzelnen mit gleichem Recht zusteht, nicht verhindert wird − dass dieses besondere Sprachspiel, wenn man so sagen will, möglich bleibt. Dieser Punkt kann wie folgt etwas verdeutlicht werden. Wenn wir uns eine Verständigung vorstellen, die prinzipiell von allen Menschen geteilt werden könnte (also der Verallgemeinerung fähig ist), die zugleich aber Ziele betrifft, die der Möglichkeit eines absoluten Sinnes (nicht einer bestimmten Auffassung davon) den Weg abschneiden − wie z.B. der allgemeine Entschluss, nur sinnlich-bedingte Ziele zu verfolgen (etwa Gesundheit, materielles Wohlbefinden) −, so würde diese Art Verständigung den Erfordernissen der kritischen aufgeklärten Rationalität nicht genügen, also im eigentlichen Sinne nicht rational sein. Eine technisch verfahrende, die Natur beherrschende Menschheit etwa würde bei aller Einhelligkeit und funktionalen Verwendung aller sich ihr anbietenden Naturdinge als Mittel kein System der Zwecke bilden und also der Vernunft, die sich den „wesentlichen Zwecken der Menschheit“ zuwendet, nicht entsprechen können. Der wesentliche Beitrag der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs besteht eben darin, zu zeigen, dass die Bedingung der Verallgemeinerung nicht als leere Formel verstanden werden darf, die bloß einen logischen Test vorschreibt.
2. Vernunft und Religion Augrund dieser Auffassung der menschlichen Rationalität fühlt sich Kant imstande, die Verhältnisse der Vernunft zur Religion neu zu bestimmen. Die Beziehung zum Aberglauben bleibt − wie anfangs betont − besonders symptomatisch, denn Vernunft und Religion stehen in einem Konkur-
_____________ 17 Vgl. AA VI 434-435; MS. 18 Der Mensch als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft „besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“ (AA VI 435; MS)
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renzverhältnis, das von der kantischen Rekonstruktion von Natur und der Aufgabe der Vernunft eigentlich bestätigt wird. Wenn die höchste, vollständige Form der Rationalität mit der Möglichkeit letzter Sinnfragen (absoluter Zwecke) wesentlich zu tun hat, so ist die Abgrenzung zur Religion und gegebenenfalls die Arbeitsteilung zwischen Vernunft und Religion nach wie vor ein zentrales Problem. Diese Frage wird bei Kant insofern brisanter, als es scheinen kann, dass nach ihm die Religion einige, von der Vernunft ungelöste Probleme übernimmt und zu lösen beansprucht. Die Frage nach den Grenzen der Vernunft betrifft also zugleich die Religion wie eine ontotheologisch aufgefasste Metaphysik. Religion kann nicht mehr als vernünftig im vorkantischen Sinne gelten: Sie darf aufgrund der Ergebnisse der Kritik (der „Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, welche vorübend (propädeutisch) vorhergeht“, wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt) (KrV A 850/B 858; vgl. oben) keine theoretischen Sätze über Gott und die Seele aufstellen − also mit der Metaphysik alliiert und eng verbunden sein; gleichzeitig darf sie nicht ohne weiteres für tradierte Glaubensinhalte (für die Offenbarung) Rationalität oder gar absolute Rationalität beanspruchen. Aberglauben ist grundsätzlich ein Missverständnis der eigentlichen, von Kant neu aufgefassten Natur der religiösen Sprache, die nun von einer apophantischen, objektivierenden Rede über nicht-sinnliche Gegenstände scharf unterschieden wird. Auf der Ebene des rationalen Diskurses darf Religion keine im kantischen Sinn „dogmatischen“ Sätze über übersinnliche Gegenstände aufstellen, sondern nur Annahmen akzeptieren, welche aufgrund der Moralität − der Möglichkeit absoluter Zwecksetzung − vorausgesetzt werden dürfen und welche die Natur von Sinn- und Orientierungsprinzipien für das Handeln in der Welt besitzen. Auf der Ebene der durch die Heilige Schrift tradierten Offenbarung soll die religiöse Sprache einer symbolischen und moralisierenden Hermeneutik unterworfen werden, welche buchstäbliche Auslegungen verbietet, die im Gegensatz zu begründeten Erkenntnissen stehen oder zu überschwänglichen Behauptungen führen können. Kant geht bekanntlich soweit zu sagen, dass „der Kirchenglaube […] zu seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben“ hat, und dies bis zur äußersten Konsequenz: Die Auslegung durch den vernünftigen Religionsglauben mag uns selbst in Ansehung des Texts (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muß sie, wenn es nur möglich ist, daß dieser sie annimmt, einer solchen buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar entgegen wirkt. (AA VI 110)
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Der auf Vernunft basierende, reine Religionsglauben dient somit als ein Filter, der in der positiven religiösen Überlieferung und in ihren Texten rationale von arationalen oder gar irrationalen Inhalten scheidet. Die Idee einer solchen Vernunftreligion bestimmt wesentlich die Form, in der innerhalb der aufgeklärten Vernunft ein Raum für die religiöse Erfahrung konzipiert wird. Kants Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Vernunft stellt eine Verbindung in der Unterscheidung her, die − wenn wir sie im Hinblick auf die heutige Problematik betrachten − einerseits zu eng, andererseits zu weit zu sein scheint. Beide Aspekte und Fehlausmessungen sind als die Folge eines einzigen Ansatzes zu sehen, nämlich eben der Idee, eine Vernunftreligion entwickeln zu können und zu müssen. Die Verbindung scheint erstens in der Hinsicht zu eng zu sein, dass sie der positiven Religion (Kant bezieht sich natürlich in erster Linie auf das Christentum, aber diese Perspektive kann auf andere Religionen erweitert werden) Bedingungen stellt, die sie radikal verändern und vielleicht zu verunstalten drohen. Kant ist sich − wie aus der eben zitierten Passage klar hervorgeht − der „Gewalt“, die eine moralisierende Auslegung der Schrift und folglich des positiven Inhaltes einer historischen Religion darstellen kann, durchaus bewusst. Eine Auffassung der Verhältnisse von Vernunft und Religion, die der letzteren übermäßige Anforderungen aufbürdet, scheint aber heute für eine aufgeklärte Vernunft, die jeder Mensch als gleichberechtigter Träger von Sinninstanzen ansieht, unangemessen zu sein. Der Raum für freie religiöse Erfahrung ist dabei zu eng bemessen. Die Verbindung von Religion und Vernunft scheint zweitens zu weit gefasst zu sein in dem Sinne, dass die zwei Felder der Religion und der Vernunft sich in dem Gebiet einer Religion eben „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ überschneiden. Eine von ihrem unvernünftigen bzw. nicht-vernünftigen Teil gereinigte Religion wird dementsprechend in das Projekt der Vernunft selbst mit eingeschlossen. Obwohl ehemalige Glaubenssätze, indem sie zu Postulaten der praktischen Vernunft werden, in ihrem Sinn radikal verändert werden, gelangt die Vernunft dennoch letztendlich zu „gewissen theoretischen Positionen“ (AA V 120; KpV) (Existenz-Setzungen), die religiöser Natur sind. An der hier anvisierten, prinzipiellen inneren Verbindung der Religion mit der Vernunft ändert auch die zwar sehr wichtige Tatsache nichts, dass die Vernunft dadurch die Aussicht auf „nichts mehr, als zwei Glaubensartikel“ eröffnet, wie Kant in der ersten Kritik schreibt (KrV A 830/B 858), nämlich auf Gott und auf ein künftiges Leben nach dem Tod, und dass zugleich das Wort „Glaube“ so umgedeutet wird, dass es sich „nur auf die Leitung, die mir eine Idee gibt“ bezieht (KrV A 827/B 855). Kants Lösung − die ihn zu der rationalen Übersetzung bestimmter Glaubenssätze, wie etwa der Gött-
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lichen Gnade zwingt19 − scheint unbefriedigend für beide Parteien zu sein. Ihr Ergebnis ist durch Hegels Worte gut dargestellt: Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft über das, was sie nach dem geringen Maße ihres religiösen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davongetragen hat, ist beim Lichte besehen kein anderer, als daß weder das Positive, mit dem sie sich zu kämpfen machte, Religion, noch daß sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb.20
Obwohl Kant „nicht in erster Linie religiöse Inhalte begrifflich einholen“, sondern einen Glaubenmodus, eine Einstellung mit der Vernunft verbinden will21, überwindet er in der moralisch-religiösen Fortsetzung seiner Vernunftauffassung den formalen Charakter des Vernunftprojekts, das bei aller Anerkennung oder besser Inanspruchnahme der menschlichen Fähigkeit der absoluten Zwecksetzung keine Inhalte vorschreiben wollte. Vielmehr beschränkte sich dieses Vernunftprojekt darauf, aus jener Anerkennung wichtige Folgen zu ziehen, wie etwa die Notwendigkeit der Denkfreiheit, einer bürgerlichen Gesellschaft und eines weltbürgerlichen
_____________ 19 Vgl. AA VIII 43; SF: „Wird aber unter Natur (in praktischer Bedeutung) das Vermögen aus eigenen Kräften überhaupt gewisse Zwecke auszurichten verstanden, so ist Gnade nichts anders als Natur des Menschen, so fern er durch sein eigenes inneres, aber übersinnliches Princip (die Vorstellung seiner Pflicht) zu Handlungen bestimmt wird, welches, weil wir uns es erklären wollen, gleichwohl aber weiter keinen Grund davon wissen, von uns als von der Gottheit in uns gewirkter Antrieb zum Guten, dazu wir die Anlage in uns nicht selbst gegründet haben, mithin als Gnade vorgestellt wird. –Die Sünde nämlich (die Bösartigkeit in der menschlichen Natur) hat das Strafgesetz (gleich als für Knechte) nothwendig gemacht, die Gnade aber (d.i. die durch den Glauben an die ursprüngliche Anlage zum Guten in uns und die durch das Beispiel der Gott wohlgefälligen Menschheit an dem Sohne Gottes lebendig werdende Hoffnung der Entwickelung dieses Guten) kann und soll in uns (als Freien) noch mächtiger werden, wenn wir sie nur in uns wirken, d.h. die Gesinnungen eines jenem heil. Beispiel ähnlichen Lebenswandels thätig werden lassen. – Die Schriftstellen also, die eine blos passive Ergebung an eine äußere in uns Heiligkeit wirkende Macht zu enthalten scheinen, müssen so ausgelegt werden, daß daraus erhelle, wir müssen an der Entwickelung jener moralischen Anlage in uns selbst arbeiten, ob sie zwar selber eine Göttlichkeit eines Ursprungs beweiset, der höher ist als alle Vernunft (in der theoretischen Nachforschung der Ursache), und daher, sie besitzen, nicht Verdienst, sondern Gnade ist.“ 20 Hegel 1979, 288. 21 Habermas 2006, 230: „Damit will Kant nicht in erster Linie religiöse Inhalte begrifflich einholen, sondern den pragmatischen Sinn des religiösen Glaubensmodus als solchen der Vernunft integrieren. Er selbst kommentiert an dieser Stelle [AA V 472; KU § 91] seinen Versuch als ‚schmeichlerische Nachahmung‘ des christlichen Begriffs der fides.“
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Systems aller Staaten.22 Diese Folgen sind aber ganz anderer Natur als die Postulate, denn, obwohl sie verpflichtende Ziele angeben, stellen sie wiederum nur formale Bedingungen für die Ausübung der menschlichen autonomen Vernunft, die realisiert werden sollen: Sie lassen den Raum der absoluten Zwecksetzung frei, ohne ihn selbst zu erfüllen. Ein erneuertes Verständnis der Beziehungen zwischen Vernunft und Religion darf heute nicht dem kantischen Weg folgen, obwohl eine Weiterführung von einigen zentralen Gedanken Kants hilfreich sein kann. Es soll m. E. von einer scharfen Trennung der Logik der religiösen und der rationalen Sprache ausgegangen werden, wenn auch dies keine reziproke Undurchdringlichkeit bedeuten soll. Eine „Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs“ (Ratzinger 2006; Internet) durch Verwischung der Differenz oder Überschneidungen kann zum besseren wechselseitigen Verständnis nicht beitragen. Eine Einheit oder eine prinzipielle Konvergenz des religiösen und des rationalen Diskurses anzunehmen, würde nicht nur die faktische Vielfalt der Formen von religiöser Erfahrung unterschätzen und − wie bei Kant, auch wenn erst nur durch rationale Transformation − eine positive Gestalt des Religiösen vor den anderen bevorzugen und mit dem Siegel der Rationalität versehen;23 sie würde auch dem Charakter eines sich selbst aufgrund struktureller, formaler Eigenschaften regelnden Prozesses widersprechen, den das von Kant entworfene Modell einer aufgeklärten autonomen Vernunft einsichtig machen wollte. Dem Problem einer positiven Beziehung von Religion und Vernunft bei Beibehaltung der inneren Differenz der jeweiligen Sprache hat in den letzten Jahren Jürgen Habermas, nicht zuletzt in Bezug auf Kants Religionsphilosophie, starke Aufmerksamkeit geschenkt. Auf seine Ausführungen kann hier nicht gebührend eingegangen werden; ich werde mich auf einige Bemerkungen beschränken. Habermas fasst das Verhältnis von säkularisierter Vernunft und Religion bekanntlich als einen reziproken Lernprozess. Der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt auf der Position, welche die zwei Instanzen im öffentlichen, politischen und vor-politischen Raum der Konsensbildung
_____________ 22 Vgl. AA V 432-33; KU § 83. 23 Kant schließt die Möglichkeit einer (rational legitimierbaren) Pluralität von Religionen ausdrücklich aus: „Verschiedenheit der Religionen: ein wunderlicher Ausdruck! gerade als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene Glaubensarten […] geben, aber nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion.“ (AA VIII 367) Er bevorzugt aber keine bestimmte positive Religion vor den anderen, sondern er plädiert für einen gemeinsamen allmähligen Übergang des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion.“ (vgl. AA VI 122)
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einnehmen können. Jenseits der religiösen und weltanschaulichen Neutralität eines demokratisch-liberalen Staats, die sozusagen Filter des argumentativ Zugelassenen in der politischen Entscheidungsebene voraussetzt, bleibt aber die Frage, wie − unter welchen Bedingungen − das rationale Gespräch geführt werden kann, mit anderen Worten, was die gemeinsame Suche nach Wahrheit als rational qualifizieren kann.24 Die politische und moralische Pflicht, Offenheit gegenüber der Möglichkeit, von Anderen zu lernen, verlangt von beiden Seiten reflexive Selbstkritik. Über diese allgemeine Gesprächsbereitschaft hinaus bleibt aber die Notwendigkeit, die Bedingungen der rationalen Verständigung zu identifizieren, die den Orientierungsrahmen für das Gespräch selbst bilden. Zur „Selbstaufklärung des säkularen Bewusstseins“ (Habermas 2006, 150) zählt Habermas zunächst die Anerkennung einer Genealogie der Vernunft, die zeigt, dass Vernunft ihre Quellen auch in der Übernahme von überlieferten Inhalten positiver Religionen hat.25 Auf Kant angewendet führt diese Perspektive auf die These, dass die Transzendentalphilosophie − so Habermas − „im Ganzen den praktischen Sinn“ habe, „den transzendentalen Gottesstandpunkt in eine funktional äquivalente innerweltliche Perspektive zu überführen und als moralischen Gesichtspunkt zu bewahren“ (Habermas 2006, 236). Der tatsächliche historische Umstand, dass in dieser wie in zahlreichen anderen Fällen das philosophische
_____________ 24 Es ist zu unterscheiden zwischen Bedingungen, die auf politischer Ebene gestellt werden können, und Bedingungen, die im freien rationalen Gespräch als seine inneren Voraussetzungen anerkannt werden sollen. Selbst im modernen demokratischen Staat bleibt der „öffentliche“ Diskurs – aus einem kantischen Gesichtspunkt aus betrachtet – ein bloß privater Vernunftgebrauch, weil er sich auf bedingte Ziele (die Erhaltung der juristischen Gerechtigkeit eines Rechtsstaates) bezieht. 25 Eigentlich sieht Habermas eine Genealogie der säkularen Vernunft, nach der sie sowohl in der Religion als auch in der Metaphysik verwurzelt sei, genauer in einem „gemeinsamen Ursprung von Philosophie und Religion aus der Weltbildrevolution der Achsenzeit (um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends). So wird dieser Prozess resümiert: „Unter dem Gesichtspunktes des kognitiven Schubs vom Mythos zum Logos rückt die Metaphysik an die Seite aller damals entstandenen Weltbilder, einschließlich des mosaischen Monotheismus. Sie alle ermöglichen es, die Welt von einem transzendenten Standpunkt aus als Ganzes in den Blick zu nehmen und die Flut der Phänomene von den zugrunde liegenden Wesenheiten zu unterscheiden. Und mit der Reflexion auf die Stellung des Individuums in der Welt entstand ein neues Bewußtsein von historischer Kontingenz und von der Verantwortung des handelnden Subjekts. Wenn aber religiöse und metaphysische Weltbilder ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben, gehören beide Modi, Glauben und Wissen, mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft, in deren Medium sich heute die Söhne und Töchter der Moderne über sich und ihre Stellung in der Welt verständigen.“ (Habermas 2008b, 28f.)
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Denken religiöse Inhalte und Motive übernommen und verarbeitet hat, lässt sich sicherlich nicht leugnen. Philosophie fällt nicht vom Himmel herab, sondern nimmt Elemente von jeder Art von Diskursen in sich auf, die in einer Lebensform kursieren, ganz besonders auch vom religiösen Diskurs, der ständig mit letzten Sinnfragen konfrontiert ist. Weniger klar ist aber, ob dies als eine grundsätzliche epistemische Abhängigkeit der philosophischen Vernunft gedeutet werden darf, die ihre Grenze und Defizite durch Übernahme religiöser Inhalte heilen würde. So lässt sich bezweifeln, dass „Kant die Unfähigkeit der praktischen Vernunft, die solidarische Verwirklichung kollektiver Ziele bzw. die kooperative Abwehr kollektiver Gefahren so zwingend und so effektiv zu begründen wie die individuelle Befolgung moralischer Pflichten, als ein bedrückendes Defizit empfunden“ und die philosophische Aneignung religiöser Gehalte für den richtigen (und wohl einzig möglichen) Weg gehalten hat, um dieses Defizit zu beheben (Habermas 2008b, 98).26 Wenn Kant, wie Habermas betont, die (historische) Rolle der christlichen Religion für die Entwicklung moralischen Vorstellungen und Begriffe dankend anerkennt, so besteht er aber mit Nachdruck auf die prinzipielle Unabhängigkeit der Vernunft, die imstande ist, von alleine auf alle rational zu begründenden Inhalte zu kommen.27 „Eine Aufklärung, die sich kritisch ihrer eigenen Grenze vergewissert“ (Habermas 2006, 146) ist nach Habermas zunächst diejenige, die religiöse
_____________ 26 Kants Begriff eines „ethischen Gemeinwesens“ kann so gedeutet werden, dass er ein Beispiel in Gemeinschaften (etwa einige humanitäre Hilfsorganisationen) finden kann, die im Hinblick auf Solidarität arbeiten, ohne eine religiöse Einstellung zu teilen. Vgl. dazu Dörflinger 2008, der überzeugend zwei Thesen vertritt: „Zum einen die, daß es für die Vernunft, die als theoretische Vernunft die Gesamtsituation der menschlichen Praxis, speziell auch der kollektiven Praxis, reflektiert, einen guten Grund dafür gibt, den Begriff des ethischen Gemeinwesens mit der Idee Gottes zu verbinden; zum zweiten die These, daß diese Idee für die menschliche Praxis selbst, d.h. für den Gebrauch praktischer Vernunft im ethischen Gemeinschaftsleben der Menschen nicht vonnöten ist, ja daß der Gedanke des in dieses Gemeinschaftsleben integrierten und darin wirksamen Gottes Missdeutung nahe legt und auf diese Weise sogar schädlich ist.“ 27 Auf die Stelle AA V 603; KU bezogen, in der bei Anerkennung der Bereicherung durch die christliche Religion diese Autonomie der Vernunft behauptet wird, fragt sich Habermas: „Aber kann die Philosophie nicht erst aus der Retrospektive, nach dem sie die Begriffe an fremdem Strand aufgesammelt hat, zu der kontrafaktischen Überzeugung gelangen, sie hätte das auch selbst erfinden können?“ (Habermas 2008b, 98) Es handelt sich dabei aber nicht um eine kontrafaktische Annnahme, sondern um eine prinzipielle Möglichkeit, die auf der Natur der Vernunft selbst basiert. Zudem sind Begriffe erst dann als ein Beitrag zum rationalen Diskurs zu sehen, wenn sie in einem rationalen Begründungszusammenhang eingefügt sind.
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Überlieferungen und religiöse Gemeinschaften nicht als „ein gewissermaßen archaisches, aus vormodernen Gesellschaften in die Gegenwart hineinreichendes Relikt“ (Habermas 2006, 145) betrachtet, sondern die semantischen Potentiale erkennt, die in den religiösen Sprachen enthalten sind. Demgegenüber hat Kants Position wie angedeutet zwei Seiten. Das kantische Modell der Aufklärung erkennt diese Sinnressource an, versucht dennoch durch die Idee einer Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft diese Dimension sozusagen zu kolonisieren. Der Preis, der dafür auf der Seite der Rationalität bezahlt wird, ist, dass die Bemühung, den Glaubensmodus als praktische Erweiterung der Rationalität in Anspruch zu nehmen, zum zweideutigen und nicht erschöpfend geklärten Status von Existenzsetzungen führt, die auf „Postulaten“ basieren. Eine ähnlich unentschlossene Zweideutigkeit bleibt vielleicht auch an Habermas’ Idee haften, Sinnressourcen der religiösen Rede für den rationalen Diskurs fruchtbar zu machen. Entweder wird dies in dem Sinn verstanden, dass die Vernunft dem Rationalen im Religiösen nachspüren und es sich dann zu eigen machen soll, oder aber in dem Sinn, dass sie in ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber religiösen Inhalten auf etwas angewiesen bleibt, dass sie von sich aus nicht erreichen kann, sie also epistemisch abhängig macht. Meiner Ansicht nach soll aufgeklärte Vernunft zunächst einmal die kritische Arbeit fortsetzen, die darin besteht, aufgrund der Analyse des Status der verschiedenen Diskursformen und den daraus resultierenden Grenzen zur selbstkritischen Einstellung aufzufordern. Dabei ist die „selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne“ (Habermas 2006, 145) in der kantischen Aufklärungsauffassung eigentlich schon geleistet: Zum einen verhindert die Idee der Teleologie der menschlichen Vernunft den Vorrang einer Rationalität, die die Rolle der Sinnfragen nicht anerkennt und vernünftige Rede auf die berechnende Optimierung von natürlichen Interessen reduziert; zum andern wird durch die Überwindung des Naturalismus durch die Selbsteinschränkung der theoretischen Vernunft programmatisch Raum für den (epistemisch umgedeuteten) Glauben frei gelassen. Fortzusetzen ist hingegen − damit die Autonomie sowohl der Vernunft als auch der religiösen Erfahrung erhalten wird − die kritische Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen. In dieser Aufgabe soll unvermeidlich die Vernunft etwas aus dem alten Mut zur Aufklärung nachholen, in dem sie sich − wie Kant sagt − „das Vorrecht anmaßt“, nicht Auslegungen zu bestimmen, sondern „Grundsätze der Auslegung“ aufzustellen (AA VII 38). Das heißt, in anderen und vielleicht besser passenden Worten, dass es der kritischen Analyse der Vernunft zusteht, die Natur der verschiedenen Sprachspiele zu bestimmen, die mit der Möglichkeit einer vernünftigen
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Verständigung verträglich ist. Wenn dies sich in eine Aufforderung an den Gläubigen ausdrückt, gewiss nicht ihren Glauben, wohl aber das Selbstverständnis dessen zu revidieren, was Glauben ist und sein kann, so bleibt diese Aufforderung einerseits legitim, andererseits eben eine Aufgabe, die keiner anderen Instanz als der Vernunft selbst zustehen kann.
3. Kantische Motive für die kritische Abgrenzung Die Fortsetzung der kritischen Abgrenzung von Glauben und Wissen kann auch kantische Motive wiederaufnehmen und fruchtbar machen, die in dem Projekt einer Vernunftreligion unterbestimmt bleiben. Darauf abschließend einige kurze Hinweise. Kant verbietet sowohl in der Philosophie als auch in der Religion dogmatische Prinzipien. Das bedeutet nicht nur, was die Philosophie betrifft, dass die kritische Untersuchung vorangehen soll; es bedeutet auch, dass − wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft behauptet − die Philosophie „nicht ein einziges direktsynthetisches Urteil aus Begriffen“ (ein „Dogma“ im engen kantischen Sinn) enthält (KrV A 736-7/B 764-5). Alle Ableitung von Lehrsprüchen, die Autorität vorgeben, ist also der philosophischen Vernunft fremd. Die prozedurale Auffassung der Vernunft, die O’Neill so klar betont hat, wird durch die Ablehnung jeder in dem besagten Sinn „dogmatischen“ Methode bestätigt, die von einer systematischen Methode ersetzt werden soll, welche Vernunft als ein „System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit“ auffasst.28 Modell der Vernunft ist keine feste Lehre, sondern eine allmähliche und offene Konstruktion eines teleologischen Ganzen, die eher Weisheit als Wissen voraussetzt. Eine parallele Entdogmatisierung der reflexiven Selbstauffassung der Religion ist erforderlich. Schon Kants Postulatenlehre hat bei aller ungelösten Zweideutigkeit auf einen Sinn von Glauben hingewiesen, der sich eher auf die Fähigkeit bezieht, einem moralischen Handeln in der Welt die Möglichkeit eines absoluten Sinnes offen zu halten, als auf den Besitz von als bestimmte Lehrsätze verstandenen Wahrheiten. Die Postulate erlauben uns, so drückt sich Kant manchmal aus, so zu handeln, als ob es einen Gott und ein künftiges Leben gäbe:29 dies ist etwas grundsätzlich anderes, als Sätze über bestimmte Gegenstände zu behaupten. Gleichzeitig wird Glaube als ein Habitus verstanden, der eher einem Vertrauen, als einem Beifall zu theoretischen Behauptungen ähnlich ist.
_____________ 28 KrV A 738/B 766. 29 Vgl. dazu La Rocca (im Druck).
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Ein so konzipierter Glaube bezieht sich hingegen gerade darauf, „was für das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist“ (AA V 471; KU § 91). Er ist, so Kant, „ein freies Fürwahrhalten nicht dessen, wozu dogmatische Beweise für die theoretisch bestimmende Urtheilskraft anzutreffen sind, noch wozu wir uns verbunden halten, sondern dessen, was wir zum Behuf einer Absicht nach Gesetzen der Freiheit annehmen“ (AA V 472). Selbst Kants strittige Idee der moralischen Auslegung der Schrift, die als anmaßende Haltung der Vernunft gegenüber der Religion gedeutet werden kann, versucht im Grunde, Religion auf eine Diskursebene zurückzuführen, wo sie keine Behauptungen aufstellt, sondern mit letzten Sinnfragen konfrontiert wird, wobei eine buchstäbliche oder dogmatische Auslegung sie der Möglichkeit einer Widerlegung von Seiten der theoretischen Vernunft aussetzt. Wenn die Aussagen der Schrift als „symbolische“ Äußerungen gedeutet werden, die innerhalb eines „moralischen“ Horizonts ihren Sinn finden30, wird ihre Reduzierung auf Tatsachenbehauptungen von vornherein ausgeschlossen – was der Prägnanz ihrer Bedeutung nur entgegenkommen kann. So besteht Kants Legitimierung durch Vernunft von bestimmten religiösen Praktiken (wie etwa das Gebet und der Gottesdienst) wesentlich in deren symbolischen Umdeutung: Damit zeigt sich, dass eine aufgeklärte Ansicht der Religion oft nicht den Eingriff in die Inhalte des Glaubens (sei es billigend, sei es ablehnend) impliziert, sondern vielmehr eine Wandlung im Selbstverständnis der Religion selbst. Mehr als ein Filter − wie Kant sie manchmal verwendet − kann die säkulare Vernunft als ein Transformator (Habermas 2008 a, 30) wirken, der auf ein weiteres Reflexivwerden des religiösen Bewusstseins führen kann.31 Die Distanz des Glaubens von intersubjektiv prüfbaren Behauptungen − was nicht besagt, dass der Glauben keine solche Behauptungen „inspirieren“ kann − wird von Kant auch dort ans Licht gebracht, wo er in der ersten Kritik die moralische Gewissheit, die zur Behauptung des Daseins Gottes führt, als etwas begreift, das sich nur in der „ersten Person“ konjugieren lässt. Die korrekte Formulierung für die Logik eines solchen Glaubens, der somit den Status der allgemeinen Mitteilbarkeit nicht erlan-
_____________ 30 Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der „moralische“ Horizont bei Kant Instanzen mit einschließt, die jenseits dessen liegen, was das menschliche Handeln direkt betrifft. 31 Die Unterscheidung zwischen Vernunft und Religion kann auch die Form annehmen, in der die Religion mit der Differenz eine Überlegenheit beansprucht (vgl. Wimmer 2005, der etwa die Vergebung von Schuld als eine der Vernunft unzugängliche Möglichkeit ansieht).
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gen kann32, wäre also „ich bin moralisch gewiß“ und nicht „es ist moralisch gewiss“ (KrV A 829/B 857). „Glauben ist eine Überzeugung, die nicht communicabel ist (wegen der subjektiven Gründe)“ heißt es lapidar in einer Notiz aus dem Nachlass (R 2488, AA XVI 391). Der moralische Glaube scheint, im Unterschied zum moralischen Gesetz, nur in Verbindung mit dem persönlichen, faktischen, jede Lehre überschreitenden moralischen „Akt“ möglich und sinnvoll zu sein, also moralische Gesinnung vorauszusetzten. Er entspringt aus einer konkreten Haltung, nicht einer teilbaren „Lehre“. Die Distanz des moralisch gegründeten Glaubens von jeder Lehre bzw. objektiven Belehrung wird in der Preisschrift zu den Fortschritten der Metaphysik sehr deutlich in einer Passage betont, welche lautet: Daher hat der Glaube in moralisch-praktischer Rücksicht auch an sich einen moralischen Werth, weil er ein freyes Annehmen enthält. Das Credo in den drey Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft: Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; — ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, sofern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; – ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut; – dieses Credo, sage ich, ist ein freyes Fürwahrhalten, ohne welches es auch keinen moralischen Werth haben würde. Es verstattet also keinen Imperativ (kein crede), und der Beweisgrund dieser seiner Richtigkeit ist kein Beweis von der Wahrheit dieser Sätze, als theoretischer betrachtet, mithin keine objective Belehrung von der Wirklichkeit der Gegenstände derselben, denn die ist in Ansehung des Übersinnlichen unmöglich, sondern nur eine subjectiv-, und zwar praktisch-gültige, und in dieser Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüßten, daß diese Gegenstände wirklich wären. (AA XX 298)
Ein Glaube, der wohl ein credo ist, aber sich in kein crede verwandeln darf (also auf eine Verbindlichkeit von vornherein verzichtet oder sogar verzichten soll, um moralischen Wert zu behalten), verweist auf eine Natur der religiösen Einstellung, die in keinen Konflikt mit dem allgemein verbindlichen Wissen und mit intersubjektiv argumentierbarer Moral geraten kann. Das Bewusstsein dieser eigentümlichen Qualität vermindert auf keinen Fall Sinn und Würde der Religion, auch wenn es zu einer nicht unerheblichen Transformation der Art, mit religiösen „Inhalte“ umzugehen, führen kann. Es wird nicht nur dem Fanatismus und der vermeintlich religiösen Rechtfertigung von die Freiheit unterdrückenden Taten der Weg abgeschnitten, sondern auch der Möglichkeit, von „Glaubensartikeln“ direkt Sätze abzuleiten, die Wahrheit beanspruchen.
_____________ 32 KrV A 823/B 851. Vgl. schon etwa die R 2459, AA XVI 378, R 2486, AA XVI 389.
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Schon diese Motive in Kants Denken machen plausibel, dass religiöse Erfahrung nicht so sehr als ein Konsens zu einem Inbegriff von Sätzen33, also als eine epistemische Beziehung zu Inhalten zu sehen ist, sondern vielmehr als eine Form − ein Modus, ein Wie − von Welterschließung34, die sich im Handeln dem religiös eingestellten Einzelnen eröffnet und durch sein Tun auch den anderen manifest werden kann. Dass diese Einstellung sich selbstverständlich in ein Verhältnis zu bestimmten Schriften und Diskursen setzt, besagt nicht, dass diese der Ausgang der religiösen Erfahrung selbst seien und als Basis für eine Argumentation unvermittelt verwendet werden dürfen.35 Die säkulare Vernunft darf von dem religiös eingestellten Menschen ein solches selbstreflexives Bewusstsein verlangen, das es ihm unmöglich macht, Inhalte der Überlieferung direkt als Grundlagen für moralische oder andersartige Behauptungen in Anspruch zu nehmen. Religion − religiöse Erfahrung − ist eher als Quelle möglicher Rede als deren Teil zu sehen (als Inbegriff von Behauptungen). Das kritische Bewusstsein dieses Charakters sollte gleichzeitig nicht-gläubige Men-
_____________ 33 Religion ist nach Kant „nicht der Inbegriff gewisser Lehren als göttlicher Offenbarungen“ (AA VII 36). 34 Ich berufe mich auf William James’ These des Vorrangs der religiösen Erfahrung vor den institutionalisierten Formulierungen des Glaubens, obwohl ich die Rolle des Gefühls als nicht zentral ansehe und vielmehr die Idee der Religion als Erfahrungsform betonen würde. Zu James und dem Zusammenhang mit der heutigen Situation vgl. Taylor 2002. 35 Eine interessante Auffassung der religiösen Erfahrung, die sie ursprünglich mit einer Haltung zu sich und zur Alleinheit der Welt identifiziert, wird von Ernst Tugendhat vorgeschlagen (Tugendhat 2006, 111-149). Eine tiefere Diskussion, die hier nicht möglich ist, verdienten allerdings Tugendhats Unterscheidung zwischen „Religion“ und „Mystik“ sowie seine These, man könne „Götterglauben“ − also Religion im entsprechend seinem Vorschlag engeren Sinne − „heute nur als eine Wunschprojektion ansehen“ (Tugendhat 2006, 123). Ähnliches gilt für das sehr schöne Buch von Roberta De Monticelli (De Monticelli 2007), die versucht, zwei Grundeinstellungen gegenüber der religiösen Erfahrung (zwei Modi des reflexiven Selbstbewusstseins, die sich in zwei unterschiedlichen Haltung ausdrücken) zu unterscheiden, die sie jeweils mit der Benennung „Geist“ und „Ideologie“ angibt. „Ideologie“ − so würde ich es formulieren − ist ein Umgang mit religiösen Inhalten, der sie auf in einem apophantischen Diskurs direkt verwendbare Lehrsätze reduziert. De Monticelli versucht aber − in kritischer Absetzung von Kant − der religiösen Erfahrung „den Horizont einer Wahrheitssuche zurückzugeben“ (De Monticelli 2007, 132). Dies ist m.E. nur dadurch möglich, dass man der religiösen Erfahrung den Status einer „transzendentalen Wahrheit“, d.h. einer Weise der Welterschließung zuerkennt, den Glauben aber dabei nicht als den Besitz von einem Inbegriff von Wahrheiten auffasst − also nur durch erneute Behauptung des Unterschieds zwischen Glauben und (auch moralischem) Wissen bei gleichzeitiger Umformulierung des Begriffs des Glaubens.
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schen davon abhalten, religiöse Inhalte oder gar Religion als solche durch wissenschaftliche oder überhaupt rationale Gründe „widerlegen“ zu wollen. Eine solche naturalistische Einstellung verfehlt das Wesen der Religion genauso wie ihre Vermischung mit dem rationalen Diskus.36 Wie weit dies von dem heute verbreiteten Verständnis der Religion so wie von dem tatsächlichen Selbstverständnis der heutigen Religionen noch entfernt ist, liegt uns deutlich vor Augen, obwohl auch der Versuch einer Umänderung des religiösen Selbstverständnisses nicht ganz ohne Nachklang ist. Das bestätigt schließlich nur, dass Aufklärung − wie Kant schreibt − „zwar in Thesi leicht, in Hypothesi aber eine schwere und langsam auszuführende Sache“ ist.37
Literatur Dawkins, Richard (2006), The God Delusion, Boston. De Monticelli, Roberta (2007): Sullo spirito e l’ideologia. Lettera ai cristiani, Milano. Dennett, Daniel (2006): Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon, New York. Dörflinger, Bernd (2004): „Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen“, in: Herta Nagl-Docekal / Rudolf Langthaler (Hrsg.), Recht − Geschichte − Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin, 161-172. Dörflinger, Bernd (2008): „Die Rolle der Gottesidee in Kants Konzeption des ethischen Gemeinwesens“, in Valerio Rohden, / Ricardo R.Terra, / Guido A. de Almeida (Hrsg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin, Bd. I, 51-69. Habermas, Jürgen (2006): Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M.. Habermas, Jürgen (2008a): „Ein Bewußtsein von dem, was fehlt“, in: Michael Reder / Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a.M., 26-36. Habermas, Jürgen (2008b): „Eine Replik“, in: Michael Reder / Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a.M., 94-107.
_____________ 36 Erfolgreiche Versuche der letzten Jahre in dieser Richtung sind etwa Dawkins 2006 und Dennett 2006. 37 AA V 296.
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Henrich, Dieter (1966): „Zu Kants Begriff der Philosophie. Eine Edition und eine Fragestellung“, in: Friedrich Kaulbach / Joachim Ritter (Hrsg.), Kritik und Metaphysik. Studien, Berlin, 40-59. Hinske, Norbert (1990): „Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie“, in: Raffaele Ciafardone (Hrsg.), Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung, Stuttgart, 407-458. La Rocca, Claudio (2003): Soggetto e mondo. Studi su Kant, Venezia. La Rocca, Claudio (2004): „Was Aufklärung sein wird. Zur Diskussion um die Aktualität eines Kantischen Konzepts“, in: Herta Nagl-Docekal / Rudolf Langthaler (Hrsg.), Recht − Geschichte − Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin, 123-138. La Rocca, Claudio (im Druck): „Formen des Als Ob bei Kant“, Vortrag auf der Tagung „Über den Nutzen von Illusionen. Die regulativen Ideen in Kants theoretischer Philosophie“, Frankfurt a.M., 20.-21. Juni 2008. O’Neill, Onora (1996): „Aufgeklärte Vernuft. Über Kants Anti-Rationalismus“, in: K.-O. Apel / M. Kettner (Hrsg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 206-226. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979): Glauben und Wissen (1802), in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. Band 2, Frankfurt a. M.. Ratzinger, Joseph (2006): Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. Ansprache in der Aula Magna der Universität Regensburg, Dienstag, 12. September 2006, http://www.vatican.va/holy_father/ benedict_xvi/speeches/2006/september/documents/hf_ben-xvi_ spe_20060912_university-regensburg_ge.html (Stand: 14.7.2008). Scholz, Oliver Robert (2004): „‚…den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in der eigenen Vernunft) suchen‘. Immanuel Kants Präzisierung und Formalisierung des Aufklärungsprogramms“, in Sabine Doyé / Marion Heinz / Udo Rameil (Hrsg.), Metaphysik und Kritik, Berlin – New York, 251-264. Taylor, Charles (2002): Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M. Tugendhat, Ernst (2006), Egozentrizität und Mystik, Eine anthropologische Studie, 3. Auflage, München. Wimmer, Reiner (2004), „Kann Religion vernünftig sein? Zur Metakritik an Kants kritischer Religionsphilosophie“, in: Herta Nagl-Docekal / Rudolf Langthaler (Hrsg.), Recht − Geschichte − Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin, 173-194.
Kants vorkritisches Programm der Aufklärung Lothar Kreimendahl Viererlei möchte ich in diesem Beitrag zeigen: 1) Im Gegensatz zur geläufigen Ansicht, wonach sich Kant erst mit seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1784 zu Fragen der Aufklärung zu Wort meldete, spielen aufklärerische Themen bereits in seiner vorkritischen Phase eine prominente Rolle. 2) Kants frühes Programm der Aufklärung ist insgesamt mannigfaltiger als das des kritischen Kant. Es dominiert ein Verständnis von Aufklärung im Sinne von Erhellung der Begriffe und Vorstellungen, wie es Christian Wolff formuliert hatte. 3) Die faktische Gleichsetzung von Selbstdenken mit Aufklärung, die für den reifen Kant typisch ist, findet sich in den vorkritischen Schriften noch nicht. Der Begriff des Selbstdenkens tritt erstmals in den Vorlesungsnachschriften der frühen 1770er Jahre hervor und wird in den Reflexionen der Phase 1776-78 auch schon mit dem Begriff der Aufklärung in Verbindung gebracht. Im Druckwerk taucht er erst 1783 auf und wird dann ein Jahr später im Aufklärungsaufsatz als das für die Aufklärung Charakteristische präsentiert. 4) Anhand der Beweisgrundschrift des Jahres 1762/63 wird abschließend dargestellt, wie der frühe Kant drei zentrale philosophische Probleme in aufklärerischer Art und Weise behandelt.
I. Bei einem ersten Blick auf Kants publiziertes Werk könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass sich der Königsberger Philosoph erst in seinen späten Jahren für das Projekt der Aufklärung ernsthaft zu interessieren begann. Der berühmte Aufklärungsaufsatz erschien im Dezember 1784, als Kant in seinem 61. Lebensjahr stand, und die kleineren Schriften zur Geschichtsphilosophie und politischen Philosophie, die schon von ihrem bevorzugten Publikationsort her, der „Berlinischen Monatsschrift“, eine Verbindung zur deutschen Spätaufklärung erwarten lassen, sind allesamt erst im Anschluss an jenen Aufsatz entstanden. Auch die in den 1790er Jahren publizierten größeren Werke wie die Religionsschrift von 1793, die Rechtslehre von 1797 und die Schrift über den Streit der Fakultäten von
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1798, die erkennbar vom Geist der Aufklärung inspiriert sind, fügen sich in das Bild von dem scheinbar erst spät aufklärerisch tätig gewordenen Philosophen ein. Jedenfalls enthalten die drei Kritiken nichts, was auch nur im Entferntesten an das aufklärerische Potential jener späten Schriften heranreichen könnte. Eine Analyse der vorkritischen Schriften scheint diesen Befund zunächst weiter zu erhärten. Schon die Titel der in den 1750er Jahren verfassten frühen Werke geben kaum Anlass zu der Vermutung, sie seien von aufklärerischem Impetus getragen, denn sie lassen ein ausgeprägtes naturwissenschaftliches bzw. -philosophisches Interesse Kants erkennen. Erst in den 1760er Jahren werden sie von Arbeiten zu im engeren Sinne philosophischen bzw. metaphysischen Fragestellungen abgelöst1, doch scheint sich hinter deren Zielsetzungen, wie etwa der Titel der Schrift von 1762/63 über den Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes andeutet, nicht unbedingt aufklärerischer Sprengstoff zu verbergen. Ein Blick auf Kants Sprachgebrauch dieser Jahre führt zu einer weiteren Bekräftigung dieses präsumtiven Eindrucks, denn das Wortfeld ‚Aufklärung‘ findet in den Schriften der Jahre 1746 bis 1770, worauf gleich noch näher einzugehen ist, nur außerordentlich spärliche Verwendung. An diesem Befund ändern auch die Briefe Kants aus jenen Jahren nichts; auf das Wort ‚Aufklärung‘ stößt man in ihnen nicht ein einziges Mal; ein Blick in die Aufzeichnungen der von den Teilnehmern überlieferten Gespräche Kants führt zu demselben Ergebnis2, und auch die wenigen Vorlesungsnachschriften aus Kants frühen Jahren – etwa die von Herder angefertigten Niederschriften3 – ändern nichts an diesem Befund. So scheint zunächst alles für die Richtigkeit der Annahme zu sprechen, Kant habe sich des Projekts ‚Aufklärung‘ erst spät in seinem Leben angenommen und Beiträge dazu geleistet.4 Allein es ist auf der anderen
_____________ 1 Aus der Schriftengruppe der 1750er Jahre verfolgen nur die Habilitationsschrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio des Jahres 1755 sowie die Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam des darauffolgenden Jahres metaphysische Fragestellungen. 2 Cf. Malter 1990. Freilich ist, worauf Malter an anderer Stelle selbst hinweist, nicht auszuschließen, dass derartige Themen zwar erörtert, aber von den Gesprächsteilnehmern nicht protokolliert worden und somit nicht überliefert sind. Im Ergebnis jedenfalls gilt: „Fällt so das Kant-Gesprächecorpus im ganzen thematisch recht spröde aus, so gilt dies in verstärktem Maße für das Thema ‚Aufklärung‘.“ Malter 1992, 19. 3 Cf. Zammito 2001, 201-223. 4 Dieser Einschätzung entspricht übrigens die Verteilung der dem Thema gewidmeten Studien. Während das Verhältnis des kritischen Kant zur Aufklärung durch eine Vielzahl intensiver Arbeiten als gut durchleuchtet gelten darf, fehlen vergleichba-
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Seite doch nur schwer vorstellbar, dass ein Philosoph von der intellektuellen Mobilität Kants, den nicht wenige Philosophiehistoriker für den Vollender und Überwinder der Aufklärung zugleich halten, bis zu seinem 60. Lebensjahr vom aufklärerischen Zeitgeist so gut wie unbeeinflusst geblieben sein sollte, so dass diese das 18. Jahrhundert und damit Kants Lebenszeit dominierende Strömung keinerlei Spuren in seinem vorkritischen Werk hinterlassen hätte. Als er geboren wurde, war Christian Wolff soeben auf Betreiben der Hallenser Pietisten aus seinem damaligen Wirkungsort vertrieben worden, was über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinaus mit Empörung und als Zeichen fehlender Meinungsfreiheit wahrgenommen wurde, Wolffs Ruhm aber vermehrte und ihn endgültig zur Zentralgestalt der deutschen Hochaufklärung werden ließ. Im gleichen Jahr 1740, als Kant die Universität bezog, wurde Wolff von Friedrich II. mit großer öffentlicher Anteilnahme ehrenvoll nach Halle zurückberufen. Wolff stand damals im Zenit seines Ruhmes, und es steht außer Frage, dass Kant mit Wolffs Werken sowohl auf direktem Wege durch die Lektüre derselben als auch auf indirektem Wege durch den akademischen Unterricht auf der Königsberger Universität durch Schüler Wolffs vertraut war. Aber nicht nur die deutsche, auch die englische und französische Aufklärung haben schon frühzeitig auf Kant eingewirkt. Um nur ein Beispiel für Kants gut bezeugte Rezeption französischen aufklärerischen Schrifttums zu geben, sei auf den Brief Johann Georg Hamanns vom 27. Juli 1759 hingewiesen, aus dem hervorgeht, dass Kant, der das Französische nur unzureichend beherrschte5, Hamann um Übersetzungen von Artikeln aus der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert gebeten hatte.6 Gleichermaßen zweifelsfrei steht Kants Bekanntschaft mit britischen Autoren
_____________ re Analysen zu seinen frühen Jahren. Norbert Hinske hat jedoch in mehreren Studien auf die Bedeutung der kantischen Logik-Vorlesungen – insbesondere der 1770er Jahre – für das Thema hingewiesen und damit einen wichtigen Schritt in Richtung der Einbeziehung der vorkritischen Phase getan. So z.B. in seinem Beitrag Hinske 1992, 57-71. 5 Kants Schüler Reinhold Bernhard Jachmann teilt in seiner Biographie Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund mit, dass Kant von den neueren Sprachen französisch verstand, es aber nicht sprach (Groß 1914, 138). Indes wird man diese Auskunft im Lichte der mit dieser Lebensschilderung beabsichtigten Verehrung des Lehrers wohl so verstehen müssen, dass Kant von der Lektüre französischsprachiger Werke grundsätzlich Abstand nahm. Dieser Ansicht ist auch Hans-Joachim Waschkies. Seinen Ermittlungen zufolge lagen alle französischen Publikationen, auf die sich Kant in seinen Schriften bezieht, in zeitgenössischen deutschen oder lateinischen Fassungen vor. Waschkies 1987, 541f., Fußn. 101. 6 AA X 8-9.
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des 18. Jahrhunderts fest. Er selbst führt beispielsweise in der Preisschrift von 1762/64 ausdrücklich die Verdienste von Francis Hutcheson auf dem Gebiet der Moralphilosophie an7, und die zeitgleich entstandene Beweisgrundschrift ist ein manifestes Dokument seiner Lektüre David Humes.8 Es könnte also lohnen, einen näheren Blick auf das vorkritische Werk zu werfen und zu sehen ob, und wenn ja, welche Spuren das Gedankengut der Aufklärung darin zurückgelassen hat. Lässt man sich bei diesem Unternehmen zunächst von dem Sprachbefund leiten, wie er durch lemmatisierte Wortindices zu Tage gefördert wird, so zeigt sich, dass das Lemma ‚Aufklärung‘ im Druckwerk Kants und zugleich überhaupt in seinem Werk zum ersten Mal in der Allgemeine(n) Naturgeschichte und Theorie des Himmels9 von 1755 vorkommt und sich der letzte Beleg innerhalb des vorkritischen Werks in den kurzen Aufsätze(n), das Philanthropin betreffend10 von 1776/77 findet. In beiden Texten ist das Lemma ‚Aufklärung‘ je einmal vertreten, die übrigen zehn Okkurenzen im Druckwerk verteilen sich auf insgesamt sechs zeitlich dazwischen liegende Schriften.11 Insgesamt taucht das Lemma ‚Aufklärung‘ zwischen 1755 und 1777, also in 22 Jahren schriftstellerischer Aktivität, zwölfmal bei Kant und damit eher selten auf, in den nachfolgenden Jahren, d.h. von 1781 an, jedoch genau 100 Mal.12 Zum Vergleich: Das Wortfeld ‚Metaphysik‘ ist im vorkritischen Schrifttum 147 Mal vertreten, das Wortfeld ‚Natur‘ etwa 800 Mal. Diese geringe Vorkommenshäufigkeit könnte als weiteres Indiz für die Vernachlässigung dieses Themas beim jungen Kant gewertet werden. Doch bei diesem Schluss ist Vorsicht geboten, denn hier treten die Grenzen wortstatistischer Methoden in Erscheinung. Aus der Häufigkeit, mit der ein bestimmter Ausdruck in einem Text Verwendung findet, kann keine unmittelbare Folgerung auf die Bedeutung gezogen werden, die das mit ihm bezeichnete Sachproblem dort spielt. Tatsächlich nämlich behandelt der frühe Kant schon in den fünfziger und sechziger Jahren aufkläre-
_____________ 7 AA II 300, Z. 23-25. 8 Cf. hierzu Gawlick/Kreimendahl 1987, 183. 9 AA I 357, Z. 7. 10 AA II 449, Z. 24. 11 Und zwar folgendermaßen: Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie (1x), Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (2x), Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1x), Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (4x), Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 (1x), Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1x). 12 Martin 1967, Bd. 1, 93, 95.
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rische Themen, wenngleich nicht in der forschen Manier à la Voltaire, wie man es von einem jungen Philosophen vielleicht erwarten mag, der um die Mitte des Jahrhunderts mit seiner literarischen Produktion einsetzt. Doch bevor ich dem anhand der Beweisgrundschrift von 1762/63 im Sinne einer Fallstudie näher nachgehe, möchte ich sein Programm der Aufklärung, wie es aus den frühen Quellen einschließlich der Reflexionen zu rekonstruieren ist, kurz umreißen.
II. ‚Aufklärung‘, so der Befund dieser Dokumente, ist für den jungen Kant kein emanzipatorischer Begriff und steht erst recht nicht für sozialpolitische Agitation. Kant versteht Aufklärung vielmehr als Erhellung des Denkens bzw. der Begriffe und Vorstellungen. Mit diesem Verständnis stellt er sich in die sich von Christian Thomasius herleitende Tradition, die auch für Wolff und dessen Schüler maßgeblich war.13 Seinen deutlichsten und unmissverständlichsten Ausdruck findet dieses Verständnis in der Habilitationsschrift des Jahres 1755, die in dem genannten Sinne Aufklärung über die ersten Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis geben will, näherhin über den Status des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grunde. Sie nimmt dies unter der Überschrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio in Angriff. Dass ‚Dilucidatio‘ in diesem Titel mit ‚Aufklärung‘ wiederzugeben ist, geht aus Alexander Gottlieb Baumgartens Acroasis logica klar hervor.14 Der Titel dieser von Kant gegebenen „Neuen Erhellung“ ist fraglos inspiriert von einem anderen Wolffianer, auf den sich Baumgarten seinerseits bezieht15, näm-
_____________ 13 Cf. Schneiders 2005. Thomasius zielte mit seinem aufklärerischen Programm hauptsächlich auf die „Ausbesserung des Verstandes […] zwecks Willenswandel“ (Schneiders 2005, 174), Wolff betrieb Aufklärung „im Hinblick auf Gottesgewißheit […] vor allem als Begriffserklärung“ (Schneiders 2005, 176). 14 „Actio, qua aliquis claritatis gradus in conceptu obtinetur, est eiusdem DECLARATIO (dilucidatio, illustratio, explicatio, expositio).“ Als Übersetzung der genannten Begriffe fügt er hinzu: „Aufklärung“. Baumgarten 1761, § 28, S. 9. 15 Baumgarten zählt Georg Bernhard Bilfinger in der Vorrede zur Erstauflage seiner Metaphysica von 1739 namentlich zu seinen Quellen: „Inprimis plurimum promotam cognitionem meam earum veritatum, quas hoc qualicumque libello TECUM communico, cogitationibus, quas illustribus celeberrimisque metaphysices inter nos reformatoribus, Leibnitiis, Wolfiis, Bülfingeris, Reuschiis, fert acceptas non ingrata Germania, nullus unquam diffitebor.“ Baumgarten 1757, VIIf. [n.p.]. („Insbesondere will ich gar nicht abstreiten, daß meine Erkenntnis derjenigen Wahrheiten, die ich DIR in diesem wie auch immer gearteten Büchlein mitteile, am stärksten durch dieje-
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lich auf Georg Bernhard Bilfinger und dessen Dilucidationes philosophicae de deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus.16 Aufklärung ist demnach ein erkenntnistheoretisches Geschäft mit dem Ziel begrifflicher Klarheit. Folglich werden nicht Menschen, Zeitalter oder gar die Menschheit schlechthin aufgeklärt, sondern der Verstand bzw. die Vernunft als Ort und Sitz von Begrifflichkeit und Vorstellungsvermögen. Dieses Verständnis dominiert Kants Äußerungen zur Aufklärung von 1755 bis zum Jahre 1768.17 Es begegnet auch in den Reflexionen und Vorlesungsnachschriften der siebziger Jahre18, und noch in den achtziger Jahren, als Kant sich zu der faktischen Gleichsetzung von Aufklärung und Selbstdenken vorgearbeitet hat, trifft man gelegentlich auf diese frühe Auffassung, die von der neuen niemals völlig verdrängt wird.19 Dieses Geschäft freilich – und das ist philosophisches Gemeingut spätestens seit Platon – ist ein beschwerliches Geschäft. Kant spricht diesen Punkt mit seiner ersten Äußerung zum Thema überhaupt in der Allgemeine(n) Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 an. Dort heißt es: Die Handlung des Nachdenkens und der durch die Vernunft aufgeklärten Vorstellungen ist ein mühsamer Zustand, darein die Seele sich nicht ohne Widerstand
_____________ nigen Gedanken befördert worden ist, die Deutschland den hochedlen und hochberühmten Reformern der Metaphysik bei uns, Männern wie Leibniz, Wolff, Bülfinger und Reusch verdankt.“) 16 Bilfinger 1725. 17 Cf. Allgemeine Naturgeschichte: „der durch die Vernunft aufgeklärten Vorstellungen“ (AA I 357, Z. 6-7); Deutlichkeit: „der besseren Aufklärung mancher Einsichten“ (AA II 293, Z. 31); Negative Größen: „von aufgeklärter Einsicht“ (AA II 184, Z. 13-14); Der einzig mögliche Beweisgrund: „eine dergleichen Einsicht […] viel mehreres in diesem Gegenstande aufklären könnte“ (AA II 65, Z. 23-25); „und selbst die ersten Begriffe der praktischen Weltweisheit aufklären kann“ (AA II 90, Z. 12-13); Gegenden im Raume: „Begriffe […], die sich auch allererst im Fortgange aufklären sollen“ (AA II 378, Z. 4-6). 18 So etwa in der R 5050 des Zeitraums 1776-78: „Man muß den verkehrten Kopf in Erkenntnisse führen, die ihn Aufklären; alsdenn verliert sich der Irrthum von selbst“ (AA XVIII 73, Z. 6-8). Cf. auch die R 5115 aus demselben Zeitraum: „die Zergliederung der Vernunftbegriffe; denn die ist nichts anders als die größere Aufklärung dessen, was wir schon wissen“ (AA XVIII 94, Z. 18-19). Ebenso die Logik Blomberg: „[…] wohl aber kann man das logische Wesen von Vernunft Begriffen vorstellen, und dasselbe sich gehörig aufklären“ (AA XXIV.1 117, Z. 32-34). 19 Cf. etwa die Metaphysik Mrongovius: „Metaphysic ist der Inbegriff aller reinen Vernunft Erkenntniße, die durch Analytic sehr aufgeklärt wird“ (AA XXIX.1,2 783, Z. 29-30; fast gleichlautender Wortlaut in der Metaphysik Volckmann AA XXVIII.1 390, Z. 4-6). Ebenso die Philosophische Religionslehre Pölitz: „[…] denn mein Begriff von der Ewigkeit wird darum nicht um das geringste aufgekläret oder gereiniget“ (AA XXVIII.2,2 1044, Z. 11-12).
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setzen kann, und aus welchem sie durch einen natürlichen Hang der körperlichen Maschine alsbald in den leidenden Zustand zurückfällt, da die sinnlichen Reizungen alle ihre Handlungen bestimmen und regieren. Diese Trägheit seiner Denkungskraft, welche eine Folge der Abhängigkeit von einer groben und ungelenksamen Materie ist, ist nicht allein die Quelle des Lasters, sondern auch des Irrthums. Durch die Schwierigkeit, welche mit der Bemühung verbunden ist, den Nebel der verwirrten Begriffe zu zerstreuen und das durch verglichene Ideen entspringende allgemeine Erkenntniß von den sinnlichen Eindrücken abzusondern, abgehalten, giebt sie lieber einem übereilten Beifalle Platz und beruhigt sich in dem Besitze einer Einsicht, welche ihr die Trägheit ihrer Natur und der Wider20 stand der Materie kaum von der Seite erblicken lassen.
Die Vernunft bequemt sich also nicht gleichsam von selbst zum mühsamen Geschäft der Aufklärung, sondern sucht sich ihr und ihren Ansprüchen aus Gründen der Bequemheit und Trägheit zunächst zu widersetzen; eine Einsicht, die Kant beibehalten und sogar noch verschärfen wird.21 Wie ist nun dieser Prozess in Gang zu bringen oder, wie Kant eine spätere Reflexion aus den Jahren 1785-1788 überschreibt, welche „Mittel der Aufklärung“22 gibt es? In den 1760er Jahren kennt er deren vier. Zunächst ist es 1) die Vernunft selbst23, die den Prozess des Aufklärens durch Erhellung der Begriffe vorantreibt, vornehmlich dadurch, dass sie vorgegebene Begriffe in beinahe sprachanalytisch zu nennender Weise bis zu den kleinsten semantischen Einheiten dekomponiert. Sodann nennt Kant 2) die richtige Methode, worunter er eben dieses Verfahren analytischer Begriffszergliederung versteht, auf die er insbesondere in der Preisschrift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“24 seine Hoffnungen setzt. Ferner besteht 3) die Möglichkeit, dass eine aufgeklärte Einsicht andere aufgeklärte Einsichten erzeugt, dieser Prozess nach und nach um sich greift und so Licht auch in andere Bereiche trägt. Dieses Verfahren macht sich Kant in der „Beweisgrundschrift“ zunutze, wenn er dort die Erhellung anspricht, die vom ontotheo-
_____________ 20 AA I 357, Z. 6-21. 21 Bekannt ist die Diagnose des Aufklärungsaufsatzes: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben […]. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ AA VIII 35, Z. 9-13. 22 R 454, AA XV.1 186, Z. 20. 23 Allgemeine Naturgeschichte, AA I 357; cf. auch die R 5115 aus den Jahren 1776-78, AA XVIII 94, Z. 18-19. 24 AA II 293. Auf der rechten Methode beruhen die Hoffnungen auch in der Schrift über den Einzig mögliche(n) Beweisgrund. Die zuvor im Sinne der „Preisschrift“ präsentierte „[…] Methode ist es allein, kraft welcher ich einige Aufklärungen hoffe, die ich vergeblich bei andern gesucht habe“. AA II 71, Z. 27-29.
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logischen Beweis im Felde physikotheologischer Betrachtungen ausgeht.25 Entwicklungsgeschichtlich besonders interessant ist 4) die Möglichkeit, die Kant in der R 298 anspricht, die nach Adickes wahrscheinlich dem Zeitraum 1762-63 entstammt, möglicherweise aber auch erst zwischen 1764 und 1769 niedergeschrieben sein mag. In ihr wird das später von Kant sogenannte antithetische Verfahren für die Aufklärung fruchtbar gemacht: „Entgegensetzung dient zur Aufklärung, zum Besseren verstehen […].“26 Diese weit in die Zukunft vorausweisende Methode der Aufklärungsbeförderung27 findet in den Schriften dieser Jahre jedoch noch keine Anwendung. Während die genannten vier Verfahren allesamt in der Hand des Menschen liegen und sozusagen nur darauf warten, von ihm zur Anwendung gebracht zu werden, entziehen sich zwei andere „Mittel zur Aufklärung“, die Kant dieser Liste in den 1770er Jahren hinzufügt, der individuellen Verfügbarkeit. Es ist zum einen der Geschichtsprozess als solcher, der dafür sorge, dass „[…] Menschen nach und nach aufgeklärt werden“28. Diese Überzeugung behält Kant bei und präsentiert sie auch im Aufklärungsaufsatz.29 Zum andern ist es die sich im Geschichtsverlauf einstellende Sprachvermischung, die Kant in der R 1455a als eine geradezu unabdingbare Voraussetzung für Aufklärung ausgibt. Wo es zu einer solchen nicht kommt, können die entsprechenden Völker „[…] zwar sehr cultivirt seyn, als Chinesen, werden aber niemals aufgeklärt und bleiben eingeschränkt von Begriffen.“30 Aufklärung im Sinne von Begriffserhellung spielt also im Denken des vorkritischen Kant eine ausgeprägte Rolle, und zwar über die in diesem Sinne ‚aufklärerisch‘ zu nennende Habilitationsschrift des Jahres 1755 und die Preisschrift über die Deutlichkeit von 1762/64 hinaus. Gleichwohl trifft man an einer prominenten Stelle auch auf ein emphatisches und vom
_____________ 25 AA II 65, 90. 26 AA XV.1 116, Z. 8. 27 Kant setzt sie viele Jahre später in der Kritik der reinen Vernunft innerhalb der Behandlung der Antinomieproblematik ein (KrV A 420 / B 448 – A 425 / B 453). 28 R 1404 aus dem Zeitraum 1772-1776, AA XV.2 612, Z. 18-19. Ebenso R 1423 aus dem Zeitraum 1773-1778, AA XV.2 621, Z. 3. 29 „Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten“ (AA VIII 41, Z. 7-9). Cf. AA VIII 36, Z. 16-17: „Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur die Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.“ 30 AA XV.2 637, Z. 16-18. Konsequenterweise vermutet Kant angesichts der im antiken Griechenland erreichten kulturellen und philosophischen Blüte, dass die altgriechische Sprache aus einem ursprünglich reichhaltigen Sprachengemisch entstanden ist.
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Selbstbewusstsein des Optimismus getragenes Urteil des jungen Kant, wonach man jetzt, im Jahr 1757 nämlich, in „aufgeklärten Zeiten“31 lebe. Mit dieser Einschätzung eröffnet er seine Vorlesungsankündigung für das Sommersemester dieses Jahres, in dem er zu einem Kolleg über physische Geographie einlädt, und begründet mit ihr, dass man sich auch für die geographischen sowie die Naturbeschaffenheiten am anderen Ende der Welt interessieren werde. Wie man weiß, wird der reife Kant dieses Urteil nicht mehr teilen, sondern sich ausdrücklich von einer derart positiven Charakterisierung des Zeitalters distanzieren.32 In den vorkritischen Jahren bestimmt er ein aufgeklärtes oder „erleuchtetes Zeitalter“ in Übereinstimmung mit seinem Aufklärungsverständnis konsequenterweise als ein solches, das über deutliche Begriffe verfügt.33 Folglich ist die Logik, verstanden als „Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes“34, das Propädeutikum, das am Anfang aller Philosophie stehen muss, und sicherlich nicht nur, so wird man ergänzen dürfen, am Anfang der Philosophie. Denn durch sie wird, wie schon Wolff geschrieben hatte, „[…] das Erkenntnisvermögen bei der Erkenntnis der Wahrheit geleitet“35. Auch Kant zufolge kann man nur auf diesem von der Logik sozusagen gebahnten Wege „[…] aus dem Lande des Vorurtheils und des Irrthums in das Gebiet der aufgeklärteren Vernunft und der Wissenschaften übergehen […]“36. Das war genau die Überzeugung Christian Wolffs, so dass sich Kant insoweit als treuer Mitarbeiter und Fortsetzer des Wolff’schen Programms der Aufklärung erweist.
III. Der Grund, weshalb der Mensch sich um Aufklärung bemühen solle, ist damit freilich eher angedeutet als benannt; Kant hält in diesen frühen Jahren weder Plädoyers in Sachen Aufklärung noch trägt er Aufforderungen vor, den Zustand selbstverschuldeter Unmündigkeit37, wie es später
_____________ 31 AA II 3, Z. 1. 32 So im Aufsatz Was ist Aufklärung? des Jahres 1784: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ AA VIII 40, Z. 17-19; H.i.O. 33 „Ein erleuchtetes Zeitalter (s aufgeklärtes, das deutliche Begriffe verlangt)“. R 1482, AA XV.2 673, Z. 11-12. Der s-Zusatz entstammt dem Zeitraum 1776-78. 34 Nachricht, AA II 310, Z. 7-8; H.i.O. 35 In dem der lateinischen Logik vorangestellten Discursus praeliminaris de philosophia in genere, § 88. Wolff 1996, 95. 36 Nachricht, AA II 310, Z. 13-15. 37 Was ist Aufklärung?, AA VIII 35, Z. 1-2.
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heißen wird, zu verlassen. Auch auf den Begriff des Selbstdenkens, der später praktisch zu einem Synonym für Aufklärung avanciert, stößt man in diesen Jahren noch nicht. Er tritt innerhalb der Druckschriften Kants erstmals im Jahr 1783 in der Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen […] in Erscheinung, wo von dem „selbstdenkenden Herrn Verfasser“38 die Rede ist. Schon dieser Umstand macht klar, dass Kants Aufklärungsbegriff der frühen Jahre schlechterdings in keiner Verbindung mit dem Programm des Selbstdenkens steht und stehen kann. Das späte Auftauchen dieses Begriffs bei Kant markiert eine deutliche Zäsur innerhalb seiner Auffassung von ‚Aufklärung‘. In Adelungs Wörterbuch kommt der Ausdruck ‚Selbstdenken‘ gar nicht vor39, das Wörterbuch der Brüder Grimm40 gibt als frühesten Beleg eine Stelle aus Johann Gottfried Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit aus dem Jahr 1774 an.41 Tatsächlich aber taucht der Begriff bei Herder schon Jahre früher auf, nämlich in seiner Nachschrift eines Logik-Kollegs, das Kant vermutlich im WS 1762/63 abhielt42, wobei es angesichts der denkerischen Selbständigkeit Herders nicht mit letzter Gewissheit auszumachen ist, ob der Begriff auf ihn selbst zurückgeht oder ob er denselben von Kant übernommen hat. Für den vorliegenden Zusammenhang ist wichtig, dass Herder ihn keineswegs im Zusammenhang mit der Aufklärung einführt, sondern zur Charakterisierung eines wahrhaften Philosophen nutzt. So heißt es über Descartes, er sei „ein Muster im selbst denken“43. Dem wird kontrastiv das Verfahren der Anhänger Wolffs und Crusius’ gegenübergestellt, die eben das Gedächtnis bemühten, wenn sie die vorgegebenen Definitionen ihrer Meister auswendig lernen, auf das eigenständige Denken aber verzichteten: „Überhaupt, kein Philosoph kann ein Wolfianer etc. sein weil er selbst denken soll.“44 Wahrhaft Philosophieren und Selbstdenken ist also dasselbe. In genau diesem Sinne verwendet Kant ausweislich der Logik-Vorlesungen der ersten Hälfte der 1770er Jahre, also der Logik Blomberg45 und der Logik
_____________ 38 AA VIII 10, Z. 11-12. 39 Adelung 1808. 40 Grimm 1905, Sp. 463. 41 Herder 1994, 583. 42 Nach den Angaben von Gerhard Lehmann, dem Herausgeber dieser Nachschrift innerhalb der Akademie-Ausgabe von Kant’s gesammelte(n) Schriften, Bd. XXIV.2 976. 43 AA XXIV 04, Z. 26-27. 44 AA XXIV 04, Z. 34-35. 45 Dort heißt es: „Nichts ist schädlicher als in der Philosophie nachzuahmen. nichts ist vor den Verstand elender, und verderblicher, als. z.E. etwa einen Wolffium, oder einen Crusium, oder andere vorzunehmen, sich die Definitiones derselben Strictißi-
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Philippi46, den Terminus ‚Selbstdenken‘, was im übrigen dafür spricht, dass er auf Kant und nicht auf Herder zurückgeht. An einer Stelle der Logik Blomberg wird zwar bereits eine gewisse Beziehung zwischen der Vorurteilskritik und dem Prinzip des Selbstdenkens hergestellt und letzteres insofern einen Schritt weit in die Richtung einer aufklärerischen Kampfidee47 gerückt48, aber, und das ist der entscheidende Punkt, auf die Aufklärungsproblematik als solche wird der Begriff des Selbstdenkens noch nicht bezogen.49 Man darf also festhalten, dass Kants Aufklärungsbegriff in den 1750er und 1760er Jahren noch in keiner wie auch immer gearteten Verbindung zum Programm des Selbstdenkens, zu Mündigkeit oder Autonomie des Subjekts steht. Die Konjunktion dieser Begrifflichkeit ist ein Produkt des sogenannten „stillen Jahrzehnts“ zwischen dem Erscheinen der Inauguraldissertation von 1770 und der Kritik der reinen Vernunft des Jahres 1781. Erst in diesen Jahren avanciert ‚Selbstdenken‘ zum Explicans des Explicandums ‚Aufklärung‘, gehört dann aber zum bleibenden Bestand der kantischen Aufklärungstheorie. Etwas genauere Auskunft über den Zeitpunkt, leider aber nicht über den Anlass der Zusammenführung dieser Begrifflichkeit, geben die Reflexionen. In einem späteren, von Adickes nicht datierten Zusatz zur Reflexion 1497 aus dem Zeitraum 1775-76 heißt es: „Aufgeklärt: selbstdenken. Religion.“50 In zwei – von Adickes ebenfalls nicht datierten – Zusätzen zur Reflexion 1486 desselben Zeitraums51 wird der Aufklärungsbegriff erneut mit Bezug auf das Selbstdenken eingeführt. Beide Zusätze, also sowohl der zur R 1497 wie der zur R 1486, lassen sich aber
_____________ me, und nach denen Worten auswendig zu lernen, und einzuprägen […], sonderen man muß selbst dencken, selbst urtheilen lernen, über Gegenstände selbst reflectiren, und um ein Philosoph werden zu können, und zu seyn, Philosophiren lernen.“ AA XXIV 188, Z. 35 – AA XXIV 189, Z. 4. 46 „Allein wenn einer auch alle philosophische Bücher liest; so ist er doch nur ein Repositorium dieser Bücher, woferne er nur nach ihnen und nicht selbst denkt.“ AA XXIV 321, Z. 18-20. 47 Diesen Ausdruck übernehme ich von Hinske 1992, 63. 48 „Dieses Vorurtheil des gar zu großen Ansehens, das andere bey uns haben, schmeichele also sehr der Gemächlichkeit. Man darf dabey gar nicht selbst dencken, sonderen kann sich gantz auf das Genie, auf den Verstand des anderen verlaßen, und blos anderen nachahmen.“ AA XXIV 176, Z. 33-37. 49 Neben den genannten Stellen taucht der Ausdruck an zwei weiteren Stellen in unspezifischer Bedeutung auf, einmal in der Logik Blomberg (AA XXIV 125, Z. 15), einmal in der Logik Pölitz (AA XXIV 522, Z. 8) 50 AA XV.2 769, Z. 28-29. 51 AA XV.2 715, Z. 15-16; AA XV.2 716, Z. 7.
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mit hinreichender Zuverlässigkeit auf die Jahre 1776-78 datieren. Das ist durch den Umstand möglich, dass Kant das Selbstdenken in diesen Reflexionen in einem Atemzug mit der Aufforderung benennt, „an der Stelle anderer zu denken“. Eine gleichlautende Formulierung taucht nun in einem Zusatz zur R 2564 auf, der von Adickes zweifelsfrei der Reflexionsphase 1776-78 zugewiesen wird52, und gestattet dadurch die Datierung auf diese Jahre. Wenn man daher das Selbstdenken und damit den „Muth, [s]ich [s]eines eigenen Verstandes zu bedienen“53 als den Kern der späteren kantischen Aufklärungstheorie versteht, dann zeigt ein Durchgang durch die Reflexionen, dass der Philosoph sich zu dieser Einsicht spätestens schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und nicht erst im Aufklärungsaufsatz des Jahres 1784 vorgearbeitet hat. Die denkerische Entwicklung Kants in den Reflexionen eilt ihrer Präsentation in dem veröffentlichten Werk also auch in diesem Falle voraus.
IV. Bislang war von konkreten Inhalten, auf die sich aufklärerisches Wirken zu beziehen hat, wenig die Rede. Aus den fünfziger und sechziger Jahren, als Kant noch in der Gefolgschaft Wolffs stand und das Projekt der Aufklärung für ihn auf die Erhellung von Begriffen und Vorstellungen eingeschränkt war, fehlt jede explizite Angabe hierzu. Aus den siebziger Jahren liegen uns jedoch zwei Hinweise vor, auf welchen Gegenstand die sich nun im Sinne der Forderung nach Selbstdenken verstandene Aufklärung zu richten hat. Es ist die Religion. Ein aus den Jahren 1776-78 stammender Zusatz zur Reflexion 1482 stellt das klar: „Deutlichkeit der Begriffe vertreibt die Schwärmerey; hinter Verworrenen Begriffen versteken sich Theosophen. Goldmacher, Mystiker, Initiaten in geheimen Gesellschaften.“54 Hier wird der Aufklärung also ein besonderes Betätigungsfeld gewiesen. Die gleiche Sprache spricht die Reflexion 1497, die das Selbstdenken ebenfalls in der Religion angewendet sehen möchte.55
_____________ 52 „Erstlich Selbstdenken. An der Stelle jedes andern zu denken.“ AA XVI 419, Z. 1. 53 AA VIII 35, Z. 6-7; H.i.O. Cf. auch den berühmten Passus aus dem Aufsatz des Jahres 1786 Was heißt: Sich im Denken orientiren?: „Selbstdenken heißt, den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.“ AA VIII 146, Z. 29-31; H.i.O. 54 AA XV.2 669, Z. 25-27. 55 „Aufgeklärt: selbstdenken. Religion.“ AA XV.2 769, Z. 28-29.
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Auf dem Gebiet der Religionsphilosophie im weiteren Sinne hat Kant nun selbst in seiner Beweisgrundschrift von 1762/63, seinem wohl wichtigsten philosophischen Werk aus den 1760er Jahren, einen wesentlichen aufklärerischen Beitrag geliefert. Nur am Rande sei angemerkt, dass er sich auch zuvor schon als Aufklärer betätigt hat. Neben seiner Allgemeine(n) Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 sind hier die naturwissenschaftlichen Schriftengruppen des Jahres 1754 über Fragen nach Rotationskonstanz und Alterungsprozess der Erde sowie des Jahres 1756 anlässlich des Erdbebens vom Jahre zuvor zu nennen. Kant behandelt diese Themen, die beide theologisch besetzt und von moralphilosophischer Brisanz waren, aus rein säkularer Perspektive nach den Standards der modernen Wissenschaft und betreibt insofern Aufklärung aus dem Geist Newton’scher Naturphilosophie. Dem ist hier jedoch nicht näher nachzugehen. Nun ist eine Abhandlung, in der ein Gottesbeweis und gar der einzig mögliche geliefert werden soll, sicherlich ein unerwarteter Ort für die Verbreitung aufklärerischen Gedankengutes. Das mag ein Grund dafür sein, weshalb die in diesem Sinne inhaltlich progressiven Ausführungen Kants gewöhnlich übersehen werden. Hinzu kommt, dass Kant seine Kritik an der herkömmlichen Physikotheologie dort nicht mit großem Pomp und triumphaler Geste artikuliert, sondern in gemäßigtem Ton, aber mit umso durchschlagenderen Argumenten. Er äußert seine Kritik auch nicht um ihrer selbst willen, sondern sie fällt eher nebenbei als Konsequenz aus anderen Einsichten an, die Kant dort präsentiert. Insofern ist die Beweisgrundschrift das Paradebeispiel für den oben angesprochenen Fall einer aus einem wahren Begriff hervorgehenden, sukzessiv um sich greifenden und dadurch erweiternden Aufklärung.56 Die Einsicht, die dieses zu leisten vermag, ist das angemessene Verständnis von Gott. Dessen Dasein wird zunächst in der ersten Abteilung des Werks demonstrativ gewiss erwiesen, sodann wird sein Wesen durch Aufzählung der ihm zukommenden Prädikate definiert. Der so gewonnene Gottesbegriff – die Einzelheiten übergehe ich an dieser Stelle – ist nun dadurch ausgezeichnet, dass er dazu taugt, die von Kant sogenannte „gewöhnliche Physikotheologie“ durch eine verbesserte zu ersetzen. Im Zuge dieser in konstruktiver Absicht vorgenommenen Kritik an der Physikotheologie der Zeit wird mit Fehlern und Irrtümern aufgeräumt, die das Denken bislang verdunkelten und den Weg zur Wahrheit versperrten.
_____________ 56 „[…] so ist noch zu hoffen, daß eine dergleichen Einsicht, wenn man ihrer mächtig geworden, viel mehreres in diesem Gegenstande aufklären könnte.“ AA II 65, Z. 2325.
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Diese eine Einsicht, die sich aus dem ontotheologischen Beweis der ersten Abteilung ergibt und die Kant für die Präsentation einer tragfähigen Physikotheologie fruchtbar macht, läuft auf die Postulierung einer notwendigen Einheit in der Natur hinaus57, die ihren Grund in Gott hat. Damit sind zumindest drei für die Philosophie der Aufklärung bedeutende Themenbereiche angesprochen. 1) Die Wunderproblematik. Sie durchzieht die Aufklärungsdebatte von Anfang an, und die Auskunft, die ein Autor zur Frage nach der Möglichkeit von übernatürlichen Ereignissen gibt, kann geradezu als ein Indikator für sein aufklärerisches Potential gelten. Nun liegt es auf der Hand, dass Kant angesichts der postulierten strengen notwendigen Einheit, die überall in der Natur herrsche, die Möglichkeit von Wundern zwangsläufig negieren müsste, und diese Konsequenz sieht er natürlich auch selbst. Aber dazu kann er sich mit letzter Konsequenz nicht durchringen. In gequälten Wendungen kommt er mehrfach auf dieses Thema zu sprechen und macht dabei klar, dass er mit übernatürlichen Eingriffen in den Naturablauf zwar nicht ernsthaft rechnet, schließt sie aber de facto auch nicht aus. Die verbesserte Methode der Physikotheologie enthält nämlich dann „[…] den Geist wahrer Weltweisheit, wenn sie, jederzeit bereit, auch übernatürliche Begebenheiten zuzulassen […], sich nicht hindern lässt, die Gründe […] in nothwendigen allgemeinen Gesetzen aufzusuchen […]“58. Wunder sind, so sagt er an anderer Stelle dieser Schrift, „entweder gar nicht oder nur selten nöthig“59. Angesichts der insgesamt eher positivaffirmativen Stellung der deutschen Aufklärung zur Wunderfrage ist dies eine bemerkenswert kritische Position. Der pietistisch erzogene Kant mag sich von diesem für die christliche Heilslehre zentralen Lehrstück nicht lossagen; der Naturwissenschaftler Kant aber sieht die sich für die Forschung ergebenden verheerenden Konsequenzen, wenn man die Möglichkeit von Wundern nicht von wissenschaftlichen Erklärungen fernhält. Wunder werden zwar nicht grundsätzlich geleugnet, auf dem Feld der Naturwissenschaft aber doch ausgeschlossen. Dadurch erfährt der Wunderglaube insgesamt eine nicht unerhebliche Dämpfung. 2) Die Zurückweisung teleologischer Erklärungen in Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Die gewöhnliche Physikotheologie führte so gut wie jedes Phänomen in der Natur, sei es nun das Polarlicht oder die grüne Farbe von Wald und Feld60, durch die das Auge so angenehm in
_____________ 57 AA II 116, Z. 14-16. 58 AA II 136, Z. 24-29. 59 AA II 112, Z. 1-2. 60 Diese Beispiele führt Kant selbst in diskreditierender Absicht an. AA II 136, Z. 716.
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Übung gehalten werde – zwei Beispiele, die Kant selbst zur Illustration der Mängel der herkömmlichen physikotheologischen Methode anführt – auf eine direkte Schöpfungsabsicht Gottes zurück, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, dass derartige als nützlich angesehene Eigenschaften das Resultat intrinsischer Gesetzmäßigkeiten der Natur sein könnten. Mit ihrem Verführen, das Schöne und Zweckmäßige in der Natur unmittelbar auf einen göttlichen Willensbeschluss zurückzuführen, wirkt sie erkenntnisbehindernd, denn sie setzt damit der Erforschung der Natur insofern Grenzen, als die erniedrigte Vernunft […] gerne von einer weiteren Untersuchung ab(steht), weil sie solche […] als Vorwitz ansieht, und das Vorurtheil ist desto gefährlicher, weil es den Faulen einen Vorzug vor dem unermüdeten Forscher giebt durch den Vorwand der Andacht und der billigen Unterwerfung unter den großen Urheber, 61 in dessen Erkenntniß sich alle Weisheit vereinbaren muß.
Kant weist die hierin liegende Gefahr an vielen Beispielen auf und gibt die Verfasser physikotheologischer Werke wie etwa Thomas Burnet in mitunter witzigen Formulierungen der Lächerlichkeit preis.62 Dabei versäumt er nicht, das berühmte Bonmot Voltaires zu zitieren, wonach die Menschen Nasen und Beine haben, um Brillen und Hosen zu tragen.63 Kurzum, Kant weist wohlfeile teleologische Erklärungen zurück, die in aller Regel anthropomorph gefärbt sind, folglich in die Irre führen64, den Erkenntnisfortschritt bremsen und als wissenschaftliche Erklärungen der Phänomene untauglich sind. Demgegenüber pocht er auf das Erfordernis kausalmechanischer Forschungen, die von der Hypothese einer durchgängigen Einheitlichkeit der Natur und ihrer Gesetze geleitet sind. Kant leistet damit einen Beitrag zur Befreiung der (natur-)wissenschaftlichen Forschung aus der Umklammerung teleologischer und theologischer Vorgaben wie Zielsetzungen und sucht sie tendenziell als rein säkulare Disziplinen zu betreiben.
_____________ 61 AA II 119, Z. 31-36. 62 Angesichts der herausgestellten Nützlichkeit der Flüsse werde man, „[…] wenn man die physischtheologischen Verfasser hört, […] dahin gebracht sich vorzustellen, ihre Laufrinnen wären alle von Gott ausgehöhlt.“ AA II 120, Z. 9-11. 63 AA II 131, Z. 22-25. 64 Als Beispiel hierfür mag der von Kant erwähnte Johann Peter Süßmilch gelten, der bevölkerungsstatistische Untersuchungen angestellt hatte und den von ihm diagnostizierten Geburtenüberschuss des männlichen Geschlechtes zunächst damit erklärte, dass die Vorsehung damit den Verlust kompensieren wollte, den Männer durch Krieg und gefährliche Berufe erleiden (AA II 122, Z. 6-11). Weitere die triviale Physikotheologie abwertende Beispiele finden sich AA II 136, Z. 6-10; Z. 14-16.
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3) Moralische Schuld und physisches Leid. Abschließend sei auf eine besonders eindrucksvolle aufklärerische Konsequenz hingewiesen, die Kant im Gebiet der praktischen Philosophie aus seinem ontotheologischen Ansatz zieht. Er wendet sich entschieden gegen die Auffassung, die moralischen Verfehlungen der Menschen zögen bestimmte physische Ereignisse, die mit Schmerzen für sie verbunden sind, als Strafe auf natürliche Weise nach sich. Demgegenüber macht er wiederholt geltend, dass das moralische Verhalten der Menschen keine Naturkatastrophe wie etwa ein Erdbeben als natürliche Folge haben kann, „[…] weil hier keine Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen statt findet“65. Wenn also die Bibel davon spricht, dass die Sintflut oder der Feuerregen, der auf Sodom und Gomorrha niederging, göttliche Strafen für die sittliche Schuld der Menschen waren, dann müssen die betreffenden Naturgegebenheiten durch Gottes Willen entsprechend gelenkt worden sein, da sie von sich aus in keinem Zusammenhang mit moralischer Schuld stehen. Mit anderen Worten: Gott hätte dazu ein Wunder wirken müssen, und was von Wundern zu halten ist, hatte Kant zuvor schon klargestellt. Die physikotheologischen Autoren wie etwa Thomas Burnet vertreten nun die Ansicht, Gott habe den Lauf der Dinge von Anbeginn an so eingerichtet, dass Naturkatastrophen genau zu der Zeit eintreten, wenn das Fehlverhalten der Menschen eine Bestrafung erforderlich mache. Burnets Auffassung zufolge, die Kant ausführlicher diskutiert, soll es ein Komet gewesen sein, der die Sintflut zur passenden Zeit auslöste. Das wäre in Kants Klassifikation eine formaliter übernatürliche Begebenheit66, weil Gott nicht durch direktes Eingreifen und Lenkung der Naturgesetze auf den speziellen Fall hin seine Strafe verhängte, sondern das sie auslösende Naturereignis von langer Hand geplant und gleichsam prästabiliert in den Weltenbau integriert hatte. Das Wunderbare ist aber durch die von diesen Autoren vorgenommene Einbeziehung der Naturwissenschaften in ihre Erklärung nicht etwa vermindert, sondern sogar noch vermehrt worden, weil Gott nun zur Erreichung seines Zieles alle möglichen Umstände berücksichtigen musste, die seinem Plan behindernd entgegenstehen mochten. Folglich, so Kants Diagnose, ziehen diese Autoren die Naturwissenschaft nur aus dem Grunde heran, um „[…] ihre eigene Geschicklichkeit zu zeigen und etwas zu ersinnen, was sich etwa nach allgemeinen Naturgesetzen eräugnen könnte, und dessen Erfolg auf die vorgegebene außerordentliche Begebenheit hinausliefe“67. Der göttlichen Natur, die immer die einfach-
_____________ 65 AA II 104, Z. 23-24. 66 Gemäß der AA II 103f. getroffenen Einteilung der Wunder. 67 AA II 135, Z. 4-7.
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sten Wege wählt, entspricht ein solches Verfahren jedenfalls nicht. Aber wie auch immer, Gott hätte auch im Falle der vorausschauenden Adjustierung der Naturgesetze ein Wunder wirken müssen, und Wunder, so hatte Kant ja gesagt, werden in einem „durch eingepflanzte Gesetze“ geregelten Naturablauf „entweder gar nicht oder nur selten nöthig sein“68. Subtrahiert man von dieser Aussage den auf Kants pietistisches Erbe zurückgehenden Anteil, dann wird abermals deutlich, dass Wunder in wissenschaftlichen Erklärungen nicht in Anschlag zu bringen sind. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass sich derartige Einsichten leicht zu einer Kritik an den von Kant in der Beweisgrundschrift zitierten Wunderberichten weiterentwickeln lassen, die bezeichnenderweise sämtlich dem Alten Testament entstammen.69 Mit diesem Nachweis, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Naturereignissen wie Erdbeben, Überschwemmungen, kurz: dem vom Menschen als Leid und Schmerz erfahrenen physischen Übel und seinem sittlichen Fehlverhalten oder kurz: dem moralischen Übel besteht, hat Kant einen entschiedenen Beitrag zur Emanzipation des Menschen von Vorurteil und Aberglauben geleistet. Vor einem Rückfall in derartige Ansichten ist keine Zeit gefeit. Wurden in früheren Zeiten Pest- und Hungersnöte als Strafaktionen für moralische Schuld betrachtet, so ist es in der Gegenwart die Aids-Seuche, die in bestimmten Kreisen als Folge sittlichen Fehlverhaltens, in diesem Fall verirrter sexueller Orientierung, gedeutet wird. Das Projekt der Aufklärung, so scheint es, kommt niemals an sein Ende, solange Menschen leben, weil der Rückfall in Vorurteil, Irrtum und Aberglaube ständig droht, nicht selten von Erfolg gekrönt ist und deshalb unaufhörlich bekämpft werden muss. Schon der vorkritische Kant, so wollte ich abschließend kurz zeigen, hat einen nicht unerheblichen Beitrag zu dieser immerwährenden Aufgabe geleistet.
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_____________ 68 AA II 112, Z. 1-3. 69 Bezeichnend ist dies insofern, als es unter den Religionskritikern der Aufklärung üblich war, die Wunderdebatte nicht an den von Jesus und seinen Aposteln gewirkten Taten zu führen, sondern wegen der geringeren Brisanz an entsprechenden Berichten des Alten Testamentes.
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Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie1 Maximilian Forschner [Der Unterschied der Religion von der Moral] ist blos formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluß zu geben. Darum ist sie aber auch nur eine einzige, und es giebt nicht verschiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten an göttliche Offenbarung und deren statutarische Lehren, die nicht aus der Vernunft entspringen können, d. i. verschiedene Formen der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen Willens, um ihm Einfluß auf die Gemüther zu verschaffen, unter denen das Christenthum, so viel wir wissen, die schicklichste Form ist. (AA VII 36; SF) Die erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens verkleinert sich sehr unter menschlichen Händen, nämlich zu einer Anstalt, die allenfalls nur die Form desselben rein vorzustellen vermögend, was aber die Mittel betrifft, ein solches Ganze zu errichten, unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur sehr eingeschränkt ist. Wie kann man aber erwarten, daß aus so krummem Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde? (AA VI 100; RGV)2
I. Menschliche Erkenntnis entspringt, dies hat Kant gegenüber der rationalistischen Schulphilosophie seiner Zeit mit Nachdruck betont, zwei unterschiedlichen Vermögen, dem Anschauen und dem Denken. Martin Heidegger hat in seiner Option für das Unvordenkliche geglaubt, aus Kants
_____________ 1 Eine Erstfassung dieses Beitrags erschien in englischer Sprache in: Goudeli u.a. 2007, 43-61. Die Publikation der Übersetzung und Überarbeitung der Erstfassung erfolgt mit Erlaubnis des Verlags. 2 Ich zitiere Kants Werke, mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, nach Band und Seitenzahl der Akademie-Ausgabe. Die KrV wird nach den Auflagen A und B zitiert. Für Kants Werke benutze ich die üblichen Abkürzungen. Für Hinweise und Kritik danke ich Wolfgang Ertl und Friedo Ricken.
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Texten ein Wertungsübergewicht der Anschauung gegenüber der begrifflichen Erfassung eines Gegenstandes herauslesen zu können.3 Nur wenige Kantinterpreten sind ihm in diesem Urteil gefolgt. Anschauen und Denken haben im menschlichen Erkennen gleiches Gewicht. Klar ist, dass wir uns nach Kants Theorie im Anschauen direkt auf einen Einzelgegenstand beziehen, im Denken dagegen einen Gegenstand mittelbar zu erfassen versuchen über ein Merkmal, das „mehreren Dingen gemein sein kann“4. Klar ist auch, dass Kant menschliches Erkennen von Wirklichem als ein gelungenes Zusammenspiel von Anschauen und Begreifen durch seine Stellung zwischen der schöpferischen Intuition Gottes und der rezeptiven Wahrnehmung des Tieres verständlich macht. Im Unterschied zur als kreativ gedachten Anschauung Gottes5 ist menschliche Anschauung begrenzt, in ihrer Form vorgegeben und ihrem Inhalt nach unabdingbar auf Gegebenes verwiesen. Im Unterschied zur situativen Wahrnehmungsgebundenheit tierischen Erfassens erlaubt dem Menschen das Denken die distanzierende Verobjektivierung der Situation, die Erfassung von etwas als Fall eines Allgemeinen, die Einordnung eines Gegebenen in einen Gesamtzusammenhang. Als erkennendes Wesen steht der Mensch (metaphysisch gesehen) zwischen Tier und Gott. Im Denken sind wir frei; wir können mit Vorstellungen beliebig spielen.6 Doch um denkend etwas zu erkennen, sind wir auf unsere Anschauung verwiesen. Ein Begriff als Leistung unseres Denkens hat nur dann objektive Realität, wenn er auf eine uns mögliche Anschauungsgegebenheit bezogen ist.7 Ein von der Bindung an die Anschauung sich lösendes Denken lässt den Bezug zur Wirklichkeit hinter sich und verliert sich im bloßen Spiel der Vorstellungen. Gleichwohl löst sich unser Denken von der Bindung an Anschauung, auch ohne mit seinen Vorstellungen bloß zu spielen. Wir bilden Begriffe, mit denen wir den Bereich möglicher An-
_____________ 3 Im Ausgang von der Stelle KrV A 19/B 33: „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.“ Vgl. Heidegger 1950. 4 KrV A 320/B 376f. 5 Sie bringt das Einzelne ebenso wie das Ganze im Akt des Anschauens kreativ hervor (zum intuitus originarius vgl. KrV B 72, 139, 145). 6 Vgl. KrV A 155/B 194. 7 KrV A 155/B 194: „Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nicht erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt.“
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schauungsgegebenheit verlassen, Begriffe, die gleichwohl nicht frei erdichtet oder als leere Hirngespinste zu bezeichnen sind. Es sind dies einerseits reine theoretische Vernunftbegriffe, die auf „die Vollständigkeit, d. i. collective Einheit der ganzen möglichen Erfahrung, und dadurch über jede gegebne Erfahrung hinaus(gehen) “8. Sie haben, so Kant, eine sinnvolle, ja unverzichtbare epistemische Funktion: Sie brechen die Anmaßung unseres Verstandes, seine Welt verstandener Anschauungen zu verabsolutieren. Sie treiben ferner die empirische Forschung nach einem Prinzip unerreichbarer Vollständigkeit dauerhaft voran.9 Es sind dies andererseits reine praktische Vernunftbegriffe, mit denen wir uns, im Gegenzug zu der uns zugänglichen und verständlichen Erfahrungswelt, eine ganz eigene Ordnung nach Ideen bilden, die Ideen einer moralischen Welt10, die als Vernunftprinzipien unser Verhalten in der Erfahrungswelt leiten sollen. Nun haben diese reinen praktischen Vernunftbegriffe in ihrem Verhältnis zur möglichen Anschauung einen eigenartigen Status: Als ideative und normative Ideen greifen sie über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus. Andererseits langen sie in unsere Erfahrungswelt hinein, indem sie auch, zwar nicht in theoretischer, wohl aber in praktischer Absicht „Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung (enthalten), nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten“11. Praktische Vernunftbegriffe müssen einen (für das moralitätsfähige und moralitätsinteressierte Subjekt in gewisser Weise auch theoretisch relevanten) Bezug zu möglicher Anschauung beinhalten, wenn wir mit ihnen Gegebenheiten in der Erfahrungswelt sollen erfassen können, die dem entsprechen, was sie uns erfahrungsunabhängig in der Welt der Erfahrung zu verwirklichen gebieten. Der vernünftige Gebrauch der Verstandesbegriffe ist erfahrungs- bzw. anschauungsimmanent. Einem Verstandesbegriff muss, wie Kant sich ausdrückt, eine korrespondierende Anschauung unterlegt, bzw. der ihm korrespondierende Gegenstand jederzeit in der Anschauung gegeben werden können, damit er objektive Realität besitzt und zu Erkenntnissen über die Wirklichkeit führen kann.12 Der Gebrauch der Ideen, der Vernunftbegriffe ist in gewisser Weise anschauungs- bzw. erfahrungstranszendent. Dies besagt, eine Idee ist eine Vorstellung, die keine Entsprechung bzw. keine vollständige oder adäquate Entsprechung in einer Anschauungsge-
_____________ 8 AA IV 328; Prol § 40. 9 Vgl. AA V 167f.; KU Vorrede. 10 KrV A 548/B 576. 11 KrV A 807/B 835. 12 Vgl. AA V 342; KU § 57 Anm. I.
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gebenheit hat und haben kann. An einer Vernunftidee, so Kant, erreicht „die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den gegebenen Begriff nicht“13. Die Nichtentsprechung des Gegenstandes, den der Vernunftbegriff vorstellt, in einer uns möglichen Anschauung kann sich auf die Art des Gegenstandes oder den Grad des Gegenstandes beziehen.14 Für die erste Möglichkeit führt Kant als Beispiel den Begriff der Freiheit, für die zweite den Begriff der Tugend an. Dies besagt wohl: Das mit „Freiheit“ Gemeinte hat der Art nach keine Entsprechung in möglichen Gegebenheiten im Rahmen der Anschauungsformen von Raum und Zeit. Das mit „Tugend“ Gemeinte hingegen ist ein nicht-graduierbares Optimum, von dem wir in der Erfahrung immer nur ein Mehr oder Weniger feststellen können. Begriffe bedürfen der entsprechenden Anschauung, um ihnen objektive Realität, doch Begriffe bedürfen bereits der Anschauung, um ihnen auch nur im bestimmten Maße Fasslichkeit und Verständlichkeit zu verleihen. Und dies ist für das Folgende von besonderer Bedeutung. Kant unterscheidet in der Kritik der Urteilskraft (§ 59) eine dreifache Weise der Veranschaulichung von Begriffen: die exemplarische, die schematische, die symbolische. Die ersten beiden sind direkte, die letzte die indirekte Form der Veranschaulichung eines Begriffs. Über ein Beispiel erfolgt sie, so Kant, wenn es sich um einen empirischen Begriff handelt.15 Ein Schema sei die einem reinen Verstandesbegriff (einer Kategorie) entsprechende nichtempirische Anschauungsform. Die symbolische Veranschaulichung sei den Vernunftbegriffen reserviert, denen keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann. Die symbolische arbeite mit dem Verfahren der Analogie. In ihr verrichte die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft: „erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden“16.
_____________ 13 AA V 343; KU § 57 Anm. I. 14 Vgl. AA V 343; KU § 57, Anm. I. 15 Kant spricht hier auch vom Demonstrieren im Sinne des bloßen Darstellens eines Begriffs (AA V 342; KU § 57 Anm. I). 16 AA V 352; KU § 59: Was mit der „bloße(n) Regel der Reflexion“ und mit „Symbol“ gemeint ist, verdeutlicht der Fortgang des Zitats: „So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Causalität zu reflectiren.
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Die symbolische Veranschaulichung spielt auf der theoretischen und der praktischen Ebene des Vernunftgebrauchs eine je eigene, besondere Rolle, je nachdem, ob sich das Symbol theoretisch auf einen intelligiblen Gegenstand bezieht, der menschlicher Erkenntnis prinzipiell verschlossen ist oder theoretisch und praktisch auf einen intelligiblen Gegenstand, den es in unserer Erfahrungswelt zu verwirklichen gilt. Für die Fasslichkeit theoretischer Vernunftbegriffe (etwa des Gottesbegriffs), deren Gegenstand sich der Art nach jeder direkten Darstellung in Raum und Zeit entzieht, die für unser praktisches Selbstverständnis gleichwohl unverzichtbar sind, ist die symbolische Veranschaulichung in ihrer Besonderheit von erheblichem Gewicht. Es ist etwas anderes und hat eine andere Funktion, sich die praktische Vernunftidee eines Staates, und etwas anderes, sich die theoretische Idee Gottes in praktischer Absicht symbolisch zu veranschaulichen. Kants in § 59 der KU gegebene Gliederung der Veranschaulichung von Begriffen ist nicht vollständig und bedarf für das Folgende der Ergänzung. So können nicht nur empirische, sondern auch nichtempirische Begriffe über Beispiele, durch den Verweis auf Gegebenes veranschaulicht werden, etwa ein geometrischer Begriff anhand einer Zeichnung, oder ein moralischer Begriff anhand einer historischen Person. Allerdings kann hier empirisch Gegebenes dem nichtempirischen Begriff dem Grade nach niemals vollständig entsprechen bzw. es kann nicht festgestellt werden, dass es ihm vollständig entspricht. Und neben nichtempirischen Anschauungsformen reiner Verstandesbegriffe bildet unsere Einbildungskraft natürlich auch Schemata empirischer Begriffe (etwa das Schema eines Hundes), mit denen wir aufgrund wiederholter empirischer Anschauung Gleichartiges skizzenhaft und monogrammartig anschaulich zusammenfassen und antizipieren. Nicht nur, aber vor allem für praktische Vernunftbegriffe ist eine Form der Veranschaulichung wichtig, die Kant Idealbildung nennt. Unter einem Ideal versteht er eine Idee, „nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding“17. Das Ideal ist die fiktive Individuierung eines Abstraktums, näherhin die Vorstellung eines Einzelgegenstands, der ein Prädikat oder ein Bündel von Prädikaten im Status der Vollkommenheit besitzt und als maßgebendes Urbild aller Nachbildung in der Erscheinung
_____________ Dies Geschäft ist bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdient“. 17 KrV A 568/B 596.
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fungiert.18 Wir arbeiten im Bereich des Moralischen mit Idealen, d.h. dort, wo die reine Vernunft durch ideative Begriffe das Richtmaß unseres Handelns in der Erscheinung setzt.19 So ist etwa die Figur des stoischen Weisen ein Ideal, ein Mensch bloß in Gedanken, „der mit der Idee der Weisheit völlig kongruiert“20, in der Funktion eines Urbildes zur durchgängigen Bestimmung des Nachbildes. Eine derartige, abstrakte Tugendbegriffe personifizierende und individuierende Idealbildung ist, Kant betont es mit Nachdruck, für die menschliche Praxis „ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft“, „womit wir uns vergleichen, beurteilen, und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können“. Die Idealbildung dient der Veranschaulichung eines Vernunftbegriffs. Kant lässt es in der KrV offen, ob überhaupt und welche Form von Anschaulichkeit ein moralisches Ideal über die bloße, noch allemal abstrakte Personifizierung moralischer Vollkommenheitsprädikate hinaus zulässt. Er warnt eindeutig vor fiktionaler Ausgestaltung, vor einer weiteren Konkretisierung des Ideals durch die produktive Einbildungskraft; er warnt davor, moralischen Idealen literarisch in Romanen konkrete Gestalt und Geschichte zu geben, da dadurch „das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich (gemacht)“21würde. Rein Fiktionales, Romanhaftes wird für die Praxis nicht ernstgenommen und desavouiert die praktisch-objektive Realität der Idee. Kant sagt in der KrV nichts zur Möglichkeit eines historischen Beispiels menschlicher Vollkommenheit.22
_____________ 18 Kant erinnert explizit an Platons bzw. an das (durch Augustinus umgeprägte) Platonische Verständnis von Idee, natürlich ohne dessen Gedanken der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung für den Menschen zu übernehmen: „Was uns ein Ideal ist, war dem Plato eine Idee des göttlichen Verstandes, ein einzelner Gegenstand der reinen Anschauung desselben, das Vollkommenste einer jeden Art möglicher Wesen und der Urgrund aller Nachbilder in der Erscheinung.“ KrV A 568/B 596. 19 Moralische Ideale unterscheiden sich von ästhetisch-künstlerischen Idealen darin, dass sie auf bestimmten Begriffen beruhen und bestimmte Regeln der Beurteilung und Befolgung hergeben, während sich über den ästhetischen „Geschöpfen der Einbildungskraft niemand erklären und einen verständlichen Begriff geben kann“, so dass sie auch „keine der Erklärung und Prüfung fähige Regel abgeben“. KrV A 570/B 598f. Technische Ideale gleichen in vielem den moralischen, unterscheiden sich jedoch von letzteren wesentlich darin, dass ihre Nachbildung in der Erscheinung eindeutiger beurteilbar ist. 20 KrV A 569/B 597. 21 KrV A 570/B 598. 22 Wir wissen, dass die großen stoischen Schulhäupter es vermieden haben, sich selbst als Weise zu bezeichnen. Allerdings neigten sie wohl dazu, ihr Ideal im Leben des Sokrates historisch verwirklicht zu sehen. Die Debatte der neuzeitlichen Aufklä-
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Der eben zitierte Passus legt als kantischen Gedanken nahe, dass wir Ideale zur Orientierung, zur Beurteilung und Nachahmung brauchen, dass wir sie aber niemals erreichen, d.h. durch die eigene Lebensführung in unserer Erfahrungswelt adäquat exemplifizieren können. Die KU spricht, wie gesagt, von der Tugend als einem dem Grade nach indemonstrablen Begriff.23 Damit dürfte in erster Linie gemeint sein, dass wir dem Ideal in der menschlichen Praxis nicht vollkommen gerecht werden können, und nicht, oder erst in zweiter Linie, dass wir, selbst wenn ein Mensch dieses Ideal vollkommen erfüllte, dies (in der Sphäre der Erscheinung) nicht abschließend erkennen und beurteilen könnten. Andererseits fordert praktische Vernunft von uns die volle Verwirklichung von Moralität. Der Sinn dieser Forderung verlangt das Bestehen der grundsätzlichen Möglichkeit des Gegebenseins eines vollkommenen Menschen und der vollkommenen menschlichen Gemeinschaft in der Erfahrung. Wie passt das zusammen? In diese systematische Problemstelle rückt nun Kants Religionsphilosophie ein, und zwar mit zwei bekannten, doch auf ihre systematische Rolle hin wenig untersuchten Lehrstücken, mit der Lehre vom „Heiligen des Evangelii“ als historischem Beispiel des Ideals moralischer Vollkommenheit des Menschen und mit der Lehre von der wahren sichtbaren Kirche als erfahrbarer Repräsentantin des Ideals der unsichtbaren Kirche. Und beide Lehrstücke enthalten, wie sich zeigen lässt, erhebliches argumentatives Aufklärungspotential für kontroverse, politisch durchaus brisante Positionen und Debatten in der Gegenwart.
II. Ich komme zunächst zum ersten Lehrstück. Kants zweites Kapitel der Religionsschrift handelt „Von dem Kampf des guten Princips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen“. Im ersten Abschnitt ist von der „personificirten Idee des guten Princips“ die Rede, zunächst abstrakt, dann konkret. Kant arbeitet mit der platonischen Figur von Urbild und Abbild. Ausgangspunkt der Reflexion ist der Gedanke der Weltschöpfung, und dies im Rahmen des kantischen Gesamtprojekts, den Sinn (unseres Verständnisses) des Ganzen der Wirklichkeit vom moralischen Selbstverständnis des Menschen aus zu rekonstruieren. Dabei wird die Postulaten-
_____________ rung um das wahre Weisheitsideal konzentrierte sich auf die Alternative Sokrates versus Jesus. 23 AA V 343; KU § 57, Anm. I.
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lehre der KpV von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in der Religionsschrift als gesichert vorausgesetzt. Was (nach Gesichtspunkten reiner Vernunft) Gott allein zur Erschaffung einer Welt bewegen und deshalb der Zweck der Schöpfung sein kann, ist die Verwirklichung des höchsten Guts (ausserhalb seiner selbst). Und dies kann nichts anderes sein als „die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist“24. Alles andere ist, wie es ist und geschieht, so zu denken, dass es auf dieses Ziel ausgerichtet und hingeordnet ist. Kant rekonstruiert nun das Ideal der moralischen Vollkommenheit im Sinne eines Urbilds, das das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung ebenso wie das menschliche Bemühen um praktische Vernunft leitet, und zwar in engem Anschluss an den vom Platonismus geprägten Prolog des Johannesevangeliums. Den Kern der Rekonstruktion bildet die Identifikation des Ideals moralischer Vollkommenheit mit dem göttlichen Wort und Sohn. Die Rekonstruktion erfolgt nach zwei leitenden Gesichtspunkten, die der christlich- theologischen Tradition als Grunddogmen vertraut sind. Sie betreffen die beiden zentralen johanneischen Gedanken, dass das Wort bei Gott ist, als sein von Ewigkeit erzeugter Sohn, und dass das Wort Fleisch geworden ist, dass es die Menschennatur angenommen hat, um uns zum Heil zu führen. Die Rekonstruktion stellt eine radikale Säkularisierung dieser christlichen Dogmen dar. Für Kants personalistische Vernunftmetaphysik ist erstens wesentlich, dass der Mensch in seiner Bestimmung als vernünftiges Weltwesen sich von allem bloß Dinghaften und Gemachten unterscheidet und Verwandtschaft mit dem Göttlichen bekundet; deshalb die (symbolisch veranschaulichende) Kennzeichnung des göttlichen Urbilds als ‚eingeborenen Sohn‘: Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ‚ist in ihm von Ewigkeit her;‘„die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern ein eingeborner Sohn; das Wort (das Werde!), durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist.25
Für Kants Anthropologie ist zweitens wesentlich, dass das Ideal der moralischen Vollkommenheit in uns ist, dass es uns als Ideal unserer eigenen Vernunft einerseits kategorisch verpflichtet, dass aber andererseits auf der Basis der Erfahrung, die wir generell mit den Verhaltenstendenzen des Menschen unter Menschen machen, nicht verständlich wird, wie der
_____________ 24 AA VI 60; RGV. 25 AA VI 60; RGV.
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Mensch von sich aus dazukommt, sich ein solches Ideal zur verpflichtenden Nachahmung vorzulegen. Er ist, wie das erste Kapitel der Religionsschrift zu erläutern versucht, als Mensch unter Menschen mit einem unausrottbaren Hang zum Bösen, d.h. zur Verabsolutierung seines sinnlichempirischen Daseins versehen, den er selbst zu verantworten hat und sich zurechnen muss. So gesehen ist nicht zu begreifen, wie die menschliche Natur für die Idee der moralischen Vollkommenheit „auch nur habe empfänglich sein können“26, geschweige denn sie sich selbst habe vorgeben können. Deshalb, so Kant, ist es sinnvoll, sich (in symbolischer Veranschaulichung) die uns selbst kategorisch verpflichtende Idealbildung als von Gott ausgehend, in Begriffen der Herabkunft des Urbilds vom Himmel, der Annahme der Menschheit, der „Fleischwerdung“ und Selbsterniedrigung des Sohnes Gottes fasslich und verständlich zu machen. Und das Ideal moralischer Vollkommenheit kann drittens unter Bedingungen des Menschseins nur als gute Gesinnung und völlig untadelige Bewährung unter wenn auch noch so bedrängenden Anfechtungen empirischer Selbstliebe gedacht werden, als vollendete „Tugend im Kampfe“: Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre. – Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend und unter den größtmöglichen Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.27
Der Mensch weiß sich einerseits der Idee moralischer Vollkommenheit verpflichtet. Er weiß sich andererseits mit einem unausrottbaren, selbst zu verantwortenden Hang zum Bösen versehen. Er weiß, dass er so gesehen niemals völlig schuldfrei und deshalb des Ideals der Heiligkeit eigentlich unwürdig ist. Die Brücke zwischen diesen divergierenden Erkenntnissen stellt ein praktischer Glaube dar, die Hoffnung und Zuversicht, durch eine Revolution der Gesinnung den Hang zum Bösen zu besiegen und im Sinne des Urbilds in kontinuierlicher zeitlicher Praxis den Kampf mit den An-
_____________ 26 AA VI 61; RGV. 27 AA VI 61; RGV.
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fechtungen der Selbstliebe ohne Schwäche und Rückfall untadelig bestehen zu können.28 Was die objektive Realität dieser praktischen Idee betrifft, so steht und fällt sie mit der Vernunft der Moralität.29 Wer sich zu ihr verpflichtet weiß, weiß auch, dass es ihm grundsätzlich möglich ist, ihrem Anspruch zu entsprechen. Wäre dies nicht möglich, machte auch ihr kategorischer Anspruch keinen Sinn. Man muss also nicht in Geschichte und Gegenwart nach einem Menschen suchen, der durch sein Leben demonstriert, dass das Ideal moralischer Vollkommenheit im genannten Sinn nicht eine Chimäre, sondern etwas vom Menschen in der Zeit Realisierbares darstellt. Das Ideal, das wir uns symbolisch veranschaulichend über die genannten Theologumena fasslich machen, ist eine Vorgabe unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft. „Es bedarf also keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unsrer Vernunft.“30 Doch andererseits gilt: Wenn praktische Vernunft von uns verlangt, uns in der Praxis unseres zeitlichen Lebens als moralisch untadelig zu erweisen, dann „muß auch eine Erfahrung möglich sein, in der das Beispiel von einem solchen Menschen gegeben werde (so weit als man von einer äusseren Erfahrung überhaupt Beweisthümer der innern sittlichen Gesinnung erwarten und verlangen kann)“31. Man sollte also nicht Romane zur Konkretisierung des moralischen Ideals schreiben, man kann aber sehr wohl in der Geschichte nach Menschen suchen, die dem moralischen Ideal des Menschseins entsprechen. Die diesbezügliche Kontroverse der Zeit um die historische Exemplifizierung des Ideals vollkommenen Menschseins bezog sich auf die Alternative ‚Sokrates oder Jesus‘. Kant sieht (mit Rousseau und gegen die „Enzyklopädisten“) nun im Jesus der Evangelien einen Menschen, von dem, wie er meint, die Historie, oder jedenfalls die allgemeine, nicht mit guten Gründen bezweifelbare Meinung sagt, dass er „durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben […] (und) durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlecht hervorgebracht“32 habe. Wir beurteilen die historische Person Jesus so, indem wir das Bild, das die überkommenen Nachrichten von seinem zeitlichen
_____________ 28 AA VI 61f.; RGV. 29 bzw. dem Ineinsfall von praktischer Vernunft und Moralität. 30 AA VI 62; RGV. 31 AA VI 63; RGV. 32 AA VI 63; RGV; vgl. AA VI 158; RGV.
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Dasein zeichnen, am abstrakten Ideal des gottgefälligen Menschen in uns messen. Kant diskutiert in diesem Zusammenhang die Frage, ob es Sinn macht, dem Menschen Jesus übernatürliche Attribute, wie etwa ein übernatürliches Erzeugtsein, und mit diesem Attribut eine „angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens“33 zuzusprechen. Er lehnt dies aus pragmatischen Gründen ab, weil damit der historische Jesus seiner Funktion eines „Beispiels der Nachahmung“34 für uns verlustig ginge. Es „würde die Erhebung eines solchen Heiligen über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur der praktischen Anwendung der Idee desselben auf unsere Nachfolge nach allem, was wir einzusehen vermögen, eher im Wege sein“35. Gebrechlichkeit stellt für Kant im ersten Teil der Religionsschrift im Unterschied zur Unlauterkeit und Bösartigkeit die mildeste Form des bösen Herzens dar. Er bestimmt sie dort als „die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt“36. In einer Anmerkung zur zweiten Auflage scheint Kant im 2. Teil über diese Frage etwas anders zu sprechen: Eine vom angebornen Hang zum Bösen freie Person so als möglich sich zu denken, daß man sie von einer jungfräulichen Mutter gebären läßt, ist eine Idee der sich zu einem schwer zu erklärenden und doch auch nicht abzuläugnenden, gleichsam moralischen Instinct bequemenden Vernunft.37
Gleichwohl möchte er diese theoretisch schwierige, in praktischer Hinsicht sinnvolle Idee auch jetzt lediglich „als Symbol der sich selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich widerstehenden) Menschheit uns zum Muster“ vorgestellt wissen.38 Die beiden miteinander prima facie inkonsistenten Passagen scheinen mir nur dann miteinander vereinbar zu sein, wenn Kant in ihnen von „Gebrechlichkeit“ in unterschiedlicher Bedeutung spricht: einmal (in Bezug auf Jesus) von Gebrechlichkeit im Sinn einer bloß möglichen Schwäche, die die Versuchung sinnvoll und ihr Bestehen im menschlichen Sinn tugendhaft macht; zum anderen (in Bezug auf uns „normale“ Menschen) von „Gebrechlichkeit“ im Sinne eines uns zugezogenen Hangs zur Schwäche, der das bereits Schwachgewordensein voraussetzt. Ob man also die Gebrechlichkeit zur unverdorbenen, aber verführbaren menschlichen Natur oder zum sich zugezogenen bösen Hang der menschlichen
_____________ 33 AA VI 64; RGV. 34 AA VI 64; RGV. 35 AA VI 64; RGV. 36 AA VI 29; RGV. 37 AA VI 80 Anm.; RGV. 38 AA VI 80 Anm.; RGV.
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Natur rechnet, – Kant plädiert jedenfalls dafür, den historischen Jesus, wenn er denn ein Beispiel der Nachahmung sein soll, so zu denken, dass auch er (wie alle Menschen) gegen die Möglichkeit anzukämpfen hatte, im konkreten Handeln einer guten Maxime untreu zu werden. Die Behandlung und Beantwortung dieses Problems hat grundsätzliche Bedeutung für die Frage nach dem Erfordernis und der Angemessenheit der Versinnlichung von Übersinnlichem. Kants reiner Vernunftglaube beinhaltet theoretische Annahmen in praktischer Absicht: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, und, wie wir sahen, auch die Idee der vollkommenen Menschheit als Gottes Sohn. Kant weiß um die Beschränktheit der menschlichen Vernunft, die nicht anders kann, als sich übersinnliche Prädikate (symbolisch) nur über eine Analogie mit Naturwesen, als sich moralische Prädikate nicht anders als auf menschliche Weise vorzustellen.39 Er spricht hier vom „Schematismus der Analogie“. Und Schematisieren heißt hier nichts weiter als einen Begriff des Übersinnlichen „durch Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich machen“40. Derartiges Schematisieren über Analogien aus dem Bereich unserer Erfahrungswelt ist für unsere theoretische Rede vom Göttlichen in praktischer Absicht unverzichtbar. Die Rede bleibt inadäquat und gleichwohl gültig. Kriterien seiner Korrektheit sind theoretische Stimmigkeit und moralisch-praktische Eignung. Ein Grundfehler wäre indessen, die Analogie nicht zu reflektieren, das Schema direkt und nicht als bloßen Vergleich, als bloßes Bild, als Metapher zu verstehen; oder aus dem Umstand, dass wir subjektiv zur Fasslichkeit eines auf Übersinnliches bezogenen Begriffs für unser Denken eines Schemas (der Analogie) bedürfen, zu schließen, dass dieses Schema auch dem Gegenstand selbst als Prädikat zukommen müsse. Den Schematismus der Analogie, so Kant, „in einen Schematism der Objectbestimmung (zur Erweiterung unserer Erkenntnis) zu verwandeln, ist Anthropomorphism, der in moralischer Absicht (in der Religion) von den nachtheiligsten Folgen ist“41. Kant gibt in einer bedeutsamen Fußnote, der dieses Zitat entnommen ist, zwei Beispiele für einen Schematismus der Analogie, deren Reflexionsform allerdings der Verdeutlichung bedarf, um ihr Aufklärungspotential sichtbar zu machen. Im Rahmen der Religion, d.h. der Betrachtung unserer Pflichten gegenüber den Menschen als göttlicher Gebote, ist es unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtung zu eigenem moralischem Tun und der Bestärkung in diesem Tun unerlässlich, sich ein Bild von der unermesslichen Liebe Gottes zu machen. Das Johannesevangelium verwendet
_____________ 39 Vgl. AA VI 64f. Anm.; RGV. 40 AA VI 65; RGV. 41 AA VI 65; RGV.
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zur Veranschaulichung des Begriffs dieser unermesslichen göttlichen Liebe als Schema der Analogie das Bild vom Vater, der seinen einzigen Sohn zur Rettung von Personen hingibt, von Personen, die nicht einmal die Gewähr bieten, sich ihrerseits gut zu verhalten. Die direkte Verwendung dieses Schemas zur Erweiterung unserer Erkenntnis von Gott (wie sie de facto bei Unaufgeklärten nicht selten geschieht) würde zu theoretisch absurden und moralisch abwegigen Konsequenzen führen. Können wir uns doch „durch die Vernunft keinen Begriff davon machen, wie ein allgenugsames Wesen etwas von dem, was zu seiner Seligkeit gehört, aufopfern und sich seines Besitzes berauben könne“42, ganz zu schweigen von Aspekten väterlicher Grausamkeit, die eine direkte Verwendung des Bildes als Vorbild für unser Handeln hätte. Ähnliches gilt für das zweite Beispiel. Wir schätzen unsere Freiheit zum Guten wie zum Schlechten trotz unseres Hangs zum Bösen höher als das unschuldige, durch seine Natur geleitete Streben des Tieres. Ja, wir machen uns den immensen Wert unserer sich im Kampf bewährenden Freiheit fasslich, indem wir den Vergleich mit dem unschuldigen Tier auf die unschuldigen Engel im Himmel übertragen. Nicht zur objektiven Bestimmung der hierarchischen Stufe der Engel, wohl aber zur subjektiven Bestärkung im Kampf mit dem Bösen macht der Schematismus der Analogie hier guten Sinn: So legt ein philosophischer Dichter dem Menschen, so fern er einen Hang zum Bösen in sich zu bekämpfen hat, selbst darum, wenn er ihn nur zu überwältigen weiß, einen höheren Rang auf der moralischen Stufenleiter der Wesen bei, als selbst den Himmelsbewohnern, die vermöge der Heiligkeit ihrer Natur über alle mögliche Verleitung weggesetzt sind. (Die Welt mit ihren Mängeln – ist besser als ein Reich von willenlosen Engeln. Haller).43
III. Ich komme zum zweiten Lehrstück. Kants Anthropologie geht davon aus, dass der Mensch von Natur mit einer Anlage zum Guten ebenso wie mit einem Hang zum Bösen versehen ist. Sie unterstellt ferner, dass der Mensch, als Mensch unter Menschen, von Natur der kaum zu bestehenden Gefahr des Verderbens seiner moralischen Anlage ausgesetzt ist. Der einzelne unter vielen braucht einen politisch-bürgerlichen Rechtszustand, um angesichts der Gefahr eines Kampfes aller gegen alle rechtlichen Halt und
_____________ 42 AA VI 65; RGV. 43 AA VI 65; RGV.
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Schutz zu gewinnen. Die Idee des Rechts wird ergänzt und vollendet durch die Idee der Moralität. Wie einer Rechtsgemeinschaft, so bedarf der Einzelne auch einer Tugendgemeinschaft, einer moralisch-bürgerlichen Gemeinschaft, um sich in ihrem integrierenden, haltgebenden und schützenden Rahmen als moralisches Wesen zu entwickeln und zu erhalten. Zwar kann man die Position der Moralität nur selbst beziehen, aber niemand hat die Chance, sie im Leben auch nur annähernd zu verwirklichen, wenn er nicht von einer in moralischen Dingen einmütigen, konkret erfahrbaren, öffentlichen Gemeinschaft getragen ist. Und für die Verwirklichung des höchsten Guts auf Erden kann man nicht erfolgreich als isoliertes moralisches Wesen arbeiten. Die Verwirklichung von Moralität und moralisch akzeptablen Zuständen ist für Kant ganz wesentlich eine Gemeinschaftsaufgabe. Ein derartiges öffentlich-moralisches Gemeinwesen nennt er, im Unterschied zu einem politisch-bürgerlichen Gemeinwesen, eine Kirche. Eine Kirche dient der Ermöglichung und Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Gutes: der Würdigkeit, glücklich zu sein, und der Entsprechung von Würdigkeit und Glückseligkeit im Leben. Die Errichtung und Ausbreitung einer Kirche ist ein Gebot der Vernunft: Wie den rechtlichen, so gilt es auch den moralischen Naturzustand zu verlassen.44 Gleichwohl unterscheidet sich das Gebot in rechtlicher von dem in moralischer Hinsicht. Die Verwirklichung der Rechtsidee geschieht auf Erden sinnvollerweise im Plural, in Form vieler einzelner Staaten und (nicht der Auflösung sondern) der Föderation der Einzelstaaten zu einer weltumspannenden Rechtsgemeinschaft. Die Idee der Moralität beansprucht und verbindet alle Menschen dagegen in gleicher und unmittelbarer Weise. Entsprechend impliziert die Idee einer (wahren) Kirche ihrem Wesen und Ziel nach unmittelbare Universalität. Ihre Werte und Normen übersteigen alle staatlichen Gesetze und Grenzen. Sie ist auf die volle, unterschiedslose, direkte Mitgliedschaft aller Menschen ausgerichtet. Kant unterscheidet die unsichtbare Kirche im Sinne eines Ideals, einer platonischen Vernunftidee von der (wahren) sichtbaren Kirche als einer konkret erfahrbaren, öffentlichen Vereinigung von Menschen zu einer moralischen Gemeinschaft, die dieser Idee entspricht.45 Die Errichtung einer (sichtbaren) Kirche ist eine moralische Pflicht, allerdings nicht eine vom einzelnen allein erfüllbare und zu erfüllende, sondern eine Gattungs-
_____________ 44 Vgl. AA VI 94; RGV. 45 Vgl. AA VI 101; RGV.
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pflicht.46 Das Ideal hat unmittelbar ein Ganzes aller Menschen als „allgemeine Republik nach Tugendgesetzen“47 zum Inhalt und unterscheidet sich darin wesentlich von einer bürgerlich-politischen Gemeinschaft. Die Vernunftidee der wahren Kirche ist die von Gott als einem moralischen Weltherrscher und den Menschen als einem Volk Gottes unter moralischen, in der vernünftigen Freiheit jedes Einzelnen gründenden moralischen Gesetzen.48 Die sichtbare Kirche bedarf der öffentlichen (moralischen) Gesetze, die die Gemeinschaft konstituieren und erhalten und das Leben aller Mitglieder moralisch orientieren und regulieren. Und sie bedarf einer menschlichen Obrigkeit, die sich als Diener der Gesetze und Verwalter der Geschäfte des unsichtbaren Oberhaupts versteht und als solche verstanden werden kann.49 Wie kommt nun eine wahre sichtbare Kirche zustande? Moralisch gesehen vermag nur der reine Religionsglaube eine wahre sichtbare Kirche zu gründen; doch „natürlicherweise“, so Kant, geht leider der Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben vorher.50 Es ist, wie Kant sich ausdrückt, „eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran schuld, daß auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen.“51 Was besagt dies? Menschen, so ist Kant zu verstehen, neigen nun einmal de facto nicht dazu, sich allein um der Verwirklichung einer abstrakten Vernunftidee willen zu einer Gemeinschaft moralisch Gleichgesinnter zusammenzuschließen. Sich moralisch verstehende und durch das Verständnis von Moralität als göttliches Gebot geprägte menschliche Gemeinschaften entstehen, wie man weiß, durch die Initiativ-, Führungs- und Weisungskraft ungewöhnlich charismatischer Persönlichkeiten und durch die gemeinschaftsstiftende Kraft einer verbindenden, kontinuierlich erinnerten Ursprungsgeschichte. Und sie treten nicht in die Welt als rein über die Idee gemeinschaftlicher Verwirklichung der Moralität konstituierte Gemeinschaften. Die Menschen neigen, durch das Beispiel irdischer Herrscher verführt, ganz allgemein zu der Annahme, dass verwirklichte Moralität nicht alles sein kann, was ein Gott von ihnen zu leisten verlangt. Sie suchen nach einem besonderen Gottesdienst, der in Handlungen des Rituals, des
_____________ 46 „Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts bestimmt“ AA VI 97; RGV. 47 AA VI 98; RGV. 48 Vgl. AA VI 98f.; RGV. 49 Vgl. AA VI 101; RGV. 50 Vgl. AA VI 106; RGV. 51 AA VI 101f.; RGV.
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Gebetes, des Kultes, des Opfers besteht, in Handlungen, die für sich genommen mit Moralität nichts zu tun haben. Und sie verlangen nach einer besonderen göttlich-herrscherlichen Anordnung dieses besonderen Dienstes. Weder die von Gott legitimierte Autorität einer Gründungsfigur, noch die Authentizität ihrer besonderen Weisungen lassen sich durch reine Vernunft erfassen. Dafür muss immer die Erfahrung einer die Vernunft übersteigenden besonderen Offenbarung in Anspruch genommen werden. So gesehen geht die Gründung einer jeden sichtbaren Kirche de facto (aufgrund menschlicher Schwäche) von einer überragenden, sich in ihrem Wissens- und Weisungsanspruch über das durch allgemeine Vernunft Begründbare überhebende Persönlichkeit und einem historischen Offenbarungsglauben aus.52 Derartige historische Offenbarungs- und Kirchenglauben traten und treten in der Geschichte der Menschheit viele, und dies in unterschiedlichen Ausprägungen und Abgrenzungen auf, in markanter Dominanz der jüdische, der christliche und der muslimische. Es handelt sich um partiale bzw. partikuläre Religionsgemeinschaften mit zum Teil universalem Anspruch. Grundsätzlich kann eine partikuläre Religionsgemeinschaft, die auf die Errichtung eines alle Menschen umfassenden ethischen Ganzen zielt, noch nicht das wahre ethische Gemeinwesen selbst sein und die wahre sichtbare Kirche genannt werden. Denn „jede partiale Gesellschaft (ist) nur eine Vorstellung oder ein Schema […], weil eine jede selbst wiederum im Verhältniß auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande, sammt allen Unvollkommenheiten desselben befindlich vorgestellt werden kann […]”53. Was Kant hier mit der Wendung „nur eine Vorstellung oder ein Schema“ meint ist nicht völlig klar und eindeutig. Klar scheint mir jedenfalls (im Sinne kantischer Gedanken) zu sein, dass ein partiales ethisches Gemeinwesen sich nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach noch von der wahren sichtbaren Kirche unterscheidet. So gesehen konnotiert die Wendung „Schema der Analogie“ wohl dies: Es gibt Züge in einem partialen ethischen Gemeinwesen, die in Analogie zur wahren (noch zu errichtenden) sichtbaren Kirche gesetzt werden können. Andererseits ist hier vom Ideal und den unzureichenden (Anfangs-)Formen der empirischen Verwirklichung die Rede und der platonische Vorstellungskontext manifest: Platonisch gesprochen sind partikuläre Religionsgemeinschaften „nur Vorstellungen“, d.h. nur defiziente Spiegel- bzw. Schattenbilder des
_____________ 52 Vgl. AA VI 102f.; RGV. 53 AA VI 96; RGV; Hervorhebung von mir.
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wahren sichtbaren Bildes und Repräsentanten des (für Kant) unsichtbaren Urbildes. Eine wahre sichtbare Kirche kann es nicht im Plural geben, da Kirche ihrem normativen Begriff nach die Wirklichkeit „eines absoluten ethischen Ganzen“ meint. Gleichwohl führt der Weg zur einen wahren sichtbaren Kirche „natürlicherweise“ und unvermeidlich über partikuläre Kirchen. Eine solche partiale Kirche bzw. ein historischer Offenbarungs- und Kirchenglauben mit seiner Bindung an eine Gründerpersönlichkeit, mit seiner gemeinschaftsstiftenden besonderen Ursprungsgeschichte, mit seinen hl. Schriften, Dogmen, Riten und Statuten kann der Sache nach allerdings moralische Legitimität nur für sich beanspruchen, wenn er der einen wahren Religion, der gemeinschaftlichen Verwirklichung des moralischen Gesetzes auf Erden als Mittel dient.54 In diesem Sinne ist es für Kant „natürlich“ und „nun also nicht einmal zu ändern“, dass „ein statutarischer Kirchenglaube […] dem reinen Religionsglauben als Vehikel und Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des Letzteren beigegeben“ ist.55 Doch die verschiedenen Kirchenglauben sind wohl zu unterscheiden. Kant hält es für möglich, „daß in den mancherlei sich der Verschiedenheit ihrer Glaubensarten wegen von einander absondernden Kirchen dennoch eine und dieselbe wahre Religion anzutreffen sein kann.“56 Sie ist allerdings nur dann anzutreffen, wenn innerhalb abgesonderter Kirchen sich aufgrund einer „sich erweiternden Denkungsart“57 zwischen historischem Offenbarungs- und statutarischem Kirchenglauben einerseits und reinem Religionsglauben andererseits unterschieden wird, und die Geltungsansprüche des ersteren zugunsten des letzteren relativiert und nur noch im Sinne eines kontingenten Symbols in praktischer Absicht eingelöst werden.58 Entscheidend ist demnach in Kants Sprechweise eine Unterscheidung zwischen wesentlicher, absoluter Materie und unwesentlicher, relativer, wenngleich kaum verzichtbarer Form, nämlich die Einstellungsdifferenzierung der Gläubigen bezüglich dessen, „was die Materie der Verehrung Gottes ausmacht“59; das Bewusstsein, dass nur die in moralischer Gesinnung geschehende Beobachtung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote absolute Verbindlichkeit besitzt, während die „Feierlichkeiten, Glaubensbekenntnisse geoffenbarter Gesetze und Beobachtung
_____________ 54 Vgl. AA VI 104; RGV. 55 AA VI 106; RGV. 56 AA VI 107f.; RGV. 57 AA VI 109; RGV. 58 Vgl. AA VI 123 Anm.; RGV. 59 AA VI 105; RGV.
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der zur Form der Kirche […] gehörigen Vorschriften“ nicht den eigentlichen Gottesdienst ausmachen, „nicht als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden“ können60 , sondern nur eine historisch zufällige, in der gesellschaftlich-geschichtlich-kulturellen Lage einer Gruppe von Menschen verankerten Hinführungs- und Vermittlungsfunktion besitzen auf dem Weg zur einen wahren sichtbaren Kirche, zur „wirkliche(n) Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal (sc. der unsichtbaren Kirche M. F.) zusammenstimmt.“61 Kant sieht rein theoretisch, „wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen, wenig Hoffnung“, das Ziel, „in einer sichtbaren Kirche“ die „kirchliche Glaubenseinheit mit der Freiheit in Glaubenssachen zu vereinigen“, je „zu Stande zu bringen“.62 Gleichwohl betrachtet er, aus „moralischem Interesse“, in praktisch-pragmatischer Absicht, die Geschichte der Religiosität der Menschheit als Fortschrittsgeschichte. Sie verläuft von der Stufe des Aberglaubens, Götzendienstes und Priestertums über die Stufe der vielfältigen abgesonderten, nur zum Teil moralisierten Kirchenglauben (asymptotisch ?) hin zur letzten Stufe der einen sichtbaren Kirche als öffentlicher, erfahrbarer Gemeinschaft aller Menschen unter Tugendgesetzen und zeitlicher „Repräsentantin“ der Idee der unsichtbaren Kirche.63 Kant ist sich dessen bewusst, dass „die Idee eines Volkes Gottes“ „unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur“ als „menschliche Veranstaltung“ „nie völlig erreichbar ist“.64 Gleichwohl ist er geneigt, unter bestimmten Bedingungen bereits von der „wahren (sichtbaren) Kirche“ im Sinne einer (noch defizienten, aber immerhin) erfahrbaren „Vorstellung“ bzw. eines „Schemas (der Analogie)“ der wahren sichtbaren Kirche zu sprechen, also von einer Kirche, „welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt“.65 Die entscheidende Bedingung für eine derart wahre, obgleich noch streitende, weil noch mit historischen (und damit notwendig kontro-
_____________ 60 AA VI 104; RGV. 61 AA VI 101; RGV. 62 AA VI 123 Fn.; RGV. 63 Vgl. AA VI 102; RGV. „Der Kirchenglaube geht also in der Bearbeitung der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen natürlicherweise vor dem reinen Religionsglauben vorher, und Tempel (dem öffentlichen Gottesdienst geweihte Gebäude) waren eher als Kirchen (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen), Priester (geweihte Verwalter frommer Gebräuche) eher als Geistliche (Lehrer der rein moralischen Religion) und sind es mehrentheils auch noch im Range und Werthe, den ihnen die große Menge zugesteht.“ AA VI 106; RGV. 64 AA VI 100; RGV. 65 AA VI 101; RGV.
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versen) Glaubenslehren befasste Kirche66 ist, „daß nämlich, ob sie zwar in zufällige Meinungen geteilt und uneins, doch in Ansehung der wesentlichen Absicht auf solche Grundsätze errichtet ist, welche sie nothwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen müssen.“67 Wie das so verstandene Schema (der Analogie) der wahren sichtbaren Kirche strukturiert sein muss, macht Kant am Verhältnis von statutarischem, offenbarungsreligiösem Kirchenglauben als bloßem Vehikel zu einem solchen als Wahn deutlich: Dem Kirchenglauben kann, ohne daß man ihm weder den Dienst aufsagt, noch ihn befehdet, sein nützlicher Einfluß als eines Vehikels erhalten und ihm gleichwohl als einem Wahne von gottesdienstlicher Pflicht aller Einfluß auf den Begriff der eigentlichen […] Religion abgenommen werden und so bei Verschiedenheit statutarischer Glaubensarten Verträglichkeit der Anhänger derselben unter einander durch die Grundsätze der einigen Vernunftreligion, wohin die Lehrer alle jene Satzungen und Observanzen auszulegen haben, gestiftet werden; bis man mit der Zeit vermöge der überhandgenommenen wahren Aufklärung […] mit jedermanns Einstimmung die Form eines erniedrigenden Zwangsmittels gegen eine kirchliche Form, die der Würde einer moralischen Religion angemessen ist, nämlich die eines freien Glaubens, vertauschen kann.68
In diesem Sinn sieht Kant im Jesus der Evangelien den Stifter des Schemas der wahren sichtbaren Gesamtkirche. Es handelt sich bislang nur um ein Schema (der Analogie) bzw. ein defizientes Abbild, weil die christliche Kirche noch in sich streitet und sich selbst in verschiedene historische Glaubenslehren und statutarische Praktiken partikularisiert und weil sie noch (im moralischen Naturzustandsverhältnis) andere (nichtchristliche) Kirchen mit vergleichbaren historischen Glaubenslehren neben sich hat. Doch Jesus habe (im Unterschied zu Moses und Mohammed), wie in den neutestamentlichen Schriften für alle nachzulesen sei, öffentlich eine allgemeine, moralische, jedermann fassliche, auf die reine Gesinnung des Herzens gegründete, kurz die natürliche Religion gelehrt, sich entschieden gegen den primär historisch-statutarischen Offenbarungs- und Kirchenglauben seiner eigenen Umgebung gewandt und die allgemeine Vernunftreligion zur obersten Bedingung eines jeden Religionsglaubens gemacht. Und er habe aus pragmatischen Gründen noch „gewisse Statuta hinzugefügt […], welche Formen und Observanzen enthalten, die zu Mitteln dienen sollen, eine auf jene Principien zu gründende Kirche zu Stande zu bringen“69. Jesus habe durch sein Lehren und Wirken so den Grund der
_____________ 66 Vgl. AA VI 115; RGV. 67 AA VI 101; RGV. 68 AA VI 123 Fn.; RGV. 69 AA VI 158; RGV.
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wahren sichtbaren Kirche gelegt und damit „durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlecht hervorgebracht“70. Was die sich auf Jesu Lehre und Wirken und die Hl. Schrift berufenden partialen religiösen Gemeinschaften noch davon abhält, die Einheit der (christlichen) Kirche deutlicher sichtbar zu machen, ist für Kant ein Dissens im Unwesentlichen. Dieser Dissens beruhe auf einem allerdings gravierenden Missverständnis, dem Missverständnis, das bestimmte Formen und Observanzen, die lediglich ein kontingentes Vehikel zur Beförderung der wahren Religion sein können, für den allgemein verbindlichen sinnlich-zeitlichen Ausdruck wahrer Religiosität hält. Es fehlt noch am allgemeinen und durchdringenden Bewusstsein, dass alles, was an der christlichen Religion historisch und statutarisch ist, nur provisorischen Charakter hat in seiner Funktion, „die Menschen zur Beförderung des Guten (zu) vereinigen“71. Das Provisorium muss auf dem Weg allmählicher Reform durch vernünftige Aufklärung kluger Glaubens- bzw. Morallehrer schrittweise abgestreift werden, um der allgemeinen Vernunftreligion und einem freien, mündigen Glauben zum Sieg und Triumph zu verhelfen: Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste that, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt.72
Die derzeitigen kirchlichen Formen des Christentums bieten nur ein Schema bzw. Schemata der Analogie für die wahre, zu erarbeitende sichtbare Kirche. Kant fordert „eine kirchliche Form, die der Würde einer moralischen Religion angemessen ist“73. Doch er gibt uns keinen klaren Hinweis, wie diese Form, die ja in ihren Institutionen, Symbolen und Ritualen erfahrbar und ebenso frei wie einheitsstiftend sein muss, beschaffen sein soll.74 Ja, er äußert schließlich ernsthafte Zweifel, dass die anvisierte
_____________ 70 AA VI 63; RGV. 71 AA VI 121; RGV. 72 AA VI 121; RGV. 73 AA VI 123 Anm.; RGV. 74 Sie habe, als bloße Repräsentantin eines Staates Gottes betrachtet, eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnliche Verfassung; sie sei weder monarchisch, noch aristokratisch, noch demokratisch. Sie sei noch am besten mit einer Hausgenossenschaft (Familie) unter einem gemeinschaftlichen (wenngleich unsichtbaren) Vater vergleichbar, sofern sein heiliger Sohn (gemeint ist das Ideal der moralisch vollkommenen Menschheit in uns) dessen Willen weiß, dessen Stelle vertritt,
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manifeste Einheit der wahren sichtbaren Kirche je zustande kommen wird. Wie kann man, so Kant, unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur auch erwarten, „daß aus so krummem Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde“75? Die kirchliche Glaubenseinheit mit der Freiheit in Glaubenssachen zu vereinigen, ist ein Problem, zu dessen Auflösung die Idee der objectiven Einheit der Vernunftreligion durch das moralische Interesse, welches wir an ihr nehmen, continuirlich antreibt, welches aber in einer sichtbaren Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen, wenig Hoffnung vorhanden ist. Es ist eine Idee der Vernunft, deren Darstellung in einer ihr angemessenen Anschauung uns unmöglich ist, die aber doch als praktisch-regulatives Prinzip objective Realität hat, um auf diesen Zweck der Einheit der reinen Vernunft hinzuwirken.76
Der Geschichtsglaube, so Kant in einer resignativ-realistischen Anmerkung der Religionsschrift, verhindert die Einheit und Allgemeinheit der (christlichen) Kirche. Aus seiner „gegenwärtig noch nicht entbehrlichen Hülle“ heraus solle man durch Entwicklung des reinen Vernunftglaubens an einem „alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben“ fleißig arbeiten. Aber „nicht daß er aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nötig sein), sondern aufhören könne; womit nur die innere Festigkeit des reinen moralischen Glaubens gemeint ist“ .77 Die Religionsschrift ist unter Bedingungen der Zensur geschrieben. Dies gilt es bei ihrer Interpretation in Rechnung zu stellen. Der letzte Satz, der die Möglichkeit einer unausweichlichen und dauerhaften Bindung des reinen Religionsglaubens an unabstreifbare Hüllen und unentbehrliche Vehikel eines (wohl unausweichlich) partikularisierenden Geschichtsglaubens (platonisch gedacht für die „Vielen“, die von moralisch vernünftigen kirchlichen Obrigkeiten geleitet und soweit möglich aufgeklärt werden?) einräumt, ist ein Zusatz der zweiten Auflage. Hat Kant zuletzt mit dem Gedanken gespielt, die Idee der wahren sichtbaren Kirche der politischrechtlichen Idee der Föderation von Republiken anzugleichen?78 Wäre
_____________ allen Gliedern den Willen näher bekannt macht, die daher in ihm den Vater ehren und so untereinander in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten. So AA VI 102; RGV. 75 AA VI 100; RGV. 76 AA VI 123; RGV. 77 AA VI 135 Anm.; RGV. 78 AA VI 132 Anm.; RGV: „Es geht hiermit (sc. mit der Idee der einen sichtbaren Kirche), wie mit der politischen Idee eines Staatsrechts, so fern es zugleich auf ein allgemeines und machthabendes Völkerrecht bezogen werden soll. Die Erfahrung spricht uns hierzu alle Hoffnung ab. Es scheint ein Hang in das menschliche Geschlecht (vielleicht absichtlich) gelegt zu sein, daß ein jeder einzelne Staat, wenn es
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dies der Fall, so besäße seine Religionsphilosophie ein Aufklärungspotential, dessen wegweisende Funktion für die gegenwärtige Verhältnisbestimmung der verschiedenen Konfessionen und Religionen untereinander in politischer Hinsicht von überragender Bedeutung wäre.
Literatur Goudeli, K.; Kontos, P.; Patellis, I. (Eds.) (2007): Kant Making Reason Intuitive, Houndmills, Basingstoke, Hampshire. Heidegger, Martin (1950): Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Aufl., Frankfurt a.M.
_____________ ihm nach Wunsch geht, sich jeden andern zu unterwerfen und eine Universalmonarchie zu errichten strebe; wenn er aber eine gewisse Größe erreicht hat, sich doch von selbst in kleinere Staaten zersplittere. So hegt eine jede Kirche den stolzen Anspruch eine allgemeine zu werden; so wie sie sich aber ausgebreitet hat und herrschend wird, zeigt sich bald ein Princip der Auflösung und Trennung in verschiedene Secten.“
Kants Projekt der unsichtbaren Kirche als Aufgabe zukünftiger Aufklärung Bernd Dörflinger In der Rückschau auf die maßgeblich durch Gewalt und Krieg geprägte Menschheitsgeschichte stellt Kant mit besonderem Blick auf die nicht unerhebliche Rolle, die dabei religiös motivierte Gewalt und religiös motivierte Kriege gespielt haben, in seiner Religionsschrift von 1793 fest: Es „sind die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (AA VI 108). Davon, dass solche Religionsstreitigkeiten auch mehr als 200 Jahre nach diesem Befund nicht etwa aufgehört haben die Welt zu erschüttern und mit Blut zu bespritzen, kann man sich gerade in unserer Zeit wieder einmal überzeugen. Der Kirchenglaube also, oder besser, da es davon mehrere Arten gibt, die Kirchenglaubensarten stehen im Zentrum des Streits. Mit einem anderen Ausdruck Kants benannt, sind es die historischen Glaubenslehren (vgl. AA VI 115 u.Ä.), die deshalb historisch heißen, weil sie beanspruchen, auf geschichtlichen, in Raum und Zeit situierten Ereignissen der Selbstmitteilung Gottes zu beruhen. Den Glauben daran nennt er aufgrund der beanspruchten Fundierung in historisch zufälliger Faktizität zuweilen auch den empirischen Glauben (vgl. AA VI 109f.). Die ansonsten geläufige Bezeichnung Offenbarungsreligion vermeidet er, weil er den wahren Begriff der Religion durch die Glaubensarten verfehlt sieht – und dies nicht bloß aufgrund eines etwaigen graduellen Mangels an Vollkommenheit, der zu beheben wäre, sondern aufgrund ihrer wesentlichen Beschaffenheit. Dass in seiner Sicht zu ihrem Wesen der Konflikt gehört, drückt er durch sein Urteil aus, dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (AA VI 115). Damit ist nicht weniger gesagt, als dass der Streit ein notwendiges Merkmal des Begriffs der historischen Glaubenslehre ist. Offenbarungsreligionen, um doch den eingebürgerten Ausdruck zu verwenden, sind demnach per se konfliktträchtig, und es ist schon jetzt zu sehen, dass unter dieser Voraussetzung die moderate Variante, diesem Übel begegnen zu wollen, nämlich das Toleranzpostulat zu bemühen, nicht zu Gebote stehen wird. Denn das würde das Unmögliche verlangen,
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dass die Glaubenslehren blieben, was sie sind, nur eben auf den Streit verzichteten. Wenn das also unmöglich ist, dann ist in den Blick zu nehmen, um der Vermeidung des Streites willen die Glaubenslehren in toto aufzuheben. Die Aufhebung der historischen Glaubenslehren nimmt Kant mit seinem Postulat der unsichtbaren Kirche – das ist die, die er als Kirche einer Vernunftreligion den sichtbaren historischen Kirchen entgegensetzt – in der Tat in den Blick. Für Kant ist Vernunft – genauer: reine praktische Vernunft – Auslegerin aller Religion und da ihren Maßstäben prinzipiell keine historische Religion genügen kann, sind alle diese Glaubensarten, die auf Geschichte beruhen, letztlich zu überwinden. Reine praktische Vernunft verfolgt demnach den Zweck, dass Religion, damit sie diesen Namen erst wirklich verdiene, „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen […], losgemacht werde“ und dass sie so als „reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche“ (AA VI 121). Eine von allen empirischen Bestimmungsgründen und geschichtlichen Statuten losgemachte historische Religion aber hat aufgehört, als eine solche zu existieren. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Kant – analog seiner Konzeption politischen Fortschritts – zum Erreichen dieses Zustands keine Revolution propagiert, wodurch widersinnigerweise ein projektierter Friedenszustand durch Gewaltakte gestiftet würde, sondern dass er auf einen Reformprozess setzt, in dem die Kraft aufgeklärten Denkens wirksam wird. Ebenso ist zu erwähnen, dass er mit einer sehr langen Dauer dieses Reformprozesses rechnet, was unter den Kirchenleuten den Schrecken bis heute in Grenzen gehalten haben mag. Schließlich soll bemerkt sein, dass er den Kirchenglaubensarten für den Verlauf des Reformprozesses eine Funktion zuspricht – eine provisorische allerdings, eine dienende, was die Zumutung beinhaltet, an der eigenen Abschaffung mitzuwirken. Doch ändert der von Kant propagierte Reformismus nichts an der Radikalität der Zielbestimmung, d.h. an der kompromisslosen Utopie eines religiösen Friedenszustandes, der nur ohne die historischen Religionen zu haben ist. Worin besteht nun näherhin die bisher bloß als Kants Behauptung wiedergegebene notwendige Konfliktträchtigkeit der historischen Religionen? Sie besteht, um es in einem Satz zu sagen, in den von diesen erhobenen Forderungen eines „Glauben[s] an statutarische göttliche Gesetze“ (AA VI 106). Angesichts einiger leicht zu findender Beispiele solcher Gesetze mag verwundern, dass in ihnen der Keim eines Übels zu finden sein soll. Denn ist es in moralischer Hinsicht nicht ganz gleichgültig, wenn etwa in der christlichen Glaubensart, und das ist Kants bevorzugtes Beispiel für
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ein statutarisches göttliches Gesetz, an „die Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar verordnetes Religionsstück“ (AA VI 187), geglaubt wird? Ist es nicht ebenso moralisch indifferent, wenn eine einmal im Leben zu unternehmende Pilgerfahrt nach Mekka angeordnet wird? Da sich bei erstem Hinsehen eher ein Eindruck von Harmlosigkeit einstellt, wird der spezifische Gesetzescharakter der statutarischen göttlichen Gesetze näher zu betrachten sein. Das Eigentümliche dieser Gesetze ist, dass sie den Menschen Gebote auferlegen, die aus Vernunft nicht zu entwickeln sind, auf die also praktische Vernunft von sich her nie gekommen wäre. Ihr Anspruch auf Verbindlichkeit ist demnach nicht durch diese zu legitimieren. Sie sind aus diesem Grund keine moralischen, sondern außermoralische Gesetze. Die thematischen göttlichen Statute können, „ohne daß [s]ein Befehl vorher ergangen, nicht verbindend“ (AA VI 99) sein; ihre Gesetzgebung ist also „eine der Offenbarung bedürftige göttliche Gesetzgebung“ (AA VI 106). Während ich im Fall eines moralischen Gebots, wenn ich es denn gemäß der durch Kants rationalen Religionsbegriff eröffneten Möglichkeit aufgrund hinzukommender Reflexionsakte zugleich als göttliches Gebot ansehe, „zuvor wissen“ muss, „daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (AA VI 154), verhält es sich im Fall eines statutarischen göttlichen Gebots umgekehrt. Hier muss ich „vorher wissen […], daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen“ (AA VI 153f.). Vorschriften aber, die an einen Adressaten ergehen, der sie nicht aus sich selbst entwickeln und der sie auch im Nachhinein in kein rationales Konzept integrieren kann, müssen diesem Adressaten als zufällige und willkürliche Vorschriften erscheinen (vgl. AA VI 105f.). Aus statutarischen Gesetzen, die auf die besagte Art Akzeptanz gebieten, folgt, so Kant, „nicht das Bewußtsein, daß der geglaubte Gegenstand so und nicht anders sein müsse, sondern nur, daß er so sei“ (AA VI 115). Indem der historische Glaube „mithin […] das Bewußtsein seiner Zufälligkeit“ (ebd.) enthält, ist durch ihn die schwierige gedankliche Verknüpfung verlangt, willkürliche und zufällige Vorschriften als absolut geltend anzuerkennen, denn der angeführte Geltungsgrund, kein geringerer als Gott, ist nicht zu überbieten. Göttliche statutarische Gesetzgebung ist nach all dem zunächst einmal äußere Gesetzgebung. Statutarische Gesetze sind nicht wie moralische innerlich im Selbstverhältnis auf die Weise des Selbstdenkens zu verifizieren. Sie begegnen dem Angesprochenen autoritativ und verlangen von diesem also die Anerkennung ihrer Autorität, ohne dass Gründe dafür einsichtig werden. In den Überzeugungszustand ihrer Geltung zu gelangen, scheint also Unterwerfung und Selbstüberredung zu verlangen. Der
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Weg, sie wenn nicht auf Selbstdenken so doch vielleicht auf Erfahrung zu gründen, ist nach Kant versperrt, sowohl äußere als auch innere Erfahrung betreffend. Zwar ist die äußere Erfahrung davon möglich, dass eine Stimme einen Befehl göttlichen Ursprungs behauptet, wie im Fall des Befehls an Abraham, seinen Sohn zu opfern, doch die Göttlichkeit dieses Ursprungs ist kein möglicher Gegenstand der Erfahrung. In Kants Worten: Wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden, und ihn woran kennen solle. (AA VII 63)
Nebenbei bemerkt, ist es im Fall des Abraham aus moralischen Gründen klar, dass es nicht Gott sein kann, der da spricht (vgl. ebd.) – Schließlich ist nach Kant auch der innere Sinn nicht dazu fähig, in eine „Gemeinschaft mit Gott“ (AA VII 55) zu treten, die als Erfahrung gelten könnte. Im Zusammenhang seiner Kritik am pietistischen Mystizismus führt er aus: „Den unmittelbaren Einfluß der Gottheit als einer solchen fühlen wollen ist, weil die Idee von dieser bloß in der Vernunft liegt, eine sich selbst widersprechende Anmaßung.“ (AA VII 57f.). Dass es für dieses Verdikt gegen die gefühlte Allianz mit Gott auch noch genügend heutige Adressaten gibt, und zwar solche in höchsten politischen Ämtern, dürfte jedem klar sein, der den Aufklärungszustand der Gegenwart an den kantischen Maßstäben misst. Kant belegt jene angemaßten gefühlsmäßigen Gotteserfahrungen mit dem wenig schmeichelhaften Namen eines „Illuminatism innerer Offenbarungen“ und fügt hinzu, dass davon „ein jeder alsdann seine eigene hat und kein öffentlicher Probirstein der Wahrheit mehr Statt findet“ (AA VII 46). Es ist dies, nämlich die mangelnde Allgemeinheit, nach Kant ein universelles Kennzeichen historischer Glaubensarten, selbst wenn die empirische Faktizität von Offenbarungsereignissen doch einmal probeweise angenommen sein mag. Da Gott sich dem historischen Glauben gemäß unter empirischen Bedingungen gezeigt hat, d.h. auf bestimmte Weise räumlich und zeitlich situiert, und da diese mit dem Verkünden statutarischer Gesetze verbundene Selbstmitteilung zugleich als singulär ausgezeichnet wird, d.h. als dem gesetzlichen Erfahrungszusammenhang mit seiner Möglichkeit gleichartiger Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten enthoben, gewinnen die Subjekte solcher Erfahrung einen exklusiven Status, den diejenigen nie erreichen können, die in anderen Raum- und Zeitumständen leben, ganz zu schweigen von denjenigen vom historischen Offenbarungsglauben vollkommen Ausgeschlossenen, die vor dem singulären Ereignis lebten. Kant qualifiziert die nach den Annahmen notwendigerweise exklusive Erfahrung der Begünstigten, die seinem Erfah-
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rungsbegriff widerspricht, so, dass sie „auf keine Regel der Natur unseres Verstandes zurückgeführt und dadurch bewährt werden kann“ (AA VII 57). Er stellt fest, dass eine auf die skizzierte Art von außerhalb des Erfahrungskontextes in den Erfahrungskontext gekommene statutarische Gesetzgebung „nicht an jeden Menschen gekommen ist“ und darüber hinaus, dass sie auch nicht an jeden Menschen „kommen kann“ (AA VI 104). Abgesehen von der Nicht-Wiederholbarkeit absolut singulärer Erfahrungen meint letzteres auch, dass es unter empirischen Bedingungen unmöglich, mindestens aber nie gesichert ist, die Kunde von den nun gelten sollenden statutarischen Gesetzen an jeden Menschen zu bringen. Das unter anderem unterscheidet sie von den dann in der unsichtbaren Kirche allein Geltung beanspruchenden moralischen Gesetzen, die nicht unter empirischen Bedingungen an oder in den Menschen erst kommen müssen. Aus dem entwickelten Defizit der göttlichen statutarischen Gesetze schließt Kant nun, dass sie „nicht als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden können“ (AA VI 104), dass sie also keine allgemeine Geltung beanspruchen können. Obwohl natürlich so etwas wie ein Weitersagen der vermeintlich als göttlich erfahrenen Anweisungen möglich ist und der historische Glaube ein „durch Schrift weit ausgebreiteter“ sein kann, ist er doch, so Kant, „keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig“ (AA VI 109). Aufgrund der bis hierhin herausgestellten Merkmale statutarischer göttlicher Gesetze dürfte einsichtig werden, warum über historische Glaubenslehren, die wesentlich durch diese Gesetzesart charakterisiert sind, wie Kant sagt, der Streit unvermeidlich ist (vgl. AA VI 115). Unvermeidlich ist er nicht erst dann, wenn mehrere dieser Glaubensarten und ihre jeweiligen statutarischen Gesetze miteinander konkurrieren, sondern eben aus dem Grund der Eigentümlichkeit der Gesetzesart als solcher. Diese ist einerseits unter dem Gesichtspunkt ihrer aus Vernunft nicht zu entwickeln möglichen Empirizität gekennzeichnet durch Zufälligkeit, mangelnde Allgemeinheit und Willkür der Setzung, andererseits aber aufgrund der vermeinten Göttlichkeit ihres Ursprungs durch einen universellen Geltungsanspruch und trägt so als partikulares Allgemeines den Widerspruch in sich. Während nun der soeben angesprochene Streit ein Streit zwischen denjenigen ist, die nur rationale Geltungsansprüche anerkennen, und denjenigen, die sich auch Verbindlichkeiten unterwerfen, welche bloß auf Autorität beruhen, sind verschiedene faktische Szenarien denkbar und auch in der Tat zu beobachten, in denen die letzteren untereinander in Streit geraten. Innerhalb einer Glaubensart, deren Anhänger sich auf die-
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selbe ursprüngliche Offenbarung und auf dieselben für sie heiligen Texte berufen, ist es gewöhnlich so, dass gewisse Unbestimmtheiten in der sprachlichen Fixierung der göttlichen Anweisungen und also die Interpretationsbedürftigkeit dieser Texte zu verschiedenen Ausdeutungen führen, von denen naturgemäß jede den auf Gott zurückgeführten absoluten Geltungsanspruch erhebt. Es entstehen so die von Kant beklagten Sektenverschiedenheiten. Zudem vermehren sich gewöhnlich in der kirchlichen Tradition einer Glaubensart die statutarischen Regeln, die als Spezifikationen oder Derivate eine mindestens indirekte Verankerung in der ursprünglichen göttlichen Gesetzgebung beanspruchen. Mit der Vermehrung der statutarischen Regeln vermehren sich selbstredend auch die möglichen Gegenstände für Konflikte. Auch werden gewöhnlich die Stätten der ursprünglichen heiligen Ereignisse als besonders zu verehrende und als unter besonderen Schutz zu stellende ausgezeichnet, weshalb denn auch der Kampf um ihren Besitz zu den durchgängigen Merkmalen der Religionsstreitigkeiten gehört. Die Potenzierung der Konflikte ist ersichtlich vorgezeichnet, wenn es eine Mehrzahl von historischen Glaubensarten gibt, eine Mehrzahl von vermeinten göttlichen Selbstmitteilungen, und also auch eine Mehrzahl statutarischer Gesetzgebungssysteme. Abgesehen davon, dass sich damit jeweils intern die erwähnten Sektenverschiedenheiten vermehren, ist im äußeren Verhältnis jede hinzukommende Glaubensart für eine bestehende insofern provokativ, als sie ihr mindestens die Singularität und Exklusivität der ursprünglichen Gotteserfahrung bestreitet, wenn nicht darüberhinaus, dass es sich überhaupt um eine solche gehandelt hat. Letzteres ist sogar unvermeidlich, wenn die jeweiligen statutarischen Gesetzgebungen in einen inhaltlichen Widerspruch geraten, und sei es nur hinsichtlich des zur Gottesverehrung eingesetzten Tages. Denn es ist dann ausgeschlossen, dass in beiden Fällen derselbe Gott gesprochen haben kann. Zur Unvermeidbarkeit des Streits kommt erschwerend hinzu, dass ein solcher auch nie wird entschieden werden können. Als ein Streit um Möglichkeit, Geltung oder Konsistenz von heteronomen Gesetzgebungen, zu deren jeweiligen als göttlich vermeinten Ursprüngen die Vernunft der Streitenden keinen Zugang hat und die dem Inhalt nach etwas nicht durch Vernunft selbst Gebotenes vorschreiben, kann er nicht mit der Aussicht auf die Einhelligkeit der Meinungen geführt werden. Solche Einhelligkeit wäre nur zu erzielen möglich, wenn eben gerade Vernunft den gemeinsamen Maßstab böte, an dem die Rationalität und also die Allgemeinverbindlichkeit der Gesetze gemessen werden könnte, wenn es sich also um Gesetze handelte, die mit ihrer eigenen Gesetzgebung koinzidierten. Das wird der Fall sein in der hier angesteuerten unsichtbaren Kirche, in der die autonome moralische Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft hinzu-
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kommend auch noch als göttliche Gesetzgebung betrachtet wird. Wo aber Gesetze strittig sind, die ihrem Ursprung und ihrem partikularen Inhalt nach außervernünftig sind, die aber gleichwohl aufgrund des vermeinten göttlichen Ursprungs absolute Geltung beanspruchen, da ist die Überwindung der Entgegensetzung auf keine einsichtige Weise möglich. Statutarische göttliche Gesetzgebung ist auch, und zwar schon ihrem Begriff nach, keiner Reform fähig. Der Begriff dieser Gesetzesart wäre nämlich aufgehoben, wenn Menschen korrigierende Eingriffe vornähmen, etwa um Konsistenz im System der fraglichen Gesetze herbeizuführen. Etwaige Modifikationen der Gesetze dieser Gesetzesart müssten wiederum auf faktische Setzungen eines sich offenbarenden Gottes zurückgehen, dessen Selbstmitteilungen jedoch, ihre Vernehmbarkeit einmal unterstellt, durch Menschen nicht zu antizipieren sind, so dass für diese also nur eine rein passive Rolle bliebe, künftige Offenbarungen zu erwarten. Unter den skizzierten Bedingungen der Unvermeidbarkeit und zugleich der rationalen Unentscheidbarkeit des Streits ist die naheliegende Konsequenz, dass die Beteiligten in ihrer intellektuellen Hilflosigkeit den Streit durch Machtspruch und bei ausbleibender Unterwerfung der Gegner auf gewaltsame Art bis zu deren Vernichtung, damit der Unglaube oder der Irrglaube nicht mehr zu Gehör kommen kann, zu beenden suchen. Da alle Beteiligten in dem Selbstverständnis stehen, eine Sache höchsten, nicht zu steigernden Interesses zu vertreten, d.h. nicht weniger als die Angelegenheit Gottes, ist auch erklärlich, warum ihr Kampf besonders hitzig, also auf besondere Weise affektiv aufgeladen ist. Verglichen mit Verstößen etwa gegen menschliche Rechtssetzungen scheinen solche gegen göttliche Erlasse einen besonderen Grad von Verwerflichkeit anzuzeigen. Bei Kant kommen diese den historischen Glaubensarten nicht zufälligen Eigenarten wie folgt zur Sprache: Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die einige allgemeine ausgibt (ob sie zwar auf einen besondern Offenbarungsglauben gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein U n g l ä ub i g e r genannt und von ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Theil (im Nichtwesentlichen) davon abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden. Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein Ketzer und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch […] ausgestoßen, und allen Höllengöttern übergeben (AA VI 108f.).
Es ist nach all dem nicht verwunderlich, wenn Kant befindet, es sei „wenig Hoffnung vorhanden“, eine „Glaubenseinheit […] in einer sichtbaren
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Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen“ (AA VI 123 Anm.).1 Glaubenseinheit bewirken könnte dagegen eine „unsichtbare Kirche“, deren wesentliches Merkmal es nach Kant sein müsste, von der „moralischen Gesetzgebung“ (AA VI 101) beherrscht zu sein und in keiner Weise
_____________ 1 Jürgen Habermas (Habermas 2004) bewertet im expliziten Widerspruch gegen Kant die Pluralität religiöser Gemeinschaften nicht nur positiv, sondern er erklärt diese sogar zur notwendigen Bedingung für die „Schubkraft“ der universellen Vernunftmoral, deren Verhältnis zu den „vielfältigen Kontexte[n] von Weltbildern und Lebensweisen“ er metaphorisch als das der „Einbettung“ bezeichnet (Habermas 2004, 158). Zwar erkennt er auch, dass in diese Vielfalt „konkurrierende Zwecke eingeschrieben sind“ und „Dissens“ zu erwarten ist, doch müsse dieser „nicht zur stummen Gegnerschaft führen und Gewalt ausbrüten“, wenn er nur „in öffentlichen Diskursen zur Sprache gebracht“ werde (Habermas 2004, 158). Dabei könne die Philosophie durch ihre Begriffsarbeit, „in der Rolle eines Übersetzers, moralische, rechtliche und politische Eintracht nur fördern, wenn sie in der legitimen Vielfalt der substantiellen Lebensentwürfe von Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen aufklärend“ wirke (Habermas 2004, 158). Angesichts der im Ausgang von Kant herausgestellten Eigenart religiös fundierter Geltungsansprüche muss Habermas’ Konfliktlösungsstrategie wohl als verharmlosend und als vorschnell harmonisierend bewertet werden, insgesamt als den strukturellen Widerstreit religiöser Pluralität verkennend. Wo Weltbilder und Lebensweisen auf historische Art religiös fundiert sind, werden sie alle auf verschiedene Ursprünge zurückgeführt, mit denen jeweils der Anspruch verbunden ist, dass mit zufällig Faktischem, nämlich mit bestimmten in Raum und Zeit situierten Erfahrungen, doch absolute Geltungsansprüche verbunden werden können, weil nichts Geringeres als göttliche Mitteilung erfahren worden sein will. Solchen vermeinten religiösen Erfahrungen, die ihrem Wesen nach dogmatisch autoritativ sind, steht eine sich selbstkritisch in den Grenzen ihres restringierten Erfahrungsbegriffs haltende Vernunft verständnislos gegenüber, so dass sie sich also auch nicht als Übersetzerin für dieses Unverstandene eignet, das für sie nicht als Erfahrung gelten kann. Entsprechend ist die befriedende Wirkung öffentlicher Diskurse im Fall konkurrierender religiöser Weltbilder und Lebensweisen in Zweifel zu ziehen, denn dazu wäre mehr verlangt als Kommunikation im Sinne eines bloßen Zur-SpracheBringens; verlangt wäre die Erfüllung des strengeren Maßstabs der kantischen allgemeinen Mitteilbarkeit, damit aber die Anerkennung der Priorität einer universellen Vernunft, der zugestanden würde, partikulare Ansprüche zu relativieren. Das aber verlangte von den religiös Inspirierten die Unmöglichkeit, die Gedanken der Fallibilität und der Relativität in ihr Selbstverständnis aufzunehmen, womit sie den Sonderstatus ihrer vermeinten religiösen Erfahrungen, letztlich also diese Erfahrungen selbst, in Frage stellen müssten. Die von Habermas potentiell konfliktfrei gedachte religiöse Pluralität widerspricht demnach gewissen notwendigen Merkmalen des Begriffs einer religiösen Erfahrung; deshalb kann nach Kant auf einen religiösen Friedenszustand nicht im Verhältnis sichtbarer Kirchen, sondern nur unter der Herrschaft der einen einzigen unsichtbaren Kirche der moralischen Vernunftreligion gehofft werden.
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von der bisher thematisierten statutarischen. Indem diese Kirche als „Vereinigung unter keinen andern, als moralischen Triebfedern“ zu denken ist, „[g]ereinigt vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei“ (ebd.), wäre „alles“, was sie verlangte, „die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel“ (AA VI 103), d.h. zur Erfüllung seiner „Pflicht gegen Menschen (sich selbst und andere)“ (ebd.). Zum von Kant genannten und von ihm im Interesse der Moral abzulegen verlangten Aberglauben gehört für ihn ausdrücklich der Glaube, dass ein partikularer „Geschichtsglaube Pflicht sei“ (AA VII 65). Ersichtlich ist es demgegenüber die Universalität reiner praktischer Vernunft, die der unsichtbaren Kirche die „Qualification zur Allgemeinheit“ bzw. die „Gültigkeit für jedermann“ (AA VI 157) verschaffen kann. „Unsichtbar“ müsste diese Kirche deshalb genannt werden, weil zum einen die moralische Gesetzgebung ihrem Ursprung nach rein intellektuell ist, weil also keine inneren oder äußeren Erfahrungen, wie in den historischen Glaubensarten beansprucht, sie etablierten, weil sie zum zweiten, die Handlungsmotivationen betreffend, auf inneren Gesinnungen beruhte, die nicht veranschaulicht werden können, und weil schließlich an äußeren Handlungen, und seien sie innerlich auch moralisch motiviert, der moralische Charakter doch nie auf anschauliche Weise zum Ausdruck kommen kann. Wer nach der angegebenen Gesetzgebung der unsichtbaren Kirche handelte, verhielte sich nicht anders als jeder, der allein den rein moralischen Gesetzen folgte, d.h. hier unter völliger Abstraktion von Religionsbegriffen, die sich allerdings vermittels einer hinzukommenden Reflexion auf die Morallehre an diese anschließen lassen. Dass eine solche Abstraktion von Religionsbegriffen der Moral nicht schadet, diese also weder für Moralbegründung noch für moralische Praxis notwendig sind, wird von Kant gleich zu Beginn seiner Religionsschrift klargestellt, die dann im weiteren Verlauf doch auch legitimiert, dass Moral sich zusätzlich als integriert in das Konzept einer Vernunftreligion begreifen kann, die hier mit der unsichtbaren Kirche thematisch ist. Die zuvor getroffene und durch das Spätere nicht revidierte Klarstellung aber lautet: „Moral […] bedarf […] zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug“ (AA VI 3). Was hier besonders zu betonen ist, ist die Ununterscheidbarkeit von Handlungen, die einerseits nur in der reinen Morallehre oder andererseits noch zusätzlich in der Vernunftreligion der unsichtbaren Kirche gründen, denn ihre Gesetzgebungen sind, weil Vernunftreligion rein moralische Religion ist, vollkommen inhaltsgleich. Unter der Herrschaft der unsichtbaren Kirche werden also aufgrund der Identität der Gesetze keinerlei
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Phänomene erzeugt, die als spezifisch religiöse gelten könnten, denn auch in ihr geht es nur um die Pflichterfüllung „gegen Menschen (sich selbst und andere)“ (AA VI 103). Die Phänomene aber, die landläufig als speziell religiöse betrachtet werden und in der Tat in die Augen fallen, nämlich die auf statutarischer Gesetzgebung beruhenden, liegen ganz außerhalb der Grenzen der Vernunftreligion und sind nach deren Maßstäben, nämlich den rein moralischen, gar keine Erscheinungen wahrer Religion. Dazu gehört das, was Kant gerne herabwürdigend die „Observanzen“ (AA VI 84 u.ö.) nennt, die auf bloßen Setzungen beruhenden Bräuche, Kulthandlungen, Zeremonien, Gottesdienste, diese verstanden als vermeinte Pflichterfüllungen nur Gott gegenüber, und eben nicht gegenüber Menschen. Einer der aus der Religionsschrift zu entnehmenden (vgl. AA VI 103f.) Gründe für Kants Herabwürdigung von nur an Gott allein adressierten vermeinten Pflichterfüllungshandlungen ist zweifellos der, dass ein Gott, der ein Wohlgefallen an solchen Handlungen hätte, anthropomorphistisch gedacht und kaum gegen den Vorwurf der Eitelkeit zu verteidigen wäre. Das Vorkommen all dieser quasi-religiösen Phänomene bietet aus dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion keine Indizien für eine positive Beurteilung des Religionszustandes einer Gesellschaft. Entsprechend bedeuten aus dem Gesichtspunkt der unsichtbaren Kirche, deren einziges Anliegen die moralische Praxis ist, Reduktion oder gar Abwesenheit dieser Phänomene – konkret gesprochen etwa: Kirchenaustritte, schlecht besuchte Gottesdienste – nicht, dass daraus eine negative Beurteilung ihres Religionszustandes abzuleiten wäre. Obwohl darin auch noch keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine positive Beurteilung liegen, denn Indifferentismus oder Atheismus liegen noch im Bereich des Möglichen, ist die Tendenz zur Unsichtbarkeit doch mindestens notwendige Bedingung dafür, einen Religionszustand zu erzielen, der durch kein konfliktträchtiges statutarisches Beiwerk verunreinigt ist, welches Beiwerk von den historischen Glaubensarten nicht selten als Hauptsache behandelt wird. Kant kommt also zu dem schon erwähnten Ergebnis, dass die moralische Anlage in uns, die „die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist“, verlangt, „daß diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, […] allmählig losgemacht werde […]“ (AA VI 121). Für die Vertreter der Kirchenglaubensarten liegt darin zweifellos die Zumutung, in ihr Selbstverständnis aufzunehmen, sich überflüssig zu machen, doch Kant hält diese in aufgeklärten Religionsbegriffen begründete Zumutung für erforderlich und rät unter der Bedingung, dass die Veränderung sukzessive als Reform geschieht, „auf das Geschrei der Alarmisten (das Reich ist in Gefahr) nicht zu achten“ (AA VII 65).
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Neben der bis hierher betonten Übereinstimmung zwischen der reinen Morallehre und der in der Konsequenz der Vernunftreligion liegenden Konzeption der unsichtbaren Kirche, die die Identität der durch sie gestellten praktischen Anforderungen betraf, gibt es doch auch einen Unterschied zwischen beiden. In der reinen Morallehre wird ein moralisches Gesetz allein als Ausdruck der Autonomie der reinen praktischen Vernunft betrachtet; nach Begriffen der Vernunftreligion wird nun dasselbe Gesetz „auch“ – das heißt: hinzukommend, zusätzlich – „als göttliches Gebot angesehen“ (AA VI 113). Die Vorstellung des zusätzlichen Gesetzgebers widerspricht dabei dem Autonomiegedanken deshalb nicht, weil nach Kant ein eindeutiges Bedingungsverhältnis zwischen den beiden Gesetzgebungen besteht, in dem die Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft Priorität hat, d.h. in dem sie Bedingung dafür ist, eine von außen an uns ergehende moralische Gesetzgebung überhaupt als eine solche zu vernehmen. Entsprechend heißt es hinsichtlich des hermeneutischen Problems in Bezug auf eine von außen an uns herangetragene moralische Gesetzgebung im Streit der Fakultäten: […] der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, so fern sie rein-moralisch und hiemit untrüglich sind, erkannt werden kann (AA VII 48).
Damit reduziert sich der Unterschied zwischen der reinen Morallehre und dem, was Vernunftreligion impliziert, auf das Minimum des Unterschieds zwischen einer inneren und einer äußeren moralischen Gesetzgebung, wobei das Denken der äußeren Gesetzgebung ganz von der Tatsache der inneren Gesetzgebung abhängig ist. Bei Kant selbst heißt es dazu in der Metaphysik der Sitten: Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei ‚der Inbegriff aller Pflichten a l s […] göttlicher Gebote‘, gehört zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird […] (AA VI 487).
Im gleichen Zusammenhang gibt Kant auch noch den Grund dafür an, warum Vernunft, die ursprüngliche Gesetzgeberin, sich auch noch die Idee vom äußeren moralischen Gesetzgeber macht. Es heißt: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken.“ (AA VI 487). Damit ist als Grund für die Veräußerlichung der moralischen Gesetzgebung vermittels der – durch Vernunft selbst gemachten – Idee Gottes eine Veranschaulichungsintention dieser Vernunft angegeben. Eine solche Intention kann aber nach der sonstigen
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zentralen Charakterisierung der moralischen Gesetzgebung, nämlich als rein intellektuelle innere Selbstverpflichtung, nur als Ausdruck einer Schwäche der Vernunft betrachtet werden. Diese Schwäche, das per se Innerliche und Intellektuelle, d.h. den „Gott in uns“, der der originäre moralische Gesetzgeber ist, zu veräußerlichen, ist aber gleichwohl unter Beachtung der Priorität der inneren Gesetzgebung zu vernachlässigen, denn sie ist aufgrund der völligen Identität der moralischen Gesetze selbst ohne praktische Relevanz. Hinsichtlich der Vorstellung einer statutarischen äußeren Gesetzgebung Gottes folgt allerdings aus dem Gesagten, dass eine Koinzidenz der Gesetze ausgeschlossen ist. Denn wenn wir, wie es hieß, nur den Gott verstehen, der durch „unsere eigene Vernunft mit uns redet“ (AA VII 48), dann sind die statutarischen Gesetze, jedenfalls was ihre Göttlichkeit und ihren unbedingten Anspruch angeht, für uns völlig unverständlich und können also schon aus diesem Grund von uns nicht verinnerlicht und als unsere eigenen Gesetze angesehen werden. Der Streit über das Statutarische in Kirchenglaubensarten ist demnach ein Streit über unverständliche Setzungen, von denen weder die der eigenen noch die der anderen Partei innerlich vollzogen und als legitimiert angesehen werden können. Trotz dieses Befunds gesteht Kant, wie erwähnt, den wesentlich durch statutarische Gesetzgebung charakterisierten historischen Glaubensarten eine Rolle als „Leitmittel“ (AA VI 115), als „Vehikel“ (AA VI 118), auf dem Weg zur unsichtbaren Kirche zu. Seine Aussagen dazu sind allerdings schwankend. Affirmativ heißt es zwar an einer Stelle, dass „ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion afficiert“ und dass dieser „als Kirchenglaube ein Princip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich continuirlich zu nähern“ (AA VI 115), doch die Art dieser Affektion und das genannte Prinzip finden sich nicht erläutert. An anderer Stelle setzt Kant sich in Gedanken in die Zeit, in der das „Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, […] entbehrlich“ ist, gesteht rückblickend aber zu, dass all das „zu seiner Zeit gute Dienste that“ (AA VI 121). Eine Erläuterung der guten Dienste fehlt allerdings auch hier. Mit geringerer Anerkennung blickt er an einer dritten Stelle zurück, an der es heißt, dass die unsichtbare Kirche „durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war“ (AA VI 122). Doch auch für das verbleibende minimal Positive findet sich keine Begründung. Eine solche dürfte auch schwerlich zu finden sein, denn wenn, wie es hieß, eine statutarische Gesetzgebung „nicht als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden“ (AA VI 104) kann, dann ist nicht einzusehen, was ihr auch nur übergangsweise für eine positive Funktion zur Herrschaft einer Gesetzgebung sollte zukommen können,
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die eben gerade als den Menschen überhaupt verbindend angesehen werden muss. Etwas überzeugender ist eine Art geschichtsteleologisches Argument, das die Entgegensetzung des partikular Statutarischen und des universell Rationalen beachtet. Es deutet die „Hemmungen“, die der sich im Geschichtsprozess entwickelnden Vernunftreligion zustoßen mögen, als nützlich dafür, „die Vereinigung der Gemüther zum Guten (was, nachdem sie es einmal ins Auge gefasst haben, ihre Gedanken nie verläßt) noch desto inniglicher zu machen“ (AA VI 123). Etwas originär Konstruktives liegt in solchen Hemmungen als Mittel zum verstärkten Widerstand gegen sie allerdings nicht. Kant bescheinigt den Menschen aufgrund eines „Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher Dinge“ (AA VI 103), gemeint ist die intelligible moralische Welt, sie seien „nicht leicht zu überzeugen: daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralischen Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert“ (ebd.); er fordert also nicht auch noch die Sichtbarkeit von für spezifisch religiös gehaltenen Erscheinungen. Bis zur Lösung der schweren Überzeugungsaufgabe scheint mehr ein vorläufiges Hinnehmen der sichtbaren Kirche und die vorübergehende Anerkennung einer noch andauernden Schwäche in der Religionsentwicklung der Gattung dem Befund zu entsprechen, als dass mit einer positiven Rolle der historischen Glaubensarten im Übergang zur unsichtbaren Kirche, der nicht weniger als der Übergang zu deren Auflösung sein müsste, gerechnet werden könnte. Zu Kants Konzept der unsichtbaren Kirche bleibt nun noch der wichtige Punkt zu ergänzen, dass sie, obwohl der angegebene Grund, sie unsichtbar zu nennen, d.i. die Unsichtbarkeit des Moralischen, in Geltung bleibt, doch als real wirksame geschichtliche Kraft gedacht ist und als solche nicht schlechthin unsichtbar wird bleiben können. Zu ihrer Konstitution reicht die individuell und rein innerlich bleibende Orientierung an der Vernunftreligion allein nicht aus. Wenn sie denn überhaupt Kirche sein soll, bedarf sie der tatsächlichen Vereinigung der Menschen, d.h. sie muss öffentlich werden. „[D]urch Vernunftreligion jedes Einzelnen“ existiert „noch keine Kirche als allgemeine Vereinigung“, noch keine „omnitudo collectiva“ (AA VI 157). Das moralische gemeine Wesen bedarf „einer öffentlichen Verpflichtung, einer gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form […]“ (AA VI 105). Es bedarf also der konkreten historischen Situierung und Institutionalisierung. Als derart institutionalisiertes Gemeinwesen bedarf es – schon um seiner Selbsterhaltung unter konkreten historischen Bedingungen willen (vgl. AA VI 157) – auch gewisser statutarischer Regeln, die als solche den Charakter der Zufälligkeit haben und also nicht aus Vernunft zu deduzieren sind. Da aber die Menschen diese statutarische Form „selbst ausführen“, haben wir „nicht
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Ursache, […] die Gesetze geradezu für göttliche statutarische zu halten“ (AA VI 105). Die Art der Sichtbarkeit der unsichtbaren Kirche, wenn dieser paradoxe Ausdruck erlaubt sein mag, ist also von vornherein keine Sichtbarkeit, die als Ausfluss göttlicher Setzung bzw. als Versinnlichung von Göttlichem verstanden werden will. Sie ist deshalb auch der Reform fähig, ohne dass dadurch die Besorgnis der Verletzung göttlicher Gebote entstehen müsste. Zu ihrer auf das menschliche Maß reduzierten Sichtbarkeit gehört nach Kant übrigens nicht das „Übel einer hierarchischen Verfassung“ (AA VI 79) mit einem Beamtentum (vgl. AA VI 157), dem durch fein ausdifferenzierte Kennzeichnungen die verschiedenen Grade der Gottesnähe anzusehen sein sollen. In der institutionalisierten unsichtbaren Kirche gibt es nach Kant zwar auch Obere, doch sind diese „Obern“ nur „Lehrer“ – Lehrer der Moral selbstredend – und „Seelenhirten“ (AA VI 101), wobei zur Art ihrer Lehre zu sagen ist, dass diese nicht fremde Mitteilung, sondern nur Veranlassung sein kann, die moralischen Begriffe und Grundsätze aus der eigenen Vernunft zu entwickeln. Wenn nun die Frage ist, in welchem Religionszustand, gemessen an den entwickelten aufgeklärten Maßstäben Kants, sich unsere Zeit befindet, so kann der Befund nur ernüchternd ausfallen. Die Welt wird nach wie vor und sogar wieder verstärkt mit Blut bespritzt, das aufgrund von Streitigkeiten innerhalb von Kirchenglaubensarten, zwischen verschiedenen Kirchenglaubensarten oder zwischen Kirchenglaubensarten und vermeintlich Ungläubigen fließt. Es ist nicht zu erkennen, dass eine der partikularen historischen Glaubensarten den absoluten Anspruch aufgegeben hätte, die einzig wahre zu sein. Verlangt wäre allerdings noch mehr als dies, nämlich das Ziel der letztlichen Selbstaufhebung um der Universalität der moralischpraktischen Vernunft willen ins Selbstverständnis aufzunehmen. Stattdessen werden aber nach wie vor die kleinlichsten statutarischen Vorschriften, die für die Vernunft zufällig und willkürlich sind, für wesentliche Religionsstücke ausgegeben. Der maßlose Bedeutsamkeitsüberschuss, mit dem die Stätten der ursprünglichen religionsstiftenden Ereignisse und Erfahrungen versehen werden, der bei konkurrierenden Inanspruchnahmen Übereinkünfte ausgeschlossen erscheinen lässt, wurde bereits erwähnt. Nach Kant dürften jene vermeinten originären Erfahrungen übernatürlicher Art gar nicht Erfahrungen genannt werden. Wo Religion – anders als im Fall der moralischen Vernunftreligion – auf historisch Faktisches gegründet wird, da gilt der Einspruch des alle empirische Erkenntnis restringierenden Erfahrungsbegriffs, d.h. da gelten die Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft, die die theoretische Erkenntnis des Übernatürlichen sowohl mit Bezug auf den äußeren als auch mit Bezug auf den inne-
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ren Sinn ausschloss. Nach kritischen Maßstäben müsste speziell dem „Illuminatism innerer Offenbarungen“ (AA VII 46), für den es, wie gehört, keinen öffentlichen Probierstein der Wahrheit gibt, der sich also gegen Kritik immunisiert, mit größter Skepsis begegnet werden, was dann besonders wichtig wird, wenn etwa Politiker, deren Handeln eben gerade der öffentlichen Kontrolle bedarf, ihr Sendungsbewusstsein aus einer solchen vermeinten Allianz mit Gott herleiten und auf diese Weise sogar Kriege legitimieren. Zum heutigen Religionszustand gehören auch starke beharrende oder restaurative Kräfte im Punkt einer buchstäblichen Auslegung der jeweiligen Heiligen Schriften, d.h. der Hauptquellen des Statutarischen in den Kirchenglaubensarten. Verlangt wäre demgegenüber das, wozu Kant in seiner kritischen „hermeneutica sacra“ im Streit der Fakultäten die Maßstäbe liefert, nämlich eine kompromisslose Unterwerfung dieser Schriften unter die reine praktische Vernunft als ihre Auslegerin, wo nötig gegen ihren Wortlaut, wodurch die Bedeutung dieser Schriften sich auf ihren rein moralischen Gehalt reduzierte, wenn denn vorhanden. Mord und Angriffskrieg auf göttliche Anweisung zurückzuführen, wäre damit unmöglich gemacht. Angesichts der hier von Kant her entwickelten Hauptergebnisse, dass die Offenbarungsreligionen wesentlich durch ihre statutarischen Gesetze charakterisiert sind, dass diese für Vernunft prinzipiell unverständlich sind, dass der Streit darüber unvermeidlich und zugleich aber auch nicht entscheidbar ist, ist die weit verbreitete Nachsicht mit diesen Glaubensarten erstaunlich. Zwar werden die religiös motivierten Gewalttätigkeiten unserer Zeit erkannt und beklagt, doch werden sie meist für außerwesentliche Auswüchse gehalten, für Ausdruck eines bloßen falschen Verständnisses der historischen Glaubensarten. Der Konflikt, der ihnen immanent ist, wird gerne für akzidentell und vorübergehend angesehen. Bezogen auf dieses Außerwesentliche wird durchaus auch der Hinweis auf eine noch zu leistende Aufklärung gegeben. Der Begriff der Aufklärung bleibt dabei allerdings meist vage. Würde er auf kantische Weise spezifiziert, würde deutlich werden, dass Aufklärung provokativ für die historischen Glaubensarten als solche bleibt. Würden diese, wie durch Kants Entwurf der unsichtbaren Kirche vorgezeichnet, „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, […] losgemacht“ (AA VI 121), verbliebe von ihnen – wie gesagt: falls zuvor enthalten – bloß reine moralische Vernunftreligion. Das heißt, dass sie ihrer konfliktträchtigen Spezifik beraubt und als historische Glaubensarten aufgehoben wären. Aufklärung in diesem Sinne ist weit davon entfernt, bereits geleistet zu sein, bleibt also zukünftige Aufgabe.
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Literatur Habermas, Jürgen (2004): „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“, in: Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, hrsg. v. Herta Nagl-Docekal u. Rudolf Langthaler, Berlin 2004, 141-160.
Kontexte, Kritik und Interpretationen
Toleranz, Glaube und Vernunft. Bayle und Kant im Vergleich Rainer Forst Kaum ein Thema dürfte im Rahmen der allgemeinen Frage nach der Zukunft der europäischen Aufklärung eine so hohe Aktualität haben wie das der Toleranz bzw. des Verhältnisses von Glaube und Vernunft. Denn heutzutage vergeht kaum eine Woche, in der man sich nicht – ausgelöst durch Reden des Papstes, Karikaturen in Zeitungen oder Diskussionen um den Bau von Moscheen – einer Zeitreise gleich zurückversetzt sieht in die dunklen Zeiten religiöser Auseinandersetzungen und zugleich der Versuche der Aufklärer, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Wenn Voltaire ausruft: „Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals abschneidet“1, oder wenn wir in den „Toleranzpatenten“ des österreichischen Kaisers Joseph II. die Bestimmungen darüber lesen, dass die „accatholischen“, geduldeten Konfessionen der Lutheraner, Reformierten und Griechisch-Orthodoxen lediglich Kirchen ohne Geläut, Glocken, Türme oder Eingänge von der Straße haben dürfen2, so sehen wir, dass das Nachdenken über die Zukunft der Aufklärung nicht davon ausgehen kann, dass deren Vergangenheit vergangen und ihre Aufgabe vollendet ist. Ebenso müssen wir jedoch feststellen, dass es bezüglich der Frage, was Toleranz heißt, wie sie zu begründen ist und was es bedeutet, von einem „vernünftigen Glauben“ zu sprechen, keine eindeutige Position „der Aufklärung“ gibt. Das diesbezügliche Spektrum reicht von materialistischen radikalen Religionskritikern über Befürworter des Aufgehens aller „alten“ Religionen in einer Vernunft- oder Naturreligion bis hin zu solchen Denkern, die in den traditionellen Religionen, sofern aufgeklärt, ein produktives Rationalitätspotenzial sahen und, wie Mendelssohn etwa, das Ansinnen einer abstrakten Vernunftreligion als beleidigend – und als ver-
_____________ 1 Voltaire 1967, 68. 2 Siehe dazu Forst 2003, 441.
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packtes Christentum – zurückwiesen. Das Verhältnis der Aufklärung zum Thema Toleranz, Glaube und Vernunft ist ein großes und kontroverses Feld, das ich im Folgenden denn auch nur ausschnittweise behandeln kann.3 Anhand eines Vergleichs von Pierre Bayle, dem originellsten und radikalsten Toleranzdenker des ausgehenden 17. Jahrhunderts, und Immanuel Kant, der die Aufklärung im späten 18. Jahrhundert geprägt hat, möchte ich zwei Weisen aufzeigen, Toleranz zu begründen, und zwar auf den drei Gebieten der Moral, der Religion und der Politik. Der Vergleich wird zeigen, dass Bayle in Bezug auf die Idee einer autonomen Moral ein Vorläufer Kants ist, während er in Bezug auf die Politik dem Absolutismus weit näher steht; hinsichtlich der Idee einer vernünftigen Religion jedoch ist er Kants Vorstellung einer moralischen Vernunftreligion nicht nur zeitlich einige Schritte voraus. Hier zeigt sich eine für die Zukunft der Aufklärung entscheidende Alternative in der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube.
1. Toleranz: Konzept und Konzeptionen Um die Problematik, auf die hin ich Bayle und Kant vergleiche, systematisch deutlich zu machen, seien einige Bemerkungen zum Begriff der Toleranz vorausgeschickt. Dieser besteht aus den folgenden drei Komponenten: (A) Die erste ist die sogenannte Ablehnungs-Komponente. Sie besagt, dass die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken als falsch angesehen oder als schlecht verurteilt werden. Ohne diese Komponente lägen entweder Indifferenz oder Bejahung vor, nicht aber Toleranz. (B) Zweitens gehört zur Toleranz eine positive Akzeptanz-Komponente, die Gründe dafür nennt, wieso es richtig oder gar geboten ist, die falschen oder schlechten Überzeugungen bzw. Praktiken zu tolerieren. Dabei werden die Ablehnungsgründe nicht aufgehoben, sondern nur jeweils aufgewogen und übertrumpft. (C) Drittens schließlich gehört eine Zurückweisungs-Komponente hinzu, die Gründe für die Bestimmung der vieldiskutierten Grenzen der Toleranz enthält. Hier überwiegt eine eindeutig negative Bewertung, die ein Ende der Toleranz und ggf. ein Eingreifen fordert. Diese knappe Analyse zeigt, dass wir es mit drei Sorten – bzw. drei Funktionen – von Gründen zu tun haben, so dass für die Ausübung der
_____________ 3 Dabei beziehe ich mich stark auf die umfassendere Darstellung in meinem Buch Toleranz im Konflikt (Forst 2003), besonders § 18 (Bayle) und § 21 (Kant).
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Toleranz die Aufgabe der rechten Verknüpfung dieser Gründe vorgegeben ist. Zudem ist zu sehen, dass der Begriff der Toleranz ein normativ abhängiger Begriff ist, der substanzieller normativer Begründung bedarf – aus Ressourcen, die er selbst nicht enthält. Diese müssen auf die Frage nach „guten“ Gründen der Ablehnung, der Akzeptanz sowie der Zurückweisung überzeugende Antworten liefern können. Wichtig ist ferner, dass sich ausgehend von dem vorgestellten Kernkonzept der Toleranz verschiedene Konzeptionen von Toleranz unterscheiden lassen, von denen ich die zwei wichtigsten kurz skizziere.4 Das erste, klassische Toleranzverständnis nenne ich Erlaubnis-Konzeption. Eine Autorität gibt danach einer oder mehreren Minderheiten die Erlaubnis, ihren als „abweichend“ gekennzeichneten Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie nicht die Vorherrschaft der Autorität in Frage stellen. Das Anderssein der Minderheiten soll „Privatsache“ bleiben, innerhalb eines eng umgrenzten und klar definierten Rahmens, den die machthabende Seite allein festlegt; die Toleranz wird gewährt und kann jederzeit zurückgezogen werden, wenn die Minderheiten bestimmte Bedingungen verletzen. Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung liegen in der Hand der Autorität, die unter keinem prinzipiellen, institutionalisierten Rechtfertigungszwang steht. Diese Toleranzkonzeption findet sich in den klassischen Toleranzgesetzgebungen, etwa im Edikt von Nantes (1598), dessen Sprache eindeutig ist: Um keinen Anlaß zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen Unseren Untertanen bestehen zu lassen, haben Wir erlaubt und erlauben Wir den Anhängern der sogenannten reformierten Religion, in allen Städten und Ortschaften unseres Königreiches […] zu leben und zu wohnen, ohne daß dort nach ihnen gesucht wird oder sie bedrückt und belästigt und gezwungen werden, etwas gegen ihr Gewissen zu tun.5
Diese Art von Toleranz ist in hohem Maße ambivalent. Während sie einerseits verfolgten Minderheiten eine gewisse Sicherheit und bestimmte Freiheiten gewährt, ist sie andererseits eine Fortsetzung der Herrschaft mit anderen Mitteln. Denn die tolerierten Minderheiten müssen ihre Freiheiten mit Gehorsam und Loyalität bezahlen, da sie auf den Schutz der Autorität angewiesen sind, und sie werden als Bürger zweiter Klasse, als normabweichend gekennzeichnet. Diese Toleranz ist es, die Kant vor Augen hat, wenn er in seiner Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“
_____________ 4 Dies sind nicht die einzigen vorfindbaren Konzeptionen der Toleranz, siehe Forst 2003, § 2. 5 Siehe den Text in Herdtle u. Leeb 1987, 69. Die eingangs erwähnten Toleranzpatente von 1781 stellen ein weiteres Beispiel für diese Konzeption dar.
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vom „hochmüthigen Namen der Toleranz“6 spricht. Goethe wird es so ausdrücken: „Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“7 Im Zuge einer langen und konfliktreichen neuzeitlichen Entwicklung hat sich im Unterschied dazu eine zweite, nicht primär vertikale, sondern horizontale Toleranzvorstellung entwickelt, die ich Respekt-Konzeption nenne. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Toleranz eine wechselseitige Haltung von Personen zueinander ist: Sie sind zugleich Tolerierende und Tolerierte. Obwohl sie in ihren Vorstellungen über das Gute und das Seligmachende deutlich voneinander abweichen, erkennen sie einander einen Status als Gleiche zu, der besagt, dass allgemein gültige Normen auf Gründen beruhen müssen, die alle Betroffenen gleichermaßen akzeptieren können. Die „Autorität“, Freiheiten zu „verleihen“, liegt nun nicht mehr bei einem Machtzentrum allein, sondern in einem Prozess der allgemeinen Legitimation, der in Grundsatzfragen ein besonderes Rechtfertigungsniveau vorsieht.
2. Eine autonome Konzeption der Moral Ohne wichtigen Vorläufern wie Castellio, Bodin (dem des Colloquium Heptaplomeres) oder Grotius Unrecht tun zu wollen, ist doch Bayle der erste, der das geeignete moralische Argument für eine konsequente RespektKonzeption auf der gesellschaftlichen Ebene liefert. Dies speist sich im Wesentlichen aus drei Einsichten. Erstens war Bayle – als in Frankreich verfolgter Hugenotte und später auch von seinen Glaubensbrüdern angefeindeter undogmatischer Denker – angesichts der Auswüchse des Aberglaubens und des religiösen Fanatismus in seiner Zeit der Überzeugung, dass die falsch verstandene, im heutigen Sprachgebrauch „fundamentalistische“ Religion im Vergleich zum Atheismus das größere Übel darstelle. Zweitens hatte er durch das Studium der Argumente des späten Augustinus, der die Lehre von einer Pflicht zur Intoleranz zum Zwecke der Rettung des Seelenheils der Verirrten entwickelt hatte, gesehen, dass die beiden einflussreichsten Argumente für Toleranz – nämlich dass das individuelle Gewissen nicht zum rechten Glauben gezwungen werden könne und dürfe – nicht überzeugen können. Wie zu Bayles Zeit auch Jonas Proast gegenüber Locke zeigte, konnte das erste Argument empirisch widerlegt werden – mit Beispielen gelungener Konversionen, denen mehr
_____________ 6 AA VIII 40; WA. 7 Goethe 1981, 507.
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oder weniger direkt „nachgeholfen“ worden war –, während das zweite Argument dann, wenn das Seelenheil eindeutig auf dem Spiele stand, seine Basis verlor. Wer konnte schon tatenlos zusehen, wie ein Verblendeter auf den Abgrund des Verderbens zulief, wo man ihn doch halten konnte?8 Bayle sah drittens, dass eine Toleranzbegründung eine wechselseitige Pflicht zur Toleranz enthalten musste, die unabhängig von spezifischen Glaubenswahrheiten moralisch zu begründen war. Denn anders konnte der ewige Zwist darum, wer im Recht sei und andere im Namen der „wahren Religion“ zwingen durfte, nicht gelöst werden. Eine solche Begründung konnte andererseits aber auch nicht auf Kosten der jeweiligen Überzeugungen gehen, den rechten Glauben zu vertreten. Es musste eine unabhängige moralische Einsicht möglich sein, die das Gebot enthielt, dass es „kindisch“ sei, in religiösen Konflikten stets nur auf die eigene Wahrheit zu pochen, die ja gerade im Streit stehe.9 Mehr noch, es musste eine praktische Vernunft geben, die deutlich machte, dass anders jede Gewalttat als gottgefällig erklärt werden konnte. Dies aber musste Bayle zufolge nicht nur jedem echten Christen als unzulässig erscheinen, sondern jedem klar denkenden Menschen, der von dem lumiere primitive et universelle einer „natürlichen Gerechtigkeit“ erleuchtet sei.10 In seinem wichtigen Werk Commentaire philosophique (1685) führt Bayle diesen Gedanken aus. Das „natürliche Licht“ der Vernunft (raison universelle), das Gott allen Menschen, von ihrem Glauben unabhängig, eingepflanzt hat, offenbart „allgemeinste und unfehlbare“ Prinzipien der Moral. Keine Auslegung der Schrift darf folglich diesen Grundsätzen widersprechen. Im proto-kantischen Sinne formuliert Bayle: Und weil Leidenschaften und Vorurteile nur allzu oft die Ideen der natürlichen Gerechtigkeit verdunkeln, sollte der Mensch, der sie zu erkennen wünscht, sie im Allgemeinen und von allen partikularen Interessen und Gewohnheiten seines Landes abstrahiert betrachten.11
Dann solle man sich fragen, ob eine bestimmte Praxis in einer Gesellschaft allgemein zustimmungsfähig wäre: Ist diese Sache an sich gerecht? Wenn es darum ginge, sie in einem Land einzuführen, wo sie noch nicht existiert und die Freiheit besteht, sie anzunehmen oder nicht, würde man sie dann, nach leidenschaftsloser Prüfung, als so gerecht ansehen, dass sie angenommen zu werden verdient?12
_____________ 8 Vgl. dazu Forst 2003, § 5. 9 Bayle 1965, 359. 10 Bayle 1965, 369. 11 Bayle 1965, 368. 12 Bayle 1965, 368f.
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Mit Hilfe der Argumentation für eine autonome Moral versucht Bayle allen, die für Zwangsbekehrungen eintreten, nachzuweisen, dass sie die moralischen Gebote vollkommen verkehren und aus eindeutigen Verbrechen Tugenden machen. Der Grund dafür sei, dass man sich anmaße, das Recht zu haben, die wahre Religion mit Gewalt durchzusetzen, so dass Gewalt plötzlich „gut“ oder „heilsam“ werde. Dies sei, so Bayle, „die verabscheuungswürdigste Lehre, die man sich je ausgedacht“13 habe, denn mit diesem Argument könne jeder alles in sein Gegenteil wenden. Hier werden die beiden entscheidenden Komponenten von Bayles Toleranzargumentation deutlich, die normative der unabhängigen Moral der Reziprozität und die epistemologische der Nichtbeweisbarkeit des wahren Glaubens: Denn Gewalt bleibe nach „natürlichen“ moralischen Begriffen (gegen dogmatische Verdrehungen) nichts als Gewalt, und der Anspruch, für die unzweifelhaft wahre Religion zu sprechen, sei mit Mitteln der „natürlichen“ Vernunft nicht einlösbar. Nur wenn beide Komponenten zusammengedacht werden, ist Bayles Argumentation vollständig, denn sie führt die Reziprozitätsverletzungen vor, die der Anspruch, im Namen der Wahrheit zwingen zu dürfen, mit sich bringt. So täte etwa der Kaiser von China gut daran, keine Christen in seinem Reich zu dulden, denn diese sähen es ja nur darauf ab, ihren Glauben gewaltsam zu verbreiten; und nirgendwo dürften sich Christen oder andere Religionen gegen Intoleranz beklagen, denn diese sei dann eben das reziproke Grundrecht aller Religionen. Dabei verwendet Bayle stets den übergeordneten normativen Grundsatz, dass man allen anderen eben die Rechte zugestehen muss, die man selbst für sich beansprucht. Bayle sieht klar, inwiefern dieses Reziprozitätsargument voraussetzt, dass der Anspruch, die wahre Religion zu vertreten, unter endlichen Vernunftwesen nicht mit Gründen einzulösen ist, die nicht vernünftigerweise zurückweisbar sind. Am Ende des ersten Teils des Commentaire heißt es daher: Wenn jemand sagte, ‚Es ist sehr wahr, dass Jesus seinen Jüngern befohlen hat zu verfolgen, aber das geht euch nichts an, denn ihr seid Häretiker; nur wir, die wir für die wahre Kirche stehen, können diesen Befehl ausführen‘, so würde [die andere Partei] antworten, dass sie im Prinzip übereinstimme, doch nicht mit seiner Anwendung, denn sie allein habe das Recht zu zwingen, da die Wahrheit auf ihrer Seite sei. […] Wenn man all dies unvoreingenommen prüft, wird man notwendigerweise auf den schönen Grundsatz zurückgeworfen, ‚Ich habe die Wahrheit auf meiner Seite, daher sind meine Gewalttätigkeiten gute Werke; dieser und jener aber irrt, daher ist seine Gewaltausübung strafbar.‘ Man sage mir, wozu all diese Vernünftelei dient. Hilft sie dem Übel ab, das die Verfolger anrichten, oder bringt
_____________ 13 Bayle 1965, 375.
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sie sie zum Umdenken? Ist es nicht notwendig, um den Eifer eines rasenden Bekehrers zu beenden, der ein ganzes Land verwüstet, oder um ihn sehen zu lassen, was er anrichtet, ihn aus seinen besonderen Streitigkeiten herauszuziehen und an Grundsätze zu erinnern, die beiden Parteien gemein sind, so wie die Grundsätze der Moral, die Vorschriften der zehn Gebote, von Jesus und seinen Aposteln bezüglich der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, der Enthaltung von Diebstahl, Mord, der Verletzung des Anderen etc.?14
Bayle zufolge kommt es nicht nur darauf an, an einen unabhängigen und allen Menschen gemeinsamen vernünftigen Sinn für Moral als Moral, frei von fanatischen Verstellungen, zu appellieren, um moralische und religiöse Wahrheiten differenzieren zu können, sondern auch darauf, religiösen Streitfragen insofern den Boden zu entziehen, als sie zwar nicht als schlechthin sinnlos, aber doch als auf Erden nicht mit Mitteln der Vernunft letzthin auflösbar angesehen werden. Dazu bedarf es einer Auffassung von der Endlichkeit der Vernunft, die besagt, dass es in Glaubensfragen unter endlichen Vernunftwesen notwendigerweise zu Differenzen kommen muss. Darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein. An dieser Stelle sei festgehalten, dass für Bayle der zentrale Grundsatz der praktischen, „natürlichen“ Vernunft der ist, dass für die Gründe, die man zu haben glaubt, um anderen gegenüber moralisch gerechtfertigt zu handeln, das Kriterium der Teilbarkeit bzw. der reziproken und allgemeinen Nichtzurückweisbarkeit besteht: Niemand kann die Gründe, die ihn zu moralisch relevantem Handeln führen, einseitig fabrizieren oder sich dabei auf eine höhere Wahrheit berufen, die von anderen vernünftigerweise zurückweisbar ist. Mit dieser Argumentation schließt Bayle an eine frühere Abhandlung an, die Pensées diverses sur la Comète (1682/3), in der sich findet, was als Bayles Paradox berühmt wurde: die These, dass auch eine Gesellschaft der Atheisten fair und stabil sein könne, evtl. sogar friedlicher als eine religiöse. Der Grund, weshalb man den Atheismus als schlimmstes Verbrechen ansehe, sei das „Vorurteil, das man sich von der Einsicht des Gewissens macht, da man dafürhält, das Gewissen sei die Regel unserer Handlungen, die wahrhaftigen Triebfedern aber, welche uns in Bewegung setzen, nicht untersucht“15. Man gehe davon aus, dass ein Gewissen, das an die Vorsehung und die göttliche Belohnung der Tugend bzw. Bestrafung des Lasters glaubt, aus dem Motiv der Gottesfurcht heraus zu moralischem Verhalten führe. Dies, so Bayle, stimme aber mit der Erfahrung keinesfalls überein, denn die Wirklichkeit sehe eher so aus, dass gerade diejenigen, die sich eifrig zur Religion bekennen, zu den größten Verbrechen fähig seien.
_____________ 14 Bayle 1965, 391f. 15 Bayle 1975, § 133.
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In philosophischer Hinsicht beweisen die vielen Beispiele des religiösen Fanatismus nach Bayle, dass die Menschen häufig nicht nach den Prinzipien der „natürlichen Gerechtigkeit“ handeln, die ihnen allen gemeinsam seien, welche Religion sie auch haben, sondern nach anderen Beweggründen, und zwar negativ nach den Leidenschaften und Gewohnheiten, und positiv nach gegensteuernden Überlegungen, als da wären: die Furcht vor der Bestrafung durch das Gesetz und die Sorge um den Verlust sozialer Anerkennung. Und dieselben Überlegungen seien auch bei Atheisten anzutreffen, woraus folge, dass in Bezug auf die Sitten eine Gesellschaft der Atheisten ebenso von Bestand sein könne wie eine andere. Im Negativen und im Positiven seien Atheisten und Gläubige einander gleich – „der Jude und Mohammedaner, der Türke und Mohr, der Christ und Ungläubige, der Indianer und Tatar, der, der auf festem Land sowohl wie der, der auf einer Insel wohnt, der Edelmann und der Bürger“.16 Dies führt Bayle zu der revolutionären Idee einer Gesellschaft von Atheisten: Man hat keine Nachrichten, daraus man die Sitten und Gebräuche einer Nation, die sich der Gottesleugnung ergeben hat, erlernen könnte. Also kann man es nicht durch die Erfahrung widerlegen, wenn man gleich anfänglich die Mutmaßung anbringt, daß nämlich die Atheisten keiner moralischen Tugend fähig sind und daß sie wilden Tieren gleichkommen, bei denen man des Lebens weniger sicher ist als unter Tigern und Löwen. Aber es ist leicht zu zeigen, daß diese Mutmaßung sehr ungewiß ist. Denn da die Erfahrung bezeugt, daß diejenigen, die an ein Paradies und eine Hölle glauben, fähig sind, alle Arten des Verbrechens auszuüben, so ist klar, daß die Neigung, Böses zu tun, nicht daher rührt, weil man nicht weiß, daß ein Gott sei, und daß sie durch die erlangte Erkenntnis von einem Gott, der da straft und belohnt, nicht gebessert wird. Es erhellt daraus augenscheinlich, daß die Neigung, Böses zu tun, sich in einer Seele, die gar keine Erkenntnis von Gott besitzt, nicht stärker befindet als in einer solchen Seele, welche einen Gott glaubt, und daß eine von der Kenntnis Gottes entblößte Seele von demjenigen Zaum, welcher die Bosheit des Herzens zurückhält, nichts freier ist als eine solche, welche diese Erkenntnis besitzt. Es entspringt ferner daraus die Folge, daß die Neigung, Böses zu tun, aus dem Grund der menschlichen Natur herkommt und daß sie durch die Leidenschaften gestärkt wird, welche sich, da sie aus dem Temperament als aus ihrer Quelle entspringen, nach den verschiedenen Zufällen des Lebens auf verschiedene Arten verändern. Und endlich schließe ich noch daraus, daß die Neigung zum Mitleiden, zur Mäßigkeit, zur Milde usf. nicht daher kommt, weil man weiß, daß ein Gott ist […], sondern von einer gewissen Beschaffenheit des Temperaments, welche durch die Erziehung, durch den persönlichen Eigennutz, durch das Verlangen gelobt zu werden, durch den Trieb der Vernunft [instinct de la Raison] oder durch andere Beweggründe gestärkt worden ist, die sich bei einem Atheisten sowohl als bei anderen Leuten befinden.17
_____________ 16 Bayle 1975, § 136. 17 Bayle 1975, § 145.
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Aus dieser Perspektive ist die bei Locke und vielen späteren Aufklärern anzutreffende Furcht, ohne den Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit habe die Moral keinen Halt, unbegründet, da die Menschen ohnehin nicht nach ihren Gewissensprinzipien leben, sondern nach anderen Leidenschaften und Erwägungen, die alle Menschen teilen. Doch ist dies nur ein Teil der Bayle’schen Erwägung. Denn nicht nur in ihren negativen und positiven Leidenschaften sind Atheisten und Gläubige gleich, auch in der (im nahezu kantischen Sinne verstandenen)18 autonomen Fähigkeit zur moralischen Einsicht: Die Vernunft gab es den Weisen des Altertums: Man müsse das Gute aus Liebe zum Guten tun, und die Tugend müsse sich selbst für die Belohnung ansehen, und das sei eine Eigenschaft eines bösen Menschen, wenn er aus Furcht vor der Strafe sich vom Bösen enthielte. […] Dieses veranlaßt mich zu glauben, daß zuweilen die Vernunft ohne irgendeine Kenntnis von Gott den Menschen überführen kann, daß es ehrbare Dinge gibt, da es schön und lobenswert ist, wenn man sie tut, nicht des Nutzens wegen, der daraus entspringt, sondern weil es der Vernunft gemäß ist. […] Denn ob sich gleich Gott einem Gottesleugner nicht vollkommen offenbart, so unterläßt er doch nicht, in seinem Geist zu wirken, und erhält ihm die Vernunft und den Verstand, durch den alle Menschen die Wahrheit der ersten Prinzipien der Metaphysik und der Moral begreifen.19
Damit hat Bayle den entscheidenden Schritt hin zu seiner Toleranzbegründung gemacht, denn wenn Atheisten und Gläubige aller Art nicht nur zu positiven Leidenschaften der Moralkonformität und zum Eigeninteresse fähig sind, sondern auch das Vermögen haben, die Grundprinzipien der theoretischen und praktischen Vernunft einzusehen und nach ihnen zu handeln, dann ist der Weg frei für eine Konzeption der Toleranz auf der Basis wechselseitigen Respekts bzw. der Rechtfertigung eigener Ansprüche mit einer gemeinsamen Grundlage der Vernunft, die nicht länger an partikular religiöse Voraussetzungen geknüpft ist. Bayles Denken bricht somit zu der Einsicht durch, dass die Frage der wechselseitigen Toleranz nach einer autonomen Moralkonzeption verlangt, die auf einem eigenständigen Vermögen der praktischen Vernunft zu gerechtfertigtem Handeln fußt – und dass nur mit Hilfe dessen, was deontologische Differenz genannt werden kann, die Toleranz (nach der RespektKonzeption) denkbar ist: die Differenz zwischen dem unbedingt geltenden Prinzip des Respekts vor dem Anderen als einem gleichberechtigten Wesen einerseits und andererseits all den Konzeptionen des Guten, die „breiter“ oder auch „tiefer“ sein mögen als die Moral, die dennoch aber
_____________ 18 Dies betont auch Feuerbach 1967, 103. 19 Bayle 1975, § 178; Übers. geänd.
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der Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten sind und sein dürfen und die Objekte der Toleranz bilden. In einer daran orientierten Rekonstruktion der Logik der „Rationalisierung der Moral“, die den Diskurs der Toleranz kennzeichnet, muss Kants Moralphilosophie als Kulminationspunkt gelten. Die Fähigkeit des moralischen Urteilens und Handelns soll Kant zufolge allein im praktischen Vernunftvermögen zu lokalisieren sein, und ein solches Handeln setzt nicht nur moralische Autonomie voraus – die Freiheit der Willensbestimmung nach selbstgegebenen Gesetzen –, sondern auch eine Autonomie der Moral gegenüber heteronomen Bestimmungen ihres Prinzips und ihrer „Triebfeder“, seien dies Lehren der irdischen oder der himmlischen Glückseligkeit. So knüpft Kant die Frage, welche Handlungen moralisch gerechtfertigt werden können, an ein Verfahren, das ihre Verallgemeinerungsfähigkeit prüft, so dass keine moralische Person „bloß als Mittel“ zu einem fremden Zweck dient, denn, wie Kant am Beispiel des falschen Versprechens ausführt, „der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten“20. Ohne in diesem Zusammenhang näher darauf eingehen zu können, wie eine Lesart des kategorischen Imperativs, die ein Verfahren wechselseitiger und allgemeiner Rechtfertigung ins Zentrum stellt, mit der kantischen Idee der Prüfung der Möglichkeit bzw. Wünschbarkeit eines allgemeinen Gesetzes in allen Einzelheiten zusammenpasst21, ist für die Problematik der Toleranz festzuhalten, dass Kant die Rechtfertigungsbedürftigkeit von Handlungen, die die moralischen Interessen anderer in relevanter Weise betreffen, so zur Geltung bringt, dass eine Einschränkung der individuellen Freiheit, die religiös begründet wird, als ungerechtfertigt angesehen wird, da in diesem Fall die Autonomie der betroffenen Person zugunsten einer einseitig vorgenommenen Wahrheitssetzung eingeschränkt würde. So gilt nicht nur, dass die Glückseligkeit kein Motiv des moralischen Handelns sein darf; es gilt auch, dass die Glückseligkeit einer (mündigen) Person nicht gegen deren Willen zum Ziel des Handelns gemacht werden darf. Die Glückseligkeit ist ein Gegenstand nicht aufzuhebender Meinungsverschiedenheiten, „nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft“: Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich
_____________ 20 AA IV 429f.; GMS. 21 Vgl. dazu Forst 1994, Kap. IV.2 und V.2.
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wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesammt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ists unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. 22
Daher muss die Pflicht der Förderung der fremden Glückseligkeit sich an der Glückseligkeitsvorstellung der Anderen ausrichten, ohne dass diese dabei als verbindlich übernommen werden muss oder den Grund der moralischen Handlung darstellt: „Was diese zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurtheilen überlassen; nur daß mir auch zusteht manches zu weigern, was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte, wenn sie sonst kein Recht haben es als das Ihrige von mir zu fordern.“23 Beides wäre mit der Würde einer vernunftbegabten, zur Selbstbestimmung fähigen moralischen Person unvereinbar, sowohl ein Aufdrängen meiner Glückseligkeitsvorstellungen als auch umgekehrt das der ihrigen mir gegenüber. Die unbedingt zu achtende Würde der Person kann denn auch so verstanden werden, dass eine jede moralische Person ein basales Recht auf reziproke und allgemeine Rechtfertigung all der handlungslegitimierenden Normen hat, die reziproke und allgemeine Geltung beanspruchen.24 Wichtig ist dabei, dass der Respekt für die Autonomie der anderen Person nicht darin begründet ist, ihr dadurch ein „gutes Leben“ zu ermöglichen, sondern eine Achtung für die Würde des Anderen als sich moralisch selbst bestimmendes, Gründe gebendes und Gründe empfangendes Wesen darstellt. Dies ist der Sinn der Forderung, die Mündigkeit und das Recht auf den eigenen Gebrauch der Vernunft – nicht nur in „Religionssachen“ – zu beachten, was Kant für das Kennzeichen einer aufgeklärten Moral hält. In der Geschichte der Moral ist es somit Kant, der ausformuliert, was Bayle vorgedacht hat: die Auffassung, dass Menschen neben all den ethisch-partikularen, besonders religiösen Identitäten, die sie haben und die sie voneinander unterscheiden, eine alle Menschen als Menschen verbindende und moralisch verpflichtende Identität haben, nämlich die, eine moralische Person zu sein. Kant ist – bei allen Fragen, die diese Konzeption in Bezug auf die inhaltliche Bestimmung des Gesollten wie auch auf dessen motivationale Kraft aufwirft – der erste, der eine Vernunftmoral entwirft, die in dieser Deutlichkeit zwischen Normen und Prinzipien, die dadurch kategorische
_____________ 22 AA IV 418; GMS. 23 AA VI 388; MS. 24 Vgl. dazu ausführlich Forst 2007, Teil I.
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moralische Geltung erlangen, dass sie strikt verallgemeinerungs- und rechtfertigungsfähig sind, und solchen Wertvorstellungen bzw. Glückseligkeitslehren trennt, die dies nicht sind und daher zur Bestimmung der allgemein verbindlichen Moral nicht taugen – wohl aber dazu, Menschen in ihrem Leben zu orientieren. Das moralisch gute und das glückliche Leben sind nach Kant zweierlei25, und zu den Vorstellungen, die die Moral dadurch verkehren, dass sie etwas anderes an die Stelle des unbedingten Respekts für den Anderen setzen, zählt Kant solche, die der Anthropologie entlehnt sind ebenso wie solche aus der Theologie.26 Ob eine ethische Glückseligkeitslehre eine religiöse oder eine materialistische oder anders beschaffen ist, sie kann nicht der Grund des moralisch Gesollten werden. Die kategoriale Unterscheidung zwischen ethischen Lehren und universal gültigen moralischen Normen ist hier explizit entwickelt; und sie ist für eine moralphilosophische Betrachtung des Toleranzdiskurses von großer Bedeutung. Sie ermöglicht es, tiefgreifende ethische Ablehnung und moralische Akzeptanz (um an die eingangs genannten Komponenten zu erinnern) zu differenzieren und zugleich zusammen zu denken. So wird ersichtlich, wie eine solche Toleranz in gegenseitigem Respekt allgemein verbindlich gefordert werden könnte – und zwar gerade von Personen, deren ethische Überzeugungen nicht nur divergieren, sondern einander widersprechen.
3. Glaube und Vernunft Erscheint Bayle in Bezug auf die Herausbildung einer autonomen Konzeption der Moral als Vorläufer Kants und dieser als Vollender dieser Entwicklung, stellt sich das Bild bezüglich der Frage des Verhältnisses von Glaube und Vernunft anders dar. Zur Erinnerung: Bayle vertritt eine Auffassung der endlichen praktischen und theoretischen Vernunft, die davon ausgeht, dass diese in Bezug auf „spekulative Wahrheiten“ ihre eigene Grenze erkennen muss; damit wird der Raum frei für einen Bereich des metaphysischen oder religiösen Streits zwischen Positionen, die vernünftigerweise haltbar, aber auch vernünftigerweise zurückweisbar sind. Der Grund dafür ist, dass besonders in Fragen der Religion „Evidenz eine relative Qualität“27 ist, dass Gewohnheit, Erziehung oder andere Faktoren dazu führen, dass vernünftige Personen zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen und Urteilen kommen, und dass es Differenzen geben mag,
_____________ 25 Vgl. AA IV 442; GMS. 26 Vgl. AA IV 410; GMS. 27 Bayle 1965, 396.
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die nicht mit einem eindeutigen Urteil der Vernunft auflösbar sind. Ein vernünftiger Mensch ist sich der „Bürden der Vernunft“ (um einen Terminus von Rawls zu gebrauchen)28 bewusst und weiß, so Bayle, „dass es unter menschlichen Bedingungen unvermeidbar ist, dass Menschen in unterschiedlichen Zeiten und Ländern sehr unterschiedliche Ansichten über religiöse Lehren haben und die einen das, was auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden kann, auf diese, die anderen auf eine andere Weise interpretieren“29. Daraus schließt Bayle, dass „die Verschiedenheit der Meinungen ein unabtrennbares Kennzeichen des Menschen ist, so lange er einen so eingeschränkten Geist hat und sein Herz so unstet ist.“30 Der Wunsch, dass alle Menschen sich in einer Religion vereinigen, wird daher unerfüllt bleiben, und die beste Weise, darauf zu reagieren, ist das Eintreten für Toleranz. Vernünftige Menschen erkennen ihre eigene Endlichkeit der Vernunft und die Unvermeidbarkeit religiöser Unterschiede, sehen aber auch, dass dies kein Grund ist, dem eigenen Glauben zu misstrauen, denn er ist durch diese Einsicht in keiner Weise widerlegt oder zu etwas bloß Subjektivem geworden. Dies ist das große Thema von Bayles Dictionnaire historique et critique (1696). Dabei ist es nicht Bayles zentrales Anliegen, wie es viele seiner Leser glaubten, den Glauben als „irrational“ abzulehnen – aber auch nicht, ihn in einem extremen Fideismus31 in der Tradition von Montaigne und Pascal auch gegen die Vernunft zu bejahen. Worum es ihm geht, ist vermittels einer Begrenzung der negativen Kraft der Vernunft Raum zu schaffen für Antworten des Glaubens auf metaphysische Fragen: Antworten, die von der Vernunft weder gegeben noch gefordert noch von ihr verboten werden können. Dadurch wird dogmatischen Auseinandersetzungen über den „wahren Glauben“ und die Beweise für ihn der Boden entzogen, ohne dass der Glaube, der sich in den Grenzen des vernünftigerweise Diskutierbaren bewegt, damit gegenstandslos wird. Beide Seiten, die Vernunft und der Glaube, haben ihre je eigenen Grenzen zu beachten: Die Vernunft erkennt ihre Begrenztheit in spekulativen Fragen, die nur im Modus des Glaubens weitere Antworten finden; und der Glaube versucht nicht, seine „Wahrheiten“ als letztbegründete, vernünftigerweise nicht bestreitbare darzustellen und durchzusetzen. Der Glaube liegt jenseits der
_____________ 28 Rawls 1998, Kap. 2. 29 Bayle 1965, 418. 30 Bayle 1965, 418. 31 So Popkin 1959, 1, der dies nur im Blick auf Bayles spätere Werke qualifiziert. Brush 1966, 300, bezeichnet Bayle hingegen zu Recht als „semi-fideist“, insofern dieser die Wahrheit des Glaubens als nicht beweisbar, aber auch nicht als widervernünftig versteht.
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Vernunft, ist aber nicht widervernünftig; die (theoretische und praktische) Vernunft freilich bleibt das allen Menschen gemeinsame und sie bei aller religiösen Differenz verbindende Vermögen, das auch weiterhin ein Korrektiv gegen den Aberglauben darstellt. Der vernünftige Glaube weiß, dass er ein Glaube ist. In zwei Artikeln des Dictionnaire, die den „Manichäern“ und „Paulizianern“ gewidmet sind – jenen „Ketzern“ also, die die Existenz des Guten und des Bösen in der Welt auf zwei verschiedene Ursprünge zurückführen, die miteinander im Streit liegen –, entfaltet Bayle die These, dass mit den Mitteln der Vernunft die negativen Argumente der Manichäer nicht zu widerlegen sind, denn es ist nicht hinreichend erklärlich, inwiefern Gott der Urheber des – überall in der Welt zu findenden – Bösen sein kann bzw. wie, wenn er es nicht ist, die Existenz des Bösen in der Schöpfungsordnung erklärt werden kann, wenn man nicht an die Geschichte des Sündenfalls – jenseits aller Erfahrung – glaubt.32 Bayles Position ist nicht so zu verstehen, dass die Offenbarung gänzlich ohne Gründe geglaubt wird; er ist der Auffassung, dass sie „die beste Auflösung“ des gestellten Problems anbietet, welche jedoch nicht selbst mit den Mitteln der Vernunft und der Erfahrung bewiesen werden kann. Das „natürliche Licht der Philosophie“ zieht den „gordischen Knoten“ der Erklärungsnot immer weiter zu33, doch auf der Basis des Glaubens könne eine Antwort gefunden werden. Dies bedeutet nicht, dass die Glaubensinhalte widervernünftig sind, es bedeutet nur, dass vernunft-transzendierende Inhalte geglaubt werden, um ein Desiderat der Vernunft zu erfüllen, d.h. eine Antwort zu geben, die sie selbst nicht zu geben vermag. Im Raum der Vernunft wird diese Antwort stets umstritten bleiben, so Bayle, und so sollten die Dogmatiker sich in ihren Absolutheitsansprüchen ebenso bescheiden wie die philosophischen Skeptiker, die es nur dahin bringen, Rätsel aufzuwerfen. Fragen wie die nach dem Grund der Existenz des Bösen übersteigen die metaphysischen Möglichkeiten des Menschen34, und so sollte denn auch die Vernunft einsehen, dass hier der Raum des Glaubens beginnt und erbitterter Streit um Beweise der Wahrheit sinnlos ist. Fragen dieser Art sind, in einem anderen Vokabular ausgedrückt, Gegenstände eines reasonable disagreement, eines Streits unter vernünftigen Menschen. In seiner zweiten „Klarstellung“, die notwendig wurde, weil man Bayle selbst des Manichäismus verdächtigte, verdeutlicht er dies noch einmal in
_____________ 32 Bayle 1974-78, „Manichäer“, Anm. D, III: 310. 33 Bayle 1974-78, „Paulicianer“, III: 637. 34 Bayle 1974-78, ebd., Anm. M, III: 648.
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Formulierungen, die den schmalen Grat markieren, auf dem er einerseits den Wahrheitsanspruch der christlichen Religion auf das Gebiet des reinen Glaubens reduziert, was ihn in den Augen derer, die Philosophie und Theologie unter der Vorherrschaft der Theologie vereinigen wollen, zu einem Alleszermalmer und Skeptiker macht, und andererseits den Herrschaftsanspruch der Philosophie auf religiösem Gebiet beschneidet, was ihn in den Augen derer, die beides unter der Vorherrschaft der Philosophie verbinden wollen, zu einem haltlosen Fideisten macht. Er unterstreicht, „daß alle Artikel des christlichen Glaubens, wenn sie einzig durch die Philosophie vertheidiget und bestritten werden, nicht glücklich aus dem Kampfe kommen“, und deshalb sich von diesem Kampfplatz entfernen und eine andere Festung suchen müssen, nämlich die Heilige Schrift.35 Dies sei kein Eingeständnis der Schwäche, sondern Ergebnis der Einsicht, „daß die Geheimnisse des Evangelii über der Vernunft [dessus de la Raison] sind“, dass „es unmöglich sei, die Schwierigkeiten der Philosophen aufzulösen, und daß folglich eine Disputation, wo man sich nur des natürlichen Lichtes bedienet, sich allezeit zum Nachtheile der Gottesgelehrten endigen wird, und daß sie sich gezwungen sehen werden, zu weichen, und sich unter den Schutz des übernatürlichen Lichtes zu retten.“ Das ist eine Einsicht, so Bayle weiter, in die „Grenzen“ der Vernunft, die „dasjenige nicht erreichen kann, was über ihr ist“36, und gleichzeitig auch eine Selbstbegrenzung der Religion, die damit den Ort des Kampfes um die absolute Wahrheit, die den Glauben begründen könnte, räumt – er wird dem „Feind“, der Philosophie, überlassen.37 Die Toleranzbotschaft dieser Grenzbestimmung von Vernunft und Glaube ist offensichtlich: Erst über den Weg des innerlichen Glaubens erschließen sich die Wahrheiten der Religion. Gegenüber Sekten wie den Manichäern heißt dies, dass es keinen Grund gibt, sie nicht zu tolerieren; und auch hinsichtlich der Ungläubigen, die aus der Verwirrung der Vernunft nicht herauskommen, gibt es demnach keinen Grund für Intoleranz, denn das natürliche Licht bleibt in Bezug auf die Moral ein sicherer Wegweiser.38 Die Streitigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten werden zwar nicht gegenstandslos, aber sie werden hinsichtlich der Möglichkeit einer Auflösung relativiert.39 Zugleich gibt es auch keinen Grund für eine umgekehrte Intoleranz der Vernunft, die einen jeden positiven Glauben als Aberglaube und widervernünftig ansehen würde, denn der Glaube hat
_____________ 35 Bayle 1974-78, „Zweite Erläuterung“, IV: 629 (Ü.g.). 36 Bayle 1974-78, ebd., IV: 629 (Ü.g.). 37 Bayle 1974-78, ebd., IV: 632. 38 Bayle 1974-78, ebd., IV: 629. 39 Bayle 1974-78, ebd., IV: 631.
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sein eigenes Gebiet und bietet dort Antworten auf metaphysische Fragen an, die mit Mitteln der Vernunft allein nicht zu finden sind. Noch einmal, ein wahrer Christ, der von dem Charakter der übernatürlichen Wahrheiten, wohl unterrichtet, und wegen der Grundsätze wohl befestiget ist, welche dem Evangelio eigen sind, wird der Spitzfindigkeiten der Philosophen nur spotten, und insonderheit der Pyrrhonier ihrer. Der Glaube wird ihn über alle Wirbel wegsetzen, wo die Stürme der Disputierkunst herrschen. Er wird in einem Posten stehen, von da er unter sich den Donner der Schlußreden und Unterscheidungen wird poltern hören, ohne daß er dadurch erschüttert wird. Dieser Posten wird für ihn ein wahrer poetischer Olympus, und der Tempel der Weisen seyn, von da er in einer vollkommenen Gemüthsstille die Schwachheiten der Vernunft, und die Verblendung der Sterblichen sehen wird, welche diesem Geleitsmanne folgen. Ein jeder Christ, der sich durch die Einwürfe der Ungläubigen wankend machen läßt, und sich daran ärgert, hat einen Fuß in eben derselben Grube mit ihnen.40
Dies ist eine kunstvolle Antwort auf den Vorwurf, den Manichäern und Skeptikern philosophisch Recht gegeben und damit die Fundamente der Religion in Zweifel gezogen zu haben, denn Bayle bejaht Ersteres, um dann diejenigen, die dadurch die Religion herausgefordert sehen, eines nicht nur falsch gegründeten Glaubens zu zeihen, der das Reich der Vernunft und das des Glaubens verwechselt, sondern auch eines schwachen Glaubens. Er rettet die Möglichkeit des Glaubens um den Preis der Relativierung des Anspruchs auf absolute, vernünftigerweise einlösbare Wahrheit. Wer den „großen Kämpfen der Vernunft und des Glaubens beygewohnt“41 hat, wird nicht wieder in den dogmatischen Schlaf fallen, der die Grenze zwischen beiden vergessen lässt. Beachten wir, wie Bayle die praktische und die theoretische Vernunft auf diese Weise in Beziehung zum Glauben setzt, finden wir bei Kant einen anderen Weg – und damit den entscheidenden Unterschied zwischen zwei Formen des Aufklärungsdenkens in dieser Hinsicht. Während Bayle für den Glauben und die Vernunft eigene Bereiche vorsieht, was ihn nach Feuerbach, der ihn als Vorläufer Kants in Sachen der Moral lobt, zu einem „geistigen Flagellanten“42 macht, geht Kant von seiner Moralphilosophie aus nicht zu einer Konzeption der „vernünftigen Religion“ wie bei Bayle weiter, sondern zur Vorstellung einer „Vernunftreligion“. Der Weg dorthin führt über die Idee des „höchsten Guts“, der Frage geschuldet, wie denn zumindest in praktischer, wenn schon nicht in spekulativer Absicht „höchste Zwecke“ denkbar sind, die die Vernunft „Ruhe finden“ lassen; kurz, wie es möglich ist, die Freiheit des Menschen so zu
_____________ 40 Bayle 1974-78, „Dritte Erläuterung“, IV: 642. 41 Bayle 1974-78, ebd., IV: 644. 42 Feuerbach 1967, 163.
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denken, dass eine „moralische Welt“ möglich wird – als „praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen.“43 Die beiden Fragen, die das praktische Interesse der reinen Vernunft betreffen, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“, sind demnach so zu sehen, dass die Antwort auf die erste lautet „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“, woraus für die zweite folgt, dass sie fragt: „wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch theilhaftig werden zu können?“.44 Die Frage des Hoffens, so Kant, zielt notwendig auf Glückseligkeit, doch kann sie ob der Freiheit der Moral von empirischen Motiven der Glückseligkeit als Antwort auf die erste Frage nur an die „Würdigkeit, glücklich zu sein“, verwiesen werden – und ist demnach die Frage nach der Möglichkeit dieser Würdigkeit, d.h. nach einer Glückseligkeit, die der Moral „proportionirt“ ist. Ein solches „System der sich selbst lohnenden Moralität“45 ist nach Kant nur auf der Basis der Idee einer „höchsten Vernunft“ möglich, die „nach moralischen Gesetzen gebietet“ und zugleich „als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“.46 So kommen die beiden das praktische Interesse der Vernunft leitenden Fragen nach der Moral und der Hoffnung in einem „Ideal des höchsten Guts“ zusammen, im Ideal einer nur durch einen göttlichen „Urheber und Regierer“ der Welt denkbaren perfekten Übereinstimmung des moralisch vollkommenen Willens mit der „höchsten Seligkeit“. An der Grenze der endlichen Vernunft vermag somit nur die Idee eines transzendenten Wesens die Einheit der Zwecke der Moral und der Glückseligkeit denkbar werden zu lassen; und so sehr Kant betont, damit innerhalb der Architektonik seiner Kritik der Vernunft zu verbleiben, erfolgt hier doch der Übertritt hin zu einer „Moraltheologie“, die zwar keine rein spekulative ist, die aber doch, von der praktischen und zugleich spekulativen Frage „Was kann ich hoffen?“ ausgehend, ins Reich der Spekulation, zumindest ins Reich des Glaubens führt, den Kant allerdings als reinen „Vernunftglauben“ ansieht: der Glaube an den Schöpfer einer Welt, in der das moralische Handeln, das weiterhin kategorisch gefordert ist, nicht vergebens gewesen sein wird. Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. Nur dann, wenn
_____________ 43 KrV B 836/A 808; die Zitate davor finden sich auf KrV B 825f. / A 797f. und B 830/A 802. 44 KrV B 836f./A 809f. 45 KrV B 837/A 809. 46 KrV B 838/A 810.
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Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße theilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein.47
Das wird in der Kritik der praktischen Vernunft, aus der dieses Zitat stammt, noch einmal verstärkt, in der Kant glaubt, die „Antinomie der praktischen Vernunft“ nur durch die Idee der Glückswürdigkeit auflösen zu können, und dabei das höchste Gut zwar als den „ganze[n] Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft“ bezeichnet, es aber keinesfalls als „Bestimmungsgrund“ des moralischen Handelns zulässt, da dies zur Heteronomie führte.48 Die Idee des höchsten Gutes entspringt dem „Bedürfnis der Vernunft“49, eine Glückseligkeit in Proportion zur Moralität „wenigstens als möglich denken“50 zu können – wenn sie sich auch weder einsehen noch gar herbeiführen lasse. Dies ist für Kant entscheidend: Während die auf der menschlichen Autonomie beruhende Moral für die Vernunft strikt verbindlich ist, ist es der den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes entsprechende Glaube nicht, „denn es kann gar keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen“. Die „moralisch notwendige“ Annahme des Daseins Gottes ist somit ein nur „subjektives“ Bedürfnis, wenn auch eines der konsequenten Vernunft.51 So soll auch die Rede von einem „moralischen Beweis Gottes“ in der Kritik der Urteilskraft nicht nur besagen, dass dieser aus dem Primat der praktischen Vernunft folgt, sondern auch, dass die Moral an erster Stelle eine autonome Verpflichtung der Vernunft ist, während der Glaube an einen moralischen Schöpfer nur eine Implikation der Vorstellung von Glückseligkeit ist, die dieser Moral allein entsprechen kann: Dieser Beweis […] will nicht sagen: es ist eben so nothwendig das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen; mithin, wer sich vom erstern nicht überzeugen kann, könne sich von den Verbindlichkeiten nach dem letztern los zu sein urtheilen. Nein! nur die Beabsichtigung des durch die Befolgung des letztern zu bewirkenden Endzwecks in der Welt […] müßte alsdann aufgegeben werden. Ein jeder Vernünftige würde sich an der Vorschrift der Sitten immer noch als strenge gebunden erkennen müssen; denn die Gesetze derselben sind formal und gebieten unbedingt, ohne Rücksicht auf Zwecke […].52
_____________ 47 AA V 130; KpV. 48 AA V 109; KpV. 49 So Kant auch in AA VIII 139; WDO und AA VIII 279f. (Fn.); TP. 50 AA V 119; KpV. 51 AA V 125f.; KpV. 52 AA V 450f.; KU.
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Es ist hier nicht der Ort, ausführlich zu diskutieren, was diese Einschränkung für den Stellenwert des „höchsten Gutes“ besagt, und auch nicht, ob dieses in der Architektonik der kantischen Philosophie, insbesondere der Moralphilosophie, einen guten Platz hat – bzw. überhaupt einen solchen finden kann. Kurz gesagt gibt Kant meines Erachtens in der Idee des höchsten Gutes einem ebenso wenig illegitimen wie notwendigen Bedürfnis endlicher Vernunftwesen, ihrem Handeln in moralisch-ethischer Hinsicht einen transzendenten Sinn zu verleihen, zu weit nach, indem er dieses selbst als ein Interesse der praktischen Vernunft anerkennt, wenn auch nicht auf der gleichen Stufe wie das der Frage nach dem Wissen oder der Moral. Er folgt hier dem Bestreben, die Grenzen der endlichen Vernunft zu überschreiten, einen Schritt zu weit, wenn er den dem höchsten Gut entsprechenden Glauben als von der Vernunft postuliert ansieht53; innerhalb der Grenzen der endlichen Vernunft könnte er allenfalls erlaubt sein. Für die Frage der Toleranz ist entscheidend, dass Kant davon ausgeht, hier den Kern eines vernünftigen, rein moralischen Glaubens gefunden zu haben, dem zufolge die Moral zwar weiterhin um ihrer selbst willen gilt, der aber gleichwohl die moralischen Pflichten „als göttliche Gebote“ erkennen lässt und nach dem die Harmonie von Natur und Sitten einem „Reich Gottes“ entspricht.54 Inwiefern dies dem Christentum am nächsten kommt und es doch überwinden soll, deutet Kant in der Kritik der praktischen Vernunft an; ausgeführt findet es sich in der Abhandlung über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Damit rückt er, bei aller Differenz zu der vernunftreligiösen Tradition, die die Moral in der Regel auf die deistisch verstandene natürliche Religion gründet, doch wieder so weit in diese Tradition ein, als er die Möglichkeit einer Auflösung der Unterschiede zwischen den positiven Religionen – und der damit verbundenen Intoleranz – in einer „Rationalisierung“ der Religion sieht, die schließlich alle Glaubensunterschiede als adiaphora erscheinen lassen wird.55 Kants Vernunftreligion gründet nicht nur auf Moral, sie besteht auch, was ihre Ausübung angeht, im Wesentlichen aus einer moralischen Gesinnung, der „Herzensgesinnung zu Beobachtung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote“56. Sie strebt die Herstellung eines „ethischen gemeinen Wesens“, eines „Volkes Gottes“ an, das allein unter Tugendgesetzen lebt und schließlich die einzig „wahre Kirche“, das Reich Gottes auf Erden
_____________ 53 In AA VI 6; RGV, sagt Kant, dass die Moral „unumgänglich“ zur Religion führe. 54 AA V 128f.; KpV. 55 So Kant in AA VII 40; SF. 56 AA VI 84; RGV.
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bilden könnte – ohne alle Abspaltung in Lehre und Kultus.57 Im Unterschied zum „reinen Religionsglauben“, der keine Pluralität zulässt, kann Kant in der Mannigfaltigkeit positiver Religionen, die sich auf Offenbarungen berufen, nur eine Vielzahl von „Glaubensarten“, von bloßem „Kirchenglauben“ sehen, die im Grunde moralisch indifferent sind: Verschiedenheit der Religionen: ein wunderlicher Ausdruck! gerade als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene Glaubensarten historischer, nicht in die Religion, sondern in die Geschichte der zu ihrer Beförderung gebrauchten, ins Feld der Gelehrsamkeit einschlagender Mittel und eben so verschiedene Religionsbücher […] geben, aber nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion.58
Nach Kant ist es „schicklicher“ zu sagen, jemand sei „von diesem oder jenem (jüdischem, mohammedanischem, christlichem, katholischem, lutherischem) Glauben, als: er ist von dieser oder jener Religion“.59 So drehten sich alle „Religionsstreitigkeiten“ Kant zufolge immer nur um den „Kirchenglauben“ und bestanden darin, dass der eine seine Unwesentlichkeiten zu religiösen Notwendigkeiten und die Andersgläubigen zu Ungläubigen oder Ketzern erklärte.60 Dies heißt nach Kant jedoch nicht, dass ein jeder Kirchenglaube gleich unwesentlich und unwichtig ist; da die Menschen etwas „Sinnlichhaltbares“ in Glaubensfragen verlangen und der Kirchenglaube daher unumgänglich ist, ist derjenige vorzuziehen, dessen Lehre mit der „ursprünglichen“ oder „natürlichen“ Vernunftreligion am ehesten in Übereinstimmung zu bringen ist. Dabei aber sei zu vermeiden, dass ein „nur partikulär“ gültiger Kirchenglaube sich zur wahren Religion aufspreize: Wenn also gleich (der unvermeidlichen Einschränkung der menschlichen Vernunft gemäß) ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion afficirt, doch mit dem Bewußtsein, daß er bloß ein solches sei, und dieser als Kirchenglaube ein Princip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich continuirlich zu nähern, um jenes Leitmittel endlich entbehren zu können, so kann eine solche Kirche immer die wahre heißen, […].61
Diese vernunftreligiöse Konzeption schränkt den Geltungsanspruch der Offenbarungsreligionen nicht nur deutlich ein, um allem Glaubensstreit ein Ende zu machen, sie führt Kant auch zu einer diese wertenden Position – was Mendelssohns Befürchtung bestätigt, dass die Vernunftreligion der Aufklärung die positiven Religionen nicht nur grundsätzlich in Zweifel
_____________ 57 AA VI 98-101; RGV. 58 AA VIII 367 (Fn.); ZeF. 59 AA VI 107f; RGV. 60 AA VI 108f.; RGV. 61 AA VI 115; RGV.
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zieht, sondern auch wieder neue Parteilichkeiten enthält, wie auch Lessings Schrift über die Erziehung des Menschengeschlechts zeigt.62 Deutlicher noch als Lessing zieht Kant das Christentum dem Judentum in diesem Zusammenhang vor; Letzteres sieht er nicht als moralischen, sondern als rein politischen Glauben an, als „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“, so dass das Judentum „eigentlich gar keine Religion“ oder Kirche, sondern eine politische Gemeinschaft sei.63 Erst mit dem Christentum beginne die Geschichte der moralischen Religion und die Betonung des innerlichen, moralischen Glaubens, der den Kern einer rein moralischen Gesinnung enthalte, doch sei das Christentum in der Folge dem intoleranten Sektierertum des Kirchenglaubens verfallen; erst in der „jetzigen Zeit“ bestehe die Aussicht auf eine Überwindung dieser Feindschaften und einer Rückkehr zum „wahren Religionsglauben“, der eine religiöse Einigung mit sich bringe.64 So kehrt im Gewand der moralischen Religion der humanistische Gedanke der Religionseinheit durch die Reduktion auf einige Wesensaussagen zurück; und auch wenn Kant immer wieder den Vorrang der allen Menschen möglichen und sie verbindenden Vernunftmoral vor aller Offenbarung betont, setzt er damit die Tradition der Versuche fort, mit der Intoleranz zwischen den Religionen (bzw. „Glaubensarten“) auch deren Differenz überhaupt zu überwinden, ohne dabei doch die Prägung durch die eigene christlichen Tradition abstreifen zu können. So sehr Kant im Namen der Toleranz gegen den religiösen „Afterdienst“ streitet, der den Kirchenglauben für den einzig wahren hält65; so sehr er sich im Namen der „wahren Aufklärung“66 gegen „Religionswahn“, Aberglaube, „Pfaffentum“, „Fetischglauben“ und dogmatische Intoleranz wendet; so sehr er die christliche Religion ihres Herrschaftsanspruchs zugunsten der „natürlichen Religion“ berauben will, so zeichnet er das Christentum doch gegenüber den anderen aus, da es im Kern eine Religion der unbedingten Moral enthalte.67 So wird schließlich einerseits das moralische Gewissen als „sich selbst richtende moralische Urtheilskraft“68 gegen ein Gewissen ins Recht gesetzt, das sich in der Befolgung göttlicher Gebote absolut setzt, andererseits aber doch wieder das moralische Bewusstsein als religiöses dargestellt. Kant hat den Menschen als autonome moralische Per-
_____________ 62 Dazu Forst 2003, § 20. 63 AA VI 125; RGV. 64 AA VI 131f; RGV. 65 AA VI 153; RGV. 66 AA VI 179; RGV. 67 AA VI 157-163; RGV. 68 AA VI 186; RGV.
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son zunächst aus dem religiösen Horizont sowohl der Tradition als auch der Aufklärung herausgelöst, ihn dann aber wieder in einen rekonstruierten Horizont einer universalistischen Religion hineingestellt, die bei kritischer Betrachtung weder universalistisch ist noch aus der Moral folgt und in ihrem Einheitsstreben der Sache der Toleranz nicht ausreichend gerecht wird. Die Argumentation für die Vernunftreligion nimmt aus einer Bayle’schen Perspektive die Einsicht in die Grenzen der Vernunft nicht ernst genug.
4. Die Politik der Toleranz Während Kants Religionsphilosophie damit in toleranztheoretischer Hinsicht systematisch hinter Bayles Konzeption zurücksteht, ist auf der anderen Seite festzuhalten, dass Kant anders als Bayle eine immanente Verknüpfung seiner moralphilosophischen Argumentation mit seiner Theorie der Politik liefert. In seinem Denken findet sich eine Übersetzung des Respekt- und Rechtfertigungsprinzips der Moral in eine Theorie politischer Legitimation im Medium der „öffentlichen Vernunft“, während Bayle als Kind seiner Zeit zwischen der weiten gesellschaftlichen Toleranz und der Toleranz auf staatlicher Ebene eine deutliche Grenze zieht. Anders als calvinistische Monarchomachen wie Pierre Jurieu hielt Bayle an der Notwendigkeit eines starken Herrschers zur Sicherstellung ziviler Toleranz fest. Er steht in der mit Marsilius von Padua beginnenden Linie des politischen Denkens, die einen souveränen weltlichen Staat und Herrscher als notwendig erachtet, um der Macht der Kirche(n) entgegenzutreten. Er bleibt ein Anhänger der Politiques, besonders von de l’Hôpital, den er in seinem Artikel im Dictionnaire einen „der größten Männer seiner Zeit“ nennt. Ebenso lobt er Heinrich IV., der den Hugenotten im Edikt von Nantes zum ersten Mal eine gewisse Sicherheit vor Verfolgung gewährt hatte, in dem ihm gewidmeten Artikel als einen der „allergrößten Prinzen“, und auch in den Artikeln über Bodin, Grotius und Hobbes lässt Bayle keinen Zweifel daran, dass er eine religiös tolerante absolutistische Herrschaft den „Wirren“ der Demokratie vorzieht.69 Allein der über den religiösen und zivilen Streitigkeiten seiner Zeit stehende Souverän kann den Frieden bewahren. Kant hingegen entwickelt eine Theorie des Rechts, die dieses sowohl inhaltlich von allen ethischen Glückseligkeitslehren als auch formal von moralischen Imperativen abhebt, da das positive Recht sich nur auf äußere Handlungen und nicht auf die innere Motivation bezieht; der wesentliche
_____________ 69 Vgl. bes. Bayle 1974-78, „Hobbes“, Anm. C u. E.
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Unterschied zwischen Legalität und Moralität liegt weniger im Inhalt der jeweiligen Gesetze als in den „Triebfedern“.70 So wandert das moralische Verbot des Gewissenszwangs dergestalt in das Recht ein, dass dessen oberstes Prinzip bereits die Rechtfertigungsbedürftigkeit von Willkürbeschränkungen festschreibt: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“71 Die Grundlage für diese Bestimmung des Rechts, nach der alle Formen des rechtlichen Zwangs wechselseitig unter Freien und Gleichen gerechtfertigt werden müssen, ist ein naturrechtlich verstandenes, moralisches Grund- und Menschenrecht auf Freiheit: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“72 Dies ist die auf das Recht bezogene Konsequenz des moralischen Grundrechts auf Rechtfertigung, des Grundrechts auf unbedingte Achtung als „Zweck an sich“ (in meiner Interpretation). Deutlich wird, dass der Schutz der individuellen Freiheit keinesfalls auf einer Konzeption des guten Lebens beruht, für das eine rechtlich geschützte und sozial ermöglichte Autonomie notwendig wäre. Kants Auffassung ist es vielmehr, dass es die Unantastbarkeit der Person ist, ihre Würde, die den Zugriff Anderer bereits ausschließt – ob dies nun der nicht „angetasteten“ Person zu einem guten Leben verhilft, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt. Die Schranke der Rechtfertigungsbedürftigkeit von Freiheitsbeschneidungen fällt Kant zufolge früher, und sie ist strikter, als eine solche alternative Vorstellung es erlaubt: Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor; und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel dazu zu gelangen zu thun: so daß auch dieser letztere sich in jenes Gesetze schlechterdings nicht als Bestimmungsgrund derselben mischen muß.73
Vor dem Hintergrund des ursprünglichen Rechts des Menschen und der entsprechenden grundsätzlichen Rechtsbestimmung gelangt Kant zu einer Ausformulierung unterschiedlicher Konzeptionen der „Person“.74 Denn
_____________ 70 AA VI 220; MS. 71 AA VI 230; MS. 72 AA VI 237; MS. 73 AA VIII 289; TP. 74 Zu der folgenden vierfachen Differenzierung von Personenbegriffen und Konzeptionen der Autonomie vgl. Forst 1994, bes. Kap. V.2 und V.3, sowie 2007, Kap. 5.
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neben der autonomen moralischen Person, die nach Maßgabe des kategorischen Imperativs handelt und moralisch zu respektieren ist, unterscheidet Kant im „bürgerlichen Zustand“ drei „Principien a priori“ und entsprechend drei weitere Konzeptionen der Person, und zwar in ethischer, rechtlicher und politischer Hinsicht. Die Prinzipien sind „1. Die Freiheit jedes Gliedes der Societät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem Anderen, als Unterthan. 3. Die Selbstständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers.“75 Ersteres bedeutet: „Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, […].“76 Dies schließt nach Kant eine „väterliche Regierung“ aus, in der die Untertanen als „unmündige Kinder“ gelten. Damit ist nach außen hin die rechtliche Autonomie der Person verteidigt, und nach innen hin erweist sich das Recht als „Schutzhülle“ für die ethische Person, die ihr Leben nach den Vorstellungen des Guten lebt, die ihr die richtigen zu sein scheinen, aus welchen Gründen auch immer. Das zweite Prinzip, die Gleichheit, bedeutet entsprechend, dass Personen als Rechtspersonen, als „Untertanen“, die dem Recht unterworfen sind, ungeachtet ihrer sozialen Stellung unter für alle gleichen Gesetzen stehen, die die Willkür eines jeden gleichermaßen einschränken. Das dritte Prinzip benennt schließlich die Rolle der Person als Staatsbürger, als „Mitgesetzgeber“77. Dies folgt daraus, dass nach Maßgabe des Rechtsprinzips nur „allgemeine Gesetze“ Gesetze der Freiheit sein können, und sie können nur allgemein sein, wenn sie dem „vereinigten Willen des Volkes“ entsprechen.78 In dieser Rolle allein kann der Bürger – und hier nimmt Kant den Autonomiegedanken Rousseaus auf – politisch autonom sein, da er prinzipiell betrachtet nur selbstgegebenen Gesetzen gehorcht, d.h. keinen anderen „als zu welche[n] er seine Beistimmung gegeben hat“.79Als aktives Mitglied des Gemeinwesens, als Stimmbürger, ist die Person citoyen, nicht nur (wie als Rechtsperson) bourgeois – sie ist gleichzeitig Autor und Adressat des Rechts. Somit kann das allgemein und wechselseitig geltende Recht nur legitim sein, wenn es in Verfahren allgemeiner und wechselseitiger Rechtfertigung beschlossen wurde; die „bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat“, besagt, dass der „Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ der der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit ist. Kurz: So wie der
_____________ 75 AA VIII 290; TP; vgl. auch AA VI 314; MS. 76 AA VIII 290; TP. 77 AA VIII 294; TP. 78 AA VI 313; MS. 79 AA VI 314; MS.
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moralische Grundsatz der Rechtfertigungspflicht für moralisch relevante Handlungen und Normen zur Grundlage des ursprünglichen Freiheitsrechts wird, so wird er hier zur Grundlage der Forderung nach der Rechtfertigung von Zwangsgesetzen im Medium der „öffentlichen Vernunft“.80 Ein jeder Zwang ist den Gezwungenen gegenüber rechtfertigungsbedürftig, und es hängt von der Natur der jeweiligen Normen ab, ob dies zu einer moralischen oder zu einer politischen Form der Rechtfertigung führen muss.
5. Schlussbetrachtung Aus der Zusammenschau der Kant’schen Argumente lässt sich ersehen, dass sowohl aus der Moralphilosophie Kants als auch aus seiner Religionsphilosophie und politischen Philosophie Argumente für die Religionsfreiheit folgen: Sie ist ein direkter Ausdruck der Achtung der Würde der Person. So ist Toleranz nach der Respekt-Konzeption, die bei Kant zum ersten Mal voll ausgebildet wird, primär aus moralischen Gründen gefordert, sie ergibt sich aber auch nach dem Grundsatz der Vernunftreligion, dass diese nur auf „vernünftigem Wege“, ohne Zwang, sich durchsetzen soll, ferner nach dem Rechtsgrundsatz, dass Freiheitseinschränkungen wechselseitig gerechtfertigt werden müssen und fremde Glückseligkeitsvorstellungen keine legitimen Zwangsgründe bieten, und schließlich nach dem entsprechenden politischen Grundsatz, dass alle Zwangsgesetze der „öffentlichen Vernunft“ entstammen müssen, die daher selbst schon pluralistisch verfasst sein muss. Bei alledem bleibt die Grundbestimmung die, dass Personen (sozusagen) ein „Recht auf Rechtfertigung“ haben, das nicht durch eine „höhere Wahrheit“ ausgehebelt werden kann. Damit hat Kant, vergleicht man seinen Ansatz mit dem von Bayle, in normativer Hinsicht dessen diesbezüglich übereinstimmende Position auf ein neues Niveau gehoben. Wo er von Bayle freilich in erheblichem Maße abweicht, ist in seiner Auffassung davon, was die Endlichkeit der Vernunft in Religionsfragen bedeutet; hier gehen, wie gezeigt, zwei Hauptwege der Aufklärung auseinander: der Bayle’sche, der eine deutliche (wenn auch keine absolute) Trennung von Vernunft und Glaube vorsieht, und der Kant’sche, der eine weitgehende Aufhebung der Religionsdifferenz unter dem Primat der praktischen Vernunft anstrebt. In Bezug auf die Frage der Toleranz ist Bayles Weg in meinen Augen vorzuziehen; er ist der konsequentere Weg, der in epistemologischer Hinsicht zu einer Konzeption vernünftiger, doch
_____________ 80 Vgl. Brandt 1989, 115, u. Maus 1992, 87 u. 326.
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nicht mit Mitteln der Vernunft aufhebbarer ethischer Differenzen führt. Bayle hat die Grenzen der endlichen, menschlichen Vernunft in Fragen der Religion klarer gesehen als Kant. Der entscheidende Fortschritt Kants gegenüber Bayle liegt dort, wo Kant den moralischen Rechtfertigungsgrundsatz politisch übersetzt und damit die Respekt-Konzeption von der horizontal-zivilen Ebene auf die vertikal-politische Toleranz überträgt: Wenn reziprok-allgemeine Rechtfertigung unter moralischen Personen gefordert ist, um moralisch relevante Handlungen zu rechtfertigen, so ist sie es auch unter Bürgern, die darüber zu befinden haben, welche positiven Gesetze ihr gemeinsames Leben regeln sollen. Dann ist Toleranz nicht nur eine zivile, zwischenmenschliche Tugend, sondern eine politische Tugend der demokratischen Gesetzgeber, die einander als Gleiche und Freie achten; dann enthalten die im Medium der öffentlichen Vernunft gerechtfertigten Gesetze das Maß an Toleranz und Freiheit, das die Grenzen der Rechtfertigung implizieren: Bürger sehen im Austausch ihrer Positionen und Gründe, wozu sie einander nicht zwingen können. Daher werden sie sich in der Form von Grundrechten grundlegende Freiheiten gegenseitig zusichern, die die Willkürfreiheit gewährleisten, und sie werden sehen, dass die wechselseitige Toleranz eine wichtige Tugend gerechter Gesetzgeber und einsichtiger Rechtsgenossen ist, die diese Gesetze beachten, und dass damit die einseitige und obrigkeitsstaatliche Erlaubnis-Konzeption der Toleranz, die Kant als „hochmütig“ geißelt, abgelöst wird.
Literatur Bayle, Pierre (1965): Commentaire philosophiques sur ces paroles de Jésus-Christ ‚Contrain-les d’entrer‘, in: Œuvres diverses II, La Haye 1727, Nachdruck Hildesheim. Bayle, Pierre (1974-78): Historisches und Critisches Wörterbuch, übers. v. J. Gottsched, 1741-44, Nachdruck Hildesheim: Band I 1974, II 1975, III 1977, IV 1978. Bayle, Pierre (1975): Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist, übers. v. J. Faber, hg. v. J. Gottsched, 1741, Neuauflage Leipzig. Brandt, Reinhard (1989): „Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit bei Kant“, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, Frankfurt/M. Brush, Craig B. (1966): Montaigne and Bayle, Den Haag. Feuerbach, Ludwig (1967): Pierre Bayle, in: Gesammelte Werke 4, hg. v. W. Schuffenhauer, Berlin. Forst, Rainer (1994): Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M.
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Forst, Rainer (2003): Toleranz im Konflikt, Frankfurt/M. Forst, Rainer (2007): Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt/M. Goethe, Johann Wolfgang (1981): „Maximen und Reflexionen“, in: Werke, Bd. 6, Frankfurt/M. Herdtle, Claudia u. Leeb, Thomas (Hg.) (1987): Toleranz. Texte zur Theorie und politischen Praxis, Stuttgart. Maus, Ingeborg (1992): Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt/M. Popkin, Richard H. (1959): „Pierre Bayle’s Place in 17th Century Scepticism“, in: P. Dibon (Hg.), Pierre Bayle: Le philosophe de Rotterdam, Paris. Rawls, John (1998): Politischer Liberalismus, übers. v. W. Hinsch, Frankfurt/M. Voltaire (1967): Artikel „Fanatismus“, in: ders., Philosophisches Wörterbuch, hg. v. K. Stierle, Frankfurt/M.
Ist und Soll. Von Hume bis Kant, und heute Paul Guyer
1. Einleitung Gewöhnlich denkt man, David Hume habe der modernen Metaethik durch den überzeugenden Beweis den Weg gewiesen, dass „soll“ nicht von „ist“ abgeleitet werden kann, dass normative Prinzipien also nicht von beschreibenden Aussagen abgeleitet werden können, sondern einer ganz anderen Art von Grundlegung bedürfen. Ebenso denkt man, dass Kant Hume in diesem Punkt standhaft gefolgt sei, obwohl er im Vergleich zu Hume eine völlig andere normative und nicht beschreibende Grundlegung moralischer Prinzipien vorgelegt habe. Dieses Bild ist jedoch irreführend. Tatsächlich hat Hume nur zeigen wollen, dass unsere moralischen Prinzipien nicht auf eine Beschreibung von Gegenständen oder Beziehungen gegründet werden können, die unabhängig von uns selbst und unseren Reaktionen auf sie sind. Sie können und müssen jedoch durch Beschreibungen unserer Empfindungen in Reaktion auf verschiedene Arten von menschlichen Handlungen und Charakteren gegründet werden. Er glaubte also, dass „soll“ von der richtigen Art von „ist“ abgeleitet werden kann. Kant hat zu Beginn seiner Karriere sowohl Humes allgemeine Strategie zur Begründung moralischer Prinzipien durch die Beschreibung unserer Reaktionen, als auch seine besondere Strategie zur Begründung jenen Prinzipien durch die Beschreibung unserer moralischen Empfindungen akzeptiert. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lehnt Kant die Hume’sche Strategie, das Fundament des allgemeinen Prinzips der Moralität im Gefühl statt in der Vernunft zu suchen, zwar ab, versucht dieses normative Prinzip jedoch noch immer auf eine Beschreibung unserer vernünftigen Natur zu gründen; er vertritt in diesem Werk also ebenfalls die Meinung, dass „soll“ von der richtigen Art von „ist“ abgeleitet werden kann. In der Kritik der praktischen Vernunft kehrt Kant die Richtung des Beweises aus der Grundlegung bekanntermaßen um, indem er behauptet, dass wir die Gültigkeit des moralischen Gesetzes nicht vom Faktum unserer transzendentalen Frei-
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heit, sondern unsere transzendentale Freiheit von unserer unmittelbaren Anerkennung unserer Verpflichtung zur Erfüllung des moralischen Gesetzes ableiten können. Man könnte meinen, Kant behaupte in seiner zweiten Kritik, dass „soll“ „kann“ impliziert, während er jedwede Ableitung von „soll“ aus „ist“ ablehnt. Aber dies vereinfacht Kants zweideutige Position in der zweiten Kritik. Tatsächlich schränkt sich Kant nur in der späteren Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft auf die Ableitung unserer Freiheit aus unserer Verpflichtung gegenüber dem moralischen Gesetz ein, ohne länger den Versuch zu machen, das moralische Gesetz selbst aus einer Beschreibung unserer vernünftigen Natur abzuleiten. Dies lässt die Frage offen, ob überhaupt eine Begründung des moralischen Gesetzes möglich ist, oder ob jenes grundlegende und unbedingte normative Prinzip schlicht für sich allein stehen muss. Dieser Aufsatz wird in erster Linie historisch und exegetisch sein. Zuerst werde Ich zeigen, dass Hume kein pauschales Verbot der Ableitung von „soll“ aus „ist“ aufgestellt hat, sondern nur zeigen wollte, dass „soll“ von der richtigen Art von „ist“ abgeleitet werden muss, nämlich von einer empirischen Beschreibung unserer moralischen Empfindungen. Danach werde ich zeigen, dass nachfolgende empiristische Moralphilosophen, wie Henry Home (Lord Kames) und Adam Smith, Humes Strategie der Begründung unserer moralischen Prinzipien durch die Beschreibung unserer moralischen Empfindungen akzeptiert haben, aber im Gegenzug versuchten, die Natur dieser Empfindungen selbst auf eine Weise zu erklären, die den Einwand, dass „soll“ niemals von „ist“ abgeleitet werden kann, entkräften mag. Sodann werde ich mich Kant zuwenden und zeigen, dass Kants Innovation in der Grundlegung nicht in der Behauptung besteht, „soll“ könne niemals von „ist“ abgeleitet werden, sondern in der Überzeugung, dass das grundlegende Prinzip der Moral nicht auf eine Beschreibung unserer Gefühle, sondern auf eine Beschreibung unserer Vernunft gegründet werden muss. Dann werde ich mich der Kritik der praktischen Vernunft und der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zuwenden, um zu zeigen, wie Kant diesen Ansatz allmählich aber letztlich endgültig aufgibt und zu der Auffassung gelangt, dass normative Prinzipien unabhängig von deskriptiven Aussagen für sich selbst stehen müssen. Am Ende werde ich kurz erwägen, welche Lehren wir aus dieser Entwicklung für die gegenwärtigen Strategien der Metaethik ziehen können.
2. Hume Wir müssen zuerst den Zusammenhang betrachten, in dem Hume zu sagen scheint, dass „soll“ niemals von „ist“ abgeleitet werden kann. Am
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Ende des ersten Abschnitts des ersten Teils von Buch III seines Treatise of Human Nature – einem Abschnitt, den Kant nicht vor der Erscheinung der vollständigen deutschen Übersetzung des Treatise 1790-92, also nicht vor der Vollendung all seiner moralphilosophischen Schriften mit Ausnahme der Religionsschrift (1793) und der Metaphysik der Sitten (1797) gelesen haben konnte, wenn er den Treatise überhaupt gelesen hat – schreibt Hume: In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always remark’d, that the author proceeds for some time in the ordinary course of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs, when of a sudden I am surpriz’d to find, that instead of the usual copulations of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, ’tis necessary that it shou’d be observ’d and explain’d; and at the same time that a reason shou’d be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it. But as authors do not commonly use this precaution, I shall presume to recommend it to the reader; and am perswaded, that this small attention wou’d subvert all the vulgar systems of morality, and let us see, that the distinction of vice and virtue is not founded merely on the relations of objects, nor is perceiv’d by reason.1
Der vorletzte Satz dieses Zitats scheint zu sagen, dass es „ganz unbegreifbar“ ist, wie ein „soll“ oder „soll nicht“ jemals von einem „ist“ oder „ist nicht“ abgeleitet werden kann, also scheint Hume zu meinen, dass normative moralische Prinzipien auf etwas anderes als die Beschreibung von Tatsachen gegründet werden müssen. Aber der letzte Satz dieses Zitats macht Humes wirkliche Meinung klar: Der Absatz fasst Humes vorhergehendes Argument zusammen, dass moralische Prinzipien nicht auf die bloße Feststellung von Beziehungen zwischen äußeren Gegenständen durch unser Vermögen der Vernunft gegründet werden können, und bereitet den Weg für Humes Argument vor, dass unsere moralischen Prinzipien von einer Beschreibung unserer Gefühle oder emotionalen Reaktionen auf bestimmte Beziehungen zwischen Menschen erklärt und abgeleitet werden können. Das Zitat steht am Ende des Abschnitts „Moral distinctions not deriv’d from reason“2 und bereitet den Weg für den Abschnitt „Moral distinctions deriv’d from a moral sense“3 vor. Humes Punkt ist also nicht, dass „soll“ niemals von „ist“ abgeleitet werden kann, sondern dass „soll“ vom richtigen „ist“ abgeleitet werden muss, nämlich von einer Beschreibung unserer moralischen Empfindungen statt von einer Be-
_____________ 1 Hume 2000, 302; Treatise, 3.1.1.27. 2 Hume 2000, 293; Treatise, 3.1.1. 3 Hume 2000, 302; Treatise, 3.1.2.
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schreibung unseres Vermögens der Vernunft bzw. von Tatsachen oder Beziehungen, die nur durch Vernunft erkannt werden können. Humes Argument hängt natürlich von einem besonderen Verständnis von Vernunft als Vermögen zur Entdeckung der Wahrheit ab, wobei Wahrheit als Übereinstimmung „either to the real relations of ideas, or to real existence and matter of fact“4 zu verstehen ist. Der Kern seines Arguments ist, dass moralische Prinzipien uns bewegen oder „an influence on the actions and affections“ haben müssen, dass die Entdeckung der Übereinstimmung von Vorstellungen oder einer Übereinstimmung von Vorstellungen mit wirklichem Sein für sich genommen uns jedoch nicht zum Handeln bewegen kann. Solch eine Entdeckung kann uns allenfalls zum erfolgreichen Handeln anleiten, aber nur wenn wir einen vorhergehenden Bewegungsgrund für dieses Handeln haben, der auf irgendeine Form von Affekt oder Begehren gegründet ist.5 Hume stützt seine allgemeine Behauptung, dass die Vernunft für sich gesehen inaktiv ist, mit Argumenten, die er von Francis Hutcheson übernimmt. Um Samuel Clarkes Theorie zurückzuweisen, nach der Moralität auf der vernunftgeleiteten Wahrnehmung bestimmter „fitnesses“ beruht, ist Hume auf ein Verständnis von Vernunft als einem bloßen Vermögen zur Feststellung von Beziehungen zwischen Vorstellungen angewiesen. Die Beziehung zwischen Vater und Kind ist eine allgemeine Beziehung zwischen Vorstellungen, die als eine Clarke’sche „fitness“ zählen mag. Aber die Tatsache, dass wir den Vatermord unter Menschen verabscheuen, auf einen jungen Baum, der „at last overtops and destroys the parent tree“6 jedoch nicht so reagieren, zeigt, dass unser moralisches Urteil über den menschlichen Vatermörder nicht auf Vernunft gegründet ist, sondern auf unserer besonderen Empfindung der Abscheu im Falle des menschlichen Beispiels dieser allgemeinen Beziehung. Um William Wollastons Theorie zurückzuweisen, nach der Moralität auf Vernunft gegründet ist, weil sie in der Geltendmachung von Wahrheit liegt, während Immoralität in der Verführung zum Glauben an Unwahrheit besteht, ist Hume auf ein Verständnis von Vernunft als dem Vermögen zur Entdeckung der Wahrheit, verstanden als die Beziehung zwischen Vorstellung und äußerem Gegenstand, angewiesen. Nach Wollastons Theorie, so spottet Hume, „I shou’d have been guilty of no immorality“ „if I had us’d the precaution of shutting the windows, while I engaged myself in […] liberties with my neighbor’s wife,“ weil in diesem Falle meine Handlungen „wou’d have had no ten-
_____________ 4 Hume 2000, 295; Treatise, 3.1.1.9. 5 Vgl. Hume 2000, 294; Treatise, 3.1.1.5-7. 6 Vgl. Hume 2000, 300; Treatise, 3.1.1.24.
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dency to produce any false conclusion“7. Aus seinem Argument der für sich betrachtet motivational inaktiven Vernunft folgert Hume, „that since vice and virtue are not discoverable merely by reason, or by the comparison of ideas, it must be by means of some impression or sentiment they occasion, that we are able to mark the difference between them […] Morality, therefore, is more properly felt than judg’d“ und „An action, or sentiment, or character is virtuous or vicious […] because its view causes a pleasure or uneasiness of a particular kind.“8 Lust und Unbehagen sind diejenigen Arten innerer Zustände, die uns anders als die bloße Wahrnehmung einer Übereinstimmung von Vorstellungen oder von Wahrheiten, die in der Übereinstimmung von Vorstellungen mit Wirklichkeiten bestehen, zum Handeln bewegen können; daher stellen sie eine geeignete Basis moralischer Prinzipien dar. Dies also ist der Zusammenhang, in dem Hume seine berühmte Aussage über „ist“ und „soll“ macht. Sein Punkt ist demnach, dass moralische Prinzipien nicht von rein objektiven, sachlichen Beziehungen abgeleitet werden können, die von einer Vernunft im Sinne Humes erkannt werden, sondern dass sie auf unseren Empfindungen von Billigung und Missbilligung (um die Sprache zu benutzen, die Hume von Hutcheson übernommen hat) menschlicher Handlungen, Empfindungen, und Charaktere beruhen. Humes Punkt ist nicht, dass normative Prinzipien niemals von Beschreibungen abgeleitet werden können, sondern dass sie von Beschreibungen der richtigen Dinge, nämlich unserer eigenen Empfindungen, abgeleitet werden müssen – Empfindungen die gefühlt werden, anders als einige andere Beziehungen, die durch Vernunft erkannt werden. Ohne die Wörter „ist“ und „soll“ zu gebrauchen, macht er genau denselben Punkt in seiner Enquiry concerning the Principles of Morals – einem Werk, mit dem Kant vertraut war – und er tut dies in einer Weise, die ihm so gut gefiel, dass er die entsprechende Stelle wörtlich in seinem Essay „The Sceptic“ wiederholt – einem Text auf den sich Kant in seiner Kritik der Urteilskraft unmissverständlich bezieht. In der Enquiry setzt Hume erneut voraus, dass „Reason judges either of matter of fact or of relations“. Er argumentiert, dass die Moralität sich nicht mit bloßen Beziehungen wie „contrariety“ beschäftigen kann, ohne unsere emotionalen Reaktionen auf ihre spezifischen Vergegenwärtigungen zu beachten, und dass sich die Vernunft zwar mit Tatsachen beschäftigt, aber nicht mit Tatsachen die ungeachtet unserer Gefühle in den Gegenständen erkannt werden können, sondern mit Tatsachen, die unsere Gefühle betreffen. Dann schreibt er:
_____________ 7 Hume 2000, 297; Treatise, 3.1.1.15f.; vgl. Hutcheson 1728/2002, 155-173, Abschnitte II-III. 8 Hume 2000, 302f.; Treatise, 3.1.2.1f.
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This doctrine will become still more evident, if we compare moral beauty with natural, to which, in many particulars, it bears so near a resemblance. It is on the proportion, relation, and position of parts, that all natural beauty depends; but it would be absurd thence to infer, that the perception of beauty, like that of truth in geometrical problems, consists wholly in the perception of relations, and was performed entirely by the understanding or intellectual faculties […] in all decisions of taste or external beauty, all the relations are before-hand obvious to the eye; and we thence proceed to feel a sentiment of complacency or disgust, according to the nature of the object, and the disposition of our organs.
Hume fährt fort: Euclid has fully explained all the qualities of the circle; but has not, in any proposition, said a word of its beauty. The reason is evident. The beauty is not a quality of the circle. It lies not in any part of the line, whose parts are equally distant from a common center. It is only the effect, which that figure produces upon the mind, whose peculiar fabric or structure renders it susceptible of such sentiments.
Dann zieht er einen Analogieschluss zu moralischen Urteilen: Again; attend to Cicero, while he paints the crimes of a Verres or Catiline; you must acknowledge that the moral turpitude results, in the same manner, from the contemplation of the whole, when presented to a being, whose organs have such a particular structure and formation.9
Dieses Zitat lokalisiert natürliche und moralische Schönheit nicht in den für sich betrachteten Eigenschaften der Gegenstände, sondern in den Reaktionen menschlicher Subjekte auf bestimmte Eigenschaften der Gegenstände. Humes Behauptung, dass diese Reaktionen von der „peculiar fabric or structure of the mind“, von der „particular structure and formation“ der „organs“ des Subjekts abhängen, macht klar, dass er nicht die Intention hat, moralische Prinzipien unabhängig von Tatsachenfeststellungen über Menschen zu begründen. Im Gegenteil: Sein Argument ist, dass der Verpflichtung zu erklären, wie eine moralische Theorie von „ist“ zu „soll“ gelangt, in vollem Umfang nachgekommen werden kann, indem man die genaue Beschreibung der Empfindungen oder emotionalen Reaktionen des Menschen auf die Wahrnehmung der verschiedenen Typen von Verhaltensweisen und Charakteren in die moralische Theorie miteinbezieht. Humes Unterscheidung zwischen „ist“ und „soll“ ist also keine Unterscheidung zwischen Deskriptivität und Normativität, sondern eine Unterscheidung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, allerdings in einem besondern Sinn: Moralische Prinzipien werden nicht durch eine Beschreibung der äußeren Objekte allein, sondern erst durch die
_____________ 9 Hume 2006, 87f.; 2. Enquiry, Appendix I. Hume wiederholt den Absatz über Euklid in Hume 1987, 165; „The Sceptic“. Kant bezieht sich auf „The Sceptic“, wenn er schreibt: „Obgleich also Kritiker, wie Hume sagt, scheinbarer vernünfteln können als Köche, so haben sie doch mit diesen einerlei Schicksal.“ (AA V 285)
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genaue Beschreibung der Gefühle des menschlichen Subjekts vollständig erklärt. Soviel zu Humes Intentionen: Er hat kein Problem darin gesehen, das, was wir für normative Prinzipien halten, auf das zu gründen, was wir für die Beschreibung von Tatsachen halten, solange es sich um eine Beschreibung der richtigen Tatsachen handelt. Andere Empiristen haben Humes allgemeine Strategie geteilt, moralische Prinzipien auf die Beschreibung der menschlichen Natur zu gründen, fühlten sich jedoch stärker verpflichtet zu zeigen, wie eine solche Beschreibung zu normativen Ergebnissen führen kann. Immerhin könnte eingewendet werden, dass dem Menschen zwar gewisse Empfindungen der Billigung und Missbilligung angeboren sind, dass diese jedoch wertlos oder unzweckmäßig sind. In diesem Fall könnte das Handeln nach diesen Empfindungen moralisch neutral oder sogar unzulässig statt verbindlich sein. In anderen Worten: Man kann das Gefühl haben, dass man ein Argument braucht, um zu zeigen, dass das Natürliche auch normativ ist.
3. Kames und Smith Eine einleuchtende Strategie zur Vermeidung einer Kluft zwischen dem Natürlichen und dem Normativen, d.h. zwischen der Beschreibung natürlicher menschlicher Empfindungen und normativer Moralprinzipien, ist die Erläuterung der menschlichen Natur als an selbstevidenterweise wertvolle Zwecke angepasst, was das Handeln in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur ebenfalls selbstevidenterweise wertvoll macht. Versionen dieser Strategie sind in Kames Essays on the Principles of Morality and Natural Religion (1751, im selben Jahr wie Humes zweite Enquiry) und in Smiths Theory of Moral Sentiments (1759) zu finden. Kames argumentiert gegen Hutcheson, dass wir neben einem Sinn für Wohlwollen auch einen Sinn für Gerechtigkeit haben müssen. Von Hume setzt er sich dadurch ab, dass er diesen Sinn für Gerechtigkeit als natürlich ansieht, statt ihn als eine „künstliche Tugend“ („artifical virtue“) zu betrachten. Mit beiden seiner Vorgänger stimmt er jedoch darin überein, dass unsere Beurteilungen der „morality of actions“ im Allgemeinen „on a certain quality of actions“ gegründet sind, die beim Betrachter dieser Handlungen „approbation and love to the agent“ bewirken.10 Sodann liefert er eine teleologische Erklärung des Vorhandenseins der Empfindungen der Gerechtigkeit und des
_____________ 10 Kames 2005, 31; Essays, Essay II, Chapter III.
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Wohlwollens in den Menschen und der Überlegenheit der Ersteren gegenüber den Letzteren: And here we must pause a moment, to indulge some degree of admiration upon this part of the human system. Man is evidently intended to live in society; and because there can be no society among creatures who prey upon one another, it was necessary, in the first place, to provide against mutual injuries. Further, man is the weakest of all creatures separately, and the very strongest in society; therefore mutual assistance is the chief end of society; and to this end it was necessary that there should be mutual trust and reliance upon engagements […] Now, nothing can be more finely adjusted than the human heart to answer these purposes.11
Die menschlichen Gefühle der Billigung und Missbilligung sind offensichtlich nicht unzweckmäßig und wertlos, sondern wurden im Gegenteil so eingerichtet, dass sie die Realisierung des Wohls der menschlichen Gesellschaft befördern. Um sicher zu gehen, fährt Kames fort: „Approbation or disapprobation merely, is not sufficient to subject our conduct to the authority of a law.“ Dies erweckt den Anschein, als erkenne er einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Deskriptiven und dem Normativen an. Aber so ist es nicht. Stattdessen argumentiert Kames, dass die Natur weitere Maßnahmen ergriffen hat bzw. uns selbst weitere Maßnahmen ergreifen lässt, um unseren Gefühlen der Billigung und Missbilligung die starke Autorität eines Gesetzes zu verleihen. Die Natur leitet uns dazu an, äußere Sanktionen mit der Verletzung unserer Empfindungen der Gerechtigkeit zu verknüpfen, so dass wir uns zur Durchsetzung der Prinzipien der Gerechtigkeit nicht allein auf die Stärke dieser Empfindungen verlassen müssen. Weiter schreibt er „Sympathy is a principle implanted in the breast of every man,“ das es uns unmöglich macht, „[to] hurt another without suffering for it, which is an additional punishment“. Im Gegensatz zu äußeren Sanktionen ist Sympathie also eine innere Sanktion, die die Autorität unserer moralischen Empfindungen steigert. Der Punkt bei all diesen Überlegungen ist, dass der Wert der moralischen Empfindungen durch ihre Rolle bei der Beförderung der Gesellschaft vollständig erklärt ist, und dass sich auch ihre Autorität vollständig auf die natürlichen Dispositionen des Menschen gründet. Indem man die natürliche Beteiligung unserer Empfindungen am Erreichen selbstevidenterweise wertvoller Zwecke darstellt, erreicht man eine vollständige Darstellung ihrer moralischen Kraft. Adam Smith verfolgt eine ähnliche Strategie, wenn er die motivierende Kraft der Empfindungen durch ihren natürlichen Ursprung und ihre na-
_____________ 11 Kames 2005, 36; Essays, Essay II, Chapter III.
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türliche Rolle in der selbstevidenterweise wertvollen Erhaltung und Beförderung der Gesellschaft erklärt. Die grundlegende Idee der Theory of Moral Sentiments ist, dass wir unsere moralischen Empfindungen zunächst durch die Sympathie mit den Reaktionen einer zweiten Person auf die Handlungen einer dritten bilden, wenn wir selbst keiner der beiden Parteien angehören, sondern unparteiische Beobachter sind. Erst dann lernen wir, den Standpunkt des unparteilichen Beobachters auch auf uns selbst anzuwenden, also zu beurteilen, wie andere unser Benehmen empfinden würden, wenn sie so viel über unsere eigenen Beweggründe und Absichten wüssten wie wir selbst. Die Übereinstimmung unserer Empfindungen, die entsteht, wenn wir alle unsere eigenen Gefühle vom Standpunkt des unparteilichen Beobachters unserer eigenen Motive aus korrigieren „is sufficient for the harmony of society“. „In order to produce this concord, as nature teaches the spectators to assume the circumstances principally concerned, so she teaches this last in some measure to assume those of the spectators.“12 Smiths Idee ist, dass unsere natürliche, ursprüngliche Tendenz zu fühlen auch auf natürliche Weise verfeinert wird, um zu einem verlässlichen Mittel zur Erhaltung und Beförderung der Gesellschaft zu werden, deren Wert selbstevident ist. Diesen Ansatz weitet Smith auch auf unsere durch Einsatz der Sympathie bewirkten Gefühle der Verstimmung gegenüber Ungerechtigkeiten gegen uns selbst und andere aus. Er schreibt: Resentment seems to have been given us by nature for defence, and for defence only. It is the safeguard of justice and the security of innocence. It prompts us to beat off the mischief which is attempted to be done to us, and to retaliate that which is already done; that the offender may be made to repent of his injustice, and that others, through fear of the like punishment, may be terrified from being guilty of the like offence.13
Unser moralischer Sinn dafür, dass gewisse Handlungen Strafe verdienen, und unsere darauf folgende Bereitschaft, sie zu bestrafen, werden als ein Mechanismus der Natur, als „the safeguard of justice and the security of innocence“ erklärt. Diese Annahme über die Funktionsweise unserer Gefühle wird dann in eine teleologische Betrachtungsweise der Natur eingebettet: „It is thus that man, who can subsist only in society, was fitted by nature to that situation for which he was made.“14 Diese Teleologie kann die motivierende Kraft der menschlichen Empfindungen erklären, nicht jedoch die der menschlichen Vernunft:
_____________ 12 Smith 2002, 27; Moral Sentiments, Part I, Section I, Chapter IV. 13 Smith 2002, 92; Moral Sentiments, Part II, Section II, Chapter I. 14 Smith 2002, 102; Moral Sentiments, Part II, Section II, Chapter III.
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In every part of the universe we observe means adjusted with the nicest artifice to the ends which they are intended to produce; and in the mechanism of a plant, or animal body, admire how every thing is contrived for advancing the two great purposes of nature, the support of the individual, and the propagation of the species […] [But] When by natural principles we are led to advance those ends, which a refined and enlightened reason would recommend to us, we are very apt to impute to that reason, as to their efficient cause, the sentiments and actions by which we advance those ends, and to imagine that to be the wisdom of man, which in reality is the wisdom of God.15
Smiths Punkt ist, dass moralische Prinzipien und Praktiken, die als Produkte der menschlichen Vernunft erscheinen können, in Wahrheit das Produkt der durch unsere Empfindungen wirkenden Natur sind. Er akzeptiert also eine im wesentlichen Hume’sche Annahme, nach der der Ursprung der moralischen Prinzipien im Gefühl statt in der Vernunft liegt, während er unsere Gefühle selbst in ein teleologisches Gerüst einbettet, das jegliche Frage nach der normativen Kraft des bloß Natürlichen verhindert. Und während er eine solche Erklärung der motivationalen Kraft unserer Empfindungen gibt, behauptet er ausdrücklich, bloß Tatsachen der menschlichen Natur zu beschreiben: the present inquiry is not concerning a matter of right, if I may say so, but concerning a matter of fact. We are not at present examining upon what principles a perfect being would approve of the punishment of bad actions; but upon what principles so weak and imperfect creature as man actually and in fact approves of it.16
Offensichtlich glaubt Smith nicht, dass die Erklärung der die Gesellschaft erhaltenden und fördernden Funktion moralischer Empfindungen oder die Annahme, dass sie von einem weisen Schöpfer zu diesem Zweck eingerichtet wurden, den beschreibenden Charakter seiner Erklärung untergräbt. In seinen Elements of Criticism, die drei Jahre nach Smiths Theory of Moral Sentiments veröffentlicht wurden, fügt Kames eine weitere Komponente zu einer naturalistischen Erklärung unserer Normen hinzu. In seiner Verteidigung der Existenz eines Maßstabs des Geschmacks im letzten Kapitel dieser umfangreichen Arbeit, behauptet Kames, dass es für uns natürlich ist, dass uns all diejenigen Angehörigen einer bestimmten Spezies gefallen, die ihrer „common nature“ entsprechen, und dass uns diejenigen missfallen, die von dieser „common nature“ abweichen, egal ob es sich dabei um die menschliche Spezies handelt oder um irgendeine andere und egal ob diese „common nature“ ihre moralischen Empfindungen und ihren Cha-
_____________ 15 Smith 2002, 102; Moral Sentiments, Part II, Section II, Chapter III. 16 Smith 2002, 90f.; Moral Sentiments, Part II, Section I, Chapter V.
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rakter oder irgendeinen anderen Aspekt ihrer Erscheinung betrifft. Die „common nature“ ist kein in sich normatives Konzept, sondern schlicht dasjenige Muster, mit dem die Mehrheit der Gattung übereinstimmt. Dennoch wird sie von uns natürlicherweise „conceived to be a model or standard for each individual that belongs to the kind.“ Wir haben es einfach gern, wenn Geschöpfe der gemeinen Natur ihrer Spezies entsprechen, und wir mögen es nicht, wenn sie es nicht tun. This conviction of a common nature or standard and of its perfection, accounts clearly for that remarkable conception we have, of a right and a wrong sense or taste in morals. It accounts not less clearly for the conception we have of a right and a wrong sense or taste in the fine arts. A man who, avoiding objects generally agreeable, is condemned as a monster; we disapprove his taste as bad or wrong, because we have a clear conception that he deviates from the common standard […] as the conviction of a common standard is universal and a branch of our nature, we intuitively conceive a taste to be right or good if conformable to the common standard, and wrong or bad if disconformable.17
Kames erklärt das, was wir als eine Norm verstehen mögen, nach der Menschen in ihrem Benehmen oder in ihren ästhetischen Beurteilungen einem bestimmten Maßstab entsprechen sollen, als eine völlig natürliche Präferenz. Zweifellos wäre er damit einverstanden gewesen, eine teleologische Erklärung dieser Bevorzugung zu geben; und tatsächlich sagt er eine Seite später „Uniformity of taste and sentiment resulting from our conviction of a common standard leads to two important final causes“. Die erste dieser beiden ist: „Unhappy it would be for us did not uniformity prevail in morals.“18 Er geht diesem Punkt nicht weiter nach, „because it does not properly belong to the present undertaking“, aber offensichtlich glaubt er, dass die theoretische Erklärung dieser Tendenz durch die Philosophie nicht notwendig ist, um ihre motivierende Kraft für uns zu rechtfertigen. Kames glaubt wie Smith, dass die motivierende Kraft unserer moralischen Empfindungen durch eine vollständige Beschreibung unserer Natur aufgezeigt werden kann und keine weitere Rechtfertigung braucht. Wenn wir über eine richtige und vollständige Erklärung von dem verfügen, was ist, dann gibt es kein Problem bei der Erklärung warum wir ein „soll“ oder eine Verbindlichkeit fühlen.
_____________ 17 Kames 2005a, 721f.; Elements of Criticism, Chapter XXV, volume II. 18 Kames 2005a, 723f.; Elements of Criticism, Chapter XXV, volume II.
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4. Kant Nun möchte ich zeigen, dass Kant die britische Strategie, moralische Prinzipien auf Gefühle statt auf Vernunft zu gründen, zwar recht früh zurückgewiesen hat, dass er die allgemeinere Strategie, moralische Prinzipien auf eine angemessene Beschreibung der menschlichen Natur zu gründen, jedoch nicht so schnell zu Gunsten einer nicht-beschreibenden, normativen Art von Ableitung moralischer Prinzipien verworfen hat. Im Gegenteil: Das zentrale Argument für die Gültigkeit des moralischen Prinzips in Kants Grundlegung gründet auf einer Beschreibung der menschlichen Natur. Erst später und allmählich ging Kant dazu über, eine derartige Strategie in der Moralphilosophie abzulehnen. In seinem frühen moralphilosophischen Denken steht Kant den britischen Naturalisten keineswegs fern. Seine ersten erwähnenswerten Bemerkungen zur Moralphilosophie finden sich in der Preisschrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral aus dem Jahr 1764. Die Preisschrift ist in erster Linie der Unterscheidung zwischen der philosophischen und der mathematischen Methode gewidmet. In ihr argumentiert Kant, die Philosophie könne ihre Gegenstände nicht aus Anschauungen konstruieren, sondern müsse von der Analyse der Begriffe bis zur Definition voranschreiten. Kant beabsichtigt sicherlich nicht, philosophische Analyse mit empirischer Beobachtung gleichzusetzen, aber er verfügt auch noch nicht über seinen späteren Begriff von Philosophie als synthetische Erkenntnis a priori und gibt keine klare Beschreibung derjenigen Begriffe, die die Philosophie analysiert. Er sagt bloß, „da die Definitionen in der Mathematik die ersten unerweislichen Begriffe der erklärten Sachen sind, so müssen an deren Statt verschiedene unerweisliche Sätze in der Metaphysik die ersten Data angeben“19. Wenn Kant sich den Grundsätzen der Moralität zuwendet, lautet der Titel dieses Abschnitts: „Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig.“20 Der Grund für diese Behauptung ist, dass es zwar leicht ist, formale erste Grundsätze der Moralität anzugeben, z.B. „die Regel: Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“, dass solche formalen Grundsätze ohne „materiale erste Gründe“, die uns sagen, welche der konkreten, uns möglichen Handlungen eigentlich mehr oder weniger vollkommen sind, jedoch unvollständig sind.21 Kant glaubt, dass die Frage nach materialen
_____________ 19 AA II 296; UDGTM, Dritte Betrachtung, §3. 20 AA II 298; UDGTM, Vierte Betrachtung, §2. 21 AA II 299; UDGTM, Vierte Betrachtung, §2.
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ersten Gründen von seinen Vorgängern im Allgemeinen vernachlässigt wurde. „Man hat es nämlich in unsern Tagen allererst einzusehen angefangen: dass das Vermögen […] das Gute zu empfinden, das Gefühl sei.“ Er legt daher nahe, dass die materialen Grundsätze der Moralität durch unsere Gefühle vorgegeben werden, und dass aus diesem Grunde Urteile der Form: „dieses ist gut, völlig unerweislich“ sind. Solche Urteile sind „eine unmittelbare Wirkung von dem Bewusstsein des Gefühls der Lust mit der Vorstellung des Gegenstandes“22. Die unentbehrlichen materialen Grundsätze der Moralität sind also unerweislich. Kant schreibt diese Theorie, die ihm nicht die Gunst der Berliner Akademie der Wissenschaften eingebracht hat, „Hutcheson und andere[n]“23 zu. In dieser Phase seiner Karriere hatte Kant also keine Bedenken, moralische Prinzipien auf eine Beschreibung unserer Gefühle zu gründen, obwohl er schon zu der Einsicht gekommen war: „so sind so lange alle Handlungen, die die Moral unter der Bedingung gewisser Zwecke vorschreibt, zufällig und können keine Verbindlichkeiten heißen, so lange sie nicht einem an sich nothwendigen Zwecke untergeordnet werden.“24 Er zieht also keine scharfe Grenze zwischen dem Beschreibenden und dem Normativen und streitet nicht ab, dass man ein „soll“ aus einem „ist“ gewinnen kann. Sechs Jahre später, in seiner Inaugural-Dissertation De Mundi Sensibilis atque Intelligibilis Forma et Principiis, bemerkt Kant, dass „Philosophia […] moralis, quatenus principia diiundicandi prima suppeditat, non cogniscitur nisi per intellectum purum et pertinent ipsa ad philosophiam puram“25. Damit weist er die Hutcheson’sche, empirische Grundlage der Moralität, mit der er zuvor geliebäugelt hatte, klar zurück. Er sagt jedoch nicht mehr über Moralität als genau dies, daher können wir nichts über sein Konzept einer rein philosophischen Erklärung moralischer Prinzipien aussagen, außer dass es nicht-empirisch ist. Es ist auch alles andere als klar, dass Kant sich 1770 bereits auf eine rein rationale statt empirische Grundlegung der moralischen Prinzipien festgelegt hatte. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, hat Kant nicht nur in den 1760ern sondern bis weit in die 1770er Jahre hinein eine Strategie verfolgt, die von der empirischen Tatsache auszugehen scheint, dass Menschen die Beherrschung ihrer eigenen Freiheit der Wahl durch die Entscheidungen anderer Menschen oder durch ihre eigenen Triebe verabscheuen und daher ihre Vernunft gebrauchen, um ein Prinzip zu finden, mittels dessen diese Beherrschung vermieden werden
_____________ 22 AA II 299; UDGTM, Vierte Betrachtung, §2. 23 AA II 300; UDGTM, Vierte Betrachtung, §2. 24 AA II 298; UDGTM, Vierte Betrachtung, §2. 25 AA II 396; MSI, §9.
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kann, das Prinzip nämlich, dass jeder nur so weit nach seinen besonderen Neigungen handeln soll, wie sein Handeln mit seiner eigenen Freiheit, nach anderen Neigungen zu handeln, und mit der Freiheit anderer, nach ihren Neigungen zu handeln, verträglich ist. Dies ist eine empirische Ableitung mindestens eines Analogons des moralischen Gesetzes von etwas, das als Tatsache über unsere grundsätzlichsten Vorlieben angesehen wird, kombiniert mit unserer Fähigkeit darüber nachzudenken, wie diese Vorlieben am besten zu erfüllen sind. Das erste Werk, in dem Kant versucht eine ausführliche Erklärung moralischer Prinzipien als allein in „intellectum purum“ gegründet zu liefern, ist die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten fünfzehn Jahre später. Ich behaupte nun, dass Kants Verständnis der moralphilosophischen Methode in diesem Werk zwar eindeutig nicht empirisch, aber tatsächlich noch immer beschreibend ist: Kants Strategie in diesem Werk ist, die Gültigkeit des kategorischen Imperativs für uns Menschen auf eine angemessene Beschreibung unserer vernünftigen Natur zu gründen. In dieser Schrift unterscheidet Kant durchweg klar zwischen kontingenten Handlungsmaximen, die auf bloßen Neigungen beruhen, und einem genuin notwendigen moralischen Prinzip; aber er unterscheidet nicht zwischen einer beschreibenden und einer normativen Strategie zur Ableitung des letzteren. Der Charakter von Kants Strategie in der Grundlegung wird im dritten Abschnitt klar. In den zwei vorhergehenden Abschnitten hat Kant den Inhalt des kategorischen Imperativs analytisch abgeleitet, im ersten Abschnitt durch eine Analyse der allgemeinen Begriffe des guten Willens und der Pflicht, im zweiten Abschnitt durch eine Analyse des philosophischen Begriffs eines kategorischen Imperativs selbst. Aber am Ende des zweiten Abschnitts betont er, dass er noch nicht bewiesen hat, dass die „Sittlichkeit kein Hirngespinst sei,“ dass also „der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr, und als ein Prinzip a priori schlechterdings notwendig ist“, in anderen Worten, dass die Ergebnisse dieser Analysen wirklich auf uns angewendet werden können und uns dazu verpflichten, dem kategorischen Imperativ Folge zu leisten. Dies zu beweisen, sagt Kant, „erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft“ und dieser wiederum erfordere „eine Kritik dieses Vernunftvermögens selbst“26, die Kant im dritten und letzten Abschnitt des Werks zu liefern verspricht. Kant beginnt den dritten Abschnitt mit der Behauptung, dass ein genuin freier Wille nur ein Wille unter dem moralischen Gesetz sein kann, dass wir jedoch nicht durch die bloße Annahme unserer Freiheit beweisen können, dass wir als Subjekte unter dem
_____________ 26 AA IV 445; GMS, Abschnitt II.
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moralischen Gesetz stehen, weil darin „eine Art von Zirkel“ liegen würde, denn: „Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken“ und „wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben“. Um dieser „Art von Zirkel“ zu entgehen, argumentiert Kant weiter, müssen wir untersuchen, „ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen“27. Er liefert dann ein metaphysisches Argument, dass wir diesen anderen Standpunkt einnehmen müssen, und dass wir, wenn wir dies tun, erkennen werden, dass das moralische Gesetz unsere eigentliche Natur beschreibt. Er argumentiert folgendermaßen: Erstens, Überlegungen über sinnliche Wahrnehmung sollten sogar den „gemeinsten Verstand“ von dem Unterschied zwischen der Erscheinung der Dinge „als sie uns affizieren“ und dem, „was sie an sich sein mögen“, überzeugen, obwohl Kant sich keine Mühe macht, dies genauer zu erklären. Zweitens, daraus folgt: „Sogar sich selbst und zwar nach der Kenntnis, die der Mensch durch innere Empfindung von sich hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei“; also muss jeder Mensch anerkennen, dass er „über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen“ muss. Nun mag es scheinen, als ob uns dies zur völligen Unwissenheit über die wirkliche Natur unseres Selbst verdammen muss, aber das ist nicht der Schluss, den Kant zieht. Stattdessen stellt er fest, dass „der Mensch […] in sich wirklich ein Vermögen [findet], dadurch er sich von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft“. Kant folgert daraus, dass es die Vernunft ist, die unser Selbst, wie es an sich sei, von dem Selbst, wie es erscheint, unterscheidet, dass die Vernunft also unsere eigentliche Natur ist. Daraus wiederum schließt er, dass das moralische Gesetz das Gesetz unserer eigentlichen Natur ist: Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz (also nicht von Seiten seiner unteren Kräfte), nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, sofern es zur Sinnenwelt gehört, nämlich unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter
_____________ 27 AA IV 450; GMS, Ab. III.
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Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind.
Diese zuletzt angesprochenen Gesetze sind nichts anderes als das moralische Gesetz. „Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken“, mit der „nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden“ ist und „mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit“.28 Dieses Argument bringt viele Probleme mit sich, die ich hier nicht besprechen werde.29 An dieser Stelle möchte ich nur den Punkt hervorheben, dass dieses Argument auf einer Beschreibung unseres noumenalen Selbst beruht, nicht auf einem Versuch, die unbedingte und übergeordnete Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs durch normative Erwägungen gleich welcher Art zu begründen. Der Fehler aller vorhergehenden Moralphilosophien ist also nicht, dass sie Beschreibungen der Quelle unserer moralischen Urteile liefern, wo sie eine Art von normativer Begründung für sie hätten liefern sollen, sondern dass ihre Beschreibungen nicht auf der richtigen Ebene angesiedelt sind: Sie beschreiben die Gefühle und Neigungen unseres phänomenalen Selbst statt der eigentlichen Natur unseres noumenalen Selbst. Kant scheint zu denken, dass die Einzigartigkeit der Vernunft es ihm erlaubt, die eigentliche Natur unseres noumenalen Selbst zu beschreiben, und dass kein weiteres Argument gleich welcher Art nötig ist, um zu begründen, dass wir dem moralischen Gesetz Folge leisten sollen, da das moralische Gesetz das einzig mögliche Gesetz ist, das zur Beschreibung des noumenalen Selbst zur Verfügung steht. Mit anderen Worten: In diesem Argument begnügt sich Kant damit, das moralische Gesetz, dem wir folgen sollen, von einer metaphysischen Erklärung dessen, was wir sind abzuleiten. In der Kritik der praktischen Vernunft nur drei Jahre später lehnt Kant weite Teile seiner Strategie aus der Grundlegung klar ab, gibt die Annahme, dass das moralische Gesetz unsere eigentliche, noumenale Natur beschreibt, jedoch nicht eindeutig auf. In der zweiten Kritik sagt Kant bekanntlich, dass „das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben“ ist. „Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion“ bewiesen werden. Etwas anderes aber und ganz Widersinnisches tritt an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips, nämlich, dass es umgekehrt
_____________ 28 Alle Zitate von Kant AA IV 451f.; GMS, Ab. III. 29 Für eine weiterführende Besprechung vgl. Guyer 2007, Chapter 7 und Guyer 2007a.
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selbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens dient […] nämlich das der Freiheit.30
Hier sagt Kant, dass die Gefahr in einen Zirkel zu geraten, bestehend aus der Annahme unserer Freiheit und der Annahme der Gültigkeit des moralischen Gesetzes, nicht durch den Beweis abzuwenden sei, dass wir wirklich vernünftig und daher wirklich frei sind und wirklich vom moralischen Gesetz beherrscht werden. Stattdessen sei diese Gefahr nur durch die Ableitung unserer Freiheit aus der ebenso unerweislichen wie unbestreitbaren Gültigkeit des moralischen Gesetzes abzuwenden. Die Grundlage dieser Folgerung soll das Faktum sein, dass sich uns das moralische Gesetz nicht als eine Beschreibung unseres eigentlichen Selbst oder als Beschreibung von irgendetwas anderem, sondern als eine unbedingte Verbindlichkeit darstellt. Aufgrund des Prinzips „soll impliziert kann“ sind wir in der Lage, von der Tatsache, dass wir diesem Prinzip gerecht werden sollen, darauf zu schließen, dass wir frei sind es auch zu tun. In der zweiten Kritik soll also ein „ist“ – dass wir frei sind, den Anforderungen des moralischen Gesetzes gerecht zu werden – von einem „soll“ abgeleitet werden; eine Beschreibung unserer Vermögen soll aus einem irreduzibel normativen Prinzip abgeleitet werden, statt umgekehrt. Eine nähere Untersuchung von Kants erster Darstellung der Lehre vom „Faktum der Vernunft“ mag jedoch nahe legen, dass Kant noch keine so scharfe Unterscheidung zwischen beschreibenden und normativen Sätze macht, wie wir vielleicht denken. Kant stellt zuerst fest: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen […] wechselweise auf einander zurück.“ Er bestreitet jedoch, dass wir die Gültigkeit des moralischen Gesetzes ausgehend vom Faktum unserer Freiheit beweisen können, denn „deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden […] noch darauf aus der Erfahrung schließen“. Dann argumentiert er, dass wir uns des moralischen Gesetzes „unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen)“ und dass wir dadurch sehen, dass „die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingung zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt“. Weiter sagt er, dass wir uns bewusst werden, einen „reinen Willen“ zu haben, „indem wir auf die Notwendigkeit, womit uns die Vernunft [praktische Gesetze] vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben“. Er beruft sich nur auf das Prinzip, dass jemand urteilt, „daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, dass er es soll“, wenn er sich auf ein Beispiel beruft, um zu zeigen, dass „auch die Erfahrung […] diese Ordnung der Begriffe in uns“
_____________ 30 AA V 47; KpV.
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bestätigt.31 Kants Hauptargument ist also nicht, dass wir von unserer Anerkennung der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes auf unsere Freiheit schließen, sondern dass die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes seine Reinheit nach sich zieht und dadurch zeigt, dass wir neben einer reinen Vernunft auch einen reinen Willen haben, d.h. einen Willen, der nicht stärker als die reine Vernunft durch bloße Phänomene bestimmt ist. Dieses Argument scheint ganz im indikativen und sachlichen Stil geschrieben zu sein: Jeder Versuch darüber nachzudenken, ob wir nach einer bestimmten Maxime handeln können, macht uns unmittelbar deutlich, dass wir die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes, dass wir nur nach verallgemeinerbaren Maximen handeln sollen, bereits anerkennen, und diese Notwendigkeit selbst macht uns die Reinheit unseres eigentlichen Willens unmittelbar deutlich. Kants Argument scheint also nicht auf einer offensichtlich normativen Form des Denkens zu beruhen, sondern auf einer Beschreibung unseres moralischen Denkens und der metaphysischen Prämisse, dass die Notwendigkeit eines Satzes die Reinheit der damit verbundenen Vermögen impliziert. Es liegt nicht in meiner Absicht zu bestreiten, dass Kant auf dem Weg zu einer klaren Formulierung der Unterscheidung zwischen „ist“ und „soll“, zwischen dem Beschreibenden und dem Normativen war, von der man traditionell aber fälschlicherweise annimmt, sie gehe auf Hume zurück und Kant habe sie von Anfang an übernommen. In der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die weitere fünf Jahre nach der zweiten Kritik veröffentlicht wurde, verlässt sich Kant eindeutig und durchgehend auf das Prinzip „soll impliziert kann“, um von unserem Bewusstsein unserer Verpflichtung gegenüber dem moralischen Gesetz unsere radikale Freiheit abzuleiten, auf deren Grundlage uns sowohl Böses als auch Gutes zugerechnet werden kann. Das Argument der Religion basiert auf der Behauptung, dass, obwohl alle Menschen augenscheinlich ursprünglich das Böse wählen, doch „das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele“ erschallt; „folglich müssen wir es auch können“.32 Hier beginnt Kant eindeutig mit einem „soll“, d.h. mit einem normativen Prinzip, das nicht so vorgestellt wird, als brauche es eine weitere Erklärung oder Ableitung, und leitet davon ein „können“ ab, d.h. eine Beschreibung unserer unentziehbaren Fähigkeit gut zu werden, selbst wenn wir vorher schon das Böse gewählt haben. An dieser Stelle fühlt Kant offensichtlich kein Bedürfnis, eine Erklärung unseres Bewusstseins unserer Verpflichtung gegenüber dem moralischen Gesetz zu geben. Dies
_____________ 31 AA V 29; KpV. 32 AA VI 45; RGV; vgl. auch AA VI 41, 47, 50, 55 und 62.
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kann natürlich der Tatsache geschuldet sein, dass er glaubt, dieses Problem bereits mehr als hinreichend behandelt zu haben, und sich nun nur noch mit der Aufgabe befassen will, die religiösen Implikationen seiner Moralphilosophie zu erläutern, indem er die zentrale Glaubenssachen des Christentums im Lichte seiner eigenen Philosophie neu auslegt oder untergräbt (wie immer man es sehen will). Wenn das so ist und wenn Kants frühere Arbeiten es unklar gelassen haben, ob er sich wirklich auf eine unbedingte Unterscheidung zwischen dem Beschreibenden und dem Normativen und damit auf die Unmöglichkeit einer Ableitung des „ist“ vom „soll“ festlegt, dann lässt die Religionsschrift dies ebenfalls unklar.
5. Schluss Ich habe gezeigt, dass Hume und Kant sich keineswegs so eindeutig auf die Unmöglichkeit einer Ableitung eines „soll“ aus einem „ist“ festlegen, wie gemeinhin gedacht wird. Ich habe mich auf einige Aspekte der Sichtweisen von Lord Kames und Adam Smith berufen, um zu erklären, warum zumindest traditionelle Empiristen nicht glauben müssen, dass eine beschreibende Metaethik selbstevidenterweise absurd ist. Ich möchte nun mit der kurzen Andeutung schließen, dass die Unmöglichkeit einer Ableitung von „soll“ aus „ist“ auch in der gegenwärtigen Metaethik nicht so fest verwurzelt ist, wie man meinen könnte, ja dass führende Strategien in der gegenwärtigen Metaethik genau wie Hume und Kant annehmen, dass moralische Prinzipien auf der richtigen Beschreibung der Beschaffenheit des Menschen gründen können. Ich denke hier einerseits an evolutionäre Strategien zur Erklärung moralischer Prinzipien, die sich auf die menschliche Geschichte und das Verhalten der anderen höheren Primaten berufen, um zu zeigen, dass Prinzipien der gesellschaftlichen Kooperation entstehen, weil sie den Gruppen, in denen sie auftreten, selektive Vorteile bringen.33 Solche Theorien beerben die empirischen Ansätze über das Aufkommen der „künstlichen Tugend“ oder des „Rechtsinnes“ unter Umständen, in denen Kooperation für die Erhaltung und Entwicklung der Gesellschaft unentbehrlich ist, wie wir sie bei Hume, Kames, und Smith finden; allerdings mit der Berichtigung, dass die Anordnung unserer durch unsere Umgebung geschaffenen Bedürfnisse nun durch den Darwin’schen Mechanismus zufälliger Mutationen in Verbindung mit natürlicher Selektion erklärt wird statt durch eine günstige Vorsehung der Natur oder einen wohlwollenden Schöpfer.
_____________ 33 Z.B. Skyrms 1996 und Bicchieri 2006.
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Andererseits denke ich an das Projekt, moralische Prinzipien vom Standpunkt der ersten Person abzuleiten, von dem aus man sich selbst als rationalen Handelnden begreift, d.i. als einen Handelnden, der von sich selbst glaubt Gründe für seine Handlungen zu haben34, oder vom Standpunkt der zweiten Person aus, von dem aus wir die Möglichkeit haben, uns gegenseitig Gründe für unsere Handlungen zu geben35. In ihrer Entwicklung der ersten dieser Strategien schreibt Christine Korsgaard: „If we do not treat our humanity as a normative identity, none of our other identities can be normative, and then we can have no reasons to act at all.“36 D.h. wenn wir uns nicht als unter der allgemeinen Verbindlichkeit stehend betrachten, nur aus guten Gründen zu handeln, dann sind wir nicht in der Lage, unsere besonderen Begierden und Vorhaben als Gründe anzusehen, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Sie scheint also vorzuschlagen, dass das Nachdenken über moralische und andere Formen des Handelns auf ein nicht reduzierbares normatives Prinzip gegründet werden muss, das nicht von einer Beschreibung der menschlichen Natur oder den Bedingungen des menschlichen Lebens abgeleitet werden kann. Unmittelbar vor diesem Satz sagt Korsgaard jedoch: To act morally is to act in a certain way simply because you are human […] Among the many things that you are, you are a member of the party of humanity, or a Citizen of the Kingdom of Ends. And this identity like any other carries certain obligations.
Also scheint ihre Position zu sein, dass unsere grundlegenden Normen unmittelbar von grundlegenden Tatsachen über unsere Identität abgeleitet werden, dass unsere Verbindlichkeiten also durch eine angemessene Beschreibung unserer Identität erklärt werden können. Ebenso scheint mir das Projekt der Herleitung bestimmter Normen als notwendige Bedingungen des Standpunkts der zweiten Person seine Kraft aus der Annahme der Tatsache zu beziehen, dass wir uns selbst als in zwischenmenschlichen Beziehungen lebend vorfinden und diese Beziehungen im Bewusstsein der damit verbundenen Kosten erhalten und ihre Vorteile genießen wollen. Keine dieser gegenwärtigen metaethischen Strategien würde sich selbst als empirisch begreifen, wie es die gegenwärtige evolutionäre Ethik tut – sicher betrachtet Korsgaard unsere Mitgliedschaft im Reich der Zwecken nicht als eine empirisch erkennbare und erklärbare Tatsache –
_____________ 34 Vgl. Korsgaard 1996; The Sources of Normativity, chapter 3. 35 Vgl. Scanlon 1998 und Darwall 2006. 36 Korsgaard 1996, 129; The Sources of Normativity.
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aber beide teilen mit der letzteren Methode die Annahme, dass die normative Kraft moralischer Prinzipien von bestimmten Tatsachen über die Natur und Beschaffenheit des Menschen abgeleitet werden kann. Wenn dies richtig ist, dann ist die zentrale Frage für weitere Fortschritte in der Theorie der Moral nicht, ob wir normative und beschreibende Ansätze strikt unterscheiden sollen, sondern ob wir unter den beschreibenden Ansätzen eine empirische Methode in der Tradition von Hume, Kames, und Smith vorziehen, oder eine a priori Methode in der Tradition des rationalen Deskriptivismus aus Kants kritischer Periode anwenden sollen. Übersetzung: Frank Brosow
Literatur Bicchieri, Cristina (2006): The Grammar of Society: The Nature and Dynamics of Social Norms, Cambridge. Darwall, Stephen (2006): The Second-Person Standpoint: Morality, Respect, and Accountability, Cambridge, MA. Guyer, Paul (2007): Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A Reader’s Guide, London. Guyer, Paul (2007a): „Naturalistic and Transcendental Moments in Kant’s Moral Philosophy“, in: Inquiry, Vol. 50, 444-464. Home, Henry (Lord Kames) (2005): Essays on the Principles of Morality and Natural Religion, hrsg. von Mary Catherine Moran, Indianapolis. Home, Henry (Lord Kames) (2005a): Elements of Criticism, sixth edition, hrsg. von Peter Jones, Indianapolis. Hume, David (2000): A Treatise of Human Nature, hrsg. von David Fate Norton und Mary J. Norton, Oxford. Hume, David (2006): Enquiry concerning the Principles of Morals, hrsg. von Tom L. Beauchamp, Oxford. Hume, David (1987): „The Sceptic“, in: ders.: Essays Moral, Political, and Literary, edited by Eugene F. Miller, durchgesehene Ausgabe, Indianapolis. Hutcheson, Francis (1728/2002) Illustrations upon the Moral Sense, in: ders.: An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, and Illustrations upon the Moral Sense, hrsg. von Aaron Garrett, Indianapolis, 155-173. Korsgaard, Christine M. (1996): The Sources of Normativity, Cambridge. Scanlon, T.M. (1998): What We Owe to Each Other, Cambridge, MA. Skyrms, Brian (1996): Evolution of the Social Contract, Cambridge.
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Smith, Adam (2002): The Theory of Moral Sentiments, hrsg. von Knud Haakonssen, Cambridge.
„Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen“. Kants Kabinettstück zu einer aufgeklärten Mythologie Birgit Recki
I. In der kleinen Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, einem Aufsatz von 1786 für die Berlinische Monatsschrift1, nimmt Kant den Leser mit auf eine „Lustreise“ zur Erkundung der frühesten Menschheitsgeschichte.2 Er erzählt nach, was in der Genesis vom Ursprung der ganzen Geschichte im Fehlverhalten des ersten Menschenpaares erzählt wird. Wir wissen, wie es hier, zu Beginn des Ersten Buches Mosis, nach der Erschaffung von Himmel und Erde Schritt für Schritt weitergeht bei der Gestaltung der Welt: Auf die Trennung von Licht und Finsternis folgt die Trennung der Elemente und Lebewesen und schließlich die Erschaffung der Menschen, „und er schuf sie als Mann und Weib“, und setzte sie in den „Garten in Eden gegen Osten“, den er für sie gepflanzt hatte, und „gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du von ihm issest, mußt du des Todes sterben.“ Wir erfahren auch, wie der Schöpfer nach jeder wichtigen Leistung gleichsam zurücktritt von seinem Werk: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Nach dieser Bekräftigung, dass es im Prinzip gut so war, wie es war, besteht zwangsläufig erhöhter Bedarf an Erklärung, wie denn das Böse in diese gute Welt gekommen ist, und dies leistet die Erzählung von der Verführung der Menschen durch ein Tier, das listiger war „als alle Tiere auf dem Felde“ – die Erzählung vom Sündenfall. Seitdem die Menschen gegen das Gebot des Gottes auf die Einflüsterung der Schlange gehört haben, so erfahren wir, ist es vorbei mit der paradiesischen Sorglosigkeit: Mit der Erkenntnis kommt – als Regung
_____________ 1 Siehe Weber, P. 2000, 60f. 2 AA VIII 107-123; Zitat: 109; MAM.
„Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen“.
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des praktischen Selbstbewusstseins – die Scham auf: „und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“; die Differenz und der Gegensatz zwischen den Geschlechtern und den Generationen; die Mühsal eines Lebens in Arbeit; die Schmerzen der Geburt und die Angst vor dem Tod.3 Kurz: seitdem ist es, wie es ist. Es ist diese Geschichte, die Kant im Muthmaßlichen Anfang noch einmal erzählt4, doch er tut es auf seine eigene Weise: Er erzählt sie in einer mutwillig aufgeklärten Version. Max Weber zitiert in seiner exemplarischen Studie über die Prägung der menschlichen Kultur durch Religion5 zur Illustration dessen, was das protestantische Bewusstsein ausmache, aus Miltons Paradise lost die Stelle, wo der Erzengel Michael bei der Vertreibung aus dem Paradies zu Adam sagt: Nur füge zu dem Wissen auch die Tat; / Dann füge Glauben, Tugend und Geduld / Und Mäßigkeit hinzu und jene Liebe, / Die einst als christliche gepriesen wird / Und Seele wird von allen Tugenden. / Dann läßt du ungern nicht dies Paradies, / Du trägst in dir ja ein viel sel´geres.6
Weber kommentiert diese kühne Stelle als mächtigen „Ausdruck der ernsten puritanischen Weltzugewandtheit, das heißt: Wertung des innerweltlichen Lebens als Aufgabe“ (Weber, M. 1904, 44). Dem Geist dieser Wertung zeigt sich die aufgeklärte Interpretation der Genesis verpflichtet, die Kant in seiner kleinen Schrift gibt, indem er in einer rationalen Rekonstruktion der biblischen Geschichte entlang den Stationen der Genesis die Humanisierung des Menschen im Fortschritt seiner Freiheit veranschaulicht: Er deutet den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies als den Ursprung der menschlichen Freiheit und veranschaulicht damit den Grundlegungsgedanken seiner rationalen Ethik so, dass daran deutlich werden kann, wie der Mensch aus der Not seine Tugend macht.7 In einer literarisch unerhört raffinierten Interpretation, ganz auf die Erklärung des Sündenfalls als Anfang der Entwicklungsgeschichte der Vernunft abgestellt, schildert Kant, wie sich der Mensch bei einem geringfügigen Anlass aus seiner Abhängigkeit von Natur und Gnade befreit und dadurch schlagartig in einen Horizont neuer Möglichkeiten eintritt. Ursprünglich geleitet allein durch den „Instinct, diese Stimme Gottes, der alle Thiere
_____________ 3 Alle Zitate nach Thompson 1986. 4 „1. Mose Kap. II-VI“, so gibt Kant zu Beginn an (AA VIII 110) und nennt in der Folge präzise seine Belegstellen. 5 Weber, M. 1904. 6 Zitat nach Weber, M. 1904, 74. 7 Dieses Programm hat zuletzt in seiner lebenswissenschaftlich informierten Anthropologie Hans Blumenberg verfolgt. Vgl. Blumenberg 2007, Zweiter Teil.
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gehorchen“ (AA VIII 111) und angeregt durch das Beispiel eines anderen Tieres, entdeckt der Mensch im Fall der freien Wahl seiner Nahrung nicht weniger als „die Freiheit, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen“ (AA VIII 112). Es ist diese Freiheit, die in den weiteren Stationen der Geschichte ausgeweitet und radikalisiert wird.8 Die Diversifizierung nämlich, die durch die freie Wahl der Nahrung aufkommt, mag in der Sache geringfügig erscheinen, so argumentiert Kant – als Akt, bei dem sich der Mensch „seiner Vernunft als eines Vermögens bewußt“ wird, „das sich über die Schranken, worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann“, ist sie exemplarisch – und dramatischer kaum denkbar. „Wenn es auch nur eine Frucht gewesen wäre, deren Anblick […] zum Versuche einladete“; „wenn dazu noch das Beispiel eines Thieres kam, dessen Natur ein solcher Genuß angemessen, so wie er im Gegentheil dem Menschen nachtheilig war“, so spielt Kant das Szenario im detachierten Konditional durch – entscheidend ist bei aller Geringfügigkeit des Anlasses, dass hier überhaupt „de[r] erste[] Versuch von einer freien Wahl“ gemacht wurde: Dem Menschen „gingen […] hierüber doch die Augen auf.“9 Er stand vor einer „Unendlichkeit“ möglicher Entscheidungen und damit „gleichsam am Rande eines Abgrundes“; denn mit epochaler Wirkung entdeckte er „in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen“ (AA VIII 112; H.v.m.). Einmal Freiheit – Freiheit für immer, so stellt Kant dies vor – im Grunde als eine Revolution der Denkungsart. Gekennzeichnet ist sie durch den Satz „Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen“ (AA VIII 111). Die Erläuterung, die sich unmittelbar anschließt, stellt uns zwar die Vernunft wesentlich als Vermögen zu vergleichen vor – doch es ist von vornherein der Vergleich in der praktischen Absicht einer Entscheidung („sich selbst eine Lebensweise auszuwählen“), und so führt die daran anschließende Reflexion auf den Unterschied von Verstand als dem Vermögen der Begriffe und Vernunft als wesentlich praktischer Vernunft, wie er ein Jahr nach der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bereits ausbuchstabiert ist.
_____________ 8 Kant ermöglicht in der ständigen Anspielung auf den biblischen Text, der damit als Subtext auch seiner eigenen aufgeklärten Lesart gegenwärtig bleibt, dem Leser ein „double reading“, einen „dualistic approach“: „Genesis describes man’s loss of paradise whereas the philosopher’s journey recounts the progressive evolution and advances of humanity towards autonomy and perfection.“ Doueihi 2008, 162. 9 Die Formulierung ist offenkundig eine Metapher für den Gewinn an Einsicht und Selbstbewusstsein; sie wie Doueihi als den Ursprung einer „generalized visibility“ (einer generellen Sichtbarkeit) zu deuten, scheint mir übertrieben: Nicht schon Kant, sondern erst Hans Blumenberg verdanken wir die anthropologische Auszeichnung des Menschen durch (das Bewusstsein von) Sichtbarkeit, siehe Blumenberg 2007.
„Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen“.
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Verstand hatten die ersten Menschen längst, denn sie konnten „sprechen […], ja reden, d.i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen, mithin denken“ (AA VIII 110) – wie Kant die biblische Vorlage ausdeutet. Wenn daraufhin im Sinne der spezifischen Differenz die Vernunft anfängt sich zu regen, dann eben als das Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen. In der an diesen ersten Schritt aus der Herrschaft der Natur anschließenden Eigendynamik findet Kant – weiterhin am Leitfaden der biblischen Genesis – noch drei weitere für die Geschichte der Humanisierung erwähnenswerte Entwicklungsstufen: 1. die Befreiung vom sexuellen Instinktgeschehen unter der Leitung der Einbildungskraft durch die schamhafte Bedeckung der menschlichen Blöße: „Das Feigenblatt war also das Product einer weit größeren Äußerung der Vernunft, als sie in der ersteren Stufe ihrer Entwickelung bewiesen hatte“ – so argumentiert Kant in Würdigung der hier einsetzenden Sublimation als „einiger Herrschaft der Vernunft über Antriebe“ und sieht hier die Entwicklung zu Liebe und dem ästhetischen Sinn für Schönheit angelegt (AA VIII 113); 2. das ambivalente Zeitbewusstsein, dessen Vorteil in der zwecksetzenden Verfügung über Zukünftiges, dessen Nachteil in „Sorgen und Bekümmernissen“ angesichts einer ungewissen Zukunft und in Todesfurcht zu sehen ist; 3. die Ausbildung moralischen Bewusstseins in der markanten Selbstabgrenzung des Menschen vom Tier. Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte: ward er eines Vorrechtes inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte,
und welches Vorrecht er auf alle Wesen von seinesgleichen übertragen musste, die damit wie er selber als ein „Zweck der Natur“ anzusehen seien (AA VIII 114). Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten […]: nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. (AA VIII 114)
Durch die damit umrissene, an exemplarischen Stationen veranschaulichte Entwicklung ist der Mensch laut Kant „gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte“, vertrieben (AA VIII 114; H.v.m.) und auf Gedeih und Verderb seiner eigenen Vernunft überlassen. Sie ist der Übergang des Menschen „aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“ (AA VIII 115) – welcher sich, wie wir den Stationen der Deutung entnehmen dürfen, ausgehend von der Willkürfreiheit über Sublimierung und Kultivierung bis zur moralischen Autonomie im Bewusstsein des Selbstzweckcharakters vernünftiger Wesen konkretisiert. Die Ge-
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schichte, die auf teleologischen Handlungen beruht und bei Kant so als das Reich der Freiheit qualifiziert ist, kann damit ihren Lauf nehmen.10 Zusammenfassend schließt Kant das Motiv der Genesis und sein eigenes Leitmotiv noch einmal kurz, indem er formuliert: „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.“ (AA VIII 115) Wenn Kant das Menschenwerk hier umstandslos unter den Begriff des Bösen subsumiert, dann spricht er offenkundig in explikativer Einstellung aus der Perspektive seiner literarischen Vorlage11 und übernimmt die dort gegebene theologische Wertung: Die Geschichte handelt vom Sündenfall als dem Abfallen der ersten Menschen vom Gebot des Gottes. Mit diesem Ungehorsam kommt das Böse in die paradiesische Welt; es besteht geradezu in diesem Ungehorsam, in dem sich ein eigener Wille bemerkbar macht. Kants eigene Deutung fokussiert auf die Freiheit dieses Willens. Zwei Jahre bevor Kant im Muthmaßlichen Anfang das mythische Böse zum Gegenstand einer aufgeklärten Deutung als Ursprung der Freiheit macht, hatte er die Frage „Was ist Aufklärung?“ in einer so eigenwilligen wie erhellenden Übersetzung des horazischen Sapere aude beantwortet: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“12 Wie wir an seiner Missbilligung von Faulheit und Feigheit als Motiven der Verhinderung solcher Selbständigkeit erkennen können, liegt darin aber nicht schlechthin eine Ermutigung, sondern auch die Erinnerung an eine Verpflichtung. Und diese Pflicht, vom eigenen Verstand einen angemessenen Gebrauch zu machen, impliziert – wie wir uns auch hier nach dem Modell Du kannst, denn du sollst klarmachen können – die Einsicht in die Freiheit des Denkens. Der Aufklärer, der hier für die Freiheit im Gebrauch des eigenen Verstandes exemplarisch die Religionsfreiheit behandelt, macht im Muthmaßlichen Anfang von seiner eigenen Gedankenfreiheit als Philosoph Gebrauch, indem er für die eingehendere Behandlung der menschlichen Freiheit als Element der Kultur in einer sehr freien, dabei keineswegs willkürlichen Auslegung einen biblischen Text – ein Stück aus der jüdischen und christlichen Religion – heranzieht. Was er auf diese Weise exerziert, ist aber zugleich die Freiheit zur Religion als Befreiung von den my-
_____________ 10 „‚Geschichte‘ besteht erst dort wahrhaft, wo wir mit unserer Betrachtung nicht mehr in der Reihe der bloßen Ereignisse, sondern in der Reihe der Handlungen stehen: Der Gedanke der Handlung aber schließt den Gedanken der Freiheit in sich.“ So kommentiert die Grundlegung der kantischen Geschichtsphilosophie Ernst Cassirer. Vgl. Cassirer 2001, 219. 11 Siehe Anm. 8. 12 AA VIII 33-42; Zitat: 35; WA.
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thisch-dogmatischen Vorgaben der Religion. Von vornherein bürstet Kant mit seiner Fragestellung den biblischen Text gegen den Strich, indem er in Paraphrase und Kommentar die Geschichte vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies nicht auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen und der Übel zuspitzt – sondern auf die Frage nach dem Ursprung und dem Preis der Freiheit. Die Frage nach dem Ursprung der Übel: Wie kommt es, dass die Menschen nicht (mehr) wie in einem umhegten Garten leben? kongruiert durch Kants Interpretation mit der Frage: Wie ist die Freiheit in die Welt gekommen? „Eine Geschichte der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen“ ist es, was Kant im Sinn hat. (AA VIII 110)
II. Folgen wir Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen, dann handelt es sich in der Genesis des Ersten Buches Mosis um einen Mythos. Cassirer kann von der Etymologie des griechischen Begriffs mythos ausgehen, wenn er im ersten explikativen Zugriff auf eine Einstellung des Bewusstseins, die ihm letztlich viel mehr umfassen soll als bloß das Erzählen von Geschichten, sagt: Die tragende und prägende Bedeutung des Begriffs meine „eine Erzählung oder ein System von Erzählungen, von Geschichten, die die Taten der Götter und die Abenteuer der heroischen Vorfahren erzählten“13. An einer anderen Stelle heißt es: „Der Mythos muß, wenngleich auch ihm echte gedankliche Abstraktionskraft eigen sein kann, seine Darstellung des Ursprungs der Dinge im wesentlichen in die Form der Erzählung fassen.“14 Damit ist ein Begriff des Mythos nahe gelegt, der unserem intuitiven Sprachgebrauch entspricht: Mythen sind die großen Ursprungserzählungen. In allen Hochkulturen gibt es solche Erzählungen, die sich auf die Taten und die Genealogie der Götter und Helden, und darin zugleich auf die großen Fragen der Menschheit, auf die ersten und letzten Dinge, auf den Ursprung von allem, was war und ist, beziehen: Schöpfungsgeschichten, Kosmogonien, Erklärungen wie das Leben, die Menschen, die Übel, das Böse, die Liebe und der Tod in die Welt kamen. Wenn wir mit Cassirer den Mythos zunächst vom wissenschaftlichen Denken abgrenzen, dann dürfen wir festhalten: Die „mythische Darstellung handelt [v]on dem, was niemals ist, sondern immer ‚wird‘, von dem, was nicht, gleich den Gebilden
_____________ 13 Cassirer 1946/1978, 35. 14 Cassirer 2003, 313–467, Zitat: 321; „Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon“ (1925).
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der logischen und der mathematischen Erkenntnis, in identischer Bestimmtheit verharrt, sondern von Moment zu Moment als ein anderes erscheint“15. Vergleichen wir hingegen die mythische mit der historischen Erzählung, so lässt sich mit gleichem Recht auch sagen: Der Mythos handelt im Unterschied zur historischen Geschichte von dem, was niemals war, sondern immer ist. Es geht mit anderen Worten um das Einholen einer (nicht historischen, sondern) ewigen Wahrheit – um Erzählung mit universalem Geltungsanspruch. In der Ursprungsbestimmung, die durch die Formel „Im Anfang war“ gekennzeichnet ist, soll etwas bleibend Gültiges artikuliert sein. Auf dieser narratologischen Grundlage entwickelt Cassirer den Begriff des mythischen Bewusstseins, des Mythos in einem komplexeren Sinne. Gemeint ist damit eine Einstellung des Bewusstseins, die sich als Anschauungsform, als Denkform und als Lebensform ausprägt. Charakterisiert ist sie durch eine beim physiognomischen Ausdruck ansetzende, gefühlsgetragene Form des Verstehens. In der nicht an dinglichen, sondern an physiognomischen Eigenschaften orientierten Wahrnehmung tritt dem Menschen in einem unverstellten und unbegriffenen Anthropomorphismus eine ausdrucksvolle Welt entgegen, an der er deshalb unmittelbaren emotionalen Anteil nimmt. Dem Mythos liegt eine „Einheit des Fühlens“ zugrunde16, die sich allen Aspekten der darauf gegründeten Ordnung der Welt mitteilt. Aus dem Mythos entwickelt sich nach Cassirer die Religion, die sich weder durch einen anderen Kanon thematisierter Gegenstände und Probleme noch durch eine historische Demarkationslinie vom Mythos trennscharf absetzen lässt. Mythos und Religion unterscheiden sich nach Cassirer als verschiedene Einstellungen des Bewusstseins zu den Bildern und Zeichen, die diese Inhalte vermitteln. In einem Text über Die Dialektik des mythischen Bewußtseins, der vom zwangsläufigen Übergang des Mythos in Religion handelt, sagt Cassirer: Der Mythos sieht im Bilde immer zugleich ein Stück substantieller Wirklichkeit, einen Teil der Dingwelt selbst, der mit gleichen oder höheren Kräften wie diese ausgestattet ist. Die religiöse Auffassung strebt von dieser ersten magischen Ansicht zu immer reinerer Vergeistigung fort.17
_____________ 15 Cassirer 2003, 165–195, Zitat: 167; „Philosophie der Mythologie“ (1924); H.v.m. 16 Cassirer 1990, 129. 17 Cassirer 2002, 305. – Der Kontext des Zitats macht über das hier fokussierte Verhältnis zwischen Mythos und Religion hinaus deutlich, dass Cassirer geschichtsphilosophisch einen Abstraktions- und Reflexionsfortschritt konzipiert, der vom Mythos als dem Mutterboden der Kultur ausgeht und sich in einem Dreischritt vom mythischen Bewusstsein über die Religion zur Kunst bewegt. Während im Mythos die
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Für den Mythos gibt es keine Differenz zwischen Bild oder Zeichen überhaupt und Sache: In der Identifikation von Bild und Sache ist das mythische Bewusstsein besessen von der Macht der Bilder, mit denen das religiöse Bewusstsein reflektiert umgehen kann. Der Unterschied besteht m.a. W. in der Reflexionsdistanz zu den Bildern und Zeichen überhaupt, durch die sich das religiöse Bewusstsein vor dem mythischen auszeichnet. Es kann weder mit Gewissheit festgestellt werden, wann sich diese Unterscheidung historisch zum ersten Mal ereignet hat, noch handelt es sich überhaupt in letzter Instanz um eine historische Bestimmung. Es handelt sich vielmehr um eine jener typischen funktionalen InsofernBestimmungen, die wir umgangssprachlich in Formulierungen ausdrücken können wie: „Mythos ist, wenn …“ und demgegenüber: „Religion ist, wenn …“ Während das mythische Bewusstsein überwältigt ist von der Präsenz der Bilder als einer realen Gegenwart, besessen von ihrer Macht, bewegt sich das religiöse Bewusstsein in einer Reflexionsdistanz, in der das Bild als Bild und allgemein alles Dargestellte als Symbol verfügbar wird.18
III. An Kants reflektierter Nacherzählung eines Mythos, an seiner aufgeklärten Kolportage der Genesis kann exemplarisch werden, wie es zu denken ist, dass sich die Religion von der Befangenheit des mythischen Bewusstseins löst und in ein freies Verhältnis zu ihren Gegenständen und Problemen tritt. Eine Möglichkeit, wie sich aus mythischen Bildern, mythischen Geschichten das religiöse Bewusstsein herausmacht, führt der Muthmaßliche Anfang vor: durch die Rekonstruktion, durch die ihr rationaler Sinn auf den Begriff gebracht, die Geschichte dadurch dem reflektierenden Bewusstsein verfügbar und damit im Sinne der methodischen Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben, wie sie Kant in der Kritik der reinen Vernunft geltend gemacht hatte19, eigentlich erst zum Gegenstand des Glaubens qualifiziert wird. Der ironische Geist der nüchternen Kolporta-
_____________ Identität von Sache und Zeichen besteht, besteht die „innere Spannung der Religion […] im Ineinander und Gegeneinander von ‚Sinn‘ und ‚Bild‘“. „[E]ine neue Freiheit des Bewußtseins“ bringt die „reine Betrachtung“ in der Kunst, insofern sie ein distanziertes und reflektiertes Verhältnis zu den Bildern (Zeichen) als bloßem Schein unterhält (Vgl. Cassirer 2002, 306). 18 Siehe eingehender Recki 2004, Kap. 4. 19 „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (KrV B XXX; Vorrede).
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ge exponiert den Glaubensinhalt als einen solchen und stellt ihn damit der freien Einsicht zur Disposition. Darüberhinaus fällt daran auf, was wir frei nach Cassirer eine Dialektik des religiösen Bewusstseins nennen können: Da nämlich die Reflexion auf die Bilder der Geschichte im Medium der Philosophie geleistet wird, sind wir darin wie über das mythische Bewusstsein auch über das religiöse im markanten Sinne schon hinaus. Sehr zum Vorteil des mythisch-religiösen Gehaltes, an dem durch die philosophische Interpretation ein nicht nur allgemeiner, sondern auch begrifflich ausweisbarer Geltungsanspruch erkennbar wird. Kant gibt damit zugleich durch die raffinierte literarische corporate identity des zentralen Gedankens seiner Philosophie eine Probe auf den freien Umgang mit religiösen Glaubenssachen, wie er ihn sich ultimativ innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft vorstellt. Die eigentliche Dialektik des religiösen Bewusstseins dürfte dabei in der zweifachen Richtung des Gedankens liegen: Zum einen ist der Philosoph so frei, den biblischen Text für die Erläuterung und Illustration des Freiheitsgedankens umzufunktionieren; in der Instrumentalisierung, die dies in gewissem Sinne ist, unternimmt er aber zum anderen im Einsatz größtmöglichen guten Willens zu konstruktivem Verständnis die Rettung dieses Textes. Der Text erhält seine Dignität als Dokument eines in philosophischen Begriffen reformulierbaren vernünftigen Selbstverständnisses. Mehr als ein bloßer Nebeneffekt ist es zudem, dass die vernunft- und freiheitstheoretische Auslegung des Mythos vom Ende der paradiesischen Unschuld im Ursprung des Bösen mit der Antwort auf die Frage nach dem Bösen kongruiert, die Kant sieben Jahre später in der Religion auch systematisch vertreten wird: In der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft entwickelt Kant seine Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur, indem er – in jener halsbrecherischen und seither immer wieder aufs neue zu Missverständnissen führenden Terminologie, die so offenkundig dadurch nezessitiert ist, dass die Begriffe von „Anlage“ und „Neigung“ bereits besetzt sind – in der menschlichen Vernunftnatur einen „Hang zum Bösen“ postuliert.20 Der Schlüssel zum Verständnis dieser Zumutung ist freilich die unmissverständlich herausgestellte Nötigung, diesen „Hang“ zugleich als „intelligible That“ zu begreifen – und damit als etwas, das dem Menschen selber zuzuschreiben ist. Es kann aber der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d.i. die Objecte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun That in der
_____________ 20 AA VI 1-202; hier: 28-32; RGV (1793).
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ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen […] Jene ist die ist intelligibele That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon). (AA VI 31)
Dreierlei beansprucht Kant auf diese Weise zu explizieren: 1. dass mit der Freiheit des vernünftigen Wesens gleichursprünglich – und gleichermaßen unerklärlich – die Möglichkeit der Selbstbestimmung zum Bösen wie zum Guten besteht; 2. dass die Verantwortung für das Böse (wie für das Gute) niemand anders hat als das Subjekt des Handelns; 3. dass für den Begriff des Bösen dasselbe gilt, was Kant zuvor seit dem ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten für den Begriff des Guten geltend gemacht hatte: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“21 Es geht Kant mit der Einführung des Hanges zum Bösen mithin um eine Explikation zum Begriff der Freiheit. Ein wichtiges Theorem zur Explikation dieses Gedankens ist die im Zusammenhang mit der Lehre vom radikalen Bösen gegebene Ergänzung der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelten Maximenethik: die Lehre von der Über- und Unterordnung der beiden obersten Prinzipien des Handelns. Der Mensch ist als sinnlich-vernünftiges Wesen demzufolge gleichursprünglich von zwei Triebfedern bestimmbar: dem „Princip der Selbstliebe“ und dem Sittengesetz. Der moralische oder unmoralische Charakter seines Handelns entscheidet sich daran, „welche von beiden [Triebfedern] er zur Bedingung der andern macht“ (AA VI 36) – ob er sich also nur insofern nach dem Sittengesetz richtet, als ihn dies nicht daran hindert, seinen sinnlichen Neigungen nachzugehen, oder ob er umgekehrt seinen sinnlichen Neigungen nur insofern nachgeht, als sie ihn nicht daran hindern, sich nach dem Sittengesetz zu richten. „Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern umkehrt […]“ (AA VI 36). Dem Begriff des Bösen gibt Kant auf diese Weise eine handlungstheoretisch-moralphilosophische, keine ontologische Bestimmung. Anders als gelegentlich behauptet worden ist, führt Kant mit seiner Lehre vom radikalen Bösen keineswegs willkürlich etwas in seine Moralphilosophie ein, auf das es vorher keinen Hinweis gegeben hätte und für das es keinen systematischen Anhaltspunkt gäbe. Schließlich ist der Tafel der Kategorien der Freiheit, jenem notorisch vernachlässigten Theoriestück
_____________ 21 AA VI 393; GMS (1785).
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der Kritik der praktischen Vernunft22, allein schon durch ihre vollständige Überschrift zu entnehmen, dass Kant auch während seiner Arbeit am Begriff von Freiheit als Autonomie den moralneutralen Begriff der Freiheit und des Handelns keineswegs aus dem Blick verliert, der auch die Abweichung vom Sittengesetz unter den Begriff der Freiheit zu subsumieren erlaubt: „Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“.23 Dort wird unter der Kategorie der Modalität aufgeführt „1. Das Erlaubte und Unerlaubte“ und „2. Die Pflicht und das Pflichtwidrige“ (AA V 66; H.v.m.). Es ist klar, dass das Unerlaubte und das Pflichtwidrige als Abweichungen von dem, was das Sittengesetz gebietet, den defizienten Modus des Bösen bezeichnen wie in der Religion die Unterordnung der Maxime der Sittlichkeit unter die der Selbstliebe. Hinreichend deutlich wird auch, dass Kants Begriff des Bösen durch diese Zuordnung zum rational artikulierten Begriff der Pflicht (als der Abweichung von ihr) dem ubiquitären Verdacht einer Substantialisierung und Dämonisierung des Bösen überhoben ist: Es handelt sich um nicht mehr als die Bestimmung eines defizienten Modus des Handelns.
IV. Mit einem Augenzwinkern, das den Leser schon in den methodologischen Umständlichkeiten der Einleitungspassage zum Komplizen macht, gibt Kant im Muthmaßlichen Anfang eine ironische Mythologie in didaktischer Perspektive, in der die biblische Geschichte auf ihren rationalen Kern zurückgeführt wird – eine aufgeklärte Mythologie, deren Gestus ganz zu der proto-Feuerbach’schen Position der Religion passt. Damit ist Kants Einschätzung gemeint, dass der „Anthropomorphism“ in der theoretischen Vorstellung von Gott und seinem Wesen den Menschen „kaum zu vermeiden, übrigens aber doch (wenn er nur nicht auf Pflichtbegriffe einfließt) auch unschuldig genug ist“: Das heißt, wie er selber es an dieser Stelle auch ausdrückt: „wir machen uns einen Gott“. – In der Fußnote heißt es dazu ausdrücklich: Es klingt zwar bedenklich, ist aber keinesweges verwerflich, zu sagen: daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen […] sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren. (AA VI 168f.)
_____________ 22 Die wenigen Autoren, die sich dieses Textstücks angenommen haben, sind Bacin 2001, Benton 1980, Bobzien 1988 und 1997, Fraisse 1974, Graband 2005, Grünewald 1988, Haas 1997, Kobusch 1990, Marty 1997 und Simon 1990. 23 AA V 66; KpV (1788); H.v.m.
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Auf der Basis dieser Reflexion wird für eine Religion, die sich innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sehen lassen kann, und das heißt für Kant: die der nach seiner Einsicht eigentlich moralischen Funktion des religiösen Glaubens im vollen Maße entspricht24, „eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d. i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt.“ (AA VI 110) Wir müssen diese Formulierung nur geringfügig abwandeln und von einer durchgängigen Deutung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung zu einem Sinn, der mit den Ideen der praktischen Vernunft zusammenstimmt, zu sprechen: Dann haben wir das hermeneutische Programm, das Kant im Muthmaßlichen Anfang befolgt. Die Grundsatzerklärung des Verfahrens, das er in der Religion zur Überführung der Offenbarungsreligion in Vernunftreligion anwendet, hat Kant so formuliert: Wir können aber nicht besser thun, als irgend ein Buch, welches dergleichen enthält, vornehmlich ein solches, welches mit sittlichen, folglich mit vernunftverwandten Lehren innigst verwebt ist, zum Zwischenmittel der Erläuterungen unserer Idee einer geoffenbarten Religion überhaupt zur Hand zu nehmen, welches wir dann, als eines von den mancherlei Büchern, die von Religion und Tugend unter dem Credit der Offenbarung handeln, zum Beispiele des an sich nützlichen Verfahrens, das, was uns darin reine, mithin allgemeine Vernunftreligion sein mag, herauszusuchen, vor uns nehmen. (AA VI 156f.)
Es ist dieses Programm, unter das die aufgeklärte Mythologie des Muthmaßlichen Anfangs fällt. Ihre Methode ist die symbolische Interpretation der Glaubensinhalte. Kant nutzt hier den methodischen Ertrag, den der § 59 der Kritik der Urtheilskraft eingebracht hat, der unter der Überschrift „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ in der Sache von der Symbolisie25 rung der Freiheit handelt. An seinen berühmten Beispielen von der Handmühle, die ein Symbol für einen absolutistischen Staat abgeben, und dem beseelten Körper, der einen „nach inneren Volksgesetzen“ regierten Staat symbolisieren könne, macht Kant hier anschaulich klar, worin nach seinem Begriff das Wesen der Symbolisierung besteht: „Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren“ (AA V 352; KU; H.v.m.). Die Ähnlichkeitsbeziehung, die ein Symbol indiziert, ist mithin „analogisch“; sie besteht „nicht dem Inhalte nach“, sondern im Hinblick auf die „Regel des Verfahrens“ oder: die „Form der Reflexion“ (AA V 351; H.v.m.). Das Symbol leistet so eine „indi-
_____________ 24 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft enthält eine systematische Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln; siehe Cassirer 2001, 367. 25 AA V; KU (1790).
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rekte Darstellung“. Die Eigenart der symbolischen Verweisung besteht demnach in einer Analogie […], in welcher die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden […] wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält (AA V 352; vgl. bes. AA V 351).
Mit dem doppelten Geschäft ist keine mehrfache Reflexivität gemeint, sondern die Abfolge von Bestimmung und Reflexion. Bezogen auf das Beispiel ergibt sich hier die Aussage: Wir reflektieren über den Mechanismus eines despotischen Staates so wie über den einer Handmühle. Es verdient festgehalten zu werden, dass Kant damit, kaum dass der Begriff der reflektierenden Urteilskraft terminologisch eingeführt ist, bereits eine über die definitorischen Textstellen in der „Einleitung“ zur Kritik der Urtheilskraft hinausgehende Spezifizierung der Leistungen reflektierender Urteilskraft gibt.26 Schon in § 59 der dritten Kritik hatte es in der Explikation der Symbolisierung durch das Verfahren der analogischen Reflexion geheißen: „[S]o ist alle unsere Erkenntniß von Gott bloß symbolisch“ (AA V 353; KU).27
_____________ 26 Siehe Recki 2001, 189-210; Recki 2008. 27 Ebenso wie an dieser Stelle scheint die symbolische Darstellung wiederholt durch die Wörter „nur“ und „bloß“ abgewertet. Von der Schematisierung des Begriffs in der Anschauung setzt Kant die symbolische Darstellung mit den Hinweisen ab, sie sei „bloß analogisch“ (AA V 351; vgl. auch AA V 352). Sollen diese Einschränkungen eine Abwertung des Symbolischen anzeigen? Es ist die in der Stelle über Gott explizite Anspielung auf die eigentliche Bedeutung des Erkenntnisbegriffs, die hierauf die Antwort enthält: Wo immer Kant das symbolische Verfahren der Darstellung derart zurückstuft, da wird es am epistemologisch maßgeblichen Begriff von empirischer Erkenntnis als Erfahrung gemessen, an einer Erkenntnis mithin, die sich, wie noch „Anmerkung I“ zu § 57 in Erinnerung gerufen hat, aus den beiden Komponenten von sinnlicher Anschauung und rationalem Begriff zusammensetzt. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant mit Hinweis auf diese beiden Quellen alle Erkenntnis auf den Maßstab des Empirischen verpflichtet. Es war im Hinblick auf das Ziel der Aufklärung ein wichtiger Programmpunkt, dass wir nicht mit leeren Begriffen hantieren sollten: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV B 75). Im Hinblick auf das damit behauptete epistemische Kriterium wird das einschränkende „bloß“ in den Formulierungen des § 59 verständlich. Ein Blick auf die Tragweite der spekulativen Reflexion auf das übersinnliche Substrat, in welcher der § 59 seinen systematischen Ort hat, kann darüber belehren, dass eine Abwertung des Symbols, dessen Leistung gerade dort liegt, wo empirische Erkenntnis unmöglich ist und Vernunftansprüche gleichwohl auf Anerkennung in irgendeiner Art von Vor-
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In der Religion interpretiert Kant die Inhalte des christlichen Glaubens durchgängig mit dem Mittel eines Schematism der Analogie (AA VI 65).28 Er interpretiert unter anderem den Gottessohn als Personifizierung der Idee moralischer Vollkommenheit (AA VI 61), als Symbolisierung einer moralischen Vernunftidee (AA VI 119): „gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen“ (AA VI 63; H.v.m.); seine Geburt durch eine jungfräuliche Mutter „als Symbol der sich selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich widerstehenden) Menschheit“ (AA VI 80), die dreifache praktische Vorstellung von Gott – als Schöpfer, als Gesetzgeber und als Richter – nennt er ein „Glaubenssymbol“ (AA VI 141) – und: die sichtbare Kirche das Symbol (Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden (AA VI 131). Eine weitere, ja: die grundlegende Ebene der symbolischen Auffassung, die in der Religion zur Geltung gebracht ist, fällt weniger stark ins Auge, da sie das systematische Verständnis der Religion überhaupt betrifft: Religion ist für Kant die „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (AA VI 443). Ernst Cassirer hat an dieser Auffassung den Charakter derjenigen Schematisierung aufgewiesen, der den von Kant analysierten Schematism der Analogie ausmacht: Der Pflichtbegriff steht somit auch hier im Mittelpunkt; nur nimmt die Betrachtung seines Ursprungs und des Grundes seiner Geltung eine andere Richtung, als es in der Grundlegung der Ethik der Fall war. Statt den Begriff rein als das, was er bedeutet, und nach dem, was er gebietet, zu betrachten, fassen wir hier den Inhalt des Gebots in die Idee von einem höchsten Wesen zusammen, das wir als Urheber des sittlichen Gesetzes denken. Eine solche Wendung ist für den Menschen unvermeidlich: denn jede, auch die höchste Idee, wie die der Freiheit, wird für ihn nur im Bilde, in der ‚Schematisierung‘ faßbar. Wir bedürfen, um uns übersinnliche Beschaffenheiten faßlich zu machen, immer einer gewissen Analogie mit Naturwesen und können diesen ‚Schematismus der Analogie‘ nicht entbehren.29
Mit dieser begrifflichen Pointierung der symbolischen Interpretationsmethode lässt sich retrospektiv auch das Verfahren der aufgeklärten Mythologie im Muthmaßlichen Anfang prägnanter bestimmen: Kant deutet die
_____________ stellung drängen, damit ebenso wenig beabsichtigt ist wie eine Abwertung der Ideen in Kants Konzession, Freiheit sei bloß eine Idee der Vernunft (vgl. AA IV 448ff.). 28 Maximilian Forschner weist in seinem Beitrag zu diesem Band auf die terminologische Verschiebung zwischen Schematisierung und Symbolisierung hin, die in dieser Formel unterläuft. Da Kant im § 59 Symbolisierung durch das Reflexionsverfahren der Analogiebildung bestimmt, sehe ich in der Formulierung Schematismus der Analogie, dass er Schematisierung nunmehr so weit fasst, dass die Analogiebildung, die er auch weiterhin als Symbolisierung benennt, darunter subsumiert werden kann. 29 Cassirer 2001, 367.
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Stationen der Genesis als symbolische Erzählung vom Ursprung und Fortgang der Freiheit.30
V. Doch nicht allein der Blick auf das symbolische Verfahren als Methode einer aufgeklärten Mythologie trägt zur Differenzierung des Begriffs von Kants kritischer Philosophie bei; auch im Blick auf die Sache zeigt sich eine Differenzierung: Von ihr könnten wir auf den ersten Blick den Eindruck haben, dass damit auch eine Differenzierung im Freiheitsbegriff einhergeht. Sieht man aber die narrativen Stationen der Freiheitsentwicklung genauer an, so findet man in dem damit versinnlichten Begriff der Freiheit nichts, was über die bis dahin bekannten Unterscheidungen von Freiheit im negativen Verstande und Freiheit im positiven Verstande, von transzendentaler Freiheit und praktischer Freiheit, von Willkürfreiheit und Freiheit als Autonomie noch hinausginge. Dass alles mit der Regung der Vernunft beginne etwa, enthält den von Kant philosophisch erforderten Einwand gegen die Befürchtung, es könne sich um die „Freiheit eines Bratenwenders“ handeln (AA V 97), und alles spricht dafür, in der mythologisch beschriebenen „Freiheit, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen“ (AA VIII 112), den Begriff der Willkürfreiheit anzunehmen, in dem Kant die transzendentale Freiheit in einem ersten Schritt praktisch spezifiziert. In Kants Mythologie der Freiheit wird aber auch der in der Kritik der Vernunft als notwendig reklamierte Schritt zur positiven Freiheit nach Gesetzen schon als Teil des Mythos ausgewiesen – und zwar in jener Stelle, in der Kant den ersten Menschen im Kontrast zur Verfügbarkeit der anderen Geschöpfe ein Bewusstsein des Selbstzweckcharakters gewinnen lässt, das ihn und mit ihm seinesgleichen auszeichnet. Wir haben gesehen, es ist die Formulierung vom „Zweck der Natur“, in dem Kant hier eine signifikante Abbreviatur der Zweck-an-sich-selbst-Bestimmung der zweiten Formel des kategorischen Imperativs gibt und damit auch das Selbstbewusstsein von der Geltung des Sittengesetzes bereits auf den gerade erst in die Welt gefallenen Menschen projiziert.31 Nicht eine Erweiterung des Freiheitsbegriffes ist es, was sich mithin aus Kants aufgeklärter Mythologie entnehmen lässt – wohl aber eine Erweiterung der Freiheitstheorie. Denn nach Kants Anlage ist die nacherzählte Geschichte zugleich die über den
_____________ 30 Man beachte dafür nicht zuletzt die für das Verfahren analogischer Reflexion in der Symbolisierung einschlägigen Formulierungen, die den Menschen „gleichsam am Rande eines Abgrundes“ (AA VIII 112; H.v.m.); vertrieben „gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte“ (AA VIII 114; H.v.m.) vorstellen. 31 Siehe Timmermann 2003; Bojanowski 2006.
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Ursprung der Kultur, und damit ist eine systematische Kontextualisierung der Freiheit gegeben, die bereits in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zum ersten Mal angedeutet ist. Er bezieht hier den Begriff der Freiheit schon vormoralisch auf die Möglichkeit überhaupt, aus den vorgefundenen Verhältnissen und aus sich selbst etwas zu machen. Ersichtlich handeln die vier Schritte der Menschwerdung, die Kant in seiner Mythologie beschreibt: eigene Wahl der Lebensweise als Erschließung von Möglichkeiten, Sublimierung der Triebe, Verfügung über Zeitbewusstsein, Moralisierung, von der Kultivierung des Menschen im Sinne der Entwicklung seiner Freiheit. Und der Ausdruck fließt bei der Reprise des Einstiegsmotivs im Schlussabschnitt des Textes ganz selbstverständlich in die Formulierung ein: „Die ersten Bedürfnisse des Lebens, deren Anschaffung eine verschiedene Lebensart erfordert, konnten nun gegen einander vertauscht werden. Daraus mußte Cultur entspringen“ (AA VIII 119). An der Bestimmung von Freiheit in ihren Aspekten von Freiheit im negativen Verstande, Willkürfreiheit und Freiheit als Autonomie wird im Muthmaßlichen Anfang eine kulturphilosophische Dimension erkennbar gemacht: Nicht nur die Regung der Vernunft und die Freiheit, das Böse und die Freiheit – auch die Kultur und die Freiheit sind demnach gleichursprünglich. Vier Jahre später wird Kant in der Kritik der Urtheilskraft in rein begrifflicher Bestimmung Freiheit ebenfalls kulturphilosophisch als Geschicklichkeit zu beliebigen Zwecken konzipieren, wenn er in § 83 sagt: „Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur“ (AA V 431; KU). Soweit das anschauliche, auf den Kontext der Kultur bezogene Verständnis, um das Kant in der kleinen Schrift über den Muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte seine Theorie der Freiheit ergänzt. Zum Schluss sei im Interesse an einer ganz kurzen Beantwortung der Frage nach der Zukunft der europäischen Aufklärung noch einmal bündig zusammengefasst, worin das Aufklärerische an Kants pointierter Nacherzählung zu sehen ist: Der Mythos wird rationalisiert – mit dem doppelten Effekt seiner Aufhebung in Religion und deren Rettung für das philosophisch reflektierte Selbstverständnis des Menschen als eines vernünftigen Wesens, dessen Bestimmung die Freiheit ist. Der vernünftige Sinn der auf dem Mythos beruhenden Religion wird erkennbar. Kant schafft durch seine diskursiv informierte Methode der symbolischen Narration gegen die Macht der Bilder (in diesem Falle der Bilder einer mythischen Geschichte) jene Reflexionsdistanz, durch die laut Cassirers systematischem Ansatz die Freiheit in der Kultur entspringt und die mit Kants eigenem Begriff als Initial des Selbstdenkens verstanden werden darf. Liest man die für dieses Thema einschlägigen Passagen in der Religion, so wird man sich kaum des
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Eindrucks erwehren können, dass Cassirer seine leitende Intuition für die Unterscheidung von Mythos und Religion durch eine je spezifische Einstellung des Bewusstseins, dass er die Betonung der Reflexionsdistanz zu den Bildern und Zeichen, die in der religiösen Einstellung erreicht ist, seinerseits schon aus der kantischen Religion bezogen haben dürfte. Schließlich ist es Kant, der hier bereits durchgehend das methodische Bewusstsein vom symbolischen Charakter der Glaubensinhalte einer Offenbarungsreligion fordert.32 Durch die Nachwirkung dieses Ansatzes in einem der großen Systementwürfe des 20. Jahrhunderts mag die Aktualität des kantischen Beitrags zur Aufklärung angedeutet sein. Was überdies die Frage nach ihrer Zukunft angeht, so wäre abschließend nur die Moral von der Geschicht’ zu formulieren: Der Blick auf die befreiende Wirkung eines so freien, ironisch distanzierten und dabei ernsthaft an der Entwicklung einer unverzichtbaren Vernunftidee interessierten Umgangs mit einem Text der religiösen Überlieferung – der Blick also auf ein Kabinettstück aufgeklärter Mythologie, weckt am exemplarischen Fall die Erwartung, dass das Potential der europäischen Aufklärung, ihrer Ideen wie ihrer Methoden, gerade auch außerhalb Europas noch eine große Zukunft haben könnte: überall dort, wo es im Interesse der Freiheit und ihrer Fortschritte im Bewusstsein gebraucht wird.
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_____________ 32 Siehe besonders einschlägig: AA VI 175 Fn.
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Recki, Birgit (2008): „Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks (§§ 55-60)“, in: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Otfried Höffe (Reihe Klassiker auslegen), Berlin. Simon, Josef (1990): „Kategorien der Freiheit und der Natur. Zum Primat des Praktischen bei Kant“, in: Koch, D. / Bort, K. (Hg.): Kategorie und Kategorialität, Würzburg, 107-130. Thompson, Frank C. (1986): Studienbibel. Bibeltext nach der Übersetzung Martin Luthers. Altes und Neues Testament. Revidierte Fassung von 1984, Neuhausen-Stuttgart. Timmermann, Jens: Sittengesetz und Freiheit. Untersuchungen zu Immanuel Kants Theorie des freien Willens, Berlin/New York. Weber, Max (1904): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Weber, Peter (2000): „Kant und die Berlinische Monatsschrift“, in: Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung, hg. von Dina Emundts, Wiesbaden.
Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen praktischen Vernunft Marcus Willaschek
1. Einleitung Kann es vernünftig sein, etwas für wahr zu halten, obwohl man keinerlei Anzeichen hat, dass es tatsächlich wahr ist? Eine dominante Tradition innerhalb der abendländischen Philosophie beantwortet diese Frage mit einem deutlichen Nein. Seit Parmenides’ Unterscheidung zwischen der „wohlgerundeten Wahrheit“ und den „Meinungen der Sterblichen, in denen keine wahre Verlässlichkeit ist“ und Platons Unterscheidung zwischen bloßen Meinungen und begründetem Wissen herrscht in der abendländischen Philosophie der Anspruch vor, dass Meinungen nur dann vor dem Gerichtshof der Vernunft bestehen können, wenn sie ausreichend begründet sind. Diese Begründung soll, darin stimmen Parmenides und Platon überein, die Verlässlichkeit unserer Meinungen sicherstellen, wobei mit Verlässlichkeit keine pragmatische Bewährung, sondern ein stabiler Bezug zur Wahrheit gemeint ist. Der Verzicht auf diese Art von Begründung muss dann als eine Art Leichtgläubigkeit erscheinen, derer sich die meisten Menschen schuldig machen, die der Philosoph aber zu vermeiden weiß. Mit Descartes’ methodischem Zweifel wird diese Auffassung zur Grundlage der gesamten neuzeitlichen Erkenntnistheorie. Um Irrtümer zu vermeiden, also um Wahrheit zu garantieren, brauchen unsere Meinungen ein sicheres Fundament. Nur Meinungen, deren Falschheit ausgeschlossen ist, darf der Vernünftige seine Zustimmung geben: „Wenn ich“, so Descartes, „nicht klar und deutlich genug erfasse, was wahr ist, so ist klar, dass ich recht daran tue und mich nicht täusche, wenn ich mich des Urteils enthalte.“ (Med. IV, AT VII 59) Eine theoretische Festlegung in Form eines Urteils ist demnach nur dann vernünftig, wenn wir über ausreichende Gründe für ihre Wahrheit verfügen. Ohne sicheres Erfassen der Wahrheit gebietet die Vernunft hingegen Urteilsenthaltung.
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Ich habe diese wenigen, aber durchaus repräsentativen Beispiele aus der Philosophiegeschichte dem Folgenden vorausgeschickt, um deutlich zu machen, wie innovativ, ja geradezu revolutionär die kantische Lehre vom Primat der reinen praktischen Vernunft ist, mit der ich mich im Folgenden beschäftigen werde. Wie sich zeigen soll, eröffnet Kant damit eine völlig neue Perspektive für die Begründung philosophischer, insbesondere metaphysischer Aussagen. Kants Verhältnis zur Metaphysik ist bekanntlich ambivalent. Einerseits war Kant auch insofern der Vollender der historischen Epoche der Aufklärung, als er die Metaphysikkritik radikalisiert und auf ein neues philosophisches Niveau gehoben hat. In der „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft verortet Kant die Quellen metaphysischer Irrtümer in den Prinzipien vernünftigen Denkens. Die Metaphysik ebenso wie ihr Scheitern erweisen sich somit nicht als zufälliges Produkt individuellen oder kollektiven Versagens, sondern als der menschlichen Vernunft selbst eingeschrieben. Wer vernünftig und konsequent über sich und die Welt nachdenkt, so Kant, gelangt unweigerlich zu scheinbar wohlbegründeten Annahmen über unsterbliche Seelen, das Weltganze und Gott, mit denen wir den Bereich möglichen Wissens in Wirklichkeit aber längst überschritten haben. Nur eine grundsätzliche Kritik unseres Erkenntnisvermögens kann verhindern, dass wir uns in die Fehlschlüsse der traditionellen Metaphysik verstricken. Sie zeigt, dass Fragen wie die nach der Unsterblichkeit der Seele, der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt und der Existenz Gottes sich menschlicher Erkenntnis entziehen – hier können wir nicht wissen, sondern nur glauben. Es ist diese für Kants Zeitgenossen erschütternde Konsequenz, die ihm den Titel eines „Alleszermalmers“ (Mendelssohn) eingetragen hat. Darüber darf man jedoch andererseits nicht vergessen, dass Kant selbst die Metaphysik keineswegs überwinden, sondern auf den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ (KrV B VII) bringen wollte. Diesen Weg hat Kant, jedenfalls seinem Selbstverständnis nach, mit seinen Werken über die „Metaphysischen Anfangsgründe“ der Naturwissenschaft, der Rechtslehre und der Tugendlehre beschritten, in denen er die „Bedingungen der Möglichkeit“ von Naturwissenschaft, Recht und Moral expliziert. Doch neben diesem spezifisch transzendentalphilosophischen Projekt „metaphysischer Anfangsgründe“ und weitgehend unabhängig davon findet sich bei Kant eine ganz andere Wiederaufnahme der Metaphysik, nämlich in Form der sogenannten „Postulatenlehre“, welche die zentralen Lehrstücke der traditionellen Metaphysik (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) zumindest partiell rehabilitiert, nun aber nicht mehr im Modus des Wissens, sondern des Glaubens oder „Fürwahrhaltens aus einem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“. Diese Rehabilitierung ist häufig als unbefriedigend
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kritisiert worden – bis hin zu Heinrich Heines Vermutung, Kant habe sie nur aus Rücksicht auf seinen alten Diener Lampe (und aus Angst vor der Polizei) vorgenommen. In der Sache ist vor allem zweierlei eingewandt worden: Erstens sei Kants explizite Argumentation für die Postulate von Gott und Unsterblichkeit (für das Freiheitspostulat wird als solches nicht explizit argumentiert) keineswegs zwingend, und zweitens werde der Status des praktischen Postulats dem metaphysischen Anspruch auf theoretische Einsicht nicht gerecht. Während ich dem ersten Kritikpunkt im wesentlichen Recht geben werde, scheint mir der zweite Einwand die entscheidende Pointe der kantischen These vom „Primat der reinen praktischen Vernunft“ zu verfehlen. Tatsächlich, so möchte ich zeigen, entwickelt Kant hier einen Typus metaphysischer Begründung, der der Metaphysik neue und bis heute nicht genügend erforschte Möglichkeiten eröffnet. Sofern es sich bei der Aufklärung nicht um eine abgeschlossene Epoche, sondern um ein „unvollendetes Projekt“ (Habermas) handelt, nach dessen Zukunft man sinnvoll fragen kann – ein Projekt, zu dem auch eine „aufgeklärte“, im Sinne Kants „kritische“ Metaphysik gehören sollte –, darf dieser kantische Beitrag nicht übersehen werden.
2. Das Primat der reinen praktischen Vernunft1 In der Kritik der reinen Vernunft unterzieht Kant die klassischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes einer vernichtenden Kritik. Es muss daher zunächst überraschen, dass der Glaube an Gott und an eine unsterbliche Seele gegen Ende des Werkes wieder zu gewissen Ehren kommt, und zwar als ein „Vernunftglaube“ (KrV A 829/B 857), der sich Kant zufolge zwingend aus dem moralischen Selbstverständnis rationaler Subjekte ergibt. In der „Dialektik“ der Kritik der praktischen Vernunft nimmt Kant diese Überlegung in veränderter Form wieder auf. Dort heißt es, die Vernunft „müsse“, wenn ihr Vermögen in theoretischer Absicht gleich nicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen, indessen daß sie ihr auch nicht widersprechen, eben diese Sätze, sobald sie unzertrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das […] aber doch hinreichend beglaubigt ist, annehmen. (AA V 121)
_____________ 1 Eine ausführlichere Version dieses Abschnitts erscheint auf Englisch unter dem Titel „The Primacy of Pure Practical Reason and the Very Idea of a Postulate“ in Timmermann/Reath 2009.
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Die Vernunft muss also „gewisse Sätze“ annehmen, d.h. als wahr akzeptieren, und zwar sofern zwei Bedingungen erfüllt sind: (1) Das theoretische Vernunftvermögen reicht nicht hin, diese Sätze „behauptend festzusetzen“, aber auch nicht, um sie zu widerlegen; sie sind, wie es an anderer Stelle heißt, theoretisch „nicht erweislich“ (AA V 122) oder, wie ich im Folgenden sagen werde, „theoretisch unentscheidbar“. (2) Sie gehören „unzertrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft“, welches nach Kant „in der Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ besteht (AA V 216). Dieser Zweck ist das „höchste Gut“, das nach Kant in der proportionierten Verknüpfung von Moralität und Glückseligkeit besteht. Die zweite Bedingung besagt also, dass das Fürwahrhalten der fraglichen Sätze notwendig ist, um das höchste Gut zu einem Bestimmungsgrund unseres Willens zu machen; anders gesagt: Wir können nur dann vernünftigerweise versuchen, das höchste Gut zu verwirklichen, wenn wir diese Sätze für wahr halten. Dies möchte ich die praktische Notwendigkeit der fraglichen Sätze nennen. Wir können Kants These nun wie folgt ausdrücken: Die Vernunft muss praktisch notwendige Sätze auch dann annehmen, wenn sie theoretisch unentscheidbar sind. Kant nennt einen solchen Satz ein „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ (AA V 122), worunter er „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz versteh[t] [theoretische Unentscheidbarkeit], sofern er einem a priori geltenden unbedingten praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt [praktische Notwendigkeit]“ (AA V 122).2 Kants These vom „Primat der reinen praktischen Vernunft“ läuft darauf hinaus, dass wir ein solches Postulat vernünftigerweise als wahr akzeptieren müssen, obwohl wir seine Wahrheit nicht nachweisen können. Damit bricht Kant mit der eingangs erwähnten philosophischen Tradition, der zufolge wir vernünftigerweise nur das annehmen sollen, dessen Wahrheit wir nachweisen oder begründen können. Anders als Descartes und ähnlich wie später William James fordert Kant mit Blick auf theoretisch unentscheidbare Urteile keine uneingeschränkte Urteilsenthaltung. Sofern diese Urteile praktisch notwendig sind – sofern sie, wie Kant auch sagt, einem „Bedürfnis der reinen Vernunft“ entsprechen – müssen wir sie
_____________ 2 Es könnte scheinen, als sei dies ein anderer Sinn von „praktisch notwendig“ als der zuvor eingeführte, da es hier nicht um das höchste Gut, sondern um das Sittengesetz geht. Doch tatsächlich spricht Kant ja davon, dass ein Postulat „einem a priori geltenden unbedingten praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“. Die Weise, wie die Postulate dem Sittengesetz „unzertrennlich anhängen“, besteht gerade darin, dass man sie für wahr halten muss, um das höchste Gut für realisierbar zu halten, welches uns seinerseits durch das Sittengesetz zum notwendigen Zweck gemacht wird.
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auch dann für wahr halten, wenn ihre Wahrheit theoretisch nicht nachweisbar ist. Kants Argument für das Primat der reinen praktischen Vernunft findet sich in einem vier Absätze umfassenden, sehr konzentriert argumentierenden Abschnitt der zweiten Kritik (AA V 191-121), dessen komplexe argumentative Struktur meines Erachtens bisher noch nicht vollständig transparent gemacht worden ist. Dies möchte ich im Folgenden nachholen, da nur auf diese Weise die beträchtliche Überzeugungskraft der kantischen Argumentation deutlich werden kann. Im ersten Absatz erläutert Kant zunächst, worin ein „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen“ bestehen würde – nämlich darin, dass das „Interesse“ des „praktischen Gebrauchs“ der Vernunft, das in der „Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ besteht, den „Vorzug“ vor dem „Interesse“ des spekulativen Vernunftgebrauchs genießt, welches auf die „Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori“ gerichtet ist (AA V 119f.). Die praktische Vernunft hat also dann das Primat, wenn im Fall eines Konflikts zwischen dem Streben nach metaphysischer Erkenntnis (einschließlich der Vermeidung metaphysischer Irrtümer)3 einerseits und der Ausrichtung des Willens auf das höchste Gut andererseits das letztere Ziel den Vorrang hat. Wie Kant bemerkt, gehört das Bemühen um Widerspruchsfreiheit nicht zum Interesse der Vernunft – nicht weil es nicht wichtig ist, sondern weil es konstitutiv dafür ist, überhaupt Vernunft zu haben. Nach dieser Begriffsexplikation beginnt Kant im zweiten Absatz mit seinem Argument für die These des Primats der praktischen Vernunft. Kant schreibt (Nummerierung der Sätze bzw. Satzteile von mir): [1] Wenn praktische Vernunft nichts weiter annehmen und als gegeben denken darf, als was speculative Vernunft für sich ihr aus ihrer Einsicht darreichen konnte, so führt diese das Primat. [2a] Gesetzt aber, sie hätte für sich ursprüngliche Principien a priori, mit denen gewisse theoretische Positionen unzertrennlich verbunden wären, die sich gleichwohl aller möglichen Einsicht der speculativen Vernunft entzögen (ob sie zwar derselben auch nicht widersprechen müßten), [2b] so ist die Frage, welches Interesse das oberste sei (nicht, welches weichen müsste, denn eines widerstreitet dem andern nicht notwendig); [2c] ob speculative Vernunft, die nicht von allem dem weiß, was praktische ihr anzunehmen darbietet, diese Sätze aufnehmen […] müsse, [2d] oder ob sie berechtigt sei, ihrem eigenen abgesonderten Interesse hartnäckig zu folgen und […] alles als leere Vernünftelei auszuschlagen, was seine objective Realität nicht durch augenscheinliche, in der Erfahrung aufzustellende Beispiele beglaubigen kann, wenn es gleich
_____________ 3 Etwas kann dem „Interesse der spekulativen Vernunft“ dadurch Abbruch tun, „daß es die Grenzen, die diese sich selbst setzt, aufhebt“ (AA V 120).
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noch so sehr mit dem Interesse des praktischen (reinen) Gebrauchs verwebt, an sich auch der theoretischen nicht widersprechend wäre […]. (AA V 120)
Im ersten Satz erläutert Kant, was es bedeuten würde, wenn die spekulative Vernunft das Primat hätte: dass nämlich die praktische Vernunft nichts annehmen dürfte, was nicht theoretisch ausreichend begründet ist. Gibt es aber [2a] „theoretische Positionen“, die insofern praktisch notwendig sind, als sie mit praktischen Prinzipien a priori wie dem Sittengesetz unzertrennlich verbunden sind, die aber rein theoretisch nicht entscheidbar sind, dann [2b] stellt sich die Frage, welches Interesse das oberste sei – das der spekulativen oder das der praktischen Vernunft. Diese Aussage muss überraschen, denn die Frage, welches Interesse das oberste sei, fällt Kants eigenen Ausführungen im ersten Absatz zufolge ja mit der Frage zusammen, welche Seite das Primat hat (AA V 119). Im ersten Satz des Zitats hatte Kant die Möglichkeit, dass die spekulative Vernunft das Primat hat, aber bereits eingeführt. Zu dieser Möglichkeit scheint er nun im zweiten Satz eine doppelte Alternative anzubieten, dass nämlich entweder das Interesse der praktischen oder das der spekulativen Vernunft das oberste sei, dass also entweder die praktische oder die spekulative Vernunft das Primat habe. Im ersten Fall müsste die spekulative Vernunft die fraglichen Sätze trotz ihrer theoretischen Unentscheidbarkeit „aufnehmen“ [2c], im zweiten Fall „als leere Vernünftelei ausschlagen“ [2d]. Kants Überlegung hätte dann die folgende Struktur: Entweder [1] die spekulative Vernunft hat das Primat oder [2a] es gibt theoretisch unentscheidbare, aber praktisch notwendige Sätze. [2b] Im letzteren Fall stellt sich die Frage, ob [2c] die praktische Vernunft oder [2d] die spekulative Vernunft das Primat hat. Doch das ergibt keinen Sinn: Die Frage, welche Seite das Primat hat, stellt sich ja gerade nicht als Alternative zur Möglichkeit, dass die spekulative Vernunft das Primat hat, sondern liegt dieser Möglichkeit voraus. Diese Lesart würde Kant in den Widerspruch verwickeln, dass dann, wenn die spekulative Vernunft nicht den Vorrang hat, sich die Frage stellt, ob die praktische oder die spekulative Vernunft den Vorrang hat. Das hat Kant sicherlich nicht gemeint. Einen Hinweis auf die wahre Struktur des kantischen Arguments finden wir in Kants Logik-Vorlesungen, wo Kant ganz traditionell zwischen kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Vernunftschlüssen unterscheidet. „In den disjunctiven Schlüssen“, so Kant, „ist der Major ein disjunctiver Satz und muß daher, als solcher, Glieder der Eintheilung oder Disjunction haben.“ (AA IX 129) Und Kant fügt in einer Anmerkung hinzu: Alle disjunctiven Vernunftschlüsse von mehr als zwei Gliedern der Disjunction sind also eigentlich polysyllogistisch. Denn alle wahre Disjunction kann nur bi-
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membris sein, und die logische Division ist auch bimembris, aber die membra subdividentia werden um der Kürze willen unter die membra dividentia gesetzt. (AA IX 130)
Nur so kann man sich nämlich der Vollständigkeit der Einteilung sicher sein. Die „Glieder der Eintheilung“, so Kant etwas später, „sollen einander entgegengesetzt sein und von jedem A ist doch das Gegentheil nichts mehr als non A“ (AA IX 147). Das bedeutet, dass sich in einem disjunktiven Schluss mit mehr als zwei Gliedern die weiteren Disjunktionsglieder durch zweigliedrige Untereinteilungen ergeben müssen. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Man kann aus der Tatsache, dass Peter nicht größer ist als Paul, nicht ohne weiteres darauf schließen, dass Paul größer ist als Peter. Dazu müssen wir zunächst ausschließen, dass beide gleichgroß sind. Wir schließen dann nach Kant: Peter und Paul sind entweder gleichgroß oder nicht gleichgroß. Im letzteren Fall ist entweder Peter größer als Paul oder umgekehrt. Nun sind sie nicht gleichgroß und Peter ist nicht größer als Paul. Also muss Paul größer sein als Peter. Das ist ein logisch gültiger disjunktiver Schluss der folgenden Form: (P1) (P2) (P3) (P4) (K)
A oder non-A. Falls non-A, B oder non-B. Nicht A. Nicht B. Also non-B.
Nähern wir uns nun dem kantischen Argument für das Primat der praktischen Vernunft mit der Hypothese, dass es sich um einen disjunktiven Schluss handelt, so zeigt sich folgender Aufbau. Kant unterscheidet zunächst zwei Disjunktionsglieder: Entweder darf die praktische Vernunft nur das annehmen, was die spekulative Vernunft als wahr anerkennt, oder es gibt praktisch notwendige, aber theoretisch unentscheidbare Sätze. Wenn dies eine vollständige Disjunktion der Form „A oder non-A“ sein soll, muss man es so verstehen, dass die praktisch notwendigen Sätze, also die mit dem Sittengesetz unzertrennlich verbundenen „theoretischen Positionen“, gerade insofern praktisch notwendig sind, als die praktische Vernunft sie schlechterdings nicht zurückweisen kann. Die Disjunktion würde demnach lauten: Entweder gibt es keine praktisch notwendigen, aber theoretisch unerweislichen Sätze, und die praktische Vernunft darf nur theoretisch erweisliche Sätze annehmen; oder es gibt praktisch notwendige, aber theoretisch unentscheidbare Sätze, welche die praktische Vernunft aufgrund der praktischen Notwendigkeit dieser Sätze auch annehmen darf (weil sie es muss). Im letzteren Fall ergäben sich wiederum zwei Möglichkeiten, was Kant ein wenig irreführend als die Frage formuliert, welches Interesse das oberste sei. Tatsächlich müssen sich diese beiden
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Möglichkeiten als kontradiktorischer Gegensatz innerhalb der Möglichkeit verstehen lassen, dass es praktisch notwendige, aber theoretisch unentscheidbare Sätze gibt, welche die praktische Vernunft akzeptieren muss. In diesem Fall bestehen tatsächlich genau zwei Möglichkeiten: Entweder muss die spekulative Vernunft diese Sätze ebenfalls als wahr akzeptieren, so dass die praktische Vernunft das Primat hat; oder aber die spekulative Vernunft folgt allein ihrem eigenen Interesse und lehnt diese Sätze, weil theoretisch unerweislich, ab. In diesem Fall hätte also weder die spekulative noch die praktische Vernunft das Primat, sondern beide wären einander gleichgeordnet. Auf das Wesentliche reduziert wäre der Aufbau des Absatzes dann der Folgende: Entweder gibt es keine praktischen Postulate, in welchem Fall die spekulative Vernunft das Primat hat; oder es gibt praktische Postulate. Im letzteren Fall gibt es wiederum zwei Möglichkeiten: Entweder muss die spekulative Vernunft die Postulate akzeptieren; dann hat die praktische Vernunft das Primat. Oder sie muss sie nicht akzeptieren, dann hat keine Seite das Primat. Für diese Lesart spricht, dass sie Kant nicht in einen Widerspruch verwickelt. Gegen sie spricht aber, dass die Frage „welches Interesse das oberste sei“, sich als irreführend herausstellen würde, denn genau genommen hätte die Frage lauten müssen, ob das Interesse der praktischen Vernunft das oberste sei oder die Interessen der praktischen und der spekulativen Vernunft gleichrangig seien. Der bisher betrachtete Absatz allein spricht daher nicht eindeutig für die Interpretationshypothese, es handele sich um einen disjunktiven Schluss. Diese Hypothese bestätigt sich aber, wenn wir uns nun dem letzten Absatz unseres Abschnitts zuwenden. Dort schreibt Kant: In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse [1] führt die letztere das Primat […] Denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen: weil, [2] wenn sie einander blos beigeordnet (coordinirt) wären, die erstere […] nichts von der letzteren in ihr Gebiet aufnehmen, diese aber ihre Grenzen dennoch über alles ausdehnen […] würde. [3] Der speculativen Vernunft aber untergeordnet zu sein […], kann man der reinen praktischen gar nicht zumuthen, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist. (AA V 121)
Hier finden wir also genau jene drei Optionen wieder, die unsere Interpretationshypothese erwarten lässt: Entweder hat die praktische Vernunft das Primat oder spekulative und praktische Vernunft sind einander bloß beigeordnet oder die spekulative Vernunft hat das Primat. Das ist, wie wir gesehen haben, tatsächlich eine vollständige Einteilung. Kant schließt nun zwei dieser drei Möglichkeiten aus: Der spekulativen Vernunft untergeordnet zu sein, kann man der praktischen Vernunft „nicht zumuten“; ein Primat der spekulativen Vernunft ist daher unmöglich. Eine bloße
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Beiordnung hingegen würde in einen Selbstwiderspruch führen. Also bleibt als einzige Möglichkeit das Primat der praktischen Vernunft – praktische Postulate, sollte es sie geben, müssen trotz ihrer theoretischen Unentscheidbarkeit von der spekulativen Vernunft als wahr akzeptiert werden. Kants Argument hat also tatsächlich die Form eines disjunktiven Schlusses. Was sind nun Kants Gründe, zwei der drei Möglichkeiten auszuschließen? Kants knappe Andeutungen weisen in die folgende Richtung: Eine gleichberechtigte Beiordnung von praktischer und spekulativer Vernunft würde bedeuten, dass dieselben Sätze aufgrund ihrer praktischen Notwendigkeit von der praktischen Vernunft akzeptiert, aufgrund ihrer theoretischen Unentscheidbarkeit aber von der spekulativen Vernunft zurückgewiesen, d.h. nicht akzeptiert würden. Doch wie Kant im dritten Absatz betont, „ist es […] immer nur ein und dieselbe Vernunft, die, sei es in theoretischer oder in speculativer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt“ (AA V 121). Bereits im ersten Absatz hatte Kant betont, dass Widerspruchsfreiheit die Bedingung dafür ist, „überhaupt Vernunft zu haben“ (AA V 120). Der Grund, weshalb spekulative und praktische Vernunft nicht gleichberechtigt nebeneinander bestehen können, ist Kant zufolge also, dass sich auf diese Weise ein Widerspruch ergäbe, der die Vernunft insgesamt aufheben würde. Man kann diesen Punkt auch so formulieren: Letztlich ist es ein und dasselbe vernünftige Subjekt, dessen praktische Vernunft ihm gebietet, praktisch notwendige Sätze auch ohne theoretisch hinreichende Gründe als wahr zu akzeptieren und dessen spekulative Vernunft im Fall einer Beiordnung beider Vermögen verbieten würde, diese Sätze zu akzeptieren. Da man nicht ohne Widerspruch und zur selben Zeit dieselben Sätze sowohl akzeptieren als auch nicht akzeptieren kann, können spekulative und praktische Vernunft nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen.4 Wenn es praktische Postulate gibt, muss also entweder die praktische oder die spekulative Vernunft das Primat haben. Doch Letzteres, so der zweite Schritt der Argumentation, ist ausgeschlossen, denn das würde bedeuten, dass wir die Postulate nicht als wahr akzeptieren, was aufgrund ihrer praktischen Notwendigkeit unmöglich ist. Wenn es Sätze gibt, die, wie Kant sagt, „einem unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzer-
_____________ 4 Dies steht nicht im Gegensatz zu Kants Klammereinschub auf AA V 120, wonach die Frage laute, welches Interesse das oberste sei (das der praktischen oder das der spekulativen Vernunft), und nicht, welches Interesse „weichen“ müsse, „denn eines widerstreitet dem anderen nicht notwendig“. Tatsächlich widerstreiten sich beide Interessen nicht notwendig, nämlich dann nicht, wenn sie einander nicht gleichgeordnet sind, sondern eines von beiden „das oberste“ ist.
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trennlich anhängen“ (AA V 122), die wir also für wahr halten müssen, sofern wir uns als moralisch verpflichtet begreifen, dann ist es genauso rational geboten, diese Sätze für wahr zu halten, wie es rational geboten ist, sich als moralisch verpflichtet zu begreifen.5 Kant zufolge ist das Letztere notwendigerweise der Fall, also auch das Erstere. Somit bleibt für den Fall, dass es derartige Sätze (also praktische Postulate) gibt, nur die Möglichkeit, dass die reine praktische Vernunft das Primat hat, wir diese Sätze also als wahr akzeptieren müssen. Kant selbst begründet diesen Punkt an der zitierten Stelle scheinbar in etwas anderer Weise: „Der speculativen Vernunft aber untergeordnet zu sein […], kann man der reinen praktischen gar nicht zumuthen, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist“ (AA V 121). Doch tatsächlich läuft dies ebenfalls darauf hinaus, dass es der unbedingt gebietende Charakter des Sittengesetzes (als eines Gesetzes der reinen praktischen Vernunft) ist, der eine Unterordnung der praktischen Vernunft unter die spekulative ausschließt. Dass das Interesse der spekulativen Vernunft „nur bedingt“ und allein im praktischen Gebrauch „vollständig“ ist, bedeutet ja gerade, dass es nicht unbedingt rational geboten ist, dem spekulativen Interesse Genüge zu tun. Als denkender Mensch hat man ein Interesse an den ersten und den letzten Dingen, aber dieses Interesse ist in zweifacher Hinsicht bedingt. Erstens kann es gegen andere Interessen abgewogen werden; wenn lebenspraktische Probleme drängen, ist es zweifellos rational, die Spekulation zurückzustellen. Und zweitens steht das spekulative Urteil unter der Bedingung ausreichender Gründe; jenseits der Grenzen des für uns Erkennbaren müssen wir uns des Urteils enthalten. Im Gegensatz dazu ist der Glaube an die notwendigen Implikationen des geltenden Sittengesetzes nicht bedingt, denn wegen der unbedingten Geltung und des kategorischen Charakters des Sittengesetzes dürfen wir hier weder abwägen noch können wir auf theoretisch ausreichende Gründe warten. Und insofern wir nur durch das Sittengesetz einen rationalen Zugang zu einem rationalen Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit gelangen, ist das spekulative Interesse „allein im praktischen Gebrauche vollständig“. Dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist“, gilt demnach selbst für das ‚praxisfernste‘ Interesse von allen, das an spekulativer Einsicht. Da das unbedingte Interesse der reinen praktischen
_____________ 5 „Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen; daher muß es doch auch möglich sein; mithin ist es für jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu dessen objectiver Möglichkeit nothwendig ist. Die Voraussetzung ist so nothwendig als das moralische Gesetz, in Beziehung auf welches sie auch nur gültig ist.“ (AA V 143, Fn.; H.v.m.)
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Vernunft den Vorrang vor dem bedingten Interesse der spekulativen Vernunft hat, kann sie der spekulativen Vernunft nicht untergeordnet sein.6
3. Rationale Postulate Zumindest im Rahmen der kantischen Philosophie scheint mir das Primat der praktischen Vernunft damit überzeugend begründet zu sein. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Begründung an keiner Stelle auf den Inhalt der kantischen Postulate Gott und Unsterblichkeit rekurriert, ja den Ausdruck „Postulat“ gar nicht verwendet.7 Stattdessen ist ganz allgemein von „Sätzen“ oder „theoretischen Positionen“ die Rede, die mit praktischen „Prinzipien a priori […] unzertrennlich verbunden“ und zugleich der „Einsicht der spekulativen Vernunft entzogen“ und somit praktisch notwendig, aber theoretisch unentscheidbar sind. Wenn es solche Sätze gibt, dann, so Kants Argument, müssen wir sie vernünftigerweise für wahr halten, obwohl wir keine theoretisch hinreichenden Gründe dafür haben, dass sie tatsächlich wahr sind. Gibt es solche Sätze? Kant selbst will in der Kritik der praktischen Vernunft bekanntlich zeigen, dass es sich bei der Annahme der Existenz Gottes und unserer eigenen Unsterblichkeit um praktische Postulate in diesem Sinn handelt. Seine komplexe Begründung für diese These, die ich hier nicht im Einzelnen nachzeichnen kann, beruht auf dem folgenden Grundgedanken: Das höchste Gut für ein rationales Wesen besteht in der Verwirklichung einer Welt, in der alle Menschen vollkommen tugendhaft und vollkommen glücklich sind, wobei die beiden „Elemente“ dieses höchsten Gutes, Tugend und Glückseligkeit, insofern miteinander verknüpft sind, als vollkommene Tugend („Glückswürdigkeit“) eine notwendige und hinreichende Bedingung für das Erlangen vollkommener Glückseligkeit darstellt. Die Postulate ergeben sich nun aus der Frage, „wie […]
_____________ 6 Die Begründungslast trägt dieser Lesart zufolge also die Unbedingtheit des Interesses der reinen praktischen Vernunft, nicht die markante Formel, dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist“. Letztere stellt nur die Kommensurabilität von spekulativem und rein praktischem Interesse sicher. 7 Dass Kants Begründung für das Primat der reinen praktischen Vernunft wesentlich allgemeiner ist als die der beiden kantischen Postulate, hat übrigens bereits der Verfasser des sogenannten „ältesten Systemprogramms“ bemerkt, indem er nach den Worten „eine Ethik“ fortfährt: „Da die ganze Metaphysik künftig in d[ie] Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat so wird diese Ethik nichts anders als ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate […] seyn.“
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das höchste Gut praktisch möglich“ ist (AA V 112), wie es also ein sinnvolles Ziel menschlichen Handeln sein kann, obwohl (a) vollkommene Tugend oder „Heiligkeit“ (AA V 122) für endliche, von potentiell egoistischen Neigungen affizierte Wesen gar nicht erreichbar ist und (b) Tugend nicht notwendigerweise mit Glückseligkeit einhergeht. Das höchste Gut, so Kant, ist nur dann praktisch möglich, wenn wir uns (a) der vollkommenen Tugend in einem „unendlichen Progressus“ (AA V 122) annähern können, was (wegen der Unendlichkeit des Annäherungsprozesses) eine unsterbliche Seele erfordert, und es (b) mit Gott „eine oberste Ursache der Natur“ gibt, die für die genaue Proportionierung von Tugend und Glückseligkeit sorgt. (AA V 125) Da es Kant zufolge „a priori (moralisch) notwendig [ist], das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen“ (AA V 113) und dieses nur unter Voraussetzung der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele möglich ist, müssen wir diese beiden Postulate akzeptieren, auch wenn wir ihre Wahrheit rein theoretisch nicht nachweisen können. Diese Argumentation beruht auf drei entscheidenden Annahmen: (i) dass es endlichen Wesen nicht möglich ist, dem Sittengesetz vollkommen zu entsprechen (weshalb dies nur in unendlicher Annäherung möglich ist); (ii) dass eine notwendige Proportionierung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit nicht Teil einer natürlichen Ordnung der Dinge sein kann (und daher ein göttliches Eingreifen erfordert); und (iii) dass die Geltung des Sittengesetzes impliziert, dass die vollkommene Realisierung des höchsten Gutes ein mögliches Ziel menschlichen Handelns ist. Gegen jede dieser drei Annahmen lassen sich gravierende Einwände vorbringen (die ich hier nur andeuten kann). (i) Dass es endlichen Wesen nicht möglich ist, dem Sittengesetz vollständig zu entsprechen, ergibt sich nur dann, wenn man wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft unterstellt, dass dies „Heiligkeit“ erfordert. Im Gegensatz zur bloßen „Tugend“ („d. i. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz, folglich Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung, wenigstens Unlauterkeit“, AA V 128) besteht Heiligkeit in der notwendigen und unwandelbaren Übereinstimmung des Willens mit dem Sittengesetz, so dass für einen heiligen Willen selbst die Möglichkeit einer Abweichung nicht mehr besteht (vgl. AA V 32). Kant gesteht zu, dass endliche Wesen Heiligkeit nicht erreichen können (vgl. AA V 33; AA V 122), und schließt nun nach dem Prinzip, dass Sollen Können impliziert, vom Gebot der Heiligkeit auf die Unsterblichkeit der Seele: „Da sie [die Heiligkeit] indessen gleichwohl als praktisch nothwendig gefordert wird, so kann sie nur einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden.“ (AA V 122) Doch warum sollte man nicht nach demselben Prinzip schließen, dass Heiligkeit, weil sie
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für endliche Wesen nicht erreichbar ist, von diesen auch nicht gefordert werden kann? Tatsächlich verlangt der kategorische Imperativ lediglich, dass wir stets nach Maximen handeln, von denen wir wollen können, dass sie allgemeine Gesetze seien. Er verlangt allem Anschein nach nicht, dass wir dies unangefochten von entgegenstehenden Neigungen tun. Mehr noch, wären wir nicht aufgrund von Neigungen versucht, vom Sittengesetz abzuweichen, würde der Sollenscharakter des Sittengesetzes wegfallen (AA V 32; vgl. auch AA IV 414), so dass ohnehin nicht mehr die Rede davon sein könnte, dass Heiligkeit von uns „gefordert“ ist. Es spricht daher vieles dafür, Tugend („gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz“) und nicht Heiligkeit als das anzusehen, was von endlichen Wesen wie uns Menschen moralisch verlangt ist. (ii) Warum kann die Proportionierung von Tugend und Glück nicht auf natürlichem Wege, ohne göttliches Eingreifen, stattfinden? Dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Glückswürdigkeit de facto nicht gibt, ist eine empirische Tatsache.8 Da es aber nicht um die Frage geht, ob das höchste Gut bereits realisiert, sondern ob es überhaupt realisierbar ist, muss Kant die stärkere These in Anspruch nehmen, dass es einen solchen Zusammenhang prinzipiell nicht geben kann. Gerade diese These stellt Kant selbst jedoch in Frage, indem er behauptet, dass die Möglichkeit einer rein natürlichen, aber gleichwohl notwendigen Proportionierung von Tugend und Glück nur „subjektiv“ (für unsere Vernunft) unerklärlich sei: In der Tat ist die genannte Unmöglichkeit bloß subjectiv, d.i. unsere Vernunft findet es ihr unmöglich, sich einen so genau angemessenen und durchgängig zweckmäßigen Zusammenhang, zwischen zwei nach so verschiedenen Gesetzen sich ereignenden Weltbegebenheiten, nach einem objectiven Naturlaufe, begreiflich zu machen; ob sie zwar, wie bei allem, was sonst in der Natur Zweckmäßiges ist, die Unmöglichkeit desselben nach allgemeinen Naturgesetzen, doch auch nicht beweisen, d.i. aus objectiven Gründen hinreichend dartun kann. (AA V 145)
Wie ein zweckmäßiger Zusammenhang zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit nach allgemeinen Naturgesetzen, „einem objektiven Naturlaufe“, möglich ist, kann unsere Vernunft sich nicht „begreiflich machen“,
_____________ 8 Es ist aus kantischer Sicht nicht ohne weiteres klar, wie dies eine empirische Tatsache sein kann, da wir nach Kant die Gesinnung eines Menschen nicht mit letzter Gewissheit feststellen können. Es wäre insofern immerhin denkbar, dass alle unglücklichen Menschen dieses Unglück verdienen, auch wenn sie allem Anschein nach moralisch gut gehandelt haben. Doch Kant vermeidet einen solchen extremen Skeptizismus hinsichtlich der moralischen Gesinnung durch seine These, dass der intelligible Charakter eines Menschen seinem empirischen Charakter gemäß „gedacht“ werden muss (KrV B 586), dass wir also annehmen dürfen, dass die intelligible Gesinnung sich in den beobachtbaren Handlungen zeigt (vgl. Willaschek 1992, 131).
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sie kann es aber auch nicht als objektiv unmöglich erweisen. Doch gilt nach kantischen Prinzipien nicht genau dasselbe für die Annahme, Gott sorge für einen solchen Zusammenhang? Auch diese Möglichkeit lässt sich rein theoretisch weder widerlegen noch begreiflich machen. Kant zufolge gibt uns allein die Moral einen inhaltlich bestimmten Begriff von Gott, der diese Möglichkeit „begreiflich“ machen könnte (AA V 140) – doch diese These, wonach der „Begriff von Gott ein ursprünglich […] zur Moral gehöriger Begriff“ ist (AA V 140), setzt die Gültigkeit der Postulatenlehre bereits voraus. Ohne diese Voraussetzung steht die Annahme, dass Gott für die Proportionierung von Tugend und Glück sorgt, gleichauf mit der, dass dies durch die Natur geschieht: beide sind denkmöglich, aber unbegreiflich. Doch dann gibt es keinen Grund, weshalb wir eher das eine als das andere postulieren sollten. Und sobald wir die Möglichkeit alternativer Erklärungen für die Realisierbarkeit des höchsten Gutes in Betracht ziehen, stellt sich die Frage, weshalb wir überhaupt eine solche Erklärung brauchen: Warum sollten wir nicht die Realisierbarkeit des höchsten Gutes selbst postulieren und offen lassen, wie diese Möglichkeit zu erklären ist? Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen den „Hypothesen“ der spekulativen und den „Postulaten“ der reinen praktischen Vernunft. Hypothesen, so Kant, brauche ich nur, „um meine forschende Vernunft […] vollständig zu befriedigen“ (AA V 142). Als Beispiel führt Kant die „Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur“ an: „um mich von deren Wirklichkeit zu versichern [brauche ich nicht] zur Spekulation zu schreiten, sondern nur, um sie zu erklären, eine Gottheit, als Ursache, vorauszusetzen“. Verhält es sich mit dem Rekurs auf Gott zur Erklärung der Realisierbarkeit des höchsten Gutes nicht ganz analog? Das moralische Gesetz versichert uns (Kant zufolge) der Möglichkeit, das höchste Gut zu realisieren; wie wir diese Möglichkeit erklären, ist eine rein spekulative Frage, die wir nur beantworten müssen, sofern wir unsere „forschende Vernunft vollständig befriedigen“ möchten. (iii) Selbst wenn man Kant zugestehen würde, dass Gott und Unsterblichkeit tatsächlich notwendige Bedingungen für die Realisierbarkeit des höchsten Gutes sind, bliebe die Frage, warum wir als rationale (und durch das Sittengesetz verpflichtete) Wesen das höchste Gut für realisierbar halten müssen. Da kein einzelner Mensch allein das höchste Gut verwirklichen kann (und selbst alle Menschen gemeinsam dazu der Hilfe Gottes bedürfen), ist es uns ohnehin nicht geboten, es zu verwirklichen, sondern nur, es nach Kräften zu „befördern“ (AA V 125, 142, 143 u.ö.). Doch selbst dieses Gebot setzt nach Kant voraus, dass das höchste Gut tatsächlich realisierbar ist: „Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen, daher muss es doch auch möglich sein.“
Rationale Postulate
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(AA V 143, Fn.) Kant setzt hier offenbar voraus, dass mit Blick auf etwas Unmögliches noch nicht einmal geboten sein kann, es zu befördern. Doch das versteht sich keineswegs von selbst. Warum sollten wir das höchste Gut nicht als eine Idee im spezifisch kantischen Sinne dieses Wortes betrachten (vgl. KrV A 327/B 383), also als eine vernunftnotwendige Vorstellung, der kein empirischer Gegenstand jemals vollständig entsprechen kann? Wir können uns bemühen, einer solchen „Vollkommenheit“ (AA V 127 Fn.) möglichst nahe zu kommen, obwohl wir wissen, dass wir sie niemals vollständig erreichen können. Um das an einem mathematischen Beispiel zu verdeutlichen: Es ist physikalisch unmöglich, einen vollkommenen Kreis zu zeichnen; es kann deshalb nach dem Prinzip „ultra posse nemo obligatur“ (vgl. AA VIII 370) auch niemand verpflichtet sein, dies zu tun. Dennoch ist es zulässig zu fordern, dieser Idee möglichst nahe zu kommen (einen von einem perfekten Kreis möglichst wenig abweichenden Kreis zu zeichnen). Ganz analog würde die moralische Forderung hinsichtlich des höchsten Gutes nicht lauten, dieses zu verwirklichen, sondern seiner (für uns unmöglichen) Verwirklichung so nahe wie möglich zu kommen. Da wir demnach nicht annehmen müssten, dass das höchste Gut realisierbar ist, würden sich auch die Postulate von Gott und Unsterblichkeit nicht ergeben (die ja nur verständlich machen sollen, wie das höchste Gut „praktisch möglich“, also durch unser Handeln realisierbar sein kann). Es scheint daher, entgegen Kants Argumentation für die Postulate von Gott und Unsterblichkeit, durchaus möglich zu sein, die Geltung des Sittengesetzes zu akzeptieren, die vollständige Realisierbarkeit des höchsten Gutes und damit die beiden Postulate aber zu bestreiten. Kant nennt jedoch ein drittes Postulat, für das er im Rahmen der Postulatenlehre nicht eigens argumentiert: das Postulat der Freiheit (AA V 132). Und in diesem Fall gibt es ganz unabhängig vom problematischen Begriff des höchsten Gutes Gründe für die Auffassung, dass wir selbst dann, wenn unsere Freiheit sich „rein theoretisch“ nicht beweisen lassen sollte, dennoch vernünftigerweise nicht umhin kommen, uns für frei zu halten. Letzteres ist nämlich, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dargelegt hatte, eine Bedingung dafür, dass wir uns überhaupt als handelnde Wesen begreifen können (vgl. AA IV 448). Sobald wir die Freiheit als eine notwendige Bedingung unseres praktischen Selbstverständnisses in den Blick nehmen, drängen sich eine ganze Reihe weiterer möglicher Postulate auf: die Identität der Person im Zeitablauf, die Differenz zwischen einer abgeschlossenen Vergangenheit und einer offenen Zukunft, die kausale Beeinflussbarkeit der Welt durch menschliches Handeln – all dies sind theoretische Aussagen, deren Wahrheit skeptischen Zweifeln ausgesetzt ist und die sich insofern vielleicht nicht theoretisch zufriedenstellend begründen lassen. Dennoch ließe sich wohl leicht plausibel ma-
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chen, dass es rational geboten ist, diese Aussagen als wahr zu akzeptieren, da dies eine notwendige Bedingung dafür ist, dass wir uns überhaupt als rational handelnde Wesen begreifen können. Doch warum, so könnte man hier fragen, müssen wir diese Aussagen für wahr halten? Könnten wir als praktische Wesen nicht vielleicht von Bedingungen abhängen, die wir theoretisch nicht einholen und daher auch nicht für wahr halten müssen? Diese Frage deckt auf, dass Kants Argument für das Primat der praktischen Vernunft implizit eine starke Reflexivitätsbedingung voraussetzt: Rationale Akteure müssen einen widerspruchsfreien Begriff von sich selbst als rationalen Akteuren haben können. Sofern etwas eine Bedingung dafür ist, dass wir uns als handelnde Wesen begreifen können, müssen wir es auch vernünftigerweise für wahr halten können, ohne uns damit in Widersprüche zu verwickeln. Wenn ich Kant recht verstehe, ist das zumindest mitgemeint, wenn er betont, dass Widerspruchsfreiheit eine Bedingung dafür ist, überhaupt Vernunft zu haben. Unter dieser plausiblen Voraussetzung ist Kants These vom Primat der praktischen Vernunft auch aus heutiger Sicht zu verteidigen.
4. Schluss Um das entscheidende Argument, unabhängig von Kants eigener Terminologie, noch einmal zusammenzufassen: Es gibt metaphysische Implikationen unseres Selbstbewusstseins als rational handelnde Wesen wie die der Freiheit oder der personalen Identität. Diese Implikationen lassen sich, weil metaphysisch, rein empirisch weder beweisen noch widerlegen. Sie lassen sich jedoch auch nicht a priori deduzieren, denn letztlich ist es eine kontingente Tatsache, dass es rational handelnde Wesen überhaupt gibt. Doch als rational handelnde Wesen müssen wir über einen konsistenten Begriff unserer selbst verfügen können, so dass wir nicht umhin kommen, diese Implikationen als Bedingungen der Möglichkeit vernünftigen Handelns als wahr anzuerkennen, obwohl sie weder empirisch beweisbar noch a priori deduzierbar sind. Das Praktische stellt sich somit als eigenständiger Geltungsgrund theoretischer Aussagen heraus – eine Abkehr von einem rein kontemplativen Philosophieverständnis mit weitreichenden Folgen für alle Bereiche der Philosophie. Wie wir gesehen haben, ist diese Argumentation völlig unabhängig von Kants Begründung der Postulate von Gott und Unsterblichkeit. Sicherlich lassen sich nicht alle irgendwie vertretbaren metaphysischen Aussagen als praktische Postulate verstehen. Doch zumindest in den genannten und zahlreichen anderen Fällen scheint mir eine Deutung als praktisches Postulat sinnvoll zu sein. Es mag scheinen, als hätte man damit das Pro-
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blem der Begründung metaphysischer Aussagen nur auf die Ebene praktischen Selbstverständnisses verlagert, denn nun stellt sich die Frage, wann ein praktisches Selbstverständnis als rational gelten kann. Braucht ein rationales Selbstverständnis nicht selbst wieder eine (theoretische) Begründung? Doch diese Iteration der Begründungsproblematik übersieht die spezifische Pointe der kantischen These vom Primat der praktischen Vernunft, wonach das Praktische eine eigenständige Begründungsressource darstellt, die insbesondere nicht auf eine theoretische Begründung angewiesen ist.9 In diesem praktischen Sinn rational zu sein bedeutet etwas grundsätzlich anderes als sich auf explizierbare Gründe, Argumente oder empirische Belege stützen zu können. Kants eigener Auffassung zufolge bedeutet es, sich an einem Sittengesetz zu orientieren, das insofern rational ist, als es rein formal ist (d.h. von allen Inhalten wie Absichten, Zwecken, Handlungsumständen etc. abstrahiert), für alle vernünftigen Wesen gleichermaßen gilt und ihre Handlungen in einer bestimmten Hinsicht konsistent macht (vgl. AA IV 420ff.; AA V 27f.). Eine Handlung nach dem Sittengesetz kann Kant zufolge insofern nicht mit den Handlungen anderer Menschen konfligieren, als prinzipiell auch alle anderen Menschen auf diese Weise handeln könnten, ohne dass sich daraus ein Widerspruch ergeben würde. Wie wir gesehen haben, ist (der Anspruch auf) Widerspruchsfreiheit Kant zufolge konstitutiv für Vernunft, weshalb Kant im Sittengesetz ein Gesetz spezifisch vernünftigen Handelns sehen kann. Zugleich ist diese Form von Vernünftigkeit von derjenigen, die wir mit theoretischer Einsicht anstreben, spezifisch unterschieden. Insbesondere bedarf sie keines rein „theoretisch“ zu führenden, auf als wahr eingesehenen Prämissen beruhenden Beweises (wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit seiner These vom „Factum der reinen praktischen Vernunft“ klarstellt). Auch dieser Punkt lässt sich von Kants eigener Konzeption einer reinen praktischen Vernunft als Quelle des Sittengesetzes lösen und vorsichtig verallgemeinern. Selbst wenn es keine Handlungsregeln geben sollte, die (wie dem Anspruch nach das kantische Sittengesetz) über alle Unterschiede der Zeit und der Kultur hinweg für alle rationalen Wesen gelten, kann doch niemand ein rationales Selbstverständnis ausbilden, ohne in der jeweils eigenen Zeit und Kultur weithin geteilte Standards (moralisch und pragmatisch) richtigen Handelns zu verinnerlichen und somit als gültig zu akzeptieren. Diese Standards sind solche praktischer Rationalität, wenn sie vergleichsweise formal (d.h. weitgehend neutral gegenüber spezifischen
_____________ 9 Vgl. dazu Willaschek 2008.
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Inhalten) sind, zumindest dem Anspruch nach für alle rationalen Wesen gelten und ihre Nichtbeachtung eine Form von Inkonsistenz zur Folge hat (d.h. eine Unvereinbarkeit von Elementen innerhalb eines praktischen Selbstverständnisses). Ein praktisches Selbstverständnis kann demnach in dem Maße als rational gelten, wie es diesen (historisch wie kulturell bedingten) praktischen Rationalitätsstandards genügt. Diese Standards sind prinzipiell kritisierbar und reversibel, doch ihre Geltung verdanken sie nicht einer theoretischen Begründung, sondern der Tatsache, dass sie innerhalb eines bestimmten historischen und kulturellen Kontextes festlegen, was es heißt, ein rationales Wesen zu sein. Die These des Primats der (nunmehr nicht mehr notwendigerweise reinen) praktischen Vernunft bedeutet dann, dass sich auch mit Blick auf die metaphysischen Implikationen eines so verstandenen praktischvernünftigen Selbstverständnisses die Frage nach theoretischen Begründungen nicht stellt. In dieser Form lässt sich diese These auch unabhängig von den bestreitbaren Voraussetzungen der kantischen Philosophie verteidigen. Dennoch handelt es sich um eine spezifisch kantische Einsicht, dass es auch dann rational sein kann, eine Aussage für wahr zu halten, wenn ihre Wahrheit nicht nachweisbar ist. Darin liegt eine „Revolution der Denkart“, die hinter der sogenannten Kopernikanischen Wende Kants in der Kritik der reinen Vernunft an Originalität und Bedeutung nicht zurücksteht.
Literatur Descartes, René (1982-1991): Œuvres de Descartes, 12 Bde., hrsg. v. Ch. Adam u. P. Tannery, Paris. (zit. als AT) Timmermann, Jens / Reath, Andrews (Hrsg.) (2009): Kant’s Critique of Practical Reason, Cambridge. Willaschek, Marcus (1992): Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart. Willaschek, Marcus (2008): „Kant on the Necessity of Metaphysics“, in: Akten des 10. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York.
Die Menschheit in der Person des Menschen. Zur Anthropologie der menschlichen Würde bei Kant Volker Gerhardt
1. Empirisch oder intellektuell? In der Vorrede zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist Kant vor allem daran gelegen, den apriorischen Ansatz der kritischen Ethik zu exponieren. Sie müsse, so heißt es, „von allem Empirischen sorgfältig gesäubert sein“ (AA IV 388). Die „moralischen Gesetze“ unterschieden sich von allen empirischen Erfahrungen „wesentlich“ und „gänzlich“ dadurch, dass in ihnen „nicht das mindeste“ von der empirischen Kenntnis des Menschen „entlehnt“ werde (AA IV 389). Dieser wohlbekannten Ausgangsposition steht das Ergebnis der kritischen Ethik gegenüber, dem Kant vielfältigen Ausdruck verleiht. Besonders sinnfällig und überzeugend ist ihm dies in der prominenten SelbstzweckFormel des kategorischen Imperativs gelungen: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. (AA IV 429)
Meine einfache Frage ist, wie der Ausschluss alles Empirischen, der zur Folge haben soll, dass in der Ethik nicht von der realen Verfassung des empirischen Menschen, sondern lediglich von „vernünftigen Wesen“ gesprochen werden darf, zu der unerhörten Redewendung von der Menschheit in der Person eines jeden Menschen passt. Meine Antwort läuft darauf hinaus, dass Kant in der Vorrede mehr ausgeschlossen hat, als ihm selber möglich war. Zugleich bin ich der Überzeugung, dass die radikale Exklusion der empirischen Selbstkenntnis des Menschen gar nicht nötig gewesen wäre. Obgleich es nicht nur richtig, sondern letztlich unvermeidlich ist, die Ethik auf die Vernunft zu gründen, kommt man nicht umhin, die naturalen Bedingungen seiner Existenz systematisch aufzunehmen. Mehr noch: Das Menschliche in seiner endlichen, leibhaftig-sinnlichen und der Vernunft niemals gänzlich unterstehenden Verfassung ist eine konstitutive Bedingung einer kritischen Ethik,
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auch wenn sie ihre Maßstäbe aus der Vernunft bezieht. Kant hätte sich das Geschäft einer Grundlegung der Sitten wesentlich erleichtern können, wenn er die Bindung seines Ansatzes an die von ihm betriebene Anthropologie aufgedeckt und ausgewiesen hätte. Diese Auffassung habe ich in anderen Zusammenhängen begründet.1 Im Folgenden möchte ich andeuten, dass auch Kant ihr stillschweigend folgt.
2. Humanität Würde Kant den intelligiblen Ausgangspunkt seiner kritischen Ethik tatsächlich unabhängig von den uns nur über die Empirie bekannten Naturprozessen begreifen, dürfte von der „Menschheit“ gar keine Rede sein. Denn Menschheit ist die Gesamtheit empirischer Wesen, deren Besonderheit in einem Ensemble verschiedener Verhaltensweisen besteht. Menschen verhalten sich – im Unterschied zu anderen Lebewesen –, indem sie sich (zumindest gelegentlich) auf Einsichten berufen. Und sie tun dies stets unter Berücksichtigung der empirischen Bedingungen, die sie an sich als Individuen, an ihrem Verhältnis zu ihresgleichen und in ihrer sie verbindenden Lebenslage beobachten können. Überdies kann man nur das, was auf diese Weise empirisch anzutreffen ist, in einem Ideal menschlichen Lebens überbieten. So etwa können wir uns die Genese der Idee der „Humanität“ bei Cicero vorstellen. Hier haben wir eine Norm, die keineswegs bloß (wie gerne, aber fälschlich behauptet wird) den vornehmen Römer idealisiert, sondern von Anfang an auf alle Menschen bezogen ist. Kant nimmt die Idee der Humanität aus frischer Relektüre von de officiis in der Übersetzung Christian Garves (kurz vor der Abfassung der Grundlegung) auf und überträgt sie mit Nachdruck auf den Menschen überhaupt. Das Ideal aber kann nur überzeugen, solange man den Menschen auch in seinen Schwächen kennt. Hätte Kant den empirischen Lebensbezug ernsthaft umgehen wollen, hätte er sich erst gar nicht auf die Menschheit berufen dürfen. Er hätte es bei der Rede vom „Reich der Zwecke“ oder beim „reinen Vernunftwesen“ belassen müssen. Natürlich kann man schon bei diesen Begriffen in Zweifel ziehen, ob sie der Empirie wirklich entkommen. Ist nicht der Begriff der Intelligibilität bereits auf etwas gegründet, das sich nur im Verhalten von Lebewesen zeigen kann? Was könnten Zwecke ausrichten, wenn es keine materialen Gegebenheiten und keine konkreten Handlun-
_____________ 1 Vgl. Gerhardt 1999; ders. 2002.
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gen gäbe, in denen sie organisierend wirksam wären? Kann „Vernunft“ etwas anderes als das Vermögen eines Naturwesens bezeichnen, das der Aufmerksamkeit, der Übung, gewisser Techniken und schließlich der Kultur bedarf, um einsichtige und begründbare Ansprüche an sich selber zu stellen? Setzt „Freiheit“ nicht jederzeit die empirische Erfahrung der Befreiung von Zwängen voraus? Das muss die Rede von „reiner Vernunft“ und vom „reinen Vernunftwesen“ nicht unmöglich machen. Denn diese und andere Wendungen zeigen nur an, dass es möglich ist, sich tatsächlich nach seiner Einsicht zu richten und nach den aus ihr folgenden Gründen zu handeln. Der Mensch handelt nicht zu 50% aus Einsicht und zu 50% aus triebhafter Anlage. Er kann sich in der Tat allein nach seiner Einsicht richten, nicht zuletzt auch deshalb, weil eine Erkenntnis alles aufnehmen kann, was zu seiner Natur und den empirischen Bedingungen seiner Handlungslage gehört. Wenn ich meine Müdigkeit überwinde und auch der Verlockung widerstehe, den Abend im Kino zu verbringen, damit ich endlich meinen Text abschließe und das gegebene Versprechen gegenüber dem Herausgeber erfüllen kann, folge ich ausschließlich der vernünftigen Einsicht, die mir die Einhaltung des Versprechens gebietet. Ihren Sinn haben Einsicht und Handlung aber nur angesichts der physischen, physiologischen und psychischen Widerstände der menschlichen Natur. Natur und Vernunft, so kann man folgern, sind in der Einsicht und in den ihr folgenden Gründen vermittelt. Aber von dieser Vermittlung kann man nur sprechen, wenn man die empirischen Konditionen in Geltung lässt. Dann kann man sich durchaus auf die „bloße Vernunft“ berufen und braucht den Bezug auf die „Menschheit“ nicht preiszugeben.
3. Die empirische Gesamtheit der Menschen Der Ausdruck „Menschheit in deiner Person“ kommt bei Kant selten vor, „Menschheit“ dafür umso öfter. Die ausgedehnte Verwendung des Begriffs der Menschheit lässt, so meine ich, keinen Zweifel daran zu, dass Kant die Leistungen der praktischen Vernunft auf das natürliche, geschichtliche und damit auch gesellschaftliche Wesen des Menschen anwenden will. Auch in der prominenten Formel der Grundlegung wird deutlich, dass er sie aus der empirisch gegebenen Verfassung des Menschen entlehnen muss, wenn sie überhaupt einen Sinn haben können soll. Die elementaren Anzeichen dafür liegen in der Opposition zwischen Mein und Dein und in der Differenzierung zwischen Zweck und Mittel. Was sollten die Begriffe bedeuten, wenn sie nicht auf den empirischen Unterschied zwischen Individuen oder auf die nur im Einsatz der Technik erfahrbare
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Funktionsunterscheidung zwischen konkreten Zielen und den zu ihrer Realisierung erforderlichen Voraussetzungen rekurrieren könnten? Für die Verbindung zur empirischen Realität des Menschen gibt es zahllose Gründe: Der soziologische Zeitgeist des 20. Jahrhunderts hat dabei vor allem auf die soziale Natur des Menschen gesetzt. Dieses Kriterium ist durch Kants Betonung der unerlässlichen Funktion der impliziten Mitteilung, die alle Leistungen der Vernunft dominiert, mehr als erfüllt. Alle Erkenntnis ist daran gebunden, dass sie „frei“ gewonnen und „öffentlich“ verhandelt werden kann.2 Öffentlichkeit aber, auch wenn sie als eine „transzendentale“ Bedingung der Politik bezeichnet wird und mit ebenso guten Gründen eine „transzendentale“ Kondition eines jeden Wissens genannt werden kann, ist eine sich in Gesprächen, im Schreiben und Reden sowie mit der von zahllosen technischen Konditionen abhängigen Bücherpublikation eröffnende Sphäre im gesellschaftlichen Dasein der Menschen. Für Kant steht bekanntlich die schon für die Notwendigkeit der Vernunftkritik ausschlaggebende Tatsache der Bedürftigkeit und Endlichkeit des Menschen im Vordergrund. Moral hat nur mit Blick auf die Begrenztheit der menschlichen Vermögen einen Sinn. Ein Gott oder reine vernünftige Wesen, wie etwa die so genannten „Engel“, brauchten schon deshalb nicht moralisch zu sein, weil ihnen der Anspruch dazu fehlt. Denn sie stehen gar nicht in Versuchung, nicht-moralisch zu sein. Sie entsprechen immer schon von selbst der Einsicht, die sie von etwas haben. Ethik hat damit für Gott und seine „Beamten“ (um eine Wendung Giorgio Agambens3 zu gebrauchen) gar keinen Sinn. Folglich muss sich die Moral, so rein, unbedingt und intelligibel ihre Prinzipien auch immer sein mögen und sein müssen, auf den Menschen beziehen, auf das einzige Tier, das sein eigener Herr sein kann4 und nach seinem eigenen Anspruch tatsächlich sein eigener Herr sein muss. Das meint der Begriff der Selbstbestimmung, in den notwendig auch Naturmomente eingelassen sind. Animal rationale, so habe ich vor Jahren zu zeigen versucht5, ist das Tier, das seine Gründe hat. Damit wird es zum Tier, das sich selbst ein Beispiel geben kann.6 Und indem es sich seinen eigenen Gründen unterwirft, unterstellt es sich seiner eigenen Vernunft, der damit die Dispositionsmacht über seine tierische Existenz zugesprochen werden muss. Schon in der Antike verstand man eben diese „Selbstherrschaft“ (autokra-
_____________ 2 AA IV 9; Vorrede. 3 Agamben 2007. 4 AA VIII 23. 5 Gerhardt 1999, 295ff. und 323ff. 6 Gerhardt 2002, 360; siehe auch: ders. 2008a und 2008b.
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teia) als Inbegriff der Tugend. Sie konnte nur im leibhaftigen Vollzug des individuellen Lebens zur Geltung kommen.
4. Der Selbstbegriff des Menschen Normalität und Gesundheit vorausgesetzt, will jeder Mensch immer schon von sich aus nichts anderes, als nach eigener Einsicht entscheiden. Damit ist nicht bestritten, dass es mehr oder weniger eigenständige Charaktere gibt; manchmal kann auch dem Mutigen bange werden, wenn er an die Konsequenzen seines Handelns nach eigener Einsicht denkt. Gleichwohl möchte sich schon das ängstliche Kind nicht alles vorschreiben lassen. Und selbst ein Mann, der seiner Frau die Entscheidung in den praktischen Dingen des Lebens überlässt, will sein eigenes Taschengeld. Wer sich als Person begreift (und damit nicht wie ein bloßes Ding behandelt werden möchte), hat immer schon ein ideales Verständnis seiner selbst. In diesem Anspruch auf Eigenständigkeit hat das empirische Einzelwesen nicht nur einen intelligiblen, sondern auch einen normativen Kern, von dem aus es sich zur Selbstdisziplin erziehen – sowie auch Disziplin von anderen fordern – kann. Die Frage aber ist, ob der explizite Bezug auf den Menschen nicht von den Prinzipien einer reinen Vernunft abführt? Dieser Verdacht, so glaube ich, lässt sich widerlegen: Wer immer in der Lage ist, sich als Mensch zu begreifen, der hat die rationale Fähigkeit, sich selbst als spontan wirksame Einheit zu erkennen. Das ist, so möchte ich abkürzend sagen, ein analytischer Satz. Ich erkenne mich als etwas, das in sich noch so zerrissen sein mag, aber dennoch nur als ein so und so beschaffenes Ganzes angesprochen werden kann. Im Akt der Selbsterkenntnis agiert der Mensch als prozedurales Ganzes, das im Begriff seiner selbst werkanaloge Einheiten schafft, die dann der konkreten Erkenntnis zugrunde liegen. So wirken bereits im erschlossenen Selbstbegriff des Menschen drei verschiedene Einheitsleistungen zusammen. Wird der so erfasste Selbstbegriff in entschlossene Praxis umgesetzt, kommen zum Ganzen des konkreten Wissens noch die prozedurale Einheit der Technik und des Handelns hinzu. In alles dies sind empirische Momente einbezogen. Entsprechendes gilt für die Verfassung des jeweils tätig werdenden Menschen. In ihm müssen Empfindung, Gefühl und Verstand als organisierende Kräfte zusammen wirken. Wir könnten sie gar nicht verstehen, wenn sie nicht aus verschiedenen Anlässen, unter natürlichen Bedingungen und mit natürlichen Folgen auftreten und ablaufen würden. Die Natur stellt die Sinn- und Wirkungsbedingungen des Geistigen dar. Die konkrete Erscheinung ist das unverzichtbare stofflich-leibhaftige Element, in dem
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sich alle Handlungen vollziehen. Und es ist das Materiale des Lebens, in welchem Absicht und Einsicht organisierend wirksam werden, um das hervorzubringen, was eine menschliche Handlung genannt werden kann.
5. Exemplarische Existenz Es wäre nicht nur vollkommen unangebracht, sondern im strikten Verständnis des Wortes sinnlos, wollte man Kant eine sich isolierende Subjektivität, einen selbstverliebten Maximalismus oder gar einen kategorischen Logozentrismus des vernünftigen Wesens unterstellen. In der moralischen Frage: „Was soll ich tun?“ übernimmt das Individuum zwar die Verantwortung für sich selbst, doch schon indem es sich selbst dem vernünftigen Selbstanspruch unterstellt, geht es über seine bloße Individualität hinaus und betrachtet sich selbst als einen Fall, oder besser: als ein Exemplar eines Allgemeinen, dem es sich selbst zurechnet. Jedes Individuelle, sofern wir es erkennen, ist der Fall eines Allgemeinen, zu dem es nach Ausweis der Erkenntnis gehört. Insofern kann man sagen, dass alles Individuelle exemplarisch ist. Das mag auch noch für das Wesen gelten, das sich selbst erkennt. Wenn ich an mir herunter sehe und im Brustton sinnlich gegründeter Überzeugung sagen kann: „Ich bin ein Mensch“ – denn offenkundig gehöre ich zu der Spezies der in Herden lebenden, zweibeinigen, aber fell-, flügel-, federund flossenlosen Tiere, die ihre Blöße bedecken, sonst aber ziemlich schamlos sind –, könnte das noch ein Beispiel für die rein kognitive Identifikation eines Individuums als Fall seiner Gattung sein. Tatsächlich aber ist es mehr. Indem der sich so Erkennende in seine Beschreibung Verhaltensweisen einbezieht, für die er selber zuständig ist, ist er nicht nur ein Fall der Gattung, die in seiner Erkenntnis des Falls zum Ausdruck kommt, sondern er behandelt sich selbst als einen solchen Fall: Er bedeckt seine Blöße und weiß zugleich, dass dies in vielen Lebenslagen zu wenig ist. Er erkennt sich nicht nur einfach als einen exemplarischen Gegenstand, sondern er handelt selbst im Sinn der von ihm vorgenommenen Beschreibung. Damit hat er sich selbst nicht bloß als exemplarischen Fall, sondern als exemplarischen Akt vor Augen. Er wird zum tätigen Repräsentanten der Spezies, zu der er sich rechnet. Die bloße Kognition wird in eine dem Menschen eigentümliche Praxis überführt.
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Sie ist es, die ich unter den Titel des exemplarischen Handelns stelle.7 In diesem Handeln bin ich nicht nur der, der ich bin, sondern ich zeige mich als solcher, genauer: Ich stelle mich als Repräsentant der Gattung dar, als deren Teil ich mich erkenne. Das ist ein konkreter Akt unter historischen Bedingungen, der sich in sinnlichen Formen vollzieht und empirische Folgen hat. Es ist die beispielgebende Präsentation eines individuellen Selbst – und hat seinen Grund dennoch ausschließlich in einer bloßen Einsicht eines Menschen, der sich eben in dieser Einsicht als vernünftig begreift.
6. Korrespondenz im Selbstbegriff Das erkannte Allgemeine, das uns erlaubt, ein Individuum als Fall einer Gattung zu erkennen, ist in allen vorkommenden Fällen der Naturzusammenhang. Alles, was immer es ist, gehört zur Natur. Kann davon das Wesen, das sich in der Erkenntnis seiner selbst, selbst zur Darstellung bringt, ausgeschlossen sein? Gesetzt der Mensch wäre bloße Natur, dann brauchte er sich keine Naturgesetze zu geben. Denn den Naturgesetzen untersteht er ohnehin. Deshalb kommt als Allgemeines nur das in Frage, wofür das zweifelnde, fragende, Rat und Orientierung suchende, allemal hilfsbedürftige, aber letztlich zu einer eigenen Entscheidung genötigte Individuum tatsächlich immer den exemplarischen Fall abgibt: Und das ist der von der Vernunft erschlossene Zusammenhang, in dem sich ein unter moralischen Selbstansprüchen stehendes Wesen selbst versteht. Und es versteht sich so unter den Bedingungen einer Einsicht, die in einem Grund praktisch werden kann. Bei Kant steht dieser allgemeine Zusammenhang unter verschiedenen Begriffen: Mal nennt er ihn „Reich der vernünftigen Wesen“, ein andermal „Reich der Zwecke“. Oft sagt er auch einfach nur „Vernunft“, weil die Vernunft ja tatsächlich der denkbar allgemeine Kontext ist, zu dem jedes Individuum sich selber rechnet, sobald es nur über seine eigene Vernunft und die zugehörigen Einsichten verfügt. Denn die Vernunft, die einer hat, ist immer auch die Vernunft, die ein anderer hat. Hier geht es uns, wie mit den Regeln der Logik oder der Grammatik: Indem ich mich ihrer bediene – und es mag noch so eigenwillig sein –, operiere ich so wie alle anderen auch, bin also gerade im individuellen Gebrauch, den ich von Begriffen oder Schlüssen mache, ein Moment eines allgemeinen Zusammenhangs.
_____________ 7 Siehe dazu: Gerhardt 2008c, 11ff.
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Das sich selbst als einsichtig begreifende menschliche Wesen steht also gerade in seinem individuellen Selbstbegriff in Korrespondenz zu seinesgleichen. Es ist nicht nur in den theoretischen Leistungen seines Bewusstseins ursprünglich auf Andere seiner selbst bezogen, sondern es richtet sich sowohl in seiner nüchternen empirischen als auch in seiner idealisierten Selbstauffassung nach dem, was Andere von ihm verstehen oder zumindest verstehen können – selbst dort, wo es alle zu übertreffen sucht. Der existenzielle Selbstbezug des sich aus eigener Einsicht steuernden menschlichen Wesens ist somit deskriptiv wie normativ durch den Bezug auf die gegebene wie auf die vorgestellte Sozialität vermittelt.
7. Menschheit als ideale Gesamtheit Wer immer in der Lage ist, sich selbst als Mensch zu begreifen, der weiß sich in diesem Begriff ursprünglich mit anderen Menschen verbunden. Das heißt zwar nicht, dass er jeden Menschen wie ein offenes Buch begreift, auch nicht, dass er jeden sympathisch findet. Aber es heißt, dass er das, was ihm die Möglichkeit bietet, das zu wollen, was ihm selber wichtig oder wertvoll erscheint, nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei seinesgleichen schätzen muss. Beim Begriff der Menschheit geht es daher nicht um die empirische Quersumme aller real existierenden Wesen, auch nicht allein um das, was in deren politischer, kultureller oder religiöser Vertretung historisch zum Ausdruck kommt. Menschheit meint eine Gesamtheit von Lebewesen mit Eigenschaften, die sie in bester Verfassung zeigen. Man bestreitet zwar nicht die Schwäche und den Ausfall der Vernunft bei so gut wie allen Individuen; man ist sich auch im Klaren darüber, dass es Bosheit, Verstellung und Lust an der Zerstörung in allen denkbaren Varianten gibt. Gleichwohl setzt man im Ganzen ein Überwiegen des guten Willens voraus und deutet die empirischen Anlagen beim Einzelnen wie in der Gesamtheit als Chance zum Besseren. So kommt man zu einem prospektiv gefassten Begriff des Menschen, der für jeden, der ihn zu fassen vermag, eine normative Verpflichtung darstellt. Menschheit ist somit das, was unter der Voraussetzung eigener Anstrengung aus der Gesamtheit der Menschen idealer Weise werden kann. Der Begriff nimmt die empirischen Eigenschaften des Menschen auf und versteht sie als Fähigkeiten, von denen mehr zu erwarten ist, als sich bislang in der Geschichte realisieren ließ. Ähnlich wie in der Unterstellung der eigenen Lernfähigkeit, der kreativen Möglichkeiten, der produktiven Phantasie oder der kritischen Vernunft werden die Chancen des Menschen als Aufgabe aufgefasst.
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Es hat einen guten, kritischen Sinn, den Menschen (mit Helmuth Plessner) als einen „Invaliden seiner höheren Möglichkeiten“ zu deuten, denn der Mensch leidet offensichtlich unter seiner eigenen Leistungsfähigkeit. Der Fortschritt macht ihm Angst. Doch wenn er mit der Skepsis gegenüber Wissenschaft und Technik nicht handlungsunfähig werden soll, hat er sich als Anwalt seiner Möglichkeiten zu begreifen.8 So erhält die idealisierte Selbstbeschreibung eine normative Wendung; so fordert sich jeder im Begriff der Menschheit selbst heraus. Mit dem, was er von Natur aus hat, sucht er die geschichtlich erfahrenen Grenzen zu überschreiten, bleibt aber im Ausgangspunkt sowie in den Schritten möglicher Realisierung an die empirischen Konditionen seiner Existenz gebunden. Um mit Kant zu reden: Im Begriff der Menschheit wird die „Perfektibilität“ der Gattung mit gedacht und von Einzelnen als eigenes Lebensziel verstanden. Wo immer sich der Mensch als Wesen, das seine eigenen Gründe hat, in seinem Handeln um gute Gründe bemüht, nimmt er an einer Menschheit Maß, die ihm als Referenz und Kriterium seiner eigenen Leistung dient. Wer als moralisches Wesen nach guten Gründen für sein Handeln sucht, der rechnet sich notwendig der Menschheit zu – einer ideellen Gesamtheit von Menschen, in der seine Gründe verstanden werden und seine Taten, wenigstens der Absicht nach, als Beitrag gelten können, die allen zu Gute kommen.
8. Die Realisierung des Optimums Menschheit als ideale Gesamtheit aller menschlichen Gattungswesen hat ihren Ort und ihren Ursprung in der Natur, der sie nie entkommt und die im jüngeren Gang der kulturellen Evolution unter den Auspizien einer zunehmend selbst verantworteten Geschichte begriffen wird. Darauf ist der Mensch von Geburt an bezogen und er entkommt der sich geschichtlich entfaltenden Natur niemals. Den „Naturzustand“, von dem in der politischen Philosophie so viel und so unglücklich9 die Rede ist, kann er unter keinen Umständen verlassen. Darin liegt sein Glück als lebendiges Wesen – und seine bleibende Chance als Bürger. Der „kategorische Imperativ“ verlangt somit nur, das in meinen Überlegungen ohnehin schon wirksame und natürlich geschichtlich begründete Ideal auch ernst zu nehmen. Ich muss meine Natur in ihrer jeweils besten
_____________ 8 Das ist übrigens ganz im Sinne Plessners. Siehe dazu: Plessner 1928, 383ff.; ders. 1961, 136-217 und 192ff. 9 Dazu: Gerhardt 2008d; ders. 2007a, 122ff.
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Verfassung denken; ich habe vom Optimum meiner selbst auszugehen und muss mich darin exemplarisch verstehen. Dann kann ich als Individuum unter dem ideellen Anspruch aller handeln, ohne meine Bedeutung als endliches Individuum zu überfordern und bleibe durchaus in Übereinstimmung mit meiner Natur. Das geschieht im Respekt vor meinesgleichen, die auch nur ihre Vernunft haben, um ihrer Natur eine eigenständige Richtung (auf Dauer vielleicht sogar einen „Charakter“ oder eine „Verfassung“) geben zu können. Folglich habe ich die „Menschheit in meiner Person“ zu achten. Die Pointe ist, dass sich die ethische Universalität nicht als herrschaftliche Forderung von außen, sondern nur in der Form eines Selbstanspruchs realisieren lässt. Und wenn sich in ihm das Individuum als Exemplar einer Gattung versteht, macht es die Allgemeinheit praktisch, die in der Beschreibung seiner selbst als Mensch bereits enthalten ist. Im Selbstzweck ist es sich und seinesgleichen ein Zweck, der als Ideal der Menschheit gelten kann. Damit ist, so hoffe ich, gezeigt, dass der Anspruch des Menschen, sich als Exemplar der Menschheit zu erweisen, vernünftig begründet werden kann, ohne von der empirischen Natur des Einzelnen und seiner Gattung abzusehen. Die skizzierte Überlegung ließe sich in vielfältiger Weise stützen, insbesondere dadurch, dass Kant seine prominente Fassung des kategorischen Imperativs in Parallele zu seiner ingeniösen Formel für den natürlichen Organismus anlegt, in der jeder einzelne Teil niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck begriffen werden muss.10 Doch ich lasse von dieser Beweisführung ab und beschränke mich auf eine generelle Bemerkung zur Charakterisierung der kritischen Ethik, die deutlich machen soll, welche Bedeutung ihr gerade auch in ausdrücklicher Anerkennung der empirischen Bedingungen des Lebens zukommen kann:
9. Exemplarische Existenz Die Quintessenz der kantischen Moralphilosophie liegt darin, dass der Mensch sich selbst ein Beispiel zu geben hat. Und wenn dies nicht unser Geheimnis bleiben, sondern in unserem Handeln hervortreten soll, ist jede moralische Tat ein exemplarischer Akt. Insofern ist nicht erst die Politik auf Öffentlichkeit angelegt. Auch das moralische Wesen nimmt sich in einem Universum wahr, in dem es nicht nur sich selbst, sondern grundsätzlich
_____________ 10 Dazu: Gerhardt 2006, 46-67.
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jedem in die Augen sehen können möchte. Deshalb lassen sich, nach Kant, alle Tugenden letztlich in einer einzigen zusammenfassen: nämlich in der der Wahrhaftigkeit.11 Der Unterschied zur Politik liegt darin, dass in der Moral letztlich jeder für sich allein zu verantworten hat, für was er sich entscheidet. Der Anspruch der Moralität ergeht an das einzelne Individuum, das einen Konflikt, den es von sich aus auf sich selbst bezieht, selber lösen will. Gleichwohl bewegt es sich mit seinen Fragen in einem grundsätzlich öffentlichen Raum, in dem es idealer Weise von seinesgleichen wahrgenommen und in möglichst bester Verfassung erkannt werden möchte. Da aber niemand anderes exakt die gleiche Stellung einnimmt, sondern (ein jeweils von seiner Position aus wahrnehmender) Beobachter bleibt (der allerdings in eine mit Anderen vergleichbare Lage geraten kann), vermag das handelnde Individuum seinesgleichen tatsächlich nur ein Beispiel zu geben. Der damit verbundene Selbstanspruch hat aber nur unter der Voraussetzung seines allemal verletzlichen und endlichen und damit stets gefährdeten Daseins einen Sinn. Und da jeder sein Dasein in uneinholbarer Bedingtheit mit anderen teilt, kann er sich auch in seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit mit ihnen verbunden wissen. Es spricht somit nicht nur alles dafür, sich in kluger Vorausschau des Beistands der Tiere und Pflanzen zu versichern; es ist auch nicht genug, auf den ästhetischen Verlust zu verweisen, der mit dem Schwinden der Arten und dem Leiden der Kreaturen einhergeht. Entscheidend ist das moralische Argument zu ihrem Schutz: In der Lebensgemeinschaft mit Pflanzen und Tieren hat sich der Mensch so zu verhalten, dass er auch ihnen gegenüber seine Würde wahrt. Jeder hat vor jedem exemplarisch zu sein. Das gilt auch gegenüber den Wesen, die nicht der Normalität des menschlichen Daseins entsprechen. Dazu gibt Kant ein Beispiel, mit dem er den Erfindungsreichtum der Natur illustriert, das wir aber in seinem Sinn auch moralisch wenden können: In allem Lebendigen, so sagt er im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, wirkt eine „Selbsthülfe“ der organischen Wesen, die auch dort bemerkenswert sei, wo es einem in seinem Lebensvollzug gehemmten Individuum nicht gelingt, zur Normalität zu finden: Die „Missgeburten oder Missgestalten im Wachsthum“ belegen die wechselseitige Übernahme von Funktionen selbst in den Fällen, wo keine vollständige Ersetzung der gestörten Organe möglich ist. Insofern gehören die Leistungen der „anomalischen Geschöpfe“ unter die „wun-
_____________ 11 AA VII 295.
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dersamsten Eigenschaften“ des Lebens.12 – Das ist ein ganz anderer Blick auf die Behinderung, die uns, über die moralische Achtung hinaus, bereits als solche nötigen sollte, ihr jede nur mögliche gesellschaftliche Erleichterung zu bieten. Die Humanität, die der Mensch in seiner Person zu achten hat, beweist sich also nicht nur im Umgang mit sich und seinesgleichen, sondern auch angesichts der stummen Geschöpfe, deren Leiden nur die Vernunft auf einen Begriff bringen kann. So erlangt die von ihr gewahrte Einheit des Lebens praktische Bedeutung sowohl für das Selbstverhältnis des Menschen wie auch für die Welt, in der er lebt.
10. Kultur als exemplarische Natur Wie aber kann unter den Bedingungen des Lebens, in dem alles wechselseitig Zweck und Mittel ist, überhaupt irgendetwas als „Selbstzweck“ ausgezeichnet sein? Das ist die Frage, der nachgegangen werden muss, um deutlich zu machen, dass die Totalität der vernünftigen Wesen nicht im Widerspruch zur empirisch fundierten „Menschheit“ steht, die in der Person eines jeden einzelnen exemplarisch werden soll: Angenommen, die Vernunft setzte keine Zwecke, dann könnte im Ganzen weder von Zwecken noch von Mitteln die Rede sein. Also ist die Fähigkeit, überhaupt Zwecke und Mittel zu unterscheiden, vor allem anderen zu sichern. Da wir diese Fähigkeit nicht nur nach alter philosophischer Tradition, sondern auch im heute noch gültigen alltäglichen Verständnis als „Vernunft“ bezeichnen, ist es die Vernunft, die als Bedingung jeder Zwecksetzung überhaupt zu gelten hat. Ohne sie könnten wir weder Zwecke erkennen noch nach Zwecken handeln. Folglich hat sie als „Zweck an sich selbst“ zu gelten. Fragen wir ferner, welchen Sitz die Vernunft im Leben hat, bleibt am Ende nur der Mensch als dasjenige Wesen übrig, in dem sie ihren originären Anspruch erhebt. Weit davon entfernt, die anderen Lebewesen als unvernünftig zu bezeichnen, und nicht weniger weit davon ab, in der Vernunftfähigkeit eine metaphysische Auszeichnung zu vermuten, die den Menschen in einen höheren Seinsrang erhebt, ist die Vernunft die Fähigkeit, in der sich der Mensch biologisch komplettiert, um sich damit kulturell zum Menschen zu machen. Das heißt: Wenn er Mensch sein und bleiben möchte, muss er sich seiner Vernunft bedienen.
_____________ 12 AA V 372.
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Wenn aber diese Vernunft als Selbstzweck zu gelten hat, dann ist auch der Mensch als Zweck an sich selber ausgezeichnet. Denn der Mensch, so unvollkommen er sein mag, ist Träger dieser Vernunft. Also gilt, was Kant über die „Moralität“ behauptet: Sie ist die „Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann“. Der Mensch hat die Vernunft nur, insofern er als Individuum zur menschlichen Kultur gehört. Also hat er sie als eminentes Merkmal der Menschheit an sich selbst zu sichern. Diese Sicherung der Vernunft aber ist in die Verantwortung eines jeden einzelnen Menschen gestellt. Folglich hat er die Menschheit tatsächlich „in seiner Person“ zu sichern. Es ist somit nichts anderes als die Wahrung des Selbstzwecks, die in der Würde des Menschen zum Ausdruck kommt. Mit und in ihr besteht ein existenzieller Anspruch, dem sich kein Individuum, das Wert auf seine Eigenständigkeit legt, entziehen kann. Durch diese Überlegung ist kenntlich gemacht, dass Kants Wendung zum Menschen in seiner praktischen Philosophie eine eminente Bedeutung hat: Der Individualist, Prinzipialist und Universalist ist immer auch ein Existenzialist. Erst darin wird er ein Humanist, der sich zumutet, in der exemplarischen Sicherung seiner eigenen Menschlichkeit ein Beispiel für die Erhaltung der Menschheit zu geben. Kants Individualismus, sein Prinzipialismus, Universalismus und Existenzialismus müssen daher – ganz gleich, was Sartre darunter verstanden haben mag – als Humanismus begriffen werden.
11. Alles steht unter der Bedingung der menschlichen Existenz Als „wirklich“ gilt Kant nur, was anschaulich erfahren werden kann, was „in den Sinnen“ ist. Damit können theoretisch die Sinne aller lebendigen Wesen gemeint sein. Im Ernst aber kann nur von den Sinnen des Menschen die Rede sein, denn nur über sie ist eine Verständigung möglich, die Kant in allen Formen der Erkenntnis als grundlegende Bedingung unterstellt. Insofern gibt es gar keine abwegigere These als die von der „monologischen Verfassung“ der kantischen Vernunft. Für die Mitteilung wie für die sinnliche Wahrnehmung gibt es selbst wieder eine Bedingung, die unscheinbar, aber jederzeit offenkundig ist: Der Mensch muss selber anwesend sein, wenn er eine sinnliche Erfahrung machen können und somit „Wirklichkeit“ feststellen will. Er muss leibhaftig zugegen und hinreichend aufmerksam sein, um den sinnlichen Reiz zu spüren, der die materiale Bedingung dafür ist, dass er überhaupt etwas erfahren und denken kann. Das aber heißt nichts anderes, als dass der Mensch mit seinen sensiblen und intelligiblen Fähigkeiten physisch präsent
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sein muss, um überhaupt etwas über die Wirklichkeit ausmachen zu können. Nur sofern er dies kann, ist es ihm möglich, auch etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Das erscheint trivial und ist es mit Blick auf die empirischen Gegebenheiten vermutlich auch. Achten wir aber auf die Jahrtausende alten metaphysischen Prämissen der Welt- und Selbsterkenntnis, wie sie bis zu Kants Zeiten im modernen Rationalismus vertreten wurden, verliert sich das Triviale der Einsicht in die epistemische Prämisse der Existenz recht schnell – zumindest, wenn es um die menschliche Existenz geht. Denn in der großen Tradition der Metaphysik war jeder menschlichen Erkenntnis, sofern sie auf Wahrheit Anspruch erheben konnte, die Existenz Gottes vorgeschaltet. Das entfällt mit Kants Demonstration der Unmöglichkeit eines Beweises für die Existenz Gottes. Die augenblickliche Folge ist, dass die Existenz des Menschen in den begründungstheoretischen Vordergrund rückt. Der metaphysische Primat der göttlichen Existenz geht bei Kant in den nicht nur praktischen, sondern auch theoretischen Primat der Existenz des Menschen über: Wir haben in allem, was immer wir über die Welt und uns selbst ausmachen können, von uns selber auszugehen. Um das deutlich zu machen, wäre es besser gewesen, Kant hätte von Anfang an deutlich gemacht, dass nicht nur seine kritische Ethik, sondern seine kritische Philosophie überhaupt in ganzer Breite von der Selbstkenntnis und Selbsterfahrung des Menschen getragen ist. Der Unbedingtheit des Anspruchs der Vernunft hätte das keinen Abbruch getan. Denn die Vernunft ist die Instanz, der sich die Menschen als einer gleichsam über ihnen stehenden Institution nur deshalb unterwerfen können, weil sie ihnen entspricht.
12. Die Vernunft als Organ von Individuum und Gattung Die Erörterung der kantischen Formel von der „Menschheit in deiner Person“ hat gezeigt, dass die kritische Ethik nicht allein auf reine Vernunft gegründet ist. Der kategorische Imperativ ist immer auch auf die Endlichkeit eines leibhaftig in Raum und Zeit existierenden, empfindenden und fühlenden Wesens bezogen, eines Wesens, das von seiner Leiblichkeit, Bedürftigkeit, Sterblichkeit und von seiner Angewiesenheit nicht nur auf anderes seiner selbst, sondern auch auf seinesgleichen weiß. Dieses Wesen, das ein mit Bewusstsein ausgestattetes Tier unter Tieren ist, hat die Fähigkeit, sich selber zu begreifen. Mit dem Begriff von sich selbst weiß es sich als körperlicher Gegenstand, als Lebewesen, als Tier und eben auch – im Kontext seiner Spezies – als Mensch.
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Um dies zu können, braucht es Vernunft, die man mit Kant als ein „Organ“ des Menschen begreifen kann. In dieser Eigenschaft hat die Vernunft das Unerhörte, in jeweils einem Akt sowohl Organ des Individuums als auch der Gattung zu sein. In ihm bezieht sich der Mensch ganz auf sich selbst (er fasst einen Selbstbegriff), er kann sich in seiner als Einheit begriffenen Umwelt verstehen (die er als Welt begreift) und kann sich angesichts der begrifflichen Konsequenz, zu der die Vernunft ihn nötigt, als Individuum einer Gattung erkennen (die er als Menschheit bezeichnet). So muss er sich allein in seiner theoretischen Selbstbeschreibung als Exemplar der Menschheit ansehen. Nun ist aber der Mensch nicht nur ein erkennendes Wesen. Er hat auch eine affektive Beziehung zu sich selbst. Der jedes Lebewesen auszeichnende Impuls zur Selbsterhaltung kommt unter den beim Menschen gegebenen begrifflichen Bedingungen als Selbstliebe und als Selbstschätzung zum Ausdruck, in der die von Kant mehrfach hervorgehobene „Selbsterhaltung der Vernunft“ wirksam wird. In ihr sucht sich das Einheiten stiftende, Orientierung ermöglichende und Gründe gebende Organ selbst zu sichern. Aufgrund seiner Doppelfunktion als Organ des Individuums und als Organ der Gattung ist es damit niemals bloß auf das einzelne Wesen, sondern immer auch auf die Existenz der Spezies bezogen. Ihr gehört es somit nicht nur in seiner intellektuellen Einsicht, sondern auch in seinen affektiven Erwartungen zu. Es muss sich nicht nur als Mensch erkennen, sondern es will auch Mensch sein. Und wenn es dies will, steht es unter dem Selbstanspruch, sich als Exemplar der Menschheit zu erweisen. Also haben wir eine zweifache Doppelstellung der Vernunft: In der ersten Paarung ist sie Organ des Individuums, das nach Analogie von Hand, Herz oder Hirn eine Funktion in der Selbsterhaltung des Einzelnen erfüllt. Zugleich gehört sie zur Gattung, in der sie die Funktion eines Mediums der Verständigung eines jeden mit jedem möglichen Anderen erfüllt. In dieser ersten Doppelung ist sie gleichermaßen „innen“ wie „außen“. Denn durch die Vernunft versteht der Mensch etwas allein für sich selbst. Indem er es aber versteht, ist er ursprünglich mit allen Anderen verbunden, die es ebenso verstehen. In der zweiten Paarung ist die Vernunft Instanz der bloßen Einsicht, in der sich das Individuum ursprünglich mit einem erkannten Sachverhalt und zugleich mit seinesgleichen verbunden weiß. Aber dieses Wissen ist unter dem affektiven Anspruch des Bedürfnisses durch Erkennen und Verstehen allein nicht zu befriedigen. Das Individuum will sich so, wie es sich versteht, auch selbst erhalten. Das geht faktisch ohnehin nur im Verein mit der Selbsterhaltung Anderer. Aber unter dem Anspruch seiner Vernunft will das Individuum auch von sich aus mit seinesgleichen verbunden sein. Es will seinesgleichen etwas bedeuten, zumal es seine eigene
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Bedeutung gar nicht unabhängig von der Wertschätzung durch Andere erfassen kann. So kommt es zu einer im Medium von Sinnlichkeit und Vernunft vollzogenen Verbindung zwischen Theorie und Praxis, Wissen und Handeln, Verstehen und Tun. In dieser vielfachen Bindung an Ich und Wir und Sachverhalt, an Vernunft, Natur und Welt, an Intellekt, Affekt und Handlungserfolg weiß sich der einzelne Mensch als Exemplar einer Gattung, die ein naturgegebenes Faktum ist, aber unter dem Anspruch seiner Glieder einem Ideal untersteht, für das der Einzelne exemplarisch ist. Darin haben Individuum und Menschheit ihre Würde.
13. Menschheit in meiner Person Die lebendige Natur ist das unübersehbar weite Feld, in dem die Lebewesen aus vielfältigen Gründen immer wieder genötigt sind, über sich hinaus zu gehen. Die Komplexität interner organischer und externer ökologischer Konditionen schafft Unterschiede nicht nur zwischen den Spezies, sondern auch zwischen den Individuen. Deshalb kann man nicht behaupten, jeder Mensch strebe faktisch danach, sich als Mensch zu erweisen. Aber gesetzt, er versteht sich so, wie es den Bedingungen seiner eigenen Natur entspricht, gesetzt, er begreift, dass er in allem was er tut, auch für die Erhaltung und Entfaltung seiner Fähigkeiten zu sorgen hat, gesetzt, er erkennt, dass die Realisierung seiner Ziele (wenigsten á la longue) davon abhängt, dass er seine Möglichkeiten selbst als seine Aufgabe begreift, dann untersteht er in dem, was er faktisch will, der Norm, die mit dem Begriff der Menschheit verknüpft ist. Dann hat er sich bereits als exemplarisch aufgefasst. Das ist bewusst so verschachtelt formuliert, damit kenntlich wird, wie viele Voraussetzungen im Spiel sind, wenn die Menschheit in der Person eines Menschen als verbindlich angesehen werden soll. Zugleich aber darf man darauf verweisen, dass es nicht wenige Menschen geben dürfte, die sich in dieser Weise als Teil der Menschheit verstehen. Denn erstens können sie nicht umhin, sich als Gattungswesen zu begreifen. Zweitens hoffen die meisten Menschen auf eine Besserung ihrer Lage – auch durch bewusste Steigerung ihrer individuellen Möglichkeiten. Das wird ihnen nur in den wenigsten Fällen ohne Duldung oder Unterstützung durch ihre Mitmenschen gelingen. Also sind sie darauf angewiesen, die Entwicklung ihrer eigenen Fähigkeiten in Verbindung mit dem Einsatz der Fähigkeiten Anderer zu sehen. Hier also müssen sie sich als Teil einer Menschheit verstehen, die sie selbst als Aufgabe zu begreifen haben – auch hier vorausgesetzt, dass ihnen an ihr selbst gelegen ist.
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Drittens darf man davon ausgehen, dass trotz der Kriege und Verbrechen, trotz der Bosheiten, der gebrochen Versprechen und der verbreiteten Unaufrichtigkeit vielen Menschen die Moral nicht gleichgültig ist. Sie legen Wert darauf, nach ihren eigenen Gründen zu handeln, und erkennen an, dass sie den für sich selbst reklamierten Anspruch auch ihresgleichen zugestehen müssen. Wenn sie gefragt werden, warum sie ihresgleichen derart auszeichnen und, trotz größten Mitgefühls mit anderen Lebewesen, die in der Freiheit hervortretende Gleichheit bevorzugt bei ihresgleichen akzeptieren, wird die vorherrschende Auskunft wohl in dem Verweis auf die Tatsache liegen, dass diese Anderen eben Menschen sind. Also besteht auch in der alltäglichen Moralität eine Präferenz für die naturgeschichtlich entwickelten empirischen Eigenschaften, die der Mensch von sich selbst her kennt. Dabei kann man es als eine Tatsache durchschnittlicher Selbsterhaltung des Individuums ansehen, nicht völlig (und jedenfalls nicht immer) von dem abzuweichen, was unter seinesgleichen üblich ist.
14. Die Person als Repräsentant der Menschheit Auch die Freiheit gehört zur empirisch fundierten Natur des Menschen.13 Sie ist der spezifisch menschliche Ausdruck der Spontaneität des Organismus, der sich in den für ihn charakteristischen Reiz- und Reaktionsschemata auch unter wechselnden Bedingungen kontinuierlich zu erhalten sucht. Dabei ist er auf die Kausalität der Natur angewiesen, weil nur sie eine durchgängige Wirkung der eigenen Ursächlichkeit ermöglicht. So kann ein Lebewesen nach seinen physiologischen Möglichkeiten zwischen Flucht und Widerstand, zwischen verschiedenen Standorten oder zwischen unterschiedlichen Partnern wählen.14 Beim Menschen kommt das Bewusstsein für die gegebenen Optionen hinzu. Es ist in der Regel mit der Fähigkeit verbunden, für das Verhalten im Optionsspielraum Gründe zu nennen. Mit den Gründen sucht er sich
_____________ 13 Gerhardt 2007b. 14 Meines Wissens ist noch nicht einmal ein Neurobiologe so weit gegangen, die Reaktions- und Selektionsfähigkeit lebendiger Wesen zu leugnen. Wird sie aber zugestanden, kann man auch dem Menschen, wenn er denn ein Lebewesen ist, die Selektion zwischen Verhaltensoptionen nicht absprechen. Will einer dann immer noch die Freiheit in Abrede stellen, muss er das empirische Faktum, dass der Mensch Gründe nennen kann, in Abrede stellen. Tut er dies, gerät er in einen offenkundigen Selbstwiderspruch, weil er für seine These, der Mensch könne keine Gründe nennen, Gründe nennen muss – sofern ihm an dem Eindruck liegt, sein Zweifel an der Freiheit habe etwas mit Wissenschaft zu tun.
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selbst (aus eigener Einsicht – und insofern aus freien Stücken) die personale Konstanz zu geben, die ihm in der situativen Variabilität des Handelns eine Identität gewährt, die im sozialen Raum der dem Körper entsprechenden physischen Einheit entspricht. Sucht nun der Mensch nach Gründen, die ihm vor sich selbst und vor seinesgleichen die ihm entsprechende Einheit (Identität) und die benötigte Offenheit (Variabilität) verleihen, kann er seinen vernünftigen Selbstbegriff als Person unter die Bedingung stellen, die die Erkenntnis seiner selbst (als Mensch) mit der Erhaltung seiner selbst (im Zusammenhang der Menschheit) verbindet. Das geschieht im Selbstbegriff einer Person, die sich selbst als exemplarisch für die Menschheit begreift. Als Person versteht sich jeder Einzelne als Exemplar der Menschheit. Durch ihn, den unverwechselbar Einen, sprechen gleichwohl alle. Das passt zum etymologischen Ursprung von persona, was im Lateinischen die auf der Bühne getragene Maske bezeichnete, durch die generalisierte Charaktere oder Götter sprachen. Durch die Person des Menschen tönt somit immer auch der Mensch. In diesem Verständnis ist der Mensch das einzige uns bekannte Wesen, das sich und seinesgleichen ein Beispiel dafür zu geben sucht, wie es sich selbst versteht – und darin mit sich, mit den (darin angesprochenen) Anderen und der (in alledem sachlich erkannten) Welt einig weiß. Dieser Weltzusammenhang von Person und Menschheit wird durch Vernunft vermittelt. Ihre Leistung liegt im „Vermögen zu schließen“, das es ihr erlaubt, einen Zusammenhang als Ganzen anzusprechen, einer Ereigniskette einen Grund zu geben oder eine Handlungsfolge auf ein Ziel zu beziehen. Ihre besondere Stellung verdankt sie nur dieser alles andere auf einen möglichen Sinn zuspitzenden Leistung. Ohne sie gibt es kein Bewusstsein eines Zwecks, keine erkennbare Zuordnung von Mitteln, keinen Begriff für den Zusammenhang eines Ichs mit anderen Ichs und erst recht nichts, was sie gemeinsam dem sachlichen Kontext zurechnen könnte, den sie als Welt oder Wirklichkeit bezeichnet. So gesehen ist die Vernunft der Inbegriff der besten Kräfte, über die der Mensch als Mensch verfügt. Und gesetzt, der sich selbst begreifende Mensch schätzt sich selbst, kommt darin ein Optimum zum Ausdruck, das – mit Blick auf seinesgleichen – letztlich auch für die Gattung gilt. Also schätzt er durchschnittlich die Gattung, zu der er gehört, nach den Möglichkeiten, die ihr eine Zukunft in Aussicht stellen, die er für sich und seine Nachkommen wünscht. Es ist diese an einem Optimum orientierte Wertschätzung, die im Begriff der menschlichen Würde zum Ausdruck kommt. In ihr nimmt der Mensch sich als Individuum und als Gattung ernst; folglich hat er darin eine Norm, der er sich und seinesgleichen unterstellt. Es ist somit der
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Selbstbegriff der Menschheit in der Person eines jeden einzelnen Menschen, der jedem Individuum Würde verleiht. Und da wir diese Chance, sich so zu verstehen und sich so zu verhalten, niemandem absprechen können, kommt grundsätzlich jedem Menschen Würde zu. Diese Würde besteht darin, dass man mit der Freiheit die Eigenständigkeit und damit die Chance zu eigenen Entscheidungen und eigenen Leistungen hat. Und wenn man erkennt, dass sich diese Fähigkeit nur in begrenztem Umfang aus eigenen Leistungen erklären lässt und ihre Entfaltung mindestens auf die Anwesenheit anderer Menschen angewiesen ist, kann man den Bezug auf die empirische Gegenwart der menschlichen Gattung nicht leugnen. Deshalb ist es auch möglich, schon die Tatsache der Geburt eines Menschen als Bedingung seiner Würde anzusehen. Auch wenn die Gattung sich durch Leistungen auszeichnet, die an Kriterien gemessen werden müssen, reicht doch die bloße Zugehörigkeit zur Spezies des Menschen aus, um ihm die uneingeschränkte Würde eines Menschen zuzuerkennen. Denn wenn wir alle Menschen als Träger der menschlichen Würde begreifen können wollen, muss es die Chance zur Menschlichkeit sein, die wir zu achten haben. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen einem Neugeborenen und einem voll entwickelten Menschen.15 Die Vernunft stellt den Einzelnen unter konkrete Erwartungen, die schon im Alltag den normativen Gehalt wechselseitiger Verpflichtungen bilden, welche den Bezug auf ein soziales Ganzes verbindlich machen. Sich dieser Bindung zu stellen, heißt verantwortlich zu sein. Im Bewusstsein der Verantwortlichkeit ist die Menschheit in meiner Person eine Herausforderung, der ich auch dann zu genügen habe, wenn es „nur“ um meine Selbstachtung geht. Damit ist, in äußerster Verdichtung, der Zusammenhang skizziert, in welchem sich der Mensch als Person mit der Menschheit als moralischer Instanz begreift. Wir brauchen zunächst nicht mehr als die vom Verstand angeleitete Erkenntnis von Sachverhalten, an denen jeder überhaupt erst seine eigene Einheit erfasst und in denen er sich Anderen mitteilt. In und mit dieser epistemischen Leistung ist jedes menschliche Individuum der Welt und seinesgleichen verbunden. Hier hat es seine Identität im Kontext der jeweils erkannten Dinge und der jeweils angesprochenen Menschen. Liegt ihm darüber hinaus an einer Einheit, die Verlässlichkeit auch in Erwartung auf seine Handlungen gewährt, dann hat sich das Individuum als Person auszuzeichnen.
_____________ 15 Krankheiten und Schwächen bieten, wie oben kenntlich gemacht, ebenfalls keinen Einwand. Nur geboren muss das Wesen sein, weil es zuvor in seiner unselbständigen Existenz als Foetus oder Embryo noch ganz der Würde der werdenden Mutter zugehört. Siehe dazu: Gerhardt 2008c, 89-104.
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15. Die Einbindung der Menschheit in die Welt Kant war der Auffassung, dass die Selbstzweckformel den Menschen definitiv über alle anderen Lebewesen erhebt. Da in der Natur jeder Zweck immer auch Mittel und jedes Mittel immer auch Zweck werden kann, scheint ein Wesen, das als „unbedingter Zweck“ (und „niemals bloß als Mittel“) verstanden werden soll, außerhalb der Natur zu stehen. Da wäre es dann den Engeln und dem göttlichen Wesen näher als den Tieren, zu denen es in seiner physiologischen Organisation gehört. Mit dieser erhabenen Position über der Tier- und Pflanzenwelt wäre wohl auch vereinbar, dass der Mensch das Recht für sich in Anspruch nimmt, nach Art des Schöpfers über alles zu verfügen, was als „bloßes“ Mittel gelten kann. Alles, was nicht Selbstzweck ist, kann von dem Wesen, das sich als Selbstzweck begreift, zu dessen eigenen Zwecken verwendet werden. Dagegen regt sich heute Widerspruch. Erstens wird die Analogie zwischen Mensch und Gott in Zweifel gezogen; sie stimme, so lässt sich mit guten Gründen sagen, nicht mit den durch Kants Vernunftkritik gezogenen Grenzen überein. Zweitens spricht man dem durch seine Vernunft ausgezeichneten Menschen die Berechtigung ab, über das Dasein anderer Lebewesen zu verfügen. Denn gerade die Vernunft biete die Chance einzusehen, dass auch Tieren und Pflanzen ein Lebensrecht zustehe. Die kritische Vernunft verbiete dem Menschen somit, allein nach seinen eigenen Zwecken über sie zu disponieren. Er habe bestenfalls ein Notrecht, um seine Existenz zu sichern, müsse ansonsten aber das Eigenrecht der anderen Lebewesen berücksichtigen – soweit es von der Vernunft erschlossen werden kann. Es sei vor allem das Leiden der anderen Kreatur, das mit dem Leiden des Menschen in ein Verhältnis gesetzt und aufgewogen werden müsse. Es ist eine seit Jahren mit Leidenschaft geführte Debatte, wie weit diese Einwände tragen. Sie im Einzelnen zu gewichten, würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen. Doch die Formel von der Menschheit in der Person des Menschen kann hier eine Klärung erbringen, die abschließend angedeutet werden soll: In dieser Absicht kann man alles beiseite lassen, was heute als anstößig gilt. Zwar kann man der Auszeichnung der Vernunft als eines „göttlichen“ Vermögens, durch das der Mensch zum Glied in einem übernatürlichen „Reich der Zwecke“ werde, einen plausiblen innerweltlichen Sinn abgewinnen. Schließlich ist es nur die Vernunft, mit deren Hilfe der Mensch das Ganze der Welt mit dem Ganzen seiner selbst denken und in ein Verhältnis setzen kann. Dafür steht der Begriff des Göttlichen. Darüber hinausreichende Einheiten sind schlechterdings nicht denkbar, so dass die Vernunft eben die Grenze erreicht, die nur von der Theologie überschrit-
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ten werden kann. Doch wenn es gewünscht wird, kann man auch ohne derartige Verweise sprechen. Kant tut das selbst an einer Stelle, wo er zu zeigen versucht, welchen Sinn man der Schöpfungsgeschichte für das Verständnis des natur- und kulturgeschichtlichen Verlaufs der Entwicklung des Menschen abgewinnen kann. In der kleinen Abhandlung über den Mutmaßlichen Ursprung der Menschengeschichte (1786) spricht Kant von dem „Vorrecht“ des Menschen, von den Tieren etwas zu verlangen, was er von „keinem Menschen“ fordern dürfe. Das Tier könne er ganz als „Mittel“ verwenden, während er bei seinesgleichen auf eine definitive Grenze treffe. Denn jeder Mensch habe den Anspruch, „selbst Zweck zu sein“.16 Warum glaubt Kant so sprechen zu dürfen? Weil die „Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen“ dem Menschen eine Stellung gibt, die Zwecksetzung überhaupt ermöglicht. Sie ist es, die es erlaubt, Tieren und Pflanzen einen durch die Vernunft ermittelten Status als Mittel zuzuschreiben, der sich in der Zwecksetzung durch die Vernunft erfüllt. Auf den ersten Blick erscheint das wie eine Bestätigung des heute so genannten Speziesismus: Der Mensch macht aus seiner physischen Überlegenheit eine prinzipielle Position: Die Macht, die ihm die kontingente Organausstattung durch Vernunft verschafft, wird in ein Recht umgedeutet. So erschleicht er sich die Legitimation, nach Gutdünken mit den Wesen zu verfahren, die in seiner Gewalt sind. Ein zweiter Blick aber klärt darüber auf, dass die Vernunft, so sehr auch sie nur „Organ“ jenes Lebewesens ist, das sich mit ihrer Hilfe als „Mensch“ bezeichnet, nicht allein eine physische Überlegenheit verschafft. Als „Vermögen zu schließen“ umfasst sie die Fähigkeit zu vergleichen. Sie kann Unterschiede und Gemeinsamkeiten benennen, kann sie auf Grund von Erkenntnissen und Einsichten bewerten und vermag sie unter dem Primat des Praktischen auch aus eigenem Anspruch zu respektieren. Eben dies geschieht im Umgang des Menschen mit dem Menschen, sobald sie die Gesamtheit der durchschnittlich mit den bekannten Merkmalen ausgestatteten Lebewesen als unter einander gleich bezeichnet. Man bedenke die Tatsache, dass kein Mensch dem anderen wirklich gleicht; man erwäge die Gegensätze und Feindschaften, die Kämpfe, die Kriege und den unabsehbaren Reigen der Eitelkeiten, um zu ermessen, welche unerhörte Aufforderung in der Gleichheit der Menschen unter dem Titel der Menschheit steckt! Darüber hinaus wird die Abstraktion mit der Aufforderung verbunden, sich ihr entsprechend zu verhalten. Ohne die mit der Vernunft verknüpfte Erkenntnisleistung, ohne die damit eingebunde-
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ne Sach- und Welthaltigkeit, ohne die in ihr wirksame Logik und die damit mögliche wechselseitige Verbindlichkeit in Abmachung und Versprechen könnte eine solche Forderung gar nicht erhoben werden. Es ist somit nicht einfach nur ein durch evolutionsgeschichtliche Zufälle entstandenes Organ, das den Verfügungsanspruch des Menschen begründet. Vielmehr geht der ganze Umfang möglicher Selbst- und Weltkenntnis in die Begründung ein. Die Vernunft ist nicht das Instrument der Willkür der nach Macht und Überlegenheit strebenden Gattung. Sie taugt auch nicht als Herrschaftsmittel einer weltanschaulichen Formation, nenne man sie Rasse, Klasse, Nation oder Elite. Zwar geht sie in deren Strategien ein, sprengt aber mit ihrem kritischen Potential die ihr darin gesetzten Grenzen und zielt auf Einheiten, in denen die Welt, die Natur, die Gesellschaft und die Menschheit als Ganze die Instanzen der Beurteilung sind. Unter dieser Kondition mediatisiert die Vernunft jeden Machtspruch durch das Ganze, auf das sie sich bezieht. Der im Namen der Menschheit erhobene Herrschaftsanspruch hat im Prinzip nicht nur jeden Menschen zu berücksichtigen. Sie hat sich auch durch die von ihr ermittelten sachhaltigen Einsichten korrigieren zu lassen. Sie ist nur insofern eine Instanz der Menschheit, als sie zugleich ein Exponent des verfügbaren Wissens ist. Damit repräsentiert sie nicht die Interessen einer Spezies, sondern die der Welt, in der sich diese Spezies – in Verbindung mit allem ihr bekannten anderen – begreift. Die Vernunft herrscht unter der Prämisse der Überprüfbarkeit und damit im Vertrauen auf die Objektivität ihrer Leistung. Mit ihrer Hilfe ist der Mensch in der Lage, nicht nur die Bedeutung der Pflanzen und Tiere in ihrem natürlichen Zusammenhang einzuschätzen und für Artenvielfalt einzutreten. Er vermag auch das, was er in der Anteilnahme am Dasein anderer Lebewesen erfährt und was sein Mitleid erregt, in mitteilbare Sachverhalte zu fassen und zur Richtschnur seines Handelns zu machen. Wie weit die Vernunft im Nachvollzug des Lebens der „Mitgenossen“ des Menschen17 zu gehen in der Lage ist, wurde schon oben deutlich gemacht.18 „Menschheit“, so lässt sich resümieren, ist der Begriff, unter dem der Mensch seine Eigenständigkeit in Verbindung mit der Welt zu fassen sucht. „Menschheit in der Person eines jeden Menschen“ überträgt die damit erschlossene Kompetenz auf das einzelne Individuum und verlangt „kategorisch“, dass es ihr, nach den Maßstäben der Vernunft, gerecht wird.
_____________ 17 AA VIII 114. 18 Vgl. oben Punkt 9.
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Passt der Mensch in die Welt? Christel Fricke Passt der Mensch in die Welt? Es war Immanuel Kant, der sich diese Frage gestellt hat. Sie taucht in einer seiner handschriftlichen Notizen auf (AA XVI 127; Reflexion 1820a). Nun ist eine solche Notiz kein prominenter Ort im kantischen Gesamtwerk. Dennoch lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass die Beantwortung dieser Frage ein zentrales Anliegen seines transzendentalphilosophischen Unternehmens ist. Das Thema ist zu Kants Zeit nicht neu. Dies gilt nicht nur aus einem trivialen Grund. Schließlich hat sich die Philosophie immer mit der Frage nach der Beschaffenheit der Welt und des Menschen in ihr beschäftigt. Es gilt auch, weil diese Frage im Zeitalter der Aufklärung ganz oben auf der philosophischen Tagesordnung stand: Es galt, die Konzepte der Welt und des Menschen in ihr neu zu bestimmen. Kant ist ein später Vertreter der philosophischen Aufklärung. Mit seiner Antwort auf diese Frage schließt er sich nicht nur der Kritik an dem traditionellen, kirchlich-christlichen Weltund Menschenbild an, wie sie insbesondere von den frühen englischen und schottischen, empiristisch orientierten Vertretern der Aufklärung entwickelt worden war. Er wendet sich auch gegen deren Antworten auf die Frage, wie der Mensch in die Welt passe, und insbesondere gegen deren Auffassungen von der Natur des Menschen. Im Folgenden werde ich zunächst und in unvermeidlich vergröbernder Kürze den geistesgeschichtlichen Kontext skizzieren, in dem die Frage, ob und wie der Mensch in die Welt passe, im Zeitalter der Aufklärung akut wurde; dabei orientiere ich mich an der umfangreichen Studie, die Panajotis Kondylis 1981 unter dem Titel Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus vorgelegt hat (I). Im Anschluss daran werde ich, als Beispiel für eine empiristische Position, die mit einem unverkennbaren, normativen Anliegen entwickelt wurde, das moralphilosophische Projekt von Adam Smith präsentieren (II). Schließlich werde ich das kantische philosophische Projekt und insbesondere die kantische Moralphilosophie als motiviert durch das doppelte Anliegen darstellen, zum einen die aufklärerische Emanzipation des Menschen als erkenntnisfähiges und moralisch autonomes Wesen von der Herrschaft der Kirchenvertreter zu verteidigen und zum anderen dem
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Autoritätsverlust moralischer Normen entgegenzutreten, dem die empiristische Moralphilosophie – so der kantische Vorwurf – Vorschub geleistet hatte.
I. Das Christentum, wie es von den Vertretern der christlichen, vorprotestantischen Kirche machtvoll vertreten wurde, betrachtete den Menschen als verkörpertes Vernunftwesen: In seiner Körperlichkeit und Sinnlichkeit ist der Mensch Teil der materiellen Natur. Darin liegt seine Unzulänglichkeit. Unzulänglich ist der Mensch insbesondere im Vergleich mit dem christlichen Gott, denn der ist reiner Geist, frei von den Einschränkungen, die dem Menschen durch seinen Körper auferlegt sind. Insofern er aber auch vernunftbegabt ist, ist der Mensch Gott ähnlich. Kraft seiner Vernunft kann und soll sich der Mensch über seine materielle Natur erheben. Als Vernunftwesen kann er die Natur erkennen, und er ist als vernünftiges Handlungssubjekt durch moralische Normen gebunden. Die Welt in ihrer Totalität ist das Werk eines transzendenten Schöpfers, des christlichen Gottes. Die Aufgabe der Welterkenntnis wird im Rahmen dieses kirchlichchristlichen Weltbildes verstanden als die Aufgabe, in der Welt das Werk Gottes zu erkennen, ein Werk, das die Absichten des Schöpfergottes verkörpert. Hauptgegenstand dieser Erkenntnis ist nicht die Materie als solche; es gilt vielmehr, die rein vernünftigen Absichten Gottes zu erkennen, die diese Materie verkörpert. Die Art und Weise, wie Menschen die Materie wahrnehmen, spielt im Rahmen dieses Erkenntnisprojekts eine nur untergeordnete Rolle. Ohnehin gelten die sinnliche Wahrnehmung und ihr Gegenstand, die Materie, als unzulänglich. Schließlich unterliegt die sinnliche Wahrnehmung dem Schein; und ihr ausschließlicher Gegenstand ist etwas, das an sich nicht vernünftig ist. Was immer Menschen durch die sinnliche Wahrnehmung zu erkennen glauben, kann nicht als gewiss gelten. Gewissheit ist nur durch reine Vernunfterkenntnis möglich, durch vernünftige Erkenntnis des rein Vernünftigen. Wenn Menschen in ihrem Bemühen, die Welt zu erkennen, nicht Gefahr laufen wollen, dem sinnlichen Schein zu erliegen, dann müssen sie anderen Mitteln als denen der sinnlichen Wahrnehmung den Vorzug geben. Wie aber können Menschen die rein vernünftigen Absichten erkennen, die für Gottes Weltschöpfung maßgeblich waren? Es stehen ihnen zwei Möglichkeiten offen: Sie können Gottes Wort studieren oder Mathematik betreiben. Die erste Möglichkeit bedeutet für die meisten Menschen, nichts anderes zu tun, als auf die Vertreter der kirchlichen Institutionen zu hören, denn die beanspruchen das Monopol der Bibelauslegung. Die zweite Möglichkeit beruht auf der Hy-
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pothese, mathematische Erkenntnis sei reine Vernunfterkenntnis und auch Gott habe sich als reines Vernunftwesen bei der Schöpfung der Welt an mathematischen Wahrheiten orientiert, weshalb die von ihm erschaffene Welt mit mathematischen Mitteln angemessen beschrieben werden könne. Diese Konstellation möglicher Strategien der Welterkenntnis, die Gewissheit versprechen, barg Konfliktpotential. Das wurde deutlich, als die Kosmologen, die neben der Beobachtung auf die Mathematik als Mittel der Welterkenntnis setzten, zu Auffassungen über die Beschaffenheit der Welt kamen, die den traditionellen Kirchenlehren widersprachen. Ebenso wie die Erkenntnis der Welt ist die Erkenntnis der moralischen Normen und ihrer Autorität der christlichen Tradition gemäß in ihrer Ausrichtung transzendent. Die moralischen Normen sind transzendenten Ursprungs. Sie beruhen auf göttlicher Gesetzgebung. Als göttliche Gebote gelten sie notwendig. Ihre Autorität wird durch die Ereignisse in der Welt und den historischen und kulturellen Wandel, der sich in ihnen manifestiert, nicht beeinträchtigt. Als vernunftbegabtes Wesen kann der Mensch diese Gebote erkennen, und er ist verpflichtet, diesen gemäß zu handeln. Was die Erkenntnis dieser Normen betrifft, so muss sich der Mensch im Wesentlichen an Gottes Wort orientieren. Da die Vertreter der kirchlichen Institutionen das Monopol haben, Gottes Wort auszulegen, haben sie die Macht zu bestimmen, was gut und böse, was moralisch richtig und was falsch ist. Um so zu handeln, wie es Gott bzw. die Kirche gebietet, darf sich der Mensch nicht von seiner Sinnlichkeit leiten lassen. Er muss seine sinnlichen Triebe überwinden. Moralisches Handeln bedeutet Triebverzicht, und zu Triebverzicht ist der Mensch kraft seiner Vernunft befähigt. Aber seine sinnlichen Triebe können den Menschen immer wieder dazu verleiten, anders als im Einklang mit den göttlichen Geboten zu handeln. Nicht nur in seiner Erkenntnisfähigkeit, sondern auch in seiner Fähigkeit, moralisch zu handeln, ist der Mensch im Vergleich mit Gott unzulänglich. Gott als reiner Geist ist nicht nur allwissend, er ist auch allmächtig und allgütig, er weiß immer, was zu tun das Beste ist, und nichts steht ihm im Wege, im Sinne dieses Wissens zu handeln. Die Unzulänglichkeit des Menschen hat ihren Grund in seiner Körperlichkeit und Sinnlichkeit. In seiner oben genannten Studie zur Geistesgeschichte der Aufklärung identifiziert Panajotis Kondylis diese Abwertung der Sinnlichkeit als das charakteristische Merkmal der antiken und christlichen Tradition – und im Gegenzug die Aufwertung bzw. die „Rehabilitation“ der Sinnlichkeit als das charakteristische Merkmal der Aufklärung.1 Rehabilitation der Sinn-
_____________ 1 Siehe Kondylis 1981, Kap. I, insbes. 19.
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lichkeit – das bedeutet Kondylis zufolge, dass diese, wo es um Naturerkenntnis, moralische Erkenntnis und moralisches Handeln des Menschen geht, nicht mehr als Hindernis, sondern vielmehr als unverzichtbares Erkenntnis– und Motivationsvermögen angesehen wird. Den Weg zur Rehabilitation der Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen hatten die mathematischen Naturwissenschaftler gebahnt, deren Erklärungserfolge auch die Kirchenvertreter auf Dauer nicht abstreiten konnten. Neben der Mathematik wurden Beobachtung und Experiment als angemessene Mittel der Naturerkenntnis zunehmend anerkannt. Damit wurde die materielle Natur zum wesentlichen Gegenstand der Erkenntnisbemühung, sie nahm den Platz ein, der vormals dem göttlichen Geist und den Absichten vorbehalten gewesen war, die dessen Weltschöpfung leiteten. Die Naturforscher suchten nach immanenten Welterklärungen, die nicht mehr auf Gott als einen transzendenten ersten Beweger angewiesen waren. Das Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung wurde für sie zu einer unverzichtbaren Erkenntnisquelle. Darüber hinaus wurde dieses Vermögen, und mit ihm der Mensch als Subjekt der Erkenntnis, zum Gegenstand der Naturforscher. Wie aber kann eine Erkenntnis, die auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen ist, gewiss sein? Und was ist der Beitrag der Vernunft zu einer auf sinnliche Wahrnehmung angewiesenen Erkenntnis? Diese Fragen rückten ins Zentrum der aufklärerischen Epistemologie. Nicht nur als Erkenntnisvermögen, sondern auch als Gefühls-, Beurteilungs- und Motivationsvermögen erfuhr die Sinnlichkeit eine Rehabilitation. Im Zuge immanenter Welterklärungen und einer Diskreditierung der Transzendenz als Erkenntnisgegenstand musste auch die Frage nach der Quelle moralischer Normen neu gestellt werden. Woher soll der Mensch die moralischen Normen zur Orientierung seines Handelns nehmen, wie die verpflichtende Autorität dieser Normen verstehen und rechtfertigen, wenn er nicht mehr einfach Gottes Wort bzw. den Anweisungen der Vertreter kirchlicher Institutionen folgen kann? Diese Fragen sind nicht nur Ausdruck einer normativen Krise, in der die Gültigkeit bestimmter Wertvorstellungen angezweifelt wird. Sie bringen die Sorge um einen vollständigen Wertverlust zum Ausdruck. Dass eine Welt, die Gottes Werk ist, Normen verkörpert, nämlich die vernünftigen Zwecke des göttlichen Schöpfungsaktes, bedarf keiner Rechtfertigung. Die Frage, wie die tatsächliche Welt überhaupt in irgendeiner Weise normativ sein kann, stellt sich im Rahmen des traditionellen christlichen Weltbildes nicht. Gottes Werk verkörpert Normen. Aus der Perspektive dieses Weltverständnisses ist das Problem vielmehr zu erklären, warum die Welt kein Paradies ist. Was aber wird aus den Normen überhaupt in einer Welt ohne transzendente Dimension, in einer Welt der Tatsachen, die Gegenstand von Beobachtung und Experiment sind und sich mit mathematischen Mitteln
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beschreiben lassen? Im Rahmen des Weltbildes der mathematischen und empirischen Naturwissenschaft droht eine strikte Trennung zwischen Tatsachen und Werten und damit ein allgemeiner, metaphysisch bedingter Wertverlust. Was ist der Mensch in einer Welt, die sich in ihrer Faktizität erschöpft und in der es keinen Platz für Normen gibt? Ist der Mensch nur noch Körper, materieller Teil einer materiellen Natur? Beruht sein Selbstverständnis als moralisches Handlungssubjekt auf einer Illusion? Hat der Mensch als normatives, als moralisch verpflichtetes Wesen noch einen Platz in der Welt? Passt er überhaupt in die Welt, und, wenn ja, wie? Die Beantwortung dieser Frage ist ein zentrales Anliegen der philosophischen Aufklärung. Kondylis formuliert diese Frage als die Frage danach, „wie […] der Naturbegriff beschaffen sein [musste], um Gott nicht nur als Schöpfer, sondern auch als moralischen Gesetzgeber befriedigend ersetzen zu können“.2 Wie es im Zuge einer Beantwortung dieser Frage zu einer Rehabilitation der Sinnlichkeit als Quelle moralischer Erkenntnis und moralischer Motivation kam, will ich im Folgenden am Beispiel der Moralphilosophie von Adam Smith zu erklären versuchen.
II. Adam Smith ist noch heute eine Berühmtheit. Berühmt ist er allerdings vor allem als Begründer der Nationalökonomie: Bevor er im Jahr 1776 sein monumentales Werk über The Nature and Causes of the Wealth of Nations veröffentlichte, war er dem Publikum bereits als Autor der Theory of Moral Sentiments bekannt. Dieses moralphilosophische Werk erschien 1759 in erster und 1790 in leicht veränderter und zum Teil wesentlich ergänzter sechster Auflage. Worum geht es Smith in diesem Werk? Dem Titel der vierten Auflage fügte er einen aufschlussreichen Untertitel hinzu: „An Essay towards an Analysis of the Principles by which Men naturally judge concerning the Conduct and Character, first of their Neighbours, and afterwards of themselves“.3 Die Prinzipien der Beurteilung, von denen in diesem Untertitel die Rede ist, sind die Normen, anhand derer Menschen die Handlungen und charakterlichen Dispositionen sowohl ihrer Mitmenschen als auch ihrer selbst als moralisch gut oder schlecht beurteilen. Diese Normen oder moralischen Prinzipien will Smith analysieren. Mit seiner Analyseabsicht beschränkt sich Smith jedoch nicht auf ein Unternehmen
_____________ 2 Kondylis 1981, 344. 3 Siehe Smith 1984c, 40; TMS, Introduction by D.D. Raphael und A.L. Macfie.
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der deskriptiven Soziologie und Psychologie. Es geht ihm nicht allein darum, die moralische Praxis seiner Zeitgenossen und die sich in ihr artikulierenden normativen Orientierungen zu beschreiben, wie er sie alltäglich beobachten kann. Vielmehr verfolgt er mit seiner Analyse auch ein normatives Anliegen. Er will klären, welche normativen Prinzipien Menschen ihren moralischen Urteilen zugrunde legen und an welchen sie sich in ihrem Handeln orientieren sollen. Dabei geht er davon aus, dass Menschen von Natur aus dazu begabt sind, moralische Personen zu werden, Personen, die moralisch richtig urteilen und handeln. Sein Menschenbild ist optimistisch, sein Begriff der menschlichen Natur nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ. Die Prinzipien, „by which Men naturally judge concerning the Conduct and Character“ (Hervorh. C.F.), sind nicht nur die Prinzipien, nach denen sie tatsächlich urteilen, sondern auch die, nach denen zu urteilen ihrer Natur entspricht, und das sind die richtigen Prinzipien. Schon in diesem Untertitel, in dem Smith die natürliche moralischen Beurteilung als „natural“ charakterisiert, wird deutlich, dass er in seinem Begriff von der menschlichen Natur deskriptive und normative Elemente miteinander verschränkt. Wenn er an einer Stelle seiner Theory of Moral Sentiments betont, „that the present inquiry is not concerning a matter of right, […] , but concerning a matter of fact“ (Smith 1984c, 77; TMS II.i.5.10), dann sollte das nicht missverstanden werden als ein Versuch, jedes normative Anliegen dieses Werks zu bestreiten.4 Was Smith an dieser Stelle ausklammert ist die Frage danach, wie genau die moralischen Normen zu formulieren wären, die einer Letztbegründung fähig wären und deren Autorität daher derjenigen eines göttlichen Gebots gleichkäme: „We are not at present examining upon what principles a perfect being would approve of the punishment of bad actions“ (Smith 1984c, 77; TMS II.i.5.10). Aber der Verzicht auf eine Letztbegründung moralischer Normen bedeutet für Smith nicht jeden Verzicht auf eine Rechtfertigung bestimmter moralischer Normen als richtig oder falsch. Sein Anliegen ist nicht nur zu untersuchen, „upon what principles so weak and imperfect a creature as man actually and in fact approves of“ (Smith 1984c, 77; TMS II.i.5.10). Denn “the principles which I have just now mentioned, it is evident, have a very great effect upon this [man’s] sentiment; and it seems wisely ordered that it should be so“ (Smith 1984c, 77; TMS II.i.5.10; Hervorh. C.F.). Sein Anliegen ist also auch zu zeigen, dass die moralischen Prinzipien, auf die Menschen
_____________ 4 Die Frage, ob Smith’ Theory of Moral Sentiments als ein Werk der deskriptiven Psychologie und Soziologie oder als ein Werk der normativen Moralphilosophie zu lesen sei, wird in der Smithforschung kontrovers diskutiert. Siehe zu dieser Diskussion u.a. die Beträge von Fleischacker, Darwall und Gibbard in Fricke/Schütt 2005.
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ihre Beurteilung von Handlungen und charakterlichen Dispositionen tatsächlich gründen, bestimmten normativen Ansprüchen genügen.5 Smith’ Verfahren in der Theory of Moral Sentiments mag auf den ersten Blick den Verdacht erregen, er redete lediglich der normativen Kraft des Faktischen das Wort. Dieser Verdacht bestätigt sich bei näherem Hinsehen jedoch nicht. Wie rechtfertigt Smith moralische Prinzipien, die sich in der normativen Praxis seiner Zeitgenossen artikulieren? In seiner Theory of Moral Sentiments beginnt er nicht mit den moralischen Prinzipien im eigentlichen Sinn. Vielmehr beginnt er mit einer These über die Natur des Menschen und den in ihr angelegten „principles“. Auf diese Prinzipien oder Grundkräfte ist jede Handlungsmotivation zurückzuführen und in ihnen liegt die Quelle der Moralität: How selfish soever man may be supposed, there are evidently some principles in his nature, which interest him in the fortune of others, and render their happiness necessary to him, though he derives nothing from it except the pleasure of seeing it. Of this kind is pity or compassion, the emotion which we feel for the misery of others, when we either see it, or are made to conceive it in a very lively manner. That we often derive sorrow from the sorrow of others, is a matter of fact too obvious to require any instances to prove it; for this sentiment, like all the other original passions of human nature, is by no means confined to the virtuous and humane, though they perhaps may feel it with the most exquisite sensibility. The greatest ruffian, the most hardened violator of the laws of society, is not altogether without it. (Smith 1984c, 9; TMS I.i.1.1)
Unter den Prinzipien der menschlichen Natur sind hier Empfindungsvermögen oder emotionale Dispositionen zu verstehen, aus denen letztlich jede Handlungsmotivation erwächst. Zwei derartige Grundvermögen schreibt Smith dem Menschen zu: Zum einen das Vermögen des Egoismus oder der Selbstliebe („selfishness“), und zum anderen das Vermögen, mit anderen Menschen mitzufühlen. Dieses bezeichnet er hier zunächst als Mitleid („pity or compassion“), verwendet dafür in der Folge aber vornehmlich den Terminus Sympathie („sympathy“).6 Seine Selbstliebe
_____________ 5 In dieser Auffassung könnte sogar Kant Smith zustimmen. Denn Kant ist der Überzeugung, dass „die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann“ (AA IV 391; GMS). Moralität ist keine Frage von Expertentum. In dieser nicht nur von Smith und Kant, sondern auch von Rousseau geteilten Auffassung kommt der antiautoritäre und emanzipatorische Zug der Aufklärung zum Ausdruck. 6 Siehe Smith 1984c, 10; TMS I.i.1.5: „Pity and compassion are words appropriated to signify our fellow-feeling with the sorrow of others. Sympathy, though its meaning was, perhaps, originally the same, may now, however, without much impropriety, be made use of to denote our fellow-feeling with any passion whatever.“ Georg Johan-
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lässt den Menschen leiden, wenn er nicht hat, was er für sein Überleben und Wohlergehen benötigt: „The preservation and healthful state of the body seem to be the objects which Nature first recommends to the care of every individual.“ (Smith 1984c, 212; TMS, VI.i.1) Seine Sympathie lässt ihn leiden, wenn er entweder andere leiden sieht oder aber wenn die anderen ihm, dessen Handeln sie beobachten, ihre Sympathie entziehen. Im Sympathievermögen gründet ein soziales Bedürfnis nach gefühlsmäßiger Harmonie zwischen den Menschen. Insbesondere in diesem Vermögen ist die natürliche Moralität des Menschen angelegt. Dabei darf die Sympathie, wie Smith sie versteht, nicht mit einem moralischen Sinn verwechselt werden, wie ihn (in jeweils unterschiedlichen Versionen) Shaftesbury und Hutcheson dem Menschen zugeschrieben hatten.7 Denn die Smith’sche Sympathie befähigt einen Menschen nicht unmittelbar, das moralisch Gute und Schlechte in der Welt als solches wahrzunehmen. Sie befähigt ihn allerdings dazu, sich zu einer moralischen Person zu entwickeln. Wie der Mensch seine egoistischen und sozialen Bedürfnisse befriedigen kann, das muss er erst lernen. Und er kann, wie er insbesondere seine sozialen Bedürfnisse befriedigen kann, nur in Interaktion mit anderen lernen. Die Menschen befinden sich, angetrieben durch ihre natürlichen Bedürfnisse, in einem interaktiven Lernprozess. Ziel dieses Prozesses ist es zu lernen, wie sie unter ihren äußeren Lebensumständen sowohl ihre egoistischen als auch ihre sozialen Bedürfnisse optimal befriedigen können. Dabei werden diese Lebensumstände sowohl durch den jeweiligen sozialen Kontext, d.h. durch die Mitmenschen, als auch durch die restliche Lebenswelt und die in ihr vorhandenen Ressourcen bestimmt. Wenn es den Menschen gelingt, ihre natürlichen Bedürfnisse optimal zu befriedigen, dann verwirklicht jede und jeder von ihnen ein Höchstmaß seiner egoistischen Interessen und genießt dabei ein Höchstmaß der Sympathie seiner Mitmenschen. Alle an diesem Lernprozess Beteiligten haben von Natur aus gleichartige Bedürfnisse. Das schließt nicht aus, dass verschiedene Personen verschiedene Vorstellungen davon haben, was sie benöti-
_____________ nes Andree verweist darauf, dass Smith sich hier methodisch an das Vorbild Newtons anschließt. Mit der „allgemein menschlichen Grundkraft der Sympathie“, so Andree, „glaubt Smith das gefunden zu haben, was für Newton die Gravitation im Bereich der Physik darstellt – nämlich eine Grundkraft, die als monokausales Modell fungiert, das dort die Bewegung von Körpern und hier die Modalitäten des moralischen menschlichen Zusammenlebens erklärt.“ (Andree 2005, 349) Zu Smith’ Verhältnis zu Newton siehe u.a. auch Redman 1993 und Ballestrem 2001, 89f.. In ihrer vorbildlichen Anlehnung an Newton folgt Smith’ Moralphilosophie derjenigen Humes. Siehe zu dem Einfluss Newtons auf Humes Moralphilosophie Capaldi 1975 und Battersby 1979. 7 Siehe z.B. Smith 1984c, 158; TMS III.4.5.
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gen, um ihre egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Worauf es Smith ankommt, ist, dass die Menschen in diesem Lernprozess einander Grenzen setzen, Grenzen, die sie bei dem Versuch, ihre egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen, nicht überschreiten dürfen. Notwendig sind diese Grenzen, weil Menschen von Natur aus dazu neigen, übermäßig egoistisch zu sein, also mehr für sich selbst zu verlangen, als in dem angegebenen Sinn optimal ist. Und die Macht jedes Einzelnen, anderen derartige Grenzen zu setzen, erwächst aus dem natürlichen Sympathiebedürfnis dieser anderen. Niemand will auf die Sympathie seiner Mitmenschen verzichten und ist daher bemüht, seine egoistischen Interessen so auszurichten, dass er sie verwirklichen kann, ohne dabei die Sympathie der anderen zu verlieren oder auch nur aufs Spiel zu setzen. Die Motivation eines jeden, sich an diesem interaktiven Lernprozess zu beteiligen, erwächst aus den beiden natürlichen Grundbedürfnissen. In diesem Prozess müssen die Menschen lernen, ihre egoistischen Empfindungen so zu mäßigen, dass die aus diesen Empfindungen resultierenden Handlungen nicht zum Verlust der Sympathie anderer führen. Umgekehrt müssen sie ihr Sympathievermögen im Verhältnis zu der ohnehin stark ausgeprägten Selbstliebe stärken, weil andernfalls die Gefahr besteht, dass sie für die emotionale Befindlichkeit der anderen nicht hinreichend sensibilisiert sind und damit die Fähigkeit verlieren, ihre natürlichen sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit anderen Worten: Um ihre natürlichen Grundbedürfnisse optimal befriedigen zu können, müssen die Menschen lernen, richtig – und d.h. im angemessenen Maß – zu fühlen. In dem Maß, in dem ihnen dies gelingt, vervollkommnen sie ihre Natur: […] And hence it is, that to feel much for others and little for ourselves, that to restrain our selfish, and to indulge our benevolent affections, constitutes the perfection of human nature; and can alone produce among mankind that harmony of sentiments and passions in which consists their whole grace and propriety. (Smith 1984c, 25; TMS I.i.5.5)
Angemessene Gefühle, in denen angemessene egoistische und soziale Bedürfnisse zum Ausdruck kommen, führen zu sozial verträglichem Verhalten, zu einem Verhalten, das einerseits die egoistischen Bedürfnisse der Einzelnen berücksichtigt und andererseits die allgemeine gegenseitige Sympathie und damit die soziale Harmonie befördert. Woher aber weiß der Einzelne, wann er angemessene egoistische und sympathetische Gefühle hat und wann er seinen Egoismus zügeln oder seine Sympathiebereitschaft und –bedürftigkeit stärken muss? Ein begrifflich artikulierter Maßstab für angemessene Gefühle steht zunächst nicht zur Verfügung. In ihrem interaktiven Lernprozess bleibt den Menschen daher nichts anderes übrig, als nach dem Prinzip trial and error zu verfahren. Die natürlichen Lebensumstände, unter denen sie handeln, lassen sie ihr Handeln als mehr
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oder weniger erfolgreich erfahren. Nur Handeln, das durch angemessene Empfindungen motiviert ist, führt zum Erfolg optimaler Bedürfnisbefriedigung. Diese Erfahrungen erlauben ihnen, ihre Handlungsstrategien zu optimieren und damit besser an die natürlichen Bedingungen anzupassen. Insofern dieser interaktive Lernprozess auch als ein Prozess beschrieben werden kann, in dem Menschen lernen, ihr Handeln ihrer lebensweltlichen Umgebung anzupassen, kann man sagen, dass diese Umgebung – neben den natürlichen, emotionalen Grundbedürfnissen der Menschen – als Quelle für den Maßstab des richtigen Empfindens und Handelns fungiert.8 Im Verlauf dieses Prozesses lassen sich die Menschen aber nicht ausschließlich von ihren Empfindungen leiten. Vielmehr versuchen sie, erfolgreiche Handlungsstrategien und entsprechende Maßstäbe für angemessenes Empfinden und Handeln zu konzeptualisieren und in Regeln zu formulieren. Sobald derartige Regeln existieren, können und sollen auch diese motivational wirksam sein. Daher ist dieser interaktive Prozess nicht nur ein emotionaler Lernprozess sondern auch ein Prozess, in dessen Verlauf die Regeln angemessenen Handelns formuliert, eingeübt und habitualisiert werden. Aber nicht nur Regeln für angemessenes Handeln können und werden sich in diesem Prozess der gesellschaftlichen Konsensbildung herausbilden. Sobald hinreichend viele Menschen sich an einem solchen Prozess beteiligen und ihre Interaktionen komplexer werden, werden sie den gefundenen Konsens institutionalisieren und die entsprechenden politischen Institutionen beauftragen, Regeln bzw. Gesetze zu formulieren, ihre Einhaltung zu überwachen und Gesetzesverstöße zu ahnden. Smith beschreibt den Maßstab für angemessenes Empfinden und Handeln mit dem Begriff der Unparteilichkeit.9 Wer das Empfinden und Handeln einer Person und ihren sich darin offenbarenden Charakter gemäß dem unparteilichen Maßstab der Angemessenheit beurteilt, befindet sich in der Rolle eines Zuschauers und moralischen Richters.10 Der unparteiische Zuschauer ist Zeuge eines Handlungsgeschehens, eines Geschehens, in dem verschiedene Parteien interagieren. Eine solche Interaktion ist immer dann konfliktträchtig, wenn die beteiligten Parteien sich nicht
_____________ 8 Siehe z.B. Smith 1984c, 18; TMS I.i.3.6: „In the suitableness or unsuitableness, in the proportion or disproportion which the affection seems to bear to the cause or object which excites it, consists the propriety or impropriety, the decency or ungracefulness of the consequent action.“ Zu dem hier nur in aller Kürze skizzierten Lernprozess siehe auch Smith 1984c, 159; TMS III.4.7 und Fricke 2005. 9 Siehe Smith 1984c, 22; TMS I.i.4.8 und öfter. 10 Siehe Smith 1984c, 24; TMS I.i.5.4 und öfter.
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von angemessenen Empfindungen leiten lassen. Der unparteiische Zuschauer sympathisiert jedoch nur mit angemessenen Empfindungen. Wollen die Konfliktparteien nicht auf die Sympathie des unparteiischen Zuschauers verzichten, müssen sie ihre Empfindungen korrigieren. Eine solche Korrektur liegt in ihrem natürlichen Interesse, denn sie haben ein natürliches Bedürfnis danach, dass der unparteiische Zuschauer mit ihnen sympathisiert. Wenn aber der unparteiische Zuschauer mit allen an einem Konflikt Beteiligten sympathisiert, dann sympathisieren diese auch untereinander: […] self-deceit, this fatal weakness of mankind, is the source of half the disorders of human life. If we saw ourselves in the light in which others see us, or in which they would see us if they knew all, a reformation would generally be unavoidable. We could not otherwise endure the sight. (Smith 1984c, 158f.; TMS III.4.6,)
Unangemessene Empfindungen sind Ausdruck von Parteilichkeit. Parteilich ist ein Handelnder, wenn er – bewusst oder unbewusst – unterstellt, dass seine eigenen egoistischen Interessen (oder die einer Gruppe, zu der er selbst gehört) eine stärkere Berücksichtigung verdienen als die Interessen seiner Mitmenschen. Unparteilichkeit beruht dagegen auf der Überzeugung von der Gleichberechtigung aller Menschen. Der unparteiische Zuschauer gesteht allen Menschen das gleiche Recht zu, im Rahmen des geschilderten interaktiven Lernprozesses ihre egoistischen und sozialen Interessen zu vertreten und diese optimal zu befriedigen. Inwiefern leistet Smith mit der Darstellung dieses Lernprozesses nun aber eine Rechtfertigung der moralischen Prinzipien? Die moralischen Prinzipien im eigentlichen Sinn sind diejenigen Regeln angemessenen Empfindens und Handelns, auf die sich die Menschen geeinigt haben, wenn sie das Ende des von Smith analysierten natürlichen Lernprozesses erreicht haben. Wer diesen Prinzipien folgt, kann gleichzeitig einen maximalen eigenen Vorteil und die maximale Sympathie seiner Mitmenschen genießen. Am Ende dieses Lernprozesses können alle die Rolle des unparteiischen Zuschauers oder moralischen Richters übernehmen, und sie können Zuschauer sowohl aller anderen als auch ihrer selbst sein. Es sind diese Prinzipien, auf deren Grundlage ein im strikten Sinne unparteiischer Zuschauer über die Angemessenheit des Empfindens und Handelns von Menschen urteilt. Smith versteht moralische Prinzipien als unparteiische und in diesem Sinn objektiv gültige Begriffe des einer bestimmten Art von Handlungssituation angemessenen Empfindens und Handelns. Wer in allen Handlungssituationen diesen Begriffen bzw. Prinzipien gemäß empfindet und handelt, ist eine vollkommene moralische Person. Smith’ Rechtfertigung dieser Prinzipien ergibt sich aus der Art und Weise, wie er ihre Genese analysiert. Wenn sich nicht nur exklusive Gruppen, sondern alle Menschen an diesem Lernprozess beteiligen, und wenn sie sich dabei
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von ihren natürlichen, unverfälschten Bedürfnissen nach eigenem Wohlergehen, gegenseitiger Sympathie und allgemeiner sozialer Harmonie leiten lassen und dabei einander als Gleiche respektieren statt zu versuchen, einander zu übervorteilen, dann werden sie sich unweigerlich auf die angemessenen, richtigen Handlungsregeln einigen, d.h. auf moralische Prinzipien im eigentlichen Sinn. Für diese Rechtfertigung ist die Voraussetzung zentral, dass alle Menschen ohne jede Einschränkung an dem Prozess der Konsensfindung beteiligt waren und dass sie sich alle in gleicher Weise nur an ihren natürlichen Bedürfnissen orientiert haben. Dieser Prozess ist ebenso ein natürlicher wie ein zivilisatorischer Prozess. Natur und Zivilisation sind für Smith keine Gegensätze, auch dieser zivilisatorische Prozess ist ein natürlicher Prozess, ein Prozess, in dem Menschen lernen, was das von Natur aus für sie angemessene Empfinden und Handeln ist.11 Aus der Voraussetzung, dass dieser Prozess erst dann an sein Ende gekommen ist, wenn sich alle Menschen an ihm beteiligt haben, ist nun aber der ideale Status dieses Endes ersichtlich. Menschen, wie sie wirklich sind, können dieses Ende niemals erreichen. Die Gründe dafür liegen nicht allein in der tatsächlich immer unvollkommenen und verbesserungsbedürftigen menschlichen Natur oder in dem pragmatischen Problem, alle zu einer Zeit auf der Welt lebenden Menschen an einem solchen interaktiven Prozess tatsächlich zu beteiligen – über alle geographischen, kulturellen und politischen Grenzen hinweg. Sie liegen auch und vor allem darin, dass es hier nicht nur darum geht, alle zu einer Zeit auf der Welt lebenden Menschen an einem solchen interaktiven Prozess zu beteiligen, sondern auch darum, überhaupt alle Menschen daran zu beteiligen, also auch alle Mitglieder aller zukünftigen Generationen. Die moralischen Prinzipien, auf die sich alle Menschen an dem idealen Ende ihres interaktiven Lernprozesses geeinigt haben, sind daher für wirklich lebende Menschen so unerreichbar und uneinsichtig wie jene Prinzipien, „upon what […] a perfect being would approve of the punishment of bad actions“ (Smith 1984c, 77; TMS II.i.5.10). Ebenso ideal und unerreichbar erscheint die Figur des unparteiischen Zuschauers; dieser scheint selbst ein „perfect being“ zu sein. Nun betont Smith jedoch, dass es ihm gar nicht um die idealen moralischen Prinzipien gehe, wie sie nur einem „perfect being“ zugänglich sind. Ihm geht es „upon what principles so weak and imperfect a creature as man actually and in fact approves of it“ (Smith 1984c, 77; TMS II.i.5.10).
_____________ 11 Zu einer genaueren Rekonstruktion dieses Prozesses siehe Otteson 2002 und 2005 und Fricke 2005.
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Was aber hat die unvollkommene moralische Praxis seiner Mitmenschen und Zeitgenossen mit dem moralischen Lernprozess zu tun, an dessen idealem Ende alle Menschen nicht nur erkannt haben, welches die moralischen Prinzipien sind, sondern auch immer so empfinden und handeln, wie es diesen Prinzipien entspricht? Und was kann die Darstellung dieses Lernprozesses zur Rechtfertigung der moralischen Praxis beitragen, die Smith in der Gesellschaft, in der er selbst lebt, beobachtet? Smith’s hintergründige Absicht ist es, die moralische Praxis seiner Mitmenschen und Zeitgenossen als Resultat eines unvollendeten moralischen Lernprozesses zu begreifen, der dem geschilderten Lernprozess hinreichend ähnlich ist. Was spricht für diese Ähnlichkeit? Zum einen erscheint Smith die Gesellschaft, in der er selbst lebt, zumindest harmonisch genug zu sein, um seine Behauptung nicht als von vornherein abwegig erscheinen zu lassen. Zum anderen beobachtet er an seinen Zeitgenossen genau das Verfahren moralischen Urteilens, das für den geschilderten Lernprozess konstitutiv ist.12 Natürlich ist das Entwicklungsstadium, das die Gesellschaft, in der er lebt, in ihrem Lernprozess tatsächlich erreicht hat, von dem idealen Ende dieses Prozesses sehr weit entfernt. Die Prinzipien, die in dieser Gesellschaft als moralisch gelten, sind nicht die idealen moralischen Prinzipien eines „perfect being“. Aber das bedeutet nicht, dass nicht auch diese unvollkommenen moralischen Prinzipien ihre Berechtigung haben. Diese Prinzipien sind so berechtigt und richtig, wie es Prinzipien überhaupt sein können, auf die sich die Mitglieder einer Gesellschaft an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit tatsächlich geeinigt haben, sofern sie dabei eher öfter als seltener so verfahren sind, wie es dem von Smith analysierten natürlichen Zivilisationsprozess entspricht. Die moralische Erkenntnis ist für Smith daher keine Frage des ‚Alles oder Nichts‘. Sie lässt Grade zu, ebenso wie die Objektivität moralischer Normen Grade zulässt. Die Unerreichbarkeit des moralischen Ideals der Unparteilichkeit befreit die Menschen nicht von der Pflicht, sich diesem Ideal so weit es ihnen möglich ist anzunähern. Die moralischen Maßstäbe, die sie in ihren Urteilen über sich selbst und andere anwenden, entsprechen dem idealen Maßstab mehr oder weniger, je nachdem, wie weit ihre moralische Entwicklung fortgeschritten ist. Aber Smith ist zum einen optimistisch, dass viele Menschen einen gewissen moralischen Kenntnisstand erreichen, und darüber hinaus hält er die Diskrepanz zwischen einer nur partiellen und einer vollkommenen moralischen Erkenntnis nicht für ein moralisches Desaster:
_____________ 12 Siehe zu diesem Verfahren, wie Smith es beschreibt, auch Fricke 2005.
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In estimating our own merit, in judging of our own character and conduct, there are two different standards to which we naturally compare them. The one is the idea of exact propriety and perfection, so far as we are each of us capable of comprehending that idea. The other is that degree of approximation to this idea which is commonly attained in the world, and which the greater part of our friends and companions, of our rivals and competitors, may have actually arrived at. We very seldom (I am disposed to think, we never) attempt to judge of ourselves without giving more or less attention to both these different standards. But the attention of different men, and even of the same man at different times, is often very unequally divided between them; and is sometimes principally directed towards the one, and sometimes towards the other. (Smith 1984c, 247; TMS VI.iii.)
Nun sind die Handlungsprinzipien, an denen sich die Mitglieder einer partikularen Gesellschaft zu einer Zeit weitgehend orientieren, so historisch und kulturell kontingent wie diese Gesellschaft selbst es ist. Hängt die argumentative Überzeugungskraft der Smith’schen Strategie, die Autorität dieser Prinzipien zu rechtfertigen, nicht von der Möglichkeit ab nachzuweisen, dass die Gesellschaft, die sich an eben diesen Prinzipien orientiert, sich tatsächlich in einem Lernprozess befindet, wie Smith ihn analysiert, in einem Prozess, der auf das ideale Ende zusteuert, an dem eine Weltgesellschaft steht, deren moralische Praxis uneingeschränkt unparteiischen, idealen, objektiven und nicht mehr kontingenten, da alternativlosen moralischen Prinzipien entspricht? Müssten die Mitglieder einer Gesellschaft, die die Prinzipien ihrer moralischen Praxis so rechtfertigen, wie Smith es vorschlägt, nicht wenigstens das ideale Ende des Lernprozesses, in dem sie sich befinden, vor Augen haben und ausdrücklich anstreben? Smith verneint diese Frage. Statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie tun sollten, um die ideale moralische Weltgesellschaft herbeizuführen, sollten sich die Menschen darauf beschränken, ihre natürlichen egoistischen und sozialen Bedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Denn sie selbst wissen am besten, was in ihrem natürlichen Interesse liegt, und ihre natürlichen, unverfälschten Interessen sind so beschaffen, dass sie letztlich nur durch sozial verträgliches und idealiter moralisches Handeln optimal befriedigt werden können. Dabei ist moralische Vollkommenheit etwas, das jenseits ihrer beschränkten intellektuellen Reichweite liegt und das sie daher gar nicht gezielt befördern können. The very existence of society requires that unmerited and unprovoked malice should be restrained by proper punishments; and consequently, that to inflict those punishments should be regarded as a proper and laudable action. Though man, therefore, be naturally endowed with a desire of the welfare and preservation of society, yet the Author of nature has not entrusted it to his reason to find out that a certain application of punishments is the proper means of attaining this end; but has endowed him with an immediate and instinctive approbation of that very application which is most proper to attain it. The oeconomy of nature is in
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this respect exactly of a piece with what it is upon many other occasions. With regards to all those ends which, upon account of their peculiar importance, may be regarded, if such an expression is allowable, as the favourite ends of nature, she has constantly in this manner not only endowed mankind with an appetite for the means by which alone this end can be brought about, for their own sakes, and independent of their tendency to produce it. […] But though we are in this manner endowed with a very strong desire of those ends, it has not been intrusted to the slow and uncertain determinations of our reason, to find out the proper means of bringing them about. Nature has directed us to the greater part of these by originate and immediate instincts. (Smith 1984c, 77f.; TMS II.i.5.10)
Darauf, dass sie mit ihrer unvollkommenen moralischen Praxis letztendlich auch den Lernprozess vorantreiben, an dessen Ende die ideale moralische Weltgesellschaft verwirklicht ist, können und sollen sie vertrauen. Sie sollen der Natur vertrauen, die mit ihren Kräften den zivilisatorischen Prozess steuert und dafür sorgt, dass dieser sich auf sein ideales Ende zu bewegt. Auf keinen Fall sollen sie die moralische Weltgesellschaft ausdrücklich zum Zweck ihres Handelns machen, denn sie sind mit ihren begrenzten Erkenntnisfähigkeiten, mit ihrer menschlichen Vernunft, nicht zu einer angemessenen Erkenntnis dieses Zwecks befähigt. Smith spricht immer wieder von der Natur als sei sie ein vernünftiges Wesen, ein Wesen, das Absichten hat und gemäß diesen Absichten handelt.13 Berühmt ist seine Formel von der „invisible hand“, deren Tätigkeit sich in der Natur und insbesondere in ihrer zivilisatorischen Entwicklung manifestiert und auf die der Mensch vertrauen soll, um sich in Ruhe der Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse zu widmen. Die Frage, wie Smith’ auf diese Formel gebrachte Auffassung der Natur zu verstehen sei, wird in der Smithforschung kontrovers diskutiert. Einige sehen in dieser Formel einen Beweis für Smith’ stoisches Erbe.14 Andere verstehen diese Hand als Hand Gottes und verweisen auf den Smith’schen Deismus.15
_____________ 13 So heißt es z.B. an einer Stelle, an der Smith beschreibt, wie streitende Parteien mit der Hilfe eines unbeteiligten Zuschauers zu einem Konsens finden können, zu einem Zustand, in dem die vormals streitenden Parteien wieder freundliche, sympathische Gefühle füreinander hegen: „In order to produce this concord, as nature teaches the spectator to assume the circumstances of the person principally concerned, so she teaches this last in some measure to assume those of the spectators.“ (Smith 1984c, 22; TMS I.i.4.8) 14 Siehe z.B. Griswold 1999, insbes. 319. Die ausführlichste Analyse des Einflusses antiker und spätantiker Philosophen auf Adam Smith hat Gloria Vivenza vorgelegt. Siehe Vivenza 1984/2001. 15 Karl Graf Ballestrem z.B. schreibt Smith nicht nur ein teleologisches, sondern auch ein theologisches Naturverständnis zu. Siehe Ballestrem in Fricke/Schütt 2005, insbes. 341. Siehe auch Macfie 1971.
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Emma Rothschild hat diese Deutungen der Formel von der unsichtbaren Hand und des sich in dieser Metapher artikulierenden Smith’schen Naturverständnisses, die der Natur eine metaphysisch transzendente Dimension hinzufügen, insofern sie diese als Werk eines übermenschlichen Wesens verstehen, nachdrücklich und überzeugend zurückgewiesen. In der Metapher von der unsichtbaren Hand identifiziert sie drei verschiedene Gedanken: Erstens können die absichtlichen Handlungen von Menschen nicht nur beabsichtigte, sondern auch unbeabsichtigte Folgen haben; zweitens erscheint oder offenbart sich in der Fülle der natürlichen Ereignisse und Handlungen eine gewisse Ordnung und Kohärenz; drittens können die unbeabsichtigten Folgen menschlicher Handlungen in manchen Fällen zum Wohlergehen einer ganzen Gesellschaft beitragen.16 Alle drei Gedanken können ganz unabhängig davon wahr sein, ob die Natur das Werk eines transzendenten Schöpfers ist oder nicht. Adam Smith hält alle diese Gedanken für wahr. Aber insbesondere den letzten dieser Gedanken sollte man nicht als ein Plädoyer Smith’ dafür missverstehen, dass ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger ohne jede gesetzlichen Einschränkungen sich selbst überlassen sollte, weil sie, wenn sie nur ihre eigenen natürlichen Interessen ohne jede Einschränkung verfolgen könnten, zum Wohl des Staats so viel beitragen würden, wie ohnehin maximal möglich sei. Zwar hielt Smith die Freiheit der Bürger eines Staates für einen Wert an sich.17 Aber er wusste um die Fragilität dieses Wertes und hielt es entsprechend für die höchste Pflicht des Staates, diese Freiheit durch entsprechende Gesetze zu schützen. Dass die Menschen ihre eigenen natürlichen Interessen nach bestem Wissen und Gewissen zu befriedigen versuchen, garantiert allein noch nicht, dass sie in dem oben geschilderten Lernprozess fortschreiten und sich auf dessen ideales Ende zu bewegen. Rothschild erinnert daran, dass Smith die Formel von der unsichtbaren Hand an nur drei Stellen seines gesamten Werks verwendet.18 Vor dem 20. Jahrhundert wurde diese Formel auch von seinen Lesern und Kritikern kaum beachtet. Die Prominenz dieser Formel ist ein Werk von Ökonomen und Soziologen des 20. Jahrhunderts.19 Insbesondere von der Seite der Ökonomie wurde diese Formel missbraucht zur Begründung der
_____________ 16 Siehe Rothschild 2001, 121. Rothschild weist darauf hin, dass Smith die ontologische Frage, ob die natürliche Ordnung und Kohärenz in der Natur selbst angelegt sei oder nur von den Menschen in sie hineininterpretiert werde, mit einer gewissen Nonchalance offen ließ. (Rothschild 2001, 137) 17 Siehe Rothschild 2001, 123. 18 Smith 1984c, 184; TMS IV.i.10; Smith 1984b, 456; WN IV.ii.9; Smith 1984a, 49; EPS, „History of Astronomy“ III.2, . Siehe Rothschild 2001, 117f. 19 Rothschild 2001, 118 u. 138ff.
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These, dass der Kapitalmarkt keiner politischen Regulierung bedürfe, dass er sich gerade in der Freiheit von jeglicher politischen Regulierung optimal entfalte. Dabei ist Smith sich der Gefahr deutlich bewusst, dass ökonomische Macht – z.B. zum Zweck der Monopolbildung – politisch missbraucht werden kann. Er sah die Aufgabe der politischen und insbesondere der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung u.a. darin, einem politischen Missbrauch ökonomischer Macht durch Einzelne vorzubeugen.20 Die politische Gesetzgebung eines Staates sollte den Schutz der individuellen Freiheit seiner Bürger zu ihrem dringlichsten Anliegen machen. Sie sollte nicht versuchen, diese Freiheit einzuschränken und den Bürgern vorzuschreiben, wie und wodurch sie zum Wohl des Staates beizutragen haben. Denn niemand kann zu Recht für sich in Anspruch nehmen, zu wissen, wie das Wohl des Staates anders und effizienter zu befördern sei als dadurch, dass seine Bürger ihre eigenen Interessen gemäß ihren natürlichen Bedürfnissen verfolgen. Damit erteilt Smith allen besserwisserischen Weltverbesserern eine deutliche Absage. Mit der Ungewissheit über den Lauf der Welt jenseits des kleinen eignen Bereichs, den er noch überschauen kann, muss jeder Mensch leben. Nicht zuletzt aus dieser unüberwindlichen Ungewissheit heraus bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf den natürlichen Verlauf der Dinge jenseits der Reichweite seines absichtlichen Handelns zu vertrauen. Aber er kann der Natur vertrauen, ohne sie als Werk eines transzendenten Schöpfers anzusehen. Smith lässt gewissermaßen an die Stelle Gottes als moralischen Gesetzgebers die Natur und insbesondere die sinnliche Natur des Menschen als Quelle der Moralität treten; während jener metaphysisch transzendent war, ist diese gewissermaßen epistemisch transzendent. Epistemische Transzendenz bedeutet aber nichts anderes als tatsächliche und unüberwindliche Ungewissheit: Der Mensch ist als potentiell moralisches Wesen Teil der Natur, aber er kann die Natur nicht mit letztendlicher Gewissheit erkennen – und dies gilt auch für seine eigene Natur.
III. Die kantische Antwort auf die Frage Was ist Aufklärung? hat einige Berühmtheit erlangt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ (AA VIII 35). Auch Kant versteht die Aufklärung als eine Emanzipationsbewegung. Es gilt, den Menschen aus seinem Zustand der Entmündigung durch Gott bzw. seine weltlichen Stellvertreter in den kirchlichen Institutionen zu befreien. Dabei ging es
_____________ 20 Siehe Rothschild 2001, 145.
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Kant um die Autorisierung des Menschen in seiner Fähigkeit, die Welt zu erkennen, zu erkennen, wozu er moralisch verpflichtet ist und entsprechend zu handeln. Der Mensch kann die Verantwortung für sein Erkennen und Handeln selbst übernehmen, weil er vernünftig ist. Als autonomes Erkenntnis- und Handlungssubjekt bedarf er keiner Anleitung durch Gott oder seine kirchlichen Stellvertreter. Kants Verständnis der Aufklärung als Emanzipationsbewegung ist mit Kondylis’ These von der Aufklärung als einer Rehabilitation der Sinnlichkeit durchaus kompatibel. Denn die Rehabilitation der Sinnlichkeit und die Veränderungen des allgemeinen Weltbildes, die daraus resultierten, bedeuteten eine Unterwanderung der kirchlichen Autorität sowohl in Sachen der Erkenntnis als auch in Sachen der Moral. Was die Emanzipation des Menschen von seiner Bevormundung durch Gott oder durch dessen weltliche Stellvertreter betrifft, hatten die vorkantischen Aufklärer und insbesondere die englischen und schottischen Empiristen schon viel geleistet. Konnte Kant, als er die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ definierte, auf ein vollendetes Projekt zurückschauen? Kant selbst sah die Aufklärung, soweit sie zu seiner Zeit entwickelt war, keineswegs als ein vollendetes Projekt an. Ganz im Gegenteil, Kant sah sich berufen, die Emanzipation des Menschen zu vollenden bzw. sie erstmals auf die einzig richtige Weise zu betreiben, und dabei spielte insbesondere sein Verständnis der Moralität des Menschen eine Schlüsselrolle. Wie am Beispiel der Moralphilosophie von Adam Smith gezeigt, hatten die empiristischen Moraltheoretiker die Quelle der Moralität nicht mehr in Gott, sondern in der menschlichen, sinnlichen Natur gesucht. Von seinen sinnlichen, gefühlsmäßigen Bedürfnissen sollte sich der Mensch zur Moralität leiten lassen. Die Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen hatten die empiristischen Moraltheoretiker jedoch nicht von ihrer Unzulänglichkeit befreien können. Wer die Quelle moralischer Normen in die natürlichen menschlichen Bedürfnisse verlegt, macht diese ebenso wenig epistemisch zugänglich wie derjenige, der Gott als moralischen Gesetzgeber versteht. Er lässt an die Stelle der metaphysischen die epistemische Transzendenz treten, die ebenso wie jene der Möglichkeit gewisser Erkenntnis im Wege steht. Wenn aber die Menschen nicht in der Lage sind, die moralischen Prinzipien und die ihnen zukommende Autorität mit Gewissheit zu erkennen, dann ist dem moralischen Skeptizismus der Weg bereitet. Die Unmöglichkeit gewisser moralischer Erkenntnis und die daraus resultierende Unmöglichkeit, die absolute moralische Verpflichtung des Menschen zu begreifen, schienen Kant gefährlich und unakzeptabel
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zu sein. Einer Begründung moralischer Prinzipien, wie z.B. Adam Smith sie entwickelt hatte, attestiert Kant Kümmerlichkeit.21 Aus der kantischen Perspektive schien es so, als sei der Mensch als moralisches Handlungssubjekt während der so genannten Aufklärung vom Regen in die Traufe geraten. Hatte er sich zunächst von Gott bzw. seinen kirchlichen Stellvertretern entmündigen lassen, so hatte er sich dann, gedrängt von den Empiristen, von seiner sinnlichen Natur entmündigen lassen. Mündig ist der Mensch nur dann, wenn er sich selbst bestimmt, und zu seiner Selbstbestimmung ist er nicht Kraft seiner Sinnlichkeit, sondern nur Kraft seiner Vernunft fähig und verpflichtet.22 Vernünftige Selbstbestimmung muss die Sinnlichkeit in ihre Schranken weisen. Die Frage ist, wie und wozu ein Mensch sich Kraft seiner Vernunft bestimmen kann und bestimmen soll.23 Kann er Kraft seiner Vernunft mit Gewissheit erkennen, was er moralisch zu tun verpflichtet ist, und sich dann auch Kraft seiner Vernunft dazu motivieren, im Sinne seiner praktischen Erkenntnis zu handeln? Kann er überhaupt etwas mit Gewissheit erkennen? Die Beantwortung der Fragen danach, was ein Mensch Kraft seiner Vernunft mit Gewissheit erkennen und ob er sich allein Kraft seiner Vernunft zum Handeln motivieren kann, ist das zentrale Anliegen der kantischen Vernunftkritik. Er beantwortet zunächst die Frage nach der theore-
_____________ 21 Kant schreibt in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten: „Die natürlichen Triebe zur Nahrung, zum Geschlecht, zur Ruhe, zur Bewegung, und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) die Triebe zur Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntnis u.d.gl., können allein und einem jeden nur auf seine besondere Art zu erkennen geben, worin er jene Freuden zu setzen, ebendieselbe kann ihm auch die Mittel lehren, wodurch er sie zu suchen habe. Alles scheinbare Vernünfteln a priori ist hier im Grunde nichts, als durch Induktion zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung, welche Allgemeinheit (secundum principia generalia non universalia) noch dazu so kümmerlich ist, daß man einem jeden unendlich viel Ausnahmen erlauben muß, um jene Wahl seiner Lebensweise seiner besonderen Neigung und seiner Empfänglichkeit für die Vergnügen anzupassen, und am Ende doch nur durch seinen, oder anderer ihren Schaden klug zu werden.“ (AA VI 215/16) Kant vernachlässigt hier die Rolle, die Adam Smith der interaktiven, gegenseitigen Korrektur des Handelns der Mitglieder einer Gruppe zuschreibt. 22 Dies scheint mir der Gedanke auch von Hermann Schmitz zu sein, wenn er feststellt: „In drei Figuren verdichtet sich das Bedrohende, das persönlicher Selbstbehauptung gefährlich wird und daher Kant zu mißtrauischer Abwehr herausfordert: Gott, Frau, Tier.“ (Schmitz 1989, 365) 23 Reinhard Brandt betont zu Recht den Primat des Praktischen in seiner Bestimmung des Menschen. Siehe Brandt 2007, 8, 15, 29 u.ö.
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tischen Erkenntnis der Natur und dann, zunächst unabhängig davon, die nach der praktischen Erkenntnis der moralischen Prinzipien und ihrer Autorität. In beiden Fällen geht er von einer zentralen Hypothese aus: „[…] nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann“ (AA V 384; KU § 68). Die Grundzüge der Ergebnisse, zu denen Kant in seiner Kritik der reinen, theoretischen und der praktischen Vernunft gelangt, sind hinlänglich bekannt. Naturerkenntnis ist nicht durch reine Vernunft möglich. Jede Erkenntnis, die diesen Namen verdient, hat neben der intellektuellen auch eine anschauliche Wurzel. Damit sind dem Bereich, in dem gewisse Naturerkenntnis möglich ist, enge Grenzen gesetzt. Nur diejenigen Grundgesetze der Natur können wir mit Gewissheit erkennen, die auf der Anwendung reiner Begriffe (der Kategorien) auf reine Anschauungen (die Formen von Raum und Zeit) beruhen. Diese Grundgesetze oder „Prinzipien des reinen Verstandes“ sind die Bedingungen der Möglichkeit jeder objektiven, empirischen Naturerkenntnis. Das bedeutet, dass Menschen diese Gesetze Kraft ihres Verstandes der Natur vorschreiben. In § 36 der Prolegomena heißt es: Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, blos die Bedingungen ihrer nothwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden; und in Ansehung der letztern ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei; und da in dieser die Gesetzmäßigkeit auf der nothwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt erkennen können), mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruht, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts desto weniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letztern sage: der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor. (AA IV 320)
Empirische Naturerkenntnis ist nur in dem von den Verstandesgesetzen vorgegebenen Rahmen möglich. Diese Erkenntnis beruht auf der Anwendung empirischer Begriffe auf das Mannigfaltige der sinnlichen Wahrnehmung. In ihrer Abhängigkeit von sinnlicher Erfahrung kann empirische Erkenntnis nicht wirklich gewiss sein. Durch die mit Gewissheit erkennbaren Gesetze, die der menschliche Verstand der Natur vorschreibt, wird diese u.a. als eine unendliche Menge von Ereignissen in Raum und Zeit bestimmt, die kausal miteinander verknüpft sind. Die kausale Verknüpfung aller Ereignisse bedeutet, dass jedes einzelne Ereignis als Wirkung durch seine Ursachen vollständig determiniert ist. Was den Bereich der praktischen Erkenntnis betrifft, so kommt Kants Vernunftkritik zu dem folgenden Ergebnis: Kraft seiner Vernunft kann
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ein Mensch mit Gewissheit erkennen, was eine Handlung als moralisch auszeichnet, und er kann seinen Willen dazu bestimmen, nur solche Handlungen zu wollen, die zuvor als moralisch legitim erkannt worden sind. Die Willensbestimmung durch reine Vernunft ist unabhängig von einer Willensbestimmung durch sinnliche Antriebe möglich. Wenn der Wille eines Menschen durch reine Vernunft bestimmt wird, macht dieser sich frei von seiner Bestimmung durch seine Sinnlichkeit. Kant beschreibt die Willensbestimmung durch reine Vernunft als Akt der Autonomie, als Kausalität aus Freiheit und als Bestimmung des Willens durch das Sittengesetz. Moralisches Handeln ist für Kant freies Handeln, und zu freiem Handeln ist der Mensch Kraft seiner Vernunft befähigt und verpflichtet.24 Sowohl im Bereich der theoretischen Erkenntnis als auch im Bereich der praktischen Erkenntnis und des entsprechenden moralischen Wollens und Handelns schreibt Kant dem vernunftbegabten Menschen eine gesetzgeberische Funktion zu. Der zu erkennenden Natur schreibt der Mensch qua Vernunftwesen die reinen Verstandesgesetze vor, und sich selbst als freiem Handlungssubjekt schreibt er das Gesetz der reinen praktischen Vernunft, das Sittengesetz vor. Insofern jedes freie Handlungssubjekt Stellvertreter aller freien Handlungssubjekte ist, schreibt ein Mensch, wenn er sich selbst durch das Sittengesetz bestimmt, auch allen anderen freien Handlungssubjekten, den vernünftigen, freien und moralischen Mitgliedern einer idealen moralischen Gesellschaft, das Sittengesetz vor. Kant nennt diese ideale moralische Gesellschaft in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auch das „Reich der Zwecke“: Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ist. (AA IV 433)
In seiner Doppelrolle als theoretischer und moralischer Gesetzgeber ist der Mensch nun aber in zwei verschiedenen Welten beheimatet, deren Gesetzmäßigkeiten nicht miteinander kompatibel sind. Die natürliche Welt, die Gegenstand der menschlichen Erkenntnis ist, ist deterministisch und daher kein Ort, an dem freies Handeln möglich ist. Die moralische Welt dagegen ist eine Welt der Freiheit. Daher stellt sich die Frage, „wie der Mensch in die Welt passe“ – die Betonung liegt hier auf dem Singular der einen „Welt“. Es geht hier nicht um das traditionelle Problem, wie Vernunft und Materie, Geist und Körper, zu einer und derselben Welt gehören können und in dieser interagieren. Es geht um die Einheit der Vernunft selbst, um die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, und um die Einheit der Welt, in der der Mensch als Vernunftwesen
_____________ 24 Siehe z.B. AA IV 439 und AA V 29.
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existiert. Als Vernunftwesen hat der Mensch seinen Platz sowohl in der erkennbaren Welt als auch in der Welt der Freiheit; diese Welten sind ihm nicht fremd, denn sie tragen die Spuren seiner vernünftigen Gesetzgebung. Wie aber muss die eine Welt beschaffen sein, in der der Mensch in seiner Doppelrolle als erkennendes Wesen und als moralisches Handlungssubjekt zu Hause ist? Kant beantwortet die eingangs zitierte Frage, ob und wie „der Mensch in die Welt passe“, im Rekurs auf die „schönen Dinge“. Es sind diese Dinge, so Kant, die anzeigen, „dass der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“ (AA XVI 127; Reflexion 1820a). Adickes datiert diese Reflexion auf die Jahre 1771/1772.25 Bis Kant die Kritik der Urteilskraft schreibt, in der er diese Thesen ausarbeitet, werden noch beinahe 20 Jahre vergehen, aber ein Hauptanliegen dieser dritten Kritik wird hier schon formuliert, nämlich zu zeigen, dass und wie der Mensch in die Welt passe.26 In dieser dritten Kritik geht es Kant um eine im Vergleich mit seiner theoretischen und praktischen Philosophie neue Art und Weise, die Natur zu betrachten. Als Gegenstand theoretischer Erkenntnis war die Natur eine unendliche Menge kausal determinierter Ereignisse. Als Ort des moralischen Handelns musste die Natur der Freiheit Entfaltungsraum gewähren. Nun soll die Natur hypothetisch als Werk der Technik betrachtet werden, allerdings nicht als Werk eines Menschen, sondern als Werk eines übermenschlichen Wesens. So heißt es in der so genannten Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft: Wir werden uns aber künftig des Ausdrucks der Technik auch bedienen, wo Gegenstände der Natur bisweilen bloß nur so beurteilt werden, als ob ihre Möglichkeit sich auf Kunst gründe, in welchen Fällen die Urteile weder theoretisch, noch praktisch (in der zuletzt angeführten Bedeutung) sind, indem sie nichts von der Beschaffenheit des Objekts, noch der Art, es hervorzubringen bestimmen, sondern wodurch die Natur selbst, aber bloß nach der Analogie mit einer Kunst, und zwar in subjektiver Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen, nicht in objektiver auf die Gegenstände, beurteilt wird. (AA XX 200/01)
Was ist ein Werk? Ein Werk ist ein Produkt absichtlichen Handelns, seine Gestalt verkörpert die Absicht oder den Zweck, dessen Vorstellung seinem Produzenten als Anleitung oder Regel gedient hatte. Kant spricht von der Gestalt eines Werks auch als der „Form der Zweckmäßigkeit“27.
_____________ 25 Da Kant diese Reflexion auf den Umschlag eines Briefes von Markus Herz vom 9. Juli 1771 notiert hat, dürfte die Datierung richtig sein. 26 Weitere Kommentare zu dieser kantischen These in Recki 2001, 135f. und Müller 2007. 27 AA V 236 u. ö.; siehe auch Fricke 1990. Kap. 4.
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Zweckmäßig ist ein Werk im Hinblick auf den Zweck, zu dem es produziert wurde. Ein Werk ist jedoch auch ein materieller Gegenstand, der Wirkung bestimmter Ursachen ist. In einem Werk verbinden sich die Gesetze der deterministischen Kausalität mit den Zwecken absichtlichen Handelns. Auch rein vernünftiges, moralisches Handeln ist absichtliches Handeln. Welche Gestalt hat ein Werk moralischen Handelns? Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Denn moralisches Handeln ist wesentlich Selbstzweck, es zielt nicht auf die Herstellung eines von ihm ablösbaren Werks. Statt nach der Gestalt des moralischen Werks zu fragen, fragt Kant in der Kritik der Urteilskraft nach phänomenalen Evidenzen dafür, dass die Natur in ihrer Gestalt als Werk einen Zweck verkörpert. Dieser Zweck kann kein menschlicher Zweck sein, denn menschliche Zwecke sind begrifflich fassbar. Die Natur in ihrer Totalität kann ein Mensch jedoch nicht in einem diskursiven Begriff erfassen. Kant sieht in der Gestalt der Natur als ganzer, als System oder Totalität, einen epistemischen Zweck verkörpert, nämlich den Zweck, die Natur für den Menschen erkennbar zu machen. In dieser hypothetischen Betrachtung der Natur als Werk wird diese als etwas gedacht, das „sich nach unserer Urteilskraft richtet“, und die so gedachte Natur ist zweckmäßig „zum Behuf unseres Vermögens […], sie zu erkennen“ (AA XX 202/3). Es geht hier um Eigenschaften der Natur, von denen ihre empirische Erkennbarkeit für den Menschen abhängt, nicht um die Verstandesgesetze, die der Mensch Kraft seiner Vernunft der Natur vorschreibt. Insbesondere hat Kant hier zwei Eigenschaften der Natur im Auge, die sich in einer gewissen Regelmäßigkeit des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung einerseits, und einer Art der Ordnung empirischer Begriffe andererseits manifestieren. Diese Regelmäßigkeit kann kein Mensch der Natur vorschreiben. Dennoch hängt die Möglichkeit empirischer Naturerkenntnis von dieser Regelmäßigkeit ab. Ohne sie ließen sich keine empirischen Begriffe bilden, und ohne derartige Begriffe wäre keine empirische Erkenntnis möglich. Dazu heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese bald in jene Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein […] so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden. (KrV A 100)
Diese empirische Synthesis ist aber nichts anderes als das Bilden empirischer Begriffe. Was die zweite Eigenschaft der Natur betrifft, von der die empirische Erkennbarkeit der Natur abhängt, so betrifft diese die Art der Ordnung empirischer Begriffe. Empirische Begriffe sind von mehr oder weniger großer Allgemeinheit, ihre Extensionen sind verschieden groß und befin-
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den sich in Verhältnissen von Teilmengen und Schnittmengen zueinander. Kant ist nun der Auffassung, dass die empirische Einheit der Erscheinungswelt nur dann gewährleistet ist, wenn sich alle empirischen Begriffe letztlich als Spezifikationen eines obersten Begriffs von größtmöglicher Allgemeinheit erweisen und alle empirischen Gesetze als Spezifikationen der reinen Verstandesgesetze. Von dem Erfülltsein dieser Bedingung hängt es ab, ob die erscheinende Natur empirisch als eine erkannt werden kann.28 Dafür, dass diese Bedingungen für die empirische Erkennbarkeit der Natur tatsächlich erfüllt sind, ist unsere empirische Erkenntnis der Natur, mit der wir im Alltag und in den empirischen Wissenschaften zu tun haben, lediglich ein Indiz. Eine endgültige Bestätigung der Annahme, dass diese Bedingung erfüllt sei, ist allein über die empirische Erkenntnis nicht zu erhalten. Denn die empirische Erkenntnis ist niemals vollständig, wir erkennen immer nur Teile der Erscheinungswelt, nicht die dieser zu Grunde liegende Totalität. Auch in den schönen Dingen offenbart sich den Menschen, so Kant, eine Ordnung der Natur, von der die Möglichkeit ihrer empirischen Erkenntnis abhängt. Allerdings ist diese Ordnung für Menschen epistemisch transzendent. Kant definiert die Schönheit als „Form der Zweckmäßigkeit, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird“ (AA V 236). Im Schönen erahnen und erleben Menschen eine Zweckmäßigkeit, deren Zweck für sie jedoch unerkennbar ist. Kant beschreibt das, was sich Menschen im Erleben des Schönen offenbart, auch als „das übersinnliche Substrat der Natur“ (AA V 448). Nun fällt aber aller Widerspruch weg, wenn ich sage: das Geschmacksurteil gründet sich auf einem Begriffe (eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft), aus dem aber nichts in Ansehung des Objekts erkannt und bewiesen werden kann, weil er an sich unbestimmbar und zum Erkenntnis untauglich ist; es bekommt aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann (bei jedem zwar als einzelnes, die Anschauung unmittelbar begleitendes Urteil): weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann. (AA V 340)
Dieses „übersinnliche Substrat“ ist, so Kant, zweckmäßig im Hinblick auf den Zweck menschlicher, empirischer Naturerkenntnis. Und da es nicht den Gesetzen der Erscheinungswelt unterliegt, ist es dem Naturmechanismus entzogen und daher ein möglicher Ort für freies Handeln. Es ist dieses Substrat der Natur, von dem die Erscheinungswelt zum einen und das moralische Reich der Zwecke zum anderen nur Aspekte sind. Von
_____________ 28 Siehe dazu auch AA XX 203/04.
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diesem übersinnlichen Substrat sagt Kant, dass sein „oberste[r] Grund […] in einem ursprünglichen Verstande als Weltursache zu suchen [sei]“ (AA V 410; KU). Hier nimmt er offensichtlich Bezug auf die Welt als Werk, wie Gott es geschaffen hat, und diese Welt verkörpert einen vernünftigen Zweck, sie ist ihrer Struktur nach teleologisch. Nur weil diese Welt so ist wie sie ist, kann der Mensch in Akten der Weltschöpfung der Erscheinungswelt ihre Gesetze vorschreiben und sich selbst als freies Handlungssubjekt in der Welt begreifen. Inkompatibel wie die menschlichen Weltentwürfe miteinander sind, lassen sie sich doch beide als Fenster zum übersinnlichen Substrat der Welt begreifen, die im Hinblick auf menschliche Erkenntnis und auf menschliche Freiheit zweckmäßig ist. Damit sucht Kant die Lösung der Probleme, in die der Mensch in seiner Doppelrolle als theoretischer und moralischer Gesetzgeber gerät, im Rekurs auf ein teleologisches Weltbild, im Rekurs auf das Bild einer Welt, wie Gott sie geschaffen hat und die deshalb die Spuren seines Geistes trägt. Die Frage, wie der Mensch als Erkenntnis- und moralisches Handlungssubjekt in die Welt passe, beantwortet Kant in drei Schritten, die er in den drei Kritiken entwickelt. In dem Rahmen, in dem er diese Frage zunächst für den Menschen als Erkenntnissubjekt und dann für den Menschen als Handlungssubjekt beantwortet, gelingt es ihm, den Anspruch des Menschen auf gewisse Erkennntis zu verteidigen. Mit dieser Verteidigung wird jedoch die Einheit der menschlichen Vernunft sowie der Welt, in der er als Vernunftwesen seinen Ort hat, zum Problem. Um dieses Problem zu lösen, entwickelt Kant in der Kritik der Urteilskraft das Bild einer Welt, die die Form der Zweckmäßigkeit hat. Die Theorie der zweckmäßig verfassten Welt ist jedoch für Kant kein Teil seiner Metaphysik; er behauptet nicht, die Welt in ihrer Totalität sei tatsächlich zweckmäßig. Seine Betrachtung der Welt in ihrer Form der Zweckmäßigkeit erfolgt in der Perspektive des „als ob“29. Er stellt begriffliche Mittel zur Verfügung, um Phänomene zu beschreiben, die als solche einer empirischen Erkenntnis nicht zugänglich sind. Diese Begriffe haben jedoch keine ontologischen Implikationen. Damit gesteht Kant zu, dass der Zweck, im Hinblick auf den die Natur zweckmäßig organisiert sei, letztlich unerkennbar, epistemisch transzendent sei. Obwohl das kantische Verständnis der menschlichen Natur und insbesondere der moralischen Natur des Menschen von demjenigen Smith’ radikal verschieden ist, kommen sie in ihren Versuchen, die Frage, wie der Mensch insbesondere als moralisches Handlungssubjekt in die eine Welt passe, in die Welt, in der er auch als körperliches Wesen beheimatet ist, zu
_____________ 29 AA V 180 u.ö.
Passt der Mensch in die Welt?
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ähnlichen Antworten: Die Welt, in die der Mensch passt, weist eine zweckmäßige, teleologische Ordnung auf, deren Erkenntnis die menschlichen Fähigkeiten übersteigt. Diese Ordnung ist epistemisch transzendent. Der Mensch muss in seinem Selbstverständnis als moralisches Handlungssubjekt darauf vertrauen, dass die Welt, in der er lebt, teleologisch ist. Auf eine gewisse Erkenntnis dieser Ordnung muss er nicht nur Smith, sondern auch Kant zufolge verzichten.
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Aufklärung der Praxis. Kantischer Konstruktivismus in der Ethik Andrea Esser
1. Aufklärung und Kritik Dass man unter „Aufklärung“ ein auf sich selbst bezogenes und insofern „kritisches“ Denken verstanden und sich von diesem den Ausgang aus „einer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ versprochen hat, ist bekannt. Ebenso aber auch, dass man in der Verwirklichung dieses Programms eine gewaltsam, ja sogar totalitär nach Einheit strebende Vernunft am Werke sah und diese im Verweis auf die Heterogenität und Widersprüchlichkeit eines „Anderen der Vernunft“ ihrerseits zu kritisieren suchte. Mit dem Programm der Aufklärung eng verbunden scheint – so oder so – der Begriff der „Kritik“. Freilich wird er von Vertretern und Gegnern in je verschiedener Weise verwendet: das eine Mal positiv, in dem von der Aufklärung selbst angezeigten, produktiven Sinne; das andere Mal negativ, im Verständnis einer scharfen Zurückweisung des aufklärerischen Unternehmens insgesamt. Die negative Kritik hat allerdings, trotz der Heftigkeit, die sie mitunter annahm, nicht zu dem viel beschworenen „Ende der Aufklärung“ geführt. Dies liegt zum einen daran, dass auch die Kritik, wenn denn ihre Überlegungen von anderen nachvollzogen werden sollen, auf einen Vernunftgebrauch angewiesen ist, der explizit in Kontinuität zu dem Vernunftverständnis der Aufklärung steht. Dieser Form der Vernünftigkeit ist auch dadurch nicht zu entgehen, dass man das Programm der Aufklärung selbst deskriptiv wendet und sie nun mehr als Emanzipation „nicht mehr zur Vernunft, sondern von der Vernunft“ (Luhmann 1992, 42) betitelt. Zum anderen eröffnen aufklärerische Theorien durch die Selbstbezüglichkeit ihres Kritikverständnisses die Möglichkeit der produktiven Integration aller Kritik – ganz gleich, ob diese das Resultat eigener oder fremder Einsichten ist. Damit haben sie jeder an sie herangetragenen negativen Kritik voraus, dass sie diese positiv wenden und als „Generator“ einer Entwicklung fruchtbar machen können, die man dann
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als Ganzes ihrerseits wohl wieder mit dem Begriff der „Aufklärung“ bezeichnen muss.1 Dieses Verständnis von „aufklärerischer Kritik“ leitet ferner unweigerlich auf einen normativen Vernunftbegriff. Sowohl theoretische als auch praktische Sätze erweist die kritische Untersuchung als – implizit oder explizit – mit normativen Ansprüchen wie etwa auf Wahrheit bzw. Richtigkeit verbunden, die ihrerseits einer Kritik unterzogen werden müssen. Doch auch diese ist bezüglich ihrer Voraussetzungen und Methoden wiederum an eben diesen Ansprüchen zu messen und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Vernunft, von der in diesem Zusammenhang die Rede ist, ist freilich „kein Objekt unter anderen Objekten“ und bezeichnet auch keine gegebene Eigenschaft oder Disposition – weder denkender Subjekte noch sozialer Systeme oder Institutionen. Sie ist – sofern zugleich Gegenstand, Instrument und Maßstab der Kritik – ein sich nunmehr reflexiv und prozesshaft konkretisierender, regressiver Analyse zugänglicher „Funktionsbegriff“2 (vgl. Cassirer 1990, 7ff.). Dessen Bedeutungsbestimmung steht wiederum selbst der Kritik offen und kann daher an die Selbstentfaltung der Aufklärung angeschlossen werden. Mit dieser Figur der reflexiven Selbstbegründung treten Verfahren der Begründung ihrerseits in den Stand eines normativen Fundaments und verbinden sich so mit dem Widerstand gegen alle Versuche, die Vernunft zu substantialisieren oder ihre normative Dimension zu neutralisieren. Diese sich selbstbezüglich organisierende und normierende Theorieanlage werde ich im Folgenden als „konstruktiv“ bezeichnen. Die Eigentümlichkeiten des Titels – die Kombination des „Kantischen“ mit dem „Konstruktivismus“ – versuche ich im ersten Teil des Textes noch ein wenig aufzuklären. Das skizzierte Verständnis von Aufklärung und Konstruktion ist im Gebiet der Praktischen Philosophie keineswegs selbstverständlich, dafür aber folgenreich. Ich möchte dies an drei Überlegungen der kantischen Ethik im zweiten Teil des Textes vorführen. Hierzu sei noch eine Vorbemerkung gegeben: Die Strukturen sowohl unseres gesell-
_____________ 1 „Negative“, auf bloße Destruktion gerichtete Kritik ist, mit Hegel gesprochen, auf Grund ihrer Negativität letztlich nur ein „trauriges Geschäft“ (vgl. Hegel 1986, § 268). An die philosophische Kritik ist mit Hegel dagegen der Anspruch zu richten, nicht nur destruktiv zu wirken, sondern „die Eingeschränktheit einer Gestalt aus ihrer eigenen Tendenz nach vollendeter Objektivität zu widerlegen und sie damit zu ihrer Eigenen Wahrheit“ zu bringen“, also den wahren Gehalt eines Gedankens oder einer Argumentation herauszuarbeiten und zu bewahren, um einen produktiven Beitrag zur Weiterentwicklung des kritisierten Gedankens zu leisten. (Vgl. Hegel 1986, § 268) 2 Irrtümlicherweise sahen darin manche Autoren eine Depotenzierung der Normativität der Vernunft; vgl. etwa Vogel 2001, 52.
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schaftlichen Lebens als auch unseres wissenschaftlichen Denkens haben sich seit Kant weiter aufgeklärt und dabei verändert. Deshalb ist es auch der Ethik zuzumuten, dass sie sich, wenn auch in Kontinuität zu bereits verfügbaren Einsichten, ihrerseits weiterentwickelt: in der Auseinandersetzung mit Entwicklungen und Ergebnissen aller Bereiche des Lebens und der Wissenschaften. Auch unter dieser Bedingung halte ich vor allem die Einsichten Kants zur Freiheit, ferner auch zum Inhalt des moralischen Urteils und schließlich zu den Realisierungsbedingungen des Guten für unhintergehbar und der Weiterentwicklung fähig – und zwar zur Lösung von Problemen der gegenwärtigen Ethik. 1.1. Der kantische Konstruktionsbegriff im engeren und weiteren Sinne Dass diese Weiterentwicklung in einem von mir als „Konstruktivismus“ bezeichneten Rahmen vollzogen werden soll, mag freilich verwundern. Hat Kant selbst doch das Verfahren, durch „Konstruktion“ zu Erkenntnissen zu gelangen explizit der Mathematik zugeschrieben. Konstruktion im Zusammenhang der Mathematik bedeutet: „Darstellung eines Begriffs durch die (selbstthätige) Hervorbringung einer ihm correspondirenden Anschauung“ (AA VIII 191). Die Philosophie dagegen ist, so liest man in der Kritik der reinen Vernunft, „Vernunfterkenntnis aus Begriffen“ (vgl. AA III 541). Freilich müssen sich auch philosophische Erkenntnisse mit Anschauungen verbinden lassen, denn um die „Realität unserer Begriffe darzuthun, werden immer Anschauungen erfordert“ (AA III 541). Doch ist „die objective Realität der Vernunftbegriffe […] nicht in einer Anschauung zu belegen […], weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann“ (AA V 351). Vernunftbegriffe können gleichwohl indirekt zur Darstellung gebracht werden, und zwar in der analogischen Darstellungsform. Kant gibt eine Probe dieses Verfahrens für praktische Begriffe in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten: So wie wir nun in der reinen Mathematik die Eigenschaften ihres Objects nicht unmittelbar vom Begriffe ableiten, sondern nur durch die Construction des Begriffs entdecken können, so ists nicht sowohl der Begriff des Rechts, als vielmehr der unter allgemeine Gesetze gebrachte, mit ihm zusammenstimmende durchgängig wechselseitige und gleiche Zwang, der die Darstellung jenes Begriffs (der des Rechts; Erg. d. Verf.) möglich macht. Dieweil aber diesem dynamischen Begriffe noch ein bloß formaler in der reinen Mathematik (z. B. der Geometrie) zum Grunde liegt: so hat die Vernunft dafür gesorgt, den Verstand auch mit Anschauungen a priori zum Behuf der Construction des Rechtsbegriffs so viel möglich zu versorgen (AA VI 233).
Kant betont die Analogie dieses Darstellungsverfahrens zum Verfahren der Darstellung durch Konstruktion in der Mathematik und unterstreicht
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diesen Zusammenhang auch durch weitere Beispiele für Darstellungen von Rechtsverhältnissen, die via Analogie zu geometrischen Verhältnissen gewonnen wurden. Mit diesen Analogiebildungen bekräftigt die Rechtslehre ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Etwa wenn sie vorgibt, dass sie „das Seine einem jeden (mit mathematischer Genauigkeit)“ (AA VI 233) zu bestimmen vermag, was man freilich von der Tugendlehre auf Grund des Spielraums, den ihre Gebote der Verwirklichung lassen müssen, nicht erwarten kann. Als „konstruktiv“, soviel lässt sich nun wohl sagen, wird in dem hier skizzierten Zusammenhang von Kant allein das Verhältnis von Begriffen zu ihren entsprechenden Darstellungen sowie zu den dadurch möglichen Erkenntnissen charakterisiert. Dieses Verfahren findet seine Grenze, wie ja Kant auch selbst betont, an der Verwirklichung von Ethik- und Tugendpflichten. Tugendmaximen lassen einen Spielraum, denn sie geben nicht an, durch welche konkreten Handlungen sie „zur Darstellung“ kommen. Und gewiss lassen sich auch die politischen Maßnahmen, die zur Realisierung bestimmter Rechte zweckmäßig sind, nicht durch mathematische Konstruktion gewinnen. Daher ist es sogar missverständlich, wenn man, wie John Rawls, den Konstruktionsgedanken allzu stark am Vorbild der Mathematik ausrichtet und meint, man könne auf seiner Grundlage zu einer „moralischen Geometrie“ (Rawls 2001, 133) gelangen. In allen diesen Fragen verweist uns Kant vielmehr auf die von ihm selbst weniger beachtete „moralische Urteilskraft“. Sie übernimmt im Bereich des Praktischen die Funktion, die dem Konstruktionsverfahren in der Mathematik zukommt. 3 Unabhängig von Kants Begrenzung des Konstruktionsbegriffs lässt sich aber der kantische Theorieansatz insgesamt und in einem weiten Sinne als „konstruktiv“ verstehen, was ich durch das Folgende näher hin erläutern möchte. In meinen Augen führt bereits die Frage nach den formalen Bedingungen der Möglichkeit, sei es unserer Erkenntnis sei es unserer Praxis, zu einer „konstruktiven“ Theorieanlage: Und zwar weil sie nur in einer Theorie hinreichend beantwortet werden kann, die zugleich mit ihrer normativen Grundlage und ihren kritischen Maßstäben sogar ihre Untersuchungsgegenstände erst eigens bestimmen und begründen muss.
_____________ 3 „[…] was zu thun sei, kann nur von der Urtheilskraft nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen), […] entschieden werden“ (AA VI, 433 Anm.). Die Urteilskraft kalkuliert die Möglichkeiten, die im konkreten Fall zur Verfügung stehen, um eine ethische Maxime umzusetzen. Sie reflektiert unter ethischen Maßgaben, und das bedeutet: die Klugheit, von der in diesem Zusammenhang die Rede ist, richtet sich auf eben die Realisierungsmöglichkeiten einer Maxime, die ethisch vertretbar und rechtlich erlaubt sind.
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Diese Theorie lässt sich keines dieser Momente als „gegeben“ vorsetzen. Als „gegeben“ darf nur gelten, was in seinen Bedingungen rational eingesehen und entwickelt werden kann. Umgekehrt und in der Konsequenz werden sogenannten „theoretisch-unschuldigen“ Voraussetzungen oder Unterscheidungen keine Geltung zugebilligt. Dieses Verständnis von „Konstruktivität“ scheint sich auch für die Ethik in den Einsichten der kantischen Theorie selbst nachweisen zu lassen. So werden darin weder die Orientierung am Guten, noch das – wie auch immer geartete – Wissen über es als bloße Entfaltung bereits „gegebener“ Anlagen begriffen. Beides geht vielmehr als ein Produkt aus der Möglichkeit hervor, auch unser Wollen reflektieren zu können: Genauer: aus der Möglichkeit, uns selbst und unser Verhältnis zu anderen nicht nur zu betrachten, sondern auch nach begründeten – insofern vernünftigen – Maßstäben zu bestimmen und das Verhältnis so – zumindest partiell – neu zu entwerfen. Diese konstruktive Weiterentwicklung der kantischen Einsichten steht einerseits in Kontinuität zu dem eingangs skizzierten normativen Verständnis von Aufklärung; sie betont darüber hinaus noch den Gedanken, dass jedem unserer Entwürfe, sowohl der Entwürfe unseres Selbstverhältnisses als auch der unseres Verhältnisses zu anderen, nur im aktiven Vollzug unseres Handelns und in einer gelingenden Praxis zur Wirklichkeit verholfen werden kann. Unser diesbezügliches Handeln ist keineswegs zum Scheitern verurteilt, denn die Entwürfe der Vernunft stehen gar nicht jederzeit in Opposition zur beobachtbaren Wirklichkeit. Sie sind bereits, wie etwa unser Rechtssystem beweist, subtil mit der Lebenswelt verwoben und können darin kritisch fortentwickelt werden. Für diese Fortentwicklung ist einem konstruktiven Ansatz schon aus pragmatischen Gründen der Vorzug zu geben, denn: „[o]b es nun objektiv gültige Grundsätze der Moral gibt oder nicht, die Annahme, es gäbe sie, ist eine zweckmäßige Fiktion im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung um eine vernünftige und konsensfähige Rechtspolitik“ und Ethik (Koller 1992, 52).
2. Der Konstruktionsbegriff in der Ethik In dem folgenden Teil möchte ich an drei zentralen Fragen der Ethik exemplarisch vorführen, dass mir eine solche Weiterentwicklung der anfangs genannten kantischen Einsichten geboten und auf welche Weise mir die „Aufklärung der Praxis“ in dem oben genannten Sinne möglich erscheint, nämlich: 1) hinsichtlich der Frage nach der menschlichen Freiheit, 2) hinsichtlich der Frage des Gegenstandes moralischer Beurteilung und
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3) hinsichtlich der Frage nach den Realisierungsbedingungen ethischer Ansprüche. 2.1. Die menschliche Freiheit und die empirischen Wissenschaften Die Ethik befasst sich mit einem Gebiet, in dem „alles auch anders sein kann“ – in dem wir das, was ist, durch unser Handeln gestalten und umgestalten, es prägen und uns so in ihm zur Geltung bringen können. Die Annahme liegt daher ganz nahe, dass in unserem herstellenden und verändernden Handeln ein Selbstverständnis der Freiheit zum Ausdruck kommt. Doch nichts scheint gerade angesichts unserer – gegenwärtig stetig voranschreitenden, wissenschaftlich gut begründeten – Einsichten in unsere Bedingtheit ferner zu liegen, als ein naiv-emphatisches, in einem schlechten Sinne abstraktes Freiheitsverständnis. Wir wissen immer mehr um unsere Bedingtheit durch den Körper, durch die Gene, durch psychosoziale Determinationen, durch wirtschaftliche Zwänge. Deshalb meinen wir umgekehrt, immer weniger Freiheit beanspruchen zu dürfen – gerade soviel noch, als uns die empirischen Wissenschaften lassen, wenn sie uns die verschiedenen Gesetze zu erkennen geben, die unser Handeln determinieren. Deshalb meinen wir also, dass uns die Unfreiheit in Gestalt der empirischen Wissenschaften immer mehr „auf den Pelz rückt“. Dieser Zweifel an unserer Freiheit, der gar nicht so neu ist, wie es scheinen mag, sondern der nur durch Erkenntnisse neuer wissenschaftlicher Forschungsfelder wieder aufs Neue entfacht ist, dieser Zweifel also hat auch schon insofern manifeste Wirkungen entfaltet, als wir das Wissen um unsere vermeintliche Unfreiheit auch in unsere alltäglichen Selbstbeschreibungen aufgenommen haben. Die Einsichten in genetisch begünstigte und, evolutionär betrachtet, vielleicht sogar nützliche Triebe und Verhaltensmuster (sei es der Aggression, der Angst, der Täuschung oder der Promiskuität), werden gerne in strategischen Schlüssen dazu herangezogen, um von unangenehmen, und wegen dieser Vorprägungen scheinbar gar nicht mehr statthaften, moralischen oder rechtlichen Ansprüche zu befreien. Festzuhalten ist aber folgendes: Wir erfahren und erkennen, dass wir in vielerlei Hinsicht „bedingt“ sind. Viele unserer Merkmale, Vorlieben und Beziehungen sind das Resultat von Prägungen und Festlegungen verschiedenster Art. Deren Genese und Gesetzmäßigkeit erkennen die Forschungen der empirischen Wissenschaften. Doch dieses Erkennen selbst ist eine zweckgerichtete, bewusste Tätigkeit. Ihm wohnt eine „ursprünglich bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft inne“, wie Ernst Cassirer einmal formuliert hat (Cassirer 1994, 9). So gesehen denken wir
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also nicht bloß über die Welt „nach“, bilden sie nicht ab, sondern schaffen im Denken und Erkennen die Welt, schaffen „Versionen der Welt“, so Nelson Goodman. Theoretisch wie praktisch „entwerfen“ wir in einem gewissen Sinne die Welt, auf die wir uns beziehen, über die wir sprechen und in der wir leben. Cassirers Terminus der „symbolischen Formung“ soll genau diesen engen und konstruktiven Wechselbezug von Denken und Handeln, Darstellen und Erkennen zum Ausdruck bringen. Es kann damit – und darin liegt der ungeheure Gewinn der Überlegung – auf einen Begriff gebracht werden, was sich in den verschiedenen Bereichen und zu den verschiedenen Zeiten der menschlichen theoretischen wie praktischen Produktion unterscheidet, aber gleichwohl in dem einen Begriff der „symbolischen Form“ übereinstimmt. Die Erkenntnis und das Bild von der Welt, vom Menschen, vom Leben und sogar vom Tod, verändern sich so im Laufe der Geschichte und nehmen – freilich nicht „hinter unserem Rücken“, sondern in Abhängigkeit von geistes- und naturwissenschaftlicher Forschung – verschiedene Gestalten an. Als Erkannte aber können die verschiedenen Gestalten, können auch die darin erscheinenden Prägungen und Gesetze unseres Daseins von uns distanziert werden: Wir können erkennend ihre unmittelbare Wirkung auf uns brechen, uns zu ihren wissenschaftlich handelnd verhalten und die Erkenntnisse und Handlungsresultate des Forschens wiederum in den Prozess des Denkens und Forschens aufnehmen und weiteres Denken und Handeln darauf gründen. Wir können uns in unserem Denken und Handeln auf uns selbst beziehen. Nicht die uns bedingenden Faktoren, sondern „wir“ sind es damit, die auf Grund dieser Möglichkeit zum Selbstbezug erkennend, handelnd, modifizierend, negierend und affirmierend in die Bedingungsverhältnisse, in unsere Bedingungsverhältnisse und damit in die Welt eingreifen – gesetzt, dass wir es auch wollen. Denn: Erkenntnis und Aufklärung dieser Art sind nicht allein eine theoretische Angelegenheit. Kants berühmtes „sapere aude!” betont nur allzu deutlich, dass der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit – und in unserem Zusammenhang könnte man sagen: der selbstverschuldeten Unfreiheit – mit einer „Entschließung” beginnt, mit einer aktiven Willensbestimmung. Denken und Wollen, Erkennen und Handeln stehen demnach gar nicht als disparate Sphären bezugslos einander gegenüber, sondern gründen beide auf der Möglichkeit zum Selbstbezug. Wird nun als „Praxis“ all das bestimmt, „was durch einen Willen möglich vorgestellt wird“, wie Kant es in der Einleitung zu seiner Kritik der Urteilskraft formuliert, so muss man ergänzen: was durch einen der Selbstbeziehung fähigen und insofern freien Willen möglich vorgestellt wird. Nur diesen Gedanken benötigt die Ethik, um ihr Arbeitsfeld abzustecken, und nur
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mit dieser Freiheitsunterstellung operiert sie, wenn sie das Wollen mit einem Anspruch konfrontiert. Mag es auch auf den ersten Blick so scheinen, als ob Einsichten in die Kontextbezogenheit und faktische Genese des Handelns es als vollständig bedingt erweisen. So schließt doch der Umstand, dass die Gegebenheiten der Wirklichkeit dem Handeln tatsächlich Antriebe liefern, nicht aus, dass wir uns zu diesen Antrieben als Erkennende und Handelnde bewusst ins Verhältnis setzen können. Die zunehmenden Einsichten in die eigenen Bedingtheiten belegen dies geradezu; denn sie sind die Ergebnisse eines Erkenntnisprozesses, der gerade dadurch ausgezeichnet ist, dass die Erkennenden von den erkannten Bedingtheiten in gewissem Sinne immer auch frei sind. Daher gilt sogar a fortiori: Je mehr wir über unsere Bedingtheiten wissen und sie unserem Denken verfügbar machen können, desto eher können wir sie willentlich kontrollieren, desto freier werden wir.4 Die durch die empirischen Wissenschaften hervorgebrachten Einsichten in die kausale Bedingtheit unseres Handelns machen so gesehen weder die Fragen der Ethik überflüssig, noch können sie als Gründe angeführt werden, dass die Freiheit, die für die Realisierung unserer Praxis angenommen werden muss, nicht denkbar ist. Im Gegenteil: Es ist zu konstatieren: Anstatt dass uns die empirischen Wissenschaften „auf den Pelz rücken“, uns „einengen“ und Handlungsmöglichkeiten nehmen, vermehren dieselben unsere Handlungsmöglichkeiten vielmehr und machen die Welt gar nicht einfacher, sondern sogar komplexer und erhöhen damit den Bedarf an philosophischen Einsichten zur Erklärung und Orientierung in der Welt. Die durch diese Entwicklung aufgeworfenen Entscheidungsnöte – man denke nur an die Resultate der pränatalen Diagnostik, der genetischen Forschung oder der Neurowissenschaften – entlasten nicht etwa vom Nachdenken, sondern erzwingen weitergehende insbesondere ethische Reflexionen. Auch die Herausforderungen eines immer komplexer werdenden Wissens sind nur durch jenen Selbstbezug, durch Denken und Reflexion zu meistern. Statt sich mit der schlechten Alternative abzumühen: „Ist der Mensch frei oder nicht?“, sollte man besser einsehen: Es gibt „die Freiheit“ nur, wenn wir von dieser unserer Möglichkeit zur theoretischen wie praktischen Selbstorientierung Gebrauch machen, wenn wir tatsächlich unter der Idee unserer Freiheit handeln und sie dadurch verwirklichen.
_____________ 4 Vgl. Karl Mannheim: „Daher das Paradoxe dieser Erlebnisse, daß die Chance einer relativen Befreiung von der Determiniertheit sich mit der Einsicht in diese Determiniertheit proportional vergrößert.“ (Mannheim 1978, 43)
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2.2. Die menschliche Freiheit als Aufgabe Diese Überlegungen schlagen, wenn man der konstruktiven Methode konsequent folgt, auch auf das Verständnis der „autonomen Person“ und des „Selbst“ durch. Beide können dann auch nicht mehr als „gegeben“ vorausgesetzt werden, wie dies in anderen Versionen eines „Kantischen Konstruktivismus’“ der Fall ist. Rawls etwa wendet das Verfahren der Konstruktion nur an, um „eine geeignete Verbindung zwischen einem bestimmten Begriff der Person und obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen herzustellen“ (Rawls 1994, 82), nicht aber, um die dabei vorausgesetzten Begriffe (wie den der Autonomie oder der rationalen Person) selbst konstruktiv zu entwickeln.5 Auch der „behutsame Konstruktivismus“ von Onora O’Neill (vgl. O’Neill 1996, 68) versteht unter „Konstruktion“ nur das „Aufbauen auf möglichst soliden Überlegungen“. Dazu nimmt diese Theorie ihren Ausgang nicht von Idealisierungen, sondern von Annahmen, die per Abstraktion aus der empirischen Wirklichkeit gewonnen werden. Entsprechend steht die „vernünftig handelnde Person“ als ein vermeintlich empirisch vorliegendes Faktum außerhalb des konstruktiven Verfahrens. Erst dann werden „verfügbare und nachvollziehbare Methoden“ entworfen, „um für relevante Adressaten erreichbare und tragbare Schlussfolgerungen zu ziehen“ (O’Neill 1996, 88). Diese „behutsame“ Form wie auch der „Kantische Konstruktivismus“ von Rawls sind trotz struktureller Verwandtschaft dennoch von einem Konstruktivismus, der sich selbst und seine Voraussetzungen vollständig der kritischen Reflexion unterstellt, zu unterscheiden. Beide Versionen eines „Kantischen Konstruktivismus“ werden letztlich dem eigenen Anspruch nicht gerecht, die Prinzipien der Praktischen Vernunft als „self-originating“ abzuleiten. Letzteres aber hat, wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, auch Kant selbst nicht zur Gänze durchgeführt. Sein Konzept der Autonomie räumt den Schein nicht aus, dass die Person und das Selbst der Ethik bereits „vorhanden“ seien und sie (wie übrigens in Rawls’ Konzeption auch) das Sittengesetz nur noch „aus sich selbst schöpfen müssten“, um sich dann in der moralischen Handlung zu verwirklichen. Hermann Cohen sah genau darin den „Fehler Kants“: Dieser habe nicht deutlich herausgearbeitet, dass als Autonomie nur eine „Gesetzgebung zum Selbst“ zu verstehen sei, dass der gesetzliche Zusammenhang allein das Selbst erzeuge. Mit Cohen ist die vollständige Durchführung des Konstruktionsgedankens für die Ethik einzuklagen: Autonomie ist keine Fähigkeit, Disposition oder Eigenschaft vernünftiger Wesen, wie man es heute vielleicht formulieren
_____________ 5 Vgl. dazu auch Forst 1994, 284.
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würde, sondern muss als „schöpferische Freiheit“ gedacht werden. „Das Ich der Ethik“, so Cohen, bleibt dabei „Aufgabe“, ist „weder Substanz noch Grund des Gesetzes“. Es sei die Psychologie, die in den Schein verlocke, dass „das Ich als eine wirkliche Potenz fix und fertig vorhanden“ sei (Cohen 1981, 343). Tatsächlich aber ist das Selbst oder die autonome Person in keiner noch so idealen Weise unabhängig oder „vorher“ vorhanden, weshalb von ihm – so müsste man gegen Rawls und O’Neill einwenden – auch nicht abstrahiert werden kann. Der Begriff des Selbst und der Person sind zwar Abstrakta, dies aber in dem Sinne, dass sie nur innerhalb von ihrerseits legitimationsbedürftigen, autonomen Systemen (wie der Moral und dem Recht) ihre Bedeutung erlangen und nur unter deren Voraussetzung in der dann autonom zu nennenden Handlung „entstehen“. 2.3. Der Inhalt der moralischen Beurteilung Von der Ethik erwartet man nachvollziehbare und anwendbare Orientierungen, nach denen wir unter wechselnden Umständen die Verfolgung von Zielen organisieren können. Nie haben wir nur eines und selten sind die Ziele für alle dieselben. Dieser Umstand legt den formalen Gedanken nahe, dass allein das, was es uns ermöglicht, überhaupt Ziele und Zwecke setzen zu können – die Möglichkeit zur Selbstbestimmung – zu den Bedingungen zählt, auf die wir in der Ethik unter gar keinen Umständen verzichten können. Deren Sicherung muss gleichsam zum Programm erhoben werden. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung wäre so – normativ gewendet – die oberste Bedingung aller möglicher Handlungsgründe, durch die eine Vielzahl alternativ möglicher Handlungsgründe ausgeschlossen wird. Und die Gleichheit aller Handelnden hinsichtlich dieser Möglichkeit zur Selbstbestimmung wäre eine ethische Forderung, die sich daraus ableitet – ebenso wie die Überlegungen, dass alle Personen als „Zwecke an sich selbst“ angesehen und dass Verhältnisse zwischen Personen geschaffen werden sollen, die autonome Gesetze zur Darstellung bringen. Sollen ethische Grundsätze, die von diesen Gedanken ausgehen, zur Anwendung kommen, so ist klar, dass man auch den Bereich kennzeichnen muss, in dem mit Recht „moralische Qualitäten“ zugeschrieben werden können. Es ist weder selbstverständlich noch gleichgültig, ob man Handlungen, Handlungsfolgen, Handlungsmaximen oder Handlungsabsichten zum Inhalt moralischer Beurteilung erhebt. Der Maßstab moralischer Bewertung wie auch das Ergebnis derselben sind fraglos immer nur als Momente des Urteilsprozesses „gegeben“. Ebenso verhält es sich aber auch mit dem, was zur Beurteilung ansteht: Auch der Urteilsgegenstand
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der moralischen Beurteilung liegt nicht als „gegeben“ vor. Denn: Wie ein konkreter Handlungszusammenhang in moralischer Hinsicht letztlich bewertet wird, hängt wesentlich davon ab, auf welche Weise dieser Zusammenhang und die mit ihm verfolgten Zwecke beschrieben oder besser: dargestellt werden. Hier wird schnell deutlich, dass es unerlässlich ist, eine adäquate Darstellung der mitunter recht komplexen Handlungswirklichkeit zu garantieren. Auch in diesem Punkt scheint mir eine Weiterentwicklung der kantischen Theorie dringend geboten. Kant selbst hat sich diesem Thema nur andeutungsweise gewidmet. Das moralisch relevante Problem dabei ist nämlich: Wenn es einer Person – etwa dank effektvoller Mittel der Rede – gelingt, ihre Darstellung eines Handlungszusammenhangs als die richtige durchzusetzen, kann sie allein dadurch schon einen Vorteil im gesellschaftlichen Wettbewerb um Positionen und Einfluss auf andere erlangen. Der Grund hierfür ist folgender: Jede Darstellung – insbesondere jede sprachliche – zeichnet ein bestimmtes Bild unseres Handelns, und über diese Bilder findet alle moralische Kommunikation statt. Die Medien der Darstellung aber legen regelmäßig den Schluss nahe, die Dinge verhielten sich auch in Wirklichkeit so, wie sie dargestellt erscheinen. So ist es etwa denkbar, dass eine Person oder Institution anerkannte moralische Werte im Allgemeinen und in diesem Sinne „abstrakt“ propagiert, das tatsächlich davon abweichende eigene und konkrete Handeln aber durchweg so beschreibt, dass es diese Werte erfüllt. Die moralische Beurteilung kann durch derart zugerichtete Darstellungen nahezu vollständig korrumpiert werden. Dies ist für jede Ethik ein unlösbares Problem, die den konstruktiven Charakter schon der Beschreibung und Darstellung ihres Inhaltes nicht reflektiert oder die dabei zugrunde gelegten Interpretationsperspektiven nicht thematisiert. In der moralischen Reflexion darf jedoch nicht zwischen Beschreibung und Beurteilung getrennt werden, als ob eine „neutrale“ Beschreibung möglich wäre. Jede Beschreibung ist immer das Resultat oder Produkt bestimmter Methoden – insofern auch Resultat theoretischer Setzungen und der in ihnen wirksamen Wertungen. Diese Einsicht stammt zwar nicht aus dem Gebiet der Ethik, wohl aber sollte ihr dort mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Denn auch der Inhalt der moralischen Beurteilung „entsteht“ erst, wenn ein Geschehen als Handlungszusammenhang und unter bestimmten moralischen Maßgaben beschrieben wird. Kant hat den „konstruktiven Charakter“ auch des Inhalts der moralischen Beurteilung zwar erkannt, aber uns in dieser Frage auf ein Generalisierungsverfahren verwiesen. So steht gemäß der kantischen Ethik die „Maxime“ – der „subjektive Grundsatz“, oder – wie im Recht – die Handlungsmaxime oder Vorsatz, die beide aus einer Vielzahl von Handlungen gewonnen werden müssen, zur moralischen Beurteilung an. Doch dieses
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Verfahren blendet gerade die Umstände und Besonderheit der jeweils konkreten Handlung aus und so bleibt unklar, wie wir auf dieser Grundlage zu einer prägnanten Darstellung unseres tatsächlichen Handelns gelangen sollen. Wenn wir sowohl den konkreten Umständen als auch der Komplexität unserer Handlungswirklichkeit gerecht werden wollen, so müssen die besonderen Umstände der jeweiligen Handlung auch in der Darstellung Berücksichtigung finden, selbst wenn umgekehrt aus den formalen Forderungen der Ethik keine konkreten Handlungsanweisungen und Rezepte gefolgert werden können. Den Gedanken, dass auch der „Gegenstand“ bereits Inhalt der moralischen Beurteilung und damit Resultat eines kritisch zu reflektierenden Urteilsprozesses ist, möchte ich Ihnen kurz an einem Beispiel aus der Sphäre des Rechts verdeutlichen. Auch unser Rechtssystem schützt allgemeine Werte wie zum Beispiel die subjektive Wahrhaftigkeit. Interessanterweise tut es dies nicht, indem es einfach verbietet „zu lügen“. Vielmehr finden sich formale Bestimmungen, welche Aussagen jeweils rechtsrelevant sind und als „arglistige Täuschung“ im Sinne des § 123 BGB beurteilt werden müssen. Nehmen wir einen konkreten Fall: Liegt „arglistige Täuschung“ vor, wenn bei einem Einstellungsgespräch die Frage des Arbeitgebers nach einer Schwangerschaft verneint wird, obgleich die Bewerberin zu dem Zeitpunkt nachweislich wusste, dass sie schwanger ist? Obwohl sie – umgangssprachlich ausgedrückt: „gelogen“ hat? Ist der danach geschlossene Vertrag deshalb anfechtbar? § 611a BGB a. F. (das sog. Benachteiligungsverbot) und das nun geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das die europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien umsetzen, verbieten die Benachteiligung einer schwangeren Bewerberin, und verbieten damit auch die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft. Das Bundesarbeitsgericht hat im Urteil vom 06.02.2003 (2 AZR 621/01) daher der Klage einer Arbeitnehmerin gegen ihre Entlassung mit folgender Begründung stattgegeben: Erstens ist bereits die Frage gemäß § 611a BGB a. F. bzw. §§ 2 Abs. 1, 12 AGG unzulässig. Und: Sie musste daher zweitens auch nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden, so dass insgesamt keine „arglistige Täuschung“ vorliegt und der Arbeitsvertrag weiter Bestand hat. Was ich mit diesem Fall herausstreichen möchte, ist folgendes. Nicht lautet das Ergebnis: Es liegt „arglistige Täuschung“ vor, aber sie ist unter diesen Umständen erlaubt oder als verzeihlich zu bewerten, sondern das Ergebnis lautet: Es liegt keine „arglistige Täuschung“ vor. Analoges gilt, so meine ich, für Darstellungen im Rahmen einer moralischen Reflexion. Wenn wir eine bestimmte Sprachhandlung als „Lüge“ klassifizieren, dann haben wir bereits bestimmte Kriterien zur Anwendung gebracht. Wir beschreiben eine konkrete Handlung unter bestimmten Umständen als Lüge und bringen damit zugleich zum Ausdruck, was wir
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unter einer „Lüge“ verstehen. Es scheint mir jedoch widersinnig, diese Handlung danach nun als eine „erlaubte“ oder „verzeihliche“ oder „verwerfliche“ Lüge zu beurteilen. Auch die Überlegung, es sei ja möglich, eine Lüge als eine „Lüge in diesen-und-jenen-Umständen“ zu beschreiben, könnte m.E. zu einer missverständlichen, ja sogar falschen Darstellung führen. Denn sprachliche Kreationen wie die „Notlüge“ oder die „Fromme Lüge“ sind hoch suggestiv: Sie legen nahe, es gäbe „die Lüge“ unabhängig von den Umständen und der Beurteilung, und es gäbe andererseits Umstände, wie etwa „die Not“, die sie „dann“ aber legitimieren könnte. Wenn wir hingegen unsere moralische Reflexion immer auf die konkreten Umstände bezogen vollziehen, dann ist eine Handlung unter den konkreten Umständen entweder eine Lüge oder sie ist eben keine! – letzteres ist dann der Fall, wenn wir in der moralischen Reflexion zu dem Ergebnis gelangen, dass unter diesen konkreten Umständen keine – in unserem Zusammenhang nun: moralische – Pflicht zu einer wahrheitsgemäßen Aussage besteht. Das bedeutet: Es lässt sich nicht „die Lüge“ als Handlung unabhängig von den Umständen identifizieren, noch lässt sich umgekehrt aus der moralischen Forderung nach Wahrhaftigkeit schon ableiten, in welchen konkreten Handlungen diese verwirklicht werden kann! Das ethische Verbot: „Du sollst nicht lügen“ ist vor diesem Hintergrund „abstrakt“ im schlechten Sinne; das Lügeverbot substantialisiert die Lüge. Und dadurch suggeriert es, die Identifizierung einer Handlung als Lüge sei eine Frage der Beschreibung und das moralische Gebot sei insofern eine klare Handlungsanweisung, als lediglich die Ausführung des Aktes unterlassen werden müsse. Die Aufgabe und Leistung der Ethik besteht aber nicht allein in der Bereitstellung von Kriterien zur moralischen Beurteilung scheinbar gegebener Sachverhalte. Die Ethik darf sich auch diese nicht vorgeben lassen, sondern muss bei jeder der ihr vorgelegten Darstellungen kritisch auf die darin bereits angewandten Paradigmen reflektieren und diese Bedingungen offenlegen. Nur dann kann sie die Komplexität der Sachverhalte und die Komplexität der Erkenntnis der Sachverhalte gegen Reduktionen in Schutz nehmen, damit nicht etwa eine partikulare Wahrheit für die ganze Wahrheit ausgegeben wird. Die Handlungsumstände haben in der moralischen Reflexion schon in der Darstellung einen konstitutiven Anteil. Sie müssen berücksichtigt werden, und die Fähigkeit, ihre Bedeutung jeweils richtig zu bestimmen, sie in der jeweiligen Darstellung richtig auszudrücken oder vorgelegte Darstellungen kritisch zu prüfen, ist eine unerlässliche Leistung der „moralisch reflektierenden Urteilskraft“. Deren Rolle kann gerade in der sogenannten Angewandten Ethik gar nicht überschätzt werden. Sie muss der Abstraktheit des ethischen Allgemeinplatzes, der (im Hegel’schen Sinne) schlechten Abstraktheit und der Bedeutungs-
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leere allgemeiner Werte entgegenwirken. Ihnen muss man die Autonomieforderungen in Recht und Ethik entgegenhalten und dabei unmissverständlich klar machen, dass auch vermeintlich von allen geteilte Werte (wie etwa der des „Lebens“) niemals unmittelbar die Durchsetzung bestimmter, diesen Wert scheinbar realisierender Handlungen legitimieren können. Letzte normierende Instanz kann immer nur das formale Prinzip der Selbstbestimmung und eine auf seiner Grundlage durchgeführte Reflexion der moralischen Urteilskraft sein.
3. Die Realisierungsbedingungen des Guten Um der Kontextualität und Komplexität unserer praktischen Verhältnisse und unseres konkreten Handelns gerecht zu werden, ist – so mein Vorschlag nun – der Inhalt der moralischen Beurteilung als ein struktureller Zusammenhang darzustellen. Dies scheint mir nicht zuletzt auch notwendig, um Personen und Institutionen gleichermaßen Verantwortung zuschreiben zu können – auch im Bereich des Nichtjustiziablen und: unabhängig von den psychologischen Absichten der Handelnden. Denn wenn wir eine moralische Reflexion anstellen, wollen wir meines Erachtens nicht ausschließlich das psychische „Innenleben“ einer Person in Erfahrung bringen, sondern etwas anderes: Wir wollen prüfen, was eine konkrete Handlung oder Maßnahme unter den gegebenen Umständen in moralischer Hinsicht „bedeutet“. Dazu versuchen wir herauszufinden, welche moralischen Überzeugungen und Werte das jeweils wahrgenommene oder dargestellte Handeln zum Ausdruck bringt und in die Welt setzt – beziehungsweise welche Normen darin missachtet werden. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens stütze ich mich auf eine Analogie zwischen sprachlicher Bedeutung und der gesuchten moralischen Bedeutung. Zunächst wieder ein Beispiel: Bei einer sprachlichen Äußerung fällt das Verstehen der Bedeutung weder mit dem Verstehen der Intention des Sprechers zusammen, noch liegt die Bedeutung in dem, was der Hörer zu verstehen meint. Das Verstehen ihrer Bedeutung ist vielmehr das Erfassen ihres, der subjektiven Beliebigkeit entzogenen, propositionalen Gehalts. Sowohl das, was dabei in Form eines Zeichens den Gegenstand des Verstehens bildet, als auch die verstandene Bedeutung entziehen sich der willkürlichen Interpretation durch ein Individuum. Beide sind vielmehr Momente eines Zusammenhangs, dessen Regeln sich explizieren und in einer Theorie begründen lassen. Ebenso soll auch die moralische Bedeutung unseres Handelns einen nicht-psychologischen Charakter erhalten und die moralische Reflexion nach Verbindlichkeit streben. Denn wenn wir moralisch urteilen wollen, müssen wir über Tatsachen urteilen, auch über Einstellun-
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gen und Grundhaltungen, aber nur, sofern sie in Handlungen manifest werden – nicht über Potentialitäten und Vermutungen. Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass unser Handeln auch Festlegungen produziert, konstitutive Bedingungen für weiteres Handeln herstellt und in sozialen Verhältnissen Formierungen hervorbringt, die ich als „Strukturen“ bezeichnen möchte. Um solche Strukturen zu bestimmen, ist nicht die psychologische Selbstbeschreibung einer Person maßgebend, denn es ist immer möglich, dass diese sich selbst nicht versteht. Es sind auch nicht die einzelnen Handlungen oder Handlungsabsichten entscheidend, sondern allein die Frage, welche Verhältnisse durch unser Handeln für uns und andere geschaffen werden oder geschaffen würden. Nicht die einzelnen Handlungen selbst, sondern die Relation zwischen ihnen, ihre festschreibenden Effekte, ihre prägenden Wirkungen auf und für das eigene oder fremde Handeln sind in der jeweiligen Darstellung auszudrücken. Es ist klar: Um solche Strukturbeschreibungen zu entwerfen, sind Erklärungsmodelle der empirischen Wissenschaften nicht nur hilfreich, sondern unerlässlich. Gerade sie machen uns deutlich: Nie entscheidet man sich nur zu einer einzelnen Handlung, sondern mit dieser werden immer auch konkrete Verhältnisse (zwischen oder für Personen) hergestellt, die möglicherweise unabhängig von unserer erklärten Absicht uns selbst oder andere im Weiteren festlegen. Jede bestimmte Handlung eines Individuums aber auch jedes bestimmte technische, medizinische oder wissenschaftliche Handeln ist nach dem Kriterium zu bewerten, wie die geschaffenen Strukturen zu Selbstbestimmung und Gleichheit hinsichtlich Achtung und Würde stehen. Verfallen die in Frage stehenden Strukturen dabei der Kritik, so kann das Ergebnis auch gegen diejenigen gerichtet werden, die diese Strukturen wiederholt „aufrufen“ und reproduzieren – selbst wenn sie zugleich erklären, ganz andere oder sogar gute Absichten mit ihrem Tun verfolgt zu haben. Diese Auffassung eröffnet der moralischen Beurteilung eine öffentliche Dimension und verpflichtet sie gleichzeitig darauf. Die Überlegungen der praktischen Philosophie müssen über die Sphäre der Person hinausgreifen, so wichtig und sinnvoll es auch ist, dem Einzelnen einen Bezugspunkt für die moralische Orientierung seines Handelns zu geben. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass unser Handeln zur Realisierung seiner Projekte auch an Mittel und gesellschaftliche Einrichtungen gebunden ist. Hat man dies einmal eingesehen, dass sich unser Handeln so immer in einem Wechselverhältnis von struktureller Gebundenheit und aktiver Gestaltungsfähigkeit vollzieht, dann kann die jeweils konkrete moralische Reflexion nicht in gänzlicher Unkenntnis der Welt, losgelöst von den jeweiligen Umständen vollzogen werden.
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Das heißt: Schon um nicht Ideologien aufzusitzen oder aus Unwissenheit gegenüber den Realverhältnissen moralische Ziele nicht verwirklichen zu können, ist es notwendig und auch moralisch geboten, in einem gewissen Sinne „klug“ zu sein und „Kreativität“ zu entwickeln. Diese ist umso mehr geboten, will man nicht allein rekonstruktiv verfahren, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit konstruktiv unserem freiheitlichen Selbstverständnis entsprechend gestalten. Wenn man – metaphorisch gesprochen – das Gute in die Welt bringen will, müssen konkrete Handlungen, die dann auch „Strukturen des Guten“ nach sich ziehen, kreativ entworfen und verwirklicht werden. Dies kann nur eine über die verschiedenen Prägungen und Determinationen des Menschen aufgeklärte moralische Urteilskraft leisten, die, sofern dies nur in Tuchfühlung mit den entsprechenden Wissenschaften möglich ist, dann unter Umständen auch ein kollektives Unternehmen ist. Die eben erwähnte „Klugheit“ und „Kreativität“ sind keine äußerlichen Zutaten, sondern Fähigkeiten, die in jeder konkreten moralischen Reflexion realisiert werden müssen. Der Blick auf die Wirklichkeit kann unser Denken freilich auch an dieselbe fesseln. Dann scheinen uns die aufgezeigten Möglichkeiten ethischer Normierung eher gering zu sein. Doch auch wenn die Rolle der Ethik schon polemisch mit einer „Fahrradbremse an einem Jumbojet“ verglichen wurde, weil der Jumbo nämlich trotz ethischer Kritik einfach weiterfliegt, so schmälert dieser Umstand keineswegs ihren Wert. Die Ergebnisse ethischer Reflexion und Kritik werden, wie man unschwer bemerken kann, wieder in den Prozess der wissenschaftlichen Diskussion eingespeist und entfalten dort sehr wohl ihre Wirkung. Diese ist durchaus remarkabel, wenn man sich von der Ethik nicht die unmögliche Leistung erwartet, sie solle künftig die Inhalte und Methoden allen anderen Wissenschaften diktieren und einfache Rezepte für komplexe Probleme liefern. Die Ethik kann immer nur ein reflexives Verfahren vernünftiger und insofern per se „kritischer“ Aufklärung der Praxis bereitstellen, und dies übrigens auch nur, wenn sie sich nicht in scholastisch-kleinteiligen Debatten verliert. Das Arbeitsfeld der Ethik aber wird – solange wir uns als Wesen verstehen wollen, die zur Freiheit fähig sind – nicht enden. Dass die ethische Reflexion im rasanten Fortschritt der Wissenschaften immer „zu spät“ zu kommen scheint, ist nicht das größte Problem. Denn: Selbst wenn der erste Mensch geklont sein wird, müssen wir uns fragen, wie wir uns zu ihm verhalten sollen. Deshalb müssen wird daran festhalten, dass wir unter der Idee der Freiheit denken und handeln sollen, weil, wie es Kant einmal treffend formulierte, die Freiheit dem Menschen zwar nicht gegeben, wohl aber „aufgegeben“ ist.
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Rechtfertigungen der Normativität. Eine Verteidigung David Humes gegenüber Christine M. Korsgaards Neo-Kantianismus Herlinde Pauer-Studer
1. Einleitung Eine Moraltheorie sollte uns, so eine gängige philosophische These, sowohl eine Konzeption der normativen Verbindlichkeit als auch eine Erklärung der moralischen Motivation vermitteln. Eine Theorie der Moral sollte also unter anderem auch folgende zwei Fragen beantworten: Wie genau spezifizieren wir die Gründe, die uns moralisch eine Verpflichtung auferlegen, X zu tun? Wie kann die Einsicht, dass wir verpflichtet sind, X zu tun, uns auch dazu motivieren, X zu tun? Die Aufgabe einer Theorie der Moral ist es also auch, eine Antwort auf die plausible Anforderung zu geben, dass moralische Gründe sowohl normative als auch motivierende Kraft haben. Es gilt als Gemeinplatz der Gegenwartsphilosophie, dass eine Hume’sche Konzeption von Moral nicht die normative Stärke von moralischen Gründen erklären kann. Eine Hume’sche Moraltheorie, so lautet der Standardeinwand, verfügt nicht über eine Konzeption praktischer Vernunft, die kategorische moralische Verbindlichkeiten erklären kann. Hume verbleibe mit seiner instrumentellen Konzeption der Vernunft im Bereich hypothetischer Imperative als Standardmodell praktischer Gebote. Instrumentelle Rationalität im Sinne von Zweck-Mittel-Überlegungen bilde das vorrangige Prinzip einer Hume’schen Rationalitätskonzeption und Konzeption praktischen Räsonierens. Bekanntlich aber ist es unmöglich, unbedingte normative Prinzipien oder Gründe rein auf der Basis eines Prinzips instrumenteller Rationalität zu begründen. Insofern, so der Einwand, verfehle eine Hume’sche Sicht der Moral das wesentlichste Merkmal moralischen Denkens, nämlich die Tatsache, dass moralische Handlungen für sich genommen, unabhängig von unseren Wünschen, Begehren und Präferenzen, strikt verbindlich und verpflichtend sind. Bestenfalls, so räumen die Kritiker ein, liefere uns Humes Theorie der
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Moral eine Erklärung moralischer Motivation. Moralische Motivation verlangt einen Wunsch oder ein Begehren (desire) und eine theoretische Annahme (belief) darüber, wie man diesen Wunsch auf dem effektivsten Wege erfüllen kann (das sogenannte belief/desire Modell). Die ZweckMittel-Rationalität sagt uns also, dass wir verpflichtet sind, Y zu tun, wenn wir X begehren, weil Y das beste Mittel ist, um X zu realisieren. So gesehen sind also die Vertreter einer Hume’schen Konzeption in der Lage, überzeugend moralische Motivation zu erklären, da sie entsprechend ihrer instrumentellen Rationalitätskonzeption Wünsche und Begehren als die treibende Kraft des Handelns betrachten. Kantianer stützen ihre Verteidigung von Kants Theorie der Moral genau auf die angebliche Begrenztheit einer Hume’schen Konzeption der praktischen Vernunft und von Humes wunschbasierter Handlungskonzeption. Kant, so die These, liefere uns nicht nur eine plausible Theorie von moralischer Verbindlichkeit, sondern eine weitaus einleuchtendere Sicht moralischer Motivation.1 Denn moralische Motivation könne unmöglich eine Sache von Wünschen, Begehren oder bloßen Neigungen sein. Moralische Motivation setze die Erkenntnis voraus, dass gewisse Gründe eben normatives Gewicht haben. Moralische Motivation, so die These der Kantianer, setzt eine kognitive Bewertung voraus, nämlich die Einsicht, dass eine Person gerechtfertigt ist, X zu tun, und dass diese Person deshalb einen Grund hat, den korrespondierenden Wünschen und Begehren zu folgen. Eine sehr pointierte Verteidigung der kantischen Moralphilosophie – dass diese sowohl Normativität als auch moralische Motivation angemessen erkläre – ist neuerdings von Christine Korsgaard entwickelt worden. Nach Korsgaard beruht Kants Erklärung eines guten Willens auf einer motivationalen Analyse des Begriffs der Pflicht und der Richtigkeit.2 Für Kant fallen demnach die Begriffe der Verpflichtung und Motivation nicht auseinander, denn eine Person guten Willens tue das Richtige genau deshalb, weil es das Richtige ist.3 Korsgaard entwickelt eine spezifische Interpretation der kantischen Position. Sie verteidigt einen „konstitutiven Internalismus“, demzufolge die Prinzipien der praktischen Vernunft, das instrumentelle Prinzip hypothetischer Imperative einerseits und der kategorische Imperativ andererseits konstitutiv für eine rational handelnde Person sind. Auf diesem Wege ergibt sich eine elegante Lösung der Fragen von moralischer Verpflichtung und moralischer Motivation. Wenn
_____________ 1 Für eine sehr differenzierte Diskussion von Kants Konzeption moralischer Motivation siehe Klemme 2006. 2 Korsgaard 1996c, 60. 3 Korsgaard 1996c, 60.
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moralische Prinzipien konstitutiv sind für rationales Handeln, dann sind Verpflichtung und Motivation eine Folge von Einsicht und Reflexion auf die Bedingungen von Personsein. Ein praktischer Grund muss nach Korsgaard sowohl ein Motiv als auch eine Richtlinie oder Forderung (guide or requirement) bilden.4 Korsgaards Verteidigung des Internalismus beruht auf einer metaphysisch-ontologischen Lesart des Externalismus: Wenn Normativität, so Korsgaards Einwand, eine Sache der Wahrheit extern gegebener normativer Fakten ist, dann bleibt die Frage moralischer Motivation ein Mysterium, denn externe Wahrheiten können uns völlig gleichgültig sein und keinerlei Einfluss auf unser Handeln haben. Doch ein kantischer „konstitutiver Internalismus“ verknüpfe genau Normativität und Motivation über die erforderliche Einsicht rational reflektierender Handelnder: Verbindlichkeit ist das Ergebnis der Vernunfteinsicht, dass wir als rational Handelnde an die Anerkennung moralischer Prinzipien gebunden sind. Insofern als die Vernunft einen Einfluss auf unser Handeln hat, sind wir motiviert, auf der Basis von Gründen zu handeln, die normatives Gewicht haben. Wenn eine Person rational ist, dann muss sie nach Korsgaard von ihrer eigenen Erkenntnis (recognition) der angemessenen begrifflichen Verbindung zwischen theoretischer Annahme (belief) und Wunsch (desire) motiviert sein.5 Solch eine Einsicht verlangt autonomes praktisches Reflektieren, also Vernunft im Sinne der Selbstgesetzgebung. Korsgaards Kritik an Humes Theorie der Moral konzentriert sich auf zwei Punkte: erstens, dass Humes Konzeption instrumenteller Rationalität für sich genommen verfehlt ist, und zweitens, dass Humes Erklärung moralischer Zustimmung und moralischer Akzeptanz mangelhaft bleibt. Korsgaards Argumente gegen Hume im Detail: Erster Einwand: Eine Hume’sche Position kann nicht die normative Stärke des Prinzips instrumenteller Rationalität erklären. Gemäß Humes wunschbasierter Konzeption des Handelns fordert das Prinzip der instrumentellen Vernunft nur, dass wir unseren Wünschen (möglichst effektiv) folgen sollen – worin auch immer diese bestehen mögen. So gesehen reduziert sich die Zweck-Mittel-Deliberation nach Korsgaard auf eine Beschreibung unseres wunschbasierten Handelns, aber nicht auf eine normative Richtlinie, die uns ein Gebot der Rationalität auferlegt, das wir verletzen können.6
_____________ 4 Korsgaard 1997, 220-222. 5 Korsgaard 1997, 220-222. 6 Dieses Argument entwickelt Korsgaard ausführlich auf den Seiten 220-234 in Korsgaard 1997.
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Zweiter Einwand: Wenngleich Hume eine Konzeption reflektierender Vernunft entwickelt und voraussetzt, so mangelt es seiner Methode der reflektierenden Bestätigung (reflective endorsement method) doch an der Möglichkeit, die normative Autorität moralischer Prinzipien zu begründen. Humes Methode des reflective endorsement müsse durch eine kantische Konzeption autonomen rationalen Handelns ergänzt werden – einer Konzeption, die das Prinzip der Moral als konstitutiv für Autonomie, praktische Vernunft und Personsein betrachtet.7 Wenn diese Argumente Korsgaards gültig sind, dann bleibt in der Tat nicht mehr viel Raum für eine Hume’sche Theorie der Moral. Im Folgenden möchte ich diese Einwände genauer untersuchen. Was die instrumentelle Rationalität betrifft, werde ich Korsgaards These, dass die normative Stärke des Prinzips instrumenteller Vernunft nur bewiesen werden kann, wenn den angestrebten Zielen und Zwecken unbedingter Wert (unconditional value) zukommt, zurückweisen. Eine wertneutrale Lesart des instrumentellen Rationalitätsprinzips ist, wie ich unter Bezugnahme auf einschlägige Arbeiten von John Broome zeigen werde, durchaus vereinbar mit einer Interpretation des Prinzips der instrumentellen Rationalität als einer normativen Forderung (normative requirement). Im Anschluss daran versuche ich, einige Schwierigkeiten von Korsgaards Argument aufzuzeigen, dem gemäß Humes Konzeption der reflektierenden Vernunft fehlerhaft ist. Ich vertrete die Auffassung, dass Humes Konzeption der reflektierenden Rationalität gerade einige jener Probleme vermeiden kann, die ein kantischer konstitutiver Internalismus, wie ihn Korsgaard vertritt, aufwirft.
2. Korsgaards Konzeption instrumenteller Rationalität Als charakteristisch für eine Hume’sche Position gilt, dass der Grundsatz instrumenteller Rationalität das vorrangige Prinzip praktischer Vernunft darstellt. In der Tat betrachten jene Philosophen, die eine Hume’sche Theorie der Rationalität und der Moral vertreten, das Prinzip der instrumentellen Rationalität als evident und nicht weiter rechtfertigungsbedürftig. So schreibt zum Beispiel James Dreier dem Prinzip instrumenteller Vernunft einen „besonderen Status“ zu, der sich daraus ergibt, dass das Prinzip instrumenteller Rationalität „die sine qua non Bedingung dafür ist, dass wir überhaupt Gründe haben“8. Zweck-Mittel-Überlegungen sind
_____________ 7 Der zweite Einwand findet sich in Korsgaard 1996b. 8 Dreier 1997, 98f.
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eine notwendige Bedingung dafür, Gründe zum Handeln als solche zu identifizieren. Das Prinzip instrumenteller Vernunft ist aber indifferent gegenüber dem Wertestatus unserer Zwecke; es informiert uns lediglich über die Relationen zwischen Mitteln und Zwecken, gegeben unsere Annahmen darüber, wie wir die von uns akzeptierten besonderen Zwecke möglichst effektiv verfolgen. Humeaner sind darauf bedacht, eine sorgfältige Trennung zwischen Rationalität und Moral zu ziehen. Das Standardargument gegen die Gleichsetzung von Rationalität und Moral lautet: Wir kritisieren Personen, die unmoralisch handeln, als Personen, die moralisch gesehen einen Fehler gemacht haben, aber nicht dafür, irrational gehandelt zu haben. Moralisch defizientes Handeln ist keine Verletzung von Rationalität, sondern von Standards moralischer Korrektheit. Humeaner sind skeptisch gegenüber einer Konzeption praktischer Vernunft, deren Kernprinzip das Prinzip der Moral ist, und die dem Prinzip instrumenteller Rationalität nur einen untergeordneten Status einräumt. Für Humeianer verlangt der Schritt von der Rationalität zur Moral einen zusätzlichen Schritt der Rechtfertigung – eine Rechtfertigung, die nicht einfach über eine Explikation des definitorischen Gehalts praktischer Vernunft geleistet werden kann.9 Korsgaard entwickelt eine andere Erklärung über die sine qua non Bedingungen von Gründen. Für Korsgaard ist die Fähigkeit, eine autonom handelnde Person zu sein, eine handelnde Person, die ihr Menschsein (humanity) für sich genommen als einen Zweck an sich betrachtet, unabdingbar dafür, ein Wesen zu sein, das nach Gründen handelt.10 Ihre nach ihrem Dafürhalten authentisch kantische Strategie ist es, mit einer Erklärung von Rationalität als der Autonomie menschlichen Denkens und Räsonierens (human mind) zu beginnen und dann das Konzept der Gründe in Begriffen der Rationalität zu definieren – nämlich als das, was autonom gewollt werden kann, oder als jene Überlegungen, die mit dem Prinzip autonomen Wollens übereinstimmen.11 Die Prinzipien autonomen Wollens sind die hypothetischen Imperative, also das Prinzip instrumenteller Vernunft (das Prinzip der Geschicklichkeit) und das Prinzip der Klugheit, sowie die kategorischen Imperative.12 In Übereinstimmung mit dem Prin-
_____________ 9 Wie James Dreier, der eine Hume’sche Position verteidigt, dies ausdrückt: „Unsere Skepsis sollte sich darauf richten, dass der Inhalt der praktischen Vernunft nichts anderes als der Inhalt der Moral ist.“ Dreier 1997, 99 (Übers. P.St.). 10 Korsgaard 1996b, 120ff. 11 Korsgaard 1997, 243. 12 Korsgaard bezieht sich auf alle drei Formen des kategorischen Imperativs, die Formel des Universellen Gesetzes, die Zweck-an-sich-Formel und die AutonomieFormel. In ihrer Detailargumentation spielen aber vor allem die ersten beiden For-
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zip instrumenteller Rationalität zu handeln ist nach Korsgaard konstitutiv dafür, einen Willen zu haben und einen Willen zu haben ist konstitutiv für Personsein.13 Das Prinzip instrumenteller Rationalität ist eine normative Forderung (normative requirement) und eine notwendige Bedingung von praktischer Vernunft. Das Prinzip instrumenteller Rationalität kann aber nach Korsgaard nicht für sich allein stehen, es ist nicht die einzige Bedingung praktischer Vernunft. Korsgaard verbindet die normative Autorität instrumenteller Vernunft mit der Normativität von Gründen: „Unless there are normative principles directing us to the adoption of certain ends, there can be no requirement to take the means to our ends.“14 Gemäß Korsgaards Handlungskonzeption muss die Wahl von Zwecken letztlich auf der Entscheidung eines freien Willens basieren. Dies bedeutet, dass den Zwecken Wert zukommen muss. Korsgaards Interpretation des Prinzips instrumenteller Rationalität als einer konstitutiven Bedingung eines freien und rationalen Willens beruht auf einer Modifikation von Kants Position, die Korsgaard als notwendig erachtet, um Reste eines rationalen Dogmatismus in Kants Programm zu überwinden.15 Sie kritisiert, dass Kant die Prinzipien der praktischen Vernunft phasenweise als externe rationale Restriktionen betrachtet, denen unsere Maximen unterworfen sind. Kants Rekonstruktion instrumenteller Rationalität setze, wie Korsgaard einwendet, unabhängige normative Fakten in der Form extern gegebener rationaler Gesetze voraus. Ein solcher Externalismus erscheint Korsgaard zutiefst problematisch. Unabhängige normative Fakten in der Form extern gegebener Gesetze der Rationalität liefern uns keinerlei Gründe dafür, warum wir uns an solche Gesetze halten sollten. Wie Korsgaard schreibt: (A)ccording to what we might call instrumental realism, facts about the instrumentality of actions to our ends support those reasons. The difficulty with this account in a way exists right on its surface, for the account invites the question why it is necessary to act in accordance with those reasons, and so it seems to leave us
_____________ meln, die „Formula of Universal Law“ und die „Humanity Formula“, die maßgebliche Rolle. 13 Korsgaard 1997, 254. 14 Korsgaard 1997, 220. Korsgaards These, dass die Existenz von Gründen, die Mittel zu Zwecken zu ergreifen, vom Wert der Zwecke abhängt, wird auch von Joseph Raz geteilt. So schreibt Raz: „Crucially, the way goals acquire their normative relevance is by being conditions on the applicability or stringency of reasons. Therefore, they can have that effect only if the goals are worth pursuing in the first place. On this point my account is close to Korsgaard’s.“ Siehe Raz 2005, 23. 15 Diese Spuren eines rationalen Dogmatismus sind nach Korsgaard besonders in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu bemerken.
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in need of a reason to be rational. I have an end, and out there in the universe is a law saying what I must do if I have an end (take the means), but the reason why I must obey this law has not yet been given. To put the point less tendentiously, we must still explain why the person finds it necessary to act on those normative facts, or what it is about her that makes them normative for her. We must explain how these reasons get a grip on the agent.16
Das Externalismus-Problem begegnet uns, wie Korsgaard betont, auf zwei Ebenen: der Ebene der Moral einerseits und der Ebene der Rationalität andererseits. „Warum sollen wir moralisch sein?“ ist die Frage, die eine moralische Rechtfertigung verlangt. Im Falle des Externalismus können uns die Forderungen der Moral gleichgültig lassen, da die motivationale Verbindung zwischen externen normativen Fakten und unseren Handlungen offen bleibt und nicht zwingend ist. „Warum rational sein?“ ist der Skeptizismus, auf den alle überzeugenden Erklärungen praktischer Vernunft eine Antwort geben müssen. Aber wenn, so Korsgaards Argument, die Prinzipien der Rationalität in Form von normativen Forderungen an unsere Vernunft sich auf normative Fakten in Form externer logischer Wahrheiten reduzieren, dann gibt es möglicherweise gar keinen Grund, rational zu sein. Denn im Falle eines instrumentellen Realismus bleibt die Frage „Warum rational sein?“ unbeantwortet. Korsgaards Lösung ist, wie bereits erwähnt, ein konstruktiver Internalismus, der die Gesetze praktischer Rationalität mit den Gesetzen des Handelns überhaupt gleichsetzt. Das Prinzip instrumenteller Rationalität ist so betrachtet ein konstitutives Prinzip autonomen Denkens und Reflektierens und nicht länger eine externe normative Wahrheit ohne jegliche Verbindung mit unseren motivierenden Gründen. In der gleichen Art und Weise, wie der kategorische Imperativ als internes Prinzip interner Gesetzgebung gilt, so ist auch der Grundsatz instrumenteller Rationalität ein internalistisch-konstitutives Prinzip unseres Handelns und Wollens: The idea that you could make a maxim and then apply the instrumental principle to it makes no sense. A maxim that does not already at least aspire to conform to the instrumental principle is no maxim at all. So the instrumental principle does not come in as a restriction that is applied to the maxim. Instead, the act of making a maxim – the basic act of will – conforms to the instrumental principle by its very nature. To will an end is just to will to cause or realize the end, hence to will to take the means to that end.17
Korsgaard betrachtet den Internalismus – abgesehen von seiner Vorzugswürdigkeit gegenüber einem rationalen Dogmatismus – auch als die angemessene Alternative zu einem Hume’schen Empirismus. Hume kann,
_____________ 16 Korsgaard 1997, 240. 17 Korsgaard 1997, 244.
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wie sie betont, die Bedingung instrumenteller Rationalität nicht als normative Forderung (normative requirement) begründen. Nach Korsgaards Lesart von Hume ist jemand bereits rational, wenn er einen Zweck hat und diesen über die Ergreifung angemessener Mittel effektiv zu realisieren versucht. Die Zwecke sind abhängig von unseren Wünschen. Sie sind zufällig, bedingt dadurch, worauf sich unsere Affekte und Neigungen jeweils richten. Jeder Zweck ist es wert, verfolgt zu werden, sofern der jeweilige Wunsch, dies zu tun, stark genug ist. Also hat eine Person, wann immer sie einen Wunsch verspürt, einen Grund, das Mittel zu dem korrespondierenden Zweck zu ergreifen. Da es Hume an den philosophischbegrifflichen Möglichkeiten zur Differenzierung zwischen unmittelbar gegebenen und rational reflektierten Wünschen mangelt, so erfüllt per definitionem jede von Wünschen bestimmte Person das Prinzip instrumenteller Rationalität. Wenn wir die Ziele der Person mit den unmittelbaren Präferenzen einer Person gleichsetzen, dann folgt, dass eine Person immer von dem geleitet ist, was sie für ihre Gründe hält. Doch wenn uns jeder Wunsch, ganz unabhängig von seinem Inhalt, einen Grund liefert, dann sind wir qua Definition immer rational. Korsgaard folgert, dass uns Hume genau genommen gar keine Erklärung praktischer Rationalität liefert, da die Alternative, nämlich irrationales Handeln, streng genommen in Humes Rationalitätsbegriff gar keinen Platz findet. Dies bedeute aber, dass dem instrumentellen Prinzip im Rahmen eines Hume’schen Ansatzes jegliche normative Kraft fehlt, da es nicht verletzt werden könne und somit auch keine normative Forderung darstelle. Denn eine normative Bedingung verlangt von uns, gewisse Präferenzen aufzugeben und gewisse andere uns anzueignen.18 Korsgaards Beispiel eines typisch Hume’schen Charakters ist Jeremy, ein Student, der eigentlich für seine Prüfung lernen möchte, dann aber wegen eines Bedürfnisses nach frischer Luft spontan einen Spaziergang macht, dabei auf einen Freund trifft, mit dem er etwas trinken geht und schlussendlich mit Kopfschmerzen nach Hause kommt, ohne das getan zu haben, was er mit guten Gründen eigentlich tun wollte.19 Um zusammenzufassen: Korsgaards wesentlicher Einwand gegen Hume lautet, Hume verfüge nicht über eine Konzeption instrumenteller Rationalität, weil sein radikaler Empirismus eine Interpretation des Prinzips instrumenteller Rationalität als einer normativen Forderung unmöglich mache. Nach Korsgaard existieren zwei Lesarten des Prinzips instrumenteller
_____________ 18 Korsgaard 1997, 233. 19 Korsgaard 1999, 19; Korsgaard 1997, 247, Fn. 64.
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Rationalität, mit Hilfe derer wir die empiristische Position rekonstruieren können. Die erste Lesart lautet: a.
Wenn jemand einen Grund hat, einen Zweck zu verfolgen, dann hat jemand auch einen Grund, das Mittel zu diesem Zweck zu ergreifen.
Nach dieser Interpretation ist das Prinzip instrumenteller Rationalität laut Korsgaard ein normatives Prinzip, „(since it) derives a reason from a reason, something normative from something normative“20. Die zweite Interpretation des Grundsatzes instrumenteller Rationalität ist: b.
Wenn du einen Zweck verfolgst, dann hast du auch einen Grund, das Mittel zu diesem Zweck zu ergreifen.21
Korsgaard nimmt an, dass nur die Lesart b Humes Position entspricht, „since it is perfectly clear that he (Hume) thinks that reason does not play a role in the determination of ends. He would have to believe that the instrumental principle instructs us to derive a reason from what we are going to do.““22 Doch die Interpretation b widerspricht nach Korsgaard einem anderen Grundsatz praktischen Räsonierens und Folgerns, den Hume so stark betonte, nämlich dass es unmöglich ist, ein „Sein“ von einem „Sollen“ abzuleiten. Doch die Lesart b setzt genau, wie Korsgaard betont, die Gültigkeit eines Schlusses vom Sein auf das Sollen voraus: Aus dem Umstand, dass man einen Zweck X wünscht und seine Realisierung verfolgt, schließt man darauf, dass man einen Grund hat, das Mittel zu X zu ergreifen. Hume, so Korsgaards Konklusion, liefert uns also keine plausible Erklärung instrumenteller Vernunft. Sie betrachtet den eben dargelegten Einwand auch als hinreichend, um Humes Position generell zurückzuweisen: The instrumental principle, because it tells us only to take the means to our ends, cannot itself give us a reason to do anything. It can operate only in conjunction with some view about how our ends are determined, about what they are.23
Eine solche Bewertung unserer Zwecke ist nach Korsgaard aber nur im Rahmen einer kantischen Konzeption praktischer Vernunft möglich.
_____________ 20 Korsgaard 1997, 223. 21 Korsgaard 1997, 223. 22 Korsgaard 1997, 223. 23 Korsgaard 1997, 223.
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3. Einwände gegen Korsgaards Erklärung Instrumenteller Vernunft Im Folgenden möchte ich auf einige Probleme von Korsgaards Interpretation instrumenteller Vernunft eingehen. Zunächst, dies ist mein erster Einwand, diskutiere ich einige Mängel ihrer Lesart von Humes Auffassung von Zweck-Mittel-Räsonieren. Anschließend, mein zweiter Einwand, versuche ich zu zeigen, dass Korsgaards wertbezogene Konzeption instrumenteller Rationalität eine Konsequenz dessen ist, dass sie es verabsäumt, klar zwischen der ‚Normativität der Rationalität‘ (normativity of rationality) und der ‚Normativität der Gründe‘ (normativity of reasons) zu unterscheiden. 24 Dass wir das Prinzip der instrumentellen Rationalität als normative Forderung interpretieren, verpflichtet uns meines Erachtens nicht zu der These, dass wir in dem Fall auch einen Grund haben müssen, die Mittel zu dem Zweck zu ergreifen. Anders gesagt: Die Voraussetzung, dass instrumentelle Rationalität nur im Falle wertvoller Zwecke normative Kraft hat, ist nicht haltbar. Im Gegenteil: Humes wertneutrale Lesart instrumenteller Vernunft scheint mir plausibel. Nun zum ersten meiner Einwände: Korsgaards Interpretation von Humes Konzeption instrumenteller Rationalität beruht auf der berühmten Passage „Of the influencing motives of the will“ in Buch II von Humes Treatise.25 Hume verfolgt in dieser Passage des Textes zwei Ziele: Erstens versucht er zu zeigen, „that reason alone can never be a motive to any action of the will“; zum zweiten argumentiert er „that it (reason) can never oppose passion in the direction of the will“.26 Oft haben Interpreten Humes Diskussion der Motive des Willens als Beweis von Humes umfassendem Skeptizismus hinsichtlich des Konzepts praktischer Vernunft verstanden. In der Tat konfrontiert uns Hume in seiner Untersuchung der Motive des Willens mit einigen überaus provokanten Behauptungen, von denen die berühmteste wohl die folgende Bemerkung darstellt: ’Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger. ’Tis not contrary to reason for me to chuse my total ruin, to prevent the least uneasiness of an Indian or person wholly unknown to me. ’Tis
_____________ 24 Eine Diskussion der Unterscheidung zwischen der ‚Normativität der Rationalität‘ und der ‚Normativität der Gründe‘ findet sich auch bei Kolodny 2005, 509-512. 25 Hume 1978, 413-18; Book II, Part III, Section III. Im Folgenden wird nach der Selby-Bigge Ausgabe des Treatise zitiert. 26 Hume 1978, 413.
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as little contrary to reason to prefer my own acknowledg’d lesser good to my greater, and have a more ardent affection for the former than the latter.27
Für sich genommen scheinen diese Ausführungen wohl hinreichende Evidenz für Humes Feindseligkeit gegenüber dem Begriff der Vernunft. Korsgaard setzt nun in ihrer Auslegung von Humes Konzeption instrumenteller Rationalität genau eine solche vernunftfeindliche Lesart von Humes Position voraus. Sie schreibt Hume eine Theorie der expressiven Wünsche (der „revealed desires“) zu: Was immer man tut, drückt die Wünsche und Begehren aus, die unsere Handlungen motivieren und auslösen.28 Sie fasst Humes vermeintlich absurde Behauptungen über die irritierende Breite möglicher Wünsche wortwörtlich auf: Der einzige Parameter zur Bestimmung der Natur unserer Zwecke ist die subjektive Intensität unserer Wünsche. Es gibt keine rationale oder kritische Bewertung unserer Wünsche und Begehren, keinen Unterschied zwischen unmittelbaren und rationalen Wünschen – denn die Vernunft habe, wie Hume sagt, ja gar keinen Einfluss auf die Motive des Willens. Es scheint mir falsch, Humes zugegeben provokante Äußerungen so zu interpretieren. In diesem Abschnitt über die Motive des Willens diskutiert Hume gar nicht die praktische Vernunft oder das praktische Räsonieren, sondern nur reason im Sinne des Verstandes (understanding), nämlich abstraktes oder demonstratives Räsonieren und auch Zweck-MittelRäsonieren. Humes These ist, dass diese Formen des Schlussfolgerns nicht direkt unsere Handlungen beeinflussen, sondern nur unsere Urteile mit Bezug auf Ursache und Wirkung einerseits und Zweck-MittelÜberlegungen andererseits stützen. In bestimmten Fällen führt uns ein solches Räsonieren zu dem Urteil, dass gewisse Affekte unvernünftig sind.29 Doch Hume stellt klar, dass etwas nur dann als vernünftig (reasonable) oder unvernünftig (unreasonable) bezeichnet werden kann, wenn wir uns auf einen entsprechenden Standard der Beurteilung beziehen: (N)othing can be contrary to truth or reason, except what has a reference to it, and as the judgments of our understanding only have this reference, it must follow that passions can be contrary to reason only so far as they are accompany’d with some judgment or opinion.30
_____________ 27 Hume 1978, 416. 28 Korsgaard benutzt nicht den Begriff ‚revealed desires‘. Aber in Analogie zu dem in der Rationalitätstheorie gängigen Begriff der ‚revealed preferences‘ kann man ihre Auffassung recht passend als Position der revealed desires bezeichnen. 29 Hume 1978, 416. 30 Hume 1978, 416.
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Nach Hume gibt es „two senses, that any affection can be call’d unreasonable“31. Der Standard der Wahrheit ist dann relevant, wenn sich unsere Affekte (passions) auf falsche Vorstellungen beziehen, also wenn wir „hope or fear, grief or joy, despair or security“ in Situationen verspüren, in denen real gesehen gar kein Objekt gegeben ist, das diese Affekte rechtfertigen würde. Der zweite Fall unvernünftiger Affekte ist dann gegeben, wenn wir blindlings unseren Affekten und Wünschen folgen und ungeeignete Mittel wählen, um unsere Zwecke zu verfolgen, wenn wir uns also in unseren Urteilen über den Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen täuschen (if we „deceive ourselves in our judgements of causes and effects“).32 Der Verstand hat nach Hume sehr wohl einen Einfluss auf unsere Handlungen – allerdings nur in der Form, dass wir beurteilen, ob unsere Handlungen den Regeln des Folgerns und Räsonierens entsprechen. Zweck-Mittel-Überlegungen sind eine Form des Folgerns (reasoning). Dieses Prinzip verlangt von uns, die geeigneten Mittel zu wählen, wenn wir einen bestimmten Zweck begehren und der Ansicht sind, dass eine ganz bestimmte Beziehung zwischen Mitteln und Zwecken gegeben ist. Hume weist den berühmten Gegensatz von Wille und Handlung, von Vernunft und Affekten zurück, denn er sieht keinen generellen Gegensatz zwischen Vernunft und Affekten gegeben. Vernunft und Affekte konfligieren nur dann, wenn ein bestimmter Affekt als nicht im Einklang mit der Vernunft (unreasonable) kritisiert werden kann. Wenn jedoch Affekte und Wünsche in genau dieser Hinsicht fehlerhaft sind, dann verlangt die Vernunft in der Form eines Urteils über die angemessene und korrekte Verbindung zwischen bestimmten Mitteln und Zwecken von uns, unsere Affekte und Wünsche mit diesen Urteilen der Vernunft in Übereinstimmung zu bringen. Hume betont unmissverständlich den Einfluss reflektierter Urteile, wenn er schreibt: Since a passion can never, in any sense, be call’d unreasonable, but when founded on a false supposition, or when it chuses means insufficient for the design’d end, ’tis impossible, that reason and passion can ever oppose each other, or dispute for the government of the will and actions. The moment we perceive the falsehood of any supposition, or the insufficiency of any means our passion yield to our reason without any opposition. I may desire any fruit as of an excellent relish; but whenever you convince me of my mistake, my longing ceases. I may will the performance of certain actions as means of obtaining any desir’d good; but as my willing of these actions is only secondary, and founded on the supposition, that
_____________ 31 Hume 1978, 416. 32 Hume 1978, 416.
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they are causes of the propos’d effect; as soon as I discover the falsehood of that supposition, they must become indifferent to me.33
In dieser Passage schreibt Hume Zweck-Mittel-Überlegungen normative Kraft zu. Wenn ich entdecke, dass es keine Beziehung zwischen bestimmten Mitteln und Zwecken gibt, oder wenn ich, zum Beispiel, fälschlicherweise davon ausgehe, dass ich meine Zwecke realisieren kann, dann fordert die Vernunftreflexion, meine Ziele zu ändern oder diese aufzugeben. So gesehen bedeutet Humes Bemerkung, dass „our passions yield to reason without any opposition“ nicht – wie Korsgaard annimmt –, dass nach Hume alle Personen, die Wünsche haben, dem instrumentellen Prinzip zwangsläufig folgen, was immer sie auch tun, und dass sie gar nicht die Forderungen instrumenteller Vernunft verletzen können. Unsere Affekte, so teilt uns Hume mit, decken sich nicht deshalb mit den Forderungen der Vernunft, weil die Vernunft gar keine normative Kraft hat. Unsere Affekte können deshalb den Forderungen der Vernunft entsprechen, weil diese von uns verlangt, unsere Affekte zu modifizieren und zu überdenken, falls diese allen Vernunftüberlegungen widersprechen und falsche Annahmen über den Zusammenhang von Mitteln und Zwecken treffen. Korsgaard vertritt eine andere Lesart der oben zitierten Textpassage. Sie argumentiert, dass die von Hume diagnostizierten Irrtümer, nämlich falsche empirische Voraussetzungen und die Wahl ungeeigneter Mittel, nur Fälle von Denkfehlern, aber keine Verletzungen der Rationalität darstellen, da die aus diesen Fehlern resultierenden Handlungen streng genommen nicht irrational sind.34 Korsgaards Folgerung scheint mir falsch. Denn wenn wir die Möglichkeit von Fehlern in Form einer irrtümlichen Wahl von Mitteln zur Verfolgung bestimmter Zwecke einräumen, dann räumen wir auch genau ein, dass das Prinzip instrumenteller Vernunft verletzt werden kann. Wenn man zum Beispiel das Ziel, erfolgreich am Wien-Marathon teilzunehmen, nur auf dem Wege zu realisieren sucht, dass man eine Reihe von Marathon-Bewerben im Fernsehen verfolgt, statt selbst regelmäßig zu laufen, handelt man zweifellos instrumentell irrational: Man verabsäumt es, die geeigneten Mittel zum gewählten Zweck zu ergreifen.35 Und gemessen an dem, was Korsgaard über normative Stärke
_____________ 33 Hume 1978, 416f. 34 Hume 1978, 416f. 35 Auch Jonathan Dancy argumentiert, dass das Prinzip instrumenteller Rationalität für sich genommen, unabhängig vom Wert der Zwecke, ein normatives Prinzip darstellt. Es verlangt von uns, die effektivsten Mittel zur Verfolgung unserer Ziele und Zwecke zu ergreifen. Man kann, wie Dancy betont, von der Einsicht motiviert sein, dass die Handlung X das effektivste Mittel zur Verfolgung unserer Ziele darstellt. Man kann aber gleichermaßen diesen Umstand in einer Art und Weise ignorieren,
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sagt, muss Hume nur die Möglichkeit von fehlerhaften Mittel-ZweckÜberlegungen zulassen, um die Normativität instrumenteller Vernunft zu begründen. Es muss für eine Person möglich sein, einen Zweck zu wollen und doch zu verabsäumen, das geeignete Mittel zur Realisierung dieses Zwecks zu wählen. Wie ich versucht habe zu zeigen, lässt Hume durchaus Verletzungen von korrekten Mittel-Zweck-Folgerungen zu. Diese Verletzungen instrumenteller Rationalität sind genau Fehler des Denkens: Sie können sich in der Form irrtümlicher Annahmen über die geeigneten Mittel ergeben, sie können aber auch Fehler mit Bezug auf den korrekten kausalen Zusammenhang von Mitteln und Zwecken sein; sie können Fehler dahingehend sein, dass nicht korrekte Folgerungen über das gezogen werden, was man tun sollte, falls man ein Ziel wünscht. Hume sagt uns klar, dass wir die Bedingung instrumenteller Vernunft so erfüllen können, dass wir entweder das Ziel aufgeben oder die Mittel zum Erreichen des Ziels ergreifen.36 Also ist klar eine Verletzung des Prinzips instrumenteller Rationalität gegeben, falls man eine dieser Optionen willentlich ignoriert. Hume verteidigt nicht eine Position rein expressiver unmittelbarer Wünsche; er räumt die Möglichkeit ein, dass Handelnde reflektieren und in Übereinstimmung mit oder gegen das Prinzip der Zweck-MittelÜberlegung handeln. Entsprechend ist Korsgaards Behauptung, „Hume has no resources for distinguishing the activity of the person herself from the operation of beliefs, desires, and forces in her“37, falsch. Wenn wir Urteile darüber fällen, ob unsere Affekte von Aberglauben bestimmt sind oder ob sie angemessene Antworten auf Fakten und gegebene Ziele darstellen, dann verlangt dies, dass die Reflexionen und Bewertungen der Person eine Rolle spielen. Zusätzlich zur instrumentellen Rationalität in Form von Zweck-Mittel-Überlegungen setzt Hume jedoch auch eine Konzeption ‚reflektierender Rationalität‘ voraus. Dem Prinzip instrumenteller Rationalität kommt also im Rahmen von Humes Theorie normative Kraft zu. Wir können es in unseren Ableitungen und Schlussfolgerungen berücksichtigen oder verletzen. Hume weist
_____________ dass unsere Irrationalität offensichtlich wird. Das Prinzip instrumenteller Rationalität wird eindeutig verletzt, wenn wir nicht die effektivsten Mittel zu unseren Zielen wählen. Siehe Dancy 2000, 46f. 36 In folgender Textpassage stellt dies Hume ganz klar: „I may desire any fruit as of an excellent relish; but whenever you convince me of my mistake, my longing ceases. I may will the performance of certain actions as means of obtaining any desir’d good; but as my willing of these actions is only secondary, and founded on the supposition, that they are causes of the propos’d effect; as soon as I discover the falsehood of that supposition, they must become indifferent to me.“ Hume 1978, 417. 37 Korsgaard 1997, 233.
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aber klar auf die Grenzen des Schlussfolgerns und des Mittel-ZweckRäsonierens hin: „Where a passion is neither founded on false suppositions, nor chuses means insufficient for the end, the understanding can neither justify nor condemn it.“38 Zweck-Mittel-Überlegungen verlangen von uns, die angemessenen Mittel zu wählen, falls wir ein Ziel oder einen Zweck haben und auch eine theoretische Annahme über den Zusammenhang zwischen einem Ziel und dem zu seiner Erreichung geeigneten Mittel treffen. Aber Zweck-Mittel-Überlegungen für sich genommen können uns in keinerlei Weise helfen, den Wert der Ziele und Zwecke zu evaluieren. Mittel-Zweck-Überlegungen als solche informieren uns nicht über die Wahrheit unserer theoretischen Annahmen oder über den Wert unserer Ziele. Dies verlangt einen entsprechenden Standard der Beurteilung: entweder einen Standard der Wahrheit oder einen Wertestandard, der durch Argumente reflektierter Vernunft begründet werden muss. So gesehen stellen Humes irritierende Bemerkungen über die teils skurrile Bandbreite unserer möglichen Wünsche nicht mehr dar als eine Erinnerung an die Grenzen von Zweck-Mittel-Überlegungen: Für sich genommen erlauben uns Zweck-Mittel-Überlegungen keinerlei Bewertung der Werthaftigkeit unserer Wünsche und Ziele; genau dies würde deren Beweiskraft eindeutig überschreiten. Humes entsprechende Ausführungen sind also durchaus einleuchtend und korrekt. Im Grunde genommen räumt Korsgaard implizit ein, dass Hume die Wertneutralität des Prinzips instrumenteller Rationalität voraussetzt. Hume, so schreibt sie, „thinks we neither ought-to-want nor really-want only those ends which are consistent with our overall good“.39 Sie betrachtet dies aber als Defizit von Humes Position – ein Defizit, das ihrer Meinung nach die Normativität instrumenteller Rationalität untergräbt. Doch mit diesem Argument macht Korsgaard die normative Stärke des instrumentellen Vernunftprinzips von etwas anderem abhängig als von der Normativität, die Zweck-Mittel-Überlegungen besitzen, insofern sie eine Variante logisch korrekten Folgerns darstellen. Und dies ist genau die von Korsgaard bewusst akzeptierte These. Ihre Kritik an Hume ist ja gerade, dass instrumentelle Vernunft nur dann Normativität hat, wenn den verfolgten Zielen Wert zukommt. Sie schreibt entsprechend: (F)or the instrumental principle to provide you with a reason, you must think that the fact that you will an end is a reason for the end. […] It means that your willing
_____________ 38 Hume 1978, 416. 39 Korsgaard 1997, 231.
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the end gives it a normative status for you, that your willing the end in a sense makes it good.40
Doch eben dies ist eine höchst problematische Position, denn sie basiert auf einer Verwechslung und Vermischung der ‚Normativität von Bedingungen der Rationalität‘ (normativity of rational requirements) mit der ‚Normativität von Gründen‘ (normativity of reasons). Wir sollten aber klar zwischen diesen beiden Formen der Normativität unterscheiden. Die ‚Normativität von Bedingungen der Rationalität‘ bezieht sich auf Bedingungen und Anforderungen der Rationalität wie Konsistenz, Folgerung, Kohärenz und Zweck-Mittel-Räsonieren. Die ‚Normativität von Gründen‘ hängt von dem epistemischen und axiologischen Gewicht ab, das Gründen zukommt. Die Quellen der Normativität mit Bezug auf Bedingungen der Logik sind völlig andere als die Ursprünge der Normativität im Fall von Gründen. Die Bedingungen der Rationalität verlangen von uns, formale Standards der Rationalität wie Konsistenz, Kohärenz, und die Regeln korrekten Folgerns nicht zu verletzen. Solche Standards der Logik sind wertneutral. Insofern liefern uns die normativen Bedingungen der Rationalität keine Antwort auf die Frage, was wir tun sollen. Die Antwort auf diese Frage verlangt ein Abwägen und Bewerten der Gründe, die dafür sprechen, eine Handlung X zu tun oder zu unterlassen. Die normative Kraft von Gründen hängt von der Rechtfertigung ab, die wir dafür geben können, dass diese Gründe gute oder zwingende Gründe darstellen, X zu tun oder zu unterlassen. Die Reflexion auf das Gewicht von Gründen kann sich nur im Rahmen der formalen Bedingungen von Rationalität bewegen. Doch die Frage, ob wir formale Bedingungen der Rationalität erfüllen oder verletzen ist strikt von der Frage zu trennen, ob wir gute oder zwingende Gründe haben, dies oder jenes zu tun oder nicht zu tun. Das maßgebliche Argument, um die strikte Unterscheidung zwischen der Normativität formaler Bedingungen (normativity of rational requirements) und der Normativität von Gründen (normativity of reasons) zu fordern, ist das so genannte ‚bootstrapping problem‘, also das Problem, dass man nicht einfach durch formal korrektes praktisches Räsonieren praktische Gründe kreieren kann. Eine Erklärung praktischen Folgerns muss, wie Michael Bratman verdeutlicht hat, ‚bootstrapping‘ vermeiden: Logisch korrektes praktisches Räsonieren vermag nicht gute Gründe herbeizuzaubern. So kann die Bedingung korrekten instrumentellen Überlegens für sich genommen keinen guten Grund schaffen, etwas zu tun – „(it) cannot bootstrap a reason into existence“41.
_____________ 40 Korsgaard 1997, 245f. 41 Bratman 1987, 23-27. Auch Broome besteht auf der Trennung von normativen Forderungen (requirements) und Gründen (reasons). Siehe Broome 2002.
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Angewandt auf das Prinzip der instrumentellen Rationalität bedeutet dies: Man muss das Prinzip instrumenteller Rationalität auf solch eine Art und Weise formulieren, dass es eine formale normative Bedingung (normative requirement) darstellt, die Mittel zu einem Ziel X zu ergreifen, falls man de facto das Ziel X hat, und glaubt, dass Y das angemessene Mittel ist, um X zu realisieren. Die Frage, ob man einen (guten) Grund hat, Y zu tun, ist davon getrennt zu sehen. So liefert mir zum Beispiel die bloße Intention, am Wien-Marathon teilzunehmen, keinen Grund, täglich meine Trainingsläufe zu absolvieren, wenngleich ich glaube, dass tägliches Trainieren erforderlich ist, um erfolgreich am Marathon teilnehmen zu können. Es kann ja möglicherweise der Fall sein, dass ich keinen Grund habe zu trainieren, da ich infolge eines Herzfehlers einen Marathonlauf ohnehin nicht überleben würde. Die Tatsache, dass ich die Intention habe, ein bestimmtes Ziel X zu erreichen, schafft für sich genommen keinen Grund, das für X notwendige Mittel Y zu tun. Dieses Argument gilt gleichermaßen für Korsgaards spezifische Formulierung des Prinzips instrumenteller Vernunft in Begriffen des Wollens. Nach Korsgaard lässt sich Kants Lesart des instrumentellen Prinzips in Form des folgenden Syllogismus darlegen: Wer den Zweck will, der will auch die Mittel. Ich will den Zweck. Daher: Ich will die Mittel. Diese Formulierung ist, wie Korsgaard betont, problematisch, denn jemand kann den Zweck wollen und gleichzeitig doch nicht das Mittel wollen. Darum fügt Korsgaard die Bedingung „insofern jemand vernünftig ist“ an. Die korrekte Form des Syllogismus lautet also: Wer den Zweck will, der will auch die Mittel, insofern er vernünftig ist. Ich will den Zweck. Daher: Ich will die Mittel, insofern ich vernünftig bin. Die Konklusion ist gleichbedeutend mit: Wer den Zweck will, der muss auch die Mittel wollen. (whoever wills the end, ought to will the means.42)
_____________ 42 Korsgaard 1997, 239.
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Diese Formulierung der Konklusion benutzt einen Soll-Operator mit begrenzter innerer Reichweite (a narrow scope‚ought‘), der sich nur auf ‚die Mittel wollen‘ bezieht. Dies bedeutet, dass man die Ableitung machen kann: ‚Du sollst die Mittel ergreifen‘, also: Du hast einen Grund, die Mittel zu ergreifen (you ought to take the means, i.e. you have a reason to take the means). Genau diese Form der Ableitung kritisiert John Broome. Nach Broome ist diese Ableitung ungültig, weil aus dem Satz, dass man die Mittel tun soll, noch nicht folgt, dass man einen Grund hat, die Mittel zu tun. Broome weist Korsgaards Art der Rekonstruktion und Verteidigung des obigen Syllogismus zurück.43 Das Problem von Korsgaards Reformulierung des Prinzips instrumenteller Vernunft ist also: Die Tatsache, dass eine Person einen Zweck X will und glaubt, dass sie mit Y-tun den Zweck X realisiert, liefert der Person keinen Grund, den Zweck X zu wollen und entsprechend auch keinen Grund, das Mittel Y zu ergreifen. Die These, dass uns das Wollen eines Zwecks einen Grund gibt, den Zweck zu wollen, und folglich auch einen Grund, das Mittel zu wollen, ist, wie John Broome (anknüpfend an Bratman) meint, ein klarer Fall von bootstrapping: „(A) reason would be being pulled into existence out of nothing.“44 Wenn also im Falle von ZweckMittel-Folgerungen eine Form des Wollens (volition) eine weitere Form des Wollens als Folgerung nach sich zieht, dann ist die Frage noch nicht beantwortet, ob wir auch einen Grund haben, der abgeleiteten Form des Wollens zu folgen. Schlussfolgerungen ergeben sich über die logischen Verbindungen zwischen den Inhalten von mentalen Zuständen; und die logischen Verbindungen konstituieren normative Anforderungen (normative requirements). Die spezifische Relation einer normativen Forderung, ist, wie Broome dies ausdrückt, „given by the correctness of the reasoning“.45 Schlussfolgern (reasoning) ist eine Relation zwischen mentalen Zuständen; im Falle von Zweck-Mittel-Folgerungen sind die mentalen Zustände eine Intention, ein Glaube bzw. eine theoretische Annahme (über die Mittel zu einem Zweck) und eine weitere Intention (die Konklusion des Folgerns). Dieser Prozess des Schlussfolgerns ist wertneutral. Es ist meines Erachtens auch notwendig, eine völlig wert- und gründeneutrale Konzeption instrumenteller Rationalität zu entwickeln. Denn für sich genommen können Zweck-Mittel-Überlegungen nicht die Zwecke als etwas Gutes begründen. Einen Zweck X intendieren liefert uns noch keinen Grund, X zu realisieren. Wie Joseph Raz richtig bemerkt: „(A) would-be
_____________ 43 Siehe Broome 2000, 98f. 44 Broome 2002, 93. 45 Broome 2002, 8.
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murderer cannot create for himself a reason for poisoning his intended victim just by making it his goal to kill him.“46 Nach Broome ist es maßgeblich, klar zwischen der logischen Folgerungsbeziehung und der Gründe-Beziehung zu unterscheiden. Die Unterscheidung kann mit Hilfe der unterschiedlichen Reichweite des SollensOperators (scope of the ought-operator) im Falle von Folgerungsbeziehung und im Falle der Gründe-Beziehung verdeutlicht werden. Im letzteren Falle, also wenn es um Gründe geht, ist „Sollen“ ein Operator mit enger Reichweite (narrow-scope operator). Die Gründe-Relation erlaubt eine Abtrennung der Konklusion. Also: Wenn p ein Grund für q ist, dann folgt, dass man einen Grund für q hat, also: Du sollst q tun (you ought to q, i.e. Oq). Im Falle einer normativen Forderung (normative requirement) hat der SollensOperator eine breite Reichweite (wide-scope operator); der Sollensoperator bezieht sich auf die ganze Proposition, also den gesamten Konditionalsatz: Du sollst (wenn X und wenn du glaubst dass Y notwendig für X dann Y). Normative Forderungen (normative requriements) sind für Broome strikte normative Relationen, die keine Herleitung eines Sollsatzes als Konklusion erlauben; die normative Anforderung bezieht sich nämlich auf den Gesamtprozess des Folgern und nicht auf die Konklusion für sich allein betrachtet. Angewandt auf das Prinzip instrumenteller Rationalität bedeutet dies: Das Prinzip wird angemessen als normative Forderung (normative requirement) dargestellt, d.h. also durch einen Soll-Operator mit breiter Reichweite. Der Soll-Operator bezieht sich auf den gesamten Konditionalsatz instrumenteller Deliberation, also: Du sollst (wenn du Zweck oder Ziel X intendierst, und du glaubst, dass Y das notwendige Mittel ist, um X zu realisieren, die Intention formen, Y zu tun). 47 Der Sollensoperator breiter Reichweite, der sich auf das gesamte Konditional bezieht, erlaubt nicht die Abspaltung (detachment) der Konklusion
_____________ 46 Raz 2005, 3. 47 Broomes Formulierung in der Originalfassung lautet: „You ought (If you intend to E and believe that your M-ing is a necessary means to E, form the intention to M).“ Broome 2004, 29. Broomes jüngste Formulierung des instrumentellen Prinzips und der instrumentellen Forderung lautet: „Rationality requires of N that, if N intends that e, and if N believes that e will be so only if m is so, and if N believes that m will be so only if she herself intends that m, then N intends that m.“ Siehe Broome 2008, 2 (im Erscheinen), zitiert nach: http://users.ox.ac.uk/ John Broome.
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„Du sollst Mittel Y tun (O-M)“ (also eines Sollens enger Reichweite).48 Da sich das Verbot der Abspaltung ganz generell auf das instrumentelle Räsonieren bezieht (ganz unabhängig von den Gründen), so besteht dieses Verbot auch dann, wenn die Ziele und Zwecke nicht wertvoll oder gut, sondern wertlos oder moralisch schlecht sind. Normative Forderungen basieren also nach Broomes Rekonstruktion auf logischen Beziehungen zwischen den Inhalten von Propositionen.49 Die logischen Beziehungen sind die Basis der Normativität. Es besteht die normative Forderung, wenn man die Prämissen als wahr akzeptiert, auch die Konklusion als wahr zu akzeptieren; gleichermaßen besteht die normative Forderung, wenn man die Prämissen intendiert, auch die Konklusion zu intendieren. Deshalb, so argumentiert Broome, ist es falsch anzunehmen, dass uns instrumentelles Folgern einen Grund liefert, die Mittel zu ergreifen. Wie Broome schreibt: But instrumental reasoning does not provide you with a reason to take a means. That is not how it works. Willing (or intending) an end normatively requires you to will whatever you believe is a necessary means to the end.50
Als Konsequenz der strikten Trennung zwischen der Normativität von Anforderungen der Rationalität und der Normativität von Gründen ergibt sich, dass instrumentelles Räsonieren völlig neutral ist gegenüber dem Wert der Zwecke. Weder kann instrumentelle Rationalität den Zwecken irgendeinen Wert zuschreiben oder einen Wert auf diese übertragen noch ist der normative Status instrumenteller Rationalität in irgendeiner Weise vom Wert oder der Wertlosigkeit der Ziele und Zwecke berührt. Instrumentelle Rationalität ist eine gegenüber dem Guten oder dem Schlechten neutrale Form der Normativität. Broome bringt dies auch klar zum Ausdruck, wenn er schreibt: Instrumental reasoning brings you to take appropriate means to your ends, and it is not paralyzed if your ends happen to be ones you should not have. Similarly,
_____________ 48 Broome reduziert nicht alle normativen Relationen auf normative wide-scope Anforderungen (wide scope normative requirements). Seine These ist lediglich, dass die Normativität, die dem instrumentellen Räsonieren zukommt, am besten durch einen Sollens-Operator mit breiter Reichweite (a wide-scope ought) ausgedrückt wird. Insofern wird Broomes Position auch nicht untergraben, wenn wir zugeben, dass es normative Forderungen (requirements) gibt, die einen Operator mit begrenzter Reichweite (a narrow-scope ought) ausdrücken, dessen Normativität sich dem Umstand verdankt, dass es eben starke rechtfertigende Gründe für eine solche Forderung gibt. 49 Broome 2000, 82. 50 Broome 2000, 98.
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your theoretical reasoning works well and in the same way, whether or not it is premised on beliefs you should not have.51
Was folgt nun aus Broomes Rekonstruktion des Prinzips instrumenteller Rationalität, die ich für überzeugend und korrekt halte, mit Bezug auf Korsgaards Interpretation des Prinzips instrumenteller Rationalität und ihrer entschiedenen Kritik an Humes Erklärung von Zweck-MittelDeliberationen? Rufen wir uns kurz in Erinnerung: Korsgaard argumentiert, dass dem Prinzip instrumenteller Rationalität nur dann normative Kraft zukommt, wenn es auf Zwecke angewandt wird, die wertvoll sind, mehr noch: Zwecke, die kantisch gesprochen, unbedingten Wert (unconditional value) haben. Mit anderen Worten: Nur wenn die Ziele normative Kraft haben, dann gibt es auch eine normative Forderung, also ein Sollen, das Mittel zu den Zielen zu ergreifen. Also gilt nur im Kontext wertvoller Zwecke die Bedingung: Wenn du einen Zweck willst, dann sollst du das Mittel dazu ergreifen, insofern du rational bist. Das Problem aber ist, dass Zweck-Mittel-Räsonieren als solches ganz unabhängig vom Wert der Ziele und Zwecke benützt wird – und als Form logischen Schließens auch unabhängig vom Wert der Ziele und Zwecke normative Kraft hat. Den logischen Beziehungen zwischen den Inhalten der Propositionen im Falle von Zweck-Mittel-Folgerungen (bei Korsgaard ist dies ein Wollen, ein Glaube und ein davon abgeleitetes Wollen) kommt Normativität zu; nämlich Normativität in der Form, dass wir einen Grund haben, logisch korrekte Schlüsse zu ziehen. Doch aus Zweck-MittelSchlüssen für sich genommen folgt nicht, dass die Ziele normativen Status haben. Zweck-Mittel-Deliberationen teilen uns nichts über den Wert oder die Wertlosigkeit unserer Ziele und Zwecke mit. Ob den Zielen für sich genommen aufgrund ihrer Werthaftigkeit Normativität zukommt, ist eine von der logischen Ebene völlig getrennte Angelegenheit der Wertbeurteilung. Korsgaards Konzeption des Wollens ist eine spezifisch kantische Sicht des Willens. Wollen ist eine Form autonomer Reflexion, die auch an die Selbstgesetzgebung des grundlegenden moralischen Prinzips gebunden ist. Dies wird zum Beispiel in Korsgaards folgender Textpassage deutlich: The instrumental principle can only be normative if we take ourselves to be capable of giving laws to ourselves – or, in Kant’s own phrase, if we take our own wills to be legislative.52
Wollen bedeutet für Korsgaard gutes Wollen; ihre Konzeption des Willens ist letztlich ein kantischer guter Wille – ein Wille, der auf dem moralischen
_____________ 51 Broome 2000, 98. 52 Korsgaard 1997, 246.
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Gesetz basiert.53 Infolge ihrer moralabhängigen Konzeption des Wollens – das Prinzip des Handelns ist das moralische Gesetz – wird in Korsgaards Ansatz die Grenze zwischen der Relation der Normativität der Rationalität, also der Relation normativer Anforderungen (requirements), und der Gründe-Relation unscharf. Da die Idee der Autonomie des Willens, also der Freiheit, eine Entscheidung oder eine Wahl zu treffen, mit dem moralischen Gesetz verknüpft ist, so sind die Objekte des Wollens zwangsläufig gute oder wertvolle Ziele oder Zwecke. Daraus folgt: Da die Ziele und Zwecke per definitionem wertvoll und gut sind, so haben wir auch einen Grund, diese zu realisieren und insofern haben wir einen Grund, die entsprechenden Mittel zu ergreifen. Korsgaards Annahme – „the fact that you will an end is a reason for the end“ – bezieht sich eben
_____________ 53 Korsgaard folgt hier Kants funktionalem Argument in der Grundlegung: Das einzige Prinzip, das die Bedingung erfüllt, ein Gesetz zu sein, ist eben der kategorische Imperativ. Korsgaards Argument, das uns zum kantischen Gesetz bringt, hat zwei Schritte: Der erste Teil des Arguments begründet, warum wir ein Gesetz brauchen; der zweite Schritt begründet, warum dieses Gesetz eben nur der kategorische Imperativ sein kann. Im Detail lautet Korsgaards Argumentation: Damit wir Personen sind, die fähig sind, ihr Tun kritisch zu reflektieren, können wir nicht einfach unseren Impulsen folgen, denn sonst wären wir mutwillige Wesen (wantons), aber nicht Personen. Wir können aber nur dann Gründe für unsere Handlungen geben und unsere Handlungen rechtfertigen, wenn es Gesetze gibt, die unsere reflektierenden Bewertungen leiten. Wir müssen uns fragen, ob eine bestimmte Triebfeder unseres Handelns sich auch als Gesetz für uns qualifizieren kann. Wir müssen durch einen freien Willen konstituiert sein, also durch ein selbstgegebenes Gesetz geleitet sein. Das Prinzip eines freien Willens ist ein Gesetz – und diese Bedingung, nämlich Gesetz zu sein, wird genau vom kategorischen Imperativ in der Formulierung des universellen Gesetzes erfüllt. Dies ist der erste Teil des Arguments. Im zweiten Teil des Arguments versucht Korsgaard zu beweisen, dass der kategorische Imperativ die einzige Lösung dieses Problems ist. Korsgaard entwickelt aber noch ein anderes Argument, das helfen soll, zu einer substantiellen Konzeption der Moral zu kommen: Um eine Person zu sein, müssen wir über eine normative Struktur verfügen. Normative Strukturen werden aber nicht nur von der Moral bereitgestellt, sondern auch von unseren spezifischen praktischen Identitäten, also jenen normativen Codes, die sich aus unseren besonderen sozialen Rollen und sozialen Kontexten ergeben – ob wir zum Beispiel Mütter, Väter, Mafiosi oder Philosophen sind. Wir können aber nicht praktische Identitäten entwickeln, wenn wir nicht uns selbst Wert zuschreiben, wenn wir also nicht unser Mensch- und Personsein als Wert schätzen. Unser Mensch- und Personsein zu schätzen verlangt aber, das Mensch- und Personsein anderer gleichermaßen zu schätzen. Dieses Argument bringt uns zur zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs, (der Formula of Humanity). Siehe Korsgaard 1996b, 98; 104f.. Für eine genauere Diskussion von Korsgaards diesbezüglichen Argumenten und Einwänden gegen ihren konstitutiven Internalismus siehe Pauer-Studer 2008, bes. 90ff.
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auf eine bestimmte Form des Wollens, nämlich ein auf gute oder wertvolle Ziele gerichtetes Wollen. Das Problem ist, dass Korsgaard diese moralbezogene Form des Wollens auf das Prinzip instrumenteller Rationalität insgesamt bezieht. Korsgaards Problem liegt nicht darin, dass die abgespaltene Konklusion „Ich soll das Mittel wollen“ nicht in allen Fällen gerechtfertigt ist; in dem besonderen Fall eines guten Willens, der die handelnde Person per definitionem auf unbedingt gute Zwecke verpflichtet, ist diese Abspaltung ja erlaubt. Das Problem ist, dass man diese Konzeption des Wollens nicht verallgemeinern und nicht generell auf das Zweck-Mittel-Räsonieren übertragen kann. Zweck-Mittel-Überlegungen können logisch korrekt sein, auch wenn die Ziele und Zwecke wertlos oder schlicht unmoralisch sind. Selbstredend kann man gutes Wollen auch auf instrumentelle Rationalitätsüberlegungen beziehen und darauf eine spezifische Form des ZweckMittel-Räsonierens aufbauen. Doch die reine Behauptung dieser Möglichkeit, nämlich dass ein an gute Zwecke gebundenes Wollen sich auch der Zweck-Mittel-Überlegungen bedienen kann, reicht nicht aus, um anzunehmen, dass Zweck-Mittel-Überlegungen als solche in allen Fällen gutes Wollen voraussetzen. Kant selbst hat eine andere Sicht der normativen Kraft des instrumentellen Prinzips als Korsgaard. Kant betrachtet das Prinzip der ZweckMittel-Überlegung als analytisch und als neutral gegenüber Werten.54 Im Falle eines Prinzips der Geschicklichkeit, einer Form des instrumentellen Prinzips, ist es nach Kant unerheblich, ob der Zweck vernünftig oder gut ist; relevant ist nur, wie wir das Ziel bestmöglich erreichen. Kant illustriert diese Zielneutralität mit einem recht drastischen Beispiel: Die Verschreibungen und Mittel, die ein Arzt benötigt, um eine Person zu heilen, und die gleichermaßen einem Giftmischer dazu dienen, einen Menschen zu töten, sind, wie Kant behauptet, von gleichem Werte, da die Mittel gleichermaßen dazu dienen, den jeweiligen Zweck bestmöglich zu realisieren.55 Hypothetische Imperative sind für Kant entweder Prinzipien der Geschicklichkeit oder der Klugheit. Kant unterscheidet sorgfältig zwischen der analytischen Form des hypothetischen Imperativs, dem Prinzip wertneutralen Zweck-Mittel-Räsonierens, und dem Prinzip der Klugheit als einer Form wertgebunden Zweck-Mittel-Räsonierens, das sich auf das Ziel des eigenen Wohlergehens richtet. Das eigene Wohlergehen kann – abhängig vom Kontext – durch verschiedene Mittel erreicht werden.56
_____________ 54 AA IV 417; 414; GMS. 55 AA IV 415; GMS. 56 Interessanterweise kritisiert Korsgaard die am Selbstinteresse orientierte ökonomische Theorie der Rationalität dahingehend, dass es diese verabsäume, eine Rechtferti-
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Wie sieht es im Falle von Hume aus? Hume behauptet ja, dass das Prinzip instrumenteller Rationalität wertneutral ist (wenngleich für Hume die mentalen Zustände vorrangig Affekte und nicht Intentionen sind). Hume nimmt an, dass wir Mittel-Zweck-Deliberationen nur hinsichtlich der Korrektheit oder Inkorrektheit der Annahmen über den konkret gegebenen Zusammenhang zwischen Mitteln und Zwecken korrigieren können, also dahingehend, ob bestimmte Mittel notwendig und hinreichend für die Realisierung bestimmter Zwecke sind. Hume nimmt an, dass das Prinzip instrumentellen Räsonierens ein gültiges Prinzip des Verstandes ist – ganz unabhängig von der Frage, ob die entsprechenden Affekte und Wünsche gut oder schlecht sind oder nicht.57 Dies bedeutet aber, dass
_____________ gung dafür zu geben, warum es rational ist „for each person to pursue his overall good“. Korsgaard 1997, 230. Korsgaard argumentiert, das „instrumental principle says nothing about our ends, so it is completely unequipped to say either that we ought to desire our overall good or that to prefer it to more immediate or local satisfactions. The self-interest theory of rationality, because it is committed to the principle of prudence, has to go beyond the instrumental theory.“ Korsgaard 1997, 231. Korsgaards Kritik der ökonomischen Rationalitätstheorie ist plausibel: die Gültigkeit des Prinzips instrumenteller Rationalität liefert uns keine Rechtfertigung dafür anzunehmen, dass die Maximierung des eigenen Vorteils und Nutzens das einzige und vorrangige Ziel eines rational Handelnden ist. Die Evidenz des Zweck-MittelPrinzips unterstützt nicht die spezifische Interpretation der instrumentellen Rationalität, wie sie implizit dem homo oeconomicus Paradigma unterliegt, dass nämlich rational sein bedeutet, den eigenen Vorteil zu maximieren. Es müssen weitere Argumente und Begründungen angeführt werden, warum die Maximierung des eigenen Nutzens das angemessene und vorrangige Ziel rationalen Handelns schlechthin sein soll. Solche Einwände zu erheben bedeutet aber, klar zwischen der Normativität der Rationalität (die sich auf die logische Gültigkeit von Zweck-Mittel-Beziehungen beschränkt) und der Normativität der Gründe, die auf einer Bewertung der Ziele basiert, zu unterscheiden. 57 Einige Philosophen verneinen, dass Hume so etwas wie eine Konzeption praktischen Räsonierens und Schlussfolgerns entwickelt. Die Begründung für diese These ist, dass Humes Moralpsychologie gar nicht jene mentalen Zustände anerkennt und zulässt, die ja die Inhalte sein müssten, zwischen denen im Falle von Zweck-MittelFolgerungen die logischen Relationen bestehen. Hume, so die kritischen Einwände, setze ja voraus, dass Affekte nicht repräsentational sind, dass sie also keine Repräsentationen von Objekten sind. Insofern hätten also Affekte (diese wären ja in Humes Konzeption die mentalen Zustände, zwischen denen sich logische Zweck-MittelBeziehungen ergeben) gar keinen Inhalt. Also können deshalb Affekte gar nicht Gegenstand praktischen Schlussfolgerns sein. Das bedeutet, so die Konklusion der Kritiker, dass Humes Position gar kein praktisches Schlussfolgern zulassen kann, da die Inhalte solcher Folgerungen in Humes Rahmenwerk ja gar nicht gegeben sind. Eine solche Position wird von Elijah Millgram vertreten. Siehe Millgram1995, 75-93. Ich halte diesen Einwand für falsch. Affekte sind nach Hume keine Abbilder von Ge-
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Hume klar eine wertneutrale Rekonstruktion des Prinzips instrumenteller Rationalität gibt, die durchaus plausibel ist. Um die Ergebnisse dieses Abschnitts zusammenzufassen: Korsgaards Einwand, dass es Humes Interpretation des Prinzips instrumenteller Rationalität an normativer Stärke fehlt, da es gemäß Humes theoretischem Rahmenwerk nicht verletzt werden kann, ist falsch. Hume lässt sehr wohl Verletzungen des Prinzips zu. Korsgaards zweites Argument, dass nämlich Humes Erklärung von Zweck-Mittel-Räsonieren defizient ist, weil Hume dieses als wertneutral charakterisiert, verfehlt gleichfalls den Punkt. Das Prinzip der instrumentellen Rationalität ist normativ mit Bezug auf den Vorgang des Räsonierens, also die Art des logischen Prozedere. Die Feststellung des Werts oder Unwerts der Ziele und der Gründe, die wir haben, um bestimmte Ziele zu verfolgen oder aufzugeben, liegt jenseits des Prinzips der instrumentellen Rationalität. Zweck-Mittel-Überlegungen liefern uns keinen Standard, um die Ziele zu bewerten; die Normativität des instrumentellen Prinzips ist ganz unabhängig vom axiologischen Status der Ziele.
4. Hume und die Methode ‚Reflektierender Bestätigung‘ (reflective endorsement) In ihrem Buch The Sources of Normativity 58entwickelt Korsgaard eine wesentlich positivere Sicht von Humes Theorie der Moral. Sie gesteht Humes Theorie der Moral in diesem Buch durchaus eine Konzeption der Normativität zu. Hume, so ihre These, entwickle eine Methode der reflektierenden Bestätigung unserer moralischen Urteile, also eine Methode der
_____________ genständen (copies of objects); und genau in diesem Sinne – dass Affekte also nicht Abbilder sind – ist der Ausdruck ‚repräsentational‘ zu verstehen: Affekte repräsentieren keine Gegenstände. Dies schließt aber nicht aus, dass Affekte als mentale Zustände und Erfahrungen durchaus Gehalt haben. Ihr Inhalt ist, dass sie sich zustimmend oder ablehnend auf bestimmte Objekte, Ziele und Zustände beziehen. Wie Humes Beispiele klar zeigen, können wir sehr wohl sinnvoll über die Beziehungen zwischen unseren Affekten und deren Zielen, auf die sie gerichtet sind, sprechen. Und wir können auch über die Relationen zwischen Affekten und Zielen räsonieren und über die Art der Handlungen, die wir gefordert sind zu tun, falls wir die Ziele unserer Affekte realisieren möchten. Für eine eingehende Diskussion der Frage, ob Hume eine Konzeption praktischer Vernunft entwickelt oder nicht, vgl. Pauer-Studer 2007, Kap. 5, bes. 310-321. 58 Korsgaard 1996b.
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Vergewisserung, ob unsere Empfindungen der Zustimmung oder der Ablehnung berechtigt sind oder nicht.59 Korsgaard unterstreicht durchaus gewisse Vorzüge von Humes Position: Sie räumt ein, dass Hume moralischen Urteilen durchaus eine Form der Objektivität zuschreibt, indem er behauptet, dass solche Urteile aus der Perspektive eines allgemeinen Standpunkts (general point of view) und unter Berücksichtigung der Bedingungen eines solchen Standpunkts gefällt werden müssen.60 Die erste dieser Bedingungen eines allgemeinen Standpunkts ist, dass wir den Charakter von Personen nicht aus einer idiosynkratischen Perspektive, sondern aus der Sicht der Sympathie mit der Person und den Personen ihres engeren Kreises beurteilen sollten. Die zweite Bedingung ist nach Korsgaard, dass wir die Eigenschaften der zu beurteilenden Person gemäß allgemeinen Regeln (general rules) bewerten sollten.61 Diese Methode Humes, zu einer Übereinstimmung unserer Urteile über Tugenden und Fehler von Charakteren zu gelangen, lässt sich nach Korsgaard verallgemeinern und als allgemeine Methode einer rationalen Übereinkunft über moralische Prinzipien und Urteile verstehen. So gesehen liefert uns Hume, wie Korsgaard betont, eine Erklärung von (moralischer) Normativität. Korsgaard räumt sogar ein, dass wir auf diesem Wege eine Art der Verpflichtung in Humes Theorie der Moral lokalisieren können.62
_____________ 59 Korsgaard 1996, 55. 60 Korsgaard verteidigt eine normativistische Lesart von Humes Bezugnahme auf den allgemeinen Standpunkt (the general point of view). Gemäß der normativistischen Interpretation beurteilen wir aus der Perspektive des allgemeinen Standpunkts unsere Empfindungen nicht nur in Hinblick auf formale Kriterien wie Konsistenz und Kohärenz, sondern auch mit Bezug auf deren Angemessenheit und moralische Gültigkeit. Solch eine normativistische Lesart entwickeln auch Annette C. Baier und Barry Stroud. Siehe Baier 1991, Kap.12; Stroud 1977, Kap. VIII. Diese normativistische Interpretation wird nicht von allen Hume-Forschern geteilt. So argumentiert zum Beispiel Rachel Cohon, dass Hume die Idee des allgemeinen Standpunkts nur deshalb einführt, um die Konsistenz seiner deskriptiven Moralpsychologie sicherzustellen. Hume erklärt demnach den Ursprung moralischer Empfindungen mit Hilfe des Mechanismus der Sympathie. Doch Sympathie im Sinne eines möglichen Gleichklangs der Empfindungen variiert, wie Hume ja zugebe, mit Nähe und Distanz. Deshalb, so folgert Cohon, führt Hume den allgemeinen Standpunkt als das geeigenete Mittel ein, um diese Differenzen und Unterschiede auszugleichen und um Kohärenz unserer Urteile und Bewertungen zu erreichen. Cohon reduziert den allgemeinen Standpunkt auf einen rein psychologischen Mechanismus. (Cohons Ansatz wird in der HumeLiteratur als deflationary account bezeichnet.) Siehe Cohon 1997. 61 Korsgaard 1996b, 55. 62 Korsgaard 1996b, 54-58.
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Wenngleich Korsgaard Hume durchaus als einen der „major traditional representative(s)“ einer Theorie der Normativität betrachtet, so kritisiert sie dennoch Humes Ansatz der Normativität als defizient, weil Hume diesen Ansatz ihrer Meinung nach nicht völlig konsequent entwickle. Sie argumentiert, dass der einzige Weg der Vervollständigung von Humes Methode reflektierender Bestätigung darin liegt, Humes Ansatz zu einem genuin kantischen Ansatz weiterzuentwickeln. Wie Korsgaard bemerkt: „I will end by saying why I think the logical consequence of the theory of normativity shared by Hume […] is the moral philosophy of Kant.“63 Korsgaards maßgeblicher Einwand ist, Hume wende seine Methode reflektierender Bestätigung nicht universell an, da er den Test reflektierender Bestätigung nicht nur mit Unparteilichkeit verknüpfe, sondern auch mit „allgemeinen Regeln“ (general rules), denen es an Spezifität und Detailliertheit mangle. Hume, so Korsgaard, versuche durchaus, unsere Empfindungen und Dispositionen einer moralischen Bewertung zu unterziehen. Allerdings, da die normativen Kriterien für diese Bewertung allgemeine Regeln sind, vermag Humes Testmethode nach Korsgaard nicht jeden einzelnen partikularen Fall für sich genommen zu erfassen. Damit wir aber nicht nur „allgemeine Fälle oder allgemeine Tendenzen“ bewerten, ist es, wie Korsgaard betont, notwendig, Humes Bezugnahme auf allgemeine Regeln genau als Bezugnahme auf solche moralischen Prinzipien zu verstehen, die wir als universelle Gesetze wollen können. So gesehen ist nach Korsgaard genau die kantische Theorie die konsequente Ausformulierung von Humes am allgemeinen Standpunkt orientierter Methode reflektierter Bestätigung. Der Schritt von Hume zu Kant ist also, wie Korsgaard argumentiert, unausweichlich. Korsgaards Einwand gegen Humes Methode ist eine Version jener Argumente, die oft gegen den Regelutilitarismus vorgebracht werden: In gewissen Fällen scheint es durchaus vernünftig, eine Regel zu verletzen, wenn durch die Verletzung der Regel ein besseres Resultat (im Sinne einer Steigerung des Nutzens oder Wohlergehens) erzielt wird, als wenn man sich strikt an die Regel hält. Korsgaard benützt das Beispiel einer Variante von Humes sensiblem Schurken (sensible knave): nämlich den Fall einer Rechtsanwältin, die entdeckt, dass einer ihrer kürzlich verstorbenen Klienten sein Testament geändert hat. Der Klient hat sich schlussendlich entschlossen, sein Vermögen einem Nichtsnutz an Neffen zu überlassen, anstatt sein Vermögen – wie ursprünglich vorgesehen – sinnvoller medizinischer Forschung zur Verfügung zu stellen. Da es viel besser wäre, das Vermögen des Klienten wirklich der medizinischen Forschung zukommen
_____________ 63 Korsgaard 1996b,, 51.
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zu lassen, hat die Rechtsanwältin in diesem Fall einen guten Grund, dem letzten Willen des Klienten nicht zu entsprechen und das diesbezügliche Versprechen dem Klienten gegenüber zu brechen. Doch solch eine Überlegung verlangt in diesem Fall, wie Korsgaard betont, ein sehr genaues Abwägen der jeweiligen partikularen Gründe – eine Deliberation, die nicht auf der Basis von allgemeinen Regeln, die sich nur auf allgemeine Dispositionen beziehen, geleistet werden könne.64 Wir benötigen, wie Korsgaard argumentiert, eine Methode der reflektierenden Bestätigung, die sich nicht nur auf allgemeine Tendenzen, sondern auf all unsere Einzelfall-Dispositionen anwenden lässt. Um aber eine plausible Konzeption der Normativität zu haben, die alle Fälle unserer besonderen Neigungen und Dispositionen umfasst, müssen wir alle unsere besonderen Motive, Neigungen und Dispositionen einem Prüf-Test unterziehen. Wenn wir diese Bedingung akzeptieren, dann – so meint Korsgaard – befinden wir uns bereits auf dem Boden der kantischen Theorie: Denn zu prüfen, ob all unsere Neigungen und Dispositionen gute Gründe des Handelns darstellen, bedeutet, zu prüfen, ob diese Gründe für uns alle ein Gesetz sein können. In Korsgaards eigenen Worten: (W)hat we need in order to establish the normativity of our more particular motives and inclinations is the reflective endorsement of those. That after all is the whole point of using the reflective endorsement method to justify morality: we are supposing that when we reflect on the things which we find ourselves inclined to do, we can then accept or reject the authority those inclinations claim over our conduct, and act accordingly. But what I have just described is exactly the process of thought that, according to Kant, characterizes the deliberations of the autonomous moral agent […]. Since a reason is supposed to be intrinsically normative, we test a motive to see whether it is a reason by determining whether we should allow it to be a law to us. And we do that by asking whether the maxim of acting on it can be willed as a law.65
Auf diesem Wege, so folgert Korsgaard, können wir uns also davon überzeugen, dass Autonomie in der Form der Selbstgesetzgebung des moralischen Gesetzes der Ursprung von Normativität und Verpflichtung ist. Doch Korsgaards Kritik an Humes Methode des reflective endorsement ist mit Vorsicht zu sehen. Denn die Probleme, die Korsgaard in Humes Berufung auf allgemeine Regeln gegeben sieht, ergeben sich nur dann, wenn wir die strikte Regelbefolgung in allen Fällen spezifischen und besonderen Gründen rigoros vorziehen. Es ist aber bekannt, dass wir in bestimmten Fällen sehr wohl Regeln aus moralischen Gründen verletzen sollen – und
_____________ 64 Korsgaard 1996b, 88. 65 Korsgaard 1996b, 89.
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dies gilt sowohl für den Utilitarismus66 als auch für individualistischegoistische Versionen des Kontraktualismus und deren Verletzbarkeit durch ‚sensible knave-Strategien‘: Wenn eine das Eigeninteresse maximierende Strategie eine evidente und nicht bestreitbare Bedingung der Rationalität darstellt, dann ist es nicht bloß eine Versuchung, sondern ein rationales Gebot, eine Übereinkunft (einen Kontrakt) zu verletzen, wenn eine solche Verletzung nicht die Kooperationsbereitschaft als Ganzes untergräbt, aber doch im Einzelfall den Eigennutzen einer Person erhöht. Sogar die kantische Theorie ist nicht frei von dem Problem und den Gefahren des Regelfetischismus: Das Befolgen eines allgemeine Gesetzes kann gleichermaßen zu einem moralischen Rigorismus degenerieren, der die moralische Relevanz spezifischer Gründe und besonderer Beziehungen zu anderen übergeht. Selbstredend kann ein kantisches Testverfahren solche Probleme überwinden – dies aber nur, wenn die besonderen Gründe und Verhältnisse in der Formulierung jener Maximen berücksichtigt werden, die eben zur moralischen Prüfung anstehen. Das Gleiche aber gilt für Humes Methode reflektierender Bestätigung. Es geht dabei um eine Form der Bewertung, die uns für sich genommen keineswegs auf die Abstraktion von spezifischen Neigungen, Empfindungen oder Dispositionen verpflichtet. Unsere Empfindungen der Zustimmung oder Ablehnung, also von „praise or blame“, verändern sich nach Hume je nach Nähe oder Distanz. Im Fall von Personen unseres Nahbereichs sind unsere moralischen Empfindungen lebhafter und stärker als im Fall von uns fern stehenden Personen: Unsere Empfindungen sind im letzteren Fall nicht so unmittelbar berührt. Doch Hume meint, dass soziale Interaktion und Kommunikation völlig unmöglich wären, wenn wir Personen und Verhältnisse jeweils nur aus unserer Sicht und von unserem Standpunkt aus beurteilen würden.67 Unsere moralischen Urteile können nicht auf unseren unmittelbaren Gefühlen und Empfindungen beruhen; sie müssen reflektiert sein und auch korrigiert werden, wenn sie von den stärkeren Affekten von Zustimmung und Ablehnung im Falle der Nähe
_____________ 66 Dieser Einwand wurde mit Bezug auf den Utilitarismus insbesondere von Bernard Williams vorgebracht. In seiner Verteidigung des Regelutilitarismus (unter anderem gegenüber der Kritik von Williams) argumentiert John Harsanyi, dass die relevanten Regeln in einer Art und Weise formuliert werden können, so dass die Ausnahmen zu den Regeln bereits vom utilitaristischen Standard her gedeckt und auch regelutilitaristisch zulässig sind: „Yet, even though there may often be practical difficulties in deciding what specific list of permissible exceptions to a given moral rule would in fact maximize social utility, I think it is very important from a philosophical standpoint that rule utilitarianism does provide at least a conceptually clear theoretical criterion for the set of morally permissible exceptions.“ Harsanyi 1985, 129f. 67 Hume 1978, 581.
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von Personen und Ereignissen berührt werden. Unser fleißiger und uns ergebener Diener verursacht, so Humes Beispiel, wesentlich stärkere Empfindungen als ein historisch entfernter Charakter wie Marcus Brutus oder irgendeine tugendhafte Person im antiken Griechenland; dennoch aber können wir ein stärker ausgeglichenes und angemessenes Urteil erreichen, wenn wir genau die besonderen Züge und Qualitäten eines Charakters beurteilen.68 Wir müssen also nach Hume beständige und allgemeine Standpunkte („some steady and general points of view“) beziehen, um die Idiosynkrasien und Verzerrtheiten unserer subjektiven moralischen Wahrnehmungen und Gefühle zu korrigieren. Der allgemeine Standpunkt ist also ein Standpunkt der Objektivität, der uns zu Empfindungen führt, die nicht rein impulsive Reaktionen darstellen. Unsere moralischen Urteile sollten nach Hume reflektierte und wohlüberlegte Ausdrucksformen unserer moralischen Empfindungen sein. Moralische Urteile beruhen – und dies ist charakteristisch für Humes Theorie der Moral – auf Empfindungen; sie sind aber nicht unmittelbare emotionale Reaktionen, die von Nähe, Entfernung und physischer oder historischer Distanz bestimmt sind. Es scheint mir wichtig zu betonen, dass Hume – im Gegensatz zu Korsgaards Interpretation – allgemeine Regeln (general rules) keineswegs als normative Anleitungen versteht, denen wir zu folgen haben, wenn wir aus der Perspektive eines allgemeinen Standpunkts überlegen und reflektieren. Hume führt den Begriff der general rules ein, um jene Fälle und Situationen auszugleichen und zu korrigieren, in denen unsere Affekte von unterschiedlichen „degrees of liveliness and strength“ beeinflusst sind, also Unterschieden, die oft das Ergebnis eingebildeter, aber nicht real gegebener Objekte und Ursachen sind. Manchmal sind nach Hume unsere Affekte stärker als unsere Glaubensannahmen, und manchmal entstehen sie auch ganz unabhängig von der konkreten Existenz bestimmter Objekte.69 Die allgemeinen Regeln, so Hume, sind Mittel, um uns auf die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ursache-Wirkungs-Verhältnisse aufmerksam zu machen; sie sind für uns Indikatoren dafür, wann unsere Vorstellungen fehl gehen und keine angemessenen oder korrekten Repräsentationen der real gegebenen Relationen zwischen unseren Affekten und den sie verursachenden Objekten darstellen. Allgemeine Regeln helfen uns, irrtümliche Ableitungen und irrige Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen zu vermeiden, und sie helfen uns, fehlerhafte oder unvollständige Annahmen über Ursachen zu vermeiden. „General rules“, so sagt uns Hume, „create a species of probability, which sometimes influences the judgment and always
_____________ 68 Hume 1978, 581. 69 Hume 1978, 585.
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the imagination. “70 Zweifellos spricht Hume auch von „allgemeinen Prinzipien“, die unser Urteilen und unsere Meinungen leiten.71 Aber diese Prinzipien, die von den erwähnten allgemeinen Regeln zu unterscheiden sind, sind jene Standards der kritischen Reflexion, die eben eine Methode verkörpern, „of correcting our sentiments, or, at least, of correcting our language, where the sentiments are more stubborn and unalterable“72. Diese Prinzipien sind unparteiliche Standards, die nicht von unseren subjektiven Meinungen und Gesichtspunkten verzerrt sind. Unparteilichkeit ist nichts anderes als eine Form der wohlbegründeten Reflexion, die frei ist von den Verzerrungen persönlicher Interessen; es handelt sich nicht um eine Form der Allgemeinheit, die konkrete Details und Aspekte moralischer Relevanz wie etwa besondere Neigungen, besondere Dispositionen oder besondere Umstände ignoriert. Um zusammenzufassen: Mein Ziel in diesem Aufsatz war es, zu zeigen, dass ungeachtet der umfassenden Kritik von neo-kantischer Seite, wie sie paradigmatisch von Christine Korsgaard in ihren höchst lesenswerten und scharfsinnigen Arbeiten entwickelt wird, es durchaus Raum gibt für Hume’sche Erklärungen von Rationalität und Normativität. Korsgaards Kritik, dass Humes Konzeption des reflective endorsement nicht die partikularen Dispositionen erreichen kann, auf deren Basis wir handeln, ist gegenüber Humes tatsächlichen Argumenten, was moralische Begründung betrifft, ungerecht. Die Fokussierung auf besondere Neigungen und Dispositionen ist ja gerade charakteristisch für Humes empfindungsbezogene Konzeption der Moral. Insofern finde ich die These Korsgaards, dass Humes Begründungsmethode zwangsläufig nur durch eine kantische Moralkonzeption vervollständigt werden könne, nicht angemessen. Humes Theorie verfügt über bemerkenswerte Ressourcen moralischer Rechtfertigung und Begründung – Ressourcen, die eine Konzeption der Normativität ergeben, die nicht nur unsere Vorstellungen und Gedanken leitet, sondern die uns dazu anleitet, uns durch einen Prozess der ständigen Korrektur und Verfeinerung unserer Empfindungen – eines Fortgangs der Empfindungen (progress of sentiments73) – zu moralischen Wesen zu entwickeln. Hume liefert uns eine Konzeption normativer Gründe in Form von Urteilen, die wir berechtigterweise fällen können. Hume setzt also Autonomie des reflektierenden Bewusstseins in Form verlässlicher und
_____________ 70 Hume 1978, 585. 71 Hume 1978, 584. 72 Hume 1978, 582. 73 Annette Baier hat diese Wendung Humes nicht nur zum Titel eines ihrer HumeBücher gemacht, sondern in diesem Buch auch sorgfältig erläutert. Siehe Baier 1991.
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nachvollziehbarer Urteile voraus. Doch seine Form der moralischen Reflexion ist eine Form subtiler moralischer Autorität, die uns nicht ausschließlich auf eine an Gesetzen geschulte Art der Selbstkonstituierung verpflichtet, der gemäß moralisches Gutsein oder moralischer Unwert nur eine Angelegenheit der Befolgung richtiger oder falscher Gesetze sind. Korsgaard hat durchaus recht damit, dass Autonomie der Ursprung der Normativität ist. Doch wir sind nicht notwendigerweise darauf verpflichtet, ihre starke Konzeption der Autonomie zu übernehmen, nach der das moralische Gesetz nicht nur Richtlinie unseres Wollens ist, sondern sogar konstitutives Prinzip jeglichen Wollens überhaupt.
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John McDowell und die Aufklärung. Eine Kritik der neo-aristotelischen Ethik1 Heiner F. Klemme
1. Einleitung Unter den gegenwärtigen Gestalten des ethischen Naturalismus ist der Aristotelismus besonders bemerkenswert. Denn wer erwartet hätte, dass sich der aristotelische Naturalismus durch die Erfolge der modernen Naturwissenschaften, die sich anschicken, die letzten Geheimnisse des Lebens zu lüften, in die Defensive drängen lässt, sieht sich enttäuscht. Eher das Gegenteil ist der Fall. Die Aristoteliker sind davon überzeugt, dass die Naturwissenschaften und die ihnen folgende Philosophie der Aufklärung ein falsches Bild des Menschen zeichnen. Der vielleicht wichtigste philosophische Irrtum, der mit der Hochschätzung der Naturwissenschaften einhergeht, besteht ihrer Ansicht nach in der unter anderem von David Hume2 und Immanuel Kant vertretenen Auffassung, dass die äußere Natur keine Werte enthält. So entgeht nach Kant das moralische Sollen so lange unserer Aufmerksamkeit, wie wir die Natur aus der Perspektive des Verstandes betrachten, weil das moralische Sollen „eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen“ ausdrückt, „die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung.“3 Auf die These einer strikten Trennung von Tatsachen und Werten reagiert beispielsweise der in der Tradition von Aristoteles stehende Alas-
_____________ 1 Frühere Fassungen dieses Beitrags wurden in Berlin, Greifswald, Mainz, Salvador da Bahia und Peking vorgetragen. Mein spezieller Dank gilt Thomas Hoffmann (Magdeburg) für seine kritischen Nachfragen. 2 Siehe Hume 1978, 469. 3 KrV A 547/B 575 .
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dair MacIntyre in seinem einflussreichen Buch After Virtue (1981) mit der Aussage, dass wir sehr wohl „moralische Urteile wie faktische Aussagen“4 behandeln müssen. Seiner Ansicht nach können wir dies tun, nachdem wir die Einsicht der „klassischen aristotelischen Tradition“ wieder gewonnen haben, „dass der Mensch ein essentielles Wesen und einen essentiellen Zweck oder eine Funktion“5 hat. Doch wie können wir diese Einsicht wieder gewinnen? MacIntyres Antwort lautet: Durch eine Kritik an Hume und Kant als denjenigen Philosophen, die durch ihre Schriften dazu beitrugen, dass uns diese Einsicht bis auf den heutigen Tag verstellt ist.6 Auch wenn sich die Neo-Aristoteliker darin einig sind, dass es keine Kluft zwischen Tatsachen und Werten gibt, unterscheiden sie sich doch in der Art und Weise, in der sie auf Hume und Kant reagieren. Anders als der bereits erwähnte MacIntyre sind einige von ihnen heute durchaus offen für Hume’sche und kantische Anregungen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Philippa Foot, die zunächst im Anschluss an Hume ‚Moral als ein System von hypothetischen Imperativen‘ verstanden wissen wollte, um dann in ihrem Buch Natural Goodness (2001) eine Wende zu einem ‚kantianisierenden‘ Aristotelismus zu vollziehen. Nach Foot ist Kant ganz und gar zuzustimmen, wenn er behauptet, „dass moralisch gut allein der gute Wille“ ist, weil die „Idee der praktischen Rationalität […] den Willen“7 betrifft. „Praktische Rationalität“ ist auch das Stichwort, unter dem John McDowell Hume und Kant thematisiert. Als typische Vertreter der neuzeitlich-modernen Philosophie8 akzeptieren und bestätigten diese Philosophen seines Erachtens Max Webers These von der ‚Entzauberung der Natur‘ durch die modernen Naturwissenschaften. Doch diese These vermag uns nach McDowell nicht zu überzeugen, weil die Natur alles andere als ein toter Klumpen Materie ist. Bereits Aristoteles konnte in seiner Ethik zeigen, dass die Natur Bedeutungen enthält, die sich einem mechanistischen Zugriff, wie er nach McDowell typisch für die neuzeitliche Philosophie ist, entziehen. Die Aufgabe der Philosophie besteht seiner Ansicht nach darin – und hierin folgt er unausgesprochen MacIntyre –, den Blick auf diese Bedeutungen durch eine Kritik an den maßgeblichen Philosophen der Neuzeit und Moderne freizumachen. Bei dieser Aufgabe kommt nach McDowell vor allem Kant eine zentrale Bedeutung zu, weil dessen Rationalitätskonzeption einen Ansatz-
_____________ 4 MacIntyre 1995, 86. 5 MacIntyre 1995, 84. 6 Diese Position teilt auch Siep 2004, 21-22 u. 83. 7 Foot 2004, 31. Zu Foots Hume-Kritik siehe Klemme 2009a. 8 McDowell 2002, 50.
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punkt bietet, den modernen Naturbegriff zu überwinden, an dem Kant selbst freilich festhält. Nehmen wir nämlich Kants Einsicht in die Relevanz des ‚praktischen Logos‘ ernst, überwinden wir die gesamte antirealistische moderne Philosophie zugunsten des – wie sich McDowell ausdrückt – „griechischen“, „antiken“ oder „aristotelischen Naturalismus“9, eine Position, die er u.a. auch „Naturalismus der zweiten Natur“ und „naturalisierter Platonismus“10 nennt. Dieser Naturalismus besagt, dass wir die in die Natur eingebetteten Bedeutungsstrukturen durch unsere voll ausgebildete ‚zweite Natur‘ repräsentieren können. Mit unserer ‚zweiten Natur‘ betreten wir den ‚Raum der Gründe‘ – wie McDowell mit Sellars argumentiert – und erwerben die begriffliche Fähigkeit, eine Welt zu „besitzen“11, die bedeutungsvoll zu uns spricht. Insofern die „zweite Natur“ die uns zur Gewohnheit gewordene praktische Vernunft ist, hätte McDowell in diesem Zusammenhang neben Sellars, Aristoteles und Gadamer auch auf Hegels Konzeption der Sittlichkeit verweisen können, dem er das Verdienst zugesteht, „auf den Schultern des Riesen Kants stehend nach einem Weg für die Überwindung der traditionellen Philosophie“12 gesucht zu haben. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt Hegel: Aber in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen erscheint das Sittliche, als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, – die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist.13
Einfacher formuliert: Blicken wir die ‚erste‘ Natur mit den Augen unserer ‚zweiten‘ Natur an, dann erkennen wir uns in ihr und als mit ihr identisch und versöhnt.14 Wir fragen dann nicht mehr, warum wir etwas tun sollen, sondern tun es einfach, weil es natürlich und gut ist. In meinem Beitrag möchte ich mich auf die Beantwortung einer einzigen Frage konzentrieren: Gelingt es McDowell, auf Defizite und Irrtümer der modernen Philosophie, speziell der Philosophie der Aufklärung, aufmerksam zu machen, die eine Rückkehr zum ‚griechischen Naturalismus‘ zwingend machen? Die Relevanz dieser Frage liegt auf der Hand: Zwar trägt McDowells Kritik an der Kritik des vor-modernen griechischen Na-
_____________ 9 McDowell 2002, 71. 10 McDowell 2001, 111, 118 11 McDowell 2001, 146. 12 McDowell 2001, 138. 13 Hegel 1969-1971, § 151; vgl. dagegen die Interpretation von Halbig 2006, 231. 14 Hegel 1969-1971, § 151, Zusatz.
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turalismus, d.h. sein Anti-Anti-Realismus, vielleicht nicht die gesamte, aber sie trägt einen entscheidenden Teil seiner Argumentation für seine Version des ethischen Naturalismus. Dabei verdankt sich McDowells betont indirekte Begründung des ethischen Naturalismus seiner Überzeugung, dass die Praxis der Rechtfertigung praktischer Urteile konstitutiv für die moderne, ‚konstruktiv‘ verfahrende Philosophie ist.15 Diese Praxis wird jedoch obsolet, sobald wir die durch die Trennung von Tatsachen und Werten künstlich erzeugte Sorge um den Zusammenhang von Vernunft und Welt nicht mehr ernst nehmen. Wir können dann völlig unvoreingenommen unserem Common Sense folgen, der uns mit der Natur versöhnt, weil er keine Distanz zu ihr kennt. Mit dem Common Sense stellen wir uns in eine Tradition der Philosophie, die durch die neuzeitliche Philosophie verschüttet worden ist. Sollten unsere Überlegungen allerdings zeigen, dass McDowells Kritik an der neuzeitlichen Philosophie nicht zutrifft, dann hätten wir prima facie auch keinen Grund, ihn auf seiner Reise in das Territorium des griechischen Naturalismus zu begleiten. Und genau das wird meine These sein. McDowells Kritik am Hume’schen ‚Naturalismus‘ und am kantischen ‚Supranaturalismus‘ überzeugt nicht. Bei näherem Hinsehen erweist sich seine Rekonstruktion der modernen Philosophie als ein Mythos, der weder Hume noch Kant und schon gar nicht der modernen Philosophie gerecht zu werden vermag. Angesichts der systematisch zentralen Bedeutung, die McDowells Kritik an der neuzeitlichen Philosophie für die Grundlegung seiner Version des Naturalismus spielt, ist es erstaunlich, dass seine Interpretation von Hume und Kant bisher nicht auf ihre Plausibilität hin überprüft worden zu sein scheint.16
2. Humes Subjektivismus Folgen wir den neuzeitlichen Naturwissenschaften und begreifen die Natur als an sich bedeutungslos, dann stellt sich nach McDowell die für die moderne Philosophie so typische Frage, wie die Richtigkeit des praktischen Denkens begründet werden kann. Humes für die nachfolgende Philosophie so verhängnisvolle Antwort auf diese Frage lebt nach McDowell von der Verbindung von Naturalismus und Subjektivismus. Praktische Richtigkeit wird zwar von Hume als Teil des Naturgeschehens interpretiert, hat
_____________ 15 McDowell 2001, 23, 121. 16 Eine Ausnahme stellt mit Blick auf MacIntyres Kritik an der Aufklärung Otfried Höffe dar: „Nur in Parenthese sei gegen MacIntyre eine kleine Polemik erlaubt: Wer das Projekt der Moderne in globo verwirft, sollte sich die Mühe machen, den Globus ‚Moderne‘ kennenzulernen.“ (Höffe 1996, 68)
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jedoch einen bloß subjektiven Status, weil sie fundiert wird durch „individuelle Bedürfnisse und Vorlieben, die als schlichtweg gegebene und nicht bewertbare Fakten aufgefasst werden“17. Hume sieht in der ‚ersten‘ Natur keinen Raum für Bedeutungen vor, die völlig unabhängig von unseren Vorlieben und Neigungen existieren und diesen einen Maßstab vorgeben. Trifft dieser Vorwurf zu? Reduziert Hume Bedeutungen auf die Sphäre des rein Subjektiven? Unsere Antwort hängt naturgemäß davon ab, was wir unter dem Subjektiven verstehen. Wenden wir uns Humes Theorie evaluativer Ausdrücke etwas näher zu und fragen, welcher Zusammenhang nach Hume zwischen Wahrnehmung und moralischen und ästhetischen Bedeutungen besteht, die ich im folgenden kurz ‚praktische Bedeutungen‘ nennen möchte. Humes Bild einer an sich bedeutungslosen Natur äußerer Wahrnehmungsgegenstände erläutert sich durch seine Unterscheidung zwischen Eindrücken und Ideen. Sie stellen unsere einzigen Wahrnehmungsinhalte dar. Eindrücke sind ursprüngliche, distinkte oder gesonderte Existenzen18, die keine ihnen zugrunde liegenden Gegenstände oder Qualitäten repräsentieren. Sie verweisen nicht über sich selbst hinaus und sind entweder äußere Sinneswahrnehmungen (sensations) oder Selbstwahrnehmungen (Affekte, Leidenschaften, Gefühle). Aufgrund ihrer Lebendigkeit und Stärke unterscheiden sich Eindrücke von ihren Abbildern, die Hume Ideen nennt.19 Definieren wir nun Natur als die Summe aller äußeren Sinneswahrnehmungen, ihrer Ideen und ihrer Verknüpfungen nach den Assoziationsgesetzen, dann enthält die Natur in der Tat keine praktischen Bedeutungen. Hume identifiziert diese vielmehr mit unseren Affekten, die als Eindrücke „ursprüngliche Tatsachen und Realitäten“20 sind. Während die meisten Affekte aus der Reflexion stammen und daher „sekundäre und reflexive Eindrücke“21 genannt werden, gibt es auch einige wenige Affekte, die ursprünglich (original) mit unserer Natur gegeben sind. Als Beispiele für diese ursprünglichen Affekte verweist Hume unter anderem auf unsere Liebe zum Leben, auf unsere Kinderliebe, auf unseren Wunsch, unsere Feinde bestraft und unsere Freunde glücklich zu sehen, sowie auf verschiedene körperliche Verlangen. Ohne dass wir hier auf das komplexe Zusammenspiel von Sinneseindrücken und Ideen, direkten und indirekten Affekten eingehen könnten,
_____________ 17 McDowell 2002, 41-42. 18 Vgl. Hume 1978, 188f., 415 („A passion is an original existence“) u. 635 („distinct existences“). 19 Hume 1975, 18. 20 Hume 1978, 458. 21 Vgl. Hume 1978, 275-277.
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ist bereits deutlich geworden, dass Affekte nicht als Abbilder der äußeren Gegenstände aufgefasst werden können. Weil sie keine äußeren Sinneswahrnehmungen repräsentieren, haben sie eine rein subjektive Existenz. Doch obwohl die Affekte in keiner Abbildbeziehung zu den Tatsachen der äußeren Natur stehen, können sie nicht völlig losgelöst von ihnen verstanden werden. Der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von ‚äußerer‘ Natur und praktischen Bedeutungen ist die Kausalität. Unsere Wahrnehmung äußerer Gegenstände ruft bestimmte affektive Wirkungen in uns hervor, die nicht beliebig sind. Denn aufgrund der Einheit der menschlichen Natur sind unsere affektiven Reaktionen entweder passend oder unpassend, richtig oder falsch. Wenn beispielsweise eine Person in einer bestimmten Situation kein Gefühl der Dankbarkeit empfindet, obwohl sie nach den allgemeinen Prinzipien der menschlichen Natur dieses Gefühl empfinden sollte, missbilligen wir ihre Reaktion. Weil die ‚entzauberte‘ ‚äußere‘ Natur der Dinge und Tatsachen in einer Kausalbeziehung zur ‚inneren‘ Natur unserer Affekte steht, stellt die äußere Natur auch den Maßstab unserer Affekte dar. Dankbarkeit ist zwar keine Eigenschaft der äußeren Dinge, aber sie ist real, weil sie Teil unserer eigenen Natur ist, über die wir so wenig willentlich disponieren können wie über den Lauf der Gestirne. McDowells Behauptung, dass Humes Subjektivismus keinen Kontakt mit der ‚ersten‘ Natur hat, ist somit irreführend. McDowell kann Hume zu Recht vorwerfen (wenn es denn ein Vorwurf sein kann), dass unsere Wertungen hervorrufende Affekte nichts repräsentieren; aber er kann ihm nicht vorwerfen, die Welt der Bedeutungen völlig losgelöst von der ersten Natur betrachtet zu haben. So wie die weiße die schwarze Billardkugel beim Aufprall in Bewegung setzt, wird das Gefühl der Dankbarkeit durch unsere Wahrnehmung einer bestimmten Situation in uns bewirkt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass unsere Dankbarkeit mehr ausdrückt als die faktische Wirkung einer natürlichen Begebenheit auf unseren Geist. Dankbarkeit ist ein normativer Begriff. Humes entscheidende Einsicht lautet: Unsere Reaktionen können die ‚erste‘ Natur treffen oder verfehlen.22 Damit wir die ‚erste‘ Natur ‚treffen‘, müssen wir seiner Ansicht nach über eine entsprechende Sensibilität verfügen, die er „moralischen Geschmack“
_____________ 22 Adam Smith geht Humes Position jedoch nicht weit genug, weil Hume mit seiner Betonung des Nutzens die essentielle Bedeutung der Vernunft für unsere moralische Urteilspraxis nicht angemessen würdigt. Nach Smith billigen wir höhere Vernunft und Verstand als „richtig und rechtens und treffend und nicht bloß als nützlich oder vorteilhaft.“ (Smith 1976, 189; vgl. Klemme 2007, 151-152, und Klemme 2009)
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(„moral taste“23) nennt. McDowell beachtet somit nicht, dass es neben dem Hume der Hydraulik einen Hume der Kultivierung unserer affektiven Natur gibt. Wer nach Hume keinen „moralischen Geschmack“ entwickelt hat, der wird in einer Situation, die Dankbarkeit verdient, nicht mit Dankbarkeit reagieren. Die „ursprünglichen Prinzipien der Kritik oder des Tadels sind gleich“ und „irrtümliche Schlussfolgerungen können durch ein besseres Argument und größere Erfahrung korrigiert werden“24. Neben dem Hume der Hydraulik gibt es somit einen Hume der praktischen Vernunft.25 So wie uns nach McDowell unsere ‚zweite‘ Natur in den ‚Raum der Gründe‘ treten lässt, versetzt uns nach Hume unser Geschmack in die Lage, ‚korrekt‘ auf Dinge und Situationen zu reagieren. Unser Geschmack konstituiert einen Standard, einen Normalzustand unserer Urteilspraxis, auf den wir uns beziehen, wenn wir Personen und Handlungen billigen oder missbilligen. Es ist diese enge, normative Bedeutungen erzeugende kausale Beziehung zwischen äußerer Natur und praktischen Bedeutungen, die von McDowell unterschlagen wird, wenn er Hume im Sinne des subjektivistischen Projektionalismus26 interpretiert. Im Zusammenspiel von Perzeptionen und ihren Verbindungen durch den menschlichen Geist zeigt sich vielmehr, dass nach Hume die Moral „etwas Reales, Wesentliches und auf der Natur gegründet“27 ist. Humes zugleich kausale und normative Aspekte umfassende Theorie praktischer Bedeutungen hätte aufgrund ihrer Nähe zur Idee einer „zweiten Natur“ McDowell eigentlich sympathisch sein können – wenn er denn beide Aspekte beachtet hätte. Weil er sie aber nicht beachtet hat, bleibt unklar, was so verwerflich an einer Theorie sein soll, die unsere Wertungen auf unseren moralischen Geschmack zurückführt, die mit der Natur, die wir Menschen schließlich immer auch selbst sind, unlösbar verbunden ist. Einen Grund, Hume aufgrund seiner Trennung von Tatsachenaussa-
_____________ 23 Hume 1978, 581; vgl. 547 („In what sense we can talk either of a right or a wrong taste in morals, eloquence, or beauty, shall be consider’d afterwards.“) u. 577. 24 Hume 1975, 336. 25 Siehe u.a. Baier 1991, 153, 277-288, und Pauer-Studer 2007, 310-321. 26 Eine diese Lesart unterstützende Formulierung findet sich in der Enquiry concerning the Principles of Morals: „Thus the distinct boundaries and offices of reason and of taste are easily ascertained. The former conveys the knowledge of truth and falsehood: the latter gives the sentiment of beauty and deformity, vice and virtue. The one discovers objects as they really stand in nature, without addition or diminution: the other has a productive faculty, and gilding or staining all natural objects with the colours, borrowed from internal sentiment, raises in a manner a new creation.“ (Hume 1975, 294) 27 Hume 1978, 296.
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gen und Wertungen einen relativistischen Subjektivismus oder gar eine „absolute Skepsis“28 vorzuwerfen, gibt es jedenfalls nicht.
3. Kants ‚Einsicht‘ und die Rückgewinnung des antiken Naturalismus Nach McDowell versucht Kant dem Paradigma einer ‚entzauberten Welt‘ mit seinem transzendentalen Idealismus gerecht zu werden. Der Gebrauch der theoretischen Vernunft führt bei Kant zum Idealismus, weil er die Natur als das Produkt des Zusammenspiels von Subjektivität und der Welt der Dinge an sich versteht, die „zum Raum des Logos in einem Verhältnis völliger Fremdartigkeit steht.“29 Die wegweisende Einsicht Kants besteht nach McDowell nun darin, mit dem Ding an sich etwas anerkannt zu haben, was unserer bloßen Subjektivität objektiv als Maßstab gegenübersteht. Doch leider siedelt Kant die objektiven Sinnstrukturen eben im Reich der Dinge an sich und nicht in der empirischen Welt an. Bedeutungen werden der Natur ‚von außen‘, d.h. durch die transzendental gefasste praktische Vernunft, injiziert („Sinn-Injektion“30). Ent-transzendentalisieren wir jedoch Kants praktische Vernunft und schreiben der „empirischen Welt“31 die Funktion zu, die bei Kant das ‚Ansich‘ übernimmt, gelangen wir nach McDowell zu einer überzeugenden Konzeption von Natur und Bedeutung. Menschliche Subjektivität konstituiert nach McDowell nicht die Gegenstände der Erfahrung und legt die Bedeutungsstrukturen auch nicht nachträglich und von außen kommend via praktische Vernunft in eine an sich aus nackten Tatsachen bestehende Natur hinein. Seiner Einschätzung nach hat unsere Subjektivität vielmehr die Funktion, uns diese immer schon in der ersten Natur enthaltenen Bedeutungen zu vergegenwärtigen. Diese Vergegenwärtigung gelingt jedoch nur unter speziellen Bedingungen, die McDowell unter dem bereits erwähnten Begriff einer uns zur „zweiten Natur“ gewordenen praktischen Vernunft zusammenfasst. Mit diesem Begriff beansprucht er, die Naturalisierung des kantischen Supranaturalismus durchführen zu können, ohne die Relevanz der praktischen Vernunft für das Begreifen der „ersten Natur“ zu unterschlagen, die ihrerseits Natur ist. Die ‚zweite‘ repräsentiert die ‚erste‘ Natur, ohne sich als
_____________ 28 Kondylis 1981, 498. 29 McDowell 2002, 46. 30 McDowell 2002, 51. 31 McDowell 2002, 46.
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praktische Vernunft auf etwas anderes als auf sich selbst stützen zu müssen, um „wirkliche Handlungsgründe“32 zu entdecken. Sie ist autonom. „Das Ethische ist der Bereich rationaler Forderungen, die es sowieso gibt, egal ob wir für sie empfänglich sind oder nicht. Wir werden auf diese Forderungen aufmerksam, indem wir die geeigneten begrifflichen Fähigkeiten erwerben.“33 Die naturalistische Konzeption der praktischen Vernunft macht nach McDowell verständlich, warum eine Person, die sich im ‚Raum des Logos‘ befindet, so wenig nach Begründungen fragt wie ein Ertrinkender um Wasser bittet. Trennen wir jedoch wie Kant Vernunft und Natur, muss sich eine Person, die sich auf die Wahrnehmung der Natur konzentriert, fragen, warum sie moralisch handeln soll. Ohne Rekurs auf das transzendente ‚Ansich‘ bleibt bei Kant die Frage nach dem Warum aber ohne Antwort. Ist diese Kritik an Kant überzeugend? Fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit auf einige von McDowell vernachlässigte Aspekte der kantischen Philosophie, stellen sich Zweifel ein. Beginnen wir mit einer Differenzierung, die sich bei McDowell nicht findet: Die Wörter „Rechtfertigung“ oder „Grundlegung“ werden mit Blick auf die praktische Vernunft bei Kant in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: Die erste Bedeutung ergibt sich aus Kants These, dass die Natur der Naturwissenschaft kein unbedingtes Sollen enthält.34 Weil der unbedingte Geltungssinn des Moralgesetzes nicht aus unserer Erfahrung abgeleitet werden kann, bedarf dieses Sollen einer Grundlegung. Sie besteht in der Aufklärung der Frage, wie unser Bewusstsein des moralischen Sollens, das Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als ein „Faktum der reinen Vernunft“35 beschreibt, seinerseits möglich ist. Dieses Bewusstsein ist möglich, weil wir frei sind – und unsere Freiheit ist ihrerseits möglich, weil wir als frei handelnde Wesen außerhalb der naturgesetzlichen Ordnung stehen. Kant greift auf den transzendentalen Idealismus also nicht in der Absicht zurück, eine transzendentale „Sinn-Injektion“ durchzuführen; er greift auf diese Lehre vielmehr in der Absicht zurück, zu erklären, wie dasjenige, was wir bereits als wirklich erfahren, möglich ist. Oder anders formuliert: Das Bewusstsein des moralischen Sollens ist ein Tatbestand unserer menschlichen Existenz, nicht etwas, was uns ‚von außen‘ injiziert werden müsste.
_____________ 32 McDowell 2002, 71. 33 McDowell 2001, 107. 34 Siehe KrV A 547/B 575. 35 AA V 31.
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Die zweite Bedeutung von Grundlegung ist innerhalb der kantischen Konzeption praktischer Vernunft angesiedelt. Nach McDowell will Kant durch die Anwendung des kategorischen Imperativs nicht nur bestimmte Verbindlichkeiten rechtfertigen, er will zugleich aufzeigen, warum wir moralisch handeln sollen. Doch Kant scheitert bei seinem Versuch, die praktische Wirklichkeit der reinen Vernunft zu demonstrieren. An der ‚Ohnmacht der praktischen Vernunft‘ zeigt sich nach McDowell somit das Elend einer Philosophie, die Tugend und Moral aus einer der Natur externen Perspektive zu begründen versucht. Zur Erläuterung seiner Kritik greift er auf Foots bekanntes Bild einer „Armee der Pflicht“ zurück. Während wir nach Kant durch Vernunftgründe überzeugt werden müssen, unseren Dienst in dieser Armee zu leisten, melden sich nach Auffassung von Foot und McDowell nur diejenigen freiwillig zum Dienst, denen aufgrund ihrer „zweiten Natur“ bereits die Augen für „wirkliche Handlungsgründe“ geöffnet worden sind. Denen, die in der Armee der Pflicht dienen, liegen bestimmte Ziele nicht bloß zufällig am Herzen. Man kann sagen, die Vernunft gebe ihnen Aufschluß über die Vorschriften der Tugend und zeige, daß es sich um echte Anforderungen an einen rationalen Willen handelt. Die Vernunft, die für diesen Aufschluß verantwortlich ist, ist ihre erworbene zweite Natur. Daß ihnen damit die Augen für wirkliche Handlungsgründe geöffnet werden, wird nicht durch formale, sondern durch inhaltliche Argumente dargelegt […]. Daher ist es offensichtlich verfehlt, wenn man erwartet, das richtige Vernunftvermögen sei imstande, einfach jedem, unabhängig von seiner motivationalen Konstitution, Befehle zu erteilen.36
Geht Kant davon aus, dass uns die reine praktische Vernunft unabhängig von unserer „motivationalen Konstitution“ Befehle erteilt? Mir ist keine Passage in seinen Schriften bekannt, in der er dies behaupten würde. Ganz im Gegenteil. Kant will nicht zeigen, dass wir unseren Dienst in der ‚Armee der Pflicht‘ ausüben sollen, obwohl wir ursprünglich in keiner Weise dazu motiviert sind.37 Kant will vielmehr darauf aufmerksam machen, dass wir ‚immer schon‘ Angehörige dieser Armee sind. Um im – martialischen – Bild von McDowell zu bleiben: Kants Armee ist keine Armee von Freiwilligen, sie ist eine Volksarmee. Wir haben nach Kant schlicht nicht die Wahl, nicht durch die reine praktische Vernunft motiviert zu sein. Sie ist in Gestalt eines Gefühls der Achtung immer schon ein Teil unserer – um den einschlägigen Ausdruck von Williams aufzugreifen – „subjektiven motivationalen Verfassung“. Ganz in diesem Sinne schreibt Kant in der
_____________ 36 McDowell 2002, 71. 37 Die Frage, warum wir nicht moralisch handeln, obwohl wir das Moralgesetz achten, liegt auf einer anderen Ebene – und kann nach Kant letztlich nicht vernünftig beantwortet werden.
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass das moralische Sollen „eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt“ ist und vom Menschen nur insofern als „Sollen gedacht“ wird, „als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.“38 Würden wir nicht ‚immer schon‘ moralisch sein, könnten wir durch kein Argument der Welt davon überzeugt werden, moralische Gründe ernsthaft zu berücksichtigen. Kant würde also Foot zustimmen, die schreibt: „Wer einen Grund für rationales Handeln einfordert, verlangt nach einem Grund, wo Gründe a priori zu einem Ende gekommen sind.“39 Versuchen wir zu verstehen, warum McDowell die zwischen seinem ethischen Naturalismus und Kant in diesem Punkt vorliegende Übereinstimmung nicht wahrzunehmen vermag, stoßen wir auf den formalen Charakter der reinen praktischen Vernunft. Durch seine von Hegel inspirierte Kritik am formalen Charakter des kategorischen Imperativs entgeht McDowell jedoch, dass Kant nicht nur der Theoretiker der reinen praktischen Vernunft und des kategorischen Imperativs ist; vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft und in seinen Vorlesungen über Anthropologie verweist Kant mit einiger Ausführlichkeit darauf, dass wir nicht erwarten können, dass Menschen auch subjektiv motiviert sind, aus Achtung vor dem Moralgesetz zu handeln, wenn sie nicht einen entsprechenden Charakter erworben haben. Wer über keine entsprechende subjektive Disposition verfügt, der mag seine moralischen Verpflichtungen zwar erkennen und ein schwaches Gefühl der Achtung für das Moralgesetz empfinden, misst ihnen subjektiv aber keine Handlungsrelevanz zu. Kants Position wird in folgendem Zitat aus einer Anthropologie-Nachschrift von 1781/82 deutlich: Alle Moral erfordert Kenntniß des Menschen, damit wir ihnen nicht schale Ermahnungen vorschwatzen, sondern sie so zu lenken wissen, daß sie anfangen moralische Gesetze hoch zu schätzen, und zu ihren Grundsätzen zu machen. Ich muß wissen, welche Zugänge ich zu den menschlichen Gesinnungen haben kann, um Entschließungen hervorzubringen; dazu kann uns die Kenntniß des Menschen Gelegenheit geben, daß der Erzieher, der Prediger, nicht bloßes Schluchzen und Thränen, sondern wahrhafte Entschließungen hervorzubringen im Stande ist.40
Ohne Anthropologie und Kultur und Gefühl und Charakter kommt die reine praktische Vernunft also auch nach Kant nicht so recht in Schwung. Diese uns für moralische Verbindlichkeiten praktisch sensibilisierenden Fähigkeiten und Vermögen bezeichnen genau das, was McDowell als
_____________ 38 AA IV 455. 39 Foot 2004, 91. 40 AA XXV 858.
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„zweite Natur“ beschreibt: „Unsere Natur besteht überwiegend aus der zweiten Natur und unsere zweite Natur verdankt sich nicht nur den Anlagen, über die wir verfügen, wenn wir geboren werden, sondern ebenso unserer Erziehung, Bildung.“41 Verweilen wir ein wenig bei McDowells externalistischer – offenbar von Williams42 beeinflusster – Lesart von Kant, fällt das Fehlen einer weiteren Differenzierung auf. McDowell beachtet nicht, dass wir zur näheren Charakterisierung von Kants Konzeption der reinen praktischen Vernunft zwischen zwei Bedeutungen von ‚externalistisch‘ unterscheiden müssen: Erstens ist Kants Konzeption der reinen praktischen Vernunft zwar insofern externalistisch, als der Grund moralischer Verbindlichkeit nicht in unserer sinnlichen Natur zu finden ist. Aber aus dieser Bedeutung von ‚externalistisch‘ folgt zweitens nicht, dass uns die reine praktische Vernunft ‚von außen‘ motiviert. Weil wir selbst diese Vernunft ‚sind‘, ist Kant kein Externalist, sondern ein Internalist. Wenn McDowell schreibt: „Einen reinen formalen Begriff der praktischen Vernunft, wie er von Kant ins Auge gefasst wurde – einen Begriff von etwas, was die Ansprüche der Tugend an den rationalen Willen jeder beliebigen Person unabhängig von ihrer motivationalen Konstitution durchsetzen würde –, gibt es nicht“43, kritisiert McDowell einen Kant, den es so erst seit Hegel gibt. McDowells These, dass Kant als Anhänger der Idee der ‚entzauberten Natur‘ Moral zu begründen versucht, d.h. nach Argumenten sucht, durch die eine Person, die keine moralische Disposition hat, davon überzeugt werden kann, moralisch zu werden, trifft schlicht nicht zu. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten setzt diese moralische Disposition vielmehr voraus und beschränkt sich ausdrücklich auf die Beantwortung der Frage, wie die Formel des kategorischen Imperativs lautet.44 Wenn wir wie die Teufel kein Gefühl der Achtung für das Moralgesetz hätten, könnten wir durch kein Argument der Welt dazu motiviert werden, aus Achtung vor dem Moralgesetz zu handeln.45 So gesehen kann keine Rede davon sein, dass die Neuzeit
_____________ 41 McDowell 2001, 113. 42 Williams 1981; siehe auch Klemme 2004 und 2006. 43 McDowell 2002, 70. 44 Siehe AA IV 392 („Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr, als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“). 45 Den falschen Akzent legt auch Axel Honneth, der mit McDowell die Ansicht vertritt, dass Kant „moralisches Wissen“ aus „obersten, allgemeinen Moralprinzipien“ deduzieren will, womit Kant „die Tatsache des Vorvertrautseins mit einer Lebenspraxis“ (2001, 388) überspringt. Das Gegenteil ist der Fall. Zur Feststellung unserer (immer schon) bestehenden Verpflichtungen müssen wir den kategorischen Imperativ auf die subjektiven Grundsätze (Maximen) unseres Handelns anwenden,
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einer „Verlockung erlegen ist, der wir uns entziehen können, nämlich der Verlockung, der Ethik eine Grundlegung [foundation] zu verschaffen, die Aristoteles nie in den Sinn gekommen ist.“46 Wenn zumindest Kant dieser Verlockung nicht erlegen ist, gibt es keinen Anlass, Aristoteles für seine „Immunität gegen jene spezifisch neuzeitliche Gefährdung“47 des ethischen Vertrauens zu beneiden. Damit entpuppt sich McDowells Kritik an Kant und an den vorgeblich ins Unheil führenden „Verlockungen“ der modernen Ethik als eine Polemik, die die Funktion hat, kritische Fragen zu der Bedeutung und dem Geltungssinn der aristotelischen Ethik des guten Lebens von vornherein zu unterbinden. Ich möchte auf einen weiteren problematischen Aspekt von McDowells Kant-Interpretation hinweisen. Jeder Leser der Kritik der reinen Vernunft ist sich im Klaren darüber, dass Kant streng zwischen Sinnlichkeit und Verstand unterscheidet. Insofern wäre es sicherlich abwegig, McDowells Kritik an der Gegenüberstellung von Vernunft und Natur bei Kant jede Berechtigung abzusprechen. Trotzdem halte ich diese Gegenüberstellung nicht für besonders hilfreich. Zwar ist Kants Verständnis nach Vernunft nicht Natur, aber sie ist auch nicht einfach nur das GanzAndere der Natur. Sie steht der Natur nicht sprachlos gegenüber, sondern ist in vielfältiger Hinsicht mit ihr verwoben. Berücksichtigen wir die vielfältigen Bezugsweisen von Vernunft und Natur in Kants Schriften, zeigt sich nicht nur, dass Vernunft in der Natur steckt; die Natur selbst ist auf Vernunft angewiesen. Der Kürze halber möchte ich stichwortartig fünf Beispiele nennen: Erstens: Die Einbettung des Menschen in die Natur beginnt nach Kant bei der „Gestalt und Organisation seiner Hand, seiner Finger und Fingerspitzen“48, die aus dem Menschen ein vernünftiges Tier machen, und endet bei seiner Vernunft, die ihn zur Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung bestimmt.49 Mit der Freiheit entlässt die Natur den Menschen aus ihrer instinktmäßigen Umklammerung und überantwortet ihn seiner eigenen Vernunft, derer er sich von nun an zur Bewältigung seiner Lebensprobleme bedienen muss. Zweitens: Die Natur will die Entwicklung aller ursprünglichen Anlagen des Menschen; sie hat ihn zur Kultur bestimmt. Aber auch die Natur hat nach der Kritik der Urteilskraft ihren obersten Zweck, in dem sie ihrerseits
_____________ also auf etwas, was uns als Menschen vertraut sein muss, bevor wir überhaupt fragen können, was wir tun sollen. 46 McDowell 2002, 70. 47 McDowell 2002, 69. 48 AA VII 323. 49 Siehe AA VII 324.
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ihre eigentliche Bestimmung findet, nämlich den Menschen und seine Kultur.50 Drittens: Natur und Vernunft arbeiten nach Kant Hand in Hand bei der Realisierung des ewigen Friedens auf Erden. So hat, wie Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden51 betont, die Natur dafür Sorge getragen, dass der Mensch selbst dann in den status civilis treten wird, wenn er aus rein egoistischen Gründen handeln würde. Viertens: Wir können uns nach Kant zwar eine Welt vorstellen, in der es moralische Subjekte gibt, die nicht in Raum und Zeit existieren, aber ohne unsere leibliche Gestalt gäbe es, wie Kant in der Rechtslehre zeigt, kein äußeres Recht. Der äußere Freiheitsgebrauch setzt seiner Möglichkeit nach die leibliche Existenz von Vernunftwesen voraus. Ohne sie könnte ich keinen äußeren Gegenstand besitzen.52 Fünftens: Wäre der Mensch nicht immer auch ein Stück Natur, würde er kein Bewusstsein des moralischen Sollens haben. „Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommen.“53 „Sonst nicht vorkommen“ – aber eben beim Menschen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, welches sich bewusst ist, nicht nur, aber eben auch, Natur zu sein. Die mit diesen Beispielen nur angedeutete komplexe Einbettung des Menschen in eine zugleich mechanistisch und teleologisch, naturdeterministisch und autonom bestimmte und bestimmbare Natur wird von McDowell nicht aufgegriffen. Vor allem seine Nichtberücksichtigung der Kritik der Urteilskraft54 fällt auf, in der Kant programmatisch ein rein mechanistisches Verständnis der Natur zu überwinden versucht, indem er mit der reflektierenden Urteilskraft ein Vermögen beschreibt, das unter Rückgriff auf den Begriff der Zweckmäßigkeit Bedeutungen in die Natur trägt, die aus der Perspektive des Verstandes betrachtet nicht in ihr zu finden sind. Mit der unter der praktischen Vernunft stehenden reflektierenden Urteilskraft kommt das Sollen in die Natur. Kants Konzeption der Natur mag nicht überzeugend sein, aber man wird ihr nicht vorwerfen
_____________ 50 Siehe AA VI 429ff. (§ 83). 51 Siehe AA VIII 360-368 („Von der Garantie des ewigen Friedens“). 52 Siehe u.a. AA VI 246 (§ 2). 53 KrV 547/B 575. 54 Höffe hat bereits gegenüber MacIntyre auf die Bedeutung der dritten Kritik hingewiesen; vgl. Höffe 1996, 68. Vielleicht zeigt der Neo-Aristotelismus paradoxerweise gerade deshalb kein Interesse an der Kritik der Urteilskraft, weil Kant in dieser Schrift die einzige ernsthafte Alternative zum klassischen ‚ontologischen‘ Verständnis der Teleologie entwickelt. Zu Kants Versuchen einer Verbindung von Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft siehe auch Guyer 2006.
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können, subjektivistisch zu sein oder mit einer Vernunft zu rechnen, die von außen Sinn in sie trägt. Nach Kant müssen wir die Natur immer auch als unseren Absichten und Bedürfnissen gegenüber wohlgefällig interpretieren, könnten wir uns doch ansonsten nicht als Subjekte verstehen, die die Chance haben, in der Welt als Personen zu leben.
4. Schluss Die europäische Philosophie versteht sich in weiten Bereichen als Beitrag zur Selbstaufklärung des Menschen über den Ursprung, den Umfang und die Grenzen seines Wissens. Teilen wir diesen Zweck nicht, haben wir auch keinen Grund, uns mit ihr zu beschäftigen. Teilen wir ihn aber, dann sollten wir – wenn ich mich so ausdrücken darf – ‚augenzwinkernde‘ Hegelianer sein: Als ‚augenzwinkernde‘ Hegelianer gehen wir davon aus, dass Vernunft in den Systemen der früheren Philosophen steckt, die wir begrifflich fixieren können. Und zugleich beharren wir auf einem privilegierten Standpunkt gegenüber ihren Systemen, hegen wir doch die Hoffnung, durch die ‚Anstrengung des Begriffs‘ (Kants „Vernunfterkenntnis aus Begriffen“55) ein wenig vernünftiger als unsere Vorgänger werden zu können. Ohne diese Hoffnung würde unsere Suche nach überzeugenden Argumenten, guten Gründen, gelungenen Formulierungen und überraschenden Perspektiven keinen rechten Sinn ergeben. ‚Augenzwinkernd‘ ist unser Hegelianismus jedoch, weil wir nicht ernsthaft erwarten, eine „letzte Philosophie“ entwickeln zu können, die – wie Hegel schreibt – „das Resultat aller früheren [ist]“56. Denn zum einen kann unsere Suche nach Vernunft in den vergangenen philosophischen Systemen sehr wohl enttäuscht werden – und zum anderen ist eine skeptische Einstellung gegenüber unseren eigenen Überzeugungen eine Grundvoraussetzung dafür, Neues lernen zu können. Wir haben gesehen, dass sich John McDowell in seinen Arbeiten auf die Suche nach den Ursachen und Gründen gemacht hat, die bisher verhindert haben, dass wir die Natur so wahrnehmen, wie sie verdient und beansprucht, von uns wahrgenommen zu werden. Demnach ist seine Kritik an Hume und Kant nicht philosophiegeschichtlich, sondern systematisch (oder vielleicht besser ausgedrückt: ideologisch) motiviert: Sie soll uns darüber aufklären, dass uns die Philosophie der Aufklärung mit falschen Versprechungen in einen Irrgarten des Denkens gelockt hat. In gleicher
_____________ 55 KrV A 713/B 741. 56 Hegel 1969-71, 455.
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Weise hat unsere Kritik an McDowells Kritik der neuzeitlichen Grundlegungs- und Rechtfertigungsphilosophie eine systematische Pointe: Weil seine Kritik nicht überzeugt, leuchtet uns auch sein ethischer Naturalismus nicht ein, der von der Plausibilität dieser Kritik zehrt. Dies zeigt, dass es McDowell versäumt hat, ein ‚augenzwinkender‘ Hegelianer zu sein: Er hat versäumt, die Werke der Aufklärungsphilosophen ‚vernünftig anzublicken‘ und Gründe für seine Position beizubringen, die für sich zu überzeugen vermögen. Seine Kritik an Hume und Kant erinnert an eine nächtliche Wanderung, die uns zu einer brennenden Strohpuppe namens ‚moderne Philosophie‘ führt. In ihrem Schein glauben wir die Umrisse des antiken Athens wahrzunehmen. Doch beim Aufgang der Sonne ist die Strohpuppe zu Asche zerfallen und statt der Akropolis sehen wir vor uns ein Potemkinsches Dorf, errichtet von der ‚Gesellschaft der Freunde des griechischen Naturalismus‘. Enttäuscht – und vielleicht auch ein wenig erleichtert – verlassen wir die unwirtliche Stätte und begeben uns auf den Weg nach Königsberg, um auf den Spuren der Aufklärung und der Vernunft eine Philosophie zu finden, die uns zu überzeugen vermag.
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John McDowell und die Aufklärung
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Politik und Moral in Kants praktischer Philosophie Manfred Baum In einem Anhang zu seinem „philosophischen Entwurf“ Zum ewigen Frieden (1795/96) hat Kant ausführlich vom Verhältnis von Politik und Moral gehandelt, genauer von „der Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden“ (AA VI 370) einerseits und von der „Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“ (AA VI 381) andererseits. Der Begriff der Politik wird von Kant hier nicht explizit definiert, doch findet sich in den Vorarbeiten zum öffentlichen Recht (AA XXIII 346) eine brauchbare Definition. „Politik (Staatskunst)“ ist „diejenige Klugheit, wodurch jemand ein ganzes freies Volk zu seinen Absichten zu brauchen versteht“. Eine solche „Staatsklugheit“ dient dem „Vortheil des Staatsmanns“ (AA VIII 372) und steht zunächst im Gegensatz zur „Moral“, die Kant als „Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen“ (AA VI 370) definiert. Die „Verbindung der Moral mit der Politik“ war der Titel einer Schrift Christian Garves (1788), auf die sich Kant im zweiten Teil seines Anhangs bezieht. Garve wird dort in milden Worten für seine „Nachgiebigkeit“ gegenüber den „Maximen“ einer „Afterpolitik“ getadelt, also einer Politik, die nicht mit der Moral übereinstimmt. Unter Moral ist hier, unter der Bedingung der Existenz von Staaten, die Rechtslehre, insbesondere sind darunter diejenigen Teile des öffentlichen Rechtes, die Kant „Staatsrecht“ und „Völkerrecht“ nennt, zu verstehen, in deren Kontext das Problem des ewigen Friedens gehört. Dieses Problem ist nicht eines unter beliebigen anderen in der Rechtsphilosophie. So heißt es in Kants Beschluß seiner Rechtslehre von 1797: Man kann sagen, daß die […] allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Theil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind, deren Regel […] durch die Vernunft a priori von dem Ideal einer rechtlichen Verbindung der
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Menschen unter öffentlichen Gesetzen überhaupt hergenommen werden muß […]. (AA VI 355)
Der universale Rechtsfriede der menschlichen Gesellschaft ist als das Ziel einer als fortdauernd gebotenen Friedensstiftung der unbedingte Endzweck aller auf die äußere Freiheit der Menschen bezogenen Praxis, d.h. „das höchste politische Gut“, das durch ein von der Idee des Rechts bestimmtes kollektives Handeln in kontinuierlicher Annäherung bewirkt werden soll. Kants Behandlung des Verhältnisses von Politik und Moral setzt ebenso wie Garves Erörterung ihrer „Verbindung“ als allgemeinen Konsens voraus, dass das Handeln der sogenannten Politiker nach Regeln und Zielsetzungen erfolge, die mit den Normen der Moral, was immer man im einzelnen darunter verstehen möge, nicht im Einklang stehen oder die, nach Machiavelli, von moralischer Bewertung freigehalten werden müssen. Die von der Staatskunst geübte Technologie der Machteroberung und Machterhaltung ist aber nicht bloß unabhängig von den Geboten der Moral, sondern enthält auch Regeln und Mittel, deren Gebrauch in seiner Gesetzwidrigkeit als Verbrechen bezeichnet werden kann. Garve und Kant setzen also beide voraus, dass die Politik im allgemeinen Bewusstsein ihrer Zeitgenossen entweder als etwas Unmoralisches verdächtigt, oder, der Natur der Sache angeblich gemäß, als den Normen der Moral nicht unterworfen angesehen wird. Hinzu kommt, dass Garves im Jahr vor der französischen Revolution erschienene Schrift eine Art Fürstenspiegel darstellt und eine aufgeklärte Verteidigung des Gottesgnadentums der regierenden Fürsten Europas enthält. Für diesen Personenkreis ist es charakteristisch, dass seine Mitglieder durch Familienbande in ihre politische Funktion als Staatsoberhäupter gelangen und zudem mit anderen Fürsten durch Blutsverwandtschaft und persönliche Freundschaft verbunden sind. Diese „privaten“ Beziehungen sind gemeint, wenn es im Untertitel von Garves Schrift heißt, sie handle von der Frage, „inwiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten“. Kants nach dem Ausbruch der französischen Revolution erschienene Schrift geht zwar ebenfalls davon aus, dass die Politik die Domäne der Staatsmänner, der Monarchen und der revolutionären Eroberer der Staatsgewalt, ist, aber als eine rechtsphilosophische abstrahiert sie von den dynastischen Bindungen der Staatsoberhäupter und dem, was in deren privaten Beziehungen „Moral“ heißen mag. Der Teil der allgemeinen Moral, den Kant mit der Politik konfrontiert, ist das öffentliche Recht und die durch es begründeten Rechtspflichten. Die Ansicht, dass „Naturrecht“ und „Ethik“ komplementäre Teile der „Moral“ oder „Sittenlehre“ sind, teilt er mit dem von ihm geschätzten Lehrbuchautor Baumgarten (vgl. aber auch Humes Treatise).
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Von der Moral, die er in ihrer „Misshelligkeit“ mit einer bestimmten Art von Politik darstellen will, sagt Kant, dass sie „schon an sich selbst eine Praxis in objektiver Bedeutung“ (AA VIII 370) sei. Nach dem Gemeinspruch (1793) heißt Praxis „diejenige Bewirkung eines Zwecks […], welche als Befolgung gewisser im Allgemeinen vorgestellten Principien des Verfahrens gedacht wird“ (AA VIII 275). Praxis ist also das menschliche Verhalten, sofern es als rationales bei der Verwirklichung von Zwecken von allgemeinen Prinzipien geleitet wird. Eine Praxis in objektiver Bedeutung ist dem gemäß ein vernünftiges Handeln, nicht wie es faktisch vollzogen wird und empirisch oder historisch beobachtet werden kann, sondern wie es „nach unbedingt gebietenden Gesetzen“ geschehen soll, ob es nun irgendwo unter Menschen stattfindet oder nicht. Dieses bloß mögliche, für jeden vernünftigen Handelnden gebotene Handeln besteht aus lauter Pflichten, d.h. Handlungen, einschließlich von Unterlassungen, zu denen man durch moralische Gesetze verpflichtet ist. Nun kann niemand zu etwas verpflichtet sein, was er nicht tun kann. Also folgt umgekehrt aus dem Pflichtcharakter einer Handlung, dass sie vollzogen werden kann. Der Inbegriff dieser Pflichthandlungen ist also eine Praxis in objektiver Bedeutung, und die Moral ist nichts als die Theorie derjenigen unbedingt gebietenden Gesetze, nach denen diese a priori möglichen Handlungen zu gesollten Handlungen werden. Wegen dieses einfachen, analytischen Zusammenhangs von Moral und objektiver Praxis erklärt es Kant für eine „offenbare Ungereimtheit“ (AA VIII 275) zu sagen, dass man den Geboten der Moral in der politischen Praxis nicht folgen könne, denn das hieße, dass es (entgegen der Annahme) gar keine Pflichten für den Menschen gäbe. Wenn man also unter Politik nicht irgendeine Praxis versteht, sondern eine von moralischen Prinzipien bestimmte Praxis, die aus äußeren Handlungen gegenüber anderen Menschen besteht, also eine unter Rechtsgesetzen stehende Praxis, so kann man sagen, dass sie nicht bloß eine Staatsklugheit ist, sondern eine Staatsklugheit „als ausübende Rechtslehre“ (AA VIII 275). Natürlich ist nicht jede empirische Politik ausübende Rechtslehre, sondern nur diejenige, die nach Rechtsprinzipien als einschränkenden Bedingungen ihrer Klugheitsmaximen verfährt, ohne dass sich die jeweilige politische Zwecksetzung aus Rechtsprinzipien ableiten ließe. Denn alle Rechtgesetze sind, wie das oberste Moralgesetz selbst, nach Kant bloß formale Gesetze, die, von aller besonderen Zwecksetzung unabhängig und darum unbedingt gebietend, für jedes äußere Handeln, das Zwecke verwirklicht, gelten. „Mithin“, so fasst Kant zusammen, „kann es keinen Streit der Politik als ausübender Rechtslehre mit der Moral als einer solchen, aber theoretischen [Rechtslehre] (also keinen Streit der Praxis mit der Theorie) geben“ (AA VIII 370).
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Wohl aber besteht dieser Streit, diese „Misshelligkeit“, dann, wenn man unter Politik „eine allgemeine Klugheitslehre, d.i. eine Theorie der Maximen versteh[t], zu seinen auf Vortheil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen“ (AA VIII 370). Eine solche Politik als eine bloße Kunst oder Geschicklichkeit im Umgang mit anderen Menschen läuft auf die Leugnung dessen hinaus, „dass es überhaupt eine Moral gäbe“ (AA VIII 370), denn diese enthält nur unbedingt gebietende Gesetze, die weder von bestimmten Absichten (d.h. Zwecken) noch von bestimmten für ihre Realisierung geeigneten Handlungen, als mehr oder minder zweckmäßigen Mitteln, handeln können. Der Streit der Politik mit der Moral ist also dann unvermeidlich, wenn die Politik als eine von moralischen Gesetzen unabhängige Klugheitslehre für den Gebrauch der tauglichsten Mittel zur Erreichung der Absichten des zwischenmenschlichen Handelns angesehen wird, wofür Machiavellis Principe ein Musterbeispiel liefert. Auch Garves genannte Schrift beruft sich an einer Stelle auf das, „was man gemeinhin Staatsinteresse und Staatsräson nennt“ (Garve 1788, 50) und stellt sich damit als ein Dokument des moralphilosophischen Eudämonismus zugleich in die Tradition des politischen Machiavellismus. Wenn also Moral und Politik so vereinigt sind, dass die Politik der einschränkenden Bedingung der Moral unterliegt, so gibt es keinen Streit zwischen beiden, und die Frage, „wie jener Streit auszugleichen sei“ (AA VIII 370) stellt sich gar nicht. Hinsichtlich des ewigen Friedens als des obersten politischen Handlungszieles wird nun seit langem eingewandt, dass selbst dann, wenn man einräumt, man solle es erreichen, was impliziert, dass man es auch könne, die Fürsten als die gegenwärtigen Machthaber es doch nicht erreichen wollten, da es einen partiellen Machtverzicht bedeute. Dass sie sich dazu nicht bereit finden werden, folge schon aus der „Natur des Menschen“. Also sei die Hoffnung auf diesen friedvollen Zustand der Menschen unerfüllbar. In Kants Worten: Nun gründet aber der Praktiker (dem die Moral bloße Theorie ist) seine trostlose Absprechung unserer gutmüthigen Hoffnung (selbst bei eingeräumtem Sollen und Können) eigentlich darauf: daß er aus der Natur des Menschen vorher zu sehen vorgiebt, er werde dasjenige nie wollen, was erfordert wird, um jenen zum Frieden hinführenden Zweck [eines weltbürgerlichen Rechtszustandes] zu Stande zu bringen. (AA VIII 371)
Dieser anthropologisch begründete Einwand wird von Kant sowohl auf die Gründung eines einzelnen Staates als auch auf die Stiftung eines Staatenbundes bezogen. Hinsichtlich der Gründung des Staats ist Kant bereit, seine Entstehung durch Gewalt und Zwang einzuräumen. Denn selbst wenn alle einzelnen Menschen wollen, „in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu leben“ (AA VIII 371), so ist das zur Konstitu-
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tion eines Staates nicht hinreichend. Vielmehr müssen alle Menschen, die zunächst in einer „wüsten Menge“ (AA VIII 371) leben, zusammen wollen, in einer „bürgerlichen Gesellschaft“ als einem Ganzen zu leben, und die „Ursache“ der Vereinigung des „particularen Wollens“ aller in „einen gemeinschaftlichen Willen“ kann nicht bei einem (oder einigen) Mitglied(ern) dieser Menschenmenge liegen. So ist in der Ausführung jener Idee [einer nach Rechtsgesetzen lebenden bürgerlichen Gesellschaft oder eines Staates] auf keinen andern Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird. (AA VIII 371)
Da aber nicht erwartet werden konnte, dass dieser durch Gewalt und Zwang ein „Volk“ aus einer „wüsten Menschenmenge“ hervorbringende „Gesetzgeber“ es diesem Volk selbst überlassen werde, „eine rechtliche Verfassung durch ihren gemeinsamen Willen zu Stande zu bringen“ (AA VIII 371), so ist der in der Erfahrung vorfindbare Zustand der Staaten, ihrer Staats- und Regierungsform nach, d.h. deren große Abweichungen „von jener Idee (der Theorie)“, nicht verwunderlich, sondern eine Folge ihres gewaltsamen Ursprungs. Die uns empirisch bekannte Natur des Menschen ließ schon im Voraus von den Machthabern nichts anderes erwarten. Dasselbe gilt nun für die Stiftung eines übergreifenden Staatenbundes als Vorstufe zu einem weltumspannenden Bundesstaat. Da heißt es dann [von Seiten der Praktiker]: wer einmal die Gewalt in den Händen hat, wird sich von dem Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen. Ein Staat, der einmal in Besitz ist, unter keinen äußeren [d.h. von anderen Staaten (mit-)gegebenen] Gesetzen zu stehen, wird sich in Ansehung der Art, wie er gegen andere Staaten sein Recht suchen soll, nicht von ihrem Richterstuhl abhängig machen […] und so zerrinnen nun alle Plane der Theorie für das Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht in sachleere, unausführbare Ideale. (AA VIII 371)
Diese realistische und zugleich trostlose Anthropologie sieht also die Fürsten als Machthaber im Staat und im Verhältnis zu den Machthabern anderer Staaten als durch die menschliche Natur selbst dazu bestimmt, alles zu tun, um einen rechtlichen Zustand im Innern ihrer Staaten und im Verhältnis zu Nachbarstaaten zu verhindern, da beides ihnen eine Verminderung ihrer Macht einbrächte. Wenn der Mensch von Natur aus machtgierig ist, so ist ihnen das nicht zu verdenken, und die Einführung republikanischer Verfassungen und einer staatsübergreifenden Rechtsordnung ist a priori unmöglich. Es bleibt nur eine Politik als eine Praxis, „die auf empirische Principien der menschlichen Natur gegründet ist, welche es nicht für zu niedrig hält, aus der Art, wie es in der Welt zugeht, Belehrung für ihre Maximen zu ziehen“ (AA VIII 371). Das dieser theorielosen und moralfreien Praxis entsprechende „Gebäude der Staatsklugheit“ ist eine Politik im Sinne Machiavellis und Garves.
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Was Kant dieser Politikkonzeption entgegensetzt, sind die Grundsätze seiner Moralphilosophie, die, wenigstens in der Theorie, die Möglichkeit einer Verbindung mit der Politik und damit einer die Verbesserung der moralischen, d.h. rechtlichen, Situation der Menschen als Staats- und Weltbürger offen halten, während die auf die vermeintlich erkannte Natur des Menschen gestützte empirische Politik und die sie rechtfertigenden „politischen Moralisten“ eine „verderbliche Theorie“ vertreten, die „das Übel wohl gar selbst bewirkt, was sie vorhersagt“ (AA VIII 378). Kant wiederholt in diesem Anhang nicht die in seinem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) vorgetragene Begründung für die Annahme einer den weltbürgerlichen Rechtszustand und damit den ewigen Frieden herbeiführenden Wirksamkeit der Natur, die innerhalb der Schrift Zum ewigen Frieden im Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens ihr modifiziertes Gegenstück hat. Er beschränkt sich im Wesentlichen auf eine Polemik gegen den „politischen Moralisten […] der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet“ (AA VIII 372). Für unseren Zweck ist es gleichgültig, ob dieser Typ des dem Politiker willfährigen Theoretikers durch Garve repräsentiert wird. Eine Verbindung von Politik und Moral, wie sie bei Garve in allerdings pervertierter Form vorliegt, ist auch nach Kant notwendig, freilich so, dass sie das Verfahren des politischen Moralisten umkehrt: der letztere fängt da an, „wo der moralische Politiker“ und der ihm entsprechende philosophische Theoretiker „billigerweise endigt“ (AA VIII 376), nämlich bei der Politik. Der politische Moralist ordnet die moralischen Grundsätze dem politischen Zweck unter und vereitelt so seine eigene Absicht, „die Politik mit der Moral in Einverständnis zu bringen“ (AA VIII 376), was zur Zerstörung aller Moral in der Politik führen muss. Denn: wenn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz giebt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist Politik (als Kunst diesen [Mechanismus] zur Regierung der Menschen zu benutzen) die ganze praktische Weisheit und der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke. (AA VIII 372)
Dann aber entfällt auch die Aufgabe einer Verbindung von Moral und Politik. Deshalb ist von der Moral auszugehen: „Findet man diesen [Rechtsbegriff] aber doch unumgänglich nöthig mit der Politik zu verbinden, ja ihn gar zur einschränkenden Bedingung der letzteren zu erheben, so muß die Vereinbarkeit beider eingeräumt werden.“ (AA VIII 372) Dann kann es so etwas wie einen moralischen Politiker und eine Theorie der Prinzipien seines Verhaltens geben. Beispiele für eine misslungene Verbindung von Politik und Moral findet Kant in der französischen Revolution und der Reaktion darauf bei den Intellektuellen seiner Zeit. Über die Revolutionäre heißt es:
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Es mag also immer sein: dass die despotisierenden (in der Ausübung fehlenden) Moralisten wider die Staatsklugheit (durch übereilt genommene oder angepriesene Maßregeln) mannigfaltig verstoßen, so muß sie doch die Erfahrung bei diesem Ihrem Verstoß wider die Natur [!] nach und nach in ein besseres Gleis bringen. (AA VIII 373)
Die despotisierenden Moralisten haben also jedenfalls die richtige Idee verfolgt, die politische Praxis auf die Moral zu gründen, wenn sie sich auch als schlechte Politiker und als der menschlichen Natur Unkundige erwiesen haben mögen. Statt dessen die moralisierenden Politiker [wie jetzt die politischen Moralisten genannt werden] durch Beschönigung rechtswidriger Staatsprincipien unter dem Vorwande einer des Guten nach der Idee, wie sie die Vernunft vorschreibt, nicht fähigen menschlichen Natur, so viel an ihnen ist, das Besserwerden unmöglich machen und die Rechtsverletzung verewigen. (AA VIII 373)
Die politischen Moralisten, nach deren Ansicht die menschliche Natur der Vernunftidee des Guten nicht fähig ist, befördern also durch ihre Theorie die politischen Verhältnisse, in denen das Recht der Menschen ständig verletzt wird, statt zu ihrer Besserung beizutragen. Es ist erstaunlich, dass diese kaum verdeckte Apologie für die französischen Revolutionäre 1795 erscheinen konnte. Aber Kant geht in seiner Polemik gegen die literarischen Vertreter des ancien régime und gegen die Juristen von Profession noch weiter. Er beschuldigt sie, an der Erhaltung des rechtswidrigen status quo interessiert zu sein: Statt der Praxis, deren sich diese staatsklugen Männer rühmen, gehen sie mit Praktiken um, indem sie bloß darauf bedacht sind, dadurch, dass sie der jetzt herrschenden Gewalt zum Munde reden (um ihren Privatvortheil nicht zu verfehlen), das Volk und womöglich die ganze Welt preis zu geben; nach Art ächter Juristen (von Handwerke, nicht von der Gesetzgebung), wenn sie sich bis zur Politik versteigen. Denn da dieser ihr Geschäfte nicht ist, über Gesetzgebung selbst zu vernünfteln, sondern die gegenwärtigen Gebote des Landrechts zu vollziehen, so muß ihnen jede jetzt vorhandene Verfassung und, wenn diese höhern Orts abgeändert wird, die neu folgende immer die beste sein […]. (AA VIII 373)
Schließlich polemisiert Kant gegen die wie Juristen argumentierenden Kritiker einer auf die Vernunftideen des Naturrechts gestützten Veränderung der Verfassung bestehender Staaten: Wenn sie darauf großthun, Menschen zu kennen […], ohne doch den Menschen, und was aus ihm gemacht werden kann, zu kennen – , mit diesen Begriffen aber versehen, ans Staats- und Völkerrecht, wie es die Vernunft vorschreibt, gehen: so können sie diesen Überschritt nicht anders, als mit dem Geist der Chicane thun, indem sie ihr gewohntes Verfahren (eines Mechanisms nach despotisch gegebenen Zwangsgesetzen) auch da befolgen, wo die Begriffe der Vernunft einen nur nach Freiheitsprincipien gesetzmäßigen Zwang begründet wissen wollen, durch welchen allererst eine zu Recht beständige Staatsverfassung möglich ist; welche Aufgabe der vorgebliche Praktiker mit Vorbeigehung jener Idee, aus Erfahrung,
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wie die bisher noch am besten bestandenen, mehrentheils aber rechtswidrigen Staatsverfassungen eingerichtet waren, lösen zu können glaubt. (AA VIII 374)
Der staatstheoretische Empirismus, wie er in Edmund Burkes Reflections (1790, Übs. 1793) vorliegt, ist ebenso feindlich gegenüber einer durch die Vernunft geforderten und von den französischen Revolutionären wirklich betriebenen Verfassungsreform wie die Praktiken der bestehendes Recht durch ein mechanisches Subsumtionsverfahren anwendenden Juristen, die notorisch konservativ und staatstragend sind. Nachdem Kant eine Reihe politischer Maximen von Staatsoberhäuptern erörtert und in ihrer in die Augen fallenden „Ungerechtigkeit“ (AA VIII 375) angeprangert hat, kommentiert er sie als Verhaltensregeln, die auf einer Heuchelei beruhen, auf die man La Rochefoucaulds Diktum anwenden kann, dass sie nämlich diejenige Huldigung sei, die das Laster der Tugend zollt. Aus allen diesen Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre, den Friedenszustand unter Menschen aus dem kriegerischen des Naturzustandes herauszubringen [nämlich durch die Gründung von Staaten und Stiftung von Staatenbünden], erhellt wenigstens soviel: daß die Menschen ebenso wenig in ihren Privatverhältnissen als in ihren öffentlichen dem Rechtsbegriff entgehen können und sich nicht getrauen, die Politik öffentlich bloß auf Handgriffe der Klugheit zu gründen, mithin dem Begriff des öffentlichen Rechts allen Gehorsam aufzukündigen […] sondern ihm an sich alle gebührende Ehre widerfahren lassen, wenn sie auch hundert Ausflüchte und Bemäntelungen aussinnen sollten, um ihm in der Praxis auszuweichen und der verschmitzten Gewalt die Autorität anzudichten, der Ursprung und der Verband alles Rechts zu sein. (AA VIII 376)
Kant spricht hier von der „Sophisterei“ der politischen Moralisten als der „falschen Vertreter der Mächtigen der Erde“ und will sie zum „Geständnisse“ bringen, dass es, entgegen dem von ihnen erzeugten Anschein, „nicht das Recht, sondern die Gewalt sei, der sie zum Vortheil sprechen, von welcher sie, gleich als ob sie selbst hierbei was zu befehlen hätten, den Ton annehmen“ (AA VIII 376). Es fällt schwer, hierbei nicht an Garve zu denken, der in seinen Schriften über Politik und Moral die Position und manchmal auch die Formulierungen Friedrich II. übernimmt. (vgl. Cavallar 1992, 352ff.) Kant glaubt nun, durch Berufung auf den Formalismus als Prinzip seiner Moralphilosophie auch die Fehler und die Moralwidrigkeit der Theorie der politischen Moralisten aufzeigen zu können. Bei der Herbeiführung des ewigen Friedens als des Endzwecks allen politischen Handelns geht es nämlich nur um einen Spezialfall der praktischen Philosophie, an dem sich die Notwendigkeit des Ausgangs von formalen Prinzipien des Handelns demonstrieren lässt. Dadurch allein kann, nach Kant, nicht nur die Moral als in sich konsistent erwiesen werden, sondern
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auch ihre Vereinbarkeit mit der Politik, wenn diese der Moral untergeordnet wird. Um die praktische Philosophie mit sich selbst einig zu machen, ist nöthig, zuvörderst die Frage zu entscheiden: ob in Aufgaben der praktischen Vernunft vom materialen Princip derselben, dem Zweck (als Gegenstand der Willkür), der Anfang gemacht werden müsse, oder vom formalen [Prinzip], d.i. demjenigen (bloß auf Freiheit im äußeren Verhältniß gestellten), darnach es heißt: handle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle). (AA VIII 377)
Der hier auf das äußere Handeln nach Maximen eingeschränkte kategorische Imperativ ist damit zu einem formalen Rechtsprinzip geworden. Als formales hat dieses Rechtsprinzip „unbedingte Nothwendigkeit“, d.h. es gebietet eine Handlungsweise unabhängig von dem durch das Handeln zu bewirkenden Zweck. Legt man hingegen dem Rechtsprinzip einen Zweck als Bedingung seines Gebots zu handeln zugrunde, so nötigt es „nur unter Voraussetzung empirischer Bedingungen des vorausgesetzten Zwecks, nämlich [der empirischen Bedingungen] der Ausführung desselben“ (AA VIII 377). Auch wenn dieser Zweck, wie der ewige Friede, Pflicht wäre, d.h. wenn er ein gebotener oder obligatorischer Zweck wäre, wie es nach Kant der Fall ist, so liegt er mit den empirischen Bedingungen seiner Erreichbarkeit (Ausführbarkeit) nicht dem formalen Rechtsgesetz zugrunde, sondern die Pflicht, ihn sich zu setzen, „müsste doch […] selbst aus dem formalen Princip der Maximen äußerlich zu handeln abgeleitet worden sein“ (AA VIII 377). Mit anderen Worten: Der ewige Friede ist ein Zweck, den sich zu setzen notwendig oder Pflicht ist, weil er die Folge des rechtlichen Zustandes der Menschheit unter allgemeinen Gesetzen ihres äußeren Handelns wäre, den herbeizuführen seinerseits eine unbedingte Rechtspflicht ist, die nur nach dem formalen Rechtsgesetz eingesehen werden kann. Das ist gemeint, wenn in der späteren Metaphysik der Sitten der ewige Friede das höchste politische Gut genannt wird. Das bedeutet einen Endzweck politischen Handelns, der das Rechtsgesetz nicht bedingt, sondern zu ihm a priori als Folge hinzutritt, wenn ein allgemeiner Rechtszustand unter den Menschen gestiftet ist. Das aber ist nach der Metaphysik der Sitten dann der Fall, wenn die Rechtspflicht allgemein erfüllt ist: „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden andern gesichert werden kann“ (AA VI 237), und dieser rechtliche Zustand einer iustitia distributiva ein Zustand der gesamten Menschheit ist. Mithin ist auch der ewige Rechtsfriede aus dem formalen Prinzip der Maximen äußeren Handelns, d.h. aus dem formalen Rechtsgesetz abgeleitet. Damit ist auch die Auflösung des von Kant so genannten „Staatsweisheitsproblems“ (im Unterschied zum sogenannten „Staatsklugheitsproblem“) geliefert, nämlich so, dass sich diese Auflösung „sozusagen von
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selbst auf[drängt]“ (AA VIII 377). Sie führt nach Kant geradewegs „zum Zweck“, dem ewigen Frieden, „doch mit der Erinnerung der Klugheit, ihn nicht übereilterweise mit Gewalt herbei zu ziehen, sondern sich ihm nach Beschaffenheit der günstigen Umstände unablässig zu nähern“ (AA VIII 377). Diese Auflösung zeigt also nicht nur, woraus der ewige Friede als Zweck abgeleitet werden kann, sondern zugleich, inwiefern er aus der Verbindung von Politik und Moral, durch Unterwerfung der ersteren und ihrer Zwecke unter die letztere entspringt. Die Moral mit ihren Grundsätzen des öffentlichen Rechts und in ihrer Beziehung auf „eine a priori erkennbare Politik“ (AA VIII 378) hat die paradoxe Eigenschaft, „dass, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischen oder sittlichen Vortheil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im Allgemeinen zusammenstimmt.“ (AA VIII 378) Denn die wohltätigen Folgen eines allgemeinen Rechtszustandes, die wir im Begriff des ewigen Friedens denken, werden gerade nicht durch die kluge Wahl der Mittel zu seiner Herbeiführung möglich gemacht, sondern durch Etablierung einer vom Rechtsbegriff geforderten republikanischen Verfassung im Innern und einer ebensolchen Verfassung im äußeren Verhältnis der Staaten, die herbeizuführen moralisch geboten bzw. Rechtspflicht ist. An dieser Stelle findet sich eine Anspielung auf die im Abschnitt Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens erörterte Rolle der Natur und ihres Mechanismus, deren Effekt mit dem aus Gründen der rechtlichpraktischen Vernunft zu bewirkenden allgemeinen Rechtszustand übereinstimmt. Genauer stimmen die Grundsätze des öffentlichen Rechts mit dem gebotenen Zweck des ewigen Friedens insofern überein, „als es gerade der a priori gegebene allgemeine Wille (in einem Volk, oder im Verhältniß verschiedener Völker untereinander) ist, der allein, was unter Menschen Rechtens ist, bestimmt; diese Vereinigung des Willens aller aber, […] auch nach dem Mechanism der Natur zugleich die Ursache sein kann, die abgezweckte Wirkung [d.h. den ewigen Frieden] hervorzubringen und dem Rechtsbegriffe Effekt zu verschaffen“ (AA VIII 378), d.h. eine staatliche und überstaatliche Rechtsordnung mit dem ewigen Frieden als Konsequenz zu etablieren. Von hier aus kann Kant deshalb sagen: „Es giebt also objektiv (in der Theorie) gar keinen Streit zwischen der Moral und der Politik“ (AA VIII 379), dann nämlich, wenn die letztere eine moralisch bestimmte Politik a priori der Herbeiführung des ewigen Friedens ist. Die „wahre Politik“, die vorher „der Moral gehuldigt“ hat (AA VIII 380), ist also deshalb mit der Moral leicht zu vereinigen, weil das Recht, im Falle eines drohenden Widerstreits mit der Politik, dieser das Handeln verbietet, mag dies „der herr-
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schenden Gewalt […] auch noch so große Aufopferung kosten“ (AA VIII 380). Der zweite Teil des Anhangs handelt, wie gesagt, von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts (AA VIII 381). Der zunächst befremdliche Ausdruck eines „transzendentalen Begriffs“ innerhalb der Rechtsphilosophie erklärt sich leicht, wenn man die Einführung des Begriffs des öffentlichen Rechts ins Auge fasst. Dann sieht man, dass Kant den Begriff des Transzendentalen im Sinne der scholastischen Tradition gebraucht, nach der transzendentale Bestimmungen einer Sache diejenigen sind, die ihr in allgemeinster Weise und als derjenigen, die sie ist, zukommen. Von den verschiedenen empirisch-gegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten untereinander, die unter den empirischen Begriffen des öffentlichen Rechts gedacht werden, gelangt man durch Abstraktion zur allgemeinsten Bestimmung des öffentlichen Rechtes überhaupt als der Publizität (Öffentlichkeit), die „jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene [Publizität] es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann) […] geben würde.“ (AA VIII 381) „Gerechtigkeit“ ist hier der Name für die iustititia distributiva als Institution, d.h. als Gerichtshof. Von ihm wird im Falle streitender Rechtsansprüche das Recht der einen Partei zu- und der anderen abgesprochen, nach dem Grundsatz „jedem das Seine“, angewandt auf das subjektive Recht von Personen als deren moralische Qualität. Ist aber die austeilende Gerechtigkeit nur als öffentliche denkbar, so auch das von ihr jeweils erteilte (oder vielmehr nur bestimmte) subjektive Recht, das nur als so, d.h. von einem möglichen Gerichtshof, zuzusprechendes denkbar ist. Diese Art von Publizität vor einem öffentlichen Gerichtshof muss jeder subjektive Rechtsanspruch also als ein solcher haben. Also ist Publizität als eine notwendig mögliche ein a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium, nach welchem die Grundsätze eines Handelnden und dieses Handeln selbst hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit beurteilt werden können und müssen. Nur derjenige hat ein Recht, so zu handeln wie er handelt, der vor einem öffentlichen Gerichtshof als dieses Recht habend befunden werden kann. (Vgl. den Artikel 39 der Charta der Vereinten Nationen) Hat er dieses so verstandene Recht nicht, so ist die Rechtswidrigkeit des jeweiligen Anspruchs vor Gericht „gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft“ sofort zu erkennen, daran nämlich, dass er vor einem öffentlichen Gericht nicht bestätigt werden kann. Das gilt also auch für das besondere öffentliche Recht, das wir Staatsund Völkerrecht nennen. Das besagt die sogenannte „transzendentale Formel des öffentlichen Rechts“: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität ver-
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trägt, sind unrecht.“ (AA VIII 381) Eine Maxime also, die ich nicht öffentlich (also auch nicht vor einem möglichen Gericht) bekennen kann, „ohne dass dadurch unausbleiblich der Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde“, muss ungerecht und für jeden andern bedrohlich, das heißt unrecht nach äußeren Gesetzen sein. Dieses Prinzip ist ein bloß negatives Kriterium, d.h. ein solches, aus dem man nur erkennen kann, „was gegen Andere nicht recht ist“ (AA VIII 381). Von den Beispielfällen, die Kant bei der Anwendung seines Prinzips erörtert, greife ich hier nur den Fall 2b) nach dem Völkerrecht heraus, das Beispiel des Präventivkrieges, der an die Schilderung der Ursachen des Peloponnesischen Krieges bei Thukydides erinnert. Die zur Entscheidung vorgelegte Frage lautet: Wenn eine bis zur furchtbaren Größe angewachsene benachbarte Macht Besorgnis erregt: kann man annehmen, sie werde, weil sie kann, auch unterdrücken wollen, und giebt das den mindermächtigen ein Recht, zum (vereinigten) Angriffe derselben, auch ohne vorhergegangene Beleidigung? (AA VIII 384)
Wenn der sich bedroht fühlende Staat seine die Frage bejahende Maxime öffentlich verkünden wollte, so würde er seine Absicht damit selbst vereiteln und seine Unterdrückung durch den Nachbarstaat selbst beschleunigt herbeiführen. Denn dann würde ihm der gefürchtete größere Staat seinerseits mit einem Präventivschlag zuvorkommen. Also ist die politische Maxime der Führung von Präventivkriegen eine solche, die, wenn sie öffentlich gemacht wird, die Absicht des Schwächeren, der sie hat, unerreichbar macht, und eben daran ist erkennbar, dass diese Maxime der Staatsklugheit und ihre Befolgung „ungerecht“ ist. (AA VIII 384) Denn ein Handeln, dessen Maxime nicht öffentlich geäußert werden darf, ohne dass dieses Handeln selbst dadurch unmöglich wird, ist nach dem Prinzip der Publizität unrecht. Das so verstandene Rechtsprinzip entscheidet also gegen die Politik und verbietet das Handeln nach einer Klugheitsmaxime, die nur zum Erfolg führen kann, wenn sie verheimlicht wird. Deshalb kann auch hier kein Streit der Politik mit der Moral entstehen. Umgekehrt gilt, dass die „Nichtübereinstimmung der Politik mit der Moral (als Rechtslehre)“ an der „Unverträglichkeit der Maximen des Völkerrechts mit der Publizität“ erkannt werden kann, was aber nur besagt, dass das dafür gehaltene Völkerrecht der Präventivkriegsführung kein öffentliches Recht sein kann, weil seine Maximen nicht publik gemacht werden können, ohne sich selbst in den Folgen aufzuheben. Dann können sie auch nicht zu einem möglichen Völkerrecht gehören. (Vgl. den Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) Nun besagte das transzendentale Prinzip des öffentlichen Rechts, dass alle Handlungen, deren Maxime sich nicht mit Publizität verträgt, unrecht seien. Die hier entscheidende Publizität war aber die vor einem möglichen
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öffentlichen Gerichtshof und das heißt: in einem rechtlichen Zustand. Einen solchen aber gibt es im Verhältnis der Völker zu Kants Zeit noch nicht. Also kann es auch ein solches Völkerrecht zunächst einmal nicht geben. Denn: „Die Bedingung der Möglichkeit eines Völkerrechts überhaupt ist: dass zuvörderst ein rechtlicher Zustand existiere.“ (AA VIII 385) Der Haupttext unsere Schrift hatte argumentiert, „dass ein föderativer Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat, der einzige mit der Freiheit derselben vereinbare rechtliche Zustand sei.“ (AA VIII 385) Nur in einer solchen Föderation kann es also ein Völkerrecht als öffentliches Recht geben. Also kann auch die Vereinbarkeit von Politik und Moral (qua öffentliches Recht) nur in einem „öffentlichen Verein“ bestehen. Daraus ist leicht zu erkennen, dass selbst aus der Perspektive der Politik ihre vorgebliche Zusammenstimmung mit der Moral nur innerhalb einer Vereinigung der Staaten bestehen kann, die „also nach Rechtsprinzipien a priori gegeben und nothwendig ist“ (AA VIII 385), weil ohne sie, als öffentlich-rechtlicher Zustand, gar kein Recht oder Unrecht im Verhältnis von Staaten möglich ist, also auch keine Vereinbarkeit von Politik und Moral (qua öffentliches Recht). Die Stiftung eines solchen föderativen Vereins ist also aus Gründen des öffentlichen Rechts a priori notwendig, mit der Folge, dass damit erst die rechtliche Basis selbst für die Staatsklugheit gegeben ist. Schließlich schlägt Kant ein bejahendes transzendentales Prinzip des öffentlichen Rechts vor, nach der Formel: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“ (AA VIII 386) Mit der Politik stimmt eine Maxime, die nur durch Publizität ihren Zweck erreichen kann, darum zusammen, weil sie dann dem allgemeinen Zweck des Publikums, der Glückseligkeit, gemäß ist, deren Herbeiführung „die eigentliche Aufgabe der Politik ist“ (AA VIII 386). Mit dem Recht des Publikums (d.h. mit der Moral) stimmt eine solche der Publizität bedürfende Maxime deshalb überein, weil sie nur „durch die Entfernung allen Misstrauens“ (AA VIII 386), das gegen verheimlichte Maximen bestehen muss, ihren Zweck erreichen soll. Dann stimmt sie positiv mit dem öffentlichen Recht überein, weil nur in ihm, d.h. unter ihm als bloß formaler Bedingung, „die Vereinigung der Zwecke Aller möglich“ ist (AA VIII 386). So ermöglicht diese bejahende transzendentale Formel die Entscheidung darüber, ob allein „die Form der allgemeinen [d.h. hier: öffentlichen] Gesetzmäßigkeit“ (AA VIII 386) es ist, durch die eine Maxime mit der (dem Recht untergeordneten) Politik vereinbar ist.
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Literatur Garve, Christian (1788): Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten, Breslau. Cavallar, Georg (1992): Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs „Zum ewigen Frieden“ (1795) von Immanuel Kant, Wien-KölnWeimar.
Was ist falsch an einer moralischen Deutung von Kants Politischer Philosophie? Christoph Horn Wer sich Kants Politische Philosophie genauer ansieht, wird feststellen, dass ihre systematischen Grundlagen ausgesprochen unklar sind, und man muss als Interpret(in) fast zwangsläufig den Eindruck gewinnen, Kants Position sei konfus und inhomogen. Gelegentlich spricht Kant wie ein klassischer Naturrechtler (etwa wenn er Ulpians Rechtsregeln interpretiert), gelegentlich wie ein liberaler Verteidiger der Menschenrechte (scheinbar in der Tradition Lockes), gelegentlich verwendet er Elemente einer strategisch-rationalen Vertragstheorie (angelehnt an Hobbes), gelegentlich die Theorie der Volkssouveränität (in der Nachfolge Rousseaus), und im ersten Teil seiner Metaphysik der Sitten, der Rechtslehre, bildet schließlich eine merkwürdige Eigentumstheorie das Zentrum seiner Überlegungen. Ein Zusammenhang zwischen diesen und anderen Versatzstücken lässt sich nur schwer ausmachen. Besonders prekär wirkt diese Mixtur, wenn man versucht, sich Kants Lösung für das Problem der moralischen Legitimation von Staatlichkeit klarzumachen. Sobald man sich diese Schwierigkeiten präzise vor Augen führt, scheint es sogar fraglich, ob Kant überhaupt versucht hat, den Staat moralisch zu legitimieren.1 Denn die Elemente einer Staatslegitimation, die Kant in der Rechtslehre und in seinen wenigen anderen politischen Schriften liefert (falls er dies denn tatsächlich intendiert hat), sind kaum geeignet, den Staat auf eine normativ akzeptable Grundlage zu stellen. Weder Kants Rede vom Gesellschaftsvertrag noch sein „ursprüngliches Freiheitsrecht“ noch seine Theorie des Gemeinwillens noch seine berühmt-berüchtigte Argumentation zugunsten des Eigentumsrechts bieten, wie mir scheint, eine zufriedenstellende Basis für das, was man häufig für den moralischen Kern der kantischen Politischen Philosophie erklärt hat.
_____________ 1 Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob Kant eine moralische Rechts- und Staatsbegründung liefert, besonders von Pippin 1997 und 1999, Pinkard 1999, Guyer 2005 und A.W. Wood sowie Th. Pogge in der Aufsatzsammlung von Timmons 2002.
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Umso schwerer ist es nachvollziehbar, dass Kants politische Theorie in der jüngeren Literatur häufig als großer systematischer Wurf gerühmt wird.2 Der vorliegende Aufsatz soll hingegen dazu dienen, die erheblichen Schwierigkeiten der kantischen Position vor Augen zu führen.3 Ich möchte mittels zweier Problemkreise zeigen, was gegen die Auffassung spricht, dass es Kant in seinen politischen Schriften um eine moralische Legitimation von Staatlichkeit geht: Zunächst versuche ich dies anhand von Kants Version einer Vertragstheorie zu demonstrieren (I); sodann widme ich mich den Schwierigkeiten der kantischen Eigentumstheorie (II). In einem abschließenden Teil skizziere ich meine eigene Deutung der Position Kants (III): Danach handelt es sich bei der Rechtsidee lediglich um ein Derivat aus der kantischen Moraltheorie. Bei sorgfältiger Textlektüre lässt sich plausibel machen, dass Kant eine deutlich andere Auffassung von den philosophischen Prinzipien des Politischen vertritt, als dies viele Interpretinnen und Interpreten bislang angenommen haben. Am Ende kommt es zwar zu einer Art von normativer Staatslegitimation, nur fällt diese sehr anders als erwartet aus; sie ist allenfalls indirekt von moralischer Art.
I. Nach einer weit verbreiteten Einschätzung versucht Kant, der Rechtsund Staatsordnung ein moralisches Fundament zu verschaffen, indem er auf die Idee der Autonomie und auf den kategorischen Imperativ rekurriert. Bezeichnen wir dies im Folgenden als die moralische Interpretation. So behauptet Otfried Höffe (Höffe 1990, 126-150 und 1999, 41-62), Kant gründe seine Rechts- und Staatsphilosophie auf einen „kategorischen Rechtsimperativ“; demnach bezieht das Recht seinen Inhalt und seine normative Kraft aus der Moral, ja es bildet sogar deren wohlverstandenen Kern. Zur Erläuterung sagt Höffe, der moralische Rechtsbegriff Kants stütze sich auf die Idee von „vor- und überpositiven Rechte[n], die wir angeborene Rechte oder Menschenrechte nennen“ (Höffe 1990, 138). Der
_____________ 2 Nach Kersting 1984 ist Kant mit seiner Eigentumsbegründung „eine letzte philosophische Großtat gelungen“. Für Maus 1992, 10 bezeichnet „Kants Rechtsprinzip […] das einzige, worauf eine pluralistische und multikulturelle Gesellschaft sich noch einigen kann“. Höffe 1999, 4 urteilt: “In Wahrheit sind Kants Gedanken [sc. zum Thema Recht und Staat; C.H.] nicht nur lange herangereift, sondern auch im Vergleich zu den früheren Texten in der Regel differenzierter und problembewusster […]“. – Kritisch dazu verhält sich besonders die Studie von Zotta 2000. 3 Eine längere Auseinandersetzung in monographischer Form soll diesem Beitrag folgen.
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weitverbreiteten Einschätzung, wonach sowohl die Rechts- als auch die Tugendlehre auf den kategorischen Imperativ zurückgehen, geben auch Karlfried Herb und Bernd Ludwig Ausdruck: In der Kantischen Systematik zerfällt die Moral, die Sittenlehre, in die beiden Teile Recht und Ethik, die sich beide auf den Kategorischen Imperativ als die gemeinsame Quelle moralischer Verbindlichkeit beziehen. Der Mensch steht, als Vernunftwesen, welches sich seiner eigenen Freiheit ‚durch den moralischen Imperativ‘ (VI 239) bewußt ist, unter der Verpflichtung dieses Kategorischen Imperativs, und dieser bildet die Grundlage aller subjektiven Rechte und Pflichten (ebd., vgl. VI 225f.). Die Rechtslehre […] als ‚Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist‘ (VI 229), steht – als ein Teil der Moral – demzufolge unter dem obersten Grundsatz der Sittlichkeit, doch wird von diesem in der Rechtslehre nur die auf äußere Handlungen spezialisierte Version vorgestellt: das allgemeine Rechtsgesetz ‚Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen könne‘ (VI 231) (Herb/Ludwig 1993, 286).
Der kategorische Imperativ liefert also auch nach Herb und Ludwig die normative Basis des Rechts. In einer vielleicht noch pointierteren Form beschreibt Armin Adam Kants Politische Philosophie als Ausdruck seiner Moralphilosophie: Tatsächlich sind die Struktur der Moralphilosophie und die der Politischen Philosophie bei Kant ununterscheidbar hinsichtlich der Maßgeblichkeit des Autonomiegedankens einerseits, hinsichtlich der radikalen Verbindlichkeit des Prinzips der Allgemeinheit andererseits. Kant lässt die Politische Philosophie, die so wesentlich Rechtsphilosophie ist, aus der Moralphilosophie als aus ihrem metaphysischen Fundament hervorgehen. Und das heißt nicht weniger als den moralischen Gesetzen die Funktion von Prinzipien im Politischen zugestehen (Adam 2002, 147).
Gegen diese Interpretationslinie werde ich im Folgenden opponieren. Wollte man sie verteidigen, so müsste man zeigen können, dass die kantische Politische Philosophie in zentralen Punkten auf seiner Moralphilosophie beruht. Doch hierfür findet sich keine zureichende Textbasis. Gewiss, in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ (AA VI 211-228) behandelt Kant Moral und Recht gemeinsam; beide Phänomene fallen ja schließlich ins Themenfeld einer normativen Sittenlehre. Nach meiner Ansicht tut er dies, um die beiden gegeneinander abzugrenzen, nicht um Recht direkt aus Moral zu gewinnen. Nirgends wird das Recht explizit auf den kategorischen Imperativ zurückgeführt, was Höffe denn auch ausdrücklich einräumt (Höffe 1990, 126). Dennoch, wie Herb und Ludwig im vorherigen Zitat mag man eine Unterstützung für die moralische Deutung darin sehen, dass Kant das „allgemeine Rechtsgesetz“ in auffälliger Analogie zum kategorischen Imperativ folgendermaßen formuliert: „handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“
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(AA VI 231, Z. 10-12; vgl. AA VI 230, Z. 29-31). Allerdings reicht die Tatsache, dass Kant unter Recht soviel versteht wie die regelförmige Kompatibilisierung der Willkürfreiheit aller Akteure, nicht gerade sehr weit; denn gemeint sind hier ja nicht alle Menschen (wie beim kategorischen Imperativ), sondern bloß alle Rechtsgenossen und Staatsbürger. Ich denke, dass die moralische Interpretation der kantischen Politischen Philosophie einer sorgfältigen Überprüfung nicht standhält; die Gegenevidenzen sind zu stark. Ich wende mich damit Kants Kontraktualismus zu und gliedere meine Bedenken in sechs Punkte [1]-[6]: [1] Es scheint zunächst klar, dass Kant in seinen politischen Schriften die Hobbes’sche Idee eines Übergangs von einem natürlichen Zustand (status naturalis) in einen bürgerlichen Zustand (status civilis) auf der Basis eines Vertragsschlusses affirmativ aufgreift.4 Das Vertragsszenario bei Hobbes beruht unstrittig auf strategisch-prudentieller Rationalität; für jeden Akteur ist es nach Hobbes schlagend vorteilhaft, den Naturzustand zu verlassen. Das von Hobbes formulierte Gebot, man müsse den Naturzustand verlassen (exeundum est e statu naturali), ist aber zweifellos ein Klugheitsgebot. Wenn es nun wahr wäre, dass Kant eine Staatslegitimation auf kontraktualistischer Basis anbieten wollte, müsste er entweder Hobbes’ prudentieller Argumentationslinie folgen oder den Vertragsgedanken ‚moralisieren‘. Zugegeben, es existieren mehrere Möglichkeiten, wie man das Vertragskonzept mit einer moralischen Pointe versehen kann. Zwei wichtige Beispiele völlig unterschiedlicher Art hierfür liefern Locke und John Rawls. Doch bei Kant findet sich ein moralisch gewendeter Kontraktualismus nicht einmal in Ansätzen. Im Gegenteil, in einer berühmten Passage aus der Schrift Zum ewigen Frieden wendet Kant den Vertragsgedanken auf ein Volk von Teufeln an, von dem er annimmt, es könnte sich „unter Zwangsgesetze begeben“, und zwar ohne moralische Gesinnungen, nur auf der Basis ihres Verstandes: Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ‚Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.‘ Ein solches Problem muß auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen
_____________ 4 Vgl. etwa AA VIII 296f. und 305; TP, AA VI 97; RGV, AA VIII 366; ZeF und §§ 41-43 der Rechtslehre. Weitere Stellen bei Herb/Ludwig 1993.
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in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen. (AA VIII 366)
Man kann den Text sicher unterschiedlich interpretieren. Doch die zitierte Passage macht wenigstens eines klar: Kant hält das Problem der Staatserrichtung für eine Klugheitsfrage. Was das Problem der Staatslegitimation anlangt, so kann man aus dem Text zumindest folgern, dass er diese nicht ausschließlich an die für Teufel irrelevante moralische Perspektive knüpft (gleich mehr dazu). [2] Aber liegt das gesuchte moralisch-normative Element nicht vielleicht in der Freiheitsidee? Kant entwickelt in der Rechtslehre prominentermaßen den Gedanken eines ursprünglichen, angeborenen Rechts: nämlich des Rechts auf Freiheit. Auf den ersten Blick wirkt die Sachlage recht überzeugend: Es sieht so aus, als wollte Kant damit sagen, dass es das jedem Menschen angeborene, unmittelbare Freiheitsrecht ist, das eine Absicherung oder Garantie seitens eines Staates erforderlich macht. Wo ein solcher Staat noch nicht existiert, muss er, so könnte man meinen, zur Sicherung des grundlegenden Freiheitsrechts etabliert werden. Der entscheidende Passus aus der ‚Einteilung der Rechtslehre‘ ist wohl folgender: Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht. (AA VI 237)
Man könnte Kants Argumentation von dieser Textstelle ausgehend wie folgt rekonstruieren: Jedem Menschen muss kraft seiner vernünftigen Natur (der ‚Menschheit‘) ein angeborenes Freiheitsrecht zugebilligt werden. Jeder Mensch gehört somit ursprünglich sich selbst und darf folgerichtig von anderen Menschen zu nichts gezwungen oder genötigt werden, es sei denn, er könnte dazu selbst seine Zustimmung geben. Im Unterschied zu Locke, so mag man denken, bei dem sich diese Gedankenfigur vorgezeichnet findet, besitzt Kants These von der ursprünglichen, angeborenen Freiheit jedes Menschen keine theologische, sondern allein eine rationalistische Basis. Soweit ist an dieser Rekonstruktion nichts auszusetzen. Erst jetzt aber kommt die entscheidende Frage: Wie gelangt man vom Freiheitsrecht zur Staatslegitimation? Eine mögliche Antwort könnte so lauten: Analog zu John Rawls’ Gedanke, dass man bei der Zusicherung von Freiheitsrechten immer zugleich ihren „fairen Wert“ sicherstellen muss5, könnte man auch Kant die Meinung zuschreiben, dass ein Frei-
_____________ 5 Rawls 1975, 232f. und 1992, 197f. u.ö.
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heitsrecht ohne die plausible Möglichkeit, von ihm einen tatsächlichen Gebrauch zu machen, wertlos sei. Hierbei, so könnte man fortfahren, sei zwar nicht die normative Geltung, wohl aber die faktische Durchsetzung des Freiheitsrechts prekär, solange sich Menschen in einer staatenlosen Konstellation, im Naturzustand, befinden. Denn selbst wenn man zugestehen würde, dass es auch in einem vorstaatlichen Zustand Recht und Rechtsprechung geben kann (wofür bekanntlich Locke argumentiert hat), bliebe es, so immer noch mein fiktiver Interpret, gleichwohl dabei, dass erst der Staat als voller Garant der individuellen Freiheitsrechte in Betracht kommt. Das Recht auf Leben, physische und psychische Integrität, politische, berufliche und religiöse Freiheitsrechte usw. (also die Spezifikationen von Kants ursprünglichem Freiheitsrecht) erreichen erst dann ihren vollständigen oder fairen Wert, wenn sie innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung mit einer funktionierenden Justiz und einem effizienten Sanktionsdruck implementiert sind.6 Nennen wir die gerade entwickelte Interpretation die Implementationsdeutung von Kants Politischer Philosophie. Ihr zufolge ist der Staat dazu da, die Freiheitsrechte aller Menschen durchzusetzen und abzusichern, indem diese durch wirksame Rechtsinstitutionen geschützt werden. Wäre dies tatsächlich Kants Position, so müsste er konsequenterweise behaupten, dass es sich beim geforderten Übergang vom Naturzustand in einen bürgerlichen oder staatlichen Zustand um ein Gebot der Moral handelt. Hätten wir damit das gesuchte Staatsfundament gefunden? Dem ersten Eindruck nach gibt es Textstellen in der Rechtslehre, an denen er uns dies sagen will, so etwa in § 41: Der nicht-rechtliche Zustand, d.i. derjenige, in welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis). Ihm wird nicht der gesellschaftliche Zustand (wie Achenwall meint), und der ein künstlicher (status artificialis) heißen könnte, sondern der bürgerliche (status civilis) einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft entgegen gesetzt; denn es kann auch im Naturzustande rechtmäßige Gesellschaften (z.B. eheliche, väterliche, häusliche überhaupt und andere beliebige mehr) geben, von denen kein Gesetz a priori gilt: ‚Du sollst in diesen Zustand treten‘, wie es wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann, daß alle Menschen, die mit einander (auch unwill-
_____________ 6 Gemäß einem normativen Individualismus kann man den Staat als gewährleistende Institution für die Menschenrechtsdurchsetzung (sofern eine solche generell möglich ist, unter den gegebenen Umständen verfügbar ist, nicht zu hohe Kosten verursacht usw.) geradezu als geboten ansehen. Zweifellos bildet eine Rechts- und Staatsordnung eine alles in allem überzeugende Garantieinstanz für solche Ansprüche. Denn es gibt zahlreiche historische und aktuelle Beispiele dafür, dass Staaten als effiziente Schutzinstrumente individueller Menschenrechte dienten oder dienen. Ein solcher normativer Individualismus scheint Kants Anliegen recht genau zu entsprechen.
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kürlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten sollen. (AA VI 306)
Kant spricht an dieser Stelle so, als ob das Gebot, den Naturzustand zu verlassen, das exeundum, im Fall des Übergangs vom status naturalis in den status civilis ein apriorisches und somit auch (?) ein kategorisches Gebot sei. Der Gedanke eines fairen Werts erscheint hier zwar nicht. Aber man könnte aus dem Zitat immerhin herauslesen, dass es sich bei der Forderung, in einen Staatszustand einzutreten, um ein moralisches Gebot handle. Doch haben wir es beim exeundum tatsächlich mit einer Forderung zu tun, die vom moralischen Gesetz ausgeht? Betrachten wir zunächst noch einen weiteren Text aus der Rechtslehre: Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Contract, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d.i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der | Staat, der Mensch im Staate habe einen Theil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt. (AA VI 315f.; § 47)
Auch der Schlussteil des Zitats aus § 47 scheint oberflächlich betrachtet die Vermutung zu bestätigen, dass wir es beim exeundum mit einem moralischen Gebot zu tun haben. Hier ist vom „eigenen gesetzgebenden Willen“ des Menschen in einer Weise die Rede, die an die Autonomieformel des kategorischen Imperativs aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV 434, Z. 12-14) erinnert. Aber andererseits haben wir an der Textstelle aus dem Ewigen Frieden eine gegenläufige Aussage angetroffen; zudem formuliert keiner der beiden zitierten Texte eindeutig und direkt ein exeundum als moralisches Gebot oder gar als kategorischen Imperativ. Mit Kants Feststellung, dass die Staatserrichtung selbst einem Volk von Teufeln gelingen soll, sofern sich dieses nur rational verhält, kann sicherlich nicht gemeint sein, dass die pragmatische Umsetzung eines zunächst moralischen exeundum sogar für Teufel möglich wäre. Denn böse Lebewesen wie die genannten Teufel würden ja moralischen Geboten gar nicht erst Folge leisten und wären daher keineswegs vor das Problem einer möglichst effizienten Implementation einer moralischen Forderung gestellt. Da Moral für sie irrelevant ist, wären böse Lebewesen an einer Staatsetablierung einzig aus Gründen eines wohlverstandenen Eigennutzes interessiert. Indem Kant den Teufeln die Möglichkeit einer Staatseinrichtung konzediert, macht er klar, dass das exeundum nicht moralisch gemeint sein kann.
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[3] Doch der Verweis auf die eben zitierte Passage mit den Teufeln aus dem Ewigen Frieden ist nicht einmal notwendig, um die Interpretation, die ich gerade als Implementationsdeutung bezeichnete, kräftig unter Druck zu setzen. Vielmehr wirkt die Deutung grundsätzlich angreifbar. Ihr prinzipieller Fehler besteht darin, dass Kant aus dieser Optik betrachtet effizienztheoretisch und adressatenbezogen argumentieren müsste. Doch dies wäre – gegeben Kants wohlbekannten moralphilosophischen Standpunkt – völlig unplausibel. Zwar verlangt das moralische Gesetz, wie Kant es beschreibt, von jedem Akteur die volle Umsetzung des Gesollten. Gleich zu Beginn der Grundlegung hebt Kant hervor, dass es zum moralischen Sollen gehört, dass der Akteur zugleich mit dem Zweck auch die zu seiner Realisierung unentbehrlich notwendigen Mittel wollen muss. Aber diese Umsetzungsforderung ergibt sich allein für die Innenperspektive des Akteurs. Aus der Außenperspektive (wenn man so will: vom Blickwinkel Gottes) lässt sich für Kant hingegen nicht entscheiden, wann eine Umsetzung überhaupt erfolgreich war und gegebenenfalls in welchem Umfang. Nach Kant wäre es vollkommen inadäquat, zukünftige Weltzustände miteinander zu vergleichen, welche durch mein Handeln erreichbar sind, um denjenigen herauszufinden, in welchem die Bilanz der Normrealisierung besonders günstig wäre. Kant ist kein Konsequentialist. Er interessiert sich zwar dafür, dass der Leistungserbringer der Moral, der Akteur, seine Pflicht erfüllt, aber nicht dafür, wie man es erreichen kann, dass der Leistungsempfänger der Moral möglichst gut dasteht. Mithin kann der Umstand, dass der Staat einen recht günstigen Rahmen für die Umsetzung des ursprünglichen Freiheitsrechts bietet, für Kant kein moralisches Argument zu seinen Gunsten sein (einmal ganz abgesehen davon, dass weder die Staatsetablierung noch das Bestehen des Staates eine moralisch absolut integre Bilanz aufweisen, da beide, wie Kant gesehen hat, extrem viel Gewalt – auch ungerechte Gewalt – zu ihrer Etablierung oder Stabilisierung aufbieten müssen).7
_____________ 7 Kant hat mithin nichts dagegen einzuwenden, dass ein moralisches Gebot immer nur unvollkommen realisierungsfähig ist. Entscheidend ist für ihn nur, dass es gemäß dem Grundsatz „Du kannst, denn du sollst“ überhaupt ausführbar ist. Folgerichtig muss man als Kantianer sagen: Dem Gebot nimmt eine mangelhafte Realisierbarkeit nichts von seiner normativen Kraft, und umgekehrt gewinnt eine moralische Norm durch ein hohes Maß tatsächlicher Erfüllung nichts hinzu. Gegeben die Prämissen von Kants praktischer Philosophie, ist im Grunde nichts dagegen zu sagen, dass das ursprüngliche Freiheitsrecht nur im moralischen Bewusstsein von Akteuren, nicht aber auf einem hohen faktischen Gewährleistungsniveau existiert. Faktische Niveaus der Umsetzung von Moral lassen sich immer nur anhand von Güter- oder Wertska-
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Ich bezeichne meinen Einwand gegen die Implementationsdeutung als das Bedenken aus dem drohenden Konsequentialismus: Wäre die oben skizzierte freiheitsbasiert-moralische Interpretation der kantischen Rechtslehre korrekt, so würde sich seine Politische Philosophie auf eine Folgenabschätzung stützen, welche auf möglichst günstige Realisierungsumstände des ursprünglichen Freiheitsrechts gerichtet wäre. Der Staat wäre dann ein effizienter Garant eines hohen Freiheitsniveaus für jedes Individuum in Relation zu jedem anderen. Doch aus kantischer Optik müsste das ursprüngliche Freiheitsrecht unabhängig von Fragen seiner möglichst effizienten Durchsetzung gelten; den Staat legitimiert Kant gewiss nicht im effizienztheoretischen Sinn des Rawls’schen fairen Werts. Hinzu kommt, dass der Staat sicherlich keine optimale moralische Bilanz, sondern allenfalls eine relativ günstige, vorzuweisen hat. Umgekehrt bildet der Naturzustand für Kant – anders als für Hobbes, wie wir noch sehen werden – keinesfalls eine absolut schlechte Situation. [4] Aber auch mit diesem Problem ist die Reihe der Einwände noch nicht abgeschlossen. Vielmehr zieht die moralische Interpretation noch eine ganze Reihe weiterer Bedenken auf sich. Da ist zunächst das irritierende Faktum, dass sich die politische Sphäre mit dem, was Kant präzise als den Kern der Moral ansieht, nur schwer vereinbaren lässt. Kants Moralphilosophie, wie sie seit der Grundlegung erscheint, beruht ja auf zwei gleichberechtigten Säulen: der apriorischen Bestimmung des principium diiudicationis bonitatis einerseits und der apriorischen Bestimmung des principium executionis bonitatis andererseits. Für die Position von 1785 ist der zweite Punkt sogar der wichtigere.8 Das sieht man daran, dass der kategorische Imperativ von Kant präzise als Explikation und als Äquivalent dessen eingeführt wird, was er am Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als das uneingeschränkt Gute bezeichnet: nämlich als Äquivalent des guten Willens (AA IV 393). Den Begriff des guten Willens erläutert er im Ersten Abschnitt auf der Basis des „Handelns aus Pflicht“ und setzt ihn anschließend mit dem des kategorischen Imperativs gleich. Entscheidend hierbei ist, dass Handeln aus Pflicht durch das Moment einer angemessenen Motivation charakterisiert ist. Moralisch richtig handelt somit derjenige und nur derjenige, der sich das richtige Handeln aus Vernunfteinsicht zum Motiv macht. Der kluge Kaufmann, der nur deshalb keinen Betrug begeht, weil er als redlich angesehen werden will, bildet das bekannte Bei-
_____________ len bemessen; doch bei Kant – anders als bei Utilitaristen oder objektiven Werttheoretikern – existiert dafür keine theoretische Basis. 8 Für Kants moralphilosophische Entwicklung zwischen 1781 und 1785 ist gerade die Entdeckung der moralischen Motivation von herausragender Bedeutung; vgl. etwa Horn/Mieth/Scarano 2007, 123-126.
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spiel für ein „bloß pflichtmäßiges Handeln“, dem zum vollen moralischen Akt das angemessene Motiv fehlt. Der kategorische Imperativ gebietet demgegenüber ein pflichtmäßiges Handeln, welches zudem aus Pflicht vollzogen wird (AA IV 397). Anders gesagt, entscheidend ist die Maxime, „nach der eine Handlung beschlossen wird“ (AA IV 399). Nochmals anders ausgedrückt, muss die Handlung „aus Achtung fürs Gesetz“ vollzogen werden (AA IV 400). Doch in der Rechtsphilosophie und in der Politischen Philosophie spielen Fragen der intrinsischen moralischen Motivation bekanntlich keine Rolle. Sehen wir uns dazu einen markanten Text aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten an: Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetzmäßigkeit), diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben. Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann. Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt. Aber eben darum, weil die ethische Gesetzgebung die innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr Gesetz mit einschließt, welche Bestimmung durchaus nicht in die äußere Gesetzgebung einfließen muß, so kann die ethische Gesetzgebung keine äußere (selbst nicht die eines göttlichen Willens) sein, ob sie zwar die Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen, als Pflichten in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt. (AA VI 219)
Im zitierten Text behauptet Kant eine Asymmetrie zwischen den inneren (moralischen) Pflichten, welche den Akteur sowohl auf ein normadäquates Handeln als auch auf eine normadäquate Triebfeder festlegen, und den äußeren (rechtlichen) Pflichten, welche den Akteur einzig ihrem Inhalt nach binden, deren Triebfeder jedoch rein äußerlich bleiben kann: Gemeint ist der Zwang oder Sanktionsdruck der staatlichen Rechtsordnung. Die Asymmetrie besteht darin, dass äußere Gesetze zudem moralisch (also der inneren Motivation nach) verpflichten, während eine ethische Gesetzgebung nicht in eine äußere Rechtsordnung umsetzbar ist (weil ihre Basis allein in einer nicht erzwingbaren inneren, moralischen Motivation liegt). Daher bleibt das Zentrum des Moralischen für die äußere Rechtsordnung gleichsam ohne Belang. Anders ausgedrückt, diejenigen Inhalte, die nach Kant durch eine Rechtsordnung zu regeln sind, binden uns zwar zusätzlich moralisch, aber die nur moralischen Inhalte spielen innerhalb der Staats- und Rechtsordnung keinerlei Rolle. An späterer Stelle (AA VI 239) unterscheidet Kant im selben Sinn zwischen Rechtspflichten und Tu-
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gendpflichten. Rechtspflichten sind solche, „für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist“, was für Tugendpflichten gerade nicht gelten soll. Damit kann ich einen zusätzlichen Einwand gegen die Implementationsdeutung von Kants Politischer Philosophie formulieren, das Bedenken aus der Spannung von Recht und Moral: Wenn es zutrifft, dass der kategorische Imperativ seine entscheidende Pointe in der moralischen Motivation hat, dann kann ihm in der konkreten Ausformulierung einer rechtlichpolitischen Ordnung keine Bedeutung zukommen, denn das Recht beschränkt sich auf eine Regulierung äußerer Beziehungen zwischen Individuen und ihren Freiheitsspielräumen; es lässt den moralischen Motivationsaspekt gänzlich beiseite. Rechtsregeln können somit unmöglich direkt vom kategorischen Imperativ aus gebildet sein, sonst müsste man entweder diesen von seinem zentralen Moment, dem Motivationsaspekt, loslösen, oder aber das Rechtssystem müsste moralisiert werden. Beides ist für Kant aber sicherlich inakzeptabel. [5] An diesen Punkt lässt sich eine weitere Überlegung anschließen, die mir keine geringere Tragweite zu besitzen scheint. Der Freiheitsbegriff, welcher in der Politischen Philosophie Kants verwendet wird, ist sicher nicht der transzendentale Freiheitsbegriff aus dem Dritten Abschnitt der Grundlegung, sondern es ist der Begriff eines freien Gebrauchs meiner Willkür. Anders gesagt, es handelt sich nicht um das für die kantische Moralphilosophie konstitutive Freiheitskonzept, sondern um den Begriff, der für die rechtlich-politische Sphäre charakteristisch ist und der seinen Ausdruck in politisch-juridischen Formulierungen findet (man denke an Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit oder Religionsfreiheit). Ganz anders die transzendentale Freiheit.9 Die Tatsache, dass das moralische Gesetz meinen Willen bestimmen kann, und zwar durch eine formale Bestimmung (während alle materialen Willensbestimmungen letztlich auf Selbstliebe und Glücksstreben beruhen), ist eine Überzeugung, die Kant an zahllosen Stellen der Grundlegung und der zweiten Kritik mit diesem Freiheitsbegriff verbindet. Die Freiheit innerhalb eines rechtlichpolitischen Kontexts ist somit eine ganz andere als diejenige, die Kant einführt, um die Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ zu beantworten. Trifft dies aber zu, so kann man mit einigem Recht die Frage aufwerfen, warum Kant einen ganz anderen Freiheitsbegriff als den, der vom kategorischen Imperativ präsupponiert wird, in seiner Politischen Philosophie aus dem kategorischen Imperativ ableiten sollte. Ich bezeichne diesen Punkt als das Bedenken aus dem veräußerlichten Freiheitsbegriff: Der
_____________ 9 Vgl. die differenzierte neuere Untersuchung der kantischen Freiheitsbegriffe bei Schönecker 2005.
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transzendentale Freiheitsbegriff ist von dem einer arbiträren Willkürfreiheit fundamental verschieden. Während wir mit unserer arbiträren Willkürfreiheit unsere bestimmte Lebensform wählen, die jeweils mit unserer spezifischen Glücksvorstellung zusammenhängt, handelt es sich bei dem dem kategorischen Imperativ entsprechenden Freiheitsbegriff um einen der intelligiblen Freiheit.10 [6] Es gibt aber zudem noch vier speziellere Einwände dagegen, dass sich Kants Politische Philosophie als ein grundrechtsbasierter oder moralischer Kontraktualismus auffassen lässt. Wie wir wissen, lehnt Kant die Idee eines historischen Gesellschaftsvertrags Locke’scher Prägung ab und schließt sich – wenigstens zeitweise – dem „Ideal des Hobbes“ (also der Idee einer atemporalen Vertragskonstruktion) an. Kant stützt sich jedoch dabei im Unterschied zu Hobbes nicht auf ein empirisches Konfliktszenario und greift auch nicht auf einen strategisch-instrumentellen Vernunftbegriff zurück. Genauso wenig passt die vertragstheoretische Figur einer Einigung unter den Teilnehmern eines Naturzustands, man solle diesen zugunsten eines bürgerlichen Zustands verlassen, zu der Vorstellung, dass Kants Politische Philosophie auf moralischen Grundlagen beruhen könnte. Es handelt sich um folgende vier relevante Punkte als (a-d): (a) Problem der Redundanz und der normativen Irrelevanz des Vertrags: Wäre Kant ein moralischer Kontraktualist, so ließe sich das Verhältnis von Moral und Vertrag nicht sauber klären. Denn die Herausbildung einer Rechtsund Staatsordnung müsste nach der grundrechtsbasiert-vernunftrechtlichen Lesart ja bereits ein moralisches Gebot sein und nicht erst ein Derivat eines Vertragsszenarios mit prozedural-dezisionistischem Grundcharakter. Anders formuliert, es bliebe unklar, ob die moralische Dimension als Ausgangsbasis oder als Ergebnis des Vertragsszenarios zu verstehen sein sollte. Als Ausgangsbasis wäre das Vertragselement redundant, als Ergebnis wäre es absurd, weil bei Kant anders als z.B. bei Habermas Moral nicht als Resultat eines intersubjektiven Verständigungsprozesses erscheinen kann. Die kantische Vertragsfigur besäße somit günstigstenfalls einen illustrativen, heuristischen oder implementationspragmatischen Charakter. (b) Problem der begrenzten Reichweite des Vertrags: Wenn die Etablierung eines Staates tatsächlich als Gebot der Moral zu verstehen wäre, dürfte sich der Vertragsabschluss dann auf die Konstitution eines historisch kontingenten und partikularen Staates beschränken? Wohl kaum; dies erschiene unter kantischen Prämissen einer universalistischen Moral sogar als vollkommen unplausibel. Vielmehr müsste aufgrund des apodiktischen
_____________ 10 Diesen Punkt verdanke ich Katrin Flikschuh.
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Charakters der kantischen Moralkonzeption gefolgert werden, dass auf diese Weise nur ein einziger umfassender und dauerhafter Globalstaat legitimiert werden kann, da jeder Mensch mit jedem anderen (nationenwie generationenübergreifend) in ein moralbasiertes Rechtsverhältnis eintreten müsste. Kant lehnt einen Globalstaat jedoch – im Ewigen Frieden und in der Rechtslehre – eindeutig ab. (c) Problem des verengten Objektbereichs des Vertrags: Angenommen, der kantische Kontraktualismus käme speziell durch die Frage nach der Deduktion von Eigentum ins Spiel (worüber ich bislang noch nichts gesagt habe). Dann müsste man, gegeben die Richtigkeit der moralischen Implementationsdeutung, die Frage stellen: Warum sollte Kant nicht alle freiheitsrelevanten und freiheitsfunktionalen Güter in seine kontraktualistische Grundrechtsetablierung einbeziehen, sondern nur das Problem der Eigentumsbegründung? Wie hängen die Legitimation eines äußeren Mein und Dein und die Vertragsfigur zusammen? (d) Problem der begrenzten argumentativen Funktion des Kontraktualismus: Wer glaubt, das exeundum sei vernunftrechtlich-moralisch zu verstehen, müsste (angenommen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Kontraktualismus und der Eigentumsfrage besteht) die Frage beantworten können, warum das rechtsmoralische exeundum – und damit der kategorische Imperativ, der dabei im Hintergrund stünde – an einer Stelle ins Spiel gebracht wird, wo nicht mehr als eine Reparatur erforderlich ist. Denn die Antinomie, in welche Kant bei seinem Deduktionsversuch gerät, verlangt ja lediglich nach einer ad hoc-Lösung. Kant muss aus einer vorübergehenden Sackgasse, in die er sich hineinmanövriert hat, wieder herauskommen. Der kategorische Imperativ ist nun aber mit Sicherheit dazu ungeeignet, eine solche Konfliktlage aufzulösen. Eine Antinomie bedarf für Kant einer theoretischen, keiner normativen Lösung.
II. Wir können jetzt resümieren, dass eine moralische Interpretation der kantischen Politischen Philosophie solange vollkommen chancenlos ist, wie man sie auf der Basis der vertragstheoretischen Elemente in Kants Modell zu rekonstruieren versucht. Insbesondere erweist sich die Strategie, die ich als Implementationsdeutung bezeichnet habe, als hoffnungslos, wenn es darum geht, Kant als einen moralischen Rechts- und Staatstheoretiker erscheinen zu lassen. Aber vielleicht besteht ja mehr Aussicht auf Erfolg, wenn man die kantische Eigentumstheorie als Ausgangspunkt heranzieht. Ohnehin ist die Meinung verbreitet, Kant habe den Kontraktualismus entweder gar nicht ernsthaft vertreten oder doch theoriegeschichtlich an
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ein Ende geführt.11 Doch wenn wir uns nun der Eigentumstheorie zuwenden, entsteht kein anderes Bild: Auch hier ist eine moralische Interpretation, wie mir scheint, vollkommen ausgeschlossen. Vertreterinnen und Vertreter der moralischen Interpretation müssten zunächst die Frage beantworten können, warum Kants Rechtslehre eigentlich die Eigentumsfrage vom Rest der subjektiven Individualrechte isoliert. Wenn Kant die moralische Notwendigkeit einer Rechts- und Staatsordnung behaupten würde, weshalb sollte er dann nicht einen umfassenden normativen Individualismus verteidigen? Ein solcher normativer Individualismus würde darin bestehen, dass man alle Menschen, und zwar in mehreren Hinsichten, als moralisch anspruchsberechtigt beschreibt. Jedes Individuum, so dieser Standpunkt, besitzt elementare moralische Anspruchsrechte, deren Erfüllung wir unbedingt gewährleistet sehen wollen: beispielsweise das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freizügigkeit und auf Meinungs- und Religionsfreiheit. Doch an dieser Stelle zeigt sich, dass Kants Politische Philosophie eine Implementationsdeutung nicht nur deswegen nicht zulässt, weil er als Anti-Konsequentialist keine gewährleistenden Institutionen akzeptieren kann. Vielmehr zeigt sich an der Isolation der Eigentumsfrage, dass er überdies an Grund- und Menschenrechtsfragen substantiell desinteressiert ist. Dieser Befund lässt sich noch dadurch erhärten, dass Kant kein innerstaatliches Widerstandsrecht der Bürger gegen den Staat und keine innerstaatliche Menschenrechtsgeltung vorsieht. Wäre ihm tatsächlich an Grundrechtsdurchsetzung gelegen, so gäbe es bei ihm auch eine Option auf zivilen Ungehorsam; auch würde er dann Menschenrechtsgeltung innerhalb des Staates annehmen, etwa individuelle Abwehr- oder Sozialrechte. Doch alles dies existiert bei Kant nicht. Er beschränkt sich vielmehr auf die Eigentumsfrage: auf das Recht, äußere Güter zu besitzen. Was Kant nun aber genau über Eigentum sagt, klingt anfangs recht seltsam und scheint irgendwie an den Haaren herbeigezogen. Um Kants Position einigermaßen verständlich zu machen, muss man sich die Texte aus der Rechtslehre (§§ 1-9 und 10-17), einschließlich der wichtigen Vorarbeiten (greifbar in AA XXIII 207-370) zumindest im Umriss vor Augen führen.12 Bekanntlich hält Kant seine erst in der Rechtslehre entwickelte und gegen Lockes Lehre vom Arbeitseigentum gerichtete Theorie für eine wichtige Errungenschaft. Sie soll zeigen, dass Eigentum, nämlich das „äußere Mein und Dein“, nur dann dauerhaft möglich ist, wenn sie durch eine zwangs-
_____________ 11 Dies meinen u.a. Herb/Ludwig 1993 sowie Kersting 1994. 12 Ich folge der Textrekonstruktion, die Ludwig 1982 und 1986 gegeben hat.
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befugte Justiz (Kant spricht von einer iustitia distributiva) geschützt wird. Dazu bedarf es eines Staates, und die Errichtung des Staates stützt sich wiederum auf den Vertragsgedanken. So gesehen ist der Staat lediglich wünschenswert, insofern Eigentum wünschenswert ist. Kant versucht Eigentum wiederum so zu legitimieren, dass er es als unverzichtbares Freiheitsinstrument kennzeichnet. Auffällig ist nun besonders der breite Raum, den Kant dieser Konzeption widmet. Die Eigentumstheorie nimmt so große Teile der Rechtslehre ein, dass es unplausibel wäre zu meinen, es ginge ihm einfach nur um die Legitimation des „intelligiblen Besitzes“, wie er äußeres Eigentum auch nennt. Und in der Tat meinen die meisten Interpreten, dass es nicht dies ist, was Kant hier will. Vielmehr unternimmt er, so die Standardauffassung, den Versuch einer eigentumstheoretischen Staatslegitimation. Soweit, so gut. Doch ein Haken an der Sache ist, dass es schon eine merkwürdige Strategie wäre, wollte Kant den Staat ausgerechnet mithilfe einer Eigentumstheorie moralisch legitimieren. Denn – so lässt sich einwenden – Eigentum liegt zunächst einfach im prudentiellen Interesse eines Akteurs. Kantisch gesprochen: Das Streben nach Eigentum ergibt sich aus dem individuellen Freiheitsinteresse des Subjekts. Ist die Chance auf Eigentumserwerb unterbunden, so ist es für Akteure unmöglich, eine bestimmte Form der absoluten Verfügung über äußere Objekte unter Ausschluss aller anderen Akteure zu praktizieren. Das mag für sie nachteilig sein; aber was wäre daran unmoralisch? Zuerst mag man Kant vielleicht so verteidigen, dass man auf seine Idee selbstbezogener Pflichten hinweist und Eigentum als unerlässlich für ein hohes Niveau äußerer Freiheit und damit für ein hohes Maß an Selbstvervollkommnung erklärt. Angenommen, dies wäre Kants Punkt; dann läge darin noch immer kein moralischer Aspekt. Denn wenn die Menschen einander grundlegende Eigentumsrechte verweigerten, würden sie sich lediglich wechselweise die Möglichkeit abschneiden, ihre (gestehen wir es für den Moment einmal zu: moralische) Pflicht zur Selbstperfektionierung zu erfüllen. Jeder Einzelne wäre an dieser Nichterfüllung jedoch aufgrund der Verweigerungshaltung der anderen schuldlos. Wegen des Prinzips ultra posse nemo obligatur ergäbe sich insoweit auch kein selbstbezogenes moralisches Problem.13 Ebenso wenig entsteht jedoch ein fremdbe-
_____________ 13 Dass ein Akteur die Möglichkeit hat, jemand anderem zu dessen Selbstvervollkommnung zu verhelfen, verpflichtet ihn allein noch zu nichts. Angenommen etwa, der musikalisch desinteressierte Müller besäße als Erbstück eine Oboe, die für ihn belanglos, für den hochbegabten Schmidt dagegen äußerst wertvoll wäre. Angenommen weiter, Müller könnte das Instrument nicht zu Geld machen, sein Eigentum wäre also für ihn wertlos. Dann bestünde dennoch sicherlich keine moralische Pflicht
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zogenes: Wenn kein Eigentum existiert, wird niemandem etwas vorenthalten. Um die Idee formulieren zu können, dass durch fehlende Eigentumsrechte Lebenschancen unterbunden werden, bedürfte es vielmehr einer aristotelischen Theorie natürlicher Anspruchsrechte, wie Kant sie nirgends vertritt. Schlimmer noch, gerade umgekehrt entstehen aus seiner expliziten Position moralische Probleme: Erst wenn man nämlich wie Kant aufgrund eines ‚Erlaubnisgesetzes‘ (auf das ich gleich noch zurückkomme) annimmt, Menschen dürften sich Güter gewaltsam aneignen, indem sie andere brachial von deren Nutzung ausschließen, und sie dürften einander zum Eintritt in eine Rechtsordnung zwingen, kommt es zu echten Moralproblemen, sogar zu solchen von schwerwiegender Art. Zwar mag es wahr sein, dass Menschen ohne Eigentumsrechte auf einer extrem einfachen Kulturstufe stehen blieben; aber moralische Probleme erzeugt Eigentum erst dann, wenn es dieses bereits gibt – so etwa das Problem des Raubes, des Diebstahls oder der mangelhaften Unterstützungsbereitschaft von Wohlhabenden gegenüber Armen. Andere genuin moralische Fragen der Eigentumssphäre – z.B. die Probleme einer sozialen Grundsicherung von Individuen oder Fragen der fairen Verteilungsgerechtigkeit – werden von Kant nicht einmal berührt. Welcher Weg sollte dann aber vom Eigentum zum moralischen Fundament eines Staates führen? Offenbar gibt es für Kant keinen solchen Weg. Was Kant in seiner Eigentumstheorie näherhin erreichen will, ist Folgendes: Individuen im Naturzustand besitzen aufgrund ihres ursprünglichen Freiheitsrechts irgendwie (warum genau, bleibt unklar) auch ein Recht auf den provisorischen Erwerb herrenloser Güter. Die so entstehende vorläufige Besitzverteilung führt allerdings zu einem allzu unsicheren Rechtszustand, weil die Besitzer eines Guts die anderen nicht legitimerweise, sondern allenfalls gewaltsam von der Nutzung des betreffenden Objekts ausschließen können. Um die Rechtsunsicherheit zu beenden und das provisorische Eigentum zum endgültigen zu machen, bedarf es irgendeiner theoretisch mehr oder minder plausiblen Lösung, der Etablierung einer Rechts- und Staatsordnung, an der sich Kant in einer Deduktion (§ 6) versucht. Diese Etablierung erscheint dabei als Rettungsmaßnahme zugunsten unserer ansonsten prekären und bedrohten Besitzansprüche. Hierbei spielt die Idee eines Erlaubnisgesetzes (lex permissiva) eine wichtige Rolle, durch welches eine Handlung, die sonst als moralisch unzulässig eingestuft werden muss, ausnahmsweise und vorübergehend als zulässig zu gelten hat (§ 2, AA VI 247). Denn auf der Basis eines Erlaubnisgesetzes kann nicht nur herrenloses Gut ersterworben werden;
_____________ Müllers, Schmidt das Instrument zu überlassen. Wohl aber wäre es moralisch inakzeptabel, wenn sich Schmidt die Oboe per Raub oder Diebstahl aneignen würde.
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vielmehr kann auch ein Staatsgründer, selbst wenn er dabei möglicherweise brutal zur Sache geht, nach Kant legitimerweise Gewalt zur Staatsetablierung anwenden, sofern er damit nur eine Rechtsordnung schafft. Es liegt auf der Hand, dass Kant die Frage nach der Möglichkeit eines intelligiblen Eigentums – anders als wir es erwarten würden – nicht als ein prudentielles Problem ansieht. Aber er deutet das Problem auch nicht moralisch. Vielmehr existiert für ihn ein „rechtliches Postulat der praktischen Vernunft“, dem zufolge die Möglichkeit von äußerem Eigentum gegeben sein muss (§ 2). Was ein solches Postulat bedeutet, muss gleich noch diskutiert werden; klar ist aber, dass Kant in der prekären Eigentumsfrage kein Desaster der strategischen Rationalität erblickt (im Sinn von Hobbes oder der modernen Spieltheorie). Ebenso wenig ist hier jedoch die Moral im Spiel. Im Gegenteil, es existieren im Zusammenhang mit der privatrechtlich-eigentumstheoretischen Staatsbegründung bei Kant keine nennenswerten Hinweise auf ein moralisches exeundum. Kant konzipiert die Aufhebung des Naturzustands nicht als einen moralischen Akt der wechselseitigen Garantie von Eigentumsansprüchen, vielmehr denkt er sich die Aufhebung des Problems eines äußeren Mein und Dein als einen Gewaltakt eines (durch die lex permissiva dazu autorisierten) Usurpators. Auch die Eigentumstheorie liefert mithin keinen Hinweis auf eine genuin moralische Rechts- und Staatslegitimation bei Kant. Dies ist bei näherem Hinsehen auch alles andere als erstaunlich, da Kant ja, wie wir sahen, ganz entscheidend Gesinnungs- und Motivationsethiker ist. Aus dieser Perspektive lässt sich kein Staat legitimieren. Naiv gesprochen müssten aus seiner Optik moralisch orientierte Individuen einen Staat, d.h. eine äußerlich zwangsbefugte Ordnung, gerade überflüssig machen, indem sie bereits von sich aus – aus Einsicht in die moralische Richtigkeit einer Maxime – das Richtige täten. Folgerichtig kann die Rechts- und Staatsordnung bei Kant aber gar keinen vollen moralischen Wert besitzen; sie tritt ja erst auf den Plan, weil Menschen bereits moralisch versagt haben oder weil sie zu versagen drohen. Zusätzlich kommt es zu einer Schwierigkeit, die man als das Problem der Unerfüllbarkeit eines moralischen exeundum bezeichnen könnte. Denn angenommen, beim exeundum handelte es sich um einen kategorischen Imperativ. Ein kategorischer Imperativ ist stets an Individuen adressiert, hier an solche im Naturzustand. Was würde dieser Imperativ zu tun befehlen? Wie kann man als moralisch motiviertes Individuum einen status civilis etablieren? Wie kann man individuelles und überindividuelles Verhalten koordinieren? Und wer sollte dabei was tun? Wozu also verpflichtet der Imperativ? Wenn es das Individuum wäre, welches von Kant unter ein moralisches Gebot zur Etablierung eines Staatszustands gestellt wird, wie ließe sich dieses Gebot
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jemals erfüllen? Offenbar tritt hier der Fall eines ultra posse nemo obligatur in Kraft. Erneut wird klar, dass Kants Lösung nicht in der Moral des kategorischen Imperativs bestehen kann. Kant konzentriert sich in der Rechtslehre vielmehr deswegen auf das Eigentumsproblem, weil er dieses als den Königsweg ansieht, um eine ganz andere Basis für das exeundum zu legen. Kant hält im Fall des Eigentums eine Konstellation für gegeben, welche zu einem „rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft“ führt. Das Vorliegen eines Postulats ist für Kant aber so entscheidend, weil sich hierbei nach seiner Überzeugung zeigt, dass die praktische Vernunft uns synthetische Rechtssätze a priori aufdrängt. Wenn wir aber synthetische Rechtssätze a priori akzeptieren müssen, dann, so meint Kant, erweist sich hieran die Realität der praktischen Vernunft im Bereich von Recht und Staat. Wir finden darin die gesuchte Grundlage für die exeundum-Forderung. Ein Postulat ist jedoch ein theoretisches Phänomen, vergleichbar den berühmten Postulaten aus der Kritik der praktischen Vernunft. Eine normative Pointe erhält das Postulat erst dadurch, dass die Idee des Rechts durch es als real erwiesen wird. Durch diesen Kunstgriff gelingt es Kant, politische Normativität zu erzeugen, allerdings erst solche im Staat. Diese wird gleichsam auf die Situation des Eigentumserwerbs zurückprojiziert. Eine solche Rückprojektion belegt etwa folgende Passage aus § 15 der Rechtslehre: Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (nothwendig zu vereinigenden) Willens Aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden. – Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand. Also nur in Conformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d.i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet), mithin nur provisorisch kann etwas Äußeres ursprünglich erworben werden. – Die peremtorische Erwerbung findet nur im bürgerlichen Zustande statt. (AA VI 264)
Der argumentative Kern der kantischen Eigentumstheorie liegt, wie mir scheint, im beschriebenen Postulat. Nun ist es offensichtlich, dass ein ‚Postulat der praktischen Vernunft‘ etwas anderes ist als eine moralischnormative Forderung.14 Ein Postulat ist eine theoretische Forderung mit prakti-
_____________ 14 In der Kritik der praktischen Vernunft wird denn auch eine pointierte Unterscheidung zwischen den Postulaten und dem moralischen Gesetz getroffen (AA V 132): „Sie [sc. die Postulate der Unsterblichkeit, der Freiheit und der Existenz Gottes; C.H.] gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt, welcher Wille
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scher Bedeutung; gefordert wird die tatsächliche Existenz eines praktisch relevanten Gegenstands oder eines Begriffs. Man muss beachten, dass Kant das Postulat der praktischen Vernunft in der Rechtslehre ganz analog zu den Postulaten in der Kritik der praktischen Vernunft konstruiert: So wie dort die Idee eines höchsten Guts (summum bonum) nicht als analytischer, sondern als ein synthetischer Begriff erwiesen wird, weil die Vorstellung vom höchsten Gut in sich die divergierenden Begriffe von Tugend und Glückseligkeit verbindet (zwischen welchen sich kein begriffsanalytischer Zusammenhang herstellen lässt), ebenso schließt die Vorstellung des Eigentums eo ipso eine Komponente mit ein, die sich nicht direkt legitimieren lässt: die Komponente des äußeren oder intelligiblen Besitzes; unsere Eigentumsidee beschränkt sich keineswegs analytisch auf die direkte Inhabung. Direkt legitimierbar ist aber nur, womit sich ein Akteur unmittelbar physisch verbinden kann. Etwas Äußeres als das Meine zu haben, erweitert somit den Begriff des Eigentums, welcher sich streng verstanden auf physischen Besitz beschränken würde. Nun muss aber äußerer Besitz möglich sein, weil unser Freiheitsniveau sonst äußerst gering wäre. Mithin ist auch klar, dass der Idee des Rechts Realität zukommen muss, nach der intelligibles Eigentum erst möglich wird. Wie man sieht, sind kantische Postulate gerade nicht spezifisch adressiert; sie richten sich nicht an bestimmte Akteure. Und sie fordern nicht zum Handeln auf, sondern erweitern unsere Sicht der Realität. An wen sollte sich die Forderung zum exeundum auch richten? Klarerweise wäre es für Kant absurd, einen kollektiv adressierten kategorischen Imperativ zum exeundum anzunehmen: Wenn es das Kollektiv ist, welches von Kant unter ein moralisches Gebot zur Etablierung eines Staatszustands gestellt wird, wer ist dann davon in welcher Weise betroffen und wie soll die Vertragsprozedur vonstatten gehen? In Wahrheit gibt es jedoch gar keine solche praktische Forderung, sondern ein theoretisches Postulat. Somit lautet die entscheidende Frage: Kann das exeundum für Kant dann noch ein kategorischer Imperativ sein? Zumindest nach Höffes Interpretation ist dies der Fall, auch wenn er einräumt, dass Kant selbst nicht von einem „kategorischen Rechtsimperativ“ spricht; Höffe meint
_____________ eben dadurch, daß er so bestimmt ist, als reiner Wille, diese nothwendige Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift fordert. Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar nicht das speculative Erkenntniß, geben aber den Ideen der speculativen Vernunft im Allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objective Realität und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte.“
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Äquivalente für diesen identifizieren zu können.15 Die einzige Stelle im Kontext der Eigentumstheorie, an der Kant den kategorischen Imperativ erwähnt, ist jedoch folgende: Es darf auch niemand befremden, daß die theoretischen Principien des äußeren Mein und Dein sich im Intelligibelen verlieren und kein erweitertes Erkenntniß vorstellen: weil der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theoretischen Deduction seiner Möglichkeit fähig ist und nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ), als einem Factum derselben, geschlossen werden kann. (AA VI 252; Rechtslehre § 6)
Die zitierte Passage belegt in aller Deutlichkeit: Nicht das exeundum ist für Kant ein kategorischer Imperativ, vielmehr zeigt der kategorische Imperativ – verstanden im Sinn der Lehre vom ‚Faktum der Vernunft‘ aus der KpV – den Umstand an, dass Freiheit wirklich ist. Wenn aber Freiheit wirklich ist, dann lässt sich die eigentumstheoretische Deduktion als gelungen betrachten. Folglich muss Eigentum möglich sein. Anders gesagt: es muss äußeren Besitz unter dauerhaften Bedingungen geben und damit eine Rechtsordnung (iustitia distributiva), also auch einen zwangsbefugten Staat. Die praktische Staatsetablierung selbst geschieht demgegenüber nicht in Befolgung eines moralischen Gebots, sondern ist ein Phänomen des Zwangs, wie folgende Passage eindrucksvoll belegt: Folgesatz: Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es auch dem Subject erlaubt sein, jeden Anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Object kommt, zu nöthigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten. (AA VI 256; Rechtslehre § 9)
Mit dem Gelingen der eigentumstheoretischen Deduktion ist das exeundum als ein Zwangsrecht gesichert, das jeder in Bezug auf jeden anderen ausüben darf. Es liegt auf der Hand, dass diese Lehre Kants in einer erheblichen Entfernung zu allem steht, was wir aus dem Theoriekontext der Individualmoral aus der Grundlegung kennen: Wenn jemand in der Absicht, einen Staat zu errichten, die anderen Individuen eines bestimmten Territoriums seinem eigenen Willen unterwirft, kann dies wohl kaum glimpflich abgehen. Er muss Gewalt zumindest androhen; in aller Regel muss er aber realistischerweise auch Gewalt ausüben.
_____________ 15 Höffe 1990, 126. – Neben der eher seltsam anmutenden Rede von einem „kategorischen[n] Imperativ der Strafgerechtigkeit“ (AA VI 336) spricht Kant auch einmal vom kategorischen Imperativ im Zusammenhang mit dem Prinzip salus reipublicae suprema lex est; aber dieses betrifft ebenfalls nicht das exeundum. Gemeint ist aber nur, dass gemeinte ‚Heil‘ (salus) für „den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“ steht, nach welchem „zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“ (AA VI 318).
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III. Wenn, wie wir sahen, Kant kein politischer Moralist ist, wie verhält sich dann das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft zur Moral? Offenbar handelt es sich bei dem Postulat zwar um eine praxisbezogene theoretische Vernunftforderung, aber nicht um ein kategorisch-normatives Vernunftgebot. Das Postulat ergibt sich zwar aus einem praktischen Zusammenhang, beinhaltet aber selbst eine substantiell theoretische Einsicht, auch wenn wir diese spekulativ nicht unmittelbar gewinnen können. Auf diese Weise ermöglicht das Postulat die Erweiterung unseres Erkenntnisbereichs, allerdings auf indirekte und auf spekulativ unzureichende Weise. Die Idee einer äußeren Rechtsordnung ist somit zwar eine Vernunftidee, aber keine strikte moralische Forderung. In dieselbe Richtung weist ein Text aus der Rechtslehre § E, in dem unser Rechtsbegriff als eine ‚Konstruktion‘ analog zur Konstruktion mathematischer Entitäten beschrieben wird: Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit nothwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Princip der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die Construction jenes Begriffs, d.i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung. | So wie wir nun in der reinen Mathematik die Eigenschaften ihres Objects nicht unmittelbar vom Begriffe ableiten, sondern nur durch die Construction des Begriffs entdecken können, so ists nicht sowohl der Begriff des Rechts, als vielmehr der unter allgemeine Gesetze gebrachte, mit ihm zusammenstimmende durchgängig wechselseitige und gleiche Zwang, der die Darstellung jenes Begriffs möglich macht. (AA VI 232f.)
Nach Kant konstruieren wir uns eine Idee des Rechts, die gleichwohl Realität besitzt: nämlich die Idee der Vereinbarkeit aller äußeren individuellen Freiheitsspielräume gemäß einem Gesetz. Wir stellen uns Recht als die regelförmige Vereinigung des freien Gebrauchs von jedermanns Willkür vor. Bei dieser Idee handelt es sich, so könnte man sagen, um eine Art quasi-moralisches Derivat aus dem kategorischen Imperativ: Denn unsere Rechtsidee enthält ebenso wie dessen Universalgesetz- sowie Naturgesetzformel aus der Grundlegung das Prinzip der regelförmigen Universalisierung. Jedoch handelt es sich um eine Idee, die auch Teufel besitzen – anders als die Idee moralischer Pflichten. Zumindest zwei Momente des kategorischen Imperativs bilden sich nicht in unserer Rechtsidee ab: zum einen das Element der Motivation und zum anderen die Einbeziehung schlechterdings aller Menschen. Weder Kants Theorie der moralischen Motivation noch sein Universalismus sind daher Bestandeile seiner Rechtsphilosophie und Politischen Philosophie. Die bloße Idee des Rechts, verstanden als Konstruktion, kann auch von Teufeln positiv auf-
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genommen und produktiv umgesetzt werden. Das zeigt, dass es sich um eine funktionalistisch beschreibbare Idee handeln muss, um eine, der nicht schon eo ipso etwas Moralisches anhaftet, auch wenn sie in einem derivativen Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ stehen mag. Exakt diese Rechtsidee wird nun von Kant dazu verwandt, aus der misslichen Antinomie herauszukommen, in die er im Deduktionskapitel hineingeraten ist. Ihre Etablierung verlangt jedoch nach einem Erlaubnisgesetz, denn der Idee selbst inhäriert keine moralisch-normative Kraft. Damit bleibt jedoch noch eine wichtige Frage übrig. Welche Rolle spielt dann noch politische Normativität bei Kant? An dieser Stelle bleibt bemerkenswerterweise eine positive Funktion für den Kontraktualismus übrig, auch wenn dieser innerhalb der Staatslegitimation keine solche Funktion besitzt. Dass Kant auf den Vertragsgedanken überhaupt affirmativ zurückgreift, steht außer Frage. Wie bereits erwähnt, konzipiert Kant den Gesellschaftsvertrag anders als Locke atemporal, nicht als historisches Ereignis. Wichtig ist zudem, dass er den Naturzustand nicht als einen unausweichlichen Kriegszustand versteht; es handelt sich lediglich um einen Zustand permanenter Bedrohung aufgrund der Abwesenheit geltenden Rechts. Das ist der Grund, weswegen Kant die Lösung von Hobbes’ Leviathan zurückweist, der zufolge sich alle Teilnehmer des Naturzustands dem Willen eines absoluten Souveräns unterwerfen sollen. Kant sieht die Funktion des Vertrags weder wie Locke in einem historisch revidierbaren Akt der Grundrechtsetablierung noch wie Hobbes in der Chance, sich aus Klugheit auf eine Rechtsordnung zu verständigen. Vielmehr wohnt dem Vertragsdenken eine an Rousseau erinnernde Normativität inne, sobald ein Staat einmal etabliert ist: die des Gemeinwillens und der Volkssouveränität. Dies zeigt sich beispielsweise an einer Stelle aus der Schrift Über den Gemeinspruch: Es müssen aber auch Alle, die dieses Stimmrecht haben, zu diesem Gesetz der öffentlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen; denn sonst würde zwischen denen, die dazu nicht übereinstimmen, und den ersteren ein Rechtstreit sein, der selbst noch eines höheren Rechtsprincips bedürfte, um entschieden zu werden. Wenn also das Erstere von einem ganzen Volk nicht erwartet werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen und zwar nicht der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der dazu Delegirten als Repräsentanten des Volks dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann: so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zusammenstimmung, also durch einen Contract, angenommen, der oberste Grund der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen. (AA VIII 296; vgl. AA VIII 39 und 297)
Damit entsteht jedoch ein tief ambivalentes Gesamtbild von Kants Politischer Philosophie: Zum einen erscheint er als radikaldemokratischer Republikaner, der alle Gesetzgebung dem Legitimationstest der vereinigten
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Willkür unterziehen will; zum anderen scheint es seine zentrale Absicht zu sein, das bürgerliche Widerstandsrecht im Staat (den zivilen Ungehorsam, die Revolution sowie radikale Reformen) für ausgeschlossen zu erklären. Im ‚Beschluss‘ der Rechtslehre weist Kant das Widerstandsrecht prominentermaßen mit folgenden Worten zurück: Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, da ist, so ist der Idee der Einheit desselben überhaupt unter einem machthabenden obersten Willen gemäß als Gegenstand der Erfahrung | gegeben; aber freilich nur in der Erscheinung; d.i. eine rechtliche Verfassung im allgemeinen Sinne des Worts ist da; und obgleich sie mit großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein und nach und nach wichtiger Verbesserungen bedürfen mag, so ist es doch schlechterdings unerlaubt und sträflich, ihr zu widerstehen: weil, wenn das Volk dieser, obgleich noch fehlerhaften Verfassung und der obersten Autorität Gewalt entgegen setzen zu dürfen sich berechtigt hielte, es sich dünken würde, ein Recht zu haben: Gewalt an die Stelle der alle Rechte zu oberst vorschreibenden Gesetzgebung zu setzen; welches einen sich selbst zerstörenden obersten Willen abgeben würde. (AA VI 371f.)
Der Text liefert eine Begründung für das Verbot eines Widerstandsrechts exakt aus der Optik der Unantastbarkeit einer einmal etablierten Verfassung. Doch wirkt Kants Position unbefriedigend. Man fragt sich zumindest, ob die Mängel einer Verfassung nicht so eklatant sein können, dass der Widerstand gegen die Staatsgewalt eine moralisch vorziehenswerte Alternative bilden kann. Da Kant jedoch kein Implementationstheoretiker im vorhin beschriebenen Sinn ist, kann er diesen Punkt nicht zugeben. Hierin scheint mir der zentrale Schwachpunkt seiner Politischen Philosophie zu liegen.
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Was ist falsch an einer moralischen Deutung
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Kant’s Non-Individualist Cosmopolitanism Katrin Flikschuh
1. Introduction Many theories of liberal cosmopolitanism today depart from the assumption of moral individualism. Moral individualism takes individual persons to be ultimate units of moral significance: it assumes the equal moral worth of all persons and demands equality of moral concern for all. Moral individualism is often said to imply moral universalism: insofar as equality of moral concern is due to all individuals irrespective of colour, creed, or country and merely in virtue of their status as persons, the scope of that concern must range over all individuals alive globally.1 Many current liberal cosmopolitans take universal moral individualism to constitute a form of Kantianism. In so designating their positions they often have in mind not so much Kant’s practical philosophy as John Rawls’ appropriation of it for his distinctive contractualist egalitarianism. Rawls’ liberalism is inspired by Kant in that it seeks to derive a moral justification for principles of justice from a particular conception of public practical reasoning. Although he says little about Kant’s philosophy of Right, he describes the Groundwork as quintessentially contractarian.2 Rawls accordingly interprets Kant’s account of autonomous practical reasoning in his ethics as articulating a broadly contractarian conception of individual agents conceived as sovereign co-legislators of the moral and political principles they reciprocally agree to abide by. He similarly reads into Kant’s designation of humanity as an end-in-itself a view of individual persons as “self-originating sources of valid claims”, implying semantic and normative overlap between Kantian respect for the humanity in persons and more mainstream liberal valuation of the individuality of persons.
_____________ 1 A major current representative of this position is Pogge 2002, 91-117. 2 Cf. Rawls 2000, 167-75.
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Although the view of Kant as a moral individualist is now widespread especially among Anglo-American interpreters, the historical accuracy of this view has been queried by Reinhard Brandt. In “The Guiding Idea of Anthropology and the Vocation of the Human Being” Brandt points out that, (t)he human being whose vocation is investigated [in Kant’s mature writings] is not the isolated individual but quite clearly the species. Animals attain the purpose of their existence as individual specimen, but human beings accomplish theirs only in the species, as part of humanity considered as a whole. With this conception, Kant stands in stark contrast to most other German authors [of his time] who take a position on the vocation question, including Spalding, Lessing, Thomas Abbt, and Moses Mendelssohn, as well as Herder.3
If this is correct, Kant also stands in stark contrast to the current moral individualism with which he is now frequently associated. This article will offer support for Brandt’s dissenting thesis in relation to Kant’s cosmopolitan writings. Kant’s cosmopolitan writings are strikingly nonindividualist in their account of the ends of Right (Recht)4: much as Brandt finds in relation to Anthropology, the cosmopolitan texts thematise individual agents’ possible contributions to mankind’s moral progress whilst simultaneously insisting that contributors will typically not benefit personally from the moral progress they help bring about. This is at odds with moral individualism’s emphasis on the individual person as ultimate unit of moral significance: from that perspective, the demands of Kant’s cosmopolitanism upon the individual agent appear unreasonable, overstretching the limits of the “burdens of commitment”. One might think Kant’s cosmopolitan writings – predominantly articulated in his late, occasional essays on history and politics – non-representative of his moral position overall. The late populist pieces are one thing, one might say: but the core of Kant’s moral philosophy is quite another. While the late pieces display a certain Hegelian trend, putting their faith in the impersonal forces of reason and history in ensuring the moral transformation of humankind, Kant’s moral philosophy focuses on the individual agent as both architect and beneficiary of his moral endeavours. I shall argue that the nonindividualism of Kant’s late cosmopolitan writings is in fact broadly continuous with his arguments in the Groundwork and the Doctrine of Right. I shall focus my attention on the notion of “humanity” as it is employed in both these texts. In relation to the Groundwork, I shall examine the “for-
_____________ 3 Brandt 2003, 97. 4 I follow Mary Gregor in her 1991 capitalisation of “Right” in order to indicate the simultaneous connotations of the German Recht with “law”, “rights”, “justice”. See the ‘Note of translator’ in Gregor 1991.
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mula of humanity” as part of Kant’s metaphysical analysis of the categorical imperative in Section II of that text. I shall suggest that the formula’s indeterminate substantive content counsels against hasty appeal to it as providing meta-normative support to the normative claims of moral individualism.5 Turning to the Doctrine of Right I shall focus on the role of “humanity” in relation to the “innate right of each”: here, too, persons’ juridical status is grounded not in their individuality but in the interpersonal obligations they owe one another in virtue of their shared humanity. In section III I shall return to Brandt’s thesis, and shall sketch an interpretation of Kant’s cosmopolitan account of mankind’s moral progress according to which it constitutes an attempt to assess temporal human history from the a-temporal perspective of “humanity as an end-in-itself”.
2. Humanity as an End in Itself in Groundwork The formula of humanity as an end in itself (henceforth “FHE”) is often said to be the most intuitive of Kant’s three variants of the categorical imperative in Groundwork II.6 FHE enjoins us “to act in such a way that you treat humanity in your own person and in that of others never merely as a means but always at the same time as an end in itself” (AA IV 429). This demand is said to articulate a widely shared moral intuition according to which persons are to be accorded a kind of respect which it would be inappropriate to accord anything else. Arguably, FHE does not in fact exhort us to treat persons as ends in themselves. Kant’s formulation contains a distinction between persons as bearers of humanity and humanity as the object of moral respect: it demands that we treat the humanity in persons, not persons themselves, as an end in itself.7 Perhaps this is a distinction without a difference: perhaps to treat the humanity in persons
_____________ 5 For an extended defence of the argument in Groundwork as an argument in practical metaphysics, see Flikschuh 2009. For the purposes of the present paper, I shall treat ‘metaphysical’ and ‘meta-normative’ as synonymous terms. 6 There is continuing debate and disagreement as to how many formulations of the categorical imperative can be found in the Groundwork. Some, following H.J.Paton, speak of five distinct formulae, including “the formula of the law of nature” and the “formula of autonomy”. Others restrict themselves to three: “the formula of universal law”; “the formula of humanity as and end in itself”; “the formula of the kingdom of ends”. I follow Timmermann 2004, who distinguishing between the “formula of universal law” as the “basic formula” and the formulae of “universal law of nature”, of “humanity as and end in itself”, and of “the kingdom of ends” as its three variants. 7 For an illuminating discussion, see Ricken 1989.
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as an end in itself is identical with respecting persons as ends in themselves. Before taking a closer look at the text it is worth asking what more precisely is thought to be so intuitive about the idea of treating individual persons as ends in themselves. If we take the expression “end in itself” to refer to an “unconditional end” in Kant’s sense of that term, persons’ individuality is not merely of highest comparable moral value but has incomparable moral worth.8 To treat persons as ends in themselves is to deem them incomparably more important, morally, than anything else. Indeed, in so far as their moral worth is grounded in each person’s individuality, each person is incomparable in moral worth to that of all other persons. The moral worth of each individual person is non-exchangeable with that of any other. But what is it about the individuality of each person that accounts for its supreme moral worth? According to the view under consideration, that which gives each individual person their incomparable moral worth is their status as a rational agent. What distinguishes a rational agent from all other beings is its capacity for rational self-direction. That which expresses an individual person’s capacity for rational self-direction is their capacity for choice. While all persons possess this capacity for choice, each exercises it differently, choosing and pursuing different goods and goals. The incomparable moral worth of each individual person – incomparable even between persons – is thus said to be grounded in each person’s rational capacity to form and pursue their own conception of the good.9 This view of the supreme moral worth of each as grounded in their unique choice-making capacity is said to connect with Kant’s specification of persons’ capacity for autonomous self-legislation as the ground of human dignity. In the course of drawing this connection two conflicting conceptions of autonomy are frequently conflated.10 The liberal conception of personal autonomy as rational self-determination – as the capacity to choose and pursue one’s own conception of the good – tends to be conflated with Kant’s principle of moral autonomy as self-legislation – as the capacity morally to constrain one’s subjective maxims in accordance with the categorical imperative. Ironically, the resulting elevation of personal autonomy to a principle of morality – i.e. the view of personal autonomy as the end of moral
_____________ 8 Cf. AA IV 434f.; AA VI 434. For an excellent analysis of dignity in Kant see Hruschka 2002. 9 For a recent statement of this widespread liberal conception of individual personhood and its moral worth in the context of the morality of human rights, see Griffin 2008. 10 Cf. O’Neill 2000.
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autonomy – would be decried by Kant as a species of heteronomous moral theorizing. More recently, a more sophisticated alignment of Kant with liberal morality has gained ascendancy, according to which personal autonomy is a conditional good the moral worth of which depends on the unconditional goodness of moral autonomy as its ground. Instead of attributing to Kant a position that sees the end of moral agency as lying in the achievement of personal autonomy, this more sophisticated interpretation conceives of moral autonomy as a constraint upon the pursuit of personal autonomy. In contrast to the unconstrained moral individualism implicit in the elevation of personal autonomy itself to a moral end, this new reading may thus be said to advocate a constrained moral individualism which views abidance by the requirements of moral autonomy as a necessary condition of the moral value of personal autonomy. Such constrained moral individualism is at work in Christine Korsgaard’s influential interpretation of FHE. According to Korsgaard, When Kant says that the characteristic of humanity is the power to set an end, he is not merely referring to personality, which would encompass the power to adopt an end for moral reasons. Rather, he is referring to a more general capacity for choosing, desiring, or valuing ends; ends different from the ones that instinct lays down for us, and to which our interest is directed by the operations of reason. At the same time it is important to emphasize that this capacity is only completed and perfected when our ends are fully determined by reason, and this occurs only when we respond to moral incentives. Humanity, completed and perfected, becomes personality, so that in treating the first as an end in itself we will inevitably be led to realise the second.11
Korsgaard here draws on Kant’s late distinction between “personality” and “humanity” – a distinction not systematically adhered to by Kant even once he has made it. In Religion, “personality” refers to “a rational and simultaneously accountable being” (ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen; AA VI 26). By contrast, “humanity” pertains to “a living and simultaneously rational being” (ein lebendes und zugleich vernünftiges Wesen; AA VI 26). According to this distinction, “humanity” defines human beings’ status as “rational animals” – as sensibly embodied beings with the capacity for instrumental practical reasoning. By contrast, “personality” defines a rational being’s noumenal status – its capacity for pure practical, moral reasoning. Korsgaard modifies Kant’s late distinction to include both sensible and noumenal aspects under “humanity”. The capacity for instrumental practical reasoning already implies, according to Korsgaard, a
_____________ 11 Korsgaard 1996a, 114.
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capacity for pure moral reasoning.12 While this is contrary to Kant’s own position in Religion13, the modification is necessary to Korsgaard’s endeavour to show how we can develop morally through the rational perfection of our subjective choices. Pursuit of our subjective ends and projects is not a moral good in itself, but is good only in so far as it contributes to our attainment of “personality”. For Korsgaard, we are fully moral when our choices are fully rational.14 In turn, our choices are fully rational when they accord with the categorical imperative as supreme principle of a perfectly rational will. Hence, for our subjective choices to be morally good, we must constrain them in accordance with the objectively valid categorical imperative: all those subjective ends are morally good the pursuit of which accord with the demands of the categorical imperative. Yet Korsgaard intimates that we attain moral perfection through the rational perfection of our subjective choices. According to the paragraph just quoted, the subjective capacity for choice “is only completed and perfected when our ends are fully determined by reason, and this occurs only when we respond to moral incentives”. This gives our subjective ends and choices a crucial moral function. Respect for the humanity in the person of each includes respect for the subjective choice making capacity of each through the rational exercise of which each person learns to perfect themselves morally. It is often said to be an advantage of Korsgaard’s reading of FHE that it fills Kant’s formula with intuitively familiar substantive content. Korsgaard’s interpretation engages substantive, phenomenal features with formal, noumenal ones. The universalizability demand of Kant’s formal principle of morality acts as a constraint upon the pursuit by each of their substantively valued activities and ends. Korsgaard’s is a constrained moral individualism in the sense specified: what matters morally is not the exercise of subjective choice as such so much as the respect we reciprocally accord one another through our rationally constrained exercise of choice. But does FHE enjoin us to treat our own and others’ subjective end-setting capacity as morally significant in the manner suggested by Korsgaard’s reading? Kant himself seems to think his conception of humanity as an end in itself anything but intuitive. Although the whole of
_____________ 12 Korsgaard 1997. 13 Cf. AA VI 26: “It does not follow from the fact that a being has the capacity to reason that [such reason] contains [such a being’s] capacity to determine its power of choice unconditionally by means of the mere representation of the universalizability requirement upon its maxims.” 14 Cf. Korsgaard 1996a, 122: “That which makes the object of our rational choice good is that it is the object of a rational choice.”
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Groundwork II is entitled “passage from ordinary moral knowledge to the metaphysics of morals” (AA IV 406) it is in the course of his derivation of FHE from the basic formulation of the categorical imperative that Kant explicitly announces his “step into metaphysics”. (AA IV 426) The basic formulation commands us to “act only on that maxim through which you can at the same time will that it should be a universal law”. (AA IV 421) At the transition from the basic formulation to FHE Kant asks whether an unconditional law can indeed serve as a practical law for any rational being, including human rational beings. It can do so only in so far as some “connexion” obtains between such a law and the will of a rational being. But in order to discover this connexion we must, however much we may bristle, take a step beyond into metaphysics, although into a region of it different from speculative metaphysics, namely, the metaphysics of morals. (AA IV 426)
The paragraph which follows sets out the relationship between laws and ends in general. The operation of natural laws brings about determinate effects. Analogously, law-governed actions intend to effect practical ends. Corresponding to any practical law there must therefore be a practical end for the sake of which that law is acted on. Kant claims that the ground of a rational will’s determining itself to act in accordance with a given practical law is the end of that law. Sensibly given ends are grounds of the will’s determining itself to act in accordance with laws of instrumental practical reasoning: an instrumentally rational agent acts in accordance with laws of instrumental reason in order to obtain the desired end. The categorical imperative is, however, an unconditional law. If conditional ends ground self-determination in accordance with conditional laws, then selfdetermination in accordance with an unconditional law must be grounded in the will’s idea of an unconditional end. If, therefore, a law such as the categorical imperative is indeed to “connect” with the will of a rational being this will must be acting under the idea of an unconditional end for the sake of which it does act in accordance with that law: Suppose there were something whose existence has in itself absolute value, something which as an end in itself could be a ground of determinate laws; then in it, and in it alone, would there be the ground of a possible categorical imperative – that is, of a practical law. (AA IV 428)
Kant here invokes the idea of a possible non-sensible existence.15 The supposition of such an existence follows from the foregoing considerations. Within the realm of nature we encounter only conditional ends. Since everything in nature depends for its existence on everything else in
_____________ 15 For an illuminating analysis, see Timmermann 2006.
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nature, empirical nature is a web of conditional existences within which each individual existence serves as both cause and effect of other existences. This is why everything in nature is of comparative value only: nothing in nature is self-sufficient; everything “has a market price” (AA VI 434) and can be exchanged for its equivalent in value. Hence an end that exists as an end in itself, i.e. an end that has incomparable value, cannot be sensibly given but must be given apart from empirical nature. Kant’s assertion that man has such unconditional existence follows abruptly upon the heels of the initial, speculative supposition: “(n)ow I say that man, and in general every rational being, exists as an end in itself, not merely as a means for arbitrary use by this or that will”. (AA IV 428) If there is an unconditional law, it must have an unconditional end as its corresponding ground: for us, the only conceivable object of such an unconditional end is rational nature itself. FHE as the unconditional end of unconditional willing in accordance with the categorical imperative thus commands us to “act in such a way that you always treat humanity, whether in your own person or in the person of any other, never simply as a means, but always at the same time as an end” (AA IV 429). “Humanity” here refers to humans as a class of rational beings, not to individual persons. In contrast to the later distinction made between “personality” and “humanity” in Religion, the type of rational being invoked in FHE cannot be a “rational animal”, that is, “a living and simultaneously instrumentally rational being”. A rational being of that type is part of sensible nature, so cannot serve as an unconditional end. In so far as humanity exist as an end in itself, it must belong to that type of rational being capable of “personality”, that is, capable of acting from pure practical reason alone. The existence of this type of rational being would be non-sensible. Kant is aware of the contentious nature of his assertoric metaphysical proposition: he acknowledges that he can offer no proof, within the confines of Groundwork II, of his claim that humanity exists as an end in itself. He contends that “this is the way in which a man necessarily conceives of his own existence” (AA IV 429). But this purported fact of individual selfperception is hardly testimony of its intuitive plausibility. To the contrary, the argument up to that point is designed to show that we are constrained to conceive of our own existence in that way in so far as we think ourselves subject to an unconditionally valid law. Kant’s claim is that we necessarily do think ourselves subject to such a law in so far as we acknowledge the unconditional demands of duty in our ordinary experience of morality. The analysis of Groundwork II thus progresses from our ordinary experience of duty as set out in Groundwork I to the quite extra-ordinary metaphysical self-conception of ourselves as rational existences apart from the constraints of sensible nature.
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According to FHE, then, a moral agent’s self-conception of their nonsensible existence as rational nature constitutes the only possible unconditional end of the unconditional law of morality in virtue of which such an agent can act on such a law. The argument of Groundwork II is conditional: if we accept the basic formulation of the categorical imperative as a practical law for us, then we are constrained to think of rational nature in general as an end-in-itself. This does not prove that there is either such a law or a corresponding unconditional end. In Groundwork II Kant accordingly concedes that morality may yet turn out to be chimerical. Notoriously, full vindication is not offered in Groundwork III either. Kant’s attempt there to derive morality from freedom ends in the concession that freedom presupposes morality, threatening a justificatory circle from which Kant escapes only by means of the two standpoints thesis: acting on the categorical imperative is possible for beings who acknowledge their status as partnoumenal beings. To many of his readers, this contention is no less question-begging than the initial threat of a circle which it is meant to offer an escape from. The perceived failure of Kant’s attempted vindication in Groundwork III has encouraged many to attempt vindication within the confines of Groundwork II. Korsgaard’s resolve to “regress” from the conditional goodness of subjective ends-setting to the unconditional goodness of rational choosing constitutes an attempt to do without the justificatory endeavours of the third section of the text and to complete the argument for the categorical imperative within its second section. Jens Timmermann has shown why Korsgaard’s interpretation cannot succeed: there is, for Kant, no possible regress from the conditioned to the unconditioned.16 From this perspective, Korsgaard’s suggestion, that in reciprocally assisting one another in our (conditionally good) subjective end-setting capacity we learn to treat the humanity in each of us as an (unconditional) end in itself is as misguided as are earlier moves that elevate subjective endsetting itself to the status of an unconditional good. But how else might we then specify the unconditional content of the humanity formula for substantive, normative purposes? My interpretative suggestion is that no substantive specification of the unconditional content of “humanity as an end in itself” is available to us within the context of Groundwork. The failure of (a non-question-begging) vindication in Groundwork III redounds on what we can say about the content of the humanity formula in Groundwork II. In Groundwork II, the warrant for FHE is conditional, and although Kant there postulates the idea
_____________ 16 Timmermann 2006, 73-76.
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of “humanity” as a possible non-sensible existence, he does not specify what such an existence consists in: considerations of this kind are brushed aside with a promissory gesture towards Groundwork III. The subsequent failure of full vindication in the final section of the text leaves the humanity formula of the second section substantively under-specified. When we think of humanity as an end in itself we think of it as having an existence apart from our temporal existence as phenomenal beings. But we cannot say what precisely this existence amounts to if, indeed, it exists at all. The humanity formula nonetheless has a radical effect on our moral selfconception: it relativizes our assessment of the moral significance of our subjective goals and projects, which now seem comparatively less important to us morally. In extending our practical self-conception beyond our ordinary view of ourselves as rational animals, the idea of humanity as unconditional end alerts us to the “paradox of morality” (AA IV 439): our capacity to act contrary to our natural concern for personal happiness and for the sake of morality itself even when we do not fully understand quite what this may amount to.
3. Humanity and Innate Right in the Doctrine of Right In contrast to the Groundwork, the idea of humanity as an end-in-itself plays little explicit role in the Doctrine of Right. The latter is often read as part of Kant’s late turn to applied practical philosophy, with the division of the Metaphysics of Morals into a Doctrine of Right and a Doctrine of Virtue being taken to address the peculiarities of specifically human moral circumstances.17 Kant’s statement of the innate right of each in the Introduction to the Doctrine of Right does, however, invoke the notion of humanity: Freedom (independence from being constrained by another’s choice), insofar as it can coexist with the freedom of every other in accordance with a universal law, is the only original right belonging to every man by virtue of his humanity (Kraft seiner Menschheit). (AA VI 237)
Kant’s formulation – “by virtue of his humanity” – here differs from that in the Groundwork, which demands treating the humanity in persons as an end in itself. There, “humanity” invoked the indeterminate idea of a rational existence in which all human beings participate in virtue of their capacity for morality. Here “humanity” seems to constitute a property of each person individually. The question is whether the difference in formulation points to a difference in conception. Peter Niesen has helpfully
_____________ 17 Cf. Wood 2002.
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distinguished between three possible interpretations of “humanity” in relation to the innate right of each: i.) a naturalistic reading, according to which “humanity” stands for “the human species” such that all members of the species have an innate right to freedom merely in virtue of their species membership; ii.) a morally neutral though normative reading which grounds “humanity” in the capacity for free choice, but which treats such external freedom as indifferent between hypothetical and categorical reasoning such that any being capable of choice in general (whether desire based or morally grounded) qualifies as a member of humanity; iii.) a moral reading, according to which “humanity” refers, as in the Groundwork, to human beings’ noumenal status as expressed in their capacity for moral freedom specifically as the capacity to act from pure principles of practical reason alone. Niesen’s meaning (ii.) does not overlap with Korsgaard’s superficially similar specification of humanity as containing phenomenal as well as noumenal aspects of human as rational beings. Korsgaard’s reading is not morally neutral but is designed to offer an intuitively plausible account of the connection posited by her between phenomenal and noumenal features of our practical self-conception. For Korsgaard, recall, any being that possess the capacity for instrumental practical reason therefore also possesses the capacity for moral reasoning: instrumental practical reasoning is simply a less perfect exercise of practical-cum-moral reasoning. By contrast, Niesen’s second meaning tracks the logic of the Doctrine of Right whose focus on external freedom explains the exclusion from consideration of agents’ maxims in the context of “strict Right”. (AA VI 232) This renders it irrelevant whether agents act lawfully from maxims of duty or from heteronomously determined maxims. Niesen nonetheless rejects (ii.) on the grounds that the tight connection between a capacity to set oneself ends and an entitlement to do so devoids that reading of justificatory force: to claim an innate right to external freedom (an entitlement to set oneself ends) on the basis of one’s capacity to do so is “not informative”.18 Niesen himself eventually accepts a version of the naturalistic reading (i), although he concedes that the function of “humanity” is then descriptive, not justificatory: “whosoever can be identified as a member of the human species must be accorded an innate right to freedom”.19 “Humanity” as Niesen endorses it in relation to the innate right to freedom of each thus becomes synonymous with the descriptive category of the “human race”.
_____________ 18 Niesen 2005, 55, my translation. 19 Niesen 2005, 58.
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Niesen’s rejection of (iii.) – “humanity” as referring to persons’ noumenal standing – is of principal interest here. Niesen appeals to a distinction in the text between the rights of human beings (das Recht der Menschen) and the Right of humanity (das Recht der Menschheit), suggesting that Kant differentiates between these two types of Right according to their respective bearers. The former applies to “the human person subject to physical conditions, or homo phenomenon”; the latter pertains to human persons “merely in virtue of their [noumenal] personality conceived independently of any physical determinants”. While “the bearer of the Right of humanity is humanity in the sense of meaning (iii.)”, the bearers of the Right of human beings are individual persons.20 Since the innate right to freedom is a “right of human beings” any attempt to justify that type of right by means of an appeal to (iii.) would be akin to committing a category mistake. Niesen nonetheless declares both types of Right “genuine [echte] juridical rights”. This raises the question as to their common grounding. The rights of human beings are said by Niesen to be grounded in individuals’ phenomenal status as physically embodied beings who encounter one another within the confines of the earth’s spherical circumference and whose search for peaceful co-existence yields reciprocal acknowledgement of one another’s innate right. The Right of humanity, on the other hand, has supra-individual status and is grounded in persons’ noumenal status. Unfortunately, the relation between this latter type of Right and the former is obscure. Niesen’s interpretation may be modelled on current human rights discourses. While he wants to secure individuals’ status as rightholders merely in virtue of their standing as physically embodied individual persons with corresponding needs and interests, he also acknowledges a higher order category of Right that pertains to what is sometimes called our “shared humanity” in a non-biological, moral sense. This higher order Right of humanity is reminiscent of the current international law category of “crimes against humanity” – crimes that are considered so heinous and of such scale as to constitute moral offence not only against their direct victims but against all of humanity collectively. Yet like the contemporary category of a crime against humanity, so Niesen’s “Right of humanity” is conceptually and normatively independent of what he takes to be the Doctrine of Right’s principal concern with the “rights of human beings”. The bifurcation of the “rights of human beings” and the “Right of humanity” into two distinct categories of Right without a clear indication of their common grounding – phenomenal here, noumenal there – seems
_____________ 20 Niesen 2005, 55.
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to me unsatisfactory. It seems to me more plausible to derive the “rights of human beings” from the “Right of humanity”. In his early analysis of the same passage Bernd Ludwig takes Kant to be referring back to the justificatory argument of the Groundwork where “humanity” refers to our noumenal status or existence.21 Ludwig’s reading still seems to me the more plausible of the two. The innate right to freedom is an a priori moral right which, as such, cannot pertain to our phenomenal nature as individual members of the human race. Indeed, except colloquially, Kant never speaks of persons as having rights “naturally”, i.e. in virtue of our sensibly given nature. He typically speaks of the moral concept of Right. Moral concepts differ from empirical concepts in lacking all reference to sensible intuition. In contrast to empirical concepts, the content of moral concepts is non-sensible, or intelligible. Hence, the content of the moral concept of Right is non-sensible: it does not derive from our status as physical, needy, desirous beings, but pertains, rather, to our status as morally accountable beings, structuring a particular sub-category of intelligible relations between us. This is evident from Kant’s specification of the general concept of Right which: has to do, first, only with the external and indeed practical relation of one person to another, insofar as their actions, as deeds, can have direct influence on each other. But, second, it does not signify the relation of one’s choice to the mere wish (hence also the mere need) of the other, as in actions of beneficence or callousness, but only a relation to the other’s choice. Third, in this reciprocal relation of choice no account at all is taken of the matter of choice, that is, of the end each has in mind with the objects he wants. All that is in question is the form of the relation of choice on the part of both, insofar as choice is regarded merely as free, and whether the action of one can be united with the freedom of the other in accordance with a universal law. (AA VI 230)
The general concept of Right specifies an intelligible relation between persons with regard to the form of each person’s respective exercise of their capacity for choice. Right pertains not to individuals’ physical existence and related needs and interests but to their rational capacity for choice. Even so, Right does not derive from capacity for choice. As we saw above, according to the division in Religion, a rational animal that possesses the capacity for choice does not therefore possess the capacity for morality. Only beings who have the capacity for personality have the capacity for morality. Hence, although Right regulates relations of choice between persons, it is grounded in persons’ distinct capacity to be held morally accountable for their choices. This analysis of the grounds of Right not in capacity for choice but in capacity for moral accountability
_____________ 21 Ludwig 1988, 92-102.
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for choice is confirmed by a reading of the innate right which assigns “humanity” the third meaning of Niesen’s three-fold distinction the meaning of which overlaps with that in Groundwork II: we have an innate right to freedom in virtue of our capacity for morality. Again, the constitutive features of this innate right are specified in relational terms: This principle of innate freedom already involves the following authorizations, which are not really distinct from it: innate equality, that is, independence from being bound by others to more than one can in turn bind them; hence a human being’s quality of being one’s own master (sui iuris), as well as being a human being beyond reproach (iusti), since before he performs any acts affecting rights he has done no wrong to anyone, and finally, his being authorized to do to others anything that does not in itself diminish what is theirs. (AA VI 238)
While the a priori status of Kant’s moral concept of Right is widely acknowledged, the significance of its relational structure still goes largely unnoticed. Instead, commentators have noted – indeed have lamented – the absence in Kant of any substantive rights entitlements, such as welfare right entitlements, as well as the absence of any specific human rights listing more generally.22 And yet, a reading which understands the rights of individual human persons as derivative of the rights of humanity in general, and which accordingly appreciates the concept of Right as operating at the level of intelligible or merely rational relations between persons is in a better position to make sense of Kant’s subsequent remarks on the “construction” of a system of Right as modelled on the idea of a mathematical construction “in pure intuition a priori”: The law of a reciprocal coercion necessarily in accord with the freedom of everyone under the principle of universal freedom is, as it were, the construction of that concept, that is, the presentation of it in pure intuition a priori, by analogy with presenting the possibility of bodies moving freely under the law of the equality of action and reaction. (AA VI 233)
Kant here draws an analogy between law governed relations between “freely moving bodies [objects]” in nature, and law-governed external relations between persons. But the reference to construction in pure intuition a priori also invokes the idea of a geometrical construction. Here an interpretation suggests itself which understands the a priori construction of intelligible or pure rational relations of Right between persons as a possible structuring of the idea of humanity as an end in itself. Recall my conclusion at the end of the last section that the failure of full vindication of in Groundwork III redounds on Groundwork II in leaving the formula of humanity substantively under-specified: we remain incapable of assigning the idea of “humanity as an end in itself” determinate substantive content.
_____________ 22 Cf Kaufman 1998.
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In the Doctrine of Right, too, we are not given a substantive specification of the idea of humanity as an end in itself: we are not told precisely what this idea amounts to or consists in, nor how exactly we should treat one another, in everyday moral contexts, as ends in themselves. The formal construction of a possible system of Right conceives of each of us, rather, as a sustaining member of a system which represents in its entirety a political articulation of the idea of humanity as an end in itself. I want in the final section to flesh this out further by way of returning to Brandt’s thesis of the species itself as man’s moral vocation.
4. Humanity as End in Itself and Cosmopolitan Progress According to Brandt, the species as a whole, not the individual human being, constitutes man’s vocation (Bestimmung) for Kant. The individual person is not morally self-sufficient, but attains moral completion only as member of the species. This is at odds with the meta-normative assumptions of current moral individualism. The latter tends to interpret Kant’s idea of the humanity in persons as articulating the intuitively familiar notion of persons as setters of their own ends. The claim that individual persons, as setters of their own ends, have incomparable moral worth assumes individuals’ moral self-sufficiency. More recent Kantians often subscribe to what I have called a constrained form of moral individualism according to which individual persons achieve moral perfection through a constrained exercise of personal autonomy which reflects reciprocal respect for one another’s rational agency. On this modified account, the constrained pursuit of personal autonomy is a means to moral goodness, rather than its end. According to Korsgaard, we morally enrich our lives by mutually assisting one another in the realisation of that which is of importance to each of us personally. Yet even mutually assisted personal autonomy is at odds with Kant’s characterisation of the “paradox” of morality as lying precisely in our ability to forego personal happiness for the sake of moral ends. In Kant, Brandt writes, the relevant whole is neither all of creation, nor the individual – rather it is the human species. The species is the parameter to which Bestimmung [vocation] applies. For Plato and Aristotle, the human being was primarily the citizen of a polis during his lifetime; the Stoics brought to Hellenism an expansion of the polis into the kosmopolis and saw the citizen as citizen of the world, as citizen of an unlimited societas generic humani. Kant, going beyond this, conceives of the history of humanity as a ‘system’, and the individuals as members and citizens not only of the kosmopolis contemporary to them, but as members and citizens of the human species
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in its historical dimension as well. The human being becomes thereby a member of and a means to the future humanity.23
Both in the Anthropology and in the political essays, Kant typically speaks of the moral progress of the human race, not of humanity as an end in itself: the object of inquiry in these writings is moral development as we may witness it in the comportment of phenomenal human nature. Brandt’s analysis accordingly focuses on the natural forces at work in human historical development that serve as indices of such otherwise unobservable moral progress: the unintended moral effects of self-interested agency, the wars that bring peace, the cunning of nature when she compels those who do not advance willingly into the Gängelwagen of her progressive plans for the human race. The human species gradually progresses in external morality – in legality – despite, indeed because of individuals’ self-seeking motives to the contrary. Nonetheless, Kant’s history of progress is clearly an exercise in normative evaluation. Brandt’s own distinction between Bestimmung as determinatio and as destinatio indicates as much. Under Bestimmung as determinatio “events receive their determination through causal factors, which bring them forth in a determinate place at a determinate time”. By contrast, Bestimmung as destinatio “goes beyond the first through the addition of a teleological structure. Something is not only determined in its properties or though something – it can also be destined or determined to something”. Brandt adds that, for Kant, “human beings are among those natural things whose existence and form we can grasp only insofar as we recognize the ‘to what’ of their determination”.24 On Brandt’s account, then, Kant’s conjectural human history must be read not causally but teleologically, which is to say, normatively. This is obviously correct, but I think one can go further and speak of Kant’s as an essentially moral teleology. Certainly, the cunning of nature is not thematised exclusively: along with nature’s Gängelwagen, each our innate duty to contribute to the future progress of the human race is emphasised repeatedly. In Theory and Practice Moses Mendelssohn is marshalled as a shining example of one who, in heeding his “innate duty” to contribute to mankind’s moral progress exhibits the kind of “unselfish good will” required for one to be able to contribute to humankind’s moral progress even in knowledge of the fact that they will “have long been dead and buried when the fruits [they] helped to sow are harvested”. (AA VIII 309) In Perpetual Peace the moral politician resists the temptations of the political moralist to whom opportunities for self-serving actions present them-
_____________ 23 Brandt 2003, 98. 24 Brandt 2003, 96f..
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selves and makes it instead “his duty (…) to be concerned how [the constitution] can be improved and brought into conformity with natural right”. (AA VIII 372) In the Contest of the Faculties, distant observers of the French Revolution “openly express universal yet disinterested sympathy for [the revolutionaries] even at the risk that their partiality could be of great disadvantage to themselves”. (AA VII 85) These varied cosmopolitan contributions, in thought and action, on the part of differently situated individual agents each instantiate the “paradox of morality” – our ability to act against personal interest and across space and time in an endeavour to further distant moral goals from the eventual actualisation of which we know we cannot hope to benefit personally. From the perspective of moral individualism this Kantian paradox is deeply counterintuitive. If each person is of incomparable moral worth as setter of their own ends, it may be positively immoral to demand of individuals that they set their personal ends aside in favour of contributing to the realisation of ends whose beneficiaries are spatially and temporally distant others.25 The threat of moral self-sacrifice implicit in the Kantian conception is noted by Brandt. It is against the spectre of this threat that the attractions of constrained moral individualism seem obvious: we foster the ends of morality by reciprocally fostering one another’s personal ends. Morality and self-development interlock, avoiding both the moral selfobsessiveness of the individuated setter of ends and the spectre of individual self-sacrifice apparently raised by Kant’s exhortations about our innate duty towards future humanity. Yet, and quite apart from its systematic conflation of conditional with unconditional ends as a Kantian reading, the problem with constrained moral individualism is its spatiotemporally bounded character. Realistically, we may reciprocally interact with one another in this manner within our more or less immediate “neighbourhoods” to use Korsgaard’s own telling terminology.26 At a stretch, we might be able to imagine ourselves fostering the self-
_____________ 25 Among the most searching explorations of the moral limits of moral individualism in these regards is to be found in Thomas Nagel’s review of Thomas Scanlon’s What we Owe to each Other. Nagel there endorses the Scanlonian position according to which is may be reasonable for the well-off in Western societies to refuse to extend anything but minimal material assistance to the distant poor on the grounds that so doing might compromise the personal plans and projects that are of moral importance to them. See Nagel 1999. I discuss Nagel’s position in more detail in Flikschuh 2005. The problem alluded to here is more widely known in the contemporary liberal literature as the problem of moral overload, though the latter is most usually associated with the utilitarian demand to maximise aggregate happiness irrespective of personal costs. 26 Korsgaard 1996b, 194.
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development of distant others though our donations and other forms of aid. Though the reciprocal nature of such distant assistance is not evident, aid recipients’ gratitude may perhaps provide recompense for our financial exertions. Even then, the anonymous nature such giving and receiving typically takes (and arguably ought to take!) makes the idea of reciprocal moral exchange sound far-fetched in the global context. Nonetheless, the greatest challenge facing the idea of reciprocal moral exchange relates to the temporal horizon. This is a well rehearsed theme in the literature: if requirements of reciprocity are difficult to extend along the spatial dimension, they are all but impossible to extend temporally. Kant nonetheless clearly does conceive of cosmopolitan progress as a process of spatial and temporal extension of our moral framework, initiated and sustained through more or less conscientious individual agency. Necessarily, in the global context, none of us will personally benefit from our moral exertions: but must absence of possible personal benefit amount to selfsacrifice on the part of morally conscientious cosmopolitan agents? For one who links the requirements of moral agency with the expectation of personal fulfilment cosmopolitan agency at least strongly implies moral self-sacrifice. Where, by contrast, no such connection is made the problem of moral self-sacrifice need not arise. Under utilitarianism it arguably does not arise insofar as each agent, in counting themselves as one and no more than one, treats themselves as a means to greater aggregate happiness: self-sacrifice is not a moral issue on utilitarian premises.27 Kant, says Brandt, thinks of each human being as “a member of and a means to the future humanity”. As members of the future humanity cosmopolitan agents would seem, after all, to share the fruits of the eventual harvest. In one obvious sense, each of us is of course a member of future humankind: we survive in our progeny. It is often hoped that the interest we each take in our children’s well-being and in that of our children’s children might enable us to extend our temporal moral horizon into the near future. But this extension clearly does not reach very far. Worse, moral reliance on specific generational ties does nothing at all for those unrelated others who are alive now and who are merely spatially distant from us. However, we may think of ourselves members of future humanity in the noumenal sense. Strictly speaking, talk of our membership in future humanity is then otiose: noumenally, our membership is spatially and temporally unbounded. By the same token, no moral action, noumenally consid-
_____________ 27 That utilitarianism fails to respect the ‘distinctness of persons’ can hardly count as a moral criticism from within the utilitarian position.
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ered, is affected by time-lag: each moral action has “noumenal effect”, as it were, now and for all time. In one sense, moral self-sacrifice may be avoided by re-locating moral agency and moral worth at the noumenal level: when cosmopolitan agents act in behalf of future human beings they do so from the perspective of their co-membership in humanity as an end in itself, and this comembership holds valid at all time. Such action may exact personal sacrifice at the phenomenal level – it may entail giving up on or at any rate compromising one’s personal projects – but such sacrifice is of no moral significance. Moral self-sacrifice would result only from agents’ making the humanity in their person a means to others’ non-moral ends. This is impermissible: a person may not allow others to treat the humanity in their person as a mere means.28 But what might it mean to say that we must not treat persons’ noumenal status as a mere means, nor allow others to treat us in that way? Given the substantively unspecified nature of the idea of humanity as an end in itself, this constraint seems practically empty. This is one likely objection. A related and more immediate worry is this: why invoke anything as contentious as the idea of the “noumenal” at all? Are the efforts of moral individualism, constrained or otherwise, not precisely directed at overcoming the need for such philosophically and morally contentious talk? I agree that they are, but I believe that they fail in this endeavour. Moral talk of the noumenal may be contentious: but it is also all around us. This is nowhere more evident than in the cosmopolitan context, the distinctive spatio-temporal demands on our moral selfunderstanding of which render it very difficult to avoid appeal to something that transcends the spatio-temporal constraints of our more usual, more domestic moral self-understanding. I just now alluded to the paradox generated by moral individualism in the global context: where the personal projects of each are assigned incomparable moral worth sacrifices in their personal projects by the better-off for the purpose of enhancing capacity for personal projects among the very badly-off may turn out to be morally impermissible. Constrained moral individualism in turn can do very little to achieve a requisite spatio-temporal extension of individual agents’ moral horizon. Earlier I alluded to persistent if merely implicit invocations of the “noumenal”: the category of crimes against humanity, and arguably the category of human rights more generally contain more or less contentious appeals to shared humanity, to the dignity of or in persons, to moral inviolability. Many among those who now argue vig-
_____________ 28 In this sense, the Kantian criticism of utilitarianism would be not that the latter fails to respect the moral significance of personal projects but that it fails to respect their noumenal status. Cf. Hruschka 2002.
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orously in favour of universal rights associate those demands with Kant’s respect for the humanity in persons. In one sense, the related equation of the moral individualist’s respect for persons’ capacity for choice and Kantian respect for the humanity in persons constitutes an empiricist reduction of the super-sensible idea of humanity as an end in itself to actual persons’ sensibly given interests, ambitions, and projects. In another sense, however, such moves simultaneously fulfil the contrary function of enriching empiricist approaches with a type of moral vocabulary not otherwise available to them: the same move that assigns sensibly conditioned substantive content to the idea of humanity as an end in itself tends to “elevate” such substantive content to the status, obliquely, of Kant’s noumenalism. Current cosmopolitan thinking reverberates, I suggest, with more or less unacknolwedged references to something akin to Kant’s noumenal dimension whilst also explicitly repudiating this dimension as implausible in the context of contemporary moral thinking. To the extent to which invocation of some idea of noumenality – in the present context: “humanity as an end in itself” – does prove unavoidable in that context, we should presumably seek to articulate it in some way which, while rendering it practically accessible to us, avoids loss of its distinctive status; avoids merely reducing it, in other words, to some substantively specified moral end among many. In the cosmopolitan context, the practical sense in which the individual agent is both member and means of the future humanity may be articulated through Kant’s “construction” of the concept of Right mentioned towards the end of the previous section. Kant likens, recall, the “law of reciprocal coercion” – the universal law of Right – to a mathematical construction in pure intuition a priori. This a priori construction serves as a model of the possible relations of Right in real space and time. I suggested that the construction may be read as structuring the substantively indeterminate idea of humanity as an end in itself. Kant says that the a priori construction of Right proceeds “by analogy with presenting the possibility of bodies moving freely under the law of the equality of action and reaction”. Just as the causal law of Wechselwirkung holds in relation to all freely moving bodies in sensible nature, so the universal law of Right is valid for all human beings as they are distributed across the spherical surface of the earth. The construction of Right is the structuring of the external moral relations among all persons globally into an interconnected network of reciprocal just coercion, constraining and sustaining the individual rights of each. Thus conceived each individual rightsholder within this network is both member and means of it: their status as moral agent is protected by their membership in this thoroughgoing system of Right, whilst their membership in that system is also a means to the sus-
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tainability of that system itself. More concretely: when we act to further the temporally distant end of thoroughgoing Right we put our personal aims and projects aside in so far as these conflict with that requisite end. But this requirement does not amount to a requirement of moral selfsacrifice: the position as rightsholder which we occupy within the system of Right imposes constraints upon the extent to which we are permitted to act as means to future humanity. We must and may further the ends of humanity only within the constraints of our status as rightholders.29 Yet we are rightsholder not in virtue of our capacity for personal projects, but in virtue of our membership in the idea of humanity as an end in itself. On the Kantian conception of cosmopolitan agency, then, we are members of and means to a system of thoroughgoing relations of Right. As individuals we contribute to the progressive establishment of that system by understanding our individual claims to Right as underwriting not our personal aims and projects but the general system of Right. We are means in the sense that each our status as individual rightsholder is necessary to and helps maintain the general system of Right. We are members in the sense that we must not allow others to treat us contrary to the requirements of Right – not even under the pretext that doing so would benefit the system of Right. The first condition rules out the conceptual connection between the status of a rightsholder and the pursuit of personal ends and projects; the second condition rules out the threat of moral self-sacrifice.30
5. Conclusion I have argued that current associations between moral individualisms’ respect for persons and Kantian respect for humanity as an end in itself, though in some ways obviously tempting, are ultimately misleading. In assigning unconditional worth to the meta-normative idea of humanity as an end in itself Kant has in mind something different from moral individualists’ assignment of overriding moral significance to persons’ capacity to set their own ends. Quite what Kant has in mind is not immediately obvious: I have suggested that, in moving from the Groundwork through the Doctrine of Right to the cosmopolitan essays one may discern a progressively closer alignment of the noumenal idea of humanity as an end in itself with the empirical concept of the human race. This alignment makes
_____________ 29 See the illuminating discussion of our juridical duties to ourselves in Hruschka 2003. 30 I elaborate on this in Flikschuh 2004.
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possible an interpretative assignment of substantive content to the noumenal idea for practical purposes, allows us to conceive of the possible moral development of the human race. However, the moral worth of humanity as an end in itself should not be reduced to the sensible conditioned interests and projects of the human race, let alone to those of individual members of the species. The morally paralysing effects of so doing are especially evident in the cosmopolitan context, where the requisite moral extension of our spatio-temporal framework calls for a type of moral agency that may raise the drama of moral self-sacrifice unless a plausible distinction can be drawn between persons’ private ambitions and justifiable moral demands upon them. I have suggested that current moral individualism is threatened by this stalemate: in assigning incomparable moral worth to the personal projects and pursuits of each person alive globally, moral individualism in effect undercuts the possibility of morally disinterested cosmopolitan agency. The Kantian position does not face this problem. This advantage does come at a price: the Kantian position is less individualistic in its conception of the ends of morality. This seems to me to be a price well worth paying.31
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_____________ 31 Versions of this paper were given at the workshop in political theory at the London School of Economics, April 2007; the conference on Cosmopolitanism at the University of Dundee, June 2007; and at the conference on ‘Kant und die Zukunft der Europäischen Aufklärung’ in Greifswald October 2007. My thanks participants at all these events for their useful and stimulating feedback on earlier drafts.
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Kants Lehre von der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ und ihre möglichen Konsequenzen für das Strafrecht Jan C. Joerden
I. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Kant in der Einleitung in die Rechtslehre, also dem ersten Teil seiner Metaphysik der Sitten (1797), und hier in dem Abschnitt „Eintheilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ den Begriff einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ explizit anerkennt.1 Dies ergibt sich aus einer Übersicht, die Kant dort unter dem Titel „Eintheilung nach dem objectiven Verhältniß des Gesetzes zur Pflicht“ bereitstellt und die sich – leicht umgewandelt – so wiedergeben lässt: 1. Tabelle: „Eintheilung nach dem objectiven Verhältniß des Gesetzes zur Pflicht.“ (Rechtslehre)
(Vollkommene Pflicht =) Rechtspflicht (Unvollkommene Pflicht =) Tugendpflicht
_____________ 1 AA VI 240; MS (Rechtslehre).
Pflicht gegen sich selbst 1. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person. 3. Der Zweck der Menschheit in unserer Person.
Pflicht gegen Andere 2. Das Recht der Menschen. 4. Der Zweck der Menschen.
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Wie man sieht, erscheint der Begriff einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ im 1. Quadranten dieser Übersicht. Kant greift hier eine Einteilung von Pflichten wieder auf, die er schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) verwendet hat; dort von ihm bezeichnet als die „gewöhnliche Eintheilung derselben in Pflichten gegen uns selbst und gegen andere Menschen, in vollkommene und unvollkommene Pflichten.“2 Die Differenzierung zwischen Rechtspflichten zum einen und Tugendpflichten zum anderen, die in der Metaphysik der Sitten mit der Differenzierung zwischen den vollkommenen Pflichten einerseits und den unvollkommenen Pflichten andererseits gleichgesetzt wird, findet sich so in der Grundlegung allerdings noch nicht. Dort werden aber Beispiele angegeben, und zwar jene klassischen Beispiele für Pflichten, die Kant zur Illustration der beiden zentralen Formulierungen seines kategorischen Imperativs, der sog. Naturgesetz-Formel und der sog. Zweck-Formel, verwendet. Diese lassen sich in einer entsprechenden Übersicht zusammenstellen, wobei die Fallbeispiele hier zu kurzen Ge- bzw. Verbotsformulierungen zusammengefasst wurden. 2. Tabelle: Die Pflichten und Fallbeispiele in der Grundlegung
Vollkommene Pflichten
Pflichten gegen uns selbst 1. Du sollst dich nicht selbst töten!
Pflichten gegen andere Menschen 2. Du sollst (bei einer Kreditaufnahme) nicht betrügen!
Unvollkommene Pflichten
3. Du sollst Deine Talente entwickeln!
4. Du sollst anderen in der Not helfen!
Kandidat für die „Rechtspflicht gegen sich selbst“ ist danach das Beispiel im 1. Quadranten, also die Pflicht, sich nicht selbst zu töten. In der Erläu-
_____________ 2 Hierzu und zum Folgenden: AA IV 421; GMS. Etwas später auf Seite 424 heißt es statt „vollkommene Pflicht“ auch „strenge oder engere (unnachlaßliche) Pflicht“ und statt „unvollkommene Pflicht“ auch „weitere (verdienstliche) Pflicht“.
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terung der vier Beispiele wird in der Grundlegung die Unterteilung zwischen den beiden Arten von Pflichten – einerseits vollkommen, andererseits unvollkommen – bekanntlich auch noch dadurch gestützt, dass von einer Maxime, die der betreffenden Pflicht widerstreitet, gesagt wird, sie könne unmöglich (bzw. niemals) „als allgemeines Naturgesetz stattfinden“ (1. Beispiel) bzw. „gelten“3 (2. Beispiel), sofern es um eine vollkommene Pflicht (1. und 2. Quadrant) geht, während dann, wenn Kant von einer unvollkommenen Pflicht handelt (3. und 4. Quadrant), er in Bezug auf die betreffende Maxime die Formulierung wählt, man könne „unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde“ bzw. „es [sei] doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Princip als Naturgesetz allenthalben gelte.“4 Aus der Sicht strafrechtlicher Begriffsbildung sei angemerkt, dass die vollkommenen Pflichten offenbar – zumindest dann, wenn man Kants Beispiele nimmt – Unterlassungspflichten sind, die sich am einfachsten als Verbote wiedergeben lassen: Einerseits das Suizidverbot (1. Quadrant) und andererseits das Betrugsverbot (2. Quadrant). Dem gegenüber sind die unvollkommenen Pflichten offenbar Handlungspflichten, die am einfachsten als Gebote zu formulieren sind: Das Gebot, die eigenen Talente zu entwickeln (3. Quadrant), und das Gebot, anderen in Not Hilfe zu leisten (4. Quadrant). Dabei spielt es hier zunächst noch keine Rolle, ob diese vier Pflichten tatsächlich auch strafrechtliche Pflichten sind oder sein sollten; es geht nur um die Unterschiede in der Begrifflichkeit der Pflichtarten, die sich in der obigen Übersicht gleichsam in dem Wort „nicht“ bei der Formulierung der Beispielspflichten im 1. und 2. Quadranten manifestiert, während diese Negation im 3. und 4. Quadranten fehlt. Noch in der Grundlegung schien Kant sich indes keineswegs sicher zu sein, dass er mit der oben in der 2. Tabelle wiedergegebenen Zusammenstellung die relevanten Pflichten in adäquater Weise erfasst hatte. Denn in einer Anmerkung heißt es dazu: Man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Beispiele zu ordnen) dastehe.5
Und Kant fährt mit einer Ergänzung fort: Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet, und da habe ich nicht bloß äußere, sondern auch innere vollkommene Pflichten, welches dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider läuft, ich aber hier nicht zu verantworten ge-
_____________ 3 AA IV 422; GMS. Vgl. auch 424: „Innere Unmöglichkeit“. 4 AA IV 423; GMS. Vgl. auch 424. 5 AA IV 421 Anm.; GMS.
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meint bin, weil es zu meiner Absicht einerlei ist, ob man es mir einräumt, oder nicht.
Mit „inneren“ Pflichten meint Kant hier offenkundig die Pflichten gegen sich selbst (1. und 3. Quadrant), mit „äußeren“ Pflichten dagegen die Pflichten gegen Andere (2. und 4. Quadrant). Er hat also zumindest in dieser Anmerkung noch leichte Zweifel, die sich aus einem „Wortgebrauch“ „in Schulen“, also der Lehrtradition, ergeben, ob es so etwas wie vollkommene Pflichten gegen sich selbst, also vollkommene innere Pflichten überhaupt geben kann. Die Anmerkung, die diese Frage letztlich offen lässt, zielt ganz auf die Pflichten des 1. und 2. Quadranten in der obigen Übersicht und bezieht sich dabei darauf, dass es bei der Definition der vollkommenen Pflicht nur darum gehe, dass „diese keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“. Das soll für das Beispiel des Suizidverbots heißen, dass man eben nicht „aus Selbstliebe“ (also aus einer Neigung) das Leben, wenn „bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht“6, abkürzen darf. Ebenso wie man nicht einem Anderen gegenüber ein Versprechen auf spätere Rückzahlung eines Kredits abgeben darf, wenn man zugleich aus „Selbstliebe“ (also aus Neigung) beabsichtigt, dieses Versprechen nicht zu halten. Dies soll nach Kant bei den Pflichten des 3. und 4. Quadranten anders sein – wie allerdings es dort genau aussieht, sagt er hier nicht. Zwölf Jahre später kann Kant die Frage nach der Einteilung der Pflichten und nach den Kriterien dieser Einteilung nicht mehr offen lassen; denn jetzt publiziert er die bei der Abfassung der Grundlegung noch „künftige“ Metaphysik der Sitten. Von den „Ausnahmen aus Neigung“ als Einteilungskriterium ist hier keine Rede mehr. Stattdessen heißt es: Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist; – die letztern können aber darum nur keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist); […]7
II. Das von Kant hier inzident vorgeschlagene Programm einer Trennung von Recht und Moral, wie es in der Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten zum Ausdruck kommt, hat nun zumindest die Po-
_____________ 6 AA IV 422; GMS. 7 AA VI 239; MS (Rechtslehre).
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tenz einer dreifachen liberalen Botschaft. Wobei „liberal“ hier bedeuten soll: Freiheitsgewährleistung für den Bürger. Die erste liberale Botschaft lautet: Das Recht ist nur dazu da, die Freiheitssphären der Bürger von einander abzugrenzen, nicht aber, sonstige Zwecke damit zu verfolgen. Diese Forderung ergibt sich bereits aus Kants „Allgemeine[m] Princip des Rechts. ‚Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.‘“8 Denn geht der Zweck oder die Wirkung eines konkreten Gesetzes über diesen Rahmen hinaus, muss dies notwendig für zumindest eine Person freiheitseinschränkend wirken, ohne zugleich der Freiheitsgewährleistung einer anderen Person nach einem allgemeinen Gesetz zu dienen. Für das Strafrecht bedeutet dies, dass mit den Mitteln des Rechts nicht ein konkretes Verhalten erzwungen werden darf, das allein die Launen des Gesetzgebers befriedigt. Etwa die Pflicht, den Hut von Gessler zu grüßen, fiele danach nicht in den Bereich des Rechts, sondern allenfalls in den Bereich der Sitten (hier i.S.v. Etikette) und dürfte somit auch nicht dem Bürger gegenüber erzwungen werden, denn nur das „Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden“9. Aber auch über solche heute vielleicht eher anekdotisch erscheinenden Beispiele hinaus, wäre etwa die in vielen Teilen der Welt ja sehr aktuelle Option der Einrichtung eines Gottesstaates schon deshalb nicht zulässig, weil es sich bei den daraus ggf. ableitbaren (religiösen) Pflichten schon nicht um erzwingbare Rechtspflichten handeln kann, weil sie nicht der Abgrenzung von Freiheitssphären der Bürger untereinander dienen würden. Schließlich verbürgt der kantische Rechtsbegriff in diesem Zusammenhang auch die Verhältnismäßigkeit staatlicher Regulierung, weil eben gerade nur die Mittel eingesetzt werden dürfen, die zur Freiheitssicherung und Freiheitsbegrenzung notwendig sind und die nicht über diesen Zweck hinausgehen. Für das Strafrecht ist damit zugleich eine Verhältnismäßigkeit zwischen (angedrohter und zugefügter) Strafe einerseits und Straftat andererseits gefordert. Die zweite liberale Botschaft der kantischen Trennung von Recht und Moral lautet knapp zusammengefasst: „Die Gedanken sind frei.“ D.h. das Recht darf nur äußere Konformität mit den staatlichen Regeln verlangen („Legalität“), aber nicht eine bestimmte innere Einstellung („Moralität“) erzwingen oder zu erzwingen versuchen, nicht einmal die Einstellung, sich das „Rechthandeln […] zur Maxime zu machen.“10 Für das Strafrecht
_____________ 8 AA VI 230; MS (Rechtslehre). 9 AA VI 231; MS (Rechtslehre). 10 AA VI 231; MS (Rechtslehre).
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bedeutet diese zweite liberale Botschaft das Verbot von Gesinnungsstrafrecht, in welchem die bloße Meinung oder Einstellung einer Person zum Anknüpfungspunkt staatlicher Zwangsmaßnahmen gemacht wird. Im geltenden deutschen Strafrecht sind aus dieser Botschaft nicht immer die zutreffenden Konsequenzen gezogen worden, etwa wenn in § 22 StGB nahezu uneingeschränkt auch die Bestrafung des sog. untauglichen Versuchs ermöglicht wird, bei dem doch primär der böse Wille des Täters den Strafgrund hergibt.11 Dem ist hier jedoch nicht weiter nachzugehen, weil dies mit der Konzeption einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ jedenfalls nichts zu tun hat. Die dritte liberale Botschaft, die man Kants Unterscheidung von Recht und Moral entnehmen könnte, ist die eines Verbots staatlicher Bevormundung bei der Verfügung über eigene Rechtsgüter, abgekürzt als Paternalismus-Verbot apostrophierbar. Denn Kant definiert den „Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d. i. der moralische Begriff desselben)“ so, dass er „erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“ betrifft.12 Offenkundig setzt Kant hier für seinen Rechtsbegriff zwei Personen voraus, womit das Verhalten einer Person sich selbst gegenüber jedenfalls aus dem Begriff des Rechts herausfiele und allenfalls noch von der Tugendlehre erfasst werden könnte. Dem entsprechend heißt es etwas später bei Kant, es sei nur zu fragen, „ob [da-]durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse“13. Die Forderung nach einer Vereinigung der Handlung einer Person mit ihrer eigenen Freiheit, oder eine ähnliche Formulierung, ist an dieser Stelle jedenfalls nicht anzutreffen. Diese dritte liberale Botschaft hätte nun allerdings eminente Bedeutung für das Strafrecht, weil sie einer Bereitschaft vieler Staaten einen intellektuellen Riegel vorschöbe, sich in die Privatangelegenheiten ihrer Bürger mit dem Mittel des Zwangsgesetzes einzumischen. Könnte nämlich die Erfüllung von Pflichten gegen sich selbst nicht von Rechts wegen erzwungen werden, weil diese schon gar nicht dem Rechtsbegriff unterfielen, wären daraus weit reichende Folgerungen abzuleiten.
_____________ 11 Dabei muss zwar auch noch ein sog. unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung gegeben sein, dies aber wiederum „nach den Vorstellungen des Täters von der Tat“ (vgl. § 22 StGB). 12 AA VI 230; MS (Rechtslehre); kursive Hervorhebung von mir. 13 AA VI 230; MS (Rechtslehre); kursive Hervorhebung von mir.
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Zum einen wäre eine Bestrafung der versuchten Selbsttötung ausgeschlossen. Mit erheblichen Konsequenzen etwa auch für die Fälle der sog. aktiven Sterbehilfe. Denn das Verbot der aktiven Sterbehilfe (vgl. § 216 StGB) ließe sich nun jedenfalls nicht mehr damit begründen, dass der (freiverantwortlich) Sterbewillige kein Recht habe, wirksam in seine Tötung einzuwilligen, sondern allenfalls mit anderen Gesichtspunkten wie etwa dem der indirekten Gefährdung nicht Sterbewilliger bei völliger Freigabe der aktiven Sterbehilfe. So müsste man zeigen, dass bei entsprechender Liberalisierung des Strafrechts die Gefahr bestünde, dass Mörder sich erfolgreich auf einen angeblichen Sterbewunsch ihres Opfers berufen könnten, oder dass die Gefahr bestünde, dass das Tötungstabu dadurch mit negativen Auswirkungen für Andere in relevantem Ausmaß in Frage gestellt würde. Alles dies Annahmen, die § 216 StGB allenfalls noch als abstraktes Gefährdungsdelikt ausweisen würden, jedenfalls aber nicht mehr als Verletzungsdelikt. Ob diese Annahmen zudem noch plausibel zu machen wären, wenn man den ernsthaften Sterbewunsch des Sterbewilligen hinreichend (etwa notariell) beglaubigt hätte, erscheint dann zumindest fraglich. Weiterhin würde die bisherige Fassung von § 228 StGB hinfällig, wonach eine Einwilligung in eine Körperverletzung zwar an sich rechtfertigend wirkt, dann aber nicht rechtfertigt, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“ (§ 228 StGB). Denn nimmt man die Trennung von Recht und Moral ernst und auch die daraus abzuleitende, hier so bezeichnete dritte liberale Botschaft eines Paternalismus-Verbots, dann haben die guten Sitten mit der rechtfertigenden Kraft des volenti non fit iniuria nichts mehr zu tun. Jeder darf dann auf seine körperliche Unversehrtheit verzichten, ohne dass dem Staat eine Überprüfung der Sittengemäßheit dieses Verzichts zustünde. Wieder könnten allenfalls die möglichen Gefahren, die aus einem solchen Beispiel für die körperliche Integrität Anderer resultieren, den Legitimitätsgrund für ein etwaiges strafrechtliches Verbot hergeben. Auch wäre aus jener dritten liberalen Botschaft etwa das Verbot einer Bestrafung der Homosexualität abzuleiten, da jedenfalls dann, wenn keine Minderjährigen beteiligt sind, der Staat nicht mit Zwangsmaßnahmen eingreifen darf, wenn Erwachsene sich mit Einwilligung des jeweils Anderen in bestimmter Weise zueinander verhalten. Entsprechendes würde für eine frei verantwortete Prostitution gelten (wobei selbstverständlich vorauszusetzen ist, dass diese ohne Zwang oder Ausbeutung, die ihrerseits natürlich stets Rechte Anderer verletzen, geschieht). Und auch der berühmten peepshow-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, in der dieses Gericht eine peepshow unter Rekurs auf die Menschenwürde der beteiligten Frauen untersagte, wäre die Rechtsgrundlage entzogen. Denn
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wiederum würde gelten: volenti non fit iniuria. Selbst in dem bekannten Zwergenwurf-Fall des Conseil d’Etat, dem höchsten Verwaltungsgericht Frankreichs, wäre jedenfalls ein (strafrechtliches) Verbot des hier praktizierten gefährlichen Werfens eines Zwergen durch die Luft mit dessen Einwilligung nicht mehr mit seiner angeblich verletzten Menschenwürde begründbar, sondern könnte allenfalls noch darauf gestützt werden, dass von diesem Verhalten eine Tendenz zur Nachahmung ausgehe, bei der andere Personen in von diesen nicht gewollte Gefahrenlagen gebracht würden. Schließlich: Was ließe sich dann eigentlich noch gegen den freiwilligen Selbstverkauf in die Sklaverei, die Veräußerung der eigenen Niere an Interessenten, ja gegen Gladiatorenkämpfe im Privatfernsehen einwenden?
III. Es scheint auf den ersten Blick allerdings schwer vorstellbar, dass Kant mit alledem noch einverstanden gewesen wäre. So gibt es eben auch Tendenzen in seinem Werk, die der hier so bezeichneten dritten liberalen Botschaft entgegenlaufen. Dazu zählt insbesondere die Redeweise von der „Rechtspflicht gegen sich selbst“, die allem Anschein nach zumindest die Möglichkeit eröffnet, „Pflichten gegen sich selbst“ als erzwingbare Rechtspflichten zu konstituieren. Kern der Argumentation bei Kant ist insoweit seine bekannte Deutung der ersten „Formel“14 des Ulpian: 1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘ Diese Pflicht wird im Folgenden als Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).15
Leider wird das Versprechen aus dem letzten Satz dieses Zitats von Kant allenfalls ansatzweise eingelöst. Denn zwar wird „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ definiert als „dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“.16 Aber weshalb sich daraus ein „Recht der Menschheit“ (vgl. vorausgehendes Zitat) ergeben soll, wird nicht wirklich erklärt. Immerhin könnte man dieses „Recht der Menschheit“ als eine Art
_____________ 14 AA VI 236; MS (Rechtslehre) unter Bezugnahme auf Ulpian. 15 AA VI 236; MS (Rechtslehre). 16 AA VI 237; MS (Rechtslehre).
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von notwendiger Selbstbegrenzung der Freiheit interpretieren. Für diese Deutung spricht, dass Kant in der Tugendlehre, wo die „Pflichten gegen sich selbst“ ausführlich erörtert werden17, den an sich auch von ihm als widersprüchlich apostrophierten Begriff einer „Pflicht gegen sich selbst“ gerade dadurch zu erklären sucht, dass er – auf seine Zwei-Reiche-Lehre zurückgreifend – dem homo noumenon die Rolle des Verbindenden (auctor obligationis) und dem homo phaenomenon die des Verbundenen (subiectum obligationis) zuweist: Der Mensch nun als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu gerathen (weil der Begriff vom Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann.18
Aus dieser Passage erhellt zumindest, dass die „Menschheit in seiner Person“ im Menschen die Rolle des homo noumenon und damit die Rolle des Verpflichtenden (auctor obligationis) im Rahmen einer „Pflicht gegen sich selbst“ übernehmen soll. Dies macht zwar klar, wer hier an die Stelle des Verpflichtenden (also des Anderen)19 tritt, kann aber noch keine Lösung der Frage bieten, weshalb es denn auch „Rechtspflichten gegen sich selbst“ sollte geben können. Davon ist an dieser soeben zitierten Stelle der Tugendlehre denn auch qua Tugendlehre konsequenterweise keine Rede.20 Immerhin ist deutlich geworden, wer den verpflichtenden Widerpart des homo phaenomenon spielt: Die Menschheit. Da nun dem Menschen seine Freiheit – wie oben gesehen – lediglich „kraft seiner Menschheit“ als Recht zusteht21, kann man die Menschheit als den Rechtsträger im Rahmen der „Rechtspflichten gegen sich selbst“ postulieren. Damit wird zugleich das Freiheitsrecht durch die Menschheit inhaltlich konkretisiert und auch
_____________ 17 AA VI 417ff., 421ff.; MS (Tugendlehre). 18 AA VI 418; MS (Tugendlehre); vgl. auch AA VI 239, II; MS (Rechtslehre). 19 Vgl. auch AA VIII 426; „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“: „Denn sie [die Lüge] schadet jederzeit einem Anderen, wenngleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“ 20 An anderen Stellen der Tugendlehre kommen Rechtspflichten durchaus vor (dazu auch noch im Folgenden), aber die obige Passage verhält sich dazu nicht. Auch die oben in Anm. 18 zitierte Passage in der Rechtslehre (AA VI 239 unter II.) hilft hier nicht wirklich weiter. 21 Vgl. wiederum AA VI 237, 239, II; MS (Rechtslehre).
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begrenzt. Rechtspflicht wäre die „Rechtspflicht gegen sich selbst“ daher deshalb, weil schon das einzige angeborene Recht (die Freiheit) an die Menschheit gebunden ist. Aber wer oder was ist hier „die Menschheit“? Wenig plausibel wäre es, darunter alle Menschen im Sinne von genus humanum zu verstehen, da dieses ein Konglomerat mit ganz zufälliger Zusammensetzung wäre, jedenfalls sicher kein Begriff, um darauf ausgerechnet eine kantische Rechtsphilosophie zu stützen. Auch erscheint eine Interpretation von „Menschheit“ als Menschlichkeit im Sinne von humanitas als verfehlt. Denn in einen solchen Begriff müsste alles das hineingesteckt werden, was man später aus ihm herausholen wollte; also ist auch dies kein tragfähiger Ansatz für eine selbstständige Begründung irgendeiner Form von Freiheitsbegrenzung. Aber betrachten wir die Definition von Menschheit, die Kant selbst gibt: „Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberste Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.“22 Demnach ist „die Menschheit“ das „vernünftige Weltwesen überhaupt“, oder wie es schon in der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck kommt: Es geht hier um die Idee des Menschen: Ein Gewächs, ein Thier, die regelmäßige Anordnung des Weltbaues […] zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich seien; daß zwar kein einzelnes Geschöpf unter den einzelnen Bedingungen seines Daseins mit der Idee des Vollkommensten seiner Art congruire (so wenig wie der Mensch mit der Idee der Menschheit, die er sogar selbst als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt), daß gleichwohl jene Ideen im höchsten Verstande einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt und die ursprünglichen Ursachen der Dinge sind, und nur das Ganze ihrer Verbindung im Weltall einzig und allein jener Idee völlig adäquat sei.23
Die Menschheit im kantischen Sinne ist folglich ein Idealbild des Menschen überhaupt. In moralischer Hinsicht weist der Begriff damit zurück auf das moralische Gesetz und die Möglichkeit zu seiner Setzung, d.h. auf die Autonomie: Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch blos als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subject
_____________ 22 AA VI 60; RGV. 23 KrV B 374f.
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des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.24
Wenn es demnach ein aus der Autonomie und damit dem kategorischen Imperativ abzuleitendes Recht der Menschheit gibt, das die Freiheit des Einzelnen gleichsam immanent begrenzt, dann unterliegt die Freiheit nicht nur der Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit „jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz“, sondern zugleich einer immanenten Vernunftkontrolle durch den kategorischen Imperativ. Daraus folgt, wer sich selbst zu töten versucht, verstößt nicht nur gegen den kategorischen Imperativ – wie ja auch schon in der Grundlegung gezeigt – sondern damit zugleich gegen das Recht der Menschheit. Ebenso, wer sich in die Sklaverei verkauft, um hier zunächst nur diese beiden der oben schon erwähnten Beispiele zu nennen. Von hier aus ist dann auch der Schritt zur Erzwingbarkeit dieser Rechtspflicht gegen sich selbst nicht mehr weit, man muss nur noch die Passage in § D der Einleitung in die Rechtslehre entsprechend auf die Rechtspflichten gegen sich selbst beziehen: „Nun ist alles, was unrecht ist“, also auch das, was gegen das Recht der Menschheit verstößt, „ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen.“ Und es folgt daraus: „[…]so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht; mithin ist mit dem Rechte“ (also auch mit dem „Rechte der Menschheit“) „zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“25 Wenn man allerdings erst einmal mit Kant diesen Weg zur Installierung von erzwingbaren „Rechtspflichten gegen sich selbst“ beschreitet, dann entsteht zumindest die Gefahr einer generellen staatlichen „Inhaltskontrolle“ aller von der Person gegen sich selbst gerichteter Handlungen. Denn sofern diese Handlungen gegen den kategorischen Imperativ verstoßen und es zugleich um vollkommene Pflichten geht, wie naheliegender Weise beim Suizid(-versuch), bei der Selbstverstümmelung, bei der Einwilligung in sadomasochistische Handlungen, aber wohl z.B. auch bei der Homosexualität (denn wie sollte diese mit dem kategorischen Imperativ in Einklang gebracht werden können?), wäre dieser Verstoß daher von Staats wegen zu verhindern und ggf. zu bestrafen. Und diese Inhaltskontrolle würde sich – das ist mit den Beispielen schon angedeutet – nicht auf die gegen sich selbst gerichteten Handlungen als solche beschränken, son-
_____________ 24 AA V 87; KpV. 25 AA VI 231; MS (Rechtslehre).
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dern würde auch den Grundsatz volenti non fit iniuria entsprechend modifizieren. Ja, man müsste sogar eine Pflicht des Individuums annehmen, sich gegen es selbst gerichtete, nicht mit dem kategorischen Imperativ in Einklang stehende Verhaltensweisen Anderer zur Wehr zu setzen, also nicht nur ein Notwehrrecht, sondern in solchen Fällen sogar eine Notwehrpflicht postulieren.26 Damit allerdings wäre dann zugleich das Ende der oben so bezeichneten dritten liberalen Botschaft gekommen und dem Paternalismus Tür und Tor geöffnet. Nun ist in der einschlägigen Literatur27 dafür plädiert worden, die Reichweite dieser Ableitung und damit der Erzwingbarkeit von „Rechtspflichten gegen sich selbst“ auf die Fälle zu begrenzen, in denen jemand die eigene Rechtspersönlichkeit freiwillig aufhebt, also wieder insbesondere durch eine(n) Selbsttötung(sversuch), durch den Verkauf in die Sklaverei, aber auch durch Einwilligung in die eigene Tötung durch einen anderen (Tötung auf Verlangen). Damit blieben jedenfalls diejenigen „SelbstVerfügungen“ erlaubt, durch die die Fähigkeit zur Selbst-Gesetzgebung (Autonomie) nicht vollständig aufgegeben wird. Das wären dann alle die Selbst-Verfügungen, die etwa nur das Eigentum oder die körperliche Unversehrtheit im weitesten Sinne betreffen. Denn derjenige, der z.B. einen Arm verliert, verliert damit noch nicht die Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben. Anders dagegen, wenn er sein Leben verliert, und anders wohl auch dann, wenn er sich selbst in die Sklaverei verkauft, oder ein Organ verkauft, durch dessen Verlust er so schwer geschädigt ist, dass er zur Selbstgesetzgebung unfähig wird. Eine solche Konzeption wäre immerhin in wesentlichen Punkten mit der heutigen Strafrechtsgesetzgebung verträglich, indem damit insbesondere die (aktive) Sterbehilfe im Sinne einer Tötung auf Verlangen als indirekter Ausdruck der Verletzung einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ strafbar gestellt bleiben würde (als Konsequenz der Nichtigkeit einer entsprechenden Einwilligung in die Fremdtötung). Streng genommen müsste man dann allerdings auch die versuchte Selbsttötung einschließlich der
_____________ 26 So auch – konsequent – Hruschka 2003. Allerdings wäre zu bedenken, ob eine solche Notwehrpflicht dann nicht eine Handlungspflicht wäre und damit (wohl) schon deshalb keine Rechtspflicht sein könnte. 27 Vgl. etwa Geismann 2006, 118: „Wahrung der je eigenen Rechtssubjektivität“, „Selbsterhaltung der Person“; Köhler 2006, 439: „Die Rechtspflicht gegen sich selbst ist freilich betroffen durch Handlungen eindeutig negatorischer, nicht mehr reversibler oder zu kompensierender Aufgabe des geistig-leiblichen Selbstbesitzes in seinem substanziellen Potential“; wohl auch Maatsch 2001, der sich in seiner Untersuchung primär auf Tötungshandeln bezieht (vgl. insbes. 243); zu Maatsch vgl. auch Jakobs 2003.
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Einwilligung in die (versuchte) Fremdtötung als die eigentliche Verletzung der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ per se für strafbar erklären.28 Das Verkauftwerden in die Sklaverei ist dementsprechend als strafbarer Menschenhandel erfasst (vgl. § 232ff., auch § 236 StGB), bisher allerdings wiederum nur gleichsam indirekt, indem ja nicht derjenige bestraft wird, der sich selbst verkauft, sondern nur derjenige, der das Opfer des Menschenhandels verkauft. Hier bleibt also wieder de lege lata die Verletzung der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ als solche straflos. Eine Notwendigkeit zur Modifikation des positiven Strafrechts ergäbe sich unter Zugrundelegung der obigen These allerdings hinsichtlich der bisher im Strafgesetzbuch vorgesehenen Inhaltskontrolle der Einwilligung in eine Körperverletzung. Denn die dort de lege lata unter das Verdikt eines Verstoßes gegen die „guten Sitten“ (vgl. § 228 StGB) fallenden Verhaltensweisen könnten jedenfalls nicht mehr zwangsläufig als Verstoß gegen eine „Rechtspflicht gegen sich selbst“ interpretiert werden, da durch sie regelmäßig noch nicht die Fähigkeit zur autonomen Gesetzgebung des Individuums beseitigt würde. § 228 StGB müsste dementsprechend von dieser „Gute-Sitten-Klausel“ befreit werden.29 Damit wäre nun immerhin ein Kompromiss gefunden zwischen der dritten liberalen Botschaft einerseits und der von Kant jedenfalls in der Rechtslehre augenscheinlich vertretenen These einer Möglichkeit von (erzwingbaren) „Rechtspflichten gegen sich selbst“. Entsprechend Kants Diktum, dass es bei der Konzeption des Freiheitsrechts gerade um die Herleitung aus dem Begriff der Autonomie geht, wäre die Freiheit dann, aber auch nur dann „vor sich selbst“ geschützt, wenn sie nach (endgültiger) Aufhebung der Freiheit, genauer: nach Aufhebung der (eigenen) Autonomie des Handelnden, trachtet.30
_____________ 28 Anders Köhler 2006, 440f., der eine Erzwingbarkeit insoweit ablehnt, als es nur um die Einwirkung der Person auf sich selbst geht, und nur die (verbietende) staatliche Intervention zulassen will, die einen Fremdeingriff bei voll zurechenbarer Einwilligung des Opfers (Prototyp: Tötung auf Verlangen) zu verhindern trachtet. Eine solche Aufspaltung des staatlichen Interventionsrechts zwischen Selbstverfügung einerseits und Fremdverfügung mit Einwilligung des Opfers andererseits, ist indes m.E. schon deshalb nicht überzeugend, weil auch bei einem staatlichen Verbot der Fremdverfügung mit Einwilligung des Opfers diesem die Entscheidungsfreiheit entzogen wird, ohne dass es dafür einen anderen Grund gäbe als den Rekurs auf seine (angeblich rechtspflichtwidrige) selbstverfügende Einwilligung. 29 Weiterführend zur „Gute-Sitten-Klausel“ des § 228 StGB vgl. Kühl 2006; Nitschmann 2007. 30 Dass andere Selbstverletzungen der Freiheit und andere Fälle der Einwilligung in die Fremdverletzung zumindest insoweit nicht rechtspflichtwidrig wären, bedeutet allerdings selbstverständlich nicht, dass die Verletzung anderer Personen gegen deren
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IV. Damit scheint vor diesem Hintergrund alles zumindest der Einleitung in die kantische Rechtslehre entsprechend geordnet. Es fragt sich aber doch, ob diese Interpretation auch dem entspricht, was Kant letztlich selbst gewollt hat. Daran entstehen erste Zweifel schon in der Einleitung in die Rechtslehre, dann aber verstärkt sich diese Skepsis bei der Lektüre zunächst der Rechtslehre selbst und dann der Tugendlehre. Diese Zweifel entstehen bei einer Lektüre der Rechtslehre deshalb, weil diese nach der Einleitung in die Rechtslehre auf die „Rechtspflichten gegen sich selbst“ überhaupt nicht mehr zurückkommt. Vielmehr werden nur das Privatrecht und das Öffentliche Recht in allen ihren Einzelheiten erörtert, aber eine Rechtspflicht des Einzelnen gegen sich selbst wird in der Rechtslehre nicht mehr thematisiert. Zwar gibt es in der Einleitung in die Rechtslehre noch einen Satz, der dieses Vorgehen eventuell begründen könnte: „Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur Ein Recht giebt, so wird diese Obereintheilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen und die Eintheilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können.“31 Aber damit wird noch nicht klar, weshalb so wichtige Rechtspflichten gegen sich selbst, wie es insbesondere das Selbsttötungsverbot darstellen müsste, nicht auch in der Rechtslehre einer ausführlichen Erörterung zugeführt werden. Es kommt hinzu, dass schon in der „Eintheilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ im Rahmen der „Eintheilung nach dem subjectiven Verhältniß der Verpflichtenden und Verpflichteten“32 der Fall der „Pflicht gegen sich selbst“ nicht wirklich Berücksichtigung finden kann. Erinnert sei dazu an die von Kant aufgestellte (hier in ihrer Form etwas abgewandelte) Tafel:
_____________ Willen damit nun auch erlaubt werden müsste. Denn bei der Verletzung Anderer gegen deren Willen (z.B. im Rahmen einer Körperverletzung) tritt ja jedenfalls noch die Willensverletzung hinzu, die bei der Selbst-Verletzung gerade wegfällt. Diese Willensverletzung rechtfertigt es daher auch, solche Handlungen als rechtlich verhinderbare Freiheitseinschränkung eines Anderen zu begreifen. 31 AA VI 238; MS (Rechtslehre). 32 AA VI 241; MS (Rechtslehre).
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3. Tabelle: „Eintheilung nach dem subjectiven Verhältniß der Verpflichtenden und Verpflichteten.“ (Rechtslehre) Verhältnis des Menschen zu Wesen, die Rechte haben Pflichten haben
1
2
3
4
-
+ +
+
+ -
Die Konstellation der Spalte 1 ist nach Kant nicht möglich („Vacat.“), da es sich hier um „vernunftlose Wesen [handelt], die weder uns verbinden, noch von welchen wir können verbunden werden.“33 Entsprechendes gilt in der Konstellation der Spalte 3 für Wesen, die keine Rechte, sondern nur Pflichten haben, „[d]enn das wären Menschen ohne Persönlichkeit (Leibeigene, Sklaven)“, und auch für die Konstellation der Spalte 4, denn ein Wesen, das nur Rechte, aber keine Pflichten hat, also Gott, ist „kein Gegenstand möglicher Erfahrung“34. Es bleibt daher nur der Fall der Konstellation der Spalte 2, „denn es ist ein Verhältniß von Menschen zu Menschen“, also von „Wesen, die sowohl Recht als Pflicht haben.“ Nun könnte man zwar auf den ersten Blick den Fall der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ als Fall auffassen, in dem ein Mensch zu einem Menschen in einem „rechtlichen Verhältniß“ steht, und zwar der homo noumenon zu dem homo phaenomenon, aber das wäre schon deshalb nicht wirklich überzeugend, weil ja anders als beim „Normalfall“ des Verhältnisses unter Beteiligung von zwei verschiedenen Menschen hier bei der Pflicht gegen sich selbst eine offenkundige Asymmetrie vorliegt. Denn zwar mag es so sein, dass der homo noumenon Rechte gegenüber dem homo phaenomenon hat und der homo phaenomenon Pflichten gegenüber dem homo noumenon, eben die Pflichten gegen sich selbst. Aber der homo noumenon hat jedenfalls mit Sicherheit keine Pflichten gegenüber dem homo phaenomenon, so wenig wie dieser Rechte gegenüber jenem hat. Der homo phaenomenon hat mithin im Verhältnis zum homo noumenon lediglich Pflichten, aber keine Rechte, und der homo noumenon hat gegenüber dem homo phaenomenon lediglich Rechte, aber keine Pflichten. Das ist aber ein Verhältnis, das gerade durch die Konstellation der Spalte 4 abgebildet wird und das dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott korrespondiert, jedenfalls aber nicht dem zwischen zwei Menschen. Damit aber repräsentiert die „Rechtspflicht gegen sich selbst“ kein „reales Verhältniß zwischen Recht und Pflicht“. Vielmehr würde für die „Rechts-
_____________ 33 AA VI 241; MS (Rechtslehre). 34 AA VI 241; MS (Rechtslehre).
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pflicht gegen sich selbst“ dann auch das gelten, was für die Pflicht gegenüber Gott gilt, und zwar dass es eine transscendente Pflicht sein würde, d. i. eine solche, der kein äußeres verpflichtendes Subject correspondirend gegeben werden kann, mithin das Verhältniß in theoretischer Rücksicht hier nur ideal, d. i. zu einem Gedankendinge ist, was wir uns selbst, aber doch nicht durch seinen ganz leeren, sondern in Beziehung auf uns selbst und die Maximen der inneren Sittlichkeit, mithin in praktischer innerer Absicht fruchtbaren Begriff machen, worin denn auch unsere ganze immanente (ausführbare) Pflicht in diesem bloß gedachten Verhältnisse allein besteht.35
Man könnte nun immerhin noch erwägen, ob die „Rechtspflicht gegen sich selbst“ nicht in Spalte 1 eine gewisse Repräsentanz findet, indem es dort ja um das Verhältnis des Menschen zu Wesen geht, „die weder Recht noch Pflicht haben“, weil sie „vernunftlose Wesen“ sind. Der homo phaenomenon hat nun gerade per definitionem keine Vernunft, denn diese eignet dem Menschen nur qua homo noumenon. Zwar sagt Kant, dass es hier bei Spalte 1 um „vernunftlose Wesen“ geht, „die weder uns verbinden, noch von welchen wir können verbunden werden“36 (übrigens zwei inhaltlich kaum unterscheidbare Relativsätze), aber das lässt zumindest die Möglichkeit offen, dass wir (als vernunftbegabte Wesen) diese „vernunftlosen Wesen“ „verbinden“ könnten. Indes scheitert auch diese Option, die Verpflichtung des homo phaenomenon durch den homo noumenon in der Konstellation der Spalte 1 unterzubringen, schon daran, dass Kant an dieser Stelle explizit ein „Vacat.“ einsetzt.
V. Und nun schließlich zur Tugendlehre, in der Kant die Pflichten gegen sich selbst bekanntlich ausführlich erörtert.37 Dort sieht es mit der Pflichtensystematik jedoch in mehrerer Hinsicht ganz anders aus. So begegnet zunächst – ergänzend zu der aus der 1. Tabelle bekannten Dichotomie von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten – die Unterscheidung von enger und weiter Verbindlichkeit38: Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist
_____________ 35 AA VI 241f.; MS (Rechtslehre); vgl. dazu auch Mosbacher 2001, 90. 36 AA VI 241; MS (Rechtslehre). 37 AA VI 417ff.; MS (Tugendlehre). 38 AA VI 390; MS (Tugendlehre).
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seine Tugendhandlung. Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten.39
Anders als noch in der 1. Tabelle in der Rechtslehre schließt Kant nun aber nicht mehr aus, dass es auch vollkommene Pflichten geben kann, die Tugendpflichten sind. So wird in der Tugendlehre (1. Teil, Ethische Elementarlehre, 1. Buch), „von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst“ gehandelt.40 Dabei geht es zunächst um die Pflicht des Menschen zur „Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur“ und weiterhin um das Verbot der „Selbstentleibung“, das Verbot der „wohllüstigen Selbstschändung“, das Verbot der „Selbstbetäubung“.41 Insbesondere der Fall der „Selbstentleibung“ wird nicht als Fall einer Rechtspflichtverletzung, sondern (innerhalb der Tugendlehre natürlich konsequent) als Fall einer Tugendpflichtverletzung diskutiert. Nur vor diesem Hintergrund kann es dann auch zu den von Kant aufgeworfenen „kasuistischen Fragen“ kommen, die etwa darauf bezogen sind, ob man in bestimmten Fällen sein Leben aufopfern darf, „um das Vaterland zu retten“ oder „sich für das Heil des Menschengeschlechts überhaupt zum Opfer hinzugeben“.42 Hätten wir es hier mit einer vollkommenen Rechtspflicht zu tun, könnten derartige Kollisionsfragen schon nach dem Begriff einer vollkommenen Rechtspflicht kaum zur Debatte stehen. Aufgegeben hat Kant in der Tugendlehre nun jedenfalls die noch in der Rechtslehre (vgl. 1. Tabelle) strikt vorgenommene Identifizierung von vollkommenen Pflichten als Rechtspflichten einerseits und von unvollkommenen Pflichten als Tugendpflichten andererseits; denn sonst könnte es gar keine vollkommenen Tugendpflichten geben, wie sie in der Tugendlehre ausführlich behandelt werden. Der Ausdruck Rechtspflicht bleibt in der Tugendlehre ganz dem (Rechts-)Verhältnis zwischen zwei Personen vorbehalten; und nur hierauf wird rekurriert, wenn auf Rechtspflichten im Unterschied zu Tugendpflichten Bezug genommen wird. Dies, obwohl die von Kant ja im übrigen zugrunde gelegte These, dass das Recht äußeren Zwang zulasse, während dies bei der Tugend nicht der Fall sei, weil sie sich nicht auf äußere Handlungen beziehe, sondern auf Zwecke, die es zu verfolgen gilt, durchaus damit harmonieren würde, alle vollkommenen Pflichten dem Recht zuzuordnen. Man mag einwenden, dass eine Tugendpflicht, sich nicht selbst zu entleiben, ja nicht notwendig eine diesbezügliche Rechtspflicht ausschließe.
_____________ 39 AA VI 390; MS (Tugendlehre). 40 AA VI 421; MS (Tugendlehre). 41 AA VI 422ff.; MS (Tugendlehre). 42 AA VI 423; MS (Tugendlehre) mit weiteren Beispielen.
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Denn jeder Rechtspflicht kann – soweit sie mit naturrechtlichen Grundsätzen übereinstimmt und nicht bloß „statutarisches Recht“ ist – durchaus eine Tugendpflicht gleichsam unterlegt werden, die betreffende Pflicht nicht nur im Rahmen der Legalität, sondern auch der Moralität zu befolgen. So betont ja auch Kant, dass zwar alle Pflichten „entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist“, sind und deshalb die Tugendpflichten „aber darum nur keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck gehen, der […] zugleich Pflicht ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das“ könne „durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist)“. Doch er fügt hinzu: „obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die dahin führen, ohne doch daß das Subject sie sich zum Zweck macht“43. Das Vorhandensein einer Tugendpflicht würde demnach eine parallel gelagerte Rechtspflicht, die zu einem „inneren Act des Gemüths“ führt, nicht ausschließen. Aber dies ändert nichts an dem Befund, dass Kant zumindest in der Tugendlehre den Begriff der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ völlig aufgegeben zu haben scheint. Denn angesichts dessen, dass das Verbot der „Selbstentleibung“ in der Rechtslehre überhaupt nicht, sondern nur noch in der Tugendlehre als Tugendpflicht, und zudem auch noch – nimmt man Bezug auf die 1. Tabelle der Einleitung in die Rechtslehre systemwidrig – als vollkommene Tugendpflicht erörtert wird, wäre eine konsistente Trennung von Rechtspflichten, die in die Rechtslehre gehören, und Tugendpflichten, die in der Tugendlehre zu behandeln sind, sonst schlechterdings nicht mehr möglich. Will man insoweit nicht einen vollständigen „Umschwung“ in Kants Auffassung zum Begriff der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ annehmen, so geht dies m.E. nur, wenn man den Ausdruck „Recht“ im Fall der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ anders, und zwar schwächer, interpretiert als den Ausdruck „Recht“ im Falle der „Rechtspflicht gegen andere“. Eine solche Abschwächung des Ausdrucks „Recht“ in dem Begriff der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ etwa hin zu einem bloßen „Anspruch“ o.ä. würde dann aber auch signalisieren, dass die Erfüllung einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ jedenfalls nicht mehr von Rechts wegen erzwungen werden dürfte; und zwar dies ganz im Einklang mit Kants eigener Feststellung in der Tugendlehre:
_____________ 43 AA VI 239; MS (Rechtslehre).
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Aller Pflicht correspondirt ein Recht, als Befugnis (facultas moralis generatim)44 betrachtet, aber nicht aller Pflicht correspondiren Rechte eines Anderen (facultas iuridica) jemand zu zwingen; sondern diese heißen besonders Rechtspflichten.45
Folgt man dieser Interpretation des Zusammenhanges von kantischer Rechts- und Tugendlehre, dann verliert die „Rechtspflicht gegen sich selbst“ zumindest den Status einer vom Staat mit Zwangsmitteln durchsetzbaren Pflicht46 und wird jedenfalls insoweit den Tugendpflichten gleichgestellt.47 Dem Ausdruck „Rechtspflicht gegen sich selbst“ bliebe dann die Bedeutung, dass es bei dem „honeste vive“48 um eine auf Rechtsverhältnisse bezogene Pflicht geht, und zwar insofern als sie ja den Erhalt der je eigenen Rechtspersönlichkeit anstrebt. Aber die Pflicht wäre strukturell eine Tugendpflicht; ob man sie dann noch als „innere Rechtspflicht“ bezeichnen möchte, wäre dann jedenfalls keine inhaltliche Frage mehr, sondern bloß noch eine rein terminologische. Damit aber kann die oben so bezeichnete dritte liberale Botschaft der kantischen Lehre in ihrem vollen Umfang wieder aufleben: Die Freiheit des Einzelnen, über seine Rechtgüter zu disponieren (und sei es auch eine Disposition, die sogar jede Möglichkeit zur Freiheitsausübung aufhebt), kann nur im Wege von Tugendpflichten begrenzt, darf aber nicht durch den Staat mit Zwangsgesetzen eingeschränkt werden. Für das Strafrecht würde dies bedeuten, dass man die Lehre von den „Rechtspflichten gegen sich selbst“ jedenfalls nicht zur Begründung von strafbewehrten Einschränkungen der Dispositionsbefugnis des Einzelnen (und sei es auch über sein Leben) heranziehen kann. Die strafrechtlichen Konsequenzen, die daraus abzuleiten wären, wurden oben schon skizziert. Um es im Hinblick auf die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB noch einmal paradigmatisch zu illustrieren: Ein Rekurs auf eine „Rechtspflicht zum Weiterleben“, die auch eine Begrenzung der Dispositionsfreiheit hinsichtlich des Rechtsguts Leben nach sich zöge, wäre danach zur Begründung der Strafnorm des § 216 StGB jedenfalls ausge-
_____________ 44 Gemeint ist hier (wohl) die Befugnis, der Pflicht gemäß zu handeln, im Sinne der sog. relativen Erlaubnis; dazu näher Joerden 2005, 202 m.w.N.. 45 AA VI 383; MS (Tugendlehre). 46 So im Ergebnis etwa auch Mosbacher 2001, 88ff.; Murmann 2005, insbes. 178ff., 196ff. jeweils m.w.N. auch zur älteren diesbezüglichen Literatur. 47 Vgl. auch bereits Achenwall/Pütter 1750, § 198: „Allein die Pflichten, die aus dem Gesetz: Störe nicht die Erhaltung anderer, hervorgehen, sind vollkommen, die übrigen Pflichten gegen sich selbst und gegen andere gehören nicht zu den vollkommenen.“ 48 Vgl. obiges Zitat bei Fn. 15.
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schlossen.49 Man müsste zu ihrer Legitimierung schon im Einzelnen zeigen, dass durch eine Freigabe der Tötung auf Verlangen Rechtsgüter anderer Personen als jene des Verlangenden zumindest gefährdet werden. § 216 StGB wäre damit nur noch als Verbotsnorm im Sinne eines sog. (abstrakten) Gefährdungsdelikts aufrechtzuerhalten, was dann allerdings ggf. auch die Option der Ausnahme für die Fälle eröffnen würde, in denen eine solche Gefährdung Anderer klar ausgeschlossen werden könnte.50 Eine derartige „Rettung“ der dritten liberalen Botschaft vor einer gegen sie ins Feld geführten strengen Konzeption einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ erschiene mithin sogar mit Kants aus Rechts- und Tugendlehre insgesamt ableitbaren Vorstellungen vereinbar.
Literatur Achenwall, Georg / Pütter, Johann Stephan (1750): Elementa Iuris Naturae, Göttingen; hier verwendet in der zweisprachigen Ausgabe, Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa Iuris Naturae), hrsg. und übersetzt von Jan Schröder, Frankfurt/Main und Leipzig 1995. Geismann, Georg (2006): „Recht und Moral in der Philosophie Kants“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Bd. 14, 3-124. Hirsch, Andrew von / Neumann, Ulfrid (2007): „‚Indirekter‘ Paternalismus im Strafrecht am Beispiel der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB)“, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 671-694. Hruschka, Joachim (2003): „Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre“, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 115, 201-223. Jakobs, Günther (2003): „Rezension zu: Asmus Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtsverstoß“, Goltdammer’s Archiv 150, 65-67. Joerden, Jan C. (2005): Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, Berlin. Kant, Immanuel (1900ff.); hier zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a., Berlin.
_____________ 49 Anders allerdings Köhler 2006, 442ff., der dafür plädiert, insoweit zwischen Selbstverfügung und einverständlicher Fremdverfügung zu unterscheiden, wobei das Verbot von letzterer staatlich erzwingbar bleibe und somit auch die Regelung des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) legitimierbar sei; vgl. dazu schon obige Fn. 28. 50 Weiterführend dazu von Hirsch/Neumann 2007.
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Köhler, Michael (2006): „Die Rechtspflicht gegen sich selbst“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Bd. 14, Berlin, 425-446. Kühl, Kristian (2006): „Zur Abgrenzung des Rechts von Sittlichkeit, guten Sitten und Tugenden“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Bd. 14, 243-258. Maatsch, Asmus (1999): Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtsverstoß. Zum Strafunrecht einverständlicher Sterbehilfe, Berlin. Mosbacher, Andreas (2001): Strafrecht und Selbstschädigung. Die Strafbarkeit ‚opferloser‘ Delikte im Lichte der Rechtsphilosophie Kants, Berlin. Murmann, Uwe (2005): Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, Berlin. Nitschmann, Kathrin (2007): „Chirurgie für die Seele? Eine Fallstudie zu Gegenstand und Grenzen der Sittenwidrigkeitsklausel“, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 119, 547-592.
„nur weil er verbrochen hat“ – Menschenwürde und Vergeltung in Kants Strafrechtsphilosophie Georg Mohr
1. Abschied von Kant? 1968 schreibt Ulrich Klug in seinem berühmt-berüchtigten Aufsatz „Abschied von Kant und Hegel“: „Kants heller Geist scheint in seiner Straftheorie durch depressive Visionen verdunkelt.“1 „Es ist hohe Zeit, die Straftheorien von Kant und Hegel mit ihren irrationalen gedankenlyrischen Exzessen in all ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Fragwürdigkeit endgültig zu verabschieden.“2 Klugs Hauptangriffspunkt ist Kants (und Hegels) Vergeltungstheorie der Strafe: die These, dass der Täter nicht zum Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der sozialen Ordnung, des Wohls der Gemeinschaft und seiner eigenen Besserung zu bestrafen sei, sondern allein um der Gerechtigkeit willen nach dem Prinzip der Gleichheit von Tat und Strafe. Klugs vehemente Verabschiedung Kants als Strafrechtsphilosoph ist in einem für wissenschaftliche Argumentationen ungewöhnlich diffamierenden Ton formuliert, aufgeladen offenbar von einer heftigen Aversion gegen die Thesen und gegen die Sprache Kants in dem für seine Strafrechtsphilosophie zentralen Textabschnitt der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von 1797.3 Sie ermutigt nicht dazu, Kants Strafrechtsphilosophie als einen konstruktiven Beitrag zur „Zukunft der Aufklärung“ zu erörtern. Diese Bilanz verschärft sich noch, wenn man berücksichtigt, dass schon Kants Zeitgenossen, selbst solche, die seine Vernunftkritik im Allgemeinen und den Grundansatz seiner Moralphilosophie im Besonderen
_____________ 1 Klug 1968, 36/275. 2 Klug 1968, 41/280. 3 Kant 1797, Rechtslehre, § 49 Allgemeine Anmerkung, E, AA VI 331-337, und Anhang erläuternder Bemerkungen, 5. Abschn., AA VI 362-363.
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schätzten, seine Strafrechtsphilosophie als eine anachronistische Theorie kritisierten, die eine durch die Aufklärung bereits überwundene theologisierende, geradezu „alttestamentarische“ Denkweise wiederbelebe und damit hinter den durch die Aufklärung schon erreichten Stand der Straftheorie wieder zurückfalle.4 Der Tonfall von Klugs Aufsatz erklärt sich nicht zuletzt durch den zeitgeschichtlichen Kontext, in dem er entstanden ist. Er nimmt Stellung zu einem Streit, der in den 1960er Jahren in der BRD um den Begriff und den Zweck der staatlichen Rechtsstrafe geführt wird. Anlass dieses Streits ist die damals anstehende Reform des westdeutschen Strafrechts. Gegen einen Regierungsentwurf von 19625 wird 1966 von Klug und anderen ein Alternativ-Entwurf vorgelegt6. Die Reformvorschläge beschränken sich nicht auf vereinzelte Korrekturen in der Beschreibung von Straftatbeständen und der Bemessung von Rechtsfolgen. Sie erstrecken sich vielmehr auf den begrifflichen Gesamtrahmen des Rechtsinstituts der staatlichen Strafe. Die Debatten führen zurück zu rechtsphilosophischen Grundsatzfragen: Was ist unter Strafe im Sinne eines modernen Rechtsstaats zu verstehen? Welchen Sinn und Zweck soll Strafe in einem modernen Rechtsstaat haben? Wie ist Strafe als Rechtsinstitut zu rechtfertigen? Nach welchen Kriterien und Maßstäben hat ein Rechtsstaat bei der Strafzumessung zu verfahren? Mit ihren Antworten auf solche grundlegenden Fragen definiert eine Gesellschaft das normative Profil ihrer Rechtskultur.7 Dieser Umstand macht das Engagement verständlich, mit dem die Debatten im deutschen Bundestag und seinen Expertenkommissionen in den 1960er Jahren geführt werden. Hinzu kommt in der für die BRD damals signifikanten politikhistorischen Lage jedoch, dass eine Revision des Strafrechts vor dem Hintergrund seines Alters (Ausfertigungsdatum: 15.05.1871), seiner ideologischen Geschichte (mit Relikten aus Monarchie und Nationalsozialismus) und der Geschichte seines Missbrauchs (vor allem von 1933 bis 1945) längst überfällig geworden war. Man spürt in Klugs Duktus das Bedürfnis nach einem Befreiungsschlag gegen politisch so unbeugsam gewordene wie wissenschaftlich erstarrte Dogmen der deutschen Strafrechtstheorie der 1950er und 1960er Jahre. Insbesondere die Rede von Schuld und Vergeltung war in den Verdacht gekommen, ungeprüft nur re-
_____________ 4 Vgl. dazu etwa Klippel 2001, 100ff., und Hüning 2004, 333-347. 5 Vgl. Vormbaum 1993, Bd. 2, 316. 6 Vgl. Baumann 1968. Weitere Angaben dazu bei Vormbaum 1993, Bd. 2, 316-317. 7 Zum Begriff der Rechtskultur vgl. Mohr 2008.
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produziert worden zu sein, ihre unangetastet fortgesetzte Anwendung in der Rechtspraxis erschien nicht mehr gerechtfertigt. Die in den 1960er Jahren geführten Debatten über eine Reform des westdeutschen Strafrechts, die erst 1975 mit dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches zu einem Abschluss kam, werden ihrem ins Grundsätzliche gehenden Charakter entsprechend erheblich von der Kontroverse bestimmt, ob Vergeltung (Retribution) oder Verhütung (Prävention) als legitimierender Strafzweck in einem modernen Rechtsstaat zu gelten habe.
2. Strafzwecktheorien Der Streit über die legitimierenden Zwecke eines Strafrechts hat eine lange Geschichte. Seit der Antike haben sich im Wesentlichen drei Straftheorien herausgebildet, die auf zwei strafzwecktheoretische Grundtypen zurückgehen. Bis heute bilden sie die Eckpunkte der Kontroversen. Nach der ältesten8 Straftheorie ist Vergeltung, also retrospektive Beantwortung eines (in der Vergangenheit) geschehenen Unrechts, der Zweck der Strafe. Der Grundsatz solcher „absoluter“ oder „Retributionstheorien“ lautet: Punitur, quia peccatum est. – Es wird gestraft, weil Unrecht begangen worden ist. Kant scheint diesen Theorietyp verteidigen zu wollen. Die mit der Vergeltungstheorie schon seit der Antike konkurrierende Strafbegründungskonzeption ist die „relative“ oder „Präventionstheorie“. Ihr Grundsatz lautet: Punitur, ne peccetur. – Es wird gestraft, damit kein Unrecht begangen wird.9 Der Präventionstheorie zufolge ist Strafe durch den im Sinne der Rechtskonformität verhaltensregulierenden Effekt begründet, den sie erzielen soll. Präventionstheorien sehen die Aufgabe der Strafe und ihre Berechtigung darin, dass durch die Androhung der Strafe, verbunden mit der Erwartung der tatsächlichen Ahndung der Straftat und Vollstreckung der Strafe, bestimmte gesellschaftlich wünschenswerte Ziele verfolgt werden, die nur mit ihrer Hilfe erreicht werden können. Strafe wird also legitimiert relativ zu einem vorgegebenen Zweck, die betreffenden Theorien werden daher auch „relative“ Theorien genannt. Sie sind konsequentialistisch, da es um die Folgen des Strafens geht. Rechtfertigendes Ziel des Strafens ist das Ausbleiben von Straftaten, also deren Verhütung. Theorien der negativen Generalprävention stellen auf den die Allgemeinheit
_____________ 8 Vgl. Kelsen 1941, XXXV. 9 Die klassischen Belegstellen für die frühe Kontroverse zwischen diesen beiden Grundpositionen sind Platon, Protagoras 324a, Nomoi XI 934a, und Seneca, De ira, liber I, cap. XIX, 7.
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von Straftaten abschreckenden Effekt der Strafandrohung ab: Die angedrohte Sanktion soll für potentielle Straftäter ein größeres ‚Übel‘ und damit ein stärkeres Motiv zum Verzicht auf die Tat darstellen, als es der vom potentiellen Straftäter aus der Tat erwartete Nutzen wäre. Als positive Generalprävention wird Strafe dann und insofern wirksam, wenn ihre Androhung von der Gesellschaft verstanden wird als ein ‚Nachdruck‘, der der Geltung des Gesetzes verschafft werden soll und so die allgemeine Motivation zur Rechtstreue hervorruft oder bekräftigt. Theorien der Spezialprävention zielen auf Besserung straffällig gewordener Personen ab. Der legitimierende Strafzweck bestehe darin, dass diese durch den Strafvollzug von weiteren Straftaten abgehalten (negative Spezialprävention) und zu rechtskonformem Verhalten resozialisiert werden (positive Spezialprävention). Präventionstheorien sind utilitaristisch, da sie den Nutzen, den sie in dem durch Verhütung von Straftaten erzielten gesellschaftlichen Zustand (Sicherheit) sehen, zum Maßstab der Legitimation der Strafe machen. Zwischen diesen konzeptionellen Eckpunkten: Vergeltung versus Verhütung (Abschreckung/ Besserung), Retribution versus Prävention, bewegt sich die Straftheorie bis heute. Das Ergebnis der Reform-Debatte der 1960er Jahre ist eine grundsätzliche Relativierung der klassischen Schuld- und Vergeltungstheorien. Gemäß der seither in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur so genannten „Vereinigungstheorie“ rechtfertigen Schuld und Vergeltung Strafe nicht für sich allein, sondern nur in wechselseitiger Ergänzung und Begrenzung mit Abschreckungsund Besserungszwecken. Bedenkt man, dass schon die Strafrechtsphilosophie der Aufklärung in erheblichem Maße von einer Zurücknahme traditioneller Vergeltungstheorien zugunsten neuzeitlicher Verhütungstheorien (Abschreckung und Besserung als Strafzwecke) geprägt war10, so erscheint die deutsche Strafrechtsreform von 1975 wie ein nachträglicher und nachdrücklicher Aufklärungs-Schub im Strafrecht.
3. Aufklärung, Strafrecht, Menschenwürde Eines der wichtigsten Merkmale einer sich als ‚aufgeklärt‘ bezeichnenden Straftheorie ist, dass sie sowohl den Begriff und den Zweck des Rechtsinstituts der Strafe als auch die Kriterien der Strafzumessung vollständig von emotionalen, mythischen und religiösen Motiven wie Genugtuung, Ressentiment, Rache, Reinigung, Erlösung oder dergleichen abkoppelt und ausschließlich auf rationale Prinzipien gründet. So gilt es insbesondere als
_____________ 10 Siehe etwa Seelmann 1987 und Cattaneo 1998.
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‚aufgeklärt‘, wenn die Täterperson durch die Rechtsstrafe konsequent rechtlich behandelt wird. Gegen alle ‚spontanen‘ Gefühlsregungen gegenüber dem Verbrecher, deren unmittelbare Äußerung und Anwendung in Lynchjustiz münden (können), fordert ein aufgeklärtes Strafrechtsdenken die rational disziplinierte Beachtung gesetzlich bestimmter Verfahren. Ein Grundgedanke des modernen ‚aufgeklärten‘ Rechtsstaats ist, dass jedem Menschen zu jeder Zeit der Rechtsweg offen steht und dass die öffentlichen Gewalten ihrerseits an Recht und Gesetz gebunden sind. Auch die Justiz ist zu nichts anderem als zur Anwendung geltenden Rechts befugt. Dies ist eines der wesentlichen Prinzipien des modernen Rechtsstaats. Es ist gekoppelt mit einem weiteren Prinzip rechtsstaatlicher Verfassungen, wonach geltendes Recht ausweislich mit höherrangigen individuell einklagbaren Grundrechten, die in der Verfassung als solche zu kennzeichnen und vom Staat zu sichern sind, vereinbar sein muss. Die Kopplung dieser beiden Prinzipien hat ihr wesentliches normatives Fundament wiederum im Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde. So jedenfalls bringt es das deutsche Grundgesetz dadurch zum Ausdruck, dass es das Menschenwürde-Prinzip – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – in Art. 1 dem Grundrechte-Katalog und der Staatslehre (Staatsstruktur, Institutionen) als deren normative Grundorientierung voranstellt. Der Staat hat jeden Menschen rechtlich zu schützen und er hat den Rechtsschutz stets im Sinne der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu gewährleisten. So vertritt das Bundesverfassungsgericht explizit die Auffassung: „Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 6, 32 [41]; 27, 1 [6]; 30, 173 [193]; 32, 98 [108]). Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen.“11 Ein Minimalsinn von Menschenwürde im Recht ist die Rechtssubjektivität: Der Staat als rechtliche Institution ist nur befugt, rechtlich zu handeln, und dies bedeutet, er darf Menschen nie als rechtlose Objekte (Sachen), sondern muss sie stets als Rechtssubjekte (Personen) behandeln. Dies gilt auch für das Strafrecht. Auch im Umgang mit Straftätern ist der Staat an das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde und der Rechtssubjektivität eines jeden Menschen rechtlich gebunden. Auch der Straftäter ist und bleibt Rechtssubjekt. Das Menschenwürde-Prinzip ist demnach auch
_____________ 11 BVerfGE, Bd. 45,227 [21. Juni 1977] (BVerfGA 41,482).
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für die Bestimmung des Strafzwecks und der Strafzumessungskriterien bindend.
4. Kant und der verfassungsrechtliche Menschenwürde-Begriff Die verfassungsrechtliche Auslegung des Menschenwürde-Begriffs in Art. 1 des Grundgesetzes ist stark von Kant beeinflusst. Laut Reinhard Merkel etwa hat „Kant […] dem Menschenwürdebegriff seine bis in die Judikatur des BVerfG verbindliche Prägung gegeben“.12 Als die von Kant inspirierte Auffassung von Menschenwürde gilt bis heute weitgehend die von Günter Dürig im alten GG-Kommentar verwendete „Objekt-Formel“: „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“13 Diese Auffassung wird auch vom Bundesverfassungsgericht vertreten: „Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen.“14 In seinem Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe von 1977 wiederholt das Bundesverfassungsgericht wörtlich diese Auffassung und erklärt im unmittelbaren Anschluss daran: „Der Satz‚ ‚der Mensch muss immer Zweck an sich selbst bleiben‘, gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“ Das Gericht bezieht diese Forderung sodann explizit auf das Strafrecht: Das Gebot zur Achtung der Menschenwürde bedeutet insbesondere, daß grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind (BVerfGE 1, 332 [348]; 6, 389 [439]). Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wertanspruchs und Achtungsanspruchs gemacht werden (BVerfGE 28, 389 [391]).15
Damit hat das Bundesverfassungsgericht, zumal in einem direkt das Strafrecht betreffenden Urteil, auch das Strafrecht explizit auf die Bindung an das Menschenwürde-Prinzip verpflichtet.
_____________ 12 Merkel 2001, 56. Vgl. auch Kim 1983. Zur Rezeption von Kants Strafrechtsphilosophie im 19. Jahrhundert vgl. Naucke 1969. 13 Dürig 1958, 127; siehe dazu auch Jaber 2003, 229. 14 BVerfGE 27,1,6 [16. Juli 1969]. 15 BVerfGE 45,187,228 (BVerfGA 41,483).
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Dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht die Bindung des Strafrechts an die Menschenwürde explizit mit der ‚Objekt-Formel‘ begründet, nimmt es, sofern diese als von Kant inspiriert zu verstehen ist, eine indirekte Anwendung von Kants Menschenwürde-Prinzip auf das Strafrecht vor. Hinzu kommt, dass Kant ebenso in den strafrechtsphilosophischen Debatten, neben und trotz aller Kritik an seiner Straftheorie, immer wieder auch affirmativ zitiert wird. Dabei wird regelmäßig die zentrale Textstelle in § 49 der Rechtslehre herangezogen (auf die noch einzugehen sein wird), an der Kant ein Argument gegen Verhütung (Abschreckung, Besserung) und für Vergeltung als Strafrechtfertigungszweck verwendet, das auf das Menschenwürde-Prinzip im Sinne der Objekt-Formel zurückzugreifen scheint. Kant wird daher häufig so verstanden, dass er Präventionstheorien der Strafe deswegen ablehne und Vergeltung als einzig legitimen Strafzweck deswegen verteidige, weil er (a) dem Menschenwürde-Prinzip einen nicht zu übertrumpfenden normativen Rang zuspreche, (b) daher auch den Straftäter unter den Schutz des Menschenwürde-Prinzips stelle und (c) die Menschenwürde des Straftäters durch die Präventionstheorie verletzt sehe, da sie diesen „bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen […] handhabt“16. Ein wichtiger Grund, warum trotz aller Kritik Kants Straftheorie immer wieder auch affirmativ zitiert wird, ist also die Autorität, die sein Menschenwürde-Prinzip bis heute nicht nur in allen moral- und rechtsphilosophischen Debatten, sondern auch im Verfassungsrecht und Strafrecht sowie im öffentlichen Bewusstsein genießt. Diese durchaus verbreitete Sicht ist jedoch mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert. Zum einen ist philologisch betrachtet, wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, Kants Verwendung des Menschenwürde-Prinzips im Kontext seiner strafphilosophischen Ausführungen alles andere als eindeutig (1). Und zum anderen ist sachlich die Triftigkeit des Kant unterstellten Arguments, wonach nur eine Vergeltungstheorie der Rechtsstrafe mit dem Menschenwürde-Prinzip vereinbar ist, durchaus fraglich (2). Im Folgenden stelle ich nach einer kurzen Betrachtung von Kants Begriff der Würde des Menschen (5,6) Kants Straftheorie in Grundzügen dar (7,8) und benenne Probleme, die sie aufwirft, sowie einige Punkte, die meines Erachtens auch für das gegenwärtige Strafrecht positiv relevant bleiben (912).
_____________ 16 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E., AA VI 331.
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5. Kants Begriff der Würde der Menschheit (in der Person eines jeden) Der heute vielleicht am meisten zitierte Satz aus Kants praktischer Philosophie ist diejenige Formel des kategorischen Imperativs, die als die „Selbstzweck-Formel“ oder auch als das „Personalitätsprinzip“ bezeichnet werden kann und sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten findet. Sie fordert so zu handeln, dass „die Menschheit“ in der Person eines jeden „jederzeit zugleich als Zweck“ geachtet, „niemals bloß als Mittel [ge]brauch[t]“ wird.17 Der Mensch, so Kant, und „überhaupt jedes vernünftige Wesen […] muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen zugleich als Zweck betrachtet werden“.18 „Würde“ hat nach Kant dasjenige, was „über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“: der „Mensch, als Person betrachtet“; Würde ist „innerer“, „absoluter“ Wert.19 In einer Reflexion aus den 1780er Jahren notiert Kant: Die Würde der Menschheit in seiner eignen Persohn ist die Persönlichkeit selbst, d.i. die freyheit; denn er ist nur Zwek an sich selbst, so fern er ein wesen ist, daß sich selbst Zweke setzen kan. Die Vernunftlose, die das nicht könen, haben nur den Werth der Mittel.20
Auch noch in der späteren Tugendlehre der Metaphysik der Sitten bezieht Kant explizit den Würde-Begriff auf die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Dort heißt es in § 38: Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich […] über alle Sachen erhebt.21
Diese kantischen Bestimmungen werden heute meistens so verstanden, dass Menschen niemals als bloße „Objekte“ behandelt, dass sie nicht „instrumentalisiert“ werden dürfen. Als normativer Kern von Kants WürdeBegriff wird damit das „Instrumentalisierungsverbot“ gesehen. Ohne hier im einzelnen alle relevanten Textstellen durchgehen zu können, sind für den vorliegenden Zusammenhang fünf Aspekte festzu-
_____________ 17 Kant 1785, AA IV 429. 18 Kant 1785, AA IV 428. 19 Kant 1785, AA IV 434f. 20 Kant, Refl. 7305 (1780-89), AA XIX 307. 21 Kant 1797, Tugendlehre, § 38, AA VI 462.
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halten, die laut Kant wesentlich dafür sind, dass der Mensch als „Zweck an sich selbst“ zu charakterisieren ist: – – – – –
das Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, Autonomie qua Selbstsetzung allgemeiner Gesetze, die Fähigkeit der Evaluierung von Zwecken nach selbst gesetzten Prinzipien, die Freiheit, aufgrund der Einsicht in die Gültigkeit selbst gesetzter Prinzipien sich diesen gemäß selbst zum Handeln zu bestimmen, sowie die „Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), [d.h.] das moralische Gefühl“ (Affizierbarkeit durch Vernunftbegriffe).22
6. Menschenwürde in Kants Rechtsphilosophie? Ganz entgegen dem Anschein, den die zahlreichen heute auf Kant Bezug nehmenden Diskurse zu rechtstheoretischen und rechtsethischen Fragen erwecken, kommt der Terminus „Menschenwürde“ in Kants Rechtsphilosophie wörtlich nicht vor. Kant nennt allerdings schon in der Einleitung in die Rechtslehre die Freiheit im Sinne der „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“, das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“.23 Er wählt damit eine Formulierung, die ohne weiteres als Äquivalent zum semantischen Kerngehalt des heutigen Begriffs vom Menschenrecht verstanden werden kann. Die im letzten Abschnitt exemplarisch herangezogenen Zitate zeigen außerdem, dass wir bei Kant in dem semantischen Feld, das der Begriff der Menschenwürde nach heutigem Sprachgebrauch absteckt, eine ‚Wortfamilie‘ vorfinden, in der „Menschheit“, „Person“, „Persönlichkeit“ und „Würde“ wechselseitig aufeinander bezogen sind. Der Begriff der „angeborenen Persönlichkeit“ taucht in Kants Strafrechtsphilosophie wieder auf. Die argumentative Funktion, die er dort übernimmt, wird weiter unten genauer zu untersuchen sein. Aber auch von „Würde“ ist in der Rechtslehre die Rede: in § 49 in Abschnitt D, also in demjenigen Abschnitt, der dem das Strafrecht thematisierenden Abschnitt E unmittelbar vorausgeht, und zwar in drei verschie-
_____________ 22 Kant 1797, Tugendlehre, Einleitung, Abschn. XII.a., AA VI 400, H.v.m. – Dazu ausführlicher Mohr 2007. 23 Kant 1797, Rechtslehre, Einleitung, AA VI 237.
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denen Bedeutungen, von denen jedoch keine den oben eingeführten fundamentalen Begriff der Würde der (moralischen) Persönlichkeit betrifft. Ganz im Sinne der historisch primären Bedeutung des Würde-Begriffs verwendet Kant ihn zunächst als sozialen Distinktionsbegriff, der innerhalb eines Gemeinwesens einen Unterschied (1) zwischen Ämtern und Bürgern sowie (2) zwischen den Bürgern bzw. Ständen untereinander macht. Die Würde des Amtes ist an eine „mit einer Besoldung verbundene[] Geschäftsführung“ und insofern an „besondere Bedienungen“24 gebunden, während die Würde des Adels ein dienst- und verdienstunabhängiger Rang ist. Kant erwähnt diese zweite Bedeutung von Würde anlässlich der Erörterung der (von Kant verneinten) Frage, ob es einen Adelsstand und insbesondere einen Erbadel geben soll. Ein Angehöriger des Adelsstandes hat eine ihn von Nichtadligen unterscheidende, ‚höhere‘ Würde. Seine Würde besteht wesentlich in der Relation der Abgrenzung von anderen, die einen ‚niederen Stand‘ haben. In diesem Sinne sozialer Distinktion kommt den Staatsbürgern unterschiedliche, sie untereinander distingierende Würde zu. Schließlich führt Kant als dritten Würde-Begriff die Würde des Staatsbürgers ein: „Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staatsbürgers“25. Die Würde des Staatsbürgers ist insofern kein Distinktionsbegriff, als sie den Staatsbürgern nicht in Bezug auf unterscheidende Merkmale (Stand, Besitz, Herkunft, Vermögen etc.) in unterschiedlicher Weise, sondern allen als Staatsbürgern in gleicher Weise und nur mit Bezug auf die Staatsbürgerschaft als solche zukommt. Was allen Staatsbürgern als solchen ohne Unterschied zuzusprechen ist, ist im Rahmen einer republikanischen Rechts- und Staatstheorie wie der kantischen ihre Rechtssubjektivität. Der allen Bürgern gemeinsame Status ist diesem Verständnis zufolge der von Personen mit zwangsbewehrten subjektiven Rechten. Im Unterschied zu einem sozialen Distinktionsbegriff wie dem der Würde des Adels ist dieser Begriff der Würde des Staatsbürgers ein allgemeiner Rechtsbegriff. Diese drei Würde-Begriffe: des Amtes, des Adels und des Staatsbürgers, sind kategorial zu unterscheiden von dem Prinzip der Würde der moralischen Persönlichkeit, das die Achtung des Menschen als Selbstzweck gebietet. Jedoch haben die Grundsätze von Kants politischer Philosophie und Philosophie des Staatsrechts einen ganz unverkennbaren sachlichen Zusammenhang auch mit dem grundlegenderen, den drei oben genannten Würde-Begriffen noch vorgelagerten Würde-Prinzip seiner
_____________ 24 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., D, AA VI 328. 25 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., D, AA VI 329. Der Satz fährt fort: „außer, wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat“. Auf diesen Teil des Satzes wird unten noch einzugehen sein.
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Moralphilosophie, selbst wenn dieses nicht explizit herangezogen wird. Dies kann ich hier nur exemplarisch belegen. Im Gemeinspruch lautet Kants Grundsatz, der unmittelbar an Rousseaus Prinzip der Volkssouveränität anschließt: „Was ein Volk über sich selbst nicht beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über sein Volk beschließen.“26 Den philosophischen Gehalt dieses Grundsatzes erläutert Kant in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten. Dort nennt er diejenigen „rechtlichen Attribute“, die vom „Staatsbürger“ seinem „Wesen“ nach „unabtrennlich“ sind: gesetzliche Freiheit, bürgerliche Gleichheit, bürgerliche Selbständigkeit. Unter der „gesetzlichen Freiheit“ ist laut Kant die Freiheit – wir können auch sagen: der Anspruch – zu verstehen, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“. Und die „bürgerliche Selbständigkeit“ besteht darin, „seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können“; Kant nennt dies auch die „bürgerliche Persönlichkeit“.27 Beides, Volkssouveränität sowie bürgerliche Freiheit und Selbständigkeit, sind Merkmale des Rechtsstaats, die unmittelbar auf dem allgemeinen Prinzip der Selbstgesetzgebung, d.i. der Autonomie vernünftiger Wesen beruhen und insofern als rechtliche (rechtsphilosophische) Artikulationen des allgemeinen Würde-Prinzips verstanden werden können. Insofern gibt es sachlich bei Kant sehr wohl einen Rückbezug des Rechts auf den Gedanken der Menschenwürde, wenn dieser auch nicht dadurch zum Ausdruck kommt, dass Kant dieses Prinzip in der Rechtslehre eigens noch einmal wörtlich zitierte. Genauer: Die „unabtrennlichen Attribute“ des Staatsbürgers, Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit lassen sich verstehen (und werden offenkundig von Kant verstanden) als eine Übertragung des Gehalts des Würde-Prinzips auf den Begriff des Staatsbürgers. Was zunächst nur auf vernünftige Wesen im Allgemeinen und auf Menschen im Besonderen bezogen war, wird nun auf fundamentale Kriterien der Rechtsstellung von Staatsbürgern angewandt. Insofern gilt das Personalitätsprinzip auch im Recht.
_____________ 26 Kant 1793, AA VIII 304. 27 Kant 1797, Rechtslehre, § 46, AA VI 314.
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7. Begriff und Zweck der Strafe: Gerechtigkeit In der Kritik der praktischen Vernunft bestimmt Kant Strafe als „physisches Übel, welches […] mit dem moralisch Bösen […] als Folge nach Principien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden“ muss; „alles Verbrechen [ist] für sich strafbar“.28 In den Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht notiert Kant: „Strafe ist ein Übel welches jemand […] darum erleidet […] weil er eine andere That der Übertretung seiner Verbindlichkeit verübte“29. Laut einer allgemeinen Bestimmung in der Rechtslehre ist Strafe der „rechtliche Effect einer Verschuldung“30. Zum Wesentlichen des Begriffs der Strafe gehört nach Kant, dass in „jeder Strafe als solcher […] zuerst Gerechtigkeit sein“ muss.31 Das Strafrecht ist laut Beginn des StrafrechtsKapitels der Rechtslehre das „Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“32. Die Rechtsstrafe ist ein „actus der öffentlichen Gerechtigkeit also des Oberen im Staat gegen den Untergebenen ihm ein Übel zuzufügen was der Läsion gemäs ist die er an einem Anderen (Bürger, passiv oder activ) begangen hat“33. Eine begriffliche Implikation des Begriffs der Strafgerechtigkeit ist, wie es dann im Anhang zur Rechtslehre heißt, dass nicht „willkürlich“ gestraft wird; der Verbrecher darf „nicht klagen, daß ihm unrecht geschehe“.34 Diese begrifflichen Bestimmungen teils aufgreifend, teils fortführend lautet die zentrale These Kants zum Strafzweck: Richterliche Strafe (poena forensis), die von der natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt, verschieden, kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern
_____________ 28 Kant 1788, § 8, AA V 37-38. 29 Kant, Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten, AA XXIII 352. 30 Kant 1797, Einleitung, AA VI 227. Vgl. Kant 1797, Tugendlehre, § 36, AA VI 460: „Eine jede das Recht eines Menschen kränkende That verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Thäter gerächt (nicht blos der zugefügte Schade ersetzt) wird. Nun ist aber Strafe nicht ein Act der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über Alle, die demselben unterworfen sind, Effect giebt“. 31 Kant 1788, § 8, AA V 37-38. 32 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 331. „Strafe findet nur im Verhältnisse eines Obern (imperans) gegen den Unterworfenen (subditum) statt“ (ebd., § 57, AA VI 347). 33 Kant, Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten, AA XXIII 343. 34 Kant 1797, Rechtslehre, Anhang, 5., AA VI 363.
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für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat35.
In der klassischen Kontroverse zwischen Vergeltungstheorie und Abschreckungstheorie (Präventionstheorie) verteidigt Kant die Vergeltungstheorie. Nur diese wendet nach Kant ausschließlich Gerechtigkeitskriterien an. Die Präventionstheorie hingegen, die die Rechtsstrafe wegen der Nützlichkeit der abschreckenden Wirkung von Strafandrohungen sowohl auf die Gesellschaft insgesamt als auch auf den einzelnen Täter in seinem zukünftigen Verhalten legitimiert, kritisiert Kant dafür, dass die Strafe dann „bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern […] verhängt“ würde.36 Durch den Vorrang von Effektivitätsgesichtspunkten gegenüber Gerechtigkeitskriterien würde der straffällig gewordene Mensch auch selbst zum Mittel rechtspolitischer Strategien gemacht und damit „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“37. Dies aber sei unzulässig, „denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt“ werden. Kant greift hier ganz offenkundig auf die Selbstzweckformel aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zurück, nach der die Menschheit in der Person eines jeden als „Zweck an sich selbst“ anzusehen ist. Hier, in der Rechtslehre, nennt Kant dies die „angeborne Persönlichkeit“. Sie komme jedem Menschen zu und „schütze“ auch den Täter davor, „bloß als Mittel gehandhabt“ zu werden. Mit dem Attribut „angeboren“ qualifiziert Kant die Persönlichkeit (Selbstzweckhaftigkeit) als unverlierbare, „unantastbare“. Sie wird nicht erworben und ist damit nicht an Verdienst und Gegenleistung geknüpft. Diese axiologische Qualifizierung der Persönlichkeit entspricht der Würde der Menschheit, die keinen Preis (Äquivalent), sondern einen „inneren“ Wert hat. In diesem Sinne ist das Argument der angeborenen Persönlichkeit ein Argument aus der Würde der Menschheit in der Person eines jeden. Wenn ein Mensch „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“ und damit „bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt“ wird, so wird damit seine „angeborene Persönlichkeit“, d.i. die Würde der Menschheit in seiner Person verletzt. Dieses Prinzip der angeborenen Persönlichkeit und unverlierbaren Würde des Menschen, das bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eingeführt wird als eine Formel des „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“ (wie Kant es später in der Kritik der praktischen Vernunft
_____________ 35 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. E. I., AA VI 331. 36 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. E. I., AA VI 331. 37 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. E. I., AA VI 331.
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nennt38), versteht Kant offenbar als ein überpositives Prinzip, das für jede Rechtsordnung und für die Ausgestaltung aller Rechtsgebiete, auch für das Strafrecht, verbindlich ist. Auch noch im Strafrecht gilt bei Kant, dass die „angeborne Persönlichkeit“ jedes Menschen, also auch des Verbrechers, unverlierbar ist. Von der angeborenen Persönlichkeit ist nach Kant die „bürgerliche Persönlichkeit“ zu unterscheiden, die konstitutiv für die Würde des Staatsbürgers ist. Die bürgerliche Persönlichkeit kann der Verbrecher, im Gegensatz zur angeborenen Persönlichkeit, laut § 49 Rechtslehre, „einzubüßen gar wohl verurtheilt werden“ und damit seine Würde als Staatsbürger verlieren.39 Den Verlust der Würde des Staatsbürgers verursacht der Verbrecher selbst, indem er sich durch das Verbrechen des Rechts beraubt, das er anderen durch seine Tat gewaltsam-widerrechtlich streitig macht. Durch Mord, Raub oder Diebstahl beraubt er sich selbst „der Sicherheit alles möglichen Eigentums“ an Leben, Freiheit und Vermögen.40 Er macht dadurch eben auch mit Bezug auf sich selbst jene Eigentumsarten (Freiheit nach allgemeinen Gesetzen) unsicher, die die wesentliche Sphäre dessen abstecken, was das Recht zu schützen imstande ist und um dessen Schutz willen die Vernunft Rechtsverhältnisse fordert. Indem der Verbrecher anderen dasjenige Eigentum widerrechtlich nimmt, das deren Sphäre des rechtlichen, gesetzlich bestimmten äußeren Freiheitsgebrauchs ausmacht, nimmt er sich selbst seine rechtliche, gesetzlich bestimmte äußere Freiheit. Nach Kant nimmt er damit zugleich sich selbst die fundamentale Rechtsstellung als Rechtssubjekt in einem bürgerlichen Zustand öffentlichen Rechts (im Sinne der kantischen Terminologie). Und da eben dies es ist, was im (Rechts-) Begriff des Staatsbürgers gefasst wird, beraubt sich
_____________ 38 Kant 1788, § 7, AA V 30. 39 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. E. I., AA VI 331. Hier wie auch schon in Abschnitt D vertritt Kant die These, der Verbrecher bringe „sich durch sein eigenes Verbrechen“ selbst um die „Würde […] des Staatsbürgers“ und werde dann, „aber nur durch Urteil und Recht“, zum „bloßen Werkzeuge der Willkür eines anderen (entweder des Staats, oder eines anderen Staatsbürgers)“ (AA VI 329-330). Diese These ist trotz der begrifflichen Unterscheidung zwischen „angeborener“ und „bürgerlicher Persönlichkeit“ problematisch, und dies nicht erst retrospektiv, aus der Sicht der Prinzipien des modernen Rechtsstaats, sondern bereits innerhalb des Rahmens der Kant’schen praktischen Philosophie. Sie unterminiert Kants eigene Ausführungen zur normativen Relevanz von Rechtssubjektivität für moralische Personen und der damit zusammenhängenden Pflicht, in Rechtsverhältnisse einzutreten. Ich kann darauf an dieser Stelle nicht weiter eingehen. 40 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 333.
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der Verbrecher nach Kant durch seine eigene Tat der Würde des Staatsbürgers. Kants Unterscheidung zwischen angeborener und bürgerlicher Persönlichkeit, zwischen der Würde der moralischen Person und der Würde des Staatsbürgers entsprechend hat das Verbrechen nur den Verlust der Staatsbürgerwürde, nicht jedoch der Personwürde zur Folge. Auch im Strafrecht ist „noch auf Achtung für die Menschheit in der Person des Missetäters“ Rücksicht zu nehmen.41 Zwar beschreibt Kant das Verhältnis zwischen Regierung und Staatsbürgern als das eines „Befehlshabers“ zu „Unterwürfigen“, die „angeborene Persönlichkeit“, die jeder Mensch kraft seiner Menschheit hat, bleibt davon aber unberührt. Sie darf auch vom Staat nicht angetastet werden. Kants Formulierung, die angeborne Persönlichkeit „schütze“ auch noch den Verbrecher (als Menschen) davor, „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“ zu werden, lässt an die heutige Redeweise von der Unantastbarkeit der Menschenwürde denken, deren primärer Adressat die öffentliche Gewalt ist und die – wie einige Urteile des Bundesverfassungsgerichts explizit bestätigen – auch im Strafrecht gilt. Daher kann nach Kant auch die Rechtsstrafe nicht dadurch legitimiert werden, dass auf Merkmale Bezug genommen wird, die dem Täter und der Straftat gegenüber äußerlich sind, wie dies bei pragmatischen Aspekten und Effizienzprognosen der Fall ist. Der Grund der Strafe und das Kriterium ihrer Gerechtigkeit müssen in der Straftat selbst liegen. Die Legitimation der Rechtsstrafe muss an normativ relevanten Merkmalen der Tat selbst orientiert und hypothetischen, prognosegestützten Erwägungen entzogen sein. Das Strafgesetz ist nach Kant ein kategorischer Imperativ. Nur unter dieser normativen Bedingung lässt sich nach Kant die Gerechtigkeit der Strafe sicherstellen. Der Grund der Bestrafung muss und kann nur sein, dass der Täter „verbrochen hat“. Kant wendet sich also gegen eine – wie heute formuliert wird – „Instrumentalisierung“ des Menschen durch ein falsch verstandenes Strafrecht. So jedenfalls stellt sich Kants Argument zu Beginn des straftheoretischen Abschnitts der Rechtslehre dar. Die seit geraumer Zeit unter Strafrechtlern vorherrschende Theorie der Prävention als Strafzweck wird von Kant als eine solche Fehlkonzeption des Strafrechts abgelehnt. Nur Gerechtigkeit, nicht aber eine instrumentalisierende Nutzenerwägung werde der Menschenwürde gerecht. Daher müsse „[r]ichterliche Strafe (poena forensis) […] jederzeit nur darum wider [den Verbrecher] verhängt werden, weil er verbrochen hat […]. Er muß vorher strafbar befunden sein,
_____________ 41 Kant 1797, Rechtslehre, Anhang, 5., AA VI 362-363.
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ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.“42 Dem absoluten Vorrang der Gerechtigkeit vor utilitären Zielen gibt Kant emphatischen Ausdruck in der Mahnung: „wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben“43. Obwohl die zitierten Aussagen stets als Belege für Kants Vergeltungstheorie herangezogen werden, lassen sie sich doch zunächst auch so lesen, als ob Kant hier lediglich die Schuld des Verbrechers als notwendige Bedingung, nicht auch schon als hinreichende Bedingung der Strafbarkeit eines rechtswidrigen Verhaltens bestimme. Dann wäre Kants Forderung hier, (a) nur solche Personen zu bestrafen, die sich einer strafbaren Rechtsverletzung schuldig gemacht haben, und (b) diese Personen nur für diejenigen Taten zu bestrafen, die sie schuldhaft begangen haben. Zu bestrafen sind nur schuldige Personen für bereits begangene Taten. Kurz: Die Bestrafung Unschuldiger muss ausgeschlossen sein. Wäre nur dies gemeint, so würde Kant damit keine kontroverse These vertreten, sondern befände sich im Einklang mit allen ernstzunehmenden Straftheorien: mit allen Straftheorien nämlich, die die Bestrafung Unschuldiger ausschließen. Das tun auch Präventionstheorien oder können es zumindest. Es ist zwar ein klassischer Einwand gegen Präventionstheorien, dass sie jedenfalls in ihrer simplen Reinform die Bestrafung Unschuldiger nicht ausschließen können, da es kein genuin präventionstheoretisches Ausschlusskriterium gegen die Bestrafung Unschuldiger gebe. Denn, sollte es Evidenzen dafür geben, dass z.B. die Bestrafung von Kindern für Straftaten ihrer Eltern präventiv wirksamer ist als die Bestrafung der Eltern selbst, so müsste die Präventionstheorie die Bestrafung der Kinder befürworten, da ihr einziges Kriterium eben die präventive Effizienz sei. Aber natürlich haben auch Präventionstheoretiker dies bedacht. Mehrere Reaktionen von ihrer Seite sind denkbar und auch tatsächlich formuliert worden. Eine mögliche Verteidigungslinie ist die der Kritik der Evidenzbasis. Warum sollte die Bestrafung Unschuldiger präventiv effizienter sein? Wohlmöglich lässt sich eine solidere Evidenzbasis gerade für die höhere präventive Effizienz der Bestrafung Schuldiger erbringen. Eine weitere Verteidigungslinie zugunsten der Präventionstheorie ist die der konzeptionellen Komplementierung. D.h. die Präventionstheorie kann sich als eine komplementäre Teiltheorie einer komplexeren Rechtstheorie verstehen, die z.B. Rechtsstaatsprinzipien und Verhältnismäßigkeitsgrundsätze mit integriert. Diese Option läuft auf eine Vereinigungstheorie hinaus, die
_____________ 42 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 331. 43 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 332.
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den Abschreckungszweck als einen Teilzweck mit anderen Zwecken wie Besserung und Vergeltung schuldhaften Unrechts zu einer komplexen Straflegitimationstheorie verbindet. Auch Kant leugnet keineswegs, dass eine gute Strafpraxis de facto präventive Wirkung entfaltet und diese Wirkung auch zu wünschen ist. Wie einige handschriftliche Reflexionen der 1780er und 1790er Jahre zeigen, ist Kant offenbar durchaus der Auffassung, dass die Rechtsstrafe auch die Funktion der Beeinflussung des Verhaltens der Bürger hat; die Strafandrohung hat abschreckende Wirkung und dient daher der Prävention. Die Legitimität der Strafandrohung sei jedoch nicht wiederum präventionstheoretisch zu begründen. In der Reflexion R 8029 etwa schreibt Kant: „Alle Strafe im staat geschieht wohl zur correction und zum Exempel, aber sie muß allererst um des Verbrechens an sich selbst willen gerecht seyn, qvia peccatum est. Der Verbrecher muß nicht über Unrecht klagen können.“44 Dieses Zitat scheint ein Beleg für eine Strafkonzeption zu sein, wie sie im gegenwärtigen deutschen Strafrecht vertreten wird: die sogenannte ‚Vereinigungstheorie‘, die die Strafzwecke der Generalprävention, der Spezialprävention und der Vergeltung zu einer Strafzwecktheorie verbindet. Diese Deutung setzt allerdings voraus, dass Kant mit „correction“ tatsächlich die Besserung des Täters und nicht die ‚Wiederherstellung der Gerechtigkeit‘ meint. Dies vorausgesetzt, sind Spezialprävention („correction“) und Generalprävention („Exempel“) auch für Kant legitime und wichtige Strafzwecke. Sharon Byrd hat mehrere in diese Richtung gehende Stellen vor allem in Kants Nachlass-Reflexionen und Vorlesungsnachschriften zusammengetragen und im Einzelnen erläutert.45 Ihre These lautet, dass laut Kant die Strafandrohung auf Abschreckung zielt, die Vollstreckung (Art und Maß46) der Strafe auf Vergeltung. Wir hätten dann folgende Bilanz: Der Grund der Bestrafung muss sein, dass der Täter „verbrochen hat“. Die ‚Schuld‘ des Täters ist die conditio sine qua non der
_____________ 44 Kant, Refl. 8029 (1780-89? 1776-79??), AA XIX 586. In Refl. 8041 (1785-89) führt Kant vor, dass die beiden Strafzwecktheorien zu entgegengesetzten Resultaten bei der Strafzumessung kommen: „Alle Strafen und Belohnungen sind entweder vorkehrende oder vergeltende (praemunientes vel rependentes). Die vorkehrende sind entweder Exempelstrafen oder Züchtigungen. Die Vergeltende zeigen an, daß sie das Übel, welches das Verbrechen anrichtet, ihn selbst fühlen lassen und sind möglich nach aller Regel der Weisheit. aber in der Staatsverfassung, da nicht auf die Moralität gesehen wird, nicht rathsam. Doch müssen sie als vorkehrungsstrafen zuvorderst gerecht seyn. Sie sind als bloße Mittel wohl erlaubt aber nur als Vergeltungen gerecht.“ (AA XIX 589) 45 Byrd 1989. Ihr schließt sich Brandt 1996, 449 an. Vgl. auch Höffe 1999. 46 Auf Kants Prinzip der Strafzumessung wird unten noch eingegangen.
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Strafbarkeit: Keine Strafe ohne Verbrechen gemäß einem Strafgesetz. Wenn Gerechtigkeit in diesem Sinne die Grundlage der Bestrafung ist, dann ist der präventive Effekt ihrer Androhung nicht illegitim. Weitere Gesichtspunkte wie generalpräventive oder spezialpräventive Effekte einer Strafpraxis können hinsichtlich ihres ‚Nutzens‘ dann in zweiter Linie in Betracht gezogen werden. Sie können aber laut Kant die Strafpraxis nicht legitimieren, sie sind weder notwendiges noch hinreichendes Kriterium ihrer Gerechtigkeit. Legitimatorischer Rang kommt demnach lediglich dem retrospektiv-retributiven Kriterium zu, nicht den prospektiv-präventiven (pragmatischen) Gesichtspunkten. Es handelt sich insofern um eine Vergeltungstheorie (bzw. Retributionstheorie) der Legitimation von staatlicher Strafe, die aber Abschreckungseffekte der Strafandrohung nicht ausschließt. Aber Kant scheint doch mehr zu meinen als dies. Die Schuld des Verbrechers soll eben nicht nur notwendige, sondern doch auch hinreichende Bedingung der Strafbarkeit sein. Dies zeigt sich deutlich an der ebenfalls viel zitierten, weil doch drastischen Forderung an das sich auflösende Inselvolk. Selbst wenn die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung sich auflösete (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volk hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.47
Hier erhält Kants These vom Strafgesetz als „kategorischem Imperativ“ eine andere Wendung. Zum einen wird die Rechtsstrafe von jeglicher Funktion der „correction“ und des „exempels“ abgekoppelt. Selbst in einer Situation, in der jede Funktion der Sicherung des Rechts als Recht einer bürgerlichen Gesellschaft gegenstandslos ist, soll der letzte Mörder noch gehängt werden. Diese Strafe wird unter der Voraussetzung der Auflösung der Gesellschaft zu niemandes „exempel“ dienen und als Todesstrafe verunmöglicht sie „correction“ im Sinne von Besserung. Hier kommt als einziger Strafzweck nur noch Vergeltung in Betracht. Und Kant verleiht seiner vergeltungstheoretischen Position gerade hier allen Nachdruck. Das Argument, das Kant zugunsten der absoluten Vollstreckungspflicht der Todesstrafe vorträgt, hat denn auch nicht mehr viel mit rationalen, auf Kategorien bürgerlichen Rechts beziehbaren Kriterien zu tun. Das Argument lautet: Auf dem Volk hafte „Blutschuld“, wenn es nicht vor seiner Auflösung noch jeden Mörder hinrichte.
_____________ 47 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. E. I., AA VI 333.
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Eine weitere Überlegung könnte Kants emphatische Verteidigung des Vergeltungsgedankens verständlich und im Kontext seiner Theorie auch plausibel machen, sogar zwingend erscheinen lassen. Die hier zugrunde gelegten straftheoretischen Ausführungen Kants sind rechtsphilosophische Argumente bzw. werden als Teil der Rechtslehre vorgetragen. Diesem Kontext entsprechend geht es hier nur um den bestimmten Begriff der staatlichen Rechtsstrafe: „richterliche Strafe (poena forensis)“48. Kants Strafbegriff beschränkt sich aber nicht auf diesen Begriff der Strafe als Rechtsinstitut. Er führt den Strafbegriff im weiteren und grundlegenderen Sinne in der Kritik der praktischen Vernunft ein. Laut § 8 wird „in der Idee unserer praktischen Vernunft“ eine jegliche „Übertretung eines sittlichen Gesetzes“ von deren „Strafwürdigkeit“ begleitet. Dieser grundlegende Strafbegriff ist nach Hariolf Oberer die Voraussetzung des rechtlichen Strafbegriffs. „Nur unter dieser Voraussetzung eines fundamentalen praktischen Strafbegriffs [Strafwürdigkeit als Element der praktischen Vernunftidee] kann für Kant Strafe hernach ein besonderes rechtsphilosophisches Thema werden. Der Begriff der Strafe […] kann also aus bloßen Rechtsbegriffen gar nicht abgeleitet werden, sondern muß als grundlegender Begriff aus der praktischen Grundlegungssphäre in die Rechtslehre allererst eingebracht werden.“ Die „Idee der Strafwürdigkeit“ betrifft den „Gesamtbereich möglicher Praxisgeltung“49. Wenn Kant den Begriff der Strafe demnach in einem weiteren, auch moralphilosophischen Sinne versteht, oder anders: auch einen legitimen moralphilosophischen, nicht nur rechtsphilosophischen Strafbegriff kennt, stellt sich die Frage, ob und inwieweit der (grundlegendere) moralphilosophische Strafbegriff auch in die Rechtslehre hineinwirkt. Wer das Recht verletzt, hat von Rechts wegen zwar nur mit einer Rechtsstrafe zu rechnen; der Staat kann nichts anderes tun, ist zu nichts anderem weder befugt noch kompetent, als „richterliche Strafe“ nach Maßgabe geltenden Rechts zu verhängen. Aber jede Rechtsverletzung ist auch eine Verletzung der ethischen Pflicht zum Rechtsgehorsam.50 Rechtspflichten sind laut Kants kategorialer Differenz zwischen Rechts- und Tugendpflichten nicht in moralischen oder ethischen Pflichten begründet. Aber es ist eine Pflicht, in Rechtsverhältnisse einzutreten, die als kategorischer Imperativ aus dem
_____________ 48 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 331. 49 Oberer 1982, 403. Vgl. auch Kant 1791, AA VIII 257 Anm.: „Auch ist die Strafe in der Ausübung der Gerechtigkeit keineswegs als bloßes Mittel, sondern als Zweck in der gesetzgebenden Weisheit gegründet: die Übertretung wird mit Übeln verbunden, nicht damit ein anderes Gute herauskomme, sondern weil diese Verbindung an sich selbst, d.i. moralisch nothwendig und gut ist.“ 50 Vgl. Hill 1997/2000.
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Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft folgt. Es soll Recht sein, weil äußere Freiheit sein soll. Wer das Recht verletzt, ist von Rechts wegen rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Der Staat kann und darf nur mit den Mitteln des Rechts auf die Verletzung des Rechts reagieren. Aber über den rein rechtlichen Charakter der Handhabung der Rechtsverletzung, d.h. der Reaktion auf die Rechtsverletzung, hinaus ist die Rechtsverletzung wegen der grundsätzlichen ethischen Dignität der Existenz von Rechtsverhältnissen und der daher kategorischen ethischen Pflicht zum Rechtsgehorsam auch ein ethisch relevanter Sachverhalt. Insofern ist die Rechtsverletzung, die Straftat, auch eine ethische Pflichtverletzung. Und dies ist sie nur, wenn sie Verletzung einer kategorischen Pflicht und nicht nur einer Regel der prophylaktischen Schadensprävention ist.
8. Talion als Prinzip der Strafzumessung Der dem Strafbegriff impliziten Forderung der Gerechtigkeit wird in der Anwendung nach Kant nur das Talionsprinzip („Wiedervergeltungsrecht“) als Maßstab der Relation zwischen Tat und Strafe gerecht. „Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Princip und Richtmaße macht?“, fragt Kant. Und seine Antwort lautet: „Kein anderes, als das Princip der Gleichheit“51: was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturtheil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben.
Das Talionsprinzip ist keineswegs eine Erfindung Kants. Laut Hans Kelsen ist es das älteste Strafprinzip.52 Aber was leistet es eigentlich? Kant ist der Überzeugung, dass es das einzige Prinzip ist, das die „Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben“ kann: die Strafe muss „spezifisch einerley seyn mit dem, was [der] Thäter ausgeübt hat […]: Beschimpfung mit Beschimpfung, Beraubung mit Beraubung.“53 Allerdings räumt Kant auch ein, dass es nicht in allen Fällen gleich und oft „nicht dem Buchstaben nach“ angewandt werden kann.
_____________ 51 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. E. I., AA VI 332. 52 Vgl. auch die Belege zur Geschichte des Talionsprinzips im Anhang zu Hermann Klenners Ausgabe von Kants Rechtslehre, 470, Anm. 175. 53 Kant, Refl. 7915, AA (1776-83?), AA XIX 552.
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Nun scheint es zwar, daß der Unterschied der Stände das Princip der Wiedervergeltung Gleiches mit Gleichem nicht verstatte; aber wenn es gleich nicht nach dem Buchstaben möglich sein kann, so kann es doch der Wirkung nach respective auf die Empfindungsart der Vornehmeren immer geltend bleiben.54
Offenbar sieht Kant hier selbst, dass nicht materielle Gleichheit (‚spezifische Einerleiheit‘), sondern Verhältnismäßigkeit gefordert werden kann. Die Strafe soll „proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher“ sein. Und dies heißt, sie soll mit Bezug auf die subjektive Lage des Täters ein „proportinierliches“ Übel sein. Allerdings ist Kant – irrtümlich – der Ansicht, dass dies nur als Ausweichmöglichkeit für komplizierte Fälle anzunehmen und nicht als Anlass für eine grundsätzliche Revision des Talionsprinzips zu nehmen sei. In einem Fall, meint Kant, gebe es jedoch keinerlei Zögern und Schwanken: Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es giebt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung, als durch den am Thäter gerichtlich vollzogenen, doch von aller Mißhandlung, welche die Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal machen könnte, befreieten Tod.55
Bemerkenswerterweise schimmert am Ende selbst dieser kompromisslosen Passage also ein Ableger des Menschenwürde-Prinzips als Legitimationsschranke der Exekution der Todesstrafe auf. Die „Menschheit in der leidenden Person“ dürfe nicht durch „Misshandlung“ „zum Scheusal“ gemacht werden.56 Die Todesstrafe ist für Kant keine Verletzung der Menschenwürde, wenn sie als Strafe für Mord verhängt wird, da sie lediglich dem Mörder das widerfahren lässt, was er an anderen verübt hat. Sie ist nur Vollstreckung dessen, was er sich selbst mit dem antut, was er andern angetan hat. Nach der „Regel der Gerechtigkeit“ hat er „sich selbst des Rechts der Erhaltung verlustig gemacht“.57 „Was jemand gegen einen andern verübt, dazu giebt er eben dadurch dem andern ein Recht, es gegen ihn zu verüben“. Diesen Gedanken von der Strafe als der Vollstreckung des vom
_____________ 54 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Anm. E. I., AA VI 332. 55 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Anm. E. I., AA VI 333. 56 Den heiklen Sonderfall des Kindsmordes, bei dessen Erörterung (AA VI 336) Kant die Menschenwürde der Mutter und des unehelichen Kindes völlig ausblendet, übergehe ich hier. 57 Kant, Refl. 7915 (1776-83?), AA XIX 552. Vgl. Refl. 7289 (1780-89), AA XIX 303: „Das principium der rächenden Strafen (in Ansehung der Verbrechen gegen andere) beruht darauf, daß ein jeder sich jederzeit bewust ist, daß, was er gegen einen andern thut, daß füge er nach der Regel der Gerechtigkeit sich selbst zu.“
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Verbrecher begangenen Unrechts am Täter selbst verbindet Kant, wie Fichte und Hegel58, mit der Metapher der ‚Aufhebung‘ des Unrechts durch die Strafe: Die Todesstrafe ist eine „Handlung, wodurch das, was die Menschheit entehrt, aufgehoben wird“59.
9. Kants Verdienst-Substantialismus Schon Hegel hat eine treffsichere Karikatur gegen das Talionsprinzip gezeichnet: Wie absurd es sei, nach dem Prinzip „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ verfahren zu wollen, erkenne man leicht, wenn man sich den „Täter als einäugig oder zahnlos“ vorstelle.60 Heute wird das Talionsprinzip denn auch nicht mehr im martialischen Sinne des „Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn“ verstanden, sondern im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Proportionalitätsprinzip) interpretiert. Den seit geraumer Zeit geführten rechtswissenschaftlichen Debatten über Sinn und Unsinn des Talionsprinzips kann man entnehmen, dass man den Grundsatz des „Gleiches mit Gleichem vergelten“, wenn man ihn überhaupt noch so fassen sollte, nur als Forderung der Verhältnismäßigkeit verstehen sollte. Genauer besehen bleibt vom Talionsprinzip nichts als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Talionsprinzip in einen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz umzuinterpretieren, hat eine gute Tradition, die weit hinter Kant zurückreicht. Wenn Platon und Aristoteles Gerechtigkeit als Gleichheit bestimmen, meinen bereits sie damit keine Talion der materiellen Gleichheit, sondern die Vergleichbarkeit im Sinne der Angemessenheit der Relata zueinander. Was sich bei Platon am Ende der langen Odyssee durch die Sphären des Gerechtigkeitsidee in der Politeia abzeichnet, ist der Gedanke, Gerechtigkeit könne nur darin bestehen, dass alles seinen Ort, seine Funktion und seine Relevanz derart zugesprochen bekomme, dass die Teile sich zu einem stimmigen Ganzen fügen: die Seelenteile zu einem Menschen, die Stände zu einer Polis. Dieser Gedanke ist modern, wenn wir als modern eine Konzeption von Praktischer Philosophie betrachten, die an die Stelle hierarchischlinearer substantieller Beziehungen zwischen Taten bzw. Strafen eine intern wechselseitige Begründungsbeziehung zwischen moralischen Überzeugungen, Rechtsprinzipien, Begründungsstandards und Weltbeschrei-
_____________ 58 Vgl. Fichte 1796-97, dazu Mohr 2004; Hegel 1820, dazu Mohr 1997. 59 Kant, Refl. 7915, AA (1776-83?), AA XIX 552. 60 Hegel 1820, § 101 Anm.
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bungen setzt, wenn wir also einen Holismus oder mit Rawls gesprochen ein „Reflexionsgleichgewicht“ als das philosophisch Konzeptualisierbare betrachten. Zwar gibt es gewisse Häufigkeiten von übereinstimmenden Einschätzungen der Menschen über das, was ihre Genugtuungs- oder Rachegefühle befriedigt: meistens nämlich, wie mehrfach empirisch-soziologisch gezeigt worden ist, tendenziell drakonische Strafen. Aber es ist ja gerade wesentlich für eine aufgeklärte Straftheorie, dass sie die Legitimation der Rechtsstrafe von den emotionalen Impulsen der Rache kategorial trennt. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden61, dass Kant zumindest nachträglich im „Zusatz zur Erörterung der Begriffe des Strafrechts“ am Schluss der Rechtslehre eine wichtige Unterscheidung hinzufügt, indem er hier vom „ius talionis der Form nach“62 spricht und damit zwischen materieller und formeller Talion unterscheidet. Wenn Oberer Kants Vergeltungsprinzip und dessen Prämisse der Vergleichbarkeit von Tat und Strafe mit dem Argument verteidigt, dass das „tertium comparationis“ die „Freiheit des äußeren Willkürgebrauchs“ sei, dann ist damit das Talionsprinzip zu einem Verhältnismäßigkeitsprinzip im obigen Sinne geworden. Das ist sachlich vernünftig. Aber philologisch ist nicht zu übersehen, dass Kant in der Frage der Relation von Tat und Strafe der Idee einer objektiven Äquivalenz von Unrechtsschuld und Strafe verhaftet bleibt, die als Verdienst-Substantialismus zu bezeichnen ist. Mord verdiene Todesstrafe. „Hat er aber gemordet, so muß er sterben.“63 Etc. Materielle Talion ist also für Kant der ‚Idealfall‘. Aber der ist oft, sogar meistens nicht gegeben. Materiell gleiche Strafen sind bei unterschiedlichen Lebenslagen der Täter (in Kants Beispiel unterschiedlicher Wohlstand) unterschiedliche „Übel“ und insofern, nach Kants eigenem Strafbegriff, ungleiche Strafen. Kant zieht aus dieser Beobachtung keine Konsequenzen. Die Strafwirkungen sind – nicht nur wohlstandbedingt, sondern auch aus anderen Gründen – bei verschiedenen Tätern ungleich. Die Tatwirkung (auf das Opfer) und die Strafwirkung (auf den Täter) sind unvergleichbar. Und schließlich räumt Kant ein, dass es Verbrechen gibt, „die keine Erwiederung zulassen, weil diese entweder an sich unmöglich, oder selbst ein strafbares Verbrechen an der Menschheit überhaupt sein würden“, wie eben „Nothzüchtigung“, „Päderastie“, oder „Bestialität“.64
_____________ 61 Vgl. Oberer 1982, Hüning 2004. 62 Kant 1797, Rechtslehre, Anhang, 5., AA VI 363. 63 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 333. 64 Kant 1797, Rechtslehre, Anhang, 5., AA VI 363.
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Wir wissen heute, dass es objektive Relationen des Verdienens bestimmter Übelszufügungen für bestimmte Unrechtstaten grundsätzlich nicht gibt und nicht geben kann. Und dies aus mindestens zwei Gründen: Zum einen, wie Kant ja selbst einräumt, deshalb nicht, weil Gleichheit keine hinreichende Bedingung für objektive Äquivalenz ist. Zum anderen ist die Differenz der Täter- und Opfer-Positionen in keinem strengen Sinne auszu-‚gleichen‘. Eine Kastration als Strafe zu erleiden ist nicht dasselbe Übel wie argloses Opfer einer Vergewaltigung zu werden. Es ist objektiv etwas anderes, und es ist auch aus objektiven Gründen subjektiv für die Täter bzw. Opfer etwas anderes. Übel erfahren „aus heiterem Himmel“ ist etwas anderes als ein Übel als Reaktion auf ein Unrecht und als Bedeutungsträger eines Tadels zu erfahren. Für Kant hingegen gibt es offenbar ein metaphysisches, spekulatives Verhältnis zwischen Gesetzesverstoß und Strafwürdigkeit, das sich in einer objektiven Äquivalenz von Tat und Strafe abbilden lässt. Und es kommt laut Kant durch die Unrechtstat, solange sie nicht bestraft wird, eine ‚Geltungslücke‘ in die Welt, ein ‚Ungleichgewicht‘, eine ‚Blutschuld‘ als etwas, das auf der Welt liegt, auf ihr lastet, sie beschwert, belastet. Eigentlich sind das nur Bilder.
10. Ein Wertproblem Eine weitere, indirekt schon angeklungene Schwierigkeit betrifft die Werttheorie. Menschenwürde ist nach Kant qua Würde ein Wert, der kein Äquivalent („keinen Preis“) hat. In der Strafpraxis aber benötigen wir Strafzumessungsmaßstäbe, also Äquivalenzrelationen zwischen Unrechtsgewicht (Schwere der Schuld) und Strafart und Strafmaß (Härte der Strafe). Kant hat eine Werttheorie, die er jedoch nicht mehr begründet. Ein Beispiel davon finden wir in Kants Begründung der Todesstrafe: dass ein jämmerliches Leben immer noch weniger von Übel sei als der Tod.65 Wertungen dieser Art sind aber hochgradig kultursensitiv. Mehr noch: Sie sind auch individuell variant. Und es lässt sich philosophisch auch genau anders herum argumentieren. John Stuart Mill etwa hält die schmerzfreie Tötung für das geringere Übel gegenüber einer leidvollen lebenslänglichen Zuchthausstrafe66. Was eine Tat ‚wert‘ ist, ist nicht durch den abstrakten Begriff der Gleichheit bestimmt.
_____________ 65 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 333: „Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode“. 66 Vgl. Mill 1868. Mill verteidigt die Todesstrafe mit dem Argument, dass sie milder weil weniger leidvoll, ihre abschreckende Wirkung aber dennoch größer sei.
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11. Vergeltung und Menschenwürde Kants Argument für die Vergeltungstheorie ist ein indirektes, indem es die Präventionstheorie als dem Menschenwürde-Prinzip widersprechend kritisiert und daraus auf den Vorzug der Vergeltungstheorie schließt.67 Dem Wortlaut der Rechtslehre von 1797 nach gilt das sowohl für die Rechtfertigung der Strafe als auch für das Prinzip der Strafzumessung. Nur die Vergeltungsstrafe nach dem Talionsprinzip ist gerecht. Sie allein wird nach Kant der Menschenwürde gerecht, weil sie lediglich auf den Wert der Tat sieht, statt, wie Präventionstheorien, auf mögliche soziale und individuelle Wirkungen bestimmter Sanktionsmaßnahmen. Das Talionsprinzip veranlasst ihn stellenweise zur Propagierung archaischer und drakonischer Strafen, die nicht erst wir heute, sondern die schon Kants Zeitgenossen als unangemessen und sogar als Verletzung der Menschenwürde beurteilt haben. Tatsächlich schwankt er, trotz seines strafrechtfertigungstheoretischen Insistierens, zwischen einer starken Variante der These von der angeborenen Persönlichkeit, die unter keinen Umständen verlierbar ist und die auch der Verbrecher nicht verwirkt. Nie darf „die Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal“68 gemacht werden. Strafen, die „selbst ein strafbares Verbrechen an der Menschheit überhaupt sein würden“69, sind unzulässig. Auch die Strafe muss „noch auf Achtung für die Menschheit in der Person des Missetäters“70 Rücksicht nehmen. Im Gegensatz dazu stehen Bemerkungen Kants, wonach der Verbrecher „zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines anderen“ gemacht wird71 und damit mehr als nur die bürgerliche Persönlichkeit verliert. Hinzu kommt, dass, was Kant aber nicht zu bedenken scheint, der Verlust der Staatsbürgerwürde, der nach Kant die zwingende Folge des Verbrechens ist, den Verlust der Rechtssubjektivität bedeutet. Wenn die oben vertretene These richtig ist, ist die Staatsbürgerschaft oder bürgerliche Persönlichkeit qua Rechtssubjektivität die Transformation des MenschenwürdePrinzips auf den Menschen als Mitglied einer Rechtsgemeinschaft. Insofern ist damit auch die angeborene, moralische Persönlichkeit bedroht, nämlich die Bedingung der Möglichkeit ihrer ‚realen‘, ‚äußeren Existenz‘. Die entsprechenden Begründungen trägt Kant stets im Duktus der Forderung der Vergeltungsgerechtigkeit vor. Es kommen Zweifel auf, ob sich
_____________ 67 Vgl. Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 331-332. 68 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., E. I., AA VI 333. 69 Kant 1797, Rechtslehre, Anhang, 5., AA VI 363. 70 Kant 1797, Rechtslehre, Anhang, 5., AA VI 362-363. 71 Kant 1797, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm., D, AA VI 329-330.
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Kants implizite Behauptung, die Vergeltungstheorie sichere Menschenwürde im Strafrecht, in der Ausführung von Kants Strafrechtstheorie bewährt.72
12. Prävention und Menschenwürde Kants Insistieren darauf, dass Strafe nicht Mittel zu einem Zweck sein dürfe, scheint außerdem nicht gut mit seinem grundlegenden den Rechtszwang begründenden Argument verträglich, in dessen Zentrum die These steht, Hindernisse der Freiheit müssten verhindert werden. Nach dieser kantischen Bestimmung der Zwangsbefugnis des Rechts hat Strafe den Zweck, Hindernisse der Freiheit zu verhindern. Wenn: 1) es ein angeborenes Recht der Menschheit auf Freiheit, d.h. auf die Unabhängigkeit von der Willkür Anderer, gibt – was Kants explizite Auffassung ist, 2) diese Freiheit ein wesentliches Moment von Menschenwürde ist, 3) Recht insofern für den Schutz der Menschenwürde zuständig ist, als es der Inbegriff derjenigen Bedingungen ist, unter denen die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann (das Rechtsgesetz73), 4) jedes Unrecht ein Hindernis der Freiheit ist, 5) das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, 6) Rechtszwang der Verhinderung von Hindernissen der Freiheit dient, dann: 7) erfüllt eine Maßnahme, die Unrecht verhindert, den Zweck, das Menschenrecht aller auf Freiheit zu sichern. Nun: 8) kann (Androhung von) Strafe als eine solche Maßnahme verstanden werden, die Unrecht verhindert. Also: 9) kann die Androhung von Strafe im Hinblick auf ihren Effekt der Verhinderung von Hindernissen der Freiheit als ein Mittel zum Schutz der Menschenwürde verstanden werden.
_____________ 72 Vgl. kritisch Enderlein 1985. 73 Vgl. Kant 1797, Rechtslehre, §§ B und C, AA VI 230-231.
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Insofern Präventionseffekte von Strafandrohungen in einer Weise in die Erwägungen rationaler Personen eingehen können, dass (überwiegend) rechtmäßige Handlungen ausgeführt würden, würde Menschenwürde durch diese Maßnahme geradezu ‚gefördert‘, solange die rechtlichen Maßnahmen ihrerseits dem Rechtsgesetz genügen, also die Kompatibilität äußerer Freiheiten sichern. Aus der Sicht einer solchen Deutung der argumentativen Grundstruktur der Rechtsphilosophie Kants ergäbe sich die These, dass das Recht im Allgemeinen und das Strafrecht im Besonderen in der Menschenwürde nicht nur eine Befugnisgrenze haben. Insofern gesicherte äußere kompatible personale Freiheiten als das ‚Dasein‘ von Menschenwürde verstanden werden können – um eine Formulierung Hegels74 zu verwenden –, ist Strafe ein Rechtsinstitut des Menschenwürde-Schutzes. Und damit stünde Strafe grundsätzlich unter dem Menschenwürde-Prinzip als kategorischer Befugnisgrenze staatlichen Strafens. Damit erhärten sich aber auch Zweifel an Kants These, dass das Menschenwürde-Prinzip einen präventionstheoretischen Strafzweck ausschließt. Die Sachlage stellt sich dann gegenüber der kantischen Argumentation umgekehrt dar: Ein Begriff von Strafe, der dem Rechtsbegriff und damit der Menschenwürde genügt, schließt offenbar Prävention nicht aus, sondern ein. Es ist also keineswegs so, dass unabhängig von jedem Zweck rechtlich gestraft werden könnte, sondern man sollte Kant so verstehen, dass er fordert, unabhängig von als Zweck vorgestellten zukünftigen Zuständen der Gesellschaft oder der Individuen den Strafbegriff zu begründen. Diese hängen mit Prognosen zusammen, die prinzipiell unsicher sind. Dass Prognosen wegen kognitiver Ungewissheit nicht zur Begründung von Pflichten oder Erlaubnissen taugen, hat Kant in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen75 gegen die Intuition nahezu aller seiner Leserinnen zu zeigen versucht. Gerade im kriminalpolitischen Kontext besteht ein hohes Maß an prognostischer Unsicherheit. Diese kann nach Kant keine Basis für die Bestimmung rechtlicher Maßnahmen sein. Aber Kant weicht selbst von dieser These ab, wenn er etwa – aus guten Gründen – das subjektive Übelempfinden in der Bestimmung der ‚gleichen‘ Strafe mit berücksichtigen will. Allerdings muss man daraus nicht schlussfolgern, dass Kant selbst Strafe als Mittel auffasst, zumindest nicht in dem von ihm kritisierten Sinne. Kant meint doch wohl folgendes: Freiheitshindernis-Verhinderung ist ‚Vollzug‘ von Gerechtigkeit. Strafe ist insofern nicht ‚Mittel‘ der Ge-
_____________ 74 Vgl. Hegels Rede vom Recht als ‚Dasein der Freiheit‘; Hegel 1820, §§ 94-95. 75 Kant 1797a, AA VI 423-430.
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rechtigkeit. Gerechtigkeit ist kein der Strafe gegenüber ‚externer‘ Zweck, sondern Strafe ist selbst Gerechtigkeit in actu. Wenn wir das akzeptieren, haben wir Kants Anspruch bestätigt, Strafe nicht als Mittel zu einem anderen Zweck zu konzipieren. Wir können dieselbe Strategie auf seine Strafzumessungstheorie anwenden. Wenn Kant von der Gleichheit „dem Buchstaben nach“ mit Rücksicht auf die Unterschiede der Stände abweicht, ist das keine Instrumentalisierung der Strafe, sondern die Strafe wird erst durch die ‚Anpassung‘ an den Täter ‚gerecht‘. Es verhält sich nicht einfach so, wie Kant an den zitierten Stellen zu Beginn des Strafrechts-Kapitels der Rechtslehre zu behaupten scheint und wie einige es noch heute unter Berufung auf Kant meinen, dass die Vergeltungstheorie als solche und dass nur die Vergeltungstheorie dem Menschenwürde-Prinzip genügt. Und es trifft nicht zu, dass Präventionstheorien unabweislich, gewissermaßen aus theoriestrukturellen Gründen und damit notwendigerweise den Menschen instrumentalisieren und also gegen die Menschenwürde verstoßen. Im geraden Gegenzug dazu hat der eingangs zitierte Ulrich Klug die These vertreten, dass gerade zwecklose Wiedervergeltung, ohne ein Gutes für Täter und Gesellschaft, Verletzung der Menschenwürde sei! Klug schreibt: Daß der Täter niemals bloß als Mittel für einen außer ihm liegenden Zweck benutzt werden darf, wie Kant betont, ist im Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit. Für die Resozialisierung ist der Täter im Zentrum der Bemühungen. Er ist es, der möglichst gebessert werden soll. […] Gerade die Achtung vor der Menschenwürde gebietet es der Gesellschaft, nicht einfach zwecklos vergeltend zurückzuschlagen, sondern die Resozialisierung zu versuchen.76
Diese These wird, wenn ich recht sehe, von der Mehrheit der gegenwärtigen Strafrechtler unterstützt. Bei aller kritischen Haltung zur ausgeführten Straftheorie Kants sind aber auch noch Strafrechtler wie Klug von einer für das heutige Rechtsdenken ganz wesentlichen Forderung Kants geprägt: der Forderung, dass auch der Straftäter in einem rechtlichen Verfahren nicht willkürlich und nicht ohne Rücksicht auf die Menschheit in seiner Person behandelt werden darf. Dies ist es, was Kant mit der sinngemäß in allen seinen Schriften
_____________ 76 Klug 1968, 279. Merle 2007 schlägt vor, gegen Kants eigene explizite Vergeltungstheorie sowie gegen neuere Interpretation seiner Straftheorie als „Mix“ aus Abschreckung und Vergeltung die in seinem Menschenwürde-Prinzip liegenden Potentiale einer Theorie der (negativen und positiven) Spezialprävention zu ‚rekonstruieren‘. So sachlich überzeugend mir dieser Zugriff auf Kants Rechtsphilosophie grundsätzlich zu sein scheint, so abwegig ist (sachlich und philologisch) jedoch Merles Prämisse, man müsse (und dürfe) für eine solche Rekonstruktion Kriminelle mit Kindern gleichsetzen.
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zur praktischen Philosophie und noch einmal nachdrücklich in seiner späten Rechtslehre vertretenen These meint, der Mensch dürfe nie „bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern“, sondern müsse stets zugleich auch als Zweck an sich selbst behandelt werden. Dass in diesem Sinne Menschenwürde auch im Strafrecht verbindlich bleiben muss, ist in einer metaphysisch entlasteten Lesart die Konsequenz des Grundsatzes, dass die Zwangsbefugnis des Rechts keine Willkürbefugnis sein darf, dass alle rechtlichen Maßnahmen ihrer Legitimierung im Kontext der Prinzipien der betreffenden Rechtskultur fähig sein müssen. Es ist daher andererseits unbefriedigend – und auch unverständlich im Kontext seiner Theorie –, dass Kant die Staatsbürgerschaft als rechtlich verlierbar versteht. Kants Blutschuld-Mystizismus verbunden mit einem unhaltbaren Substantialismus der Äquivalenz von Tatschuld und Strafe führt ihn zu inakzeptablen rechtspolitischen Voten. Die epochale Bedeutung von Kants Menschenwürde-Prinzip für ein aufgeklärtes Strafrecht in einem zukunftsfähigen Rechtsstaat steht somit in einer merkwürdigen Spannung zu Kants eigener oft halbherziger, bisweilen gar konterkarierender Anwendung dieses Prinzips auf die philosophischen Grundfragen des Strafrechts.
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Immanuel Kant – Was bleibt? Reinhard Brandt Unsere historische Kultur sorgt dafür, dass jedes Werk von Kant und jedes Wort, das wir erhaschen können, konserviert wird – von Kant bleibt alles, was noch da ist. Seine Schriften, seine Probleme und Lösungen sind einer der meist frequentierten Treffpunkte aus allen Richtungen; hier bleibt alles in einer permanenten Neubelebung unter wechselnden Gesichtspunkten. Dasselbe gilt für den philosophischen Unterricht, in dem Mustertexte benötigt werden; Kant gehört weltweit zu den Favoriten der akademischen Erziehung. Unsere Titelfrage zielt auf etwas anderes: Gibt es Lehrstücke der kantischen Philosophie, die systematisch nicht haltbar sind, und gibt es andere, die brisant und wichtig sind? Es sollen Exempel beider Art genannt werden, alles in geraffter Form und als Vorskizze einer ausführlicheren Behandlung. Die Beispiele besonders in der pars destruens sind zufällig zusammen gekommen, aber sie decken sich ebenso wie die der Gegenseite doch mit der allgemeinen Tendenz der heutigen systematischen Wertschätzung. Es sollen kurz folgende Gebiete behandelt werden. 1. 2. 3. 4. 5.
Raum und Geometrie: Der Punkt eine Kugel? Zeit und Zahl Kant versucht, das Böse zu retten – vergeblich? Zwecke der Natur Kritik und Aufklärung Die gemeinsame Welt, der Ewige Friede, die Bestimmung des Menschen
1. Raum und Geometrie: Der Punkt eine Kugel? Zeit und Zahl Kant stellt in der KrV die sinnliche Anschauung vor das Denken, die „Transzendentale Ästhetik“ vor die „Transzendentale Logik“. Das richtet sich einerseits gegen den Rationalismus, der das Erkennen aus dem Denken und dem Satz vom Widerspruch, und andererseits gegen den Empirismus, der das Erkennen aus der Empirie gewinnen will; beide ohne eine
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qualitative Zäsur zwischen Anschauung und Denken. Kant dagegen glaubt zeigen zu können, dass es vom Denken getrennte reine Formen der Sinnlichkeit gibt (Raum und Zeit) und dass das Denken nur dann zu einer sachhaltigen Erkenntnis führt, wenn es sich auf diese Formen der Anschauung und ihre Inhalte richtet; andernfalls gerät es in dialektische Turbulenzen. Das Raumargument ist in der 1. Auflage folgendermaßen konzipiert: 1. Es wird ausgegangen von einer empirischen Verortung meiner selbst und anderer Dinge oder Ereignisse außer mir und außerhalb von einander. Diese Ortsbestimmungen können nicht, wie der Empirist will, der Ursprung unserer Vorstellung vom Raum sein, sondern diese wird umgekehrt vorausgesetzt, um die Topologie zu ermöglichen. 2. Die Raumvorstellung ist also notwendig, und wir können uns nicht vorstellen, dass es keinen Raum gibt. 3. Diese Notwendigkeit ist die Grundlage der apodiktischen Gewissheit der euklidischen Geometrie. 4. Die Raumvorstellung ist nicht begrifflicher Natur, sondern eine reine Anschauung mit der Eigentümlichkeit, dass alle Teilvorstellungen von Räumen immer nur homogene Teile des einigen, einzigen, allbefassenden Raumes sind. 5. Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt. Unsere These zu Ziffer 1 lautet, dass die Ausführungen sich auf alle vorstellungsfähigen Wesen im Raum beziehen, die sich selbst relativ zu anderen Dingen oder Ereignissen verorten (extra me) und/oder das Außereinander (extra se) dieser Dinge oder Ereignisse wahrnehmen oder vorstellen. Nach Kant selbst gehören höhere Tiere zu diesen Lebewesen1; sie orientieren sich unter den Körpern im Raum, sie stellen sich die Topologie vor und bedürfen dazu folglich einer vorgängigen Raumvorstellung, innerhalb derer die Platzierungen möglich sind. Es werden keine Denkakte der Subjekte in Anspruch genommen, an denen die Einbeziehung der Tiere in die Raumtheorie scheitern könnte;2 auch eine explizite Beachtung oder Thematisierung der Raumvorstellung als vorgängig vor den Verortungen, wozu nur Menschen fähig sind, ist nicht nötig. Wenn dies der Fall ist, dann sind auch die weiteren Überlegungen der Ziffern 2 und 4 für die Tiervorstellungen einschlägig: Die Raumvorstellung ist eine notwendige Voraussetzung der relativen Verortungen (Ziffer 2), und die Raumvorstellung ist pure Anschauung, denn Tiere verfügen nicht über Begriffe (Ziffer
_____________ 1 Naragon 1987. Kant wird nach der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften (Berlin 1900ff.) zitiert, für die Hauptwerke werden die üblichen Abkürzungen benutzt. Die KrV wird nach der Ausgabe im Meiner-Verlag (hrsg. von Jens Timmermann), Hamburg 1998, in den beiden Auflagen (A und B) zitiert. 2 In der Dissertation von 1770 wird der parallele Passus mit der Formel „Conceptus spatii […]“ (AA II 402, Z. 16; 23; 28) eingeleitet und damit die Einbeziehung der Tiere a limine ausgeschlossen.
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4). Damit ist auch der vorgestellte Umgebungsraum aller Verortungen als unbegrenzt gegeben (Ziffer 5). Wie das „außer mir“ (KrV A 23) sich auf den einen identischen Raum aller Menschen bezieht, so muss es auch der identische Raum sein, in dem sich vorstellungsfähige Tiere lokalisieren und orientieren. Es ist derselbe Raum, auf den sich auch die unterschiedlichen Theorien von Leibniz und Newton beziehen. Ich will nicht ausmachen, ob diese Einbeziehung der Tiere in die Raumerörterung der kantischen Theorie abträglich ist oder nicht. Die Möglichkeit wurde bislang, soweit ich weiß, nicht erwogen. Wenn diese Überlegung zutrifft, dann muss auch die Subjektivierung des Raumes als reiner Form des äußeren Sinnes für die Tiere geltend gemacht werden; wenn dies an der begrifflich-transzendentalen Schranke scheitert, was ist der Raum dann für die vorstellungsfähigen Tiere? Ist bei ihnen die räumliche Vorstellung von ihrem Gegenstand, dem objektiven Raum, getrennt? Ziffer 3 und 4 thematisieren die euklidische Geometrie. Da die geometrischen Gegenstände, ohne dass Kant es sagt, begrifflich bestimmt werden müssen, scheiden die begrifflosen Tiere aus. Die Notwendigkeit der Raumvorstellung soll der Grund der Gewissheit aller geometrischen Erkenntnis sein, etwa der Erkenntnis, dass zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie sein kann, dass der Raum dreidimensional ist und dass „in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer [sind] als die dritte“ (KrV A 25). Euklid selbst beginnt seine Definitionen mit dem Punkt, geht dann zur Linie, Fläche und zu stereometrischen Gebilden über, ohne eine Theorie über deren epistemischen oder ontologischen Status anzubieten. Kant leitet die epistemische Gewissheit aus der nach ihm notwendigen Raumvorstellung her. Unsere These: Der Punkt ist in der sinnlichen Vorstellung oder reinen Anschauung vom Raum unendlich teilbar; er muss darüber hinaus dreidimensional, also kugelförmig sein. Die Dreidimensionalität gilt dann auch für die Linie und Fläche im Raum. Damit aber ist die euklidische Geometrie zerstört. Es helfen keine Hilfskonstruktionen etwa des Punktes als der Grenze einer Linie, denn auch diese Grenze partizipiert an der Dreidimensionalität, oder sie wird unräumlich gedacht, das aber widerspricht der intendierten Grundlegung der Geometrie durch die Raumvorstellung. In der „Analytik“ entsteht das Problem, dass die Naturwissenschaft, die sich auf sei es newtonischen, sei es kantischen Grundlagen weiterentwickelt hat, zu einer anderen Bestimmung des Verhältnisses von Raum und Körper als Kant gelangt ist; es wird der einige allbefassende Raum nicht mehr als fertige Bühne angesehen, auf der sich das physikalische Geschehen abspielt, sondern der Raum kann in das Spiel selbst involviert sein, er wird zum Gegenstand physikalischer Forschung, was in der kantischen Konzeption a priori ausgeschlossen ist. Wenn dies das Ergebnis der
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weiter entwickelten Physik ist, können die als homogen vorgestellten Teilräume (KrV A 25) nicht apriorische Bedingungen der Physik sein, da diese die Teilräume einer bestimmten Größe als möglicherweise inhomogen ansieht. Dies Ergebnis zwingt zur Unterscheidung des menschlichen Vorstellungsraumes vom Realraum des Universums; die „Transzendentale Ästhetik“ will jedoch ihre Identität zeigen. Bewegt sich Kant innerhalb der „Transzendentalen Ästhetik“ unter seinem Niveau und lässt sich die kantische Raumtheorie mit anderen Mitteln dennoch retten?3 Wenn nicht, fällt der Kernbereich der subjektivistischen Wende fort, und ohne dass die missliche kantische Wesensfrage (KrV A 23: „Was sind nun Raum und Zeit?“) noch beantwortet wird, können nur verschiedene Aspekte des vorausgesetzten identischen Etwas ausgemacht werden. Im Hinblick auf die Zeit soll nur angezweifelt werden, dass es Kant gelingt, die Erkenntnisse der Arithmetik als synthetische Sätze a priori zu erweisen; die Zeitanschauung soll deren unentbehrliche Grundlage sein. Hier eine der bekannten Erklärungen für die Arithmetik: Man sollte anfänglich zwar denken, daß der Satz 7+5=12 ein bloß analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von Sieben und Fünf nach dem Satze des Widerspruchs erfolge. […] Man muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu Hilfe nimmt, die einem von beiden korrespondiert, etwa seine fünf Finger oder […] fünf Punkte, und so nach und nach der in der Anschauung gegebenen Fünf zu dem Begriffe der Sieben hinzutut. (KrV B 15-16)
Kants Annahme ist nicht zwingend, denn die empirischen Zählakte („nach und nach“) können als unsere erste Erwerbs- oder auch Anwendungsform genommen werden, die nichts über die Sache selbst präjudiziert, sondern nur unseren subjektiven Zugang bezeichnet. Die Zeit, das „nach und nach“, kann (und muss) ebenso wie die subsidiären räumlichen Gegenstände aus den Zahlen selbst eliminiert werden, wie auch die sukzessive Erzeugung der Raumanschauung nicht zur Zeitlichkeit des Raumes führt; andernfalls hätte die Zeit dem Raum in der „Transzendentalen Ästhetik“ vorangehen müssen. Sollte das „nach und nach“ konstitutiv sein für die Arithmetik, wäre die Subtraktion schon als widersprüchlich ausgeschlossen, da die Zeit sich nicht bequemt, auf Verstandeswunsch rückwärts zu gehen. Einem ähnlichen Argument wie KrV B 15-16 ist Kant 1770 beim Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gefolgt; er formulierte ihn mit der Zeitbestimmung des „simul“: „A enim et non A non repugnant, nisi simul (h. e. tempore eodem) cogitata de eodem, post se autem (diversis temporibus) eidem competere possunt.“ (AA II 401, Z. 15-17, auch AA II 406, Z. 1-2). Er wurde jedoch von Moses Mendelssohn auf
_____________ 3 Dieser Meinung ist Rainer Enskat (mündlich).
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den Fehler hingewiesen4 und entfernte 1781 die Zeitbestimmung des „zugleich“ (KrV A 152-153). Dass die Zeit den Wechsel von Eigenschaften desselben Dinges widerspruchslos ermöglicht, ist für den logischen Grundsatz gleichgültig, so wie es für die geometrischen Gebilde irrelevant ist, dass ich die Konstruktionshandlungen in der Zeit vornehme. Dasselbe Argument lässt sich, so unsere Kritik, für die Arithmetik geltend machen. 7+5=12 ist so zeitlos wie der geometrische Satz des Pythagoras. Nur wenn Kant auf die Zeitlichkeit in der Bestimmung der Arithmetik verzichtet, kann er sie auf Objekte der Geometrie so wie auch rein intelligible Objekte problemlos anwenden. Damit aber fehlt jeder Grund, Geometrie und Arithmetik als Raum- resp. Zeitwissenschaften zu parallelisieren, damit werden jedoch Geometrie und Arithmetik heimatlos im Theoriegefüge der KrV. Es ist hier wie auf vielen anderen Gebieten: Kant hat ein Problem gesehen, das zum Thema vielfältiger Erörterungen wurde. Seine eigene Antwort ist, so scheint es, nicht haltbar; oder es müsste gegen diese Einwände gezeigt werden.
2. Kant versucht, das Böse zu retten – vergeblich? Die Lehre vom Bösen begegnet in verschiedenen Zusammenhängen: In der Anthropologie, der Moral, der Religion. Die systematische Entscheidung der möglichen bösen Handlungen fällt in der KpV im Zweiten Hauptstück „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (AA V 57-71). Hier wird die Möglichkeit bösen Handelns gelehrt. Sodann wird in demselben Werk gezeigt, dass es wirklich einzelne böse Menschen gibt, die wir als solche schon in der Kindheit erkennen können (AA V 99, Z. 30 – AA V 100, Z. 14). Die Religionsschrift entwickelt die Lehre von der intelligiblen Tat jedes Menschen als Ermöglichungsgrund des frei gewollten wirklich vorhandenen Bösen (AA VI 31, Z. 21 – AA VI 32, Z. 4). In der Anthropologie wird noch einmal der empirische böse Charakter einzelner Menschen aufgegriffen (AA VII 324, Z. 24-29).
_____________ 4 Moses Mendelssohn kritisiert Kants „eodem tempore“ in seinem Brief vom 25. 12. 1770 (AA X 116, Z. 6-12), siehe auch AA X 100, Z. 31-32.
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Von der Möglichkeit bösen Handelns Wir wenden uns zuerst dem Begriff des Bösen im Zweiten Hauptstück der KpV zu. Dort erscheint er im Titel der „Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“, in der Tafel selbst kommt allerdings weder das Gute noch das Böse vor, daher vielleicht im Titel die Wendung „in Ansehung“. Gut und böse sind rein moralische Prädikate, die im nicht-moralischen Handeln etwa unter hypothetischen Imperativen keine Anwendung haben. Wir können uns also auf den Teil der Tafel konzentrieren, der eindeutig nur moralisch ist. Die Argumentation ist kompliziert5, aber wir müssen bestimmten Begriffswindungen folgen, um Kants Rechtfertigung des Bösen zu entdecken. Das Zweite Hauptstück der „Analytik der praktischen Vernunft“ in der KpV handelt „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (AA V 57, Z. 15-16). Es wird zu zeigen versucht, dass nicht die Vorstellung des Guten den sittlichen Willen bestimmt, sondern umgekehrt das Sittengesetz den Willen und dessen Gegenstand, das Gute. Nun fügt Kant im Text diesem Gegenstand (Singular im Titel) überraschend „sein Gegentheil“ hinzu (AA VI 57, Z. 21). Es fällt schwer, das Gegenteil eines Gegenstandes zu denken; ein Gegenstand der Erkenntnis (gemäß den Kategorien der Quantität, Qualität, Relation) hat kein Gegenteil, und entsprechend steht dem Seienden der Erscheinungen kein Nichtseiendes als gesetzlich bestimmte Erscheinung gegenüber. Wie kann es bei dem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft anders sein? In der KpV geht Kant also über zu einer Zweiheit von moralischen Gegenständen und bestimmt sie so: Die alleinigen Objekte einer [sc. reinen, R.B.]6 praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft. (AA V 58, Z. 6-9)
Und kurz darauf: „Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünftigen Menschen Urtheil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheues; […].“ (AA V 60, Z. 37 – AA V 61, Z. 2) Begehren und Verabscheuen, dieser anthropologische oder gar animalische Kontrast ist Kant vorgegeben, und zwar mit einer subjektivistischen Wende: Wir begehren nicht das Gute als solches, sondern umgekehrt: das Begehren macht erst, dass sein Objekt gut ist. Wir verabscheuen nicht das
_____________ 5 Eine überzeugende Erörterung stammt von Claudia Graband (Graband 2005). 6 Nach AA V 57, Z. 15; 22; 31; 32.
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Üble bzw. Böse, sondern umgekehrt: das Objekt des Abscheus ist übel bzw. böse – so die Vorstellung der antiken Sensualisten und z.B. von Hobbes und Locke.7 Die Geltungsdifferenz von Gut und Schlecht wird in diesem Modell durch die subjektive Attraktion oder Repulsion kreiert, es gibt sie nicht als solche in der vorgegebenen Gegenstandswelt unseres Erkennens oder Wollens. Diese subjektivistische Auffassung der moralischen Werturteile ist gut verständlich, sie wird seit Platon immer wieder diskutiert.8 Kant verbindet mit der Destruktion eines dem Willen vorgegebenen, objektiv erkennbaren Guten und Bösen (AA V 58) und ihrer Subjektivierung eine neue Wende der Bestimmung von Gut und Böse derart, dass beides nicht von unserer subjektiven Attraktion (Lust) und Repulsion (Unlust) bestimmt ist, sondern einer gesetzlichen Fixierung durch das Grundgesetz der Freiheit unterliegt: Wenn die Wertbestimmung im Bereich der bloß subjektiven Attraktion und Repulsion verbleibt, ist sie nicht, wie Kant verschiedentlich in Übereinstimmung mit der Ästhetik der KU sagt, allgemein mitteilbar9 und damit so wenig allgemein verbindlich wie die Prädikate des Angenehmen und Unangenehmen. Erst der Primat des Gesetzes und die Unterwerfung der Werte Gut und Böse unter das Sittengesetz stiftet eine neue Objektivität und die Möglichkeit, gute und böse Objekte eines notwendigen und damit allgemein-vernünftigen Begehrens und Verabscheuens festzulegen.10 Die verbindliche, objektive Wertdifferenz von Gut und Böse soll also die Folge der gesetzlichen Bestimmung unseres subjektiven, freien Willens oder der reinen praktischen Vernunft sein, sie führe zu dem, „was an sich gut oder böse ist“ (AA V 62, Z. 4; auch 8).11 Dies ist der Balanceakt, an dem Gut und Böse hängen: Die Subjektivierung durch die Abhängigma-
_____________ 7 Hobbes 2003, 223 – Leviathan XXIX 6; Locke 1975, 259-260 – An Essay Concerning Human Understanding II 21, 43. Platon und Aristoteles sind ebenfalls der Meinung, dass jeder nach dem handelt, was ihm gut scheint (Nikomachische Ethik I 1), halten es jedoch für möglich, das wahrhaft Gute zu erkennen und dementsprechend zu handeln. 8 Platon, Euthyphron 6eff. 9 Vgl. AA V 58, Z. 27 und AA V 217, Z. 1. Man beachte, dass der Passus AA V 216, Z. 30 – AA V 217, Z. 7 die exakte Aufnahme des ‚Paradoxons der Methode‘ AA V 62, Z. 36 – AA V 63, Z. 4 ist und sich dadurch das Kriterium der allgemeinen Mitteilbarkeit in beiden Fällen ergibt. 10 Dazu bezüglich der transzendentalen Gegenstandsbestimmung Unruh 2007, bes. 84-85. 11 Das Vorbild ist natürlich die neuzeitliche Staatstheorie, so bei Thomas Hobbes im Leviathan: „But otherwise it is manifest that the measure of Good an Evil Actions, is the Civill Law.“ (Hobbes 1996, 223)
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chung der moralischen Werte von unserem Vermögen des Begehrens und Verabscheuens, und zweitens die erneute Objektivierung durch die reine praktische Vernunft, die unsere Willkür bestimmt und damit das Gute und Böse als allgemein und notwendig nicht nur in der Beurteilung, sondern im Handeln selbst ermöglichen soll. Gelingt dieses höchst artifizielle Unternehmen? Sieht man einmal von der genauen Bestimmung und Funktion der Kategorien der Freiheit ab, so wird man an Kants Aussage anknüpfen können, „dass sie [die Kategorien, R.B.] in ihrer Ordnung von den moralisch noch unbestimmten und sinnlich bedingten zu denen, die sinnlich unbedingt, blos durchs moralische Gesetz bestimmt sind, fortgehen.“ (AA V 66, Z. 13-15) Zuvor ist die Rede von „der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens“ (AA V 65, Z. 24-26), oder davon, dass „das Princip der Sittlichkeit ein reines, a priori den Willen bestimmendes Gesetz sei“ (AA V 63, Z. 5-6); oder: „Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.“ (AA V 64, Z. 22-25) Diejenigen Kategorien also, die „blos durchs moralische Gesetz bestimmt sind“, sind für uns bei der Suche nach der Möglichkeit des Bösen einschlägig. Wir müssen weiter hinzunehmen, dass sich das moralische, rein formale Gesetz in Geboten und Verboten ausspricht, das letztere etwa als Lügen- oder Selbstmordverbot. Und wir können an die obige Dichotomie von Begehren und Verabscheuen anknüpfen und folgern, dass die Gegenstände des Gebots unter der formalen Bestimmung des Freiheitsgesetzes begehrt, die Gegenstände des Verbots dagegen verabscheut werden sollen. Wenden wir uns der Tafel selbst, speziell der Modalität, zu, so ist das (moralisch) Erlaubte ein Objekt des Begehrens, das Unerlaubte dagegen ein Objekt des Verabscheuens, die Pflicht zu erfüllen wird unter dem Gesetz der Sittlichkeit begehrt, das Pflichtwidrige verabscheut. Damit ist jedoch eine durchgängige Bestimmung der Maximen „in Ansehung“ des Begriffs des Guten möglich und notwendig, das Böse kommt nicht vor, es sei denn, es werde dem Guten als verabscheuungswürdig subsumiert. Es kann als selbständiger, dem Guten gleichgeordneter Begriff in der kategorialen Freiheitsordnung so wenig erscheinen wie das Nichtseiende „in Ansehung“ der kategorialen Bestimmung des Mannigfaltigen unserer Erscheinungen – was nicht ist, ist kein Gegenstand der Erfahrung, und so kann auch nur das Gute aus der Freiheit resultieren, nicht das Böse.
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Natur und Freiheit bilden eine vollständige Dichotomie, für das Böse könnte sich ein Platz nur in ausgedachten Intermundien finden, jedoch nicht in der theoretischen oder praktischen, der phänomenalen oder noumenalen Realität. Entsprechend wird zwar im dritten Hauptstück der KpV, „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (AA V 71, Z. 27), im Titel von Triebfedern im Plural gesprochen, aber dann folgt der Singular aus guten Gründen: „Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, so wie dieses Gefühl auch auf kein Object anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet ist.“ (AA V 78, Z. 20-22) Diese eine Triebfeder der Achtung erwächst unmittelbar aus dem Bewusstsein des Freiheitsgesetzes, das sich in seinen Tugendgeboten äußert (AA V 83, Z. 3ff.). Wir ergänzen: Die Tugendgebote äußern sich in Form von Geboten und Verboten, das Bewusstsein des moralischen Gesetzes führt entsprechend unmittelbar zum Pflichtgefühl und damit zum gefühlten Abscheu vor dem, was der Pflicht zuwider läuft (s. bes. AA VI 320, Z. 35 – AA VI 322, Z. 39).12 Aber es gibt keine durch die reine praktische Vernunft bewirkte Triebfeder der Missachtung des moralischen Gesetzes. Kants Problemfrage, wie eine Kausalität aus Freiheit zu denken ist, bezieht sich nur auf die Kausalität des moralischen Gesetzes, nicht auf die Kausalität des Illegalen – aus einer gesetzlich bestimmten Freiheit kann das Böse nicht entspringen, und aus einer ungesetzlichen auch nicht, denn sie gibt es nicht. Lässt sich das Böse bei Kant retten? Die sorgfältigen Untersuchungen besonders von Bobzien und Graband führen zuerst die beiden Begriffe des Guten und Bösen in ihrer Untersuchung mit, streifen sie dann aber ab und kommen auf das Problem des Bösen als ein Erzeugnis der Kausalität aus moralischer Freiheit nicht zurück. Georg Geismann schreibt, als böse könne eine Tat „nur qualifiziert werden, wenn man ihren Begriff auf die transzendentale Idee der Freiheit gründet“13. Die transzendentale Idee der Freiheit in der KrV ist nur negativ, also nicht zu positiver Realität erhoben durch das moralische Gesetz.14 Aber die böse Tat widerspricht der positiven moralischen Idee der Freiheit – das ist das Problem. Wir benötigen die moralische, gesetzliche Freiheit, und eben diese schließt eine Bestimmung zum Bösen aus. Kant ist zweifellos der Meinung, dass wir uns frei und verantwortlich für das Böse entscheiden können – darüber gibt es keinen Dissens. Die Frage ist nur die theoretische Möglichkeit dieser Freiheit. Sie kann nicht
_____________ 12 Vgl. auch Klemme 1999, 147. 13 Geismann 2007, 303. 14 U.a. Graband 2005, 43.
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aus dem formalen Freiheitsgesetz resultieren. Hängt die Lehre mit Kants (höchst verwirrender) Unterscheidung von Willkür und Wille zusammen? Die Dichotomie von Natur und Freiheit gehört zur Kosmologie; die Erscheinungswelt ist durchgängig durch Naturgesetze des Verstandes determiniert, der „mundus intelligibilis“, die Verstandeswelt, dagegen nicht. Die noumenale Welt erhält ihre objektive praktische Realität durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft, auch dies also ein Weltgesetz. Nun gibt es neben der Kosmologie die Theologie und Psychologie, und in der letzteren hat, so konjizieren wir mit und ohne oder gegen Kant, die subjektive Willkür ihren Platz. Sie steht gewissermaßen vor der Welt der Freiheit und der Natur, sie ist kein Teil einer der beiden, sondern muss sich entscheiden, welcher Gesetzlichkeit sie sich unterwerfen will; sie soll bedingungslos dem Freiheitsgesetz folgen, ob sie es jedoch tut und ob sie dieses formale Gesetz oder den verlockenden bzw. abschreckenden inhaltlichen Gegenstand zum Bestimmungsgrund wählt, das liegt an ihr. Wir hätten also neben der kosmologischen Freiheit und ihrem Gesetz eine Freiheit der Willkür des psychologischen Subjekts, sich für oder gegen die Autonomie, sich also frei für oder gegen die freie Selbstbestimmung zu entscheiden. Man muss gleich hinzufügen, dass sich mit diesem letzteren Votum das Subjekt nicht seiner Identität beraubt; es bleibt es selbst auch dann, wenn es sich selbst für die Heteronomie entscheidet. Nachdem Kant die GMS und die KpV verfasst hat, kommt er in der Religionsschrift zu der für die Moral wichtigen Bemerkung: die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. (AA VI 23, Z. 2 – AA VI 24, Z. 5)
Diese Spontaneität der Willkür gehört so wenig wie die Spontaneität des „Ich denke“ in den Bereich der Kosmologie mit ihrer vollständigen Disjunktion von intelligibler oder phänomenaler Welt, sondern wäre im Schema der alten Metaphysik in der Ontologie („Ich denke“) oder Psychologie (absolute „Spontaneität der Willkür“) zu platzieren, so dass sich die gesetzliche Freiheit des Willens und vorgesetzliche Freiheit der Willkür nicht widersprechen. Wie Herkules muss sich die Willkür frei für oder gegen die Freiheit entscheiden, per aspera ad astra oder hinab in den Sumpf der sinnlichen Lüste. Mit diesem unserem Hilfsgerüst verfügen wir über zwei Pole; einmal die eigene Gesetzgebung des freien Willens oder der reinen praktischen Vernunft, zum anderen die freie Willkür des Subjekts, für oder gegen die gesetzliche Freiheit zu votieren. Damit wäre es möglich, das Unerlaubte
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und Pflichtwidrige frei zu begehren und die Pflicht und das Erlaubte frei zu verabscheuen, also etwas Böses zu tun und zu verantworten. Die Wirklichkeit des Bösen In der christlichen Lehre wird das böse Handeln der Menschen durch die Erbsünde ermöglicht. Die Erbsünde erklärt zugleich die Möglichkeit wie auch die Wirklichkeit des Bösen im postlapsarischen Zustand der Menschheit. Gegen die Lehre von der Erbsünde wandten die Sozinianer ein, sie könnten sich nicht an die Taten Adams und Evas als eigener erinnern und wollten keine Strafe für fremdes Vergehen auf sich nehmen; nur die eigenen sündhaften Taten könnten sie auch selbst verantworten. Diese Position ist für Kant nicht hinterschreitbar. Er suchte jedoch die Antwort auf eine Frage, die die Sozinianer nicht weiter interessierte: Wie erklärt sich die durchgängige Wirklichkeit des Bösen? Wie kommt es, dass die Menschen nicht ihrem eigenen Vernunftgesetz folgen? Die gesamte Geschichte der Menschheit ist von bösen Taten geprägt – wieso sind die Menschen insgesamt so verdorben? Immer schon, seit Beginn der Menschheitsgeschichte, wie die Lehre von der Erbsünde sagte. Kant versucht, diese Lehre zu retten, indem er sie entmythologisiert und in eine Vernunftbegrifflichkeit übersetzt und sowohl bei einzelnen exorbitanten Individuen wie auch der Menschheit im Ganzen geltend macht. In beiden Fällen gibt es eine intelligible Untat, die die empirische Verdorbenheit als Faktum erklärbar machen soll. Die intelligible, also zeitlose und nicht empirische, aber immer präsente Urtat besteht in einer grundsätzlichen Verkehrung der Maximen: Statt in empirischen Situationen zunächst auf das Sittengesetz und dann erst auf die Neigungen zu hören, verkehrt das intelligible Subjekt die Reihenfolge und stellt die Neigungen an den Anfang („Paradoxon der Methode“, AA V 62, Z. 36). Der empirische Charakter reproduziert die Verkehrung seines intelligiblen Ursprungs und handelt so aus freien Stücken böse. Es ist keine platonische Anamnesis von Erkenntnissen, sondern eine zeitlose Präsenz des Noumenalen im Phänomenalen. Wir vergegenwärtigen uns diese bizarre Rettung der Wirklichkeit des Bösen in drei unterschiedlichen Werken. In der Anthropologie (1798) heißt es: Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm [dem Menschen, R.B.] ein Hang zur thätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d. i. zum Bösen, sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch seinem sensibelen Charakter nach auch als (von Natur) böse zu beurtheilen, […]. (AA VII 324, Z. 24-29)
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Dass die üblen Handlungen freiwillig angenommenen Grundsätzen entspringen, lässt sich nicht unmittelbar erkennen, sondern nur auf Grund einer Theorie erschließen. Man wird vermuten, dass diese Theorie unhaltbar ist, denn sie macht ein Individuum für seine Taten dadurch moralisch verantwortlich, dass es freiwillig böse Grundsätze angenommen haben soll; das Kind kann sich jedoch an den Akt dieser Annahme und den Grund dafür so wenig erinnern wie an den Sündenfall Adams als eigener Tat. Nun appelliert Kant an keine Erinnerungsleistung, sondern enthüllt nur den moralischen Kern einer unerlaubten, bewusst als solcher begangenen Handlung, aber wie kann die Tat die des identischen Subjekts sein? Wir werden diese Problematik vertiefen. In der „Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ gibt es einen drastischen Anwendungsfall in Form eines empirisch erkennbaren Bösewichts. Wir beziehen, heißt es dort, Handlungen auf das intelligible Substrat in uns. In dieser Rücksicht, die unserer Vernunft natürlich, obgleich unerklärlich ist, lassen sich auch Beurtheilungen rechtfertigen, die, mit aller Gewissenhaftigkeit gefällt, dennoch dem ersten Anscheine nach aller Billigkeit ganz zu widerstreiten scheinen. Es giebt Fälle, wo Menschen von Kindheit an, selbst unter einer Erziehung, die mit der ihrigen zugleich andern ersprießlich war, dennoch so frühe Bosheit zeigen und so bis in ihre Mannesjahre zu steigen fortfahren, daß man sie für geborne Bösewichter und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, für unverbesserlich hält, […].
Gleichwohl rechne man ihnen ihre Verbrechen als Schuld zu; denn die üblen Handlungen sind „die Folge der freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze“ (AA V 99, Z. 37 – AA V 100, Z. 14).15 Dass ein dermaßen stigmatisiertes Kind am Ende alle bösen Erwartungen erfüllt und übertrifft, versteht sich von selbst. Ist die apriorische Konstruktion des Bösen in der faktischen Gesinnung haltbar? Die Annahme, bestimmte empirisch identifizierbare Menschen würden als Bösewichter geboren, widerspricht nicht nur, wie Kant meint, dem ersten Anschein nach aller Billigkeit, sondern dem reflektierten Urteil, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt. Sollten uns die wahren Motive des Handelns nicht verborgen bleiben, so dass wir zwar das Faktum des sittlichen Imperativs bei jedem Menschen voraussetzen können, jedoch nie wissen, ob eine Handlung tatsächlich nur aus Pflicht geschah, also auch (so ergänzen wir): nur aus einer unverbesserlichen bösen Denkungsart? Die Beurteilung des Guten und Bösen bleibt auch dem geborenen Bösewicht erhalten (AA IV 454, Z. 21 – AA IV 455, Z. 9); kann sich damit nicht auch das Gute in das böse Handeln einmi-
_____________ 15 Zur stoischen Vorlage vgl. Steinmetz 1994, 693.
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schen? „Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünftigen Menschen Urtheil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheues; […].“ (AA V 60, 37– AA V 61, Z. 2) Das böse Kind verabscheut also in seinem Urteilsvermögen das Böse; könnte es nicht sein, dass die Handlung, die wir als böse beurteilen, auch durch das Gute und den Abscheu vor dem Bösen motiviert ist? Oder ist es schon bei der Geburt so entmenschlicht, dass es kein sittliches Urteilsvermögen hat? Nun ist der Text zum geborenen und renitenten Bösewicht noch dadurch belastet, dass in ihm von „freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze[n]“ (AA V 100, Z. 12-13) die Rede ist. „Unwandelbar“? Wie kann das Kind dann noch Subjekt des kategorischen Imperativs sein? Das ist innerhalb der kantischen Theorie gänzlich unmöglich; es hieße, dass wir es wenn nicht mit Teufeln, so doch mit sonst nicht näher bestimmten Unmenschen zu tun haben. Die Religionsschrift wird diesen Fehler vermeiden und das Böse an die Möglichkeit des moralischen Wandels und Fortschritts binden. Kant lehrt 1792 bzw. 1793, dass jeder Mensch selbst sein moralisches Versagen erwirkt und entsprechend für sein böses Handeln verantwortlich ist. Wir werden nicht durch eine Naturmacht überwältigt, sondern machen selbst die Neigungen immer schon zu Protagonisten unseres Willens. In der Religionsschrift wird so das radikal Böse der Menschen überhaupt in einer intelligiblen Tat begründet. Es kann aber der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objecte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun That in der ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen […]. Jene ist intelligibele That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar […]. (AA VI 31, Z. 2133)16
Der empirische Charakter des bösen Menschen ist der Ausdruck des ihm zugrunde liegenden intelligiblen Charakters, den die Person sich selbst zuzieht. Ist diese Konstruktion haltbar? Der Akt der Annahme böser, verkehrter Grundsätze in einer intelligiblen Tat ist entweder unbegründet oder begründet (dies gilt auch schon für die beiden zuvor erörterten Fälle einzelner Menschen). Im ersten Fall tritt an die Stelle des Grundes der pure Zufall; damit aber kann es sich nicht mehr um eine von einem Subjekt zu verantwortende Tat handeln.
_____________ 16 Goethe 1988, 166; Schiller 1955, 280-282.
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Ist die Annahme dagegen begründet, gibt es einen vernünftigen Grund, der jedoch in einen unendlichen Regress führt, denn um das erkennbar Böse dem Guten vorzuziehen, bedarf es schon einer bösen Willkür. In beiden Fällen ist nicht ersichtlich, warum der Mensch sich die anonyme Tat als seine zueigen machen soll, damit aber auch, welchen Erklärungswert die intelligible Tat gegenüber der Konstatierung der Unerklärbarkeit realer böser Gesinnungen haben kann. Der Akteur im Menschen muss eine intelligible Willkür sein, denn ein intelligibler Wille ist an das Freiheitsgesetz gebunden, die Zerstörung der Autonomie und der Freiheit kann jedoch nicht als Wirkung von Freiheitsgesetzen begriffen werden. Während das böse Kind 1788 unverbesserlich ist, steht dem radikal Bösen des Menschengeschlechts eine „ursprüngliche[n] Anlage zum Guten in der menschlichen Natur“ (AA VI 26, Z. 2-3) entgegen, es kann im Fortschritt zum moralisch Besseren allmählich, wenn auch nicht endgültig überwunden werden. In dieser Konfiguration lässt sich der Mensch als Person mit einer sittlichen Würde fassen, während dies beim unverbesserlich bösen Kind nicht möglich ist, es unterliegt nicht der Bestimmung zum Menschen, sondern wird als sittlich entartet geboren.
3. Zwecke der Natur Der Naturzweck Die Analytik der teleologischen Urteilskraft geht aus von objektiven (und nicht subjektiven, ästhetischen), materialen (und nicht formalen wie etwa Figuren der Geometrie) Zwecken der Natur. Ihre Gegenstände sind Körper in Raum und Zeit, die nach den Grundsätzen der KrV bestimmt sind, also auch nach dem „Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft“ (KrV B 256) aller Weltsubstanzen.17 Vom Grundsatz der Wechselwirkung wird in der KU kein Gebrauch gemacht, wohl aber vom Grundsatz der Kausalität. Die Untersuchung Kants ist in ihren begrifflichen Verschlingungen kaum zu durchdringen. Die Definition des Naturzwecks, die sich aus der Deduktion ergibt, lautet:
_____________ 17 Statt von Wechselwirkung wird in der Teleologie der KU durchgängig von „wechselsweise“ (AA V 371, Z. 31 u.ö.) und „wechselseitig“ (AA V 372, Z. 16 u.ö.) gesprochen.
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§ 66. Vom Princip der inneren Zweckmäßigkeit in organisirten Wesen. Dieses Princip, zugleich die Definition derselben, heißt: Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben. (AA V 376, Z. 8-14; auch AA XXI 210, Z. 11-13)
Die Argumentation, die zu dem angeführten Prinzip hinführt, beginnt folgendermaßen: Die Erfahrung leitet unsere Urtheilskraft auf den Begriff einer objectiven und materialen Zweckmäßigkeit, d. i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann, wenn ein Verhältniß der Ursache zur Wirkung zu beurtheilen ist, welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Causalität ihrer Ursache, als die dieser [der Ursache, R.B.] selbst zum Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren [der Wirkung, R.B.], unterlegen. (AA V 366, Z. 27 – AA V 367, Z. 3)
Ein Erfahrungsding existiert als Naturprodukt oder Naturzweck, „wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist“ (AA V 370, Z. 36-37), d.h. es muss „sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten“ (AA V 372, Z. 16). Diese kausale Wechselseitigkeit (nicht Wechselwirkung!) der Glieder in einem einzigen Naturding lässt sich zunächst nur in paradoxer doppelter Zeitrichtung denken, so dass von der Ursache in t1 zur Wirkung in t2 eine (die einzig daneben mögliche)18 Kausalität von t2 zu t1 zugesellt wird. Der reale nexus effectivus wird durch den idealen (nur vorgestellten) nexus finalis oder idealis (AA V 372, Z. 2335) im entgegengesetzten Zeitsinn ergänzt. Mit dieser Doppelbödigkeit der gegenläufigen Kausalbezüge liegt in dem einen, sich selbst organisierenden Selbst des Dinges beides: Die materiale Realität der Naturursachen und -wirkungen gemäß dem Kausalgrundsatz der KrV (t1 – t2) und die ideale „Realität“ der Zweckursachen (t2 – t1). Die erste gewährleistet, dass die Bestimmungen der KrV nicht auf wunderbare Weise von jedem Grashalm außer Kraft gesetzt werden, die zweite, dass die Zweckhaftigkeit des organisierten Naturprodukts gerettet wird, allerdings um den Preis, dass die reflektierende Urteilskraft auf eine aus der subjektiven Vernunft stammende Komponente zurückgreifen muss, denn die ideelle Antizipation im Zweckbegriff ist unsere Zutat, sie ließe sich also nicht im Energie-
_____________ 18 Von Seneca stammt das Beispiel der zweckmäßigen Kapitalanlage beim Hausbau (AA V 372, Z. 29 – AA V 373, Z. 3), und hier verwendet Seneca gegen seine sonstige Lehre das Vier-Ursachen-Schema von Aristoteles: „Quarta causa est faciendi propositum. Quid est propositum? Quod invitavit artificem, quod ille secutus fecit: vel pecunia est haec, si venditurus fabricavit […].“ (Seneca 1999, III 538 – Epistulae morales ad Lucilium 65, 4-6) Kant betont mit/gegen Seneca, „daß es nicht mehr als diese zwei Arten der Causalität [sc. nexus efficiens und finalis, R.B.] geben könne“ . (AA V 373, Z. 2-3)
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haushalt der Natur als Sonderposten anführen.19 Die gegenläufige Kausalität von Ursache und Wirkung wird von vornherein räumlich im Körper gedacht und sowohl im nexus effectivus wie auch in der Vorstellung der antizipierten Wirkung zeitlich, also schematisiert (AA V 220, Z. 8-9: „Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztern vorher“); deswegen ist sie paradox.20 Im sich organisierenden Produkt der Natur ist für unsere Beurteilung wechselseitig alles Zweck und Mittel (AA V 376, Z. 11-14), jedes Glied also dem anderen äußerlich. Das wiewohl innere (AA V 270, Z. 3; AA V 279, Z. 7 u.ö.) zeitliche und räumliche Auseinander bewahrt vor dem Ungedanken, dass ein ungeteiltes Etwas von sich Ursache und Zweck ist. Die „Zergliederer der Gewächse und Thiere“ (AA V 376, Z. 24) suchen nach der genauen „causa finalis“ der Teile eines Naturprodukts, ihrer Struktur und Lage; wozu dienen die Blätter der Bäume? Der bestimmte Zweck kann von uns nur so gedacht werden, dass er die Wirkung zeitlich antizipiert und die „causa efficiens“ zu seiner mechanischen Hervorbringung bestimmt. Dass alles im Naturzweck eine bestimmte Funktion hat, liegt der Forschung als Definition ihres Gegenstandes zugrunde. Zugleich kann die Naturwissenschaft am „Studium der Natur nach ihrem Mechanism“ (AA V 384, Z. 1) festhalten, denn die Grundsätze des Verstandes gelten uneingeschränkt für Physik und Chemie; sie untersuchen, wie bestimmte Zwecke als Wirkungen einer bestimmten „causa efficiens“ verwirklicht werden. Daher kann von einem „transcendentale[n] Princip der Zweckmäßigkeit der Natur“ (AA V 414, Z. 10) gesprochen werden; transzendental, denn ohne dieses Prinzip wäre Naturerfahrung nicht möglich, sondern würde sich in unendlichen Zufälligkeiten à la Epikur verlieren. Nun überblendet Kant diese Dualität der notwendig nur zwei Zeitrichtungen auf dem eindimensionalen Zeitstrahl durch die Opposition von Verstand und Vernunft; der nexus effectivus sei eine „Causalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht21 wird“ (AA V 372, Z. 19-20), der Zweckbegriff gehöre dagegen der Vernunft an (AA V 372, Z. 25).22 Hiermit überschreiten wir den nur phänomenalen und zeit-
_____________ 19 Kant wird im Spätwerk zuweilen auch die finalen Ursachen zu den realen zählen: „vires moventes sunt vel causarum efficientium, vel finalium“ (AA XXI 198, Z. 7-8). 20 Herausgestellt AA XXI 183, Z. 15-16; AA XXI 184, Z. 23 – AA XXI 185, Z. 3 u.ö. 21 Soll dieses „gedacht“ emphatisch nur auf die nicht-schematisierte Kategorie des Verstandes bezogen werden? Warum sagt Kant nicht „durch den Verstand erkannt wird“? 22 Die Vorstellung von „abwärts“ und „aufwärts“ (AA V 372, Z. 21; 26; 28) kann sich 1. auf räumliche (AA IX 348, Z. 23) oder 2. zeitliche (AA VIII 29, Z. 35) Sachverhal-
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paradoxen Bereich; die Vernunftpräsenz im Naturzweck lässt sich nicht auf die zeitliche Struktur der Antizipation des kausal zu bewirkenden Zustandes in t2 einhegen, sondern sie ist wesentlich bestimmt durch die Verbindung der Teile zu einem Ganzen und vor allem die Form dieses Ganzen, das die Teile zu Gliedern macht, die umgekehrt das Ganze bewirken; so wird der Naturzweck sogleich im § 64 charakterisiert (AA V 369, Z. 30ff.). Von hier ausgehend, sollen im Folgenden Probleme der kantischen Theorie der Naturzwecke und der nachfolgenden Erörterungen der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ exponiert werden, die m. E. zum Scheitern der Theorie führen. Erstes Problem: Die Zwei-Causae-Lehre Es wirken im Naturprodukt als Naturzweck Verstand und Vernunft im doppelten nexus effectivus und finalis zusammen (letzteres immer: „für den, der es beurtheilt“, AA V 373, Z. 24-25). Die Vernunft zeigt sich jedoch weniger in der Finalität, wie sie bisher gekennzeichnet wurde, sondern in der Idee des Ganzen und der „systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen“ (AA V 373, Z. 23-25). Die „absolute Einheit“ (AA V 377, Z. 4; auch AA XXI 210, Z. 24) des Vernunftbegriffs der Form oder der Idee wird nicht in die Ursachen integriert, aber sie macht die wechselseitige Ursachen-Wirkungs- oder MittelZweckbeziehung eines Naturprodukts erst möglich. Darüber hinaus kann nur die Form die von Kant beschriebenen kausalen und finalen Ursachen gewährleisten – wie kann der Baum sonst die fehlenden Teile ergänzen, die ja im Ensemble der Mittel und Zwecke nicht mehr präsent sind? Welche spezielle Ursache dirigiert ohne die Wirksamkeit der Form das harmonische Wachstum? Tritt hier nicht neben die causa efficiens und finalis in Wirklichkeit die causa formalis? Gegen die Einbeziehung eines getrennten Formbegriffs, d.h. einer eigenständigen causa formalis, wendet sich Kant ausdrücklich (AA V 377, Z. 1-16), benutzt jedoch durchgängig den Formbegriff. Die Identifikation der Finalität mit der Form führt uns in die Schwierigkeit, dass dann in der teleologischen Naturforschung nicht nach bestimmten Zwecken bestimmter Gegebenheiten in den Naturprodukten gefragt und geforscht werden könnte, wie wir oben darlegten, sondern auf
_____________ te oder 3. die Relation von Bedingung und Bedingtem beziehen, dies letztere 4. auch in Zeitverhältnissen (KrV A 409-411). Unsere Passage changiert zwischen der 3. und 4. Möglichkeit.
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jede spezielle Nachfrage die immer selbe Form des Ganzen als Antwort dienen muss. Daher wird man dazu neigen, der kollektiven Form gegenüber der distributiven „causa finalis“ eine Eigenständigkeit einzuräumen. Beim Haus ist der vorgestellte dirigierende Zweck, die Miete (AA V 372, Z. 29-33), dem Haus selbst extern; im kantischen Naturzweck dagegen sollen alle Glieder als Mittel und Zweck intern und gleichberechtigt sein; welcher Zweck bestimmt das Ganze? Zweites Problem: Alles ist Mittel und Zweck Kants Erörterung des Naturzwecks kulminiert in der Definition: „Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ (AA V 376, Z. 11-13) Wir waren ausgegangen von einem Ding unserer Erfahrungswelt; wir müssen hier jedoch feststellen, dass es Dinge, wie sie Kant als organisierte Produkte der Natur definiert, nicht gibt. Dies liegt an verschiedenen Gründen. Einmal an dem elementaren Tatbestand, dass jedes derartige Produkt seine eigene Zerstörung vorbereitet und so der Preis der Selbsterhaltung zugleich die zweckwidrigzweckmäßige Selbstvernichtung ist. Das Sterben ist keine Krankheit und erfolgt nicht nur durch äußere Einwirkung, sondern ist, wie der frühe Kant annahm, das natürliche Ergebnis des individuellen Lebens (AA I 198, Z. 4-34).23 Bezieht man den Begriff des Naturprodukts jedoch nicht auf das sterbliche Individuum, sondern auf die Gattung, entsteht die Schiefheit, dass der Baum sich nicht allein als Gattungswesen reproduzieren kann, sondern angewiesen ist auf externe Mittel, die im Naturprodukt selbst organisierend eingeplant, aber nicht auffindbar sein müssen. Die Zweigeschlechtigkeit wird nur einmal marginal angesprochen (AA V 425, Z. 24-33), aber sie ist für die von Kant betrachteten Naturprodukte essentiell, beim Baum etwa durch eine externe Bestäubung. Dann aber muss die Vorstellung des Naturzwecks als ein „organisirtes [Ganzes] in einem einzigen Körper“ (AA V 425, Z. 32-33) durch den eines partiell räumlich getrennten organisierenden Ganzen (AA V 425, Z. 32) ersetzt werden; die Bestäubung ist etwas anderes als die Assimilation einer Materie von „äußere[r] Zweckmäßigkeit“ (AA V 425, Z. 16). Zum anderen ist die Feststellung, im Naturprodukt sei alles Zweck und wechselseitig auch Mittel, nicht haltbar, denn die Naturforschung trifft auf organisierte Teile der Naturzwecke, die nicht dem Ganzen und
_____________ 23 Auch Brandt 2007, 477-480.
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den anderen Teilen als Mittel dienen. Wir brauchen nur an das alte Beispiel der Brustwarzen des Mannes zu denken. Das Gegenstück sind Teile, die zwar als Mittel dienen, aber nicht auf Dauer als Zweck vom Ganzen erhalten werden; man denke an die Blätter von Laubbäumen, die im Herbst absterben.24 Jeder Organismus stößt eigene Teile, also „Zwecke“, als bloße, jetzt ausgediente Mittel von sich ab und organisiert sich im Rhythmus einiger Jahre materialiter gänzlich neu, was Kant durchaus vertraut war, was aber gegen seine Formel verstößt, denn damit verlieren die Glieder den Status eines inneren Zwecks. Wollte man auf die materiale Erhaltung der Blätter im Herbst verzichten und nur die Form in Betracht ziehen, die sich zyklisch mit wechselnden Blättern erhält, verlässt man die empirische Ebene, in der Kant die Naturprodukte findet. – Es soll nicht der Begriff des Naturzwecks als eines notwendigen Konzepts der reflektierenden Urteilskraft bezweifelt werden, sondern nur die Definition, die die Naturzwecke zu empirischen Dingen von ideenhafter Vollkommenheit macht. Aber auch Bäume sind nur Stückwerk. Drittes Problem: Die Finalität der Natur in der Geschichte der Menschheit „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“ lautet die Überschrift des § 83 in der Methodenlehre der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“. Der letzte Zweck der Natur kann nicht die Glückseligkeit des Menschen sein, sondern seine Kultur (AA V 430, Z. 4-5). Die Natur zwingt den Menschen, seine Kultur selbst hervorzubringen – so muss die reflektierende Urteilskraft die Naturgeschichte aus der Vorzeit bis in die Gegenwart beurteilen. Lernten wir bisher die Naturteleologie als zyklische Veranstaltung kennen, bei der im Musterfall des Naturprodukts alles zugleich Mittel und Zweck sein soll, sind wir jetzt mit dem Fortschrittskonzept einer Konfliktgeschichte konfrontiert. Dort eine zyklischfriedliche Natur, hier eine linear-bellizistische Menschheitsgeschichte, die ausbricht aus dem Zyklus der Natur und eine einmalige, mit Unterbrechungen geradlinige Emanzipation aus der natürlichen Fremd- zur moralischen Selbstbestimmung vollzieht, d.h. zur Reproduktion der zyklischen Natur in der Moral, in der endlich niemand für den anderen nur Sache, sondern immer auch Zweck seines freien Handelns ist. Die Grundstruktur ist hier die des Antagonismus der Menschen untereinander, sie bekämpfen
_____________ 24 Kants Hinweis auf die Entblätterung eines Baumes durch einen äußeren Akt (AA V 277, Z. 13-16) ist zu ergänzen durch das Abwerfen der Blätter durch den Baum selbst.
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sich, um in den Besitz der knappen Güter der äußeren Habe, der Ehre und der Macht zu gelangen. Die bloß zweckorientierte providentielle Natur treibt die Menschheit mit der entfesselten Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht und dem Willen zur Macht eines jeden gegen alle anderen voran und entwickelt unter dieser Pression die natürlichen Anlagen der Kultur, der Zivilisation und am Ende sogar der Moral. Während Rousseau die sich zivilisierende Menschheit aus der Natur ausgliedert, will Kant die Kulturgeschichte unter die Obhut der Natur und der Vorsehung stellen. War die zyklische Natur vom Prinzip der Gleichheit aller Glieder als Mittel und Zweck bestimmt, so ist das Mittel der linearen Natur unter den Menschen die Ungleichheit (AA V 432, Z. 14)25, mit ihr entsteht das glänzende Elend von Not und Luxus, wodurch die Naturanlagen und Künste hervor getrieben werden. Die Natur schürt die Laster bis zur gegenseitigen Zerstörung in den Kriegen, die die Menschen zwar vom Glück entfernen, aber zwingen, „alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln“. (AA V 433, Z. 14-15) Die Menschen agieren auf der Bühne ohne allgemeine Absichten, aber die Natur fügt das Widerstrebende am Ende, so weiß der Philosoph, zu einem guten Ganzen zusammen; aus Freiheit werden sie dann jeden anderen zum Zweck, nicht nur Mittel, ihres Handelns machen, dann wird wie schon jetzt in jeder Pflanze auch für alle Menschen gelten: „Einer für alle, alle für einen“ (d’Artagnan). Die Natur verfährt rein utilitaristisch, ihr ist das Toben eines Tamerlan wichtiger als die gute Tat eines Rentners, und die segenreichste Figur der neueren Geschichte wäre zweifellos Hitler, auf den die europäische Einigung, eine Friedensphase von bisher unbekannter Dauer und sogar die UNO zurückgehen. In einer „philosophischen Geschichte“ (AA VIII 31, Z. 9-10) gebührt den wirksamen moralischen Monstern ein besonderer Platz. Diese Utilitäts-Teleologie gibt es nicht in der außermenschlichen organischen Natur, sondern nur in der Geschichte der Menschheit im Ganzen. Auch von ihr kann gelten, dass nichts umsonst ist, sondern alles nützliches Mittel für den Endzweck der Gattungsgeschichte, nicht jedoch gilt, dass in dieser Natur alles zugleich Mittel und Zweck ist. Im Krieg als dem
_____________ 25 Mit der Formulierung „Ungleichheit unter Menschen“ (AA V 432, Z. 14) erinnert Kant an Rousseaus Discours De l´inégalité parmi les hommes (1755). Die Ungleichheit ist dort Produkt und Ursache des Abstiegs der Menschheit, bei Kant umgekehrt ein von der Vorsehung eingeplantes Mittel des Fortschritts. Hier gehen in die Mittel der Natur, die die reflektierende Urteilskraft entdeckt, auch die eigenen Zwecke der Menschen ein, die „private vices“, die zum „public benefit“ führen, ohne dass die menschlichen Akteure dies beabsichtigen; auf diese Komplikation soll hier nicht eingegangen werden.
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Extrem aller nützlichen Übel fungieren die Menschen nur als Mittel und werden zu Sachen im Gemetzel des Kriegs-Schlachtens (AA VII 89, Z. 14). Das Modell des intraspezifischen Antagonismus als der Triebkraft der Geschichte findet sich in der Kosmogonie der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755): Die Attraktion und Repulsion der Materieteile bewirken die Ausbildung unseres Kosmos. Die Kräfte für sich sind blind und wirken rein mechanisch, die Anlage im Ganzen ist jedoch gesteuert durch ein ursprüngliches Programm der Vorsehung. In der antagonistischen Mechanik von 1755 fehlt noch die Vernichtung schon fertiger Systemteile, wie es in der Evolution der menschlichen Gattung gegeschieht; ganze Staaten können einander umstürzen und verschlingen, bis am nie erreichbaren Ende aller Tage ein stabiles Rechts- und Tugendsystem realisiert ist. Kant versucht in der KU, diese antagonistisch prozedierende Natur in das teleologische Kontinuum vom einzelnen Naturprodukt zum moralischen Endzweck des einzelnen Menschen zu integrieren. Tatsächlich zerstört jedoch der Geschichtsdämon in jeder präsenten Generation die Beziehung auf einen moralischen Endzweck in der Welt. Das moralisch Gute, dem wir verpflichtet sind, kann in einer Tamerlan-Natur nicht mit Sicherheit Fuß fassen, sondern läuft Gefahr, vom nächsten geschichtsmächtigen Monstrum weggewischt zu werden. Eben dies ist in der symbiotischen, vordarwinistischen Natur nicht der Fall. Es stehen sich also zwei Teleologietypen gegenüber, ohne dass Kant dies besonders markiert. Beim ersten ist es die Kooperation aller Glieder der Naturprodukte, die sich durch ihre Mittel-Zweckbeziehungen selbst erzeugen und erhalten sollen, beim zweiten ist es die paradoxe Kraft des Negativen, des Bösen und der Übel, die den Erhalt und Fortschritt des Systems der menschlichen Gattung erzeugen. Die duale Anlage entspricht der Dopplung von Schön und Erhaben in der Ästhetik: Während sich das Schöne durch seine Harmonie als zweckmäßig für den Menschen in seiner Erkenntnis und Moral erweist, ist es das Erhabene durch seine Dissonanz, die zur Selbstentdeckung der moralischen Freiheit führt. Im Schönen nehmen alle Teile Rücksicht auf einander, im Erhabenen zeigen sich die Größe und die Macht rücksichtslos, demütigen den sinnlichen Menschen und erhöhen dadurch die Moral. Gehen wir zurück zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhaben (1764), so finden wir die Vorzeichnung in der dualen Anthropologie von weiblich-schön und männlich-erhaben (AA II 228-243). Lassen wir unsere Einbildungskraft von hier in die Zukunft spielen, so scheint in dieser Naturteleologie die Dualität von Links und Rechts in der europäischen Politik vorgezeichnet. Hier der linke Gedanke der Brüderlichkeit, die niemanden fallen lässt, dort die „private vices, public benefit“-Partei,
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die mit dem Profit der Einzelnen zum guten Ende für alle zu führen meint. Kants Einbindung der Menschheitsgeschichte in die Naturteleologie hat u.a. eine moralische Absicht: Wenn man auf Grund der überwältigenden Übel zum Ergebnis kommt, die „Hand eines bösartigen Geistes“ und nicht die „Anordnung eines weisen Schöpfers“ (AA VIII 22, Z. 1-3) leite unsichtbar die Menschheit, dann führt diese vermeintliche Erkenntnis zum moralischen Defätismus; im Infernum mit dem Motto des „lasciate ogni speranza“ ist alles sittliche Handeln chimärisch. Zum Schluss: Kann der Versuch, die mörderische Fortschrittsgeschichte in die Zweckstruktur der Natur einzubetten, überzeugen?
4. Kritik und Aufklärung In einer weiten Fassung des Begriffs der Aufklärung ist alle Reflexion, die mit Gründen auf etwas Allgemeines zielt, Aufklärung. Die Vorsokratiker wandten sich kritisch-reflektierend und auf Begründungen drängend gegen den Mythos mit seinen kuriosen Welterklärungsmärchen, diese Protoaufklärung wurde verschärft in der Sophistik und dann von Platon fortgesetzt. Die platonischen Dialoge kritisieren die Meinungen und Vorurteile, den Autoritäts- und Aberglauben der Gesprächsteilnehmer und entwickeln nach dem eingestandenen Nichtwissen neue, auf Gründe gestützte Prinzipien. Nun verbinden wir mit dem Begriff der Aufklärung zugleich eine bestimmte Epoche und ein in ihr entwickeltes Programm. Nach allgemeinem Konsens ist Kant der prominenteste Wortführer der Sache der Aufklärung in der nach ihr benannten Epoche, und bei Kant ist es wiederum der erste Absatz der Aufklärungsschrift von 1784, der unvermeidlich zitiert wird, wenn das Wort oder der Begriff der Aufklärung im deutschen Sprachraum aufgerufen wird: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. […] Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (AA VIII, 35, Z. 1-8) Kant gibt der griechischen Aufklärungsidee und dem römischen „sapere aude“ eine neue, bis heute wirksame Richtung. Der erste Absatz lädt den Leser zu einem Irrtum ein, dem Hegel und, soweit verständlich, Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (1944)26 erlegen sind. Die Schrift im Ganzen zeigt, dass die Aufklärung, zu der Kant aufruft, keine Sache des Verstandes ist und nichts mit
_____________ 26 Hierzu Hinske 1973, XIII-XV; Scholz 2006.
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theoretischer, auch instrumenteller Erkenntnis zu tun hat, sondern sich an die praktische Vernunft richtet, und hier wiederum gegen zwei Institutionen, die das christliche Europa beherrschen, Staat und Kirche. Die Aufklärung ist nicht primär eine Sache der paideia, der cultura animi oder der Bildung und Wissenschaft auf den verschiedenen Gebieten der Erkenntnis, und sie ist keine Sache einzelner oder auch vieler Individuen; dazu bedarf es keines Wahlspruchs. „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, wohl aber in einem Zeitalter der Aufklärung.“ (AA VIII 40, Z. 17-19) Aufklärung ist ein Programm der Kritik, das auf eine historische Konstellation verweist. Die Idee wird öffentlich zuerst in der Vorrede der KrV 1781 formuliert: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können. (KrV A XI)
Die Aufklärungsschrift geht auf diesem Weg weiter, sie zielt auf die Befreiung von Thron und Altar und ihre Ersetzung durch die Republik und ein ethisches Gemeinwesen. Das Selbst, das sich aus der Bevormundung befreien soll, ist die Person in rechtlicher und ethischer Hinsicht; sie soll durch eigenes und gemeinschaftliches Handeln in beiden Bereichen ihre Autonomie verwirklichen. Die kantische Aufklärung ist also erstens kein (bloßes) Bildungs- und Wissenschaftsprojekt, und sie wird zweitens vom Einzelnen nur im Gleichklang mit der Epoche bewältigt; drittens hat sie keine beiläufigen technischen Verbesserungen zum Ziel, sondern das zentrale Gebot der reinen praktischen Vernunft: Es soll die Heteronomie durch die Vormundschaft zweier gesellschaftlicher Institutionen zurückgenommen und in sittliche Autonomie verwandelt werden. Der Mensch ist zur moralischen Selbstbestimmung bestimmt, im Rechtsbereich zur Republik und in der Ethik zu einer Selbstgesetzgebung, die sich von den Einflüsterungen der Offenbarungsreligion befreit und zu einer eigenen sittlichen Gemeinschaft gelangt. Diese beiden Bereiche der Autonomie der Menschen werden nur vorsichtig angedeutet, aber sie machen die Wirkungskraft der kleinen Schrift aus. „Selbst verschuldet“ ist unfair; zwar ist der Mensch durch seine eigene Vernunft mündig, aber der lange Weg durch die Geschichte ist vorgesehen und durch keinen einzelnen heroischen Akt ersetzbar. Unsere Überlegungen zerfallen in drei Teile: Wir wenden uns zuerst der von Kant nicht oder nicht primär gemeinten Aufklärung des Verstandes zu, untersuchen dann die Front der beiden Mündigkeitsverhinderer
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Staat und Kirche und gehen danach auf die Frage ein, welche Barrieren sich heute mutatis mutandis der Autonomie entgegen stellen, so dass die Devise der Aufklärung zu den Teilen der kantischen Philosophie gehören soll, die gewiss bleiben. Die Emanzipation des theoretischen Verstandes Im alten Athen lachte man über den Sophisten Hippias von Elis, der als Tausendkünstler auftrat, der sich in allen Lebenslagen nur seines eigenen Verstandes bedienen wollte und alles selber machte, ohne sich der Leitung eines anderen, sei es Schusters, sei es Schneiders oder Redners zu bedienen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist dies Unterfangen eine unaufgeklärte Donquijoterie. Aber damit ist die Verstandesseite als Thema der Aufklärung nicht aus der Welt geschaffen. Ich erinnere an drei Varianten aus der Epoche der „lumières“. Aufklärung belehrt den Verstand auf den Gebieten seiner Unkenntnis, sie korrigiert die falschen Meinungen und Vorurteile, die den Zugang zur Wahrheit versperren, und sie erklärt drittens alles Wissen, das das Subjekt sich nicht wirklich selbst angeeignet hat, zu bloßem Plunder. Den Verstand des Menschen auf Gebieten, die ihm bislang unbekannt waren, zu belehren und ihn umfassend über den aktuellen Stand des Wissens zu informieren, ist Ziel der Encyclopédie. Das Werk ist die Fortsetzung anderer Enzyklopädien der Neuzeit, besonders des Barock, aber die Epoche der Aufklärung kürte dieses Pariser Monumentalwerk freier Schriftsteller und Gelehrter zu einem weltberühmten Standardwerk der verkörperten Aufklärung schlechthin. Es war im Prinzip jedem zugänglich, und es behandelte alle Wissensgebiete durch die besten Fachleute in der Sprache, die das Lateinische als universelles Kommunikationsmittel abgelöst hatte. Wer sich über Vorurteile, über das Selbst des Menschen, über Mündigkeit und Staat und Kirche informieren wollte, konnte hier die neuesten Erkenntnisse finden. Die Emphase der Kooperation bei einem Unternehmen, das kein barocker Universalgelehrter mehr bewältigen konnte, die Einbeziehung technisch-handwerklichen und industriellen Erkennens und Könnens, die Abwendung von der Zunftgelehrsamkeit hin zur Öffentlichkeit aller Interessierten machte die Encyclopédie zu einem Werk, das zu keiner Zeit in der vorhergehenden Geschichte hätte geschrieben werden können. Francis Bacon hatte es mit seinem Advancement of Learning
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(1623) in der Idee vorweg genommen und als „bucinator“, als Trompeter der Aufklärung, angekündigt.27 Das zweite epistemische Defizit, das die Aufklärung bekämpft, ist nicht das bloße Nichtwissen, sondern das Pseudo-Wissen, das Vorurteil, die falsche Meinung, die epistemische Verblendung. Dies ist ein sokratisches Thema; die athenischen Bürger, besonders die politisch herausragenden Personen, sind geblendet durch ein vermeintliches Wissen, das zunächst destruiert werden muss, um dann methodisch das wirkliche Wissen aufzubauen. Mit dieser Figur des Gewinns wirklicher Erkenntnis ist analytisch die Kritik verbunden; Sokrates war Kritiker, Kant erhebt das Wort der Kritik zum Achsenbegriff seiner drei bzw. vier Kritiken und erklärt: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.“ (KrV A XI) Den Dreischritt des Pseudowissens, der Kritik und des anschließenden wirklichen Wissens, der die platonischen Dialoge durchzieht, reproduziert das kantische systematische Werk, das sich mit den „Kritik“-Titeln dieser Tradition auf den Gebieten des Wahren, Guten und Schönen einordnet. Dieselbe Figur findet sich in Bacons Schriften, besonders in der Lehre von den Idolen im Novum Organum (1620); die Idole sind vier Formen von Vorurteilen, die zunächst zerstört werden müssen, um für die methodische Erkenntnis Platz zu schaffen. Descartes stellt die Vorurteilskritik an den Anfang der Meditationen (1641); sie werden nicht unter dem Titel der Idole, sondern der Meinungen, der opiniones, verhandelt und betreffen die Dinge der Außenwelt, des eigenen Körpers und die mentalen Leistungen wie die Mathematik. Erst nach dem methodischen Zweifel kann der feste Punkt gewonnen werden, von dem aus sich eine stabile Erkenntnis der Psychologie, der Theologie und der Kosmologie aufbauen lässt. Hiermit sind die Voraussetzungen gewonnen, die John Locke zu seiner Erkenntniskritik führen (unser drittes Argument). Pseudo-Erkenntnis ist alles Wissen, das wir uns nicht aus eigener Kraft angeeignet haben. John Locke wendet sich der Notwendigkeit des Selbstdenkens am Ende des ersten (I 4, 23) und des letzten (IV 20) Buches seines Essay Concerning Human Understanding (zuerst 1690) zu. Wie in seiner Theorie der persönlichen Identität und des Eigentums liegt auch der Erkenntnis ein stoisches Modell zugrunde, gemäß dem sich der Mensch sei es seine eigenen Taten aus früherer Zeit durch den eigenen Akt des Gedächtnisses, sei es Teile der Natur durch eigene Arbeit zueignet. Auch bei der menschlichen Erkenntnis stehen wir vor der Aufgabe, uns die Inhalte des Wissens selbst
_____________ 27 Bacon 1962-1963, IV 579 – De Dignitate et Augmentis Scientiarum IV 1.
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anzueignen (appropriate), statt sie wie etwas Fremdes nur zu rezitieren. So wie die Pflanzen und Tiere den materiellen Stoff ihrem eigenen physischen System aus eigener Kraft assimilieren müssen, so soll der Mensch sich den logos, den Lern- und Erkenntnisstoff, selbst zueigen machen.28 Die Gegenkräfte sind Faulheit und Dummheit. Durch diese Einbettung der Selbst-Konzeption in die (stoische) Naturphilosophie ist die Locke’sche Theorie stationär und individualistisch. Die Erweiterung, die diese Gedanken erfahren, wird schon durch den Programmtitel der Aufklärung angekündigt; Aufklärung ist nicht mehr Sache nur eines Individuums, sondern der Gesellschaft und der Epoche. Bei Kant ist entsprechend der Aufruf zum Selbstdenken sozial- und geschichtsphilosophisch angelegt. Es bleibt jedoch der Appell an das Individuum erhalten: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (AA VIII 35, Z. 6-7).29 Der Mangel des Verstandes ist nicht selbst verschuldet, die Locke’sche Dummheit fällt deswegen als Opponent im Wahlspruch der Aufklärung fort. Bevor der Schritt vom isolierten Individuum zur Gesellschaft verfolgt wird, soll noch eine kantische Stereotype der Aufklärungsphilosophie eingerückt werden, die die Spannung von Individuen und „jedem anderen“ mitreflektiert. Selbst denken, an der Stelle jedes anderen denken, jederzeit mit sich selbst einstimmig denken Kant nennt diese drei Forderungen an verschiedenen Orten in seinen Schriften.30 Dabei wird die Anordnung streng eingehalten – warum? Es fällt nicht nur die Konstanz der Reihenfolge und der Anzahl auf, sondern auch der Gleichklang mit den drei Formeln des Ulpian in der kantischen Rezeption: „Honeste vive, neminem laede, suum cuique.“ Am Anfang steht die Selbstbegründung der Person als solcher; sodann folgt die Beziehung auf jeden anderen, und drittens die Einstimmigkeit unter einer Ordnung, die mich selbst und die anderen vereint. In der Kategorientafel wird dasselbe alte Muster verwendet: Substanz des Selbst, Kausalität im Hinblick auf anderes, Wechselwirkung von Selbst und Anderen. Man sieht: Eine Änderung der Reihenfolge wäre absurd, Kant arbeitet mit einer geordneten Konstellation.
_____________ 28 Zu Lockes Konzept der Appropriation siehe Brandt 2006. 29 Noch ganz in Locke’scher (auch Wolff’scher) Manier behandelt Kant das Selbstdenken um 1770, siehe in der Logik Philippi AA XXIV 321; zur Wolff-Nähe siehe Hinske 1973, XVII. 30 Vgl. AA V 294, Z. 14 – AA V 295, Z. 19; AA VII 200; 228; Refl. 454, 456, 1508.
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Gesetzgebung und Freiheit der Feder Oben wurde aus der ersten Auflage der KrV zitiert; der Text lautet mit seiner Erläuterung: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen.“ (KrV A XI) Kant operiert in der Aufklärungsschrift mit zwei Gegnern einer aufklärerischen Kritik, dem Staat und der Kirche; er sieht zwei mögliche Adressaten des Projekts der Aufklärung, das Individuum und das Publikum, und dies letztere tritt wieder in zwei Funktionen auf, der des subordinierten Staatsbürgers und der des freien Publizisten. Der Staat tritt als Gegner kaum in Erscheinung, Kant widmet sich, ich meine aus strategischen Gründen, fast nur der Religion. Das zweite Gegensatzpaar wird dadurch aufgelöst, dass das isolierte Individuum sich als ungeeignet für die Idee der Aufklärung erweist und deswegen in das Publikum integriert wird, aber natürlich Zielpunkt bleibt; das dritte Gegensatzpaar bleibt bestehen, das Dasein als Staatsbürger erlebt jedoch eine allmähliche Metamorphose durch die Einwirkung der aufklärenden Publizistik; die Richtung der Metamorphose weist aus der aufgeklärten Despotie in die Republik und aus der Offenbarungskirche in das ethische Gemeinwesen. Das Individuum ist mit der Aufgabe, sich seines eigenen Verstandes in essentiellen Angelegenheiten (wir erfahren erst später, welche das ungefähr sein könnten) zu bedienen, hoffnungslos überfordert. Locke wird korrigiert: Wichtig ist nicht die naturgegebene oder gesellschaftlich bedingte Dummheit, sondern der Mut, über den jeder verfügen kann, so dass der Mangel an Aufklärung nicht an den Umständen liegt, sondern (im Rahmen der historischen Entwicklung) an jedem selbst und somit selbst verschuldet ist. Gegen „Faulheit und Feigheit“ richtet sich der Appell, selbst zu denken: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ (AA VIII 35, Z. 9-16) Das ist flüchtig notiert und führt doch gut ein in die konstellative Gedankenführung. Warum gerade diese drei Beispiele? Beginnen wir mit dem Arzt; er ist zuständig für den menschlichen Körper und wird an der medizinischen Fakultät ausgebildet; dann kommt der Seelsorger, der an der theologischen Fakultät studiert. In der Trias von Seele, Körper und äußeren Gütern31 fehlt der Jurist, der nur vage mit dem Buch angesprochen wird, weil er hier tatsächlich
_____________ 31 Siehe auch die Stufen des cartesischen Zweifels, Brandt 2001, 111-124.
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keine Funktion hat. Wir werden gleich auf eine andere Konstellation treffen, die nicht in der antiken auf das Individuum bezogenen Güterordnung fundiert ist, sondern in der korrespondierenden Gesellschaftsordnung. Betrachten wir die Aufklärungsschrift im Ganzen, so kommen wir zu dem Urteil, dass der Eingang zwar rhetorisch gelungen ist, Kant jedoch gleich mit zwei Schiefheiten beginnt. Mit dem Verstandesbegriff und den nachfolgenden drei Fakultäten der Jurisprudenz, Medizin und Theologie wird der Eindruck erweckt, als gehe es um theoretische Erkenntnis, die man im Studium erwerben und deren Inhalt man sich nun selbst aneignen könne. Das führt weg von dem Bereich, in dem Autonomie und Heteronomie ihren Ort haben, wie gleich danach zu sehen ist. Es geht bei der Aufklärung nicht um theoretische Zusammenhänge, sondern um praktische. Zweitens suggeriert Kant, Frauen sollten sich an der Aufklärung beteiligen; aber nach allen anderen Äußerungen ist dies nicht seine Meinung, das „ganze schöne Geschlecht“ (AA VIII 35, Z. 19) ist zum Denken und Handeln nach eigenen Vernunftgrundsätzen nicht in der Lage. Die wenigen Individuen, denen die heroenhafte Befreiung von den Vormündern gelingt, kommen und gehen ohne Zusammenhang und ohne Folgen. Erst in der Vergesellschaftung kann die Aufklärung zu einer geschichtsmächtigen Kraft werden, wobei die Bindung an das unaufgebbare Selbst erhalten bleibt. Erst in der aufgeklärten Gesellschaft bleibt das Selbst keine sporadisch-zufällige Erscheinung, sondern wird auf Dauer mündiges Subjekt in einer historischen Bewegung32. Mit dem Übertritt vom Individuum zum Publikum tritt die Dichotomie von staatlicher „res publica“ und der literarischen Öffentlichkeit in der Republik der Gelehrten auf den Plan, deren Antagonismus eines der Zentren der kantischen Reflexion bildet. Die beiden Republiken sind einander in mannigfaltigen Weisen zu- und gegengeordnet. Der Staat ist der feudale Ständestaat; die drei Funktionsträger Finanzrat, Offizier und Geistlicher (AA VIII 36, Z. 34ff.) vertreten den Nähr-, Wehr- und Lehrstand, denen der Vierte, der König, gegenüber tritt. Der Vierte ist, wie häufig in der Konstellation 1, 2, 3 / 4, der Hoffnungsträger: „[…] räsonnirt soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“ (AA VIII 37, Z. 3-4). Dem König ist allerdings nicht bewusst, dass das freie Räsonnement die Monarchie aushöhlen und durch die freie Republik ersetzen wird.33 Sein fingierter Spruch ist das Echo zweier Sätze aus der Antike. Einmal klingt das Cicero-Zitat „Oderint dum metuant“ („Sollen sie mich ruhig hassen, solange sie mich fürchten“) im literarischen Duktus
_____________ 32 Der Begriff der Bewegung wird in diesem Sinn von Kant noch nicht gebraucht. 33 Brandt 1998, 60-81. Man sieht, dass hier Staat und Gesellschaft noch identifiziert werden müssen.
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nach34, zum anderen, inhaltlich wichtiger, das Wort des Heiligen Paulus: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“35. Die Gegeninstanz zur weltlichen Macht, dort die Kirche, hier der Philosoph, ruft zur Anerkennung der Zweiteilung auf; ohne einen stabilen Staat (bei Kant: bald der Republik) ist keine Aufklärung möglich. Als ob gerade eine Revolution das staatliche Gefüge erschüttert hätte, durchzieht die kantische Schrift die Warnung, die öffentliche Ordnung nicht zu stören. Jeder Bürger ist zunächst Teil der Staatsmaschine, er ist zum Gehorsam verpflichtet, die Subordination unter die Regierung unaufkündbar. Nur im ruhenden Staat, und mag er auch despotisch sein, ist die tief greifende welthistorische Bewegung der Aufklärung möglich, sicher nicht in der ihm entgegen gesetzten Anarchie. Wie die Stabilität des römischen Reichs die Entwicklung der christlichen Kirche ermöglichte, so ermöglicht einzig der in sich stabile, wenn auch despotische Staat das große Unternehmen, die Bestimmung des Menschen durch Aufklärung zu fördern. Das „heilige Recht“ der Publikationsfreiheit36 verleiht dem Geist sein Dasein und seine Wirksamkeit. Kant versucht zu zeigen, dass die Schriften keine Agitation betreiben und den Staatskörper bzw. die Staatsmaschine nicht zerrütten, sondern im Gegenteil fördern, aber dass sie unabhängig von den Schadens- oder Nutzerwägungen zu den Menschenrechten gehören und im gleichen Vernunftrecht verankert sind wie der Staat selbst; ihre Zensur überschreitet daher die rechtliche (und inhaltliche) Kompetenz staatlicher Kontrolle. Eine durchsichtige List der Vernunft: Der Staat bleibe, so suggeriert die Vernunft, in seiner Ruhe ungefährdet, wenn die Gedanken nur in ihrer gelehrten Allgemeinheit und Unschuld öffentlich zirkulieren. Sie sind nicht subversiv – aber jeder Leser versteht, dass sie den monarchisch-feudalen Staat in eine Republik verwandeln wollen und werden und dass die leblosen Teile der Staatsmaschine sich dann in lebendige Glieder eines Organismus verwandeln. Kant benutzt nicht den Begriff der Presse- oder Preßfreiheit, institutionengeschichtlich ist jedoch die von ihm als angeborenes Recht geforderte Publikationsfreiheit das Pendant zur Freiheit der Presse, und beide sind Vorläufer der sog. Vierten Gewalt. Diese setzt den gewaltenteiligen republikanischen Staat mit Legislative, Judikative und Exekutive voraus und informiert als unabhängige vierte Instanz die Öffentlichkeit, die sich im Medium des gedruckten Buches, Aufsatzes oder Zeitungsartikels arti-
_____________ 34 Cicero 1964, 84 – De officiis I 28, 97. 35 Neues Testament Matthäus 22, 21. 36 Vgl. dazu AA XXIV 93 u.ö.
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kuliert. Die Aufklärungsschrift von 1784 ist also in einer ihrer Facetten das Plädoyer avant la lettre für die Zulassung der unabhängigen Vierten Gewalt. Wenn Kant die Publikationsfreiheit auf gelehrte Publikationen beschränkt, dann im Sinne des Schutzes einer allgemeinen Metareflexion, die sich aller Eingriffe in die Tagespolitik und überhaupt in die tatsächlichen Verhältnisse in den Staaten enthält. Die Öffentlichkeit soll nicht zur politischen Potenz und Gegenmacht in der einen einheitlichen „res publica“ werden, sondern etabliert sich in einer anderen Dimension. In diesem Sinn ist die Reflexion über Aufklärung und Öffentlichkeit auch eine Selbst-Reflexion über die Grenze der reinen Vernunft. Die Aufklärungsschrift antizipiert hiermit die Position der Friedensschrift, die den Philosophen als Theoretiker der politischen Praxis will, aber nicht als Herrscher, „weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ (AA VIII 369, Z. 29-30). Aufklärung ist die öffentliche, herrschaftsfreie Reflexion über die Prinzipien der Vernunft, die sich in der geschichtlichen Realität manifestiert. Sie ist Sache der Gelehrten, fordert jedoch die Freiheit eines jeden naturaliter mündigen Menschen, an ihr teilzunehmen und sich in ihrer Öffentlichkeit zu artikulieren. Der Gegenstand sind die allgemeinen Institutionen der menschlichen Gesellschaft im Hinblick auf die Frage, ob sie die Bestimmung und Selbstbestimmung der Bürger fördern oder behindern. Aufklärung ist damit immer zugleich der Versuch, sich selbst zu bestimmen und zu begrenzen. Meinungsdifferenzen und ein Streit der Fakultäten und Philosophen sind unvermeidlich und der Sache förderlich – jedoch nur innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft. Werden diese überschritten, sieht die Regierung die öffentliche Ordnung ihrer „res publica“ gefährdet und schafft die Vernunftrepublik kurzerhand ab (AA VIII 144, Z. 8ff.). Vernunft und Religion „Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt […].“ (AA VIII 41, Z. 10-12) „vorzüglich“ – und nicht in Staatssachen. Aber was will Kant genau? Soll der Gläubige mit den Seelenhirten über einzelne Glaubensartikel diskutieren? Soll er ihnen androhen, eine neue Sekte zu gründen? Worauf bezieht sich das Mündigwerden genau? Sicher muss es um Staat und Kirche gehen und um den grundsätzlichen Kontrast von Heteronomie und Autonomie. Um die eigentliche Brisanz der Aufklärungsschrift zu verstehen, muss man andere Schriften und auch aufklärerische Themen heranziehen und so die grundsätzliche Verkehrung entdecken, die hier eher oberflächlich und regimetreu mit
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eingestreuter adulatio (aus Angst vor dem bigotten Nachfolger Friedrichs II.) angesprochen wird. Was zeigt sich in Religionssachen, wenn die Bürger von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch machen? Die Kirche und die nach ihren Richtlinien ausgebildeten Theologen stellen eine ihre Existenz sichernde Bedingung: Am Anfang allen Unterrichts steht besonders in moralischen Dingen der Glaube, dann folgt die von ihm dirigierte Moral und letztlich die Verbindung von beidem in der Hoffnung auf Unsterblichkeit. Glaube, Liebe, Hoffnung ist die Sequenz, auf der jede Kirche insistiert, wie immer die Konfessionen im Einzelnen aussehen. Über den Inhalt des Glaubens unterrichten heilige Bücher, in denen das steht, was die Priester und Pastoren in ihnen zu finden belieben (AA VII 36-48). Der Laie muss sich dieser Deutungshoheit der Gelehrten und Gesegneten beugen. Kant will den Bann brechen und die Reihenfolge umkehren: Erst die Moral, und dann der aus ihr folgende Glaube und die Hoffnung.37 Mit dieser Verkehrung in der Reihenfolge ist die Autonomie des Gläubigen gewährleistet und die Möglichkeit und auch Notwendigkeit einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ gegeben. Der Ausleger der Schriften ist dann der Gott in uns, und die Kirche wird zu einem ethischen Gemeinwesen, zu dem sich Menschen zusammen finden, die erkannt haben, dass die sittlichen Aufgaben, vor die sie der kategorische Imperativ stellt, ihr eigenes Vermögen überschreiten. Wenn wir auf unsere Titelfrage zurückblicken, können wir hier notieren: Dieser Gedanke bleibt und ist wirksam in Organisationen wie dem „SOSKinderdorf“, dem „Roten Kreuz“ oder „Ärzte ohne Grenzen“. Die Kirchen, die sich dem Primat der Moral beugen, werden auf Hasspredigten verzichten müssen und liefern damit keine Parolen mehr für die Pogrome, die die Geschichte des christlichen Abendlandes bis zur Kulmination im Holocaust begleiteten. Mit der Umkehrung der Ordnung von Moral und Glauben wird der Bürger der Vormundschaft der Seelenhirten entzogen, die scheinbar zu ihrem Guten wirken, sie jedoch tatsächlich der Möglichkeit berauben, mündig zu werden. Der mündige Bürger wird selbst darüber befinden, wie viel ihm die Prediger wert sind. Mündigkeit ist mit einer eigenständigen Reflexion verbunden, die die Vormünder für sich reserviert sehen möchten, um den naturaliter naiven Menschen den Weg weisen zu können. Beim Staat fanden wir den Parallelgedanken. Es soll das Rechtsgesetz das eigene Gesetz des selbständigen Bürgers sein, so dass sich der obrigkeitliche Staat in die Republik freier Bürger verwandelt und auch hier aus
_____________ 37 Dazu Brandt 2007, 73ff. Sabbatini 2007, 39 spricht von den „tre cardini della sovranità statale“, begründet aber nicht, warum es gerade diese drei sein sollen.
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der Heteronomie Autonomie wird. Entsprechend ist die Parallelschrift zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) die Metaphysik der Sitten (1797), dort speziell die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“. Hierauf also zielt die Aufklärung: Ablösung der Heteronomie und Unmündigkeit in Kirche und Staat, Umwandlung der Kirche in ein weltweites sittliches Gemeinwesen und des despotischen Staats in eine Republik freier, die Gesetze selbst bestimmender Bürger. Den Seelsorgern, die ihre Herde vorsorglich unmündig halten, korrespondieren die Herrscher, die zu wissen meinen, worin das Glück ihrer Untertanen besteht, und ihm dieses anbefehlen. Das leicht durchschaubare Ziel ist in beiden Fällen nicht das Seelen- und leibliche Wohl der Bürger, sondern der Erhalt der Privilegien, die an einen Erkenntnishiat gegenüber den Anderen gebunden sind. Was bleibt? Was bleibt? Alles. Die Mündigkeit in rechtlicher und ethischer Hinsicht ist durch kein anderes Ziel überholbar; die privaten und religiösen, ethnischen und künstlerischen Lebensgestaltungen und Loyalitäten können konfliktfrei nur innerhalb einer übergeordneten Regelung verwirklicht werden. Diese Regelung geht nach dem Aufklärungskonzept von den Bürgern selbst aus und ist nichts anderes als ihre Autonomie. Der Aufruf zur Aufklärung hat seine Dringlichkeit und Aktualität nicht verloren – die Antiaufklärung ist eine Hydra mit wechselnden Köpfen geblieben. Und umgekehrt hat die Aufklärung auch nach der Epoche der Aufklärung eine Tradition begründet. Zu den frühen aufklärerischen Dokumenten im 19. Jahrhundert gehören die sozial-, staats- und kirchenkritischen Publikationen und Maßnahmen, die sachgerechten Innovationen in der Bildungsgestaltung, schon das Themenfeld ist unermesslich. Die Publikationsfreiheit, die Kant forderte, ist zu einem Teil der Medienfreiheit geworden, aber damit wurde sie zugleich in wesentlichen Bereichen von der Gegenaufklärung unterlaufen und verwahrlost; hier ergibt sich eine komplexere Auseinandersetzung, als sie in der Epoche der Aufklärung zu ahnen war. Die Gegenaufklärung beginnt im 18. Jahrhundert; zu den markanten Autoren gehören Johann Georg Hamann und William Blake, die weitere Tradition führt über Nietzsche zu den leicht identifizierbaren Anhängern der totalitären Staaten. Die kantische Idee der Aufklärung steht der sittlichen Indifferenz diametral entgegen, sie fordert die hellwache Beobachtung der Umstände, in die der Bürger, ob er will oder nicht, involviert ist, und fordert die Prüfung jeder Theorie vor dem kritischen Gerichtshof der
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praktischen Vernunft. Ein anderes Beispiel für anti-aufklärerisches Denken ist die überhebliche Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno; ihr propositionaler Inhalt vernichtet die Möglichkeit der eigenen Äußerung.
5. Die gemeinsame Welt, der Ewige Friede, die Bestimmung des Menschen „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigene.“ (AA II 342, Z. 4-6) Das bekannte Diktum stammt von Heraklit und nicht von Aristoteles, wie Kant meint.38 Für Kant ist die Zuschreibung zu diesem oder jenem antiken Philosophen relativ gleichgültig; wir können jedoch festhalten, dass bei Platon und Aristoteles das vorsokratische Motiv der gemeinsamen Welt nicht fortgeführt, sondern erst in der Stoa mit Emphase erneuert und im Neostoizismus der Aufklärung, besonders durch Kant, zu einem Leitmotiv der Reflexion erhoben wird. Die Stoiker sind von vornherein Kosmos-Philosophen, und gemäß den Grundlagen ihrer Philosophie eines zugleich physischen und sittlichen Kosmos, des letzteren in der Form einer Kosmopolis. Marc Aurel: Wenn das Geistige uns gemein ist, so ist auch die Vernunft, kraft deren wir vernünftig sind, gemeinsam; gilt dies, so ist auch die Vernunft, die, was zu tun ist und nicht zu tun ist, vorschreibt, gemeinsam; gilt dies, so ist auch das Gesetz gemeinsam; gilt dies, so sind wir Staatsbürger; gilt dies, so haben wir Anteil an einem Staatswesen; gilt dies, so ist die Welt gleichsam ein Stadtstaat.39
In der beginnenden Neuzeit wurde diese Kosmosphilosophie allmählich erneuert, und für die heutige Wissenschaft und Politik ist sie die unerlässliche Basis. Einer der entscheidenden Vermittler und Neuerer ist Kant. Der Weltbegriff geriet im 18. Jahrhundert auf mindestens drei Weisen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Einmal waren es die Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) Isaak Newtons, die den Zusammenhang der physischen Welt gelöst zu haben schienen. Der Weltraum als dynamisches und doch berechenbares Totum besetzte die wissenschaftliche Phantasie des 18. Jahrhunderts. Kant nimmt das Thema auf in seiner Allgemeinen Theorie und Naturgeschichte des Himmels (1755), eine grandiose Allvision mit newtonischen Mitteln. Die gemeinsame Welt, in der wir Wachenden le-
_____________ 38 Diels/Kranz 1956, II 171 – Heraklit Fragment 89. 39 Zitiert nach dem Beitrag „Kant und stoisches Weltbürgertum“ von Martha Nussbaum 1996, 53.
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ben, zerfällt in die moralische und die physische Welt mit ihren jeweiligen Gesetzen des Willens bzw. der praktischen Vernunft und der Materie, die der Gegenstand des Verstandes und der theoretischen Vernunft sind.40 Der physische Himmel und die Erde sind in einer Evolution begriffen, sie sind ein „work in progress“, kein schon fertiges System. In der Vorlesung zur Physischen Geographie zeigt Kant, dass die Erdoberfläche, die wir bewohnen, das Produkt physischer Kräfte ist und dass deren Wirken sich in der Gegenwart und Zukunft fortsetzt. Fertig und abgeschlossen ist dagegen das System der Gesetze. Der Weltraum wird zweitens in der Folge der theoretischen Eroberung auch ästhetisch neu erlebt im Erhabenen, das sich neben das Einzelschöne stellt und den ganzen Menschen angesichts der Unendlichkeit der Welt mit sich reißt. Und drittens wird die Erde im Ganzen überschaubar; die Geographie, der sich Kant ungefähr vierzig Jahre in seiner am häufigsten gehaltenen Vorlesung widmet, wird durch die Reiseberichte zu einem Modethema, aber zugleich zu einem Rechtsproblem: Die Auseinandersetzungen der europäischen Staaten werden im siebenjährigen Krieg (17561763) globalisiert und damit zu einem Problem, für das einige Instrumente im stoisch-römischen „jus gentium“ bereit liegen, das jedoch in seiner neuen Realität eines über das Völkerrecht hinausgehenden Weltbürgerrechts noch nicht durchdrungen war. Kant versucht, die theoretische, ästhetische und praktische Welterschließung aus den menschlichen Vermögen des Verstandes, der Urteilskraft und der praktischen Vernunft zu konzipieren. Die Welt ist nicht wie die spinozistische Substanz in der ersten Zeile der Philosophie als totum analyticum fertig gegeben, sondern bildet jeweils eine Idee, die erst in ihren unterschiedlichen Facetten synthetisch zu realisieren ist. Die Gesetze sind formaler Art und stehen bei Kant in keiner Rückkopplung zur materialen Entwicklung, die sie ermöglichen und leiten. Dies sollte angemerkt werden, weil auch die Formen der Erkenntnis, wie sie in der KrV thematisiert werden, sich nicht durch die Wissenschaftsentwicklung ändern können, wie Francis Bacon und später Hermann Cohen und Ernst Cassirer meinen. Die formalen Erkenntnisbedingungen der empirischen Erfahrung und ihrer Änderungen sind selbst notwendig der Empirie und Änderung entzogen, sondern bilden deren Voraussetzungen. Die beiden Systeme der Natur und der Moral sind geschlossen und offen. Sie sind geschlossen im Hinblick auf ihre gesetzliche Form und lassen sich unter den Bedingungen der KrV notwendig a priori erkennen. Die
_____________ 40 Brandt 2008b.
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Form ist jeweils nur dann erkannt, wenn sie als artikuliertes System vollständig dargelegt werden kann. Materialiter sind die Systeme offen, wenn auch durch Grenzbegriffe markierbar. Ein solcher Grenzbegriff ist die „eine einzige alles befassende Erfahrung“ (KrV A 232), „die einige allbefassende Erfahrung“ (KrV A 582), in der Moralwelt ist es der Ewige Friede. Keines von beiden ist „gebbar“, beide sind jedoch richtungweisende Aufgaben des Menschen im Erkennen und Handeln. In der theoretischen Welterkenntnis sind einzelne wirkliche, nicht nur vermeintliche Erfahrungen als solche bestimmbar im Hinblick auf die Idee einer einzigen allbefassenden Erfahrung. Das subjektiv bedingte Totum ist ein dynamisches Ganzes der Wechselwirkung, innerhalb dessen die Gegenstände der Erfahrung als Relationskomplexe erkennbar sind. Es gibt kein isoliertes „das da“, das als solches garantieren könnte, für sich erkennbar zu sein. Im Ästhetischen lässt sich weder das Schöne noch das Erhabene als solches ausmachen, sondern eine subjektive Beziehung, die zum jeweiligen ästhetischen Urteil führt. Das Urteil ist durch seine qualifizierte Mitteilbarkeit ausgezeichnet; mitteilbar nicht wie Schmerz- oder Freudenlaute, sondern als sprachliche Verlautbarung, die in jedem anderen menschlichen Subjekt auf dieselbe ästhetische Stimmung stoßen kann. Qua ästhetisch Urteilender unterscheidet sich der Mensch nicht von beliebig anderen Menschen, sie bilden eine gemeinsame Welt des Einklangs. Diese Welt wird unter dem Titel des zu etablierenden „sensus communis“ geführt. Dasselbe Motiv der qualifizierten Mitteilung findet sich in der Religionsphilosophie. Die Vernunftreligion, die das Partikulare des Offenbarungsglaubens abstreift und zu einem globalen ethischen Gemeinwesen wird, zeichnet sich durch ihre qualifizierte Mitteilbarkeit aus. Der Kirchenglaube ist im Gegenteil zum Religions- oder Vernunftglauben „keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig“ (AA VI 109, Z. 24-25)41. Die „allgemeine[n] Weltreligion“ (AA VI 131, Z. 29) gründet sich auf Prinzipien der Vernunftmoral und ist als solche allgemein mitteilbar, auch wenn sich mit dem Gottesbegriff ein Geheimnis verbindet, das sich der Mitteilung entzieht (AA VI 137, Z. 2 – AA VI 147, Z. 14). So bleibt das Mysterium der Religion erhalten, wenn sie sich nur dazu bequemt, der Moral den Vortritt zu lassen. Die qualifizierte Mitteilbarkeit der Ästhetik und Religion nimmt die Publizitätsforderung der Aufklärungsschrift auf und leitet über zu den transzendentalen Prinzipien des öffentlichen Rechts (AA VIII 381-386).
_____________ 41 Siehe auch AA VI 103, Z. 1; AA VI 123, Z. 2.
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Was bleibt? Wie esoterisch auch die Inhalte der nachkantischen Kunst und Naturwissenschaft sein mögen, so bleibt die Weltausrichtung doch unvermeidlich erhalten in den kosmopolitischen Geltungsansprüchen, die ihre Äußerung begleiten. Zum ewigen Frieden Die moralische Welt hat ihre unabänderlichen Willensgesetze, aber sie ist nicht fertig, sondern soll von den Anfängen der Kultivierung des Menschen fortschreiten zum Ewigen Frieden. Der Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 korrespondiert die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 1784, die nichts anderes ist als die Idee einer Rechts- und Moralentwicklung der Menschheit. Der philosophische Entwurf, der unter dem Titel „Zum ewigen Frieden“ einen Friedensvertrag unter Staaten überhaupt vorlegt, greift ein bestimmtes Problem der Rechtsphilosophie auf; die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“, der erste Teil der Metaphysik der Sitten (1797), enden mit dem Motiv des Ewigen Friedens; es spreche „die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; […].“ Die beste Verfassung, die der Republik, leite durch allmähliche Reform „zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden“ hin (AA VI 354-355). In der Rechtslehre werden wenigstens zwei Prämissen der Friedensproblematik erörtert, die in dem kurzen Traktat von 1795 nicht genannt werden. Einmal setzt die gesamte Staats- und Friedenstheorie das Privatrecht voraus, in ihm werden Prämissen der Erdbewohnung ausgebreitet, die für das nähere Verständnis des Traktats unentbehrlich sind; Piraten mit ihrer internen Gerechtigkeit sind ausgeschlossen. Zum anderen wird in der Rechtslehre vom Menschen als sittlicher Person gehandelt; auch darin liegt eine entscheidende Prämisse, die es z.B. ausschließt, dass Teufel kompetente Bürger eines kantischen Staats sein könnten. Bürger des Staats sind weder Engel noch Teufel, sondern Menschen als Vernunftwesen, d.h. als Wesen mit nicht nur instrumenteller, sondern reiner praktischer Vernunft und der Möglichkeit des Gebrauchs von Sachen.42 Sie sind sittlich verantwortlich für sich selbst als Person und für die Handlungen gegenüber anderen, und sie sind angewiesen auf den sicheren Gebrauch bestimmter Sachen. Jede Rechtslehre muss beides berücksichtigen, das „honestum“ und das „utile“, „la justice et l’utilité“43.
_____________ 42 Siehe die einschlägigen Ausführungen AA VI 26; 418; 434. 43 Rousseau 1959ff., III 351 – Du contrat social I, Préface.
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Berücksichtigt eine Rechtslehre die Gebrauchsinteressen der Menschen nicht, wird sie chimärisch; vernachlässigt sie die Sittlichkeit, regrediert sie zur utilitären Verwaltungsregel. Die erste Variante gefällt, so weit wir wissen, den Engeln, die zweite genügt den Teufeln. Die Fundierung der Vernunftidee des Friedens in den Imperativen des Personseins und des Besitzrechts mit der daraus resultierenden Pflicht gegen alle anderen (als möglichen Nachbarn), aus dem Naturzustand herauszugehen, diese Fundierung liefert die sittliche Notwendigkeit eines globalen Friedens. Isoliert man die Friedensschrift und rückt sie nicht in den Kontext der gesamten Rechtslehre, kann der Eindruck entstehen, es gebe eine partikularistische oder kommunitaristische Alternative zu dem Traktat von 1795. Auf dem Niveau der kantischen Theorie käme dies der Vorstellung gleich, die eigenen naturwüchsigen Maximen gefielen einem vorzüglich und man wolle auf den Test ihrer Gesetzlichkeit lieber verzichten. Der mündige Mensch ist Person und damit friedensverpflichteter Weltbürger, so gern er in seine heimischen Stimmungen und Loyalitäten regredieren möchte.44 Die Gründung einer in Republiken gegliederten Kosmópolis wird zur Aufgabe der Menschheit schlechthin – es ist dies die aktuellste Idee der kantischen Philosophie, die an der Spitze alles dessen steht, was von ihr bleibt. Die Dynamik des Rechts hin zur allmählichen Beseitigung des Krieges in der Metaphysik der Sitten (1797) beginnt mit der „prima occupatio“ durch einen Einzelnen und endet mit dem Weltbürgerrecht und der Friedensidee. Die Rechtslehre zerfällt in zwei Teile, das Privatrecht und das Öffentliche Recht; das erste ist die Vorstufe und notwendige Bedingung des zweiten. Vom Privatrecht und der ersten Besitznahme spannt sich ein Bogen hin bis zum Schluss, der die provisorische Erlaubnis der „prima occupatio“ einlöst und zu einem Recht führt, zu dem alle ihre Einstimmung geben. Dieses Ende ist am Anfang präsent, denn nur durch das Recht im Ganzen, das realisierte Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht, ist die anfängliche Inbesitznahme als provisorisch-rechtlicher Akt möglich. Wir haben es also in der kantischen Rechtslehre mit zwei Blickrichtungen zu tun, vom isolierten Teil zum vollendeten Ganzen und von der Idee des Ganzen zur rechtlichen Möglichkeit des Beginns. Kant realisiert in der Theorie die Idee des Kosmopolitismus. Die Globalisierung des Rechts gab es weder bei Locke noch bei Rousseau, sie wird erst bei Kant erreicht und ist einer seiner wichtigsten Beiträge zur
_____________ 44 Dazu Rorty 2007, 82-107 („Gerechtigkeit als globale Loyalität“).
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heutigen Weltpolitik.45 Sie besagt u.a., dass die unvermeidliche Dynamik des äußeren Mein und Dein mit Gewalt und Gegengewalt verbunden ist, die eine rechtliche Ordnung fordern, die wiederum nur in einem rechtlich gesicherten Frieden enden können. Jeder Kommunitarier ist nolens volens in die Gewaltverhältnisse involviert, so dass sich kommunitarische Ideen nicht außerhalb der globalen Friedensaufgabe stellen können, sondern nur in ihr Platz finden. Im kantischen Recht wird der Begriff der Person vor dem Privat- und Öffentlichen Recht erörtert. Wir beginnen im Folgenden mit einer Skizze des Personenrechts, das die Basis der gesamten Rechtskonzeption bildet, gehen dann zum Privatrecht über, um abschließend einige Punkte des Öffentlichen Rechts zu erörtern, u.a. die Frage, wo bei Kant die Gerechtigkeit geblieben ist. Sie wird nirgends besonders erörtert, bildet aber trotzdem ein wichtiges Theorieelement. Die Person und ihre Würde Das Personsein kommt jedem Menschen schon vor der Geburt zu, er ist Vernunftwesen, damit in allen Handlungen der Menschen Zweck an sich oder Endzweck, und er kann die damit verbundene Würde auch durch kein Verbrechen verlieren; sie bezeichnet den Menschen als sittlichen Gesetzgeber. Vergegenwärtigen wir uns zuerst folgende Festlegung der Religionsschrift von 1793: Wir können sie [sc. die ursprüngliche Anlage zum Guten in der menschlichen Natur] in Beziehung auf ihren Zweck füglich auf drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen, bringen: 1. Die Anlage für die Thierheit des Menschen als eines lebenden; 2. Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3. Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens. (AA VI 26, Z. 4-11)
Dieselbe Bestimmung wiederholt Kant 1797 in der Metaphysik der Sitten (AA VI 418, Z. 4-23 und AA VI 434, Z. 5). Den letzteren Text möchte ich ebenfalls in extenso zitieren, um der Meinung entgegen zu treten, die Rechtslehre handle von der praktischen, nicht reinen praktischen Vernunft, sie setze die KpV nicht voraus und benötige die Transzendentalphilosophie nicht.46
_____________ 45 Ernst Cassirer endet das Kapitel „Recht, Staat und Gesellschaft“ in seiner Philosophie der Aufklärung (1932) mit der Erörterung von Rousseau, der nun gerade bei einer Partikulargesellschaft ebenso stehen bleibt wie schon Platon (Cassirer 1932, 346-367). 46 Dazu Geismann 2006 und Brandt 2008b.
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Der Mensch, im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth (pretium vulgare). Selbst, daß er diesen den Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das giebt ihm doch nur einen äußeren Werth seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d. i. ein Preis, als einer Waare, im Verkehr mit diesen Sachen, wo er doch noch einen niedrigern Preis hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Werth daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird. – Allein der Mensch, als Person betrachtet, als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Wesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.
Dieser Begriff der Person oder Persönlichkeit, die durch kein Verbrechen vernichtet werden kann, wird ergänzt durch die Rechtspflichten, die mit dem Status der Person oder Persönlichkeit verbunden sind: 1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas juridica) besteht darin: im Verhältnisse zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘ Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (lex iusti). – 2) Thue niemanden Unrecht (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit anderen herausgehen und alle Gesellschaft meiden müssen (lex iuridica). – 3) Tritt (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue). – Die letztere Formel, wenn sie so übersetzt würde: ‚Gieb Jedem das Seine‘, würde eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemandem etwas geben, was er schon hat. Wenn sie also einen Sinn haben soll, so müsste sie lauten: ‚Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann‘ (lex iustitiae). (AA VI 236, Z. 24 – AA VI 237, Z. 8)
Der Mensch ist substantiell Person und ist damit sich selbst ein Gegenstand der Pflicht. Andere sollen für ihn den Status von nicht lädierbaren Personen haben, und er soll sich zur Vermeidung von Läsionen in ein System begeben, in dem das innere Mein und Dein gesichert und das äußere Mein und Dein gesetzlich bestimmt und ebenfalls gesichert wird. Die Personqualität kommt dem Naturwesen Mensch unabhängig von seinen physischen und moralischen Zuständen zu. Ob die Person qua Mensch schläft oder im Koma liegt, ob sie ein Heiliger oder ein Verbrecher ist, ob sie als Embryo oder Greis vor sich hinvegetiert: Der Mensch ist, sofern physisch identifizierbar, Person. Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an sich gefährliche Experi-
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mente machen zu lassen, und so glücklich wäre, gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen ersprießliche Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das medicinische Collegium, das diesen Vorschlag thäte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggiebt. (AA VI 332, Z. 3-10)
Das äußere Mein und Dein In der Rechtslehre tritt neben die Person und ihr inneres Mein und Dein die Sphäre des Privatrechts, das vom äußeren Mein und Dein handelt. Es wird begründet durch das „Rechtliche Postulat der praktischen Vernunft“47, von dem es heißt, man könne es ein Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugniß giebt, die wir aus bloßen Begriffen überhaupt nicht herausbringen könnten: nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben. (AA VI 247, Z. 2-6)
Die Verbindlichkeit, die allen anderen aufgelegt wird, ist wiederum mit der reziproken Verbindlichkeit verknüpft, in eine Rechtsgesellschaft zu treten, in der alle anderen ihre Zustimmung zu der ihnen einseitig auferlegten Freiheitsbeschränkung geben. So führt eine rechtliche Verpflichtung von der „prima occupatio“ zur „ultima pax“ der Staaten und damit der Weltbürger. Jeder Besitzbürger teilt der Republik die Pflicht mit, einen Weltfriedenszustand anzustreben, in dem die Verpflichtung aller anderen in einem Konsens eingelöst wird. Der Bürger tritt mit den übrigen Bürgern anderer Staaten nur im Medium jeweils der Staaten in Kontakt, nicht unmittelbar. Dies ist anders im globalen ethischen Gemeinwesen, das keine staatlichen Grenzen kennt und sich den „ewigen Frieden“ (AA VI 124, Z. 5) unmittelbar zum Ziel setzen kann und so dem Rechtsfrieden vorarbeitet. Die erste Besitzergreifung findet ihre rechtliche peremtorische Legitimität erst in der Zustimmung aller anderen und damit in einer globalen Friedensordnung. Sie erzeugt, so extrapolieren wir über Kant hinaus, die Pflicht, auf diese hinzuarbeiten und die natürlichen Bedingungen nicht zu zerstören, die zur Verwirklichung dieser Rechtsordnung notwendig sind. Damit wird die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und des Ökosystems zu einer Implikation der Rechtspflichten. Kant lag diese Fol-
_____________ 47 Der Begriff scheint gegen den der reinen praktischen Vernunft austauschbar zu sein, siehe AA VI 246, Z. 19.
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gerung noch fern, er hat jedoch die Rechtsvision gestiftet, deren naturale Infrastuktur wir heute erkennen; der Friedensimperativ wird ohne die Erhaltung der natürlichen Grundlagen der Menschheit zur Chimäre. Die Bestimmung des Menschen Was bleibt? In unserer provisorischen Skizze wird für die Idee der Aufklärung und die praktische Philosophie besonders der Rechtslehre plädiert und damit für die Idee der praktischen Bestimmung des Menschen. Sie richtet sich auf die Selbstbestimmung des Individuums und der Menschheit im Ganzen und ist die Voraussetzung selbst ihres Abweises – wer sie öffentlich bestreitet, macht von Gedanken Gebrauch, die in der Bestimmungsidee kulminieren.
Literatur Bacon, Francis (1962-1963): The Works, hrsg. von Spedding, Ellis und Heath, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt. Bobzien, Susanne (1988): „Die Kategorien der Freiheit bei Kant“, in: Hariolf Oberer und Gerhard Seel (Hrsg.): Kant. Analyse – Probleme – Kritik, Würzburg, 193-220. Brandt, Reinhard (1998): D’Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte, München. Brandt, Reinhard (2001): Philosophie – Eine Einführung, Stuttgart. Brandt, Reinhard (2006): „John Lockes Konzept der persönlichen Identität. Ein Resümee“, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 18, 37-54. Brandt, Reinhard (2007): Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg. Brandt, Reinhard (2008a): Rez. von: B.Sharon Byrd und Joachim Hruschka (Hrsg.): „Recht und Sittlichkeit bei Kant / Law and Morals for Immanuel Kant“ (Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14), Berlin 2006, in: Journal Juristische Zeitgeschichte 1, 2007, 156-157. Brandt, Reinhard (2008b): „Überlegungen zur Umbruchsituation 17651766 in Kants philosophischer Biographie“, in: Kant-Studien 98, 46-67. Cassirer, Ernst (1932): Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen. Cicero, Marcus Tullius (1964): De officiis – Vom rechten Handeln, hrsg. von Karl Büchner, Zürich. Diels, Hermann und Walther Kranz (Hrsg.) (1956): Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin. Euklid (1962): Die Elemente, hrsg. von Clemens Thaer, Darmstadt.
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Santozki, Ulrike (2006): Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie, Berlin. Schiller, Friedrich (1955): Briefe, hrsg. von Gerhard Fricke, München. Scholz, Oliver R. (2006): „Aufklärung: Von der Erkenntnistheorie zur Politik. Das Beispiel Immanuel Kant“, in: Logical Analysis and History of Philosophy / Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 9, hrsg. von Uwe Meixner und Albert Newen, Paderborn, 156-172. Seneca, Lucius Annaeus (1999): Philosophische Schriften, lateinisch und deutsch, hrsg. von Manfred Rosenberg, Darmstadt. Steinmetz, Peter (1994): „Die Stoa“, in: Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie der Antike IV, hrsg. von Hellmut Flashar, Basel. Unruh, Patrick (2007): Transzendentale Ästhetik des Raumes. Zu Immanuel Kants Raumkonzeption, Würzburg.
Die Autoren Wolfgang Bartuschat, geb. 1938, war von 1977 bis 2002 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie von Descartes bis Hegel; Metaphysik, Rechtsphilosophie, Hermeneutik und Ästhetik. Buchpublikationen: Zum systematischen Ort von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ (1972); Spinozas Theorie des Menschen (1992); Baruch de Spinoza (1996, 2. Aufl. 2006). Herausgeber und Übersetzer mehrerer Werke Spinozas (1987-2007). Seit 1994 Mitherausgeber des Archiv für Geschichte der Philosophie. Manfred Baum, geb. 1939, ist seit 1993 Professor der Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal (ab 2005 im Ruhestand); Lehrtätigkeit an den Universitäten Bielefeld, Göttingen, Marburg, SUNY Stony Brook (USA) u.a.; Gastprofessuren an der Yale University (New Haven, CT) und am Haverford College (Haverford, PA) in den USA. 2. Vorsitzender der Kantgesellschaft e.V.. Mitherausgeber der Kant-Studien. Forschungsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Metaphysik / Transzendentalphilosophie, Praktische Philosophie. Philosophie der Antike, Philosophie der Neuzeit, Kant, Deutscher Idealismus. Leiter des Julius-EbbinghausArchivs der Bergischen Universität Wuppertal. Buchpublikationen: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie (1986); Die Entstehung der Hegelschen Dialektik (2. Aufl. 1989). Mitherausgeber: Klaus Reich: Gesammelte Schriften (2001). Reinhard Brandt, geb. 1937, Professor für Philosophie in Marburg 1972 bis 2002. Dort Leiter des Marburger Kant-Archivs. Gastprofessuren in Bloomington, Canberra, Caracas, Luzern, München, Padua, Rom. 1987 bis 2001 Herausgeber der Kantischen Vorlesungen im Rahmen der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Veröffentlichungen: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft (1973); Eigentumstheorien von Grotius bis Kant (1974); Die Interpretation philosophischer Werke (1984, ital. 2002); D’Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte 1, 2, 3 / 4 (1999, ital. 1999); Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie (1999); Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte (2001, ital. 2004); Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants Streit der Fakultäten (2003); Arkadien in Kunst,
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Die Autoren
Philosophie und Dichtung (2006); Die Bestimmung des Menschen bei Kant (2007), Warum ändert sich alles? (2008); Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie (2009). Bernd Dörflinger, geb. 1953, Professor für Philosophie an der Universität Trier; 1. Vorsitzender der deutschen Kant-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Kant und Kant-Rezeption (historisch), Transzendentalphilosophie, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik, Teleologie (systematisch). Buchpublikationen: Die Realität des Schönen in Kants Theorie rein ästhetischer Urteilskraft. Zur Gegenstandsbedeutung subjektiver und formaler Ästhetik (1988); Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte der Erfahrungstheorie Kants (2000); Aufsätze zu Kants Philosophie und ihrer Rezeptionsgeschichte. Andrea Marlen Esser, geb. 1963, ist seit 2006 Professorin für Praktische Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, 2004-2006 Professorin für Philosophie der Kulturellen Welt an der RWTH Aachen, 2004 Professorin für Philosophie und Kunsttheorie an der HFG Pforzheim, 2002 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1994 Promotion an der LMU München. Mitherausgeberin der DZPhil, Mitglied der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Ästhetik und Semiotik, Kantforschung, Antike Philosophie. Buchpublikationen: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart (2004); Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants Theorie des Schönen (1997); Unendlichkeit und Selbstreferenz (2002, mit S. Büttner und G. Gönner); Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik (1995). Katrin Flikschuh ist Reader in moderner politischer Theorie an der London School of Economics und spezialisiert sich vor allem auf die politische Philosophie Kants und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Liberalismus. Neben zahlreichen Einzelartikeln in Fachzeitschriften hat sie folgende Monographien veröffentlicht: Kant and Modern Political Philosophy (2000) und Freedom: Contemporary Liberal Perspectives (2007). Maximilian Forschner, geb. 1943, Studium der (kath.) Theologie (19621967), Studium der Philosophie (1967-1972), Promotion in Philosophie (1972) bei Prof. Helmut Kuhn in München, Habilitation in Philosophie (1980) in Erlangen, 1982-1985 ordentlicher Professor an der Universität Osnabrück, ab 1985 ordentlicher, seit 2008 emeritierter Professor für Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Die Autoren
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Arbeitsgebiete: Philosophie der Antike (mit Schwerpunkt Hellenismus), Philosophie des Mittelalters (mit Schwerpunkt Thomas von Aquin), Philosophie der Aufklärung (mit Schwerpunkt Kant, Rousseau, J. St. Mill). Systematischer Schwerpunkt: Praktische Philosophie. Buchveröffentlichungen: Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei Immanuel Kant (1974); J.-J. Rousseau (1977); Die stoische Ethik (1. Aufl. 1981, 2. Aufl. 1995); Mensch und Gesellschaft (1989); Über das Glück des Menschen (1. Aufl 1993, 2. Aufl. 1994); Über das Handeln im Einklang mit der Natur (1998); Thomas von Aquin (2006). Rainer Forst, geb. 1964, ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. 2005/06 Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York. Wichtigste Publikationen: Kontexte der Gerechtigkeit (1994), Toleranz im Konflikt (2003), Das Recht auf Rechtfertigung (2007). Christel Fricke ist seit 2003 Professorin für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Oslo, Norwegen. Seit 2007 ist sie Direktorin eines dort angesiedelten Forschungszentrums, des „Centre for the Study of Mind in Nature“. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Cambridge (UK), New York (NY, USA), Porto Alegre (RS, Brasilien) und Atlanta (Georgia, USA). Forschungsschwerpunkte: Moralphilosophie (insbes. Meta-Ethik), Normativität, Philosophie der Aufklärung. Buchpublikationen: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils (1990); Zeichenprozess und ästhetische Erfahrung (2001). Herausgeberin: Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln (1995, zusammen mit Peter Koenig und Thomas Petersen); Adam Smith als Moralphilosoph (2005, zusammen mit Hans-Peter Schütt). Volker Gerhardt, geb. 1944, hat in Münster, Zürich, Köln und Halle gelehrt, ehe er 1992 die Professur für Praktische Philosophie/Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin übernahm. Er ist Ehrendoktor der Universität Debrecen/Ungarn und Honorarprofessor für Philosophie an der Universität Wuhan/China. Er leitet die Wissenschaftliche Kommission für die Akademievorhaben in der Bundesrepublik Deutschland und sitzt den Akademie-Kommissionen für die Gesamtausgaben der Werke von Kant und Nietzsche vor. Er war Mitglied des Nationalen Ethikrats und ist auch im Deutschen Ethikrat vertreten. Nach Büchern und Aufsätzen über Kant und Nietzsche sowie zu Fragen der Ethik, der Ästhetik und der Politik hat er 1999 mit ‚Selbstbestimmung‘
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Die Autoren
eine lebenswissenschaftlich fundierte Ethik vorgelegt, der 2000 mit ‚Individualität‘, die Skizze eines Systems der menschlichen Welterfahrung folgte. Seitdem erschienen: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität (2001); Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002); Die angeborene Würde des Menschen (2004); Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007); Exemplarisches Denken (2008); Existenzieller Liberalismus (2009). Paul Guyer, geb. 1948, ist seit 1982 Professor für Philosophie und ‚Florence. R.C. Murray Professor in the Humanities‘ an der Universität von Pennsylvania (Philadelphia), er hat vorher an den Universitäten von Pittsburgh und Illinois-Chicago gelehrt, und ist Gastprofessor in Harvard und Princeton gewesen. Er arbeitet über Kant, die Geschichte der neueren Philosophie und die Geschichte der Ästhetik. Seine ersten Bücher waren Kant and the Claims of Taste (1979, 2te. Ausgabe 1997) und Kant and the Claims of Knowledge (1987). Unter seinen neuesten Büchern sind Kant (2006), Kant’s ‚Groundwork for the Metaphysics of Morals‘: A Reader’s Guide (2007) und Knowledge, Reason, and Taste: Kant’s Response to Hume (2008). Er arbeitet derzeit an einer Geschichte der neueren Ästhetik. Gunnar Hindrichs, geb. 1971, lehrt Philosophie an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Philosophie der Subjektivität, politische Philosophie, Ästhetik. Buchpublikationen: Negatives Selbstbewußtsein. Überlegungen zu einer Theorie der Subjektivität in Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom transzendentalen Ich (2002); Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik (2008). Herausgeber: Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas (2006); Von der Logik zur Sprache. Internationaler Hegelkongreß Stuttgart 2005 (2007, zusammen mit Rüdiger Bubner). Christoph Horn, Lehrstuhl für antike Philosophie sowie für Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Publikationen: Plotin über Sein, Zahl und Einheit (1995); Augustinus (1995); Antike Lebenskunst (1998); Politische Philosophie (2003); Grundlegende Güter (im Erscheinen). Herausgebertätigkeit: Augustinus, De civitate dei (1997); Wörterbuch der antiken Philosophie (2002, mit Ch. Rapp); Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart (2002, mit N. Scarano); Groundwork for the Metaphysics of Morals (2006, mit D. Schönecker); Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein Kommentar (2007, mit C. Mieth und N.
Die Autoren
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Scarano); Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen ‚Politik‘ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (2008, mit A. NeschkeHentschke); Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2009, mit J. Müller und J. Söder). Axel Hutter, geb. 1961, ist seit 2006 Ordinarius für Philosophie an der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Geistes und Klassische deutsche Philosophie. Buchpublikationen: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings (1996); Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken (2003); Bildung als Mittel und Selbstzweck (erscheint 2010). Jan C. Joerden, geb. 1953, seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, insbes. Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder); geschäftsführender Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Ethik (IZE) an der Viadrina; zurzeit Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Strafrecht, Rechtsphilosophie, Ethik. Buchpublikationen: Dyadische Fallsysteme im Strafrecht (1986); Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen (1988); Menschenleben. Ethische Grundund Grenzfragen des Medizinrechts (2003); Logik im Recht (2005); Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch (2008). (Mit-)Herausgeber: u.a. Jahrbuch für Recht und Ethik (1993ff.); Schriftenreihe des IZE (1996ff.); Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa (2000ff.); Recht und Politik (2004); Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext (2006); Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis (2007); Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen (2007). Heiner F. Klemme, geb. 1962, ist Professor für Philosophie der Neuzeit an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Kant-Forschungsstelle; 2006-2008 Professur für praktische Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Promotion 1995 in Marburg; Habilitation 2003 in Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Neuzeit, Kant, praktische Philosophie. Buchpublikationen: Kants Philosophie des Subjekts (1996), Immanuel Kant (2004), David Hume zur Einführung (2007). Herausgeber bzw. Mitherausgeber zahlreicher Editionen von Kants Schriften und zur Philosophie der Aufklärung, u.a. Moralische Motivation.
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Die Autoren
Kant und die Alternativen (2006); Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers (im Druck) und der Kant-Studien. Lothar Kreimendahl, seit 1995 Professor für Philosophie an der Universität Mannheim. Leiter der Arbeitsstellen ‚Kant-Index‘ und ‚LambertEdition‘. Zahlreiche Übersetzungen und Publikationen zur Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, darunter Humes verborgener Rationalismus (1982); Freiheitsgesetz und höchstes Gut in Spinozas ‚Theologisch-Politischem Traktat‘ (1983); Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte (1987, zus. mit G. Gawlick); Kant. Der Durchbruch von 1769 (1990); Hauptwerke der Philosophie des Rationalismus und Empirismus (1994). Claudio La Rocca ist Professor für theoretische Philosophie an der Universität Genua, Erster Vorsitzender der Società Italiana di Studi Kantiani und Mitherausgeber der Zeitschift ‚Studi kantiani‘. Über Kant hat er zahlreiche Aufsätze (in italienischer, deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache) sowie mehrere Bände veröffentlicht: Strutture kantiane, (1990); Esistenza e Giudizio. Linguaggio e ontologia in Kant (1999); Soggetto e mondo (2003). Herausgeber: Leggere Kant (2007). Georg Mohr ist Professor für Philosophie an der Universität Bremen; 1989 Docteur ès lettres, Université de Neuchâtel (Schweiz), 1994 Habilitation, Universität Münster/Wf., 1995-1997 Gastprofessor HumboldtUniversität Berlin, 2004 Université Paris 1, 2005 Université Catholique de Kinshasa (RDC). Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Moralphilosophie, Philosophie des Geistes, Musikphilosophie, Immanuel Kant. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewusstsein bei Kant (1991); Was ist eine Person? (2002, Hg.); Kants Grundlegung der kritischen Philosophie (2004); Subjektivität und Anerkennung (2004, hg. mit B. Merker und M. Quante); Die Realität der Zeit (2007, hg. mit J. Kreutzer). Herlinde Pauer-Studer ist Professorin für Philosophie an der Universität Wien; Fellow am Edmond J. Safra Foundation Center for Ethics an der Harvard University (1997/98); Fulbright Scholar an der New York University (2006). Arbeitsgebiete: Analytische Philosophie, Ethik und Politische Philosophie. Buchpublikationen: Das Andere der Gerechtigkeit. Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz (1996); Autonom Leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit (2000); Einführung in die Ethik (2003); Ein Kommentar zu David Hume: Über Moral (2007).
Die Autoren
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Birgit Recki, geb. 1954, ist seit 1997 Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg und Leiterin der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie/Anthropologie. Buchpublikationen: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno (1988); Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (2001); Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (2004); Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant (2006); Edition der Werke Ernst Cassirers in 25 Bänden. Oliver R. Scholz, geb. 1960, ist seit 2001 Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Theoretische Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart. Buchpublikationen: Bild, Darstellung, Zeichen (1991; 2004); Verstehen und Rationalität (1999, 2001). Herausgaben (u.a.): Wittgenstein über die Seele (1995, mit Eike von Savigny); Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans (2005, mit Jakob Steinbrenner und Gerhard Ernst); Das Spektrum der kritischen Philosophie Immanuel Kants (2006, mit Bernd Prien und Christian Suhm). Marcus Willaschek ist Professor für Philosophie der Neuzeit an der Universität Frankfurt/M. − Veröffentlichungen (Auswahl): Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant (1992); Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität (2003); Kant: Kritik der reinen Vernunft (1998, hg. mit G. Mohr); Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus (2002, hg. mit M.-L. Raters). In Vorbereitung: Kant-Lexikon. − Aufsätze u.a. zur Philosophie Kants und zu Fragen der Handlungstheorie, Erkenntnistheorie und Metaphysik (hg. mit Georg Mohr und Jürgen Stolzenberg). Günter Zöller, geb. 1954, Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitherausgeber der J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Gastprofessuren u.a. an der Princeton University und der Emory University. Historische Forschungsschwerpunkte: Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Husserl, Heidegger, Adorno; systematische Forschungsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Transzendentalphilosophie, Moralphilosophie, Ästhetik und Kunstphilosophie. Buchpublikationen: Theoretische Gegenstandsbezieh-
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Die Autoren
ung bei Kant (1984), Fichte’s Transcendental Philosophy (1998). Herausgeber bzw. Mitherausgeber: Minds, Ideas, and Objects (1993), Figuring the Self (1997), Arthur Schopenhauer, Prize Essay on the Freedom of the Will (1999), Immanuel Kant, Prolegomena to Any Future Metaphysics (2004), Johann Gottlieb Fichte, The System of Ethics (2005), Fichte und die Aufklärung (2005), Fichtes praktische Philosophie (2006) und Immanuel Kant, Anthropology, History, and Education (2008).
Personenregister Abbt, T. 426 Achenwall, G. 405, 466 Adam, A. 402 Adickes, E. 131, 134, 135, 313 Adelung, J. C. 133 Adorno, T. W. 2, 64, 521, 532 Agamben, G. 272 Albrecht, M. 1 D’Alembert 126 Allison, H. E. 37 Alston, W. P. 38 Andree, G. J. 298, 299 Aristoteles 28, 35, 92, 369, 370, 371, 381, 439, 490, 506, 514, 532 Augustinus 148, 187 Bacin, S. 242 Bacon, F. 523, 524, 533 Baier, A. C. 361, 366, 375 Ballestrem, K. G. 299, 306 Bartuschat, W. 7 Battersby, C. 299 Baum, M. 386 Baumann, J. 470 Baumgarten, A. G. 127, 387 Bayle, P. 183, 184, 186-191, 193198, 204, 207, 208 Beattie, J. 91 Benton, R. J. 242 Bicchieri, C. 228 Bilfinger, G. B. 128, 129 Blake, W. 531 Blumenberg, H. 233, 234 Bobzien, S. 242, 508
Bodin, J. 186, 204 Bojanowski, J. 246 Brandt, R. 8, 22, 45, 50, 207, 310, 426, 427, 439-442, 485, 500, 517, 525-527, 530, 533, 537 Bratman, M. 351, 353 Broome, J. 339, 353-356 Brosow, F. 3, 230 Brush, C. B. 195 Brutus, M. 365 Bubner, R. 52 Burke, E. 393 Burnet, T. 138, 139 Byrd, B. S. 485 Capaldi, N. 299 Cassirer, E. 236-240, 243, 245, 247, 248, 320, 324, 325, 533, 537 Castellio, S. 186 Catilina, L. S. 215 Cattaneo, M. A. 472 Cavallar, G. 393 Cicero, M. T. 92, 215, 270, 527, 528 Clarke, S. 213 Cohen, H. 327, 328, 533 Cohon, R. 361 Crusius, C. A. 133 Dancy, J. 348, 349 Darnton, R. 38 Darwall, S. 229, 297 Darwin, C. 228 Dawkins, R. 122
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Personenregister
De Monticelli, R. 121 Descartes, R. 10, 11, 38, 133, 251, 254, 524 Dennett, D. 122 Diderot, D. 44, 126 Diels, H. 532 Dörflinger, B. 116, 165 Dürig, G. 474 Doueihi, M. 234 Dreier, J. 339, 340 Enderlein, W. 494 Engfer, H.-J. 45 Enskat, R. 503 Epikur 515 Erhard, J. B. 86-89 Ertl, W. 143 Esser, A. 319 Euklid 215, 502 Feder, J. G. H. 84 Feuerbach, L. 191, 198, 242 Fichte, J. G. 55, 85, 490 Fleischacker, S. 297 Flikschuh, K. 411, 425, 427, 441, 445 Foot, P. 370, 378, 379 Forschner, M. 143, 245 Forst, R. 183-185, 187, 192, 193, 203, 205, 327 Forster, M. N. 54 Fraisse, J.-C- 242 Frank, M. 45 Fricke, C. 292, 297, 301, 303, 304, 306, 313 Friedrich II., König von Preußen 126, 393, 530 Frischmann, B. 64 Fulda, H. F. 29, 54 Gadamer, H.-G. 44, 371 Gäbe, L. 38
Garve, C. 84, 92, 270, 386, 387, 389-391, 393 Gawlick, G. 127 Gay, P. 45 Geismann, G. 459, 508, 537 Gerhardt, V. 22, 269, 270, 272, 275, 277, 278, 285, 287 Gibbard, A. 297 Goethe, J. W. von 186, 512 Goodman, N. 325 Goudeli, K. 143 Graband, C. 242, 505, 508 Gregor, M. 426 Griffin, J. 428 Grimm, J. 133 Grimm, W. 133 Griswold, C. L. 306 Groß, F. 126 Grotius, H. 186, 204 Grünewald, B. 242 Guyer, P. 210, 225, 382, 400 Haas, B. 242 Habermas, J. 51, 83, 113-117, 119, 172, 253, 411 Halbig, C. 371 Hamann, J. G. 33, 51, 126, 531 Harsanyi, J. 364 Hazard, P. 48 Hegel, G. W. F. 52-59, 61-63, 113, 320, 331, 371, 379, 380, 383, 426, 469, 490, 495, 521 Hegselmann, R. 35 Heidegger, M. 143, 144 Heine, H. 253 Heinrich IV., König von Frankreich 204 Henrich, D. 51, 56, 69, 107, 108 Heraklit 532 Herb, K. 402, 403, 413 Herder, J. G. 125, 133, 426 Herdtle, C. 185
Personenregister
Herz, M. 313 Hill, T. E. 487 Hindrichs, G. 43, 45, 62 Hinske, N. 1, 21, 29, 35, 37, 38, 100, 126, 134, 521, 525 Hippias (von Elis) 523 Hitler, A. 519 Hirsch, A. von 467 Hobbes, T. 12, 204, 400, 403, 408, 411, 416, 421, 506 Höffe, O. 43, 372, 382, 401, 402, 416, 418, 419, 485 Hoffmann, T. 369 Holzhey, H. 92 Home, H. (Lord Kames) 211, 216, 217, 219, 220, 228, 230 Honneth, A. 380 L’Hôpital, G. F. A. de 204 Horaz 33, 102 Horkheimer, M. 2, 64, 521, 532 Horn, C. 400, 408 Horstmann, R.-P. 54, 69 Hruschka, J. 428, 443, 445, 459 Hüning, D. 470, 491 Hume, D. 91, 127, 210-216, 219, 227, 228, 230, 299, 336-340, 342-350, 356, 359-366, 369, 370, 372-375, 383, 384, 387 Hutcheson, F. 127, 213, 214, 216, 222, 299 Hutter, A. 68, 75 Israel, J. I. 60 Jaber, D. 474 Jachmann, R. B. 126 Jacob, M. C. 48 Jacobi, F. H. 31, 55, 89 Jakobs, G. 459 James, W. 121, 254 Jesus 100, 140, 149, 152-154, 161, 162, 188, 189
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Joerden, J. C. 448, 466 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 183 Jurieu, P. 204 Kant, I. passim Kaufman, A. 438 Kelsen, H. 471, 488 Kersting, W. 401, 413 Kim, I.-S. 474 Klemme, H. F. 1, 3, 337, 369, 370, 374, 380, 508 Klenner, H. 488 Klippel, D. 470 Klopstock, F. G. 88 Klug, U. 469, 470, 496 Kobusch, T. 242 Köhler, M. 459, 460, 467 Koller, P. 323 Kolodny, N. 345 Kondylis, P. 292, 294-296, 309 Korsgaard, C. M. 229, 336-346, 348-353, 356-363, 365-367, 429, 430, 433, 435, 439, 441 Kortian, G. 51 Kranz, W. 532 Kreimendahl, L. 124, 127 Kühl, K. 460 Lampe, M. 253 La Rocca, C. 13, 100, 102 La Rochefoucauld, F. de 393 Leeb, T. 185 Lehmann, G. 133 Leibniz, G. W. 38, 85, 92, 129, 502 Lessing, G. E. 203, 426 Locke, J. 2, 88, 186, 191, 400, 403-405, 411, 413, 421, 506, 524-526, 536 Ludwig, B. 402, 403, 413, 437 Luhmann, N. 319
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Personenregister
Maatsch, A. 459 Macfie, A. L. 296, 306 Machiavelli, N. 387, 389, 390 MacIntyre, A. 369, 370, 372, 382 McDowell, J. 369-384 Malter, R. 125 Mannheim, K. 326 Mark Aurel 532 Marmontel, J.-F. 45 Marquard, O. 79 Marsilius von Padua 204 Martin, G. 127 Marty, F. 242 Maus, I. 207, 401 Mayer, V. 37 Mendelssohn, M. 29, 31, 86-89, 183, 202, 252, 426, 440, 503, 504 Merkel, R. 474 Merle, J.-C. 496 Mieth, C. 408 Mill, J. S. 492 Millgram, E. 359 Milton, J. 233 Mohammed 161 Mohr, G. 469, 470, 477, 490 Montaigne, M. de 195 Mosbacher, A. 463, 466 Moses 161 Müller, O. 313 Müller-Dohm, S. 52 Murmann, U. 466 Nagel, T. 441 Naragon, S. 501 Naucke, W. 474 Neumann, U. 467 Newton, I. 81, 136, 299, 502, 532 Nicolai, F. 84 Niesen, P. 434-436, 438 Nitschmann, K. 460
Nietzsche, F. 531 Nussbaum, M. 532 O’Neill, O. 108, 118, 327, 328, 428 Oberer, H. 487, 491 Oswald, J. 91 Otteson, J. R. 303 Parmenides 251 Pascal, B. 195 Paton, H. J. 427 Pauer-Studer, H. 336, 357, 360, 375 Paulus 528 Pinkard, T. 400 Pinkau, K. 3 Pippin, R. B. 400 Platon 129, 148, 237, 251, 439, 471, 490, 506, 521, 532, 537 Plessner, H. 277 Pogge, T. 400, 425 Popkin, R. H. 195 Proast, J. 186 Pütter, J. S. 466 Raphael, D. D. 296 Ratzinger, J. 114 Raz, J. 341, 353, 354 Rawls, J. 195, 322, 327, 328, 403, 404, 408, 425, 491 Reath, A. 253 Recki, B. 232, 239, 244, 313 Redman, D. A. 299 Reid, T. 91 Reinhold, C. L. 85 Reisinger, K. 40 Reusch, J. P. 128, 129 Ricken, F. 143, 427 Röttgers, K. 43 Rorty, R. 536 Rosen, M. 52
Personenregister
Rothschild, E. 307, 308 Rousseau, J. J. 152, 206, 298, 400, 421, 479, 519, 535-537 Sabbatini, C. 530 Sartre, J.-P. 281 Scanlon, T. M. 229, 441 Scarano, N. 408 Schiller, F. 512 Schmidt, J. 83 Schmitz, H. 310 Schmücker, R. 3 Schneiders, W. 44, 128 Schönecker, D. 410 Scholz, O. R. 10, 28, 38, 40, 84, 101, 521 Schulz, E. G. 29 Schütt, H.-P. 297, 306 Schwartz, P. 60 Seelmann, K. 472 Sellars, W. 48, 371 Seneca, L.A. 471, 514 Shaftesbury, A. A. Cooper (3rd Earl of) 299 Siep, L. 370 Simon, J. 242 Skyrms, B. 228 Smith, A. 211, 216-220, 228, 230, 292, 296-310, 316, 317, 374 Sokrates 71, 72, 148, 149, 152, 524 Spalding, J. J. 426 Spinoza, B. de 12, 31 Steinmetz, P. 511 Stollberg-Rilinger, B. 82 Stroud, B. 361 Stuke, H. 30, 31 Süßmilch, J. P. 138 Tamerlan 519, 520 Taylor, C. 121
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Theunissen, M. 55 Thomas, A. 3 Thomas von Aquin 35 Thomasius, C. 128 Thompson, F. C. 233 Thukydides 397 Timmermann, J. 246, 253, 427, 431, 433, 501 Timmons, M. 400 Tonelli, G. 44 Tugendhat, E. 121 Ulpian 400, 455, 525 Unruh, P. 506 Verres, G. 215 Vivenza, G. 306 Vogel, M. 320 Voltaire 74, 128, 138, 183 Vormbaum, T. 470 Wagner, H. 49 Waismann, F. 47 Waschkies, H. J. 126 Weber, M. 233, 370 Weber, P. 232 Wieland, W. 71 Willaschek, M. 251, 263, 267 Williams, B. 364, 378, 380 Wimmer, R. 119 Wittgenstein, L. 47 Wolff, C. 85, 92, 124, 126, 128, 129, 132, 133, 135, 525 Wolff, M. 57 Wollaston, W. 213 Wood, A. 400, 434 Zammito, J. H. 125 Zöller, G. 82, 86, 91, 92 Zöllner, J. F. 1, 2, 60, 86, 89 Zotta, F. 401