Eva
Bischoff (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am John
F.-Kennedy Institut der FU Berlin und Postdoktorandin am SFB 700 (Govemance in Räumen begrenzter Staatlichkeit). Zu ihren For schungsschwerpunkten gehören die Geschichte des europäischen und US-amerikanischen Kolonialismus, die Postcolonial Studies, die Geschlechtergeschichte sowie die Geschichte der Kriminologie.
EVA BrSCHOFF
Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900
[tranSCriPt]
Überarb. Fassung der zug!. Diss., Ludwig-Maximilians-Universität Mün chen 2009. Diese Dissertation wurde finanziell ermöglicht durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Graduier tenkollegs Postcolonial Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademikerin nenbund e.V.
IIII III I I I II IIII IIII�IIII III CZB11916
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20II
Univ.
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Inhalt
1. KEINE ANGST VORM SCHWARZEN MANN: PROBLEMAUFRISS
9
1.1 Effekte und Affekte: Was produziert der Diskurs vom Menschenfresser?
11
1.2 Mannigfaltige Verflechtungen: Die Fragestellung im Kontext der Forschung
18
Geteilte Geschichte(n): Postkoloniale Perspektiven und die neuere Kolonialgeschichte
19
Helden, Patriarchen und Komplizinnen: Koloniale Geschlechtergeschichte
22
Bürgerlich, weiß, männlich: lntersektionalität des Hegemons
29
1.3 Anders über das Andere nachdenken: Alterität und nomadisches Subjekt
34
Zerschmetterte Spiegel: Die Verweigerung des imperialistischen Blicks
35
Das Anomale und der Schwarm der Differenz: Subjekt-Werden
38
Das nomadische Subjekt
41
1.4 Jenseits der Schwelle: Bio·Macht, Rassismus und Gouvernementalität
44
Der Wille zum Töten: Rassismus und Bio-Macht
47
Rechnen im rassistischen Differenzial: Normalisierung und Sicherheitsdispositiv
50
1.5 Quellenkorpus
54
2. EINVERLEIBUNG: KOLONIALES WISSEN VOM WIWEN KANNIBALEN
59
2.1 Von den grimmigen Menschenfresser·Leuth: Wissen, Kolonialismus und Agency
61
Verschränkung von Wissensproduktion und Kolonialismus
61
Weltaneignung ohne Kolonialismus? Spezifika der deutschen Ethnologie
64
Weder Phantasma noch Imagination: Agency und Interaktion in der Produktion des Wissens vom wilden Kannibalen
69
2.2 Aberglaube, Rache, Gier: Das Wissen vom wilden Kannibalen
7I
Kannibalenherrscher und Azandekrieger: Der Bericht Georg Schweinfurths
71
Nachfolge und Spurensuche: Wilhelm Junker und Eduard Schnitzer
84
Ethnologie im Lehnstuhl: Richard Andree
90
2.3 Das Recht sterben
zu lassen und Leben zu machen:
Kannibalismusdiskurs und koloniale Gouvernementalität
95
Wissen, Wahrheit und Verfahren: Effektivität des Wissens vom wilden Kannibalen
97
Kolonisierung mit Erhaltungsmiueln: Neue Kolonialherren braucht das Land?
103
Intentionen und Strategien: Kannibalismus als Problem der Seelenführung
109
3. KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN: GEFAHREN WEISSER MÄNNLICHKEIT
119
3.1 Koloniale Abenteuer als Teil der kolonialen Populärkultur
124
3.2 Unter Kannibalen: Von der Angst, verschlungen zu werden
127
Weiße Männer auf Expedition: Ordnung schaffen im kolonialen Raum
127
Ein sonderharer Zweifel: Der weiße Mann und der kannibalische Impuls
137
Identifikationen mit dem wilden Kannibalen: Menschenjagd
142
3.3 Der Tropenkoller: Fressen und Gefressen werden
146
Männliche Nervosität, Klima und koloniale Räume
148
Wollüstige Grausamkeit: Kontrollverlust und koloniale Ordnung
153
4. WIE DIE WILDEN: ABERGLAUBE, DEGENERATION UND KANNIBALISMUS
165
4.1 Wie die Wilden: Aberglaube, Gier und Menschenfresserei
169
Wahn oder Aberglaube: Der Fall Franz Bratuscha
169
Unentbehrlicher Fleischgenuss: Karl Denke
171
4.2 Menschenfresserei als Atavismus: Lombroso und die Korporealität von Alterität
176
4.3 Vom psychopathischen Aberglauben: Modernisierung und Sicherheit
183
Gegen die Macht der Finsternis: Aufklärung "und Modernisierung
183
Sicherung der Gesellschaft: Der Psychopath als KorporeaJität des Wilden
186
5. FLEISCHLICHES BEGEHREN: SEXUALITÄT UND KANNIBALISMUS
195
5.1
Übermächtig, primitiv, sadistisch: männliche Sexualität und Lustmord
200
Anachronistische Körper: Gewalt und männliche Sexualität
200
Fließende Übergänge: Notwendigkeit der Triebkontrolle
207
5.2 Und sei der Trieb noch so mächtig: Selbstkontrolle und Zurechnungsfähigkeit
2 10
Peter Kürten: Der Vampir von Düsseldorf
210
Beherrschung der Perversion: Zurechnungsfahigkeit und Normalisierung
214
5.3 Fehlende Manneszucht und zügellose Bestialität: Kannibalen im Rheinland?
2 19
Schwarze Schmach und weiße Männlichkeit: Aspekte der Debatte um die afro-französischen Kolonialtruppen
221
Pierre, benimm dich! Regulation männlicher SexuaJitäten
231
6. DER BODY POLITIC ISST SICH SELBST: HUNGER, DEGENERATION UND MENSCHENFLEISCH
237
6.1 Verkehrte Welt: Degeneration, Hunger und der Verfall der Sittlichkeit
242
Karl Großmann: Der Frauenmörder vom Schlesischen Bahnhof
243
Mörder- und Schieberdämrnerung: Kannibalismusdiskurs und die Angst vor dem Verfall der Sittlichkeit
249
6.2 Menschenfresser im Staatsdienst? Polizeiversagen und Haarmann·System 256 Fritz Haarmann: Der Werwolf von Hannover
257
Von Spitzeln, Tanten und Sadisten: Politische Übercodierungen
259
6.3 Männliche Jugendliche in Gefahr? Fortpflanzung und Ansteckung
266
Infektionsparanoia: Von der Fortpflanzung des Werwolfs
266
Haarmann als Jugendfürsorger? Der gute Hirte und die Normalisierung männlich-jugendlicher Körper
278
7, "ICH BIN DOCH KEIN KANNIBALE": SCHLUSSBETRACHTUNGEN
285
Kannibale-Werden
286
Geteilte Geschichte(n) moderner Gouvernementalität
289
Postkoloniale Geschlechtergeschichte als multidimensionales Geflecht
291
Transnationale Dimension
294
8. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
299
8.1 Archivalische Quellen
299
8.2 Veröffentlichte Quellen
30 1
8.3 Sekundärliteratur
312
8.4 Filme
369
8.5 Internetmaterialien
369
9. ANHANG: ABBILDUNGEN
371
Dank
379
1. Keine Angst vorm Schwarzen Mann: Problemaufriss
,,,Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben' [ . . .] ,Ich beiße nicht. Ich weiß ja nicht, was man Ihnen über uns Afrikaner erzählt hat, aber ich kann Sie beruhigen, ich bin kein Kannibale. "" Mit diesen Worten stellte sich Mitte der 1920er Jahre Al-Haj Massaquoi, Student der Rechtswissenschaf ten am Trinity College der Universität Dublin, der Krankenschwester Ber tha B aetz, weiße Deutsche und Tochter eines Steinbruchmeisters, vor. Der Ort der Begegnung war das Hamburger Haus des liberianischen Konsuls Momolu Massaquoi, Al-Haj Massaquois Vater. Der Wortlaut der ersten Annäherung dieser beiden, in sozialer wie ökonomischer Hinsicht aus ver schiedenen Welten stammenden Menschen, ist uns überliefert durch die Autobiographie des 1 926 geborenen Sohnes von Bertha Baetz, Hans Jür gen. Nun war die Selbstdarstellung Al-Hajs auch damals sicherlich nicht die Standarderöffnung aus dem Handbuch des Flirts, sondern spielte im Gegenteil auf ironische Art und Weise mit Erwartungshaltungen, Ängsten und Befürchtungen, die auf rassistischen Vorurteilen gegenüber Menschen afrikanischer Herkunft basierten. Aus historiographischer Perspektive wirft eine solche Selbstdarstellung eine ganze Reihe von Fragen auf: Was waren die Aussagen und Bedingungen des rassistischen Diskurses, auf den sich Massaquoi hier bezog? Wie war die Situation schwarzer Deutscher zur Zeit der Weimarer Republik? Wie wurden Identitäten und Alteritäten im Geflecht von , Rasse', Klasse und Geschlecht artikuliert? Welche Rolle spielte die deutsche Kolonialerfahrung in diesem Zusammenhang? Oder anders formuliert: Was mag B ertha Baetz mit dem Begriff des Kannibalen verbunden haben?
Massaquoi 1 999, S. 27. Zur Situation von Afro-Deutschen in Deutschland zwischen 1 884 und 1 93 3 siehe: El-Tayeb 200 1 , S. 142- 148; Campt 2004, S. 37-50; Westermann 1 999 (mit besonderem Fokus auf Hamburg).
1 0 I KANNIBALE-WERDEN
Darüber können wir aus heutiger Sicht einerseits nur spekulieren. Wie ich auf den kommenden Seiten demonstrieren werde, können wir jedoch andererseits genau rekonstruieren, auf welche Weise Kannibalismus in den 1920er Jahren in sehr vielen verschiedenen Kontexten thematisiert wurde: Angebliche Kannibalen, assoziiert mit dem "anachronistic space" der Ko lonien/ wurden ausgestellt in Jahrmarktsbuden oder Völkerschauen. Ste reotype Abbildungen des Menschenfressers bildeten einen festen Bestand teil des ikonographischen Inventars der imperialist imagination. Ethnolo gische Fachpublikationen oder Expeditionsberichte beschrieben sie, und in kolonialen Abenteuerromanen firmierten sie als Bösewichte. Gleichzeitig wurden afrikanische Soldaten, die als Teil der französischen Besatzungs truppen nach Ende des Ersten Weltkrieges im Rheinland dienten, als Men schenfresser diffamiert. Auch war AI-Haj Massaquoi nicht der einzige Mann, der sich explizit darauf berief, kein Kannibale zu sein. Seine Worte finden ihr verzerrtes Echo in den nachdrücklichen Dementis mutmaßlich kannibalischer Sexualstraftäter, wie Karl Großmann, Fritz Haarmann oder Peter Kürten. Ihnen allen wurde unterstellt, sie hätten das Fleisch oder das Blut ihrer Opfer selbst verzehrt oder anderen zum Verzehr angeboten. Sie alle jedoch beharrten darauf, nicht von dem Fleisch ihrer Opfer gekostet zu haben. Gleichzeitig, und auch das werden meine Ausführungen zeigen, wurde in all diesen Auseinandersetzungen die hegemoniale weiße, deutsche und heterosexuelle Männlichkeit problematisiert: Kolonisatoren, Entdecker und Forscher bewegten sich im kolonialen Raum in der ständigen Gefahr, von Kannibalen verzehrt zu werden; eine Bedrohung, die gleichsam ein männliches Privileg darstellte. Sowohl kannibalischen Wilden wie men schenfressenden Mördern wurde die Kontrolle über die gewalttätige und triebhafte Natur des männlichen Körpers abgesprochen. Diese Triebkon trolle wiederum avancierte damit zum primären Distinktionsmerkmal wei ßer, bürgerlicher, heterosexueller Männlichkeit. Damit einher ging die Konstruktion eines männlichen Körpers, der, egal welcher Hautfarbe, von primitiven Impulsen und sexuellen B egierden geprägt sein sollte. Dieses Körperkonzept wurde maßgeblich von kriminologisch-anthropologischen und medizinisch-psychiatrischen Experten unter Bezug auf koloniale Dis kurse gestaltet und fand in den gesellschaftlichen Debatten um die Gewalt taten einzelner deutscher Kolonisten, die angeblichen Vergewaltigungen der afro-französischen Soldaten im Rheinland sowie den Morden der Se xualstraftäter der 1920er Jahre massenmediale Verbreitung. Der Men schenfresser, so meine zentrale These, nahm in diesem Zeitraum eine neue Gestalt an, ein Vorgang, der mit einer zunehmenden Rassifizierung hege monialer Männlichkeit Hand in Hand ging. Zugespitzt ausgedrückt: Der Kannibale hauste im Innern eines jeden Mannes.
2
McClintock 1995, S. 4 1 .
PROBLEMAUFRISS I 1 1 1 . 1 Effe k t e u n d Affe kte: W a s prod u z i e r t d e r D i s k u r s vom Me n s c h e n fr e s s e r?
Im Rahmen der bisher vorgelegten Studien zur Geschichte des Kanniba lismusvorwurfes ist ein solcher Wandel des Diskurses vom Menschenfres ser bislang nur am Rande thematisiert worden. So weist Jan N. Pieterse darauf hin, dass sich ab 1900 die Darstellung von Afrikanern und Afrika nerinnen als Anthropophagen veränderte: Die zuvor als ernst dargestellte kannibalische Bedrohung wurde nun zunehmend ironisiert.3 Daniel Fulda postuliert gar einen "Deutsche[n] Sonderweg, kannibalistisch".4 Seiner Ansicht nach liegt dieser Sonderweg in der im Vergleich zu anderen euro päischen Nationalstaaten kurzen kolonialen Phase begründet. Dies führte seiner Ansicht nach dazu, dass "das Motiv häufig anders besetzt wurde als in der Literatur [anderer] Kolonialmächte.'" Als Kennzeichen dieser Be setzung nennt er erstens die " ,Exotik der Gefühle' '', welche die deutsche Literatur über Kannibalen seit dem 18. Jahrhundert "kultivierte" und in der daher "anthropologische, subjekt- und sprachtheoretische Fragen im Vor dergrund" standen. Nach Fulda wurde zweitens das "Anthropophagiemo tiv" dazu genutzt, Kritik am modemen vernunftbestimmten Subjekt der Aufklärung zu üben. Zwischen Natur und Kultur (des Menschen) wurde eine Dichotomie konstruiert, in der die Kultur ungerechtfertigt und unan gemessen die Natur beherrscht.6 Diese Kritik kulminierte drittens seiner Ansicht nach unter den ,,[s]pezifisch deutsche[n] Diskursbedingungen" der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg - "die nietzscheanische Rehabilitation des Dionysischen sowie, auf politischer Seite, die gesellschaftliche Krise in folge des verlorenen Weltkriegs" - in der Thematisierung des "Leiden[s] an der ,uneigentlichen' Gesellschaft"'. Aus diesen Gründen habe - vier tens - das Motiv des Kannibalen "hierzulande nie vorrangig dazu [ge]dient[ ], die Beziehung der eigenen Kultur oder des eigenen Men schenbildes zu einer femen Fremde zu definieren". Vielmehr wurden "Kannnibalismusfiktionen und -metaphern relativ früh als , a story about ourselves' präsentiert". 8
3 4
5 6 7 8
Pieterse 1992, S. 1 19. Fulda 2001a, S. 20. V gl . für seine Auseinandersetzung mit der Behandlung des Themas in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts auch seine Analy se der Texte von Thomas Mann (Fulda 200 1b) sowie seine Untersuchung zum "Menschenfresser im modernen Epos" (Fulda 1999). Fulda 200 1 a, S. 20. Ebd., S. 2 1 (HiO). Ebd., S. 2 1 -22 (HiO). Ebd., S. 22 (HiO). Dass der Kannibalismusdiskurs im Kern eher Erzählun gen über das Eigene denn über das kannibalische Andere transportiert, ist allerdings ein Befund, der auch für andere Literaturen Gültigkeit hat. V gl. etwa Obeyesekeres Analyse der Abenteuerberichte des Chevalier Peter Dillon (Obeyesekere 200 1).
1 2 I KANNIBALE-WERDEN
Diese detaillierte Kritik an der bisherigen Vorgehensweise literatur und kulturwissenschaftlicher Forschung weist auf viele Defizite hin und offenbart gleichzeitig weiteren Differenzierungsbedarf. So ist das Faktum, dass das Deutsche Reich lediglich kurz eine Kolonialmacht war, bei einer Analyse der Diskurse und Praktiken um Kannibalismus sicherlich zu be rücksichtigen. Inwiefern allerdings hierbei von einem deutschen Sonder weg ausgegangen werden kann, bleibt zu prüfen. Wie eine Vielzahl von Studien deutlich gemacht hat,9 muss die These von einer europäischen , Normalentwicklung' grundlegend hinterfragt, die des deutschen Sonder weges entsprechend aufgegeben und stattdessen die Vielgestaltigkeit der Auseinandersetzung mit Andersheit in den Blick genommen werden. Dies bedeutet zu fragen, auf welchen Diskursfeldern die Auseinandersetzung mit dem , Anderen' stattgefunden hat und inwiefern diese untereinander verschränkt waren. Des Weiteren ist Fuldas Kritik ein B eispiel dafür, dass in der wissen schaftlichen Bearbeitung des Themas häufig davon ausgegangen wird, dass im langen 19. Jahrhundert alle Bestrebungen hin zu einem natürliche ren Zustand kontrolliert und unterdrückt wurden. So führt Pieterse den Wandel vom Image des gefährlichen zum komischen , wilden Kannibalen' auf einen ",return of the repressed'" und eine Verflüssigung der zuvor ri giden Grenzen zwischen Zivilisation und Natur zurück.lo Diese Repressi onshypothese muss mit Blick auf die Ergebnisse von Michel Foucaults Arbeiten zur Geschichte der Sexualität in Frage gestellt werden. Statt von einer "massive[n] Zensur" der natürlichen Triebe und Lüste auszugehen, die einem freien, natürlichen Zustand zustreben, ist vielmehr anzunehmen, dass es sich vielmehr "um einen geregelten und polymorphen Anreiz zum Diskurs" gehandelt hat.l l Im Gegensatz z u Fulda betont die überwiegende Mehrheit der Unter suchungen die lange Tradition des Kannibalismusvorwurfs und seine Be deutung für die Herstellung der Differenz zwischen Eigenem und Ande rem. Kannibalismus sei ein Vorwurf, der in europäischen Gesellschaften seit der Antike eingesetzt werde, um Menschen als Barbaren, Wilde, ge fährliche Andersartige oder Fremde zu kennzeichnen, so die These der vorwiegend anthropologischen und literaturwissenschaftlichen Studien, die sich ausgehend von der 1979 erstmals veröffentlichten Studie des ame rikanischen Anthropologen William Arens The Man-Eating Myth entwi-
9
10 11
Wie ich im weiteren Verlauf zu sehen sein wird, steht die Sonderwegsthese auch aus der Perspektive der sich neu entwickelnden transnationalen Ge schichtsschreibung in der Kritik. Zur Einführung in die Grundfragen der Debatte sei an dieser Stelle auf James Sheehans Essay Paradigm Lost? (Sheehan 2006) verwiesen. Ausführlicher zur Sonderwegsthese siehe Kapi tel 4 und 6. Pieterse 1992, S. 118-119, Zitat S. 118. Foucault 1983, S. 48.
PROBLEMAUFRISS I 1 3
ckelt hat. 12 Die Beschuldigung sei gegen Angehörige der eigenen Gesell schaft ebenso erhoben worden wie gegen Angehörige nicht-europäischer Gesellschaften. Dabei sei ihr Auftauchen völlig unabhängig von den Prak tiken der Beschuldigten. Menschenfresser und -fresserinnen seien vor al lem ab dem Beginn der Neuzeit das Andere der europäischen Gesellschaft, und das moderne europäische Subjekt defn i iere sich in Abgrenzung vom menschenfressenden Wilden: "The modem Cartesian subject depends for its self-definition as an independent entity, cJearly differentiated trom others, on the image of an ,other' who destroys such boundaries. [ ... ) While serving thus as a mirror to the European subject, the cannibal threatened to swallow it, both literally, and also through representing the danger of ,going native', which could cause the civilised man return to an original state of barbarism.
..
13
Mit diesem statisch-binären Modell ist jedoch eine historische Variabilität der Konstruktion von Alterität in ihrer Bedeutung für die Konstitution des modernen europäischen Subjekts nicht erfassbar. Dass mit der Beschuldi gung, Menschenfleisch zu verzehren, Einzelne oder Personengruppen als , anders' gekennzeichnet wurden, ist damit also zugleich deskriptiv richtig und analytisch zu kurz gegriffen. Des Weiteren hat die umfangreiche Forschung zum Thema aufgezeigt, dass wir einerseits davon ausgehen können, dass bestimmte Formen von Anthropophagie in allen menschlichen Gesellschaften zu allen Zeiten praktiziert worden sind oder bis heute praktiziert werden. Hierzu zählt vor allem der sogenannte Hunger- oder Notkannibalismus, der bei Schiffbrü chen oder Flugzeugabstürzen ausgeübt wurde (und wird), sowie der religi ös oder auch medizinisch motivierte Konsum zumeist geringer Mengen menschlichen Fleisches oder Blutes." Andererseits haben die Untersu chungen deutlich herausgearbeitet, dass die überwiegende Mehrzahl der in 12
13 14
Aus der Fülle der Publikationen zu diesem Thema können an dieser Stelle lediglich einschlägige Studien genannt werden: Arens 1987, S. 182; Wendt 1989, S. 1-9 Kilgour 1990, S. 5; Hulme 1992, S. 14-15, 85; Peter-Röcher 1994, S. 154-176; Menninger 1995, S. 11-18; Hulme 1998, S. 3-6; Schül ting 1997, S. 92; Peter-Röcher 1998, S. 27; Wehrheim-Peuker 1999; Wehrheim-Peuker 2001; Obeyesekere 2005, S. 1-2; Arend 2006 sowie die Beiträge in Hedwig Röckeleins Sammelband Kannibalismus und europäi sche Kultur (Röckelein (Hg.) 1996). Zur Klärung der Unterscheidung von Anthropologie und Ethnologie siehe Kapitel 2. Kilgour 1998, S. 242-243. Siehe dazu beispielsweise: Obeyesekere 2005, S. 36-43; Petrinovich 2000, der sich in drei Kapiteln seiner Darstellung auf die Rekonstruktion von Kannibalismus als "adaptive survival strategy" (vii) konzentriert (S. 21-90) sowie Simpson 1994, der den ersten Prozess wegen Hungerkannibalismus im Jahr 1884 gegen den Kapitän der Mignonette Tom Dudley und seinen Maat Edwin Stephens rekonstruiert. Zuvor waren Seeleute in solchen Fäl len nicht wegen Mordes angeklagt worden.
1 4 I KANNIBALE-WERDEN
der Reiseliteratur, den Missionsberichten sowie der ethnologischen For schungsliteratur geschilderten Fälle skeptisch betrachtet werden muss, da sie mehrheitlich auf Hörensagen, Mutmaßungen und Missverständnissen basieren. l' Bis heute wird in den Fachdisziplinen, zum Teil sehr heftig, um Faktizität oder Konstruktion des Kannibalismus unter Angehörigen kolo nialisierter oder prähistorischer Gesellschaften gestritten. 16 Mit Blick auf diese Forschungsergebnisse plädiert Richard King für eine Verschiebung der Fragestellung. 1 7 Der Kannibalismusvorwurf, so bringt es King auf den Punkt, habe mehr Effekte mit sich geführt als allein die Einführung kategorialer, binärer Distinktionen: "It has rather unfolded as an extremely fecund and flexible network of signifying
practices, fostering an array of critical projects in both , alien , worlds and , civi
lized contexts. It has enabled individuals and institutions to both reinforce and '
challenge hegemonic norms."IS
Statt also zu fragen, ob Kannibalismus wirklich vorgekommen sei oder nicht, sei vielmehr zu untersuchen, wie gesellschaftlich mit der Möglich keit, dass Menschen von ihresgleichen verzehrt werden könnten, umge gangen wurde. Welche Praktiken haben sich um dieses Wissen vom Kan nibalismus herum etabliert? Wie ist dieses Wissen effektiv geworden? Welche Identitätskonstruktionen waren daran gekoppelt? Diesem Plädoyer möchte ich mich an dieser Stelle nicht nur anschlie ßen, sondern werde es zum Ausgangspunkt meiner eigenen, folgenden Analysen machen. Ziel meiner Untersuchung ist damit eine genaue histori sche Verortung und Kartographierung des von King genannten Netzwer kes sinnstiftender Praktiken. Leitfragen meiner Untersuchung werden sein: Welche Rolle spielte das Wissen um die kolonialen Kannibalen innerhalb des deutschen Kolonialprojektes und welche in der postkolonialen Situati on im Mutterland? Was bedeutete dies konkret für die Artikulation der hegemonialen Männlichkeitskonstruktion in der deutschen, (post)koloni15 16
17 18
Siehe dazu: Arens 1987, S. 182; Frank 1987; Kuper 1991; Obeyesekere 2005, S. 25-36 und 193-254; Peter-Röcher 1998, S. 119-132. Siehe beispielsweise: Lestringant 1997, hier v.a. S. 178-179. Eines von vielen Beispielen ist die Debatte um den vermuteten Kannibalismus der Irokesen. Peggy Reeves Sanday geht davon aus, dass diese, wie viele ande re Gesellschaften in der Vergangenheit, rituellen Kannibalismus ausgeÜbt hätten. Hauptfunktion des Ritus sei dort wie auch anderswo die "control of violent emotions" gewesen (Sanday 1995, S. 125-150, Zitat S. xii; dage gen: Abler 1988). Andere, wie Michael Krieger, behaupten, heute noch le bende Kannibalen und Kannibalinnen getroffen zu haben. In seinem Fall lebten diese auf der pazifischen Insel Vanatu und behaupteten ihm gegen über, bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges einzelne ihrer Gegner aus zwischen-dörflichen Auseinandersetzungen verspeist zu haben (Krieger 1994, S. 65-77). King 2000, S. 109-115. Ebd., S . 109.
PROBLEMAUFRISS 1 1 5
alen Gesellschaft? In welchem Verhältnis standen dabei weiße männliche Identität und kannibalische Alterität? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wird in einem ersten Schritt (Kapitel zwei) die Produktion des Wissens vom kannibalischen Wilden im kolonialen Kontext rekonstruiert. Anhand von ausgewählten Reiseberich ten und Werken der ethnologischen Fachliteratur sowie am Beispiel der Prozesse um die mutmaßlichen Kannibalen auf der Station Iringa, Deutsch-Ostafrika ( 1908/09), wird Fragen nachgegangen wie: Inwiefern und auf welche Art und Weise war die deutsche ethnologische Forschung mit dem kolonialen Projekt verflochten? Wie, von wem und wofür wurde das Wissen vom wilden Kannibalen genutzt? Wenn der Kannibalismus vorwurf europäischen Kolonialmächten zur Legitimierung des eigenen Herrschaftsanspruches im Sinne einer civilising mission diente, gab es in dieser Hinsicht Spezifika des deutschen Kolonialismus? Bei der Beantwor tung dieser Fragen gilt mein besonderes Augenmerk der Rolle des indige nen Wissens bei der Produktion des ethnologischen Fachwissens vom Kannibalismus sowie der Einbettung dieses Fachwissens in die Prozesse der Herstellung und Aufrechterhaltung deutscher Kolonialherrschaft und der damit einhergehenden Regulierung von Lebensäußerungen im Sinne einer kolonialen Gouvernementalität. In einem nächsten Schritt (Kapitel drei) werde ich mich auf die Artiku lationen weißer männlicher Identität und kannibalischer Alterität im kolo nialen Diskurs konzentrieren. Ausgehend von den Ergebnissen kulturwis senschaftlich orientierter Forschungen, welche die Bedeutung der Koloni alphantasien für das deutsche Kolonialprojekt herausgearbeitet haben, soll in diesem Kapitel anhand von medizinischer Fach- und Ratgeberliteratur, Kolonialromanen, Abenteuer- und Jugendliteratur den Vorstellungen über Menschenfresser und ihrem Verhältnis zum deutschen Kolonialherrn nachgespürt werden. Dabei wird deutlich werden, dass die hier entworfe nen B edrohungsszenarien nicht nur geschlechterspezifisch, sondern auch überaus vieldeutig waren. Denn auch in anderen Bereichen tauchten diese Ängste auf: Sie bezogen sich nicht nur darauf, von den sogenannten Ein geborenen verschlungen oder von der kolonialen Umwelt in Form von Bakterien, Viren oder dem Klima vereinnahmt zu werden, sondern auch darauf, in einem Anfall des gefürchteten Tropenkollers die männlich weiße Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Im anschließenden vierten Kapitel wird der Frage nachgegangen, wel che Wirkung das Wissen vom wilden Kannibalen im kriminologischen und medizinisch-psychiatrischen Fachdiskurs und in der Interpretation von Kriminalfällen wie dem von Karl Denke entfaltete. Oder anders formu liert: Welches waren die Resonanzen und Verbindungen, welches die Brü che zum kolonialen Diskurs? Hier wird zu sehen sein, dass das koloniale Wissen vom Kannibalen für die Konstruktion des Kriminellen im krimino logischen Diskurs um 1900 von großer Bedeutung war. Bisherige Unter-
1 6 I KANNIBALE-WERDEN
suchungen haben diese Resonanz des kolonialen Diskurses weitestgehend vernachlässigt. Meine Ausführungen in diesem Abschnitt werden die Doppelbewegung aus Differenzproduktion und Anordnung innerhalb eines Feldes von (Ab)Normalität, durch welche Delinquenten als Andere (re)produziert wurden, nachzeichnen. Die Analogie Wie die Wilden, so wird an dieser Stelle deutlich werden, verwies auf die Normalisierungs strategien eines biopolitischen Dispositivs, welcher nicht nur für die Kolo nie, sondern auch für das (post)koloniale Mutterland bestimmend war. Im darauf folgenden Kapitel fünf wird die Untersuchung des Verhält
nisses zwischen kannibalischer Alterität und hegemonialer weißer Männ lichkeit wieder stärker in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Wie gestal tete sich diese Relation im Kontext des kolonialen Mutterlandes? Was ge schah, wenn, wie Dirk van Laak es formuliert, "koloniale[ 1 Probleme in die Metropole zurück" gelangten?19 Dazu werde ich in zwei Teilschritten vorgehen. Erstens werden, anschließend an die Ergebnisse des vorange gangenen Kapitels, Publikationen des psychiatrisch-medizinischen Fach diskurses sowie die staatsanwaltschaftlichen Unterlagen des Falles Peter Kürten in den Blick genommen. In einem zweiten Schritt werden die Aus einandersetzungen um die afro-französischen Soldaten zur Zeit der Rhein landbesetzung ( 1 9 1 9-1930) hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Konstruk tion weißer und nicht-weißer Männlichkeiten untersucht. Dabei werde ich demonstrieren, dass keinesfalls, wie in der Forschungsliteratur bislang postuliert, 2° eine klar abgrenzbare sexualisierte kannibalische Alterität und eine weiße, bürgerliche, heterosexuelle Männlichkeit, sondern vielmehr ein Kontinuum der männlichen (Ab)Normalität entworfen wurde, in dem jeweils beide verortet wurden. In diesem Sinne hieß Mann-Werden, seine Triebe zu kontrollieren, sich zu beobachten und zu zügeln, gleichzeitig aber auch Kannibale-Werden, begehren, reißen und fressen zu wollen. Der letzte inhaltlich-analytische Abschnitt der Arbeit widmet sich der Untersuchung der verschiedenen Kopplungen des Kannibalismusdiskurses mit aktuellen politischen Debatten und Diskursen der Zeit der Weimarer Republik. Hier wird deutlich werden, wie der Kannibalismusdiskurs, gebrochen entlang der verschiedenen politischen Positionen in verschiede nen Debatten, welche die deutsche Gesellschaft der Weimarer Zeit beweg ten, genutzt wurde: erstens im Zusammenhang der Kritik eines "reactiona ry modernism",21 zweitens in der politischen Auseinandersetzung zwischen der KPD und der regierenden SPD, sowie drittens in Bezug auf die Kon struktion einer Gefährdung von männlichen Jugendlichen durch die Anste ckung mit Blut (Kannibalismus) und Sperma (Homosexualität). Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln wird uns auch hier der Diskurs von der 19 20 21
van Laak 2004b, S. 278. Siehe: Maß 2001, S. 25-27; Maß 2006, S. 76-105; Koller 2001a, S. 201261; Lebzelter 1985, S. 44-55. Herf 1984, S. 2-3, Zitat: Titel.
PROBLEMAUFRISS I 1 7
Menschenfresserei im Zusammenhang mit der biopolitischen Regulation von Lebensäußerungen und der Artikulation von Männlichkeiten begeg nen. Wie diese kurze Übersicht deutlich gemacht hat, und wie im Schluss teil der Arbeit nochmals genauer herausgearbeitet werden wird, geht es in der hier vorgelegten Studie weniger um eine möglichst vollständige Re konstruktion des diskursiven Archivs, welches B ertha Baetz, Al-Haj Mas saquoi oder ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in Deutschland in Bezug auf den kannibalischen Anderen zur Verfügung stand.22 Vielmehr ziele ich mit meiner Untersuchung der verschiedenen Konstruktionen männlich-kannibalischer IdentitätlAlterität auf die exemplarische Rekon struktion der Fluchtlinien und Verwerfungen des Kolonialdiskurses inner halb der deutschen Gesellschaft zwischen 1 890 und 193 3 .23 Mit dieser Zielsetzung gehen zwei methodische Entscheidungen einher. Erstens die Wahl des Untersuchungszeitraumes, der diesen Fokus auf mögliche Kon nexionen und Vernetzungen widerspiegelt. Er umfasst gezielt die Hoch phase der aktiven deutschen Kolonialpolitik sowie die Zeit der Weimarer Republik. Es handelt sich dabei allerdings um eine Schwerpunktsetzung, nicht um eine exklusive Abgrenzung. Denn obwohl er mit dem Jahr 1933 eine eindeutig fassbare Grenze erreicht, da sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und -sozialistinnen die Diskursbedingungen für die
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Eine umfangreiche Materialsammlung zu diesem Thema hat Josef Nuss baumer vorgelegt (Nussbaumer 2004). Allerdings bezieht Nussbaumer sei ne Informationen zu Teilen aus quellenkritisch fragwürdiger Literatur und gibt deren verfälschende Angaben wieder. So beispielsweise hinsichtlich der angeblich kannibalischen Straftäter Großmann und Haarmann, wo er damalige Mutmaßungen und Gerüchte als Fakten oder Gerichtsurteile auf listet (ebd., S. 46, 47). Wie. ich in Kapitel 6 zeigen werde, war Großmann kein Metzger, und Haarmanns vermuteter Handel mit Menschenfleisch konnte vor Gericht nicht bewiesen werden. In diesem Sinne gibt Nussbau mers Sammlung einen guten Überblick über das diskursive Archiv des Kannibalismus-Vorwurfes, nicht jedoch über die Geschichte kannibali scher Akte. Obwohl ich damit keine systematische historische Diskursanalyse betrei ben werde, entlehne ich den meiner Analyse zu Grunde liegenden Diskurs begriff dem Foucault'schen Theoriekomplex und verstehe unter einem Diskurs eine Rede, in der die in ihr gemachten Aussagen sich auf einen gemeinsamen Gegenstand beziehen, eine Regelmäßigkeit in ihrer Anord nung aufweisen, also einer "diskursiven Formation" angehören, und deren Beziehungen zu anderen Reden ebenfalls eine Regelhaftigkeit, "Formati onsregeln", erkennen lassen. Nach Foucault ist ein Diskurs damit gleich zeitig stets Teil einer "diskursiven Praxis", welche über die unmittelbare, regelhafte und geregelte Rede hinausreicht. Diese Praxis umfasst nach Foucault die "Gesamtheit von [... ] Regeln", welche die "Wirkungsbedin gungen" der Aussagen eines Diskurses definieren. Diese können sich auf seine "soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung" beziehen (Foucault 1997, S. 58, 109, 170-171).
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Debatten um Kannibalen und Sexualstraftäter drastisch veränderten,24 so kann dies umgekehrt nicht für das Jahr 1 890 behauptet werden. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, können wir im Gegenteil viele Diskurstradi tionen beobachten, die bis in die l 860er Jahre oder, in Bezug auf den Kan nibalismusdiskurs, bis in die Frühe Neuzeit oder länger zurück reichen. Zweitens werden an ausgewählten diskursiven Knotenpunkten Proben in das historische Material vorgenommen und anhand der genauen Analyse von retrospektiv betrachtet besonders wirkungsmächtigen Texten - wie die Schriften Richard von Krafft-Ebings , Cesare Lombrosos oder Sigmund Freuds, einschlägigen Kriminalfällen wie die von Karl Großmann, Karl Denke, Fritz Haarmann und Peter Kürten sowie massenmedialer Darstel lungen und Presseerzeugnisse - die Fluchtlinien eines diskursiven Ge flechts kartographiert, welches Kolonie und Metropole gleichermaßen durchzog. In diesem Sinne wird im Folgenden nicht die Geschichte eines Transfers kolonialer Diskurse und Vorstellungen von der kolonialen Peri pherie in die deutsche Metropole geschrieben, sondern die geteilte Ge schichte eines Netzwerks aus Diskursen und Praktiken rekonstruiert, in dem männliche Identität und kannibalische Alterität artikuliert wurden. Darüber hinaus werden die Arten und Weisen aufzeigt, auf welche der Kannibalismusdiskurs eng mit der Etablierung moderner, biopolitischer Gouvernementalität verbunden war. Bevor ich jedoch mit der Analyse und Interpretation des historischen Materials beginne, möchte ich meine Untersuchung kurz in den größeren Kontext der sich entfaltenden neueren Forschung zur deutschen postkolo nialen Geschichte, der Geschlechtergeschichte und der Whiteness Studies einordnen, die zentralen Begrifflichkeiten meiner Analyse erläutern sowie die Quellengrundlage der Arbeit vorstellen.
1.2 M a n n i gfa l t i g e V e rf l e c h t u nge n : D i e F rages t e l l u n g i m Kon t ext d e r For s c h u n g
Mit dem oben dargestellten Programm unternimmt meine Studie den Ver such, drei sehr unterschiedliche Forschungsfelder, namentlich die Ge schichte der Kriminologie, die Geschlechtergeschichte sowie die Koloni algeschichte miteinander zu verbinden.25 Mein Ziel ist es, Fluchtlinien und Konnexionen zwischen diesen drei Feldern aufzuzeigen, also den Raum 24
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Dies wird besonders deutlich am Fall Bruno Lüdkes, der 1943 gefasst wur de. Alle Pressemeldungen über den Fall wurden gezielt unterdrückt und Lüdke aus Sicherheitsgründen und zu Untersuchungszwecken nach Wien gebracht. Dort starb er laut Aussage der Behörden gegenüber seinen Ver wandten an Flecktyphus (siehe: Akte - Lüdke in Wien - mit Sterbeurkun de u. Bild, 1944, LAB A Pr. Rep. 030 C Tit. 198B/2368.) Es gibt hingegen Versuche, die Kriminologie aus einer irnperialismuskriti sehen Perspektive neu zu formulieren. Siehe dazu: Agozino 2003.
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zwischen diesen bislang getrennt verfolgten Forschungskontexten zu er kunden. Der Fokus meiner Aufmerksamkeit wird dabei auf der Rekon struktion der Verflechtungen zwischen den Kolonien und dem Mutterland liegen. Auf diese Weise werde ich exemplarisch die Bedeutung des kolo nialen Projekts für die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs und der Zeit der Weimarer Republik eruieren: Es geht es also um die Geschichte hege monialer Männlichkeit aus postkolonialer Perspektive. Geteilte Geschichte(n): Postkoloniale Perspektiven und die neuere Kolonialgeschichte
Mit dieser Zielsetzung greife ich Anregungen der internationalen, vorwie gend englischsprachigen Forschung auf, welche auf die enge Verflechtung von Kolonie und Metropole hingewiesen hat.26 Ausgangspunkt und Grund lage der meisten dieser Studien waren die Analysen und theoretischen Überlegungen aus dem Bereich der Postcolonial Studies.27 Im deutschspra chigen Kontext ist diese postkoloniale Perspektive von Shalini Randeria unter dem Begriff einer im doppelten Sinne ",geteilten Geschichte'" oder
"entangled histories" zusammengefasst worden. Randeria plädiert dafür, "Geschichte als entanglement" aufzufassen, in dem "die miteinander in Beziehung stehenden Entitäten [ . . . ] selbst zum Teil ein Produkt ihrer Ver flechtung" sind.28 Randeria bezieht sich dabei in erster Linie auf die Neu konzeptionalisierung der Geschichte der Modeme. Anstelle des Diffusi onsmodells, der Ausbreitung der westlichen Moderne über den gesamten Globus qua Kolonialismus, oder des Differenzmodells, der Annahme je 26
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Siehe beispielsweise: CooperlStoler 1997, S. 1; Cooper 2005, S. 22-24; ConradJRanderia 2002, S. 12-22; Stoler 1996, S. 7-9. Dies ist allerdings keine exklusive Entdeckung postkolonialer Forschung. Bereits in den 1970er Jahren forderten Historikerinnen und Historiker für die Untersu chung der Geschichte des Kolonialismus, die Wechselwirkungen zwischen Kolonien und Mutterland zukünftig stärker in den Blick zu nehmen (siehe dazu: Bade 1983a, S. 140, 142). Auf sprachlicher Ebene stellt sich damit eine ähnliche Schwierigkeit, wie Anne McClintock sie für den Begriff des Postcolonialism dargelegt hat: Durch die Verwendung der Begrifflichkei ten, hier Kolonie und Metropole, wird der koloniale Diskurs in der kriti schen Analyse und entgegen den Intentionen der Forschung fortgeschrie ben (siehe: McClintock 1995, S. 9-15.) Die Postcolonial Studies stellen ein im englischsprachigen Raum weithin etabliertes Forschungsfeld dar, dessen vollständige Darstellung den hier gegebenen Rahmen sprengen würde. Zur Einführung seien daher an dieser Stelle empfohlen: Castro Varela/Dhawan 2005; Loomba 2005 sowie Young 2006. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung bei der Formulierung ei ner postkolonialen Kritik des Eurozentrismus und dem Versuch der Resitu ierung Europas im globalen Kontext seien außerdem noch Chakrabarty 2007 sowie Appadurai 1996 genannt. ConradJRanderia 2002, S. 10, Zitat S. 17 (HiO). Vgl. dazu auch ihre Aus führungen in Randeria 2000 sowie Randeria 2002.
20 I KANNIBALE-WERDEN
nach kulturellem Kontext unterschiedlicher Formen der Moderne, schlägt sie vor, "ein Modell miteinander verwobener Formen der Moderne zu entwickeln, die sich im Verlauf einer gemeinsamen Geschichte herausge bildet haben."29 Wie oben bereits dargestellt, soll dieses Plädoyer für die Untersuchung einer geteilten Geschichte fruchtbar gemacht werden, d.h. für die Untersuchungen der Konstruktionen kannibalischer Alterität und weißer Männlichkeit aufgegriffen und als exemplarischer Blick auf einen von vielen möglichen Aspekten der Verflechtung von Kolonie und Metro pole nutzbar gemacht werden. Randeria ist nicht die einzige Stimme, die für eine intensivere Unter suchung von Verflechtungszusammenhängen und Interaktionsprozessen plädiert. Mehr und mehr Forscherinnen und Forscher wenden sich Frage stellungen dieser Art zu. Dabei werden sowohl Anregungen der Postcolo
nial Studies als auch anderer, ebenfalls aus dem anglo-amerikanischen Forschungskontext stammender Ansätze, wie die der New Imperial Histo ry oder der Global History verfolgt.30 Darüber hinaus werden auch von diesen Ansätzen unabhängige Perspektiven entwickelt: So haben bei spielsweise Benedicte Zimmermann und Michael Werner am Beispiel der deutsch-französischen Beziehungen für eine "Histoire croisee" argumen tiert.3! Insgesamt zeichnet sich die zunehmende Betonung der internationa len Verflechtungen bei der Entstehung der modernen Nationalstaaten all gemein und des Kaiserreiches im Besonderen ab.32 Im Zusammenhang dieser Umorientierung hat auch das Forschungsin teresse für die deutsche Kolonialgeschichte in den letzten zehn Jahren drastisch zugenommen.33 Zuvor fristete die Erforschung des deutschen Ko lonialprojekts lange Zeit ein Schattendasein innerhalb der deutschen Histo riographie:34 Die deutsche Kolonialzeit galt gemeinhin als eine für das 29 30
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Randeria 2000, S. 90. Siehe dazu: Stuchtey 2002; Geyer, M./Bright 1995; Osterham mel/Petersson 2003, Schissler 2005 und Patel 2004 sowie die Beiträge der programmatischen Sammelbände ConradlEckert et al. (Hg.) 2007, Bud de/Conrad et al. (Hg.) 2006, OsterhammellConrad (Hg.) 2004; Con radlRanderia (Hg.) 2002. Lediglich Sebastian Conrad hat bisher eine Mo nographie zum Verhältnis von Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich vorgelegt (vgl. Conrad 2006). Siehe: Werner/Zimmermann 2002. Siehe dazu: Conrad 2006; Geyer, M. 2004; Jarausch/Geyer, M. 2003, hier bes. S. 37-59. Auch hier ist die Verzahnung mit internationalen For schungstendenzen sehr eng. Vgl. Maier 2000; Osterhamme12001c. Für einen Überblick über die Entwicklung siehe die folgenden, in Abstän den vorgelegten Forschungsüberblicke: Bade 1983b; Dülffer 1981; Grupp 1986; Friedrichsmeyer/Lennox/Zantop 1998; Wildenthai 1999; Kundrus 2003a, S. 10-18; van der Heyden 2003; Wildenthal 2006; Lindner 2008. Dennoch sind bedeutende, vor allem sozialgeschichtlich orientierte Studien zum Thema erschienen. Siehe: Helmut Bleys Studie zur Geschichte DSWAs (Bley 1968), Karin Hausens Darstellung der deutschen Kolonial herrschaft in Kamerun (Hausen 1970), Detlef Balds Untersuchung zu DOA
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Kaiserreich "folgenlose imperiale Episode"." Sebastian Comad spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "doppelten Marginalisierung" des deutschen Kolonialismus : "Zum einen hat die Vorstellung einer ,gemeinsamen Geschichte' bislang nicht Eingang in die Theorien gefunden, die das Verständnis der (europäischen) Mo deme bestimmen. Zum anderen aber gilt die deutsche Geschichte auch in dieser Hinsicht als Sonderfall, der von der kolonialen Erfahrung noch weniger betroffen sei als andere Nationen."36
Zu der gegenwärtigen Belebung der Auseinandersetzung mit der deut schen kolonialen Vergangenheit hat eine Vielzahl von Elementen beige tragen. Dazu gehören, neben den bereits genannten wissenschaftsinternen Faktoren, auch gesellschaftlich-politische Ereignisse wie der Jahrestag des Herero-Nama Krieges 1 904-0737 sowie die eigene Lebenserfahrung einer globalisierten Welt und der politischen Debatten, die damit verbunden sind, und die unter den Schlagworten Migration, Leitkultur oder Isla mophobie bis hin zu Biosprit oder Reispreis geführt werden.38 Dabei ist in den letzten Jahren nicht nur eine deutliche Zunahme der Zahl der Arbeiten, sondern auch eine Ausdifferenzierung des Forschungs feldes und dessen Internationalisierung zu beobachten, zu welcher wieder um wesentliche Anregungen aus dem englischsprachigen Raum kamen.39 Schwerpunkte sind dabei vor allem die kulturellen Aspekte des deutschen
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(Bald 1970) sowie die Überblicksdarstellung zur Geschichte des deutschen Kolonialismus von Horst Gründer, erstmalig 1985 und jüngst in der 5., überarbeiteten Auflage erschienen (Gründer 2004e). Bade 1983b, S. 108. Siehe auch: Wehler 1985, S. 39-111. Erst kürzlich noch äußerte Wehler seine Verwunderung darüber, dass ein "realgeschicht lieh derart sekundäres Phänomen wie die kurzlebige deutsche Kolonialge schichte", welches seiner Ansicht nach weder verfassungsgeschichtlich noch sozial- und wirtschaftshistorische bleibende Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft gehabt habe, solche Aufmerksamkeit auf sich ziehe (Wehler 2006, S. 165-172, Zitat S. 165). Conrad 2002, S. 148. fu diesem Sinne auch: EckertfWirz 2002, S. 374-375. Zu diesem Thema wurden seinerzeit eine Reihe von Ausstellungen und Veranstaltungen durchgeführt. So beispielsweise "Deutschland Namibia. Eine geteilte Geschichte" (Rautenstrauch-loest Museum Köln, 2004) und ,,1904-2004. Eine Spurensuche zum Kolonialismus am Beispiel Namibia" (Übersee Museum Bremen, 2004-2005) sowie die "Anticolonial Africa Conference" (Berlin, 2004) und die Veranstaltungen um "hamburg postko lonial" (Hamburg, 2005). Siehe dazu: Zeller 2005. Vgl. dazu in politikwissenschaftlicher Perspektive: SteyerlJRodriguez (Hg.) 2003 sowie Ha 2005. Hier ist vor allem Susanne Zantops Studie Colonial Fantasies (Zantop 1997) zu nennen, welche einerseits erstmalig die Bedeutung des kulturellen Aspekts des deutschen Kolonialprojekts deutlich herausgearbeitet hat und andererseits seine Verwurzelung innerhalb der deutschen Gesellschaft jen seits, in diesem Falle vor, der offiziellen Kolonialpolitik demonstriert hat.
22 I KANNIBALE-WERDEN
Kolonialismus.40 Hier sind in erster Linie die Analysen von Koloniallitera tur:] die Historiographie der Entdeckungsreisen:2 Arbeiten zur Geschichte der Völkerschauen und Kolonialausstellungen43 sowie Untersuchungen der kolonialen Erinnerungskulturen zu nennen.« Auch neue Studien zu einzel nen Kolonien sind entstanden:5 Gleichzeitig wurden Themen der Ge schichte des Rassismus in Deutschland neu aufgerollt;46 namentlich die Erfahrungen schwarzer Deutscher." Helden , Patriarchen und Komplizinnen: Koloniale Gesch lechtergeschichte
Ein Forschungsfeld, dem in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren besondere Aufmerksamkeit zu Teil wurde, ist die Forschung zur kolonialen Frauen- und Geschlechtergeschichte. So hat beispielsweise Laura Ann Stoler mit Blick auf das britische sowie niederländische Kolo nialprojekt herausgearbeitet, dass Geschlechteridentitäten und Sexualitäten nicht rekonstruiert werden können, ohne die Auseinandersetzungen in und mit den Kolonien zu berücksichtigen: ,,[R]acial obsessions and refractions of imperial discourses on sexuality have not been restricted to bourgeois culture in the colonies alone". Stattdessen sei anzunehmen, dass bürgerli che Geschlechteridentitäten sowohl in den Kolonien als auch in der Me tropole stets auch entlang der Kategorie ,Rasse' kodiert gewesen seien:8 Das Interesse an einer Frauen- und Geschlechtergeschichte, die sich mit der deutschen Kolonialvergangenheit kritisch auseinandersetzt, speist 40
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Siehe dazu die Beiträge in den Sammelbänden von Honold/Simons (Hg.) 2002; Friedrichsmeyer/Lennox et al. (Hg.) 1998; Honold/Scherpe (Hg.) 2004 und Kundrus (Hg.) 2003 sowie Kundrus 2003a. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 3. Vorgelegt von Bennan 1998; Kiening 2006; Benninghoff-Lühl 1983; Warmbold 1982 und Short 2003. Hier sind in erster Linie Essner 1985 sowie Fiedler 2005 zu nennen. Ein rasch wachsendes Forschungsfeld, aus dem hier nur die zentralen Pub likationen genannt werden können. Dazu gehört Dreesbach 2005, Drees bachiZedelmaier (Hg.) 2003, sowie Thode-Arora 1989, Köstering 2003 sowie Kusser 2007, Ciarlo 2003a und Wiener, Mi. 1990. Siehe dazu auch: Bruckner 2003; Benninghoff-Lühl 1984; Benninghoff-Lühl 1986; Gold mann 1985; Haberland 1988; Hey 1997; Ciarlo 2003b. Siehe: Möhle (Hg.) 1999; van der Heyden/Zeller (Hg.) 2002; Krüger 1999. Namentlich Pesek 2005 (DOA), Zimmerer 2001 (DSWA) sowie Zurstras sen 2008 (Togo). Siehe dazu: Grosse 2000 und Zimmennan 2001. Zu nennen ist hier das Pionierwerk Oguntoye 1997 sowie Oguntoye (Hg.) 2007 (erstmals erschienen 1997). Siehe dazu auch: EI-Tayeb 2001, Schu bert 2003 und Campt 2004. Darüber hinaus sind in vergangenen Jahren ei ne Reihe von Sammelbänden zum Thema erschienen, siehe: Bechhaus Gerst (Hg.) 2003; Bechhaus-Gerst/Klein-Arendt (Hg.) 2004; Maz6nl Steingröver (Hg.) 2005; Bechhaus-Gerst/Gieseke (Hg.) 2006. Stoler 1996, S. 7.
PROBLEMAUFR 88
umV.
sich allerdings nicht nur aus den oben genannten forschungsintem �i�lJRi hek gesellschaftlich-politischen Quellen, sondern auch aus einer bereits iß �� u m späten 1 980ern und frühen 1 990er Jahren begonnenen Auseinander 'ö der feministischen Bewegung mit den ihr inhärenten Rassismen.49 In diesem Zusammenhang ist die Pionierarbeit von Martha Mamozai,
Schwarze Frau, weiße Herrin, zu nennen, die in sozial- und frauenge schichtlicher Perspektive die Lebensbedingungen von afrikanischen wie deutschen Frauen in DSWA untersucht.50 Die Analyse der Rolle deutscher Frauen für das nationale Kolonialprojekt, sei es in den Kolonien selbst oder als Mitglied einer kolonial politischen pressure group im Mutterland, sowie die Rekonstruktion der damit verbunden Weiblichkeitskonstruktio nen, bildete in der Folge das Hauptthema dieser Forschungsrichtung, zu deren zentralen Beiträgen die Studien von Karen Smidt, Lora Wildenthai, Katharina Walgenbach und Anette Dietrich zu zählen sind." Als gemein samen Nenner der Ergebnisse ihrer Untersuchungen können wir festhalten, dass erstens Frauen mit den Kolonien ein utopischer Raum zur Verfügung stand, der einen Weiblichkeitsentwurf ermöglichte, in dem weißen Frauen ein größerer individueller Handlungsspielraum zur Verfügung stand, sei es als politische Aktivistin oder als Farmers frau. Zweitens, dass dabei aber zur Begründung dieser Ausweitung stets im Rahmen des konventionellen bürgerlichen Geschlechtermodells argumentiert wurde.52 Besonders genau ist die zentrale Bedeutung demonstriert worden, weIche deutschen Frauen als "Trägerinnen deutscher Bildung, deutscher Zucht und Sitte" in der Durchsetzung einer rassistischen Bevölkerungspolitik in der Siedlungsko lonie DSWA zugeschrieben wurde. 53 Ein Aspekt, der vor allem anhand der Analyse der historischen Debatten um die "Mischehen", weIche wiederum einen besonderen Schwerpunkt der Forschung ausmachen, herausgearbei tet worden ist. 54 Ebenso wie in anderen Forschungsfeldern setzte auch im Kontext der deutschen Kolonialgeschichte das Interesse an einer Geschichte der Männ lichkeiten etwas später ein, so dass zur Zeit nur wenige Arbeiten eine deut-
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Siehe dazu: die Beiträge von Birgit Rommelspacher (Rommelspacher 1993 und Rommelspacher 1995). Siehe: Mamozai 1989. In diesem Sinne auch: Gouda 1993. Smidt 1995; Wildenthal 2001; Walgenbach 2005; Dietrich 2007. Siehe: Walgenbach 2005, S. 142-157; Wildenthal 2001, S. 131-139. Adda v. Liliencron, "Ein Wort über den Deutschkolonialen Frauenbund und seine Aufgaben", in: Kolonie und Heimat 1,20 (1908-09), S. 9. Das Thema wird in nahezu allen Monographien zur kolonialen Geschlech tergeschichte sowie denen zur Geschichte der Afro-Deutschen behandelt. Siehe: El-Tayeb 2001, S. 92- 13 1; Wildenthal 200 1, S. 79-129; Kundrus 2003a, S. 219-279; Campt 2004, S. 37-49; Walgenbach 2005, S. 77-83. Siehe darüber hinaus auch: Kundrus 2003c, Kundrus 2006b, Essner 1992, Warmbold 1992 sowie die Beiträge in Becker, F. (Hg.) 2004.
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sche koloniale Männlichkeit thematisieren.55 Hierzu gehören Lora Wil denthais German Women for Empire, Birthe Kundrus' Moderne Imperia listen, Rosa Schneiders Studie "Um Scholle und Leben ". Zur Konstruktion
von ,Rasse ' und Geschlecht in der kolonialen Ajrikaliteratur um 1900 so wie Sandra Maß ' Studie Weiße Helden - schwarze Krieger.56 Die Mehrheit der genannten Studien konzentriert sich dabei auf die Analyse der Kon struktion weißer Männlichkeit in Relation zu weißen und afrikanischen Frauen. So macht Wildenthai anhand der Untersuchung der sogenannten Mischehendebatte zwei einflussreiche Modelle weißer Männlichkeit aus: dasjenige der "imperial patriarchy" einerseits sowie des "liberal nationa lism" andererseits. 57 Die Vertreter des ersteren Modells verstanden sich als Patriarchen im traditionellen Sinne des pater familias, deren Autorität in den Kolonien jedoch nicht nur über ihren sozialen Status und ihr Ge schlecht begründet wurde, sondern auch über ihre Zugehörigkeit zur wei ßen ,Rasse'. Repräsentanten des zweiten Modells sahen sich selbst als Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft, die im Binnenverhältnis der männlichen Staatsbürger untereinander egalitär strukturiert war und im Außenverhältnis zu den Kolonialisierten, mit Verweis auf die angeblich rassische Überlegenheit der Weißen, hierarchisch wirkte. Wildenthais Dif ferenzierung weißer kolonialer Männlichkeit beruht auf der Rekonstrukti on des Interessenskonfliktes zwischen einer ersten Generation von Koloni satoren,
die
sich
im Zuge der kolonialen Eroberung materiellen
Wohlstand, soziales Prestige und individuelle Autonomie sichern konnten, und einer zweiten Gruppe von Kolonisatoren, die zu spät in die Schutzge biete kamen, um sich solche Positionen noch erobern zu können. Erstere "had created a way of life that would have been impossible to duplicate in Germany."58 Letztere war eng verflochten mit der Kolonialreform Bern hard Dernburgs ( 1 865- 1937), welche, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird, auf eine produktivere und effektivere Ausbeutung der Sozial und Arbeitsbeziehungen sowie die Regulation auch privater Lebensberei che entlang den Kriterien einer modernen Gouvernementalität in den Ko lonien zielte. Hinsichtlich der Beziehung zwischen weißen Männern und Frauen propagierten die Liberal-Nationalen ein partnerschaftliches Ehe modell , welches sowohl von Frauenkolonialvereinen als auch von der bür gerlichen Frauenbewegung vertreten wurde.59 Beiden Modellen gemein55
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Anders hingegen im englischsprachigen Forschungsbereich. Hier gehört die Untersuchung von Männlichkeitskonstruktionen bereits seit mehreren Jahren zum Forschungsfeld. Siehe: Haie, G. 1998; Sinha 1995 und Kasson 2002. Wildenthai 2001 ; Kundrus 2003a: Maß 2006; Schneider, R. 2003. Wildentha1 2001, S. 80. Ebd. Als die ideale Verkörperung einer weißen Partnerin galt dabei die soge nannte Farmersjrau, die gleichzeitig zur Sicherung der ökonomischen wie
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sam war jedoch die unhinterfragte Verfügungs gewalt weißer Männer über die Körper indigener Frauen.60 In ganz ähnlicher Weise unterscheidet Kundrus in ihrer Analyse der Diskurse um die Besiedlung des sogenannten Schutzgebietes DSWA zwi schen dem Pionier und dem Familienoberhaupt. Während ersterer sich über männerbündische Gesellschaften identifizierte und auf die traditionel len Normen und Werte der "soldatisch-virile[n] Formen der Männlichkeit" bezog '" ging letzterer eine symbiotisch-partnerschaftliche Verbindung mit der deutschen weißen Frau ein, welche ihn gegen die ,degenerierenden' kulturellen und klimatischen Einflüsse der Kolonien schützte. Ohne die weiße Frau, dem "natürliche[n] Kulturwesen", drohte ihm die sogenannte ,Verkafferung'.62 Auf ihm ruhten die Hoffnungen der deutschen Kolonial begeisterten, die sich eine dauerhafte und ökonomisch erfolgreiche Besied lung der Kolonien wünschten. Er verkörperte den "idealen Siedler": einen Mann, der die Eigenschaften eines "selbständigen, gebildeten, moralisch hochstehenden, materiell gefestigten und ,rassebewußten' Wirtschaftsbür gers" auf sich vereinte.63 Auch klassenspezifische, gezielt antiproletarische Elemente spielten bei der Formulierung dieses Idealbildes eine Rolle. Da Angehörige des Proletariats oder der Unterschichten als besonders anfällig für die Verführungen und zersetzenden Einflüsse der Tropen galten, soll ten möglichst bürgerliche weiße Männer für das Siedlungsprojekt gewon nen werden.64 Ausreichendes Startkapital sollte die Bildung eines weißen, kolonialen Proletariats, dessen Existenz die , Überlegenheit' der weißen Kolonisatoren in Frage gestellt hätte, verhindern.6' Anders als Wildenthai fokussiert Kundrus in ihrer Studie damit nicht auf die Auseinandersetzun gen zwischen Vertretern dieser beiden Männlichkeitsentwürfe, sondern konzentriert sich auf die Rekonstruktion des relationalen Charakters des
idealen Siedlers, welcher nur in seiner komplementären, reproduktiv heterosexuellen Beziehung zur weißen deutschen Frau denkbar gewesen sei. So hält die Autorin am Ende fest: "Konzeptionelles Leitbild für die Besiedlung wurde schließlich das gebildete, eher vermögende, disziplinier-
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kulturellen Basis ihrer Familie beitragen konnte. Siehe auch: WildenthaI 2001, S. 82-84, 151-156; Walgenbach 2005, S. 156-157 sowie Dietrich 2007, S. 261-267. Wildentha12001, S. 80-84. Kundrus 2003a, S. 79. Die Autorin weist an dieser Stelle auch darauf hin, dass wie in anderen geschlechterhomogenen Gruppen auch hier Männer Tätigkeiten und Funktionen übernahmen, die gesellschaftlich als weiblich konnotiert galten. Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 6. Siehe: Kundrus 2003a, S. 87-88, 283, Zitat S. 87. Zum Begriff der , Verkafferung' vgl. Kapitel 3. Siehe: Kundrus 2003a, S. 67-77, Zitate S. 44, 70. Siehe: Ebd., S. 88. Ebd., S. 70.
26 I KANNIBALE-WERDEN
te und seine Affekte im Zaum haltende, weiße, deutsche Farmer-, Arbeits und Ehepaar."66 Einen ganz ähnlichen Zugang hat auch Schneider für ihre Untersu chung Um Scholle und Leben gewählt. Auch sie nimmt den relationalen Charakter von Männlichkeitskonstruktionen in den Blick und fokussiert dabei auf das Beispiel DSWAs. Anders jedoch als Wildenthai und Kundrus, die sich in ihren Analysen auf die kolonialpolitischen Diskurse um die "Mischehendebatten" sowie die Siedlungspolitik konzentrieren, befasst sich Schneider in ihrer Darstellung stärker mit den Ängsten und Befürchtungen, die um die Beziehungen zwischen weißen deutschen Män nem und afrikanischen Frauen in kolonialliterarischen Darstellungen auf gebaut wurden. Dabei thematisiert sie nicht nur die Gefahr der ,Verkaffe rung' weißer Männer durch (sexuelle) Kontakte mit afrikanischen Frauen, die bereits von ihren Fachkolleginnen ausführlich diskutiert worden ist, sondern auch die Bedrohung, die von ",Orlogweiber[n)''' ausgehen sollte. Mit diesem Begriff wurden afrikanische Frauen bezeichnet, die aktiv im Herero-Nama Krieg 1 904-07 auf Seiten der Indigenen gekämpft hatten. Ihnen wurde nachgesagt, die Leichen der gefallenen deutschen Soldaten verstümmelt zu haben. Diese, so rekonstruiert Schneider anhand der Kolo nialromane deutscher weißer Frauen, repräsentierten damit die Gefahr ei ner kannibalischen Einverleibung, in der das traditionelle "Bild vom jung fräulichen Land, in das der europäische Eroberer eindringt", umgekehrt wurde." "An die Stelle der männlich-weißen Kolonialgeste des Eindringens tritt das Schreckensbild einer phallischen schwarzen Weiblichkeit. Hyänisch wie die Or logweiber kastriert die Kannibalin den weißen Mann und verleibt sich buchstäb lich sein penetratives Potential ein."68
Die Gefahr, von indigenen Frauen verspeist zu werden, stellte jedoch nicht die einzige Gefährdung für Leib und Leben der weißen Kolonisatoren dar. Neben den menschlichen Einwohnerinnen drohten andere, ,natürliche' Feinde (Parasiten, Insekten, Viren, Bakterien) in den männlichen Körper einzudringen und umgekehrt ihn zu kolonisieren.69 Dem so drohenden "Untergang des weißen Körpers" wurde mit strikten Sanktionen begegnet, um die verlorene Stabilität und die verletzten Körpergrenzen wieder her zustellen.7o Auf diese Weise, so argumentiert Schneider unter Bezug auf Michail Bachtins Überlegungen zum modernen Körper, sei der weiße Körper als geschlossener Körper zu verstehen, während der afrikanische,
66 67 68 69 70
Ebd., S. 283. Schneider, R. 2003, S. 161-162, Zitat S. 162. Ebd., S. 161-162. Siehe: Ebd., S. 167-172. Ebd., S. 167 (Zitat) sowie S. 158-161.
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"kolonisierte[ ] Körper" in der von ihr untersuchten Kolonialliteratur als vormoderner, offener, "groteske[r] Körper" zu verstehen sei.'l Diese Interpretation wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, denen im dritten Kapitel eingehender nachgegangen werden wird. Auf eine grund sätzliche Problematik sei allerdings an dieser Stelle bereits hingewiesen: Schneider rekurriert zur Interpretation ihres Materials auf Forschungsar beiten und Körpermodelle, die sich ihrerseits dezidiert auf einen frühneu zeitlichen Kontext beziehen.72 Wie andere Forschungsarbeiten demons triert haben, unterscheiden sich Geschlechter- und Körperkonstruktionen der Frühen Neuzeit oder auch des 1 8 . Jahrhunderts erheblich von denen des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.73 Eine Differenz, die sich, wie Monika Wehrheim-Peuker gezeigt hat, vor allem hinsichtlich der Bedeutung des Geschlechts des Kannibalen beziehungsweise der Kanniba lin bemerkbar macht. In Bezug auf das in der Frühen Neuzeit vorherr schende Weiblichkeitskonzept, welches Frauen eine aggressive Sexualität unterstellte, sowie im Zusammenhang mit misogynen Stereotypen wie dem der Hexe, wurde Menschenfresserei in den Reiseberichten vor allem indigenen Frauen zugeschrieben. '4 Vor dem Hintergrund dieser For schungsarbeiten erscheinen Schneiders Vorgehensweise, Konzepte und Interpretationsansätze, die für den frühneuzeitlichen Kontext entwickelt wurden, ohne kritische Reflexion auf einen anderen Zeitrahmen anzuwen den, fraglich. Im Gegensatz dazu werde ich auf den folgenden Seiten eine möglichst genaue historische Verortung des Kannibalismus-Vorwurfs so wie der damit verbundenen Geschlechterkonstruktionen vornehmen. Während sich Schneider, Kundrus und Wildenthai auf die Analyse der Geschlechterkonstruktionen in der kolonialen Situation beschränken, geht Sandra Maß in ihrer Studie Weiße Helden - schwarze Krieger als einzige unter den bislang vorliegenden Forschungsarbeiten zum Thema Kolonia lismus und weiße Männlichkeit über den unmittelbaren kolonialen Kontext hinaus. Angeregt durch die Auseinandersetzung mit Studien über den Zu sammenhang zwischen Männlichkeiten und dem Britischen Empire," un tersucht Maß den Einfluss der deutschen Kolonialerfahrung auf die Ent wicklung der für die deutsche Geschlechtergeschichte so bedeutsamen
soldatischen Männlichkeit. In ihrer Untersuchung berücksichtigt Maß den multirelationalen Charakter hegemonialer Männlichkeit, indem sie nicht 71 72 73 74 75
Ebd., S. 161. Vgl.: Bachtin 1987 und Schülting 1997. Siehe dazu: Laqueur 1990, hier v.a. S. 25-62 zum "one-sex model" sowie Duden 1987, hier v.a. S. 14-46. Siehe: Wehrheim-Peuker 1999, S. 28-31; Wehrheim-Peuker 2001, S. 171173. Da diese Studien auch für meine Analysen einen wichtigen Referenzrah men bilden, seien die einschlägigen Werke hier kurz genannt: Mangan 1986; Bristow 1991; Dawson 1994 sowie Levine (Hg.) 2004. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3.
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nur auf die Bedeutung der homosozialen, männerbündischen Strukturen der Schutztruppe verweist, sondern auch die besondere Rolle von Frauen in der Propagandaarbeit gegen die , Schwarze Schmach' und die darin ver tretenen Weiblichkeitskonstruktionen heraus arbeitet. 76 Ihre besondere Auf merksamkeit richtet sich jedoch auf die Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen der weißen Männlichkeit, dem weißen Helden, und seinem afri kanischen Anderen, dem schwarzen Krieger. Das Bild des letzteren, so eines der zentralen Ergebnisse ihrer Studie, war ein zwiespältiges: einer seits das "des treuen Gefolgsmannes", des deutschen Askari, während er andererseits als "der Barbar, der Kannibale" galt, repräsentiert durch den afro-französischen Kolonialsoldaten. Beide Figuren waren jeweils einge bettet in einen spezifischen Diskurs: in den von der heldenhaften Verteidi gung der deutschen Kolonien gegen einen übermächtigen Feind auf der einen Seite und in den von der Besetzung des Rheinlandes durch "maro dierende und vergewaltigende Horden afrikanischer Soldaten" auf der an deren Seite. In beiden Diskursen, so Maß, "fungierte der afrikanische Sol dat [ . ] als Spiegel weißer, kolonialer und soldatischer Männlichkeit."77 Konzeptionell bezieht sich Maß dabei auf Homi K. Bhabhas Begriff .
.
des kolonialen Stereotyps. Wie dieser in seiner Studie Location of Culture argumentiert, repräsentiert das Stereotyp eine grundlegende Ambivalenz, welche den gesamten kolonialen Diskurs durchzieht: die der Gleichzeitig keit von Begehren und Ablehnung.78 Wie im Folgenden noch ausführlicher dargestellt werden wird, greift Bhabha bei der Entwicklung seines Modells vom kolonialen Stereotyp auf die Terminologie und Begrifflichkeit der Lacan' schen Psychoanalyse, namentlich das Konzept der Spiegelphase, zurück. Damit basiert Maß ' Argumentation auf einem binären Negations modell, dessen Erklärungspotential, wie im Zuge dieser Arbeit sichtbar werden wird, enge Grenzen hat. So kann Maß zwar konstatieren, dass die Vorstellung von Zivilisierung als einem historisch-evolutionären Prozess der Triebhemmung notwendig impliziert, dass die "Grenze zwischen Schwarzen und Weißen so strikt nicht war", kann aber die Bedeutung die ser Beobachtung nicht genauer ausleuchten.79 Anders als Maß werde ich gezielt die vielfältigen Konnexionen, welche weiße Männlichkeit und kan nibalische Alterität konstituierten, in den Mittelpunkt meiner Analyse stei len, um eine Verkomplizierung und Auflösung der Position des männli chen Hegemons zu ermöglichen. In diesem Sinne trägt die hier vorgelegte Arbeit zu dem intellektuellen Projekt des "making queer all sexualities" bei, dessen Ziel es ist, herauszufinden "what is fundamentally weird and
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Maß 2006, S. 15, 56-70, 89-100. Zum Begriff der , Schwarzen Schmach' vgl. meine Ausführungen in Kapitel 5. Maß 2006, S. 3. Siehe auch: Maß 2005, S. 138. Siehe: Bhabha 2001, S. 77-78. Maß 2001, S. 27.
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strange about all bodies, all carnalities [ ... ] whether they conform to the norms and ideals of culturally valorized models or not".80 Wie so oft im Zusammenhang mit Qualifikationsarbeiten liegt zwi schen dem Abschluss der Arbeit und ihrer Drucklegung ein gewisser Zeit raum. Weitere, für die hier behandelten Fragen interessante Studien sind in der Zwischenzeit veröffentlicht worden, ohne dass sie im Manuskript aus reichend berücksichtigt werden konnten. Dazu zählt in erster Linie Stefa nie Michels Studie Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, in der den viel fältigen Beziehungen zwischen afrikanischen Söldnern und weißen Offi zieren nachgegangen wird. Allerdings operiert auch Michels auf Grundla ge der oben ausführlich kritisierten Dichotomie, wenn auch mit der Ab sicht - ganz im Sinne postkolonialer Theoriebildung - die Wechselseitig keit und Hybridität des historischen Verhältnisses zwischen Eigenem und Anderen aufzuzeigen.81 Hier zeigt sich erneut der Bedarf, anders über das Andere nachzudenken, und damit die Aktualität des hier vorgelegten Bei trags. Bürgerlich , wei ß, männ lich : Intersektionalität des Hegemons
Mit meiner Frage nach der Verschränkung von Kolonie und Metropole in der Artikulation hegemonialer Männlichkeit ordnet sich meine Arbeit in ein Forschungsfeld im Bereich der historischen Geschlechterstudien ein, das durch ein doppeltes Forschungsdesiderat gekennzeichnet ist. Zum ei nen mangelt es bislang allgemein an Forschungsarbeiten, welche systema tisch die von Randeria genannten entangled histories analysieren." Zum anderen existieren, mit Ausnahme von Maß' Studie, keine Arbeiten zur Bedeutung kolonialer Diskurse für die Konstruktion hegemonialer, bürger lich-weißer Männlichkeit im Besonderen. Während Maß' Arbeit auf ein binäres Abgrenzungsmodell rekurriert, welches eine differenzierte Be trachtung mehrdeutiger und vielfältiger Beziehungen notwendig aus schließt, stelle ich, wie oben bereits erwähnt, das multirelationale Bezie hungsgeflecht zwischen Identität und Alterität in den Mittelpunkt meiner Analyse. Die hier vorgelegte Untersuchung der Kontinuitäten und Diskon tinuitäten kolonial-rassistischer Diskurse in der Artikulation weißer Männ lichkeit und kannibalischer Alterität am Beispiel der Lustmörder der Zeit der Weimarer Republik soll damit einen Beitrag zu einer postkolonialen Geschlechtergeschichte und damit zu einer Auflösung dieses doppelten Forschungsdesiderates darstellen. Gleichzeitig knüpft meine Studie damit an aktuelle theoretisch-methodische Überlegungen an, die zur Zeit in ver-
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Grosz/Probyn 1995, S. xi . Siehe: Michels 2009, S. 7. Neben Maß' geschlechterhistorischer Untersuchung bislang allein stehend Sebastian Conrads Aufsatz zur ",Eingeborenenpolitik' in Kolonie und Metropole" (Conrad 2004).
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schiedenen Forschungsrichtungen in Bezug auf die Konzeptionalisierung der Verschränkung geschlechtlicher, rassistischer und klassenspezifischer Kategorien in der Artikulation von Männlichkeit angestellt werden. Bereits 1986 hat Joan Scott in ihrem grundlegenden Artikel Gender: A Useful Category 0] Historical Analysis dargestellt, dass es sich bei der so zialen Konstruktion des Geschlechts um eine relationale Kategorie han delt, die einen "primary way of signifying relationships of power" darstellt und welche nur in ihren Bezügen zu anderen gesellschaftlichen Identitäts kategorien sinnhaft zu untersuchen sei.83 Es gilt inzwischen als der com
mon sense der Forschung, dass, wie Judith Butler es formuliert, "Geschlechtsidentität in den verschiedenen geschichtlichen Kontexten nicht im mer übereinstimmend und einheitlich gebildet worden ist und sich mit den rassi schen, ethnischen, sexuellen, regionalen und klassenspezifischen Modalitäten diskursiv konstituierter Identitäten überschneidet. ,,84
Nicht nur die Frauen- und Geschlechterforschung, auch die Forschungen zur Geschichte der Männlichkeiten haben diesen relationalen Charakter von Geschlechtsidentitäten deutlich herausgearbeitet.85 Zur Beschreibung dieses Phänomens hat sich der Begriff der hegemonialen Männlichkeit durchgesetzt. Geprägt von R. Connell, bezeichnet er diejenige Männlich keit, welche innerhalb eines historisch spezifischen, vermachteten Ge schlechterverhältnisses gegenüber anderen vergeschlechtlichten Identitäts konstruktionen die hegemoniale Position einnimmt.86 Diese wird, soweit
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Scott, J. 1986, S. 1067. Eine Vielzahl von Studien zur Frauen- und Ge schlechtergeschichte ist dieser Spur nachgegangen. Für den deutschen Kontext hier zu nennen: von Braun 1992; Rommelspacher 1993; Rom melspacher 1995. Maßgeblicher Einfluss ging dabei auch hier wieder von den Publikationen aus dem anglo-amerikanischen Raums aus. Siehe dazu: Hooks 1981, Davis, A. 1994, Frankenberg 1993 sowie Ware 1993. Butler 1991, S. 18. Geschlechtergeschichtliche Forschungen zur Männlichkeit, die lange Zeit im Vergleich zur Frauen- und Geschlechtergeschichte ein Schattendasein fristeten, haben in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte gemacht. Siehe dazu: Martschukat/Stieglitz 2005 und Kühne (Hg.) 1996. Als zentra le Beiträge zur Debatte im deutschsprachigen Raum sind des Weiteren zu nennen: Schmale (Hg.) 1998, Schmale 2003 sowie Frevert 1991. Darüber hinaus sei hier ausdrücklich auf die wegweisenden Studien von R. Connell verwiesen, in denen das Konzept der hegemonialen Männlichkeit entwi ckelt wurde (Connell 1995 und Connell 2000). Zur feministischen Perspek tive auf die sich entwickelnden Masculinity Studies vgl. exemplarisch die Beiträge in Gardiner (Hg.) 2002 und Newton 1998. Siehe: Connell 1995, S. 76: ",Hegemonic masculinity' is not a fixed cha racter type, always and everywhere the same. It is, rather, the masculinity that occupies the hegemonie position in a given pattern of gender relations, a position always contestable." Comell entleiht den Begriff der Hegemonie bei Antonio Gramsci, der damit die Vormachtstellung von sozialen Grup-
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die Untersuchungsergebnisse der Männlichkeitsgeschichte, von der bür gerlich-weißen, heterosexuellen Männlichkeit besetzt, die in Relation so wohl zu anderen, minorisierten Männlichkeiten (schwarze Männlichkeiten, Männlichkeiten homosexueller Orientierung) als auch zu (weißen oder schwarzen) Weiblichkeiten hergestellt wird.a' In den letzten Jahren mehren sich die Forderungen, "den Konstrukt charakter hegemonialer Geschlechtsidentität" eingehender zu untersuchen, um "die soziokulturelle Position des Hegemons ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit" zu entheben: "Auch weiße heterosexuelle Mittel klassemänner haben eine Geschlechtsidentität, die nicht natürlich, sondern kulturell geprägt ist."88 Gleichzeitig wird die Neuorientierung der bisheri gen Forschung und ihrer Ergebnisse in einem transnationalen, postkolonia len Kontext eingefordert." Denn ,,[e]rst durch die Konstruktion ,anderer', kulturell bzw. ethnisch divergenter Männlichkeiten versichert sich der , weiße Mann' seiner (post)kolonialen Macht position. Parallel dazu werden kulturell divergente Männlichkeitsentwürfe uni versalisierend in westliche Männlichkeitskonstrukte integriert."'0
Einer ähnlichen Kritik wird zurzeit auch die Analyse des "Weiß-Seins" im Rahmen der Whiteness Studies unterzogen. Whiteness wird im Kontext dieses Forschungszusammenhanges in einem doppelten Sinne verstanden: einerseits als System sozialer Praktiken, welche die Hegemonie der als "weiß" markierten Menschen herstellt und aufrechterhält und andererseits als Identitätskategorie, die ebenso wie andere IdentitätenlAlteritäten in Re lation zu anderen Konnexionen immanent wird und historisch eng ver knüpft ist mit einem Normalisierungsdiskurs. "To be normal, even to be normally deviant (queer, crippled), is to be white."9! Forscherinnen und
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pen und deren Wertvorstellungen innerhalb einer zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung bezeichnete (siehe: Gramsci 2000, S. 190-199). Siehe: Connell l995, S. 75-76. MartschukatJStieglitz 2005, S. 7 1. In die gleiche Richtung zielt, wenn auch mit Hilfe einer unterschiedlichen Herangehensweise, ludith Halberstam: "precisely because white male masculinity has obscured all other mascu linities, we have to turn away from its construction to bring other more mobile forms of masculinity to light." (Halberstam 1998, S. 16.) Siehe: Connell 2000, S. 33. DaumlGeier et al. 2005, S. 13. Dyer 1997, S. 12. Auch hier handelt es sich ähnlich wie bei der Forschung zu Männlichkeiten um ein expandierendes und zurzeit sehr produktives in terdisziplinäres Forschungsfeld, dessen Schwerpunkt bislang in der Unter suchung des US-amerikanischen Kontextes lag. Wegweisende Publikatio nen sind neben Dyers bereits zitierten Monographie Roediger 1991, Igna tiev 1995, Lipsitz 1998 sowie, aus Perspektive der Postcolonial Studies, Young 1990. Zum Einstieg sei an dieser Stelle außerdem noch genannt: Ko1chin 2002 und Hili (Hg.) 1997. Auch für den deutschen Forschungs kontext gewinnt dieser Forschungsansatz zunehmend an Bedeutung. Vgl.
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Forscher betonen die Notwendigkeit, "Weiß-Sein" losgelöst von Körpern weißer Hautfarbe zu untersuchen und stärker als bisher seine Konstruktion innerhalb der "interlocking axes of power, spatial location, and history" in den Blick zu nehmen. "Whiteness is not just about bodies and skin color, but rather more about the
discursive practices that, because of colonialism and neocolonialism, privilege and sustain the global dominance of white imperial subjects and Eurocentric worldviews". 92
Die solcherart in verschiedenen Kontexten angestellten Überlegungen zum Verhältnis unterschiedlicher "Kategorien sozialer Ungleichheit" werden zunehmend unter dem Schlagwort der "intersectionality" oder Intersektio nalität
zusammengefasst:)
Ursprunglich
eingeführt
durch
die
US
amerikanische Juristin Kimberle Crenshaw, diente der Begriff sowohl der Konzeptionalisierung der multiplen Diskriminierungserfahrungen von
Warnen 0/ Color entlang der Kategorien race, class und gender als auch der Kritik an einer antirassistischen und feministischen Politik, welche häufig eine der beiden Diskriminierungsdimensionen ausblendete und auf diese Weise paradoxerweise erneut einschrieb.94 Im deutschsprachigen Forschungsbereich hat sich der Begriff vor allem in den sozialwissen schaftlieh orientierten Gender Studies durchgesetzt. Hier wird Intersektio nalität benutzt, um die "Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Achsen der Ungleichheit" einer globalisierten Welt in den Blick zu nehmen.95 Diese Herangehensweise wird innerhalb der Zunft kontrovers disku tiert. So erhebt beispielsweise Katharina Walgenbach den Vorwurf, inter sektionale Analysen seien durch einen impliziten Essentialismus gekenn zeichnet, denn die Metapher der Verschränkung gehe mit der "Vorstellung eines , genuinen Kerns' sozialer Kategorien" einher.96 Andere, wie etwa Ina Kerner, mahnen an, sowohl "Rassismen als auch Sexismen" stärker als "komplexe Machtphänomene" zu begreifen, die ihrerseits "im Zusammen hang kategorialer Differenzzuschreibungen" operieren. Dabei gelte es aber auch, diese von anderen Machtformen zu unterscheiden, etwa denjenigen,
92 93 94 95
96
dazu HackerlBosch (Hg.) 2005, Wollrad 2005; GerbingITorenz 2007; Walgenbach 2005; Dietrich 2007 sowie die Beiträge in Eggers (Hg.) 2005; Tißberger (Hg.) 2006, Wachendorfer 2001 und Wo1lrad 2004. Shorne 1999, S. 1 08 (HiO) und S. 109. Frerichs 2000, Titel sowie Knapp 2005, S. 68. Siehe auch: Klinger 2003. Siehe: Crenshaw 1 995, S. 357-358. Siehe dazu die Beiträge in: KnapplWetterer (Hg.) 2003; Klinger/ Knapp/Sauer (Hg.) 2007; Walgenbach/Dietze et al. (Hg.) 2007; Klin ger/Knapp (Hg.) 2008. Zitat: KlingerlKnapp 2007, S. 2 1 (HiO). Walgenbach 2007, S. 23.
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die "im Zusammenhang mit Klassen bzw. Produktionsverhältnissen ope rieren".97 Wie Gudrun Axeli-Knapp dargelegt hat, gibt es neben dieser fachim manenten Kritik aber auch grundsätzliche Fragen der Übertragbarkeit der Perspektiven der intersectionality auf den deutschen Forschungskontext. Besonders die Kategorien class und race erweisen sich als sperrige Begrif fe. Zum einen bezeichnet , Klasse' im US-amerikanischen Sprachgebrauch ein anderes Phänomen als im deutschen sozial- und geisteswissenschaftli chen Forschungskontext. Während diesseits des Atlantiks damit eine Ge sellschaftsanalyse marxistischer Prägung verbunden ist, wird der Begriff in den Vereinigten Staaten häufig als sozialer Distinktionsmarker eingesetzt.
Race hingegen, in den USA ein Begriff, welcher nicht nur juristischen Charakter trägt, sondern auch mit positiver Selbstidentifikation verbunden wird, ist im deutschsprachigen Raum aufgrund der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik von einem affirmativen Gebrauch vollkommen ausge schlossen.98 Darüber hinaus stellt sich aus der Perspektive der historischen For schung eine zweite, grundlegende Schwierigkeit in der Übertragung des Konzepts der Intersektionalität. Es handelt sich hierbei in erster Linie um ein epistemologisches Problem: die genannten Studien argumentieren auf der Grundlage von analytischen Kategorien, die ihrerseits Ergebnisse eines historischen Prozesses sind. Während die Sozialwissenschaften, aus denen das Konzept stammt, mit der empirischen Beschreibung von gesellschaft licher Differenz (heutiger Gesellschaften) befasst sind, interessieren sich Historikerinnen und Historiker für den Prozess, in dem sich Identitäten und Alteritäten (oder allgemein Differenzkategorien) überhaupt erst kon stituiert haben und in denen häufig weder die Abgrenzungen zwischen den Kategorien noch die verwendeten Begrifflichkeiten einem heutigen Ver ständnis entsprochen haben.99 Oder, um mit Anne McClintock zu sprechen, 97 98
99
Kerner 2009b, S. 37. Siehe auch Kerner 2009a. Siehe: Knapp 2005, S. 71-73. Auch diese Arbeit hat mit diesen begriffli chen Schwierigkeiten zu kämpfen. Durch die Auseinandersetzung mit ei nem Themenkomplex, in dem Rassismus, Kolonialismus und die Artikula tion vergeschlechtlichter Identitäten eng mit einander verwoben sind, wer den im Folgenden immer wieder historische Begriffe auftauchen, die für heutige Leserinnen und Leser rassistisch und diskriminierend sind. Dort, wo es mir der Klarheit der historischen Analyse wegen notwendig er schien, habe ich diese trotzdem beibehalten, sie aber an Ort und Stelle kri tisch markiert. Anders bin ich bei der Verwendung von Identitätskatego rien verfahren, die aus der von mir eingenommenen analytischen Perspek tive jeweils als sozial hergestellte zu verstehen sind. Zu Gunsten der Leser lichkeit des Textes habe ich hier auf die Kennzeichnung der kritisch analytischen Distanz mit Hilfe von Anführungszeichen verzichtet. Besonders deutlich ist diese inhärente Tendenz zu einem ahistorischen Denken in Gabriele Winkers und Nina Degeles Darstellung Intersektionali tät, die ganz explizit eine generelle Anleitung für eine empirische, inter sektionale Analyse bereitstellen soll (siehe: WinkerlDegele 2009, S. 8).
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aus historischer Perspektive ist nicht davon auszugehen, dass Kategorien wie ,Rasse ' , Klasse oder Geschlecht "can [ . . . ] simply [be] yoked together retrospectively like armatures of Lego. Rather, they come into existence in and through relation to each other - if in contradictory and conflictual ways. In this sense, gender, race and c1ass can be ca1led articulated categories.'
Um also der Gefahr eines Zirkelschlusses zu entgehen, bedarf es der ge nauen Rekonstruktion der historischen Prozesse, in denen Identitäten und Alteritäten, wie wir mit Blick auf das Thema der hier vorliegenden Studie ergänzen wollen, artikuliert wurden. Drittens, und dies schließt an den eben genannten Punkt an, können in tersektionale Ansätze die Frage nach den Verbindungen und Wechselwir kungen zwischen den einzelnen Differenzkategorien nur unzureichend beantworten. Um diese analytisch zu fassen, schlagen einige Autorinnen wie Winker und Degele einen "Mehrebenenansatz" vor, welcher "Struk tur- Repräsentations- und Identitätsebene" zugleich in den Blick nimmt.101 Andere, wie Ina Kerner, fordern eine mehrdimensionale Analyse, welche die institutionellen, personalen und institutionellen Dimensionen von Se xismus und Rassismus in den Blick nimmt.102 Damit betonen alle Ansätze zur Intersektionalität zwar die Multire1ationalität der einzelnen Kategorien, hinterfragen jedoch nicht die traditionell in Binarismen gedachte Struktur von Differenzkategorien (weiß-schwarz; Mann-Frau). Es handelt sich da mit also gewissermaßen um eine konzeptionelle Vervielfältigung von Ne gationsverhältnissen, nicht um deren Auflösung. Die Neuerung des Ansat zes besteht damit lediglich darin, mehrere dieser Abgrenzungsverhältnisse in den Blick zu nehmen statt nur eines. Ein ähnliches Desiderat besteht, wie oben gesehen, hinsichtlich der Notwendigkeit, anders über das kanni balische Andere nachzudenken.
1 . 3 A n d e r s ü b e r d a s A n d e r e n a c h d e n ke n : A l t e r i t ä t u n d n o m a d i s c h es S u b j e kt
Anders über das Andere nachzudenken bedeutet gleichzeitig auch, die bis herigen Theorien der Subjektivität in Frage zu stellen. Wurde doch in der europäischen Wissenschaftstradition, von Hegel bis Freud, die Identität des Subjektes über seine Abgrenzung von einem Außen, einem Nicht-Ich, einem Anderen erklärt. Dies ist eine Denktradition, die sich, wie oben be100 McClintock 1995, S. 5. Zur Bestimmung des Begriffs der "articulated category" siehe die folgenden Ausführungen im Anschluss an die Rezepti on Deleuzianischer Theoriebildung in den British Cultural Studies und durch Feministinnen wir Rosi Braidotti oder Elizabeth Grosz. 101 Winker/Degele 2009, S. 14 1 -142, Zitat S. 140, 141. 102 Kerner 2009b, S. 36.
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reits deutlich geworden ist, bis in die zeitgenössische Forschung über Kannibalismus fortgesetzt hat. Ein einschlägiges Beispiel hierfür ist die bereits zitierte Studie von Maggie Kilgour, in der sie das kannibalische Andere als den Spiegel des modernen Subjekts bezeichnet. 103 Ein anderes Exempel wäre Peter Hulmes Darstellung Colonial Encounters. Hier argu mentiert Hulme, dass der Kannibale seit dem 13. Jahrhundert das identi tätstiftende Andere Europas auf der Ebene kollektiver Identitäten darstelle: ,,[B]oundaries of communities are often created by accusing those outside the boundary of the very practice on which the integrity of that community is founded. This is at one and the same time a psychic process - involving repres sion and projection - and an ideological process - whereby the success of the projection confmns the need for the community to defend itself against the pro jected threat, thereby c10sing the circ1e and perpetuating it. "'04
Und in seiner Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesge schichte postuliert Hinrich Fink-Eitel, dass die Abgrenzung von dem Fremden, in seiner Form des Mythos vom Guten und vom Bösen Wilden, als Denkmuster gar eine "kontinuierliche[ 1 Unterströmung der gesamten europäischen Geistesgeschichte seit dem 16. Jahrhundert" bilde. "Der Bö se Wilde", so Fink-Eitel, sei "das minderwertige Andere der eigenen, über legenen Kultur". Unabhängig davon, ob es sich "um äußere oder innere Feinde, um fremdartige Völker oder Rassen, um ,unzivilisierte' oder , staatsfeindliche' Aufrührer ( , Anarchisten')" handele. 105 Es ließen sich viele weitere solcher Beispiele, besonders in populäre ren Darstellungen zur Geschichte des Kannibalismus, finden. Für die uns hier interessierende Reflexion auf das Verhältnis von Identität und kanni balischer Alterität ist jedoch wichtig festzuhalten, dass keine theoretischen Konsequenzen aus dieser Beobachtung gezogen werden, und dies, obwohl unterschiedliche Kannibalen und Kannibalinnen angesprochen werden. Stattdessen wird der kannibalische Wilde, häufig unter Rekurs auf psycho analytische Modelle, durchgängig als das notwendig Andere des zivilisier ten, europäischen Subjekts konzeptionalisiert. Zerschmetterte Spiegel: Die Verweigerung des i mperialistischen Blicks
Dieses Denken macht eine Reihe von Voraussetzungen, die der Zielset zung der hier vorgelegten Arbeit zuwiderlaufen. Erstens basiert dieses Modell auf der Annahme, dass eine klare Trennung zwischen dem Subjekt und seinem Außen möglich sei. Dabei ist der Begründungszusamrnenhang
103 Kilgour 1998, S. 242-243. 104 Hulme 1992, S. 85. 105 Fink-Eitel 1994, S. 10, 9.
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reflexiv: Indem das Subjekt sich als das andere des Anderen begreift, führt es die Trennung herbei, die als Voraussetzung für seine Identität gedacht wird. Durch die Verleugnung der Herstellung dieser Unterscheidung wer den zweitens diejenigen Prozesse, die in diesen Differenzproduktionen stecken, enthistorisiert und aus dem Blick der geschichtswissenschaftli chen Betrachtung gerückt. Drittens ist dieses Modell vom Zentrum aus gedacht: Das Andere wird zur Kulisse, es wird nicht im Sinne eines eige nen Rechtes thematisiert, sondern als ein Passives, auf welches das Sub jekt sich selbst einschreibt.106 In diesem Sinne kann von einem " ,metaphy sical cannibalism' of the subject"I07 gesprochen werden. Diese Perspektive reproduziert das Selbstbild des kolonialisierenden, herrschaftsausübenden Subjektes auf der Ebene der Metaphysik. Um den Fußfallen dieses metaphysischen Kannibalismus zu entgehen, ist es notwendig, wie Homi K. Bhabha es formuliert hat, "to think beyond narratives of originary and initial subjectivities". Bhabha geht mit dieser Forderung allerdings nur die Hälfte des Weges, den die hier vorliegende Studie verfolgen möchte. Zwar schlägt er einerseits vor, ganz im Sinne meines Forschungsinteresses, sich auf die Analyse von ",in-between' spaces" zu konzentrieren, welche er als diejenigen "moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences" versteht.108 Gleichzeitig operiert er andererseits mit den Kategorien der Lacan' schen Psychoanalyse. Jacques Lacan wiederum unterscheidet mit Blick auf die psychologi sche Entwicklung des Individuums zwei Aspekte. Erstens sei das Andere dasjenige, durch dessen Wahrnehmung sich das Kind seiner Selbst und seines Körpers bewusst werde. Das Individuum sehe ein Bild von sich selbst, eine Gestalt, und gewinne über die Wahrnehmung eines Mangels, einer Abwesenheit, das Bewusstsein von sich selbst als einer von seinem Gegenüber unabhängigen Entität. Dies geschehe in der "Spiegelphase", der Entwicklung eines Kindes zwischen dem sechsten und achtzehnten Monat.109 Zweitens sei das Andere als das "grand-autre", das Große Ande-
106 Vgl. hierzu die Kritik von Ernmanuel Levinas an der traditionellen Vorstel lung vom Verhältnis von Identität und Alterität. Laut Levinas führen alle solcherart gestalteten Versuche des Subjekts, das Andere zu erkennen, zu einer "reduction of the other to the same", da das erkennende Subjekt den Anderen immer nur als anderes Subjekt wahrnehmen kann, oder wie Levi nas formuliert: Ich kann "receive nothing of the Other but what is in me". (Levinas 1969, S. 43.) 107 Braidotti 2002, S. 72 (HiO). 108 Bhabha 2001, S. 1. 109 "Das Spiegel stadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psy choanalytischen Erfahrung erscheint (Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949)", in: Lacan 1986, Bd. 1, S. 61-70, hier besonders S. 64-69.
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re, dasjenige, durch welches das Subjekt seine Identität erhalte."° Ähnlich wie Louis Althusser in seinem Modell der Anrufung geht Lacan davon aus, dass das Individuum erst durch den Blick der Verkörperungen der symbolisch-gesellschaftlichen Ordnung seine Identität erlange. Dieses symbolische Andere kann durch verschiedene Personen repräsentiert wer den, in der Entwicklung des Kindes beispielsweise durch Mutter oder Va ter. Es ist für die Identität des Subjekts konstitutiv: Das Subjekt existiert nur in seinem Blick. 11 I Das Andere ist damit auch für Lacan das Gegenüber des Subjekts, welches seinerseits die eigene Identität nur über die Abgren zung zum Anderen definieren kann. Dieses dialektische Verhältnis zwi schen diesen beiden ist gekennzeichnet durch einen fundamentalen Man gel und oszilliert zwischen Ablehnung und positiver Identifikation.l 12 Ent sprechend beruht Lacans Verständnis vom Anderen auf dem oben bereits kritisierten, in der Philosophie traditionell vertretenen Negationsverhältnis. Indem sich Bhabha auf Lacans Begrifflichkeiten bezieht, übernimmt er implizit die hier skizzierten Grundannahmen, welche wiederum seine Ana lyse der , in-between ' spaces im Sinne eines Negationsverhältnis ses zwi schen Identität und Alterität präfigurieren. Um also, unter Berücksichti gung der oben ausgeführten Kritik des metaphysischen Kannibalismus, diejenigen Prozesse, welche Identität und Alterität herstellen und aufrecht erhalten, historisierend in den Blick nehmen zu können, müssen wir diese und jede andere Form des "imperial gaze""3 des Subjektes auf das Andere aufgeben und grundsätzlich neue Wege einschlagen, um über das Andere oder seine Differenz nachzudenken. Der Versuch, "Differenzen anders zu denken""', nimmt eine prominente Stelle im Denken des Philosophen Gil les Deleuze und seines Autor-Kollegen, dem Psychoanalytiker Felix Guat tari, sowie in den kritischen Aneignungen ihrer Werke durch feministische Theoretikerinnen wie Elisabeth Grosz oder Rosi Braidotti ein. Ihre Vor schläge bilden das konzeptionelle Rüstzeug der hier vorgelegten Arbeit und sollen daher im Folgenden näher erläutert werden.
110 Lacan unterscheidet das grand-Autre und das Andere, welches im Zug der Spiegelphase entsteht, sprachlich durch eine Groß- bzw. Kleinschreibung, die sich im Deutschen aufgrund des in beiden Fällen vorangestellten Per sonalpronomens nicht durchhalten lässt. 111 Siehe: Lacan 1968, S. 189, 269. 112 Siehe: Lacan 1978, S. 214-226. Unter Bezug auf dieses Modell von Projek tion und Abjektion argumentiert beispielsweise Peter Hulme, dass der Kannibale seit dem 13. Jahrhundert das identitätstiftende Andere Europas darstelle (siehe: Hulme 1992, S. 85). 113 Kaplan 1997, S. 1-5, Zitat S. 1. Vgl. dazu auch Anne McClintocks Ausfüh rungen zur Bedeutung des Blicks bei der Anordnung des kolonialen Ande ren im "commodity spectacle" der Werbung oder der Kolonialschauen (McClintock 1995, S. 56-59). 114 Siehe: Allolio-Näcke/Kalscheuer 2005, S. 9-10, Zitat S. 10.
38 I KANNIBALE-WERDEN
Das Anomale und der Schwarm der Differenz : S u bjekt-Werden
Anders als die traditionelle westliche Philosophie verstehen Deleuze und Guattari das Subjekt nicht als stabile, in sich geschlossene Entität, sondern als eine "Mannigfaltigkeit", die sich aus einer Vielheit verschiedener Ver bindungen zusammensetzt. Mannigfaltigkeiten tragen damit den Charakter eines Wurzelwerkes, eines Rhizoms.l15 Diese sind, erstens, nicht hierarchisch, denn jeder Punkt innerhalb des Rhizoms ist mit jedem der anderen verbunden. Zweitens sind sie dynamisch: das Gefüge (agence ment)116 ist bestimmt durch die Verbindungen, welche sie gleichzeitig kon stituieren. Deleuze und Guattari bezeichnen diese Verbindungen auch als die Dimensionen einer Mannigfaltigkeit. Veränderungen der Konnexionen bedeuten eine qualitative Veränderung des gesamten Gefüges. "Eine Mannigfaltigkeit wird weder durch ihre Elemente, noch durch ein Zentrum der Vereinheitlichung oder des Begriffsvermögens definiert. Sie wird durch die Zahl ihrer Dimensionen definiert; sie läßt sich nicht aufteilen, sie verliert oder l 17 gewinnt keine Dimension, ohne ihr Wesen zu ändern."
Drittens sind Mannigfaltigkeiten im Sinne Deleuzes and Guattaris mons trös. Sie werden durch "widernatürliche Anteilnahme", durch Bündnisse und Ansteckung gebildet und sind "aus heterogenen Termen in Symbiose zusammengesetzt".118 Diese heterogenen Terme bilden die Fluchtpunkte der B eziehungen, in denen eine Mannigfaltigkeit existiert und damit gleichsam den Rand, die äußerste Dimension, welche eine Mannigfaltig keit etablieren kann.119 Diese Randfunktion wird von De1euze und Guattari "das Anomale"l20 genannt; es ist diejenige "Position oder ein Komplex von Positionen gegenüber einer Mannigfaltigkeit", welche diese begrenzt und "deren vorübergehende oder lokale Stabilität [ ... ] determiniert (und zwar in 1 15 Deleuze/Guattari 2002, S. 325-326. 1 16 In der deutschsprachigen Ausgabe von Milles Plateaus wird agencement mit "Gefüge" übertragen, welches die Nebenbedeutung der Einrichtung, Anordnung oder auch Aufstellung bzw. Arrangement des Originals ver schluckt. Vgl. dazu auch die Anmerkung des Übersetzungsteams Ricke/ Voullie (Ebd., S. 12). 117 Ebd., S. 340 (RiO); siehe auch S. 16, 18. 118 Ebd., S. 327, 340 (RiO). 119 "Jede Mannigfaltigkeit wird durch einen Rand definiert, der die Funktion des Anomalen hat; aber es gibt eine Reihe von Rändern, eine kontinuierli che Linie von Rändern (Faser), an denen sich die Mannigfaltigkeit verän dert." (Ebd., S. 340.) 120 Das "Anomale" ist eine Wortbildung in Anlehnung an das griechische "Anomalie", die von Deleuze und Guattari vorgenommen wird, um "das Ungleiche [.. . ], das Unebene, die Unebenheit, die Grenze der Deterritoriali sierung" zu bezeichnen. Nicht damit gemeint ist die Regelabweichung oder -widrigkeit, welche die Autoren mit dem Begriff "anormal" bezeichnen (ebd., S. 332).
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der größtmöglichen Dimension)". Gleichzeitig ist es das Anomale, welches als heterogener Pol "die Transformationen des Werdens" treibt. 121 Der Terminus des "Werdens" bezeichnet für Deleuze und Guattari in diesem Kontext den Prozess der beständigen (Re)Produktion des Subjektes innerhalb des Netzwerkes von Verbindungen.1 22 Deleuze und Guattari be schreiben dieses Verhältnis als Raum, der zwischen dem Anomalen und dem Subjekt vermittels der entstehenden Verbindungslinien (auch Flucht linien genannt) aufgespannt und dadurch gleichzeitig strukturiert wird. Indem sich die beiden Terme aufeinander beziehen, deterritorialisiert sich jeder der beiden zu dem jeweils anderen Term hin. Gleichzeitig jedoch führt diese Annäherungsbewegung dazu, dass beide im jeweiligen Gegen über wieder erscheinen: "jedes Werden sichert die Deterritoriaiisierung des einen und die Reterritoriali sierung des anderen Terms, das eine und das andere Werden verbinden sich mit einander und wechseln sich in einem Kreislauf von Intensitäten ab, der die De territorialisierung immer weiter voran treibt."
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Entsprechend hat für Deleuze und Guattari "ein Werden kein Subjekt [ . ] , das von ihm unterschieden wäre" und es hat "keinen Endzustand [ .. . ] , weil sein Endzustand seinerseits nur in ein anderes Werden eingeschlossen ist, dessen Subjekt es ist und das mit dem ersten koexistiert und einen Block bildet."1 24 Damit existiert das Subjekt nicht unabhängig vom Werden, son dern in, durch und mit ihm (Prinzip der Immanenz) : ..
121 Ebd., S . 332, 340-34 1. Unter Berücksichtigung der hier verfolgten Per spektive ist die Aufzählung der Charakteristika der Mannigfaltigkeit soweit verkürzt wiedergegeben. Deleuze und Guattari erwähnen noch ihre per formativen Eigenschaften als Karte in Abgrenzung zur Kopie (ebd., S. 2324). 122 "Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit et was zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Prodegieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrespondierende Bezie hungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ,zu scheinen', noch , zu sein', , äquivalent zu sein' oder , zu produzieren '." (Ebd., S. 326.) 123 Ebd., S. 20. Das eindrücklichste Beispiel, das Deleuze und Guattari wäh len, um ihren Begriff vom Werden zu verdeutlichen, ist das der Orchidee und der Wespe: "Die Orchidee deterritorialisiert sich, indem sie ein Bild formt, das Abbild einer Wespe; aber die Wespe reterritorialisiert sich auf diesem Bild. Die Wespe dagegen deterritoriaiisiert sich, indem sie selber zu einem Teil des Fortpflanzungsapparates der Orchidee wird; aber sie re territorialisiert die Orchidee, weil sie deren Pollen transportiert." (Ebd.) 124 Ebd., S. 325.
40 I KANNIBALE-WERDEN "Es ist eine falsche Alternative, wenn wir sagen: entweder man ahmt etwas nach oder man ist. Was real ist, ist das Werden selber, der Block des Werdens, und 25 nicht etwa angeblich feststehende Endzustände". 1
In diesem Sinne ist die Identität des Subjektes für De1euze und Guattari weder Ausdruck einer inneren Essenz noch eine Ansammlung unterschied licher Facetten, sondern vielmehr ein fortlaufender, andauernder Prozess. 126 Oder, wie Elizabeth Grosz es formuliert: "A multiplicity is not a pluralized notion of identity (identity multiplied by n locations), but is rather an ever-changing, nontotalizable collectivity, an as semblage defined, not by its abiding identity or principle of sameness over time, but through its capacity to undergo permutations and transformations, that is, its 27
dimensionality. ,, 1
Das Anomale treibt die Transformationen des Werdens an: Damit kommt dem Anomalen in der Philosophie Deleuzes und Guattaris eine zentrale Rolle in dem Prozess der De-lTerritorialisierung des Subjekts zu: Es ist gleichzeitig seine Bedingung, sein Rand und der Fluchtpunkt seiner Di mensionen. Ähnlich wie das Andere der traditionellen Philosophie oder Psycho analyse ist das Anomale also der zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Identität notwendige Bezugspunkt. Es gibt jedoch eine Reihe von sig nifikanten Unterschieden zwischen den beiden Modellen. Während etwa für Lacan die Beziehung zum Anderen durch einen Mangel ausgelöst wird, stellt das Begehren (dtsire) für De1euze und Guattari eine eigenständige, produktive Kraft dar, welche die Herstellung und Aufrechterhaltung von Konnexionen und damit das Subjekt-Werden antreibt.128 Auf diese Weise sind die wechselseitigen Verbindungen, in denen und durch die Identität existiert, immer auch affektiv besetzt. Dazu können Lust, Faszination und Neugier, aber auch Angst zählen.129 Um mit Braidottis Worten zu spre chen: ,,[Wlhat sustains the entire process of becoming-subject, is the will to know, the desire to say, the desire to speak, to think, and to represent. In the beginning
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Ebd., S. 324-325. Siehe dazu auch: Massumi 1992, S. 94-99. Grosz 1994b, S. 192. Siehe dazu Deleuzes und Guattaris Konzept der Wunschmaschine: Deleu ze/Guattari 1977, S. 11-16, 76, 141. Begehren ist "immanent, as positive and productive, a fundamental, full, and creative relation. Desire is what produces, what makes things, forges connections, creates relations, produ ces machinic alignments." (Grosz 1994b, S. 195.) 129 Siehe: Deleuze/Guattari 2002, S. 313.
PROBLEMAUFRISS I 41 there is only the des ire to, which is also the manifestation of a latent knowledge about desire.
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Des Weiteren gehen Deleuze und Guattari nicht von (mehr oder weniger) feststehenden Zuständen eines Eigenen oder Anderen aus, sondern postu lieren: "Werden und Mannigfaltigkeit sind ein und dasselbe." · Ihrer An sicht nach neigt sich das Subjekt in und durch seine Verbindungen soweit zu einem Anderen hin, "daß das Ich nur noch eine Schwelle ist, eine Tür, ein Werden zwischen zwei Mannigfaltigkeiten."!31 Auf diese Weise stehen mit dem Konzept des Subjekt-Werdens die Verbindungen und damit die Prozesse im Mittelpunkt einer Analyse: "What matters is what occurs in the in-between spaces, the intervals, the transitions between their respecti ve differences. " 1 32 Hier wird ein weiterer, grundlegender Unterschied zur traditionellen Weise, das Verhältnis zwischen Eigenem und Anderem zu denken, deut lich: Deleuze und Guattari betrachten das Andere als vom Subjekt unab hängig. i33 Bereits in Differenz und Wiederholung dreht Deleuze das klassi sche, hegelianische Verhältnis um, indem er argumentiert, dass nicht Dif ferenz der Negation vorausgeht, sondern umgekehrt die Denkfigur der Ne gation die Differenz voraussetzt.13' Stattdessen existiere, so Deleuze, unab hängig von einem dialektischen Negationsverhältnis zwischen Eigenem und Anderen "ein Gewimmel von Differenzen [ . . . ), ein[ ) Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen [ .. . ] , die über die Vereinfachung der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen."135 In Kon sequenz führt dies dazu, dass aus einer deleuzianischen Perspektive "the ,other ' is not the emblematic and invariably vampirized mark of alterity - as in classical philosophy. Nor is it a fetishized and necessarily othered ,other', as in deconstruction. It is a moving horizon of exchanges and becomings, towards which the non-unitary subjects of postmodemity move, and by which they are moved in return."
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Das nomadische S u bjekt
Vor dem Hintergrund deleuzianischer Theoriebildung schlägt Rosi Brai dotti vor, "subjectivity as an intensive, multiple and discontinuous process of interrelations"137 grundsätzlich neu zu denken. Sie entwickelt hierzu, 130 131 132 133 134 135
Braidotti 1994, S. 120. Deleuze/Guattari 2002, S. 340. Braidotti 2002, S. 72. Siehe: Ebd. Siehe: Deleuze 1997, S. 77. Ebd., S. 76. Für eine Kritik seines Konzepts von der ",Differenz an sich selbst "', siehe : Todd 1997, S. 170-185. 136 Braidotti 2002, S. 69. 137 Ebd.
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angeregt durch die oben dargestellten Überlegungen Deleuzes und Guatta ris, den Begriff des nomadischen Subjekts, mit dem sie den rhizomati schen, veränderlichen und prekären Charakter der Identitätskonstruktionen kennzeichnet: "In so far as axes of differentiation such as cJass, race, ethnicity, gender, age, and others intersect with each other in the constitution of subjectivity, the notion of nomad refers to the simultaneous occurrence of many of these at once."llS
Wie auch andere feministische Theoretikerinnen, beispielsweise ludith Butler, begreift Braidotti hierbei das Subjekt nicht als vom Körper unab hängige Größe, sondern im Gegenteil als ein "embodied subject", als ein stets verkörperlichtes und vergeschlechtlichtes. 139 Darüber hinaus verste hen sie und andere Vertreterinnen und Vertreter dieses radical materialism den menschlichen Körper als eine "biokulturelle Einheit" aus Umwelt und Körper, 14o wie Elizabeth Grosz es programmatisch formuliert: ,,[W]e need to understand the body, not as an organism or entity in itself, but as a system, or series of open-ended systems, functioning within other huge systems it cannot control, through which it can access and acquire its abilities and capaci
ties ," 141 In Bezug auf dieses Verständnis von Subjektivität wird im Kontext der hier vorgelegten Arbeit das Subjekt als agencement verstanden, als eine Korporealität, welche den Knotenpunkt mehrerer Fluchtlinien zwischen heterogenen Polen bildet und welche in und durch die vielfältigen Konne xionen und Austauschprozesse existiert, die es mit seiner Umwelt herstellt. Diese Prozesse werden hierbei als ergebnisoffene und kontingente Bezie hungen begriffen, denen gegenüber die Identität des Subjekts, eingebettet
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Braidotti 1994, S. 4. Es gilt dabei, Braidottis Begriff des nomadischen Sub jekts von dem in den Postcolonial Studies verwendeten Begriff zu unter scheiden. Während in letzteren der Nomade als die Verkörperung der Mo bilität einer postkolonialen Situation zum bevorzugten Untersuchungsge genstand gehört, betont Braidotti, dass das "nomadic subject [ ... ] the oppo site of the tourists, the antithesis of the migrant" darstelle. Es ist vielmehr "a form of intransitive becoming". Ihrer Ansicht nach gilt: "You can never be a nomad, you can only go on trying to become nomadic." (Braidotti 2002, S. 86 (HiO).) Zur Auseinandersetzung um den Begriff des Nomaden und der Nomadologie aus postkolonialer Perspektive vgl. das Themenheft der Interventions 6,2 (2004), hier v.a. Noyes 2004, bes. S. 160. 139 Siehe: Braidotti 1994, S. 4, 112 (Zitat). Vgl. dazu: Butler 1991, S. 205; Butler 1993, S. 1-2. Als Beispiel für eine Kritik an Butler aus einer deleu zianischen Perspektive vgl. Schmiede12003, S. 93-134. 140 Braidotti 2005, S. 110. 141 Grosz 2004, S. 3. Siehe dazu auch: Grosz 1994a, S. 19-20.
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in die binäre Ordnung der Geschlechter, als (letztlich instabile) Stilllegung, Fixierung und Verfestigungen entlang bestehender Linien zu sehen ist. [42 In diesem Sinne verweist etwa die Mannigfaltigkeit ,Mann' in ihrem rhizomatischen Charakter auf eine Vielzahl von Beziehungen zwischen heterogenen Termen (Mann-Frau, -Pflanze, -Kind). Einige unter ihnen jedoch werden aufgrund und zur Herstellung der Identität ,Mann' stärker herausgehoben als andere und überkodiert. Auf diese Weise wird eine bi näre Struktur (Mann-Frau) hergestellt. Gleichzeitig handelt es sich dabei nicht nur um das Hervorheben einer Verbindungslinie, sondern auch um das Aufrufen weiterer Konnexionen (Mann-Natur, Mann-schwarzer Mann, Mann-Werwolf), die entweder bereits binär strukturiert sind oder sich für eine ähnliche Überkodierung eignen. Damit handelt es sich bei dem Sub jekt um einen "relay-point for many sets of intensive intersections and en counters with multiple others". [43 Ausgehend von diesen Überlegungen werden im Folgenden weiße männliche Identität und kannibalische Alteri tät nicht als fixe, klar voneinander abgrenzbare Entitäten verstanden, son dern als ein komplexes Beziehungsgeflecht, aus dem heraus sich beide Positionen in einem gemeinsamen Prozess auseinander falteten. [ 44 Zur Kennzeichnung dieses Verständnisses vom Werden des Subjekts im Pro zess der (De)Territorialisierung zu einem Anomalen werde ich von dem agencement IdentitätlAlterität sprechen. Die (Re)Produktion von Subjektivität, und auch von IdentitätlAlterität, ist gleichzeitig, so betont Braidotti, untrennbar verbunden mit Fragen ge sellschaftlicher Macht, da diejenigen Konnexionen und Beziehungen, wel che beide Pole konstituieren, zugleich auch Macht-Beziehungen sind. Das vergeschlechtlichte Subjekt ist daher als "an entity fully immersed in rela tions of power, knowledge and desire" aufzufassen: Macht ist nicht etwa außerhalb des Subjektes, sondern Teil seiner Identität. [45 Aus diesem Grunde sind IdentitätenlAlteritäten stets auch politische Kategorien und werden innerhalb einer politischen Auseinandersetzung ausgebildet. [46 Zur 142 In diesem Sinne spricht Grosz auch von tausend kleinen Geschlechtern (Grosz 1994b, Titel) und Braidoitti betont, dass Deleuzes Arbeit "does not rest upon a dichotomous opposition of masculine and feminine subject po sitions but rather on a multiplicity of sexed subjectivities. The differences in degree between them mark different lines of becoming, in a web of rhi zomatic connections." (Braidotti 1994, S. 112.) 143 Braidotti 2002, S. 75 . 144 Vgl. auch Mark Terkessidis Formulierung: "Das Eigene und das Andere entstehen nicht unabhängig voneinander, sondern falten sich in einem ge meinsamen Prozeß auseinander." (Terkessidis 1999, S. 11.) 145 Siehe: Braidotti 2002, S. 6-7, Zitat S. 7. 146 Siehe dazu: Paul Gilroys Formulierung der "c!ass" sowie "race formation" (siehe: Gilroy 2005, S. 35-38) sowie Grossberg 1992, S. 54. Hier schwingt auch die Rezeption der klassischen Studie von Edward P. Thompson, The Making 0/ the English Working Class mit, in der Thompson Klasse als streng historisches Phänomen definiert, welches in sozialen Beziehungen hergestellt wird und auch nur in diesen existiert und insofern ein Bündel
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Kennzeichnung dieser Gleichzeitigkeit werde ich den Prozess der Herstel lung und Aufrechterhaltung des agencements IdentitätlAlterität in Anleh nung an den Begriffsapparat der britischen Cultural Studies auch als Arti kulation bezeichnen. Dieser Begriff, durch die Doppelbedeutung des Eng lischen "articulation" von "aussprechen" einerseits und von "gegliedert" oder "segmentiert sein" andererseits, verweist gleichzeitig auf die diskur siven und non-diskursiven Praktiken, in denen individuelle wie kollektive Identitäten gelebt, verkörpert, realisiert werden, und auf die Strukturierung dieser Praktiken entlang der Verwerfungslinien der Macht.!47 Sowohl die Autoren und Autorinnen der Cultural Studies als auch Rosi Braidotti be ziehen sich mit ihrem Verständnis von Macht auf das Werk Michel Fou caults, der eine umfassende Analyse der Geschichte der Macht vorgelegt hat und dessen Konzepte im Folgenden etwas eingehender dargestellt wer den sollen, da seine Theorien zur Macht und zur Entwicklung der moder nen Gouvemementalität für die Analyse ebenfalls von zentraler Bedeutung sein werden.
1 . 4 J e n s e i t s d e r S c h w e l l e : B i o- M a c h t , R a s s i s m u s u n d Gouver nemental ität
Foucault geht davon aus, dass sich in den westlichen Gesellschaften i m Verlaufe des 1 7. und 1 8. Jahrhunderts ein Wandel der Machttechnologien vollzog: Die alte Souveränitätsmacht, oder "das Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen"l4', wurde durch einen neuen Typus der Macht ersetzt: die ",Kunst des Regierens"'l49. Diese neue "Macht zum Leben" organisier te sich, so Foucault, um zwei Pole herum: dem "Körper als Maschine" ei nerseits und dem "Gattungskörper" andererseits. Während ersterer den "Machtprozeduren der Disziplinen" und der "politische[n] Anatomie des menschlichen Körpers" zugehörig sei, unterliege letzterer "regulierende[n] Kontrollen" einer "Bio-Politik der Bevölkerung".!50 Diese beiden Zugriffe entstanden historisch nacheinander. Im 17. Jahrhundert, dem "klassische[n] Zeitalter" wie Foucault es nennt, wurde "eine allgemeine Technik der Machtausübung" entworfen, welche mit Hilfe der "Disziplinarorganisation" auf die "Normalisierung" individueller Körper abzielte. Diese Machttechnik ist "auf zahlreiche und unterschiedliche Institutionen" wie beispielsweise Schulen, Fabriken, das
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aus Erfahrungen und Handlungszusammenhängen darstellt (siehe: Thomp son 1968, S. 9). Zum Einfluss von Thompsons Studien auf die britischen Cultural Studies siehe: During 2000, S. 4. Siehe: Grossberg 1992, S. 45, 56-58 (hier explizit in Bezug auf das Konzept der agencements bei Deleuze und Guattari) sowie S. 397. Foucault 1999, S. 278. Foucault 2003, S. 70 (HiO). Foucault 1983, S. 166 (HiO).
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Militär oder Gefängnisse übertragbar, die als Disziplinarapparate soge nannte "Normalisierungseffekte" erzielen.'51 Diese " ,Normalisierungsdis ziplin' " ist keine "repressive, sondern [eine] produktive Macht",'52 welche gelehrige Körper und das modeme Subjekt hervorbringen.'53 Der zweite Pol, um den herum sich diese neue Macht dann ab dem 1 8. Jahrhundert anordnete, sind "die Regulierungen der Bevölkerung".'54 Diese Form wird von Foucault auch "Bio-Macht" genannt.155 Sie zielte darauf, "leben zu machen und sterben zu lassen" und führte neue Techniken ein, welche sich nicht auf das Individuum, sondern auf das "Konzept der ,Bevölkerung'" bezogen, auf die seither mittels neuer "Regulationsmechanismen", bei spielsweise "Vorhersagen, statistische Bewertungen und globale Messun gen" zugegriffen wird.'56 Anders als bei den Disziplinen ging und geht es bis heute hierbei "nicht um individuelle Dressur, die sich mittels Arbeit am Körper selbst vollzöge", sondern "darum, das Leben und die biologischen Prozesse der Menschengattung zu erfassen und nicht deren Disziplinie rung, sondern deren Regulierung sicherzustellen."'57 Disziplin und Regu151 152 153 154 155
Foucault 2003, S. 47-75; Zitate S. 70-7 l. Ebd., S. 74. Foucault 1994, S. 278-279. Foucault 1983, S. 166. Foucault 1999, S. 294. Wie Martin Stingelin überzeugend argumentiert, differenziert Foucault nur sehr ungenau zwischen "Bio-Macht" und "Bio Politik", stattdessen verwendet er die Begriffe mehr oder weniger syn onym. Diese begriffliche Unschärfe durchzieht leider auch die Rezeption des Foucaultschen Werkes (beispielsweise bei Geulen 2004, S. 19-25: der Autor referiert hier das Konzept der Bio-Macht unter der Überschrift der Biopolitik). Demgegenüber plädiert Stingelin für eine klare Abgrenzung der Begriffe, auch wenn Foucault selbst diese nicht stringent durchhält. So plädiert er dafür, die ",Zugriffe der Macht' auf den Körper des einzelnen und der Bevölkerung, die sich vornehmlich des Sexes bedienen," Bio Macht zu nennen und den Begriff der Biopolitik für die ",Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit"', die "im Anschluß an Foucault als ,Stützpunk te des Gegenangriffs' auf die Bio-Macht" bezeichnet werden können, zu reservieren. (Siehe: Stingelin 2003, S. 15-16, Zitate S. 16.) Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit wird dem Vorschlag Stingelins gefolgt, allerdings aus anderen Gründen und mit einem leicht anderen Verständnis der beiden Begriffe. Unter Biopolitik werden die "regulierenden Kontrollen" und die Techniken der "Regulierungen der Bevölkerungen" in Abgrenzung zu den disziplinarischen Machttechniken verstanden, die jedoch beide zur "Macht zum Leben", der Bio-Macht, gehören, welche im Gegensatz zur alten Sou veränitätsmacht nicht ,sterben macht ', um die Macht des Souveräns öffent lich zu demonstrierten, sondern definiert, wer leben darf und wer ,sterben gelassen' wird, um das Überleben und die Sicherheit der imaginierten Ge meinschaft zu gewährleisten. 156 Foucault 1999, S. 278, 283, 284. 157 Ebd., S. 285. Die Periodisierung, die Foucault vorschlägt, ist leider nicht eindeutig. In Der Wille zum Wissen (Foucault 1983, S. 166) und in seiner Vorlesung Die Anormalen aus dem Jahr 1975 (Foucault 2003, S. 70) spricht er davon, dass sich der Wechsel von der alten Souveränitätsmacht hin zur neuen Regierungsmacht zwischen dem 17.-18. Jahrhundert vollzo-
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lierung, obwohl nacheinander entstanden, lösten einander nicht ab, so Foucault, sondern koexistieren bis heute, greifen ineinander und ergänzen sich wechselseitig. 1s8 Die "Disziplinen des Körpers" und die "Regulierun gen der Bevölkerung" werden von ihm als miteinander verkoppelt gese hen: "Die Installierung dieser großen doppeIgesichtigen - anatomischen und biologi schen, individualisierenden und spezifizierenden, auf Körperleistungen und Le bensprozesse bezogenen - Technologie charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten sondern die vollständige Durchsetzung des Le bens ist., d59
Anders als bei der alten Souveränitätsmacht, also dem "Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen",'60 steht hinter dieser neuen ",Kunst des Re gierens' '''6' als einer Macht, "die das Leben zu sichern hat", nicht länger das Schwert, also der Tod hinter dem Gesetz, sondern eine Vielzahl "fort laufender, regulierender und korrigierender Mechanismen".'62 Diese Form der Bio-Macht rekurrierte damit auf die Techniken und die Rationalität der weitaus älteren christlichen Pastoralmacht, welche auf die "Seelenfüh rung", nämlich die Regierung der gesamten Lebensäußerungen einer Be völkerung zielte, und den Souverän als Hirten konzeptionalisierte, dessen Hauptaufgabe der Schutz der Herde, seiner Gemeinde ist.'6l Beide Aspek te, so Foucault, wurden im Zuge der Etablierung der B io-Macht auf den modemen Staat übertragen: "Der Weg von einer ,Regierung der Seelen' zur politischen Regierung führt über die Integration der Pastoraltechnolo gie in eine neue politische Form, den modemen Staat".'64 Es ist vorgeschlagen worden, dieses gleichzeitige Auftreten von Dis ziplin des Einzelnen und Regulation der Bevölkerung im Sinne einer "Gleichzeitigkeit des Ungleich zeitigen" als das besondere Charakteristi kum der kolonialen Situation zu begreifen. 165 Wie meine kurze Rekon struktion der Foucault' schen Theoriebildung deutlich gemacht hat, stellt
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gen haben soll. In seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft 1975/76 datiert er diesen Wandel ins 19. Jahrhundert (Foucault 1999, S. 278). Hier allerdings spricht er im Anschluss die Kopplung der Bio-Macht mit Rassismus an, so dass er mutmaßlich diese historisch spezifische Aus prägung meint. Siehe: Foucault 1983, S. 166 sowie Foucault 1999, S. 289-290. Foucault 1983, S. 166. Foucault 1999, S. 278. Foucault 2003, S. 70 (HiO). Foucault 1983, S. 171. Foucault 2004, S. 185-193, 201-229, Zitat S. 185. Siehe auch: Lemke 1997, S. 153-156. Lemke 1997, S. 156. Siehe dazu: die Rekonstruktion der historischen Ent stehungsbedingungen der modernen Gouvernementalität durch Mitchel Dean (Dean 2007). Wirz 2003, S. 9-10, Zitat S. 10.
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die Verflechtung von verschiedenen Machuechnologien jedoch im Gegen teil das allgemeine Charakteristikum moderner Bio-Macht dar. Nichts des to trotz gibt es Anlass, über die spezifische Bedeutung der kolonialen Situ ation in Bezug auf die Etablierung moderner Bio-Macht nachzudenken; namentlich über die Rolle des Kolonialismus für den der Bio-Macht inhä renten Rassismus. Allerdings, so mein Vorschlag, wäre dabei nur bedingt von einer besonderen "colonial governmentality" oder von Kolonien als "Laboratorien der Moderne" auszugehen. 1 66 Vielmehr gilt es die moderne Gouvernementalität in den historischen Kontext des Kolonialismus zu set zen. Eine Vorgehensweise, die von Foucault selbst vernachlässigt worden ist, wie ich anhand des von ihm verwendeten Rassismusbegriffs sowie sei nen Ausführungen zur Normalisierungsgesellschaft kurz demonstrieren möchte. Der Wille zum Töte n : Rassismus und Bio-Macht
Wie "kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung von Leben zum Ziel hat, sterben lassen?"!67 Für Foucault ist es diese Frage, welche die moderne Bio-Macht unmittelbar mit Rassismus verbindet, denn er sieht im Rassismus ein Mittel, zwischen jenen, die leben, und jenen, die sterben gemacht werden, zu unterscheiden: "Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: 168 die Zäsur zwischen dem, was leben und dem, was sterben muß. ,,
Während sich der Rassismus, das heißt die Unterscheidung zwischen je nen, die leben dürfen und jenen, die sterben gelassen werden sollen, zu nächst mit der Kolonisierung entwickelt, so erscheint gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, "nicht nur die eigene Rasse durch Beseiti gung der gegnerischen Rasse zu stärken (entsprechend der Themen der Selektion und des Kampfes ums Dasein), sondern die eigene Rasse auch zu regenerieren." In einer "biologische[n] Extrapolation des Themas der politischen Theorie des Feindes", verknüpft sich der Machtdiskurs mit der biologischen Evolutionstheorie. Foucault stellt fest: "Rassismus ist die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesell schaft. " !69 166 Für eine erste Auseinandersetzung mit diesen beiden Begriffen vgl. Scott, D. 2005, S. 24-25, 35; van Laak 2004b, S. 257-259. Des Weiteren siehe meine Ausführungen in Kapitel 4. 167 Foucault 1999, S. 294. 168 Ebd., S. 295. 169 Ebd., S. 298, 296. "Tötung" ist ein von Foucault an dieser Stelle weit ge fasster Begriff. Er versteht hierunter nicht nur den "direkten Mord, sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes
48 I KANNIBALE-WERDEN
"Der Tod des Anderen bedeutet nicht einfach mein Überleben in der Wei se, daß er meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod des Anderen, der Tod der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; ge sünder und reiner." 1 70 Er spricht in diesem Zusammenhang von einer ",biologische[nl Moderni tätsschwelle"', die in dem historischen Moment überschritten wurde, als die Gesellschaft ihre "politischen Strategien um die Existenz der Gattung" geführt hat.l71 Foucault verortet diese Schwelle im späten 19. Jahrhundert bei der Durchsetzung des darwinistischen Evolutionsmodells. Ausgehend vom kolonialen Völkermord wurden nach Ansicht Foucaults sukzessive alle hierarchischen Beziehungen in diesen Termini gedacht. So beispiels weise die zur Kriminalität: "Auch die Kriminalität wurde ab diesem Zeitpunkt in Begriffen des Rassismus gedacht, da sie im Mechanismus der Bio-Macht die Tötung des Kriminellen und seine Beseitigung möglich werden lassen mußte. Dasselbe gilt für den Wahnsinn 72 und die verschiedenen Anomalien.,, 1
Diese Entwicklung führte dazu, dass das Evolutionsmodell a la Darwin zu der "Art und Weise, die Beziehungen der Kolonisierung, die Notwendig keit des Krieges, die Kriminalität, die Phänomene von Wahnsinn und Geisteskrankheit und die Geschichte der Gesellschaften mit ihren ver schiedenen Klassen usw. zu denken" wurde. Das heißt, dass "jedesmal wenn es Konflikt, Tötung, Kampf, Todesrisiko" gab, glaubten die Zeitge nossinnen und Zeitgenossen, die Phänomene "buchstäblich in Formen der Evolutionstheorie denken zu müssen". Damit handelte es sich bei der Be ziehung zum "Anderen" nicht länger um eine "militärische, kriegerische oder politische Beziehung, sondern um eine biologische Beziehung" .173 Das Foucault'sche Konzept der Bio-Macht und des damit verbundenen Rassismus weist allerdings an einer Reihe von Stellen Präzisierungsbedarf auf, besonders aus der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Analyseperspekti ve. Erstens beschränkt sich Foucault in seinen Betrachtungen auf die Re konstruktion eines Staatsrassismus:
170 171 172 173
ausliefern, für bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den po litischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. erhöhen." (Ebd., S. 297.) Ebd., S. 296. Foucault 1983, S. 170-17 I . Foucault 1999, S. 299. Ebd., S. 297-298, 296.
PROBLEMAUFRISS I 49 "Der Rassismus ist an das Funktionieren eines Staates gebunden, der sich zum Zweck der Ausübung seiner souveränen Macht der Rasse, der Eliminierung der 174 Rassen und der Reinigung der Rasse zu bedienen gezwungen sieht.,,
Diese Einschätzung läuft jedoch seiner Konzeption von Macht im Allge meinen und der Bio-Macht im Besonderen zuwider, die nicht nur über Disziplinierungstechnologien und Regulationsmechanismen funktioniert, sondern besonders auch über "Selbsttechnologien". 175 Es ist im Gegenteil mit Blick auf sein Konzept der verrnachteten Subjekte und der Allgegen wart von Macht sinnvoller anzunehmen, dass Rassismus in die alltäglichen Praktiken der Subjekte eingelassen ist und damit einen integralen B estand teil der Artikulation von IdentitätlAlterität bildet."· Zweitens weist Foucault zwar ausdrücklich darauf hin, dass "Rassis mus [ . . . ] sich zunächst mit der Kolonisierung, d.h. dem kolonisatorischen Völkermord" entwickelte.177 Wie Ann Laura Stoler und andere Forscherin nen und Forscher gezeigt haben,178 vernachlässigt er allerdings in seinen Untersuchungen den zunächst von ihm als konstitutiv für den Rassismus und damit die Bio-Macht bezeichneten kolonialen Kontext und behandelt Europa als ein vom kolonialen Projekt getrenntes Untersuchungsfeld. Hier sitzt Foucault einem Orientalismus auf, die an anderer Stellte bereits zur Zeit der Abfassung der einschlägigen Texte, etwa Der Wille zum Wissen, kritisiert wurde.179 Es ist diese Verbindung von Rassimus, Kolonialismus und Bio-Macht, der im Rahmen der hier vorgelegten Arbeit weiter nachge spürt werden soll und weshalb ich, wie von Stoler vorgeschlagen, ein wei teres Objekt des Wissens in die Debatte einführen möchte: neben dem masturbierenden Kind, der Hysterikerin und dem reproduktiven, heterose xuellen Paar auch "the savage, the primitive, the colonized" als der "racial ly erotic counterpoint" bürgerlich-weißer, heterosexueller Männlichkeit.!'o 174 Ebd., S. 299. Foucault sieht den Nazistaat als das extremste Beispiel der Vereinigung der alten Souveränität und der neuen Bio-Macht, da hier jedes Mitglied in Form der Denunziation "das Recht auf Leben und Tod über seinen Nachbarn" gehabt habe (ebd., S. 300). 175 Siehe dazu: Foucault 2004, S. 135, 267-269 (zur entscheidenden Rolle der Adaption des christlichen Pastorats und seiner Individualisierungstechni ken durch die moderne Bio-Macht); Foucault 1983, S. 173 (Sex als "Scharnier" zwischen Disziplin und Regierung). Zur Problematisierung der "Selbsttechnologien" siehe: Foucault 2000, S. 18 (Zitat) und S. 36-44. 176 Vgl. Magiros 1995, S. 145-148. 177 Foucault 1999, S. 298 (HiO). 178 Siehe: Stoler 1996, S. 59-60, JanMohamed 1992, S. 94-95. 179 So entwickelt er ein romantisierendes Bild von der ars erotica des Orients (seine Beispiele sind China, Japan und Indien), das im Grunde ein unre flektiertes Versatzstück aus einem orientalistischen Diskurs darstellt, in dem ,der Orient' als Projektionsfläche sexueller Phantasien gedient hat und bis heute noch dient. Siehe dazu: Foucault 1983, S. 74 sowie Sai:d 2003, S. 6. 180 Stoler 1996, S. 6-7.
50 I KANNIBALE-WERDEN
Rechnen im rassistischen D ifferenzial: Normalisieru ng und Sicherheitsdispositiv
Mit der Durchsetzung der modemen Bio-Macht ging nach Foucault die Etablierung der "Normalisierungsgesellschaft" einher, in welcher "eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbin den."!ß' Das verbindende Element zwischen Regulation und Disziplin, und das macht ihre Bedeutung in den modemen westlichen Gesellschaften aus, ist dabei seiner Ansicht nach die Norm: ,.[D]as Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht und zugleich die Kontrolle der disziplinären Ordnung des Körpers und der Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt erlaubt, [ ... ] dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, [ist] die ,Norm'
.,,182
Foucault rekurriert streng genommen auf drei unterschiedliche Konzepte von Norm, die seiner Ansicht nach mit der Souveränitätsmacht, der Dis ziplinarmacht, beziehungsweise der Gouvemementalität korrespondieren. Zunächst bezeichnet der Begriff für Foucault eine juristische Norm, die "jedem Gesetzesimperativ intrinsisch ist", eine "Normativität".'83 Zweitens begreift er darunter eine präskripte Norm, ein Ideal, an welches die Sub jekte qua Zurichtung und Disziplinierung angepasst werden. Diesen Pro zess bezeichnet er als "disziplinarische Normalisierung" oder auch "Nor mation".'ß4 Drittens umfasst der Begriff der Norm bei Foucault auch eine empirisch-deskriptive Norm, ein mit Hilfe mathematischer Verfahren er mittelter Durchschnittswert. Diese Norm wird durch Regulierungsverfah ren und Anleitung zur Selbstregierung umgesetzt: der Prozess der "Norma lisierung" .'85 Mit der Durchsetzung der Bio-Macht gewinnen besonders die letzten beiden der drei genannten Aspekte an Bedeutung und entsprechend funkti oniert die Norm nicht, wie Foucault mit Blick auf Canguilhelm formuliert, als Kriterium einer binären Ordnung, sondern sie fungiert als "ein Prinzip der Bewertung und ein Prinzip der Korrektur": 186
181 Foucault 1999, S. 293. Sie ist keinesfalls "eine Art verallgemeinerter Dis ziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten" (ebd., S. 292-293). In diesem Sinne auch: Foucault 1983, S. 172. 182 Foucault 1999, S. 292. 183 Foucault 2004, S. 88. 184 Foucault 2004, S. 90. Siehe auch: Foucault 1999, S. 49, 288. 185 Foucault 2004, S. 98. Siehe auch: Foucault 1999, S. 289; Krasmann 2003, S. 86-90. 186 Foucault 2003, S. 72.
PROBLEMAUFRISS I 51 "Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie [die Bio-Macht] die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet."'87
Im Anschluss an die Überlegungen Foucaults wurde von Jürgen Link eine Analyse der Normalisierungsgesellschaft vorgelegt, in der er zwei gegen läufige Strategien unterscheidet: die protonormalistische und die flexibel normalistische. Während erstere darauf abzielt, fixe Grenzlinien zu eta blieren und durchzusetzen, regulieren flexibel-normalistische Strategien Grenzbereiche und expandieren die Räume des ",Normalfeldes ' '''88 über ein komplexes Spiel von Inklusionen und Exklusionen. Link identifiziert mit ersteren die disziplinarische Dressur, mit letzteren hingegen die Selbst technologien.'89 Wie auch Foucault davon ausgeht, dass Disziplin und Re gulation einander an der Wende zum 1 8 . Jahrhundert nicht ablösten, son dern seitdem ergänzen, so nimmt auch Link an, dass beide Strategien auf einander verweisen und sich gegenseitig stützen. 1 90 Normalisierung stellt für Link einen Prozess der Errichtung von Nor maleinheiten sowie deren Einordnung, Ausrichtung und Regulation ent lang der Norm dar, mit dem Ziel, innerhalb dieses Feldes eine Homöostase herzustellen. 191 Zwei Aspekte dieses Prozesses sind in Hinsicht auf den Untersuchungsgegenstand der hier vorgelegten Arbeit von besonderem Interesse: Erstens erfolgt die Anordnung der Einheiten im "Normalfeld" typischerweise entlang einer Skala. Diese ist "quantitativ und linear-gerichtet und erlaubt die vergleichende Anordnung der Nonnaleinheiten in einer ,Leistungskonkurrenz' (temporal als Fortschritt) sowie die Zusammenfassung in einer statistischen Streuungs- bzw. Verteilungskurve
187 Foucault 1983, S. 172. 188 Link 1998, S. 75. 189 Siehe: Link 1998, S. 78-81. Zwei Bemerkungen hinsichtlich Links Terrni nologie sind an dieser Stelle am Platze. Link versteht unter "Strategie[n]" keine "teleologisch, subjektiv-intentional und gänzlich bewußt" vorge nommenen Handlungen, sondern eine ,,,gerichteter ] ' Kombination einzel ner ,Taktiken', [die] sich im Verlaufe der ,taktischen' Prozesse wie eine durch die Struktur von Milieus und ökologischen Nischen ,tendenziell provozierte Evolution' transsubjektiv unter Schwankungen , einstellt'." (Ebd., S. 77.) Zum anderen unterscheidet Link in seiner Untersuchung zwi schen diskursiven Normalitäts-Komplexen und operativen Normalitäts Dispositiven (siehe: ebd., S. 75), also zwischen diskursiven Praktiken und einem Dispositiv. 1m Gegensatz zu Link wird in der hier vorgelegten Ar beit der Begriff des Dispositiv im Anschluss an Foucault weiter gefasst, so dass dieser sowohl diskursive als auch non-diskursive Praktiken beinhaltet. Entsprechend spreche ich von Normalisierungsstrategien im Sinne produk tiver kultureller Praktiken sowie von einem Normalisierungsdispositiv. 190 Siehe: Link 1998, S. 79. 191 Ebd., S. 77.
52 I KANNIBALE-WERDEN mit Durchschnittswert, Normalspektrum, Grenzwerten und Anormalitätszo nen."192
In seiner Kritik des traditionellen Begriffes der Differenz in der westlichen Philosophie argumentiert Gilles De1euze ganz ähnlich. Auch er verweist darauf, dass über die Einteilung von Einheiten und die Errichtung einer Skala Differenz als messbare Einheit hergestellt wird. Differenz ist in die sem Sinne lediglich der Grad der Abweichung zwischen den einzelnen, auf diese Weise hergestellten Einheiten, welche auf einer Skala abgetragen werden kann. Analogie, Ähnlichkeit und Vergleich sind die B ewegungen, durch die diese Differenz produziert wird.193 Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass der Diskurs über Differenz ein inhärenter Bestandteil der Strategien der Normalisierung ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus einer postkolonialen Perspektive. Wie Robert Young festgestellt hat, operierte der koloniale Rassismus "both according to the same-Other model and through the ,computation of nor malities' and ,degrees of deviance ' from the white norm, by means of which racial difference became identified with other forms of sexual and social perver 94 sity as degeneracy, deformation or arrested embryological development.,, 1 In diesem Sinne ist Rassismus als Teil des modernen Normalisierungs
dispositivs zu verstehen. Hieran wiederum wird die oben bereits angespro chene Verschränkung von Bio-Macht, Kolonialismus und Rassismus deut lich und zeigt die Notwendigkeit, Metropole und Kolonie als gemeinsames analytisches Feld zu betrachten, eindringlich auf. Zweitens liegt nach Link "allen Taktiken der Etablierung von Normali tätsgrenzen die Vorstellung eines graduierten Kontinuums mit gleitender
Übergangszone des Durchdrehens zugrunde."195 Es ist diese Angst vor der Denormalisierung durch Exzess oder Degeneration, welche seiner Ansicht nach den Motor und die Erfolgsgarantie für die normalistischen Strategien darstellt. Diese Angst taucht allerdings nicht nur im Zusammenhang mit einzelnen Individuen auf, sondern auch in Bezug auf die Gesamtbevölke-
192 Ebd., S. 75-76 (HiO). 193 Zu Deleuzes Kritik des traditionellen Differenzbegriffs der westlichen Phi losophie siehe: Deleuze 1997, hier besonders S. 49-98. Siehe dazu auch: Colebrook 2002, S. 27-31; Williams 2004, S. 55-59; Massumi 1992, S. 97. Streng genommen handelt es sich bei der Einführung der Skala um einen historischen Prozess, der von Link ausführlich rekonstruiert worden ist (siehe: Link 1998, S. 185-215). Die Analogie wiederum war, wie in Kapi tel 4 zu sehen sein wird, die zentrale rhetorische Figur, über welche in der Anthropologie, Ethnologie, der Medizin und der Kriminologie das Wissen über den kannibalischen Anderen hergestellt wurde. 194 Young 2003, S. 180. 195 Link 1998, S. 76 (HiO).
P ROBLEMAUFRISS I 53
rung. 196 Ziel der flexibel-normalistischen Strategien ist die Herstellung der Homöostase aller Lebensäußerungen einer Population durch deren Regula tion und durch Anreiz zur Selbstregulierung der Individuen. Dieses Gleichgewicht ist jedoch stets prekär. Diese Vorstellung von der permanenten Bedrohung der Gesellschaft und ihrer Individuen bildet auch für Foucault, wie bereits in Bezug auf den Rassismus angedeutet, den produktiven Kern der Bio-Macht, deren Ziel die Optimierung des Lebens der Bevölkerung darstellt. Oder, wie Susanne Krasmann formuliert: "Von dem Augenblick an, in dem das Soziale zu einer eigenen Bezugsfolie des Regierens wird, muss nicht nur das Indivi duum gegen die Risiken geschützt werden, sondern auch die Gesellschaft gegen diejenigen verteidigt werden, die sie bedrohen.'''97 Sicherheit für die einen heißt hier Tod für die anderen: Leben machen und sterben lassen. In Hinsicht auf den Kolonialismus sind die Konsequenzen dieses mo dernen biopolitischen Denkens avant la lettre von Hannah Arendt in ihrer Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft dargestellt worden. Nach Arendt sahen sich die Kolonistinnen und Kolonisten einer fortwäh renden (vermuteten, wahrgenommenen oder auch tatsächlichen) Bedro hung durch "Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen" ge genüber. Deren schiere Zahl machte die bislang angewandten Kolonialisie rungstechniken, namentlich die Ausrottung der Indigenen und Besiedlung des Landes durch Europäer und Europäerinnen, unmöglich. Dieses "Ent setzen" befeuerte die Ausbildung eines "Rassenwahn[s]", dessen Ziel die "systematische[ 1 Ausrottung ganzer Rassen" wurde.19B Es führte darüber hinaus zur Suspendierung gültiger Rechtsnormen, die als "state of excepti on" in Sinne Gorgio Agambens gedeutet werden können.'99 In diesem Sin ne ist der Ausnahmezustand, ein Zustand der permanenten Bedrohung, der dauerhaften oder zumindest drohenden Suspendierung der juristischen Norm auf Grundlage rassistischer Kategorien als ein Referenzpunkt und damit als Teil der modernen Gouvernementalität zu verstehen. Dieser Teil, der hier im Anschluss an Foucault Sicherheitsdispositiv genannt werden soll, umfasst gleichzeitig auch die regulatorischen Maßnahmen, Techniken und Diskurse, die alltäglich im Sinne einer Bio-Politik ergriffen werden, um die Sicherheit der Bevölkerung zu geWährleisten und das dazu nötige homöostatische Gleichgewicht der verschiedenen Lebensäußerungen her196 Ebd., S. 211. 197 Krasmann 2003, S. 121. In diesem Sinne siehe auch: "Wenn die Gesell schaft nicht mehr die Folge, sondern die Quelle für das Leben der Einzel nen ist, dann wird sie selbst zu einem Subjekt, das sich verteidigen muss." (Lemke 1997, S. 224.) 198 Arendt 2008, S. 407. 199 Zu den von Arendt genannten Beispielen für diese Politik des Entsetzens, wie wir sie auch nennen könnten, gehört der Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama in DSWA 1904-07 sowie das Regime von earl Peters in DOA (Arendt 2008, S. 407). Zum Ausnahmezustand siehe: Agamben 1998, S. 15-29.
54 I KANN IBALE-WERDEN
zustellen und aufrechtzuerhalten.2oo In seiner Vorlesung zur Gouvernemen talität spricht Foucault von einem "Dreieck" aus "Souveränität, Disziplin und gouvernementale[r] Verwaltung, deren Hauptzielscheibe die Bevölke rung ist und deren wesentliche Mechanismen die Sicherheitsdispositive sind."20I An anderer Stelle fasst er unter dem Begriff der Gouvernementali tät zusammen: ,,[D]ie aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der [Bio-]Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigstes Wissensform die poli tische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheits dispositive hat.
,,202
1 . 5 Q u e l l e n ko r p u s
Meinen Analysen liegt ein breit gefächertes Fundament aus Quellen unter schiedlicher Provenienz zu Grunde. Zu diesem Quellenkorpus gehört ers tens das Aktenmaterial, welches im Kontext der Strafverfahren gegen mutmaßliche weiße Kannibalen entstanden ist. Hierbei handelt es sich im Einzelnen um Aussagen von beteiligten Beamten, Protokolle der Verneh mungen von Zeugen und Zeuginnen oder der Geständnisse der Angeklag ten, sofern diese abgegeben wurden. Des Weiteren gehören dazu Teile der Hauptakten im engeren Sinne (Anklageschrift, Sitzungsprotokoll, Urteil) sowie psychiatrische Gutachten über die Angeklagten und die Protokolle der psychiatrischen Gespräche, die von den jeweiligen Gutachtern mit ein zelnen Personen geführt wurden. Dabei ist die Dichte und die Vollständig keit der Überlieferungen von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Die Akten des Falls Karl Großmanns liegen, relativ vollständig erhal ten, im Landesarchiv Berlin (LAB) im Bestand der Generalstaatsanwalt schaft Berlin.203 Die Originalüberlieferung der Staatsanwaltschaft Hanno200 Vgl. Krasmann 2003, S. 120-127. 201 Foucault 2004, S. 161. 202 Ebd., S. 162. Diese Bestimmung ist ein Aspekt einer dreiteiligen Definition des Begriffs, die Foucault an dieser Stelle vornimmt. Die beiden anderen Aspekte beziehen sich auf die historische Genese der Gouvernementalität. Daher bezeichnet der Begriff für Foucault weiterhin "die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus geführt hat, den man über alle an deren hinaus die , Regierung' nennen kann" (ebd., S. 162) und darüber hin aus auch "das Ergebnis des Vorgangs [00.], durch den der mittelalterliche Staat der Gerichtsbarkeit, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwal tungsstaat wurde, sich nach und nach ,gouvernementalisiert' hat." (Ebd., S. 163.). 203 Siehe: LAB, A Rep. 358-01: Generalsstaatsanwaltschaft Berlin, 1522: Strafverfahren gegen Karl Großmann, Bd. 1-12, Aug. 1921 bis Juli 1922.
PROBLEMAUFRISS I 55
ver im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv in Hannover (NHStA) für den Fall Friedrich Haarmann ist hingegen nicht erhalten. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg durch einen Bombenangriff zerstört. Der Bestand, so wie er heute existiert, besteht zu großen Teilen aus einer Gegenüberlieferung, den Unterlagen des Gutachters Ernst Schultze, seit 191 2 Leiter der Provinzial Heilanstalt Göttingen. Das meiste davon wurde zusammengefasst in der so genannten "Haarmann Kiste".,o4 Da Karl Denke sich bereits in der Nacht unmittelbar nach seiner Inhaftierung erhängte, wurde in diesem Fall kein Verfahren eröffnet. An offiziellen Dokumenten sind im Geheimen Staats archiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) lediglich zwei Berichte des örtlichen Staatsanwaltes an das preußische lustizministerium überliefert.,o5 Die Akten der Staatsanwaltschaft Düsseldorf zum Fall Peter Kürten sind dagegen wiederum fast vollständig erhalten und konnten im Hauptstaats archiv Düsseldorf (HStA) eingesehen werden.206 Darüber hinaus fanden sich weitere Materialien zu allen genannten Kriminalfällen im Bestand der Mordkommission B erlin im LAB, die zur Weimarer Zeit als vorbildliche Eliteeinheit galt und von den lokalen Behörden bei schwierigen oder Auf sehen erregenden Fällen oft hinzugezogen wurde.,o7 Einzelne Teile der genannten Archivmaterialien für die Fälle Friedrich Haarmann und Peter Kürten sind in verschiedenen Quellensammlungen bereits veröffentlicht worden. So haben Christine Pozsar und Michael Fa rin in den von ihnen herausgegebenen Haarmann-Protokollen die Transkripte der psychiatrischen Gespräche Ernst Schultzes mit Friedrich Haarmann sowie dessen abschließendes Gutachten abgedruckt; Elisabeth Lenk und Katharina Kaever haben in ihrer S ammlung Peter Kürten, ge nannt der Vampir von Düsseldorf die Stenogramme der entsprechenden 204
Siehe: NHStA, Hann. 173, Acc. 30/87, Nr. 80: Generalakten betreffend Schwurgerichtsberichte (betreffend Haarrnann-Prozeß); ebd., Hann. 155 Göttingen Nr. 864a: Haarmann-Akten; ebd., Hann. 87 Acc. 116/84, Nr. 11: [Gesammelte Pressenotizen, Berichte und unveröffentlichte Materialien]. 205 Siehe: Bericht des Staatsanwaltes über die Ermittlungen im Fall Denke, 28.12.1924, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57488, BU. 2-6 sowie Bll. 14-15. Eduard Trautmann, der zu Unrecht für einen von Denke begangenen Mor de verurteilt worden war, strengte ein Rehabilitationsverfahren an, dessen Akten mutmaßlich im Bestand Polizeipräsidiums Wroclaw im dortigen Staatsarchiv überliefert sind. Diese Unterlagen befinden sich allerdings nach Auskunft des Archivs aufgrund eines Wasserschadens in derart schlechtem Zustand, dass diese nicht zu Recherchen vorgelegt werden können (Auskunft des Staatsarchivs Wroclaw vom 9. Sept. 2004). 206 Siehe: Staatsanwaltschaft Düsseldorf, HStA Düsseldorf 17/53 1-721. 207 Siehe: Mordkommission Berlin, A Pr. Rep. 030 C Tit. 198B. Hervorge gangen aus der privaten Sammlung des Leiters der Mordkommission in den 1920er Jahren, Ernst Gennat, handelt es sich hierbei um die Ansätze einer Lehrsarnmlung, die der zukünftigen kriminalpolizeilichen Ausbil dung Anschauungsmaterial aus der Praxis liefern sollte. Die Sammlung wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges ergänzt und kam aus den Be ständen des Zentralen Staatsarchivs der DDR in Potsdam in den Besitz des LAB.
56 I KANNIBALE-WERDEN
Gespräche Franz Siolis mit Peter Kürten sowie Auszüge denjenigen seines Kollegen Max Raether veröffentlicht.208 Da beide S ammlungen lediglich Ausschnitte unterschiedlicher Ausführlichkeit aus den jeweiligen B estän den darstellen, konnten diese zwar als Ausgangspunkt für weitere Recher chen genutzt werden, eine erneute Sichtung der Bestände war allerdings für die systematische Erarbeitung der Quellenbasis meiner Studie unbe dingt erforderlich.209 Über die hier diskutierten Straftaten und die Biographien der Täter werden an vielen Stellen in der Fachliteratur oder auch an anderen Orten, wenn nicht ganz und gar falsche, so doch häufig verfälschende Informati onen gegeben. Trotz einiger neuerer Arbeiten, die hier sehr gute und de tailgenaue Arbeit geleistet haben, halten sich einige dieser Fehlinforma tionen sehr hartnäckig.2\O Um hier für den Argumentationszusammenhang der Arbeit Eindeutigkeit herzustellen, werden die einzelnen Fälle sowie die Vorgeschichte der Täter an den dazu angezeigten Stellen etwas gen au er rekonstruiert, als dies vielleicht angesichts der Prominenz der in den Blick genommenen Kriminalfälle zunächst zu erwarten wäre. Wie zu sehen sein wird, waren die Strafverfahren gegen Sexualstraftä ter nicht die einzigen Verfahren, die im Untersuchungszeitraum gegen mutmaßliche Kannibalen und Kannibalinnen angestrengt wurden. So wur den beispielsweise 190811909 auf der Militärstation Iringa in der deut schen Kolonie Deutsch-Ostafrika (DOA) zunächst zehn, dann weitere sechs Personen wegen Kannibalismus zum Tode verurteilt. Informationen über Ablauf und Hintergründe des Verfahrens konnten aus den Synodalak ten der S ynode Hehe sowie den Personalakten der Berliner Missionsge sellschaft gewonnen werden, welche im Archiv des B erliner Missionswer kes (untergebracht im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv Berlin, ELAB) zu finden sind.2I1 Des Weiteren wurden Unterlagen aus den Akten des Reichskolonialamtes im Bundesarchiv B erlin-Lichterfelde (BAreh) 208 Vgl. PozsärlFarin (Hg.) 1996, S. 125-203 sowie Lenk/Kaever (Hg.) 1997, S. 102-230. 209 Aus den gleichen Gründen wird die Zitation entlang der archivalischen Signaturen geführt. 210 Ein besonders eklatantes Beispiel sei hier die Studie von Hannah Scott, The Female Serial Murderer, genannt. Hier mutiert Peter Kürten zu "Peter Kurtan", der seine Mordtaten seiner Frau ein Jahr früher gesteht als dies nach Aktenlage der Fall war (Scott, H. 2005, S. 31). Solide Quellenarbeit hingegen ist beispielsweise zu finden bei: Homrnen 1999a; Kompisch 2001102; Siebenpfeiffer 2005 sowie Brückweh 2006. Sorgfältig aus den Akten rekonstruiert haben auch Elisabeth Lenk und Katharina Kaever den Zeitlauf für den Fall Peter Kürten (Lenk/Kaever (Hg.) 1997, S. 333-335). 211 Siehe: Synodalakten der Synode Hehe 1908-1909 und 1909-1910, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw- l /6500 und bmw-1I6501 sowie Personalakte Nauhaus, earl jun. (Missionar), Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw-1/3779. Die 1824 gegründete Berliner Missionsgesellschajt trug vor 1908 einen anderen Namen: Gesellschaft zur Beförderung der Evangelischen Mission unter den Heiden.
PROBLEMAUFRISS I 57
sowie aus dem Nachlass des damaligen leitenden Offiziers der Militärsta tion Iringa, Ernst Nigmann (GStAPK), hinzugezogen.'" Zweitens gehören zum Quellenkorpus fachwissenschaftliche Publika tionen, in denen das Wissen vom Kannibalismus hergestellt wurde. Dabei findet eine schwerpunktartige Konzentration auf diejenigen Texte statt, die retrospektiv als Knotenpunkte innerhalb des diskursiven Feldes vom Kan nibalismus ausgemacht werden können. Damit bezieht sich die hier vorge legte Analyse vornehmlich auf diejenigen Publikationen, die besondere Wirkungsmächtigkeit dadurch entfaltet haben, dass viele andere Menschen sich immer wieder auf diese bezogen haben oder dadurch, dass sie von einer besonderen Sprechposition innerhalb des zeitgenössischen Machtbe ziehungsgeflechts geäußert wurden. Ziel ist es also nicht, einen repräsenta tiven Querschnitt durch das diskursive Feld zu erstellen, sondern die Re konstruktion des effektiven, hegemonialen Diskurses. Aus diesem Grunde werden dem Leser und der Leserin viele für ihr/sein Fachgebiet kanoni sche Texte begegnen: Georg Schweinfurths Im Herzen von Afrika, Wil helm Junkers und Eduard Schnitzers Reiseberichte, Cesare Lombrosos Der
Verbrecher, Richard von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis oder Erich Wulffens Der Sexualverbrecher,2 1 3 aber auch einschlägige fachwissen schaftliche Zeitschriften wie die Zeitschriftfür Ethnologie, der Globus, das Archiv für Kriminologie oder die Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. Gerade Fachzeitschriften, die als Forum einer fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung dienten, erwiesen sich als be sonders fruchtbares Quellenmaterial. Der dritte Bereich, aus dem Quellen herangezogen werden, ist derjeni ge der massenmedialen Darstellungen, vor allem die Printmedien. Es han delt sich hierbei erstens um Berichte in regionalen und überregionalen Ta ges- und Wochenzeitungen, die über die Mordserien, die Verhaftung und die Prozesse gegen die Straftäter sowie über als ähnlich wahrgenommene Straftaten berichteten und sich an eine breite Öffentlichkeit richteten.2l' Zu dieser Gruppe gehören neben den satirischen Zeitschriften Simplizissimus und Kladderadatsch unter anderem die Rote Fahne, die Vossische Zeitung, die Deutsche Allgemeine Zeitung oder auch der Vorwärts. Da die Diskus sion um die Straftäter politisch extrem aufgeladen war, wurde die Auswahl dabei bewusst so zugeschnitten, dass darin möglichst das gesamte politi sche Spektrum repräsentiert ist. An ein kleineres, aber immer noch großes Siehe: "Kannibalismus in Deutsch-Ostafrika", BArch R 1001/827; Nach lass Ernst Nigmann (1867 - 1923), GStAPK, IV. HA, NI Nigmann. 213 Schweinfurth 1918; Junker 1 889-91; Schnitzer 1888; Lombroso 1887; Krafft-Ebing 1993 (hier vorliegend der Wiederabdruck der 14. Auflage, Wien 1912); Wulffen 1928. 214 Diese waren zum einen in Form von Presseausschnitten über das gesichtete Archivmaterial greifbar, zum anderen systematisch mit Hilfe der Bestände der Abteilung für Publizistik an der Universität zu Köln sowie der Zei tungsabteilung der Staatsbibliothek BerUn. 212
58 I KANNIBALE-WERDEN
Publikum richteten sich zweitens selbständige Publikationen, in denen über die mutmaßlichen weißen Kannibalen und in ethischer und kulturso ziologischer Hinsicht über die Gründe und die Konsequenzen ihres Han delns reflektiert wurde. Zu dieser Gruppe gehört beispielsweise Theodor Lessings Darstellung Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs oder Ri chard Herbertz' Publikation Verbrecher-Dämmerung.2I5
2 1 5 Lessing 1 973 (erstmalig erschienen: Berlin: Die Schmiede, 1 925) sowie Herbertz 1 925. An dieser Stelle noch eine editorische Bemerkung: Hervor hebungen, die in den verschiedenen Originalen teils durch Unterstreichun gen, Sperr- oder Fett- oder Kursivdrucke angezeigt wurden, wurden in den zitierten TextsteIlen zur besseren Leserlichkeit einheitlich kursiv gesetzt. Dagegen wurde auf eine Vereinheitlichung der Rechtschreibung verzichtet, um nicht zu stark in die zitierten Quellen eingreifen zu müssen.
2 . Einverleibung: Koloniales Wissen vom wilden Ka n n ib a le n
Am 17. August 1909 schrieb Karl Axenfeld, Missionsinspektor der Berli ner Missionsgesellschaft, an das Reichskolonialamt: "Sehr geehrter Herr Geheimrat! Vor einigen Monaten brachte das Deutsche Ko lonialblatt eine ausführliche Schilderung über Menschenfresserei in Ubena (Be zirk hinga) und die Mitteilung, dass die geständigen Kannibalen zum Tode ver urteilt und hingerichtet seien. Mir war sofort die Sache bedenklich, weil m[eines].W[issens]. Menschenfresserei bei den Bena nicht vorkommt. [... ] Leider ist in dem vorliegenden Fall infolge eines unglücklichen Rechtsirrtums ein Todesurteil [. . . ] von europäischer Regierung ausgesprochen.'"
Was war geschehen? Etwa acht Monate zuvor, am 28. Dezember 1908, wurde auf der Militärstation Iringa in Deutsch-Ostafrika (DOA) in Form eines "öffentliche[n] Schauri"2 über die Bestrafung von zehn Indigenen wegen Mordes, Beihilfe zum Mord und Kannibalismus beraten. Haupt mann Ernst Nigmann fungierte als Stationschef in diesem Prozess qua Amt als Richter. In seinem B ericht an das Reichskolonialamt fasste Nig mann den vorliegenden Tatbestand wie folgt zusammen:
2
Brief Karl Axenfeld an [Max] Bemer, 17.8.1909, BArch R 1001/827, BII. 18-19, hier BI. 18-19. "Schauri" war eine aus dem Kiswahili stammende und vor allem in DOA übliche Bezeichnung für eine öffentliche Beratung, bei der sowohl indige ne als auch weiße Würden- und Amtsträger zusammentrafen, um Streit und Rechtsfragen zu klären (siehe: "Schauri", in: Schnee (Hg.) 1920, Bd. 3, S. 26 1). Wie Michael Pesek (Pesek 2005, S. 277-283) gezeigt hat, han delte es sich dabei um eine Kombination europäischer und indigener Ver fahrensweisen, welche von den weißen Kolonialherren oft zur Inszenie rung ihrer Kolonialherrschaft benutzt wurde.
60 I KANNIBALE-WERDEN "Der Mbena Malukansi ist das Haupt der Zauberbande und der Anstifter vieler Morde, er hat in erster Linie für die Verbreitung des Kannibalismus gesorgt. In nächtlichen Versammlungen hat er die angeklagten Weiber in der Anwendung des Giftes unterwiesen, dieses ihnen ausgehändigt und ihnen aufgetragen, die Gemordeten zu ihm zu bringen, um sie alsdann gemeinsam zu fressen.'"
Die Frauen, die Mitglied in der sogenannte "Zauberbande" werden woll ten, waren laut Nigmanns Bericht verpflichtet, ein Kind zu töten und die Leiche zu einer der nächtlichen Versammlungen zu bringen, wo das Fleisch von allen Anwesenden roh verzehrt wurde. Oft sollte es sich bei den Opfern der Frauen um deren eigene Kinder handeln. Der Kopf sei der Mörderin meist zurückgegeben worden, um daraus eine Schale zur Zube reitung weiterer Giftmischungen herzustellen: Am 28. Februar und am 29. März 1909 fanden erneut Prozesse gegen weitere sechs mutmaßliche Kannibalen und Kannibalinnen in Iringa statt. Alle insgesamt sechzehn Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. Zwei Personen starben in der Haft, bei allen anderen wurde das Urteil nach Bes tätigung durch den Gouverneur DOAs, Freiherr Albrecht von Rechenberg, vollstreckt.5 Woher nahm Hauptmann Nigmann die Gewissheit, dass es sich bei den Beschuldigten um Anthropophagen handelte? Auf welches Wissen griff er bei seiner Entscheidung zurück? Warum glaubte er, dass die Todesstrafe ein angemessenes Urteil für einen Kannibalismus darstell te, der aufgrund von Aberglauben begangen worden war? Diese Fragen führen uns unmittelbar in die Analyse der Verschrän kung der Produktion von Wissen und Macht in der kolonialen Situation und damit in den Gegenstandsbereich dieses Kapitels, das sich mit der Re konstruktion des Wissens vom wilden Kannibalen sowie der historisch spezifischen Situationen, in denen es produziert und effektiv wurde, be schäftigen wird. Hierzu werde ich im Anschluss an einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Wissen und Kolonialismus sowie zur Rolle der Kolonialisierten im Prozess der Wissensproduktion wie folgt vorgehen: Zuerst werde ich ausgehend von den Forschungsreisen Georg Schweinfurths, Eduard Schnitzers sowie Wilhelm Junkers die Herstellung dieses ethnologisch-anthropologisch geprägten Wissens rekonstruieren. Mein besonderes Augenmerk richtet sich dabei auf die Produktionsbedin gungen und die Interaktion von indigenem und europäisch-akademischem Wissen sowie die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in diesem Zusam menhang. Neben dem Entstehungszusammenhang dieses Wissens werde
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Öffentliches Schauri: In der Strafsache gegen das Mbena=Weib Mgalla u. Sendepera wegen Mordes, Beihülfe zum Morde und Kannibalismus [Pro tokoll der Vernehmungen und Urteilsbegründung], 28. 1 2. 1908, BArch R 10011827, BI!. 5-15, hier B!. 13. Ebd., BI!. 1 3- 14. Bericht [Max] Bemer, 16.3. 1 9 10, BArch R 1001/827, Bll. 40-46, hier Bll.
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EINVERLEIBUNG I 61
ich auch seine Tradierung in den für die Ethnologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts typischen kompilatorischen Werken der soge nannten " ,Lehnstuhlethnologen'" verfolgen.6 Anhand einer exemplari schen Analyse des damaligen Standardwerks Die Anthropophagie von Ri chard Andree werde ich demonstrieren, dass in diesen Studien in der für den kolonialen Rassismus typischen Doppelbewegung aus Herstellung einer ,rassischen' Differenz einerseits und Einordnung in normalistisches Kontinuum von Ab-/Normalität andererseits argumentiert wurde. Des Weiteren werde ich einen Blick auf die Auseinandersetzungen werfen, die sich um die zu Beginn des Kapitels angesprochenen Urteile gegen die mutmaßlichen Kannibalen und Kannibalinnen im B ezirk Iringa entzünde ten. Dabei werde ich demonstrieren, auf welche Art und Weise das Wissen vom wilden Kannibalen handlungsleitend werden konnte. Darüber hinaus werde ich, indem ich sowohl die Konfliktlinien zwischen den verschiede nen deutschen Kolonialakteuren, namentlich der Mission und der Kolonia ladminstration, als auch mögliche Spielräume der agency der Indigenen ausleuchte, der Frage nach der Funktion des Kannibalismusdiskurses im deutschen Kolonialprojekt nachgehen. Wie und zu welchem Ende argu mentierte wer mit dem Vorwurf oder dem Verdacht der Menschenfresse rei? Dabei wird deutlich werden, dass die diskursiven und non-diskursiven Praktiken, die sich um den wilden Kannibalen herum entfalteten, Teil ei nes biopolitischen Programms des deutschen Kolonialprojekts waren. Oder anders formuliert: Anhand dieser Analyse wird das deutsche Koloni alprojekt als biopolitisches Projekt erkennbar werden. Das Todesurteil ge gen den , Menschenfresserbund' in Iringa, so meine These, verweist auf den Versuch, eine koloniale Gouvemementalität zu etablieren, welche dar auf abzielte, die Lebensäußerungen der Bevölkerung nach rassistischen Kriterien zu kontrollieren, zu regulieren und zu organisieren.
2 . 1 Von d e n g r i m m i g e n Me n s c h e n f r e s s e r - L e u t h : W i s s e n , Ko l o n i a l i s m u s u n d Age n c y
Versch ränkung von Wissensproduktion und Kolonialismu s
Allgemein betrachtet i s t diese Frage nach der Verschränkung von Wissen und kolonialer Macht ein Thema, welches seit Edward Sai'ds wegweisen der Studie Orientalism immer wieder im Forschungsumfeld der Postcolo nial Studies diskutiert wurde und bis heute wird.' Ungeachtet all der zum
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Stagl 2003, S. 46. Siehe einführend dazu: Sprinker (Hg.) 1 993. Für den Einfluss von Sai'ds Werk auf die Historiographie: Washbrook 1999, S. 603-607 sowie als Bei spiel für die zuweilen im Ton polemische Kritik: Warraq 2007, besonders S. 1 8-54; Osterhammel 2001b, S. 249-265.
62 I KANNIBALE-WERDEN
Teil berechtigten Kritik an seiner Studie überzeugen einige seiner Kern thesen bis heute. Zwei davon sind für den hier vorliegenden Untersu chungsgegenstand besonders interessant. Erstens: "Orientalism [ . . ] is, .
rather than expresses, a certain will or intention to understand, in some cases to control, manipulate, even to incorporate, what is a manifestly dif ferent [ . . . ] world",' Und zweitens, dass das akademische Wissen vom Ko lonialisierten eng mit den administrativen und militärischen kolonialen Machtstrukturen verflochten war und zwar so eng, dass diese beiden Ele mente des Orientalismus sich gegenseitig beförderten und unterstützten.9 Während S aYd sich noch ausschließlich auf die Philologien konzent riert hatte, haben inzwischen eine Reihe neuerer Forschungen das Phäno men der Verzahnung von Wissenschaft und kolonialem Projekt, des "scientific colonialism", auch für andere Kontexte untersucht.!O So hat bei spielsweise Johannes Fabian demonstriert, dass Ende des 19. Jahrhunderts die Ethnologie oder auch Anthropologie eine ähnliche Leitfunktion in Be zug auf das Wissen vom Kolonialisierten übernahm wie zuvor die Orienta listik. 11 Statt der Orientalen standen nun jedoch die Wilden im Zentrum der akademisch-administrativen Neugierde. Nicht nur prägte die neue Wissen schaft den europäischen Kolonialismus, sie kann umgekehrt auch als sein
Produkt angesehen werden. 12
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Sa'id 2003, S. 12. Ebd., S. 1 5 . Hier vor allem z u nennen: Mitche1l 2003; Cohn 1996; Edney 1997. Für den deutschen Kolonialismus ist dieses Feld noch weitgehend unbearbeitet. Siehe dazu auch das Forschungsprojekt "Wissen und Herrschaft: Scientific colonialism in den deutschen und japanischen Kolonien, 1 884-1 937" (DFG SFB 700, Projekt B4, FU Berlin), http://www.sfb-govemance.de/teilpro jekte/projekte_phase_l/projektbereich_b!b4/sfb700_b4.pdf (28.1 2.2010). Die von mir referierte Verwendung des Begriffs vom scientific colonialism als Bezeichnung für einen Zusammenhang von Wissen und kolonialer Herr schaft gilt es von anderen zu unterscheiden. So kennzeichnet Woodruff D. Smith damit die Kolonialpolitik der Ära Dernburg, auf die ich im Folgen den noch genauer eingehen werde (Smith, W.D. 1978, S. 195, 2 1 8) . Zu seinen Ausführungen über die Verbindung von orientalistischem und anthropologischem Diskurs vom Anderen siehe: Fabian 1983, S. xiii, 101 1 , 123-1 3 1 . Er spricht dabei von "anthropology", welches im Englischen der übergreifende Begriff für zwei Forschungsbereiche darstellt, die im Deutschen sprachlich unterschieden werden: Ethnologie respektive Anth ropologie. Im englischen Sprachgebrauch wird die entsprechende Diffe renzierung mit "social anthropology" und "biological anthropology" ge kennzeichnet. Mehr zu der Differenzierung und ihrem historischen Entste hungszusammenhang im weiteren Verlaufe dieses Kapitels. Zur zentralen Rolle der Ethnologie als Wissenschaftspraxis bei der Produktion von Alte rität siehe: Reuter 2002, S. 20, 1 39-186. Siehe: Fabian 1983, S . 143- 144. Dieser Wandel beinhaltete gleichzeitig auch strukturelle Kontinuitäten. So starteten beispielsweise die ethnologi schen und anthropologischen Forschungsreisen in das Innere des afrikani schen Kontinents zumeist in Ägypten, da hier die notwendige Infrastruktur
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Dabei gilt es zu beachten, dass, obgleich Fabian oder Sald sich auf die Analyse akademischer Wissenschaften konzentrieren, Wissen im Ver ständnis desjenigen Wissenschaftlers, auf den sich beide berufen, den französischen Philosophen Michel Foucault, weitaus mehr beinhaltet als nur universitäres Lehrbuchwissen. Für Foucault bezeichnet der Begriff allgemein formuliert "das, wovon man in einer diskursiven Praxis spre chen kann". !3 Damit überschreitet Wissen sogar die Summe dessen, was in einer bestimmten historischen Konstellation als wahr angesehen wird. Vielmehr bildet es "die Gesamtheit der Verhaltensweisen, Eigentümlich keiten und Abweichungen", über die Aussagen gebildet werden können. Gleichzeitig markiert es den "Raum, in dem das Subjekt die Stellung ein nehmen kann, um von Gegenständen zu sprechen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat."!4 Wissen ist damit nicht notwendig ein wissenschaftli ches, jedoch ist dies eine mögliche diskursive Praxis, in der Wissen herge stellt werden kann. J5 Entsprechend begreife ich Wissen im Kontext des Kolonialismus einerseits als eine Formation aus "diskursiven und nicht diskursiven" Elementen, die nicht in einem dualen Verhältnis zueinander standen, sondern "sich aufteil[t]en oder sich segmentweise verschränk[t]en (ohne ineinander aufzugehen oder sich zu ähneln. . . usW.)."!6 Gleichzeitig verstehe ich Wissen als einen wesentlichen Bestandteil kolonialer Gouver nementalität, die auf die Neuorientierung und Restrukturierung aller Le bensäußerungen der kolonialisierten Bevölkerungen abzielte. Diese Form der Gouvernementalität zielte, wie David Scott formuliert, "at the destruc tion and reconstruction of colonial space so as to produce not so much ex tractive-effects on colonial bodies as governing-effects on colonial con duct."17 Lange Zeit übersehen, aber nun zunehmend im Blickfeld der For schung, ist dabei die agency der Kolonialisierten.18 Agency, eines der zent ralen Konzepte aus dem theoretischen Werkzeugkasten der Postcolonial Studies, bezeichnet dabei die Handlungsmächtigkeit der Kolonialisierten innerhalb der kolonialen Situation. Ganz ähnlich wie beim Konzept des "Eigensinns" der Alltagsgeschichte besteht eine der zentralen Schwierig keiten darin zu bestimmen, ob sich hinter den Handlungen gesellschaftlich
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für die europäischen Reisenden zur Verfügung stand. Dazu: Essner 1985, S . 1 6-17. Foucault 1997, S . 259. Ebd., S . 259. Ebd., S. 260. Zur Bedeutung des Kaiserreiches als "Schanierphase" für eine solche ",Durchverwissenschaftlichung' aller Lebensbereiche" siehe: Szöllösi-Janze 2004, S. 286-300, Zitat S. 286. Deleuze 1 996, S. 14 (Auslassungszeichen i m Original). Scott, D. 2005, S . 3 5 . Siehe dazu: Eckert 1 999, S. 448 (Formulierung des Forschungsdefizits) sowie mit Fokus auf die indigenen Eliten: Wirz 2003, S. 1 0- 1 9 ; Ecken 2007, S. 19-22.
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Marginalisierter mehr verbirgt als "der pure Schattenwurf bestehender Abhängigkeit"Y Aus Perspektive der Postcolonial Studies, die eng mit der Theoriebildung Michel Foucaults verbunden sind, stellt sich die Frage, wie kann das Subjekt, selbst Diskurs- und damit Machteffekt, den Diskurs bestimmen? Homi K. Bhabha, der einen der zentralen Vorschläge zur Lö sung dieses Problems gemacht hat, arbeitet die Ambivalenz des kolonialen Diskurses beziehungsweise kolonialer Machtstrukturen heraus und betont: "agency requires a grounding, but it does not require a totalization of those grounds; it requires movement and manoeuvre, but it does not require a tempo rality of continuity or accumulation." 2o In diesem Sinne steht hinter dem Konzept der
agency nicht die sozialro
mantische Annahme eines priviligierten Zugangs zu einer tieferen Wahr heit durch die Verdammten dieser Erde,z' sondern zwei grundsätzliche Überlegungen. Erstens, wenn Macht im Sinne Foucaults in allen sozialen Beziehungen präsent ist und diese strukturiert, dann kann sie am eindrück lichsten anhand der Analyse von Mikrophysiken untersucht werden. Zwei tens, dass in diesen, stets verrnachteten Beziehungen alle Akte, auch die der gesellschaftlich Marginalisierten Wirkungsmächtigkeit haben.22 Eine Umkehrung des B lickwinkels ist daher angezeigt, um die Wechselseitig keit von Machtbeziehungen beschreiben zu können. Agency ist damit ein Faktor, der auch im Prozess der Herstellung von Wissen berücksichtigt werden muss. Die vielfältige Mitwirkung der Kolonialisierten war, sei es durch Vermittlung und Übersetzung, durch Bereitstellung von Infrastruk tur oder lokalem Wissen - so werde ich im Folgenden demonstrieren auch für das Wissen vom Kannibalismus entscheidend. Weltaneignung ohne Kolonialismus? Spezifika der deutschen Ethnologie
Wissen vom Kannibalismus hatte zu Nigmanns Lebzeiten eine lange Tra dition. Bereits in der Antike, für uns heute greifbar in Werken wie Hero dots Historien, etablierte sich die Gewissheit: Hinter den Grenzen der be kannten Welt leben Menschenfresser.23 Reisende, Abenteurer und Missio nare der Frühen Neuzeit nahmen diese durch die Renaissance wieder auf gefrischte Gewissheit als kulturelles Gepäck mit auf ihre Reisen, über die 19 20 21
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Lüdtke 1 994, S. 1 4 1 . Siehe: Bhabha 200 1 , S. 1 82- 1 8 5 , Zitat S. 185. S o der deutschsprachige Titel von Franz Fanons wegweisendem Werk Les Damnes de la Terre (Fanon 200 1), das häufig fälschlicherweise mit einer solchen Herangehensweise identifiziert wird. Siehe: Foucault 1 983, S. 1 13-1 15; Foucault 1999, S . 38-39. Siehe: Herodotus 2004, I, 216 (Massageten), IV, 26 (Issedonen), IV 64-65 (Skyten), IV, 1 06 (Androphagen).
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sie später in Reiseberichten erzählten. Der Kannibale oder die Kannibalin spielte in diesen Erzählungen häufig eine zentrale Rolle, wenn es um die Schilderung der indigenen B evölkerungen ging.2' Die Entdeckungsreisen der Europäer und Europäerinnen setzen sich fort, und es entwickelte sich eine literarische Gattung, deren Werke heute als Vorläufer ethnologischer Feldforschung angesehen werden.25 Deutschsprachige Texte waren an der Produktion dieses Kannibalis musdiskurses von Anfang an beteiligt, so beispielsweise durch Hans Sta dens Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen, deren erste Fassung 1557 veröffentlicht wurde,26 Georg Forsters Reise um die Welt von 1778-80 oder Ida Pfeiffers Meine zweite Weltreise von 1 856, um nur einige besonders prominente Beispiele zu nennen.27 Vie le dieser Berichte erschienen zuerst in anderen europäischen Sprachen, vorzugsweise in Englisch.28 Auf diese Weise wurden die Ergebnisse der deutschen Forschung in einen internationalen Zusammenhang eingespeist, während umgekehrt vom deutschen Fach- und Laienpublikum Überset zungen britischer oder französischer Reisender rezipiert wurden.29 In die sem Sinne kann der Kannibalismusdiskurs als ein europäischer Diskurs bezeichnet werden, der dennoch jeweils eng mit den einzelnen nationalen Kolonialprojekten verknüpft war. Als Wissenschaft vom außereuropäi schen Fremden und in der Tradition dieser Reiseberichte stehend, habe die Ethnologie nicht nur eine zentrale Rolle in der Herstellung des Wissens vom Kannibalismus gespielt, sondern auch für den europäischen Kolonia-
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Siehe: Arens 1987, S. 22-3 1 , 43-80; Hulme 1992, S. 14- 17; Obeyesekere 2005, S. 2-9; Schülting 1997, S. 87-109; Kiening 2006, S. 144- 157. Zur Bedeutung und Interpretation von Reiseberichten in ihrem jeweiligen historischen Kontext vorbildhaft: Pratt 2000; Greenblatt 1998 sowie für den deutschen Kontext einschlägig: Berman 1998, S . 21 -64; Gingrich 2005a, S. 66-68. Als neueste kritische Quellenausgabe siehe: Staden 2007. Eine Imagedatei im pdf-Format des Exemplars der Erstausgabe von Stadens Bericht im Be stand der Universitätsbibliothek Göttingen ist online einsehbar über: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/en/index.html (28. 10.2010). Siehe: Forster 2007 sowie Pfeiffer 1856. Pfeiffers Bericht wurde 1 993 un ter dem Titel Abenteuer Inselwelt. Die Reise 1851 durch Borneo, Sumatra und Java (Pfeiffer 1993) wieder veröffentlicht, allerdings leicht gekürzt, so dass hier auf die Originalausgabe zurückgegriffen wurde. Die Beispiele reichen von Forsters A Voyage Round The World ( 1777); Pfeiffers Lady's Second Journey Round the World (1 856); Schweinfurths The Heart 0/Ajrica ( 1873) bis zu Gehrts' A Camera Actress in the Wilds 0/ Togoland ( 19 1 3). Ein besonders prominentes Beispiel dafür, auf das ich im Folgenden noch genauer zurückkommen werde, ist der Reisebericht Henry Morton Stanleys von seiner Suche nach Eduard Schnitzer (Emin Pascha) Im dunkelsten Af rika (Stanley 1 890).
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lismus insgesamt, so der Tenor der Forschung.30 Wie Dirk von Laak argu mentiert, war die damit verbundene "Expansion der Wissenschaft" inhä renter Bestandteil imperialistischer "Weltaneignung".JI Hinsichtlich der deutschen Ethnologie ist an dieser Interpretation aller dings Differenzierungsbedarf angemeldet worden. Die Tatsache, dass deutsche Reisende sowie Naturforscherinnen und -forscher lange vor 1 884 weltweit und in internationalen Forschungskontexten agierten, sei ein Ar gument dafür, dass die deutschsprachige Ethnologie unabhängig von nati onalstaatlichen Kolonialisierungsbestrebungen und frei von rassistischen Prämissen agiert und geforscht habe.32 "German anthropology was neither characterized by colonial concems, nor inter ested in organizing the world's peoples according to evolutionary sequences. Instead, it was a self-consciously liberal endeavor, guided by a broadly humanis tic agenda and centered on efforts to document the plurality and historical speci ficity of cultures.'<3l
Das zweite Argument, welches in diesem Zusammenhang ins Feld geführt wird, ist der starke Bezug der deutschsprachigen Ethnologie auf das von Johann Gottfried Herder ( 1744- 1 803) entworfene Modell des kulturellen Puralismus, welches explizit im Gegensatz zu den aufklärerischen Ent wicklungs- und Zivilisationstheorien gestanden habe. Aus diesem habe sich das Ziel der Erforschung eines je spezifischen , Volksgeistes ' entwi ckelt, das für die deutsche Ethnologie prägend gewesen sei. Als Hauptver treter und Nestoren der deutschen Ethnologie werden in diesem Zusam menhang Rudolf (Ludwig Karl) Virchow ( 1 82 1 - 1902) und (Philipp Wil helm) Adolf Bastian ( 1 826- 1905) genannt. 34 Erst ab dem Ende des Ersten Weltkrieges habe sich das Fach von seinem liberalen "metropolitan herita ge" ab- und biologistischen, sozialdarwinistischen und ,rassehygienischen' Ansätzen zugewandt. Dieser Umbruch sei ein Spezifikum der deutschen Ethnologie, die sich, anders als die französische oder britische Anthropo logie, erst spät einen biologistisch-hierarchischen Begriff von Rasse zu Eigen gemacht habe.35
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Siehe: Stocking 1978; Fabian 1 983, S. 143-144; Thomas 1994, S. 6-7, 7990 sowie die Beiträge des Sammelbandes Anthropology and Colonialism (van Bremen/Shimizu (Hg.) 2000). van Laak 2005, S . 12 sowie 22-26. Siehe: BunzllPenny 2003, S . 14-15; Gingrich 2005b, S. 84-85. BunzllPenny 2003, S . 1 . Siehe: BunzllPenny 2003, S. 1 1 - 1 3 ; Kramer 1995, S. 86-97; Gingrich 2005a, S. 68-75 sowie Gingrich 2005b, S. 84-92. BunzllPenny 2003, S. 2; Penny 2002, S. 1 10-124; Grosse 2003, S. 1 82. In diesem Sinne auch: Weindling 1989, S. 48-57; Massin 1996, S. 94-106. Proctor (Proctor 1 988, S. 1 38-243) verortet den eigentlichen Umschwung hin zum Paradigma ,Rasse' sogar in den 1 920er Jahren. Allgemein zum
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Neuere Forschungen stellen diese Interpretation wiederum in Frage und verweisen auf die zunehmenden Verstrickungen der Disziplin in das deutsche Kolonialprojekt.36 Demnach sei der Paradigmenwechsel im Fach mit dem Beginn des nationalen Kolonialprojekts zusammengefallen und habe sich besonders in solchen Kontexten bemerkbar gemacht, in denen über biopolitische Aspekte des Kolonialismus diskutiert wurde: die Akklimatisierungs- sowie die sogenannte Mischehendebatte, Letzteres vor allem in Bezug auf die Siedlungskolonie Deutsch-Südwestafrika (DSWA).37 Häufig waren die in diesen Kontexten aktiv Forschenden aus gebildete Mediziner und Medizinerinnen, die gleichzeitig über biopoliti sche Projekte im Mutterland selbst diskutierten, so beispielsweise der oben bereits genannte Rudolf Virchow.38 Besonders Andrew Zimmerman hat jüngst dafür argumentiert, dass dieser Wandel und die Entstehung einer deutschen Anthropologie eng mit dem deutschen Kolonialprojekt verzahnt gewesen seien. Ausgehend von einer Analyse der Verfügungsgewalt über indigene Körper, welche einer seits die Anthropologie dringend benötigte, um ihre Forschungen durch führen zu können, und andererseits der Kolonialadministration Wissen zu Kategorisierung, Kontrolle und Ordnung eben dieser Körper zur Verfü gung stellte, hält Zimmerman fest: "The discipline [00'] depended on, and gave meaning to, the institutions of colonial violence, including prisons, battlefields, and concentration camps."39 Entsprechend sei, so Zimmerman weiter, zwischen einer traditionellen deutschen Ethnologie und dem sich Ende des 19. Jahrhunderts neu heraus bildenden internationalen Forschungsfeld der Anthropologie zu unter scheiden, die ein jeweils anderes Verständnis von den sogenannten ,Na turvölkern' entwickelt hätten. Für die Vertreter und Vertreterinnen des anthropologischen Zugangs hätten diese als Verkörperungen einer frühe-
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Einfluss Herders siehe: Stagl 2003, S. 43 sowie Petermann 2004, S. 309324. Mit Blick auf die Involvierung der Ethnologie bzw. Anthropologie in die Vernichtungspolitiken des NS-Regimes ist dies eine geschichtspolitisch sehr bedeutsame Wendung. Diese zielt auf die Erforschung einer mögli chen Kontinuität zwischen genozidalen Praktiken im Kolonialismus und des Nationalsozialismus und schließt damit an grundlegendere For schungsdebatten um die Bedeutung der Kolonialerfahrung für die Vemich tungspolitik der Nationalsozialisten an, die sich in den letzten Jahren ent wickelt hat. Siehe dazu: Kundrus/Strotbek 2006 sowie Kundrus 2006a. Zimmerman 200 1 , S. 38-6 1 ; Grosse 2003, S. 1 80, 193; Grosse 2000, S. 3552. Diese Beobachtung korrespondiert mit Ergebnissen der Forschung zu anderen Siedlungskolonien, beispielsweise Australien. Siehe: Wolfe 1999, S. 3-7, 43-68. Die deutsche Akklimatisierungsdebatte wird im folgenden Kapitel ausführlicher dargestellt. Siehe: Weindling 1 989, S. 55-57. Zimmerman 2003, S. 156-157 (Zitat), 172; Zimmerman 200 1 , S. 7, 1 571 7 1 sowie Hund 2009.
68 I KANNIBALE-WERDEN
ren Entwicklungsstufe der Menschheit gegolten, während sie aus der Sicht der traditionellen Ethnologie außerhalb jeder Geschichtlichkeit gestanden hätten, welche als das exklusive Charakteristikum zivilisierter , Kulturvöl ker' angesehen worden sei:o Statt Evolution sei die Opposition Natur Kultur das erkenntnisleitende Paradigma gewesen. Die Anthropologie hin gegen habe sich im Gegensatz zur Ethnologie nicht mit der Rekonstruktion verschiedener Kulturen, sondern mit der Erforschung der vermuteten phy siologischen Grundlagen ,rassischer' Differenz befasst. Zu ihren zentralen Methoden gehörte die Anthropometrie, die Aufnahme biometrischer Daten und hier vor allem die Kraniologie.4I Es kann nicht die Aufgabe der hier vorliegenden Studie sein, die Fra ge, welcher der Erklärungsansätze für den Wandel des Faches der schlüs sigere ist, abschließend zu klären. Gleichwohl ist es notwendig, die histori sche Umbruchsituation, in der sich das Fach
am
Ende des neunzehnten
und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts befand, als Spezifikum der deutschsprachigen Ethnologie bei der Rekonstruktion des Wissens vom
wilden Kannibalen, speziell bei seiner historischen Verortung, zu berück sichtigen. Dabei ist zu bedenken, dass die beiden Ansätze in der For schungspraxis nicht so trennscharf verfolgt wurden, wie es nach dieser kurzen wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion den Anschein haben könnte. Häufig wurden keine klaren begrifflichen Abgrenzungen vorge nommen, und selbst einer der Nestoren der Ethnologie, Adolf B astian, ging davon aus, dass die Methoden beider Ansätze legitim seien, auch wenn er selbst keine Körpervermessung durchführte:2 Rudolf Virchow war seinerzeit ein enthusiastischer Sammler von Menschenschädeln zum Zwecke der kraniologischen Vermessung und initiierte ein Forschungspro jekt zur systematischen Vermessung von Schulkindern, um die ,rassische' Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung zu ermitteln." Wir können also eher von zwei verschiedenen Perspektiven innerhalb eines For schungszusammenhangs sprechen, die sich gegenseitig ergänzten und in tellektuell beförderten, denn von zwei getrennten Fachdisziplinen. Dies ist eine Einschätzung, die meine folgenden, exemplarischen Analysen ein schlägiger Reise- und Expeditionsberichte bestätigen werden.
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Siehe: Zimmerman 200 1 , S. 7; Zimmerman 2003, S . 1 6 1 . Siehe dazu: Massin 1 996, S. 106-1 14; Proctor 1 988, S . 140-142; Theye 1985, S. 12-14. Die Kraniologie ist zu unterscheiden von der Phrenologie, in der aus der Vermessung und Beobachtung des Schädels Schlüsse auf Gemüt und psychische Eigenschaften eines Menschen gezogen wurden. Dieses Feld wurde im deutschsprachigen Raum v.a. mit dem Namen Franz Josef Gall (1758-1828) verbunden. Siehe Zimmerman 200 1 , S. 86-107. Siehe: Ackerknecht 198 1 , S. 212-216; Zimmerman 200 1 , S. 1 35- 146; Goschler 2002, S. 336-345; Zimmerman 2003, S . 167-168.
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Weder Phantasma noch I magination : Agency und I nteraktion in der Produktion des Wissens vom wilden Kannibalen
Das Wissen vom Kannibalismus, oder genauer formuliert die Äußerung des Vorwurfs, Angehörige der eigenen oder einer fremden sozialen Grup pe betreibe Menschenfresserei, war und ist keineswegs auf Europäerinnen und Europäer beschränkt. Stärker als dies bislang in der Forschung zur Geschichte des Kannibalismusvorwurfs gegenüber kolonialisierten Bevöl kerungen geschehen ist, werde ich im Folgenden das indigene Wissen vom Kannibalismus und besonders die Interaktion zwischen Kolonisierenden und Kolonialisierten bei der Produktion des Wissens vom wilden Kanniba len berücksichtigen. Ich greife dabei eine Beobachtung der Afrikanistin Heike Behrend auf, die davon ausgeht, dass "die Bilder von Kannibalen in Afrika [ . . .] weder als rein westliches Phantasma noch als nur afrikanische, lokale Imaginationen gesehen werden [können] . Sie entstanden in einem Raum interkultureIIer Begegnungen, im Kontext von wech selseitigen, oft gegnerischen, sich jedoch verschränkenden Intentionen und Stra tegien.""
Mein Ziel ist es, die einleitend kritisierte Vorstellung einer unidirektiona len Konstruktion des kannibalischen Anderen durch Europäer und Europä erinnen aufzugeben und stattdessen meine Aufmerksamkeit auf die Bezie hungen und Aushandlungsprozesse zu richten, in denen die Konstruktion vom wilden Kannibalen hergestellt wurde. Aus der Berücksichtigung der agency der Kolonialisierten in der Pro duktion des Wissens vom Kannibalismus ergibt sich allerdings ein starker Differenzierungsbedarf nicht nur nach nationalem, sondern vor allem auch nach regional-kolonialem Kontext, da wir davon ausgehen müssen, dass sich aus verschiedenen kolonialen Situationen unterschiedliche Varianten der Konstruktion vom Kannibalen bildeten. Die Interaktion von Indigenen mit Forschungsreisenden, die im Tross von nubischen Elfenbein- und Sklavenhändlern reisten, war eine andere als die mit Missionaren und Mis sionarinnen, die sich dauerhaft niederließen und versuchten, die Kultur der einheimischen Bevölkerung zu verändern, um nur zwei Beispiele von vie len zu nennen. Dies gilt es in einer Analyse entsprechend zu berücksichti gen. Viele indigene Bewohner und Bewohnerinnen der deutschen Kolonien standen von Seiten der Kolonialmacht unter dem dringenden Verdacht, Menschenfleisch zu verzehren. Fast schon umgekehrt proportional zu Größe und Bedeutung für das deutsche Kolonialprojekt wurden besonders häufig die Einwohner und Einwohnerinnen Papua-Neuguineas mit Men schenfresserei in Verbindung gebracht. Sowohl Forschungsreisende als 44
Behrend 2004, S. 165.
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auch Missionsangehörige berichteten immer wieder über Anthropopha gen.45 Darüber hinaus hatte, wie Bernd Leicht in seiner Dissertation Kan nibalen in Deutsch-Neuguinea dargelegt hat, der Kannibalismusvorwurf eine zentrale Funktion bei der Legitimation von Strafexpeditionen der Ko lonialadministration, die der Beschaffung von Zangsarbeiterinnen und -arbeitern dienten, welche als Arbeitskräfte zur Durchführung von infra strukturellen Großbauprojekten dringend benötigt wurden:6 Menschen fresserei wurde hier vor allem als rituelle oder in die Sitten und Gebräuche der B ewohner und Bewohnerinnen eingebundene Anthropophagie wahr genommen, gegen die von Seiten der weißen Kolonialherren mit drakoni schen Strafmaßnahmen durchgegriffen werden musste, um sie im Sinne einer kolonialen Zivilisierungsmission zu beseitigen.'7 Wie im weiteren Verlauf meiner Untersuchungen zu sehen sein wird, stand jedoch bei den späteren Auseinandersetzungen um die Kannibalen im kolonialen Mutterland, sei es bei der Diskussion um die französischen Besatzungstruppen im Rheinland, sei es in B ezug auf die Sexualstraftäter in der Zeit der Weimarer Republik, eine bestimmte Konstruktion als Refe renzpunkt im Zentrum der Debatten: der wilde Kannibale. Hierbei handel te es sich um eine Männlichkeitskonstruktion, die durch ihre animalische Instinkthaftigkeit, ihre Impulsivität und unkontrollierbare Gier sowie ihren Hang zum Aberglauben gekennzeichnet war und als eine Verkörperung der evolutionären Vergangenheit der Menschheit galt. Diese Konstruktion, so werde ich im Folgenden demonstrieren, entstand aus der Interaktion zwischen männlichen, europäischen Forschungsreisenden und Angehöri gen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen Zentralafrikas sowie deren Nachbarinnen und Nachbarn. Ihre Grundzüge wurden bereits etabliert,
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Ein Themenfeld, zu dem in den letzten Jahren einige Forschungsliteratur erschienen ist. Zu nennen sind hier in erster Linie die Studien von Leicht 2000; Ottow/Ottow 2004; Minden 1984, hier besonders S. 74-75; Gründer 2004c sowie die Arbeiten von Simon Haberberger (Haberberger 200 1 , ders. 2003 und ders. 2007). Dabei ist z u beachten, dass Haberberger das . ihm vorliegende Quellenmaterial oft ohne historische Quellenkritik bear beitet. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Untersuchungszeitraum wie die von Richard Andree fasst der Autor als Sekundärliteratur auf, anstatt die darin vertretenen Positionen in den historischen Kannibalismusdiskurs ein zuordnen. Auf diese Weise reproduziert Haberberger den Diskurs vom wilden Kannibalen, den er in den Quellen vorfindet. Darüber hinaus fehlt jenseits von Arens The Man Eating Myth die Rezeption einschlägiger eng lischsprachiger Fachliteratur zum Thema Kannibalismus in der Südsee (z.B. die Arbeiten von Hulme oder Obeysekere). Stattdessen arbeitet Ha berberger sich an Arens ' Thesen ab, die - wie oben dargestellt - in der Forschung schon lange differenzierter betrachtet werden (siehe Haberber ger 2007, S. 6-14). Methodisch und inhaltlich fällt seine Arbeit damit hin ter den in der internationalen Forschung etablierten Diskussionsstand zu rück. Siehe: Leicht 2000, S. 159. Siehe: Ebd., S. 9 1 , 96, 1 57 .
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bevor die deutsche Kolonialherrschaft in Mrika errichtet worden war, während der ersten Forschungsreisen deutscher Wissenschaftler in das In nere des afrikanischen Kontinents. Es handelt sich dabei um ein Gebiet, welches später jenseits der deutschen Schutzgebiete liegen sollte. In die sem Sinne verstehe ich unter dem kolonialen Wissen vom wilden Kanni balen diejenige Formation aus ineinander verschränkten diskursiven und non-diskursiven Elementen, die aus der Interaktion zwischen deutschen Kolonisatoren und verschiedenen Gruppen von Indigenen in Zentral- und Ostafrika am Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstand.
2 . 2 A b e rg l a u b e , R a c h e , G i e r : Da s W i s s e n vom
wilden Ka n n ib a len Kannibalenherrscher und Azandekrieger: Der Bericht Georg Schweinfurths "Die Anthropophagen rühmen sich selbst vor aller Welt ihrer wilden Gier, tragen voll Ostentation die Zähne der von ihnen Verspeisten, auf Schnüre gereiht, wie Glasperlen am Halse und schmücken die ursprünglich nur zum Aufhängen von Jagdtrophäen bestimmten Pfähle bei den Wohnungen mit Schädeln ihrer Op fer. "48
Mit diesen Worten beschrieb der Botaniker und Afrikareisende Georg Schweinfurth ( 1 836- 1925) die Azande Zentralafrikas, die im Anschluss
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seinen Bericht zum Paradebeispiel für afrikanische menschenfressende ,Wilde' werden sollten.49 Schweinfurth, im deutschen Koloniallexikon von 1920 als einer der "bedeutendsten Mrikaforscher" gerühmt, wuchs in Riga als Sohn einer Kaufmannsfamilie auf.'o Nach Abschluss seiner naturwis senschaftlichen Studien in Heidelberg, München und Berlin unternahm er mehrere Afrikareisen.'l Eine davon führte ihn 1 869- 1 87 1 im Auftrag der
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Schweinfurth 1 9 1 8 , S. 296. Auch wenn aus Perspektive der heutigen Ethnologie große Bedenken ge genüber dem Wahrheitsgehalt seiner Beschreibung angemeldet werden, siehe: Marx 1989, S. 69-70; Essner 1985, S. 8 1 -85. "Schweinfurth, Georg August", in: Schnee 1920, Bd. 3, S. 327. Siehe auch: Guenther 1 954; Haberland 1980. Zur Problematisierung der zum Teil infla tionären Zu schreibung von Berühmtheit bei Afrikareisenden siehe: Essner 1985, S. 47-50; Fiedler 2005, S. 1 36-142. Schweinfurth gründete außerdem 1 872 die Ä gyptische Geographische Ge sellschaft in Kairo und wurde später Generaldirektor der Kairoer Museen und Sammlungen. 1 867 wurde er zum Mitglied (ab 1925 Ehrenmitglied) der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie des Koloni alrats ernannt. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen neben Im Herzen Afrikas (Schweinfurth 1 9 1 8) auch sein Beitrag zur Flora Ä thio-
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Humboldt-Stiftung zur Erkundung des oberen Nils in das Innere des Kon tinents. Er veröffentlichte einen Bericht über diese Reise, der auf Deutsch zum ersten Mal 1 874 unter dem Titel Im Herzen von Afrika publiziert, schnell zu einem Beststeller wurde und bis in die 1920er Jahre in mehreren Auflagen erschien. 52 Auf der Suche nach unbekannten Pflanzen und den Anthropophagen Zentralafrikas durchquerte Schweinfurth unter anderem die Einzugsgebiete der Flüsse Uelle und B ahr al-Ghazal, ein Gebiet das heute auf dem Gebiet der Demokratischen Republik Kongo, des Sudans und der Zentralafrikanischen Republik liegt. Schweinfurth bezeichnete seine Unternehmung als eine "Reise ,an ' s Ende der Welt"'. 53 Dies war eine klassische Trope des europäischen Kannibalismusdiskurses, wie Peter Hulme bemerkt: "cannibalism marked the world beyond European know ledge".54 Es handelte sich bei Schweinfurths Unternehmung allerdings nicht um eine extra zu Forschungszwecken ausgerüstete und entsandte Expedition, vielmehr begleitete er Mohammed Abd-es-Ssammat, einen arabisch spre chenden, muslimischen Sklaven- und Elfenbeinhändler aus Khartum, auf dessen Reise in das Landesinnere. Schweinfurth wurde Teil dieser Kara wane und war eine von den Afrikanerinnen und Afrikanern immer wieder bestaunte Kuriosität, die unter dem Schutz Abd-es-Ssammats stand. Erst dieser Status garantierte neben seiner Sicherheit auch die Kooperation der Indigenen, die Schweinfurth zur Durchführung seiner botanischen und anthropologischen Forschungen dringend benötigte. 55 Er nutzte auf diese
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piens (Schweinfurth 1 867) sowie die zweisprachig (Englisch/Deutsch) er schienene Studie Artes Africanae (Schweinfurth 1 875). Im Herzen von Afrika. Reisen und Entdeckungen im centraten Aequatoriat Afrika während der Jahre 1 868 bis 1871 erschien erstmals Leipzig: Brock haus 1 874. Hier vorliegend die 3., verbesserte Auflage (Schweinfurth 1 9 1 8), die anlässlich seines achtzigsten Geburtstages veröffentlich wurde. 1927 erschien posthum eine gekürzte Ausgabe dieser Fassung, ebenfalls im Brockhaus-Verlag. Darüber hinaus wurde sein Bericht ins Französische, Italienische sowie Türkische übersetzt und es erschienen eine griechische . und eine arabische Bearbeitung seines Textes (siehe: Schweinfurth 1 9 1 8, Vorwort zur 2. Aufl., S. ix). Schweinfurth war sich der Bestsellerqualitäten seiner Darstellungen durchaus bewusst und war auch gewillt, entsprechen de Erwartungen nach Exotik und Abenteuer auf Seiten seiner Leserinnen und Leser zu erfüllen. Besonders die zweite Auflage, in der die ethnogra phisch-beschreibenden Elemente gegenüber den erzählerischen Anteilen zurücktraten, zeugt hiervon (siehe: Essner 1 985, S. 1 1 1 -1 12). Zur Auflö sung der Grenzen zwischen wissenschaftlichem Bericht und Abenteuerlite ratur generell: Fiedler 2005, S. 124- 1 5 1 . Schweinfurth 1 9 1 8, S. 217. Schweinfurth gehörte zu der dritten Generation von Afrikareisenden, die Cornelia Essners kollektivbiographische Studie zu Afrikaforschern des 19. Jahrhunderts identifiziert (siehe: Essner 1985, S . 56). Hulme 1998, S. 3 . Indigene widersetzten sich vielfach den schmerzhaften Prozeduren der anthropometrischen Vermessung oder auch entsprechenden fotographi-
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Weise die etablierten Handelswege, das infrastrukturelle Netzwerk sowie die geographischen Kenntnisse des von arabisch sprechenden Händlern dominierten Elfenbeinhandels, der zu diesem Zeitpunkt mit einem florie renden Sklavenhandel einherging. Diese Vorgehensweise war, wie Micha el Pesek und Cornelia Essner demonstriert haben, charakteristisch für die Phase des deutschen Kolonialismus in Ost- und Zentralafrika vor und zu Beginn der offiziellen Kolonialpolitik des Kaiserreiches.56 Nur durch die Anpassung an und die Nutzbarmachung indigener Kulturtechniken und Kenntnisse, ganz besonders des Karawanenhandels, war es den Deutschen möglich, ins Landesinnere vorzudringen. 57 Schweinfurth begegnete in dem genannten Gebiet den von ihm ge suchten "Niamniam" oder "A-Sandeh" (heute: Azande) sowie den "Mang battu" (heute: Mangbetu). Die Azande beschrieb Schweinfurth als äußerst wild und kriegerisch sowie als abergläubisch." Sie trugen für ihn durch und durch den "Charakter eines kriegerischen Jägervolkes"." Nach seinen Beobachtungen hatten die Azande, von denen wir heute wissen, dass sie von 1 860 bis etwa 1912 eines der letzten eigenständigen präkolonialen Reiche Zentralafrikas bildeten, keine dauerhafte zentrale Autorität.60 Die verschiedenen "Fürsten" der Azande führten seiner Ansicht nach ein Will kür- und Schreckensregime: In "Wutanfällen", die manche unter ihnen "sogar absichtlich fingier[t]en", schlachteten sie in einer Art "afrikani sehern ,Cäsarenwahn'" ihre eigenen Untertanen ab.61 Sie hätten keine ent wickelte Religion, sondern hingen einer Form von Orake1aberglauben an.62 Sie kleideten sich in Ermangelung von gewebten Stoffen oder verarbeite ten Rinden in Affenfelle (Genetten und Colobus Mfen), an denen der Schwanz belassen wurde.63 Die Azande galten ihm als typische Gesell-
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sehen Aufnahmen, so dass diese nur unter Zwang vor- bzw. aufgenommen werden konnten. Siehe dazu: Zimmerman 2003, S. 1 6 1 - 166, Wiener, Mi. 1990, S. 1 87-197. Schweinfurth selbst vermaß unter anderem die Träger, die zu der Karawane gehörten (Schweinfurth 1 9 1 8 , S . 288). Diese Kooperation mit nubischen Elfenbein- und Sklavenhändlern kann als Schweinfurths Erfindung gelten. Siehe: Essner 1985, S. 83-84 sowie Pesek 2005, S. 109-124. Zur Geschichte des Sklaven- und Elfenbeinhandels sie he: Hahner-Herzog 1 990, S. 7-35, 297-328; Gißibl 2007, S. 226-233 sowie besonders zur Rolle von Muslimen in diesem Handelsnetz: Robinson 2004, S. 60-73. Siehe: Pesek 2005, S. 40-101. Elfenbeinjagd und -handel gewannen große symbolische Bedeutung für die deutschen Kolonialherren, auch wenn bei des ökonomisch eher unbedeutsam bleiben sollte. Siehe dazu: Gißibl 2007, S. 234-235 ; Gißib1 2008, S. 503-504. Schweinfurth 1 9 1 8 , S. 238, 254. Ebd., S. 29 1 . Ebd., S. 242. Ebd., S. 298. Ebd., S. 304-305. Ebd., S. 248, 289, 292 (Abb.). Ausgelöst durch einen Bericht des französi schen Reisenden Louis du Couret ( 1 8 1 2-1 867), genannt Abd ul-Hamid
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schaft der "menschlichen Urgeschichte", was seiner Ansicht nach an der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, nach der die Männer jagten sowie Krieg führten und die Frauen Ackerbau betrieben, zu erkennen sei.64 Dar über hinaus seien sie ganz allgemein "ausgestattet mit den unvermeidli chen Attributen des Urmenschen".65 In diesem Sinne war seine Reise durch den afrikanischen Raum gleichzeitig auch eine Expedition zurück in die evolutionäre Vergangen heit der Menschheit. Eine Vorstellung, welche für die anthropologische Forschung ebenso wie für den europäischen Kolonialdiskurs insgesamt charakteristisch war, wie Johannes Fabian und Anne McClintock demonst riert haben.66 Die Ethnologie war dementsprechend die Wissenschaft "of other men in another Time".67 Stellten die Azande als Gesamtheit für Schweinfurth das typische , Ur volk' dar, so repräsentierte der Azande-Krieger den Inbegriff "afrikani scher Wildnis" (siehe: Anhang Abb. 9 . 1 ) : "Vergegenwärtigen wir uns indes noch einmal die äussere Erscheinung des Niamniam, wie er im seltsamen Waffenschmuck, die Lanze in der einen, den mit dem Kreuze gezierten Schild und die Zickzackwaffe in der andern, den Dolch im Gürtel, um die Hüften mit langschwänzigen Fellen geschürzt und geschmückt mit den Trophäen, die er der Jagd- und Kriegsbeute entnommen, mit den aufge reihten Zähnen der Erschlagenen geziert auf Brust und Stirn, in herausfordernder Stellung dem Fremden entgegentritt, wie die langen Haarflechten ihm wild um Hals und Schultern fallen, wie er bei weit aufgerissenen Augen die dicken Brau en furcht, im Munde die blendende Reihe spitzer Krokodilzähne hervorleuchten lässt - so haben wir hier in seinem ganzen Wesen alle Attribute einer ungefessel ten Wildheit, so recht entsprechend den Vorstellungen, die unsere Phantasie an die Person eines echten Sohnes afrikanischer Wildnis zu knüpfen vermag."68
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Bei, unter dem Titel Voyage au pays des Niam-Niam ou hommes a queue ( 1 854) entspann sich in der Forschung des 19. Jahrhunderts eine lang an dauernde Diskussion um die Frage, ob es sich bei den solcherart ,Ge schwänzten' um das damals gesuchte evolutionäre Bindeglied zwischen. Mensch und Tier handeln könne, worauf Schweinfurth in seinem Bericht kurz anspielte (siehe: ebd., S. 287). Dazu siehe auch: Gebauer 2000, S. 912. Siehe: Schweinfurth 1 9 1 8 , S. 293. Ebd., S. 287. Siehe: McClintock 1995, S . 40-42; Fabian 1983, S. 143. Fabian 1 983, S. 143. Obendrein war dies eine der vielen Strategien, durch welche die Kolonialisierten ihrer Sprechposition im Diskurs enthoben wurden: "It is a dis course whose referent has been removed from the pre sent of the speaking/writing subject. This ,petrified relation' is a scandal. Anthropology's Other is, ultimately, other people who are our contempo raries." (ebd.) Schweinfurth 1 9 1 8 , S. 292. Auch an anderer Stelle betonte er mehrfach den Eindruck von "tierischer Wildheit" und "kriegerischer Entschlossen heit", den das Äußere der männlichen Azande vermittle (ebd., S. 289). Ein Eindruck, zu dem seiner Ansicht nach die von den Azande getragenen
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Im Körper des Azande-Krieger VereInIgten sich aus der Perspektive Schweinfurths damit animalische Wildheit, kriegerische Männlichkeit und die evolutionär-sittlich unterste Stufe menschlicher Entwicklung. Die Mangbetu hingegen galten Schweinfurth als "Volksstamm", "der eine für Zentralafrika überraschend hohe Kulturstufe" inne hatte und der seiner Ansicht nach sogar mit einem gewissen Stolz auf die von ihnen un terworfenen, in der Hautfarbe im Vergleich deutlich dunkleren und "auf niederer Kulturstufe stehenden" Nachbarn und Nachbarinnen hinab bli cke.69 Im Gegensatz zu den Azande seien die Mangbetu in einer seiner An sicht nach bedeutenden Kulturtechnik bewandert: der Eisenbearbeitung, mit deren Hilfe sie überaus kunstvolle Waffen herstellten.70 Darüber hinaus hingen die Mangbetu laut Schweinfurth nicht einem simplen Aber- oder Orakelglauben an, sondern hätten eine Art Monotheismus entwickelt, den Glauben an den Gott "Nor".7' Er bezeichnete die Mangbetu auch als das "ultima Thule unserer geographischen Kenntnis von Afrika", das wie eine "Insel im Meere unstet hin- und herflutender Völkerbewegungen" unbe eindruckt und unverfälscht von den Einflüssen des Islam oder des Chris tentums geblieben sei.n Doch Schweinfurth führte nicht nur kulturelle Errungenschaften als Beweise für die ,hohe Kulturstufe' der Mangbetu an, sondern argumentier te auch ,rassenbiologisch ' : Während die Schädel der Azande eine runde Form hätten, seien die der Mangbetu eher länglich, was an den physiog nomischen "Charakter der semitischen Völker" erinnere und zusammen mit der etwas helleren Hautfarbe als ,rassische Üb erlegenheit' zu interpre tieren sei.73 Derart überlegen in jeder Hinsicht, übertraf auch der "Kanniba lismus der Mangbattu" laut Schweinfurth "den aller bekannten Völker in Afrika."74 Wie auch den Azande gelte ihnen Menschenfleisch und beson-
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Schmucknarben und die spitzgefeilten Zähne maßgeblich beitrugen (ebd., S. 289). Ebd., S. 332, 337. Schweinfurth mutmaßt, dass zwischen den Fulbe (heute auch: Halpular) und den Mangbetu eine Beziehung bestehen könnte oder dass sie zu den "Pyrrhi Aethiopes des Ptolemäus" zählten (ebd., S. 342). Siehe: Schweinfurth 1 9 1 8 , S. 346-348. Eine Aussage, die im Widerspruch zu seinen eigenen Beschreibungen der Metallwaffen der Azande (ebd., S. 291 ) stand, worauf er allerdings nicht reflektierte. Ebd., S. 354. Ebd., S. 332, 341 . Thule, die mytische Insel jenseits der Grenzen des be kannten Europa wurde zuerst in der Antike von dem Griechen Pytheas (ca. 380 v.Chr. - ca. 3 1 0 n.Chr.) beschrieben. Die Wendung "ultima Thule" bezeichnete den äußersten Rand der bekannten Welt. Ebd., S. 341-342 (Zitat S. 342). In einer 1 9 1 7 hinzugefügten Fußnote be merkt Schweinfurth, dass ihm aufgrund der "Haartracht" die später von Junker beschriebene Künstlichkeit dieser von ihm als evolutionär fort schrittlich interpretierten Schädelforrn, die durch eine "bereits am Säugling vorgenommene Umschnürung des Schädels" erzielt würde, nicht aufgefal len sei (ebd., S. 345). Ebd., S. 337.
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ders Menschenfett als der "Inbegriff aller ihrer kulinarischen GenÜsse".75 Verzehrt würden von ihnen die auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger des besiegten Gegners oder die "lebendig Eingefangenen", welche "die Sieger erbarmungslos vor sich her" nach Hause trieben, "gleich einer er beuteten Hammelherde, um sie später einen nach dem andern als Opfer ihrer wilden Gier fallen zu lassen.'''6 Regiert wurden die Mangbetu, so der deutsche Forscher, durch eine Zentralgewalt in Gestalt König Munsas, dessen Person er ausführlich be schrieb und sogar skizzierte. Dieser "Kannibalenherrscher[ ]", an dem sich Schweinfurths Augen gar "nicht satt sehen konnten", nahm in seinen Beschreibungen einen derart zentralen Platz ein, dass er aus heutiger Per spektive als pars pro toto für sein Volk wahrgenommen werden kann (sie he: Anhang Abb. 9 .2).77 Das zentrale Charakteristikum, das Schweinfurth dem Oberhaupt der Mangbetu zuschrieb, war sein Cäsarentum. Eine Eigenschaft, die Schwein furth, wie oben bereits dargestellt, auch mit den Azande-Fürsten verband, die allerdings in der Charakterisierung Munsas zum bestimmenden Merk mal der gesamten Persönlichkeit wurde. König Munsa schreite einher wie ein "rotbraune[r] Cäsar", er habe ein aufbrausendes Temperament und vollführe anläßlich von Festen eine Art Derwischtanz, der ihn nicht nur in Ekstase, sondern in einen beinahe epileptischen Zustand versetze.7S "Etwas Neronisches" sei an ihm, "etwas wie von Überdruss und Übersättigung", während in seinen Augen "ein wildes Feuer tierischer Sinnlichkeit" züngle und in den Zügen um seinen Mund "die Freude am Grausamen" sowie "Habsucht und Gewalttätigkeit höhnend auf der Lauer" lägen.79 Seine Lieblingsspeise seien kleine Kinder, von denen er täglich eines verzehre.so Schweinfurth verknüpfte auf diese Weise auch im Fall der Mangbetu Kan nibalismus mit Männlichkeit und zwar nicht nur mit einer animalisch kriegerischen Maskulinität, sondern einer, die darüber hinaus auch noch unbeherrscht, unberechenbar und zuweilen unzurechnungsfähig war. Mit Blick auf die von Schweinfurth beigefügten Zeichnungen können wir so gar sagen, dass im Falle der Mangbetu diese Identifikation mit einem er wachsenen Mann in der Blüte seiner Jahre und im Falle der Azande mit einem jungen, fast jugendlichen Mann vollzogen wurde.sl
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Ebd., S . 337. Ebd., S. 337. Siehe auch: Schweinfurth 1 873, S. 9-10. Ebd. , S. 3 1 1 . Die Beschreibung der Person Mansus zieht sich im Text über fast zwei Seiten (ebd., S. 3 1 1 -3 13). Ebd., S. 3 1 1 , 324, 328-329. Ebd., S. 3 12-3 13. Ebd., S . 337. Mansu wurde von Schweinfurth wörtlich als "Mann von nahe an die Vier zig" beschrieben, "seine ziemlich hohe Gestalt war schlank, aber kräftig, der Wuchs stramm und gerade, wie bei jedem Mangbattu." (ebd., S. 3 12.)
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Wilde Kannibalinnen bewegten sich in Schweinfurths B eschreibungen hingegen stets im Hintergrund. Zwar schilderte er sowohl in Bezug auf die Azande als auch die Mangbetu vereinzelt, dass er Frauen bei der Zuberei tung von Menschenfleisch beobachtet habe,82 allerdings ging er auf diesen Aspekt der Menschenfresserei nicht weiter ein. Dagegen standen diejeni gen Strategien im Vordergrund seines Berichts, welche zur Sicherung der Durchzugsrechte und der Nahrungsmittelversorgung der Karawane gegen über den Azande angewendet wurden und die zu einer ambivalenten Hal tung Mohammed Abd-es-Ssammats gegenüber dem Kannibalismus seiner potentiellen Verbündenten bzw. Gegner führten.83 Azande und Mangbetu gleichermaßen schrieb Schweinfurth eine Vorliebe für Menschenfett zu, welches, in großen Dosen genossen, angeblich "berauschende Wirkung" habe. 84 Über die Gründe, welche die Azande und die Mangbetu zum Kanniba lismus bewegen sollten, sah sich Schweinfurth gezwungen zu spekulieren. Sowohl Anthropophagie aus rituellen Gründen als auch aufgrund von Fleischmangel war seiner Einschätzung nach bei bei den Gruppen aus ge schlossen.85 Obendrein ergaben seine Beobachtungen Widersprüchliches: Während einerseits alle Nachbarn und Nachbarinnen der Azande ebenso wie die europäischen Berichterstatter fest von deren Kannibalismus über zeugt waren, stieß Schweinfurth auf Mitglieder der Azande, die Men schenfresserei zu Teilen oder auch rundweg und aus seiner Sicht durchaus glaubhaft ablehnten.86 Dennoch ging der Afrikaforscher davon aus, dass ,,[i]m grossen und ganzen aber [darf] man getrost die Niamniam als ein Volk von Anthropophagen bezeichnen" könne.87 Sie seien Menschenfres ser "ohne Scheu, um jeden Preis und unter jeder Bedingung".88 Zur Moti vation ihres Kannibalismus verwies er erstens auf ihr Hauptcharakteristi kum, ihre männlich-kriegerische , afrikanische Wildnis' , die als ein Syn82
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Ebd., S. 337-338, 410-4 1 1 . Die Kriterien, nach denen er die indigenen Frauen beurteilte, waren grundsätzlich andere als die zur Beurteilung von Männern, namentlich Keuschheit und ihr Verhältnis zu ihrem Ehegatten. Für die Mangbetu-Frauen, die nach seinen Schilderungen recht selbstbe stimmt über ihren Körper und ihre Sexualität verfügten, hatte er nur Ver achtung übrig (ebd., S. 336). Ebd., S. 385, 408-409. Ebd., S. 296 (Azande), S. 337 (Mangbetu). Der Glaube an die magische Wirkung von Menschenfett war, wie in Kapitel 4 zu sehen sein wird, laut Anthropologen, Medizinern und Juristen auch in Deutschland verbreitet. Ebd., S. 296 (Azande), S. 335 (Mangbetu). Sowohl Azande als auch Mangbetu betrieben umfangreich Jagd, allerdings keine Viehzucht von größeren Tieren (Azande: S. 294; Mangbetu: S. 335) als Hühnern oder Hunden (Azande: S. 295; Mangbetu: S. 335). Ebd., S. 296 sowie 262-263 (Bericht über einen "Niamniam-Fürsten", der selbst sehr beleibt war, und darum anderen die mit "fetter Leibesbeschaf fenheit gesegnet" seien, Schutz gewährte). Ebd., S . 296. Ebd., S. 296.
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onym für ihren angeblich evolutionär niedrigen Entwicklungsstand gelesen werden kann, wie wir oben gesehen haben. Zweitens ging er davon aus, dass die Azande eine generelle Gier nach Menschenfleisch verspürten, von der sie einfach nicht lassen könnten: "Fleischkost gilt ihnen indes als der höchste aller irdischen Genüsse, und Fleisch, Fleisch ist das Losungswort, das bei ihren Kriegszügen erschallt."89 Hinzu komme eine Neigung zum Sadismus oder doch zumindest eine Form der Gefühlskälte, deren Darstel lung die Leserinnen und Leser schockieren musste: Schweinfurth be schrieb, wie Azande einen Säugling in der Sonne dem Tode preisgaben, um das Kind anschließend zu verzehren.90 Der Kannibalismus der seiner Einschätzung nach kulturell und evolu tionär , höherstehenden ' Mangbetu brachte Schweinfurth demgegenüber in einen gewissen Erklärungsnotstand. Aber auch hier griff er zur Motivation der von ihm als sicher angenommenen anthropophagischen Praktiken auf das rassistisch-anthropologische Modell evolutionär fortschreitender Zivi lisation zurück, nur zielte sein Argument diesmal nicht auf Rückständig keit, sondern auf eine Form eines sozialdarwinistischen survival 01 the fit test. 91 Ganz im Gegensatz zu dem von ihm am B eispiel der Azande postu lierten Zusammenhang zwischen animalischer Wildheit, evolutionärer Rückständigkeit und Menschenfresserei, behauptete Schweinfurth, dass die Mangbetu genau aufgrund ihrer relativen kulturellen und zivilisatori schen Überlegenheit Kannibalismus praktizierten. Ähnlich wie die "Fi dschi-Insulaner" und die "Karaiben" seien sie ein Exempel dafür, "dass oft gerade Völker Anthropophagen sind, die sich durch eine auffällig hohe Kulturstufe" von ihren Nachbarn und Nachbarinnen unterschieden.92 Es galt also eine Art Recht des Stärkeren: fressen oder gefressen werden. Hinsichtlich der Produktion von Schweinfurths Wissen vom wilden
Kannibalen können wir erstens festhalten, dass es nicht nur maßgeblich (infra)strukturell vom afrikanischen Karawanenhandel, sondern darüber hinaus auch inhaltlich vom indigenen Wissen abhängig war. Auch unter der muslimischen Bevölkerung des Sudan sowie ihren Nachbarinnen und Nachbarn hatte sich das Gerücht von der Anthropophagie der Azande und . der Mangbetu weit verbreitet. So versuchten Teile der von Mohammed Abd-es-Ssammat verpflichteten Träger aus Angst vor Beginn der Reise zu fliehen. Mitreisende Soldaten berichteten Schweinfurth von Leichenraub und dem Verdacht, dass die Azande die gestohlenen Körper auffräßen.93 Auch die Herkunft der von ihm verwendeten Bezeichnung wies auf diese 89
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Ebd., S. 295. Zur Gier als Topos in den Berichten über Kannibalen in der deutschsprachigen Reiseliteratur der Wende zum 20. Jahrhundert siehe auch: Struck 200 1 , S. 169-1 80. Schweinfurth 1 9 1 8, S. 41O-4 1 l . Essner charakterisiert Schweinfurth als "überzeugte[n] Darwinist" (Essner 1985, S. 82). Schweinfurth 1 9 1 8, S. 338. Ebd., S. 219, 226, 296.
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Verbreitung hin: "Niamniam", war eine Fremdbezeichnung aus der Spra che der Dinka für die Azande, was soviel wie "die ,Fresser'" oder auch die ", Vielfresser'" bedeutete.94 Gleichzeitig stand Schweinfurth mit seiner Berichterstattung in einer europäischen Tradition, wie er selbst mehrfach betonte. Er stellte sich so gar namentlich und explizit in die Nachfolge des italienischen Afrikarei senden Carlo Piaggia ( 1 830-1 882), dem seiner Ansicht nach "das Ver dienst" zukomme, den "Schleiher, den ein märchenhafter Zauber über die ses Volk [die Azande] ausgebreitet, gelüftet zu haben".95 Darüber hinaus benannte er ausdrücklich den Fachartikel von Jules Pocet in der Zeitschrift der Pariser Geographischen Gesellschaft sowie den Abdruck eines Briefes eines italienischen Mediziners aus Khartum im Bollettino della Societa
Geograjica Italiana als Inspirationen für seine Suche nach den Mangbe tU.96 Schweinfurth maß seinen bei den Informationsquellen eine sehr unter schiedliche Wertigkeit bei. Während er explizit auf die einschlägigen eu ropäischen Fachartikel und Publikationen Bezug nahm und seiner Wert schätzung für diese Ausdruck verlieh, deutete er die Herkunft des indige nen Wissens, welches gleichfalls Teil seiner Arbeitsgrundlage war, und die Historizität des indigen Kannibalismusvorwurfs, der in Afrika bereits seit dem Mittelalter existierte, nur vage an!7 Gleichzeitig kennzeichnete er in seinem Text das indigene Wissen vom Kannibalismus der Azande oder der Mangbetu als unzuverlässig oder fragwürdig, indem er stets darauf hin wies, dass er den Berichten seiner Informantinnen und Informanten zu nächst keinen Glauben geschenkt habe, und er erst durch seine eigene Au genzeugenschaft von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt worden sei.98 Zweitens können wir festhalten, dass Schweinfurths methodische Überlegungen ebenso wie seine Forschungspraxis zeigen, dass seine Ar beit weniger aus der Perspektive der traditionellen kulturpluralistischen Ethnologie als vielmehr auf der Grundlage und mit den Methoden der ras sistisch-biologistischen Anthropologie betrieben wurde. Zwar verweist 94
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Ebd., S . 287. Eine ganz ähnliche Kombination von indigenen Gerüchten und europäischem Wissen habe ihn auf die Spur der Mangbetu gebracht (siehe: ebd., S. 331). Auch der von Schweinfurth verwendete Name "Mon buttu" war die in Afrika gängige Fremdbezeichnung, welche auf die von den Mangbetu praktizierte "Sitte des Durchlöcherns der Ohrmuschel" ver wies. Schweinfurth nannte an dieser Stelle auch den arabischen Namen für die Mangbetu, "Guruguru", den er allerdings im Text nicht benutzte (ebd., S. 332). Ebd., S. 287. Piaggia, der ein Jahr unter den Azande gelebt hatte, besaß keine Universitätsbildung; sein Reisebericht wurde von seinem zeitweili gen Mitreisenden, dem Marachese Antinori, nach seinen mündlichen An gaben nachträglich zusammengestellt (ebd.). Ebd., S . 33 l . Ebd., S . 287-288. Ebd., S. 226.
80 I KANNIBALE·WERDEN
sein Vergleich der Mangbetu mit dem mythischen Thule zusammen mit seiner Freude, in ihnen ein kulturell , unverfälschtes' Volk entdeckt zu ha ben, noch auf einen Restbestand des älteren, romantischen B egriffs vom ,Naturvolk' hin.99 In der Formulierung seines Forschungsprogramms für die "Völkerkunde" in Analogie zur Biologie kommt jedoch ein grundle gend anderes Verständnis dieser Wissenschaft zum Ausdruck: "Auf den untersten Stufen des Tier· und Pflanzenlebens erfreut den Erforscher des kleinsten Lebens die elementare Einfachheit aller Verhältnisse, die uns all· mählich zum Verständnis tausendfältig komplizierter Gebilde geführt hat. Ähn lich verhält es sich mit dem Studium der Völkerkunde, und eben deshalb gewährt die Betrachtung des Völkerlebens auf der untersten Stufe menschlicher Gesittung dem Reisenden einen so hohen Genuss."IOO
Ganz gemäß diesem Programm stellte Schweinfurth nicht nur Beobach tungen an und führte Interviews durch , sondern vermaß auch die Körper der ihn umgebenden Träger sowie derjenigen Indigenen, auf die er wäh
rend seiner Reise traf. 101 Darüber hinaus sammelte er Menschenschädel,
die er der Sammlung des "Anatomischen Museum[s]" in Berlin zur Verfü gung stellte. 102 Diese menschlichen Überreste gaben aus seiner Perspektive vermittelt Auskunft über den Kannibalismus der B ewohnerinnen und B ewohner die ses Teiles von Afrika. Denn erstens offenbarte der "Zustand, in dem [er] viele Stücke empfing" seiner Ansicht nach, dass sie erst vor kurzem "in Wasser gekocht und mit Messern abgeschabt worden waren". Einige "schienen" ihm "direkt von den Mahlzeiten der Eingeborenen zu kommen, denn sie waren noch feucht und trugen den Geruch von frisch Gekochtem an sich". Andere "hatten das Aussehen, als wären sie unter altem Kehricht und Küchenabfällen aufgelesen worden". 1 03 Zweitens erlaubten die Schädel aus Sicht der Anthropologie, oder genauer der Kraniologie, die Bestim mung des evolutionären Entwicklungsstandes des jeweiligen Verstorbe nen. Und da für Schweinfurth die Gleichung galt, je geringer der Stand der evolutionären Entwicklung eines ,Naturvolks' , desto wahrscheinlicher sei 99 100 101 102
Ebd., S. 332, 34 1 . Ebd., S . 295. Ebd., S. 288. Ebd., S . 338. Essner ( 1985, S . 1 66) zitiert einen Brief Schweinfurths, da tiert auf den 2. Februar 1 869, in dem er schrieb: "Ich brauche Menschen· schädel und darf ohne dieselben nicht nach Berlin zurückkehren [ . .. ]." Ge meint war hier die pathologisch·anatomische Sammlung der Charite Ber· lin, die seit 1 856 unter der Leitung von Rudolf Virchow ( 1 82 1 · 1902), Or dinarius für Pathologie, stand. 1 899 richtete Virchow auf der Grundlage dieser pathologischen Sammlung das Berliner Pathologische Museum (heute Berliner Medizinhistorisches Museum an der Charite) ein. Siehe da· zu: Matyssek 2002, S. 14· 1 6 . 1 0 3 Schweinfurth 1 9 1 8, S. 3 1 7.
EINVERLEIBUNG I 81
die Menschenfresserei, war in diesem Sinne Kannibalismus über die Mes sung von Körperdaten quantifizierbar. Er präsentierte damit in seiner Dar stellung Körperdaten zusammen mit akademischen Fachpublikationen oder seinen eigenen B erichten als eindeutige Beweise für die Anthro pophagie der Azande und der Mangbetu. Die Wege, auf denen Schweinfurth zu seinen Stücken gelangte, waren häufig ethisch problematisch. Oft stahl er sie, mit tatkräftiger Unterstüt zung des Karawanenführers, einfach von den Holzpfählen in der Mitte der den Arabern tributpflichtigen Azandedörfer, auf denen sie aufgestellt wa ren. 104 Darüber hinaus betrieb er Handel mit den Indigenen, um an die be gehrten Stücke zu gelangen. Unter der Aufforderung "vor allem aber bringt Menschenschädel, soviel als ihr deren von euem Mahlzeiten erüb rigt, euch taugen sie doch zu nichts" erhielt Schweinfurth Schädel im Tausch gegen Kupferstücke. \05 "Den Überbringern liess ich sagen, die Schädel würden bei uns gebraucht, um auch aus der Ferne die Menschen kennenzulernen, die hier wohnten. Wir besäs sen die Kunst, aus der Schädelform Art und Sinn der Menschen zu erkennen, sowie ihre Vorzüge und Fehler, dazu sammele man sie aus allen Ländern des Erdballs. "106
Des Weiteren sammelte er die Köpfe derjenigen auf, die in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Karawane des Sklaven- und Elfenbeinhänd lers, mit der er zog, getötet worden waren. I07 In diesem Sinne führten Schweinfurths Forschungen zu einer materiellen, physischen Einverlei bung der Indigenen in den Komplex des akademischen Wissens. Hier scheint die von Zimmerman problematisierte Komplizenschaft der Ethno logie mit den Gewaltverhältnissen kolonialer Eroberung auf. \08 Allerdings verdeutlicht Schweinfurths Vorgehensweise, dass diese Komplizenschaft bereits bestand, und auch jenseits deutscher Kolonialherrschaft etabliert worden war. Nur durch das Bündnis mit den militärisch überlegenen El fenbein- und Sklavenhändlern konnte sein Forschungsprojekt gelingen. Wie Schweinfurth selbst ängstlich feststellte, war diese koloniale Ein verleibung leicht mit Kannibalismus zu verwechseln. Seine Sammelwut und die Präparationen, die er an den Schädeln vornahm, d.h. Kochen und Abschaben, entsprachen genau den von ihm bei den Mangbetu und Azan de vermuteten kannibalischen Praktiken: "Unter dem stupidem Teile der 104 Ebd., S. 266. Er bezeichnete diese Holzpfähle an dieser Stelle auch als "Weihnachtsbäum[e] [ ... ] für vergleichende Anatomen". 105 Ebd., S. 317. 106 Ebd., S. 317. 107 Ebd., S . 383, 386. 108 Siehe: Zimmerman 200 I, S. 152-172 (hier besonders in Bezug auf das 1 886 eingerichtete Museum für Völkerkunde in Berlin) sowie Hund 2009, . S . 57-70 .
82 I KANNIBALE-WERDEN
Eingeborenen hingegen mochte sich die Ansicht geltend machen, die Kno chen würden alle als Speise verwandt.'"o9 Aus diesem Grunde präparierte er die Köpfe heimlich in seinem Zelt. ! !O Diese Vorgehensweise leistete an gesichts seiner Obsession in Bezug auf seine Nahrungsaufnahme den Ge rüchten unter seinen afrikanischen Mitmenschen vermutlich eher Vor schub. Denn Schweinfurth nahm grundsätzlich keine der Speisen zu sich, die ihm die Indigenen anboten, selbst dann nicht, wenn es sich seinem Wissen nach nicht um Anthropophagen handelte. Stattdessen verzehrte er Mahlzeiten aus mitgebrachten Vorräten und zwar stets für sich allein; eine Angewohnheit, die ihm den Namen "Blattfresser" eintrug. Denn da die mitreisenden afrikanischen Männer und Frauen ihn nie essen sahen, glaub ten sie, er äße die Blätter, die er zur botanischen Identifikation und Klassi fizierung sammelte. ! ! ! Das Aufkeimen des Verdachts, dass Schweinfurth eben keine Blätter sondern Menschen verzehre, war umso wahrscheinlicher, da besonders innerhalb derjenigen B evölkerungsgruppen, die aktiv oder passiv am Netzwerk des SklavenhandeIs partizipierten, der Topos vom weißen Kan nibalen weit verbreitet war. Wie eine Anzahl neuerer Forschungsarbeiten demonstriert hat, reichten die kursierenden Gerüchte von einer Erklärung für den transatlantischen Sklavenhandel, der angeblich betrieben worden sei, um Menschenfleisch für die Europäerinnen und Europäer zu beschaf fen, über die Verdächtigung von kolonialen Administratoren, Missionaren und Priestern, hier besonders in Verbindung zur katholische Messe, bis hin zur Beschuldigung von Ärztinnen und Ärzten, deren Blutabnahmen oder Operationen verdächtig schienen.ll2 Darüber hinaus demonstrierten Expe ditionsteilnehmer und Forschungsreisende, wie Michael Pesek dargestellt hat, einen für afrikanische Essgewohnheiten ungewöhnlich hohen Fleisch konsum. Fleisch wurde von ihnen, ganz entsprechend der europäisch geschlechterspezifischen Ernährungsweise, als männliches Nahrungsmittel aufgefasst, dessen Konsum die "Fähigkeit, sich andere mit Gewalt zu un terwerfen", dokumentierte.ll3 Außerdem ist festzuhalten, dass Hunger- und Notkannibalismus nachweislich von Europäern praktiziert worden ist. Al lerdings bestanden die Beteiligten stets darauf, dass es dabei auf zivilisier te, das heißt geordnete, Art und Weise zugegangen sei. Verspeist wurden entweder bereits Verstorbene oder das Opfer wurde durch Losverfahren bestimmt. ! ! 4 109 110 111 112
Schweinfurth 1 9 1 8 , S. 317. Ebd., S . 386. Siehe: Ebd., S. 244, 249 (Zitat), 264. Behrend 2004, S. 1 68 - 1 70; Behrend 2002; King 2000, S. 1 10- 1 12; Rumsey 1999, S. 107- 1 1 3 . 1 1 3 Pesek 2005, S . 210-2 1 1 . Zum geschlechterspezifischen Fleischkonsum im Kaiserreich und der Weimarer Republik siehe Kapitel 6. 1 14 Weaver-Hightower 2007, S . 1 1 8 - 1 2 1 ; Simpson 1994, S . 95-145 sowie Petrinovich 2000. Wie Obeysekere am Beispiel der Pazifik-Reisen heraus-
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Die Gerüchte unter den Indigenen waren den deutschen Kolonisatorin nen und Kolonisatoren durchaus bekannt. Beispielsweise berichteten Rei sende aus der Zeit um 1 900, dass sie von Afrikanerinnen und Afrikanern auf den ersten Blick für Anthropophagen gehalten worden seien."5 Gleich zeitig existierten eine Vielzahl von Witzen, in denen die Angst der Kolo nialisierten vor den weißen Kannibalen thematisiert und als Zeugnis für ihre Naivität oder Dummheit dargestellt wurde. Ein Klassiker, der in die sem Zusammenhang immer wieder aufgegriffen wurde, war das Dosen missverständnis. Nach dem Motto: ,drin ist, was darauf abgebildet ist', glaubten Afrikanerinnen und Afrikaner angeblich, sie würden als Dosen fleisch von den Weißen verspeist."6 Ein anderes Beispiel ist der Abdruck eines angeblich authentischen Briefes "eines Negermädchens in den deut schen Kolonien" in der Zeitschrift Kolonie und Heimat, in dem stand: "Die deutschen Frauen müssen ungeheuer stark sein, denn jede trägt im Winter eine dicke Boa um den Hals, auch verspeisen sie gern die Köpfe schwarzer Män ner frei und öffentlich. Ein Mohrenkopf z.B. kostet je nach der Grösse nur 1 0 oder 15 Pf. und einen ganzen Schwarzen bekommt man für 2 5 Pf. Konditorei nennen die Deutschen diese Orte des Kannibalismus."!17
Mit solchen Witzen identifizierten sich die Kolonisatorinnen und Koloni satoren selbst als Anthropophagen und praktizierten damit eine Form der
mimicry, welche mehrere Effekte mit sich führte. Erstens unterlief sie ei nerseits die an anderen Stellen im kolonialen Diskurs als eindeutig und stabil präsentierte Trennung zwischen Zivilisierten und wilden Kanniba
len, während sie andererseits die Alterität der mutmaßlichen Menschen fresser wieder in den Diskurs einschrieb. Diese Mehrdeutigkeit entspricht ganz der ambivalenten Wirkung der "colonial mimicry", wie sie von Homi arbeitet, handelte es sich bei dem durch Losverfahren bestimmten Opfer in der Praxis verdächtig oft um den farbigen Küchen- oder Schiffsjungen und nicht etwa um ein weißes, erwachsenes Mannschaftsmitglied oder gar ei nen Offizier (siehe: Obeyesekere 2005, S. 40-42; Simpson 1 994, S. 128). 1 15 Siehe: Gehrts 1 999, S. 60. Gehrts, die mit dem Filmemacher und späteren Gatten Hans Schomburgk durch das damalige Schutzgebiet Togo reiste, beschrieb, wie sie von den Jugendlichen der Tschaudjo für eine Menschen fresserin gehalten wurde. 1 16 Heinz Kunz, "Eingemachtes Menschenfleisch", in: Kolonie und Heimat 7 , 1 7 ( 1 9 1 3- 14), S. 1 1 . Ähnlich auch in einem Bericht im Missions-Freund, in dem nicht nur über den Prozess gegen einen mutmaßlichen Kannibalen im Kongo berichtet wurde, sondern auch über das Misstrauen der Indige nen gegenüber dem aus Europa eingeführten Dosenfleisch, welches Euro päer und Europäerinnen anstelle des heimischen Wildbrets oder Hühnern bevorzugten (siehe: "Menschenfresser in Mittel-Afrika", in: Der Missions Freund. Ein illustriertes Missionsblattfür das Volk 65,2 ( 1 9 10), S. 14- 1 6, S. 15). 1 17 "Aus dem Briefe eines Negermädchens in den deutschen Kolonien", in: Kolonie und Heimat 1 ,4 ( 1 907-08), Beilage, S . 4.
84 I KANNIBALE-WERDEN
K. Bhabha herausgearbeitet worden ist.1l8 Zweitens , und an dieser Stelle überschreitet die hier beschriebene Form der mimicry Bhabhas Konzept, ging die Bewegung nicht vom kolonialen Subjekt, sondern vom den Kolo nialisierenden aus. Sie verweist damit auf eine affektive Bindung, auf ein Begehren der deutschen Kolonisatoren und Kolonisatorinnen, sich mit dem kannibalischen , Wilden' zu identifizieren, welches gleichzeitig ironi siert wurde. War diese Identifikation, wie Russel Berman argumentiert hat, ein Spezifikum des deutschen Kolonialdiskurses?"9 Nachfolge und Spurensuche: Wilhelm J u n ker und Eduard Schnitzer
Wie oben bereits dargestellt, verstand sich Schweinfurth als letztes Glied einer Kette, als neuester Beitrag zu einer ganzen Serie von Forschungen über die Kannibalen und Kannibalinnen Afrikas. Diese Traditionslinie fand mit Schweinfurth keinesfalls ihr Ende, im Gegenteil: Schweinfurths Text
wurde
von
vielen
anderen
Beiträgen
zum
ethnologisch
anthropologischen Kannibalismusdiskurs aufgegriffen. Hierunter sind ers tens die Berichte derjenigen Afrikaforscher zu nennen, die, ähnlich wie Schweinfurth den Spuren früherer Reisender gefolgt war, sich bemühten, nun wiederum Teile seiner Reiseroute nachzuvollziehen. Zweitens gehör ten hierzu kompilatorische Werke, welche das solcherart hergestellte Wis sen aufbereitet und gemäß zeitgenössischen Kriterien systematisiert einem interessierten Laien- oder Fachpublikum vermittelten. Zur ersteren Gruppe gehörten die Reiseberichte von berühmten Afrikawissenschaftlern und Forschungsreisenden wie Wilhelm Junker ( 1 840-1 892)120 oder auch Edu ard (Karl Oskar Theodor) Schnitzer ( 1 840- 1 892).121 Ein Vergleich ihrer 1 1 8 Bhabha 200 1 , S. 86. 1 19 Siehe: Berman 1998, S . 10. 1 20 Ebenso wie Schweinfurth stammte Junker aus einer im Osten Europas le benden deutschen Familie: Er wurde in Moskau geboren und verbrachte weite Teile seiner Jugend in St. Petersburg. 1 860 begann er sein Medizin studium an den Universitäten in Dorpat, Göttingen und Prag, das er, unter brochen durch eine Forschungsreise 1 869 u.a. nach Skandinavien und Is land, in Göttingen abschloss. Nach Ende seines Studiums bereitete er sich umfänglich auf die von ihm geplanten Forschungsreisen zur Erkundung des Nils vor. Nachdem er 1 875 in Paris Schweinfurth traf, der ihn in sei nem Vorhaben unterstützte, brach er im gleichen Jahr zu insgesamt zwei längeren Forschungsreisen nach Afrika auf. Die erste führte ihn von Sua kin und Khartum in das Gebiet des mittleren Nils und des Uelle ( 1875-78), die zweite (1 879- 1 886) folgte den Spuren Schweinfurths zu den Mangbetu und Azande. Junker publizierte umfänglich zu seinen Forschungsreisen. Siehe: Reisen in Afrika, 1875-1886 erschienen in drei Bänden (Junker 1 889a, 1 890 und 1 89 1 ) sowie Wissenschaftliche Ergebnisse von Dr. W. Junkers Reisen in Zentral-Afrika 1880-85 (Junker 1 889b). 1 2 1 Schnitzer absolvierte das Studium der Medizin in Breslau, Berlin und Kö nigsberg ( 1 850-63), bevor er 1 865 als Arzt in den Dienst des Osmanischen
EINVERLEIBUNG I 85
Schriften mit Schweinfurths Beschreibungen und Vorgehensweise zeigt Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten sowie die Einführung weiterer Ele mente in den in Reise- und Forschungsberichten verhandelten Kanniba lismusdiskurs auf. Wenden wir uns zunächst der Betrachtung der Kontinuitäten und Ge meinsamkeiten zu. Erstens können wir mit Blick auf den eingangs rekon struierten Wandel in der ethnologischen Forschung Ende des 19. Jahrhun derts festhalten, dass unter den genannten Forschungsreisenden kein aus gebildeter Ethnologe war. Stattdessen können wir auf der biographischen Ebene eine Verschränkung des Kannibalismusdiskurses mit derjenigen Wissenschaft beobachten, die für die biopolitischen Komponenten des Ko lonialprojektes von entscheidender Bedeutung war: der Medizin. Junker und Schnitzer waren beide ausgebildete Ärzte.l22 Das zweite gemeinsame Charakteristikum der in der Nachfolge von Schweinfurth geschriebenen Forschungsberichte ist die Verknüpfung ihrer Biographien mit dem Mahdi-Aufstand ( 1 88 1 - 1 899), welcher mit der Ein nahme Khartums die erste Niederlage der britischen Kolonialmacht in einer militärischen Auseinandersetzung mit Indigenen herbeiführte und ihren Reiseberichten die besondere Aufmerksamkeit des Lesepublikums sicherte.123 Besonders Eduard Schnitzer, der zunächst als Regierungsarzt und Forscher für Charles George Gordon ( 1 833- 1 885) gearbeitet hatte und von diesem 1 878 zum Gouverneur der Äquatorialprovinz mit Sitz in Lado
Reiches in Albanien trat. Ab 1871 begleitete er als Leibarzt den Gouver neur Ismail Hekki Pascha u.a. nach Konstantinopel, Armenien und Syrien. Er eignete sich während dieser Zeit umfassende Sprachkenntnisse des Ara bischen sowie der muslimischen Kultur und Religion an und legt sich ei nen türkischen Namen zu. Dies waren Zeichen einer Assimilation, die in Deutschland Befürchtungen auslösten, er sei zum Islam konvertiert (siehe: Lordick 2005). 1 875, nach einem kurzen Besuch in Deutschland, begab er sich nach Kharturn, wo er zunächst frei praktizierte und 1876 als Regie rungsarzt angestellt wurde. Schnitzer stand durch eine Vielzahl von Publi kationen in regern wissenschaftlichem Austausch mit Europa. Für unseren Kontext sind von besonderem Interesse seine Sammlung von Reisebrielen und Berichten (Schnitzer 1 888) sowie die von Franz Stuhlmann posthum herausgegebenen Tagebücher von Emin Pascha (Stuhlmann (Hg.) 191627). 122 Zur Bedeutung der Medizin für das koloniale Projekt und ihre Verzahnung mit kolonialpolitischen pressure groups siehe: Eckart 1997, hier v.a. S. 7390; Schupp 1999. Ausführlicher zur Akklimatisierungsdebatte und der Rol le der Medizin für diesen Aspekt des kolonialen Projekts in Kapitel 3. 123 Siehe: Al-Sayyid-Marsot 200 1 ; Robinson 2004, S. 1 69- 1 8 1 ; Wesseling 1 999, S. 59-62 sowie Georg Brunold Einleitung zu Winston S. Churchills Bericht über den Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi (Churchill 2008, S. 7-32) der im Original erstmals 1 899 unter dem Titel The River War. A His torical Account 01 the Reconquest 01 the Soudan erschien.
86 I KANNIBALE-WERDEN
ernannt wurde "4 diente als Anknüpfungspunkt kolonialer Phantasien und ,
Heldenstilisierung. Sein Leben als forschender Arzt, der so tief in die Sit ten und Gebräuche der Kolonisierten eintauchte, dass er sich einen arabi schen Namen zulegte (Emin Pascha), der sich in den Dienst der europäi schen Zivilisierungsmission stellte und seinen Posten selbst dann nicht aufgeben wollte, als sein Distrikt von Aufständischen umzingelt war, stell
te mehr als genug Stoff zur Legendenbildung bereit. 1 25 Die Figur Emin Pa schas repräsentierte damit den Typus des heldenhaften weißen Forschers, der es selbstlos und allein im Dschungel Afrikas mit Krankheiten, Auf ständischen und sogar wilden Kannibalen aufnahm. Diese Heldenstilisie rung griff auf das Motiv des Afrikaforschers als Märtyrer der Wissenschaft zurück, welches im deutschsprachigen Raum bereits seit dem Verschwin den Eduard Vogels auf einer Afrikaexpedition im Jahre 1 853 etabliert war."6 So formulierten beispielsweise Georg Schweinfurth und Friedrich Ratzel in ihrer Einleitung zu der von ihnen herausgegebenen Edition von Schnitzers Briefen: "Die Geschichte von Centralafrika wird nach der Darstellung des ersten rohen Entdeckungswerks mit den Thaten [sic] jener Männer zu beginnen haben, wel che, [ ... ] in selbstlosem Kampfe gegen die feindlichen Gewalten menschlicher Bosheit vor keinem Opfer zurückschreckten."127
Ähnliches galt für Wilhelm Junker, der Ende 1 879 zu einer Forschungsrei se in das Gebiet des Delle und des Nepoko aufgebrochen war, und dessen Rückweg nach Ägypten durch den Mahdi-Aufstand abgeschnitten wurde. Junker suchte sich darauf hin selbstständig einen Weg zurück, der ihn über Lado, wo er mit Schnitzer zusammen traf, nach Sansibar führte. Das dritte gemeinsame Charakteristikum aller genannten Forschungs reisenden ist ihre Arbeitsweise, die Anwendung kraniologischer und ande-
1 24 Gordon war zunächst selbst Gouverneur von Äquatoria ( 1 873-1 877), bevor er dieses Amt für den gesamten türkisch-ägyptischen Sudan ( 1 877- 1 879) bekleidete und Schnitzer zu seinem Nachfolger in Lado ernannte. 125 Zu dieser Entwicklung trug nicht zuletzt die äußerst öffentlichkeits wirksam inszenierte Expedition Henry Morton Stanleys zur Rettung Schnitzers bei. Stanleys Bericht (Stanley 1 890) wurde zu einem Beststeller. 126 Siehe: Essner 1 985, S. 2 1 -22 sowie, in Bezug auf eine weitere Spielart des Kolonialhelden, den soldatischen Helden: Maß 2006, S. 40-47 (hier am Beispiel Paul von Lettow-Vorbecks). Untersuchungen zum Thema kolo niale Heldenverehrung im Kontext des Britischen Empire haben deren große Bedeutung für die (Re)Produktion v.a. im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur herausgearbeitet. Vgl. Bristow 1 99 1 , S. 4-38; Dawson 1994, S. 233-258; ein Aspekt, auf den ich im folgenden Kapitel ausführli cher eingehen werde. 127 Georg Schweinfurth und Friedrich Ratzel in der Einleitung zu der von ih nen herausgegebenen Sammlung der Briefe Eduard Schnitzers (Schnitzer 1 888, S. v).
EINVERLEIBUNG I 87
rer anthropologischer Vermessungstechniken. Ebenso wie Schweinfurth verleibten sie auf diese Weise indigene Körper dem Komplex aus kolonia ler Herrschaft und Wissen ein.128 Allerdings, so klagte zumindest Schnit
zer, gestaltete sich der Zugriff auf diese Körper zu Forschungszwecken zunehmend schwieriger. Aufgrund der inzwischen verbreiteten Heimlich keit gegenüber den Elfenbeinhändlern und Europäern habe er weitaus grö ßere Schwierigkeiten mit der Beschaffung menschlicher Skelette als sein Vorgänger Schweinfurth. Leicht resigniert stellte er fest: ,,[Djie guten al ten Zeiten, wo man Schädel mit Kupferringen in beliebiger Menge erkau fen konnte, sind längst voruber."1 29 Er selbst habe nur noch ein menschli ches Skelett und wenige Schädel käuflich erwerben können. 130 Viertens waren auch Schweinfurths Nachfolger Komplizen in den be stehenden Gewalt- und Ausbeutungsstrukturen des Elfenbeinhandels und somit Nutznießer der damit einhergehenden militärischen Auseinanderset zungen. So scheute sich beispielsweise Junkers nicht, die Leichen von Ge fallenen für seine wissenschaftlichen Zwecke zu gebrauchen. Statt etwa auf die aus christlicher Perspektive gebotene ungestörte Totenruhe zu be stehen, nahm er Geschenke in Form einer "Anzahl abgeschnittener Men schenköpfe" an, die ihm von der "Mannschaft Semios", einer Handelssta tion, präsentiert wurden. Mit einer Mischung aus Stolz, Abscheu und Fas zination, mit der er zugleich seine eigene Rolle in dieser Situation bagatel lisierte, notierte er: "Ich hatte nur den Auftrag erteilt, mir gelegentlich auch gebleichte Menschenschädel zu verschaffen", als nach einer Strafex pedition die Köpfe der "Erschlagenen [ . . . ] abgeschnitten und nicht, wie sonst üblich, verspeist, sondern mir überbracht" wurden. B I Auch hier trat damit, wie schon bei Schweinfurth, die Konsumtion indigener Körper durch die europäische Wissenschaft an die Stelle des vermuteten Verzehrs durch die wilden Kannibalen. Junker hielt dieses Geschenk sogar zeichne risch fest (siehe: Anhang Abb. 9.3). Neben all diesen strukturellen Gemeinsamkeiten zeichnet sich inhalt lich in den Beschreibungen der wilden Kannibalen jedoch ein Wandel ab: Einerseits wurden Azande und Mangbetu weiterhin als typische Beispiele herangezogen, andererseits nahmen Schweinfurths Nachfolger andere Charakterisierungen vor oder gaben andere Motivationen für die angeblich ausgeübte Anthropophagie an. Hatte Schweinfurth Wildheit und Gier als Erklärun� für Kannibalismus in den Mittelpunkt geruckt, stellten Schnitzer und Junker nun Ritual, Sitte sowie Aberglauben ins Zentrum. So berichtete Junker von einem Lynchmord, der an einer angeblichen Hexe verübt worden war. Nicht nur hätten die abergläubischen "Unmen sehen" die Frau bei lebendigem Leibe zerstückelt, ihre Leiche sei oben128 129 130 131
Siehe: Junker 1 8 9 1 , S. 178-179. Schnitzer 1 888, S. 1 9 l . Ebd., S. 1 9 l . Junker 1 8 9 1 , S. 1 78.
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drein auch noch gekocht und verspeist worden. Il2 Junker plädierte an die ser Stelle dafür, dass die allgemeine Verbreitung kannibalischer Sitten zu einer milderen Beurteilung von entsprechenden Täterinnen und Tätern führen solle. Sein Argument: Wer kein besseres Vorbild kenne, könne sich nicht anders verhalten. Daher müssten andere Normen zur Beurteilung der Menschenfresserei der wilden Kannibalen herangezogen werden als bei Morden in Europa. ,,[D]iese Menschen handeln im dunkelsten Aberglauben nach Gesetzen, die sich von ihren Vorvätern auf sie vererbt haben, und sie kennen ringsum keine anders fühlenden und denkenden Mitmenschen, keine bessern [sic] Vorbilder. Da frage ich mich denn, ob ihnen nicht mehr vergeben werden muß, als jenen Mördern in den Kulturländern, die trotz aller Erziehung und umgeben von gesitteten Men schen, mit kalter, schlauer Berechnung den gemeinsten Mord und die ruchloses ten Verbrechen begehen."'33
Diese Überlegung schließt, wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, an zeitgenössische juristische und kriminologische Debatten um die Zurech nungsfähigkeit von Straftätern an, in denen die Frage, inwiefern Kriminel le mit sogenannten Wilden psychologische oder sogar physiologische Gemeinsamkeiten b,ätten, eine zentrale Rolle spielte. 134 Schnitzer seinerseits machte, ganz anders als Schweinfurth, der diese Erklärung explizit verworfen hatte, einen verbreiteten Fleischmangel für den Kannibalismus der Mangbetu wie auch der Azande verantwortlich. Fleisch sei in diesem Teil Afrikas ein "Luxusartikel", egal ob es "das eines fetten Guineaschweins , eines dürren Affen oder eines verstorbenen An verwandten" sei.135 Gleichzeitig fügte er auf diese Weise ein neues Ele ment zu der Beschreibung der kannibalischen Praktiken der wilden Kanni balen hinzu: den Endokannibalismus. Darüber hinaus weitete Schnitzer den Kreis der des Kannibalismus verdächtigten oder als überführt geglaubten Personen maßgeblich aus. Ers tens glaubte er, Hinweise auf kannibalische Vorlieben von Gruppen ge funden zu haben, die zuvor nicht als Menschenfresser und Menschenfres serinnen betrachtet worden waren. So verdächtigte er die von Schwein furth ,entdeckten' "Akka", eine Gruppe sogenannter Pygmäen Zentralaf rikas kannibalischer Praktiken. 136 Zweitens nahm er an, die Indigenen wür-
132 Ebd., S. 1 1 1 . 133 Ebd., S . 1 1 1 - 1 1 2. 1 34 Ebd., S . 1 12. Dazu ausführlich Kapitel 5 dieser Studie. 1 3 5 Schnitzer 1 888, S. 1 9 1 . Zu Menschenfleisch als festem Bestandteil der möglichen Auswahl an fleischlicher Nahrung, siehe auch: ebd., S. 205. 136 Ebd., S . 192, 205. Die Bezeichnung Pygmäe wurde abgeleitet von pygmai os (Fäustling) und der Beschreibung eines "Zwerggeschlecht[s]" bei Ho mer (Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. , Leipzig: Verlag des Biblio graphischen Instituts, 1 885-1 892, Bd. 1 3 , S. 479). Schweinfurth bezog sich
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den die Menschenfresserei, anders als noch zu Schweinfurths Zeiten, ge zielt vor den christlichen wie muslimischen Invasoren geheim halten und nur noch in entlegenen Teilen des Landes und keinesfalls in der Nähe der Handelsstationen ausüben. I37 Ein typisches Element des kolonialen Kanni balismusdiskurses, wie in der Literatur herausgearbeitet worden ist: ,,[C]annibalism was supposedly the trait that characterised those parts of the world into which the torch of civilisation had not yet shone. [ . . ] Yet to shine the .
torch of civilisation into these dark spots immediately caused the practise to wither . "13'
Auf diese Weise entstand eine Art Generalverdacht, der umso stärker wur de, je nachdrücklicher die jeweilig Verdächtigten die Praxis bestritten. Angesichts dieser Heimlichkeit wurden Indizien, die früher auf Seiten der Indigenen gegenüber Schweinfurth als Verdachtsmoment gegolten hätten, zum Beweis für die Menschenfresserei. So waren Schnitzer, ,,[s]eitdem [er] aber gesehen [hatte], mit welchem Eifer die Bombe von Makraka, zum Iddiostamme der A-Sandeh gehörig, sich zum Reinigen von Schädeln er boten", diese suspekt. Er ging aufgrund dieser Beobachtung davon aus, "daß sowol [sic] Bombe als Mundu heimlich ihre alten Sitten bewahrt" hätten und weiterhin pflegten. 1 39 Drittens schrieb Schnitzer dem Kannibalismus einen ansteckenden Charakter zu. Er ging davon aus, dass die "Dienerschaft" der Mangbetu, also Personen aus Bevölkerungsgruppen, die ursprünglich selbst nicht Kannibalismus praktiziert haben sollten, durch das Vorbild ihrer Herrinnen und Herren sowie ihr Leben unter den Mangbetu Gefallen an der Men schenfresserei gefunden hätten. 1 4o Die Vorstellung, dass Kannibalismus sich qua Infektion verbreite und dass Menschen durch den Verzehr von Menschenfleisch sozusagen auf den Geschmack kommen könnten, spielte, wie ich später noch demonstriere werde, vor allem in der Zeit der Weima rer Republik in der Auseinandersetzung um die mutmaßlich kannibali schen Sexualstraftäter eine wichtige Rolle.
bei seinen Schilderungen auf Herodot und Aristoteles (Schweinfurth 1 9 1 8, S. 355-368). Pygmäe wurde zunächst als Sammelbegriff zur Beschreibung von Gruppen von Indigenen verwendet, deren Männer im Durchschnitt kleiner als 1 ,5 m groß waren. Während damit zu Schnitzers Zeiten bei spielsweise auch die Khoisan beschrieben wurden, wird der Begriff heute fast ausschließlich in Bezug auf kleinwüchsige Bewohner und Bewoh nerinnen Zentralafrikas verwendet. 137 Schnitzer 1 888, S. 1 9 1 , 205. 1 38 Hulme 1998, S. 7-8. 139 Schnitzer 1 888, S. 1 9 1 . 140 Ebd., S. 190.
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Ethn ologie im Lehnstuhl: Richard And ree
Die Mehrzahl der in den einzelnen Reiseberichten genannten Elemente des Diskurses um den wilden Kannibalen finden wir in Richard Andrees
( 1 83 5 - 1 9 1 2) Monographie Die Anthropophagie. Eine ethnographische Studie vereint.!4! Seine Studie aus dem Jahre 1 887 galt bis in die Zeit der Weimarer Republik als Standardwerk auf dem Gebiet der Kannibalismus forschung: Sie wurde in einschlägigen Lexikoneinträgen, in der Kolonialli teratur oder auch in der Tagespresse stets als Referenzliteratur genannt.l42 Auch Andree bezog sich auf die Forschungen Schweinfurths, und be sonders ausführlich rekurrierte er auf dessen B eschreibungen der kanniba lischen Praktiken der Azande. Bei ihnen, so zumindest nach Andrees Dar stellung, würden Sklaven und Sklavinnen sowie Kriegsgefangene genauso verspeist wie die eigenen Verwandten. Kinder galten angeblich als beson dere Delikatesse, und Menschenfleisch würde offen auf dem Markt gehan delt. Die bei den letztgenannten Verhaltensweisen, "das Auffressen der eigenen Kinder" und die Einspeisung von Menschenfleisch in den Handel, also die Herstellung seiner Konsumierbarkeit als Ware, wurden von ihm als besonders verabscheuungswürdig gebrandmarkt. !43 Wie ein kurzer Blick auf die oben diskutierten Schilderungen Schweinfurths zeigt, spitzte Andree an dieser Stelle entweder stark zu oder entlieh die Information nicht Schweinfurths Werk, sondern den Texten seiner Nachfolger. Ersteres im Falle des angeblichen Verzehrs von Kindern, Letzteres hinsichtlich des vermuteten Endokannibalismus und dem Verkauf von Menschenfleisch. Ausserdem hatte Schweinfurth nicht alle der genannten Praktiken den Azande, sondern einen Teil auch den Mangbetu zugeschrieben. Diese Feh lerhaftigkeit deutet darauf hin, dass die Berichte von Schweinfurth und derjenigen, die in seinen Fußstapfen reisten, in der Wahrnehmung der 141
Siehe: Andree 1 887. Andree studierte Geologie in Leipzig, war Mitbe gründer und Leiter der dort ansässigen kartographischen Anstalt von Vel hagen und Klasing und verlegte zusammen mit Oskar Peschel einen physi kalisch-statistischen Atlas des Deutschen Reiches ( 1 877) sowie den Allge meinen Handatlas ( 1 8 8 1 ) . Er forschte und veröffentlichte als Privatgelehr ter auf dem Gebiet der Ethnographie. Vgl. auch sein 1 9 1 2 posthum in der Zeitschrift für Ethnologie veröffentlichtes Schriftenverzeichnis (Virchow, H. 19 12). Die Anthropophagie war die überarbeitete und erweiterte Fas sung einer kürzeren Abhandlung über Kannibalismus, die Andree bereits 1 873 in den Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig veröffent licht hatte. 142 Siehe beispielsweise: "Kannibalen", in: Vorwärts, 3 1 . 12. 1924 in dem And ree als Experte ausdrücklich genannt wurde; die Einträge "Anthropopha gie", in: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6., gänzl. Neubearb. u. vermehrte Aufl., Leip ziglWien 1902 ff, hier Bd. 1 ( 1 902), S. 57 1 -572 sowie "Androphagen" in Heinrich Schnees Koloniallexikon (Thilenius 1 920a), die beide Andrees Werk als weiterführende Literatur aufführten. 143 Andree 1 887, S. 103.
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Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu einer Art Azandekomplex ver schmolzen, in dem die Verortung der Herkunft der einzelnen Informatio nen nicht mehr möglich oder notwendig schien. Andree unterschied die "gewohnheitsmäße Anthropophagie", auf die allein er sich in seiner Darstellung konzentrierte, nach der Motivation, welche ihr seiner Ansicht nach zugrunde lag, in rituellen Kannibalismus einerseits und den Verzehr von Menschenfleisch aus Gier und Genuss an dererseits.l44 Ritueller Kannibalismus fand laut Andree aufgrund von "abergläubigen Wahnvorstellungen" und aus Rache statt.l45 Als Beispiele hierfür nannte er das Verspeisen von menschlichem Fleisch, um "besonde re Kräfte und Eigenschaften dadurch [zu] erhalte[n]", um durch die totale Vernichtung des Feindes besondere Rache zu üben oder zum Zwecke der Weissagung.146 Diesen "verfeinerten" kannibalischen Sitten stellte er den "rohen, sättigenden Genuß des Menschenfleisches, also der rein materiel len Seite" gegenüber, welchen er für den ethisch verwerflicheren von bei den hielt: 147 "Am scheußlichsten erscheint uns die Anthropophagie aber entschieden da, wo alles Gefühl so abgestumpft ist, daß sie zur reinen Leckerei wird, oder wenn man das Fleisch des Menschen genau so verzehrt, wie jedes beliebige andere
Fleisch." 148
Diese Form des Kannibalismus fand seiner Meinung nach vor allem in Zentralafrika, der "innerafrikanischen Zone der Kannibalen" statt.149 Hier handele es sich um "reine Gefräßigkeit", die auf das Fehlen von zivilisier ten, sittlich-moralischen Skrupeln zurück zu führen sei, die einer Gewöh nung an den Geschmack von Menschenfleisch Einhalt hätten gebieten könnten.15o Es war das Fehlen dieser moralischen Skrupel, welche seiner Ansicht nach den Hauptgrund für die weite Verbreitung der Menschen fresserei bildete. Ohnehin galten die Angehörigen sogenannter "Naturvöl ker" nach Ansicht ethnologischer Experten und Expertinnen als triebhafter und affektgesteuerter als sogenannte Weiße: "Von den die Sittlichkeit bestimmenden individuellen Beweggründen erscheinen bei den Naturvölkern die Herrschaft augenblicklicher Antriebe, das Übergewicht
144 Ebd., S. iii. 145 Ebd., S. 7 sowie 1 0 1 . 146 I n der genannten Reihenfolge: Ebd., S. 8, 101 und S . 8, 19 und S. 102- 103, 23. 147 Ebd., S. 7. 148 Ebd., S. 103. 149 Ebd., S . 40. Eine Einschätzung, die von anderen Experten durchaus geteilt wurde. Siehe: Bergemann 1 893, S. 37-47. 150 Ebd., Zitat S. 22 sowie S. 1 02 und 104.
92 I KANNIBALE-WERDEN der Affekte und der Mangel an Überlegung, das Fehlen der Selbstüberwindung und der Grundsätze."l5l
Umgekehrt, so die Theorie, sei aber auch "dem Weißen" die "unkritische Triebhandlung nicht fremd", wenngleich diese bei "dem Farbigen, der von dem äußeren Reiz abhängiger und ihm ohne Überlegung zu folgen geneig ter" sei, angeblich überwog. 152 Grundsätzlich ging Andree davon aus, dass Kannibalismus einst auf dem gesamten Globus verbreitet gewesen sei. Er bezeichnete die Anthro pophagie auch als eine der "Kinderkrankheiten des Menschenge schlechts". 153 Hunger, vor allem der Mangel an fleischlicher Nahrung, hätte prähistorische Gesellschaften zur Anthropophagie getrieben und bei man chen sich zu "Gewohnheit und Sitte" verfestigt. 15< Mit fortschreitender Zi vilisation sei diese jedoch aufgegeben worden, so dass sie zu seiner Zeit das Hauptkennzeichen des angeblich zurückgebliebenen Entwicklungs standes von "niedrigstehenden Naturvölkern" bildete.155 Er bezog sich da mit auf die oben bereits angesprochene Vorstellung von einer linear ver laufenden Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die davon ausging, dass sogenannte , Naturvölker' frühere Stadien der evolutionären Mensch heitsgeschichte repräsentierten. Andree berichtete auch über einen Fall von Leichenschändung, bei dem 1 879 in Berlin-Friedrichshain Angehörige der "niederen Volks schichten" aus "Aberglauben" und "düstern Anschauun
gen" heraus Leichenteile zu medizinischen Zwecken entnommen hätten.l56 Entsprechend können wir davon ausgehen, dass ihm die Angehörigen der unteren Sozialschichten, Proletarier und Proletarierinnen, ebenfalls als Angehörige einer unteren evolutionären Entwicklungsstufe galten. All die se Elemente werden wir in den späteren Betrachtungen der Debatten um mutmaßlich kannibalische Straftäter im Mutterland wieder finden. Andrees Darstellung erhob im Gegensatz zu den Publikationen von Schweinfurth, Junker oder Schnitzer keinen Anspruch auf Authentizität durch Augenzeugenschaft, sondern bestach durch den Versuch, Vollstän digkeit herzustellen. Die Anthropophagie war eine Kompilation, in der er, geordnet nach geographischen Kapiteln, alles Material präsentierte, das ihm in Reise- und Missionsberichten, Märchen, Sagen und antiken Texten zum Thema Kannibalismus begegnet war. Er praktizierte damit eine Art , Lehnstuhlethnologie' , die bis zu den Arbeiten Bronislaw Malinowskis
( 1 884- 1 942), mit denen Feldforschung zur zentralen Methode des Faches wurde, durchaus üblich war und berief sich dabei ausdrücklich auf Adolf
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Thilenius 1920b, S. 1 12. Ebd., S. 1 1 1 . Andree 1 887, S . 98. Ebd., S. 100. Ebd., S. 1 . Ebd., S . 1 1 .
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Bastian als Vorbild.l57 Nach einer Art Gesetz der Serie ging Andree davon aus, dass "Ule mehr die Beispiele sich häufen, desto reiner und überein stimmender wird das Bild der Völkerpsyche sich vor unsem Augen dar stellen. "! 58 Andrees Argumentation beruhte damit letztlich auf der rhetorischen
Figur der Analogie. Laut Andree existierte eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen den kulturellen Vorstellungen und Praktiken der sogenannten Naturvölker und denen prähistorischer Gesellschaften.!59 Diese Ähnlichkeit habe, so erläuterte er in der wissenschaftstheoretischen Einleitung zu sei ner bereits zehn Jahre zuvor veröffentlichten Sammlung zum Thema Eth
nologische Parallelen und Vergleiche, ihren Grund in der gleichartigen physiologischen Beschaffenheit aller Menschen, weshalb "ihre geistigen Funktionen überall in ihren wesentlichen Zügen dieselben" seien.!60 Auch der zivilisatorische Fortschritt erfolge dementsprechend stets nach den gleichen Prinzipien. Daher besäßen "Menschen wie Völker", sofern "sie auf derselben gleichwerthigen [siel Entwicklungsstufe angelangt sind, un abhängig von einander dieselben Ideen und technischen Fertigkeiten."!6! Dieser Grundsatz, so Andree, gelte nicht nur in synchroner, vergleichend ethnographischer, sondern auch in diachroner Perspektive. Abergläubische Vorstellungen, die auch in modernen Gesellschaften existierten, galten demnach als Artefakte einer evolution ären historischen Vergangenheit, die gleichzeitig die Gegenwart der ,Naturvölker' sein sollte. Andree griff hier implizit auf das Modell der zivilisatorischen Entwicklung in Kulturstufen zurück, welches von Auguste Comte ( 1798- 1 857) entwickelt worden war: "Der Volksaberglauben, die Geister und Zaubermittel, die Orakel und Omina, welche bei uns als Ueberreste der frühesten Kulturentwicklung unsres [sie] Ge schlechtes fortbestehen, sind keine müssige Erfindung, sondern allgemeines Ei genthum [sie] der Menschheit, sie kennzeichnen die Stellung des Menschen ge genüber der Aussenwelt in jenem Zeitraume, in welchem ihm noch die wissen schaftliche Erfahrung über die Dinge und Ereignisse der Aussenwelt abgehen, wo der Naturmensch mit noch unentwickelten Geisteskräften der Welt gegen übersteht."!62
Das Evolutionsmodell, das Andree an dieser Stelle entwarf, war allerdings keinesfalls ergebnisoffen. Deutlich wies er darauf hin, dass seiner Mei-
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Siehe: Andree 1 878, S. viii. Zur Entwicklung der Methodik der Ethnologie siehe: Kohl 1993, S. 105-109; Stagl 2003, S. 46-49; Petermann 2004, S . 884-887. Andree 1 878, S. viii. Andree 1 887, S. 2. Andree 1 878, S. iii. Ebd., S. iii-iv, Zitat S. iv. Ebd., S. iv-v. Ausführlicher zu Comte und der Einordnung seines Modells siehe Kapitel 4.
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nung nach die Faktoren ,Rasse' und Umwelt das Entwicklungspotential beziehungsweise die "Culturfähigkeit" determinierten.163 Gleichzeitig sor ge ein sozialdarwinistischer Ausleseprozess, von ihm als "Untergehen, Verschwinden und Aufsaugen" beschrieben, dafür, dass nicht alle "Racen und Stämme" sich "bis zum Standpunkt unsrer am höchsten cultivirten Racen [sic j" fortentwicklen.l64 Mit Hilfe der rhetorischen Figur der Analogie suggerierte Andree eine Verhältnisgleichheit zwischen Unbekanntem (indigene Kannibalen Afrikas oder der evolutionären Vorzeit) und Bekanntem (Mythen, Märchen, Sa gen). Allerdings benutzte er die Analogie in beide Richtungen, indem er sowohl die Motive der zeitgenössischen wilden Kannibalen als auch die der historischen Anthropophagen und Anthropophaginnen mit Hilfe der jeweils anderen zu erklären suchte. Die Analogie sowie die mit ihr verwandte rhetorische Figur der Meta pher war für die Wissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung, wie Nancy Leys Stepan demonstriert hat. Dabei war' die Funktion der Analogie eine ambivalente: Einerseits regte sie als Denk figur produktiv zu stets neuen Vergleichen und der Suche nach weiteren Ähnlichkeiten an, andererseits führte sie dazu, dass diejenigen Informatio nen, welche die Analogie nicht stützten, systematisch ausgeblendet · wur den.165 Ganz zentral war dieser Mechanismus, so Stepan, in der Anthropo logie, speziell der Kraniologie, deren AnhängerInnen glaubten, über die Messung des Schädels und seines (Gehim-)Volumens den evolutionären Status und damit auch die Intelligenz von Menschen feststellen zu können. Diese Vorgehensweise gewann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts innerhalb der biologistischen Anthropologie, die sich im Anschluß an Ce sare Lombrosos ( 1 835- 1 909) Theorien vom L'uomo delinquente entwi ckelte, sowie in den daran anknüpfenden Wissenschaften wie der Medizin, der Kriminologie oder der Psychiatrie immer größere Bedeutung, während gleichzeitig immer mehr Köperdaten in die Beobachtung eingeschlossen wurden. 166 Auf diese Weise entstand ein komplexes System gradueller Dif ferenzen, welche die Abweichungen von einer gesetzten Norm, etwa der des erwachsenen, gesunden, weißen Mannes des B ürgertums, wiederga ben. Alterität wurde so zu einer materiell meßbaren Größe, zu einer poten tiell infinitesimalen Abweichung auf einer Skala von (Ab-)Normalität. Gleichzeitig bot die Analogie eine Folie, auf deren Hintergrund "people experienced and , saw' the differences between c1asses, races, and sexes, between civilized man and the savage, between rich and poor, between the
163 Ebd., S. üi, Zitat S. vi. 1 64 Ebd., S. vi . 165 Stepan 1986, S. 271 -274. Siehe dazu auch: Landwehr 200 1 , S. 122-123 sowie Sarasin 2003b, S. 45-46. 166 Der Wirkungsgeschichte von Lombrosos Werk wird in Kapitel 4 nachge zeichnet.
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child and the adult."!67 Differenzen aus unterschiedlichen sozialen Zusam menhängen wurden als miteinander verbunden wahrgenommen und inter pretiert.
2 . 3 D a s R e c h t s t e r b e n zu l a s s e n u n d L e b e n zu m a c h e n : K a n n i b a l i s m u s d i s k u r s u n d kolon i a l e Gou v e r n e m e n t a l i t ät
Der eingangs dieses Kapitels geschilderte Prozess in Iringa gegen eine ganze "Zauberbande" von mutmaßlichen Kannibalinnen und Kannibalen fand, im Sinne einer an Verkaufszahlen orientierten Verlagspolitik, in der kolonialpolitisch interessierten Presse ein erstaunlich geringes Echo.168 So nahm beispielsweise Kolonie und Heimat, das Blatt eines der mitglieder stärksten Kolonialverbände, des Frauenbundes der Deutschen Kolonialge sellschaft, keine Notiz von diesem Prozess. Sehr wohl hingegen widmete das vom Reichskolonialamt herausgegebene Deutsche Kolonialblatt in seiner Ausgabe vom 1 5 . März 1 909 dem Prozess gegen den " Menschen jresserbunct' einen ganzseitigen Beitrag. ! 69 Im Gegensatz zu Nigmanns nüchtern gehaltenem B ericht über den Verlauf der Verhandlung finden sich im B ericht des Deutschen Kolonialblatts drastische Beschreibungen des angeblich von den Angeklagten praktizierten Kannibalismus. Beson ders ausdrücklich wurde dabei die Tatsache betont, dass es sich bei den Verurteilten mehrheitlich um Frauen gehandelt habe, die ,,[b]evorzugt [ . . . ] das Fleisch kleiner Kinder" verspeist und dabei auch vor den eigenen Nachkommen nicht Halt gemacht hätten. 170 Ganz im Gegensatz zu den Be richten Schweinfurths, Junkers oder Schnitzers standen hier Kannibalinnen im Vordergrund einer Beschreibung, die viele Elemente aus älteren oder europäischen Kannibalismusdiskursen beinhaltete. So wurden die Mahl zeiten des "Menschenfresserbund[es]" ähnlich denen der antiken Mänaden beschrieben: "Der Körper [des Opfers] wurde von den Genossen des Mah les zerrissen und das Fleisch roh auf der Stelle verschlungen."!7!
167 Stepan 1986, S. 265. 168 Öffentliches Schauri: In der Strafsache gegen das Mbena=Weib Mgalla u. Sendepera wegen Mordes, Beihülfe zum Morde und Kannibalismus [Pro tokoll der Vernehmungen und Urteilsbegründung] , 28. 1 2. 1 908, BArch R 100 1/827, BI!. 5-15, hier B!. 13. 169 "Ein Mordprozeß gegen Menschenfresser", in: Deutsches Kolonialblatt. Amtsblattjür die Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee 20,6 (15. März 1909), S. 261 (HiO). 170 Ebd., S. 261 . 171 Ebd., S. 26 1 .
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Dies war eine Analogie, die in den Reiseberichten der Frühen Neuzeit zum Standardrepertoire der Schilderung kannibalischer Frauen gehörte.172 Gleichzeitig rief die mehrfache Betonung des Verzehrs kleiner Kinder durch abergläubische, der Zauberei verdächtigte Frauen Elemente des eu ropäischen Hexenglaubens auf: Hexensabbat in Afrika.173 Andererseits ent sprachen die hier geäußerten Vorstellungen über menschenfressende Afri kanerinnen Ängsten, wie sie auch in anderen Kolonien nach Niederschla gung eines bewaffneten Widerstandes in Bezug auf indigene Frauen geäu ßert wurden. Wie Rosa Schneider in ihrer Studie Um Scholle und Leben gezeigt hat, waren sie fester Bestandteil der Kolonialliteratur über DSWA174 In dem vorliegenden Beispiel allerdings galten indigene Kinder, und nicht weiße Kolonisatoren, als die bevorzugten Opfer. Dies mag, um im Interpretationskontext DOAs zu bleiben, die Sorge der deutschen Ko lonialherren um ein ausreichendes Reservoir an afrikanischen Arbeitskräf ten widerspiegeln, die sich in der Situation nach dem Maji-Maji-Aufstand ( 1 905 - 1907) noch verstärkte. Gleichzeitig entsprach der Verzehr kleiner Kinder aber auch stärker dem europäischen Bild der Hexe. 175 Der ,Fall Iringa' und die sich daran anschließenden Untersuchungen wurden außer im Deutschen Kolonialblatt auch noch in den Presseerzeug nissen der Berliner Missionsgesellschajt, dem Missions-Freund und dem jährlich erscheinenden Missions-Bericht verfolgt.17• Damit finden sich Ar tikel über den ,Fall Iringa' vor allem im Kontext der Öffentlichkeitsarbeit der zwei über die Deutung des Falles streitenden Akteure deutscher Kolo nialpolitik. Dieser B efund gibt Anlass zu der Vermutung, dass es sich hier 172
Siehe dazu: Wehrheim-Peuker 1999, S. 28-3 1 ; Wehrheim-Peuker 200 1 , S. 1 7 1 - 173 sowie Schülting 1997, S. 1 1 1 . 173 Dabei ist das Stereotyp vom Hexensabbat das historisch komplexe "hybri de Resultat eines Konfliktes zwischen Volkskultur und Gelehrtenkultur" (Ginzburg 1993, S. 26). Gleichzeitig war die Figur der Mutter, die ihre ei genen Kinder verzehrt, seit der Antike fester Bestandteil europäischer Er innerung an überstandene Hungersnöte, wie Nussbaumers Zusammenstel lungen belegen (Nussbaumer 2003, S. 1 6- 125, hier v.a. S. 3 1 -38 zum Drei ßigjährigen Krieg). 174 Schneider, R. 2003, S. 1 6 1 - 1 62. 175 Gründer 2004e, S. 157-159. Ob Aufstand oder Krieg als Bezeichnung für diese Form des bewaffneten und organisierten Widerstandes gegen die deutschen Kolonialherren gewählt wird, ist eine Frage der Perspektive. Während die Kolonialadministration, die Schutztruppenangehörigen und weite Teile der deutschen Forschung von Aufstand sprechen, rekurriert die tansanische Forschung auf dieses Ereignis als Krieg (vgl. Itanddala 2006). Beide Vorgehensweisen bergen Schwierigkeiten in sich: die Tradierung kolonialer Nomenklatur und Sichtweise einerseits, die (Über)Interpretation als nationaler Widerstand andererseits. Im Folgenden verwende ich beide Bezeichnungen, um diese Ambivalenz sprachlich offen zu lassen. 176 "Deutschostafrika", in: Der Missions-Freund. Ein illustriertes Missions blatt für das Volk 64, 5 (1909), S. 40; Missions-Berichte der Berliner Mis sionsgesellschaft für das Jahr 1 909, S. 5 1 sowie Missions-Berichte der Berliner Missionsgesellschaftfür das Jahr 1910, S. 196.
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um ein B eispiel dafür handelt, dass der koloniale Kannibalismusdiskurs, ganz wie Richard King argumentiert hat, nicht nur zur Herstellung einer Distinktion zwischen Kolonialisierten und Kolonisatoren geführt wurde, sondern auch Teil eines komplexeren Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen kolonialen Akteuren, europäischer ebenso wie afrikanischer Herkunft, sein konnte. 177 Um diesen Zusammenhang genauer zu beleuchten, werde ich im Fol genden die Verhandlungen gegen die mutmaßlichen Menschenfresser und -fresserinnen auf der Station Iringa analysieren. Ich werde dabei Fragen nachgehen wie: Wer hat in dieser spezifischen kolonialen Situation auf den Kannibalismusdiskurs B ezug genommen? Auf welche Weise war das Wissen vom wilden Kannibalen in dieser Situation effektiv? Welche Ver zahnung von Kolonialadministration und Wissenschaft können wir be obachten? Ich werde dabei demonstrieren, dass der Diskurs vom wilden Kannibalen ein Teil derjenigen Diskurse und Praktiken war, welche das rassistisch-koloniale Ordnungsgefüge etablierten. Auch hierbei werde ich, soweit die Quellenlage dies zulässt, der agency der Kolonialisierten be sondere Aufmerksamkeit widmen. Wissen, Wahrheit und Verfahren : Effektivität des Wissens vom
wilden Kannibalen Wie aus dem zu Beginn dieses Kapitels zitierten Bericht Hauptmann Ernst Nigmanns hervorgeht, fand die Verurteilung der als Anthropophagen an geklagten Afrikaner und Afrikanerinnen im Rahmen eines sogenannten
schauri statt. Michael Pesek hat in seiner Studie über die Koloniale Herr schaft in DOA demonstriert, dass die Institution des schauri eine zentrale "koloniale Herrschafts- und Rechtspraxis" der deutschen Kolonialmacht in DOA darstellte. 178 Jedes schauri war ein "Spektakel", eine Performanz ko lonialer Herrschaft, dessen Ablauf einer strikten symbolischen Anordnung der Beteiligten im Raum folgte und die militärische Stärke der Kolonial herren demonstrierte. 179 Inhaltlich changierte es zwischen Verhandlung oder Besprechung mit den lokalen indigenen chiefs und einer öffentlichen Gerichtsverhandlung. Gleichzeitig handelte es sich dabei nicht um eine Erfindung der Kolonialadministration, sondern vielmehr um eine "Monta ge bürokratischer Herrschaftspraxis mit lokalen Mustern der Diplomatie und Rechtspraxis". Sie entsprang unmittelbar aus Interaktionserfahrungen wie der Expeditionskarawane oder der Errichtung kolonialer Herrschaft nach militärischen Auseinandersetzungen und band die Repräsentanten der deutschen Kolonialmacht in indigene diplomatische Gefüge ein. ISO Ähnlich 177 178 179 1 80
Siehe auch: King 2000, S. 109. Pesek 2005, S . 277. Ebd., S. 279-280, Zitat S. 279. Ebd., S. 277-279, Zitat S. 277-278.
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wie bei der Etablierung des Wissens vom wilden Kannibalen griffen die deutschen Kolonisatoren mit der Etablierung des schauri eine indigene Praktik auf und banden diese in den kolonialen Komplex aus Wissen und Herrschaft ein. Ich möchte mich bei meiner exemplarischen Analyse der Urteile in Iringa auf zwei Aspekte des schauri konzentrieren: erstens seine Funktion als Strafgerichtsprozess und zweitens die Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren deutscher Kolonialpolitik sowie den Kolonia lisierten. Wenden wir uns zunächst dem schauri als Strafgerichtsprozess zu. Zwar fehlten ihm wesentliche Elemente, die es als Teil eines im europäi schen Sinne geordneten, bürokratischen Verfahrens hätten auszeichnen müssen, allen voran die Schriftlichkeit.l81 Gleichzeitig erfüllte es jedoch eine zentrale Funktion eines solchen Gerichtsverfahrens: es diente der Feststellung eines möglichen Straftatbestandes und der Bestimmung eines Strafmaßes. Wie genau kam nun das Wissen vom wilden Kannibalen im Gerichtsverfahren ins Spiel? Ludger Hoffmann, der sich mit der sprachli chen Konstruktion von juristischen Fällen auseinandergesetzt hat, geht davon aus, dass vor Gericht eine "Interpretationsleistung" erbracht wird, die darin "besteht [ ... ] , konkrete Ereignisse der Wirklichkeit in eine Form zu bringen, die sie als Instanz eines abstrakten, normativen Ereignistyps erscheinen läßt."182 Da aber vor Gericht lediglich sprachlich vermittelt und damit stets unvollständig auf die Ereignisse zugegriffen werden kann, folgt diese Interpretationsleistung einer Plausibiliätsargumentation, welche die zur Tatzeit stattgefundenen Geschehnisse rekonstruiert und möglichst überzeugend darstellen möchte, dass tatsächlich eine strafbare Handlung vorliegt: ,,[D]ie Wirklichkeit verschwindet hinter konfligierenden Darstel lungen. Der Modus verschiebt sich von der ,Wahrheit' zur Plausibilität: Wie könnte es denn gewesen sein? Wem kann man glauben?" 18 3 Damit ist eine der Grundbedingungen gerichtlicher Verfahren der zweifelhafte Sta tus der Wahrheit. Sie muss im Prozess erst hergestellt werden und ist stets prekär, nur als die plausibelste aller Varianten vertreten. Es ist unklar, wer die Wahrheit spricht und wer nicht. Oder, um mit Michel Foucault zu sprechen: im Prozess entfaltet sich ein "Wahrheitsspiel", das bestimmten Regeln gehorcht und durch Machtrelationen strukturiert wird. 1 84
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Ebd. , S. 280. Die vom Iringa-Prozess überlieferten Akten stellen insofern eine Ausnahme dar. Sie sind mehrheitlich nicht unmittelbar im Verfahren selbst entstanden, wie etwa die Akten der Prozesse gegen die mutmaßlich kannibalischen Sexualstraftäter der Weimarer Zeit, sondern vor allem nachträgliche Aufzeichnungen Nigmanns sowie die Unterlagen aus dem aufgrund der Missionsbeschwerden initiierten Untersuchungsverfahren. 182 Hoffmann 199 1 , S . 88. 183 Ebd., S . 89. 184 "Wenn ich Spiel sage, rede ich von der Regelmenge zur Herstellung der Wahrheit. Das heißt nicht Spiel im Sinne von Nachahmung oder Schau spiel; das ist die Menge von Verfahren, die zu einem bestimmten Ergebnis
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Hoffmann arbeitet drei Kriterien heraus, nach denen im Gerichtsver fahren Plausibilität beziehungsweise Wahrheit hergestellt wird: Entspricht das Geschilderte den Erfahrungen und der Erwartungshaltung des Ge richts? Stimmt die Darstellung in sich? Kann das Geschilderte personell zugeordnet werden? Alles, was diesen Rahmen überschreitet, ist innerhalb eines Prozesses nicht überzeugend darstellbar. Damit gewinnt das "All tagswissen", welches den Akteuren jeweils zur Verfügung steht, eine zent rale Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Argumentation. 1 8S Dieses All tagswissen wird von Hoffmann relativ umstandslos vorausgesetzt und synonym mit Alltagsplausibilität verwendet. Genauer betrachtet umfasst der Begriff jedoch mehrere Aspekte. Zum einen bezeichnet er dasjenige Wissen, auf welches die Beteiligten zur Interpretation ihrer Umwelt zu rückgreifen können und das für sie handlungsleitend ist. In diesem sozio logischen Sinne bildet Alltagswissen eine Bedeutungs- und Sinnstruktur.'86 Es wird teils von den Akteuren in actu ausgebildet (",practical conscious ness""87), teils auch medial vermittelt von ihnen erworben ("Bestandteil des kulturellen Wissens"'''). Zum anderen bezeichnet der Begriff des AlI tagswissens, so wie Hoffmann ihn verwendet, dasjenige Wissen, auf wel ches die Beteiligten in ihrer Argumentation Bezug nehmen können, das, worüber sie innerhalb des "Wahrheitsspiels" sprechen können. Damit ver weist Alltagswissen auf ein Wissen im Sinne Michel Foucaults, auf "das, wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann". '89 Unsere Frage nach der Art und Weise, wie das Wissen vom wilden Kannibalen im Rahmen des schauri in Iringa effektiv wurde, zielt auf ein weiteres Charakteristikum von Gerichtsverfahren: ihre Regelhaftigkeit. Der Bezug auf und die Einführung von Wissen war und ist bis heute in einem Gerichtsverfahren nur seinen Regeln und materiellen Bedingungen entsprechend möglich und wird seinerseits von diesen strukturiert. Diese Rege1haftigkeit wiederum ist quellentechnisch fassbar über das Reichs strafgesetzbuch (RStGB, 1 8 7 1 ) , das die Handlungen bestimmte, welche Gegenstand eines Prozesses werden konnten, sowie in der Reichsstrafpro zessordnung (RStPO, 1 877), welche die einzelnen Schritte eines Verfah rens vorschrieb. Als solches fungierten beide als materielle Bedingungen
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führen, das nach der Maßgabe seiner Verfahrensregeln und -prinzipien als gültig oder nicht, als Sieger oder Verlierer betrachtet werden kann". (Mi chel Foucault, "Freiheit und Selbstsorge", in: Freiheit und Selbstsorge. Hg. Helmut Becker et al., Frankfurt a.M. 1984, S. 7-28, hier S. 24, zit.n.: Lem ke 1997, S . 334). Siehe: Hoffmann 199 1 , S . 89, 1 1 1 (hier auch Zitat). Siehe: Berger/Luckmann 2007, S . 2 1 -22. Giddens 1987, S. 165- 1 74, Zitat S . 165. Titzmann 199 1 , S. 230. Foucault 1997, S . 259.
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eines Strafprozesses.l90 Auch sie sind Teil derjenigen "Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen" und führen "bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung" mit sich,I'1 die den Kriterien der Objektivität und der Authentizität unterliegen. Aus diesem Grunde wird im Verfahren die Au genzeugenschaft und der Bericht als vermeintlich objektivste der erzäh lerischen Darstellungsformen bevorzugt und der Ablauf des Verfahrens formalisiert und ritualisiert.l92 Darüber hinaus beeinflussen RStPO und RStGB nicht nur den "Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht", sondern den Status aller, die vor Gericht spre chen, und setzen damit die Rahmenbedingungen für die diskursiven und performativen Praktiken, die im Feld des Prozesses wirksam sind.l93 Hin sichtlich der hier zu untersuchenden Gerichtsverfahren gegen mutmaßliche Kannibalen und Kannibalinnen sind eine Reihe von Aspekten festzuhalten: Erstens wurde zwar grundsätzlich die Gültigkeit des RStGB und der RStPO ( 1 879) auf das Gebiet der deutschen "Schutzgebiete" ausgedehnt,I'4 jedoch galten sie nicht für diejenigen Teile der Bevölkerung der deutschen "Schutzgebiete", die aufgrund rassistischer Kriterien als "Eingeborene" galten.19S Diese standen vielmehr unter einer besonderen Rechtsordnung, dem sogenannten "Eingeborenenrecht", welches "diejenigen Rechtssätze" umfasste, "welche die Ordnung des Gerichtswesens, das gerichtliche Ver fahren sowie das bürgerliche und Strafrecht der Eingeborenen" betrafen. l96 Es setzte sich aus den indigenen und den von den deutschen Kolonialher ren erlassenen Rechtsnormen zusammen.197 Ein "kodifiziertes Eingebore190
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Allerdings überschritt diese Regelhaftigkeit die rein normativen Vorschrif ten des RStGB und der RStPO einerseits um die Dimension der Praxis (Handhabung durch die Beteiligten, Diskussionszusammenhang, in dem diese Normen stehen, etc.), andererseits waren die materiellen Bedingun gen des Verfahrens nicht auf diese beschränkt. Foucault 1978b, hier S. 5 1 . Siehe: Hoffmann 1 99 1 , S . 103- 107. Foucault 1978b, S. 5 1 . Die deutschen Kolonien galten als Reichsgebiet, in dem der Kaiser als Schutzherr stellvertretend die Souveränität des Reiches ausübte. Siehe: Fischer, H.-J. 2001 , S. 66-69. Zum "Eingeborenen" oder "Farbigen" wurde grundSätzlich erklärt, wer eine "Beimischung vom Blute einer farbigen Rasse" aufwies. Davon aus genommen waren einzelne Personen, welche die reichsdeutsche Staatsbür gerschaft oder die eines anderen "zivilisierten christlichen Staate[s]" oder Japans besaßen sowie in DOA "Goanesen", "Parsen" und "christliche Sy rer". Vgl. Hoffmann 1 9 1 1 , S. 21 sowie Fischer, H.-J. 2001 , S. 73-76; EI Tayeb 2001 , S . 1 3 1- 1 39 und Gosewinke1 2001 , S. 303-309. Gerstmeyer 1920a, S. 508. Letztere wurden für den Bereich des Strafrechts nach § 6 des Schutzge bietsgesetzes (SGG, 1 . Fassung 17. April 1 886) grundsätzlich als kaiserli che Verordnung erlassen. Mit den Kaiserlichen Verordnungen vom 25. Februar 1 896 und vom 3. Juni 1908 übertrug er die Zuständigkeit für den Erlass von Bestimmungen zum "Eingeborenenstrafrecht" auf den Reichs-
EINVERLEIBUNG I 1 01
nenstrafrecht[ ]" lag allerdings nicht vor. Da nach Ansicht der Kolonial macht "das Reichsstrafrecht schließlich nichts anderes feststellt[e], als was vom Kulturstandpunkte des Deutschen aus als strafbares Unrecht zu be trachten" war, wurden "in Wirklichkeit auch aus diesem die Normen" zu Strafbarkeitskriterien und Verfahrensweise "entnommen".198 Allerdings sollten deutsche Gesetzestexte nur eine allgemeine Richt schnur der Rechtsprechung über AfrikanerInnen darstellen. Die Zuständi gen sollten zusätzlich die "Stammessitten und -gebräuche über die Straf barkeit der Handlungsweise Eingeborener" in ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen.l99 Diese Berücksichtigung wurde allerdings durch zwei Faktoren begrenzt: häufig waren diese Rechtsnormen mündlich tradiert, entsprechend den vielen beteiligten sozialen Gruppen sehr vielfältig und den Kolonialherren nur schwer zugänglich.2
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kanzler, der wiederum die Gouverneure der einzelnen Kolonien zum Erlass von Verordnungen ermächtigen konnte. Die rechtstaatliche Trennung von Exekutive und Legislative wurde für die Kolonien explizit aufgegeben. Dahinter stand die Überlegung, dass die Behörden vor Ort am besten in der Lage wären, Rechtsnormen zu entwickeln, die der fortschreitenden Er schließung der Schutzgebiete entsprächen: eine Art Ermächtigung der men on-the-spot. Siehe dazu: Gerstmeyer 1 920a, S. 509 und Fischer, H.-J. 2001 , S. 70-72, 95. Diese Vorgehensweise wurde vom Reichskanzler ausdrücklich gefördert. In einer Dienstanweisung vom Mai 1 902 an die Verwaltung des "Schutz gebietes" Kamerun verfügte er die sinngemäße Anwendung des RStGB bei Strafverfahren gegen Indigene (Straehler 1920, S. 4 1 8). Siehe auch: Fischer, H.-J. 2001 , S. 1 7 l . Straehler 1920, S. 4 1 8 . Siehe auch: Fischer, H.-J. 200 1 , S. 167-1 68. Auf Beschluss des Reichstages vom 3. Mai 1 907 sollten die traditionellen Rechtsordnungen der indigenen Bevölkerungen der deutschen Kolonien systematisch aufgenommen und kodifiziert werden. Die Ergebnisse dieses Unternehmens wurden allerdings erst nach 1 9 1 9 veröffentlicht. Siehe: Schultz-EwerthiAdam 1929. "Naturgemäß kann dies, entsprechend den ethischen und politischen Auf gaben der Eingeborenenrechtspflege, welche auch erziehend wirken soll, nur so weit geschehen, als diese Rechtsgewohnheiten nicht, vom Stand punkte einer Kulturnation aus beurteilt, gegen die gesunde Vernunft und die guten Sitten verstoßen." (Gerstmeyer 1 920a, S. 5 1 1 -5 12.) Siehe dazu auch: Schaper 2009, S. 20-22. Darüber hinaus kam es noch zu einer weite ren Ungleichbehandlung von Europäern und Europäerinnen und "Eingebo renen": De facta wurden Letztere für die gleichen Delikte härter bestraft als die Ersteren, außerdem galten für sie de jure Körper- bzw. Prügelstra fen (siehe: Fischer, H.-J. 200 1 , S. 1 74-1 82).
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eines Dolmetschers, in Form eines schauri verhandelt. Zu der Verhand lung wurden in schweren Fällen zwei ,weiße' Beisitzer und die örtlichen afrikanischen Würdenträger (lumben) hinzugezogen. Als Richter fungierte der Amtsvorsteher des jeweiligen Bezirksamtes.202 Sofern das Gebiet noch nicht soweit kolonisiert war, dass Verwaltungseinheiten hatten eingerichtet werden können, übernahm, wie im Fall lringa geschehen, der Stationsvor steher der örtlichen Militärstation diese Funktion.203 Indigene wurden nicht unter Eid vernommen, da ihnen aufgrund rassistischer Zuschreibungen die dazu nötige , geistige Reife' abgesprochen wurde.204 Hierdurch und durch den zivilisatorischen Auftrag, in dem sich die Kolonialherren richten sa hen, entstanden weitere spezifische "Eingeborenendelikte": etwa die Falschaussage ohne Eid oder "gewisse auf Aberglauben beruhende Ge bräuche der Eingeborenen, wie z.B. Giftproben, Manipulation der Zaube rer u. dgl. mehr".205 Für den Fall, dass der oder die Angeklagte unter Aus setzung seiner oder ihren freien Willensbestimrnung handelten, sah das RStGB in § 5 1 die Möglichkeit einer verminderten Zurechnungsfähigkeit und damit einhergehend die Zuerkennung eines verringertes Strafmaßes vor.206 Der Einfluss abergläubischer Vorstellung wurde in diesem Zusam menhang, wie in Kapitel vier noch zu sehen sein wird, von kriminologi schen und juristischen Experten ernsthaft diskutiert. Auch anthropologi sche Forscher, wie wir
am
Beispiel Wilhe1m Junkers gesehen haben, plä
dierten in diesem Sinne. Zur Feststellung einer eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit konnte der Vorsitzende eines oder mehrere Gutachten von sachverständigen Ex perten einholen. Hauptmann Nigmann hätte also in seiner Funktion als vorsitzender Richter die Möglichkeit gehabt, in Anlehnung an das RStGB, eine Art Sachverständigengutachten, etwa eines länger in der Gegend an sässigen Missionars, einzuholen. Auf diese Möglichkeit verzichtete er, wie wir heute wissen. Vielleicht, weil gerade kein ,Experte' zur Hand war. Möglicherweise, und dies ist die wahrscheinlichere Erklärung, aber auch, weil er nicht den Eindruck hatte, einen solchen zu benötigen.
202
Siehe: Gerstmeyer 1920a, S. 5 10, Gerstmeyer 1920b, S. 1 1 1 sowie Fischer, H.-J. 2001 , S. 95-98, 167- 1 7 1 . 203 Bis 1 9 1 0 waren dies in der Kolonie DOA noch die Stationen Iringa, Ma henge und Kilimatinde (siehe: Fischer, H.-J. 2001, S. 1 23). Auf Expeditio nen übernahm der Expeditionsleiter dieses Amt (ebd., S. 98). 204 Fischer, H.-J. 2001 , S . 96, 169. 205 Gerstmeyer 1 920a, S. 5 1 1. Siehe auch: Fischer, H.-J. 2001 , S. 168. 206 Siehe dazu: Rubo 1992, S. 467-473, 654-661 sowie Groß, H. 1914, S. 214215. Ausführlicher zur verminderten Zurechnungsfähigkeit und den Debat ten um § 5 1 RStGB siehe Kapitel 5.
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Kol onisierung mit Erhaltu ngsmitte l n : Neue Kolonialherren braucht das Land?
Ernst (Julius Theodor) Nigmann, geboren 23 . Oktober 1 867 in Berlin, Sohn eines Postdirektors, trat unmittelbar nach Ablegen des Abiturs 1 886 in die Armee ein. Seine militärische Karriere war geprägt von einer fort laufenden Weiterbildung: 1 889-9 1 besuchte er die Artillerie- und Ingeni eurs schule, die er mit der Ingenieursprüfung abschloss. Er legte darüber hinaus mehrere Dolmetscherprüfungen ab: 1 896 Französisch, 1 899 Italie nisch. Er war an der Niederschlagung des Aufstandes der Hehe zwischen 1 8 9 1 und 1 898 beteiligt und wurde 1 902 zum Hauptmann und Kompanie
chef in der Kaiserlichen Schutztruppe in DOA ernannt. Ein Jahr später war er Chef des Militärbezirks Kilinatinde und von 1 903- 1 9 1 0 Bezirkschef von Iringa im Siedlungsgebiet der Hehe. Darüber hinaus war Nigmann eben falls in die Niederschlagung des Maji-Maji-Krieges ( 1 905- 1 907) invol viert.207 Die Auswirkungen dieses Aufstandes waren vielfältig. Erstens führten Kolonialkriege allgemein, so argumentiert Helmut Bley, zu einer drastischen Radikalisierung der Kolonialpolitik in Richtung einer physischen Vernichtung des Gegners, d.h. der kolonialen Bevölke rung. 20S An die Stelle der militärischen Konfrontation trat dabei besonders in DOA eine gezielte und umfassende Anwendung der Taktik der ver brannten Erde, so dass in den Folgejahren mehr Afrikanerinnen und Afri kaner durch Hunger und Seuchen starben als die geschätzten 75 .000 Per sonen, welche bereits während der Kämpfe umgekommen waren. Die Er nährungsgrundlage der indigenen Bevölkerung wurde von der Schutztrup pe derart systematisch zerstört, dass etwa 25% der Frauen auf dem Gebiet DOAs permanent unfruchtbar wurden. Der bereits vor Ausbruch des Krie ges aus Sicht der Kolonialherren bestehende Arbeitskräftemangel wurde dadurch weiter verschärft,l09 Gleichzeitig, so verdeutlichen Berichte über die Vorgehensweise besonders der Askari im Bezirk Iringa, wurde dieser Krieg mit barbarischen Mitteln geführt: Gefangene wurden verstümmelt, gefallenen gegnerischen Anführern wurde der Kopf abgeschlagen und ausgekocht als Siegestrophäe ins Mutterland verschickt. 2W Die Studie von 207 Nigmann 1 9 1 1 , S. 3 1 -59, 102-107. 208 Für Helmut Bley war dies ein generelles Merkmal der deutschen antikolo nialen Kriege, das allerdings für den Kontext DSW A bislang weitaus um fassender aufgearbeitet wurde als für DOA (Bley 2006, S. 14-15). Zu DSWA vgl. die wegweisende Studie von Jürgen Zimmerer Deutsche Herr schaft über Afrikaner (Zimmerer 200 1 , S. 32-4 1 ) . Ähnlich argumentiert auch Dierk Walter, der auf die für Kolonialkriege typische "Grauzone" zwischen militärischer und polizeilicher Gewalt sowie deren Unabhängig keit von kriegsrechtlichen Kodifizierungen verweist (Walter 2006, S. 1920, Zitat S . 19). 209 Siehe: Gründer 2004e, S. 1 57- 1 64, bes. 1 63; lliffe 1979, S. 1 99-200; Beez 2003, S. 102-107; B ald 1 970, S. 67-69; Kuss 2006, S. 2 19-220, 227-228. 210 Siehe: Nyagava 2006, S . 1 1 7-1 1 8 .
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Michael Pesek demonstriert darüber hinaus, dass die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes im Kontext eines Terrors gesehen werden muss, der in Form von immer wieder gegen widerständige Indigene entsandten Strafexpeditionen bereits seit Jahren von den Kolonialherren ausgeübt worden war. Seit der Gründung der Kolonie 1 885 bis 1 903 verging kein Jahr ohne die Bekämpfung eines lokalen Aufstandes. Dieser de facta "tota le Kolonialkrieg", einerseits "Vorbedingung kolonialer Politik" und ande rerseits größtes Hemmnis einer ökonomischen Entwicklung, war durch einen geradezu irrational erscheinenden Exzess von Gewalt gekennzeich net. Die Kolonialherren zielten damit jeweils auf einen symbolischen Akt, der die "Präsenz der Kolonisierenden verdoppeln" sollte: nach dem Abzug sollten sich die Indigenen an das Spektakel der Gewalt erinnern.211 Zweitens beschleunigte der Maji-Maji-Aufstand einen Kurswandel in der deutschen Kolonialpolitik, der sich bereits in den Jahren zuvor abge zeichnet hatte: Nicht nur das Verhalten des Gründers der Kolonie earl Pe ters ( 1 856- 1 9 1 8) geriet in die Kritik, sondern auch die Politik der gewalt samen kolonialen Eroberung insgesamt. So forderte 1 903 sogar ein leiten der Beamter innerhalb der deutschostafrikanischen Kolonialadministration eine Abkehr von diesem Regime. Ein Forderung, der von Seiten des Reichskolonialamts Taten folgen sollten:212 1 906 wurde Freiherr Albrecht von Rechenberg ( 1 8 6 1 - 1 935) zum neuen Gouverneur DOAs ernannt, der eine Reformpolitik verfolgte, die mit derjenigen des 1 907 in das nach den sogenannten "Hottentottenwahlen" neu geschaffene Reichskolonialamt als Staatssekretär eingesetzten Bernhard Dernburg ( 1 865-1 937) korres pondierte.213 Demburg plädierte für eine intensive Verschränkung von Wissenschaft und Kolonialadministration, die sich idealerweise auch auf personeller Ebene niederschlagen sollte. Bereits in seinen programmatischen Vorträ gen über die Zielpunkte deutscher Kolonialpolitik im Jahre 1 907 hatte Dernburg die "langsame, verständige, überlegte Tätigkeit besonders befä higter und vorgebildeter Leute" in der Kolonialadministration gefordert.214 Anders als in früheren Phasen der europäischen Kolonialisierung und im Gegensatz zu anderen Kolonialmächten solle Deutschland nicht mit "Zer stärungsmitteln", sondern vielmehr mit "Erhaltungsmitteln" kolonisie ren.2I5 Unter explizitem Verweis auf die genozidale Politik gegenüber den
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Pesek 2005, S. 1 9 1-204, Zitate S . 1 99, 197. Siehe dazu auch: Morlang 2006. Teil dieses Kolonialkrieges war die Niederschlagung des Aufstandes der Hehe, an dem Nigmann persönlich beteiligt war. Siehe dazu: Nigmann 1 9 1 1 , S. 3 1-59 sowie Becher 1994. Siehe: Pesek 2005, S. 202-203. Zu den Debatten um und den Prozess ge gen earl Peters siehe: Geulen 2003 sowie Kapitel 3 . Bald 1970, S . 75-105; von Strandmann 2009, S. 428-439. Demburg be kleidete sein Amt bis 19 10, von Rechenberg bis 1 9 14. Demburg 1907, S . 8. Ebd., S . 9 (HiO).
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Native Americans in den Vereinigten Staaten als Negativbeispiel forderte Demburg die Umorientierung der Kolonialpolitik: "Hat man früher mit Zerstörungsmitteln kolonisiert, so kann man heute mit Er haltungsmitteln kolonisieren, und dazu gehören ebenso der Missionar, wie der Arzt, die Eisenbahn, wie die Maschine, also die fortgeschrittene theoretische und angewandte Wissenschaft auf allen Gebieten. "2 1 6
Deutsche Kolonialpolitik sollte demnach nicht länger mit dem Schwert herrschen, um mit Foucault zu sprechen, sondern durch Regulation und Optimierung der Lebensäußerungen von Individuen und Gruppen, kurz: mit Mitteln der modemen Bio-Macht regieren. Gleichzeitig sollte die Aus übung dieses neuen, biopolitischen Kolonialismus nicht durch "zu viel Vorschriften" oder "Bureaukratie" zentral vorgeschrieben werden. Viel mehr sollten die solcherart qualifizierten Akteure vor Ort flexibel ent scheiden können.2!7 Nicht "deutsch verwaltern] mit der Pünktlichkeit des hohen Rechnungshofs in Potsdam", sei dabei die Maßgabe, sondern so zu regieren, wie es den Kolonialisierten angemessen sei. Es gelte nicht etwa "mit gewalttätiger Hand [ ... ] in uralte Lebensgewohnheiten, Familienrech te" eingreifen, "Rechtsbegriffe aufpfropf[enJ , wo das entsprechende Rechtsempfinden" fehle oder einen grundsätzlichen Feldzug gegen "den Aberglauben" zu führen, sondern sorgsam abzuwägen und unter Berück sichtigung der Sitten der sogenannten "Eingeborenen" zu entscheiden, gegebenenfalls sogar über "über manche üblen und grausamen Gewohn heiten" hinwegzusehen. Mit Blick auf Foucaults Konzept der modernen Gouvernementalität formuliert, ging es darum zu regieren statt zu herrschen. Denn sonst, so Demburg, gerate die deutsche Kolonialherrschaft in den "Zustand des be ständigen Konflikts, und wo man auf selbstbewußte, gut bewaffnete und ihrer numerischen Überzahl nach sichere Eingeborene trifft, kommt man selbstverständlich in den Aufstand, den man mit großen Opfern zu beruhi gen hat." 2 18 Demburg plädierte damit für eine Form des kolonialen social
engineering, welches weniger auf Exklusion der Kolonialisierten als viel mehr auf die Regulation und Organisation ihres Lebens und ihrer Arbeits kraft zielte. Wir können ihn damit als Advokaten einer Gouvernementali
tät bezeichnen, deren besonderes Charakteristikum allerdings nicht, wie etwa von Albert Wirz angenommen, die "Gleichzeitigkeit des Ungleich zeitigen", das heißt die Disziplinierung und der Regulation der Bevölke rung, sondern die enge Verzahnung von Wissen und Kolonialadministra-
216 Ebd., S. 9 (HiO). 2 1 7 Ebd., S . 8. 2 1 8 Ebd., S. 8.
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tion bildete.219 Inwiefern es sich dabei um eine im engeren Sinne "colonial governmentality" handelte, wird im Folgenden noch näher zu überprüfen sein.220 Nigmann selbst hatte noch aktiv an der von Dernburg so scharf kriti sierten Politik der kolonialen Eroberung mitgewirkt, während er zugleich den neuen Typus des deutschen Kolonisatoren auf geradezu ideale Weise verkörperte. In seinen Heimaturlauben der Jahre 1 904, 1 907, 1 9 10, 1 9 1 3 und 1 9 1 4 studierte er an der Universität Berlin, unter anderem bei dem Volkswirt Karl Helfferich (Kolonien und Kolonialpolitik), dem Ethnolo gen Felix Luschan (Völkerkunde DOAs) sowie dem Rechtswissenschaftler Conrad Bornhak (Kolonialrecht).221 Auch veröffentlichte Nigmann mehre re Publikationen, darunter Die Wahehe ( 1 908) und die Geschichte der kai serlichen Schutztruppe ( 1 9 1 1 ).222 Über seine Zeit als Stationsleiter in Iringa
2 1 9 Wirz 2003, S. 9-10, Zitat S. 10. Wie ich im einleitenden Kapitel bereits demonstriert habe, ist die Verflechtung von disziplinarischen und regulato rischen Technologien und Rationalitäten nach Foucault vielmehr das be sondere Kennzeichen der modernen Gouvernementalität generell. Zu Dernburgs Politik des kolonialen engineering und der Verflechtung von Wissenschaft und Kolonialadministration siehe: Smith, W.D. 199 1 , S. 1 62173; Grosse 2000, S. 1 13- 124; van Laak 2004a, S. 130-149; Schubert 2003, S. 268-299. 220 Zum Begriff der "colonial governmentality" vgl. Scott, D. 2005, S. 24-25, 35. 22 1 Seine Hochschullehrer waren allesamt Protagonisten oder aktive Unter stützer der deutschen Kolonialpolitik. Karl Helfferich (1 872-1 924), stu dierter Jurist, war als Privatdozent sowie seit 1904 in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes tätig und ab 1906 Direktor der B agdadbahn in Konstantinopel. Felix Luschan (1 854- 1924) war 1 885 Assistent am König lichen Museum für Völkerkunde in Berlin geworden und leitete 1904 bis 1 9 1 1 dessen Afrika- und Ozeanien-Abteilung. Nigmann machte diesem Geschenke von "ausgezeichnet schönen ethnographischen Stücken meist aus Uhehe", für welche sich Luschan persönlich bei ihm bedankte (Schrei ben Felix Luschan, Direktor des Königlichen Museum für Völkerkunde, Berlin an Nigmann, 20. 12.1904, GStAPK, VI. HA NI Nigmann/8 1 ). Con rad Bornhak ( 1 86 1 -1944), ebenfalls Jurist, publizierte neben seiner Lehrtä tigkeit an der Universität Berlin breit zu Themen des Kolonialrechts und der Kolonialpolitik, dem Staatsrecht, der Verfassungsgeschichte sowie dem Strafrecht. Nigmann schloss seine Studien nach Ende des Ersten Weltkriegs im November 1 9 1 9 mit dem Dr. jur. ab. "Ein Oberst, der seinen Doktor macht" - das war ein Ereignis, über das sogar in der Tagespresse berichtet wurde. (Siehe: "Ein Oberst, der seinen Doktor macht", in: BZ am Mittag, 1 3. 1 1 . 1919; "Eine wissenschaftliche Höchstleistung", in: Deutsche Tageszeitung, 1 3. 1 1 . 1919; "Der Oberst mit der Doktorwürde", Bayrische Landeszeitung, 1 9. 1 1 . 1 9 19, in: GStAPK, VI. HA NI Nigmann/128- 1 30). 222 Nigmann 1908; Nigmann 191 1 . Darüber hinaus schrieb er auch populäre Beiträge über das koloniale Afrika, die in einem amüsiert-paternalistischen Ton gehalten waren. So beispielsweise in der Gartenlaube, einer Zeit schrift, welche 1904 dem Zeitungsverlag des rechtsnational gesinnten Au gust S cherl gehörte und später ( 191 6) Teil des Alfred Hugenberg Medien konzerns wurde. Siehe: Dr. Ernst Nigmann, "Von kleinen Mohren", in: Die
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schrieb Nigmann: "Es gelang mir, mit der Bevölkerung gut, und im Frie den fertig zu werden, trotzdem diese einer steten festen Hand nicht entra ten konnte". Dabei habe er eine "genaue Kenntnis des Landes, seiner Ein wohner, der Sitten und Gebräuche erwerben" können und erlernte neben Kiswahili auch die Muttersprache der Hehe, das Kihehe.223 Seine Ausführungen zu den Wahehe machen deutlich, dass er sich selbst in der von Dernburg skizzierten paternalistisch-erzieherischen Funk tion sah. Seiner Ansicht nach bedurfte "der Mhehe" einer strengen, aber stets gerechten Regierung, die mit der Erziehung eines "gesunden Jungen" zu vergleichen sei, der die Gesellschaft eines Onkels, "der mit ihm schwimmt und rudert, ihn allerdings nötigenfalls auch gehörig an die Oh ren faßt" derjenigen einer "bonbonspendenden, mit milden Worten ver weisenden Tante" vorziehe.22' Besonders auffällig ist hier die von Nig mann verwendete Kombination aus hygienisch-medizinischem Diskurs und Familienmetaphorik.225 Während er so einerseits die Rolle des Koloni satoren als eine familiär-patriarchale legitimierte, plädierte er gleichzeitig für eine Kolonialpolitik, deren Ziel ein biopolitisches war: die gesunde Entwicklung der indigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Wie auch schon bei der Etablierung des ethnologischen Wissen vom wilden Kanni balen können wir auch hier eine Kopplung mit Männlichkeitskonstruktio nen beobachten. ,Richtige' Kolonialpolitik erforderte nach dieser Vorstel lung ,echte' Männer und Jungs, nicht verweichlichte Tanten und deren Anhänger. Dass der Begriff "Tante" in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik als abwertende Bezeichnung für femininisierte männ liche Homosexuelle benutzt wurde, unterstreicht, wie stark die Auseinan dersetzungen um Kolonialpolitik geschlechterpolitisch aufgeladen war.226 Nigmanns Selbstverständnis und sein Konzept von der kolonialen Ord nung war damit ein grundSätzlich anderes als das der Mehrheit der Offizie re der deutschen Schutztruppe, die aus dem ostelbischen Landadel stamm ten und deren Verhältnis zu den Indigenen von einer eigentümlichen Mix tur aus "rassistischen und orientalistischen Diskursen", einem traditionel-
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226
Gartenlaube 49, S. 961-962 sowie "Mohrendiners", in: Die Gartenlaube 42, S. 840-841 , in: GStAPK, VI. HA NI Nigmannll 04, 1 1 3, 120 sowie das Schriftenverzeichnis im Anhang seines Lebenslaufes (Lebenslauf des Oberstleutnants Nigmann, 5.5 . 1 9 1 8, GStAPK, VI. HA NI Nigmann/48, Anhang). Lebenslauf des Oberstleutnants Nigmann, 5.5 . 1 9 1 8, GStAPK, VI. HA NI Nigmann/48, BI. 2. Nigmann 1 908, S . 5. Im Gegensatz zum britischen ist die Bedeutung der Familienmetaphorik für den deutschen Kolonialdiskurs bislang, mit Ausnahme der Studie von Zantop (Zantop 1 997, S. 99- 1 0 1 ), noch nicht systematisch aufgearbeitet worden. Zum Kontext des britischen Empire siehe: Nünning 1996 sowie McClintock 1995, S. 44-45. Siehe dazu: Micheier 2005, S. 1 8 1 -194.
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len Bild der Beziehung zwischen Herrn und Knecht und preußischem Mi litarismus bestimmt wurde. 227 Ganz wie seine kolonialpolitischen Erwägungen entsprangen auch sei ne Entscheidungen in den Prozessen gegen die mutmaßlichen Kannibalen in Iringa biopolitischen Überlegungen, wie ein Blick in seine Urteilsbe gründung zeigt. Seiner Ansicht nach seien die angeklagten Afrikaner und Afrikanerinnen des Mordes schuldig im Sinne des § 2 1 1 RStGB. Die Ver giftung der Opfer sei "ohne Ausnahme vorsätzlich, mit Ueberlegung aus geführt" worden, da "in allen Fällen die Absicht zu Grunde lag, das Fleisch der Gemordeten zu fressen bzw. zu Zaubereien zu verwenden."22 8 Weiterhin diagnostizierte Nigmann in anthropologischer Manier bei den Angeklagten in Iringa einen "schier unglaublichen Tiefstand der sittlichen Auffassung": "Man kann sagen, sie stehen weit unter dem Tier".229 Er ging weiterhin davon aus, dass es sich bei den Taten um ein Beispiel für jene so genannten Eingeborenendelikte gehandelt habe, die aus "abergläubigen Wahnvorstellungen" resultierten.23o Entsprechend verstand Nigmann Kan nibalismus als eines derjenigen Eingeborenendelikte, die vom RStGB nicht abgedeckt wurden: "Das R.St.G.B. giebt [sie] keinerlei Anhalt für die Bestrafung von Kannibalismus: sie muss deshalb seitens des Gerichts nach freiem Ermessen gefunden werden."23! Die Abwägung zwischen eu ropäischen (Rechts)Normen und denen, die als indigene Traditionen ange nommen wurden, welche ihm als Stellvertreter der Kolonialmacht in einer solchen Situation oblag, fiel ihm leicht, da er davon ausging, dass das vor liegende "Verbrechen [ . . . ] nicht nur nach europäischen, sondern auch nach den Begriffen der Eingeborenen ein so schweres [sei], dass darauf nur der Tod als Sühne stehen kann." 2J2 Mit seinem Todesurteil wollte Nigmann, ganz im Sinne der Zivilisierungsmission, in der sich die deutschen Kolo nialherren Recht sprechen sahen, die weitere Ausbreitung kannibalischer Gewohnheiten verhindern: "Man ersieht aus der Verhandlung, wie die Leute allmählich an dem Menschen fleisch Geschmack gefunden haben. Wird diese Gesellschaft nicht ausgerottet, so steht zu befürchten, dass der Kannibalismus weiter um sich greift."233
227 Pesek 2005, S. 194. 228 Öffentliches Schauri: In der Strafsache gegen das Mbena=Weib Mgalla u. Sendepera wegen Mordes, Beihülfe zum Morde und Kannibalismus [Pro tokoll der Vernehmungen und UrteiisbegründungJ , 28.12. 1908, BArch R 10011827, BII. 5-15, hier BI. 14. 229 Ebd., BI. 14. 230 Siehe: Ebd., BI. 14. Zitat: Andree 1 887, S. 98. 231 Ebd., BI. 14. 232 Ebd. 233 Ebd.
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Diese Haltung entsprach auch der des Kolonialamtes : Neben der Aufzäh lung der Todesurteile im B ericht Nigmanns vom 28. 1 2. 1 908 findet sich ein handschriftliches "bravo ! " datiert auf den 22. Januar. 234 I ntentionen und Strategien: Kannibalismus als Problem der Seelenfü hrung
Mit dem pastoralen Anspruch der , Seelenführung' drang die deutsche Ko lonialadministration auf eines der, nach dem Selbstverständnis der Missi onsgesellschaften, zentralen Arbeitsgebiete der christlichen Mission vor und belastete so ein aus vielen Gründen bereits angespanntes Verhältnis noch weiter. 235 Zwar gab es eine grundsätzliche Konvergenz zwischen Mission und Imperialismus, denn "Missionare haben", wie Horst Gründer festhält, "trotz mitunter heftiger Kritik an einzelnen Methoden des Vorge hens - den Kolonialismus durch das christliche Untertanengebot (Röm 1 3) und die christliche Arbeitsethik (ora et labora) ideologisch und rituell ab gesichert",236 dennoch war das Verhältnis zwischen den Missionsgesell schaften und der deutschen Kolonialadministration kein ungetrübtes. Erstens standen viele Gesellschaften, die bereits in den in Frage kom menden Gebieten aktiv waren, dem deutschen Kolonialprojekt grundsätz lich skeptisch gegenüber. Sie fürchteten die Nationalisierung und Verwelt lichung einer originär transnationalen und geistlichen Bewegung.237 Diese grundsätzlichen Bedenken wurden zwar nach 1 884 schrittweise überwun den, jedoch stellte auch fortan die vorbehaltlose Unterstützung der deut schen Kolonisation und "Verklammerung mit der organisierten Kolonial bewegung" , wie etwa durch die Evangelische Missionsgesellschaft für
Deutsch-Ostajrika unter der Führung von earl Peters, eine Ausnahmeer scheinung dar.238 Zweitens wurde Missionsneugründungen, anders als beispielsweise in den englischen Kolonien, zunächst keine uneingeschränkte Handlungsfrei heit gewährt und die Übergabe von Missionsrechten von Seiten des Aus wärtigen Amtes mit der Auflage verknüpft, die staatliche Kirchenhoheit anzuerkennen.239 Unter diesen Bedingungen begann 1 890 auch die im Fall 234 Ebd., BI. 12. 235 Siehe: Booker Sadij 1985, S . 307-3 1 0 ; Weidert 2005, S . 39-40; Oerrnann 2004, S . 602-610 (hier am Beispiel DSW A) sowie Gensichen 1993 und Becher 2003. 236 Gründer 2004d, S. 229 (HiO). Siehe dazu auch: Gründer 2004b, S. 9- 10; B esier 1992, S. 249-253. Wolfgang Reinhard spricht diesbezüglich von ei nem "Fundarnentalkonsens bei gleichzeitigem Detailkonflikt" (Reinhard 1989, S. 358). 237 Siehe: Gründer 1 982, S . 26 sowie besonders Gründer 2004d. 238 Gründer 1982, S. 36-38, Zitat S. 37. 239 Ebd., S . 39. Verlangt wurde damit die Anerkennung einer Kirchenhoheit, welche die Reichsregierung im Mutterland selbst nicht besaß. Für katholi sche Missionen stellten sich hier noch weitere Probleme, weil sie einerseits
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Iringa involvierte Berliner Missionsgesellschajt, die sich bis dahin ihrer Arbeit vor allem im südlichen Afrika mit Schwerpunkt auf die englische Kapkolonie gewidmet hatte, ihre Missionsaktivitäten in den deutschen Schutzgebieten, zunächst in Kiautschou, dem deutschen Pachtgebiet in China, dann in DOA.240 Erst im Zuge der Unterzeichnung internationaler Verträge, wie dem Vertrag zwischen Deutschland und England über die
Kolonien und Helgoland ( 1 . Juli 1 890) oder der Generalakte der Anti Sklaverei-Konferenz (2. Juli 1 890), verbesserte sich die Rechtsstellung der Missionen in den deutschen Kolonien: Hierin waren die Duldung und Freiheit aller christlicher Bekenntnisformen sowie Schutz aller Missions gesellschaften, die sich dem Kampf gegen die Sklaverei verschrieben hat ten, verbindlich festgehalten. Mit einer Novelle des ursprünglich am 1 7 . April 1 886 erlassenen Schutzgebietsgesetzes vom 10. September 1 900 wurde dieser Rechtsstatus fixiert, allerdings gleichzeitig auch die Befugnis des Reichskanzlers, polizeiliche und administrative Vorschriften zu erlas sen, die in diese Rechte eingreifen konnten. Dieses Privileg konnte er auf die Kolonialbeamten vor Ort übertragen.'4! Drittens ernannte das Reichskolonialamt 1 890 eigenmächtig soge nannte Mittelsmänner, deren offizielle Rolle die von "Katalysatoren im Beschwerdegang" zwischen den Missionsgesellschaften und der Regie rung war. Für die protestantischen Missionen übernahm ab dem 1 2. No vember 1 903 der Oberverwaltungsgerichtsrat Max Berner dieses Amt. Die Mittelsmänner waren, besonders bei der Weiterleitung von kritischen Be richten der Missionsangehörigen vor Ort an den Zuständen oder dem Vor gehen der deutschen Kolonialadministration, von entscheidender Bedeu tung. Während diese Kritik häufig genug bereits durch die Leitung einer Missionsgesellschaft selbst abgemildert wurde, blockierten oder entschärf ten die Mittelsmänner diese Berichte noch weiter. Wie Horst Gründer fest hält, zeichnete sich hierbei gerade Berner durch eine besonders " , devote' Haltung gegenüber der Reichsregierung" aus, und die Gesellschaften übergingen in einzelnen Fällen diese Vermittler bewußt. 242
mit anderen Kolonialmächten, vor allem Frankreich, identifiziert wurden oder weil, wie im Falle der Jesuiten, die Organisation im Mutterland selbst verboten war (siehe: Gründer 1982, S. 61-79). 240 Die Organisation hieß zunächst Gesellschajt zur Beförderung der Evange lischen Mission unter den Heiden und erst ab 1 908 bis 1945 Berliner Mis sionsgesellschajt. Siehe: Lehmann 1974, S. 9, 90-99; Gründer 1982, S. 40 sowie Lehmann 1989. Zu den Anfängen der Evangelischen Mission in DOA siehe auch: Luig 1994, S. 98-99, 105. 241 Gründer 1982, S . 86-87. 242 So weigerte sich Berner beispielsweise, einen Bericht der Rheinischen Missionsgesellschajt über die Ursachen des Herero-Nama Krieges in DSWA 1904/05 an das Reichskolonialamt weiter zu leiten. Siehe: Gründer 1982, S . 87-88, Zitate S . 88.
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Dies geschah auch bei der von den Missionsbrüdern geführten Be schwerde über das Urteil gegen die angeblichen Kannibalen und Kanniba linnen in Iringa, die durch den Brief des auf der Missionsstation Kirugala, Bezirk Iringa, tätigen Bruders (Gottfried Ludwig) Carl Nauhaus ( 1 8641 932) angestoßen wurde.243 Dieser wandte sich mit einem Schreiben vom 2. Juli 1908 direkt an Axenfeld, der sich wiederum an Berner wandte, den Mittelsmann der protestantischen Missionen beim Reichskolonialamt und zu diesem Zeitpunkt zugleich Präsident der Berliner Missionsgesell schaft. 244 Daraufhin wurde eine Überprüfung des Falles von Seiten des Ko lonialamtes angeordnet, die wiederum Nigmanns Urteil bestätigte.245 Viertens gab es darüber hinaus zentrale inhaltliche Streitpunkte zwi schen den Missionen und der deutschen Kolonialregierung. Dazu gehör ten, besonders mit Blick auf DOA, zum einen die " , Sprachenfrage'" und zum anderen die Toleranz der Kolonialadministration gegenüber dem Is lam. Während die Missionen den Schulunterricht in einer afrikanischen Muttersprache aus pädagogischen wie missionarischen Erwägungen her aus befürworteten, aber den Islam als monotheistische Konkurrenzreligion ablehnten, und diese Ablehnung auch von der Kolonialadminstration er warteten, präferierte die Kolonialregierung zunächst Deutsch als Unter richtssprache und tolerierte den muslimischen Glauben. Letzteres geschah aus pragmatischen Erwägungen zur Sicherung des Machterhalts in der Ko lonie: Die erfolgreiche Kooperation mit muslirnischen Eliten hatte Vor rang vor der Durchsetzung des zivilisatorisch , höherwertigen , Christen tums. 24
Nauhaus, Sohn von Missionsangehörigen und geboren in Südafrika, war seit 1 886 Mitglied der Berliner Mission und seit dem 1 1 . August 1908 auf der Mission Kirugala tätig (personalakte Nauhaus, earl jun. (Missionar), Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw-1I3779, BI. 1). 244 Siehe: Brief von Missionar Nauhaus-Kidugula an Missionsinspektor Lic. Axenfeld [Auszüge], 2.7 . 1 909, BArch, R 10011827, Bll. 20-26. Aus einem handschriftlichen Vermerk Berners geht hervor, dass Nauhaus' Schreiben gleichzeitig auch an Dezernenten und Regierungsrat Zacke im Reichskolo nialamt ging. Dazu auch: Brief Karl Axenfeld an [Max] Bemer, 17.8.1909, BArch R 10011827, Bll. 1 8-19. 245 Schreiben Gouverneur DOA, Georg Albrecht Freiherr von Rechenberg an das Reichskolonialamt, 5. 1 . 1910, BAreh, R 100 1/827, BI. 33. Berner wie derum kommt in seiner abschließenden Stellungnahme gegenüber dem Reichskolonialamt zu dem Schluß, dass die "Verurteilungen wegen Men schenfresserei [ . . .] besser unterblieben" wäre. (Bericht [Max] Berner, 1 6.3.1 910, BArch R 10011827, Bll. 40-46, hier BI. 44). 246 Gründer 1982, S. 96-97 sowie Hassing 1 970, S. 382. 243
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tagung, hieß es, dass aus Sicht der Mission "das vergangene Jahr unter dem Zeichen des Kampfes" gestanden habe, bestimmt vor allem durch die Auseinandersetzungen "zwischen der Mission und der Regierung'?' Die ser Konflikt, der seine Ursache zum einen in der generellen Ablehnung der evangelischen Missionsarbeit in DOA von Seiten der Kolonialadministra tion, sowie zum anderen in unterschiedlichen Standpunkten "in wichtigen Fragen der Kolonialpolitik", vor allem in der Haltung zum Islam und in Fragen der "Eingeborenenbehandlung, besonders im Rechtswesen", habe, sei durch das Verhalten individueller Beamter noch verschärft worden.'48 Ohne Namen zu nennen, machte der Bericht sehr deutlich, dass aus Sicht der Mission die aktuelle Konfliktsituation dadurch entstanden sei, dass ein Beamter der Regierung "seinen persönlichen Glaubensstandpunkt auf sei ne Handlungen" übertragen und damit die ihm gebotene Neutralität "in allen geistlichen Dingen" aufgegeben habe.24• Die Missionsbrüder sahen sich als Opfer: sie hätten ihrerseits "den Gegensatz nicht gesucht", viel mehr sei er ihnen "aufgedrängt worden."2.l0 "Der Gegensatz, das muß mal offen ausgesprochen werden, ist von den Beamten inszeniert worden. Die Eingeborenen haben es gesehen, daß Missionsstationen ostentativ gemieden werden, sie haben es ges[e]hen, wie Briefe von Missionaren abgewiesen oder zerrissen wurden, sie hören die Drohungen der Askari gegen alles, was Mission heißt, denn wie der Herr, so der Knecht; sie sind unterrichtet worden, nicht zur Mission mit irgendeiner Sache zu gehen, und zuguterletzt fand die öffentliche Aufklärung über die Mission statt, sowie das Verbot für die Mis sionsleute, keinen Acker außerhalb des Stationslandes zu bestellen. "25 1
Als weitere konkrete Beispiele der Übergriffe in die missionarische Arbeit von Seiten der Kolonialbeamten wurden die Ablehnung der Arbeitsfreiheit am Sonntag und des Schulbesuchs für die Kinder der sogenannten Einge borenen genannt, welche dann ihrerseits nach Ansicht der Missionsbrüder folgerten, "daß sie auch die Predigt und alles, was die Mission bringt, zu meiden haben". Schlussendlich werde damit eine generelle "Verachtung jedes Europäers verknüpft, der nicht über Soldaten als Begleiter ver fügt."'52 Diese Auseinandersetzungen zwischen der Mission und dem Sta tionsleiter scheinen eine längere Vorgeschichte aufzuweisen. Bereits auf 247 Niederschrift der auf Kidugala vom 17.-25. Oktober [1909] tagenden Sy node, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw-1I650 1 , Bll. 32-60, hier BI. 47. Siehe auch: Missions-Berichte der Berliner Missionsge sellschajtjür das Jahr 1 909, S. 5 1 . 248 Niederschrift der auf Kidugala vom 17.-25. Oktober [1909] tagenden Sy node, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw- 1I650 1 , BlI. 32-60, hier Bll. 48-50, Zitate Bll. 48, 49. 249 Ebd., BI. 48. 250 Ebd., BI. 49. 25 1 Ebd. , BlI. 49-50. 252 Ebd., BI. 50.
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der Synode 1 908 wurden Unstimmigkeiten über die Notwendigkeit, die Erlaubnis zur Gründung einer weiteren Missionsstation in Usangu einzu holen und über die Beschäftigung sogenannter " , farbig[er] Lehrer''', die angeblich Kinder zum Schulunterricht zwängen und sich damit strafbar machten, thematisiere53 Im weiteren Schriftverkehr und Protokollen der Hehe-Synoden wurde die zunächst geübte Zurückhaltung bei der Nennung von Namen bald aufgegeben und es wird offenbar, dass die Kritik der Mis sionsbrüder auf niemand anderen zielte als auf Ernst Nigmann.254 Damit reihte sich die Auseinandersetzung über die von Nigmann aus gesprochenen Todesurteile gegen die mutmaßlichen Kannibalen und Kan nibalinnen Ende Dezember 1 908 sowie Februar und März 1909 in eine ganze Kette von Konflikten über die Stellung der Mission gegenüber der deutschen Kolonialadministration im Allgemeinen und Nigmann als Stati onsleiter im Besonderen ein. Innerhalb der Missionsgesellschaft wurden sehr unterschiedliche Positionen hinsichtlich dieser Auseinandersetzung vertreten. Die Brüder vor Ort, die sich auf unangemessene Weise in ihrem Handlungsspielraum angegriffen sahen, führten eine wesentlich schärfere Kritik, als dies der Leitung der Berliner Missionsgesellschaft Recht war. So versuchte das leitende Gremium, das Komite [sic] der Missionsgesell schaft, unter Bezug auf Paulus' dreizehnten Brief an die erste christliche Gemeinde Roms (Röm 13), mäßigend auf die Missionare einzuwirken. Das Komite wies die Mitglieder der Hehe-Synode darauf hin, dass diese sich "nicht ernst genug bemühen" könnten, "in mündlichem und schriftli chem amtlichen Austausch mit der Regierung sich sachlich, vorsichtig, ruhig, in manchen Fällen gewiß auch abwartend zu verhalten".'" Darüber hinaus sollten sie sich möglichst "allgemeiner Aeußerungen über die Regierungspolitik oder unerbetener Ratsch läge [ . . ] enthalten, sowie auch in ihrem amtlichen Wirken möglichst Maßnah.
253
Niederschrift der Tagung der S ynode (6.- 13.9. 1 908) auf Lupembe mit An lagen, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw-l/6500, Bll. 94- 128, hier BlI. 1 1 8- 1 1 9, 1 23, 1 24. 254 Siehe dazu: Niederschrift der auf llembula vom 4.9.10 bis 1 2.9.10 tagen den Hehesynode, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw1/650 1 , Bll. 1 6 1 - 1 89, hier bes. BI. 163 sowie das Schreiben des Komite der Berliner Missionsgesellschaft, an die Herren Superintendenten und Missi onare der Hehe-Synode (Entwurf), 29. 12. 19 10, Archiv des Berliner Mis sionswerkes im ELAB, bmw- l /650 1 , Bll. 2 13-21 9 . 255 Schreiben des Komite der Berliner Missionsgesellschaft, an die Herren Superintendenten und Missionare der Hehe-Synode, 1 8 .0 1 . 1 9 10, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw-l /650 1 , Bll. 72-88, hier BI. 73. Zum hierarchischen Binnenverhältnis unter den Mitgliedern der Missi onsgesellschaften siehe: Altena 2005, bes. S. 52-53.
1 1 4 I KANNIBALE-WERDEN men [ . . . ] meiden, die aus der missionarischen Sphäre herausfallen und von der Regierung als Uebergriffe in ihre Angelegenheit empfunden werden."256
Ganz generell gälte, dass die Missionsbrüder, selbst "wenn der Beamte auf unserm religiösen Standpunkt nicht steht", sich bemühen müssten, mit ihm ein "gutes Verhältnis zu erreichen".257 Darüber hinaus teilte das Komi
te in Berlin auch nicht die Einschätzung der Missionare in DOA, dass die Regierung den Islam gegenüber dem Christentum begünstige.25• In dieser Auseinandersetzung zwischen dem missionarischen und dem militärisch-administrativen Arm der deutschen Kolonialherrschaft waren die Bena im Bezirk Iringa keineswegs passive Zuschauer und Zuschau erinnen, so zumindest die Argumentation des Beschwerdeführenden Mis sionars Carl Nauhaus. Seiner Ansicht nach beruhte die Verurteilung der angeblichen Menschenfresserbande auf einem grundsätzlichen sprachli chen Missverständnis: Mit der Anschuldigung sei nicht eine Form der ma teriellen Nahrungsaufnahme gemeint gewesen, sondern , essen' im meta phorischen oder spirituellen Sinne. Dieses , essen' würde in der Sprache der Bena entweder im Zusammenhang von Eigentumsverhältnissen, wie der Konfiszierung von Besitz von Seiten des chiefs, der Einbehaltung von Lohn durch den Arbeitgeber, oder im Zusammenhang mit Hexereivorwür fen gebraucht.259 Diesen Vorwürfen zu Folge seien Hexen, von den Bena "vahavi" genannt, in der Lage, ihre Seele auf Wanderschaft zu schicken und auf diese Weise ihren Mitmenschen schwer zu schaden. Sie könnten ihre Opfer auf diesem Wege "innerlich" sogar "erstechen oder erdrosseln", was im realen Leben zu einem plötzlichen oder auch langsamen krank heitsbedingten Tod führen könne.26o Auch die Art des spirituell vollzoge nen Verzehrs sei dabei bedeutsam: "Wenn das Fleisch des Gegessenen gekocht wird, so stirbt er schneller, wird es am Feuer geröstet, so stirbt er langsamer. "261 Der Verdacht auf Hexerei tauche laut Nauhaus stets dann auf, wenn eine Anzahl ungeklärter Krankheiten oder Todesfälle auftrete. Die Bestra fung von solchen Hexen sei ursprünglich die Aufgabe des chief gewesen, und da diese ihre Taten häufig unbewußt und im Schlaf vollzögen, bedürfe es nach Ansicht der Bena der Unterstützung eines Zauberers, der mittels
256
257 258 259 260 26 1
Schreiben des Komite der Berliner Missionsgesellschaft, an die Herren Superintendenten und Missionare der Rehe-Synode, 1 8.01 . 1 9 10, Archiv des Berliner Missionswerkes im ELAB, bmw-1I650 1 , BIl. 72-88, hier BI. 73. Ebd., BI. 72. Ebd., BI. 74. Brief von Missionar Nauhaus-KidUg\.lla an Missionsinspektor Lic. Axen feld [Auszüge], 2.7. 1909, BArch, R 10011827, BlI. 20-26, hier BI. 2 1 . Ebd., BIl. 20, 2 1 . Die Schreibung i n der Quelle ist uneinheitlich. Zu finden ist auch "vuhavi" (Bll. 22, 25). Ebd. , BI. 2 1 .
EINVERLEIBUNG I 1 1 5
einer Nadelprobe die angeblichen Schuldigen identifiziere.'6' Diese, selbst ohne jede Erinnerung, aber im festen Vertrauen auf das Orakel, seien von ihrer Schuld anschließend selbst felsenfest überzeugt. Nauhaus' eigenen Nachforschungen zu Folge hatte genau dies mit den vor Nigmann Be schuldigten stattgefunden.263 Allen Bena sei das Phänomen der "vuhavi" geläufig, und so unterlie ßen sie einschlägigen Kontexten häufig die Nennung dieses Begriffs, da ,echte' Anthropophagie für sie implizit ausgeschlossen sei.264 Wahren Kennern ihrer Sprache und Kultur war diese Unterscheidung bekannt, wie Nauhaus ' Bericht deutlich machte. Dass Nigmann trotzdem von echtem Kannibalismus ausgegangen war, zeugte damit einerseits von seiner Un kenntnis der Sitten und Bräuche der ,Eingeborenen ' , die in seinem Bezirk lebten. Andererseits war sein Urteil damit das Resultat einer gezielten Ma nipulation durch die Indigenen. Denn im Falle der Kannibalismusanschul digungen in Iringa habe der chief, der mit dem Übergang der Strafge richtsbarkeit auf die Vertreter der deutschen Kolonialmacht seine traditio nelle Straf- und Schutzfunktion nicht länger habe erfüllen können, in Zu sammenarbeit mit dem Hexenjäger die Anklage inszeniert. Während Erste rer im schauri die Hexer und Hexen des Kannibalismus bezichtigte, habe der Zauberer die angeblichen Menschenfresser und -fresserinnen mit Schädeln und Knochen ausgestattet, da er als "Kenner der deutschen Ge richtsbarkeit" gewusst habe, "dass nach diesen Beweisstücken gefragt werden würde."26' Diese Vorgehensweise, die dem chief die Wahrung der eigenen Autorität und die Erfüllung seiner Schutzfunktion ermöglichte, umging geschickt den Bezug auf den von Mission und Administration gleichermaßen verbotenen Hexenglauben. Gleichzeitig fütterte sie die In stitutionen der Kolonialherren nicht nur gezielt mit falschen Informatio nen, sondern instrumentalisierte sie für die eigenen Interessen. Nauhaus' Bericht enthielt damit zwei Spitzen, die beide gegen die Per son des Stationsleiters in Iringa gerichtet waren. Erstens habe Nigmann in seiner Unkenntnis der lokalen Gebräuche und Sitten die vorgebrachten Anschuldigungen falsch eingeschätzt. Zweitens habe er, indem er sich von den Indigenen hatte täuschen und instrumentalisieren lassen, dem Aber glauben der , Eingeborenen' Vorschub geleistet und so den zivilisatori schen Auftrag der deutschen Kolonialherrschaft untergraben. Dies war 262 Ebd., BI. 23, 26. Diesen Zauberer verglich Nauhaus in seiner Darstellung mit Konrad von Marburg (ca. 1 180(90)-1 233), einem der ersten vom Papst ernannten Inquisitoren zur Bekämpfung der Ketzerbewegung (ebd., BI. 23). Dies war eine Spitze gegen die katholische Kirche, die in DOA Kon kurrenzmissionen unterhielt. 263 Ebd., B11. 22-25. 264 Ebd., BI. 22. 265 Ebd., BI. 26. Die Beschaffung der Knochen sei für ihn angesichts des erst kürzlich blutig niedergeschlagenen Maji-Maji Aufstands ( 1 905-07) sehr einfach gewesen.
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eine Kritik, die auch von anderen Stellen der Berliner Missionsgesellschaft geteilt wurde. Zu den kritischen Stimmen gehörte beispielsweise von Axenfeld, der die Urteile der Verfahren in Iringa deutlich ablehnte, das eigentliche Problem allerdings nicht in der Verurteilung von vermutlich Unschuldigen sah, sondern vielmehr darin, dass die deutsche Kolonial macht ihrem zivilisatorischen Auftrag nicht nachgekommen war: "Das Beklagenswerteste an dem vorliegenden Fall ist nicht einmal, dass hier durch zweimaliges Urteil 1 6 Unschuldige zum Tode gebracht sind, sondern, dass die deutsche Rechtspflege ein Urteil gefällt hat, durch welches der unselige He xenglaube des Volkes und die Meinung, dass die angeblichen Hexen von rechtswegen getötet werden müssten, bestätigt [wurde]. "266
Auch wenn wir angesichts des angespannten Verhältnisses zwischen den Brüdern der Berliner Missionsgesellschaft und dem Stationsleiter in Iringa davon ausgehen können, dass Nauhaus' Rekonstruktion der Hintergründe des Falles von seiner eigenen Agenda bestimmt wurde, weisen die Ergeb nisse von anderen Forschungsarbeiten ebenfalls darauf hin, dass Afrikaner und Afrikanerinnen in der Tat die Strafgerichtsbarkeit europäischer Kolo nialmächte entsprechend manipuliert und instrumentalisiert haben. So be richtet beispielsweise die Ethnologin Carol MacCormack, dass nach ihren Informationen der Kannibalismusvorwurf strategisch als "political wea pon" zwischen rivalisierenden indigenen Gruppen benutzt worden sei: "The descendents of certain chiefly groups have told me how their ,fathers and mothers' , their ancestors, went, in the early days of the Protectorate, to the Dis trict Commissioner with accusations that rival groups were , cannibals , and ,not fit to ru!e' . All this was du!y minuted by diligent colonia! officers. It is now in archives, and not to be taken as accurate ,evidence' of actua! flesh eating at all".z67
Darüber hinaus benutzten, wie Ulrike Schaper demonstriert, chiefs in an deren deutschen Kolonien - etwa Kamerun - ihren Handlungsspielraum innerhalb der kolonialen Verwaltungs- und Rechtssprechungsstrukuren, um gezielt ihre eigenen Interessen durchzusetzen .268
266 Brief Kar! Axenfeld an [Max] Berner, 17.8 . 1 909, BArch R 10011827, Bil. 18-19, hier Bl. 19. 267 MacCormack 1983, S . 5 1 -52. Sie gibt an dieser Stelle einen Verweis auf das entsprechende Archivmaterial: "S.L.G.A. [Sierra Leone Govemment Archives] , Native Affairs Department Letterbook, December 27, 1 983". Siehe auch: Baum 2004 (französische Kolonien); Leicht (2000, S . 74-75, 82), der von strategischen gegenseitigen Beschuldigungen der Indigenen Papua-Neuguineas berichtet, die damit die Strafexpeditionen der Deut schen gegen ihre jeweiligen Gegner lenkten. 268 Schaper 2009, S. 26-30.
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Auch wenn wir aus heutiger Perspektive nicht eindeutig rekonstruieren können, mit welchen Motiven der chief der B ena den Prozess in Iringa anstrengte und ob es sich in der Tat um eine Instrumentalisierung der Insti tutionen der deutschen Kolonialherrschaft handelte, so können wir ange sichts dieser Befunde doch eine recht hohe Plausibilität von Nauhaus' Re konstruktion konstatieren. Seine Überlegungen verweisen auf einen signi fikanten Handlungsspielraum der Indigenen, der es ihnen in diesem Fall ermöglicht hätte, ihre kulturellen und spirituellen Praktiken aufrecht zu erhalten. Während sie sich auf diese Weise geschickt in der Auseinander setzung zwischen den verschiedenen Akteuren deutscher Kolonialpolitik, der Mission und der Kolonialadministration, positionierten, leisteten sie gleichzeitig einen Beitrag zur Einschreibung und Verfestigung des Wis sens vom wilden Kannibalen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass sowohl in den Reise- und Forschungsberichten Schweinfurths, Schnitzers und Junkers über die mutmaßlichen Menschenfresser Afrikas als auch in den zeitgenössischen Standardwerken der ethnologischen Fachliteratur zum Thema Anthro pophagie die Analogie das zentrale Paradigma darstellte. Darüber hinaus lag beiden Zugängen die Vorstellung einer evolutionären Entwicklung der Menschheit zu Grunde; einer Evolution, die mit sittlichem und kulturellem Fortschritt hin zu bürgerlich-weißen Normen und Werten identifiziert wurde. Die Angehörigen indigener B evölkerungen wurden als eine Art lebendige Fossilien dieser menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit be trachtet. Beide Forschungsperspektiven operierten damit auf der Grundla ge der von Robert Young beschriebenen differenzialistisch-rassistischen Rationalität. Der wilde Kannibale wurde in einem Normalfeld verortet, das zwischen den Polen ,Rasse' und ,Geschlecht' aufgespannt war. Seine Cha rakteristika waren in hohem Maße vergeschlechtlicht: Seine animalische Gier und Wildheit, seine Impulsivität, seine ungezügelten Rachegelüste und seine abergläubischen Vorstellungen, allesamt Kennzeichen seines angeblich niedrigeren zivilisatorischen Status, wurden gleichzeitig mit Männlichkeit assoziiert. Gleichzeitig sollte von ihm eine Art Anste ckungsgefahr ausgehen: Er konnte durch sein Vorbild andere zur Men schenfresserei verführen. Zudem konnten wir an einzelnen Stellen im Dis kurs immer Versatzstücke eines frühneuzeitlichen Kannibalismusdiskur ses, der Kannibalinnen behandelte und an europäische Vorstellungen von Hexerei anschloss, finden. Darüber hinaus konnten wir deutlich erkennen, dass das lokale, indi gene Wissen vom Kannibalismus für die Produktion dieses akademischen Wissens, sei es in Form von Berichten von Informantinnen und Informan ten, sei es in Form der Bereitstellung der Infrastruktur für die Durchfüh rung von Forschungsexpeditionen, unerlässlich war. Allerdings spielte die weiße Forschung diesen Beitrag systematisch herunter oder verschwieg
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ihn vollständig, wie etwa Andree, der in seiner Kompilation kein Wort mehr darüber verlor. Auf diese Weise wurden nicht nur, wie von Zim merman beobachtet, die Körper der Kolonisierten dem Komplex aus eth nologischem Wissen und kolonialer Herrschaft einverleibt, sondern auch ihre Kenntnisse und Fertigkeiten. Gleichzeitig können wir davon ausge hen, dass die Konstruktion des wilden Kannibalen das Produkt einer histo risch spezifischen Interaktionssituation darstellt, welche im ausgehenden
19. Jahrhundert zwischen Forschungsreisenden und verschiedenen Bevöl kerungsgruppen Zentralafrikas existierte. Des Weiteren konnten wir am Beispiel der Prozesse in Iringa beobach ten, wie das Wissen vom wilden Kannibalen in der kolonialen Praxis ef fektiv wurde: Es diente der Legitimierung der selbstgewählten zivilisatori schen Mission der deutschen Kolonialmacht. Jürgen Osterhammels Frage, "Lässt sich ein Kannibale zivilisieren?",269 hätte Ernst Nigmann im Gegen satz zu Osterhammel selbst sicherlich mit einem deutlichen "ja!" beant wortet. Nigmann hätte dies sogar als eine seiner zentralen Aufgabe als Ko lonisator verstanden. Wie ich oben demonstriert habe, lag seinem Handeln allerdings nicht der von Osterhammel vermutete binär codierte, proto normalistische Rassismus zu Grunde, die "schärfste Grenze, an die Ideen der Zivilisierungsmission stoßen können",27o sondern ein normalistischer Rassismus, der im Gegenteil sehr wohl den wilden Kannibalen in die ras sistische " ,computation of normalities'" mit einbezog.27J Menschenfresse rei wurde so zu einem Problem der Regierung und die Anthropophagen zum Objekt biopolitischer Intervention.
269 Osterhammel 2005, S. 417. 270 Ebd., S . 420. 27 1 Young 2003, S. 1 80.
3 . Klima, Kö r p er, Kannibalen: G efahren w ei ß er M ännlichkeit
"Wenn jemand mit Landsleuten ausziehen will, um sich anzusiedeln, nie derzulassen, warum muß er da nach Ostafrika reisen mitten unter die Schwarzen, wo er im besten Falle vielleicht ein ehrliches Grab findet, wenn er nicht aufgegessen wird"? - mit dieser Frage versuchte der An thropologe Rudolf Virchow in einer Reichstagsdebatte am 1 6. März 1 885 auf die seiner Ansicht nach bestehende Grundproblematik des deutschen Kolonialprojekts hinzuweisen.' Als kolonialem Nachzügler stünden dem deutschen Kaiserreich nur noch diejenigen Gebiete des Globus als poten tielle Überseegebiete zu Verfügung, die aufgrund klimatischer Bedingun gen für eine Besiedlung ungeeignet seien. Dies sei der Hauptgrund, wes halb die deutschen Bestrebungen, sogenannte Schutzgebiete zu errichten, letztlich zum Scheitern verurteilt seien. Denn, so Virchow, Kolonialisie rung sei in erster Linie eine "medizinische Frage".' Nur wenn die dauer hafte Ansiedlung weißer Auswanderer und Auswanderinnen gelänge, kön ne das Projekt von Erfolg gekrönt sein.
2
"Protokoll der 68. Sitzung der 6. Legislaturperiode, 1 . Session, 16. März 1 885", in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deut schen Reichstages, Bd. 8 1 ( 1 884/85), S. 1 839- 1883 (Debatte), S. 18551 862 (Rede Virchows), Zitat S. 1 859. Anlass war die Beratung eines Ge setzentwurfes zur Regelung der "Postdampfschiffsverbindungen mit über seeischen Ländern", welche - angesichts der 1 884 herausgegebenen Schutzbriefe für die Besitzungen von Adolf Lüderitz (später DSWA), Adolph Woerrnann (später Togo und Karnerun) sowie dem im Februar 1 885 gerade erst ausgestellten Schutzbrief für die von earl Peters und der von ihm gegründeten "Gesellschaft für deutsche Kolonisation" erworbenen Gebiete (später DOA) - zu einer Art Grundsatzdebatte über das Für und Wider deutscher Kolonialbestrebungen geriet. Ebd., S. 1 856. Als positive Beispiele für deutsche Siedlungen in klimatisch günstigen Bedingungen verwies Virchow auf die deutschen Gemeinden in Südamerika, namentlich Brasilien (ebd., S. 1 859).
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In seinem Redebeitrag parallelisierte Virchow die Bedrohung durch
wilde Kannibalen mit den negativen Einflüssen des tropischen Klimas. Dabei handelte es sich keineswegs um eine singulär auftretende rhetori sche Figur, wie ich im Folgenden demonstrieren werde. Vielmehr war sei ne Frage Teil einer Auseinandersetzung, in der die Körpergrenzen des weißen, männlichen Körpers problematisiert wurden. Weißen Männern, so die Vorstellung der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, drohte in den Ko lonien die Gefahr einer doppelten Inkorporation: zum einen durch die menschen-fressenden , Wilden', zum anderen durch die Inkorporation der kolonialen Welt, von Viren und B akterien bis hin zu Werten und Normen, in den männlichen Körper. Auf die eine oder die andere Weise: Europäer drohten Teil der kolonialen Umwelt zu werden. Diese Vorstellung von der Gefahr einer doppelten Inkorporation ver band zwei Diskurse von je sehr unterschiedlicher zeitlicher Tiefendimen sion. Erstens war die Angst vor den wilden Kannibalen, wie wir bereits im vorangegangenen Kapitel sehen konnten, seit Beginn des Entdeckungs zeitalters die ständige Begleiterin von Entdeckungs- und Forschungsrei senden. Entsprechende Schilderungen bildeten einen festen B estandteil der von ihnen veröffentlichten Reiseberichte. Dabei scheint diese Furcht eher genrespezifisch denn geschlechterspezifisch gewesen zu sein, denn auch weibliche Forschungsreisende berichteten davon.3 Das zweite Diskursfeld, welches durch das Szenario der doppelten Inkorporation des weißen Man nes
mit
dem
ersteren
verbunden
wurde,
war
die
medizinisch
psychiatrische Fachdebatte um die Auswirkungen des tropischen Klimas auf den europäischen Körper, genauer auf dessen Nervensystem. Diese Diskussion entspann sich vor allem seit den l 880er Jahren in Deutschland und wurde, wie wir an Virchows eingangs zitierter Rede bereits gesehen haben, im Zusammenhang mit einer allgemeinen Diskussion um die Chan cen und Risiken des deutschen Kolonialprojekts geführt. B eiden Diskurssträngen möchte ich in diesem Kapitel nachgehen und mich dabei von folgenden Fragen leiten lassen: Welches Beziehungsge flecht wurde im Kolonialdiskurs zwischen der bürgerlich-weißen, hetero sexuellen Männlichkeit und dem wilden Kannibalen aufgespannt? Gab es andere Fluchtlinien zu anderen Polen, beispielsweise eine weiße koloniale Weiblichkeit? Welche Vorstellungen vom weißen, männlichen Körper gingen damit einher? In welchem Verhältnis stand der männliche europäi sche Körper zu seiner kolonialen Umwelt? Wie standen diese Äußerungen über weiße Männlichkeit und die Drohung der zweifachen Einverleibung zu dem, was wir im vorangegangenen Kapitel über koloniale Gouverne mentalität erfahren haben? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen werde ich mich auf die Analyse massenmedialer Darstellungen, besonders aber auf die Unter3
Beispielsweise: Pfeiffer 1 856, S. 74-79. Zur Biographie Pfeiffers siehe: Habinger 2004.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 21
suchung populärer Abenteuer- und Kolonialromane konzentrieren. Bei der Auswahl der Beispiele habe ich mich einerseits von dem klarsten Indikator für Popularität leiten lassen: dem ökonomischen Erfolg eines Romans, d.h. seiner Auflagenzahl. Zum anderen habe ich Texte ausgewählt, die es mir erlauben, die Breite und Variabilität des in diesem Medium zirkulierenden Kannibalismusdiskurses sowie seine unterschiedlichen Verbindungen zu Elementen anderer Diskurse, namentlich dem Kolonial- und dem Ge schlechterdiskurs, über die Schwelle des Endes der politischen Kolonial zeit hinweg zu beleuchten. Die Wahl fiel dabei auf Friedrich Wilhelm Ma ders Ophir, Edgar Rice Burroughs Romanserie Tarzan und Artur Heyes
Hatako, der Kannibale.4 Es handelt sich hier um Texte, die sich vornehm lich, aber nicht ausschließlich, an ein männliches jugendliches Publikum richteten. Dies ist eine Quellengattung, die der Historiographie des briti schen Imperialismus bereits mehrfach aus geschlechterhistorischer Per spektive untersucht worden ist, deren Potential für den deutschen Kontext allerdings noch nicht entsprechend berücksichtigt wurde.' Dabei geht es mir im Folgenden nicht um eine Einordnung in die Ge schichte der Kinder- und Jugendlektüre, sondern um die Ausleuchtung einer weiteren Facette der Diskurse, in denen weiße, hegemoniale Männ lichkeit in Deutschland zwischen 1 890 und 1 933 artikuliert wurde.6 Imagi nationen und Fiktionen haben dabei, so argumentiere ich im Anschluss an die Ergebnisse der anglo-amerikanischen Forschung für die Geschichte des Empire, eine zentrale Rolle gespielt. Graham Dawson hat diesen Zu sammenhang in seiner Studie Soldier Heroes wie folgt auf den Punkt ge bracht: "Masculinities are lived out in the flesh, but fashioned in the ima gination.'" Dabei begreife ich diesen Zusammenhang in deleuzianischer Perspek tive als Teil der je historisch spezifischen Prozesse des Mann-Werdens, die auf der Grundlage affektiver Relationen, einem Begehren, operieren. Wie bereits einleitend dargestellt, umfasst der deleuzianische Begriff des Be gehrens (desire) weder den Versuch einen Mangel zu stillen noch ein ,ha4 5
6 7
Mader 1 927; Burroughs 1 924a-d; Heye 1 927. Vgl. Mangan 1986; Bristow 1 99 1 ; Dawson 1 994 sowie die Beiträge in Philippa Levines Sammelband Gender and Empire (Levine (Hg.) 2004). Die bisherige Forschung zur Kolonialliteratur bezieht sich mehrheitlich auf Erwachsenenliteratur, die vor allem als Reisebericht oder in Anlehnung an diese Gattung entstanden ist. Vgl. dazu: Bleicher 1 983, S. 25 1 -257; Fiedler 2005, S. 177-220 (zu den Werken von Wilhelm Raabe, Frieda von Bülow, Carl Falkenhorst); Schneider, R. 2003 (Untersuchung der von Frauen ge schriebenen Literatur: u.a. Lene Haase, Margarethe von Eckenbrecher, Ada Cramer). Die Ausnahme von dieser Regel ist die Untersuchung von Sibylle Benninghoff-Lühl, die gezielt die Jugendliteratur mit in den Blick nimmt. Siehe: Benninghoff-Lühl 1 983, S. 35-47, 1 8 1 - 1 96. Siehe: Häfner 1988, die Beiträge in MergnerlHäfner (Hg.) 1 989 sowie die Ausstellungskataloge Galle 2002 und Merveldt 2007. Dawson 1 994, S. 1 .
1 22 I KANNIBALE-WERDEN
ben wollen' in einem mehr oder weniger sexuellen Sinne. Stattdessen be zeichnet er einen Wunsch nach Konnexion, nach Erweiterung und Intensi tät.8 In dem hier zu untersuchenden Falle handelte es sich dabei ein Begeh ren, welches zwischen einem Abenteuerroman und seinem Leser zirkulier te und auf diese Weise das agencement weißer, heterosexueller, bürgerli cher Mann (mit)konstituierte. In diesem Sinne verstehe ich den Kolonial roman als eine Art der Buch-Maschine, die ihre eigene Mannigfaltigkeit an die anderer anschließt und diese verwandelt.9 Entsprechend werde ich im Folgenden die verschiedenen Angebote möglicher Anschlussstellen für die Leser kolonialer Abenteuerromane erurieren. Gleichzeitig kartographiere ich damit im Sinne eines diskursanalytischen Vorgehens das Feld der Aus
sagen über weiße Männlichkeiten in diesen Quellen. 10 Des Weiteren liegen meiner Auswahl zwei grundsätzliche Beobach
tungen über deutsche Kolonialliteratur der Zeit um 1 900 zu Grunde. Zum einen wurde das Angstszenario von der doppelten Inkorporation besonders häufig in diesen populären Darstellungen thematisiert. Dieser Umstand war zum einen der bereits erwähnten langen Diskurstradition in Reise- und Expeditionsberichten geschuldet. Generell wurde in diesen fiktionalen Texten Authentizität dadurch inszeniert, dass auf wissenschaftliche Be richte verwiesen wurde. Diese Vorgehensweise brachte zwei Effekte mit sich: Die ohnehin unscharfe Grenze zum wissenschaftlichen Expeditions bericht, der häufig genug in der Absicht verfasst wurde, durch hohe Ver kaufszahlen Gewinne zu erzielen und der dementsprechend den wissen schaftlichen Bericht gegenüber den erzählerischen Elementen in den Hin tergrund ruckte, verschwamm auf diese Weise noch stärker. " Gleichzeitig migrierten auf diese Weise das Wissen vom Wilden Kannibalen wie auch tropenmedizinische Überlegungen in literarische Darstellungen. Romane der Abenteuer- und Kolonialliteratur fungierten damit als ein interdiskur sives Verbindungsglied. 12
Zweitens war die "phantasmagorische Redeweise", wie die Arbeiten von Susanne Zantop, Birthe Kundrus oder auch die Beiträge in wegwei8 9 10
11 12
Siehe: Colebrook 2002, S. xxii. Siehe: Deleuze/Guattari 2002, S. 1 3 . Die Frage, o b oder auf welche Art und Weise die dort geschilderten Männ lichkeiten von den Lesern individuell verkörpert wurden (oder auch nicht), lege ich damit gezielt still. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Ange bote, welche die Romane machten. Der kommerzielle Erfolg der Romane allein ist mir an dieser Stelle Indiz genug, um von einer erfolgreichen Kopplung auszugehen. Siehe: Berman 1 998, S . 1 ; Essner 1985, S . 1 1 1 - 1 12. Fiedler 2005, S . 1 24- 1 5 1 . Gute Beispiele dafür sind: Edgar Wallaces 1 5 Jahre bei den Kannibalen (Wallace 1925), der genauso bebildert war wie ethnologische Darstellungen, Reise- oder Missionsberichte, Wissmanns Reisen durch Afrika (Elm 1 893), sowie Bei meinen Freunden den Men schenfressern (Junker 1926), die posthume Veröffentlichung von Junkers Reisebericht in einer Bearbeitung als Jugendbuch.
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senden Aufsatzsammlungen wie etwa Kolonialismus als Kultur oder The Imperialist Imagination demonstriert haben, eines der zentralen Charakte ristika des deutschen Kolonialdiskurses.'3 Die deutschen Kolonien dienten als "Projektionsfläche für persönliche wie kollektive Wünsche, Entwürfe und Konzeptionen", sie waren in diesem Sinne "Phantasiereiche".14 Ent sprechend sei, so die Position der genannten Forscherinnen und Forscher, die Untersuchung kultureller Phänomene besonders geeignet, um die Wir kungsmächtigkeit der kolonialen Erfahrung innerhalb der deutschen Ge sellschaft zu erfassen: "To understand how ,real' and long-lived Gennan colonialism was - not just for the colonized, but for Gennan society itself - it is necessary to go beyond his torical facts and programmatic statements to investigate the mentalities and imaginary configurations that persisted throughout the colonial period and lin " gered long after. l5
Demgegenüber gilt es allerdings festzuhalten, dass auch in den Gesell schaften anderer europäischer Kolonialmächte Kultur und Kolonialismus eng miteinander verbunden waren.16 Es handelte sich dabei also weniger um ein rein deutsches als vielmehr um ein gesamteuropäisches Phänomen, das im Kontext der kurzen aktiven Kolonialpolitik des Kaiserreiches und der im Vergleich dazu deutlich längeren prä- und postkolonialen Phase eine spezifische Ausprägung erfuhr. Dazu gehört eine besonders in der Literatur zu findende "obsession with Germanness as masculinity, strength, and superior civilisation", die sich nach der Phase der aktiven Kolonialpolitik und damit in einer Zeit, in welcher die nachträgliche Glori fizierung des deutschen Kolonialprojekts unter Ausblendung von Befrei ungskämpfen und kolonialem Alltag an der Tagesordnung war, sogar in gesteigerter Form fortsetzte. '7 Wichtig zu beachten ist dabei die klassen spezifische Dimension dieses Phänomens: Bereits vor B eginn der politisch aktiven Phase des deutschen Kolonialismus gehörte die Lesegemeinschaft in erster Linie dem Bürgertum an, welches wiederum eine besonders her ausragende Rolle bei der Imagination der Nation und des kolonialen Pro jektes spielte. Die Leser (und Leserinnen) der populären Kolonial- und Abenteuerromane gehörten allerdings nicht zwingend zu dieser sozialen Gruppe.18 Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der Weimarer Republik 13 14 15 16 17 18
Kundrus 2003b, S . 7. Siehe auch: Zantop 1997, Kundrus (Hg.) 2003 sowie Friedrichsmeyer/Lennox et al. (Hg.) 1998 und Honold/Simons (Hg.) 2002. Kundrus 2003b, S. 7. Zitat siehe Kundrus (Hg.) 2003. Friedrichsmeyer/Lennox et al. 1998, S. 1 8 . In diesem Sinne argumentieren auch: Honold/Simons 2002, S. 8-10. Dazu einschlägig: SlÜd 1 994 sowie die Beiträge in Hall (Hg.) 2000. Friedrichsmeyer/Lennox et al. 1 998, S. 24. Siehe dazu: Warmbold 1982, S. 1 25-136 (zur Bedeutung der kolonialen pressure groups bei der Distribution); Friedrichsmeyer/Lennox et al. 1998, S. 19. Dieses Leseverhalten korrespondierte mit dem überproportional häu-
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befürchteten sogar, dass vornehmlich junge Männer der Arbeiterklasse dem Einfluss dieser Jugendlektüren ausgesetzt seien, die sie für sinnlich aufreizend und sittlich verderblich hielten, wie ich an anderer Stelle noch zeigen werde.
3.1
Ko l o n i a l e A b e n t e u e r a l s T e i l d e r ko l o n i a l e n P o p u l ä r k u l t u r
Bevor wir uns zur Klärung der oben genannten Fragen der exemplarischen Analyse ausgewählter, besonders publikumswirksamer kolonialer Aben teuerromane zuwenden, bedarf es einer kurzen Einordnung dieser Quel lengattung in den Kontext der deutschen kolonialen Populärkultur zwi schen 1 890 und 1 93 3 . Denn Romane, Expeditions- oder Reiseberichte wa ren bei weitem nicht die einzigen Medien, in denen das Wissen vom wil
den Kannibalen transportiert wurde, ganz im Gegenteil. Sie waren nur eine Facette einer lebendigen und vielfältigen kolonialen Pop-Kultur, zu denen Postkarten, Klebebildehen, Kolonialzeitschriften, aber auch Völkerschau en und Jahrmärkte gehörten. l' Dabei sind leichte Unterschiede im Umgang mit dem Thema Kanniba lismus zwischen den verschiedenen Medien feststellbar. Während bei spielsweise in Völkerschauen Anthropophagie nicht explizit thematisiert wurde, bildete der wilde Kannibale einen festen Topos des Erlebnis Repertoires der Jahrmärkte, wie eine Postkarte vom "Bremer Freimarkt" , versandt im Jahre 1 905, verdeutlicht (siehe: Anhang Abb. 9.4).20 Bei der
19
20
figen Engagement des Bürgertums in kolonialpolitischen pressure groups wie der DKG oder dem FB (siehe: Gründer 2004e, S . 39-43; Chickering 1988, S. 177). John Phillip Short demonstriert demgegenüber, dass auch Arbeiterinnen und Arbeiter gerne und häufig Kolonialliteratur rezipierten (siehe: Short 2003, S. 472-474.) Vgl. auch Schneider, J. 2004, S. 206-212, 222 zum kleinbürgerlichen Publikum der Abenteuer-, Reise- und Science Fiction-Romane. Besonders die Völkerschauen waren in den letzten Jahren Gegenstand his toriographischer Forschung. Siehe dazu Thode-Arora 1989; Dreesbach 2005; DreesbachlZedelmaier (Hg.) 2003; Debusmann/Riesz (Hg.) 1995 sowie eine Vielzahl an Aufsätzen zu diesem Thema, etwa Benninghoff Lühl 1984; Goldmann 1985; Benninghoff-Lühl 1986; Haberland 1988; Hey 1997, S . 202-21 1 ; Bruckner 2003. Darüber hinaus werden Völker schauen häufig in Untersuchungen zum Thema Rassismus und der Darstel lung afrikanischer Menschen im kolonialen Mutterland untersucht. Siehe: Wiener, Mi. 1990, S. 59-64; Zimmerrnan 200 1 , S . 15-37; Thode-Arora 2004; Zanella 2004, S . 17-41 (Schwerpunkt Frankreich); Lewerenz 2006, S. 65-86, hier besonders die ambivalente Funktion der "Deutschen Afrika Schau" zur Zeit des Nationalsozialismus (S. 87- 141). "Gruss vom Bremer Freimarkt", Postkarte im Besitz des Schaustellermu seums Essen Original: 14,1 x 9,4 cm (Farblithographie, "Gesch. M No 3"), Poststempel: Bremen 23.10.05. Der "Gruss" ist nachträglich aufgestempelt worden, wodurch die Karte der Bremer Veranstaltung zugeordnet wurde.
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gezeigten Karte handelte es sich um eine Massenanfertigung, die durch einen nachträglich aufgebrachten Stempelaufdruck der Jahrmarktsveran staltung in Bremen zugeordnet wurde.2l Die abgebildeten Buden gaben daher ein Standardrepertoire wieder, welches ein B etrachter oder eine Be trachterin zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Jahrmärkten assoziierte. Ne ben .,Alma dem Riesenkind" und der .. Seejungfrau" gehörten dazu dem nach auch .. Die Menschenfresser". Auch andere Indizien weisen darauf hin, dass Darstellungen wilder Kannibalen ein fester B estandteil europäi scher Jahrmarktspektakel waren. So existierte im Sprachgebrauch franzö sischer Schausteller und Schaustellerinnen eine eigene B ezeichnung für Personen, häufig männliche Kinder, welche die Rolle eines Wilden oder Kannibalen auf den Brettern der Schaubuden mimten: .. divio"." Diese Form des racial oder cultural cross-dressing war auch in anderen Kontex ten, etwa dem Variete, weit verbreitet.23 Einige Stimmen in der Forschung argumentieren sogar, dass .. der stärkste und bleibendste Eindruck des deutschen Kolonialprojektes auf dem Gebiet der visuellen Massenkultur" zu finden sei.24 Diese sei gekenn zeichnet einerseits durch die Inszenierung von Authentizität, gepaart mit einem starken Begehren und/oder einer Sehnsucht nach Exotik.25 Anderer seits sei, besonders für die Zeit nach 1 905, eine zunehmende visuelle ..Rassifizierung" von Afrikanerinnen und Afrikanern zu diagnostizieren.'6 Laut Jan Nederveen Pieterse entwickelte sich in diesem Zeitraum eine neue Version vom wilden Kannibalen: Während afrikanische Menschen fresser zuvor als ernstzunehmende Bedrohung galten - als Beispiel führt er die von Schweinfurth , entdeckten' Azande an - seien sie nun zunehmend ironisch dargestellt worden.'7 Gut zu beobachten ist diese zunehmende Stereotypisierung und Ironi sierung in der vor dem Ersten Weltkrieg am weitesten verbreiteten Kolo niaIzeitschrift Kolonie und Heimat.'8 Hier wurden Anthropophagen nicht nur in ethnographisch aufgemachten Länderberichten, die oft nicht von 21 22
23 24 25 26 27 28
Siehe dazu auch die Beispiele für Jahrmarktspostkarten bei Morgner 1985, S . 12- 14, 24. Zavatta 200 1 , S. 1 23-124. Für den deutschsprachigen Kontext fehlt es bis lang an vergleichbaren sprachhistorischen Studien. Insgesamt ist die Ge schichte der Jahrmärkte im Vergleich zu derjenigen der Välkerschauen bis lang weniger stark aufgearbeitet worden. Ausnahmen von dieser Regel sind: Kosok/Jamin (Hg.) 1992, hierin besonders der Beitrag von Stephan Oetterrnann (Oetterrnann 1 992); Kirschnick 2002 und einige kurze Ausfüh rungen bei Dreesbach 2005, S. 88-96. Siehe: Kusser 2008. Ciarlo 2003b, S. 1 36. Siehe: Benninghoff-Lühl 1 986, S . 43-45; Zimmerman 200 1 , S. 15-20; Lange 2004. Siehe: Ciarlo 2003b, S. 146-148; Ciarlo 2003a, S. 243-25 1 . Siehe auch: Barthel 1984. Pieterse 1992, S. 1 15, 1 1 9. Siehe: Warmbold 1982, S . 1 29-136.
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Fachleuten, sondern von Schriftstellern verfasst wurden, thematisiert, son dern zunehmend in der Sparte Kuriosita und Unterhaltung, namentlich "Vom kolonialen Stammtisch" und "Allerlei", behandelt.29 Zur Bebilde rung von Beiträgen wurde teilweise sogar das gleiche Material verwendet, so beispielsweise die Fotografie einer Palisade, die in einer Ausgabe des Jahrgangs mit der Bildunterschrift "Ostafrika: Palisaden einer Militärsta tion im Innern" zur Auflockerung eines Fortsetzungsromans verwendet wurde. Das Bild stand in keinem inhaltlichen Zusammenhang zum Text, und firmierte auf der Titelseite eines Heftes knapp ein Jahr später als "Fes te eines Eingeborenen-Sultans" in Ostafrika.30 Hier allerdings war die glei che Palisade mit Menschenschädeln versehen, welche ein Jahr zuvor im Bild nicht zu sehen waren. Spätestens seit Schweinfurths Reisebericht war die diskursive Kopplung von ausgestellten Gebeinen, v.a. Schädeln, Ostaf rika und Kannibalismus fest etabliert, so dass auf diese Weise ein Kanni balismus-Verdacht sozusagen hinretuschiert worden war. Auch wenn diese Vorgehensweise möglicherweise editorischen Sparmaßnahmen geschuldet war, so dokumentiert sie doch, dass Entscheidungsträgerinnen und -träger Bilder von Menschenfressern für beliebig austauschbar hielten. Gleichzei tig verstärkte diese Vorgehensweise umgekehrt den Trend zu einer uni formen Ikonographie des wilden Kannibalen. Umgekehrt waren in den stereotypen, komischen Darstellungen des Menschenfressers die potentiel len "Opfer nie Kolonialbeamte, Polizisten oder gar Soldaten, sondern im mer nur [die] den , Eingeborenen' wohlgesonnene[n] Menschen, die aus ideellen oder religiösen Motiven heraus in die Kolonien getrieben wur den".3! Damit galten genau diejenigen Männer als am dringlichsten ge fährdet, die sich besonders lange und (zumeist) allein unter den Indigenen 29
30
31
Vgl. "Erschwerender Umstand", in: Kolonie und Heimat 1 ,26 (1907-08), Beilage, S. 4; "Aus dem Briefe eines Negermädchens in den deutschen Ko lonien", in: ebd., 1 ,4 ( 1 907-08), Beilage S. 4; "Die Menschenfresser", in: ebd., 2,7 ( 1 908-09), S. 13 (hier thematisiert die ,falschen' Kannibalen auf Jahrmärkten); "Der Werwolf in Afrika", in: ebd., 5,20 ( 1 9 1 1- 12), S. 13; Osman, "Aus dem Kochbuche der Menschenfresser", in: ebd., 6, 24 (19 1213), S. 1 1- 1 3 ; "Ein ,Menschenfresser' in Deutsch-Ostafrika", in: ebd., 7,41 ( 1 9 1 3- 1 4), S . I 1 . Siehe: Kolonie und Heimat 5,44 ( 1 9 1 1 - 12), S. 9 sowie ebd., 6,20 ( 1 91213), Titelblatt. Dies ist eine mehrfach zu beobachtende Vorgehensweise. Siehe: Stefan von Kotze, "Das Gift des Vergessens. Roman aus der Süd see", in: Kolonie und Heimat: 2,2 ( 1 908-09), S. 9-10. Hier werden sogar die gleichen Bilder zur Illustration von Kannibalen verwendet wie für den Beitrag von Paul Mähler, "Der Kannibalismus in seinen Ursachen und Zu ständen. Mit besonderer Berücksichtigung der Gegenwart", in: ebd., 4,52 (1910- 1 1), S. 9- 10. Auch bei der Diffamierung afro-französicher Soldaten wurden Kannibalen-Bilder verwendet. Vgl. Kolonie und Heimat 1 1 ,9 ( 1 9 17/ 1 8), Titelseite sowie "Die Naturvölker im Weltkriege", in: ebd., 1 2,7 ( 1 9 1 8- 1 9), S. 4-5, hier S. 5. Zu den Auseinandersetzungen um die afrikani schen Kolonialtruppen Frankreichs im Rheinland nach 1 9 1 8 mehr in Kapi tel S. Barthel 1984, S . 132.
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aufhielten, und die darüber hinaus aufgrund ihrer christlich-pazifistischen Grundhaltung dem Ideal der wehrhaften, bürgerlich-weißen Männlichkeit nicht entsprachen: die Missionare. Überspitzt formuliert fraßen hypermas kuline Indigene die feminisierten Missionare. Wie verhielt es sich nun mit der Darstellung der wilden Kannibalen in der populären Abenteuer- und Kolonialliteratur?
3 .2 U n ter Ka n n i ba l en: Von d e r A n gs t , v e r s c h l u n ge n zu w e r d e n
Weiße Männer auf Exped ition: Ordnung schaffen i m kolonialen Raum
Richten wir nun unseren Blick auf das erste der drei ausgewählten Beispie le, den Abenteuerroman Ophir von (Ernst) Friedrich Wilhelm Mader ( 1 866-1 945).32 Der Roman, dessen erste Ausgabe bereits 1 9 1 1 erschien, war der dritte und letzte Band einer kurzen Serie. Vorausgegangen waren Im Lande der Zwerge sowie Nach den Mondbergen.J3 Ophir war nicht nur
in den 1 920ern, sondern sogar bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein großer Publikumserfolg und erschien immer wieder in mehreren unter schiedlich bearbeiteten Auflagen. Die Popularität von Maders Kolonial romanen war in erster Linie ein postkoloniales Phänomen und zwar im doppelten Sinne. Zum einen veröffentlichte er in der Zeit des Kolonialre visionismus der 1 920er und 1 930er Jahre eine Reihe von Darstellungen, mit denen er zur Verherrlichung der deutschen Marine sowie der Schutz truppe in DOA beitrug." Zum anderen wurden seine Werke zum zweiten Mal verstärkt zu Beginn der Bundesrepublik rezipiert, als seine Bücher von der Düsseldorfer Deutschen Buchvertriebs- und Verlagsgesellschaft
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33 34
Siehe: Mader 1927. Mader, geboren in Nizza als Sohn eine evangelischen Pfarrers, studierte selbst Theologie in Tübingen, wo er als Mitarbeiter bei den Fliegenden Blättern und den Meggendorfer Blättern erste Erfahrungen als Autor sammelte. Nach Abschluss seines Studiums 1 892 übernahm er mehrere Vikars stellen und unterrichtete, bis er 1897 Pfarrer der Gemeinde zu Eschelbach wurde. Hier schrieb er den größten Teil der genannten Abenteuer- und Jugendromane, bei denen er sich stark von den Romanen Jules Vemes und Karl Mays inspirieren ließ. 1 9 1 7 bat er um Versetzung in den Ruhestand, um sich vollständig dem Schreiben widmen zu können. In Stuttgart fand er, nachdem er seine Bücher jahrelang zusammen mit seiner Farnilie im Selbstverlag v.a. über Anschreiben an andere Pfarrämter ver trieben hatte, einen Verlag für seine Veröffentlichungen: den Union Verlag Stuttgart (siehe: Schlagenhauf 1993, S. 1 09-149). Siehe: Mader 1925 (Erstauflage 1 9 10); Mader 1 920 (Erstauflage 1 9 1 1). Siehe: Deutsche Helden zur See (Mader 1937a) und Am Kilimandjaro. Abenteuer und Kämpfe in Deutsch-Ostajrika (Mader 1937b). Vgl. dazu auch: Opitz 2007.
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zwischen 1 952 und 1 955 in bearbeiteter Fassung wieder aufgelegt wur den.3' Hauptzielgruppe waren, wie ein Blick auf die hinten im B and bewor benen Romane deutlich macht, männliche Kinder und Jugendliche. Der Text schilderte die Abenteuer einer gemischtgeschlechtlich besetzten Ex pedition, die von einem deutschen Professor der Botanik geleitet wurde, und an der außerdem ein deutscher Arzt und seine Schwester, ein junger Bure, dessen zwei Schwestern, sowie ein englischer Naturforscher teil nahmen. Gemeinsam begaben sie sich auf die Suche nach dem geheimnis vollen Land Ophir, in dem gleichzeitig der ältere Bruder der drei burischen Geschwister von einem tyrannischen und grausamen Sklavenhändler na mens Halim Pascha gefangen gehalten wurde. Das "fabelhafte Goldland Ophir", wie es im Untertitel hieß, wurde im Text mit dem alttestamentari schen Königreich Saba identifiziert und sollte geheime Goldvorkommen bergen.36 Mader entwarf in seinem Roman ein komplexes B eziehungsge flecht zwischen bürgerlich-weißer Männlichkeit, weißen Weiblichkeiten, sowie unterschiedlichen weißen wie nicht-weißen, Männlichkeiten, das ich im Folgenden eingehender analysieren werde. Innerhalb dieses multirelationalen Geflechts fällt zuerst das Geschlech terverhältnis in der Gruppe der weißen Expeditionsteilnehmenden auf, das stark dem partnerschaftlichen Geschlechtermodell entsprach, welches von der Mehrheit der bürgerlichen Frauenbewegung und besonders dem Frau enbund der DKG propagiert wurde.37 Die ideale Kolonialfrau sollte nicht nur als Trägerin deutscher Kultur, Zucht und Sitte fungieren, sondern dem Kolonialpionier als Gefährtin in allen Lebenslagen kameradschaftlich bei stehen. Besonders die "kolonialräsonierenden Frauen" verbanden mit dem Kolonialprojekt "den Traum eines neu gewonnen Individualismus".3' Oder, wie Leonore Nießen-Deiters ( 1 879- 1939), formulierte: ,,[D]as Ideal einer richtigen ,Kolonialfrau' ist weder das Weibchen noch die Dame noch die Gelehrte, sondern die gebildete und zweckrnässig geschulte Frau, die zwei gesunde Fäuste, ein warmes Herz und einen klaren Kopf hat. "39
Die weißen Frauen in Maders Roman jagten als "die kühnen Jägerinnen" Nilpferde, befreiten ihre gefangenen Brüder und ersannen den Plan für 35 36 37
38
39
Siehe beispielsweise: Der Schatz des Halim Pascha: Abenteuer-Erzählung (Mader 1952). Vgl. Mader 1927, S. 155-158, 229. Siehe: Greven-Aschoff 1 98 1 , S. 37-44, sowie zur Einordnung des PB in den bürgerlich-konservativen Flügel der Frauenbewegung siehe Chickering 1988. Kundrus 2003a, S. 77-96, Zitat S. 93; Vgl. dazu auch: Smidt 1 995, S . 9495, 239-247 (hier auch Debatte um Emanzipationsprozesse in DSWA); Wildenthai 200 1 , S. 54-69, 156-171 (exemplarisch anhand der Biographien Frieda von Bülows und Hedwig Heyls) sowie Dietrich 2007, S. 272-280. Nießen-Deiters 1913, S . 59.
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einen in der Ausführung erfolgreichen Überfall auf eine Sklavenhändler karawane. Mit Hilfe einer Vision, die eine der drei jungen Frauen während eines Schubes einer tropischen Fieberkrankheit hatte, fanden sie sogar den Aufenthaltsort des Anführers der Sklavenhändler, Halim Pascha:o Ähnlich wie die oben bereits angesprochenen allein reisenden Forscherinnen be wiesen sie damit eine Reihe von männlich konnotierten Eigenschaften: Mut, Initiative, wissenschaftliche Neugier oder Todesverachtung, denn, wie es im Text wörtlich hieß, sie "waren ja keine Salondämchen und Modepüppchen":l Trotzdem oder gerade deswegen begegneten die Män ner der Expedition ihnen mit Respekt, und ihr Verhalten wurde an keiner Stelle als unweiblich abqualifiziert. Am Ende des Romans stellte Mader diesen Weiblichkeitsentwurf sogar explizit dem traditionellen bürgerlichen Weiblichkeitskonzept gegenüber. Auch aus dieser Konfrontation gingen die HeIdinnen des Romans als Siegerinnen hervor: Sobald ihre herausra genden Leistungen unter den Gästen eines Hotels, den angesehenen Mit gliedern der weißen Elite der kolonialen Gesellschaft, bekannt wurden, eilten die dort versammelten Damen in die Zimmer der HeIdinnen, die sich mangels angemessener Abendgarderobe nicht hinabgewagt hatten und ba ten diese, als Ehrengäste am festlichen dinner teilzunehmen:2 Zum Schluß erhielt dieser Entwurf weißer Weiblichkeit sogar die ehelichen Weihen: Die Helden heirateten unsere Heldinnen.43 Afrikanische Frauen wurden im Roman in enger Beziehung zu den weißen Frauen dargestellt; zum Teil sprach Mader sie sogar als eine Grup pe von "Mädchen" an.44 Weiße und afrikanische Frauen teilten miteinander das Zelt und in einem Fall sogar ihr Blut: Eine der weißen HeIdinnen un terzog sich einer Blutspende, um das Leben ihrer Dienerin, der "Zwer genprinzessin" Tipekitanga, zu retten. Diese wiederum rühmte sich an schließend stolz, dass sie damit qua Blutszugehörigkeit Teil der weißen ,Rasse' sei, "daß nun weißes Blut in ihren Adern kreise, daß sie jetzt zu den Weißen gehöre, wenn auch ihre Haut noch schwarz sei":45 Eine phy siologisch begründete Selbstidentifikation, die bei den anderen afrikani schen Frauen laut der Darstellung im Roman "Ehrfurcht", Neid und Be wunderung auslöste und sie Tipekitanga als "ein Wesen höherer Art" ver ehren ließ.46 Auf diese Weise griff Mader auf die Fusion des biologisch 40
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45 46
Siehe: Mader 1927, S. 60-76 (Befreiung des Bruders), S. 140- 142 (Nil pferdjagd), S. 208 und 242-249 (Auffinden Versteck Halim Paschas), Zitat S . 243. Ebd., S. 25 1 . Vgl. Mader 1927, S . 329. Siehe: Ebd., S. 333-334. Besonders deutlich zu sehen in seinen Schilderungen der Erkundungswan derungen, welche die europäischen und afrikanischen Frauen gemeinsam untemehmen, um den Eingang zu Halim Paschas Versteck zu finden. Sie he: Ebd., S. 242-25 1 . Ebd., S. 296, 304-305, Zitat S . 305. Ebd., S. 305.
1 30 I KANNIBALE-WERDEN
orientierten Rassebegriffs, der sich Mitte des 1 9. Jahrhundert entwickelt hatte, mit älteren Vorstellungen von ,Rasse' als blutsverwandte Zugehö rigkeit zum Adelsstand zurück, welche Arthur de Gobineau ( 1 8 1 6- 1 882) in seinen Essai sur l'inegalite des races humaines ( 1 853-1 855) für seine Theorie vom Ariertum vorgenommen hatte.47 Die männlichen Angehörigen der Expedition wurden dem gegenüber allesamt mit traditionell männlichen, positiv besetzten Eigenschaften cha rakterisiert. Besonderen Vorbildcharakter hatte in diesem Zusammenhang die Figur des Lord Flitmore, "mehr Deutscher denn Engländer", der sich durch extreme Selbstbeherrschung und kühle Überlegung in Krisensituati onen auszeichnete und im Text sogar als "Vater der Selbstbeherrschung" bezeichnet wurde. Der von Mader für ihn erfundene sprechende Name unter den Indigenen lautete "Bwana Kelele" oder " ,Herr Ruhe' ''''s Flitmo re unterwarf seine gesamten emotionalen und instinktiven Reaktionen ei ner strikten, rationalen Kontrolle, so beispielsweise als er tot geglaubte Mitglieder der Expedition entdeckte: "Eine Freudenwelle strömte zu Flitmores Herzen: sie waren gerettet! [ ... ] Am liebsten wäre der Engländer jubelnd auf die so unerwartet Wiedergefundenen zugestürmt. Aber er zügelte, wie immer, seine Triebe und sagte sich, daß da an dere seien, die mehr Recht auf eine erste Begrüßung hätten. "49
Statt also seinem ersten Impuls zu folgen, ging er gemessenen Schrittes zur ahnungslosen Restgruppe zurück und verkündete, sogar "die Bewe gung seiner Stimme meisterhaft bewältigend", seine Entdeckung.50 Neben Deutschen waren unter den Mitgliedern der Expedition auch Repräsentanten von denjenigen Kolonialmächten, zu denen sich deutsche Kolonisatoren in einem ambivalenten Verhältnis von Identifikation und Konkurrenz stehen sahen, namentlich Engländer und Buren.51 Diese ge genseitigen positiven wie negativen Bezugnahmen spielten besonders im Bereich des südlichen Afrika eine zentrale Rolle bei der Herausbildung eines je eigenen Verständnisses von der eigenen Rolle als Kolonisator. Einerseits galt das britische Empire für das deutsche Kolonialprojekt als vorbildhaft, andererseits wurde der britische Umgang mit den Indigenen 47
48 49 50 51
Siehe: Geiss 1988, S. 17, 30-3 1 , 1 68- 1 69; WeingartJKroll/Bayertz 1992, S. 94-97; Foucault 1999, S . 94-97; Young 2003, S . 99-1 17; Geulen 2004, S. 59-71 . Siehe: Mader 1927, S. 60-61 , Zitate S. 2, 130. Ebd., S . 1 30. Ebd., S. 1 3 1 . Während die weißen Frauen als mehr oder weniger homogene Gruppe ge schildert wurden, hob Mader in Bezug auf die männlichen Protagonisten das Distinktionsmerkmal Nationalität besonders oft hervor. Eine Vorge hensweise, welche die im Kaiserreich und Weimar übliche Identifikation von Männlichkeit und Nation wiederspiegelt. Siehe dazu auch die Ausfüh rungen in Kapitel 6.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 31
als fast schon egalitär kritisiert. Buren hingegen galten in Teilen der Kolo nialliteratur aufgrund ihrer sehr einfachen und bodenständigen Lebenswei se oft als kulturell , rückständige' Weiße. Gleichzeitig identifizierten sich deutsche Kolonialinteressierte mit dem burischen Unabhängigkeitsbestre bungen in der britischen Kapkolonie.52 Anders verhielt es sich j edoch mit den im Roman ebenfalls erwähnten Portugiesen. Eine portugiesische Stadt, welche die Heidinnen und Helden auf ihrer Reise aufsuchten, "machte den Eindruck eines Negerdorfes", die "Häuser der Europäer sahen verwahrlost aus und den Lehm, mit dem die Mauem verkleidet waren, hatte der Regen weggewaschen." Grundlegende hygienische Regeln würden missachtet: Europäer und Europäerinnen leb ten eng mit den Indigenen zusammen und ,,[o]bgleich das Klima gesund ist, herrschte doch infolge jeglichen Mangels an gesundheitlichen Einrich tungen eine abscheuliche Luft, die dem Wohlbefinden nicht zuträglich sein konnte."" Insgesamt seien die Portugiesen als Kolonialherren gescheitert. Ob wohl dieser Teil Afrikas bereits "seit Jahrhunderten portugiesische Kolo nie" gewesen sei, konnte diese ihre Herrschaft nicht dauerhaft und voll ständig durchsetzen.54 Gleichzeitig seien sie gegenüber den Afrikanerinnen und Afrikanern ungerecht hart, beschimpften diese als faul, seien aber selbst nicht bereit, eigene körperliche Arbeit in die Kolonie zu stecken. Geradezu exemplarisch führte Mader den jammernden Plantagenbesitzer Avelino Fernandez de Mello ein, der all diese Vorurteile verkörperte.55 Angesichts seines Verhaltens äußerten sich die Mitglieder der Expedition, allen voran die mitreisenden Frauen, umgekehrt positiv über die Indige nen, die sich "trotz der ungerechten, barbarischen Behandlung" für ihren weißen Herrn aufopferten.56 Der in dieser Parteinahme zugunsten der Indigenen zum Ausdruck kommende Paternalismus entsprach der Grundeinstellung, mit welcher Maders Protagonisten und Protagonistinnen Menschen afrikanischer Ab stammung gegenübertraten. Für sie waren diese Kinder, die es zu erziehen galt. Über diese Einschätzung bestand unter den Weißen im Roman Einig keit, lediglich über die Vorgehensweise kam es zu Diskussionen. Auch in dieser Debatte finden wir zentrale Aussagen des deutschen Kolonialdiskurses geradezu als Textzeilen der Heidinnen und Helden des Romans wieder. In einer doppelten Abgrenzungsbewegung, die einerseits das Vorgehen der Portugiesen als zu hart und den Umgang der Briten als zu nachlässig und weichherzig bezeichnete, positionierten sich die Ange52
53 54 55 56
Siehe dazu: Kundrus 2003a, S. 96-104; Aitken 2005; Walgenbach 2005, S. 1 6 1 - 1 64; Aitken 2007a, S . 1 87-228; Aitken 2007b, 352-358; Lindner 20 1 1 sowie Lindner 2009. Mader 1927, S . 138. Ebd., S. 166. Siehe: Ebd., S. 94-96. Ebd., S. 95.
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hörigen der deutschen Kolonialmacht in der , goldenen Mitte' : grundsätz lich sei den Indigenen mit Güte zu begegnen, bei Verstößen gelte es aller dings, energisch durchzugreifen und schnell sowie angemessen zu ahnden. Als das Mittel der Wahl galt die Prügelstrafe. Allerdings müsse der indivi duelle Fall berücksichtigt werden, denn "manche Kinder brauchen Schlä ge, anderen schaden sie nur"." Das Verhalten des deutschen Expeditions leiters, der qua Amt die Verantwortung für die gesamte Gruppe trug, konn te in diesem Sinne als vorbildlich gelten. Er trat den indigenen Mitgliedern der Expedition gegenüber stets als Familienoberhaupt auf: zugleich sor gend, strafend und ordnend. Er sprach sie sogar als "meine Kinder" an." Diese fürsorglich-paternalistische Position entsprach einerseits der im vorangegangenen Kapitel rekonstruierten kolonialen Gouvernementalität, in welcher der deutsche Kolonisator gegenüber der indigenen Bevölkerung als ,guter Hirte' auftrat. Zum anderen beschrieb Mader damit eine kolonia le, weiße Männlichkeitskonstruktion, die Elemente der beiden von Wil denthaI rekonstruierten Männlichkeiten, derjenigen der "imperial patriar chy" und des "liberal nationalism" miteinander verband.59 Schultze als Ex peditionsleiter hatte zwar uneingeschränkte patriarchale Verfügungsgewalt über die Mitglieder der Expedition, traf seine Entscheidungen aber nie ohne Rückbindung an das Votum oder gar gegen den Willen der anderen Weißen in der Gruppe. Zudem setzte er seine Macht stets im Sinne der civilising mission und der Durchsetzung einer allgemeinen Rechtsordnung ein.';() Die solcherart infantilisierten Indigenen wurden von Mader des Weite ren entweder negativ als gierig, feige, unbeherrscht, rachsüchtig, wortbrü chig, lügenhaft, grausam und heimtückisch beschrieben oder als den Wei ßen ergebene Diener und Dienerinnen, die bereitwillig ihr eigenes Leben zugunsten ihrer Herrinnen und Herren aufs Spiel setzten.6l Gleichzeitig betonte Mader immer wieder die angeblich ,natürliche' Überlegenheit des "Europäer[s)" über den "Neger", die sich nicht nur auf intellektueller Ebe ne, sondern vor allem auch in ihrer Entschlossenheit, Geistesgegenwart und Willensstärke äußern sollte. Auf diese Weise sollten Weiße auch zah lenmäßig und körperlich stärkeren Gegnern erfolgreich die Stirn bieten können. Mader fasste diesen intellektuell-strategischen Vorteil wie folgt zusammen:
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Ebd., S. 150- 1 5 1 , Zitat S. 150. Ebd., S . 234. Wildenthal 200 1 , S. 80. Siehe: Mader 1 927, S. 80 (Befreiung von Slaven), S . 86-87 (Verbot von Plünderungen zur Versorgung der Expedition), S . 138, 304 (keine Lynch justiz, sondern Übergabe der überlebenden Sklavenhändler an die Behör den). Siehe: Ebd., S . 54-55 (der Koch der Expedition setzt trotz schwerster Ver wundungen sein Leben aufs Spiel), S. 286-287 (Dienerin Arnina stirbt, um die Weißen vor einem Hinterhalt warnen zu können).
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 33 "Der stärkste Neger wird durch plötzliche Überraschung gelähmt und ist nicht mehr imstande, rasch zu laufen oder auch nur ein mäßiges Hindernis zu über springen; deshalb kann ein Europäer, wenn er nur kühn und verblüffend vorgeht, einen schwarzen Herkules spielend niederringen und den leichtfüßigsten Läufer mit ein paar Sätzen einholen.
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Ein "jäh aus tiefem Schlafe geweckter Schwarzer" benötigte laut Maders Darstellung sogar "viel längere Zeit als der Europäer, um sich völlig zu ermuntern und zu klarem Bewusstsein zu gelangen." Im Schlaf überfallen, torkelten sie zunächst mehr oder weniger hilflos herum: "Die Leute han delten völlig kopflos, und es fehlte ihnen an jeder Geistesgegenwart."·3 Darüber hinaus seien die angeblich überaus abergläubischen Indigenen auch leicht zu täuschen. So gaukelte der technisch versierte und findige Lord Flitmore einem einheimischen "Häuptling" zur Geisterstunde mit Hilfe von Schweinwerfern und Hohlspiegeln erfolgreich die Erscheinung seines eigenen Gottes vor, um ihn den Reisenden gegenüber günstig zu stimmen.64 Entsprechend waren alle Autochthonen leicht durch gezielte Einschüchterungs- oder Überrumpelungstaktiken zu überwältigen und ge walttätige Auseinandersetzungen zwischen der von Weißen angeführten Expedition und feindlichen Autochthonen gerieten dementsprechend stets zu einer Demonstration der , überlegenen' intellektuellen Fähigkeiten der Europäerinnen und Europäer. Die einzigen nicht-weißen Männer, die eine ernsthafte Bedrohung für die Expedition darstellten, waren die arabischen Sklavenhändler, die als grausam und heimtückisch geschildert und als "Bestien in Menschenge stalt" oder als "entmenschtesten Wüteriche" bezeichnet wurden.·' Unter diesen galten, ganz im Sinne der damaligen rassebiologischen Vererbungs lehre, die "Mischling[e]" unter den Sklavenhändlern als besonders grau sam. Da in ihren "Adern Negerblut und Araberblut sich misch[e]", hätten sie "von bei den Rassen nur die schlimmsten Eigenschaften geerbt" und seien daher "von ausgesuchter Bosheit und Grausamkeit"!· Auch hier bezog sich Mader auf die von Gobineau inspirierten Theo rien der rassistischen Vererbungslehre, die in der von ihm beschriebenen 62 63
64
65 66
Ebd., S. 24. Ebd., S. 24. Wie ich in Kapitel 4 und 5 zeigen werde, galt im anthropolo gisch-kriminologischen Diskurs die Neigung zur Bewusstlosigkeit und feh lende Selbstbeherrschung als Zeichen einer ,degenerativen' Veranlagung. Siehe: Ebd., S. 1 74- 176. Dies war eine durch und durch unglaubhafte Dar stellung, denn weder führte Mader zuvor ein, dass Lord Flitmore die Spra che der Indigenen akzentfrei beherrschte, noch erklärte er, woher der zum Betrieb der Schweinwerfer benötigte elektrische Strom stammte. An dieser Stelle konnte nur ein offenbar beim Publikum vorhandener blinder Glaube an die Überlegenheit des weißen Mannes und seiner Technik die erzähleri sche Lücke schließen. Ebd., S. 1 1 . Ebd., S . 10.
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Weise davon ausgingen, dass Kinder aus , gemischtrassigen' Verbindun gen die jeweils negativen ,rassischen' Eigenschaften ihrer Eltern erben würden. Diese Position war im Kontext der deutschen Kolonien die Hal tung der Befürworter des Verbots sogenannter Mischehen.67 Gleichzeitig bestimmte sie maßgeblich die Überzeugungen einer Eugenikbewegung, deren Ziel die biopolitische Neustrukturierung und Verbesserung der Ge sellschaft im kolonialen Mutterland war.68 Wie schon bei der Charakterisierung der Portugiesen griff Mader auch hier zum Stilmittel der Personifizierung: Der Gegenspieler der HeIdinnen und Helden, der Anführer einer Bande von arabischen Sklavenhändlern, vereinte nahezu alle genannten negativen Eigenschaften auf sich und wur de von Mader sogar mit sadistischen Zügen ausgestattet. Er "weidete sich an den Qualen der Sterbenden", wobei "die ohnmächtigen Drohungen und Verwünschungen der Gemarterten [ ... ] noch sein barbarisches Vergnügen" erhöhen sollten. Der Anblick gequälter Menschen sei neben dem Besitz von Gold die einzige "Lust seines Herzens".69 Während sich also die Afrikaner und Afrikanerinnen nach mehr oder weniger drastischen Drohungen oder Einschüchterungsmanövern in aller Regel fügten oder aufgrund ihrer intellektuellen Unterlegenheit leicht zu überwältigen waren, galten Araber in Ophir als die einzigen außer den Eu ropäerinnen und Europäern, die in der Lage sein sollten, Taktiken anzu wenden oder Strategien zu entwickeln.70 Damit stellten sie die einzige ernstzunehmende Bedrohung für das Überleben der Protagonisten und Protagonistinnen des Romans dar. Des Weiteren war die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskraft der von Halim Pascha und seinen Helfershel fern in die Sklaverei entführten Afrikanerinnen und Afrikanern das genaue Gegenteil des von den Weißen propagierten wohlwollenden Paternalis mus.71 Damit repräsentierten die arabischen Sklavenhändler eine massive Störung der weißen Kolonialordnung: Die Ausbeutung von Bodenschätzen und die Reorganisation der Bevölkerung zu diesem Zwecke galt als das exklusive Privileg der Kolonialmacht. Erst in diesem Kontext wurde in Maders Roman der Verdacht der Menschenfresserei thematisiert. Unter all den indigenen Bevölkerungs gruppen, denen die HeIdinnen und Helden begegneten, galt allein diejeni ge als kannibalisch, deren "Häuptling" einige "arabische Sitten" ange-
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69 70 71
Siehe: Weingart/Kroll/Bayertz 1 992, S. 9 1 - 103; Grosse 2000, S. 159- 164, 176- 192; Dietrich 2007, S. 205-213. Siehe: Weindling 1989, S. 6 1-80; Weingart/Kroll/Bayertz 1 992, S. 1031 25. Trotz ihrer großen politischen Bedeutung waren diese Positionen in nerhalb der Medizin und Anthropologie allerdings nie unumstritten (vgl. Geiss 1 988, S. 208-210). Siehe dazu auch das folgende Kapitel Wie die Wilden. Mader 1927, S. 237. Siehe: Ebd., S. 284. Siehe: Ebd., S. 237.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 35
nommen hatte, nämlich die Gewohnheit, sich in weiße Gewänder zu klei den sowie die Sitte der Haltung und des Verkaufs von Sklaven und Skla vinnen." In der Schilderung der Auseinandersetzung der Heidinnen und Helden mit diesen "Menschenfressern" finden wir eine Reihe von bereits vertrauten Elementen wieder: erstens die uns seit Schweinfurths Darstel lungen vertraute Charakterisierung ihres Oberhauptes als grausam, sadis tisch und, unfähig zur Affektkontrolle, zu spontanen Wutausbrüchen nei gend.73 Zweitens wurde der ,Beweis' in einer für den kolonialen Kanniba lismusdiskurs typischen Form geführt, nämlich in einer Variante der can
nibal scene. Der von ihnen gefangen gehaltene Bure Hendrik erfuhr erst nachträglich aus dem Mund seines afrikanischen Begleiters, dass "die Unmenschen die noch lebenden Körper [ihrer Opfer] zerstückelt und zu einem Festmahl für die ganze Einwohnerschaft gebraten hatten."74 Der weiße Mann selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits in der ihm zugewiese nen Hütte verschwunden. Auf diese Art und Weise verband auch Mader Kannibalismus mit der Störung der kolonialen Ordnung, allerdings vermit telt über die Kopplung mit dem Vorwurf der Kollaboration mit den arabi schen Sklavenhändlern. Die Herstellung und Aufrechterhaltung der von den Weißen ge wünschten kolonialen Ordnung wurde auch in anderer Hinsicht im Roman problematisiert. Auch hier spielte die Auseinandersetzung mit dem Skla venhandel eine zentrale Rolle und war eng verknüpft mit dem Bezug auf wissenschaftliches Fachwissen. Wie oben bereits erwähnt, wurde dieser Bezug in vielen Texten der deutschen Kolonialliteratur benutzt, um Au thentizität und Glaubwürdigkeit zu inszenieren. Mader verfolgte diese Strategie in Ophir auf besonders nachdrückliche Art und Weise. Zum ei nen verwies er im Text mehrfach auf berühmte Forschungsreisende, na mentlich Carl Peters, David Livingstone, Henry Morton Stanley und Edu ard Schnitzer, deren Erfahrungen häufig als Vergleichs folie herangezogen wurden." Einige der Charaktere könnten sogar nach dem Vorbild dieser Männer entworfen worden sein. Dies galt besonders für die Figur des Ex peditionsleiters, Professor Heinrich Schultze, der wie Eduard Schnitzer fließend Arabisch sprach, sich sogar als Araber ausgab und dessen Spitz72
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Siehe: Ebd., S. 1 2-15, Zitat S. 12. Mader verknüpfte außerdem damit ex plizit den muslimischen Glauben mit Sklaverei und Grausamkeit, ein As pekt auf den aus Gründen der DarsteIlbarkeit hier nicht weiter eingegangen werden kann. Die komplexe Geschichte der Auseinandersetzungen mit dem Islam in der deutschen Kolonialzeit, des deutschen Orientalismus so wie mögliche Kontinuitäten oder Diskontinuitäten in postkolonialer Zeit ist bislang in der Forschung nur selten thematisiert worden und ist angesichts gegenwärtiger Debatten ein dringliches Desiderat der Forschung. Siehe: Ebd., S. 14-15, Zitat S. 12. Gleichzeitig finden wir die uns bereits aus dem letzten Kapitel bekannten diffamierenden Kannibalismusvorwürfe der Indigenen untereinander (vgl. ebd., S . 49). Ebd. , S. 1 5 . Siehe etwa: Ebd., S. 42 (Stanley), S. 160 (Peters, Livingstone).
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name unter den Afrikanerinnen und Afrikanern "Blattfresser", ",Bwana Maua'" oder ",Herr Blume'" lautete, eine Anlehnung an Schweinfurths Beinamen "B lattfresser". 76 Zum anderen fügte Mader dem Roman neben einer kleinen Karte der von den Protagonisten angeblich durchquerten Region auch ein Literatur verzeichnis sowie ein kapitelweise geordnetes Schlagwortregister bei, welches genau bezeichnete, aus welchen Reiseberichten und Werken der Expeditions- und Forschungsliteratur welche Informationen zu welchen Themen entnommen wurden. Die Schlagwörter reichten von "Kannibalis mus" bis "Termitenbauten".77 Gleichzeitig konnte dieser Anhang interes sierten Leserinnen und Lesern als Lese1iste dienen und so über den Um weg einer spannenden Abenteuergeschichte wissenschaftliches und kolo nialpolitisches Interesse in einer Zeit wach halten, in der keine offizielle Kolonialpolitik mehr betrieben wurde, auch wenn diese Wirkung zunächst, als (die Erstauflage von) Ophir 1 9 1 1 erschien, nicht intendiert war. 78 Zu den im Anhang aufgeführten Werken zählten viele der bereits im vorher gehenden Kapitel ausführlich diskutierten Texte, beispielsweise Junkers Reisen in Afrika oder Schweinfurths Im Herzen von Afrika. Aber auch
Barths Reisen und Entdeckungen oder Wißmanns Unter deutscher Flagge wurden hier genannt. 79 Einen besonderen Schwerpunkt bildeten die B erich te Stanleys, deren deutsche Übersetzungen nahezu vollständig auf der Lis te vertreten waren. 80 Es gab es allerdings einen zentralen Unterschied zwischen den Helden und Heidinnen von Maders Roman und den Expeditionen ihrer histori schen Vorbilder. Wie wir im vorangegangenen Kapitel sehen konnten, waren die genannten Forschungsreisenden auf die Infrastruktur des Kara wanenhandels und die Unterstützung der Händler notwendig angewiesen. Während sich also die Forschungsreisenden, auf deren Vorbild sich die Charaktere des Buches immer wieder beriefen, die Infrastruktur und den Schutz der Karawanen zu Nutze machten, zogen die Helden und Heidin nen Maders gegen die Sklavenhändler zu Felde. Dieser Widerspruch blieb Mader selbst nicht verborgen. Im Anhang unter dem Stichwort "Sklave rei", dem weitaus längsten Eintrag des Schlagwortregisters, nennt er unter 76 77 78
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Ebd. , S. 2, 3 1 1 . Vgl. Schweinfurth 19 18, S. 244, 249, 264. Siehe: Ebd., S. 337-354. Es gab bereits vor 1914 einen verbreiteten Bildungsanspruch auf Seiten der Verlage und der Autoren und Autorinnen von Kolonialromanen. Siehe: Benninghoff-Lühl 1983, S. 58. Siehe: Junker 1 8 89a; Schweinfurth 1918 (hier in der ersten Auflage von 1 874 angegeben); Barth 1 857; Wißmann 1 889. Neben Reise- und For schungsberichten wurden auch Artikel aus einschlägigen kolonialpoliti schen Publikationen angegeben, beispielsweise ein Beitrag über "Ostafri kanische Charakterbäume" , in: Kolonie und Heimat 4,9 (1910- 1 1), S. 4. So beispielsweise: Durch den dunklen Weltteil oder die Quellen des Nils (Stanley 1 878); Im dunkelsten Afrika (Stanley 1 890); Wie ich Livingstone fand (Stanley 1 8 85).
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anderem Stanley, der auf seiner Suche nach Eduard Schnitzer "mit den Sklavenhändlern gemeinsame Sache" gemacht habe. Stanley, so Mader, sei aufgrund dieser strategischen Koalition zur Rettung Schnitzers sogar bereit gewesen, über die Grausamkeiten der Sklavenhändler hinwegzuse hen und ihnen im Kampf gegen andere Afrikaner und Afrikanerinnen zu helfen. 81 Indem er die Zusammenarbeit zwischen Stanley und den Skla venhändlern als Ausnahmesituation und ihre Unterstützung durch den weißen Forscher als individuelle Verirrung angesichts höherer Ziele dar stellte , blendete Mader den systematischen Charakter der Zusammenarbeit von Forschungsreisenden und afrikanisch-arabischen Elfenbein- und Skla venhändlern im ausgehenden 1 9. Jahrhundert aus. So verlor er beispiels weise kein Wort darüber, dass auch Schweinfurth im Gefolge der Karawa ne eines solchen Händlers gereist war. Stattdessen ließ Mader seine Prota gonistinnen und Protagonisten als mildtätige Befreier und Befreierinnen einerseits und als strafende Rächer und Rächerinnen andererseits auftreten. Ganz im Sinne der selbstauferlegten Zivilisierungsmission setzten sie eu ropäische Werte und Normen durch, übten dabei allerdings keine Selbst justiz, sondern übergaben den nach langen Kämpfen gefassten Sklaven händler an die zuständigen weißen Behörden.82 Ein sonderbarer Zweifel: Der wei ße Mann und der kannibalische I mpuls
Anders als in Ophir spielten wilde Kannibalen in meinem zweiten Bei spiel, den Tarzan-Romanen von Edgar Rice Burroughs ( 1 875- 1 950), eine unmittelbare und zentrale Rolle.'J Der erste Band Tarzan bei den Affen, im amerikanischen Original erstmalig 1 9 1 2 als Fortsetzungsroman im All
Story Magazine, einem der zu Beginn des 20. Jahrhunderts populären Pulp-Magazine veröffentlicht, war derartig erfolgreich, dass immer weite re Folge-Romane erschienen, deren Texte auch in Buchform wieder veröf fentlicht wurden. Die erste deutsche Übersetzung von Tarzan 0] the Apes erschien im Jahr 1 924 und erreichte allein in diesem Jahr über einhundert 81 82 83
Siehe: Mader 1 927, S . 341 -342, Zitat S. 341 . So beispielsweise: Ebd., S. 138. Burroughs hatte zunächst erfolglos unterschiedliche berufliche Tätigkeiten ausgeübt und war auch mit dem Versuch einer kaufmännischen Selbststän digkeit gescheitert. Nach diesen Misserfolgen begann er 1 9 1 1 Science Fiction- Kurzgeschichten zu schreiben, deren erste 1 9 1 2 im All-Story Ma gazine veröffentlicht wurde. Sein Durchbruch als Schriftsteller kam aller dings erst mit Tarzan 0/ the Apes. Neben Tarzan schuf Burroughs noch zwei weitere erfolgreiche Roman-Serien, die dem ersten Genre seiner Wahl zugerechnet werden können: die Barsoom-Serie ( 19 1 2-1943), die auf einem fiktiven Mars spielte, und die Pellucidar-Romane ( 1 9 1 4- 1 963), de ren Schauplatz das als Hohlraum gedachte Innere der Erde war. Zu Bio graphie und Werk Borroughs' siehe Porges 1 976 sowie Kasson 2002, S . 1 57-1 69.
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Auflagen. Auch die Folgeromane wurden im Anschluss rasch übersetzt: In den 1 920er und 1 930er Jahren erschienen insgesamt acht Bände. Tarzan ist damit ein weiteres Exempel für die enge Verflechtung des deutschen Kolonialdiskurses mit dem anderer Kolonialmächte wie etwa Großbritan nien oder den Vereinigten Staaten." Wie in mehreren Forschungsarbeiten demonstriert, können wir Tarzan als Personifikation der hegemonialen, weißen Männlichkeitskonstruktion der europäisch geprägten Gesellschaften Nordamerikas und Europas der Zeit um 1 900 betrachten." Dabei entstand die Tarzan Figur in einer spezi -
fischen historischen Situation, in der es, wie Harry Stecopoulos formuliert, angesichts einer als krisenhaft wahrgenommenen weißen Männlichkeit darum ging, "to recover a sense of [ ... ] whiteness in an incorporated, post frontier America".86 Weiße, bürgerliche Männlichkeit schien in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gleich in mehrerer Hinsicht bedroht: erstens durch die zu nehmenden Beschäftigungen in fremdbestimmten und oft weiblich konno tierten Bürotätigkeiten, den sogenannten white coltar jobs, zweitens durch die lauter werdenden politischen Forderungen der Arbeiter und Arbeite rinnen, der African-Americans sowie der Frauenbewegung, drittens durch den Verlust der frontier als kolonialem Expansionsraum, in dem weiße Männlichkeit als die überlegenere hätte bewiesen werden können und die durch überseeische Kolonialisierungsversuche nur unzureichend ersetzt werden konnte, viertens durch intergenerationelle Auseinandersetzungen, ein Aufbegehren der Söhne gegen traditionell eingestellte Familienpatriar chen sowie fünftens durch ihre Körperlichkeit selbst, die aufgrund klimati scher und zivilisatorischer Einflüsse zunehmend nervösen Störungen un terliegen sollte.87 Durch eine Verschiebung in fantastisch-koloniale Räume ermöglichte Burroughs es dem weißen Mittelklasse-Mann seine ",rightful' identity" zurückzugewinnen und eine "traditional proprietary conception of white male identity in defiance of modernity" zu zelebrieren.88 Eine Vielzahl von Themen können wir, wie ich im Kapitel Der Body Politic isst sich selbst zeigen werde, in der Diskussion um die ebenfalls als krisenhaft wahrgenommene hegemoniale weiße Männlichkeit in der Zeit der Weima rer Republik wieder finden: die sich verändernden Geschlechterverhältnis se, die Auseinandersetzungen um die politische Vertretung der Arbeiterin84
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Die Tarzan-Romane wurden nicht nur positiv aufgenommen. Angesichts der negativen Beschreibungen deutscher Protagonisten wurden Empfind lichkeiten laut. Siehe beispielsweise "Wider Herrn Tarzan", in: Kladdera datsch 78, 1 5 ( 12. April 1 925), S. 240. Vgl. dazu auch Cohen, M. 2006, S. 153. Siehe: Bemhard 1 986, S. 23-3 1 ; Cheyfitz 1 99 1 , S . 12-1 3 ; Bederrnan 1 995, S . 228-229; Hulme 1 998, S. 2-3; Kasson 2002, S. 1 95- 1 96, 207-208. Stecopoulos 1 997, S. 1 7 1 . Dazu siehe als Einstieg: Dubofsky 1 968, S. 7-19; Rogin 1992; Bederrnan 1 995, S . 1 -44, 77- 1 20; Southern 2005, hier v.a. S. 1 1 1 - 1 80. Stecopoulos. 1 997, S . 1 7 1 .
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nen und Arbeiter, intragenerationelle Konflikte, der Verlust kolonialer Räume. Diese Gemeinsamkeiten zeigen auf, warum die Tarzan-Romane für deutsche Leser in den 1 92Der Jahren affektiv so anschlussfähig waren: Hier gab es die Möglichkeit, sich lustvoll mit einem weißen Helden zu identifizieren, der eine verloren oder zumindest gefährdet geglaubte, wei ße, männliche Überlegenheit verkörperte. Ich greife die Tarzan-Romane hier nochmals auf, da in diesen in besonderer Weise deutlich wird, dass mit der Angst verschlungen zu werden noch eine weitere Vorstellung ein her ging, die allerdings bislang in der Literatur selten thematisiert wird: die Furcht, selbst zum Menschenfresser zu werden.'9 In einer der Schlüsselszenen im ersten B and, Tarzan bei den Affen, beugte sich Tarzan über den gerade erschlagenen, menschlichen Mörder seiner Affen-Mutter Kala und wollte gerade der "Dschungel-Moral" fol gen und seinen Feind verschlingen. "Plötzlich aber lähmte ein sonderbarer Zweifel seine Hand. Hatten die Bücher ihn nicht gelehrt, daß er ein Mensch sei? Und war der [von ihm Getötete] nicht auch ein Mensch?'''') Die eigenen Artgenossen zu verspeisen war den Menschenaffen, unter de nen er aufgewachsen war, nicht vollständig fremd. Sie verzehrten einzelne gefangene Krieger feindlicher Stämme. Tarzan hatte bereits an ihrer ritua lisierten Form des Kannibalismus teilgenommen und auch von dem Fleisch des geschlachteten Feindes gekostet.9 1 Endokannibalismus hinge gen wurde nicht praktiziert. Außerdem hatte er durch intensives Selbststu dium der Bücher, die er in der Hütte seiner verstorbenen menschlichen Eltern gefunden hatte, gelernt, sich als Mensch zu betrachten.92 Und so stand Tarzan vor der schwierigen Frage: "Aß der Mensch vom Men schen?" Letziich konnte er sich nicht überwinden, von dem Fleisch seines Feindes zu kosten, denn "ein widerstrebendes Gefühl übermannte ihn".93 Tarzans Widerwillen, so schrieb B urroughs weiter, war Erbteil seiner vor nehmen englisch-weißen Herkunft und er handelte instinktiv moralisch korrekt: "Er konnte das nicht verstehen, aber er sah ein, daß er das Fleisch des schwarzen Mannes nicht essen durfte. Der aus uralter Zeit ererbte Instinkt bewahrte ihn da vor, ein Weltgesetz zu übertreten, von dem er keine Kenntnis hatte. "94
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Mit Ausnahme von Jeff Berglund, der im Gegensatz zu meiner Interpreta tion Tarzans Ablehnung des Kannibalismus als Ergebnis seiner Literatizität begreift, die es ihm ermöglicht, seine Dschungel-Sozialisierung hinter sich zu lassen und seinen "hereditary instinct" wachruft (Berglund 1999, S. 65.) Burroughs 1924a, S. 84, 85. Ebd., S . 61 -65. Ebd., S. 60. Ebd., S. 85. Ebd., S. 85.
1 40 I KANNIBALE-WERDEN
Die Leser und Leserinnen des Roman wussten zu diesem Zeitpunkt be reits, dass sein Gegner ein wilder Kannibale war, ausgestattet mit allen uns inzwischen gut bekannten äußerlichen Merkmalen wie einem wilden und hässlichen Äußeren, spitz gefeilten Zähnen sowie, anstelle der Schmuck narben, Tätowierungen. Im Text wurde darüber hinaus erläutert, dass er und sein "Stamm[ ]" auf der Flucht "vor den "Soldaten des weißen Man nes" waren, "die sie so sehr wegen Gummi und Elfenbein gequält hatten", einen weißen Offizier und die Soldaten unter seinem Kommando getötet und sich mehrere Tage von dem Fleisch ihrer Opfer ernährt hatten!5 Auch Tarzan merkte bald, dass es sich bei seinem Opfer um einen Menschen fresser gehandelt hatte. B egierig, mehr über seine menschlichen Artgenossen und Artgenos sinnen zu erfahren, beobachtete er, nach seiner Rache an Kalas Mörder, die Einwohner und Einwohnerinnen des Dorfes, aus dem dieser stammte. Dabei wurde er Zeuge der rituellen und grausamen Hinrichtung eines ge fangenen Feindes.96 Während er zuvor lediglich enttäuscht gewesen war, dass es im Dorf an all den Fortschrittsikonen des kolonialen Diskurses fehlte, die er in seinen Bilderbüchern zusammen mit Menschen abgebildet gesehen hatte, namentlich Eisenbahnen und Dampfschiffe, so war Tarzan nun angewidert. Die "Schwarzen" waren "böser als seine eigenen Affen und so wild und grausam wie Sabor [die Löwin]" und "Tarzan fing an, seine eigene Rasse nur sehr gering zu achten."97 In der Folgezeit oszillierte seine Beziehung zu diesen Menschen zwischen Abneigung und Nachah mung. Um ihnen ähnlicher zu werden, rasierte er sich und stahl und trug ihre Kleidung und ihren Körperschmuck. Gleichzeitig diente ihm diese Form der mimicry dazu, sich von den Affen, bei denen er aufgewachsen war, abzugrenzen.98 Erst mit der Ankunft einer weißen Expedition fand er adäquate, eindeutig positiv besetzte Vorbilder, die ihn, angeführt durch lane Porter, zurück in die Zivilisation führten. Die Beziehung zu dieser weißen Frau bestimmte fortan sein Handeln und sein Selbstverständnis, er schuf sich nach ihren Wünschen. Oder, wie Bourroughs Tarzan formulie ren ließ: "Ich bin aus dunkler, ferner Vergangenheit gekommen, aus dem Gebiet des Ur waldmenschen, um Sie zur Frau zu begehren. Ihnen zu liebe habe ich die Welt meere und die Festländer durchkreuzt, Ihnen zu liebe will ich alles werden, was Sie wünschen."99
95 96 97 98 99
Ebd., S. 76. Siehe: Ebd., S. 93-96. Ebd., S. 94. Siehe: Ebd. , S . 1 1 3. Hierin enthalten war auch eine starke homoerotische Komponente, vgl. Stecopoulos 1 997, S. 1 84-185. Burroughs 1 924a, S . 270.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 41
Wie in der Literatur mehrfach betont, ist die Geschichte Tarzans eine De monstration sozialdarwinistischer Theorien: Sein Erbgut, das im doppelten Sinne auf Rasse verwies, als Adeliger und Europäer, habe sein Verhalten und sein Selbstverständnis determiniert. Selbst ohne zivilisierte Sozialisa tion habe er instinktiv europäischen Normen und Werten gehorcht und sein Verstand habe ihm seine Überlegenheit über Mensch und Tier verlie hen.lOo Gleichzeitig zeigt die Erzählung aber auch, als wie dünn die Trennung zwischen dem wilden Kannibalen und dem zivilisierten, weißen Mann vorgestellt wurde. Alles, was Tarzan vom kannibalischen Akt abhielt, war ein unbestimmter Widerwille. Der Impuls jedoch war vorhanden und konnte nur durch Selbstbeherrschung in seine Schranken verwiesen wer den. Eine Problematik, auf die auch Tarzans Name verwies: "tar", wörtlich Teer, wurde im Amerikanischen
umgangssprachlich abwertend für
"schwarz" benutzt und "zan" stand für "Haut" in der von Burrough erfun denen Affensprache. 1 01 Sollte also nach dieser Logik in jedem Mann ein Kannibale stecken? Die Beantwortung dieser Frage wird uns in den folgenden Kapiteln noch eingehender beschäftigen. In den Tarzan-Romanen jedenfalls wurde die Möglichkeit, dass Weiße zu Menschenfressern werden könnten als ernsthafte Gefahr dargestellt. In Tarzans Tiere, einem der oben angespro chenen Folgebände, entführte Nikolaus Rokoff, Erzfeind und Gegenspieler Tarzans seit seinem ersten Auftreten, dessen Sohn und setzte ihn als Fin delkind bei wilden Kannibalen aus.102 Die Vorstellung, sein Kind könnte bei diesen Anthropophagen aufwachsen und selbst zu einem solchen wer den, jagte dem Vater Gruselsehauer über den Rücken: "Tarzan schauderte bei dem Gedanken an die Leiden, die dem Kleinen unter grausamen Wilden beschieden sein mußten [ . . . ] Ein Kannibale, ein wilder Men schenfresser sein kleiner Jack! Furchtbarer Gedanke ! Mit zugefeilten Zähnen, die Nase durchbohrt und das zarte Gesicht gräßlich tätowiert!" 103
Tarzan, der offenbar Zweifel an der Stärke der biologischen Disposition seines Sohnes zu Kultur und Zivilisation hatte, setzte darauf hin alles dar an, seinen Nachkommen aus den Händen der Menschenfresser zu befreien. Das Thema Ansteckung griff Burroughs nochmals in Tarzans Sohn auf. Der inzwischen pubertierende lack Greystoke hatte eine Vorliebe für Abenteuerliteratur, Reise- und Expeditionsberichte und auch eine Neigung zu Wutausbrüchen und unkontrolliertem, emotionalisiertem Verhalten 100 Siehe: Stecopoulos 1997, S. 180-1 82; Kasson 2002, S. 203-2 1 3 ; Berglund 1 999, S. 58. 101 Siehe dazu: Stecopoulos 1 997, S . 1 84. 102 Siehe: Burroughs 1 924c, S . 23. Tarzan und Rokoff hatten ihre erste Kon frontation in Tarzans Rückkehr in den Urwald (Burroughs 1 924b). 103 Burroughs 1 924c, S. 39.
1 42 I KANNIBALE-WERDEN
entwickelt. Ausgehend von seiner Lektüre imaginierte er sich in die Rolle eines afrikanischen "Häuptling" und äußerte eine "Sehnsucht nach der Ur gewalt des Dschungellebens", die er nach Ansicht seiner Mutter Jane von seinem Vater geerbt hatte.104 Identifikationen mit dem wilden Kannibalen: Menschenjagd
Beschreibungen, die auf die prekäre Ambivalenz von angstvoller Selbst kontrolle einerseits und lustvoller Identifikation mit dem wilden Kanniba
len andererseits verwiesen, finden sich nicht nur in den Tarzan-Romanen, sondern auch in anderen populären Texten. So beispielsweise in dem Ro man Hatako, der Kannibale von Artur Heye ( 1 885-1947) aus dem Jahr 192 1 . 105 Es ist geschrieben aus der Perspektive eines Mrikaners, dessen Dorf, Familie und gesamter Lebenszusammenhang durch eine Strafexpedi tion wegen Kannibalismus, ausgeführt von Askari in Diensten der belgi schen Kolonialmacht und unter Aufsicht der katholischen Missionare, zer stört wurde. Hatako selbst wurde von Heye als klassischer wilder Kanni
bale beschrieben (siehe: Anhang Abb. 9.5). Er war kriegerisch, trug die Zähne spitz gefeilt und seine fiktive ethni sche Gruppe, die "Manjema" war lautmalerisch angelehnt an den B egriff Niam Niam. Seine Heimat wurde geographisch im Kongo verortet und Heye betonte seine animalische Triebhaftigkeit durch wiederholte sprach liche Parallelisierung mit Raubtieren, vorzugsweise Panther, und seine fehlende Selbstkontrolle über seine extreme Rachsucht sowie seine hefti gen Wutanfälle.106 Gleichzeitig schrieb der Autor seinem Protagonisten aber auch positiv besetzte männliche Qualitäten zu, namentlich ein ausge prägtes Ehrgefühl und Stolz, große körperliche Ausdauer und Fitness so wie Mut, Intelligenz und ein hohes Maß an Loyalität gegenüber väterlich auftretenden Autoritätspersonen, die sowohl Europäer als auch Araber und ältere, erfahrenere Afrikaner waren. 1 07
104 Burroughs 1 924d, S. 1 6-22, Zitate S. 2 1 , 1 8 . Zur Debatte um den verderb lichen Einfluss von Kolonialromanen auf jugendliche Leser siehe: Ben ninghoff-Lühl 1983, S. 1 82- 1 96, hier besonders S. 1 82- 187 zur Position von Pädagogen und Pädagoginnen. 105 Hier vorliegend in einer Auflage von 1927. Heye war Fotograph und Schriftsteller, dessen Reiseberichte zu den meistgelesenen Büchern der Weimarer Republik zählten. Seine Werke wurden 1933 von den National sozialisten verboten und er emigrierte in die Schweiz. Siehe auch: Eden 1 989. 106 Siehe: Heye 1927, beispielsweise S. 7, 16, 32, 87, 1 44-145, 1 84, 239. Der Vergleich mit Raubtieren gehörte, wie Benninghoff-Lühl gezeigt hat, zum Standardrepertoire der Darstellung von wilden Kannibalen im Kolonialro man. Siehe: Benninghoff-LühI 1983, S. 68-69. 107 Siehe: Heye 1 927, S. 4 1 -42, 55, 97, 1 20. Gehorsam war, wie im Folgenden noch sehen werden, wesentlicher Bestandteil der weißen, hegemonialen Männlichkeitskonstruktion des Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 43
Besonders die deutschen Offiziere haben es ihm dabei angetan, und in der Mitte des Romans, dem traditionellen erzählerischen Wendepunkt, vor die Aussicht gestellt, wegen illegaler Elefantenjagd bestraft zu werden oder der deutschen Schutztruppe beizutreten, entschied er sich für letzte res: " , Gut, so will ich nun Menschen jagen. "' 108 Hatakos Wanderjahre, die unterwegs gesammelten Erfahrungen und sein Dienst in der Schutztruppe brachten ihn letztlich dazu, seine kannibalischen Gewohnheiten und Im pulse zu hinterfragen. "Woher kam diese unbesiegbare Gier in seinem Blute, die es [sie !] immer wieder zwang, den Feind nicht nur mit den Waffen, sondem auch mit den Zähnen zu zerreißen? - Warum war sie nur in ihm und nicht in den Schwarzen anderer Stämme und nicht in den Weißen? - Und warum war sie ihm nicht mehr so selbstverständlich wie einst und den anderen ein Abscheu und den Weißen ein Grund zu strafen?" 1 09
Nach längerem Dienst in der Truppe will er kein "Menschenfresser" mehr sein, der von seinen "Kameraden verachtet und verspottet" und seinen weißen Vorgesetzten gegenüber sein Versprechen "zu dienen" aufgrund seiner wilden Triebhaftigkeit nicht halten konnte. Letztlich gelang ihm die Unterdrückung seiner wilden und rachsüchtigen Impulse allerdings nicht. Jlo Gegen Ende des Romans, als Hatako bereits Askari der deutschen Schutztruppe geworden war, der aufgrund seines heldenhaften Einsatzes für seine Kameraden und weißen Offiziere allgemein sehr geschätzt wur de, führte er eine riskante Undercover-Aktion gegen die "Wadschagga" aus: Er schlich sich, verkleidet als Massai und Angestellter eines arabi schen Waffenhändlers, in das Lager der Feinde. Hauptmotivation seines Handeins war dabei nicht die Erfüllung eines Befehls, sondern vielmehr die Rache für die Ermordung einer weißen deutschen Frau, deren "Son nenlächeln", Güte und Freundlichkeit ihn berührt hauen.IJI Er schaffte es, den "Dschaggakönig" unter einem Vorwand fortzulocken, um ihn dann überraschend anzugreifen. Nachdem er den kurzen Zweikampf gewonnen hatte, riss er seinem Feind das Herz aus dem Leib und verzehrte es roh:
108
109 1 10 111
Dem Kannibalen wurde damit von Heye eines der zentralen Charakteristi ka weißer Männlichkeit zugesprochen. Heye 1927, S. 1 20. Heyes Darstellung entspricht darin dem Mythos vom , treuen Askari" der besonders während der kolonialrevisionistischen De batten der Weimarer Zeit an Bedeutung gewann und seine Fundierung in der, im Vergleich zur restlichen afrikanischen Bevölkerung der Kolonien, privilegierten Behandlung dieser kolonialen Prätorianergarden fand. Siehe dazu: Michels, E. 2006, bes. S. 553; Bechhaus-Gerst 2007, sowie, als Bei trag zur Entschleierung des Mythos, Morlang 2008, S. 72-96. Siehe: Heye 1927, S. 272-275, Zitat S. 272. Ebd., S. 275. Siehe: Ebd., S. 1 82-184, Zitat S. 1 82.
1 44 I KANNIBALE-WERDEN ,,,Unajua Bibi Kola? ! ' (Kennst du Frau Köhler) keuchte die tiefe Stimme des Wilden. [ . . . ] Mit pfeifendem Hiebe fuhr die Klinge herunter, mit seinem Schädel zersprang klirrend das Kupferband um seine Stirn, und noch ehe der zusammen brechende Körper den Boden berührte, sauste die Klinge aufs neue herab, spalte te ibm die Brust - in den aufspringenden Blutstrahl tauchte die braune Hand des Wilden und riß ihm das zuckende Herz heraus. Mit schrill trillerndem Schrei schwang er es in brennender Rache hoch in die Luft, und in entflammter Wut bissen und rissen seine Pantherzähne in den blutigen Fetzen hinein." 112
Seine Unfähigkeit zur Selbstkontrolle macht seine Eingliederung in kolo niale Gesellschaft trotz seiner positiven Eigenschaften und Lernerfolge unmöglich. Der Roman schloß damit, dass Hatako den Gipfel des Kili mandscharo
erstieg
und dort während
eines
dramatisch
tosenden
Schneesturms mit den Sternen, dem Schnee und dem Eis verschmolz. Die se Situation schilderte Heye als Erweckungserlebnis, eine Art der Epipha nie, welches aus dem Wilden einen Menschen machte. "Der Mensch auf der Gletscherzinne hob den Kopf, streckte die Arme zu den verlöschenden Sternen empor, und ein Lachen voll bitterer, aber befreiender Erkenntnis übertönte den brausenden Gesang des Sturmes".1 1 3 Dieser Satz, der einzige im gesamten Text, in dem Hatako als menschliches Wesen bezeichnet wurde, bildete gleichzeitig den Schluß des Romans und damit der Ent wicklungsgeschichte, die das Publikum mitverfolgt hatte. Heyes Roman bot für den Leser - weniger für die Leserin, denn es gibt kaum weibliche Figuren bis auf die ermordete Köhler - verschiedene posi tive Identifikationsfiguren an. Dazu gehören in erster Linie die deutschen Schutztruppenoffiziere, die allesamt als vorbildliche Soldaten dargestellt wurden. Aber gehörte auch der Held des Romans dazu? Welche Konnexi onen konnte ein weißer Leser mit einem wilden Kannibalen wie Hatako eingehen? In seiner Studie
Enlightenment or Empire argumentiert Russell Ber
man, dass der deutsche Kolonialdiskurs im Gegensatz etwa zum britischen oder französischen Diskurs durch "quite different approaches to alterity" charakterisiert gewesen sei. 1 1 4 Dieses Spezifikum sei einerseits Folge eines nationalen Selbstverständnisses, das sich aufgrund seines Sonderweges selbst als das Andere innerhalb Europas verstand und andererseits Effekt der Verspätung des Kolonialisierungsprojekts und seinem Status als "the other empire". 1 1 5 Auf diese Weise sei die deutsche Identität im Vergleich zu derjenigen anderer Kolonisatoren flexibler und durchlässiger gegenüber anderen Kulturen und deren Hybridisierungspotentialen gewesen als die Identitäten anderer europäischer Kolonisatoren. Im Ergebnis sei daher im deutschen kolonialen Diskurs "considerable room far direct identification 1 12 113 1 14 115
Ebd., S. 239-240. Ebd., S. 292. Berman 1998, S. 1 5 . Ebd., S. 1 0 .
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 45
with the colonized" gewesen."6 Können wir Heyes Darstellung als ein Bei spiel für diese Identifikation mit dem wilden Anderen, von Berman als Charakteristikum des deutschen Kolonialdiskurses angesehen, interpretie ren? Dagegen sprechen mehrere Gründe. Erstens liegt Bermans Interpreta tion ein grundsätzliches Missverständnis in der Lektüre von Homi K. Bhabhas Konzept der Hybridität zu Grunde, indem er sozusagen Ursache und Wirkung verwechselt. Identitäten sind aus Bhabhas Perspektive stets hybrid. Kulturelle Praktiken und Diskurse stellen die Fiktion einer Eindeu tigkeit her, die so nie ein zuerst Gegebenes ist und entsprechend nicht in einem zweiten Schritt vermischt werden könnte. Aus diesem Grunde betont Bhabha die Notwendigkeit "to think beyond narratives of originary and initial subjectivities" und stattdessen auf "those moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences" zu fo kussieren. 1 17 Identitäten befinden sich stets im Fluss, in einem Zustand des in-between, oder, wie wir aus der Perspektive deleuzianischer Theorie formulieren könnten: Sie oszillieren ständig zwischen Verfestigung und Verflüssigung, zwischen Territorialisierung und Deterritorialisierung. Insofern wäre die von Berman beschriebene Ambivalenz kein Spezifi kum des deutschen, sondern ein generelles Merkmal des europäischen Ko lonialdiskurses. Zweitens belegen andere Forschungsarbeiten deutlich, dass innerhalb des deutschen Kolonialismus und der damit verbundenen Diskurse erhebliche Energien in die Herstellung und Aufrechterhaltung rassistischer Differenz gesteckt wurden. Das herausragende Beispiel dabei sind die Debatten um die ,Mischehen ' , besonders in DSWA. Wie oben bereits dargestellt, galt es aus Perspektive der Kolonialbegeisterten und der Kolonialadministrationen Fluidität um jeden Preis zu vermeiden. Die kör perlichen wie kulturellen Grenzen deutscher Identität wurden streng pat rouilliert. " 8 Bermans These stehen also die Ergebnisse anderer Studien entgegen. Drittens war diese AngstlLust, selbst zum Menschenfresser zu werden, wie wir bereits an der exemplarischen Analyse der Tarzan Romane gesehen haben, weniger gebunden an ein nationales Kolonialpro jekt als vielmehr an die Konstruktion einer spezifischen Form der hege monialen, bürgerlichen, heterosexuellen männlichen whiteness. Denn auch in den Vereinigten Staaten fand Tarzan, der den Kampf zwischen Wildnis und Zivilisation geradezu paradigmatisch verkörperte, reißenden Absatz.
1 16 Siehe: Berman 1998, S. 1 5 , Zitat S. 10. 1 17 Bhabha 200 1 , S . l . 1 1 8 Siehe beispielsweise bei: Dietrich 2007, S. 205-236; Kundrus 2003a, S. 2 1 9-279; Schneider, R. 2003, S. 125-193.
146 I KANNIBALE-WERDEN 3 . 3 De r T ro p e n ko l l e r : F r e s s e n u n d G ef r e s s e n w e r d e n
Die AngstlLust, von wilden Kannibalen verzehrt zu werden beziehungs weise selbst zum Menschenfresser zu werden, war wie eingangs des Kapi tels angesprochen nicht die einzige Gefahr, die weißen Männern in den Kolonien drohte. Wie ich im Folgenden darlegen werde, sollte neben den angeblich Menschenfleisch fressenden Indigenen auch die koloniale Um welt, Flora und Fauna, die dort verbreiteten tropischen Krankheiten, ja sogar das Klima am Körper des Europäers nagen. Als Konsequenz davon drohten eklatante Verhaltensveränderungen wie Ausbrüche von Aggressi vität, Impulsivität und Sadismus, der Verlust der Selbstkontrolle sowie der männlich-rationalen Urteilskraft, kurz: Neurasthenie und Tropenkoller. Diese stellte, wie im folgenden zu sehen sein wird, die Grundlage der an geblichen Überlegenheit der weißen Kolonisatoren radikal in Frage. Als ein Beispiel für diese Form des Kontrollverlustes berichtete Lud wig Külz ( 1 875- 1 938), ehemaliger Regierungsarzt in Togo und Kamerun ( 1 902- 1 9 1 2) in seinen 1 906 erstmalig veröffentlichten Tagebuch- und Briefausschnitten von einem Erlebnis, das ihm 1 904 während eines Auf enthaltes in "Bassilo, einem großen, völlig friedlichen Negerdorfe Nordto gos" widerfahren war."9 Nach einem Insektenstich in den rechten Arm, der ihm ein leichtes, entzündungsbedingtes Fieber beschert hatte, habe er sich des Abends in einem Langstuhl vor dem örtlichen Rasthaus ausgeruht, als ,,[p]lötzlich" und "mit schwirrendem Geräusch irgend etwas an [s]einem Ohr" vorbei flog. Kurze Zeit darauf wiederholte sich das Geräusch. Sofort war er da von überzeugt, dass er unter Beschuss stand, "daß es beide Male nichts anderes gewesen sein könne, als das Schwirren eines nach mir abgeschos senen Pfeiles." 1 2o Külz rief seine Begleiter und Lazarettgehilfen zu sich und suchte im Schein hektisch improvisierter Fackeln gemeinsam mit ih nen die nähere Umgebung nach dem mutmaßlichen Attentäter ab. Erst als er fieberschwach nach mehr als einer halben Stunde erschöpft die Suche erfolglos abbrechen musste, schien ihm nach rationaler Analyse des Falles, dass es eine einfachere und einleuchtendere Erklärung für das Geräusch gab: das Vorbeifliegen einer der zahlreichen in der Nähe des Rasthauses Insekten jagenden Fledermäuse. Ein heimtückischer Angriff durch die ,Eingeborenen' war angesichts der "völlig friedlichen Bevölke rung" sehr unwahrscheinlich. Fiebernd aufgrund des entzündlichen Insek1 1 9 Külz 1 906, S. 158. Wiederveröffentlichung unter dem Titel Tropenarzt im Afrikanischen Busch ( 1 943). Külz war zunächst Regierungsarzt in Togo und Kamerun und wurde in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leis tungen 1 9 1 2 zum Professor ernannt und war Teilnehmer der letzten Süd see-Expedition des deutschen Kaiserreiches ( 1 9 13-14). Siehe dazu: Grünt zig/Mehlhorn 2005, S. 245-269. 1 20 Külz 1 906, S. 1 5 8 .
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 47
tenstichs, ängstlich und allein unter den Kolonialisierten in einer ihm fremden Umgebung, setzte Külz' rationale Urteilskraft aus und er handelte impulsiv, ja fast (überlebens)instinktgesteuert. Dies hätte, so fügte er selbst hinzu, fatale Folgen haben können: ,,[I]ch bin sicher, wenn ein unglückli cher Zufall mich bei dieser Gespensterjagd auf einen im Grase hockenden Schwarzen hätte stoßen lassen, ich würde ihn niedergeschossen haben."121 Külz berichtete von diesem Erlebnis als einem Exempel für den "Tro penkoller[ ]", der seiner Ansicht nach eine Folge einer allgemeinen Zer rüttung der Nerven darstellte, die durch das anstrengende tropische Klima und die mit dem Leben in der kolonialen Situation einhergehenden psychi schen und physischen Belastungen hervorgerufen würde. Zu den schädli chen Einflüssen zählte er neben dem tropischen Klima die Eintönigkeit des Lebens vor allem im Hinterland, den Mangel an intellektueller Anregung und sozialem Kontakt mit anderen Weißen, die weit verbreiteten Fieber krankheiten sowie allgemeine körperliche Überbeanspruchung. 122 Mit die ser Einschätzung stand Külz nicht allein. Auch wenn das Konzept des Tropenkollers als eigenes Krankheitsbild nicht unumstritten war, so be stand unter Medizinern und Psychiatern bis in die 1 920er Jahre hinein doch weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Nerven von Europäerinnen und Europäern in den Tropen einer besonderen Belastung ausgesetzt wa ren. 123 So verneinte beispielsweise earl Mense, Tropenmediziner und Her ausgeber des Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene, die Existenz des so genannten Tropenkollers, betonte j edoch gleichzeitig die Belastungen, welche das tropische Klima für den Organismus und das gesamte Nerven system des der "kaukasischen Rasse angehörige[n] weisse[n] Mann" mit sich bringe. 1 24 Diese klimatischen Belastungen seien in Kombination mit der Gefahr durch Infektionskrankheiten wie Malaria, Lepra oder Beriberi dergestalt hoch, dass eigentlich ,,[n]ur kerngesunde Personen zwischen 20 und 40 Jahren [ . . . ] die ungesunden Kolonien des tropischen Afrika und von Neuguinea ohne besondere persönliche Gefährdung aufsuchen" könn ten.125 Grundsätzlich sei das "Befinden des Europäers" in den Tropen "ein wesentlich anderes" als in den gemäßigten Breitengraden und alle "Kör perfunktionen" befänden "sich in einem weit labileren Gleichgewicht [ . . . ] , als in dem heimatlichen Klima". 126 Eine typische "Folgeerscheinung der rein meteorologischen Einflüsse des Tropenklimas" sei "das Zustande1 2 1 Ebd. 122 Siehe: Ebd., S. 158-1 59, Zitat S. 158. 123 Zur Rolle der Tropenmedizin für das deutsche Kolonialprojekt und der Diskussion um die Akklimatisierung siehe: Eckart 1 997, S. 57-72; Schupp 1 999. Vgl. auch Isobe 2009 als eine der wenigen Monographien zur Ge schichte der deutschen Tropenmedizin. 124 Mense 1 902, S. 1 -3 , 21-23, Zitat S . 1 . 1 25 P1ehn, A. 1 906, S . 7 . 126 Plehn, Fr. 1 906, S . 35.
1 48 I KANNIBALE-WERDEN
kommen einer gewissen Nervosität", welche durch den häufig auftreten den Schlafmangel verschlimmert würde.127 Kurz, die medizinischen Exper ten gingen grundsätzlich davon aus: ,,[Djas Tropenklima macht nervös. " 128 Männ liche Nervosität, Klima und koloniale Räume
Wie Joachim Radkau dargelegt hat, reicht der Nervositätsdiskurs bis in das späte 1 8 . Jahrhundert, das Zeitalter der Empfindsamkeit, zurück. Während mit "Nervosität" zunächst eine positiv besetzte gesteigerte Reizbarkeit im Sinne einer verfeinerten Sensibilität assoziiert wurde, galt sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts als ernstzunehmende Erkrankung und wurde unter dem Stichwort der "Neurasthenie" problematisiert. 129 Bereits die Herkunft dieses B egriffes verweist, wie ich im Folgenden zeigen möchte, auf den Zusammenhang von Klima, Rassismus und Kolonialismus. Dieser Aspekt wurde in der bisher vorliegenden Forschungsliteratur zum Thema Neuras thenie in dieser Form nicht berücksichtigt und bedarf daher einer etwas ausführlicheren Erläuterung.13o Das Konzept der Neurasthenie, im Englischen "neurasthenia", wurde geprägt durch den New Yorker Mediziner George Miller Beard ( 1 8391 883), der damit eine Form der nervösen Erkrankung kennzeichnete, die er als eine spezifisch Amerikanische, eben eine American Nervousness an sah.1 3 1 Sie trat seiner Ansicht nach in erster Linie unter den wohlhabende ren und reicheren Stadtbewohnern des industrialisierten Nordens und Os tens der Vereinigten Staaten auf. '32 Beard problematisierte damit das Feh127 Plehn, Fr. 1 906, S. 36. Siehe auch: Moreira 1926, S. 320 sowie Bongard 1 907, S . 12. 128 Külz 1 906, S . 1 57. 129 Siehe: Radkau 2000, S . 28-3 1 , 34-52. 130 Ein gutes Beispiel für die ausschließliche Konzentration auf Neurasthenie als Zivilisationskrankheit ist Killen 2006, hier v.a. S. 4, 32-4 1 . 1 3 1 S o der Titel der Studie, in der er seine Theorie vorstellte und die erstmals 188 1 veröffentlicht wurde (hier vorliegend als Wiederveröffentlichung, Beard 1973). Wie Haken (Haken 2004, S. 127) demonstriert, war Beard al lerdings nicht der Wortschöpfer. So können frühere Verwendungen des Begriffs für den englischsprachigen Raum bereits bei Edwin Holmes van Deusen (Observations on a Form 0/ Nervous Prostration, 1 869) nachge wiesen werden. In Deutschland tauchte "Neurasthenie" in den medizini schen Nachschlagewerken von Ludwig August Kraus (Kritisch etymologisches medicinisches Lexicon, 1 8 3 1 ) und Georg Friedrich Most (Encyclopädie der gesammten medicinischen und chirurgischen Praxis, 1 836-37) auf. Radkau verweist darauf, dass in einem in Deutschland 1 869 veröffentlichen medizinischen Handbuch der Begriff Verwendung fand (Radkau 2000, S. 60-6 1). 132 Wiener, Ph. 1956, S. 27 1 . Beards Einschätzung, es handele sich um ein für die Gesellschaft der Vereinigten Staaten charakteristisches Phänomen, wurde von der deutschen Wissenschaftsgemeinde geteilt. So schrieb bei spielsweise Bela Revesz noch 1 9 1 1 : " ,Amerikanisch' ist heutzutage beina " he dasselbe, was neurasthenisch. (Revesz 1 9 1 1 , S. 1 3 1).
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 49
len von Nervenenergie, oder von "nerve-force", wie er es wörtlich nannte, besonders in Bezug auf den männlichen Körper, den er mit einer elektri schen Batterie verglich . Ein Mann, der "well and strong and properly or ganized and equipped for life" sein wolle, müsse ähnlich einer Batterie einen möglichst großen Vorrat an Nervenenergie gespeichert haben, um allen Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. JJ3 Obwohl er davon ausging, dass beide Geschlechter von der nervösen Erschöpfung betroffen sein konnten, galt ihm die Neurasthenie als eine Männerkrankheit. Frauen zeigten sich seiner und der Ansicht seiner Fachkollegen und -kolleginnen anfälliger für eine andere nervöse Erkrankung: die Hysterie. 134 Diese Zu schreibung entsprach den Grundannahmen der zeitgenös sischen Geschlechterordnung der separate spheres: Frauen, die im priva ten, häuslichen Bereich ihr B etätigungsfeld hatten und als Töchter, Schwestern, Ehefrauen und Mütter für das Wohlergehen ihrer Familien sorgten, waren nicht den gleichen Anforderungen des öffentlichen berufli chen und politischen Lebens ausgesetzt wie ihre Väter, Brüder, Gatten und Söhne. Allgemein formuliert wurde mit der Hysterie eine Dysfunktionali tät im Sinne der geschlechterspezifischen Arbeits- und Aufgabenteilung sowie ein von der Geschlechternorm abweichendes Verhalten pathologi siert. J35 Insgesamt benannte Beard ein ganzes Bündel von Faktoren als Gründe für das von ihm beobachtete vermehrte Auftreten der "Nervous Exhaus tion" in den Vereinigten Staaten. Zu diesen Gründen zählte er zum einen ein Übermaß moderner Zivilisation: "The chief and primary cause of this development and very rapid increase of nervousness is modern civilization, which is distinguished from the ancient by
133 Beard 1 973, S. 9- 1 1, Zitat S. 9, 10. Vgl. dazu auch Beards eigene For schungen auf dem Feld der Elektrotherapie (siehe: Haken 2004, S. 36-50; Radkau 2000, S. 54-55). Zu der Popularität dieser Körpermetaphorik trug auch die Rezeption des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik bei, der die Unvermeidlichkeit von Energieverlusten postulierte (Entropie). Die demnach unvermeidlichen Energieverluste des arbeitenden männlichen Körpers wurden mit dem Entstehen von Neurasthenie in Verbindung ge bracht (vgl. Osietzki 1 998, S. 339 sowie zur Geschichte der Elektrothera pie in Deutschland Killen 2006, S. 52-57). 1 34 Beard 1 885, S. 27-28. Siehe auch: Nolte 2003, S. 149- 1 62. 1 35 Die Geschichte der Hysterie ist ein intensiv bearbeitetes Feld der feminis tischen und geschlechterhistorischen Forschung, welches darzustellen den mir hier gegebenen Rahmen sprengen würde. Stellvertretend seien hier ge nannt: Showalter 1 985, S. 1 2 1 - 1 64, Schaps 1 992, 1 14- 1 3 8 ; Ebrecht 1 996; Showalter 1 997, S. 14-48; Branfen 1 998, S . 109-136; Schmersahl 1998, S. 20 1-2 1 1 ; Lamott 2001 , S . 76- 107; Nolte 2003, S . 1 1 - 1 7 ; Aumann 2003, S. 25-48. Eine Veränderung dieser starren, geschlechterspezifischen Zu schreibung trat erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges, mit der Rückkehr psychisch und physisch versehrter Männer ein; dazu ausführlicher in Kapi tel 6.
1 50 I KANNIBALE-WERDEN these five characteristics: steam-power, the periodical press, the telegraph, the sciences, and the mental activity of women."136
Gleichzeitig spielte seiner Ansicht nach aber auch der Einfluss der natürli chen Umwelt eine zentrale Rolle. Das im Vergleich zum gemäßigten Kli ma Großbritanniens trockenere und durch extremere Hitze- und Kältezu stände charakterisierte Klima der Vereinigten Staaten erzeuge ein höheres Maß mentaler Aktivität. Dies wiederum ermögliche die zivilisatorischen Höchstleistungen und die Ausbildung der modemen amerikanischen Ge sellschaft, welche ihrerseits in einer nervlichen Überlastung resultierten. 137 Aus diesem Grunde sei die Neurasthenie ein dezidiert US-amerikanisches Phänomen: "A new crop of diseases has sprung up in America, of which Great Britain unti! lately knew nothing, or but little. A c1ass of functional diseases of the nervous system, now beginning to be known everywhere in civilization, seem to have first taken root under an Arnerican sky, whence their seed is being distributed." 1 38
Beard argumentierte, dass gerade die Verschränkung von Klima und mo derner Zivilisation zu den von ihm beschriebenen fatalen Folgen für das Nervensystem führe. Als Gegenbeispiel wurden von ihm die "American aborigines" angeführt, die seiner Ansicht nach "the least nervous of all people" gewesen seien, obwohl "the climate in which they lived was not much different from that in which are now living the most nervous people m
the
world."
"Race",
so
Beard,
stelle
in
B ezug
auf
die
Wirk(ungs)mächtigkeit des Klimas ein entscheidendes Element dar. Zwar überlebten einige "strong races, like the Hebrews and the Anglo-Saxons" in nahezu allen klimatischen Bedingungen, jedoch seien auch diese lang fristig gesehen nicht vor seinen Einflüssen gefeit, denn letztlich sei "race [00'] a result of climate and environment". 1 39 Mit dieser Problematisierung des Klimas des nordamerikanischen Kontinents bezog sich B eard auf einen Ansatz zur Erklärung ,rassischer' Differenz, die sogenannte Klimatheorie, deren ideengeschichtliche Wur zeln bis ins ausgehende 1 8 . Jahrhundert zurückreichen.'40 Die zentrale These dieser Theorie besagte, dass die unterschiedlichen menschlichen ,Rassen' aus den Einflüssen ihrer jeweiligen Umwelt hervorgingen. Als ihre prominentesten Vertreter gelten Georges-Louis Leclerc de Buffon (1 707-1 788), französischer Naturforscher und Mathematiker sowie Johann 136 137 138 139 140
Beard 1973, S. vi (HiO), Titel. Siehe: Ebd., S. vii, 1 5 1 - 1 60 . Siehe: Ebd., S. vii. Ebd., S. 1 72. Vgl. Gossett 1997, S. 32-53. Die Theorien des 18. Jahrhunderts fußten strenggenommen auf antiken Modellen, vorgetragen von Hippokrates und Aristoteles (siehe: Fink 1 998, S. 26-27).
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 51
Friedrich B lumenbach ( 1 752- 1 840), Professor für Medizin an der Univer sität Göttingen. , Rassenzugehörigkeit' war für Anhänger und Anhängerin nen dieser Theorie eine Frage der Klassifizierung von physiologisch unter schiedlichen Menschen, vor allem nach dem Kriterium der Hautfarbe, nicht jedoch zwingend eine Frage der Hierarchisierung. Für Buffon war selbst die Zugehörigkeit zu einer , Rasse' keine permanente: "Race [ . . . ] ,persists as long as the milieu remains and disappears when the milieu is changed. '" 1 41 Im Verlauf des 1 9 . Jahrhunderts verfestigten sich diese während der Aufklärung eingeführten Zuschreibungen und Kategorien. Darüber hinaus setzte sich die Vorstellung einer Hierarchie unter den , Rassen' mit der weißen, europäischen Kategorie an der Spitze und den sogenannten Schwarzen an deren unterem Ende durch: Aus der ,Kette des Seins' wurde eine Leiter. 142 "Race is everything", so der schottische Mediziner Robert Knox 1 850: "Literature, science, art, in a word, civilization, depend on it." 143 Während diese Verschiebungen in der gesamten transatlantischen Wissenschaftsgemeinde beobachtet werden können,l44 fanden sie eine spe zifische Zuspitzung in den Vereinigten Staaten in der Propagierung einer angeblichen ,rassischen' Überlegenheit der Angehörigen der "Anglo Saxon race", welche als die wahren Vertreter und Vertreterinnen der teu tonischen, weißen ,Rasse' und ihrer Werte wie Individualismus, Demokra tie, Freiheit, stilisiert wurden. 145 In den Argumentationen der Vertreterin nen und Vertreter dieser Theorie wurde, ebenso wie in der oben wiederge-
141
142
143 144 145
George Louis Lederc Buffon, Natural History, General and Particular... , trans. William Smellie (3rd ed.; London, 1791), Bd. IlI, S. 201 , 204, zit.n.: Gossett 1997, S. 36. Ein gutes Beispiel für die Offenheit dieses Konzeptes ist es, dass in den Vereinigten Staaten diese Theorie zuerst durch Samuel Stanhope Smith aufgegriffen wurde, einem presbyterianischen Priester und Professor für Philosophie, der mit ihrer Hilfe für die Gleichstellung von Afroamerikanerinnen und -amerikanern und gegen die Sklaverei argumen tierte (vgl. Gossett 1997, S. 39). Siehe Schubert 2003, S. 50-56; Martin 1993, S . 273-277. Es handelt sich hierbei um eine Hierarchisierung, die allerdings in den Theorien der Natur forschung der Zeit der Aufklärung bereits angelegt war. V gl. dazu: Geiss 1 988, S. 141- 142, 158-1 62; Mosse 1 996, S. 28-4 1 ; Fredrickson 2002, S. 5 1-61 ; Grosse 2003, S . 1 86. Mein stark kursorischer Blick auf die Ent wicklungen des ausgehenden 1 8 . sowie des 19. Jahrhunderts blendet au ßerdem die für die politischen Auseinandersetzungen um die Institution der Sklaverei zentrale Debatte der Frage der Polygene se oder Monogenese des Menschengeschlechts zugunsten der Konzentration auf die Frage der Be deutung des Klimas aus. Eine angemessene Darstellung dieses komplexen Problemfeldes hätte den hier gegebenen Rahmen gesprengt. Siehe dazu weiterführend: Dain 2002, S. 19-39, 59-80. Robert Knox, The Races of Men: A Fragment. Philadelphia, 1 850, S. 7, zit.n. : Gossett 1997, S. 95. Vgl. dazu Geiss 1 988, S. 158- 1 62 ; Fredrickson 2002, S . 6 1 -75. Siehe: Horsman 198 1 , S . 1 58-1 86.
1 52 I KANNIBALE-WERDEN
gebenen Argumentation Beards, eine Verbindung zwischen Umweltein flüssen und Kultur- bzw. Leistungsfähigkeit postuliert. In diesem Sinne wurden die Vereinigten Staaten von Beard als ein ko lonialer Raum aufgefasst, der nicht den ,natürlichen' Bedürfnissen der Weißen entsprach. Entsprechend stellte Neurasthenie für ihn nicht nur, wie in der bisherigen Forschung immer wieder betont wird, eine modeme Zivi lisationskrankheit dar.l46 Vielmehr galt ihm die American Nervousness als Auswirkung eines für Europäerinnen und Europäer ungewohnten, die Ner ven anregenden und anstrengenden Klimas, welches wiederum die kultu rellen Höchstleistungen, deren sich die Amerikanerinnen und Amerikaner rühmen konnten, überhaupt erst ermöglichte. Wie wir oben gesehen haben, sprach er damit nicht nur über die städtische gehobene Mittel- bzw. Ober schicht, sondern im engeren Sinne ganz ausdrücklich über weiße, männli che Körper und knüpfte damit sowohl an zivilisationskritische als auch an kolonial-rassistische Diskurse seiner Zeit an. In der US-amerikanischen Rezeption seines Werkes wurde der letztge
nannte Aspekt durch eine Kopplung mit dem Konzept der Degeneration sogar noch verstärkt. Zu dieser Interpretation trugen viele Faktoren bei. Drei davon seien an dieser Stelle ausdrücklich genannt, da sie mit Blick auf die Rezeption von B eards Werk im deutschsprachigen Raum ihre Pa rallelen fanden. Dazu gehörte erstens die diskursive Verknüpfung der Vor stellung von einer drohenden ,rassischen' Degeneration mit dem Krank heitsbild der Neurasthenie. Zu dieser Kopplung trug ein vielbeachteter und kontrovers diskutierter Vortrag des britischen Soziologen, Philosophen und Begründer des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer ( 1 820- 1 903) bei, den er in New York im November 1 882 anlässlich des Endes seiner Rund reise durch die Vereinigten Staaten hielt.l47 Zum Teil sich wörtlich aus
American Nervousness bedienend, allerdings ohne Beard und seine Publi kationen zu erwähnen, wies Spencer in dieser Rede nachdrücklich auf die zerstörerischen Einflüsse des amerikanischen, modemen Lebens auf die Nerven hin und postulierte, dass diese erworbene Nervosität an die kom menden Generationen vererbt würde. 148 Spencer galt unter Beards Zeitge nossen und Zeitgenossinnen als wissenschaftliche Autorität. Sein Wort verlieh der Vorstellung von den drohenden degenerativen Einflüssen der Neurasthenie besonderen Nachdruck. 146
Vgl. Radkau 2000, S. 1 1 ; Sarasin 2001 , S. 423-424; Haken 2004, S. 148; Link-Heer 1 999. 147 Siehe: Haken 2004, S. 199-200. 148 Siehe: "The Gospel of Recreation. By Herbert Spencer. Address at his Farewell Banquet, November 9th", in: Popular Science Monthly 22,3 (January 1 883), S. 354-359, zit.n.: Haken 2004, S. 1 99 . Beard versuchte sich gegen diese Unterschlagung seines wissenschaftlichen Beitrags zu wehren, indem er eine kritische Synopse von Spencers Vortrag veröffent lichte, unternahm aber aufgrund seines Respekts vor Spencers großem ge sellschaftlichen und wissenschaftlichen Ansehen keine weiteren Schritte (dazu: Haken 2004, S. 200-20 1).
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 53
Zweitens fanden Beards Theorien schnell Eingang in die Diskussionen um das Kolonialprojekt, welches die Vereinigten Staaten seit dem Spa nisch-Amerikanischen Krieg ( 1 898) verfolgten. Wie Warwick Anderson in seiner Studie Colonial Pathologies demonstriert, ging die Problematisie rung der Nervensysteme der Kolonisatoren, häufig verhandelt unter Schlagworten wie "brain-fag", "tropical neurasthenia" oder "philippinitis", mit der Etablierung und Aufrechterhaltung einer mit weißen, US amerikanischen Männern besetzten Kolonialadministration einher. 1 898 erstmals diagnostiziert, wurde die tropische Neurasthenie unter dem Schlagwort der "white man's psychic burden" vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg diskutiert.149 In diesem Kontext geriet die Frage nach dem Einfluss des Klimas zunehmend zu einer Frage danach, welche ,Rasse' welchen klimatischen Bedingungen am besten angepasst sei und welche Auswirkungen eine dauerhafte Übersiedlung weißer Männer und Frauen in ein anderes, nicht gemäßigt-mitteleuropäisches Klima haben würde. Die Problematisierung des Einflusses des Klimas auf weiße Män ner zieht sich als roter Faden auch durch die englische, französische und niederländische Kolonialliteratur. Im britischen Kontext wurde sie unter dem Schlagwort des "going native" thematisiert, mit dem in erster Linie eine kulturelle Infektion mit der Wildheit und Unzivilisiertheit der kolo nialen Umgebung oder einer "infection by the island' s brutishness" be zeichnet wurde. 150 Zumeist aber war sie gebunden an die Einrichtung von Siedlungskolonien.151 Wie wir im Folgenden sehen werden, wurde diese Angst vor einer kulturellen Ansteckung im deutschen Kolonialkontext un ter dem Schlagwort des ,Verkaffems' verhandelt. Wollüstige Grausamkeit: Kontrollverlust und koloniale Ordn ung
Für den deutschen medizinisch-psychiatrischen Fachdiskurs ist die Prob lematisierung von Nervenschwäche unabhängig von Beards Schriften be reits in den späten 1 860ern und frühen 1 870em zu beobachten. Jedoch wurde keine entsprechende Begrifflichkeit entwickelt und stattdessen zehn Jahre später Beards Konzept der Neurasthenie, der Zerrüttung der Nerven durch Überreizung, übernommen.152 Die Rolle, welche die oben angespro149 Anderson, W. 2006, S . 1 3 1 - 1 32, Zitat S. 130. Siehe auch: Anderson, W. 1 997. 150 Weaver-Hightower 2007, S . 1 32-1 4 1 , Zitat S . 1 4 1 . 1 5 1 Vgl. dazu: Anderson, W. 1992; Osborne 1 994, S. 1 76; Anderson, W. 1 996a; Anderson, W. 1 996b; Bashford 2004, S. 1 30-1 32; Eves 2005, S . 3 17-3 18, 324; Livingstone 2002, S . 1 68-170; Duncan 2007, S . 8-12, 43-65. Dass es sich hier um ein internationales Phänomen handelte, ist bereits zeitgenössisch wahrgenommen worden, siehe dazu: Moreira 1 926, S. 320 ("Soudanite"); Groß, H. 1 9 14, S. 237 ("le cafard, Saharite, Soudanite, Africanite, Senegalite, Guganite, Tonkinite, Caledonite, Colonite usw."). 1 52 Siehe dazu: Radkau 2000, S. 57-6 1 ; Sarasin 200 1 , S. 423; Link-Heer 1999, S. 108- 1 1 1 sowie den Eintrag von Ferdinand Kehrer, "Neurosen" in Karl
1 54 I KANNIBALE-WERDEN
chenen kolonialen und rassistischen Prämissen des Konzeptes auch im deutschsprachigen Kontext spielten, ist in der Forschung zur Geschichte des Nervositätsdiskurses in Deutschland zwischen Kaiserreich und Wei marer Republik bislang nur skizzenhaft thematisiert worden. So verweist Radkau lediglich auf die Verwendung des Schlagwortes Nervosität im Kontext der wilhelminischen We1tpolitik und ihrem Drang zu einem , Platz an der Sonne' als Argument der politischen Auseinandersetzung um Für und Wider eines nationalen Kolonialunternehmens: Befürworter hätten sich eine B elebung des männlichen Körpers der Nation durch die Heraus forderungen der Kolonialisierung versprochen. 153 Philipp Sarasin, der detailliert das dem Konzept der Neurasthenie zu Grunde liegende Modell vom Körper als Reizbare Maschine[ 1 im hygie nischen Diskurs des langen 19. Jahrhundert rekonstruiert, thematisiert zwar nicht die tropische Neurasthenie oder die Debatte um die Nervosität weißer Körper im kolonialen Raum.l54 Jedoch wird aus seiner Rekonstruk tion deutlich, dass die Kategorien race, gender und class, sowie die Kli matheorie und die Modemisierungs- bzw. Zivilisationsdebatte nicht erst durch die Rezeption des B eard' schen Begriffs in die deutschsprachige De batte um die Nervenzeniittung eingetragen wurden. Vielmehr war die Vorstellung von einer grundlegenden physiologischen Differenz zwischen europäischen, d.h. weißen Körpern, und den Körpern der Kolonialisierten bereits zur Jahrhundertmitte fest im deutschsprachigen medizinischen Dis kurs verankert. Im Zuge der Rezeption rassistischer Theorien wie der Ar thur de Gobineaus ( 1 8 1 6- 1 882) und der Evolutionstheorie Charles Dar wins ( 1 809 - 1 8 82) wurde eine Hierarchie sogenannter Rassen entworfen, in welcher "der schwarze Körper als Brücke zum Tierreich" galt.l55 Anstatt also die Ambivalenz und kolonialen Konnotationen des Kon zeptes in seiner Gesamtheit zu beleuchten, konzentriert sich die existieren de Forschungsliteratur mehrheitlich darauf, den Diskurs um Neurasthenie im Kontext einer Kritik der Modemisierung im fin de siecle zu rekonBirnbaums Handwörterbuch der medizinischen Psychologie, der diese Entwicklung zeitnah nachgezeichnet hat (Kehrer 1930). 153 Siehe: Radkau 2000, S. 296-3 1 8, 407-421 . Laut Radkau ging der "Gesamt trend in der Medizin [ ... ] nach der Jahrhundertwende jedoch eher dahin, der Neurasthenie das Furchterregende zu nehmen. Die Theorie von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften geriet in Zweifel" (ebd., S . 73). Der Blick auf die Akklimatisierungsdebatte und die tropische Neurasthenie ergibt ein differenzierteres Bild. Bis in die 1940er Jahre hinein wurde die Gefahr des Tropenkollers heraufbeschworen. Siehe die folgenden Ausfüh rungen für die Zeit bis nach Ende des Ersten Weltkrieges sowie exempla risch die Beiträge von Neureiter 1942 und Rodenwaldt 1942. Eine Traditi on, die in der Literatur ebenfalls übersehen wird, vgl. beispielsweise Schwarz 2002, S . 93. 154 Sarasin 2001 , S. 197-207. 155 Sarasin 2001 , S. 204-206, Zitat S. 206. Zu Gobineau siehe: Geiss 1988, S. 17, 30-3 1 , 1 68- 169; Weingart/Kroll/Bayertz 1992, S. 94-97; Foucault 1999, S. 94-97; Young 2003, S. 99- 1 17; Geulen 2004, S. 59-71 .
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struieren. Auf diese Weise wird der kolonial-rassistische Zusammenhang, der sowohl die deutschsprachige als auch die US-amerikanische fachwis senschaftliche Debatte bei der Formulierung der Vorstellung der Nerven zerrüttung ebenso beeinflusste wie die Auseinandersetzung mit Moderni sierung und Industrialisierung, ausgeblendet. In den zeitgenössischen psychiatrisch-medizinischen oder kriminolo gisch-forensischen Lehrbüchern ist diese Konzentration auf Neurasthenie als Zivilisationskrankheit hingegen nicht zu beobachten. Der sogenannte Tropenkoller bzw. die durch das Klima und die Umwelt der Kolonien in duzierte Nervenschwäche war ein ganz selbstverständlich behandeltes Thema und Teil der jeweiligen Erläuterungen zur Neurasthenie und ihrer verschiedenen Erscheinungsformen. Hier sind alle einschlägigen medizini schen und tropenhygienischen Argumente, die uns soweit begegnet sind, zu finden: Hitze, Schlafmangel, Fieber- und Infektionserkrankungen, kör perliche Überlastung und soziale Isolation. All dies führe zu einer allge meinen Zerrüttung der Nerven. So berichtete beispielsweise Arthur Hübner ( 1 878-1 934), Professor für Medizin an der Universität Bonn und, wie wir später sehen werden, Gut achter in dem Gerichtsverfahren gegen den mutmaßlich kannibalisch sadistischen Sexualtraftäter Peter Kürten, in seinem Lehrbuch der forensi schen Psychiatrie davon, dass "der Aufenthalt in den Tropen auf die Psy che des Europäers aus verschiedenen Gründen ungünstig" wirke und die "Tropenneurasthenie" auslöse. Diese sei Folge des "Klimawechsels, der veränderten Ernährungs- (die Wasserversorgung! ) und Wohnungsverhält nisse, [ . . ] starken körperlichen Anstrengungen".'56 Dazu könnten weitere, .
verstärkende Faktoren treten: "Infektionskrankheiten", sowie "Sonnen stich, Hitzschlag, momentane körperliche Überanstrengungen, gesteigerte Sinnlichkeit, die nach Befriedigung sucht, und Alkoholexzesse."'57 Hans Groß ( 1 847- 1 9 1 5), zunächst Untersuchungsrichter in Graz, ab 1 897 Pro fessor für Strafrecht und Strafprozesse in Czernowitz, wies in seinem bis in die 1920er Jahre als Standardwerk anerkannten Handbuchjür Untersu chungsrichter ebenfalls auf das Phänomen des Tropenkollers hin. Seiner Ansicht nach handele es sich hierbei um eine "Erkrankung [ . . . ] aus fugue, impulsives Vorgehen, Gewalttätigkeiten, Melancholie, Desertion usw. alles das auf degenerativer Basis, zusammengesetzt: ,neurasthenie tropica le'''. Dieses Syndrom sei, entsprechend dem milderen Klima Mitteleuro pas, in abgeschwächter Form auch im kolonialen Mutterland zu finden: Groß sprach in diesem Zusammenhang vom ",Tropenkoller des gemäßig ten Klimas'''.l5' Ähnlich wie im Kontext der US-amerikanischen Debatte um die phi lippinitis wurde auch im deutschsprachigen Forschungszusammenhang die 1 56 Hübner 1 9 14, S. 978. 1 57 Ebd., S . 979. 1 58 Groß, H. 1 9 1 4, S. 237 (HiO). Ähnlich auch bei Poleck 1 924.
1 56 I KANNIBALE-WERDEN
Tropenneurasthenie als eine geschlechtsspezifische Bedrohung gesehen. Während die Physiologie von Europäerinnen mit einer Störung der Repro duktionsorgane und allgemeiner Blutarmut auf die koloniale Umwelt rea giere, 1 59 komme es bei weißen Männern zu einer Form des "abnormen
Gemüts- und Nervenzustand[es]", eben dem Tropenkoller. 160 Beide Reaktionen wurden im Zuge der generellen Debatte um die Fä higkeit des deutschen Körpers, sich an das tropische Klima anzupassen, der sogenannten "Akklimatisierungsdebatte" seit Beginn des kolonialen Projekts problematisiert, und ihre Inhalte bestimmten kolonialpolitisches Räsonieren und Handeln. Wie Pascal Grosse demonstriert, kristallisierten sich dabei zwischen 1 885 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges zwei Stoßrichtungen heraus. Die erste zielte auf der Grundlage anthropologisch eugenischer Argumentationen auf den individuellen weißen Körper und seine Anpassungsfähigkeit. Um die Akklimatisierung der Individuen zu geWährleisten und die Entstehung einer weißen Unterschicht in den Kolo nien zu verhindern, sollten alle Auswanderer und Auswanderinnen auf ihre "Tropentauglichkeit" überprüft werden. Zweitens richtete sich die Auf merksamkeit zunehmend auf die Frage, wie die "kulturelle Identität" der Kolonialdeutschen zu bewahren sei. 161 Postuliert wurde, dass deutsche Männer, die allein oder gar zusammen mit einer indigenen Frau zusammen in den Kolonien lebten, Schritt für Schritt die weißen kulturellen Werte und Normen und damit ihren zivilisatorischen Status verlören. So hieß es in einem Artikel der Zeitschrift Kolonie und Heimat: ,,[U]nter dem Einfluss dieser heillosen Wirtschaft ging dann erfahrungsgemäss in erstaunlich kurzer Zeit alles und jedes Gefühl für Sitte, Kultur, gesellschaftliche Ordnung und nationale Würde verloren. Die Leute , verkaffem' wie man sagt; der stete Umgang mit dem farbigen Weib und deren Freundschaft und Ver wandtschaft zieht sie in vielen Fällen rettungslos soweit hinunter, dass schwer abzusehen ist, wie aus einem solchen, in seinem ganzen Empfindungsleben ein mal unter das bescheidenste weisse und europäische Niveau hinabgesunkene Mann mit seinem Schwarm verwilderter, unerzogener, schmutziger Bastardkin der noch einmal eine national wertvolle Existenz werden könnte." 1 62
Bei der B ekämpfung dieser Gefährdung des weißen Mannes wurde der weißen deutschen Frau eine Schlüsselstellung zugesprochen. Sie sollte als Garantin gesunder Nachkommenschaft und als "Trägerin[ 1 deutscher Bil dung, deutscher Zucht und Sitte" fungieren und gleichzeitig die drohende , Verkafferung' sowie die Entstehung sogenannter Mischlinge verhin159 Vgl. Grosse 2000, S. 89-95. 160 Plehn, Fr. 1906, S. 37. Vgl. dazu auch: Frank 2006, S. 178- 1 8 1 . 1 6 1 Siehe: Grosse 2000, S. 53-95, Zitate S . 8 8 , 8 4 sowie Kundrus 2003a, S . 162- 173. 162 "Die südwestafrikanischen Bastards", in: Kolonie und Heimat 1 , 1 3 ( 1 90809), S. 6.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 57
dern.163 Während die kulturelle Infektionsgefahr vor allem in B ezug auf die Siedlungskolonie des Kaiserreiches, DSWA, diskutiert wurde, finden wir in B ezug auf DOA, nicht zuletzt wegen einer Häufung von Fällen extre mer Gewaltausübung durch die Kolonisatoren, vor allem die Sorgen um die physische Tropentauglichkeit des weißen deutschen Mannes und den Tropenkoller wieder. Als typisch für dieses Krankheitsbild galten Symptome wie Überemp dlichkeit gegenüber äußeren Reizen, Übermüdung, mangelnde Selbst fin beherrschung, Impulsivität anstelle rationalen Kalküls sowie gesteigerte Aggressivität und Gewaltbereitschaft. l64 Darüber hinaus sollte das heiße Tropenklima allgemein den Sexualtrieb des Mannes steigern, ja, es rief laut dem Mediziner und Sexologen Iwan Bloch (1 872- 1922) sogar "eine besondere Art wollüstiger Grausamkeit hervor", die mit einer "völlige[n] Entwertung ethisch-moralischer Grundsätze" einherging.165 Seiner Ansicht nach trat der Tropenkoller in erster Linie bei denjenigen Europäern auf, die sich in einer besonderen Konstellation befanden: erstens mit einer übergroßen "Machtbejugnis ausgestattet, wie sie ihnen in der Heimat nicht eingeräumt war" und zweitens auf längere Zeit allein unter den Indigenen, "in Gegenden, wo alle Schranken der konventionellen Moral und der land läufigen gesellschaftlichen Beziehungen beseitigt" seien und "der zivili sierte Mensch ganz seinen inneren Trieben folgen" könne. l66 Die Mehrheit der Forscher schlossen sich ihm in dieser Einschätzung an und postulierte, dass der Tropenkoller im kolonialen Raum auftrete, weil dort "die aus tausend Rücksichten gewebte Zwangsjacke der Kultur gelockert" sei und anders als im Mutterland nicht "das Auge des Gesetzes und der Gesellschaft wach[e] und die gute Sitte dem Lebenswandel enge Schranken" zöge.167 Diese Einschätzung korrespondierte mit der ambiva lenten Beziehung der Kolonisatoren zur kolonialen Umwelt allgemein. Während einerseits der ", Urwald'" als Inbegriff der lebensfeindlichen ko lonialen Umwelt aufgefasst wurde, die es sich anzueignen und zu kultivie ren galt, wurde dieser andererseits als Raum einer evolutionären Vergan163 Adda v. Lilieneron, "Ein Wort über den Deutschkolonialen Frauenbund und seine Aufgaben", in: Kolonie und Heimat 1 ,20 ( 1 908-09), S. 9. Dieser Aspekt ist in der Forschungsliteratur im Zuge der Aufarbeitung der ,Mischehendebatte' breit dokumentiert worden. Siehe: Smidt 1995, S. 1461 7 1 ; Wildenthal 1998; Wildenthal 200 1 , S. 79-130, 139-145; Grosse 2003, S. 1 8 1 - 1 82; Axter 2002, S. 49-59, 88-95; Kundrus 2003a, S. 77-96; Wal genbach 2005, S. 77-83, Dietrich 2007, S. 243-250. 164 Siehe bespielsweise: Hübner 1 9 14, S. 978; Moreira 1926, S. 299, 320-32 1 ; Rasch 1 898, S . 746, 772-773. 165 Bloch 1907, S. 624-625. 166 B loch 1907, S. 624 (HiO). Zusätzlich komme es unter dem Einfluss der großen Hitze zu "Stoffwechselstörungen", welche "durch Bildung von To xinen das Zentralnervensystem und die Psyche schädigen". Außerdem be günstigten seiner Ansicht nach Sklaverei und Leibeigenschaft sadistische Handlungen (ebd., S. 624-625). 167 Mense 1902, S. 23. In diesem Sinne auch: Külz 1906, S. 159- 160.
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genheit idealisiert und als Raum des Begehrens sexualisiert. Als "innere[r] Urwald" sollte er darüber hinaus die natürliche Ursprünglichkeit und Wildheit der männlichen Psyche widerspiegeln. 16B Die so entstandene bri sante Kombination aus Zügellosigkeit und Gewaltbereitschaft resultiere in "Taten der Unüberlegtheit und Grausamkeit", die sich "zu den üblichen moralischen und gesetzlichen Anschauungen in Widerspruch" befänden.169 Diese seien, so Iwan Bloch, häufig sogar "exquisit sadistische Handlun gen". 1 70 In der Fachliteratur wurde als das wirksamste Gegenmittel ein strenges Regime hygienischer Maßnahmen empfohlen, die alle individuellen Kör perfunktionen und Lebensäußerungen zu beeinflussen suchte: Essen, Trin ken, Schlafen, die Anordnung der Wohnung, Kleidung und Körperhygie ne, Wasserversorgung und hygienische Kontrolle der Angestellten. l7I Als besonders gefährlich wurde der Konsum von Alkohol verdammt, da dieser die enthemmende Wirkung des Tropenklimas noch steigere. Um die Gele genheit für entsprechende Exzesse zu verringern, sollten die Männer sport lichen oder kulturellen Freizeitbeschäftigungen nachgehen. I72 Auf diese Weise stand, anders als bei der Debatte um die angeblich drohende , Ver kafferung' in den Auseinandersetzungen um die Tropenneurasthenie die Bedeutung der männlichen Selbstkontrolle in Form hygienischer Techno logien des Selbst im Vordergrund. Oder, wie Ludwig Külz es formulierte: "Das Klima an sich werden wir nicht ändern, aber uns selber im Verhalten gegen die klimatischen Einflüsse." 17J Die Vorstellung von weißen Männern, die unter Einfluss des Tropen klimas und losgelöst von den Fesseln der Zivilisation extreme Formen der Gewalt ausüben, war weit über die medizinische und tropenhygienische Fachliteratur hinaus verbreitet. Dazu trugen die in der Presse ausführlich diskutierten Prozesse gegen prominente Protagonisten der Kolonialbewe gung maßgeblich bei. Dazu gehörte vor allem das Verfahren gegen earl Peters ( 1 856-1 9 1 8), Gründer der Gesellschaft für Kolonisation, der Kolo nie DOA und ab 1 89 1 Reichskommissar für das Kilimandscharogebiet, das sich an dessen brutalem Vorgehen gegen die afrikanische Bevölkerung in Kombination mit einem eigenmächtig ausgesprochenen Todesurteil ge gen einen Mann namens Mabruk, der mutmaßlich sexuellen Verkehr mit einer seiner Konkubinen, Jagodjo, gehabt hatte, entzündete. Wie Arne Per ras rekonstruiert, stimmen die erhaltenen Augenzeugenberichte darin 168 169 170 171 172 173
Wirz 2000, S. 45-46. Siehe auch: Sachs 2003, S. 122- 123 ; Kundrus 2003a, S. 1 3 8-145; Maß 2006, S. 122- 1 24. Plehn, Fr. 1906, S. 37. Vgl. dazu auch: Hübner 1914, S. 979; Wemer 1920, S . 689. Bloch 1 907, S. 625. Siehe: Ziemann 1 9 1 3 , S . 1 2-19; Moreira 1926, S. 320; Plehn, A. 1 906, S. 7, 15. Siehe: Plehn, Fr. 1906, S. 243-247; Külz 1906, S. 107. Külz 1906, S . 3 1 .
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 59
überein, dass beide Todesstrafen zur Aufrechterhaltung der politischen und militärischen Machtposition der Kolonisatoren dienen sollten; ganz im Sinne des systematischen "Terror[s] kolonialer Eroberung".I74 Unter seinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen jedoch wurde der ,Fall Peters' im Kon text einer Verbindung von sexueller Ausbeutung und kolonialen Gewalt exzessen diskutiert. Besonders die Reichstagsdebatten im März 1 895, an gestossen durch die sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel ( 1 840- 1 9 1 3) und Georg von Vollmar ( 1 850- 1 922), trugen zu dieser Inter pretation bei. Im Jahr 1 897 wurde Peters unehrenhaften aus dem Staats dienst entlassen.17' Der ,Fall Peters' stellte damit genau diejenigen Ängste und Befürch tungen vor, die in der psychiatrisch-medizinischen und kolonialpolitischen Literatur immer wieder geäußert wurden: Männliche sexuelle Impulse und Gewaltneigungen, gesteigert durch das Tropenklima, führten ohne rigide Selbstkontrolle zu Perversion, Kriminalität und gefährdeten die deutsche Kolonialherrschaft insgesamt. Die Tropenneurasthenie wurde entsprechend häufig in Publikationen der Kolonialbewegung diskutiert und war Teil der imperialist imagination der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Zahlreiche Veröffentlichungen, wie etwa B eiträge in Kolonialzeitschriften, Frieda von Bülows Roman Tropenkoller ( 1 896) oder Hans Fischers Bühnenstück ( 1 897) sowie Henry Wendens Kolportageroman ( 1 904) jeweils gleichen Titels, nahmen sich des Themas an. 1 76 Ein genauerer Blick in letzteren, von Stephan Besser aufgrund der expliziten Darstellung sexualisierter Gewalt sogar als "por nographisch[ ]" bezeichneten Text, zeigt deutlich, warum die Tropenneu rasthenie als so problematisch empfunden wurde. 177 Der Roman erzählte die Geschichte der psychischen Entwicklung sei nes (Negativ)Helden Kurt von Zangen, eines jungen Offiziers aus Ost preußen, der sich hoch verschuldet nach Deutsch-Ostafrika zur Schutz174 175
Siehe: Perras 2004a, S. 1 97-200; Pesek 2005, S. 1 9 1 -204, Zitat S. 1 9 l . Siehe: "Protokoll der 63. Sitzung der 9. Legislaturperiode, 3. Session, 1 8. März 1 885", in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstages, Bd. 141 (1 894/95), S. 1567-1572 (Rede von Voll mar) sowie "Protokoll der 64. Sitzung der 9. Legislaturperiode, 3. Session, 19. März 1 895", in: ebd., S. 1580-1585; 1591- 1593. (Beiträge Bebei); Reuss 198 1 , S. 1 24-126. Zum Fall Peters siehe darüber hinaus: Geulen 2004, S. 346-354, Geulen 2003 sowie Perras 2004a (besonders S. 205230); Perras 2004b und Bösch 2008.Ganz ähnlich gelagert und in etwa im gleichen Zeitraum in der Presse: der Fall Heinrich Leist ( 1 896) und der Fall des Prinzen von Arenberg ( 1 899). Siehe: Prinz Arenberg und die Arenberge ( 1 904), S. 20-27 sowie Besser 2003, S. 305-306; Besser 2004, S. 300-30 1 ; Wildenthal 2001 , S. 70-76. 176 Beispielsweise das Gedicht "Tropenkoller", in: Kolonie und Heimat 4,42 ( 1910-1 1), S. 14. Vgl. Bülow 1 896 (wiederaufgelegt 1 897 und 1905) und Fischer 1 897. Wendens Roman liegt hier in der 2. Auflage von 1908 vor (Wenden 1 908). 1 77 Besser 2004, S. 306. Siehe auch: Besser 2003, S. 303.
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truppe versetzen ließ und dort in Kontakt mit dem Plantagenbesitzer Mül ler kam. Letzterer, aus Belgisch-Kongo übergesiedelt, misshandelte, wie die ganze Kolonie wusste, systematisch die Afrikaner und Afrikanerinnen unter seiner Aufsicht. Von Zangen, voller Standesdünkel, mehr als stolz auf seine Uniform, jähzornig und bereits im Mutterland daran gewöhnt, die Prügelstrafe rechtswidrig zur Disziplinierung der Truppe einzusetzen, wohnte einer von Müllers Züchtigungen bei. Zunächst reagierte er ge schockt und war von dem Geschehen abgestoßen. Der Ekel schlug jedoch schnell in eine Empfindung des Genusses um, die in einer "wohligen Mat tigkeit", einer verbreiteten Metapher für sexuelle B efriedigung, endete. 1 78 Dieses im Roman solcherart sexualisiert beschriebene Erlebnis wurde zu dem Auslöser einer Veränderung, die von Zangen letztendlich dazu bewog, seine latent vorhandenen Allmachts- und Gewaltphantasien auszu leben. Als Leiter einer Expedition ins Landesinnere nahm er schließlich selbst die völlig unangemessene und eigenmächtig als Strafe für einen kleinen Diebstahl verhängte Auspeitschung eines kleinen Mädchens vor, im Zuge derer er - so suggeriert der Text - im Rausch seiner Gewalt lüs tern das Blut des Kindes trank.179 Für ein ebenso zu Unrecht eigenmächtig verhängtes Todesurteil wurde er schließlich supendiert, verhaftet und zu rück nach Deutschland geschickt, wo er sich vor B eginn des Prozesses schließlich selbst das Leben nahm.!SO Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, war die Durchsetzung ei ner Rechtsordnung, die Beendigung der Herrschaft von Willkür und Aber glauben, die Verbreitung von Zivilisation und Vernunft sowie die ,,,Erzie hung des Negers zur Arbeit"',!S! ein zentraler Bestandteil des Selbstver ständnisses der deutschen Kolonisatorinnen und Kolonisatoren. In der pa triarchalisch-rassistischen Hierarchie der Kolonien repräsentierten weiße Männer, als Siedler aber mehr noch als Beamte der Kolonialadministration oder als Angehörige der Schutztruppe, in persona die deutsche "kolonia le[ ] Disziplinarordnung".J82 Gleichzeitig, so die rassistische Logik, war es genau diese Eigenschaft, die ihre Herrschaft legitimierte. Denken wir bei spielsweise an die im Kolonialdiskurs als ,degeneriert' geschilderten por tugiesischen oder grausamen arabischen Männer als Gegenbeispiele. Ent gleisungen der unter dem Schlagwort des Tropenkollers beschriebenen Art stellten damit die deutsche Kolonialherrschaft insgesamt in Frage: die an gebliche zivilisatorische , Überlegenheit' ihrer Repräsentanten, die Recht mäßigkeit ihrer Herrschaft sowie die Rationalität ihres Handeins. Ihre Nervosität, das heißt ihre Unfähigkeit sich selbst zu regieren, machte sie unfähig zur Führung anderer und gefährdete das koloniale Projekt:
178 179 1 80 181 182
Wenden 1908, S. 140-142, Zitat S. 142. Siehe: Ebd., S. 1 77-178. Siehe: Ebd., S. 208. Siehe dazu: Markmiller 1995, S. 74-87, Zitat, Titel. Pesek 2005, S. 233.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN I 1 61 "Der Nervöse leidet nicht nur selbst unter seinem Zustand, sondern zieht seine ganze Umgebung in Mitleidenschaft, und wird nie in der Lage sein, den Einge borenen richtig zu behandeln. Viele Leiter von Plantagen und Farmbesitzer kön nen aus diesem Grunde keine eingeborenen Arbeiter erlangen und sind dadurch in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet."I 83
Zweitens gerieten mit der Diskussion um die tropische Neurasthenie gera de diejenigen Männer in den Blick, welche das hegemoniale Männlich keitskonzept der deutschen Gesellschaft um 1 900, die "patriotisch wehrhafte [ 1 ,Mannlichkeit'" verkörpern sollten oder sich zumindest ex plizit darauf bezogen. 184 Weiße deutsche Männer in den Kolonien, sofern es sich nicht um Missionare handelte, waren entweder Soldaten, Siedler bzw. Plantagenbesitzer und als solche häufig ehemalige Mitglieder der Schutztruppe, oder als Kolonialbeamte Angehörige einer studierten bür gerlichen Mittelschicht, für die der preußische Offizier als das zentrale Rollenvorbild galt. 185 Darüber hinaus gehörten, wie Michael Pesek für DOA gezeigt hat, die Führungskräfte der Schutztruppe häufig genau zu derjenigen sozialen Gruppe, deren Selbst- und Geschlechterverständnis zu den traditionellsten des Kaiserreichs gehörte: dem ostelbischen Junker tum. 186 Drittens ging mit der Auseinandersetzung um den Tropenkoller auch ein Impuls zur Normalisierung männlicher weißer Sexualität einher. Wie Lora Wildenthai aufzeigt, wurde mit der Debatte um den Tropenkoller auch die Frage nach sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen generell the matisiert. Am Beispiel einer Abbildung der "Spezial-Nummer Kolonien" des Simplizissismus vom 3. Mai 1 904 verdeutlicht die Autorin die B edenk lichkeiten, die von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen in B ezug darauf geäußert wurden, was passieren möge, wenn die Männer die in den Kolo nien zur Gewohnheit gewordene Gewalt gegen afrikanische Frauen auf weiße, deutsche Frauen übertragen würden (siehe: Anhang Abb. 9.6).187 Klima oder Kannibalen - das eingangs zitierte Horrorszenario Rudolf Virchows vom Tod deutscher Auswanderer und Auswanderinnen in den Tropen war, so haben meine oben angestellten Analysen und Überlegun gen demonstriert, ein geschlechterspezifisches. Während die Hauptgefahr für weiße Frauen vor allem im Verlust ihrer Reproduktionsfähigkeit liegen sollte, drohten den Kolonisatoren nicht nur die Einverleibung in die Kör per der Indigenen, sondern darüber hinaus auch die Inkorporation der ko1 83 Bongard 1907, S. 12. 1 84 Hagemann 2002, S. 305. 185 Siehe dazu: Hagemann 1997; Hagemann 1998, S. 87-89; Hagemann 2002, S. 304-340; Frevert 1996a; Frevert 1996b; Frevert 1997; Frevert 200 1 , S. 39-49, 228-245. Ausführlicher zum Konzept der soldatischen Männlichkeit siehe Kapitel 6 und 7. 1 86 Pesek 2005, S . 194. 1 87 "Die Macht der Gewohnheit" (gezeichnet v. Ferdinand von Reznicek), in: Simplizissimus 9,6 ( 1 904), S . 52. Siehe auch: Wildenthal 200 1 , S . 74-75.
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lonialen Umwelt in ihren eigenen Körper. Viren, B akterien und Hitze drohten den männlich-weißen Körper zu vereinnahmen. In diesem Sinne galt sein Körper, um mit Elizabeth Grosz zu sprechen, als "a system, or series of open-ended systems". 188 Weiße Männlichkeit war damit ein kom plexes Beziehungsgeflecht, ein agencement von Relationen zu verschiede nen Polen: Umwelt, wilde Kannibalen, weiße Frauen, weiße und nicht weiße Männer. Innerhalb dieses Geflechts war die B eziehung zum wilden Kannibalen allerdings eine besondere. Sie basierte auf einem ambivalenten Begehren, der AngstlLust, selbst zum Menschenfresser zu werden. Dieser Befund widerspricht anderen Darstellungen in der Forschungs literatur, namentlich der Interpretation Rosa Schneiders, die in ihrer Studie
Um Scholle und Leben. Zur Konstruktion von " Rasse " und Geschlecht in der kolonialen Afrikaliteratur um 1900 argumentiert, dass in der Kolonial literatur afrikanische Körper als offene, "groteske[ ] Körper" und weiße im Gegensatz dazu als geschlossene Körper verstanden wurden. Verlet zungen und Vermischungen des weißen Körpers seien streng sanktioniert und reguliert worden, um verlorene Stabilität wieder herzustellen.189 Aus Perspektive der hier vorgelegten Ergebnisse erscheint hingegen eine ande re Interpretation plausibler: Erst die Problematisierung der Grenzverlet zung stellte die vermeintlich fixen Körpergrenzen her. l90 Männliche Selbstkontrolle, hygienische Praktiken, Auseinandersetzungen um den so genannten Tropenkoller, sie alle trugen als diskursive und nichtdiskursive Praktiken zur Herstellung einer weißen Männlichkeit bei, deren Ziel die strikte Kontrolle der vielfältigen Verbindungen zwischen dem weißen Männerkörper und seiner kolonialen Umwelt war. Diese Regulierung wiederum sollte entlang der Parameter der kolonia len Gouvernementalität erfolgen. Neben den bereits genannten Technolo gien des Selbst wurde in der medizinischen Fachliteratur eine gezielte bio politische Intervention empfohlen. Anders als zu B eginn des kolonialen Projekts, als "ein in der Familie Entgleister in die Tropen geschickt wurde, weil man ihn im eigenen Vaterlande gern los werden wollte" müsse eine verantwortungsvolle Politik nun die Bewerber nach ihrer physischen, vor allem aber psychischen Gesundheit und Stabilität selektieren. 191 Die wei ßen Kolonisatoren waren damit ebenso das Objekt biopolitischer Pro gramme wie die Kolonialisierten. Denn die "Grade", in denen der Einzelne von Einflüssen der Tropen affiziert würde, seien "individuell ganz ver schieden und abhängig von der Anlage, die der Europäer bereits mit herausbring[e)" und "vom Maße der Selbstbeherrschung, über das er ver188 Grosz 2004, S. 3. 1 89 Siehe: Schneider, R. 2003, S . 158-17 1 , Zitat S. 1 6 1 . 190 In diesem Sinne argumentiert beispielsweise auch Stoler 1996, S. 177- 178: Der Diskurs um die Tropenhygiene "reaffirmed that the ,truth' of Euro pean identity was lodged in self-restraint, self-discipline, in a managed sexuality that was susceptible and not always under control." 1 9 1 Hübner 1 9 14, S. 985.
KLIMA, KÖRPER, KANNIBALEN [ 1 63
fÜg[e] ." Es sei "einleuchtend", dass kein bereits in der Heimat zur "Nervo sität neigender Mensch für den Tropendienst geeignet" sei.192 Eine Perso nengruppe galt in diesem Zusammenhang als besonders gefährdet und da her extrem ungeeignet für die Auswanderung oder den Kolonialdienst: "schwache Charaktere", "Minderwertige" und "Psychopathen". 193 Bei die sen Weißen sollten die durch die zersetzenden Einflüsse des Tropenklimas aggressiven Triebstrukturen zum Vorschein kommen, die in jedem männ lichen Körper eigen sein sollten und die von gesunden weißen Männem mit Hilfe von Selbstkontrolle und Willenskraft in Schach gehalten würden. Diese ,schwachen Charaktere' waren in diesem Sinne wie die Wilden, ei ner Spur, der ich im folgenden Kapitel weiter folgen werde.
192 Külz 1906, S. 158. In diesem Sinne äußerte sich auch: Mense 1902, S. 23. 193 Mense 1902, S. 23; Hübner 1 9 14, S. 979, 985 .
4 . Wie die Wil d en: Aberg l a u be , D egeneration u nd Kanniba l ism u s
A m Anfang stand ein Mord: "Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. [ . . . ] Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstver ständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an."1
Von dieser Handlung ausgehend, so die These Sigmund Freuds ( 1 8561939) in seinem Essay Totem und Tabu, entwickelte sich menschliche Zi vilisation.2 Denn das schlechte Gewissen der Mörder habe zu den beiden ersten sozialen Regeln der Menschheit, den Tabus von Inzest und Vater mord geführt. Freud ging davon aus, dass "die sich zusammenrottende Brüderschar" von den gleichen ambivalenten Gefühlen gegenüber ihrem Vater beherrscht war, wie er sie bei Kindern und Neurotikern für nachge wiesen hielt: "Sie haßten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und be wunderten ihn auch. " In Reue und Schuldbewusstsein nach der Ermordung
2
Freud 2003a, S. 287-444, hier S. 426. Totem und Tabu wurde, aufgeteilt in vier einzelne Essays, erstmals 1 9 1 2 und 1 9 1 3 in der Zeitschrift Imago ver öffentlicht. Siehe: Ebd., S. 426. Die Forschung zu Freud ist zu umfangreich, um in dem hier gegebenen Rahmen angemessen dargestellt werden zu können. Stattdessen sei auf die kenntnisreiche Freud-Biographie Peter Gays ver weisen, in der das Freud' sche CEvre ausführlich diskutiert wird (Gay 2006, hier v.a. S. 367-379 zu Totem und Tabu).
1 66 I KANNIBALE-WERDEN
und der Einverleibung des Vaters hätten die Brüder die Vaterfigur auf ein Totemtier verschoben und in einer Form des "nachträglichen Gehorsams" ihr Handeln für widerrechtlich erklärt, indem sie die Tötung desselben
verboten und sich "deren Früchte", das heißt "die freigewordenen Frauen versagten".3 Durch Tradition und Überlieferung wurden diese Verbote an die nachfolgenden Generationen von "primitiven Menschen" weitergege ben, jeweils "gewalttätig eingeschärft" und in diesem Sinne "von außen aufgedrängt". So rekonstruierte Freud die Entstehung der Tabus von Inzest und von Vatermord "nach dem Vorbild der Zwangsverbote" der Neuroti ker.' Dabei ging er davon aus, dass analog zur Neurose dem Tabu eine starke, unbewusste und verdrängte Neigung zu einer gesellschaftlich ge ächteten Handlung zugrunde läge.' Dieses Erklärungsmodell lag für Freud aus einer Reihe von Gründen nahe: Erstens beobachtete er eine große Ähnlichkeit zwischen der Zwangsneurose und dem Tabu. B eide, Tabu und Neurose, seien augen scheinlich unmotiviert und von rätselhafter Herkunft, jedenfalls könnten weder die Neurotiker noch die sogenannten Wilden einen nachvollziehba ren Grund für ihre Handlungen angeben. Wie bei der Zwangsneurose be stünde auch der Kern des Tabus der ,Primitiven' aus einer B erührungs angst, einem " delire de taucher": Wenn also Psychoanalytiker nicht be3 4 5
6
Freud 2003a, S. 427 (HiO). Ebd., S. 323. Siehe: Ebd., S. 324. Das Beispiel, das Freud zur Erläuterung der Zwangs neurose anführte, war das Onanieverbot. Das Kind verinnerliche dieses Verbot, das ihm von außen, d.h. den Eltern und anderen mit der Erziehung betrauten Personen in der Kindheit aufgezwungen würde, könne jedoch das Begehren, sich selbst zu berühren, nie vollständig unterdrücken. Je mehr die Handlung jedoch begehrt werde, desto stärker sei das (selbst)aufgerichtete Verbot. Zur Triebabfuhr suche sich der Neurotiker (oder die Neurotikerin) ein Ersatzobjekt: Es komme zur sogenannten Ver schiebung. Die Ersatzhandlung wiederum bringe nicht den gewünschten Effekt, sei aber noch ähnlich genug, um eine weitere Erhöhung der Ver botsschwelle auszulösen. Es bilde sich ein potentiell unendlicher, sich selbst verstärkender Zirkel aus Begehren und Verbot, der zu einer Auswei tung der gewählten Ersatzobjekte und zur Vervielfältigung der Ersatzhand lungen und Verbote führe (siehe: ebd., S. 321). Die Mehrheit der zeitge nössischen psychiatrisch-medizinischen Forscher führte jedoch einen ande ren Begriff der Neurose, der eine funktionelle Störung des menschlichen Nervensystems bezeichnete. Ausgelöst durch physische oder psychische Reize handelte es sich nach diesem Modell bei der Neurose um eine mate rielle Schädigung der Nerven. Die Abgrenzung zur Neurasthenie war un scharf. Siehe: Kehrer 1 930; Sarasin 200 1 , S. 4 1 7-433. Freud 2003a, S. 3 1 9 (HiO). Was sich bei den Letzteren als Angst vor An steckung und Übertragung des Tabus äußere, nehme beim Neurotiker die Form der Verschiebbarkeit von Zwangsverboten auf angrenzende semanti sche oder soziale Gebiete an. Gleichzeitig sei der Gegenstand des Tabus wie auch der Neurose emotional ambivalent besetzt: Einerseits wolle das Individuum die verbotene Handlung durchführen, andererseits sei sie ihm zutiefst zuwider (vgl. ebd., S. 3 1 9-322).
WIE DIE WILDEN I 1 67
reits gewohnt wären, Neurotiker als ,,2wangskranke" zu bezeichnen, so Freud, dann müssten sie "den Namen ,Tabukrankheit' für deren Zustand angemessen finden."7 Zweitens ging Freud davon aus, dass jeder Mensch einen "Entwick lungsvorgang" durchlaufe, "durch welchen [er] zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit" gelange.8 Diesen individuellen psychischen Entwicklungsvor gang parallelisierte Freud mit der evolutionär fortschreitenden Zivilisie rung der Menschheit. Er entwarf ein Phasenmodell, in dem sich ein Kind von der oralen über die anale und die ödipale Phase zu einem erwachsenen Individuum mit phallischer Sexualität entwickele, deren Begehren sich auf das andere Geschlecht beziehe. Der Kulminationspunkt stehe allerdings nur Männern offen. Frauen, so Freud, blieben der ödipalen Phase verhaf tet, da es ihnen seiner Ansicht nach am dazu notwendigen Organ, dem Pe nis, mangele. Inzest, Onanie und Kannibalismus verband Freud mit der oralen Phase, in der sich das Kind das geliebte Gegenüber einzuverleiben wünsche. Freud hielt in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse dazu fest: "Der Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt ste hen; er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie liebhaben kann."9 Aus Freuds Perspektive standen also Anthropophagie und ödipales Begehren gleichzeitig am Nexus der Zivilisation sowie der männlichen Subjektwerdung. Freuds Überlegungen beruhten damit auf einer Hypothe se, die uns bereits im Zusammenhang des ethnologischen Wissens über den Kannibalismus begegnet ist: der Annahme, dass "Naturvölker" gleich sam die lebende Repräsentation der Frühgeschichte der Menschheit dar stellten. Die eigenständige Geschichtlichkeit der indigenen Bevölkerungen kolonialisierter Gebiete strich Freud zwar in einer langen Fußnote heraus, allerdings hinderten ihn diese Überlegungen nicht daran, sein Argument trotzdem auf der Annahme aufzubauen, die "Naturvölker" repräsentierten die menschheitsgeschichtliche Vergangenheit. Dies ist auch sprachlich deutlich erkennbar: So wechselte Freud in seiner Darstellung von der Ur horde genau an der Stelle ins Präsens, an der es um kannibalische Prakti ken ging. Es " ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich", den er-
7 8 9
Freud 2003a, S. 3 1 8 (HiO). Freud 2003b, S. 40. Siehe: Freud 2003a, S. 3 10 sowie Freud 2003c, S. 98 (hier auch Zitat). Vg1.: Boehm 1932, S. 150- 1 5 1 . Entsprechend interpretierte Freud psychi sche Störungen auch als Regress auf das Entwicklungsniveau früherer Stu fen. Ein Erklärungsmodell, das auch heute noch herangezogen wird. So geht bespielsweise Eli Sagan davon aus, dass ,,[i]n times of great stress, a culture may revert to more primitive fonns of expressing aggression. Such regression is pathological - the sign of a sick society. True cannibals are not living in a siek society; their cultural development is merely very primitive." (Sagan 1993, S. 140- 141.)
1 68 I KANNIBALE-WERDEN
schlagenen Vater zu verspeisen, eben weil er die "gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung" darstelle.1O Wie ich im Folgenden demonstrieren werde, stand er mit dieser An nahme nicht allein. Wie die Wilden, das war eine der zentralen Argumenta tionsfiguren der psychiatrischen und kriminologischen Fachliteratur. Es ist diese Analogie, der ich hier ausführlicher nachgehen möchte. Dabei werde ich eingangs die Resonanzen des kolonialen und ethnologischen Diskurses im Wissen vom kannibalischen kriminellen Anderen aufzeigen. Ich werde demonstrieren, dass die Konstruktion des Kannibalen im medizinisch kriminologischen Diskurs zunächst entlang der Linien des kolonialen Dis kurses geführt wurde. Um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert wandelte sich die Erklärung für die Ursache von Anthro pophagie allerdings. Kannibalismus wurde nun nicht länger als Folge von Aberglaube oder Gier angesehen, den aus der Ethnologie bekannten Moti vationen, sondern als Resultat einer sogenannten degenerierten Körper lichkeit. Dreh- und Angelpunkt dieses Wandels war die Rezeption der Werke Cesare Lombrosos, namentlich seiner Monographie L 'uomo delinquente. Wie ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels rekonstruieren werde, fun gierte der Kannibale in Lombrosos Theorien als das Paradigma des trieb haften, atavistischen Kriminellen. Mit diesem Wandel ging eine Neuorien tierung der Regierungsrationalität einher: Anstelle von Aufklärung, Bil dung u�d Modernisierung im Sinne des nationalen Projekts traten nun die Sicherheit und der Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Individuen in den Vordergrund. In einem dritten und letzten Abschnitt werde ich diese Neuorientierung und ihre Verzahnung mit Diskursen um Modernisierung und Normalisierung im (post)kolonialen Mutterland eingehender beleuch ten. Hierbei wird eine diskursive Doppelstrategie deutlich werden: einer seits die Identifikation von Kannibalismus mit peripheren geographischen sowie sozialen Räumen, den ländlichen Regionen sowie der proletarischen oder bäuerlichen Bevölkerung, andererseits die Errichtung eines Normal feIdes, in welchem über ein System gradueller, körperlicher Differenzen Alterität zu einer messbaren Größe wurde. Diese Technologie der Vermes sung und Normalisierung wurde nicht allein im kolonialen Kontext entwi ckelt, sondern fand ebenfalls Anwendung innerhalb des Nationalstaats. In diesem Sinne, so meine These, verweist die Analogie Wie die Wilden di rekt auf die Normalisierungsstrategien eines biopolitisches Dispositivs einer Gouvernementalität, welche nicht nur für die Kolonie, sondern auch für das (post)koloniale Mutterland bestimmend war.
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Freud 2003a, S. 426, 295 (Hervorhebung EB). In diesem Sinne entwickelte sich die Psychoanalyse, wie Celia Brickman es formuliert, gleichzeitig in Abgrenzung von und auf der Grundlage eines Evolutionskonzepts, welches wiederum auf kolonialen und rassistischen Annahmen beruhte. · (Brickman 2003, S. 5 1 ).
WIE DIE WILDEN I 1 69 4 . 1 W i e d i e W i l d e n : A b e rg l a u b e , G i e r u n d Me n s c h e n fr e s s e r e i
Wie bereits in der Rekonstruktion des ethnologischen Wissens vom Kan nibalismus dargestellt, war der Verweis auf die "abergläubigen Wahnvor stellungen"", denen angeblich besonders Angehörige der sogenannten Naturvölker anhingen, ein fester B estandteil des ethnologischen Diskurses um die wilden Kannibalen. Die andere Hauptmotivation für "gewohn heitsmäße Anthropophagie" lZ, die immer wieder genannt wurde, war die nackte Gier und die Freude am Genuss von Menschenfleiseh. B eide Be gründungen tauchten in der Debatte um kriminelle Kannibalen wieder auf. Einen guten Eindruck von der Art und Weise, in der dies geschah, und davon, was in diesem Zusammenhang in der Fachwelt diskutiert wurde, liefern die Fälle des Winzers Franz Bratuscha aus Prassdorf (Untersteier mark, Österreich) sowie Karl Denkes aus Ziebi"e/Münsterberg (Schle sien). Wahn oder Aberg laube: D e r Fal l Franz Bratuscha
Von Bratuscha berichtete zuerst der Staatsanwalt August Nemanitsch in der Oktoberausgabe des Jahres 1 90 1 der Fachzeitschrift Archiv für Krimi ninologie, einem der führenden Fachorgane der zeitgenössischen Krimino logie, unter dem Titel "Ein Kannibale"Y Über Bratuscha, der im gleichen Jahr des Mordes an seiner zwölfjährigen Tochter Johanna angeklagt wor den war, hieß es dort, dass er allgemein als "äusserst jähzornig" galt und "in seiner Leidenschaft seine Kinder auf das Unbarmherzigste" misshan dele. Er habe seine Tochter, die nach einem Streit mit ihren Eltern von zu Hause fortgelaufen war, dem Hungertod nahe im Wald gefunden und dort erwürgt. Seiner eigenen Aussage nach tötete er seine Tochter, weil sie un gehorsam gewesen sei, mehrfach die Schule geschwänzt habe, seiner An sicht nach "ohnehin für nichts auf der Welt sei" und er sie im Haus auch nicht als Arbeitskraft habe gebrauchen können. Darüber hinaus, so Bratu scha, habe er die Ausgaben gescheut, die ihn die ärztliche Behandlung sei ner geschwächten Tochter gekostet hätten. Um die Leiche verschwinden zu lassen, so Bratuscha weiter, habe er sie des Nachts mit Hilfe seiner Frau in Stücke geschnitten und zu Hause im Ofen verbrannt. 14 Seinem ersten Geständnis fügte Bratuscha später "unter sichtlicher Zerknirschung" die Aussage hinzu, er habe sich von den Oberschenkeln seiner Tochter ein Stück abgeschnitten und verzehrt: 11 12 13
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Andree 1 887, S . 98. Ebd., S . iii. Nemanitsch 190 1 . Zur Bedeutung und Rolle des Archivs fü r Kriminologie siehe: Gadebusch 1 995, S. 1 5 3 - 1 66; Wetze1l 2000, S. 6 1 -63; Lamott 2001 , S . 1 1 sowie Galassi 2004, S . 256-273. Nemanitsch 190 1 , S. 306-307.
1 70 I KANNIBALE-WERDEN "Als ich nun das Fleisch im Ofen braten sah, erinnerte ich mich, dass ich in mei ner Jugend in verschiedenen Büchern gelesen habe, dass die Indianer und andere wilde Völkerschaften Menschenfleisch essen, davon nicht sterben und so über kam mich die Lust, auch von dem im Ofen bratenden Fleisch zu geniessen."'5
Bratuscha bestritt hartnäckig, mit dem Essen des Fleisches irgendeine ma gische Vorstellung verbunden zu haben. Er beharrte darauf, allein der übergroße Hunger habe ihn dazu getrieben. Die Untersuchungsbehörden jedoch blieben skeptisch: Sie verwiesen auf ältere Schriftstücke aus seiner Hand, in denen er Frauenhaare für Liebeszauber verwendet habe oder in denen er Knochenmehl zusammen mit Heilkräutern auflistete. Mehrfach wurde Bratuscha befragt, "ob er je davon gehört oder gelesen hätte" , dass Kriminelle daran glaubten, straffrei auszugehen, wenn sie vom "Fleisch unschuldiger Mädchen" gegessen hätten, oder dass ihre Diebstähle unent deckt blieben, nachdem sie ein Kind verspeist hätten. Oder ob er von dem Aberglauben wisse, dass der Konsum von "Hirn und Knochenmark [ ... ] die Kraft des Gegessenen auf den Essenden" übertrage, "Herz, Leber, Fett [ . . . ] übernatürliche Fähigkeiten, wie Fliegenkönnen, Unsichtbarwerden u.s.w." verleihe oder dass das "Essen von gebratenem Menschenfleische [ ... ] vor Verfolgung durch Feinde und Behörden" schütze. 16 Von besonderem Interesse für den berichtenden Staatsanwalt war auch Bratuschas Verweis auf den Einfluss, den seine Jugendlektüre auf ihn ge habt habe. Die Durchsuchung des Hauses der Bratuschas förderte ein klei nes B ändchen mit dem Titel Australien und seine Inseln zu Tage, woraus Staatsanwalt Nemanitsch in seinem Beitrag ausführlich zitierte und es als Bestätigung dafür anführte, dass Bratuscha "durch das Lesen von Be schreibungen der Sitten wilder Völker darauf geführt worden sei", Men schenfleisch zu essen. Besonders hob Nemanitsch die dort beschriebenen kannibalischen Praktiken der autochthonen Bevölkerung Melanesiens her vor. '7 Der Fall wurde 1904 von Hans Groß ( 1 847- 1 9 15), dem Mitbegründer und damaligen Herausgeber des Archivs für Kriminologie, wieder aufge griffen.'8 In seinem Beitrag warf Groß die Frage nach der Zurechnungsfä15 16 17 18
Ebd., S. 307. Ebd., S . 309-3 1 1 , Zitate S. 3 10. Ebd., S. 308. Zur Debatte um den mutmaßlich verderblichen Einfluss von Abenteuerromanen, Schmutz- und Schundliteratur, siehe Kapitel 6. Siehe: Groß, H . 1 904. Groß arbeitete zunächst als Untersuchungsrichter in Graz, bevor er 1 897 Professor für Strafrecht und Strafprozesse in Czerno witz, der Hauptstadt der Bukowina (heute Ukraine) wurde. Dies war eine Gegend an der Peripherie Westeuropas, in der, wie wir sehen werden, abergläubische Vorstellungen als allgemein weit verbreitet galten. Sein be kanntestes Werk war das Handbuch für Untersuchungsrichter, das erst mals 1 893 erschien und mehrfach wieder aufgelegt wurde. Hier vorliegend die 6., umgearbeitete Auflage von 1 9 14 (Groß, H. 1 914) sowie seine Cri minalpsychologie (Groß, H. 2007). Groß war 1 898 Mitbegründer des Ar-
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higkeit Bratuschas erneut auf, der seinerzeit von den zuständigen Ge richtsmedizinern als geistig normal und damit voll zurechnungsfähig ein geschätzt worden war. l' Im August 1903, so berichtete Groß, wurde die tot geglaubte Johanna Bratuscha wegen Diebstahls verhaftet und eindeutig identifiziert. Das Geständnis ihres Vaters wurde damit hinfällig und er schien "psychologisch unerklärlich".20 Die psychiatrischen Experten er klärten Bratuscha im Anschluss an eine nachträgliche Untersuchung als dauerhaft geistig gestört aufgrund einer "psychopathische[n] Veranla gung", welche "durch langdauernde intensive Gemütsaffekte ausgelöst" worden sei. Dies ließ nach Ansicht von Groß nur einen Schluss zu: Der Vater hatte sich "Mord, Zerstückelung, Aufessen usw." seiner eigenen Tochter wahnhaft eingebildet.2I Die ursprüngliche Fehleinschätzung durch die Gerichtsmediziner vor Ort beurteilte Groß jedoch milde: Angesichts der Indizienbeweise, des üblen Leumundes Bratuschas und der fehlenden Spezialkenntnisse der ersten Gutachter hielt er diese Fehleinschätzung für nur allzu verständlich. Dagegen lehnte er alle Einwände, das Geständnis hätte sofort als unglaubhaft, da zu ungeheuerlich, erkannt werden müssen, rundheraus ab. Wer Vorkommnisse wie die von Bratuscha selbst geschil derten grundsätzlich für unmöglich halte, irre. Wer so rede, schloss Groß, kenne "eben die große Literatur über modernen Kannibalismus nicht; die ser ist in der Regel Folge krassen Aberglaubens, und dieser ist viel verbrei teter, als man gewöhnlich annimmt."" Unentbehrlicher Fleischgenuss: Karl Denke
Die zweite Motivation für Kannibalismus, die im kriminologischen Fach diskurs ebenso genannt wurde wie im ethnologischen, war die Gier nach Menschenfleisch. Auf diese wurde besonders im Fall Karl Denkes, der am 2 1 . Dezember 1 924 im schlesischen Münsterberg (Ziebic;:e) verhaftet wur de, abgehoben. Nachbarn hatten Denke, der am 1 1 . Februar 1 866 in Ober kunzendorf (Schlesien) geboren worden und in Münsterberg gut bekannt
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chivs für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Zu seiner Biograpie siehe: Grassberger 1972 sowie Lamott 1 988. Siehe: Nemanitsch 190 1 , S . 308. Groß, H. 1 904, S. 1 50. Ebd., S. 152. Ebd., S. 1 54. Welche Literatur genau Groß damit meint, führt er an dieser Stelle nicht weiter aus, mutmaßlich August Löwenstimms Aberglaube und Strafrecht (Löwenstimm 1 897) sowie Richard Andrees Die Anthropopha gie (Andree 1 887), die bei den zum Zeitpunkt verbreitetsten Monographien zum Thema. Löwenstimms Darstellung erschien ursprünglich auf Russisch und versammelte in erster Linie Fallbeispiele aus dem Zarenreich. Die Tat sache, dass die Publikation im deutschsprachigen Kontext trotzdem als re levanter Beitrag rezipiert wurde, verweist auf die unten genauer dargestell te zeitgenössische Anschauung, Aberglaube sei eine Reminiszenz früherer Epochen der Menschheitsgeschichte und als solche nur noch an der Peri pherie Westeuropas oder in Übersee zu beobachten.
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war, sowie einen Mann namens Vinzenz Olivier zur örtlichen Polizeiwa che gebracht.23 Olivier gab an, von Denke in seiner Wohnung in der Teich straße 10 mit einer Spitzhacke tätlich angegriffen worden zu sein. Denke machte keine Aussagen zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf, erhängte sich jedoch in der darauf folgenden Nacht im Polizeigefängnis. Die Polizeibeamten, welche zwei Tage später die Wohnung Denkes aufsuchten, um den Nachlass des Verstorbenen zu sichten, machten über raschende Entdeckungen. Sie fanden menschliche Überreste in Pökellauge sowie in einem auf dem Herd stehenden Topf, Ausweispapiere und Män nerkleidung, letztere mit aus Menschenhaut gefertigten Riemen zusam mengebunden. Darüber hinaus wurde ein Paar aus Menschenhaut angefer tigter Hosenträger sichergestellt.24 Eine spätere genauere Durchsuchung förderte eine Liste zu Tage, auf der jeweils neben einem Datum die Namen von 27 Männern und vier Frauen sowie Gewichtsangaben aufgeführt wa ren. Da ein Teil der Namen mit denen in den zuvor gefundenen Ausweis papieren übereinstimmte, gingen die Behörden davon aus, dass es sich um eine Liste mit den von Denke ermordeten Personen handelte.25 Denke hatte demnach seit 1 903 im Durchschnitt einen Menschen pro Jahr ermordet. Er hatte seine Opfer gezielt unter Menschen gesucht, die in der Gegend fremd waren und daher vor Ort nicht sofort vermisst wurden.26 Der mit der Leitung der Nachforschungen beauftragte Staatsanwalt stand aus seiner Perspektive einem Rätsel gegenüber. Er mutmaßte, dass Denke "nicht infolge perverser geschlechtlicher Neigung zum Verbrecher geworden" sei, sondern vielmehr einen "ihm anscheinend unentbehrlichen reichlichen Fleischgenuss" befriedigen wollte. Denke, der aus einer wohl habenden Gutsbesitzerfamilie stammte, hatte 1 922 das Grundstück an der Teichstraße unter Vorbehalt des Wohnrechtes in einer dortigen Wohnung verkauft. Die Inflation allerdings machte den Erlös dieses Verkaufes wert los und so sei in Denke, der auf regelmäßigen Fleischkonsum nicht habe
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VgI. Struck 200 1 , S. 169- 1 80 sowie Kapitel 2. Zum Fall Denke siebe: Be richt des Staatsanwaltes über die Ermittlungen im Fall Denke, 28. 1 2. 1 924, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57488, Bll. 2-6, hier BI. 6. Siehe zum Fall Denke auch der retrospektive Bericht über die irrtümliche Verurteilung Eduard Trautmanns für einen von Denke begangenen Mord bei Polke 1 934 sowie die Akten zur Entschädigung des Fleischermeisters Eduard Traut mann aus Reichenau/Sachsen wegen unschuldig erlittener Zuchthausstrafe. Zeitungsausschnitte, 1 925- 1 926, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57491 , Bll. 24. Siehe: Bericht des Staatsanwaltes über die Ermittlungen im Fall Denke, 28. 1 2. 1924, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57488, Bll. 2-6, hier Bll. 2-3. Siehe: Bericht des Staatsanwaltes über den Fortgang der Ermittlung im Fall Denke, 1 6. 1 . 1 925, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57488, Bll. 14- 1 5 , hier BI. 14. Siehe: Bericht des Staatsanwaltes über die Ermittlungen im Fall Denke, 28. 1 2 . 1 924, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57488, Bll. 2-6, hier BI. 3 .
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verzichten wollen, "der Plan gereift [ ... ], sich an Menschenfleisch zu sätti gen", resümierte der Staatsanwalt.27 Die Erklärung, die er hiermit lieferte, stützte sich nicht auf materielle Indizien, sondern beruhte auf reiner Spekulation. Statt beispielsweise von den aus Menschenhaut gefertigten Hosenträgern und Riemen auf aber gläubische Praktiken zu schließen oder aber auf mögliche fetischistische Fixierungen und damit auf eine sexuelle Perversion, sprach der Dienstherr der lokalen Ermittlungsbehörden über einen Zusammenhang von Gewöh nung an Fleischkonsum und Menschenfresserei.28 Dazu verwies er auf die Vergnügungssucht Denkes, der sein Erbteil bereits vor dem Verkauf des Grundstücks in der Teichstraße mit Völlerei, Ausflügen und Kinobesuchen zum großen Teil verprasst habe. Er zeichnete das Bild eines lasterhaften Menschen mit einer Neigung zum Lotterleben und einer ausgeprägten Gier nach Fleisch. Darüber hinaus ignorierte dieser Erklärungsansatz, dass Denke bereits seit 1 903 Menschen getötet und mutmaßlich verspeist hat te.29 Den Verkauf von Menschenfleisch schloss der Staatsanwalt jedoch explizit aus, da sich nach seiner Ansicht angesichts der Aufregung, die der Fall in der Bevölkerung hervorrief, gewiss Leute gemeldet hätten, wenn es dazu Verdachts momente gegeben hätte.30 Trotzdem wurde dies oft genug in Publikationen über den Fall Denke behauptet. So schrieb beispielsweise Theodor Lessing: "Man konnte feststellen, daß der Mann [Denke] seit mindestens 20 Jahren sehr viele Menschen, Mädchen und Jünglinge, töte te, aß, verschlang oder ihr Fleisch auf Märkten verkaufte.">l In den beiden hier vorgestellten Fallberichten finden sich fast alle Elemente des zeitgenössischen medizinisch-kriminologischen Fachdiskur ses über kriminelle Kannibalen: Die Täter - in der Regel Männer mittleren
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Ebd. BI. 6. Diese Fehleinschätzung wurde auch in der Presse kolportiert und unterstützte den Diskurs von der entsittlichenden Wirkung des Ersten Weltkrieges (vgI. Kapitel 6). Siehe beispielsweise: Krafft-Ebing 1993, S. 175-209. Auch eine Erklärung über abergläubische Vorstellungen wäre möglich gewesen, galten doch Riemen aus Menschenhaut, wie Seyfarth in seiner Darstellung Aberglaube und Zauberei darlegte, als Amulett nicht nur für Gebärende, sondern auch für Kriminelle (siehe: Seyfarth 1 9 1 3, S. 286). Die vergleichsweise milde Interpretation des Staatsanwalts war mögli cherweise auch der sozialen Herkunft Denkes geschuldet: Bis 1 9 14 hatte Denke eine Gärtnerei in der Nähe von Ziebi�e (Münsterberg) betrieben, die er in jenem Jahr verkaufte. Danach begann er einen Lebensstil zu pflegen, der aus der Perspektive seiner Verwandten mit "seiner Erziehung und sei nen einfachen Lebensverhältnissen nicht übereinzustimmen" schien. Bevor alles Geld mit Ausflügen und Kinobesuchen verprasst war, kaufte er das Grundstück an der Teichstraße 10 (Bericht des Staatsanwaltes über die Ermittlungen im Fall Denke, 28. 1 2 . 1 924, GStAPK I. HA Rep. 84a/D/57488, Bll. 2-6, hier BI. 5). Siehe: Ebd., BI. 5. Lessing 1 973, S . 52. Auch Wulffen ging davon aus, Denke habe mit Men schenfleisch gehandelt, siehe: Wulffen 1966, S. 493.
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oder fortgeschritteneren Alters - waren zumeist Menschen aus den unteren sozialen Schichten und/oder entstammten einer ländlichen Umgebung, litten oft unter Armut und Hunger, hingen zumeist abergläubischen Vor stellungen an, und manche von ihnen unterlagen den Einflüssen sittlich fragwürdiger Jugendlektüre oder des Kinos. In Einzelfällen wurde auch über kannibalische Praktiken außerhalb des deutschsprachigen Kontextes berichtet. Hier handelte es sich dann allerdings um Berichte über Angehö rige von Bevölkerungsgruppen, die wegen ihres angeblich niedrigeren Zi vilisationsniveaus bereits unter Kannibalismusverdacht standen. So wurde beispielsweise der Fall zweier aus Zwangsarbeit entflohener Kirgisen dis kutiert, die laut Angabe der zitierten russischen Zeitung auf ihrer Flucht zwei Mithäftlinge getötet hatten und bei denen Menschenfleisch gefunden worden war. Dass den Leichen die nach in Deutschland verbreiteten Vor stellungen bedeutsamen Organe Herz und Leber sowie die Finger fehlten, wertete der Autor des Artikels als sicheres Indiz für rituellen Kannibalis mus und sprach sich damit gegen die Interpretation der russischen Behör den aus.)2 Daneben wurden kannibalische Praktiken häufig mit einer als gesundheitsgefährdend angesehenen , Volksmedizin' oder mit kriminellen Täuschungsakten in Verbindung gebracht, etwa dem Versuch, sich vor Strafverfolgung zu schützen oder ungestraft einen Meineid leisten zu kön nen. JJ Wie wir gesehen haben, waren nicht immer alle Elemente dieses Diskurses gleichermaßen präsent. Neben diesem impliziten Bezug durch Übernahme der beiden Deu tungsmuster Gier und Aberglauben rekurrierten die Autoren oft auch ex plizit auf die Ergebnisse der ethnologischen Forschungen. Staatsanwalt Nemanitsch beispielsweise vermerkte trotz seiner Skepsis, ob nicht doch Aberglaube im Spiel gewesen sein könnte, dass Bratuschas Geständnis Andrees Theorie von der Entstehung des Kannibalismus aus Hunger- und Notsituationen heraus bestätige.)' Derartige Verweise liefen in beide Rich tungen. So berichtete Andree in seiner Darstellung Die Anthropophagie über einen Fall von Leichenschändung, bei dem 1 879 in B erlin Friedrichshain Angehörige der "niederen Volks schichten" aus "Aberglau ben" und "düstern Anschauungen" heraus Leichenteile zu medizinischen Zwecken entnommen haben sollen.)' Auf diese Weise entstand ein direkter Verweiszusammenhang zwischen den Fachwissenschaften der Psychiatrie und der Kriminologie einerseits und der Ethnologie andererseits. Der Vergleich der beiden rund zwanzig Jahre auseinander liegenden Fallberichte macht allerdings noch weitere Charakteristika des kriminolo32 33
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Siehe: Hahn 1 903. Siehe: Hellwig 1 905-06; Hellwig 1 908, S. 70-71 ; Seyfarth 1 9 1 3 , S. 275291 . Bernhardi 1 900. Zur Geschichte des Kannibalismus aus medizini schen Motiven in Europa siehe: Himmelman 1 997. Siehe: Nemanitsch 190 1 , S. 3 1 1 . Zu Hunger als Motiv für Kannibalismus siehe: Andree 1 887, S. 99. Ebd., S. 1 1 .
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gisch-medizinischen Wissens vom Kannibalismus deutlich. Erstens: Die Herstellung des Wissens vom kriminellen Kannibalen fand in einer engen Verzahnung von juristischer Praxis und fachwissenschaftlicher Experten diskussion statt. Die Verzahnung war so eng, dass von einem wechselsei tigen Konstitutionsverhältnis gesprochen werden kann.36 Nemanitsch als Staatsanwalt berichtete über einen Fall aus seiner Berufspraxis, lieferte Deutungen und machte Aussagen, die von anerkannten Fachwissenschaft lern wie Hans Groß aufgegriffen und diskutiert wurden (und vice versa). 37 Zweitens wird in diesem Vergleich deutlich, dass im Laufe des Unter suchungszeitraumes noch ein weiteres Element zu den bei den traditionel len Erklärungen, Gier und Aberglauben, hinzu trat: die sexuelle Perversi on. Stand bereits hinter der Gier ein körperliches Begehren, rückte nun die Körperlichkeit des Verdächtigen in besonderer Weise ins Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses. So lag die Mutmaßung, Denke habe seine Gier nach Fleisch auf ungewöhnlichem und kriminellem Wege zu befrie digen versucht, für den Staatsanwalt überhaupt nur deswegen nahe, weil er keine Anhaltspunkte dafür finden konnte, dass Denke "infolge perverser geschlechtlicher Neigung zum Verbrecher geworden" sei. Drittens schlossen die Debatten der Kannibalismusfälle über den Komplex des Aberglaubens sowie der Zurechnungsfähigkeit an eine zent rale zeitgenössische fachwissenschaftliche Debatte an: die Diskussion um die Natur des Kriminellen. Wie eine ganze Reihe neuerer Forschungsar beiten deutlich gemacht hat, trat seit Ende der I 880er Jahre an die Stelle des verschlagenen und sittlich gefallenen Gauners nun der brutale Gewalt und Sittlichkeitsverbrecher, als dessen paradigmatisches Beispiel der kan nibalische (Lust-)Mörder gehandelt wurde. Zu nennen sind hier in erster Linie die Beiträge von Peter B ecker, Mariacarla Bondio Gadebusch, Kers tin Brückweh, Mary Gibson, David Horn und Richard Wetzell." Auch der
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Galassi sieht in dieser engen Verzahnung von Praxis und Theorie sogar den Grund für die gescheiterte Verwissenschaftlichung der Kriminologie in der Zeit des Kaiserreiches. Sie bezeichnet diese als eine "unheilige Alli anz", die sich ihrer Ansicht nach sogar bis in die Weimarer Zeit fortsetzte. (Galassi 2004, S. 424). Vgl. etwa auch die Diskussion des Falles Anton Tirsch, von dem zunächst Groß in Form einer Neuinterpretation berichtet (Groß, H. 1903). Es handelt sich um ein Forschungsfeld, das sich vor allem in den letzten Jahren explosionsartig entwickelt hat. An dieser Stelle kann nur eine kleine Auswahl der vorliegenden Beiträge vorgestellt werden: Gadebusch 1995; Wetzell 1 996; Wetzell 2000; Becker, P. 2002; Becker, P. 1992; Becker, P. 1995; Brückweh 2006 sowie Herzog 2000 und Hoffmeister 2003. Für eine körpergeschichtliche Perspektive auf die Geschichte der Kriminologie vor der Rezeption von Lombrosos Werk vgl. Lorenz 1 999. Die Auseinander setzung mit seinen Theorien war ein inter- und transnationales Phänomen. Dazu exemplarisch: Becker, P./Wetzell (Hg.) 2006; Gibson 2002; Neye 1 976 sowie Neye 1 984 (zu Frankreich); Horn 2003 und Wiener, Ma. 1 990 (zu Großbritannien). Eine übersichtliche Einführung im Allgemeinen bietet
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Einfluss auf die Logik der Verbrechensbekämpfung und der Strafrechtsre formdebatte ist kürzlich von Christian Müller ausführlich analysiert wor den.39 Von zentraler Bedeutung für diesen Wandel war die fachwissen schaftliehe Auseinandersetzung mit der Theorie Cesare Lombrosos, dessen umstrittenstes und gleichzeitig auch einflussreichstes Werk, L 'uomo delin
quente in rapporto all'antropologia in deutscher Übersetzung erstmals 1 887 unter dem Titel Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung erschien.40 Auch für Lombrosos Überlegungen spielte der Kannibale eine zentrale Rolle.
4 . 2 Me n s c h e n f r e s s e r e i a l s At a v i s m u s : Lo m b roso u n d d i e Kor po r e a l i t ä t von A I t e r i t ät
Ebenso wie der medizinisch-kriminologische Fachdiskurs im Allgemeinen folgte auch Lombrosos Der Verbrecher den Argumentationslinien und Kategorien des ethnologischen Wissens über den Kannibalen: Es finden sich in seinem Text die bereits bekannten Erklärungsmuster vom Hunger, der Gier und vom Aberglauben als Motivationen für Anthropophagie. So nannte Lombroso als Gründe für kannibalische Praktiken zualler erst den Hunger und bezog sich dabei auf Fälle von Notkannibalismus bei Schiffbrüchigen während des 30jährigen Krieges oder in Gegenden, in denen andere fleischliche Nahrung nicht zur Verfügung stand. Er betonte dabei, dass seiner Ansicht nach Menschen jedoch nur auf pflanzliche Nah rung angewiesen seien, Fleischgenuss sei daher Gewohnheitssache und stachele zu Gewalt und Verbrechen an.4I Stellte der Konsum tierischen Fleisches bereits eine schlechte Gewohnheit dar, so war es zur Anthro pophagie nur ein weiterer, kleiner Schritt. Wer an tierische Nahrung ge wöhnt sei, so sein Argument, wolle auch in Notzeiten nicht mehr auf Fleisch verzichten. Einmal im Speiseplan aufgenommen, etabliere sich die Menschenfresserei "als Erbtheil scheusslicher Leckerei""2 Im mit Abstand
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Schwerhoff 1 999 sowie in den Stand der Forschung über die Lustmörder im Besonderen Brückweh 2006, S. 1 6-22. Siehe: Müller, eh. 2004, S. 73-8 1 , Jürgen 1 999. Das Interesse an der Ent stehung der Kriminologie und dem Wandel in der Konstruktion des Krimi nellen ist allerdings schon älter. Vgl. dazu Blasius 1976 und Strasser 2005 (Erstauflage 1 984); Foucault 1978c, S. 1 1-14. Siehe: Lombroso 1 887. Bei der ersten deutschen Auflage handelte es sich um die Übersetzung der dritten italienische Auflage von L 'uomo delin quente, die 1 884 erschienen war. Zur Arbeitsweise Lombrosos, stets neue Auflagen herauszugeben, in denen er durch die Hinzunahme weiteren Ma terials die Argumente seiner Gegner aufgriff und zu entkräften suchte, sie he: Gibson 2002, S. 23-26 sowie Gadebusch 1 995, S . 1 50- 1 8 1 . Siehe: Lombroso 1 887, S . 26. Ebd., S. 62. Dies ist ein Argument, wie es auch der Staatsanwalt im Fall Denke vorbrachte. Es ist daher davon auszugehen, dass ihm neben Andrees
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längsten und detailreichsten Eintrag seiner Aufzählung erläuterte Lombro so Beispiele für Kannibalismus "aus Gefrässigkeit oder Feinschmeckerei". Auch hier kehrt ein bekanntes Muster wieder: Die Beispiele, die genannt wurden, sollten sich allesamt in entlegenen, kolonial wenig erschlossenen Gebieten zugetragen haben. Um ihre Gier zu befriedigen, handelten die "Eingeborenen" der Fidschi-Inseln, Neu-Kaledoniens, Neuseelands oder Afrikas angeblich mit Leichen oder führten Krieg, um sich das begehrte "menschliche[ ] Wildpret" zu beschaffen. Die Opfer seien vorzugsweise die auf Kriegszügen erbeuteten Sklaven oder gar Frauen und Kinder, deren junges Fleisch als besonders zart gelte. "Alle Cannibalen", so Lombroso, seien sich "darüber einig, dass das Menschenfleisch einen ausgezeichneten Wohlgeschmack besitzt. "43 Auch an anderen Stellen verwies Lombroso auf den Zusammenhang von Gewöhnung und Lust auf Menschenfleisch. Kinder, denen es seiner Ansicht nach an ethischen Grundsätzen, Triebkontrolle und der Fähigkeit zur Zügelung ihrer ,natürlichen Grausamkeit' mangele, sofern sie nicht durch Erziehung dazu angeleitet würden, kämen dank ihres Nachahmungs triebes schnell auf den Geschmack." So zitierte er die Tochter eines schot tischen Räubers, die, an Menschenfleisch gewöhnt, gesagt haben soll: "Und weshalb denn [ ... ] soll es uns vor Menschenfleisch ekeln? - Wüssten nur Alle, wie köstlich es schmeckt, so würden alle Menschen ihre Kinder aufessen."45 Neben Gefräßigkeit, Gier und feinschmeckerischer Gewohnheit be nannte er eine Reihe im weitesten Sinne religiöser Praktiken als mögliche Gründe für Menschenfresserei. Er unterschied hierbei zwischen religiös motivierter Anthropophagie etwa in Form des Menschenopfers und "Can nibalismus aus Aberglauben", in dem davon ausgegangen werde, dass man sich den "Muth des Feindes aneignet, wenn man sein Herz isst; den Scharfblick, wenn man sein Auge, die Männlichkeit, wenn man seine Geschlechtstheile isst, und dass man sich gegen seine Rache schützt, wenn man seinen ganzen Körper verzehrt" und "Cannibalismus aus kindlicher Pietät", dem Verzehr von (Teilen) der Leichen, "im Glauben, das Loos [sic] der Eltern werde im künftigen Leben dadurch gebessert."46 Des Wei teren, so Lombroso, werde der Kannibalismus "durch die Kriegswuth ge-
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Darstellung über die Anthropophagie auch Lombrosos Werk als Interpreta tionsvorlage gedient hat. Siehe: Ebd., S. 68-7 1 , Zitate S. 68, 69. Siehe: Ebd., S . 99-109. Die Nachahmungshandlung galt in der Fachlitera tur als Unterscheidungsmerkmal zwischen Tier und Mensch, die Vernunft handlung wiederum als das Merkmal des ,Zivilisierten' gegenüber dem ,Wilden' . Dieser könne sein Leben "nicht durch vernünftige Überlegung bestimmen", ebenso wenig wie "geistesschwache Leute [ .. . ] in der Zivilisa tion." (Beck 1 904, S. 84- 1 02, Zitat S. 86.) Lombroso 1 887, S. 1 1 2. Siehe: Ebd., S. 64-67, Zitate S . 65, 66.
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fördert"." Auch geschähe Anthropophagie aus "Eitelkeit", zur Erhöhung des eigenen Ansehens und Status im Sinne eines Mutbeweises, zur Aneig nung der "Tugenden des Feindes" sowie als Teil der "Blutrache" in Form des ,,[g]erichtliche[n] Cannibalismus" und allgemein im "Kampf um' s Da sein": "Man verminderte die Zahl der Concurrenten im Kampfe um die Existenz und lieferte dem Ueberlebenden eine Nahrung, die gewiss mehr kräftigend und für das kriegerische Leben passend sein musste, als Pflan zenkost. "48 Auch an dieser Stelle wird der enge Verweiszusammenhang zwischen anthropologisch-ethnologischem und kriminologischem Wissen vom Kan nibalismus deutlich: Lombroso bezog sich in seiner Darstellung der Men schenfresserei explizit auf ethnologische Forschungsliteratur und koloniale Reiseberichte, beispielsweise auf die Werke von Charles Letourneau, James Cowles Pritchard, Georg Schweinfurth, James Cook und Carl Vogt.49 Was Lombrosos Darstellung jedoch von anderen zeitgenössischen kriminologischen Werken, in denen Kannibalismus thematisiert wurde, unterschied, war die Einordnung dieser Elemente des ethnologischen Wis sens vom Kannibalismus in ein Erklärungsmodell von der Entstehung der Kriminalität. In L 'uomo delinquente zeichnete Lombroso, zusammenfassend formu liert, das Bild eines genetisch zur Kriminalität determinierten Menschen, der in seiner körperlichen und sittlichen Entwicklung auf dem evolutionä ren Niveau eines Wilden stand. Er bezeichnete diesen auch als einen Ata vismus. Besonders rückfällige Straftäter gehörten seiner Ansicht nach zu diesem Typus, der durch sogenannte körperliche Stigmata (etwa Tätowie rungen oder angebliche Deformationen an Schädel bzw. Ohren) für den medizinischen Blick eindeutig zu identifizieren sei. In Aneignung eines Begriffs, den sein Schüler Enrico Ferri ( 1 85 1 - 1929) geprägt hatte, be zeichnete er diese als ,geborene Verbrecher' .50 Retrospektiv beschrieb er selbst den ersten Schritt zur Formulierung dieses Konzepts als Erleuch47 48 49
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Ebd., S. 62. Siehe dazu auch: ebd., S. 67. Ebd., S. 7 1 . Lombrosos Literaturangaben setzen voraus, dass die Leser und Leserinnen wussten, auf welche Werke er sich mutmaßlich bezog. Zu den Autoren ge hörten: James Cowles Pritchard (S. 68); Georg Schweinfurth (S. 69); James Cook (S. 70-71); Carl Vogt (S. 62, 69). Daneben bezog Lombroso sich noch auf seinen Kollegen Enrico Ferri (S. 62, 72-73) sowie eine Reihe von Texten antiker Autoren, etwa Herodot und Strabo (S. 63, 66-67). Ferri benutzte diesen B egriff erstmalig 1880 in seinem Aufsatz "Dei lirniti fra diritto penale ed antropologia criminale", in: Archivio di psichiatria 1 ( 1 880-8 1 ), zit.n.: Gibson 2002, S. 22. Ferri war einer der engsten Mitar beiter Lombrosos und seine eigenen Arbeiten hatten nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Theorie vom ,geborenen Verbrecher'. Zu seinen wichtigsten Werken zählt: Das Verbrechen als sociale Erscheinung: Grundzüge der Kriminal-Sociologie (Ferri 2003, hier Nachdruck der Aus gabe Leipzig: Wigands, 1 896). Zu Ferris Biographie und Werk siehe auch: Sellin 1972.
WIE D I E WILDEN I 1 79
tungserlebnis. Besonders deutlich wird dies an seiner Darstellung der Au topsie von Giuseppe Villella, eines berüchtigten Briganten Italiens: "This was not merely an idea, but a revelation. At the sight of that skull, I seemed to see all of a sudden, lighted up as a vast plain under a flaming sky, the problem of the nature of the criminal
-
an
atavistic being who reproduces in his
person the ferocious instincts of primitive humanity and the inferior animals."'l
Der Begriff des Atavismus war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Lombrosos Der Verbrecher vor allem in der Biologie gebräuchlich. Mit ihm wurde das Auftauchen morphologischer Merkmale einer evolutionär älteren Gattungsstufe bezeichnet. In dieser Verwendung findet sich der Begriff, wie Silviana Galassi argumentiert, beispielsweise auch bei Charles Darwin. Dieser unterschied dabei wie viele andere Forscher zwi schen echtem, körperlich manifestem Atavismus und einem unechten, der auf eine Ähnlichkeit verwies. Lombrosos Verwendung des Begriffs jedoch changierte zwischen diesen beiden Bedeutungsebenen. So ging er einer seits von der Erblichkeit körperlich manifester Atavismen aus, an anderer Stelle sprach er von Ähnlichkeiten zwischen dem Kriminellen und dem Menschen evolutionär früherer Entwicklungsstufen.52 Auf diese Weise formulierte Lombroso mit seinem Konzept vom atavistischen, geborenen Verbrecher eine Synthese aus Auguste Comtes Stadienmodell, Charles Darwins Evolutionstheorie und Ernst Haeckels Rekapitulationstheorie, die sich diskursiv als überaus anschlussfähig erweisen sollte. Mit dem Konzept des Dreistadienmodells hatte (Isidore Marie) Augus te (Fran,
Lombroso 2004, S. 345 (zuerst erschienen in: Putnam 's Magazine 7 ( 1 910), S. 793-796). Galassi 2004, S. 148- 1 5 2. Siehe auch: Näcke 1 898, S . 209. Comte gilt zusammen mit Emile Durkheim ( 1 858- 1 9 1 7) als Begründer der Soziologie. Zu seinen einflussreichsten Studien zählt das sechsbändige Werk Cours de philosophie positive ( 1 830-1 842). Zu Leben und Werk Comtes siehe einführend: Wagner, G. 2001 sowie Fuchs-Heinritz 1998, S. 98- 124. Zur Bedeutung Comtes für die Entwicklung des Positivismus aus kulturgeschichtlicher Perspektive siehe: PIe 1996, S. 443-453.
1 80 I KANNIBALE-WERDEN
Zivilisation und die Entwicklung bürgerlicher Normen und Werte wurden dabei umstandslos gleichgesetzt. Diese Vorstellung von der Verschrän kung evolutionärer und ethisch-moralischer Entwicklung lag auch Charles Darwins ( 1 809- 1 882) Darstellung von der Abstammung des Menschen zugrunde. 54 In Kombination mit den von ihm eingeführten Prinzipien des "Kampfs ums Dasein" und der "Zuchtwahl" erwies sich die auch seiner Arbeit zugrunde liegende Idee von der fortschreitenden Zivilisierung der Menschheit als Einfallstor für rassistische Interpretationen und die Ent wicklung sozialdarwinistischer Theorien." Lombroso wiederum verknüpfte diese Vorstellungen mit Ernst Hae ckels ( 1 834- 1 9 19) Modell vom Zusammenhang von Onto- und Phylogene se.56 In seiner sogenannten Rekapitulationstheorie hatte dieser postuliert, dass individuelle Organismen in ihrer Entwicklung die "stammesge schichtliche" Evolution der Gattung nachvollzögen.57 Was Haeckel in ers ter Linie in Bezug auf die Morphologie von Organismen formuliert hatte, 54
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Dies wird besonders an der Vielzahl von Stellen im Werk deutlich, an de nen Darwin auf den vermeintlich ,niedrigeren' Stand der intellektuellen und ethischen Entwicklung der sogenannten Wilden rekurriert (Darwin 1982, S. 95-96, 1 2 1 ) oder diesen ,niedrigeren' Stand mit dem angeblich höheren Niveau des Europäers vergleicht (S. 79). Dies sind Annahmen, die sich bereits im Werk Herbert Spencers fmden, welches von Darwin als Vorläufer seiner Evolutionstheorie anerkannt wurde. Siehe hierzu: Bowler 1995 ; Bowler 1992, S. 1 52-173. Siehe zur Bedeutung des Begriffs vom "Kampf ums Dasein" als diskurs übergreifende Metapher: MaasenfWeingart 2000, S. 41 -62; Wein gart 1995; Crook 1996. Haeckel war Darwins einflussreichster Verfechter in Deutschland, vor al lem aufgrund einer ausgedehnten Vortragstätigkeit. Seine wichtigsten Werke in dem hier diskutierten Zusammenhang sind die Generelle Mor phologie der Organismen ( 1 866), die Natürliche Schöpfungsgeschichte (1 868), seine Studie Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen ( 1 874) und Die Welträthsel (Haeckel 1899). Siehe dazu auch: Sandmarm 1995. Haeckel 1 899, S. 36 (HiO): "Biogenetisches Grundgesetz. Den engen ur sächlichen Zusammenhang, welcher nach meiner Ueberzeugung zwischen beiden Zweigen der organischen Entwickelungsgeschichte besteht, hatte ich schon in der Generellen Morphologie [ . . ] als einen der wichtigsten Begriffe des Transformismus hervorgehoben und einen präcisen Ausdruck dafür in mehreren ,Thesen von dem Kausal-Nexus der biontischen und der phyletischen Entwickelung' gegeben: ,Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologi schen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernäh rung)' ." Haeckels Theorie fußte auf dem Postulat von Karl Ernst von Baer ( 1 792- 1 876), dass die Embryonalentwicklung bei Tieren von allgemeinen Formen zu spezifischen, artgerechten Formen fortschreite (sog. Baersche Regel oder Gesetz der korrespondierenden Stufen). Beide, die Baersche Regel und die biogenetische Grundregel, wurden bereits in den 1 920er Jah ren innerhalb der Fachwissenschaft kritisiert und schließlich verworfen. Ihr Einfluss auf Kriminologie und Psychiatrie blieb davon jedoch unberührt (siehe: Gould 1 977, S. 202-206, 1 15- 1 66). .
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bezog Lombroso mit seinem Konzept vom Atavismus sowohl auf die kör perliche als auch auf die sittlich-psychische Entwicklung des Menschen. Die zentrale rhetorische Figur in seiner Argumentation war dabei die Ana logie. In der Folge galten Kriminelle ebenso wie Kinder oder die soge nannten Wilden als "Repräsentanten einer alten, bereits überwundenen Ordnung", deren "Existenz [ .. ] dem aufmerksamen Beobachter einen Blick in die Vorgeschichte der menschlichen Evolution" eröffne, "wo Grausamkeit zum Alltag gehört hatte und die Menschen in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht weniger entwickelt waren"." Innerhalb der Gruppe der Kriminellen wiederum galt Lombroso der .
Mörder als der Inbegriff des atavistischen, geborenen Verbrechers. Seine "Physiognomie" weise große Ähnlichkeit mit der der "blutgierigsten Thie re" auf. Wie bereits gesehen gingen Gewaltbereitschaft und Fleischkon sum seiner Ansicht nach Hand in Hand, und da es für Lombroso bei Ge wöhnung an Fleisch nur ein kleiner Schritt zur Anthropophagie war, ver wundert es nicht, wenn er davon ausging, dass diese häufig "die höchste Stufe der menschlichen Grausamkeit", den Mord, begleite. Als solche, und hier schließt sich der Verweiszirkel der Ähnlichkeiten, hebe die Men schenfresserei "jeden Unterschied zwischen Mensch und wildem Thiere auf'.59 In der Perspektive einer fortschreitenden evolutionär-sittlichen Ent wicklung betonte Lombroso nachdrücklich und unter B erufung auf mehre re Autoritäten, dass Menschenfresserei auch im prähistorischen Europa praktiziert worden sei: Es gebe "keine Ra�e, kein Volk [ ... ] , bei dem in früheren Zeiten Anthropophagie und Menschenopfer nicht üblich gewesen wären." Zunächst ubiquitär sei Kannibalismus durch einen "doppelten Entwicklungsprocess", der erstens die Entwicklung moralischer Katego rien und zweitens die Reduzierung von Gewalt umfasste, verschwunden.60 In Folge dieses Prozesses würde, wie Lombroso es formulierte, die "Tödtung aus Ruhmsucht oder aus brutaler Bosheit, die Menschenfresserei im Kriege und aus blosser Leckerei [ ... ] immer seltener, während die religiöse Tödtung und der religiöse Cannibalismus fortdauern und anfänglich der ganze Körper, später nur noch einige Theile verzehrt werden. Darauf folgt dann das Thieropfer und ganz zuletzt nur noch sinnbildliche Figuren [ . .. ] Die letzte und
unbewusste Manifestation dieser Symbolik ist die katholische Hostie."61
Da mit fortschreitender moralischer Evolution die Praktik unter den zivili sierten Völkern ausgestorben sei, bei denen sie nur noch in Notsituationen 58
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Becker, P. 2002, S. 257-258. Zur Rekonstruktion des degenerierten Krimi nellen bei Lombroso siehe: ebd., S . 305-3 10; Becker, P. 1995; Gibson 2002, S. 1 8-19; Horn 2003, S. 29-57 sowie Wetzell 2000, S. 28-3 1 . Lombroso 1 887, S. 29, 62. Ebd., S. 63, 72. Ebd., S. 72-73.
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wie Hungersnöten oder Schiffbrüchen vorkäme, stellten nach Lombrosos Ansicht nur noch "die heutigen Wilden" ein "geeignetes Object" dar, "um daran die ganze natürliche Entwickelung dieser grässlichen Form des Mordes zu studiren [sic]."62 Unter dem Eindruck der Schriften Lombrosos bildete sich in Deutsch land die "positivistische Schule" aus, die sowohl in Psychiatrie, der Kri minologie als auch in den Rechtswissenschaften Unterstützung fand"3 Das von dieser Schule vertretene Konzept vom geborenen Verbrecher war zwar innerhalb der Debatte nicht mehrheitsfähig, erwies sich aber trotz dem als sehr einflussreich: In kritischer Auseinandersetzung mit Lombro sos Theorien wurde das Konzept der "Minderwertigkeit" entwickelt, dem zufolge eine erbliche Schwäche in der Widerstandskraft gegenüber der eigenen Triebhaftigkeit bestimmte Personengruppen zu kriminellen Hand lungen besonders anfällig machen. Der Terminus, der sich zur B ezeich nung dieses Zusammenhanges etablieren sollte, war derjenige der "dege nerativen Veranlagung" oder "Entartung". Im Gegensatz zur positivisti schen Schule betonte diese Forschungsrichtung die Interdependenz zwi schen äußeren, sozialen Faktoren und heriditärer Veranlagung und krimi nellem Verhalten. Auf diese Weise kam es de facto zu einer "Naturalisie rung von Kriminalität"." Verbrechen wurden nicht länger Ergebnis einer (unmoralischen) Entscheidung aufgefasst, sondern als Folge der kriminel len Natur der Täter und Täterinnen. Vor allem die englischsprachige Forschung hat auf diesen Zusammen hang sowie auf die Konsequenzen, welche die Rezeption von Lombrosos 62
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Ebd., S. 63-64, 29-30, Zitat S. 64. Lombroso bezieht sich hier auf den Dreißigjährigen Krieg. Zum Kannibalismus unter europäischen Seefahrern siehe Kapitel 2. Zu ihren bekanntesten Vertretern werden in der Forschungsliteratur ge meinhin gezählt: aus dem Bereich der Psychiatrie und Medizin Ernil Krae pelin (Kraepelin 1904), der Kriminologie Hans Kurella (Kurella 1 893) so wie der Rechtswissenschaften Franz von Liszt (von Liszt 1999). Siehe da zu auch: Gadebusch 1995, S. 104- 1 1 8 und 1 82-199. Lombroso selbst nennt in seinem Vorwort zur deutschen Erstausgabe des Verbrechers u.a. Franz von Liszt und Ernil Kraepelin (Lombroso 1 887, S . xv). Becker, P. 2002, S. 259. Siehe auch: Gadebusch 1995, S. 199-217; Wetzell 2000, S. 63-68; Uhl 2003, S. 40-42. Als besonders einflussreicher Vertreter dieses Konzeptes gilt Gustav Aschaffenburg ( 1 866-1944), der in Heidel berg, Würzburg, Freiburg, Berlin und Straßburg Medizin studierte und un ter anerkannten Experten wie Krafft-Ebing, lean-Martin Charcot und Emil Kraepelin gearbeitet hatte. 1 904 begann er das Fach Psychiatrie an der Medizinischen Akademie in Köln zu unterrichten. Mit der Wiedereinrich tung der Universität übernahm Aschaffenburg 1919 eine Professur im glei chen Fach und wurde Leiter der örtlichen psychiatrischen Klinik. Er ver ließ Deutschland 1938 auf der Flucht vor dem NS-Regime. Siehe: Galassi 2004, S. 1 90-225; Hentig 1 972. Zu seinen wichtigsten Werken zählt das Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. (Aschaffenburg 1901). Zum hier diskutierten Thema außerdem einschlägig: Psychiatrie und Strafrecht (Aschaffenburg 1928).
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Theorien im Bereich der psychiatrischen Forensik und der Sexualwissen schaft hatte, mehrfach hingewiesen. Wie die Wilden bezeichnete demnach im medizinisch-kriminologischen Diskurs einen angeblich primitiven evo lutionären Status, der sich sowohl auf eine ganze Gesellschaft als auch auf die sittlich-psychische Verfasstheit einzelner Personen beziehen konnte. Es kam, wie Sander L. Gilman es formuliert hat, zu einer "conflation of types of sexual Otherness".65 Hinsichtlich der Konstruktion des kriminellen Kannibalen wurde da mit, neben den klassischen Erklärungsmustern der Gier und des Aberglau bens, ein neues Muster etabliert: Zunehmend geriet die Körperlichkeit der mutmaßlichen Täter, deren Triebhaftigkeit, ihre Sexualität, in den Blick der Fachwissenschaftler, Juristen und Kriminologen. So wurden bereits einschlägige Fälle neu interpretiert, beispielsweise der Fall des Mörders Andreas Bichel, der von Anse1m von Feuerbach 1 8 1 1 als typischer Raub mörder eingestuft worden war und 1 886 von Krafft-Ebing als Beispiel ei nes sexualtriebgesteuerten Gewalttäters par excellence angeführt wurde.';'; Die Entwicklung des Konzepts der sogenannten Degeneration war dabei von zentraler B edeutung: Indem nun zunehmend statt des Aberglaubens eine psychopathische, degenerative Erkrankung als auslösendes Moment diskutiert wurde, gewann der Kannibale eine neue Korporealität.
4 . 3 Vom p s y c h o p a t h i s c h e n A b e rg l a u b e n : Mod e r n i s i e r u n g u n d S i c h e r h e i t
Gegen die Macht der Finsternis: Aufklärung und M odernisierung
Diese neue Körperlichkeit war allerdings nicht nur durch kolonial rassistische Kategorien definiert, sondern auch durch klassenspezifische Zuschreibungen. So galten abergläubische Vorstellungen, wie wir am Bei spiel des Winzers Bratuscha bereits gesehen haben, als Charakteristika der ärmeren, proletarischen Bevölkerungsschichten. Kannibalismus wurde von diesen angeblich als Teil der "Volksmedizin" oder zur Vertuschung von Straftaten ausgeübt. In diesem Zusammenhang sprachen Kriminologen auch vom "kriminellen Aberglauben". Dieser Begriff bezeichnete sowohl die damit verbundene illegale Beschaffung von Leichenteilen, abergläubi sche Praktiken, die ihrerseits kriminelle Akte wie Meineid oder Diebstahl vertuschen sollten, sowie unlogische Erklärungen und wahnhafte Vorstel lungen, die als Auslöser für Kannibalismus galten.67 Der Aberglaube wur65 66 67
Gilman 1985b, S. 73. Siehe auch: Huertas 1993 ; Pick 1993, S. 176-203; Walter, Ri. 1956; Stepan 1985; Weindling 1989, S. 80-89. Siehe: Becker, P. 2002, S. 266-268. Siehe: Groß, H. 1 903, Bernhardi 1900, Hellwig 1905-06, Hellwig 1929, S . 2 1 ; Schef01dIWerner 1912, S. 6; Seyfarth 1913, S. 286-29 1 ; Wulffen 1928, S . 487.
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de als "Macht der Finsternis"6' bezeichnet, gegen welche die kriminologi schen Experten "die Aufklärung, den Einblick in das Naturgeschehen" als "beste Waffe" ins Feld führten.69 Als die zentralen Vermittlungsinstanzen wurden in diesem Zusammenhang immer wieder "Kirche, Schule und Presse" 70 sowie universitär ausgebildete praktizierende Ärzte genannt.7I Geographisch wurde der "kriminelle Aberglaube" mit Gebieten außerhalb oder am Rande Westeuropas identifiziert. So stellte etwa Albert Hellwig in seiner Monographie Verbrechen und Aberglaube den aufgeklärten, west europäischen "Kulturländern" diejenigen Regionen gegenüber, in denen abergläubische Vorstellungen noch immer weite Verbreitung fänden: "Rußland, Serbien, Italien und Spanien"; in B ezug auf kannibalische Riten besonders auch Korea, Japan, Persien, die Bukowina, Siebenbürgen sowie Süditalien.72 Aberglaube, und damit auch Kannibalismus aufgrund soge nannter abergläubischer Vorstellungen, galt damit in diesem Zusammen hang als "kulturhistorische Reminiszenz" früherer menschlicher Entwick lungsstufen, die ihren Ort bei den sogenannten Naturvölkern und an den Rändern des modemen, aufgeklärten, westlichen Europas hatte. 73 "Die Instinkte des Menschen sind unter allen Himmelsstrichen dieselben, und Gebräuche, die wir bei unseren Kolonialstämmen kennen lernen, haben nicht nur in der alten Geschichte unseres Volkes, sondern auch in den Bräuchen unserer vom modemen Denken wenig berührten Bevölkerung ihr Widerspiel. "74
Ein eindrückliches Beispiel für abergläubische Vorstellungen, in denen kannibalische Praktiken eine Rolle spielten und gegen die Fachwissen schaftIer Aufklärung und Bildung ins Feld führten, ist der sogenannte Ri tualmordglaube. Diesem antisemitischen Vorurteil zu Folge ermordeten Juden und Jüdinnen angeblich christliche Kinder, vorzugsweise männliche Kinder und Jugendliche, um ihr B lut zu magisch-religiösen Praktiken zu verwenden. Die Vorstellung, Angehörige der jüdischen Glaubensgemein68 69 70 71 72
73 74
SchefoldlWemer 1912, S. 3. Hellwig 1908, S . 4. SchefoldlWemer 1912, S . 39. So auch: Aschaffenburg 1903, S. 82. Seyfarth 1 9 1 3 , S. iii, 304. Hellwig 1908, S . 4 ( Zitat), 65-67. Mit Blick auf die bereits angesprochene Persistenz des Aberglaubens in den ärmeren und unaufgeklärten Schichten der Bevölkerung warnte Hellwig gleichzeitig davor, diesen für vollständig überwunden zu halten (ebd. , S . 4). Er verwies in diesem Zusammenhang explizit auf Mordfälle, die bislang als sogenannte Lustmorde kategorisiert worden waren und die aufgrund der Verstümmelung der Leichen seiner Ansicht nach vielmehr als Morde aus Aberglauben angesehen hätten wer den müssen (ebd., S. 7 1 ) . Hellwig veröffentlichte zu diesem Thema auch in eher geographisch-ethnologisch orientierten Zeitschriften, beispielsweise im Globus zum Thema "Prozeßtalismane" (Hellwig 1909a) und "Zufall und Aberglaube" (Hellwig 1909b). Hellwig 1 908, S. 4 (Zitat) sowie SchefoldlWemer 1912, S. 46-47. Kohler in seinem Vorwort zu Löwenstimm 1 897, S. ix.
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schaft praktizierten diese Form des rituellen Kannibalismus, wurde von den Fachwissenschaftlern als purer Aberglaube und unwissenschaftlich verdammt. 75 Veröffentlichungen, welche Ritualmordbeschuldigung, etwa im Mordfall Ernst Winter im ländlichen, westpreußischen Konitz (heute: Chojnice) im Jahr 1 900 unterstützten, wurden in den einschlägigen Zeit schriften konsequent negativ rezensiert. In aufklärerischem, fast schon oberlehrerhaftem Duktus wiesen die Autoren darauf hin, dass es sich dabei um nicht mehr als einen traditionellen, vormodernen und völlig unsinnigen Aberglauben der Landbevölkerung handele. 76 Hinter dieser Argumentationsfigur stand die gleiche Kopplung von Zeit und Raum, welche Anne McClintock für den kolonialen Kontext un ter dem Begriff des "anachronistic space" rekonstruiert hat. 77 Ausgehend von einem imaginären Zentrum in Westeuropa wanderte der B lick des Forschers in einer fortschreitenden B ewegung zurück in eine prä-moderne, finstere Vergangenheit. Diese B ewegung konnte, wie wir gesehen haben, auch auf kleinstem Raum ausgeführt werden: vom administrativen Zen trum (Berlin) an die Ränder des Nationalstaats (Schlesien) oder von den, im sozialen und bildungstechnischen Sinne zentral gelegenen, Wohnungen des Bürgertums zu den Wohnvierteln des Proletariats (Berlin Friedrichs hain). Die dahinter stehende aufklärerische Rationalität ist eng verbunden
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Siehe: Schefo1dIWemer 1912, S. 26. Zunächst handelte es sich beim Ritu almordglauben um ein Phänomen des religiös motivierten Antijudaismus, dessen Traditionslinien bis ins Mittelalter zuräckreichen. Ende des 1 9. Jahrhunderts, als sich unter Bezug auf rassistische und sozialdarwinistische Theorien der rassistische Antisemitismus ausbildete, wurde der Ritual mordvorwurf jedoch ins Standardrepertoire der antisemitischen Vorurteile integriert. Aus diesem Grund spreche ich an dieser Stelle vom antisemiti schen Ritualmordglauben. Zu Geschichte und Entwicklung des Ritual mordglaubens. Siehe: Erb (Hg.) 1993; Hsia 1988 sowie Hsia 1997. Zur Konnexion von Ritualmordvorwurf und Kannibalismusverdacht siehe Arens 1987, S. 19-20. So beendete Hans Groß eine Rezension des antisemitischen Machwerks von Carl Mommert, Der Ritualmord bei den Talmud-luden (Leipzig: Ha berland, 1905) mit den Worten: "Wir haben schon zahllose Male erklärt: Blutaberglauben hat immer bestanden, besteht heute noch, ihm sind alle Nationen unterworfen und die Juden nicht mehr und nicht weniger als an dere Rassen." (Archiv für Kriminologie 24, 1 -2 ( 1 906), S. 176). Zur soge nannten Konitzer Mordaffäre sind in den vergangenen Jahren eine ganze Anzahl Veröffentlichungen erschienen. Siehe: RohrbacherlSchmidt 1991, S. 348-355; Nonn 1998; Voigt 2000; Nonn 2002; Smith, H.W. 2002a; Smith, H.W. 2002b; Groß, J. 2002, S. 89-145. Siehe des Weiteren zu den bekanntesten Fällen in der Zeit des Kaiserreichs 1 884 in Skurz (Groß, J. 2002, S . 33-50) und 1891-92 in Xanten (Groß, J. 2002, S . 5 1-88; Rohrba cherlSchmidt 1991, S. 336-341). Diese aufklärerische Haltung verhinderte allerdings nicht, dass im Zusammenhang von eugenischen Beiträgen Juden und Jüdinnen als Angehörige einer angeblich inferioren Rasse diskrimi niert wurden (siehe beispielsweise: Weinberg 1905-06). McClintock 1995, S. 30.
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mit dem Projekt der Nation.78 Ziele waren die Ausrottung überkommener abergläubischer Vorstellungen sowie die Modernisierung und Normalisie rung der Bevölkerung auf dem Territorium des Nationalstaats. Es handelte sich dabei um einen Elitendiskurs. Empirie, Materialismus und der Glaube an technischen und medizinischen Fortschritt, im Verbund mit neuen Technologien der Regierung und Steuerung der Bevölkerung, wie der So ziologie oder der Kriminologie, waren part and parcel der Aufklärung ebenso wie des kolonialen Projekts.79 Sicherung der Gesel lschaft: Der Psychopath als Korporealität des Wilden
Neben der Kopplung von Zeit und Raum war die zweite Argumentations figur, über die es möglich wurde, Peripherie und Metropole, Wilde und Verbrecher als Phänomene des gleichen Problemfeldes zu denken, der Analogieschluss. Wie ich bereits in den Ausführungen zum ethnologischen Wissen über Kannibalismus kurz skizziert habe, wurde mit Hilfe der rheto rischen Figur der Analogie, die Unbekanntes aus Bekanntem erklären soll, eine Ähnlichkeit zwischen den Wilden in Übersee und sozialen Unter schichten im Mutterland suggeriert. 80 Die Analogie diente dabei als Folie, auf deren Hintergrund "people experienced and , saw' the differences be tween cIasses, races, and sexes, between civilized man and the savage, between rich and poor, between the child and the adult." 81 Differenzen aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen wurden als miteinander ver bunden wahrgenommen und interpretiert. Kinder, so der Tenor, seien wie Wilde. Geisteskranke wiederum seien wie Kinder - Geisteskranke ent sprechend wie Wilde. Diese Analogien wurden in unterschiedlichen Rich tungen und Kombinationen miteinander verbunden. 82 Eine zentrale Funktion erfüllte dabei, speziell in der biologischen Anthropologie, die Anthropometrie. Deren Anhänger und Anhängerinnen glaubten, über die Messung des Schädels und seines Gehirnvolumens den 78
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leh verstehe Rationalität hier mit Krasmann als "intelligibles Mäglichkeits feld des Denkens, der Artikulation von Aussagen, und der Generierung von Praktiken." Der Begriff umfasst damit "in welcher Weise politische Pro gramme artikuliert, Probleme gestellt und Regulierungsziele formuliert werden können." (Krasmann 2003, S. 72.) Siehe: Hamilton 1992, S. 36-55; Link 1998, S. 202-213; Geulen 2004, S. 153-27 1 und 309-345; Peukert 1987, S. 1 37- 143; Raphael 1996; Raphael 2000, S. 38. Wie Peter Becker feststellt, ist die große Bedeutung, welche Bildung und Erziehung in der Realisierung dieser Utopie zugeschrieben wurde, ein spezifisch deutsches Charakteristikum. Siehe dazu: Becker, P. 2002, S. 47 sowie vom Bruch 2005, S. 1 1-24, 1 67-1 78, 273-289 und Nip perdey 1 986. Stepan 1986, S . 261 -277. Ebd. , S. 265. Siehe auch: Stocking 1978. Siehe: Lombroso 1 887, S . 45 1 -480.
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evolutionären Status und damit auch die Intelligenz von Menschen fest stellen zu können.83 Diese Technologie gewann im Laufe des 19. Jahrhun derts in der anthropologischen Forschung sowie den daran anschließenden Wissenschaften wie der Medizin, der Kriminologie oder der Psychiatrie immer größere B edeutung. Gleichzeitig wurden immer mehr Körperdaten in die B eobachtung eingeschlossen. Auf diese Weise entstand ein komple xes System gradueller Differenzen, welche die Abweichungen von einer gesetzten Norm, dem erwachsenen, gesunden, weißen Mann der Mittel klasse wiedergaben. Alterität wurde so zu einer materiell messbaren Grö ße, zu einer potentiell infinitesimalen Abweichung auf einer Skala von (Ab)Normalität. Der prominenteste deutsche Vertreter dieser Richtung war Rudolf Virchow. Virchow, der 1 848 in B erlin für die Revolution gekämpft hatte, erfasste in den 1 870er Jahren unter Anwendung von Vermessungs technologien und statistischen Verfahren mehr als 670.000 Schulkinder zur ,rassischen' Kategorisierung der Bevölkerung des Kaiserreichs. Ob wohl ausgesprochener Gegner des politischen Antisemitismus, leistete er mit dieser Studie de facto antisemitischer Propaganda Vorschub, indem eine angebliche körperliche Differenz von Jüdinnen und Juden und damit eine "German whiteness" wissenschaftlich zu untermauern schien." Im Zuge dieser Umwälzungen veränderte sich in der Fachliteratur die Einschätzung abergläubischer Menschen grundlegend. Wie so oft bei ei nem epistemologischen Wechsel innerhalb der Kriminologie wurden be kannte Einzelfälle neu interpretiert. 85 Hier wurde nun vor allem die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit der mutmaßlichen Täter gesteIlt.86 So dis kutierte beispielsweise Albert Hellwig 1 9 1 8 in der Monatsschrift für Kri
minalpsychologie und Strafrechtsreform einen Fall, über den in den Jahr83
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Stepan 1986, S. 27 1 -274. So galt beispielsweise das Schädelvolumen, bzw. Größe und Gewicht des Gehirns als Indikator für Intelligenz. Die gemes senen Durchschnittswerte lagen hier bei Frauen niedriger als bei Männern. Gleichzeitig aber wurden die Messergebnisse selten in Relation zum Ge samtkörpergewicht gesetzt. Hier erzielten Frauen höhere Werte als Männer - eine Feststellung, der die Forscher nicht weiter nachgingen, sondern stattdessen den Unterschied des Volumens bzw. des absoluten Gewichtes betonten. Siehe: ebd., S. 273. Siehe dazu: Ackerknecht 1 9 8 1 , S. 2 1 2-216; Zimmerman 1999, S. 4 1 9; Grosse 2000, S. 58-95; Goschler 2002, S. 336-345. Zu Virchows Beitrag zur Reformierung der sozialen Medizin der Verbindung und zu seinem po litischen Engagement 1 848 siehe: Balkhausen 2007, hier v.a. S. 1 20-140. Siehe: Becker, P. 2004 sowie die Beiträge im Sammelband Erzählte Kri minalität von Jörg Schönert (Schönert (Hg.) 1 991). Siehe: Groß, H. 1903; Löwenstimm 1 897, S . 7 ; Hellwig 1 908, S . 68-69; Schefold/Werner 1 9 1 2, S . 39-40. Vgl. auch die Darstellung des Falles von Bratuscha bei Groß, H. 1904. Löwenstimm, der sich vor allem um eine Be standsaufnahme bemühte, bezog sich in erster Linie auf die Diskussion um die Reform des russischen Strafrechtes. Dafü r ordnet das Vorwort zum Band das Werk explizit dem deutschen Diskussionszusammenhang zu (Löwenstimm 1 897, S. iii).
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büchern für Psychiatrie des Jahres 1 879 erstmalig berichtet worden war: ein ungarischer Waldheger (Waldarbeiter), stark alkoholisiert und in dem Glauben, es handele sich um einen Irrwisch, hatte irrtümlich seine Gelieb te erschossen. Im Gegensatz zum ursprünglichen Berichterstatter in den
Jahrbüchern teilte Hellwig die Einschätzung des forensischen Gutachters im anschließenden Prozess nicht. Dieser hatte argumentiert, sobald ein "Individuum vom Aberglauben, als Vorhandensein einer Thatsache, über zeugt ist, hört die freie Selbstbestimmungsfähigkeit und mit derselben zugleich die Zurechungsfähigkeit auf'. S7 Diese gutachterliche Einschätzung schloss an ein Verständnis von Zu rechnungsfähigkeit an, welches von der spätaufklärerischen Strafrechts theorie geprägt war und welches im deutschsprachigen Raum bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus die Lehrmeinung darstellte.ss Ausgangs punkt dieser Theorie war die Annahme, ein Verbrecher oder eine Verbre cherin habe sich bewusst zur Ausführung einer kriminellen Handlung ent schlossen. Statt auf die Stimme der Vernunft zu hören, die ihm oder ihr wie allen menschlichen Wesen gegeben sei, habe das kriminelle Indivi duum im Gegenteil seiner selbstsüchtigen Triebnatur nachgegeben. Krimi nelle sollten sich damit durch ihre verbrecherische "Gesinnung" auszeich nen, die aus einem Mangel an Erziehung und Aufklärung herrühre. Nach dieser Logik wurde die Bildung, ganz besonders die Schulbildung, als das wichtigste Mittel zur Verbrechensbekämpfung angesehen.89 Wenn jedoch die geistige Kapazität eines Menschen durch Erkrankung oder andere Ein flüsse soweit eingeschränkt war, dass eine Vernunftentscheidung nicht getroffen werden konnte, sprachen die Fachwissenschaftler von Unzu rechnungsfähigkeit.90 Beinahe vierzig Jahre nach der ersten Diskussion des Falles vom mör derischen Waldheger konnte Albert Hellwig in seiner Neuinterpretation jedoch "in der abergläubischen Befangenheit des Angeklagten kein auf eine geistige Erkrankung hindeutendes Symptom erblicken". Er ging viel87
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Siehe: Schwartzer 1 879, S. 1 8 1 - 1 85, Zitat S. 185. Schwartzer parallelisier te im Folgenden Aberglauben mit Zwangsvorstellungen und verwies auf das klassische, aufklärerische Mittel zur Bekämpfung desselben: die Schulbildung. (ebd., S. 1 85-1 86). Siehe auch: Hellwig 1914- 1 8, S . 3 8 1 . In diesem Sinne argumentiert auch der Verfasser des Vorworts zu Lö wen stimm 1 897, S. x-xi. Ausführlicher zur Entwicklung des Strafrechts siehe Rüping/Jerouschek 2007, S. 77-83 sowie in Bezug auf die Kriminologie Jeffrey 1972. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Richtung gehörten Cesare Beccaria ( 1 7381794), Pau! Johann Anselm von Feuerbach ( 1775 - 1833) und Jeremy Bentham ( 1748-1 832). Siehe auch: Weis 1992; Monachesi 1972; Kröner 2007; Geis 1 972. Galassi 2004, S. 65-72; Becker, P. 2002, S. 35-57. Hier schlossen die Vor schläge zur Beseitigung des kriminellen Aberglaubens an. Diese Position fand sich in unterschiedlichen Formen auch kodifiziert in den Gesetzesbüchern der deutschen Staaten. Siehe dazu: Galassi 2004, S. 73-74; Becker, P. 2002, S. 53-57; Wetze11 2000, S. 73-83.
WIE DIE WILDEN I 1 89
mehr davon aus, dass in der Alters- und Sozialgruppe des Täters (er be zeichnete ihn als einen "Mann aus den unteren Ständen"), der betreffenden Region (Ungarn) bis in seine eigene Zeit hinein "auch krasser Aberglau ben weit [ . . . ] verbreitet und lebenskräftig" sei. Als Beispiele hierfür nannte er zeitgenössische B erichte von Leichenschändungen aufgrund des dort angeblich verbreiteten "Vampyrglauben[s]". In diesem Sinne repräsentier te der straffällige Waldarbeiter für Hellwig gesellschaftliche Normalität. Als deutlich davon unterschieden sah er den "modemen kriminellen Aber glauben", der für ihn die Folge einer Geisteskrankheit war.91 Während also der Aberglaube damit zunächst als Charakteristikum armer, proletarischer oder indigener, angeblich kulturell-zivilisatorisch rückständiger B evölkerungsgruppen galt, wurde ab der lahrhundertwende zunehmend die Möglichkeit einer physiologisch bedingten Anfälligkeit für seine Verführungen problematisiert. Die Erkrankung, welche sich nach Ansicht der Mehrheit der zeitgenössischen kriminologisch-psychiatrischen Experten in dieser Form bemerkbar machen sollte, war die sogenannte "Psychopathie".92 Damit kennzeichnete die Analogie Wie die Wilden jetzt nicht nur eine angeblich zivilisatorische und sittliche Rückständigkeit, sondern eine Kor porealität. Wie ich in den folgenden zwei Kapiteln zeigen werde, spielte die Psychopathie erstens eine zentrale Rolle bei der Verortung der mut maßlichen kannibalischen Lustmörder der 1 920er in einem Kontinuum von (Ab)Normalität, welches im medizinisch-psychiatrischen Diskurs entworfen wurde. Zweitens war dieses Krankheitsbild auch in den öffent lichen Debatten um diese Straftäter, im Falle Haarmanns sogar in Bezug auf seine Opfer, von großer Bedeutung.93 Aus diesem Grund möchte ich den Begriff hier etwas ausführlicher erläutern. Der Begriff "Psychopathie" bezeichnete ein aus heutiger Perspektive recht verschwommenes Krankheitsbild.94 Allgemein formuliert wurde da mit ein von bürgerlichen Normen abweichendes Sozialverhalten gekenn91
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Hellwig 1914-18, S . 382, 383. Eine Einschätzung, die wiederum an den oben dargestellten Modemisierungsdispositiv anschloss, auch wenn Hell wig die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit anders beantwortete. Siehe hierzu: Birnbaum 1914, S . 241 -254, v.a. S. 242; Groß, H. 1903; SchefoldlWerner 19 12, S . 45. Dazu siehe Kapitel 6. Medizinhistorisch wurde die Psychopathie einerseits als Weiterentwick lung des von Benedict Augustin Morel ( 1809- 1 873) in seiner Studie Traite des Degenerescences physiques, intellectuelles et morales de I' espece hu maine ( 1 857) entwickelten Begriffs der "degenerescence" verstanden und mit "Entartung" übersetzt (siehe: Burnke 1922, S. 3-12; Birnbaum 1930b, S. 437). Andererseits schloss die Psychopathie an das Konzept der moral insanity an, welches von lames Cowles Prichard (1786-1848) in seiner Ar beit On the Different Forms o/ Insanity, in Relation to Jurisprudence ( 1 842) vorgeschlagen worden war, um Störungen des Sozialverhaltens zu kennzeichnen. Dazu auch: Wetzell 2000, S. 1 9-20; Rimle/Hunt 2002; Weindling 1989, S. 80-89.
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zeichnet. Im Gegensatz zu sogenannten normalen Menschen galten Psy chopathen aufgrund ihrer pathologischen physiologischen Konstitution als unfähig, sich den äußeren Lebensumständen anzupassen: Sie seien den Herausforderungen des Alltags nicht gewachsen und daher stets verhal tensauffällig, sie seien besonders sucht- und suizidgefährdet, entgleisten und glitten häufig an den kriminellen Rand der Gesellschaft ab. Psychopa thie zeichne sich dadurch aus, dass sie keine grundsätzliche Veränderung des Charakters des Erkrankten auslöse, sondern vielmehr "in fließenden Übergängen" zu graduellen Veränderungen von Persönlichkeitsstrukturen führe.95 Als gemeinsames Merkmal aller Psychopathen galt eine herabgesetzte Durchsetzungskraft, die "Willensschwäche".96 Diese mache sich, so die Lehrmeinung, bemerkbar durch Unentschlossenheit, Wankelmut, fehlende Initiative, leichte Beeinflussbarkeit, Unselbständigkeit und mangelnde Selbstbeherrschung!' In B ezug auf die Beeinflussbarkeit durch abergläu bische Vorstellungen führte der Kriminologe Hans Groß sogar den Begriff des "psychopathische[n] Aberglauben[s]" ein.98 Psychopathie sollte besonders häufig in der Pubertät, im Jugend- und im Greisenalter auftreten, während der Schwangerschaft und der Menstru ation, den sogenannten "psychopathischen Krisen". Damit einhergehen sollte auch eine abnorme "Resistenzlosigkeit" gegen psychische und phy sische Reize, wie beispielsweise Alkoholunverträglichkeit.99 Auf diese Weise wurden mit dem Konzept der Psychopathie Phasen und Situationen im Laufe eines individuellen körperlichen Lebens pathologisiert, in denen dem Ideal eines seinen eigenen Körper beherrschenden, erwachsenen Sub jekts nicht entsprochen werden konnte; Situationen, in denen Körper machten, was sie wollten und bürgerlich-männliche Selbstdisziplinierung fehlschlug. Als mögliche Ursache für die Entstehung von Psychopathie wurde eine Kombination aus sozialen Faktoren, exogenen Umwelt- und Milieuein95
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Siehe: Birnbaum 1 909, S. 8-29; Birnbaum 1930b, S. 442, Zitat S. 438; Kraepelin 1904, S. 8 15-84 1 , hier besonders die Ausführungen über die "Haltlosen", ebd., S. 825-830. In diesem Zusammenhang wurde vom an geblich typischen "Psychopathenschicksal" gesprochen (siehe: Kahn 1928, S . 472-477). Birnbaum 19 1 1 , S. 57. Siehe: Birnbaum 19 1 1 , S. 56; Birnbaum 1914, S. 86-9 1 ; Kraepelin 1904, S . 825-830. Groß, H. 1903, S. 334. Diese Begriffsschöpfung wurde zwar kritisch be trachtet, allerdings nicht grundSätzlich abgelehnt. Vielmehr argumentierten die Kritiker, dass es sich um einen überflüssigen Neologismus handele, da Psychopathie bei der in Frage stehenden Tätergruppe ohnehin als gegeben anzunehmen sei. Siehe: Schefold/Werner 1912, S. 19-20; Nußbaum 1 907, S. 367-37 1 sowie Nußbaum 1 9 10, S. 827. Birnbaum 1930b, S. 440; Kahn 1928, S. 466-477. Siehe auch: Uh1 2003, S. 1 3 1 - 1 38 ; Weindling 1989, S . 3 8 1 -385 zu Psychopathen als Zielgruppe eu genischer Politik.
WIE DIE WILDEN I 1 91
flüssen, vor allem in Kindheit und Jugend, und eine "erblich übertragbare,
,hereditär degenerative'" Konstitution angenommen. 100 Entsprechend gin gen die Experten auch davon aus, dass die Willensschwäche sowohl ererbt als auch erworben sein könne. Jedoch finde sie sich "vorzugsweise in Fa milien, in denen die Neigung zum Auftreten seelischer und nervöser Stö rungen erblich" sei und galt als Äußerungsform "vererbbarer psychischer Degeneration, erblicher geistiger Entartung."101 Innerhalb dieses Modells war Aberglaube allein jedoch kein Grund, kriminell zu handeln. Vielmehr gingen die Experten davon aus, dass in einem gesunden Menschen die "ethischen Hemmungsvorstellungen stark genug" seien, "um ihn von dem betreffenden Thun abzuhalten". Ein kran ker, psychopathischer Mensch hingegen habe aufgrund der charakteristi schen Willensschwäche den Lockungen des Verbrechens nichts entgegen zu setzen und so könnten "psychopathische Zustände die ethischen Hem mungsvorstellungen überwinden". 102 Das entscheidende Kriterium war damit nicht länger der Aberglaube als solcher, sondern eine mögliche de generative Veranlagung, die zu einer Schwäche der moralischen Abwehr kräfte führte: ,,[A]uch der normale abergläubische Mensch glaubt, dass er fliegen kann, wenn er ein Kinderherz isst, er glaubt daran nicht besser und nicht schlechter als ein geistig abnormaler, er würde es auch gerne thun, um einen solchen Vortheil zu erlangen, aber seine gesunde Psyche verbietet ihm ein scheussliches Verbrechen wegen eines irdischen Vortheiles zu begehen; der psychopathisch Veranlagte unterliegt aber dem Drange und begeht das Verbrechen."103
Auf diese Weise wurden abhängig von Zeit, Ort und Klasse abergläubi sche Vorstellungen argumentativ in die gesellschaftliche Normalität inklu diert. Gleichzeitig wurden Menschen, die aufgrund einer degenerativen Veranlagung als Psychopathen und damit als potentielle Straftäter und Straftäterinnen galten, aus dem Normalfeld exkludiert. Dieser Ausschluss war jedoch nie abgeschlossen oder vollständig. Normalität war in diesem
100 Birnbaum 1930b, S. 437-438 (HiO). Wie Birnbaum hier ausführte, wurden diese zuvor als "Keimschädigungen", als schädigende Einflüsse auf Eizel le, Sperma oder Embryo durch Geschlechtskrankheiten (etwa Syphilis) oder Gifte (hier besonders Alkohol) diskutiert. Zur Zeit der Abfassung sei nes Beitrags wurden vor allem "endogene Psychosen", d.h. hereditäre Stö rungen der "Triebsphäre" (des Sexualtriebes, des Selbsterhaltungs- sowie des Sozial- und Herdentriebes) als Folge dieser Schädigung angesehen (ebd., S. 438). 101 Birnbaum 1 9 1 1 , S . 56. Ebenso wie die Psychopathie sollte die Willens schwäche besonders für jene "Krankheitszustände" kennzeichnend sein, "die nicht allzuweit von der Grenze des Normalen" entfernt seien (ebd., S. 55). Vgl. dazu auch Birnbaum 1930a. 102 Groß, H. 1903, S. 339. 103 Groß, H. 1903, S. 339.
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Modell stets prekär: Da es sich bei Psychopathen um "an der Grenze zwi schen geistiger Gesundheit und Krankheit stehender 1 Persönlichkei tenstypen" handeln sollte und Psychopathie sogar nur phasenweise (Ju gendalter, Menstruation) auftreten konnte, skizzierten die Experten viel mehr ein Kontinuum der (Ab)Normalität, in dem geistige Gesundheit und Krankheit fließend ineinander übergingen. 104 Danrit änderten sich auch die kriminalpolitischen Programme, die vor geschlagen wurden. Während gegen die vermeintliche Rückständigkeit proletarischer, armer Schichten deren Aufklärung in Form von verbesser ter und ausgeweiteter Schulbildung ins Feld geführt wurde, sollte gegen Psychopathen völlig anders vorgegangen werden. Abhängig von der Schwere der Erkrankung und den davon abgeleiteten Chancen auf Besse rung wurden abgestufte Maßnahmen vorgeschlagen, welche von psychia trischer Behandlung und Haft bis hin zur sogenannten Unschädlichma chung, Sterilisation oder zur dauerhaften Unterbringung in einer geschlos
senen Anstalt reichten. 105 Diese Veränderung vollzog sich allerdings je nach Diskussionsgegens tand nrit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während die Rede von der Bekämpfung des "kriminellen Aberglaubens" über 1 900 hinaus der aufklä rerischen Rationalität und Programmatik verbunden blieb, wurde die Frage der Zurechnungsfähigkeit bereits auf Grundlage der neuen Rationalität diskutiert. Das Ziel war nicht länger die Integration aller in die modeme Nation, sondern die Sicherung der Gesellschaft gegen gemeingefährliche
Geisteskranke. 106
Zusammenfassend können wir damit festhalten, dass im medizinisch psychiatrischen Diskurs um 1 900 ein Wandel in der Konstruktion des Kannibalen zu beobachten ist. Ausgehend von den in der Ethnologie eta blierten Erklärungsmustern Aberglaube und Gier wurde die Alterität des Kannibalen zunehmend am Körper festgemacht. Überspitzt formuliert: kannibalische Kriminelle handelten nicht mehr wie die Wilden, sie waren wie die Wilden. Der Durchsetzung dieses Konzepts vom psychopathischen Kriminellen lagen zwei Argumentationsfiguren zu Grunde, die Verkopp lung von Zeit und Raum sowie die Analogie, welche Kolonie und Heimat, Wilde und Psychopathen als Teile eines gemeinsamen Problemfeldes er scheinen ließen. Damit einher ging die Anwendung von Technologien zur Vermessung und B estimmung von Alterität, die zunächst von der Ethno104 Birnbaum 1930b, S. 437. Siehe auch: Brink 2002, S. 4l. 105 Siehe: Birnbaum 1914, S. 5 13-564; Schultz 1928. Siehe auch: Galassi 2004, S. 384-4 1 l . 106 S o der Titel einer Monographie zum Thema von Aschaffenburg, in der er über die Effektivität des bisherigen Strafregimes mit Blick auf diese neue Rationalität berichtete (Aschaffenburg 19 12). Zur rassistischen Normali sierung in Weimar siehe: Peukert 1987, S. 266-272; Peukert 1982, S. 289296; Weindling 1989, S. 399-439 und 441-469.
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logie für den kolonialen Kontext entwickelt worden waren (Anthropo metrie), gleichzeitig aber an die statistischen Methoden der Norrnalisie rung anschlossen, weIche im Rahmen des nationalen Projekts verwendet wurden, um die B evölkerung besser regulieren zu können. 1 07 In der Forschung zur Geschichte des Kolonialismus werden Phänome dieser Art häufig unter dem Schlagwort der Kolonien als Laboratorien ne der Moderne verhandelt. Dahinter steht die Annahme, dass in den kolonia len Räumen, in denen die europäisch-bürgerliche Ordnung suspendiert war, zentrale Technologien und Regierungspraktiken der Modeme entwi ckelt und getestet wurden, bevor sie in die jeweiligen Mutterländer expor tiert wurden. Eines der in diesem Zusammenhang häufiger genannten Bei spiele ist die Erfindung der Personenenidentifikation qua Fingerabdruck, die in Britisch Indien ab 1858 üblich war und erst 1 90 1 in Großbritannien angewendet wurde. 1 08 Wie Dirk van Laak überzeugend argumentiert hat, suggeriert der Be griff des Labors dabei allerdings eine kontrollierbare, abgeschlossene Ver suchsanordnung, von der wir in B ezug auf die Kolonien keinesfalls ausge hen können. Angemessener sei es, so van Laak, stattdessen von einem ",Experimentierraum'" zu sprechen, in dem unter Suspendierung von "Rücksichtnahmen historischer oder humanitärer Art im Umgang mit den Menschen, die man in den kolonisierten Räumen vorfand" von den Kolo nisatoren "bevölkerungspolitische und Raumanordnungs-Modelle auspro biert wurden", die in den Metropolen ihren Gegenpart hatten. 1 09 Die "La borbedingungen fanden sich vornehmlich in den Köpfen der Planenden", deren Vorgehensweise Hand in Hand mit dem Selbstverständnis der Kolo nialherren als männlichen Eroberern und Zivilisatoren ging."° Trotz all dieser Einschränkungen sei jedoch festzuhaiten, dass "die Kolonialzeit mit 107
Siehe: Ginzburg 1983, S. 63-96; Klingemann 1987; Hess 1997; Gadebusch 1997; Wetzell 2000, S. 28-3 1 ; Becker, P. 2002, S. 344-35 1 ; Gibson 2002, S. 127-174; Horn 2003, S. 23-25. 108 Siehe: Ginzburg 1983, S. 87-90; Horn 2003, S. 23-25; Anderson, C. 2004, S. 1 66- 168. Während die Forschung sich zunächst v.a. für den Bereich der französischen Kolonien und US-amerikanischen Kolonien zuwandte (sie he: Cooper/Stoler 1997, S. 5 sowie die für den französischen Kontext ein schlägigen Studien von Rabinow 1 989 und Wright 1 99 1 . Für den US amerikanischen Kolonialismus siehe: Anderson, W. 1 995), so erproben nun zunehmend mehr Forscher und Forscherinnen das Erklärungspotential dieser Perspektive auch für die deutsche Kolonialgeschichte (siehe: Oster hammel 1995, S. 1 22; van Laak 2004b; Conrad 2002, S. 155- 158; Conrad 2004, S. 108- 109; Kundrus 2003a, S. 10). 109 van Laak 2004b, S . 258-259, 263, 279. Als exemplarische Fallstudie zur Verschränkung von kolonialer ,Eingeborenen' - und sozialstaatlicher Für sorgepolitik siehe: Conrad 2004. 1 10 Ebd., S. 265. Gleichzeitig seien die Kolonien nicht nur Experimentierfeld für Neues gewesen, sondern auch "Residuen für Hierarchien und Verhal tensweisen, die in den Metropolen inzwischen als überlebt galten." (ebd., S . 266.)
1 94 I KANNIBALE-WERDEN
ihren spezifischen Herausforderungen und experimentellen Möglichkei ten" für viele Wissenschaften, unter anderem nennt van Laak hier die Geographie, Anthropologie und die Medizin, "eine wesentliche Durch gangsstation der Fachgeschichte" darstellte. Eine der zukünftigen Aufga ben der Forschung sei nun festzustellen, "wohin das koloniale know-how abgewandert" sei und "welche Metamorphosen es dabei durchlebte ]" ha be. l I ! Meine Untersuchungen zum medizinisch-psychiatrischen Diskurs vom Kannibalen zielen genau auf die von van Laak genannte Forschungslücke. Das Beispiel von der sich verändernden Konstruktion des Kannibalen in Anthropologie, Medizin und Kriminologie macht allerdings deutlich, dass wir statt von einer Bewegung, egal in welche Richtung, besser von einer Verflechtung sprechen sollten. Alle Gruppen, denen Kannibalismus nach gesagt wurde, sowohl die Angehörigen der im modernen Nationalstaat marginalisierten Gruppen als auch die indigene B evölkerung der Kolonien, waren Untersuchungsgegenstand sowie Arbeitsfeld gouvernementaler Ra tionalitäten und Technologien, die auf die Regulation, Vereinheitlichung und Modernisierung der Lebensäußerungen abzielten. Zu beobachten ist weiterhin die Entwicklung und auch Anwendung von Technologien der Normalisierung, die sich auf einen gemeinsamen, auf rassistischen Grundsätzen basierenden Referenzrahmen bezogen. Während also das Konzept des wilden Kannibalen, wie ich im zweiten Kapitel demonstriert habe, in einer spezifischen historischen Konstellation der Interaktion von europäischen Forschungsreisenden und Kolonialisierten entstand, können wir gleichzeitig feststellen, dass erstens die auf deutscher Seite dahinter stehende Rationalität nicht nur den kolonialen Raum erfasste, sondern stets auch das heimatliche Mutterland in ihren ordnenden, planenden Blick nahm. Zweitens wird am B eispiel des Fachdiskurses um den Kannibalen deutlich, dass die koloniale Situation für die Etablierung des rassistischen Differenzials, welches der Normalisierungsgesellschaft zu Grunde lag, eine entscheidende Rolle spielte. Erkennbar werden die ,,[g]eteilte Ge schichten" !l2 eines biopolitisch-rassistischen Dispositivs moderner Gou vernementalität, welche die Grenzen zwischen Kolonie und Metropole überschritt.
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Ebd., S. 277. Eine weitere Frage, die van Laak hier aufwirft, ist die nach der Rolle "koloniale[rJ Vorerfahrungen" bei der späteren Ostraumplanung (ebd.). 1 1 2 Conrad/Randeria 2002, S. 17. Siehe auch: Randeria 2000, S. 90; Randeria 2002, S. 286.
5 . Fleischliches B egehren: Sexualität und Kanniba l ismus
Im Jahre 1925 meldete sich beim "Inspektionskommissär der Polizeidirek tion Graz" ein aufgeregter Schwiegervater, der behauptete, sein Schwie gersohn sei "entweder geisteskrank oder ein Verbrecher". Der Mann er stattete Anzeige gegen seinen Schwiegersohn ("G."), dessen Verhalten beim Geschlechtsverkehr laut Aussage der Ehefrau des Anzeigten nach der Hochzeit und der Geburt eines gemeinsamen Kindes immer gewalttätiger geworden sei.' Während "G." seine spätere Gattin bereits zu Verlobungs zeiten beim Geschlechtsverkehr an einen Tisch gefesselt habe, verlange er nun von ihr, "daß sie ihm ihr Blut opfere, und sauge dieses beim Ge schlechtsverkehr, nachdem er sie mit einem Messer geritzt habe." In der Folge komme es zu "sadistischen und vampyristischen Ausschreitungen".2 Um seine Behauptungen zu untermauern, legte der Vater den Beamten "eine Reihe von Zeichnungen und Schriften" vor, welche "G." angefertigt habe. Auf diese Darstellungen und Texte bezog sich der Autor eines den Fall diskutierenden kriminologischen Fachbeitrages, Karl Hanss, selbst Polizeikommissar in Graz, in seinem im gleichen Jahr veröffentlichten Fachbeitrag im Archiv für Kriminologie. Seiner Meinung nach waren sie "vom kriminalpsychologischen, wie vom psychiatrischen Standpunkte so interessant [00'] ' daß sie der Fachwelt nicht vorenthalten bleiben" dürften.3 Entsprechend beschrieb Hanss in seinem Beitrag einzelne der Darstel lungen genauer und gab die Inhalte der "Schriften", die der Angezeigte 1 2 3
Hanss 1925, Zitate S. 294. Ebd., S. 294. Ebd., S. 294. Die künstlerische Darstellung sexualisierter Gewalt wurde auch in anderen Zusammenhängen von Untersuchungs behörden als ver dächtig eingestuft. So galten beispielsweise Oskar Kokoschkas und George Grosz' Bilder als Indizien für eine mögliche Täterschaft, als sie des Lust mordes verdächtigt wurden. Siehe dazu: Büsser 2000, S. 49-60 und Lewis 1 997, S. 2 14.
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verfasst haben sollte, wieder. Zeichnungen wie Texte thematisierten ver kürzt zusammengefasst kannibalische Gewaltphantasien. Auf den Zeich nungen waren professionelle Schlachtungen von Frauen durch Frauen dar gestellt: ,,[E]in besonders interessantes Bild [zeigt] den Schlachtraum, in welchem nebst einem Holzblock (Hackstock) mit Fleischerhacke, verschiedenen Blutschüsseln, einem Abflußkanal in der Mitte des Raumes, mehreren Hacken an der Mauer auch eine Fleisch-(Wurst)Maschine dargestellt ist. Durch eine offene Tür sieht man im Nebenraum einen Kochherd und darauf einen großen Topf stehen."4
Und auch in den sogenannten Schriften standen kannibalische Phantasien im Mittelpunkt. Die von Hanss aufgeführten Beispiele umfassten einen Brief von "G." an sich selbst, in welchem ihm eine fiktive weibliche Per son zwei Millionen Kronen für die Tötung und Schlachtung seiner Frau anbot oder eine Umdichtung der Zehn Gebote, so etwa: " ,Du sollst nieht lüstern sein nach deines Nächsten Fleisch und Blut. '" Für den Polizei kommissar waren die Inhalte der Zeichnungen und Texte des "G." sowie seine sexuellen Praktiken eindeutige B eweise dafür, dass es sich bei ihm um "ein geradezu klassisches Beispiel für die Geistesverfassung begin nender Sexualverbrecher" handelte. "G." war nach Ansicht von Karl Hanss ein "Theoretiker des Lustmordes", eine Art , tickende Zeitbombe' , die jederzeit explodieren, das heißt sich in einer sexuellen Gewalthandlung entladen konnte. "G." musste daher nach seiner Ansicht in einer Linie mit einem so berühmt-berüchtigten Kriminellen wie Fritz Haarmann gesehen werden.' Der Begriff Lustmord bezeichnete, wie Friedemann Pfäfflin rekon struiert hat, seit den 1 870er Jahren einen Mord, der zur Befriedigung sexu ellen Begehrens verübt wurde.6 Er fand in Verbindung mit der Durchset zung des biologistischen Erklärungsmodells von Kriminalität in der Fach literatur, aber auch darüber hinaus, schnell weite Verbreitung. So definier te das Mayersche Konversationslexikon von 1 902 Lustmorde als "diejeni gen Fälle vorsätzlicher Tötung, in denen der Täter, nur durch die Tötung und Verstümmelung des Opfers (an den Geschlechtsteilen, den Brüsten etc.) [sie] volle B efriedigung des Geschlechtstriebes findet".' B efriedigt 4 5
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Ebd., S. 295. Ebd., S. 295. Hanss berichtete weiter, dass der Angezeigte "G." von seiner Frau verlangt haben soll, seine Texte während den gemeinsamen sadoma sochistischen Inszenierungen vorzutragen. Zum Fall Haarmann siehe Kapi tel 6. Siehe: Pfäfflin 1982, S. 548. "Lustmord", in: Mayersches Konversationslexikon, Bd. 12 ( 1 902), S. 868: "Lustmord bedeutet im engsten und eigentlichsten Sinne diejenigen Fälle vorsätzlicher Tötung, in denen der Täter nur durch die Tötung und Ver stümmelung des Opfers (an den Geschlechtsteilen, den Brüsten ec.) volle Befriedigung des Geschlechtstriebes findet (vgl. Sadismus). Man bezeich-
FLEISCHLICHES BEGEHREN I 1 97
werden solle, so machte der im Lexikoneintrag folgende Verweis auf den Begriff des "Sadismus" deutlich, eine "Verquickung der sexuellen Triebe mit unnatürlicher Freude an Grausamkeiten", die mit gewaltsamen, Schmerzen zufügenden Handlungen einherginge, und in Vergewaltigung, "Leichenschändung (Nekrophilie), Anthropophagie" gipfeln solle. Vor allem Männer seien für diese "Verirrung" anfällig.' Die Figur des Kanni balen war mithin sexuell und geschlechterpolitisch aufgeladen. Während der Begriff "Lustmord" in dieser Weise bereits um die Jahr hundertwende in unveränderter Bedeutung präsent war, wurde nach Ende des Ersten Weltkrieges der Diskurs um die sexualisierte Tötung dichter: Es begann die "eigentliche deutsche Konjunktur des , Lustmord' -Motivs" in Prosa und bildender Kunst." Viele der bis heute bekannten künstlerischen und literarischen Arbeiten zum Thema Lustmord stammen aus dieser Zeit: so etwa Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz ( 1 929) oder die Bilder von Otto Dix (siehe: Anhang Abb. 9.7) und von George Grosz (siehe: Anhang Abb. 9.8). Es gab auch cineastische Bearbeitungen des Stoffes: etwa von Georg Wilhelm Pabst Die Büchse der Pandora ( 1 929) oder von Fritz Lang und Thea Harbou M - Eine Stadt sucht einen Mörder aus dem Jahr 1 93 1 .10 Wie eine ganze Reihe von neueren Forschungsarbeiten überzeugend herausgearbeitet hat, namentlich die Arbeiten von Hania Siebenpfeiffer, Tanja Hommen und Michael Schetschke, hatten die Debatten um die Lustmörder für die zeitgenössische Konstruktion hegemonialer Männlich keit eine zentrale B edeutung.1I Denn, so die Argumentation, ,,[ d]as Deu tungsmuster ,Lustmord' verbreitet nicht nur die Annahme der gefährlichen Triebhaftigkeit des Sexuellen, sondern schreibt diese auch in kollektiven
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net aber als L. weiter auch noch diejenigen Fälle, in denen der Täter das Opfer nach vollzogener Vergewaltigung oder infolge plötzlich ausbre chender tierischer Wut, oder um den Widerstand zu brechen, oder um den Hauptzeugen der Tat zu beseitigen, ums Leben bringt. Hier pflegen die ty pischen, schon von [P.l.] Anse1m Feuerbach beschriebenen Verletzungen zu fehlen." "Sexualpsychologie", in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 1 8 ( 1907), S. 3 9 1 . Lindner, M. 1999, S. 280. Zur Bearbeitung des Lustmord-Themas in Kunst und Literatur siehe des Weiteren: Tatar 1997; Lewis 1997. Fritz Langrrhea Harbou, M. Eine Stadt sucht einen Mörder (Nero-Film, 193 1 ) erschien zuletzt 2003 in einer restaurierten Fassung, in der versucht wurde, den Zustand vor Eingriff der Weimarer Zensurbehörden wieder herzustellen (Eureka Video VFC 1 1 6 1 8). Zur Geschichte der Zensur und Manipulationen an Fritz Langs Film siehe das Projekt "Verbotene Filme Manipulierte Filme" des Deutschen Filrninstituts, hup://www.deutsches filrninstitut.de (28 . 1 2.2010). Hommen 1999a, S . 76-78; Hommen 1 999b; Schetschke 2004, S . 357-3 6 1 ; Siebenpfeiffer 2002, S. 1 1 1 -1 1 2 ; Siebenpfeiffer 2005, S . 1 9 1 . Ganz ähnlich argumentiert in transnationaler Perspektive: McLaren 1997. Vgl. für den englischen Kontext Walkowitz 1982 und Walkowitz 1992.
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Körperpraxen ein."l2 Frauen, so die These, wurden zu möglichen Opfern, Männer zu trieb gesteuerten, potentiellen Lustmördern. Bislang lag damit der Schwerpunkt der Forschung auf der Rekonstruk tion des Konnexes von Gewalt und Männlichkeit in Relation zur Kon struktion von Weiblichkeit. Dem gegenüber vernachlässigen die bisher vorliegenden Forschungsarbeiten andere Linien, an denen entlang Masku linität (re)produziert wurde, ebenso wie die Resonanzen zwischen diesen. So konzentrieren sich die genannten Arbeiten darauf, den zeitgenössischen Diskurs von der drohenden Degeneration der Gesellschaft und die wahr genommene , Krise der Männlichkeit' zu rekonstruieren, ohne jedoch dar auf einzugehen, dass der Lustmörder gleichzeitig auch als Kannibale ge kennzeichnet wurde. 13 Die Debatten um die psychopathischen Sexualstraftäter waren jedoch nicht die einzigen, in denen zur Zeit der Weimarer Republik die Verknüp fung von männlicher Sexualität, Gewalt und Kannibalismus thematisiert wurde. Auch afro-französischen Soldaten, die während der Besetzung des Rheinlandes ( 19 1 8- 1930) als Teil der Besatzungstruppen eingesetzt wur den, wurde unterstellt, sie lebten ihre triebhaft-gewaltsame Männlichkeit ungehemmt aus. Lustmord, Vampirismus und Menschenfresserei gehörten ebenso zu den geäußerten Verdächtigungen. Im Mittelpunkt der unter dem Schlagwort der , Schwarzen Schmach' geführten Auseinandersetzungen standen die aus Westafrika stammenden Kolonialtruppen, die als "Tirail leurs Senegalais" oder "Senegal schützen" zusammengefasst wurden, ob wohl dies nicht die Heimat der Mehrheit dieser Soldaten war.14 Entspre chend werde ich im Anschluss an die Analyse der medizinisch psychiatrischen Fachliteratur zur Verbindung von Lustmord und Anthro pophagie sowie einer B etrachtung des exemplarisch herangezogenen Falls Peter Kürtens in einem dritten Abschnitt die Debatten um die ,Schwarze Schmach' genauer in den Blick nehmen. Auch zu diesem Themenkomplex sind in den vergangenen Jahren eine Reihe neuerer Forschungarbeiten erschienen, zu nennen sind hier in erster Linie die Studien von Fatima EI-Tayeb, Christian Koller, Jean-Yves Le Naour, Sandra Maß, Tina Campt und Iris Wigger.15 Ganz ähnlich wie die Studien zu den Weimarer Lustmördern beschränken sich diese For schungsarbeiten auf die Rekonstruktion des Diskurses vom afro französischen Soldaten als Repräsentationen eines radikal körperlich An deren und der dahinter stehenden Logik, welche schwarze Körper mit Na tur und Triebhaftigkeit identifiziert und in Opposition zu weißen Körpern
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Schetschke 2004, S. 359. Zur Bedeutung der Rede von der permanenten Krise für die Konstruktion der hegemonialen Männlichkeit siehe meine Erläuterungen zu Beginn von Kapitel 6. Koller 2001 a, S . 9 1 . Ausführlicher zur Forschungslage i m weiteren Verlauf dieses Kapitels.
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stellt, die ihrerseits mit Kultur und Zivilisation gleichgesetzt werden.16 Zwar weisen einzelne Stimmen, wie beispielsweise die von Maß darauf hin, dass die Vorstellung von Zivilisierung als historischem Prozess der Triebhemmung notwendig impliziert, dass die "Grenze zwischen Schwar zen und Weißen so strikt nicht war", allerdings werden keine konzeptio nellen Konsequenzen aus dieser Beobachtung gezogen, sondern weiterhin an dem binären Erklärungsmodell festgehalten. 1 7 Gleichzeitig, so werde ich im Folgenden mit Hilfe der vorliegenden Forschungsarbeiten zeigen, waren die Senegalschützen ebenso wie die Lustmörder in der Weimarer Zeit ein zentraler Referenzpunkt in der Konstruktion weißer, hegemonialer Männlichkeit. Allerdings blenden beide Forschungsdebatten zumindest teilweise die (post)koloniale Situation aus: Einerseits lassen die kriminalhistorischen Studien unberücksichtigt, dass der wilde Kannibale im ethnologisch anthropologischen und kolonialen Diskurs eine bereits etablierte Alterität war. Wie ich bereits im vorangegangenen Kapitel gezeigt habe, folgten die Erklärungsmuster, welche für das Verhalten krimineller weißer Menschen fresser heranzogen wurden, den traditionellen Argumentationslinien dieser Diskurse. Als ,Degenerierte' bezeichnet wurden Psychopathen als das Er gebnis individueller Regression auf das angeblich sittlich niedrigere Ni veau von sogenannten Wilden gedeutet. Andererseits weisen die Studien zu den Auseinandersetzungen um die Tirailleurs Senegalais zwar häufig auf das deutsche Kolonialprojekt als Erfahrungs- und Deutungshintergrund hin, lassen dabei allerdings unbeachtet, dass für die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen der Weimarer Republik die afro-französischen Soldaten Vertreter genau diejenigen wilden Kannibalen darstellten, welche als das evolutionäre Analogon der Lustmörder galten. Ausgehend von diesen Überlegungen werde ich auf den folgenden Sei ten in einem ersten Schritt den in der medizinisch-psychiatrischen und kriminologischen Fachliteratur propagierten Zusammenhang zwischen männlicher Sexualität und Kannibalismus eingehender beleuchten. Ich werde damit eine Spur aufnehmen, die im vorangegangen Kapitel über die Korporealität des psychopathischen Kannibalen bereits aufschien. Diese Rekonstruktion des lustmordenden Kannibalen und seine Bedeutung für das Verständnis von Männlichkeit werde ich anschließend ausgehend von dem Beispiel Peter Kürtens verdeutlichen. Dieser Fall, zeitlich ganz am Ende des betrachteten Geschichtszeitraumes zu verorten, eignet sich in besonderer Weise für eine solche exemplarische B etrachtung: einerseits aufgrund der günstigen Quellenlage, andererseits weil sich hier, unter Be zug auf die anderen Sexualstraftäter der Zeit der Weimarer Republik, der fachwissenschaftliche und auch öffentliche Diskurs um die Lustmörder 16
Vgl. etwa bei Maß 200 1 , S. 25-27; Maß 2006, S . 76- 105; besonders aus
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führlich bei Koller 200 1 a, S. 20 1-26 1 ; Lebzelter 1 985, S. 44-55. Maß 200 1 , S. 27. Vgl. dazu auch Kapitel l .
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voll entwickelt hatte. In einem dritten Schritt werde ich die Debatten um die afro-französischen Truppen zur Zeit der Rheinlandbesetzung nach zeichnen und ihre Bedeutung für die Konstitution weißer, hegemonialer Männlichkeit aufzeigen. Ich werde dabei demonstrieren, dass anstelle einer binär codierten Dif ferenz zwischen kannibalischem Anderen und weißer Männlichkeit viel mehr ein Kontinuum der (Ab-)Normalität entworfen wurde, in dem jeder einzelne Mann verortet werden konnte. Das entscheidende Kriterium zur Verortung innerhalb dieses Normalfeldes, so werden meine Ausführungen zeigen, war der je unterschiedliche Grad der Vollständigkeit der männli· chen Triebkontrolle je nach ,Rassen' - und Klassenzugehörigkeit, nach in dividuellem Gesundheitsheitszustand oder vermuteter , heriditärer Degene ration' . Dabei wird in Bezug auf die Historiographie der Männlichkeit in Deutschland in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg deutlich werden, dass die bisherigen Erklärungsansätze der Fachliteratur, die von der enthem menden Wirkung des Ersten Weltkrieges in Bezug auf das Auftreten der Lustmörder beziehungsweise von einer spiegelbildlichen Konstruktion der afro-französischen Soldaten ausgehen, zu kurz greifen. 18 Vielmehr wird der Bedarf nach einer (post)kolonialen Reorientierung der Geschlechterge schichte deutlich werden, die den komplexen wechselseitigen Konstituti onsprozess von Identität und Alterität nicht auf Projektion oder Abjektion reduziert, sondern versucht, dessen multidimensionalen Charakter zu er fassen, und die Produktivität der Verbindungen zwischen diesen beiden heterogenen Polen in den Blick nimmt.
5 . 1 Ü b e r m ä c h t ig, p r i m i t i v , s a d i s t i s c h : m ä n n l i c h e S ex u a l i t ät u n d L u st m o r d
Anachronistische Körper: Gewalt und männliche Sexualität
Ende der 1 8 80er Jahre entwickelte der Kriminalpsychologe, forensische Psychiater und Sexualpathologe Richard von Krafft-Ebing ( 1 840-1 902) in Auseinandersetzung mit Lombrosos These vom "geborenen Verbrecher" und den Forschungsergebnissen der Sozialanthropologie ein Modell zur Erklärung und Entstehung sexueller Pathologien. 1 9 Hierzu gehörten seiner 18
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Positionen, wie sie besonders prägnant vertreten werden von Tatar i n ihrer wegweisenden Studie Lustmord (Tatar 1997, S. 1 2) oder von Maß in Wei· ße Helden schwarze Krieger (Maß 2006 , S. 3 sowie Maß 2005, S. 1 38). Krafft·Ebing studierte Medizin an der Universität Heidelberg, wo er 1 863 promovierte. Durch zahlreiche Hospitationen im Anschluss an seine aka· demische Ausbildung (Berlin, Prag, Wien, Zürich) und seine Tätigkeit als Assistenzarzt an der Nervenheilanstalt Baden·Baden (ab 1 864) erwarb er sich umfangreiche praktische Erfahrung. 1 8 72 wurde er Professor für Psy· chiatrie an der Universität Straßburg und nur ein Jahr später Ordinarius der
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Ansicht nach auch Störungen, die im Zusammenhang mit einem soge nannten Lustmord zu kannibalischen Praktiken führen konnten. Ausgangspunkt von Krafft-Ebings Überlegungen war die Annahme, dass der Fortpflanzungstrieb als "Naturtrieb", der "allgewaltig, übermäch tig nach Erfüllung" verlange, die Hauptantriebskraft für das Handeln des Einzelnen sei. Er beurteilte die Wirkung dieses Triebes als ambivalent: zum einen sei er ein "Impuls zur Betätigung der Kräfte, zur Erwerbung von Besitz, zur Gründung eines häuslichen Herdes" und er erwecke "altru istische[ ] Gefühle" gegenüber anderen Menschen, gegenüber einer "Per son des anderen Geschlechts" und den gemeinsamen Kindern, und darauf aufbauend "gegenüber der gesamten menschlichen Gesellschaft". Auf die se Weise bilde der Fortpflanzungstrieb die Grundlage der sittlich moralischen Entwicklung der Menschheit insgesamt.'o Zum anderen, so Krafft-Ebing, sei diesem "Naturtrieb" aber auch eine zerstörerische, animalische Komponente eigen: so stehe der Mensch "in dem wollüstigen Drang, den Naturtrieb zu befriedigen, [ ... ] auf gleicher Stufe mit dem Tier", er mache ihn zu einem "willenlosen Sklaven" und als "entfesselte Leidenschaft" könne er, gleich einem "Vulkan, der alles ver sengt, verzehrt, einem Abgrund, der alles verschlingt", zerstören, was das Individuum sich aufgebaut habe.21 Das sittliche Potential des Geschlechts triebes, so Krafft-Ebing, habe sich im Verlaufe eines evolutionären Pro zesses entfaltet, der durch Klima, Sesshaftigkeit und besonders die Verbreitung des Christentums begünstigt worden sei." Ebenso wie And ree, Lombroso, Freud und viele andere seiner Kollegen sah Krafft-Ebing in den indigenen Gesellschaften der europäischen Kolonien die lebenden Repräsentanten des primitiven Urzustandes: "Auf primitiver Stufe er scheint die Befriedigung sexueller Bedürfnisse des Menschen wie die der Tiere. [ ... ] Auf dieser Stufe sehen wir [ . . . ] heute noch wilde Völker, wie z.B . die Australier, Polynesier, Malaien der Philippinen."" Die "primitiven
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Psychiatrie und Direktor der Landesirrenanstalt in Graz. Er verfasste zahl reiche Lehrbücher und Fachpublikationen, die weithin Anerkennung fan den und in viele europäische Sprachen übersetzt wurden. Neben seinem bekanntesten Werk, Psychopathia sexualis von 1 886 (hier vorliegend die Wiederveröffentlichung der 14. Auflage von 1 9 1 2 unter Krafft-Ebing 1993), sind zu nennen sein Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie (Krafft-Ebing 1 875), sowie das Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studirende (Krafft-Ebing 1879/80) und seine Darstellung Über gesunde und kranke Nerven (Krafft-Ebing 1885). Diese Werke machten ihn sowohl als forensischen Psychiater und Krimi nalpsychologen als auch als Sexualpathologen bekannt. Krafft-Ebing 1993, S. 1 , 2. Siehe auch ebd.: Vorwort 1 . Aufl., S. III. Ebd. Siehe: Ebd., S. 3-5. Krafft-Ebing unterschied hierbei zwischen dem "Geist des Christentums" und der kanonischen Lehre, in der, etwa in den Schrif ten Tertullians, eine entschiedene Misogynie festzustellen sei (ebd., S. 4). Ebd., S. 2. Die Kennzeichen dieser frühzeitlichen Entwicklungsstufe seien fehlendes Schamgefühl, das heißt der Vollzug des Sexualaktes in der Öf-
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Völker", die er hier nennt, wurden in der ethnologischen Fachliteratur alle samt kannibalischer Praktiken verdächtigt.2' Krafft-Ebing ging allerdings nicht davon aus, dass die zerstörerischen Kräfte des Triebes mit fortschreitender Zivilisation verschwunden seien, im Gegenteil: "Trotz aller Hilfen, die Religion, Gesetz, Erziehung und Sit te dem Kulturmenschen in der Zügelung seiner sinnlichen Triebe angedei hen lassen, läuft derselbe jederzeit Gefahr, von der lichten Höhe reiner und keuscher Liebe in den Sumpf gemeiner Wollust herabzusinken." Vielmehr bedürfe es, ,,[u]m sich auf jener Höhe zu behaupten" einer permanenten Anstrengung, "eines beständigen Kampfes zwischen Naturtrieb und guter Sitte, zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit."25 Auch Wissenschaftler, die einem weniger biologistischen Modell des Trieblebens anhingen, wie beispielsweise Sigmund Freud, sahen den , zivi lisierten' Menschen in diesem Kampf gefangen. Wie wir bereits gesehen haben, teilte Freud mit vielen seiner Zeitgenossen die Annahme, dass Zivi lisation (das heißt bürgerlich-weiße Normen und Werte) durch einen fort schreitenden evolutionären Prozess entstanden sei.26 Ausgehend hiervon sah er den individuellen Entwicklungsvorgang beeinflusst durch zwei Fak toren: zum einen durch die Erziehung, welche "die Ansprüche der kultu rellen Umgebung vertritt", fortgesetzt durch die "direkte Einwirkung des Kulturmilieus", wie er 1 9 1 5 in Zeitgemäßes über Krieg und Tod schrieb. Dies zwinge das Individuum zum Triebverzicht, die Grundlage von Kul tur. Jeder der "neu Ankommenden", wie es Freud formulierte, müsse daher lernen, "daß er denselben Triebverzicht leiste" wie bereits seine Vorfah ren. Dies wiederum sei ein lebenslanger Lernprozess, in dem die "bestän dige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang" stattfinde. Der
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fentlichkeit, Nacktheit sowie die brutale und entwürdigende Behandlung von Frauen: "Das Weib ist Gemeingut der Männer, temporäre Beute des Mächtigsten, Stärksten. " (ebd., S. 2.) Keine andere Religion außer dem Christentum habe die von Krafft-Ebing mit einem hohen Zivilisationsni veau gleichgesetzte "Gleichstellung des Weibes" so vollständig durchge setzt. Mit diesem Argument und unter Verweis auf die Polygamie, auf die Institution des Harem sowie die Vorstellung vom Paradies als Ort der Hou ris qualifizierte er den Islam als zivilisatorisch inferior ab (ebd., S. 5). Zur Verkopplung von Rassismus und Sexismus in der kriminologisch psychiatrischen Fachliteratur siehe auch: Uhl 2003, S. 159- 1 62 . Zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte der Rolle weißer Frauen im deutschen Ko lonialprojekt deuten darauf hin, dass die bürgerliche Weiblichkeitskon struktion, verkörpert in der deutschen weißen Frau, als Hinweis auf die zi vilisatorische , Überlegenheit' der Deutschen gegenüber den Kolonialisier ten aufgefasst wurde. Krafft-Ebings Ausführungen können damit als Teil dieses Kolonialdiskurses gelten. Vgl. dazu: Gouda 1993; Mamozai 1989, S. 1 36- 139; Wildenthal 1997; Eigler 1998 ; Reagin 200 1 ; Wildenthal 200 1, S . 133- 144; Walgenbach 2005, S . 1 25- 130. Vgl. etwa Andree 1 887, S. 43-48, 15 und 19. Krafft-Ebing selbst bezog sich an dieser Stelle auf Ploss 1891 . Krafft-Ebing 1 993, S. 5 . Siehe: Moore 2007, S. 46-50.
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andere Faktor, so Freud, sei die ererbte "Neigung (Disposition) zur Um wandlung der egoistischen in soziale Triebe" unter den modernen Men schen. Diesen falle es mithin leichter, sich den Zwängen der Erziehung anzupassen und egoistische in soziale Triebe umzuwandeln. Dieses Erbe sei jedoch kein Freifahrtschein zum kulturellen Höchstniveau, im Gegen teil: stets müsse ein "Stück dieser Triebumwandlung [ . . ] im Leben selbst geleistet werden."27 Die "Triebregungen", von denen Freud in diesem Zu sammenhang sprach, bildeten seiner Ansicht nach "die elementare Natur, bei allen Menschen gleichartig", und sie alle zielten "auf die Befriedigung gewisse[r] ursprünglicher Bedürfnisse". Zu diesen Trieben gehörten so wohl die "eigensüchtigen und die grausamen", von Freud auch die "primi tiven" genannt, als auch die sozialen wie etwa der Wunsch geliebt zu wer den. Äußere Zwänge wie die Erziehung und ihre Verinnerlichung führten .
dazu, dass die "primitiven Regungen" verdrängt würden und in anderen Formen ihren manchmal pathologischen Ausdruck fänden.28 Für den Kontext der hier zu untersuchenden Frage nach dem im wis senschaftlichen Diskurs konstituierten Zusammenhang von Kannibalis mus, Sexualität und Kriminalität ist es wichtig festzuhalten, dass Freud keine Bewertung der Triebregungen per se vornahm. Er stellte fest, dass die sogenannten primitiven, egoistischen und grausamen Regungen ge sellschaftlich negativ bewertet würden, dass aber die moralischen Katego rien gut und böse in diesem Zusammenhang streng genommen nicht an gemessen seien. Er ging vielmehr davon aus, dass jedem Individuum alle Triebregungen eigen seien und dass die sittliche Entwicklung der oder des Einzelnen weder determiniert noch eindeutig vorhersagbar sei. Entspre chend formulierte Freud: "Interessant ist die Erfahrung, daß die kindliche Präexistenz starker , böser' Re gungen oft gerade die Bedingung wird für eine besonders deutliche Wendung des Erwachsenen zum , Guten' . Die stärksten kindlichen Egoisten können die hilfreichsten und aufopferungsfähigsten Bürger werden; die meisten Mitleids schwärmer, Menschenfreunde, Tierschützer haben sich aus kleinen Sadisten und Tierquälem entwickelt."29
Gleichzeitig jedoch gab es aus Freuds Perspektive "keine , Ausrottung' des Bösen."3o Trotz aller individuellen sittlichen Anstrengungen und kulturel len Entwicklung verschwänden die egoistischen und grausamen Triebre gungen nie vollständig. Im Gegenteil: "jede frühere Entwicklungsstufe [bleibt] neben der späteren, die aus ihr geworden ist, erhalten" und die durch äußeren und inneren Zwang "gehemmten Triebe" warteten nur dar27 28 29 30
Freud 2003b, S . 42. Ebd., S. 4 1 . Ebd., S . 4 1 -42. Ebd., S. 4 1 .
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auf, "bei passender Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen."3! Nur die Verinnerlichung eines zuvor äußeren Zwangs könne potentiell gefähr liche Impulse in Schach halten, so Freud.32 Gleichzeitig sah er damit das Subjekt für sich selbst verantwortlich. Überspitzt formuliert: Da jeder Mensch dieselbe sittliche Entwicklung durchlaufen muss, gleichzeitig die zerstörerischen Triebe und Impulse aber nie ganz verschwinden, ist jeder Einzelne in der Verantwortung, nicht zum Kannibalen zu werden. Die Gefährdung der eigenen Sittlichkeit war für Krafft-Ebing eine ge schlechtsspezifische, denn der männlichen Sexualität war seiner Ansicht nach ein physiologisch höheres Maß an Aggressivität eigen als der weibli chen, was evolutionär auch zweckmäßig sei. Denn dem normalen männli chen, heterosexuellen Begehren stünde die Passivität und defensive Hal tung der Frau gegenüber. Ein Widerstand, so Krafft-Ebing "welchen zu überwinden seine Aufgabe ist und zu dessen Ueberwindung ihm die Natur den aggressiven Charakter gegeben hat."JJ Mit fortschreitender Zivilisie rung und Verfeinerung der Sitten sei aber die Anwendung von Gewalt ob solet geworden. Die "Eroberung des Weibes" finde nun "in der zivilen Form der Courmacherei, Verführung, List usw. statt" und nicht mehr, wie zu Urzeiten oder bei sogenannten primitiven Völkern, durch Gewalt, Raub oder "Wehrlosmachung des Weibes durch Keulenschläge".34 Zivili sation galt Krafft-Ebing damit als Ergebnis eines evolutionären Prozesses, in dem die sukzessive Einhegung und Restrukturierung der männlichen aggressiven Impulse zu modemen bürgerlichen, , zivilisierten' moralischen Normen und Verhaltensweisen führten.35 In Anlehnung an die von Anne McClintock geprägten Bezeichnung des "anachronistic space" für den ko lonialen Raum als eine "prehistoric zone of racial and gender difference" können wir hier also von dem männlichen weißen Körper als einem ana chronistischen Körper sprechen. 36 Unter "pathologischen Bedingungen" jedoch, so Krafft-Ebing, könne diese natürliche Aggressivität des Mannes monströse Formen annehmen, "ins Masslose wachsen und zu einem Drange werden, sich den Gegenstand seiner Begierden schrankenlos zu unterwerfen, bis zur Vernichtung, Tö tung desselben." Dieses "krankhaft gesteigerte Bedürfnis, sich das Weib zu unterwerfen" könne zu einer Störung führen, die Krafft-Ebing in An lehnung an die Schriften von Alphonse Donatien de Sade (1740-1814) "Sadismus" nannte.37 Er verstand unter diesem Begriff
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Ebd., S . 45, 44. Siehe: Ebd., S . 40. Krafft-Ebing 1993, S. 73. Dazu auch: ebd., S. 13. Ebd., S. 73. Siehe: Ebd., S. 1 -7 und 73. McClintock 1995, S. 30. Krafft-Ebing 1993, S. 73-74, 69. Zu de Sades Romanen und ihrer Interpre tation aus heutiger Perspektive siehe: Deleuze 2006, S . 1 5-23.
FLEISCHLICHES BEGEHREN I 205 "die Empfindung von sexuellen Lustgefühlen bis zum Orgasmus beim Sehen und Erfahren von Züchtigungen u.a. Grausamkeiten, verübt an einem Mitmen schen oder selbst an einem Tier, sowie der eigene Drang, um der Hervorrufung solcher Gefühle willen anderen lebendigen Wesen Demütigung, Leid, ja selbst Schmerz und Wunden widerfahren zu lassen."38
Sadistische Gelüste traten seiner Ansicht nach dann auf, wenn die natürli che und von ihm durchaus als gesund erachtete männliche Aggressivität aufgrund von "abnormen (degenerativen) Veranlagungen" mit Begehren, Lust und Gewalt verknüpft wurde.39 Krafft-Ebing erachtete daher Sadismus als "eine Störung oder Devia tion in der Evolution psycho-sexualer Vorgänge auf dem Boden psychi scher Degeneration.""" Diese bezeichnete er an anderer Stelle auch als eine "erbliche[ ] krankhafte [ ] Veranlagung des Zentralnervensystems", eine der "Neurasthenie":t Wie wir bereits im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, galt Medizinern und Psychiatern eine solch degenerative Veranlagung als eines der Hauptkennzeichen der Psychopathie. Sadismus konnte sich nach Ansicht Krafft-Ebings in verschiedenen Anomalien des Sexualtriebs äußern. Als wichtigste und für die gerichtliche Praxis bedeut samste Form galt ihm der sogenannte Lustmord, die Tötung eines Men schen zur B efriedigung sadistischen Begehrens.42 Hierbei könne es auch "zu weiteren Akten der Brutalität gegen den Leichnam kommen", etwa
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Krafft-Ebing 1993, S. 69. In der ersten Auflage formulierte Krafft-Ebing dies sogar noch geschlechts spezifischer, indem er Sadismus definierte als eine Perversion, die "darin besteht, dass Acte der Grausamkeit, am Körper des Weibes vom Manne verübt" würden und zwar als Selbstzweck zur "Be friedigung einer perversen Vita sexualis", zit.n.: nach Eulenburg 1902, S. 2 HiO). Des Weiteren benannte Eulenburg Jacques-Joseph Moreau (1 8041 884) als den Schöpfer des Begriffes Masochismus (siehe: ebd., S. 1). Mo reau war bekannt geworden durch seine Studien zur Wirkung von Canna bis, die er nach einer ausgedehnten Asienreise begonnen hatte, veröffent licht unter dem Titel Du hachisch et de I 'alienation mentale ( 1 845). Wenn Eulenburg Recht hatte mit seiner Vermutung, dann könnte sich hier ein weiterer Zusammenhang zwischen Kolonialdiskurs (bzw. seiner Spielart des Orientalismus) und dem psychiatrischen Wissen eröffnen. Krafft-Ebing 1993, S. 70. Damit war eine der beiden Ursachen für patho logische sexuelle Störungen benannt, die andere lag seiner Ansicht nach "in dem vielfachen Missbrauch der Generationsorgane", also der Onanie, begründet (ebd., S. 44 (Zitat), 45-46). Ebd., S. 7 1 . Ebd., S. 45, Krafft-Ebing 1900, S . 36-37. In diesem Sinne auch: Schrenck Notzing 1898, S. 19. Siehe: Krafft-Ebing 1993, S. 75-82. Krafft-Ebing nannte neben dem Lust mord auch die Nekrophilie (ebd., S. 82-86), die Flagellation und das "Blu tigsteehen" von Frauen (S. 86-9 1), die Besudelung (S. 9 1 -95), die Miss handlung von Knaben (S. 97- 100) oder von Tieren (S. 100-102). Darüber hinaus unterschied er auch Fälle von symbolischem Sadismus (S. 95) und ideellem Sadismus (S. 95-97), in denen es nicht zu gewalttätigen Handlun gen im engeren Sinne komme.
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dem Wühlen in den Eingeweiden, der Zerstückelung der Leiche, oder es könnten "Gelüste nach dem Fleisch des ermordeten Opfers auftreten" und entsprechend "Teile der Leiche verzehrt werden".43 Krafft-Ebing charakte risierte den Lustmord aus diesem Grunde auch als "Wollust potenziert als Grausamkeit" sowie als "Mordlust bis zur Anthropophagie".44 Entspre chend wurden die Sexualstraftäter der Weimarer Zeit Friedrich Haarmann, Karl Großmann und Peter Kürten daher nicht nur als Menschenfresser, sondern auch als Lustmörder und Psychopathen bezeichnet. Frauen kamen nach dieser Vorstellung überhaupt nur dann in die Ge fahr, mit ihren Trieben in Konflikt zu geraten, wenn sie , anormal' entwi ckelt waren. Die "geistig normal entwickelt[e] und wohlerzogen[e]" Frau habe nur sehr schwach ausgeprägte sexuelle Instinkte, und diese seien komplementär zu denen des Mannes strukturiert im Sinne einer "willige[n] Unterordnung unter das andere Geschlecht"'<s Anders sei dies hingegen bei Prostituierten, Arbeiterinnen und indigenen Frauen, die aufgrund ihrer vermuteten Triebhaftigkeit als pathologische Erscheinungen galten. Diese relationale, klassenspezifische sowie nach rassistischen Kriterien struktu rierte Geschlechterkonstruktion entsprach damit der zeitgenössischen bür gerlichen Vorstellung von der Ordnung der Gesellschaft.46 Krafft-Ebings Verständnis des Zusammenhangs von Sadismus und se xuell motiviertem Mord wurde breit rezipiert, wie das Beispiel des ein gangs bereits zitierten Meyerschen Konversationslexikon zeigt, das sich teilweise wörtlich bei Krafft-Ebing bedient, ohne sein Werk jedoch expli zit zu nennen: "Sadismus (nach den Romanen des Marquis de Sade), die Verquickung der se xuellen Triebe mit unnatürlicher Freude an Grausamkeiten. Diese Verbindung von Wollust mit der Lust an Schmerzen [ ... ] der geliebten Person äußert sich in schmerzhaftem Pressen, Kratzen, Beißen, steigert sich zum Blutigstechen, Schlagen, Geißeln, Besudeln und gipfelt in Notzucht, Lustmord, Leichenschän dung (Nekrophilie), Anthropophagie. Dieser Verirrung unterliegen meist Män ner, und von vielen Naturvölkern wissen wir, daß bei ihnen der Raub, ja selbst
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Ebd., S. 76 und 79. Ebd., S . 75. Anstelle einer ausdrücklichen Definition listete Krafft-Ebing eine Reihe von Fällen auf, die seiner Ansicht nach besonders typische Bei spiele dieser Äußerungsform des Sadismus seien. Hierzu gehören: Andreas Bichel (S. 75-76), Jack the Ripper oder "Jack, der Aufschlitzer" (S. 77), Vinzenz Verzeni (S. 80-82). Ebd., S. 1 3 , 1 5 1 . Vgl. dazu: Gilman 1985a und Frevert 1995a, S. 1 8-50, 1 33- 165. Entspre chend setzte sich in der Kriminologie bis heute das Profil einer Lustmörde rin nicht durch, stattdessen etablierten sich andere Typen als die angeblich typischen Verbrecherinnen, beispielsweise die Kindmörderin, die Brand stifterin oder die Prostituierte (siehe: Uhl 2003, S . 9 1 - 1 46; Scott, H. 2005, S . 163-164).
FLEISCHLICHES BEGEHREN I 207 die Wehrlosmachung der Frau durch Keulenschläge die Liebeswerbung er " setzt."
Flie ßende Übergänge: Notwendigkeit der Triebkontrolle
Angesichts dieser ,natürlichen' Aggressivität der männlichen Sexualität konnte die Grenze zwischen Norm und pathologischer Abweichung nicht eindeutig bestimmt werden. Psychiater und Mediziner vertraten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert grundsätzlich die Vorstellung eines Konti nuums von (Ab-)Normalität. Die damalige Forschung skizzierte das Bild eines "Normalfeld[s] ,geistige[r] Gesundheit' mit anormalen Anschlußzo nen"." Krafft-Ebings Terminologie war in der Fachwelt nicht unumstrit ten. Das konkurrierende Konzept zur Bezeichnung lustbesetzter Gewalt handlungen war das der "Algolagnie", eingeführt und propagiert von so renommierten Forschern wie Albert Eulenburg oder Iwan Bloch:9 Anders als Krafft-Ebing, der die Ausübung beziehungsweise das Erleiden von körperlicher Gewalt, Grausamkeit und Macht als lustauslösende Faktoren ansah, gingen diese Forscher davon aus, dass die Schmerzerfahrung, aktiv oder passiv, mittelbar oder persönlich, den primären sexuellen Reiz dar stelle. Die Freude an der Gewaltausübung sei dem nachgeordnet. Dieses Erklärungsmodell war weit weniger geschlechtsspezifisch als das von Krafft-Ebing vertretene: Frauen konnten demnach sowohl aktive als auch passive Sexualpartnerinnen sein. Während Krafft-Ebing postulierte, es gebe keine Sadistinnen, sprach beispielsweise Eulenburg voI? "sadisti schen Weibtypus".5o Gleichzeitig war es auch nicht auf heterosexuelle Se xualkontakte beschränkt, vielmehr thematisierten Eulenburg, Bloch und Schrenck-Notzing ganz explizit homosexuelle Praktiken. Da nach ihrer Ansicht die Frage nach Lust durch Grausamkeit oder Lust durch Schmerz
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"Sexualpsychologie", in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 1 8 ( 1907), S . 3 9 1 . Hierbei handelt e s sich u m eine zum Teil wörtliche Wie dergabe des entsprechenden Abschnittes in Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, der wiederum lautet: "Die Eroberung des Weibes findet heutzu tage in der zivilen Form der Courmacherei, Verführung, List usw. statt. Aus der Kulturgeschichte und der Anthropologie wissen wir, dass es Zei ten gab und noch Völker gibt, in welchen die brutale Gewalt, der Raub, selbst die Wehrlosmachung des Weibes durch Keulenschläge die Liebes werbung ersetzte. Es ist möglich, dass atavistische Rückschläge in derarti ge Neigungen zu Ausbrüchen von Sadismus beitragen." (Krafft-Ebing 1 993, S. 73, Hervorhebung EB.) Zu den anderen von Krafft-Ebing aufge führten und hier angesprochenen Äußerungsformen von Sadismus siehe ebd., S. 82-102. Brink 2002, S. 4 1 . Siehe: Schrenck-Notzing 1 892, S. 125; Eulenburg 1 902, S. 5 und Bloch 1907, S. 616. Eulenburg 1902, S . 4.
208 I KANNIBALE-WERDEN
nie eindeutig zu beantworten war, übernahmen sie häufig auch den von Krafft-Ebing besetzten Begriff.5' Karl Birnbaum schätzte den Anteil der psychopathisch Veranlagten an der Gesamtbevölkerung auf zehn Prozent.52 Die Experten vermuteten eine hohe Dunkelziffer, da wie im vorherigen Kapitel gesehen die Symptome der Psychopathie häufig auch (phasenweise) bei ,unbelasteten' Personen auftreten konnten. Letztlich sei aber unklar, wer mit einer sogenannten erblichen degenerativen Veranlagung ,kontaminiert' sei und wer nicht. Krafft-Ebing selbst wies explizit darauf hin, dass zwischen "originären und erworbenen Fällen" von Sadismus nicht unterschieden werden könne. Die Symptome zeigten sich möglicherweise erst relativ spät im Leben ei nes dergestalt erblich B elasteten: Erst wenn der Betroffene mehrfach fest gestellt habe, dass "der normale Akt" für ihn unbefriedigend sei, und erst nach der "Ueberwindung der ethischen und ästhetischen Gegenmotive" komme es "zum Durchbruch des krankhaften Triebes nach aussen. "53 In diesem Modell wurde die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eigenen Triebe, über die eigene Sexualität zum entscheidenden Kriterium in der Frage der psychischen Gesundheit und der Normalität eines Man nes. Dabei führten bereits Gedankenspiele über normabweichendes Ver halten zur Aufweichung der durch Sozialisation und Zivilisation aufgebau ten Hemmschwelle und somit auch zu kriminellen Handlungen. Wie der Philosoph und Psychologe Richard Herbertz in seiner Studie Verbrecher Dämmerung anlässlich der Debatten um die Fälle Fritz Haarmann und Karl Denke ausführte: "Es kann vorkommen, daß über diesem Ausspinnen lebensuntauglicher Gedanken die hemmende Instanz, die Zensur gleich sam unachtsam wird, , einschläft' und der Trieb diesen willkommenen Moment der Unachtsamkeit seines Gegners sogleich zur Durchsetzung seiner Zwecke benutzt."54 Wie immer wieder betont wurde, war es im un günstigen Falle ,,[v]on der theoretischen Vorstellung [ . . ] zur praktischen Tat [. . . ] nur ein kleiner Schritt" und der Übergang zur Kriminalität flie ßend: 55 .
"Ist nur der Trieb stark und die zensurierende Instanz unachtsam oder schwach (dies letztere nennen wir dann: sittliche Schwäche oder ,Verwahrlosung') so wird der Impulsive auch zu verbrecherischen Handlungen schreiten, in denen er explosiv die Vollzugsspannung seiner verdrängten, triebbesetzten Gedanken ab reagiert."56
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Siehe: Eulenburg 1902, S . 5-6 sowie Bloch 1907, S. 6 14-619. Siehe: Birnbaum 1909, S . 75. Krafft-Ebing 1993, S . 74. Herbertz 1925, S. 36. Zu Richard Herbertz' Biographie vgl. Kapitel 6. Hanss 1925, S. 295-296. Herbertz 1925, S. 40.
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Auf diese Weise zeichneten Psychiater, Mediziner und Kriminologen ein Kontinuum von (Ab-)Normalität männlicher Sexualität, in dem einerseits j eder einzelne Mann in Relation zu anderen Männern gleicher oder anderer Hautfarbe, sozialen Status oder Alters (sowie zu Frauen) zu verorten war. Andererseits war diese Verortung weder eindeutig noch stabil. Im Gegen teil, diese Standorte waren fluide und veränderten sich je nach Lebensab schnitt und -umständen (Stress, Alkoholeinfluss oder Alter). Damit war umgekehrt der kannibalische Lustmörder nicht so sehr, wie Peter Becker es formuliert, "die Projektionsfläche alles dessen, was für das bürgerliche Selbst nicht der Fall sein konnte", sondern im Gegenteil das, was nach An sicht der medizinisch-psychiatrischen Experten bei jedem männlichen Körper der Fall war.57 Entsprechend mussten Männer Vorkehrungen tref fen, um dessen Ausbruch zu verhindern. Als einziges Mittel sahen die Fachleute die lückenlose Überwachung und die permanente Kontrolle der eigenen Sexualität durch die Männer selbst. Die Fähigkeit hierzu, der starke (männliche) Wille galt wiederum als das Kennzeichen des gesunden weißen Mannes und sollte diesen gegen über kranken und erblich belasteten weißen, aber auch gegenüber nicht weißen indigenen Männern auszeichnen. Umgekehrt galt Willensschwä che, wie wir bereits gesehen haben, als generelles Charakteristikum der Angehörigen der sogenannten Naturvölker sowie der kriminellen Psycho pathen. Erstere galten den Forschern als triebhafter und affektgesteuerter als Weiße. Bei ihnen herrsche ein "Übergewicht der Affekte und der Man gel an Überlegung", sie stünden unter der "Herrschaft augenblicklicher Antriebe" und es fehle ihnen an "Selbstüberwindung" und ganz allgemein an sittlichen Grundsätzen, so die Lehrmeinung.58 Letztere erlägen beson ders leicht den Einflüsterungen ihrer ungezügelten Phantasien und Triebe. In diesem Sinne wurden die "erblich disponierten Persönlichkeiten" mit den angeblichen Wilden parallelisiert. 59 Sowohl Ethnologen als auch Mediziner, Kriminologen und Juristen sahen Menschen mit einer angeb lichen degenerativen Veranlagung als "niedrigstehende Weiße" an und bezeichneten sie als "Übergang" zwischen den primitiven Naturvölkern und den zivilisierten Europäerinnen und Europäern"" In diesem Sinne wurde Sadismus von Krafft-Ebing auch als individuelle "psychische[ 1
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Becker, P. 2002, S . 12 (Hervorhebung EB). Thilenius 1920b, S. 1 1 2. Wie bereits dargestellt, galt das sich daran angeb lich anschließende Fehlen moralischer Skrupel als Hauptgrund für die wei te Verbreitung der Menschenfresserei unter der Bevölkerung der "inner afrikanischen Zone der Kannibalen " (Andree 1 887, S. 40.) "Der innere Zwang zu [Suggestivassociationen] ist bei einem unterentwi ckelten Geistesleben, z.B. bei Kindern und wilden Völkern etwas ganz ge wöhnliches, kann daher bei erblich disponirten [sie] Persönlichkeiten krankhaft gesteigert sein und zu bleibenden Suggestiveffecten führen." (Schrenck-Notzing 1 898, S . 15.) Thilenius 1920b, S . 1 1 1 .
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Degeneration" oder auch als "atavistischer Rückschlag" auf das sittliche Niveau eines Wilden interpretiert.61 Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen wurde die Frage der Zu rechnungsfähigkeit in der Fachliteratur neu diskutiert. In dieser Debatte wurden zwei ganz grundsätzliche Fragen gestellt. Erstens: Kann der Sexu altrieb so stark sein, dass die freie Willensbestimmung eingeschränkt wird? Und zweitens, ist angesichts der natürlichen Aggressivität männli chen B egehrens eine abnormal gewalttätige männliche Sexualität auszu machen? Diese Frage verweist auf die Herstellung einer männlichen Nor malität, ein Problem, mit dem sich bereits Angus McLaren in seiner Studie The Trials 0/ Masculinity62 auseinandergesetzt hat. In den Gerichtsver handlungen gegen die sogenannten Lustmörder gewannen diese beiden Fragen eine besondere Brisanz, da von einer entsprechenden Begutachtung die Entscheidung für oder gegen die Verhängung der Todesstrafe abhän gen konnte. Aus dem Kontinuum der (Ab-)Normalität wurde eine Frage von Leben oder Tod.
5 . 2 U n d s e i d e r T r i e b n o c h so m ä c h t i g : S e l b s t ko n t ro l l e u n d Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t
Peter Kürte n : Der Vampir von D üsseldorf
Peter Kürten, geboren am 26. Mai 1 883 in Köln-Mülheim, war der letzte Straftäter, der in der Zeit der Weimarer Republik mit kannibalischen Prak tiken in Verbindung gebracht wurde." 1 895 zog die Familie Kürten nach Düsseldorf-Grafenberg, wo Peter Kürten 1 897 eine Ausbildung in dem Betrieb begann, in dem bereits sein Vater arbeitete. Kürten wuchs in einer familiären Situation auf, die wir heute , schwierige Verhältnisse' nennen würden: Sein Vater war häufig betrunken, in den Prozess akten wird er als "heriditärer Alkoholiker" bezeichnet, der regelmäßig seine Ehefrau sowie die gemeinsamen Kinder schlug und im gleichen Jahr, in dem Peter Kürten 61
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Krafft-Ebing 1993, S . 71, 73. Ein Konzept, das sich bis in die Zeit des Na tionalsozialismus und darüber hinaus als wirkungsmächtig erwies. Siehe dazu: Schneider, S. 2003. Wie Brückweh überzeugend schildert, trat ein grundlegender Wandel erst in den 1960er Jahren ein, der sich besonders deutlich in den Auseinandersetzungen um den Fall Jürgen Bartsch be merkbar machte (Brückweh 2006, S. 194-225). McLaren 1997, S. 9. Sofern nicht anders vermerkt, orientiert sich die Zusammenfassung hier an der Zeittafel, die von Elisabeth Lenk und Katharina Kaever ihrer Quellen sammlung Peter Kürten, genannt der Vampir von Düsseldorf beigefügt worden ist (LenklKaever (Hg.) 1997, S. 333-335) sowie der Rekonstruk tion seines Lebenslaufes im Urteil gegen Kürten (Urteil und Urteils be gründung im Prozess gegen Peter Kürten, 22.4 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf, 17/543, Bll. 4-103).
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seine Lehrstelle antrat, eine seiner beiden Töchter in der Anwesenheit sei nes damals 14-jährigen Sohnes vergewaltigte. Kürten war als einziger der hier untersuchten Straftäter verheiratet. Er hatte seine spätere Frau Auguste S charf in Altenburg kennen gelernt, wo hin er 1 9 2 1 nach Verbüßung einer längeren Haftstrafe gezogen war. Hier fand er zunächst Unterkunft bei einer seiner beiden Schwestern und Arbeit in einer Eisengießerei. Er wurde Vertrauensmann des Metallarbeiterver bandes, Mitglied im Betriebsrat sowie im lokalen Zweig des Reichsban ners. Auguste Scharf und Kürten heirateten im Jahr 1 923. Zwei Jahre dar auf zog Kürten zurück nach Düsseldorf, wo er mehrere außereheliche Ver hältnisse hatte. Auguste Kürten folgte ihrem Mann erst im Oktober dessel ben Jahres. Im Jahre 1 926 kam es zu mehreren Gerichtsverfahren gegen Kürten wegen Heiratsschwindels, Notzuchtsverdachts und Urkundenfäl schung, in deren Verlauf seine Frau erstmalig von seinem Vorstrafenregis ter erfuhr. Kürten wurde in diesem und den beiden folgenden Jahren im mer wieder für einige Monate inhaftiert (Heiratsschwindel, Notzucht). Auf freiem Fuß, ging er stets immer wieder außereheliche Verhältnisse ein, beging mehrere Brandstiftungen sowie Überfälle ohne tödlichen Ausgang auf mehrere Frauen. Kürten erfüllt damit neben Denke das Profil des sozi al unauffälligen serial killer, das heute die Diskussionen um die Serien mörder beherrscht, in dem der Täter als ganz normal erscheinender Mann charakterisiert wird.64 Den ersten durch die Untersuchungsbehörden im Zusammenhang der Düsseldorfer Mordserie rekonstruierten Mordversuch unternahm Kürten am 2. Februar 1 929 an der 55-jährigen Apollonia Kühn. Bis zu seiner Ver haftung am 24. Mai 1 930 verübte er, so das Urteil des Gerichts, neun Morde, zwei davon "in Tateinheit mit vollendeter Notzucht", in einem Fall in Tateinheit mit "gewaltsamer Vornahme unzüchtiger Handlungen" sowie sieben Mordversuche.65 Die Gruppe seiner Opfer war deutlich heterogener als die der drei anderen im Rahmen meiner Untersuchungen diskutierten Straftäter. So ermordete er eine ältere Frau, einen Mann mittleren Alters und zwei weibliche Kinder. Die meisten seiner Opfer waren jedoch junge allein stehende Frauen, die überwiegend als Dienstmädchen in Düsseldorf arbeiteten. Anders als Haarmann oder Großmann verfasste Kürten Beken nerschreiben. Eines davon sandte er am 1 3 . Oktober 1 929 an die Polizei verwaltung in Düsseldorf und ein anderes am 8. November 1 929 an die Redaktion der kommunistischen Zeitung Freiheit. In beiden Schreiben bezeichnete er die Orte, an denen er jeweils eine Leiche eines Opfers ver64
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Siehe: Seltzer 1998, S. 1 25-140. Diese Normalität wird sogar als das pa thologische Moment angesehen: Solchermaßen angepasst entstehe das Be dürfnis, sich durch Mord (als Richter über anderer Menschen Leben oder Sterben) zu individualisieren, Grenzen zwischen sich und der Umwelt her zustellen. Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Peter Kürten, 22.4. 193 1 , HStA Düsseldorf, 1 7/543, BI. 2 .
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steckt hatte. Diese Briefe wurden in großer Zahl nachgeahmt, erschwerten die polizeiliche Arbeit erheblich und trugen zu einem sich ausbreitenden Klima der Angst bei:· Aus den Aussagen der Frauen, die Kürtens Mordversuche überlebt hat ten, sowie aus seinen Geständnissen wird die für ihn typische Vorgehens weise deutlich: Kürten, stets sorgfältig gekleidet, sprach die Frauen auf öffentlichen Plätzen, oft auf Rummelplätzen oder Kirmesveranstaltungen an und führte sie in einsamere Gegenden, wo er dann Geschlechtsverkehr von den Frauen erzwingen wollte. Wehrten sich die Frauen lautstark und energisch oder kamen unerwartet Passantinnen und Passanten vorbei, konnten die Frauen fliehen. Kürten tötete in der Regel mit Hilfe von spit zen Werkzeugen, beispielsweise einer Schere, und versteckte die Leichen anschließend. In einzelnen Fällen setzte er diese auch in Brand; oft nahm er Besitztümer der Getöteten wie Handtaschen oder kleinere Kleidungs stücke an sich:' Nach seinen eigenen Angaben trank Kürten das Blut sei ner Opfer aus den von ihm beigebrachten Kopfverletzungen. Angelehnt an diese Vorgehensweise wurde er auch der "Vampir von Düsseldorf' ge nannt.·8 Am 23. Mai 1 930 gestand Kürten seiner Frau gegenüber seine Taten ein, nachdem diese ihm mitgeteilt hatte, dass Polizeibeamte sich in seiner Abwesenheit nach ihm erkundigt hätten. Auguste Kürten war nach eigener Aussage ahnungslos und reagierte schockiert.·· Kürten wollte abtauchen, regte aber ein letztes Treffen am darauf folgenden Tag an, dessen Termin und Ort Auguste Kürten der Polizei anzeigte. Kürten wurde daraufhin am 24. Mai 1 930 verhaftet.'o Er legte ein umfassendes Geständnis ab, zu dem er - nach einem Widerruf - einen Monat später wieder zurückkehrte.'! Vor Beginn der Hauptverhandlung wurde an Kürten eine ganzen Serie von medizinisch-psychiatrischen Untersuchungen vorgenommen. Die erste erfolgte durch den Gerichtsarzt Karl Berg, der auch die medizinisch66
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Siehe: Vennerk über Zahl der eingegangenen Anzeigen und Zuschriften in den Mordsachen ausschI. der Fälle, für die Staussberg als Täter in Frage kommt, 1 1 . 1 . 1 930, HStA Düsseldorf, 171734, BI. 1 ; H. Kortig, ,, 15000 Mrk Belohnung. Der Massenmörder von Düsseldorf', Deutsche Kriminal polizeiblatt (Sondernummer) 1930, zit.n.: LenklKaever 1997, S. 1 6-40, hier S. 35, 37. Siehe: Protokolle der Vernehmung von Peter Kürten, 30. 5 . 1930, HStA Düsseldorf, 17/5 3 1 , Bll. 33-200. Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2. 1 . 1 9 3 1 , HStA Düsseldorf, 17173 1 , Bll. 226-227; "Der Vampir von Düs seldorf', in: Vorwärts, 14.4. 193 1 . Siehe: Protokolle der Aussagen von Auguste Kürten, 24.5. 1930, HStA Düsseldorf 17/5 3 1 , Bll. 8-9, 19-20. Siehe: Bericht über die Verhaftung von Peter Kürten, 25. 5 . 1930, HStA Düsseldorf 1 7/53 1 , BII. 1 2- 14. Siehe: Geständnis Peter Kürtens, 30.5. 1 930, HStA Düsseldorf, 17/5 3 1 , Bll. 30-32; Protokolle der Vernehmung von Peter Kürten, 30.5. 1 930, ebd., Bll. 33-200.
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forensischen Untersuchungen in der Ermittlungsphase geleitet hatte.72 Es folgten drei psychiatrische Untersuchungen, die von unterschiedlichen Ex perten geleitet wurden; die erste wurde durchgeführt von Franz Sioli, Pro fessor an der Medizinischen Akademie Düsseldorf, der zu diesem Zeit punkt auch die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Düsse1dorf-Grafenberg an der Psychiatrischen Klinik dort leitete.73 Die zweite nahm Max Raether vor, damals Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau.74 Die dritte und letzte unternahm Arthur Hübner, Professor für Psychiatrie an der Uni versität Bonn und Direktor der Nervenklinik der dortigen Universität.7' Die Gutachter verfolgten durchaus sehr unterschiedliche Herangehensweisen. So vertraten Franz Sioli und sein Team einen eher traditionell anthropolo gisch-kriminologischen Ansatz, deutlich erkennbar an den Bemühungen um die Rekonstruktion der sogenannten erblichen B elastung Kürtens und der schematischen Darstellung ihrer Ergebnisse in einer genealogischen Tafel analog zu den Verbrechergenealogien der Lehrbuchliteratur.76 Arthur Hübner hingegen arbeitete, wie der zuständige Staatsanwalt es formulierte, nach "modernen psychoanalytischen Grundsätzen".77 Die Experten kann ten die Arbeit ihrer Vorgänger und nutzen diese auch für ihre Argumenta tion.78 Diese ausführliche Form der Begutachtung durch medizinisch psychiatrische Experten wurde vom Gericht für notwendig erachtet, um die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten einschätzen zu können. War 72
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Nach eigenen Angaben beobachtete Berg Kürten von Juni 1930 bis Juni 193 1 (Berg 2004, S. 1 37). Die hier zitierte Studie wurde zum ersten Mal veröffentlicht in der Deutschen Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 17,4+5 (1931), S. 247-347. Das eigentliche Gutachten schloss Berg hingegen mit seinem Bericht vom 26.9. 1930 ab (Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sio li, 14. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 17/728, BI. 12). Untersuchungszeitraum: 1 . 10.-2. 1 1 . 1930. Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 17/728. Untersuchungszeitraum 4. 1 1 .- 1 3 . 1 2. 1 930. Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2 . 1 . 1 93 1 , HStA Düs seldorf, 17/73 1 . Untersuchungszeitraum 20. 12. 1930-6.3. 193 1 . Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3 . 1 93 1 , HStA Düs seldorf, 17/730. Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 1 7/728, BII. 44-52. Zu den Verbrechergenealogien siehe: Becker, P. 2002, S. 340-344. Schreiben Oberstaatsanwalt Jansen an den Vorsitzenden des Schwurge richts Rose, 30. 3 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf 17/541, BI. 1 7 1 . So verwiesen beispielsweise Raether und Hübner auf die Ergebnisse der anthropologisch-kriminologischen Anamnese ihres Vorgängers Sioli. Sie he: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2 . 1 . 193 1 , HStA Düsseldorf, 17/73 1 , BI. 1 sowie das Ärztliche Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf, 1 7/730, Bll. 2, 6 1 -66.
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diese zur Tatzeit nicht gegeben, konnten sogenannte mildernde Umstände angenommen werden.7' Im Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1 87 1 selbst wurden diese nicht explizit definiert, allerdings wurden im vierten Abschnitt des RStGB die möglichen "Gründe welche die Strafe ausschlie ßen oder mildern" aufgeführt. In § 5 1 war dort festgelegt, dass eine strafba re Handlung nicht vorlag, "wenn der Thäter zur Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestirnmung ausgeschlossen war."80 Eine "Zurechnungsunfähigkeit" war demnach nur dann vorhanden, wenn bei dem Täter/der Täterin nachweislich "sowohl eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit, wie auch zugleich ein Ausschluß der freien Willensbestirnmung" bestand und wenn "dieser letz tere durch jene krankhafte Störung verursacht worden"" war. Um dies festzustellen, war der Vorsitzende Richter gehalten, Sachverständige zu berufen, die ebenso wie Zeuginnen und Zeugen vereidigt wurden, und die ein Gutachten über den Geisteszustand der Angeklagten abgaben. 82 Beherrschung der Perversion : Zurech nungsfähigkeit und Normalisieru ng
Wie nun beurteilten die im Falle Peter Kürtens bestellten Gutachter die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten? Zunächst einmal diagnostizierten die Experten bei Kürten grundlegende pathologische Zustände. So be zeichnete Raether ihn als "erblich be1astete[n] , mit Milieuschäden von Kind auf behaftete[n] Psychopath[en] mit ausgeprägt sadistischem Ge schlechtstrieb", der "zügellos in der Wahl seiner Mittel zur Befriedigung seiner sadistischen Geschlechtslust" gewesen sei. 8J Sioli zählte als Kürtens ererbte Charakteristika auf: Geisteskrankheit ("in geringem Maße"), Kri minalität, Alkoholismus sowie eine generelle sexuelle Psychopathie, wor unter Sioli "Großmannssucht, lebhafte[r] Phantasietätigkeit, Reizbarkeit und gesteigerte[r] Sexualität" zusammenfasste.84 Hübner seinerseits cha79
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Damit führte das RStGB das im Strafgesetzbuch Preußens ( 1 85 1 ) vorgese hene und aus dem französischen Recht (code penal, 1 8 10) übernommene Konzept der ,mildernden Umstände' fort. (Siehe: Kaufmann 1 990, S. 2027.) Rubo 1992, S. 467. Im Kommentar zur Auslegung des RStGB hieß es da zu: "Man hat unter denselben alles dasjenige zu verstehen, was eine milde Beurtheilung des für schuldig erklärten Angeklagten rechtfertigt. Ob der gleichen vorhanden und was überhaupt geeignet sei, eine milde Beurthei lung zu rechtfertigen, ist Gegenstand thatsächlicher Prüfung in jedem ein zelnen Falle." (Rubo 1992, S. 1 14 (RiO) sowie weiterführend S. 467-473.) Ebd., S . 470 (HiO). Siehe: Ebd., S. 654-661 sowie Groß, H. 1914, S. 2 14-2 1 5 . Ärztliches Gutachten i n der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2. 1 . 193 1 , HStA Düsseldorf, 17/7 3 1 , BI. 269. Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 17/728, BI. 267.
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rakterisierte Kürten als einen "mit einer hysterischen Komponente behafte ten Psychopathen" und sprach von seiner "Grossmannssucht".·5 Der Ge richtsarzt Berg attestierte Kürten einen "abnorm gerichteten Geschlechts trieb[sj", der ihn als "Sadisten und Lustmörder" qualifiziere.·6 Diese Kate gorisierung Kürtens als Sadist wurde von allen beteiligten Gutachtern ge teilt. Die pointierteste Zusammenfassung dazu findet sich im Gutachten von Sioli: "Kürtens Geschlechtstrieb ist ein pervertierter Trieb; es handelt sich um einen echten Sadismus, der die sexuelle Befriedigung bis zum Samenerguss in der Durchführung von Gewalttaten findet, im Quälen und Schmerzbereiten, Quälen von Tieren und Einzelpersonen und der Gesamtheit, dem Publikum. [ . . . ] Die Ta ten von Kürten qualifizieren sich daher als sadistische Akte. ".7
Nach einschlägiger Fachliteratur, beispielsweise nach Ansicht Ernst Schultzes, selbst Gutachter im Fall Fritz Haarmann, waren diese Diagno sen durchaus geeignet, die Zurechnungsfähigkeit eines mutmaßlichen Tä ters ernstlich in Frage zu stellen. Aus psychiatrischer Perspektive nahm Schultze als grundsätzlich dazu in Frage kommende "Persönlichkeiten" an: "Epileptiker und Epileptoide, Hysteriker und Neurastheniker, Trauma tiker, Psychopathen, Süchtige", Drogenabhängige (Alkohol, Morphium, Kokain) sowie "Personen mit Intoleranz gegen Alkohol oder mit patholo gischen Affekten oder sexuellen Anomalien, solche, die im geringen Grade schwachsinnig sind, und andere."·· Darüber hinaus war in der kriminologischen und juristischen Praxis das Konzept des Zusammenhangs von Gewalt und männlicher Sexualität grundsätzlich weithin anerkannt. So definierte Erich Wulffen den Lust mord als Tötungshandlung, bei der das Motiv die "Betätigung eines entar-
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Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3. 193 1, HStA Düsseldorf, 171730, BIl. 69, 241. Die Hysterie galt in der Fachwelt als die typische weibliche psychische Erkrankung. Kürten wurde auf diese Weise nicht nur als Psychopath pathologisiert, sondern gleichzei tig verweiblicht. Zur Geschichte der Hysterie als weiblich konnotierte Krankheit siehe die Ausführungen in Kapitel 3 . Berg 2004, S. 1 5 8 - 1 59. Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 1 4. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 171728, BI. 264. Siehe auch: Sioli 1 93 1 , S. 25. Besonders ausführlich dazu: Berg 2004, S. 159-165 so wie Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hüb ner, 26.3 . 1 9 3 1 , HStA Düsseldorf, 1 71730, BIl. 229-236. Schultze 1922, S. 26 (Hervorhebung EB). Hier hatte Schultze in erster Li nie die Homosexualität im Blick. Er ergänzte diese Auflistung noch um die juristische Perspektive, aus der seiner Ansicht nach auch noch "Vagabun den, Bummler und Landstreicher, Prostituierte und Zuhälter, gewohn heitsmäßige Sittlichkeits-, Eigentums- und Roheitsverbrecher" gehörten (ebd.).
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teten Geschlechttriebes darstellt."89 Dabei ging er wie auch die medizi nisch-psychiatrischen Experten von einer inhärenten Gewaltsamkeit männ licher Sexualität aus, die in sadistischen Akten besonders deutlich hervor treten könne. Beim Lustmord könne, so Wulffen, der "physiologische und psychologische Vorgang [ . . . ] fast genau derselbe sein" wie beim freiwilli gen Geschlechtsverkehr: "Die bloße Koitushandlung mit der ihr physiolo gisch inneliegenden Gewaltsamkeit und Wollust kann in dem Täter die sadistischen Gefühle auslösen und ihn zur Tötung des Opfers führen."90 Wulffen sprach damit gleichzeitig auch eine Warnung aus: Wenn auch der sogenannte normale Geschlechtsakt sadistische Impulse auszulösen ver mochte, dann konnte sich in jedem Mann ein Sadist verbergen, dessen Neigung zur Gewalt jederzeit zum Ausbruch kommen konnte. Umso be deutsamer war daher die Aufrechterhaltung der männlich-weißen Selbst kontrolle. Wulffen ging dabei in Übereinstimmung mit medizinischen und kriminologischen Darstellungen davon aus, dass diese Neigung zur Grau samkeit das physiologische Erbe vorangegangener evolutionärer Entwick lungsstufen sei. Hier begegnen wir der uns bekannten Argumentationsfigur des Zusammenhangs von Zivilisation und evolutionärer Entwicklung wie der: "Die Zivilisation hat die Grausamkeit des Kulturmenschen gemildert, gebändigt. Naturvölker zeigen uns noch heute die Ursprünglichkeit der Grausamkeit."91 Folglich, so Wulffen, handele es sich aus juristischer Per spektive daher bei einem Lustmord streng genommen nicht um Mord, sondern um Totschlag, denn der "Lustmörder führ[e] nämlich die Tö tungshandlung meist in einem mehr oder minder hochgradigen Affekt aus, der sogar pathologisch werden kann" und "dieser Affekt steht in direktem Gegensatze zu der ,Überlegung"', welche den Mord im RStGB qualifizie re.92 Demgegenüber beurteilten die psychiatrischen Gutachter im Fall Kür ten die Frage nach der möglichen Intentionalität und damit letztlich auch der Zurechnungsfähigkeit der sogenannten Lustmörder ganz anders: Alle drei kamen zu dem Schluss, dass Kürten zur Tatzeit zurechnungsfähig ge wesen sei und für sein Handeln verantwortlich gemacht werden könne.93 89 90 91
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Wulffen 1928, S. 454. Ebd., S. 458. Ebd., S . 306. Wie die Wilden seien auch Kinder, welche die naturhafte, prä zivilisatorische "Grausamkeit offen an den Tag" legten: "Das Kind, wel ches mit Recht in gewisser Beziehung mit dem wilden Menschen vergli chen wird, legt die Grausamkeit offen an den Tag." (Ebd.) Siehe: Ebd., S. 454-455, Zitat S. 454. Leider seien die juristischen Kennt nisse der psychiatrischen Gutachter häufig nicht ausreichend, um diesen Unterschied zu erkennen, und so würden diese Täter zu Unrecht als Mör der verurteilt. Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 1 7/728, BI. 279; Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3 . 193 1 , HStA Düsseldorf, 1 71730, BI. 292; Ärztliches Gutachten in der
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Arthur Hübner wandte sich sogar explizit gegen die Interpretation von Kürtens Taten als Totschlag. Sadisten, so seine Argumentation, seien sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie allein durch die Anwendung von Gewalt und das Quälen eines Opfers zur sexuellen Befriedigung kämen. Sie führten ihre Verbrechen daher sehr wohl mit Überlegung und planvoll durch . 94 Die Begründung, die alle drei Sachverständigen für ihre Entscheidung lieferten, nahm den in der Fachliteratur von Krafft-Ebing bis Wulffen etab lierten Zusammenhang von männlichem Begehren und Aggressivität als gegeben an und argumentierte mit der daraus abgeleiteten Verantwortlich keit des Mannes zur Triebkontrolle. Selbst Sioli, der innerhalb dieser Gut achtergruppe den deterministischen erbbiologischen Ansatz vertrat, propa gierte an dieser Stelle die Verantwortlichkeit des Einzelnen. Er betonte ausdrücklich, "dass das Vorhandensein von Erbeigenschaften krimineller und der oben genannten psychopathischen Art nicht die Verantwortlichkeit für deren Entwicklung in geistig vollwertige Individuen aufheb[e]" und dass der so entstandene "geistig Vollwertige die Verantwortung für das trägt, was er mit seinem Erbgut macht."95 Mit Verweis auf die männliche Verpflichtung zur Selbstkontrolle postulierte Sioli weiterhin, "dass der pervertierte Geschlechtstrieb, auch wenn er - sei es als Geschlechtstrieb, sei es als Perversion - noch so mächtig ist, keine geistige Änderung bedeu tet, welche die freie Willensbestimmung aufhebt oder stört für Taten zum Schaden Anderer."96 Dies war eine Position, wie sie im Übrigen sowohl in der psychiatri schen Fachliteratur als auch von anderen Gutachtern in anderen Lustmord prozessen vertreten wurde. Albert von S chrenck-Notzing beispielsweise brachte es folgendermaßen auf den Punkt: "auch der normale Mensch ist durch abnorme Stärke seines Triebes allein nicht genötigt, auf illegalem Wege Befriedigung zu suchen."" So habe beispielsweise der Homosexuel le stets die Wahl der "Form der ihm adäquaten geschlechtlichen Befriedi-
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Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2 . 1 . 193 1 , HStA Düssel dorf, 17173 1 , BI. 269. Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf, 171730, BlI. 23 1 -232. Im Folgenden verwies Hübner auf Großmann als exemplarischen Fall des lustmordenden Sadisten. Dies ist eines der vielen Beispiele für die Interreferentialität des Diskurses über diese Tätergruppe. In diesem Sinne auch: Ärztliches Gut achten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14. 1 1 . 1930, HStA Düsseldorf, 17/728, BI. 265-266; Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2. 1 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf, 1717 3 1 , Bll. 263-264. Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14. 1 1 . 1 930, HStA Düsseldorf, 17/728, BI. 269. Ebd., BI. 265. Schrenck-Notzing 1902, S . 1 5 . Es handelt sich hier um eine überarbeitete Fassung des in der AfK 1 898 bereits veröffentlichten Aufsatzes gleichen Titels (Schrenck-Notzing 1 898).
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gung." Er könne sich jederzeit gegen die beischlafähnlichen Handlungen und für die straffreie gegenseitige Onanie entscheiden.98 Denn grundsätz lich könne "die menschliche Gesellschaft die Beherrschung eines endogen perversen Triebes ebenso verlangen, wie sie die Beherrschung des endo gen allosexuellen Triebes verlang[e)".99 Ganz dieser Einschätzung entsprechend attestierte Ernst Schulze der Hauptgutachter im Fall Fritz Haarmann dem Angeklagten in seinem Gut achten volle Zurechnungsfähigkeit. Da dieser gewusst habe, dass er eine (Lebens-)Gefahr für junge Männer darstelle, hätte er die moralische Ver pflichtung gehabt, sich von diesen fern zu halten. Da er dies unterließ, ha be er implizit und bei vollem Bewusstsein die strafrechtlich relevante Ent scheidung getroffen, sich auf illegale und für die jungen Männer mögli cherweise tödliche Weise sexuelle Befriedigung zu verschaffen.!()() Wie oben zu sehen war, hatte Schultze in seinen Publikationen noch für die Unzurechnungsfähigkeit oder zumindest eingeschränkte Zurechnungsfä higkeit von sogenannten Psychopathen und Menschen homosexueller Orientierung plädiert. Davon konnte hier keine Rede mehr sein. Stattdes sen betonte er die Bedeutung der Triebkontrolle und die Verantwortlich keit des Einzelnen, diese auch durchzuhalten. Auch Groß mann wurde an gesichts einer ausgeprägten "außerordentliche[n] Affekterregbarkeit", die besonders unter Alkoholeinfluss zu Tage trete, mangelnde Selbstkontrolle vorgeworfen. "Es kam ständig sein überaus gewaltsames , impulsives und rohes Temperament zum Durchbruch."lOl Sowohl im Falle Peter Kürtens als auch in dem Fritz Haarmanns über nahm das Gericht die Einschätzungen der Gutachter. Beide wurden für schuldig erklärt und zum Tode verurteilt. In beiden Urteilsbegründung wurde ganz explizit unter Berufung auf die psychiatrischen Experten fest gestellt, dass weder wie im Falle Haarmanns die "sexuelle Erregung" noch wie bei Kürten der "sadistische Trieb" eine Unzurechnungsfähigkeit im Sinne des § 5 1 StGB darstelle.102 Damit wurde die Frage nach einer möglichen Einschränkung der freien Willensbestimmung durch den Sexualtrieb mit einem klaren Nein beant wortet. Egal auf welches Objekt sich das Begehren richte und unabhängig von möglicherweise vorhandenen psychopathischen degenerativen Erban98 99
Ebd., S. 15. Ebd., S. 10 (HiO). "Also der Umstand allein, daß jemand sexuell pervers ist, macht ihn noch nicht straffrei." (ebd., HiO) 100 Siehe: Gutachten Ernst Schultze über Friedrich Haarmann, 1 . 1 0. 1924, NHStA Hann. 155, Göttingen Nr. 864a, Bll. 106- 1 30, hier Bll. 1 15 - 1 1 6. 101 Kronfeld 1922, S. 143 (HiO) sowie 144, 146. 102 Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Peter Kürten, 22.4.193 1 , HStA Düsseldorf, 17/543, BII. 144-148, 155-160, Zitat B I . 158; Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 19.12. 1 924, NHStA Hann. 173 Ace. 30/87, Nr. 80, Bll. 107- 155, hier BI. 127. Beide Urteile wurden vollstreckt: das gegen Kürten am 2. Juli 193 1 in Köln, Haarmann wurde am 16. April 1925 in Hannover hingerichtet.
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lagen, war manen) verantwortlich für das eigene Handeln. Sexuelles Be gehren, und sei es noch so intensiv, galt in keinem Fall als geeignet, den freien Willen außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig gingen sowohl juristi sche, kriminologische als auch psychiatrische Experten davon aus, dass dieses Begehren notwendig mit Gewalt verknüpft war. Der männliche Körper galt ihnen als Ort dunkler, atavistischer und im Zweifel kannibali scher Instinkte, der durch ein straffes Regime der steten Selbstdisziplinie rung kontrolliert werden müsse. Dass diese Kontrolle auch von Straftätern verlangt wurde, deren Willenskraft aufgrund einer psychopathischen Ver anlagung als herabgesetzt angesehen werden musste, macht deutlich, welch zentrale Rolle diese für die Konstruktion weißer Männlichkeit im Deutschland der Weimarer Republik spielte. In seiner Studie Trials 01 Masculinity postuliert Angus McLaren, die Auseinandersetzung um die sadistischen Lustmörder habe nicht nur eine männliche Alterität hergestellt, sondern gleichzeitig unter der Hand auch dasjenige Maß an Gewalttätigkeit definiert, das ein Mann legitim ausüben durfte.iOJ Was also, um die bereits gestellte Frage aufzunehmen, war aus Sicht der psychiatrischen Experten angesichts der natürlichen Aggressivi tät männlichen Begehrens eine abnormal gewalttätige männliche Sexuali tät? Anders als bei der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit ist hier eine eindeutige Antwort schwer auszumachen. Wie wir gesehen haben, argu mentierten die psychiatrischen Experten in den Prozessen gegen die mut maßlichen Lustmörder auf der Grundlage der in der Fachliteratur als selbstverständlich angenommenen Verbindung von männlichem B egehren und Gewalt. Die in Frage stehenden Angeklagten wurden in den Gutachten klar als Abweichungen markiert. Sie wurden als krankhafte, perverse Psy chopathen bezeichnet: "Alle Uebergangsstufen finden sich hier von der mehr oder minder schweren angeborenen und ererbten Belastung zu der ausgebildeten Psychopathie".i04 Gleichzeitig jedoch wurde ihre Unzurech nungsfähigkeit verneint mit dem Argument, sie hätten wie jeder normale Mann auch die Möglichkeit gehabt, sich gegen die Ausübung ihrer Perver sion zu entscheiden. Letztlich wurden Kürten und Haarmann damit verur teilt, weil sie bei der zentralen männlichen Eigenschaft versagt hatten: der Selbstkontrolle.
5 . 3 F e h l e n d e Ma n n e s zu c h t u n d z ü ge l l o s e B e s t i a l i t ät: K a n n i b a l e n i m R h e i n l a n d ?
Wir bereits zu B eginn dieses Kapitels angemerkt, waren die Lustmörder nicht die einzigen Personen männlichen Geschlechts, denen in der Zeit der Weimarer Republik mangelnde Willenskraft und fehlende Kontrolle ihrer 103 McLaren 1997, S. 9. 104 Eulenburg 1902, S. 8.
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triebhaften Natur unterstellt wurde. Die Anfangsphase der Republik war gekennzeichnet durch eine Diffamierungskampagne gegen die Tirailleurs Senegalais, welche, von wenigen Ausnahmen auf Seiten der USPD und ihrer Anhänger und Anhängerinnen abgesehen, von einem breiten gesell schaftlichen Konsens getragen wurde. Dabei sprachen sich nicht nur Poli tiker und Politikerinnen gegen den Einsatz afro-französischer Soldaten bei der B esetzung des Rheinlandes aus, sondern auch die Vertretungen gesell schaftlicher Organisationen wie etwa die der Kirchen. So verabschiedete der Deutsche Evangelische Kirchenbund auf seiner Tagung vom 23.-24. Juni 1 920 eine Resolution, gerichtet "an das christliche Gemeingefühl in allen Ländern christlicher Gesittung, insbesondere an die glaubensver wandten Kirchengemeinschaften" , die sich gegen die "schwarze Schmach in den von Frankreich besetzten deutschen Gebieten" wandte, die exem plarisch für die damals geäußerten Vorwürfe angesehen werden kann. Be schrieben wurde die Situation hilfloser Frauen und Kinder, die in einem von Kriegsnachwirkungen geschüttelten Deutschland zu allem Überfluss auch noch sexuellen Übergriffen ausgesetzt seien. In der Folge würde die Reinheit der weißen Frauen durch die ungezügelten Triebe der afrikani schen Männer beschmutzt. Wörtlich hieß es in dem verabschiedeten Text: "Von Hunger und Armut bedrückt, in seiner Selbsthilfe beschränkt, muß unser Volk es mit Grauen ansehen, wie seine Frauen und Kinder, Mädchen und Kna ben geschändet und mißhandelt werden. Keine militärische Manneszucht, wie sie auch gehandhabt werden mag, ist imstande, die wilden Instinkte dieser seit Jah ren ihrer Heimat entrissenen und von Haus aus christlicher Erziehung entbehren den, nach Zehntausenden zählenden Leute in Schranken zu halten. Himmel schreiende Schmach wird unsern Volksgenossen angetan. Reine Frauen und un schuldige Kinder werden an Leib und Seele verseucht, Schwache werden zu Fall gebracht. Mund und Feder sträuben sich, die Greuel zu schildern, die alle Kriegsschrecken übertreffen."lo5
Wie bereits angeklungen, wurde vor dieser gleichermaßen als moralische sexuelle und ,rassische' angesehene Gefahr unter dem Schlagwort der ,Schwarzen Schmach' oder auch der ,Schwarzen Schande' gewarnt. Wie Christian Koller herausgearbeitet hat, verbarg sich hinter dieser Wort schöpfung ein doppelter Verweiszusammenhang. Einerseits wurde damit die "Schande für Frankreich" bezeichnet, das als weiße Kolonial- und Be satzungsmacht für die Verursachung einer ",Rassenschande'" in der Grö ßenordnung des gesamten deutschen Volkskörpers verantwortlich gemacht wurde. Andererseits verwies der Begriff auf die Schande, die der gesamten deutsche Nation angetan würde, deren Männer angeblich hilflos hätten
105
"Die Kirche und die schwarze Schmach", in: Deutsche Allgemeine Zei tung, 26.6. 1920 (Morgenausgabe), S. 2 (HiO).
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mitansehen müssen, wie ihre Frauen von afrikanischen Männern vergewal 106 tigt wurden. Schwarze Schmach und weiße Män n l ichkeit: Aspekte der Debatte um die afro-französischen Kolonialtruppen
Eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten hat sich der Aufarbeitung der Auseinandersetzungen um diese afrikanischen Soldaten und die darin ge äußerten Rassismen gewidmet, ferner der Rekonstruktion des Schicksals der aus den sexuellen Verbindungen zwischen den afrikanischen Truppen teilen und weißen Deutschen hervorgegangenen Kindern sowie der In strumentalisierung der in der damaligen deutschen Bevölkerung verbreite ten Angst vor einer , Rassenmischung' in der frühen nationalsozialistischen Propaganda. Zu nennen sind hier vor allem die wegweisenden Arbeiten aus den 1 970er und 80er Jahren von Robert C. Reinders, Keith Nelson, Reiner Pommerin, S ally Marks und Gisela Lebzelter sowie die im Kontext des zunehmenden Interesses an der deutschen Kolonialgeschichte und der Geschichte der Afro-Deutschen entstandenen neueren Arbeiten von Fatima EI-Tayeb, Christian Koller, Jean-Yves Le Naour, Sandra Maß, Tina Campt und Iris Wigger. 107 Ausgehend von den Ergebnissen dieser Forschungsar beiten können mit Blick auf die uns hier vorliegende Frage nach den Kon nexionen zwischen kannibalischer Alterität und weißer Männlichkeit die folgenden Aspekte festgehalten werden: Die westafrikanischen Truppen Frankreichs waren, wie Campt betont, "the first large-scale Black presence in Germany". 108 Kontakte zwischen Deutschen und Afrikanerinnen und Afrikanern hatten sich bin dahin auf Besuche von Völkerschauen oder von Jahrmärkten beschränkt oder auf die Bekanntschaft mit einzelnen Migranten und Migrantinnen, die wiederum hauptsächlich in Metropolen wie Berlin oder Hamburg lebten. Nur wenige Deutsche waren selbst in den Kolonien gewesen und hatten so eigene Er fahrungen im Zusammenleben mit Menschen afrikanischer Herkunft ge-
106 Koller 200 1b, S. 158. Siehe dazu auch: Wigger 2007, S. 1 60-167. Gleich zeitig wurde damit der Topos von der "schwarzen Gefahr", der ebenso wie der von der "slawischen Gefahr", welcher zu Kriegszeiten als Feindbild zur Mobilisierung eingesetzt worden war, aufgerufen (siehe: Grosse 2000, S. 204-205). Zur Reaktion auf die Diffarnierungskampagne auf Seiten der französischen Regierung und des Militärs siehe: Lüsebrink 1989, S. 62-68. 107 Im Einzelnen handelt es sich dabei um: Reinders 1 968; Nelson 1970; Pommerin 1979; Marks 1983; Lebzelter 1985; El-Tayeb 2001 (auch: El Tayeb 2005) ; Koller 2001 a (auch: Koller 2001b; Koller 2004); Le Naour 2003; Campt 2004; Maß 2006 (auch: Maß 200 1 ; Maß 2005) und Wigger 2007. Des Weiteren ist auch auf die Aufsätze Lüsebrink 1989; Martin 1996; Schüler 1996; Campt/Grosse et al. 1998 zu verweisen. 108 Campt 2004, S. 35.
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macht. 109 Wir können davon ausgehen, dass die meisten Deutschen Afrika ner und Afrikanerinnen nur aus den stereotypen Darstellungen des Koloni aldiskurses, die wir im dritten Kapitel bereits kennen gelernt haben und die zwischen dem servilen treuen Diener und dem wilden Kannibalen oszil lierten, kannten. Des Weiteren waren die Senegalschützen zweifacher Hinsicht in der Publizistik überrepräsentiert. Auch wenn die Rekonstruktion der genauen Zahl der im Ersten Weltkrieg auf europäischem Territorium eingesetzten Kolonialtruppen überaus schwierig ist, so kann jedoch als sicher gelten, dass sie keineswegs die Mehrheit unter den in Europa während der Besat zung eingesetzten Truppen darstellt. Koller geht von insgesamt 600.000 nicht-weißen Soldaten auf Seiten der Ententemächte aus, davon 270.000 Maghrebiner, 153.000 Inder und 1 34.000 Westafrikaner.110 Damit hätten die Letzteren einen Anteil von knapp 22 Prozent unter den nicht europäischen Truppen gestellt. Noch komplizierter ist es, die Anzahl der in der französischen Besatzungszone stationierten Kolonialtruppen und deren genaue Zusammensetzung nach Herkunftsgebiet exakt zu bestimmen. Maß geht von etwa 25.000 Mann aus, wovon die überwiegende Mehrheit aus Marokko und Algerien, 5 .000 bis 7.500 aus Westafrika, namentlich Sene gal und Madagaskar, einige Hundert aus Annam und Tonkin stammte.111 Koller, Pommerin und Lebzelter hingegen sprechen von 30.000 bis 40.000 afrikanischen Kolonialsoldaten, die mehrheitlich nicht aus dem Senegal oder West- sondern aus Nordafrika kamen.ll2 Dabei gilt es zu berücksich tigen, darin sind sich alle Autorinnen und Autoren einig, dass die aus Westafrika stammenden Truppen einerseits aus gesundheitlichen Gründen im Winter nach Südfrankreich verlegt wurden, so dass die Zahl der afro französischen Truppen zusätzlich saisonal schwankte, und dass sie ande rerseits ab Sommer 1 920 teilweise an andere Einsatzorte verlegt wurden, namentlich Syrien und Marokko.1J3 Die Berichterstattung über die Koloni altruppen konzentrierte sich trotz ihrer vergleichsweise geringen Zahl auf die westafrikanischen Soldaten. Gleichzeitig erweist es sich als überaus schwierig, den Wahrheitsgehalt der in den Pamphleten und Broschüren gegen die , Schwarze Schmach' erhobenen Anschuldigungen zu überprü fen. Wie Sandra Maß und Christian Koller eindrücklich dargelegt haben, geben englische, französische und deutsche Quellen sehr unterschiedlich 109
Siehe: Campt 2004, S. 35. Zur Geschichte afrikanischer Migranten und Migrantinnen in Hamburg bzw. Berlin siehe: Westermann 1999 sowie van der Heyden/Zeller (Hg.) 2002. Zum Thema Völkerschauen und Zurschau stellung von Afrikanern und Afrikanerinnen siehe Kapitel 3. 1 1 0 Siehe: Koller 2001b, S . 150. 1 1 1 Maß 200 1 , S . 23; Maß 2006, S. 80. 1 12 Dazu siehe: Koller 2001a, S. 202; Pommerin 1979, S . 1 1 - 1 2; Marks 1983, S . 299; Lebzelter 1985, S. 37. Nelson spricht sogar von 45.000 Soldaten jeweils in den Sommern der Jahre 1920 und 1921 (siehe: Nelson 1970, S. 6 1 0-61 1). 113 Siehe: Maß 2006, S. 80; Koller 2001 a, S. 202.
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Auskunft zu diesem Thema. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass lokale Berichte ein sehr viel harmloseres Bild von der Situation zeichneten als überregionale veröffentlichte Darstellungen. 1 14 Darüber hinaus war die Thematisierung des Einsatzes auf den Zeit raum zwischen 1 9 1 9 und 1 923 beschränkt, den Abschnitt der B esetzung des linksrheinischen Rheinlandes vor der Ruhrbesetzung im Januar 1 923, obwohl sich bis 1 930 nicht-weiße Soldaten auf deutschem Territorium aufhielten. 115 In diesem kurzen Zeitraum allerdings, beginnend mit einem Artikel über einen Zwischenfall in Frankfurt, wo marokkanische Soldaten in einer missverständlichen Situation in die Menge gefeuert hatten, avan cierte die Berichterstattung über die afrikanischen Truppen zu einem "Dauerbrenner" in der deutschen Presse1andschaft und wurde sogar in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung diskutiert."° Zudem muss die Auseinandersetzung um die Senegalschützen im Kon text der vorangegangenen Debatte um den Einsatz von Kolonialtruppen durch die Ententemächte Großbritannien und Frankreich auf dem europäi schen Kriegsschauplatz betrachtet werden. Ihr Einsatz wurde sowohl in nerhalb der Nationen, in deren Armeen die Kolonialtruppen dienten, kon trovers diskutiert als auch von deutscher Seite aus stark kritisiert.ll7 Einer der Hauptkritikpunkte aus deutscher Perspektive war dabei die Übertra gung des Kolonialkrieges und seiner Praktiken auf europäischen Boden, was auch mit Verweis auf völkerrechtliche Konventionen begründet wur de: Die Kolonialtruppen hielten sich aufgrund ihres , niedrigen' Zivilisati onsstandes nicht an die Abkommen der Kultumationen wie die Genfer Konvention ( 1 864 beziehungsweise 1 907), die Vereinbarungen der Haa gener Friedenskonferenzen ( 1 899 und 1 907) sowie der dort vereinbarten Landkriegsordnungen. Die afrikanischen Soldaten dienten damit als Ver sinnbildlichung der Unmenschlichkeit und Brutalität des Ersten Weltkrie ges. 1 I8 Der zweite Hauptkritikpunkt war, dass die Ententemächte die bis lang innerhalb der weißen Kolonialmächte hochgehaltene Solidarität ge genüber den Kolonialisierten unterliefen. Sie den deutschen Kolonialher ren als Gegner gegenüber zu stellen, hieß die bislang im Kolonialdiskurs hoch gehaltene Unverletzbarkeit des weißen männlichen Körpers aufzuhe ben und die grundsätzliche, angebliche ,rassisch' bedingte Überlegenheit des Europäers in Frage zu stellen. 11 9
1 14 Siehe dazu: Koller 200 1 a, S. 203, 249-261 ; Maß 2006, S. 105- 1 20. Vgl. dazu auch Mark 1983, S. 302-303, 305-309. 1 15 Siehe: Koller 2001b, S. 150. 116 Koller 2001 a, S. 207-220, Zitat S. 208; Lebzelter 1985, S. 38-42. 1 17 Ausführlich zur Debatte in Großbritannien und Frankreich siehe: Koller 200 1a, S. 1 3 5- 1 5 1 sowie S. 152-173. 1 18 Siehe: Koller 2001 a, S . 1 14-1 16 sowie Maß 200 1 , S . 20-23; Grosse 2000, S. 204. 1 19 Siehe: Koller 2001 a, S. 1 16-123; Maß 200 1 , S. 26.
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Die Berichterstattung in der deutschen Presse sowie die Verbreitung von einschlägigen Propagandabroschüren durch das Auswärtige Amt setz ten mit Beginn des Einsatzes der Kolonialtruppen der Alliierten im Herbst 1 9 1 4 ein.120 Im Mittelpunkt dieser Beschreibungen standen die von den afro-französischen Truppen angeblich verübten Gräueltaten, die benutzt wurden, um die kolonialrassistische und völkerrechtliche Kritik zu unter mauern. 121 Dabei sind zwischen staatlichem Propagandamaterial und Pres seberichten einige inhaltliche Unterschiede festzustellen. Repräsentativ für Duktus und Inhalt der staatlichen Propaganda waren Sammlungen von angeblichen Augenzeugen- und Augenzeuginnenberich ten über das Verhalten der von den Entente-Mächten eingesetzten nicht europäischen Truppen. Hier wurde von abscheulichen Gewalttaten berich tet, welche die Kolonialtruppen begangen haben sollten: vom Ausstechen der Augen und dem Abschneiden von Ohren, Nasen oder Köpfen bei deut schen Gefangenen oder Verwundeten und der Vergewaltigung derjenigen Frauen, die als in Frankreich lebende Deutsche zu B eginn des Krieges in terniert worden waren. Des Weiteren wurden Gerüchte über die Ver schleppung dieser Frauen in die Zwangsprostitution in Algerien wiederge geben sowie der Vorwurf erhoben, deutsche Gefangene seien von franzö sischen Offizieren absichtlich den "Senegalnegern übergeben" worden, wohl wissend um ihren "Blutdurst". Wer den Transport nicht überlebte, sei von ihnen "erstochen oder erschlagen, vielleicht auch gefressen" wor den. 122 Auch Gerüchte über die ,widernatürliche Unzucht' (Homosexuali tät) besonders der algerischen Truppen wurden kolportiert. Im Propagan damaterial des Auswärtigen Amtes wurden Afrikaner als Tiere oder Halbmenschen diffamiert sowie als kollektive, namen- und ehrlose Fluten beziehungsweise Horden beschrieben.l23 Die sexuellen Übergriffe wurden oft zurückgeführt auf die allgemeine ,rassisch' weniger entwickelte Fähig keit zur Triebkontrolle, den starken Geschlechtstrieb der Afrikaner und die erzwungene "lange sexuelle Abstinenz" während des Krieges. 12' Gleichzeitig gingen Militärs und auch Intellektuelle mehrheitlich von der ,natürlichen' Überlegenheit des disziplinierten Weißen gegenüber den unzivilisierten und barbarischen Kolonialtruppen aus. 125 Diese Einschät-
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Siehe: Koller 2001a, S. 104, 103-1 34. Siehe: Ebd., S. 1 14- 1 24. Siehe: Auswärtiges Amt 1915, S . 35, 36-37, 44-45 und 7, 8,12, 1 5 , 22, 42, 48-49 sowie 5 1 -52, Zitat S. 20. 123 Siehe: Koller 2001 a, S. 1 19-124. 1 24 Koller 200 1b, S . 156. 125 Siehe: Koller 2001a, S . 108-109. Koller verweist hier auf die für diese Hal tung typische Einschätzung Max Webers, der davon ausging, dass es "eine der Grundlehren dieses Krieges [sei], dass die zivilisierten Heere den Bar barenheeren überlegen sind" (Max Weber, "An der Schwelle des dritten Kriegsjahres" [Rede am 1 . August 1 9 1 6 in Nürnberg] , in: ders., Zur Politik im Weltkrieg: Schriften und Reden 1914-1918. Hg. Wolfgang J. Mommsen
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zung stand, wie wir mit Blick auf die im dritten Kapitel durchgeführte Analyse feststellen können, ganz in der Tradition des deutschen Kolonial diskurses. Ähnlich wie den weißen Reisenden in Friedrich Wilhelm Ma ders Ophir sollten Ausbildung, Disziplin und planhaftes Vorgehen den weißen deutschen Soldaten ganz selbstverständlich zum Sieg verhelfen. In der Presse hingegen wurde über die Kolonialtruppen zunächst als Kuriosa berichtet. Erst im Laufe des Herbstes des Jahres 1 9 1 4 können wir eine zunehmende Rassifizierung in der Berichterstattung beobachten, die im Gegensatz zu offiziellen Stellungnahmen sogar den Kannibalismus vorwurf mit einschloss.I26 Ein charakteristisches B eispiel für diese von Koller beschriebene Diffamierung der westafrikanischen Soldaten als Menschenfresser ist die in der Ausgabe des Simplizissimus vom 4. Mai 1 9 1 5 veröffentlichte Karikatur "Frankreichs Kulturpioniere", in der die Kolonialsoldaten behaupteten, ihre Gefangenen gefressen zu haben (siehe: Anhang Abb. 9.9) sowie die Fotografie eines afrikanischen Mannes, die mit "Sudanneger, Kannibale, als französischer Soldat" untertitelt war (sie he: Anhang Abb. 9. 1 0). Auf diesem Bild sind deutlich die Gesichtsschmucknarben zu erken nen, die zusammen mit der angeblichen Herkunft den seit Schweinfurths Reisebericht zirkulierenden Diskurs von den prototypischen wilden Kan nibalen, den Azande, aufgriffen. Dabei war von französischer S eite mit Absicht auf den Einsatz von afrikanischen Kolonialtruppen aus Zentral und Äquatorialafrika verzichtet worden, da diese als zu unzivilisiert für den Militärdienst und als Kannibalen galten. 127 Die ,Rassifizierung' und Sexualisierung der afro-französischen Trup pen setzte sich in der Propaganda und den Presseberichten zwischen 1 9 1 9 und 1 923 fort, wobei hier zwischen einem regierungsnahen mainstream Diskurs einerseits und einem Diskurs, der in den Pamphleten und Veröf fentlichungen der völkischen Rechten und der Nationalsozialisten geführt wurde, andererseits unterschieden werden muss. Anders als zu Kriegszei ten veröffentlichten deutsche Regierungsstellen keine eigenen Publikatio nen, welche die kolonialen Truppen thematisierten. Stattdessen arbeiteten das Auswärtige Amt und das Reichsministerium des Innem eng mit politi schen Interessenverbänden wie beispielsweise der Rheinischen Frauenliga (RFL) zusammen. I28 In diesen Publikationen kann eine Fortsetzung der ( Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 1 5), Tübingen: Mohr, 1984, S . 648-689, hier S. 667, zit.n.: Koller 2001a, S. 1 08). 126 Siehe: Koller 2001 a, S. 1 23 . Felix Boehm berichtete 1 930 in einem Vor trag von dem Gerücht, deutsche Soldaten hätten im Ersten Weltkrieg in den Feldküchen Menschenfleisch, bevorzugt die "Frauenbrüste ihrer Fein de", zubereitet und verzehrt. (Siehe: Boehm 1 932, S. 1 88). Zur damaligen Debatte um die von deutschen Soldaten begangenen Gräueltaten und ihre historiographische Bewertung heute siehe die Beiträge in: Horne/Kramer (Hg.) 2004. 127 Siehe: Koller 2001a, S. 9 1 . 128 Siehe: Koller 2001 b , S . 1 5 5 sowie Koller 200 1 a, S . 220-230. =
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kolonialrassistischen und völkerrechtlichen Kritik, die bereits zu Kriegs zeiten geäußert worden war, festgestellt werden. Die hier vertretenen Posi tionen wurden von vielen anderen Organisationen der bürgerlichen Mitte geteilt. Hier ist beispielsweise die oben zitierte Resolution des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes zu verorten. Einschlägige visuelle Beispiele für diesen Diskurs sind das Propagandaplakat "Jumbo, der Menschenfres ser" von 1 920, das einen riesenhaften nackten afrikanischen Soldaten zeig te, der sich ganze Hände voll weißer Frauen an den Unterleib presste (sie he: Anhang Abb. 9. 1 1 ) sowie der vom Bayrischen Hauptmünzamt 1 920 ausgegebene "Ruhrtaler", der in pornographischer Manier eine weiße Frau, die an einen behelmten, baumlangen Penis gefesselt war, darstellte (siehe: Anhang Abb. 9. 1 2). 129 Adressatin dieser Publikationen und Resolutionen war nicht so sehr die deutsche, sondern in erster Linie die US-amerikanische und britische Öf fentlichkeit sowie die der neutralen europäischen Staaten, an deren Mitge fühl und ,rassische' Solidarität appelliert wurde. Das Ziel war ein dezidiert außenpolitisches: eine Solidarisierung der genannten Nationen mit Deutschland gegen Frankreich zu erreichen.l30 Besonders deutlich tritt die se Strategie in den Publikationen der Rheinischen Frauenliga zu Tage, auf die ich im Folgenden noch ausführlicher zu sprechen kommen werde. So hieß es im Vorwort zu einer von der Liga herausgegebenen Sammlung von Zeuginnen- und Zeugenaussagen mit dem Titel Farbige Franzosen am Rhein. Ein Notschrei deutscher Frauen, welche die Gräueltaten der Kolo nialtruppen belegen sollten, es gehe nicht nur um individuelle Schicksale, sondern um "die Schändung der weißen Frau als solcher". 131 Leser und Leserinnen wurden aufgefordert, sich als Weiße mit dem vorgetragenen Leid, das Frauen ihrer ,Rasse' angetan worden sei, zu identifizieren: "Schmerzvoll verhüllen wir unser Haupt und schreiten Euch allen, Euch Frauen und Männem weißer Rasse voran. Gehet mit uns im Geiste unsere Leidensstraße, an der als Denkmäler ewiger Schande für uns und Euch die Erinnerungsbilder der Verbrechen stehen, welche afrikanische Wilde als Vertreter einer europäi schen Nation an den weißen Frauen am Rhein verübt haben."1l2
Ganz anders die Veröffentlichungen der gemäßigten bis extremen völki schen Rechten. Diese richteten sich vor allem an ein innerdeutsches Publi kum, suchten eine innerdeutsche weiße Volksgemeinschaft herzustellen und nutzten die Debatte zur antirepublikanischen Propaganda und zur Dif famierung der SPD. In diesem Sinne waren sie Teil einer für konservativ nationalistische Kreise charakteristischen " ,Flucht in den Mythos"'.iJJ 1 29 Siehe dazu: Koller 2001b, S. 155. 130 Siehe: Ebd., S. 150; Wigger 2007, S . 1 17 - 1 1 8 . 1 3 1 Rheinische Frauenliga (Hg.) 1920, S. 3 . 132 Ebd., S. 4. 1 3 3 Koller 200 1a, S. 229.
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Während mainstream-Publikationen afrikanische Männer bereits rassis tisch diffamierten, so wurden die afro-französischen Truppen in den Pub likationen der Rechtsopposition auf extreme Art und Weise bestialisiert. Sie wurden als Vampire beschrieben, als "farbige S adisten", "schwarze[ ] B estien" oder auch als "Tiere[ ] in Menschengestalt" bezeichnet, die ihre Opfer angeblich zerfleischten, zerrissen oder zerbissen. IJ4 Die Beschrei bungen ihrer Handlungen trugen damit alle Elemente der oben rekon struierten Lustmordsignatur: die Verbindung von triebhafter, ungezügelter Sexualität und Kannibalismus. Viele Forschungsarbeiten zur Geschichte der Debatten um die , Schwarze Schmach' haben auf die Bestialisierung und Sexualisierung der afro-französischen Soldaten hingewiesen. !35 Aller dings haben die Ähnlichkeiten zu den in der medizinisch-psychiatrischen Forschung und der Presse der Weimarer Republik diskutierten und ihrer seits rassifizierten Lustmördern in der Literatur wenig Beachtung gefun den. Als ein eindrückliches B eispiel dafür, wie die Beschreibungen der an geblichen Taten der Senegalschützen und der kannibalisch-sadistischen Sexualstraftäter auf Elemente zurückgriff, die bis dahin vornehmlich auf die Beschreibung von Lustmorden beschränkt war, kann Joseph Langs Die schwarze Schmach. Frankreichs Schande aus dem Jahr 1921 gelten. Hier finden wir sämtliche Charakteristika vom Vorwurf des Vampirismus und Sadismus bis hin zur Annahme einer unkontrollierten tierischen Sexualität: ,,[Die] Opfer der zügellosen Bestialität der farbigen Scheusale werden in Wiesen und Gräben halbtot aufgefunden, die Kleider in Fetzen gerissen, manche mit Bißwunden, die deutlich zeigen, wie das Tier über sein bedauernswertes Opfer hergefallen ist. [ . . .] Der schwarze Soldat lebt nur seinem [sic] Naturtrieb."!36
Das Zerbeißen der Halsschlagader, daran zu saugen, das Blut der Opfer zu trinken, ihre Körper zu zerfleischen: All diese Handlungen wurden, wie ich oben dargestellt habe, als zentrale Charakteristika sogenannter Lust morde angesehen. Immer wieder sind in den Darstellungen der extremen und völkischen Rechten Beschreibungen zu beobachten, die aus Lehrbü chern der forensischen Psychiatrie zum Thema Lustmord stammen könn ten. So schrieb beispielsweise Wilhelm von der Saar, angeblich ein priva tes Schreiben zitierend: "Die schwarzen Bestien laufen, wenn sie der Alkohol und der Geschlechtskoller übermannt, färmlich sexuell Amok und betragen sich ihren Opfern gegenüber wie wilde Tiere. ,Es sind bei Aerzten ohnmächtige Mädchen eingeliefert worden, deren Adern beinahe blutleer waren. Die Schwarzen, besonders die Marokkaner 134 Siehe: Ebd., S . 239 (dort auch Zitate) sowie Maß 2005, S . 1 4 1 . 135 Siehe: Lebzelter 1 9 8 5 , S . 45-47; Koller 200 1b, S. 155-156; Maß 2005, S. 141. 136 Lang 192 1 , S. 8, 1 1 .
228 I KANNIBALE-WERDEN beissen in ihrer Wut ihren Opfern die Schlagader am Halse an und saugen gierig von dem Blut; es sind eben die reinen Bestien' [ . . . ] ." 1 37
Neben dem Lustrnordmotiv tauchen in den einschlägigen Publikationen noch zwei weitere Elemente auf: der Vorwurf der Homosexualität und die Vorstellung einer drohenden Infektion. So wurde zum einen kolportiert, dass im besetzten Rheinland "Knabenbordelle" für die angeblich homose xuellen Marokkaner eingerichtet worden seien.138 Zum anderen wurde in den Schriften von einer absichtlichen Infektion des Kollektivkörpers des deutschen Volkes mit dem Blut angeblich ,minderwertiger Rassen' ge sprochen. 139 Gleichzeitig wurde den Kolonialtruppen die Verbreitung von Infektions- und S exualkrankheiten wie die der Pest oder der Syphilis un terstellt. 140 Diese Kombination aus Homophobie, Sadismus- und Kannibalismus verdacht sowie der Angst vor Ansteckung bestimmte, wie ich im folgen den Kapitel ausführlich demonstrieren werde, die in der Presse geführte Diskussion um die mutmaßlichen menschenfressenden Straftäter in den 1 920er Jahren. Im Unterschied zur , Schwarzen Schmach' wurde diese Auseinandersetzung jedoch nicht in der Presse des rechten oder völkischen Spektrums ausgetragen, sondern in sozialdemokratischen, kommunisti schen und bürgerlichen Presseorganen. Dabei war die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nicht so sehr auf den zur Zeit der Rheinlandbesetzung aufgedeckten Fall Großmann gerichtet, der auf Grund des Druckerstreiks zum Prozesstermin 1922 im Vergleich zu den anderen Kriminalfällen medial unterrepräsentiert blieb, als vielmehr auf den Fall Haarmann. 141
137 138 139
Saar 192 1 , S. 48. Ebd., S. 39. Siehe: Koller 2001b, S . 155; Maß 200 1 , S. 3 1 . Dabei handelt es sich um eine Theorie, die bereits in den 1920er Jahren von der NSDAP vertreten wurde und wenige Jahre später vom nationalsozialistischen Regime aufge griffen und zur Begründung der Zwangs sterilisation der Kinder aus den se xuellen Verbindungen zwischen afro-französischen Soldaten und weißen deutschen Frauen herangezogen wurde. Siehe: Pommerin 1979, S. 29-40, 44-53; Koller 2001a, S. 246-249; Maß 2006, S. 283-285. Wie Campt re konstruiert, wurden von den insgesamt etwa 600-800 Kindern afro französischer Soldaten in den Jahren zwischen 1933 und 1 937 schät zungsweise 385 zwangsweise sterilisiert. Nicht alle Eingriffe fanden dabei legal und auf Grundlage des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nach wuchses" von 1 933 statt, was die Feststellung der genauen Zahl maßgeb lich erschwert. (Siehe: Campt 2004, S. 72-74.) 140 Siehe: Koller 2001a, S. 244-246; Maß 200 1 , S. 30-3 1 ; Maß 2006, S. 2062 1 3 ; Wigger 2007, S. 145- 1 5 1 . Die Gefahr der Ansteckung war, wie in Kapitel 2 dargestellt, Teil des kolonialen Wissens vom wilden Kannibalen. 1 4 1 Siehe dazu: "Der Berliner Buchdruckerstreik", in: Kreutz-Zeitung, 12.7. 1922 (Abendausgabe) und "Die Stadt im Dunkeln", in: Vossische Zei tung, 1 2.7. 1922.
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Last hut not least hatten die Auseinandersetzungen um die Senegal schützen eine starke geschlechterpolitische Dimension, die ihrerseits meh rere Facetten umfasste. Hier ist zuerst die besondere Aktivität von Frauen in der politischen Debatte um die afro-französischen Truppen zu nennen.142 Dazu zählten nicht nur Einzelpersonen wie die Deutsch-Amerikanerin Ray Beveridge, die nationalsozialistische Verbindungen hatte und extrem ras sistische Positionen vertrat, die von ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern häufig als kontraproduktiv kritisiert wurden,143 sondern vor allem bürger lich-christliche Frauenorganisationen unter dem Dach der 1 920 auf Anre gung des Auswärtigen Amtes durch Margarete Gärtner in B erlin gegründe ten Rheinischen Frauenliga.144 Als Dachverband koordinierte die RFL die Bemühungen verschiedener Frauenverbände und -organisationen, sicherte sich die Unterstützung von Parlamentarierinnen und einzelner prominenter Repräsentantinnen der Frauenbewegung, verfertigte und vertrieb Publika tionen und koordinierte Protestkundgebungen auf denen von der Liga vor formulierte Resolutionen verabschiedet wurden. Sie "organisierte" auf die se Weise "eine beispiellose rassistische Kampagne", die lediglich von den Vertreterinnen der USPD sowie einzelnen linken und pazifistischen Frau en wie Lilli Jannasch und Anita Augspurg nicht mitgetragen wurde. 145 So hieß es in einer von der Liga herausgegebenen B roschüre beispielsweise: "Junge Mädchen sind von der Straße weggeschleppt worden, um der bestiali schen Wollust afrikanischer Wilden [sie] zu dienen. Töchter und Ehefrauen wur den in ihren Wohnungen von Farbigen überfallen und geschändet, auf dem Felde arbeitende Frauen bei ihrer Arbeit ein Opfer tierischer Instinkte und selbst hoch betagte Greisinnen waren ihnen nicht sicher!"I46
142 Siehe dazu: Koller 2001 a, S. 217, 212 sowie Maß 2006, 89-100, besonders S. 89. Maß argumentiert hier gegen die Interpretation Schülers, die ihrer seits von einer marginalen Rolle der Frauenverbände ausgeht (vgl., Schüler 1996, S. 6-7). 143 So beispielsweise in ihrer Veröffentlichung Die Schwarze Schmach, die weiße Schande (Beveredge 1922). Zur zeitgenössischen Reaktion auf Be veredge siehe: Koller 200 1 a, S . 226-227; Maß 2006, S. 95. 144 Die RFL wurde gegründet als Frauenorganisation der Rheinischen Volks pjlege. Die Liga gehörte damit zu denjenigen politischen pressure groups, die zum Teil verdeckt und nicht alle dauerhaft vom AA finanzielle Unter stützung erhielten, neben der bereits genannten Rheinischen Volkspjlege (Berlin) namentlich der Deutsche-Fichte-Bund (Hamburg) sowie der Deut sche Notbund gegen die Schwarze Schmach e. V. (München). Die RFL er hielt darüber hinaus auch Gelder vom Krupp-Konzern. Das Auswärtige Amt betrieb hingegen aktiv eine intensive Auslandspropaganda. Siehe da zu: Maß 200 1 , S. 24; Maß 2006, S. 83-105; Koller 200 1 a, S. 217, 220. 145 Maß 2006, S. 94-95, Zitat S. 90. Zur Rolle der politischen Linken in dieser Debatte siehe: Reinders 1 968, S . 12-2 1 . 146 Rheinische Frauenliga (Hg.) 1920, S. 3-4.
230 I KANNIBALE-WERDEN
Vorwürfe von völkischen Gruppen, sie sei ein Instrument jüdischer Inte ressen, führten dazu, dass sich die RFL zunehmend als Organisation wei ßer, christlicher Frauen positionierte, welche im Inland auf eine Solidari sierung auf der Grundlage rassistischer Vorurteile hinarbeitete. Da im Lau fe der Diskussion von Seiten den RFL zunehmend die Bezeichnung , weiß' durch , deutsch' ersetzt wurde, beteiligte sich die Liga auf diese Weise gleichzeitig an einem Diskurs der Rassifizierung der Vorstellung vom deutschen Volk und damit an dem Ausschluss von Juden und Jüdinnen aus diesem , Volkskörper' . 147 Der zweite geschlechterpolitische Aspekt der Diskussion um die Be setzung des Rheinlandes durch Kolonialtruppen war ihr Beitrag zur zeit genössischen Wahrnehmung einer , Krise' der deutschen Männlichkeit. Oder, wie Maß es formuliert: "Die Debatten über diese Männer und [ ... ] über die weiße, deutsche Frau sind im Grunde symbolische Verdichtungen des Redens über Krieg und Männlichkeit."I48 Einerseits wurde die Nieder lage im Weltkrieg als Verlust von Männlichkeit wahrgenommen und das Gefühl der Unfähigkeit, deutsche, weiße Frauen gegen die Attacken der afrikanischen Männer schützen zu können, ließ diese Niederlage als dop pelte erscheinen. Maß vermutet, dass hier auch am eigenen kriegszittern den Leibe gemachte Ohnmachts- und Impotenzerfahrungen eine Rolle ge spielt haben könnten. 149 Andererseits erlaubte diese Form der Verschie bung der Debatte um Niederlage und Körperlichkeit auf weiße Frauenkör per, die Kriegserfahrungen der Männer zu thematisieren, ohne das Bild des (kriegs )zerstörten männlichen Körpers heraufzubeschwören. 150 Darüber hinaus sahen sich die vormaligen Kolonialherren selbst in der Rolle der Kolonialisierten, die in einer Art der Verkehrten Welt nun ihrer seits von den ,Kolonialvölkern ' besetzt werden sollten.l5I Das war eine Situation, gegen die sich bereits die deutsche Delegation bei den Verhand lungen in Versailles so energisch wie möglich zu wehren versucht hatte.'" Diese scheinbar paradoxe Gleichsetzung von Kolonialisierungserfahrung und B edrohung durch die Kolonialisierten setzte sich auch über die Zeit der Debatten um die Rheinlandbesetzung fort, wie eine Zeichnung aus dem Kladderadatsch vom 10. August 1 924 zeigt. Anlässlich der Londoner 147 Maß 2006, S. 89- 100. 148 Maß 200 1 , S . 23-24. Siehe dazu auch: Koller 2001b, S. 1 54-1 56. 149 Siehe: Maß 200 1 , S . 29-30. Ausführlicher zum Diskurs um die ,Krise der Männlichkeit' in Kapitel 6. 150 Siehe: Ebd., S. 32. 1 5 1 Siehe: Ebd., S. 24; Lebzelter 1985, S. 41 ; Wigger 2007, S. 133-135. Diese Einschätzung ging Hand in Hand mit konservativen Befürchtungen von der rassischen Degeneration der Weißen oder ihrem Untergang am Ende eines "fatalen Rassenkriegs". (Siehe: Martin 1996, S. 2 1 2-216, Zitat S. 212; Wigger 2007, S. 1 4 1 - 143.) Zur Bedeutung des Topos von der Verkehrten Welt für die Selbstdeutung der Weimarer Zeit siehe: Geyer, M.H. 1998, S. 1 6- 1 7 sowie die Ausführungen im folgenden Kapitel. 152 Siehe: Campt 2004, S. 35.
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Konferenz ( 16.7. bis 1 6.8.), der ersten internationalen Konferenz, an der (ab dem 5.8.) erstmals nach Ende des Ersten Weltkrieges wieder eine deut sche Delegation teilnehmen durfte, und die den für die wirtschaftliche Er holung der Weimarer Republik entscheidenden Dawes-Plan verabschiede te, wurde die Gruppe der Entente-Mächte als wilde Kannibalen dargestellt, die auf Ankunft der Deutschen wartete, um sie kochen und verspeisen zu können (siehe: Anhang Abb. 9. 13). Neben der öffentlichen Präsenz der politischen Aktivistinnen und der Diskussion um eine , Krise der Männlichkeit' war eine weitere geschlech tergeschichtliche Facette der Auseinandersetzungen um die Senegalschüt zen die Rede von der B edrohung deutscher, weißer Frauen durch die afro französischen Truppen selbst. Ähnlich wie bereits Siebenpfeiffer und Schetschke und andere in Bezug auf die Debatten um die sogenannten Lustmörder angemerkt haben, wurde auch im Rahmen der Diskussionen um die ,Schwarze S chmach' die deutsche Frau als "naive[s] , Gretchen'" und "hilfloses Lustobjekt" männlich-triebhafter, in diesem Fall explizit , schwarzer' Sexualität stilisiert. 153 Wie in Pamphleten, Broschüren und Zeitungsartikeln immer wieder betont wurde, waren die angeblich regel mäßig stattfindenden Überfälle auf weiße Frauen die Folge des ,naturhaf ten', starken Sexualtriebes und der andererseits qua , niedrigem' Stand der Zivilisation mangelnden Triebkontrolle. "Der schwarze Soldat", der "nur seinem Naturtrieb" nach handele, wurde damit als genau derjenige Wilde dargestellt, auf den in der psychiatrisch-medizinischen Fachliteratur ver wiesen wurde, um den Zustand der sogenannten Psychopathen zu kenn zeichnen. 154 Pierre, beni m m dich ! Regulation männ licher Sexu alitäten
Um kurz zu rekapitulieren: Psychopathen galten im Fachdiskurs der Zeit als Individuen, die auf Grund eines ererbten Defektes seien wie die Wil den. Ihnen fehle angeblich der zur Selbstdisziplinierung nötige Wille. Die ser galt als das exklusive Privileg weißer, gesunder Männer: Kriminellen, kranken oder nicht-weißen Männern wurde unterstellt, sie seien zu dieser Art
der Triebkontrolle nicht fähig und würden von ihrer Körperlichkeit
beherrscht statt umgekehrt sie zu beherrschen. Gleichzeitig war aus wis153 Lebzelter 1 985, S. 46. Gleichzeitig nahm die Reglementierung weiblichen Verhaltens zu. Frauen, die freiwillig Beziehungen zu Angehörigen der Be satzungstruppen aufnahmen, wurden durch entehrende Strafen (Haar schneiden, Schläge, Kehrdienst) ihres sozialen Umfeldes scharf sanktio niert. Siehe dazu: Wigger 2007, S. 130- 1 3 l . 154 Lang 1 92 1 , S . 1 1 . Dies ist eine Darstellung, die i m deutschen Kolonialdis kurs bis dahin in dieser Form nicht in Erscheinung getreten war. Wie ich im dritten Kapitel bereits demonstriert habe, wurde die weiße Frau entwe der von den servilen Kolonialisierten aus der Feme angebetet, wie in Hey es Hatako, oder als Herrin selbstlos umsorgt und beschützt, wie in Maders Ophir.
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senschaftlicher Perspektive die Grenze zwischen Psychopathie und Ge sundheit nicht genau auszumachen. Vielmehr wurde ein Kontinuum von (Ab-)Normalität entworfen, in dem jeder Mann nach Faktoren wie erbli cher Disposition, Lebenssituation, Klassenzugehörigkeit, Alkoholkonsum oder Alter eingeordnet wurde. Diese Einordnung war fluide und oft auch uneindeutig. In diesem Sinne wurde der Kannibale (beziehungsweise der Lustmörder) nicht als binär codiertes Gegenüber oder als Projektion! Abjektion des Mannes konstruiert, sondern war inhärenter Bestandteil sei ner Identität. Der normalistische Diskurs der Medizin, Psychiatrie und Kriminologie suggerierte zwar einerseits eine binäre Trennung zwischen ,normalen' und , anormalen' Männlichkeiten. Andererseits wurde in diesem Diskurs gleichzeitig ein Normalfeld von Geschlechteridentitäten etabliert, in dem diese Identitäten verortet wurden. Auf diese Weise wurde eine hegemonia le, weiße, bürgerliche Männlichkeit entworfen, die sich durch multiple und teilweise widersprüchliche Bezüge auf andere Identitäten definierte: auf Wilde, Kinder, Frauen, Tiere sowie andere Männlichkeiten, etwa homose xuelle oder nicht-weiße Männer. Gleichzeitig wurde der weiße, männliche Körper als gefährliche Inkorporation atavistischer Triebhaftigkeit aufge fasst. Nach Ansicht der Experten galt: Der Kannibale hauste in jedem Mann. Nur die permanente Selbstkontrolle des Einzelnen, das zentrale Kennzeichen weißer, hegemonialer Männlichkeit, konnte seinen Ausbruch verhindern. Richard Dyer hat diese Verschränkung der Artikulationen von race und gender sogar als das besondere Charakteristikum weißer männlicher Korporealität bezeichnet: "White men are seen as divided, with more powerful sex drives but also a greater will power. The sexual dramas of white men have to do with not being able to resist the drives or with struggling to master them. " 155
Weiße Männlichkeit sei demnach dadurch gekennzeichnet, dass sie als körperlich und gleichzeitig ihre Körperlichkeit überschreitend entworfen werde.156 Dyer spricht hier von der weißen, heterosexuellen Männlichkeit im US-amerikanischen Kontext der 1 990er Jahre. Zu ganz ähnlichen Er gebnissen kommen Studien zur Konstruktion von Männlichkeiten in ande ren (post-)kolonialen Situationen z.B. für die Südstaaten der USA oder im britischen Empire.157 Dass diese Einschätzung auch für die Männlichkeit der Weimarer Republik zutrifft, zeugt von der postkolonialen Situation Deutschlands nach 1 9 1 8, der fortdauernden Wirkungsmächtigkeit des bürISS
Dyer 1997, S. 27. 156 Siehe: Ebd., S. 14-15, 27-28. 157 Einschlägig dazu: Schröder 2003; Haie, G. 1 998 und Kasson 2002 für die Geschichte der Vereinigten Staaten sowie Sinha 1 995 für das britische Empire.
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gerlichen Geschlechtermodells und der Bedeutung der kolonial rassistischen Diskurse für dasselbe. Ausgehend von diesen Überlegungen eröffnet sich eine weitere, bislang in der Forschung nicht thematisierte geschlechterhistorische Dimension der Auseinandersetzungen um die afro französischen Truppen. Wie einleitend bereits erwähnt, konzentrieren sich die bislang vorlie genden Forschungsarbeiten darauf, den historischen Diskurs von der Alterität der afro-französischen Soldaten und die zu Grunde liegende binä re Opposition von schwarzen und weißen männlichen Körpern zu rekon struieren. 158 Selbst Maß, die auf die Schwierigkeiten dieses Modells hin weist, hält an dieser Vorgehensweise und dem binär strukturierten Kon zept fest. 159 Diese Herangehensweise erweist sich mit Blick auf meine obi gen Ausführungen als gleichzeitig richtig und analytisch zu kurz gegriffen. Denn sobald wir die Untersuchung auf die Prozesse der Artikulation des Paares schwarzeriweißer Körper ausweiten, ohne ein Oppositionsverhält nis vorauszusetzen, wird deutlich, dass die in der Forschung konstatierten Prozesse der Projektion und Abjektion jeweils Teile eines komplexen Be ziehungsgeflechtes waren. An Stelle einer binären Opposition können wir die Konstruktion verschiedener Männlichkeiten beobachten, die alle auf den gleichen Grundannahmen über die gewaltsame , Natur' des männli chen Körpers basierten. Gleichzeitig können wir diese Männlichkeiten innerhalb eines Normalfelds von Männlichkeiten verorten, das sich zwi schen den Kategorien ,Rasse' , Klasse, Geschlecht und Gesundheit auf spannte. Oder anders formuliert: Der schwarze, französische Soldat war in der Tat alles, was der weiße Mann nicht war, aber was er hätte sein kön nen, sobald die Fassade aus Kultur, Zwang und Zivilisation zusammen brach und er die Kontrolle über seinen triebhaften Körper verlor. Ein Ge fahrenszenario, das, wie wir bereits gesehen haben, im Kontext des kolo nialen Projekts unter dem Schlagwort des Tropenkollers sowie im Zu sammenhang der Debatten um die sogenannten psychopathischen Lust mörder bereits thematisiert wurde. Angesichts dieses Befundes erscheint eine Verschiebung des Blick winkels notwendig. Denn wenn, wie oben dargestellt, die Neigung zur Gewalttätigkeit, zu Lustmord, Sadismus und Kannibalismus inhärenter Bestandteil der Konstruktion ,normaler' weißer Korporealität war, dann erscheint die Rekonstruktion einer Exklusionsbewegung, welche gewalttä tige Anteile dem als ,rassisch' Anderen Markierten zuschrieb, nicht länger sinnvoll. Vielmehr gilt es, die von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als entscheidendes Kriterium wahrgenommene Fähigkeit zur Kontrolle der männlich-gewaltsamen Impulse ins Zentrum der Analyse zu stellen. Ähn lich wie die Debatten um die sadistischen Lustmörder gleichzeitig sowohl 158 Siehe : Maß 2001 , S. 25-27; Maß 2006, S. 76-105; besonders ausführlich bei Koller 2001a, S. 201 -26 1 ; Lebzelter 1985, S. 44-55. 159 Siehe : Maß 200 1 , S. 27.
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eine männliche Alterität produzierten als auch das legitimerweise von Männem auszuübende Maß an Gewalttätigkeit festlegten,l60 betrafen die Auseinandersetzungen um die Tirailleurs Senegalais und die angeblich durch sie verübten Sexualverbrechen Fragen der biopolitischen Regulati on: Welcher Mann durfte legitimerweise gegenüber welcher Frau seine Triebhaftigkeit ausleben? Wann war Selbstkontrolle nötig? Wann und wo nicht? Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen und ausgehend von den Befunden der bisher vorliegenden Forschungsliteratur können wir drei As pekte festhalten, die bislang wenig Beachtung gefunden haben. Erstens wurde, metaphorisch gesprochen, die Lautstärke des Diskurses über die (Ab-)Normalität sexualisierter Gewalt und die Bedeutung der Triebkon trolle als Differenzmarker normaler, weißer Männlichkeit mit der Debatte um die angeblichen Gräueltaten der Senegal schützen hochgeregelt. Wie Koller eindrücklich zeigen konnte, machten die einschlägigen Zeitungsbei träge einen signifikanten Anteil der B erichterstattung über Kolonialtrup pen generell aus, stellenweise bis zu knapp 1 7 Prozent. In den Jahren zwi schen 1920 und 1 923 waren solche Beiträge permanent signifikant prä sent. 161 Diese Debatte wurde zeitgleich zu der Problematisierung der Ent fesselung männlicher Gewalt im Krieg und deren anschließender Einhe gung geführt, auf die ich im nächsten Kapitel ausführlicher eingehen wer de. Auf diese Weise bildete der Diskurs um die sexualisierte Gewalt der afro-französischen Truppen das Gegenstück zum zeitgleich geführten Dis kurs über weiße Triebkontrolle und Kriegstrauma. Des Weiteren können wir festhalten, dass die Diskussion um die legi time oder illegitime Anwendung von Gewalt gegen Frauen unter rassisti schen Gesichtspunkten bereits seit der deutschen Kolonialzeit geführt wurde. Karikaturen wie die bereits zitierte "Die Macht der Gewohnheit" aus dem Simplizissimus des Jahres 1 904 (siehe: Anhang Abb. 9.6) griffen diese Debatten auf. Was in den Kolonien als , normales' Verhalten gegen über dem weiblichen Geschlecht galt, war ganz und gar kein akzeptables Verhalten gegenüber weißen Frauen in der deutschen Heimat, weshalb der zurückgekehrte Kolonist seine Ehefrau ,schwarz' anmalte, mithin ,ras sisch' umkodierte. Der Darstellung lagen damit zwei unhinterfragte Vor aussetzungen zu Grunde. Erstens: die Kopplung männlichen sexuellen Be gehrens mit Gewalttätigkeit einerseits und von Kolonialisierung und sexu alisierter Gewalt andererseits. Zweitens: Die Anwendung von Gewalt ge genüber ,schwarzen' Frauen befand sich innerhalb der Parameter ,norma len' weißen Verhaltens, unabhängig von dem Ort, an dem sie ausgeübt wurde. Diese Verfügungsgewalt über indigene Frauenkörper galt als ein Privileg des Kolonialherrn, welches erst im Laufe des Kolonialprojektes
160 McLaren 1997, S. 9. 161 Siehe: Koller 2001a, S. 230.
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hinterfragt wurde.162 Diese Kritik speiste sich allerdings nicht aus humani tären oder menschenrechtlichen Erwägungen, sondern aus Überlegungen des Machterhalts. Dazu gehörten, wie ich in den vorangegangenen Kapi teln dargelegt habe, einerseits eugenisch motivierte Zweifel an der Nach kommenschaft aus den sogenannten Mischehen und die Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle im Tropenkoller als Zeichen des Verlusts der Fähigkeit, die Kolonialisierten zu regieren, andererseits. Gewendet auf die Diskussion um die Senegalschützen können wir schließen, dass afro französische Soldaten sich damit in den Augen der deutschen Gesellschaft der Weimarer Republik wie die Kolonialherren aufführten, ein Befund, der die in der Literatur bereits thematisierte Wahrnehmung einer Verkehrten Welt und einer ,Krise' der weißen hegemonialen Männlichkeit unterstützt. Drittens schließlich ist deutlich erkennbar, dass der Vorwurf der ge zielten Regulation oder genauer (De)Regulation männlicher Sexualität den Kern der Klagen gegen die französische Besatzungsmacht bildete. Zum einen wurde eine fiktive Verschwörung zur gezielten "Verseuchung der deutschen Volksgesundheit" unterstellt, und zum anderen wurde der Vor wurf erhoben, dass die Triebhaftigkeit der Kolonialsoldaten strategisch als Mittel zur Einschüchterung der deutschen Bevölkerung missbraucht wer de. 163 In diesem letzteren Zusammenhang wurde auch auf den doppelten Standard, den die französischen B esatzer in B ezug auf die Freizügigkeit ihrer Soldaten angeblich anwendeten, hingewiesen. "Derselbe Neger, der in Frankreich als Mensch zweiter Klasse behandelt und dort durch die schärfste Disziplin im Zaum gehalten wird, soll also auch weiterhin sich im Rheinlande als Sieger und Herr betragen dürfen."164 Waren für die afro französischen Truppen weiße, deutsche Frauen angeblich frei verfügbar, so galten für sie innerhalb der Grenzen des französischen Nationalstaats die kolonial-rassistischen Restriktionen. Dieses Paradox forderte deutsche Karikaturisten geradezu heraus. So veröffentlichte beispielsweise R. Rost im Jahr 1 9 2 1 eine Zeichnung über den Heimaturlaub eines Kolonialsolda ten, deutlich zu erkennen an den stereotypen dicken Lippen und der dunk len Hautfarbe, der in Paris von seinem weißen französischen Kameraden von einem Übergriff auf eine weiße Französin abgehalten werden musste (siehe: Anhang Abb. 9. 14): "Pierre, benimm dich. Wir sind hier nicht in Deutschland!"
162 Die Rote Fahne wendete die Kritik an dem Machtmissbrauch und der se xuellen Ausbeutung indigener Frauen sogar auf klassenspezifische Pro bleme im Mutterland an, indem sie in einem Bericht vom 5. Juni 1 930 von einem 65-jährigen "Lustgreis" berichtete, der sein Dienstmädchen "wie im dunkelsten Afrika" misshandelt habe. (Siehe: "Es ist wie im dunkelsten Afrika", Rote Fahne 5.6. 1 930, Beilage. 163 Lang 1 92 1 , S. 5-6, 1 1 (Zitat); Maß 2006, S. 199, 206-2 1 3 und Lebzelter 1985, S. 49-51 . 164 Rheinische Frauenliga (Hg.) 1920, S . 3 .
6 . D e r B o dy P o litic isst sich s elbs t : H u n ge r , D e ge n e ra tio n u n d M e ns c h e n fleisch
Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, existierte in der deutschsprachigen
kriminologischen
und
psychiatrisch-medizinischen
Fachliteratur um 1 900 ein differenzierter Diskurs zum Thema Kannibalis mus, in dem eine Verknüpfung von männlicher Sexualität und Menschen fresserei etabliert wurde. Diese Kopplung von Männlichkeit und Kanniba lismus setzte sich in anderen Diskursfeldern fort. Eines dieser Felder war, wie bereits demonstriert, die Debatte um die sogenannte , Schwarze Schmach' zur Zeit der Rheinlandbesetzung. Aber auch in den Auseinan dersetzungen über die Verfasstheit der sozialen und politischen Ordnung der deutschen Zwischenkriegsgesellschaft ist diese Kopplung zu beobach ten. Das Auftauchen der kannibalischen Lustmörder wurde von vielen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen als Indikator für einen von ihnen wahr genommenen Verfall der politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Ord nung und Werte angesehen. Die zentrale Metapher, über welche in diesem Kontext die Komplexe Männlichkeit und Kannibalismus verbunden wurden, war die der Krise. Die bisherige Forschung zum Thema Lustmord greift diesen zeitgenössi schen Krisendiskurs weitgehend unreflektiert auf und weist dem Ersten Weltkrieg und besonders der Fronterfahrung eine zentrale Bedeutung als enthemmend und misogyne Gewalt fördernd zu. So geht beispielsweise Maria Tatar in ihrer Darstellung über den Lustmord in der Zeit der Wei marer Republik davon aus, dass die Gewalterfahrungen im Schützengra ben, die Erfahrung von Niederlage und der brutalen Konfrontation mit der Verletzbarkeit des männlichen Körpers eine Art "psychic fall-out" erzeugt habe, welcher in Kombination mit den geschlechterpolitischen Auseinan dersetzungen zwischen den zurückkehrenden Soldaten und den in der Heimat gebliebenen Frauen zu Gewaltbereitschaft und Frauenfeindlichkeit geführt habe. Sexualisierte Gewalt wird in diesem Zusammenhang als
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Folge einer Entgrenzungserfahrung und damit als Ausnahmeerscheinung gekennzeichnet.' Diese Interpretation bedarf, ebenso wie die ihr zu Grunde liegende Annahme der Verknüpfung von Krise und Männlichkeit zur Zeit der Weimarer Republik, aus der Perspektive der geschlechterhistorischen Forschung der Differenzierung. Darüber hinaus brachte der Erste Weltkrieg, wie eine ganze Reihe von Studien demonstriert hat, überaus ambivalente Folgen für das Geschlech terverhältnis mit sich. Der Krieg selbst war, gerade auf Seiten der politi schen Rechten, als Verjüngung oder lang ersehnte Bewährungsprobe deut scher Männlichkeit begrüßt worden, die Rückkehr in die demokratische Zivilgesellschaft wurde als die eigentliche Niederlage deutscher Männ lichkeit interpretiert, die sich nun der Autorität der Frau beugen sollte.' Gleichzeitig kam es in der Folge des Krieges einerseits zu einer Prononcie rung der bipolaren Geschlechterordnung des Kaiserreichs, vor allem in der Heldenverehrung und durch die das Verhalten von Frauen reglementieren den Prostitutionsverordnungen.J Andererseits wurde das bürgerliche Kon zept der getrennten Sphären durch die im Rahmen der Kriegswirtschaft zunehmende außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen in Frage gestellt und das Frauenwahlrecht durchgesetzt; Phänomene, die häufig mit dem Schlagwort von der , Neuen Frau' verbunden wurden.' Karen Hagemann und Ralf Pröve sprechen in diesem Zusammenhang von einer "Paradoxie", die sich auch im internationalen Vergleich beobachten lässt.s Des Weiteren wurden nach Ende des Krieges die Unversehrtheit des männlichen Körpers und die damit identifizierte männliche Leistungsfa-
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Tatar 1997, S. 12. Die meisten Forschungen interpretieren die Lustmörder im Kontext männlicher Gewalt und Misogynie der Modeme generell, wel che durch die in der Folge des Ersten Weltkrieges in Bewegung geratenen Geschlechterverhältnisse dann verstärkt worden seien. Siehe beispielswei se: Lewis 1997, S. 224 sowie Siebenpfeiffer 2002, S. 1 1 2. In ihrer Mono graphie Böse Lust, in der Siebenpfeiffer die Diskurse um männliche wie weibliche Gewaltverbrechen in der Weimarer Zeit rekonstruiert, tritt dieses Erklärungsmodell hingegen in den Hintergrund. Stattdessen rekonstruiert die Autorin ausführlich den zeitgenössischen Diskurs vom Zusammenhang von Krieg und Kriminalität (Siebenpfeiffer 2005, S. 58-61). Siehe: Breuer 1993, S. 3 1-32, 42-43 . Siehe: Grossmann 1983; Allen, A.T. 1993; Schilling 2002, S. 268-269. Ein Gegenstand umfangreicher Forschungen der Frauen- und Geschlech tergeschichte. Dazu einschlägig: Evans 1976a; Frevert 1986; Danie1 1989; Kundrus 1995; Allen, A.T. 2000 sowie BridenthallKoonz 1984; Thebaud 1995 und Rouette 1 997; Weitz 2007, S. 305-3 1 1 . Hagemann/Pröve 1998, S. 26. Eine gewisse Ambivalenz wurde auch durch die Erfahrungen der Soldaten selbst in die Geschlechterverhältnisse einge tragen: Im Zusammenhang des Kriegsgefangenentheaters hatten jüngere Männer nicht nur auf der Bühne, sondern auch im alltäglichen Lagerleben eine weibliche Geschlechteridentität angenommen, welche gerade durch die Beziehungen dieser cross-dresser zu ihren Verehrern heterosexuelle Geschlechternormen in Frage stellte, aber gleichzeitig auch bürgerliche Männlichkeit bestätigte. Siehe: Rachamimov 2006, S. 377, 3 8 1 -382.
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higkeit problematisiert. Heimkehrende Soldaten waren oft versehrte Män ner, die sich selbst als "Krüppel", als ihrer "Virilität, Attraktivität und Durchsetzungsfähigkeit" beraubt sahen. Als Bettler waren diese dysfunk tionalen männlichen Körper auf den Straßen, vor allem in den Großstäd ten, auch optisch präsent.' Die Beurteilung und Behandlung von traumati sierten Soldaten, den sogenannten Kriegshysterikern oder auch Kriegszit terern war ein umstrittenes Thema in Medizin und Gesellschaft. Handelte es sich um angeblich degenerierte, psychopathische Persönlichkeiten, die einer stärkeren Disziplinierung bedurften, oder um Simulanten? Wie konn ten Männer an einem traditionell Frauen zugeschriebenen Krankheitsbild leiden? - Dies waren Fragen, auf die Antworten gesucht und nicht immer gefunden wurden.' Heimkehrer sahen sich in einer schwierigen Lage: Sie erlebten "die ,weiße Frau' als übermächtig", waren "ihr ausgeliefert, von ihr abhängig" und hatten umgekehrt nur ihre eigene "Schwäche anzubie ten."8 Darüber hinaus war die militärische Niederlage, besonders für das konservativ-völkische Milieu, geschlechterpolitisch aufgeladen: die "nati onale Niederlage im Krieg" galt hier als "eine der deutschen Männlich keit."9 Zu erinnern ist hier auch an das Bild vom deutschen Mann, der an geblich machtlos die Vergewaltigung weißer Frauen durch afro französische Soldaten mit anschauen musste, welches in den Pamphleten gegen die Rheinlandbesetzung gezeichnet wurde. Diese Verknüpfung von Nation und Maskulinität war seit den Anti Napoleonischen Kriegen im Diskurs um die Nation fest verankert. Erstens war das Leitbild der "patriotisch-wehrhaften ,Mannlichkeit'" fester Be standteil der hegemonialen Männlichkeit des Kaiserreichs und auch der Weimarer Republik. Zweitens galt die Nation, der body politic, als männ licher Körper. 10 Dementsprechend wurde in den 1 920er Jahren bei der Re6
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Frevert 1996a, S. 166. Siehe dazu auch: Cohen, D. 200 1 , S. 61-97; Kienitz 200 1 . Dieses Phänomen beschränkte sich keineswegs auf Deutschland und ist auch für Großbritannien, die Vereinigten Staaten untersucht worden. Weg weisend dazu: Bourke 1996, hier besonders ihre Ausführungen zum Umgang mit amputierten oder behinderten Körpern, S. 3 1 -75 sowie Cohen, D. 2000. In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von Untersuchungen erschienen, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Siehe: von Braun 1989; Lerner 1 998; Lerner 2003, hier v.a. S. 86-123, 1 24-162 ; Malleier 1996; Showalter 1 997, bes. S. 62-75; Lamott 200 1 , S. 108-138; Reichardt 2005 sowie Mich1 2007, S. 185-192, 239-259. Frevert 1996a, S. 166. Der Begriff der "weißen Frau" wurde ursprünglich von Klaus Theweleit eingeführt und bezeichnet ein positiv besetztes Weib lichkeitskonzept in dem Frauen als asexuell, rein und damit ,weiß' (auch im rassistischen Sinne) dargestellt werden (siehe: Theweleit 1986, S. 1 2 1 176). Schilling 2002, S. 3 1 3 . Siehe dazu auch: Maß 2006, S. 20-21 ; Kühne 1998; Ulrich 1999; Behrenbeck 1999. Hagemann 2002, S. 304-340, Zitat S. 305. Auch zu diesem Themenkom plex liegen umfangreiche Studien vor. Vgl. neben der bereits genannten
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de vom Verfall männlicher Tugenden oder Körper stets auch über den der Nation verhandelt. Der body politic schien allerdings nicht nur mit Blick auf die Kriegs heimkehrer gefahrdet. Die männliche, bislang unversehrte Jugend, gleich sam die Zukunft der Nation, drohte den Lockungen und Lastern der Groß stadt zu verfallen. Das Schlagwort in diesem Zusammenhang war das der "Vergnügungssucht". Anstatt männliche Tugenden auszubilden, gaben sich die jungen Männer den degenerativen Einflüssen des Kinos, des Tan zes und einer ausschweifenden, möglicherweise sogar perversen Sexualität hin. Diese Debatte war Teil einer gesamtgesellschaftlichen Auseinander setzung mit dem Thema Jugend und Jugendlichkeit, die bereits im Kaiser reich begonnen hatte und sich nun angesichts ökonomischer und politi scher Umwälzungen weiter zuspitzte. II Wie ist nun angesichts dieses For schungsbefundes der Diskurs von der Krise der Männlichkeit zur Zeit der Weimarer Republik zu bewerten? In ihrem Überblickswerk zur Geschichte der Männlichkeiten der Neu zeit Es ist ein Junge! stellen Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz fest, dass sich die Rede von der Krise der Männlichkeit in der Modeme in aller Regel auf die hegemoniale, weiße, heterosexuelle, bürgerliche Männlich keit bezog; andere Männlichkeiten wurden im Gegensatz dazu nicht als krisenhaft wahrgenommen.12 Von dieser Beobachtung ausgehend, argu mentieren die beiden Autoren, dass es sich bei der Betonung der Krise der Männlichkeit nicht um eine Diagnose, sondern vielmehr um eine diskursi ve Strategie der Stabilisierung einer Geschlechteridentität handele, die als solche stets historisch wandelbar und prekär sei: "Die hegemoniale Männ lichkeit steht offensichtlich im Zentrum dieses vermeintlich kohärenten Systems, das durch die Rede von der Krise suggeriert wird. "13 Aus diesem Grunde empfehlen Martschukat und Stieglitz "Krise" strikt als Quellen begriff aufzufassen und ihn als heuristisches Instrument nutzbar zu ma chen.
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Monographie auch Hagemann 1 998, S. 87-89; Hagemann 1 997 sowie die Arbeiten von Ute Frevert (Frevert 1996b; Frevert 1 996a; Frevert 1 997; Frevert 200 1 , v.a. S. 39-49, 228-245). Vgl. aber auch: Reichardt 2005, S. 2 1 8-229 (hier besonders zu jugendlichem Paramilitarismus und einer neu en Aneignung der soldatischen Männlichkeit). Ich verwende den engli schen Begriff des body politic an dieser Stelle synonym mit dem der Nati on, um einerseits die oben dargestellte körper- und geschlechterpolitische Dimension und andererseits die sozialdarwinistische Komponente, welche, wie wir sehen werden, die Diskussion um die Nation in der Weimarer Zeit mitbestimmten, hervorheben zu können. Siehe dazu auch: HaIe, D. 1 973. Eine ausfiihrliehe Auseinandersetzung mit der Geschichte der Jugend und der Jugendbewegungen der 1 920er Jahre würde den hier gegebenen Rah men sprengen, daher sei an dieser Stelle nur kurz auf die einschlägigen Publikationen verwiesen: Koebner/Janz et al. (Hg.) 1 985, hierin bes. Mommsen 1 985 sowie Peukert 1 986a, S. 139-1 50. Siehe: Martschukat/Stieglitz 2005, S. 82-83. Ebd., S. 83.
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Diese geschlechterhistorischen Vorbehalte gegenüber einer unreflek tierten Verwendung des Begriffs der Krise der Männlichkeit zur Zeit der Weimarer Republik entsprechen Überlegungen, die in der Forschung über die Anwendbarkeit des Krisenbegriffs angestellt werden. Nachdem sich in der Historiographie, gerade in Anschluss an Detlev Peukerts Interpretation der Weimarer Zeit als die "Krisenzeit der klassischen Moderne",I' die Kri se als Deutungsmuster durchgesetzt hatte, wird dessen "Schlüssigkeit und Reichweite" nun zunehmend auf den Prüfstand gestellt. 15 Dabei wird nicht in Abrede gestellt, dass Zeitgenossen und Zeitgenossinnen der Weimarer Republik den Begriff der Krise als Beschreibungskategorie gebrauchten. Allerdings, so das Argument, sei er nicht nur im Sinne von Verfall und Zusammenbruch gebraucht worden, sondern auch zur Kennzeichnung von Chancen, die sich aus der Umbruchssituation nach Ende des Weltkrieges ergaben. Entsprechend wird ein differenzierterer Blick auf den Krisendis kurs in die Quellen eingefordert, geleitet von der Frage: "Von wem, in welchen Kontexten, mit welchen Zielen und mit welchem Ergebnis wurde er eingesetzt?"16 Ausgehend von diesen Überlegungen möchte ich im Folgenden die Verknüpfung von Männlichkeitskonstruktion und Kannibalismusdiskurs, die uns bereits in den vergangenen Kapiteln mit Blick auf das medizinisch psychiatrische Wissen beschäftigt hat, weiter verfolgen. Dabei wird deut lich werden, dass es sich bei dem zeitgenössischen Krisendiskurs um einen Verweis auf eine dreifache Krise handelte: eine der Sittlichkeit, eine der staatlichen Institutionen und eine der männlichen Jugend. Meine Analyse wird deutlich machen, dass der "cannibai talk" (Obeysekere) politisch auf geladen und zur Selbstverständigung über die Lage der Nation, zur Diffa mierung des parteipolitischen Gegners sowie zu einer klassenspezifischen Differenzierung des jugendlich-männlichen Körpers benutzt wurde. Es entfaltete sich, ganz im Sinne Richard Kings, ein "fecund and flexible network of signifying practices", innerhalb derer männliche Identi tätlAlterität artikuliert wurde.17 Oder anders formuliert: Über die Verknüp fung von Kannibalismus- und Krisendiskurs wurden männliche Körper, die Ausübung von Gewalt durch und gegen sie sowie die Überschreitung ihrer Körpergrenzen reguliert und gleichzeitig neben einer ,rassischen' auch eine klassenspezifische Differenz in diese Körper eingezogen. Auf diese Weise wurde, so meine These, hegemoniale, bürgerlich-weiße Männlichkeit in Bezug auf eine Vielzahl nicht-hegemonialer Männlichkei ten, namentlich Homosexuelle, sogenannte Fürsorgezöglinge und die be14 15 16
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Peukert 1 987, S. 266-27 1 , Zitat S. 1 1 (BiO). Föllmer/Graf et al. 2005, S. 1 1 . Siehe auch: Hardtwig 2005, S . 7-8. Föllmer/Graf et al. 2005, S. 24. Siehe dazu auch die Beiträge des von Föllmer und Graf herausgegebenen Sammelbandes, die sich auf die pro duktive Seite der Krise als Moment der Gestaltbarkeit und des Wandels konzentrieren, bes. Graf 2005. King 2000, S. 1 09.
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reits in vorangegangenen Kapiteln ausführlicher thematisierten Psychopa then, artikuliert. Wie wir sehen werden, handelte es sich in diesem Zu sammenhang nicht um einen Prozess der bloßen Übertragung der Katego rien des ethnologischen oder medizinisch-psychiatrischen Wissens vom Menschenfresser auf andere Kontexte, sondern um eine aktive und trans formative Aneigung, in der beispielsweise Elemente des antisemitischen oder des anti-homosexuellen Diskurses aufgegriffen und mit Teilen des Kannibalismusdiskurses verkoppelt wurden. Diesen Kopplungen möchte ich im Folgenden ausftihrlicher nachgehen.
6 . 1 V e r k e h r t e W e l t? De g e n e r at i o n , H u n g e r u n d d e r V e rfa 1 1 d e r 5 i t t l i c h k e i t
"Es war eine unruhige Zeit, damals im Jahre 1 92 1 . Geldentwertung, Teue rung, Hunger, Aufstände, Streiks ... Die Staatsmaschine der j ungen Wei marer Republik ging stockend, unter Knarren und Ächzen. Nur der Appa rat der Justiz lief auf Hochtouren."" So beschrieb der Rechtsanwalt Erich Frey in seinen Erinnerungen Ich beantrage Freispruch die gesellschaftli che Situation im Jahre 1 92 1 , dem Jahr, in dem sein späterer Mandant, Karl Großmann, gefasst wurde. Die Gründe für den desolaten gesamtgesell schaftlichen Zustand sah er in den Folgewirkungen des Ersten Weltkrie ges: "Der Krieg hatte nicht nur Millionen Menschen verschlungen oder zu Krüppeln gemacht, er hatte auch die Seelen verwundet, manche völlig entstellt und ver heert. Die Zahl der Verbrechen stieg ins ungeheure. Hunderttausende, die aus dem Kriege heimgekehrt waren, fanden nicht wieder zurück in ein geordnetes Leben. Hunderttausende fanden keine Arbeit und konnten sich nicht wieder an geregelte Arbeit gewöhnen. Riesig war die Zahl derer, die aus Haltlosigkeit oder auch aus Not das Gesetz brachen."19
Mit dieser Einschätzung war Frey keineswegs allein: In den 1 92Der Jahren war der Konnex von Degeneration und Weltkrieg fester Bestandteil des Diskurses über die kannibalischen Lustmörder. Zu dieser Wahrnehmung 18 19
Frey 1 959, S. 42 (Auslassungszeichen im Original). Ebd., S . 42. Erich Frey fungierte in einer Reihe von Strafrechtsprozessen gegen Mehrfachtäter in der Zeit der Weimarer Republik als Verteidiger. Neben Karl Großmann gehörte zu seinen Mandanten auch Friedrich Schumann. Fritz Haarmann hatte ein Beratungsgespräch mit dem Staran walt, allerdings trat Frey im November 1 924 von dem Mandat zurück (ebd., S. 6 1 -63, 8 1 ). Haarmann behauptete seinerseits, er habe ihn abge lehnt (siehe: Vernehmungen (Protokolle) Haarmann durch Geheimrat Ernst Schultze in der Niedersächsischen Heil- und Pflegeanstalt zu Göttingen, 1 8.8.-25 . 9 . 1 924, NHStA Hann. 1 5 5 Göttingen Nr. 864a, BIl. 298-586, hier BH. 5 52-554).
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trug ganz maßgeblich die (Hyper)Inflation bei, die ganz generell große politische und soziale Folgekosten mit sich führte.20 Sebastian Haffner be schrieb die Erfahrung der Inflationszeit als gewaltsame Entfernung eines Organs namens "Gewissen, Vernunft, Erfahrungsweisheit, Grundsatztreue, Moral oder Gottesfurcht", an dessen Stelle ein Nihilismus eingepflanzt wurde, der Deutschland auf den Nazismus vorbereitet habe. In diesem "gi gantischen karnevalistischen Totentanz" des Jahres 1 923, "dieses nicht endende blutig-groteske Saturnalienfest, in dem nicht nur das Geld, in dem alle Werte entwertet wurden"," galten die kannibalischen Lustmörder den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen geradezu als Verkörperung einer all gemeinen Entsittlichung und des Verlustes der Selbstkontrolle. Allen vor an Karl (Friedrich Wilhelm) Großmann, geboren am 1 3 . Dezember 1 863 in Neuruppin." Aus der Perspektive einer historischen Diskursanalyse er scheint der ,Fall Großmann' als Ort der diskursiven Verdichtung: Hier wurden alle drei Serien, die den zeitgenössischen Kannibalismusdiskurs kennzeichneten, zusammengeführt: es ging um Gier, Konsum und kapita listische Bereicherung, Hunger und die Gewöhnung an Menschenfleiseh, um Gewalt, Männlichkeit und Triebhaftigkeit. Karl Großman n : Der Frauenmörder vom Schlesischen Bahn h of
Großmann wurde am 2 1 . August 1 92 1 in seiner Wohnung in Berlin Lan gestraße 88/89 festgenommen, nachdem Nachbarn die Polizei alarmiert hatten.23 In den folgenden Wochen wurde Großmann intensiv verhört, da 20
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Die Geschichte der (Hyper)Inflation und ihre Bedeutung für die politische Entwicklung der Weimarer Republik ist ein dicht beforschtes Thema in der Neueren Deutschen Geschichte. Auch hier WÜrde eine vollständige Rekon struktion der Forschungsdebatte den gegebenen Rahmen sprengen. Es muss daher genügen festzuhalten, dass die neuere Forschung ein komple xes Bild der Inflationsjahre zeichnet, in dem ein ganzes Bündel aus politi schen, monetären und ökonomischen Faktoren als Ursache für die Ent wicklung angesehen und die "Handlungsspielräume der Politik" als "stark eingegrenzte[ ]" diagnostiziert werden (Kerstingjohänner 2004, S. 389396, Zitat S. 389). Vor allem die Betonung der sozialen und psychischen Folgekosten hat die Debatte um die Inflationsjahre befördert. Dazu siehe: Geyer, M.H. 1 998, S. 382-399; Holtfrerich 1 992; Kruedener 1 989, S. 286 sowie die Beiträge in Jürgen von Kruedeners Sammelband Economic Cri sis and Political Collapse (Kruedener (Hg.) 1 990). Für überblicksartige Zusammenfassungen des jeweiligen Diskussionsstandes siehe: Feldman 1 978; Schneider, M. 1 986; FeldmanIHoltfrerich et al. (Hg.) 1 982 sowie Feldman 1 993, S. 3 - 1 1 . Haffner 2002, S. 54. Siehe: Anklageschrift gegen Kar! Großmann, 6.6. 1 922, LAB, A Rep. 3 5801/1522, Bd. 8, BII. 120- 1 32, hier BI. 120 sowie den handschriftlichen Le benslauf des Massenmörders Kar! Großmann, 1 922 (LAB, A Pr. Rep. 030 C Tit. 198 B/2042). Siehe: Anklageschrift gegen Karl Großmann, 6.6. 1 922, LAB, A Rep. 35801/1 522, Bd. 8, Bll. 1 20-1 32, hier BI. 126 sowie den B ericht über die Fest-
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er der Ermordung einer ganzen Reihe von Frauen, die in Berlin in den Nachkriegsjahren verschwunden waren, verdächtigt wurde.24 Er gestand dabei lediglich diejenigen Morde, die ihm unabhängig von einem Ge ständnis bereits aufgrund von Zeuginnen- und Zeugenaussagen sowie durch Indizienbeweise relativ sicher nachgewiesen werden konnten: die Morde an Johanna Sosnowski und Elisabeth Barthel, von der Großmann angab, er habe sie unter dem Namen "Martha" gekannt." Am 6. Juni 1 922 wurde gegen ihn in diesen Fällen wegen Mordes Anklage erhoben.2• Der Prozess gegen Großmann begann am 1 . Juli 1 922,27 Die gesamte Verhandlung fand jenseits des Blicks der Öffentlichkeit statt: Ein Streik der Berliner Schriftsetzer und Buchdrucker legte die Druckereien in der Zeit vom 27. Juni bis 1 1 . Juli weitest gehend lahm.28 Die Vossische Zei tung verglich diese Zeit mit einem Stromausfall, "durch den die Stadt in [eine] dunkle Nacht" der Unwissenheit "getaucht" wurde.2' Als die meta phorischen Lichter der Stadt wieder aufleuchteten, hatte der Prozess ein unerwartetes Ende gefunden: am 5. Juli hatte sich Großmann im Untersu chungsgefängnis erhängt. 30
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nahme Karl Großmanns, [23.8. 1921], LAB, A Rep. 3 58-0111 522, Bd. 1 , B I . 8 und das Protokoll der Vernehmung von Konrad Böhm, 22.8. 1921, LAB, A Rep. 3 58-0 111 522, Bd. 1 , BlI. 20-21 . Explizit genannt in den Unterlagen der Untersuchungsbehörden sind die Fälle "Lietzensee", "Nikolaussee" sowie der Fall Schubert (Bericht der Kommissare Werneburg und Riemann, o.D. [nach dem 1 6.9. 1 922], LAB, A Rep. 358-0 1 1 1 522, Bd. 1 , BII. 60-71, hier BI. 68). In allen drei Fällen waren Knochen von Frauenleichen aufgefunden worden, denen in ähnli cher Weise Haut und Fleisch entfernt worden war. Die Fälle lagen z.T. be reits mehrere Jahre zurück ( 1 9 1 9 und 1 920). Siehe: Bericht der Kommissare Werneburg und Riemann, o.D. [nach dem 1 6.9. 1 922], LAB, A Rep. 358-01 1 1522, Bd. 1 , BlI. 60-7 1 , hier BI. 67. Großmanns Geständnis zum Fall Marie Therese Nitsche siehe Protokoll der Vernehmung von Karl Großmann, 24.8 . 1 92 1 , ebd., BII. 3 1 -3 8, hier BIl. 34-38. Zum Fall Johanna Sosnowski siehe Protokoll der Vernehmung von Kar! Großmann, 9.9. 1 9 2 1 , ebd., BII. 46-5 1 sowie Protokoll der Verneh mung von Karl Großmann, 25.9 . 1 92 1 , ebd., BI. 53. Zum Fall "Martha" siehe Protokoll der Vernehmung von Karl Großmann, 1 6.9. 1 92 1 , ebd., BII. 54-59. Siehe: Anklageschrift gegen Karl Großmann, 6.6.1 922, LAB, A Rep. 3580 1 11 522, Bd. 8, Bll. 1 20-1 32. Siehe: Protokoll 1. Tag der Hauptverhandlung gegen Großmann, 2.7. 1 922, LAB, A Rep. 358-01/1 522, Bd. 8, BII. 1 62- 1 64. Es kam noch zu zwei wei teren Verhandlungstagen: am 3.7. 1 922 (ebd., BII. 1 64- 1 7 1 ) und am 4.7. 1 922 (ebd., BIl. 1 7 1 - 1 73). "Der Berliner Buchdruckerstreik", in: Kreutz-Zeitung, 12.7 . 1 922 (Abend ausgabe). "Die Stadt im Dunkeln", in: Vossische Zeitung, 1 2.7. 1 922 (Abendausga be). Siehe: Handschriftliche Nachricht des zuständigen Untersuchungsrichters, 5.7.1 922, LAB, A Rep. 3 58-0 1 11 522, Bd. 8, BI. 92. Offizielle Dokumente zum Tod Großmanns (Sterbeurkunde o.ä.) sind im Bestand nicht überlie fert. Vgl. auch den Vermerk des Todesdatum im Strafregister Großmanns
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Der Fall Großmann war zwar auf Grund des Streiks nicht unmittelbar in der Tagespresse präsent, gewann allerdings retrospektiv große Bedeu tung: Die Kette der Aufzählung der Sexualmörder der Weimarer Republik begann häufig bei ihm und er lief als Deutungsfolie bei den Diskussionen um die anderen sadistischen Mörder der Zeit mit." So druckte die Rote Fahne anlässlich des Falles Fritz Haarmann in ihrer Ausgabe vom 1 3 . Juli 1924 eine Karikatur, die Haarmann bei der Zerteilung eines seiner Opfer zeigte und in deren Hintergrund ein Schild zu sehen war, auf dem stand (siehe: Anhang Abb. 9. 1 5) : "Bei mir Grossmann Mittag' s die Braut aufs Brötchen" [sie !]!' Unter Fachleuten galt Großmann als das Paradebeispiel eines Lust mörders aufgrund gesteigerter, ungezügelter Sexualität. Der Mediziner Magnus Hirschfeld beispielsweise führte seinen Fall zur Illustration seiner Erklärung des Lustmordes an, der seiner Ansicht nach vor allem von "Schwachsinnige[n] und Epileptiker[n]" in einer Art "Affekttaumel und in geistiger Schwäche" begangen würden. Der mehrfach vorbestrafte Groß mann, der seiner Schilderung nach aus einer Familie von Geisteskranken stammte und dessen Vater Alkoholiker gewesen war, habe seine Opfer, "halb verhungerte[n] Mädchen", die er am Berliner Ostbahnhof ansprach, zu sich nach Hause gelockt, dort gepeinigt und zerstückelt. "Es würde zu weit führen und zu entsetzlich sein, auf weitere Einzelheiten der ungeheu erlichen Vorgänge einzugehen, die sich sogar bis zur Anthropophagie (Menschenfresserei) gesteigert zu haben scheinen. "33 Sein Fachkollege Arthur Kronfeld (1 886-194 1 ) bezeichnete Großmann sogar als "epileptoi de[n] Imbezille[n] mit stärksten moralischen Defekten und erethischer Hemmungslosigkeit und Affekterregbarkeit", dessen "sadistische und hy persexuelle Disposition" durch die langen Haftstrafen verschlimmert wor den sei.34
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vom 1 2.7. 1 922 (Strafregisterkarte Kar! Großmann, 1 2.7. 1 922, LAB, A Rep. 358-01/1 522, Bd. 1 0, BIl. 1 2- 1 3 , hier BI. 1 3 ) sowie "Selbstmord des Frauenmörders Grossmann", in: Vorwärts, 5.7. 1 922 (Abendausgabe). Siehe beispielsweise: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf, 1 7/730, BI. 232. "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3.7. 1 924. Siehe auch: "Kannibalen", in: Vorwärts, 3 1 . 1 2. 1 924 (Morgenausgabe, Beilage); Hyan 1 924b, S. 3370. Hirschfeld 1 924, S . 62-68, Zitate S. 68. Siehe auch: Heindl 1 929, S. 20 1 205. Kronfeld 1 922, S. 148 (RiO). Kronfeld verweist hier auf einen möglichen Zusammenhang zwischen den Gewalterfahrungen der Täter im Strafvoll zug und der von ihnen ausgeübten Gewalt, der auch in der Biographie Fritz Haannanns und Peter Kürtens zu beobachten wäre und der in der historio graphischen Forschungsliteratur bislang nicht berücksichtigt worden ist. Ebenso wie Großmann war auch Haarmann zum Zeitpunkt seiner Verhaf tung bereits mehrfach vorbestraft und wiederholt in psychiatrischen institu tionen untergebracht gewesen (siehe: Urteil und Urteilsbegründung im
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In der Tat hatte Großmann zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 23 Jahre seines Lebens in Haftanstalten verbracht, wie der vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter Prof. Strauch feststellte.35 Die Vergehen, auf Grund derer er sowohl Gefängnis- als auch Zuchthausstrafen hatte verbü ßen müssen, umfassten Betteln und Landfriedensbruch, sogenannte Sitt lichkeitsverbrechen (teils in Tateinheit mit Vergewaltigungen), widerna türliche Unzucht (hier Bestialität), Bedrohung und Sachbeschädigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch sowie Widerstand gegen die Staats gewalt. Die letzte Zuchthausstrafe vor seiner Verhaftung 1 92 1 ging über eine Dauer von 1 5 Jahren und war im Jahre 1 899 wegen der Vergewalti gung eines zehnjährigen Mädchens mit Todesfolge gegen ihn verhängt worden." Nach seiner Freilassung verdiente Großmann nach eigener Aus sage seinen Lebensunterhalt durch den Handel mit Nähgarn, Druckknöp fen und ähnlichen Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs." Die ihm vorgeworfenen Taten leugnete Großmann hartnäckig. Aller dings war sein Verhalten vor der Verhaftung nach Aussagen von Zeugin nen und Zeugen alles andere als unverdächtig. So hatte er sich vor seiner Verhaftung im Kreise von Bekannten mehrfach mit seiner angeblichen Berufserfahrung als Schlächter und Leichenbestatter gebrüstet. Gegenüber einer Zeugin protzte er:
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Prozeß gegen Friedrich Haannann und Hans Grans, 1 9 . 1 2 . 1 924, NHStA Hann. 1 73 Ace. 3 0/87, Nr. 80, BII. 1 07- 1 55, hier BlI. 1 08, 1 1 0- 1 1 2.) Auch Kürten war vor seiner letzten Verhaftung mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Gegenüber seinen Gutachtern berichtete er von seinen Gewalterfahrungen im Geflingnis. (Siehe: Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2. 1 . 1 93 1 , HStA Düssel dorf, 1 7/73 1 , BI. 260). Soziologische Studien deuten darauf hin, dass sich innerhalb der geschlechterhomogenen Gruppe der Gefangnisinsassen eine Fonn der Hypennaskulinität ausbildet, die sich über die Ausübung von körperlicher und sexualisierter Gewalt definiert. Siehe dazu: die Arbeiten von Mechthild Bereswill (Bereswi11 200 1 ; Bereswill 2003; Bereswill 2004; Bereswill 2006), von Michael Meuser (Meuser 1 999; Meuser 2003) sowie von Gerlinda Smaus (Smaus 2003). Die Klärung der Frage, inwiefern ein solcherart erlerntes Gewaltverhalten für Kürten, Haannann und Großmann eine Rolle gespielt hat, würde den hier gegebenen Rahmen der Darstellung sprengen und muss daher einer späteren Untersuchung vorbehalten blei ben. Siehe: Gutachten Prof. Dr. Strauch über Kar! Großmann, 26.4. 1 922, LAB, A Rep. 358-0 111 522, Bd. 4, BII. 2 1 0-245, hier BI. 224. Siehe hierzu: die Angaben im Auszug aus dem Strafregister Kar! Groß manns, 10.9. 1 92 1 , LAB, A Rep. 358-01 1 1 522, Bd. 4, BIl. 87-88 sowie in der Anklageschrift gegen Kar! Großmann, 6.6. 1 922, ebd., Bd. 8, BII. 1201 32, hier BI. 1 20. Siehe: Anklageschrift gegen Karl Großmann, 6.6.1 922, LAB, A Rep. 35801/1 522, Bd. 8, Bll. 1 20-1 32, hier BIl. 1 20- 1 2 1 .
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"leh arbeite nicht, morde nur die Leute und nehme ihnen das Geld weg. Ich bin Schlächter von Beruf, schlachte aber kein Vieh, sondern nur Frauen. Ich schnei de sie in Stücke und verbrenne die Stücke."38
Außerdem wurde er von verschiedenen Personen nach Einbruch der Dun kelheit mit Taschen und Paketen aus seiner Wohnung kommend gesehen.3' Es entstanden Gerüchte, er habe Handel mit Menschenfleisch getrieben, die im Zuge der Ermittlungen auch nicht ausgeräumt werden konnten. So stritt Großmann zwar systematisch ab, seine Wohnung nach Einbruch der Dunkelheit oder gar mit Paketen unter dem Arm verlassen zu haben, gab aber gleichzeitig an, dass er in Fällen, in denen er sexuell unbefriedigt geblieben war, sich "in derselben Nacht noch ein Mädel heraufgeholt ha be".40 Darüber hinaus suchte er, ebenfalls laut eigener Aussage, nach ei nem Mord oft noch Restaurants auf oder wurde von Bekannten besucht, die ihn mit Paketen unter dem Arm wieder verließen:l Im Zuge der Ermittlungen gegen Großmann meldeten sich vor allem zwei Personengruppen bei den Untersuchungsbehörden. Erstens, und dies ist angesichts der Misshandlungen, über die sie teilweise berichteten, er38
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40 41
Großmann zur Zeugin Martha Henning, wiedergegeben in der Anklage schrift gegen Kar! Großmann, 6.6. 1 922, LAB, A Rep. 3 58-0 1 1 1 522, Bd. 8, BI!. 1 20- 1 32, hier 1 24. Die Angaben zum Beruf Großmanns sind unein deutig. In den Akten findet sich "Arbeiter" (Strafregisterkarte Karl Groß mann, 1 2.7. 1 922, ebd., Bd. 1 0, BI!. 1 2- 1 3, hier B!. 12), "Händler" (Bericht über die Festnahme Karl Großmanns, [23.8. 1 921], ebd., Bd. I , B!. 8; An klageschrift gegen Kar! Großmann, 6.6. 1 922, ebd., Bd. 8, BI!. 1 20-1 32, hier B!. 1 20; Auszug aus dem Strafregister Kar! Großmanns, 1 0.9. 1 92 1 , ebd., Bd. 4 , BI!. 87-88, hier B!. 87) ebenso wie "Schlächtergeselle[ ] " (Gut achten Störmer über Karl Großmann, 20. 5 . 1 922, ebd., Bd. 4, BI!. 246-266, hier B!. 246). Nach eigener Aussage hat Großmann keine Ausbildung im Fleischerhandwerk absolviert. Vielmehr war er in den 1 880er Jahren als Hausknecht bei einem Schlächter angestellt und dort in dieser Funktion beim Schlachten von Schweinen behilflich (Protokoll der Vernehmung von Kar! Großmann, 24.8 . 1 92 1 , ebd., Bd. 1 , BI!. 3 1 -38, hier B!. 32). Siehe beispielsweise: Aussagen der Nachbarn Clemens Netter (Protokoll der Vernehmung von Clemens Netter, 22.8. 1 92 1 , LAB, A Rep. 3580111 522, Bd. 1, B!. 20) und Konrad Böhm (Protokoll der Vernehmung von Konrad Böhm, 22.8. 1 92 1 , ebd., Bd. 1 , BI!. 20-21 , hier B!. 20). Siehe: Protokoll der Vernehmung von Kar! Großmann, 1 .9 . 1 92 1 , LAB, A Rep. 3 58-0111 522, Bd. 1 , BI!. 40-42, hier BI!. 40, 4 1 , 42, Zitat B!. 42. Siehe: Protokoll der Vernehmung von Karl Großmann, 9.9. 1 92 1 , LAB, A Rep. 358-0111522, Bd. 1 , BI!. 46-5 1 , hier B!. 50. Hier beschreibt er, wie er in seiner Wohnung am Morgen nach einem Mord "Vogelfutter" an einen Bekannten verkaufte und wenige Stunden später den Andreasplatz sowie "einige Restaurants" aufsuchte. Die Gerüchte, Großmann habe das Fleisch seiner Opfer verkauft, haben sich bis heute hartnäckig erhalten. So wird beispielsweise in einer Darstellung über die Geschichte des Berliner Ost bahnhofs berichtet, Großmann habe auf dem Andreasplatz eine Wurstbude betrieben. Die anschließende Aufzählung seiner Taten legt den Verdacht nahe, Großmann habe Wurstwaren vertrieben, die Fleisch seiner Opfer enthielten (siehe: Neumann 2004, S. 62).
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staunlich, sagten viele der Frauen, mit denen Großmann in den letzten Jah ren (auch sexuellen) Kontakt gehabt hatte, bei der Polizei gegen ihn aus. Die zweite Gruppe, die sich nach Großmanns Verhaftung mit der Polizei in Verbindung setzte, waren Angehörige von Frauen, die in den Jahren nach Kriegsende nach Berlin aufgebrochen waren, um dort Arbeit zu su chen, und sich seit längerer Zeit bei ihren Familien nicht wieder gemeldet hatten. Aus den Protokollen dieser Aussagen können wir sowohl die Le benssituation und die Erfahrungen der Frauen als auch Großmanns Vorge hensweise skizzenhaft rekonstruieren. In aller Regel handelte es sich bei den Opfern Großmanns um allein stehende Frauen, deren Männer oder Verlobte gefallen oder in Kriegsge fangenschaft geraten waren. Der Schlesische Bahnhof (heute der Berliner Ostbahnhof), schon zu Zeiten des Kaiserreichs das Tor, durch welches die potenziellen Dienstmädchen aus den ländlichen Gebieten Ostpreußens die Großstadt betraten, war auch zu Kriegsende der Ort, an dem viele dieser Arbeit suchenden Frauen ankamen. Der Andreasplatz in der Nähe des Bahnhofs entwickelte sich zu einer Art Umschlagplatz für Waren, Infor mationen und, wenn die Not der Frauen am größten war, zum Anbah nungsort der Prostitution.42 Hier sprach Großmann gezielt allein reisende Frauen an und bot ihnen, sobald das Gespräch auf Erwerbslosigkeit, Hun ger und Nahrungsmittelknappheit kam, eine Mahlzeit oder eine Tasse Kaf fee in seiner Wohnung an. Manchen unter ihnen erzählte er darüber hinaus auch, dass er auf der Suche nach einer Haushälterin, oder seltener nach einer Ehefrau sei. Großmann zeigte als Beweis dafür, dass er sie auch ent lohnen könne, seine prall gefüllte Brieftasche. Auf dem Weg zu seiner Wohnung kaufte er meist noch Lebensmittel für die Frau ein. In seiner Wohnung angekommen, nahmen sie die Mahlzeit oder den Kaffee ein und meist forderte Großmann im Anschluss von der Frau den Beischlaf.43 Viele 42
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Siehe: Frey 1 959, S. 44. Zur Situation von erwerbstätigen Frauen während und nach der Demobilisierung siehe: Pierenkemper 1 985, S. 1 6 1 - 1 66; Crew 1 998, S. 1 16- 1 36, bes. 1 26-1 27; Bessel 1 987. Bessel berichtet über den Erfolg einer Arbeitsmarktpolitik angesichts der großen Schwierigkei ten der Demobilmachung. Allerdings scheint seine Beschreibung von der Nonnalisierung der sozialen Beziehungen aus geschlechterhistorischer Perspektive etwas arg kurz gegriffen (siehe: ebd., S. 38). Vgl. dazu als Korrektiv: Hagemann 1 990, S. 430-445 und ihre Ausfiihrungen zur Demo bilisierung der Frauenerwerbsarbeit sowie Daniel 1 989, S. 259-275 zu den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und der verstärkten Lohnarbeit auf das Alltagsleben der städtischen weiblichen Bevölkerung. Die Suchanzeigen und Aussagen der Angehörigen machen einen Großteil des Aktenbündels der in Band 5 erhaltenen Unterlagen der GStA Berlin aus, so wie die Aussagen von Zeuginnen gegen Großmann den Löwenan teil des Bandes 4 stellen (siehe: LAB, A Rep. 358-01/1 522, Bd. 4 und Bd. 5). Eine systematische Rekonstruktion der Vorgehensweise Großmanns auf Grundlage dieser Aussagen fmdet sich in der Anklageschrift gegen Karl Großmann, 6.6. 1 922, ebd., Bd. 8, Bil. 1 20-1 32, hier Bll. 1 2 1 - 1 24. Die Be zeichnung "Sittendirne", die hier fiir einige der aufgelisteten Zeuginnen
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Personen aus dem sozialen Umfeld Großmanns wussten von der hohen Fluktuation unter seinen sogenannten ,Haushälterinnen' und auch von seiner Gewalttätigkeit. Niemand erstattete Anzeige.44 Der Blick auf die Situation und die Erfahrungen der mit Großmanns konfrontierten Frauen macht deutlich, dass seine Taten durch die walt Ge otische Nachkriegssituation wenn nicht ermöglicht, so doch wesentlich cha chtert wurden. Damit sind seine Morde nicht Ausdruck eines zivilisa erlei torischen Regresses, ausgelöst durch die Gewalterfahrungen des Ersten Weltkrieges wie zeitgenössisch vermutet, sondern vielmehr des Zusam menspiels von kriegsbedingter Hunger- und Notsituation auf der einen Seite sowie Überlebensstrategien und damit einhergehender Gleichgültig keit durch das soziale Umfeld auf der anderen Seite." Die eingangs vorge steIlte traditioneIle Forschungshypothese von der misogynen Gewalt als "psychic faII-out" des Ersten Weltkrieges:6 die den zeitgenössischen Kri sendiskurs aufgreift, muss also entsprechend revidiert werden. Mörder- und Schieberdämmerung: Kannibalismusdiskurs und die Angst vor dem Verfall der Sittlichkeit
In den Publikationen über die kannibalischen Lustmörder Kar! Großmann, Kar! Denke und Fritz Haarmann, in Zeitungsbeiträgen, in überarbeiteten Wiederveröffentlichungen in Buchform oder in populär-kriminologischen Darstellungen der I 92Der Jahre hingegen war, wie wir sehen werden, diese VorsteIlung vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Weltkrieg und Degeneration oder Entsittlichung weit verbreitet. Gleichzeitig tauchen in den Publikationen drei der in den vorhergehenden Kapiteln rekonstruierten Serien des Kannibalismusdiskurses wieder auf: die Kopplung von morali scher Verwahr!osung-Gier-Kapitalismus, die von Hunger-Gewöhnung Kannibalismus sowie von Gewalt-Triebkontrolle-Männlichkeit. Wie ich im Folgenden demonstrieren werde, zeigt eine genauere Analyse dieser diskursiven Serien jedoch eine Reihe von signifikanten Unterschieden
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verwendet wurde, deutet darauf hin, dass diese Frauen bei der Polizei als Prostituierte registriert waren. Die sogenannten Prostitutionsverordnungen der Nachkriegszeit stellten eine Reihe von weiblichen Verhaltensweisen unter den Generalverdacht der Prostitution, so dass diese Registrierung nicht zwingend bedeutete, dass die hier so benannten Frauen tatsächlich sexuelle Dienstleistungen gegen Geld oder Waren erbracht hatten. Dazu einschlägig: Evans 1 976b; Grossmann 1 983; Allen, A.T. 1 993. Siehe: Frey 1959, S. 43-45. Stattdessen versuchten einige der Nachbarn, Großrnann persönlich zur Rede zu stellen (siehe: Anklageschrift gegen Karl Großmann, 6.6. 1 922, LAB, A Rep. 3 58-01/1 522, Bd. 8, BlI. 120- 1 32, hier BI. 1 2 1). Auch aus biographischer Perspektive erscheint die Theorie vom dezivili sierenden Einfluss der Kriegserfahrung nicht sinnvoll: Großmann war, wie oben gesehen, zur Zeit des Ersten Weltkrieges in Haft. Tatar 1 997, S. 1 2 .
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zwischen dem rechts-konservativen Diskurs und dem in der Publizistik geführten Kannibalismus-Diskurs auf. Erstens wurde im Kontext der Aus einandersetzungen um die weißen Kannibalen Degeneration als der Ver lust von Zivilisation und der damit gleichgesetzten männlichen Selbstkon trolle verstanden, nicht wie bei Anhängern und Anhängerinnen der kon servativen Revolution der Verfall der (Kultur)Nation durch die Etablie rung einer Massendemokratie. Zweitens wurde nicht die Rückkehr in die als weiblich konnotierte demokratische Zivilgesellschaft als krisenhaft wahrgenommen, sondern der Verlust männlich-weißer Selbstkontrolle. Nicht die Unterordnung ,des Mannes' unter die Autorität , der Frau' und seine Verweiblichung wurden problematisiert, sondern im Gegenteil ein Übermaß von Männlichkeit, die Gefahr des Ausbruchs seiner ungezügel ten Triebhaftigkeit. Ein charakteristisches Beispiel für die erste Serie diskursiver Verknüp fungen ist Richard Herbertz' ( 1 878- 1 959) Werk Verbrecher-Dämmerung.'? Hierin untersuchte der Autor die Gründe für die von ihm ebenfalls diag nostizierte "ethische Verwahrlosung" des deutschen Volkes, als deren kriminelle Auswüchse er das "Schiebertum" und den Lustmord ansah. "Bald sind es Verbrechen von unausdenkbarer Scheußlichkeit, mordende, men schenfresserische Unholde, die uns entsetzen, bald sind es Schiebungen größten Stils, Bettügereien und Schein- und Schwindelgeschäfte von ftüher unbekannten Riesenausmaßen, vor denen uns der Verstand stillsteht: Mörder- und Schieber dämmerung! [ . . . ] Wankt der Boden unter unsem Füßen? Ist die ethische Ver wahrlosung unseres Volkes soweit fortgeschritten, daß auch die bisher sichersten Stützen bersten? Stehen wir unmittelbar vor dem Hereinbrechen des russischen Chaos?"'8
Hier tauchte ein Versatzstück des cannibal talk wieder auf, das bereits seit der Frühen Neuzeit umlief: die Kopplung von moralisch-sittlicher Ver wahrlosung, Gier, Kapitalismus und Kannibalismus.'· Hier geschah dies in Form der Schieber, die sich gierig an der Not anderer bereicherten, und der 47
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Herbertz studierte zunächst Chemie, dann Philosophie und Physik an der Universität Bonn, wo er 1 905 promovierte und 1 907 habilitierte. Von 1 9 1 0 bis 1 948 hatte er eine Professur für Allgemeine Philosophie an der Univer sität in Bem inne. Ab den 1 920er Jahren widmete sich Herbertz mehr und mehr kriminalpsychologischen Fragen. Neben Verbrecher-Dämmerung gehört zu seinen dazu einschlägigen Werken auch Die Psychologie des Un terbewussten (Herbertz 1 932). Herbertz war unter anderem der akademi sche Lehrer Walter Benjamins, der 1 9 1 9 bei ihm promovierte. Herbertz 1 925, S. 9 sowie das Vorwort. Es handelte sich hierbei um die Wiederveröffentlichung seiner bereits zuvor in der Presse erschienenen Beiträge zum Thema. Herbertz hatte Pläne für eine weitere Veröffentli chung mit dem Titel "Schieberdämmerung", diese wurden allerdings nicht realisiert (ebd., Vorwort). Siehe: Hulme 1 992, S. 85; Mackenthun 1 997, S. 55-57; Schülting 1 997, S. 88; Jooma 200 1 ; Struck 200 1 ; Obeyesekere 2005, S. 42-43.
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Lustmörder, die in ihrem Sexualrausch das Fleisch ihrer Opfer verschlan gen. Wie wir sehen werden, gab es mit Fritz Haarmann und Karl Groß mann Täter, die beide Ängste auf sich vereinten. Die Einspeisung von Menschenfleisch in die Konsumsphäre wurde, wie wir bereits gesehen ha ben, im Kannibalismusdiskurs in seiner seit Ende des 19. Jahrhunderts um laufenden Fassung als ganz besonders verwerflich angeprangert. Sowohl Ethnologen wie Richard Andree als auch Kriminologen wie Cesare Lombroso, sahen hierin ein Zeichen des evolutionär-niedrigen Standes der Zivilisation einer Gesellschaft. 50 Gerüchte über den Verzehr von Menschenfleisch während oder im An schluss an den Ersten Weltkrieg gab es viele. Eines davon bezog sich auf die russische Oktoberrevolution, die damit verbundenen bürgerkriegsähn lichen Auseinandersetzungen und die dadurch hervorgerufene Hungersnot der Jahre 1 92 1 -23: dem von Herbertz genannten "russischen Chaos". Theodor Lessing behauptete gar, hier hätten Eltern ihre eigenen Kinder verspeist.5l Nicht nur von Lessing, sondern auch von offizieller Seite wur de auf diese Hungersnot rekurriert. So hieß es in einer Druckschrift des Reichsgesundheitsamtes über die desolate Versorgungslage der deutschen Bevölkerung: "Wohin solche Zustände führen, hat das Massensterben und die Heimsuchung des russischen Volkes durch Seuchen in den letztver gangenen Jahren gelehrt."'2 Auf diese Weise wurde genau das Schreckge spenst heraufbeschworen, von dem die anthropologische und kriminologi sche Fachliteratur, namentlich Lombroso, unentwegt sprach: die Gefahr der Gewöhnung an Menschenfleisch in Zeiten der Krise und des Nah rungsmangels." Hier begegnet uns die zweite Serie des Kannibalismusdis kurses wieder: Gewöhnung-Hunger-Kannibalismus, die umso deutlicher zu Tage tritt, wenn wir uns die Ernährungsgewohnheiten von Großmanns Zeitgenossinnen und Zeitgenossen vor Augen führen. Zwar hatte Lombroso in seinem Werk L 'uomo delinquente Fleischkon sum als Gewalt anstachelnd und Aggressionen fördernd verdammt, die zeitgenössische Ernährungsphysiologie hingegen empfahl ganz ausdrück lich den regelmäßigen Genuss fleischlicher Kost. So wurde beispielsweise in einer Gesundheitsbroschüre des Reichsgesundheitsamtes als "Tagesnah rung für einen männlichen Erwachsenen bei mittlerer Arbeit", neben Rog genbrot, Magermilch, Kartoffeln, Erbsen, Reis, Schmalz und Magerkäse eine Mindestmenge von 1 50g mittelfettem Rindfleisch angegeben.54 50 51 52
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Siehe dazu auch Kapitel 2 und 4. Siehe: Lessing 1 973, S. 1 1 . Zum Stereotyp des Verzehrs der eigenen Kin der siehe: Nussbaumer 2003, S. 1 6- 125, hier v.a. S. 3 1 -3 8. Erläuterungen aus dem Reichsgesundheitsamt zur Denkschrift über die gesundheitlichen Verhältnisse des Dt. Volkes im Jahre 1 92011 921 , Berlin 1 922, BArch R 43 111 976, Bn. 2 1 3 -225, hier BI. 225. Siehe: Lombroso 1 887, S. 26, 68-7 1 . Erläuterungen aus dem Reichsgesundheitsamt zur Denkschrift über die gesundheitlichen Verhältnisse des Dt. Volkes im Jahre 1 92011 92 1 , Berlin
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Fleisch galt bereits am Ende des Kaiserreichs als Grundnahrungsmittel in Deutschland. Besonderer Beliebtheit erfreute sich das im Vergleich zum Rindfleisch billigere Schweinefleisch, welches zum Lieblingsfleischartikel der Arbeiter und Arbeiterinnen avancierte: Zwischen 1 850/54 und 1 909/1 3 stieg der Fleischkonsum um 1 2 2 Prozent." Dieser Konsum war nicht nur klassen-, sondern auch geschlechterspezifisch: "Fleisch, die nahrhafte Kost schlechthin, kräftig und Kraft, Stärke, Gesundheit, Blut schenkend, ist das Gericht der Männer", und zwar vor allem derjenigen Männer, die beson ders über ihre Körperlichkeit definiert waren, der Männer der Arbeiter klasse.56 Den empfohlenen und gewohnten Fleischbedarf zu decken, erwies sich jedoch unter den Bedingungen der extremen Inflation zu Beginn der Wei marer Republik als extrem schwierig:" Der Fleischverbrauch pro Kopf reduzierte sich von 52 kg im Jahre 1 9 1 2 auf rund 29 kg im Jahre 1 92 1 . Noch drastischer fallt ein Vergleich des durchschnittlichen wöchentlichen Pro-Kopf-Verbrauches zwischen dem dritten Viertel des Jahres 1 922 und demjenigen vor Beginn des Krieges aus: dieser sank von etwa einem gan zen stattlichen Kilo auf magere 400g.58 Diese kriegs- und inflationsbeding te F leischnot galt, wie wir bereits im Fall Karl Denke am Beispiel des un tersuchenden Staatsanwaltes gesehen haben, als Auslöser für Kannibalis mus. So hieß es im Vorwärts in einem Artikel mit dem Titel "Kannibalen":
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1 922, BArch R 43 I/1976, BII. 2 1 3-225, hier BI. 223. Zu Lombrosos War nung vor Fleischkonsum siehe: Lombroso 1 887, S. 26. Siehe: Davis, B. 2000, S. 69; Nonn 1996a, S. 55; Nonn 1 996b, S . 26-29. Entsprechend kam es 1 9 14 aufgrund eines drastischen Anstiegs des Preises für (Schweine)Fleisch zu ersten sogenannten Teuerungsprotesten. Siehe dazu: Nonn 1 994 sowie Lindenberger 1 994. Bourdieu 1 987, S. 305-3 1 1 , Zitat S. 309 (HiO). Bourdieus Feststellung bezieht sich auf die französischen Arbeiter und Arbeiterinnen der 1 960er Jahre, hat aber, wie sozial- und geschlechtergeschichtliche Untersuchungen demonstriert haben, ebenfalls Gültigkeit für den hier vorliegenden Unter suchungszeitraum. Siehe: Davis, B. 2000, S. 1 69-1 70; Sandgruber 2004, S. 387-390; Wirz 1 997, S . 442-443 . Siehe: Erläuterungen aus dem Reichsgesundheitsamt zur Denkschrift über die gesundheitlichen Verhältnisse des Dt. Volkes im Jahre 1 920/ 1 92 1, Ber lin 1 922, BArch R 43 I/1 976, Bll. 2 1 3 -225, hier BI. 223.) Lebensmittel knappheit war ein immer wiederkehrendes Problem seit Ausbruch des Krieges, siehe: Davis, B. 2000, S. 93- 1 1 3; Crew 1 998, S. 1 66- 187; Allen, K. 2002, S. 59-8 1 . Siehe: Erläuterungen aus dem Reichsgesundheitsamt zur Denkschrift über die gesundheitlichen Verhältnisse des Dt. Volkes im Jahre 1 920/ 1 92 1 , Ber lin 1 922, BArch R 43 I/1976, Bll. 2 1 3-225, hier BI. 223 . Die Situation der Fleischversorgung wurde auch in der Presse thematisiert. Siehe dazu bei spielsweise in der Deutschen Allgemeinen Zeitung: "Aus Groß-Berlin", 1 3 . 8 . 1 920 (Morgenausgabe), S. 3; "Aus Groß-Berlin", 22.8 . 1 920 (Morgen ausgabe), S. 3 ; "Die Fleischversorgung Deutschlands", 26.8. 1 9 2 1 (Mor genausgabe), S. 4.
DER BODY POLITIC ISST SICH SELBST I 253 "In gleicher Weise ist es nicht einfach von der Hand zu weisen, daß nur auf dem
Hintergrund der wirtschaftlichen Not, die in Deutschland größer [ist] als irgend wo anders, in dem kranken Hirne einiger entarteter Menschen die Idee auftau chen konnte, mit Menschenfleisch zu handeln und auch selbst ihren Fleischhun ger an ihm zu stillen. ,,"
Auch die Deutsche A llgemeine Zeitung griff diese Vorstellung eines ur sächlichen Zusammenhanges von Inflationszeit, Fleischmangel und Lust mord auf. In der Ausgabe vom 30. Dezember 1 924 wurden die Ergebnisse von angeblich selbst "angestellten Recherchen" vorgestellt, nach denen Kar! Denke mit dem Verzehr von Menschenfleisch "erst in der Inflations zeit" begonnen haben soll. Wie wir bereits in Kapitel vier gesehen haben, widerspricht diese Aussage den polizeilichen Untersuchungsergebnissen, entsprach aber dem Narrativ vom degenerierenden, entzivilisierenden Ein fluss der Inflationszeit. 60 Darüber hinaus wurde dem Krieg ganz allgemein eine entsittlichende Wirkung zugesprochen, die weit über das Kriegsende hinauswirken sollte. Unter dem Schlagwort der "Kriegsverwilderung"61 wurde postuliert, dass die kulturell anerzogene Sittlichkeit zusammengebrochen sei und nun die gewalttätige Natur des Menschen hervorbräche: "Die in ruhigen Zeiten des Friedens anerzogene Achtung vor dem Menschenle ben schwindet im Kriege. Es werden bei vielen Kriegern tiefere Schichten des Seelischen bloßgelegt. Animalische Instinkte, die im Frieden verdeckt sind, kommen zum Vorschein. Das Raubtier wird geweckt und kann auf das Friedens signal nicht sogleich eingeschläfert werden." 62
Die angeblich ansteigende Zahl der Sexualverbrechen wurde als Indiz für diese Entsittlichung angeführt.63 Sexualität wurde in diesem Kontext zu59 60
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"Kannibalen", in: Vorwärts, 3 1 . 12 . 1 924 (Morgenausgabe, Beilage). "Der Kannibale", in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 30. 1 2 . 1 924 (Morgen ausgabe), S. 3. Ein weiteres Beispiel rur dieses Narrativ liefert der Film Die freudlose Gasse (Sofar-Film-Produktion, 1 925) von Georg Wilhelm Pabst, der die Geschichte des Fleischers Josef Geiringer und der Nacht klubinhaberin, Zuhälterin und Wucherin Frau Greifer erzählt, die sich im Wien der Nachkriegszeit an der Armut ihrer Nachbarn bereicherten. Als Vorlage diente Pabst der gleichnamige Roman von Hugo Betthauer aus dem Jahr 1 924. Der Film wurde mehrfach auf Grund von Zensurbestim mungen gekürzt. Erst zwischen 1 995 und 1997 erfolgte eine umfangreiche Restauration des Originals im Münchner Filmmuseum (Siehe dazu: Horak 1 998). Heymann 1 930, S. 63. Kankeleit 1 925, S. 1 94. Siehe: Heymann 1 930, S. 63. Dieses Phänomen war laut Ansicht des hier zitierten Autoren nicht auf Deutschland beschränkt: ,,[E]ine Lockerung der Moralbegriffe und der Ethik im allgemeinen [sei] bei allen in Mitleiden schaft gezogenen Völkern zu verzeichnen". (ebd., S. 63-64.) In diesem
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sammen mit Hunger als das Hauptmotiv für Kriminalität bezeichnet: ,JIunger und Liebe, uralter Sang der Menschheit, sind die unausrottbaren Triebkräfte in dem Reigen verbrecherischer Ausbrüche. "64 In der zeitge nössischen Wahrnehmung sollte damit auf gesellschaftlicher Ebene genau jene Situation eintreten, vor der Kriminologen und Mediziner in Bezug auf das männliche Individuum stets gewarnt hatten: Der Käfig der Zivilisation und der Triebkontrolle wurde geöffnet und "die Bestie im Menschen", die nur auf einen günstigen Moment gelauert habe, um auszubrechen, könne hervor kommen.6s Auch Erich Wulffen teilte diese Einschätzung. "Die Se xualität" habe durch "Kriege und Staatsumwälzungen stärkste Beeinflus sung erfahren", die "Gewaltsamkeiten des Krieges und der Blutrausch" hätten sich in ihr niedergeschlagen, das Massensterben habe den Überle bensinstinkt beider Geschlechter angefacht, und so komme es zu "Tanz epidemien und anderen Exzessen" sowie zu einer Häufung von "Sexual prozessen".66 In diesem Sinne löste die Vorstellung, Menschenfleisch kön ne als Ware auf dem (Schwarz)Markt in Deutschland zirkuliert haben, bei den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen Zweifel über die eigene sittliche Verfasstheit aus. Entsprechend verwies der von Richard Herbertz verwen dete Begriff der "Mörder- und Schieberdämmerung" nicht auf die Mor gen- sondern auf die Abenddämmerung. 67 Wir können damit an dieser Stelle Fragmente einer Kulturkritik erken nen, die oberflächlich betrachtet als Teil eines konservativen Diskurses anmuten, der sich an anderer Stelle in der Metapher von der "verkehrten Welt" verdichtete, mit der all jenes beschrieben wurde, was als negatives Charakteristikum der eigenen Gegenwart erfahren wurde: "krisenhafte Zustände, das Neu[e], das Revolutionäre".68 Diese Rede von der "verkehr ten Welt" war Teil einer antimodemen Bewegung, die ihre Ursprünge in den 1 890er Jahren hatte.69 Sie umfasste in der Weimarer Zeit ein breit ge-
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Sinne auch: "Kannibalen", in: Vorwärts, 3 1 . 1 2 . 1 925 (Morgenausgabe, Bei lage). Heymann 1 930, S. 3 (HiO). Herbertz 1 925, S. 35-36, 49-50, Zitat S. 49. Wulffen 1 966, S. 470. Gleichzeitig war der Titel des Werks eine Anspielung auf Friedrich Nietz sches Götzen-Dämmerung, worin der Autor eine harsche Zivilisationskritik übte: Religion und Sitte sperrten den Menschen in ein kulturelles Korsett, das ihn entstelle und krank mache. (vgI. Nietzsche 1 969, S. 93, 1 40-142 (zuerst erschienen: Leipzig: Naumann, 1 889)). Geyer, M.H. 1 998, S. 1 6 - 1 7. Siehe: Peukert 1 987, S. 1 1 , 87-9 1 ; Mai 200 1 , S. 1 0- 14. Die Debatte um die Bedeutung der Auseinandersetzungen zwischen vormodernen und moder nen Elementen der deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches und Weimars stellt eine der zentralen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegs historiographie dar. Ausgehend von der Frage, inwiefern "die Machtüber tragung an Hitler aus spezifischen Eigenarten der politischen Entwicklung Deutschlands" (Winkler 1 998, S. 1 29) seit der Gründung des Kaiserreichs erklärbar sei oder nicht, entwickelte sich die sogenannte , Sonderwegsde-
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fachertes Spektrum konservativer bis völkischer Positionen, als deren kleinster gemeinsamer Nenner in erster Linie ein radikaler Nationalismus, die Ablehnung der reflexiven Modernisierung sowie des als ,undeutsch' und westlich begriffenen Parlamentarismus und Pluralismus benannt wer den können. Wie bereits angesprochen, wurde hier die militärische Nieder lage als eine der deutschen Männlichkeit interpretiert; vor allem deshalb, weil , die Krieger' in eine als weibisch wahrgenommene Republik zurück kehrten, in eine Welt, in der sie ihre ,natürliche' Autorität verloren hatten. Mit diesem biologistisch-hierarchischen Geschlechtermodell gepaart mit Antifeminismus gingen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen ein her: Kulturpessimismus und Zivilisationskritik, Rassismus und Antisemi tismus. Diese durchaus heterogene Strömung wird in der Literatur unter dem S ammelbegriff "Konservative Revolution" zusammengefasst. Ihr sind Autoren so unterschiedlicher Prägung wie Oswald Spengler, Werner Som bart und Ernst Jünger zuzuordnen, und sie ging Hand in Hand mit einer Rezeption des Werkes von Friedrich Nietzsche.70 Auch Herbertz nahm Bezug auf Nietzsche und dies nicht nur mit dem Titel seiner Darstellung über die Weimarer Lustmörder, sondern auch in seiner Darstellung Die Psychologie des Unbewußten. Besonders griff er darin auf Nietzsches Argument, dass ,,[i]m verborgenen Grund - also in der unbewußten Seele - des Kulturmenschen [ . . . ] das Raubtier versteckt" sei, zurück. Diese, wie er mit den Worten Nietzsches formulierte, ",prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie''', müsse sich "von Zeit zu Zeit austoben".7! Jedoch zog er aus diesem Teil des nietzscheanischen (Evres völlig andere Folgerungen als die Autoren der Konservativen Revolution. Statt der Verunstaltung des Menschen durch Zivilisation und Kultur betonte Herbertz die Allgegenwärtigkeit der
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batte' , deren Verlauf im Einzelnen nachzuzeichnen nicht die Aufgabe der hier vorliegenden Untersuchung sein kann. Zur Einführung siehe: Moeller 1 984 und Helga Grebings Der deutsche Sonderweg (Grebing 1 986, bes. S. 72-75, 1 93-200). Der Diskussion lag die Annahme eines nationalstaatli chen Normalwegs in die Modeme zu Grunde, welche in der neueren For schung mit Blick auf koloniale und transnationale Prozesse zunehmend kritisiert wird. Als Vorschläge für mögliche Umsetzungen dieser Kritik siehe: Osterhammel 2001 c; Jarausch/Geyer, M. 2003, S. 85-108; Geyer, M. 2004; Sheehan 2006. Siehe dazu: Stern 2005, S. 7-16; Herf 1 984, S. 1 1 - 1 7 ; Planert 1 998, S. 259294; Breuer 1 993, S. 42-43, 70-78, 1 8 1 ; Struve 1 973, S. 223-23 1 ; Mohler 1 989, S. 9- 1 5 , 25-44, 86- 1 29; Bracher 1 982, S. 130-149; Sontheirner 1 992, S . 244-259. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Konservative Revo lution nicht antimodern im Sinne einer grundsätzlichen Technikfeindlich keit oder Ablehnung der Industrialisierung war. Vielmehr handelte es sich um eine Form des "reactionary modemism", der versuchte nationalisti schen Romantizismus und technologischen Fortschritt miteinander zu ver binden (siehe: Herf 1 984, S. 2-3; Breuer 1 993, S . 5; Rohkrämer 1 999, S. 2 1 7-34 1). Herbertz 1 932, S. 1 2 3 . Vgl. Nietzsche 1 969, S . 93, 140-42.
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Gefahr des Kontrollverlustes. In jedem Impuls, in allen Tagträumereien und kleinen Phantasievorstellungen vermutete er einen Ausbruchsversuch des inneren Wilden: "Der durch die Hemmung der Kultur gefesselte Kan nibale in unserm Unbewußten hat sich geregt und gegen seine Fesselung aufbegehrt. "72 Gleichzeitig wurde auf diese Weise die dritte Serie des Kannibalis musdiskurses aktiviert: Gewalt-Triebkontrolle-Männlichkeit. Theodor Lessing ( 1 872-1 933), Beobachter des Prozesses gegen Fritz Haarmann und seinen mutmaßlichen Komplizen Hans Grans, beschrieb den auch von ihm vermuteten Zusammenhang von Kriegserfahrung und Gewalt wie folgt: "Dieses Wolfsturn bei Radio und Elektrizität, der Kannibalismus in feiner Wä sche und eleganter Kleidung, dürfte somit ein Merkmal sein für die Seele der abendländischen Wolfsmenschheit überhaupt; im Kleinen noch einmal dasselbe wiederholend, was im Großen darlebten [sie] fünf Heldenkriegsjahre, in denen jegliches Werkturn des Mordens und jeder Wohlstand seelischen Todes im Dienste des Wolfsherzens und der Wolfsmoral stand und die älteste Erkenntnis wieder die jüngste ward: ,Homo homini lupus e natura', der Mensch ist dem Menschen von Natur der Wolf.""
6 . 2 Me n s c h e n f re s s e r i m S t a a t s d i e n s t ? P o l i z e i v e rs ag e n u n d H a a rm a n n - S ys t e m
Die fünf Jahre zwischen 1 924 und 1 929 gelten aus der Perspektive heuti ger historiographischer Forschung als eine "Phase der relativen Stabilisie rung" der Weimarer Republik.74 Für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen war diese Stabilisierung im Jahr 1 924 alles andere als absehbar. Das Jahr der Hyperinflation war geprägt von Putschversuchen aus den Reihen der 72 73
74
Herbertz 1 932, S. 1 2 3 . Lessing 1 973, S. 200. Lessing studierte zunächst Medizin in Freiburg i.B., Bonn und München, ab 1 895 wechselte er allerdings zur Psychologie, Lite ratur sowie Philosophie und wurde 1 899 in an der Universität Erlangen promoviert. Der bekennende Sozialist Lessing nahm nach Ende des Krie ges seine vom Kriege unterbrochene Lehrtätigkeit an der TH Hannover wieder auf, ab 1 922 als außerordentlicher Professor der Pädagogik und Philosophie. Teile seines Lebensunterhaltes verdiente Lessing mit der Ver öffentlichung von Essays und Feuilletonbeiträgen (z.B. im Prager Tag blatt). Nach einer kritischen Formulierung über Paul von Hindenburgs Eignung zum Reichspräsidentenamt in einem dieser Beiträge führte die deutschnational-völkisch orientierte Studentenschaft der TH eine antisemi tische Hetzkampagne gegen ihn. 1 926 stellte Lessing seine Vorlesungstä tigkeit ein und das preußische Kultusministerium wandelte seinen Lehr- in einen Forschungsauftrag um. Lessing floh 1 933 nach Marienbad, wo er 1935 von sudetendeutschen Nationalsozialisten ermordet wurde. Zu Leben und Werk Lessings siehe: Poetz1 1 978; Lenk 1 995; Marwedel 1 987; Schoeps 1 997; Kotowski (Hg.) 2006. Kolb 2002, S. 57.
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politisch extremen Rechten wie auch der Linken. Vor allem nach den nie dergeschlagenen Aufständen in Hamburg verschärften sich die Auseinan dersetzungen zwischen Regierungs-SPD und KPD. Im Herbst am 23. No vember 1 923 wurde ein Verbot gegen die KPD ausgeprochen. Der Aus nahmezustand, am 26. September 1 923 angesichts der Ruhrunruhen ausge rufen, wurde erst am 1 3 . Februar 1 924 wieder aufgehoben. Richard Her bertz' Frage, ob die Republik "unmittelbar vor dem Hereinbrechen des russischen Chaos" stehe, schien also eine durchaus berechtigte zu sein. '5 Fritz Haarmann: Der Werwolf von Hannover
In dieser Situation flammte in Hannover, etwa elf Monate nach Ende des Prozesses gegen Großmann, ein Verdacht wieder auf, der bereits seit Län gerem vor Ort geschwelt hatte: "daß in der schweren Notzeit Menschen fleisch auf dem Markt verkauft worden sei."76 Ein Ausgangspunkt dieser Gerüchte war die Entdeckung von insgesamt sechs menschlichen Schädeln am Ufer der Leine zwischen dem 1 7. Mai und dem 24. Juni 1 924." Die aufgeschreckte Bevölkerung suchte am 8. Juni, dem Pfingstsonntag des Jahres 1 924, in einer skurril anmutenden Selbsthilfeaktion das Flussufer ab. Am 5. Juli ließ die Polizei Teile der Leine absperren und durchsuchte das Flussbett. Hierbei wurde eine größere Anzahl menschlicher Knochen entdeckt, darunter 22 rechte Oberschenkelknochen, so dass von mindes tens ebenso vielen Opfern ausgegangen wurde. Die Knochen stammten ausschließlich von jungen Männern, viele davon im Alter zwischen 1 5 und 20 Jahren.'· Ab diesem Zeitpunkt ging die Polizei davon aus, dass Mord vorliegen könnte, und konzentrierte ihre Untersuchungen auf die polizei lich erfassten homosexuellen Männer Hannovers.79 Als am 22. Juni 1 924 Friedrich (Fritz) Haarmann, geboren am 25. Oktober 1 879 in Hannover, verhaftet und als Hauptverdächtiger in Untersuchungshaft gehalten wurde, geschah dies eher zufällig denn in Folge systematischer Polizei arbeit: Haarrnann hatte selbst einen jungen Mann auf der Bahnhofswache der Po lizei Hannover als Ausreißer mit falschen Papieren angezeigt. Der junge Mann beschuldigte nun seinerseits Haarmann, ihn zur Onanie genötigt zu haben und trat damit eine Untersuchungswelle gegen Haarmann los, weI cher von der Polizei bereits seit Längerem, allerdings bislang erfolglos, 75 76 77
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Herbertz 1 925, S. 9. Vg1. dazu Oberreuther 1 984 und Schumann 2001 , S. 203 , 3 59. Lessing I 973 , S. 1 7. Siehe: Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 1 9. 1 2 . 1 924, NHStA Hann. 1 73 Ace. 30/87, Nr. 80, BI1. 1 07-155, hier BI. 1 24. Siehe: Lessing 1 973, S. 1 7- 1 8. Haarmanns homosexuelle Praktiken waren der Polizei zum Zeitpunkt der Verhaftung bekannt. Vg1. Unveröffentlichte Erinnerungen zum Fall Haar mann von Kriminalinspektor Lange, 3 . 7 . 1 9 6 1 , NHStA Hann. 87 Ace. 1 1 6/84, Nr. 1 1 , Bll. 1 5-28, hier BI. 1 6.
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beobachtet worden war.'o Haarmann wurde verhaftet und legte kurze Zeit darauf ein erstes Geständnis ab, in dem er den Mord an acht jungen Män nern zugab." Seine Wohnung war zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal im September des Jahres 1 9 1 8, als die beiden Schüler Friedel Rothe und Hermann Koch vermisst wurden, durchsucht worden. Beide Male hatten die Beamten keine Hinweise auf den Verbleib der beiden jungen Männer gefunden, jedoch waren andere männliche Jugendliche bei ihm angetroffen worden, mit denen er nach eigener Aussage gegenseitige Masturbation praktiziert hatte. '2 Haarmann hatte sich vor seiner Verhaftung 1 924 über mehrere Jahre hinweg erfolgreich in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität bewegt. Einerseits hatte er Geschlechtsverkehr mit wechselnden jungen Männern und pflegte Kontakte zu Zuhältern und Prostituierten.83 Anderer seits arbeitete er als Informant für die Hannoversche Kriminalpolizei, gründete gemeinsam mit dem pensionierten Polizeibeamten August 01fermann das Privatdetektivbüro "Lasso" und führte einen selbst gefertigten Ausweis mit sich, der ihn als Mitarbeiter dieser Detektei auswies.'4 Sein enger Kontakt zur Polizei war in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld gut bekannt." Dabei war Haarmann mehrfach vorbestraft: Für (wiederhol ten) Diebstahl, Sachbeschädigung, Betrug, Betteln und Körperverletzung hatte er zwischen 1 905 und 1 922 immer wieder Gefangnis- und Zucht hausstrafen verbüßt." Dieser Umstand musste der Öffentlichkeit und den Untersuchungsbehörden um so deutlicher vor Augen treten, als dass nach der pazifistischen Grundstimmung der Anfangsjahre der Republik, in der die Entmilitarisierung mit einer Devaluierung der kriegerisch-soldatischen
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Siehe: Bericht an Justizministerium, 28.7. 1 924, NHStA Hann. 87 Acc. 1 1 6/84, Nr. 1 1 , Bll. 29-32, hier BI. 30 sowie Unveröffentlichte Erinnerun gen zum Fall Haarmann von Kriminalinspektor Lange, 3.7. 1 96 1 , ebd., BII. 1 5-28, hier, BII. 1 6- 1 7. Siehe: Bericht an Justizministerium, 28.7. 1 924, NHStA Hann. 87 Acc. 1 1 6/84, Nr. 1 1 , B11. 29-32, hier BI. 30. Siehe: Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 1 9 . 1 2 . 1 924, NHStA Hann. 1 73 Acc. 30/87, Nr. 80, B11. 1 07- 1 55, hier BII. 1 1 1 - 1 12. Siehe: Aussagen Haarmanns über seine Beziehungen zu anderen homose xuellen Männern in Hannover, in: Vernehmungsprotokolle aus Hannover (Juli/August 1 924), NHStA Hann. 1 55 Göttingen Nr. 864a, BII. 630-675 sowie Auszüge aus den Vernehmungen Haarmanns vom 5.7.-1 2.7. 1 924, ebd., BII. 941 -944. Siehe dazu: die Aussage von August 01fermann, 1 .8. 1 924, NHStA Hann. 155, Göttingen Nr. 864a, BII. 766-770 sowie Urteil und Urteilsbegrundung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 1 9 . 1 2. 1 924, NHStA Hann. 1 73 Acc. 30/87, Nr. 80, Bll. 1 07- 1 55, hier BII. 1 1 6-1 1 7. Hyan 1 924a, S. 2 1 -22; Lessing 1 973, S. 43-46. Siehe: Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 19. 1 2. 1 924, NHStA Hann. 1 73 Acc. 30/87, Nr. 80, BII. 1 07- 1 55 , BII. 1 1 0-1 1 1 .
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Männlichkeit einherging, ab Mitte der I 920er wieder verstärkt ein positi ver Bezug auf die soldatische Männlichkeit hergestellt wurde.'? Von Spitzeln, Tanten und Sadisten: Politische Ü bercod ierungen
Der Fall Fritz Haarmann wurde während der Voruntersuchungen sowie während des Prozesses gegen ihn und seinen mutmaßlichen Helfer Hans Grans zu einem Politikum. In der Presse wurde immer wieder Kritik an der Arbeitsweise der Kriminalpolizei vor Ort, dem Polizeiapparat generell und in Verbindung damit am Staatsapparat im Allgemeinen geäußert. Die kommunistische Presse, aufnationaler Ebene vertreten durch die Tageszei tung Die Rote Fahne, spitzte diese Kritik in besonderer Weise gegenüber dem politischen Rivalen der kommunistischen Partei, der SPD und ihren Vertretern in der Exekutive, zu. Aufgrund der Rolle der KPD als direkter Konkurrentin um die Stimmen der Arbeiter und Arbeiterinnen sowie ange sichts der Bündnispolitik der SPD, welche als Regierungspartei auf die Unterstützung der rechts-nationalistischen Freicorps zurückgriff, sobald es um die Niederschlagung kommunistischer Aufstände ging, kam dieser Kri tik eine besondere Bedeutung zu." Der zentrale Vorwurf, den sie dabei erhob, war, dass der "Menschen fleischhändler" und "Massenmörder" Haarrnann als politischer Spitzel, als "Vertrauensmann" der Polizei, gegen die kommunistische Partei in Han nover eingesetzt worden sei.89 Als Indizien dafür wurden angeführt, dass Parteimitglieder ihn auf den Fahndungsfotos, die in den Lichtspielhäusern der Stadt gezeigt wurden, als Teilnehmer kommunistischer Versammlun gen wieder zu erkennen glaubten und dass die Polizei seinen Einsatz ge genüber Vertretern oder Vertreterinnen der KPD nicht explizit verneint 87 88
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Siehe dazu: Schilling 2002, S. 290, 292-3 14; UlrichiZiemann 1 997, S. 913. Für einen generelleren Überblick über die Diskussion des Falles Haarmann in der deutschen Presse siehe: Siebenpfeiffer 2005, S. 22 1 -233. Sie benpfeiffer unterscheidet dabei drei Phasen. Während die erste Phase durch die regionale und überregionale Presse dominiert war (Juli 1 924), zeichne te sich die zweite durch einzelne Abhandlungen oder längere Darstellun gen aus, die in landesweit erhältlichen Tages- und Wochenzeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht wurden (Ende Juli bis Dezember 1 924). Die dritte Phase umfasste die Berichterstattung über den Prozess (4. 12.20. 1 2 . 1 924). Meine Beobachtungen konzentrieren sich, in dieser Chrono logie gesprochen, auf die zweite und dritte Phase. Auch Siebenpfeiffer di agnostiziert den von mir ausftihrlicher analysierten Diskurs um den entsitt lichenden Einfluss des Ersten Weltkriegs (ebd., S. 229). "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3 .7. 1 924. Haarmann sei in diesem Sinne Teil eines wahren "Spitzelsumpfles]", der durch die vom Reichsprä sidenten Friedrich Ebert erlassenen Presseeinschränkungen, eine Art "zivi len Ausnahmezustand[esJ", gefördert worden sei. Siehe: "Der Spitzel sumpf in Deutschland", in: Rote Fahne, 1 5.7. 1 924.
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hatte.90 Umgekehrt konterten Blätter, die der SPD nahe standen, mit der Frage, wie es denn sein könne, dass Haarmann Zugang zur KPD gefunden habe. So verwehrte sich die Rote Fahne gegen einen Bericht des Hambur ger Echo: "Selbstverständlich ist es dem stadtbekannten früheren Zucht häusler und homosexuellen Sadisten Haarmann nicht gelungen, in die kommunistische Organisation einzudringen. Er war aber trotzdem ein poli tischer Spitzel und hat, wie die meisten, die gar keine Verbindung be kommen, das beste Material geliefert", nämlich Erfindungen, die denen eines "Achtgroschenjungen" ähnelten.9! Haarmann wurde damit jeweils als Anhänger oder Instrument des jeweiligen politischen Gegners beschrieben. Weiterhin behaupteten kommunistische Darstellungen, dass die Polizei gegen einen bekannten Informanten gar nicht habe durchgreifen wollen und so habe ihre Untätigkeit und schlampige Arbeit Haarmanns Taten überhaupt erst ermöglicht: "Daß er [Haarmann] nicht verhaftet wurde, dafür kann nicht die mangelnde Intel ligenz der Hannoverschen Polizeibehörden allein verantwortlich sein. Dafür war notwendig, dqß sich die Hannoversche Polizei bewußt Augen und Ohren verschloß". 92
Die Verhaftung Haarmanns wurde dem gegenüber als Erfolg der "Selbst hilfe der Bevölkerung" dargestellt und nicht als Folge systematischer poli zeilicher Ermittlungen.93 "Selbsthilfe" habe die Bevölkerung nicht nur bei der Verhaftung Haarmanns ausgeübt, sondern habe diese auch hinsichtlich Urteilsfindung und -vollstreckung fortsetzen wollen. Drohende Lynchjus tiz sei der Grund gewesen, warum Haarmann in Haft genommen worden sei. Diese Version ist nach allen anderen Berichten und Zeugen- und Zeu ginnenaussagen kontrafaktisch, passt aber sehr gut in das Narrativ vom Versagen der Polizei. Das Thema wurde später in den B erichten über die Festnahme Kürtens wieder aufgenommen: Seine Verhaftung sollte auch nicht das Ergebnis gezielter Ermittlungen gewesen sein, sondern der "Ver dienst eines tapferen Proletariermädchens" .94 Aus den Unterlagen der Staatanwaltschaft Düsseldorf geht jedoch hervor, dass Kürten aufgrund der Aussage seiner Ehefrau gestellt wurde.9s Dieser grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber staatlichen Orga nen entsprechend wurde der Prozess gegen Haarmann (und Grans) in der 90 91 92 93 94 95
Siehe: Katz [ 1 924], S. 9. "Das Spitzelverwertungsgeschäft der SPD", in: Rote Fahne, 20.7.1 924. Katz [ 1 924], S. 4 (HiO). "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3.7. 1 924. "Warum Kürten ungestört morden konnte", in: Rote Fahne, 3 .6. 1 930. Siehe: Bericht über die Verhaftung von Peter Kürten, 25.5. 1 930, HStA Düsseldorf 1 7/53 1 , BI!. 1 2- 14. Zur Bedeutung der zeitgenössischen Dis kurse um die "Selbsthilfe" siehe: Geyer, M.H. 1 998, S. 3 9 1 -396.
DER BODY POLITIC ISST SICH SELBST I 261
kommunistischen Presse als "Komödie" bezeichnet, weil die ihrer Ansicht nach gegebene Mitverantwortung der hannoverschen Polizei nicht thema tisiert worden sei.96 Zunächst bezogen sich die Vorwürfe vor allem auf die konkrete Situation in Hannover und waren gegen die politisch Hauptver antwortli!;:hen gerichtet: erstens gegen Gustav Noske ( 1 868- 1 946), der seit 1 920 Oberpräsident der preußischen Provinz Hannover war, und zweitens gegen earl Wilhelm Severing ( 1 875- 1 952), der seit November 1 9 2 1 zum zweiten Mal das Amt des preußischen Innenministers (bis Oktober 1 926) bekleidete. Beide hatten in den vorhergegangenen Jahren als Entschei dungsträger ganz maßgeblich die Verantwortung für die gewaltsame Nie derschlagung von mehreren Arbeiter- und Arbeiterinnenaufständen getra gen; Noske als Volksbeauftragter für Heer und Marine sowie als Reichs wehrminister im Falle des Spartakusaufstandes 1 9 1 9 (in dessen Folge Ro sa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet worden waren), der Berliner Märzkämpfe des gleichen Jahres sowie der Aufstände in München und Bremen;97 Severing in seiner Funktion als Reichs- und Staatskommissar für das rheinisch-westfalische Ruhrgebiet und als preußischer Innenminis ter im Falle des Ruhraufstandes des Jahres 1 920 und des mitteldeutschen Aufstandes des Jahres 1 92 1 .98 Beide hatten dazu die Zusammenarbeit mit den rechtskonservativen Freikorps nicht gescheut und standen aus Sicht der KPD daher repräsentativ für die Gewalt, welche die SPD im Bündnis mit der politischen Rechten bereit war, gegen ihren politischen Gegner auszuüben. In ihren Berichten setzte die kommunistische Presse die Verfolgung von Mitgliedern der KPD mit den Gewalttaten Haarmanns sprachlich gleich. Sie benutzte dazu das Schlagwort vom "Noske-Haarrnann96 97
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"Der politische Polizeispitzel und Massenmörder Haarmann vor Gericht", in: Rote Fahne, 5. 1 2. 1 924. Noske war 1 906- 1 9 1 8 MdR rur die SPD, entgegen der Mehrheit der Abge ordneten Befiirworter der deutschen Kolonialpolitik und Mitglied der Nati onalversammlung von 1 9 1 9/20. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch ( 1 3 . März 1920) wurde er zum Rücktritt als Reichswehrminister gezwungen und trat anschließend das Amt des Oberpräsidenten der preußischen Pro vinz Hannover an, das er bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozia listen und -sozialistinnen im Jahr 1933 inne hatte. In kommunistischen Kreisen trug er rur seine Verwicklung in die Niederschlagung der Arbeiter und Arbeiterinnenaufstände den Spitznamen "Bluthund" oder auch "Blut noske". Severing hatte von 1 907- 1 2 ein Mandat im RT inne, war 1 9 1 8 Mitbegrün der des Bielefelder Volks- und Soldatenrates und als dessen Repräsentant auf dem 1. Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin. Eben so wie Noske war er Mitglied der Nationalversammlung von 1 9 1 9/20 und war anschließend bis 1 933 MdR. Er bekleidete das Amt des Preußischen lnnenministers unter den Regierungen von Otto Braun und von Wilhelm Marx (29. 3 . 1 920-2 l .4. 1 92 1 ; 7.1 1 . 1 92 1 -6. l 0. 1 926; 22. 1 0. 1 930-20.7. 1 932). Von 1 928 bis 1 930 war er Reichsinnenminister im Kabinett von Hermann Müller.
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System", der "Haarmann-Methoden" oder dem "Haarmann-System".99 Auch mit graphischen Mitteln wurde an dieser Gleichsetzung gearbeitet: auf dem Titelblatt der ersten Auflage von Iwan Katz' ( 1 889-1 956) Darstel lung Zum Fall Haarmann war ein Foto von Noske und eines von Haar mann abgedruckt, so dass die beiden Personen graphisch in Zusammen hang gebracht wurden.JOo Dies war Anlass für Noske, ein Verbot gegen dieses Titelblatt auszusprechen. Die Niedersächsische Arbeiter-Zeitung brachte die Schrift daraufhin ohne Abbildungen auf dem Titelblatt auf den Markt. Auf beiden Versionen war allerdings ein Zitat aus Rosa Luxem burgs "Im Asyl" zu lesen: "Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes un ansehnliches Ding. Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln."lol Angesichts der Ermordung Luxemburgs im Zuge der Niederschlagung des Spartakusaufstandes unter Noskes Ägide war dies ein immer noch sehr provokatives Titelblatt. Die Indienstnahme Haarmanns als politischer Spitzel zeige, so argu mentierte Die Rote Fahne, dass der Staat "sadistische Mörder" und "schwer vorbestrafte Kriminalverbrecher zum Kampf gegen die Arbeiter schaft in Polizeidienste" nehme. J02 Haarmann wurde als Teil des Repres sionsapparates dargestellt, der gegen die KPD von Seiten des (SPD geführten) Staates aufgeboten würde. Seine Taten seien nichts Anderes als die konsequente Fortsetzung der brutalen Vorgehensweise der Polizei: "die Opfer" Haarmanns, sprachlich gleichgesetzt mit Kommunistinnen und Kommunisten, seien ",aufgegriffen' , in den privaten Schlachtraum einer vertierten menschlichen Bestie gelockt und regelrecht geschlachtet, zerlegt, verarbeitet und als Nahrungsmittel wieder verkauft" worden. Die Rote Fahne unterstellte den Kriminalbeamten sogar Bestechlichkeit: Haarmann hätte sie regelmäßig zu "Freß- und Saufgelage[n]" eingeladen, "um die Lukullus sie beneiden würde. "103 99 1 00
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Siehe: "Haannann-System auch in Berlin", in: Rote Fahne, 1 5.7. 1 924; "Massenstunn gegen das Noske-Haannann-System", in: ebd., 25.7. 1 924. Katz war zunächst Mitglied der SPD und wurde nach der Novemberrevolu tion einer ihrer Stadtverordneten in Hannover. Ende 1 9 1 9 trat Katz zur USPD über und gehörte zum linken Flüge der Partei, der sich Ende 1 920 mit der KPD zusammenschloss. Ab 1 9 2 1 war er für die KPD Mitglied des Preußischen Landtages und Leiter der kommunal politischen Abteilung der KPD. 1 923 wurde er Mitglied der Parteifiihrung und im Mai und Dezem ber 1 924 wurde er als Vertreter seiner Partei in den Reichstag gewählt. Er repräsentierte die KPD bis 1 925 beim Exekutivkomitee der Komintern (EKKI). Katz stellte oftmals im Reichstag kritische Fragen und hielt öf fentliche Reden über den Fall Haannann. Siehe: "Schluß mit dem Haar mann-System! ", in: Rote Fahne, 17.7.1 924 und "Kampf dem Haannann System!", in: ebd., 1 8.7. 1 924. Vgl. Luxemburg 2006, S. 55. Ursprünglich erschienen in: Die Gleichheit, 22,8 ( 1 9 1 2), S. I 1 3 - l 1 5 . "Das Menschenschlachthaus", in: Rote Fahne, 1 8.7. 1 924. "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haannann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3.7. 1 924.
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Immer wieder wurden Parallelen zu anderen bereits dokumentierten Fällen polizeilicher Gewalt gezogen und mit den Grausamkeiten Haar manns gleichgesetzt; ganz besonders mit den Vorfällen auf einer Wache in Düsseldorf im Stadtteil Gerresheim. Es hieß, dass "diesselben Motive, die den Massenmörder Haarmann zu seinem unmenschlichen Handwerk trie ben" auch die dort involvierten Polizisten angetrieben hätten: "Moralisch verlumpt und vollständig vertiert gieren diese Bestien danach, über die Arbeiter herzufallen."lo4 Diese "Bestien" seien für das Folter- und Mordge schäft sogar extra angeworben worden: "Zu dieser Menschenschändung genügten die alten Revierpolizisten nicht. Die servilsten, grausamsten, ver tiertesten Folterknechte wurden in den Dienst der Polizei genommen."IOl Auf diese Weise wurden die Beamten unter Aufgreifen der Kategorien des medizinisch-psychiatrischen Diskurses als degenerierte Gewalttäter be schrieben. Je länger die Voruntersuchungen jedoch dauerten, desto häufiger be nutzte die kommunistische Presse das Schlagwort vom "Haarmann System" auch als Bezeichnung für das gesamte politische System der Weimarer Republik. Diese zweite, ausgeweitete Verwendung des Begriffs war gekoppelt an eine Gleichsetzung mit der physischen Ausbeutung der Körper von Arbeiterinnen und Arbeitern durch das Kapital im Allgemei nen. So wie die Polizei sich bei der Verfolgung von KPD-Mitgliedern krimineller und sadistischer Einzelpersonen bediene, so gehe das Kapital ,,[s]chmutz- und bluttriefend ... über Leichenberge, wenn es sich darum handelt, seine politische Herrschaft zu verteidigen". Um in einem bereits "bankrotten auswegslosen kapitalistischen System möglichst große Profite aus den Massen der Arbeitenden herauszupressen", häufe "die herrschende Klasse" mit "derselben Brutalität und Blutgier" wie die kannibalischen Lustmörder ganze "Leichenberge" an.106 Viele der einzelnen Punkte, welche die kommunistische Presse der Kriminalpolizei in Hannover vorwarf, wurden auch in bürgerlichen oder sozialdemokratischen Kreisen geäußert, jedoch weit weniger scharf und ohne eine Gleichsetzung der Methoden der Staatsorgane mit denen des ,Menschenfressers' Haarmann. Ganz ähnlich wie in der Roten Fahne stand dabei die Kritik an der Arbeitsweise der Kriminalpolizei in Hannover im Mittelpunkt, die trotz zweimaliger Hausdurchsuchung und mehrfacher 1 04 Katz [ 1 924], S. 32. Die kommunistische Freiheit prangerte seit 1 923 die Polizeigewalt in Düsseldorf an. Angehörige der KPD wurden dort, nament lich auf der Wache in Düsseldorf-Gerresheim, von Beamten misshandelt und bedroht. Im anschließenden Verfahren sprach das Gericht den rur die Artikel verantwortlichen Redakteur der Freiheit vom Vorwurf der Ver leumdung frei. Dieser Freispruch wurde in der kommunistischen Presse gleich der Feststellung der Schuld der Düsseldorfer Polizei gewertet. 1 05 "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3 .7. 1 924. 106 "Das Menschenschlachthaus", in: Rote Fahne, 1 8.7.1 924.
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Hinweise aus der Bevölkerung nicht energischer gegen Haarmann vorge gangen war. Selbst der Vorwärts, der in vielen anderen Punkten zugunsten von Polizei und Gericht Stellung bezog, sprach davon, dass "die Kriminal polizei [ ... ] sich zumindest der groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht" habe. 107 An gleicher Stelle stand gar zu lesen: "Polizeiorgane, die mit solcher Oberflächlichkeit über Anzeigen, Gerüchte, Ver dachtsmomente hinweggehen, die einen Menschen, welcher des Mordes bezich tigt wird, so wenig sorgfältig überwachen, erfiillen ihre eigentliche Aufgabe, Sicherheit und Leben des Bürgers zu gewährleisten, in keinster Weise."'os
In der Vossischen Zeitung wurde angesichts des polizeilichen Versagens mit Befriedigung festgestellt, dass gegen zwei Beamte ein Disziplinarver fahren eingeleitet wurde.109 Im Gegensatz zur kommunistischen Presse ver traute man hier auf die Selbstreinigungkräfte des institutionalisierten Ver fahrens und sprach statt von systematischen Missständen von "Verfehlun gen einzelner Beamter". Anders als die kommunistischen Organe unter stützten sowohl bürgerliche als auch die sozialdemokratischen Presse stimmen die Entscheidung des Vorsitzenden des Gerichts, die Thematisie rung einer etwaigen Mitschuld der Polizei während des Schwurgerichts prozesses zu unterbinden und stattdessen auf das dazu eingeleitete Diszip linarverfahren zu verweisen."o Diese Vorgehensweise mag juristisch kor rekt gewesen sein. Gemeinsam mit der Gewohnheit des Vorsitzenden, Zeuginnen und Zeugen, die sich zu diesem Thema äußern wollten, das Wort abzuschneiden, trug sie jedoch maßgeblich dazu bei, den Verdacht aufkeimen zu lassen, dass eine tatsächlich bestehende Mitschuld der Poli zei gezielt vertuscht werden sollte. I I I Wir können heute davon ausgehen, dass der Prozess von unterschiedli chen politischen Positionen aus instrumentalisiert wurde, nicht nur von Seiten der kommunistischen Partei. So geht beispielsweise aus der Pro"Mordprozeß Haarmann", in: Vorwärts, 1 1 . 12. 1 924 (Morgenausgabe, Bei lage) (HiO). 108 Ebd. Eine besonders ausfiihrliehe Darstellung der unstrukturierten und un systematischen Vorgehensweise der Polizei gegen Haarmann ist in Hans Hyans Massenmörder Haarmann (Hyan 1924a, S. 7-22) zu finden, veröf fentlicht vor Beginn der Hauptverhandlung. Gleichzeitig war Hyan, zu sammen mit Theodor Lessing, einer der Wenigen, die Verständnis fiir die schwierigen Arbeitsbedingungen der chronisch unterbesetzten und schlecht bezahlten hannoverschen Polizei äußerten (vgl. ebd., S. 38-39; Lessing 1 973, S. 42). 1 09 Siehe: "Der Haarmann-Prozeß", in: Vossische Zeitung, 2 . 1 2 . 1 924 (Mor genausgabe). 1 1 0 Siehe: "Die Polizei im Haarmann-Prozeß", in: Vossische Zeitung, 1 6 . 1 2 . 1 924 (Morgenausgabe). 1 1 1 Siehe: Lessing 1 973, S. 98. Als auswärtige Fachbeobachter zum ProzesS zugelassen wurden laut Lessing nur Magnus Hirschfeld und Hans Hyan (ebd., S. 98-99). 1 07
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zessberichtserstattung des Vorwärts hervor, dass die Staatsanwaltschaft gezielt Aussagen Haarmanns zur Frage einer möglichen Anstellung als politischer Spitzel generiert hatte, die als Widerlegung der kommunisti schen Vorwürfe dienen sollten.ll2 Theodor Lessing wiederum vermutete bei dem bestellten Pflichtverteidiger Haarmanns, dass er ganz und gar "kleinstädtisch" seine Rolle vor Gericht für seine persönlichen Ambitionen auf einen Bürgervorstehersitz in Hannover ausgenutzt habe.1lJ Der Prozess, der vom 4. bis zum 19. Dezember 1 924 stattfand, und an dessen Ende Haarmann des 24-fachen Mordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurde, begleitete zeitlich einerseits den Wahlkampf zu den Wahlen zum Preußischen Landtag sowie dem Reichstag am 7. De zember 1 924. Während die SPD als klare Gewinnerin aus den Reichstags wahlen hervorging und die KPD den Verlust von insgesamt 1 7 Mandaten hinnehmen musste, kann gleiches nicht von den Landtagswahlen behauptet werden: hier verzeichnete die KPD keine derartigen Verluste.114 Anderer seits stand er im Kontext eines weiteren, spektakulären Prozesses, des so genannten Magdeburger Beleidigungsprozesses von 1924, weIcher heute als einschlägiges Beispiel für die politische Justiz der Zeit der Weimarer Republik gilt. Ein nationalistischer Redakteur hatte Reichspräsident Fried rich Ebert beschimpft und auf Grund seiner B eteiligung am Januarstreik 1 9 1 8 des Landesverrats bezichtigt (Ebert hatte sich damals in den Ak tionsausschuss wählen lassen). Das Magdeburger Gericht stufte Eberts Mitgliedschaft im Aktionsausschuss als "objektiv Landesverrat" ein und gab dem Redakteur damit inhaltlich Recht. Nur die ausgesprochene Belei digung wurde aus formalen Gründen bestraft, nicht aber die Verleumdung Eberts als Landesverräter. Erst im Berufungsverfahren, in dem die Gene ralstaatsanwaltschaft das Magdeburger Urteil aufhob, wurde dieser Schritt vollzogen. Ebert verschleppte über diese Verwicklungen eine Blinddarm entzündung, die zum Tode führte: Er starb am 28. Februar 1 925. 115 Im Vorwärts nahm die Berichterstattung über diese Geschehnisse gegenüber dem Haarmann-Prozess einen weit größeren Stellenwert ein: Nur selten gelang einem Bericht über Haarmann der Sprung auf die Titelseite, wäh rend Nachrichten über Entwicklungen im Magdeburger Prozess hier re gelmäßig ihren Platz fanden. Auch in den hier nachgezeichneten Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD klingt eine der Serien des Kannibalismusdiskurses wieder an, die uns bereits mehrfach begegnet ist: die Verkopplung von Gier, Ka1 1 2 Siehe: "Mordprozeß gegen Haarmann", in: Vorwärts, 5 . 1 2 . 1 924 (Abend ausgabe) sowie "Haarmann soll die Noske-Polizei reinwaschen!", in: Rote Fahne, 6. 12. 1 924. 1 1 3 Siehe: Lessing 1 973, S. 97-98, Zitat S. 97. 1 14 Siehe: Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 1 9 . 1 2 . 1 924, NHStA Bann. 1 73 Ace. 30/87, Nr. 80, B11. 1 07-1 55, BI. 1 07. 1 15 Siehe: Mühlhausen 1997, S. 306-308.
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pitalismus und sittlicher Verwahrlosung. In diesem Sinne wurde der Kan nibalismusdiskurs (innen)politisch aufgeladen. Die Polizei galt hierin als pars pro toto für eine bürgerliche Republik, die als politisches System mit dem ökonomischen, dem Kapitalismus, gleichgesetzt und als degeneriert und gewalttätig charakterisiert wurde: als "Menschenschlachthaus". 1 16 Der Staat wurde so zum Instrument kapitalistisch-gieriger Selbstbereicherung deklariert, die der angebliche Spitzel Haarmann, der an Verrat und Tod von Kommunisten verdient hatte, geradezu verkörperte.
6 . 3 Mä n n l i c h e J u ge n d l i c h e i n G e fa h r? Fort pfl a n z u n g u n d A n s t e c k u n g
I nfektionsparanoia: Von der Fortpflanzung des Werwolfs
Neben der Frage nach der Kompetenz und Zuverlässigkeit der Polizei Hannovers waren zwei weitere Themen in der Tagespresse kurz nach Haarmanns Verhaftung und während des Prozesses präsent. Wie ich im Folgenden zeigen werde, war das erste Thema der Fleischhandel Haar manns und der damit stets gleichzeitig mit im Raume stehende Kanniba lismusverdacht. Haarmann hatte, teilweise gemeinsam mit Grans, zwi schen 1 9 1 8 und 1 924 einen schwunghaften Handel mit Diebesgut, erbet telter Ware sowie mit Fleisch betrieben. Die Herkunft dieses Fleisches konnte nie eindeutig geklärt werden. Haarmann selbst stritt immer wieder energisch ab, dass er Teile der Leichen seiner Opfer gegessen, anderen zum Verzehr angeboten oder verkauft habe. 1 17 Stattdessen gab er als Be zugsquelle einen "Schlachterkarl" an, den die Polizei allerdings nicht aus findig machen konnte.1J8 Der andere stets mit angesprochene Themenkom plex war, wie ich im Folgenden demonstrieren werde, Haarmanns Homo sexualität. Vor seiner Verhaftung hatte er regelmäßig allein reisende Ju gendliche beziehungsweise junge Männer im B ahnhof oder in B ahnhofs nähe angesprochen und mit zu sich in die Wohnung genommen. Gleichzei tig muss sein Ruf als regelmäßiger Freier unter den männlichen Prostitu ierten Hannovers bereits 1 9 1 9 so weit verbreitet gewesen sein, dass Hans "Das Menschenschlachthaus", in: Rote Fahne, 1 8.7. 1 924. Siehe beispielsweise: Vernehmungen (protokolle) Haannann durch Ernst Schultze in Hannover, 26.7.-9.8.1 924, NHStA Hann. 1 55 Göttingen Nr. 864a, Bll. 676-734, hier BI. 690; Vernehmungen (Protokolle) Haannann durch Geheimrat Ernst Schultze in der Niedersächsischen Heil- und Pfle geanstalt zu Göttingen, 1 8.8.-25.9.1 924, ebd., BII. 298-586, hier Bll. 337, 381. 1 1 8 Das Gericht stellte daher fest, es bleibe die "Wahrscheinlichkeit bestehen, dass der Angeklagte das Fleisch der ihm zum Opfer gefallenen jungen Leute verkauft hat." (Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Fried rich Haannann und Hans Grans, 1 9 . 1 2 . 1 924, NHStA Hann. 1 73 Acc. 30/87, Nr. 80, Bl1. 107- 1 55 , hier BII. 1 1 1 , 1 1 8, Zitat BI. 1 25.)
1 16 1 17
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Grans, sein späterer Mitangeklagter, sich zielgerichtet an ihn wandte, um gegen Bezahlung mit ihm zu onanieren. "· Die Behandlung dieser beiden Themen variierte zwischen den ver schiedenen Blättern allerdings stark. In den meisten Presseorganen wurde der Kannibalismusverdacht als solcher gekennzeichnet und zumeist ver mittelt, das heißt über eine (teilweise wörtliche) Wiedergabe von Zeugen und Zeuginnenaussagen thematisiert. 120 Über die Homosexualität Haar manns wurde weitaus weniger offen berichtet. Der Vorwärts beispielswei se beließ es bei einigen wenigen, fast schon in Fachsprache gehaltenen Beschreibungen. Siehe beispielsweise im Bericht "Mordprozeß gegen Haarmann", vom 5. Dezember 1 924, in dem es hieß: "Die ausführlichen schauervollen Schilderungen des Angeklagten geben ein Bild von äußerst primitivem Denkvermögen und charakterisieren ihn als ein Wesen von niederstem Sexualleben mit groben Manieren. Aus seinen eigenen Aussagen läßt sich herleiten, daß er impotent ist und die normalen moralischen und sexuel len Eigenschaften bei ihm in einem Zustande völliger Verkümmerung sind. Alle natürlichen Hemmungen sind auf ein Mindestmaß reduziert."l2l
Die Kreutz-Zeitung war in dieser Hinsicht am konsequentesten: Ihre ge samte Berichterstattung beschränkte sich auf einige kurze, meist etwa zwanzig Zeilen lange Texte, die in keinem Fall Details über die Morde, Haarmanns Sexualität oder die Frage nach dem Verzehr von Menschen fleisch enthielten. Über die Vollstreckung des Urteils wurde gar nicht be richtet. l22
119
Siehe: Ebd., hier BI!. 1 1 2- 1 1 3 . Vg!. dazu auch Haarmanns Aussagen über seine Beziehungen zu anderen homosexuellen Männem in Hannover in: Vernehmungsprotokolle aus Hannover (Juli/August 1 924), NHStA Hann. 1 5 5 Göttingen Nr. 864a, BI!. 630-675 sowie Auszüge aus den Vernehmun gen Haarmanns vom 5.7.-12.7. 1 924, ebd., BI!. 94 1 -944. 120 So beispielsweise bei der Vernehmung der Zeuginnen Alsdorf ("Mordpro zeß Haarmann", in: Vorwärts, 1 0 . 1 2. 1 924 (Morgenausgabe)) und Engel ("Mordprozeß Haarmann", in: Vorwärts, 10. 12. 1 924 (Abendausgabe)). 1 2 1 "Mordprozeß gegen Haarmann", in: Vorwärts, 5 . 1 2 . 1 924 (Morgenausga be). 122 Siehe die folgenden Artikel der Kreutz-Zeitung: "Aus den Gerichtssälen. Der Haarmann-Prozeß", 5 . 1 2 . 1 924 (Morgen- und Abendausgabe); "Ver mischtes. Der Haarmann-Prozeß", 7 . 1 2. 1 924 (Sonntagsausgabe); "Aus den Gerichtssälen. Der Haarmannprozeß", 9 . 1 2 . 1 924 (Morgenausgabe); "Ver mischtes. Im Haarmann-Prozeß", 1 0 . 1 2. 1 924 (Morgenausgabe); "Aus den Gerichtssälen. Der Haarmann-Prozeß", 1 1 . 12. 1 924 (Morgenausgabe); "Aus den Gerichtssälen. Der Haarmannprozeß", 1 3 . 1 2 . 1 924 (Morgenaus gabe); "Aus den Gerichtssälen. Der Haarmannprozeß", 1 4. 1 2. 1 924 (Mor genausgabe); "Vermischtes. Haarmann und die Polizei", 1 5 . 1 2 . 1 924 (Mor genausgabe); "Der Strafantrag rur Haarmann", 1 8. 1 2. 1 924 (Morgenausga be); "Haarmann und Grans zum Tode verurteilt", 1 9 . 1 2. 1 924 (Morgenaus gabe).
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Die kommunistische Rote Fahne scherte aus dieser Zurückhaltung je doch vollständig aus. Was während des Prozesses bis zum Schluss nicht beweisbar blieb, wurde hier in den Berichten als Fakt dargestellt: Haar mann, der Menschenfresser, habe einen "ausgedehnten Fleischkonserven und Wursthandel" mit "Abnehmer[n] in allen deutschen Großstädten" be trieben. Speisewirtschaften in Hannover habe er mit "Fleischbouletten in größten Mengen zu billigsten Preisen, Sülze, Fett und sonstige[n] begeh renswerte[n] Dinge[n]" beliefert. Er wurde dargestellt als reicher, wohlge nährter Mann, der in Zeiten prasste, in denen andere hungerten. Haarmann, so die Berichte weiter, habe "einen großen Anhang" in der kriminellen und homosexuellen Szene Hannovers gehabt. Er habe Jugendliche und junge Männer für bürgerliche Homosexuelle und deren Orgien beschafft. 123 Dem gegenüber wurden die Opfer Haarmanns als "arme Teufel" be schrieben, "die froh waren, Unterschlupf zu haben und sich satt essen zu können". Nach "homosexuellen und sadistischen Orgien" habe Haarmann ihnen die Kehle durchgebissen, dann "sorgfältig das Blut abgelassen" und sie anschließend "in aller Form tranchiert".124 Diese Beschreibung ähnelt stark der eines sogenannten Ritualmordes, bei dem Juden und Jüdinnen angeblich christliche Kinder oder Jugendliche, in der Regel männlich und bis zu 20 Jahre alt, ermordeten, um ihr Blut zu "verschiedenen religiösen oder magisch-medizinischen Zwecken" oder zur Herstellung von Matzen zu verwenden. Aufgrund der Ähnlichkeit zum Schächten waren jüdische Metzger, die fachmännisch tranchieren und Blut ablassen konnten, beson ders häufig Ziele dieses antisemitischen Vorurteils.125 Auf diese Weise wurde in der Roten Fahne eine diskursive Verbindung zwischen Juden tum, Blut, Kapitalismus und Homosexualität aufgebaut. Haarmann wurde mithin zur einer Art , Super-Monster' stilisiert: Schieber, Polizeispitzel, Mörder, Sadist, Kannibale, Ritualmörder und Homosexueller. Während damit der antisemitische Ritualmorddiskurs in der kommunistischen Pres se aufgegriffen wurde, wurde dieser auf Seiten der Publikationen der ex tremen Rechten nicht thematisiert: der Völkische Beobachter, das Organ der nationalsozialistischen Bewegung, war nach dem Putschversuchs Hit lers im November 1 923 bis zu seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft im Jahr 1 925 verboten.l26 Aber auch in dem antisemitischen Stürmer fin den sich keine entsprechenden Artikel. Ganz generell ignorierte das Blatt 123
"Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3.7. 1 924. 124 Ebd. 125 Erb 1995, S. 74. Wie ich im 4. Kapitel gezeigt habe, galt der Ritualmord glaube im medizinisch-psychiatrischen Fachdiskurs, dessen Kategorien von Degeneration und Sadismus in den Presseartikeln zur Beschreibung Haarmanns und anderer Täter ebenfalls Verwendung fanden, als inhaltlich unbegründetes und unwissenschaftliches Vorurteil. Damit ist an dieser Stelle eine Verknüpfung zu beobachten, gegen die sich die Fachwissen schaftier energisch verwehrt hätten. 126 Stöber 2005, S. 252.
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den Prozess gegen Haarmann und berichtete stattdessen über das Verfah ren gegen Nathan Leopold und Richard Loeb in Chicago oder benutzte den B egriff des Psychopathen oder die Unterstellung eines Sexualverbrechens zur Diffamierung des politischen Gegners.1 27 Ganz entgegen der Berichterstattung durch die Rote Fahne war von der Presse von Seiten des Gerichts ausdrücklich eine zurückhaltende Darstel lung erbeten worden: Am 8. Dezember 1 924 wandten sich der Vorsitzende sowie der Staatsanwalt vor Eintritt in die Sitzung an die anwesenden Ver treter und Vertreterinnen der Presse mit der Bitte, "sich in der Berichter stattung nach Möglichkeit zu beschränken", da "die Mitteilungen aus dem Haarmann-Prozeß eine zu starke Gefährdung der deutschen Jugend" dar stellen könnten.128 Hinter dieser Befürchtung standen einerseits die Beden ken der vorwiegend christlich geprägten Sittlichkeitsbewegung sowie an dererseits die in der medizinisch-psychiatrischen, kriminologischen und juristischen Fachliteratur vertretene Auffassung, psychische Erkrankungen und normabweichendes Verhalten seien ansteckend. Hans Groß formulier te dazu in seinem Handbuch für Untersuchungsrichter wie folgt: "Ebenso wie die Befriedigung gewisser körperlicher Bedürfnisse (Essen, Trin ken, Schlafen, Rauchen, Gähnen, Urinieren usw.) zur Nachahmung reizt, so können auch Handlungen von Geisteskranken bei geistig normalen Leuten den Trieb zur Nachahmung erwecken."129
Ein gutes Exempel dafür, wie sich eine solche psychische Ansteckung vorgestellt wurde, bietet der Roman Der Werwolf von Richard Lemme aus dem Jahr 1 928, worin der Autor im Stil einer gothic novel die Liebesge schichte zwischen einem geborenen Werwolf/Magier und einer Dorf schönheit beschrieb. Nachdem der Werwolf mehrere Male im Umkreis des Dorfes gemordet hatte, kam es zur einer Serie von Nachahmungstaten: So verübte der leichtsinnige Schneidergeselle in Pelz und Maske gehüllt eine Reihe von Überfallen, und der Schuster, von Anfang an als psychisch in stabil geschildert, rannte nur mit Katzenfellen bekleidet im Anschluss an eine durchzechte Nacht durch das Dorf, vandalierte und griff Menschen
127 Siehe dazu die folgenden Beiträge im Stürmer: "Das Urteil von Chicago", 25 ( 1 924); "Jüdische Mordbuben von Chicago", 27 ( 1 924); "Sittlichkeits verbrechen eines kommunistischen Stadtrats", 29 ( 1 924); "Die ,Psychopa then' an der Arbeit. Schaut Euch um, der Jud' geht um", 1 (1925). Die Ge schichte des Antisemitismus in der KPD ist ein bislang wenig untersuchtes Phänomen. Siehe dazu: Kistenmacher 2007. Zur zeitgenössischen Bericht erstattung über den Prozess gegen Leopold und Loeb im Jahr 1 924 in den USA siehe: Siemens 2007, S. 290-3 14. 128 "Der Mordprozeß Haarmann", in: Vorwärts, 8.12. 1924 (Abendausgabe). Siehe auch: "Die Pflicht der Presse", in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 20. 1 2 . 1 924 (Morgenausgabe). 129 Groß, H. 1 9 14, S. 221 . Siehe auch: Beck 1 904, S. 84-102.
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an. Nach seiner Festnahme wurde er einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen und in eine Anstalt eingewiesen.lJO Auch in Bezug auf andere Sensationsprozesse der Weimarer Zeit wur de die Frage, wie viel der Jugend zugemutet werden dürfe, ohne dass ihre Sittlichkeit und ihre Moral dabei Schaden nehme, immer wieder debattiert. So wandten sich beispielsweise im Prozess gegen Kürten der "Centralver band der katholischen Jungfrauenvereinigungen Deutschlands" und der "Verband der katholischen Frauen- und Müttervereine Deutschlands" in einem gemeinsamen Schreiben sowie der "Volkswartbund: Verband zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit" an den Vorsitzenden des Ge richts und drängten auf einen vollständigen Ausschluss der Öffentlich keit. \31 Die Sorge von Fachwissenschaftlern und Sittenwächtern galt neben den Presseberichten über Gewaltverbrechen und normabweichende Sexua litäten besonders der "Schmutz- und Schundliteratur", das heißt Groschen und Hintertreppenromanen sowie Kinofilmen.132 Genau "die rohesten Ei genschaften der Menschennatur, die zu bändigen eine jahrtausendelange Kulturentwicklung notwendig war", würden durch diese Medien "aufge stachelt und angereizt. "133 In dieser Anstachlung, die zu einer tatsächlichen Nachahmung von Verbrechen werden konnte, drohte die erste Form der Ansteckung, die im Kontext des Falles Haarmann befürchtet wurde: die qua Gerichtsreportagen sowie Schmutz- und Schundliteratur medial ver mittelte. Wie ich im Folgenden zeigen werde, waren die beiden anderen Ansteckungen, die in diesem Zusammenhang thematisiert wurden, körper licher Art: die Infektion mit Kannibalismus und mit Homosexualität. Das erste Horrorszenario, welches hierbei im Raume stand, war, dass Haarmann das Fleisch seiner Opfer seinen neuen Bekanntschaften vorge1 3 0 Lemme 1 928, S. 76-78 und 8 1 . 1 3 1 Siehe: Gemeinsames Schreiben des Centralverbands der katholischen Jungfrauenvereinigungen Deutschlands und des Verbands der katholischen Frauen- und Müttervereine Deutschlands, 14.3 . 1 93 1 , RStA Düsseldorf, 1 7/541 , BI. 38; Schreiben des Volkswartbund: Verband zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit, 1 7.3. 1 93 1 , ebd., Bll. 98- 1 0 1 . V gl. dazu auch Siemens 2007, S. 269-290 über die Diskussionen um die Jugendge fahrdung durch die Berichterstattung im Krantz-Prozess 1 928. 132 So publizierte der maßgebliche psychiatrische Gutachter im Prozess gegen Raarmann Ernst Schultze vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Darstellungen über den schädlichen Einfluss von Medien unter den Titeln Fort mit der Schundliteratur! Ein Mahnwort in einer bitterersten Kulturfrage (Schultze 1 9 1 1 a) und Der Kinematograph als Bildungsmittel. Eine kulturpolitische Untersuchung (Schultze 1 9 1 1 b). Zur Debatte um die mutmaßliche Wir kung kolonialer Abenteuerromane, die bereits zur Zeit des Kaiserreichs ge führt wurde, siehe: Benninghoff-LühI 1 983, S. 1 8 1 - 1 87. 133 Schultze 1 9 1 1 a, S. 3 (RiO). In diesem Sinne äußerte sich auch Roffrnann 1 922, S. 1 1 6: "Sexualität und Perversität nehmen leider heute in unserer Kultur einen so breiten Raum ein und zeigen sich namentlich in der Groß stadt so öffentlich, daß sie zu einer ständigen Gefahr für die geschlechtli che Entwicklung werden."
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setzt haben könnte. Auf der einen Seite wurde die Völlerei, die Haarmann offenbar so reichhaltig betrieben hatte, in den Berichten immer wieder be tont. Auf der anderen Seite griff die Presse suggestive Zeuginnen- und Zeugenaussagen auf: so beispielsweise die Geschichte zweier Frauen, die durch ihre Bekanntschaft mit Grans Zutritt zu Haarmanns Wohnung hat ten. Diese hatten, einen Tag nachdem sie einen jungen Mann scheinbar bewusstlos auf Haarmanns Bett hatten liegen sehen, einzelne Stücke Fleisch aus seiner Wohnung entwendet und der Polizei zur Prüfung vorge legt. Das Ergebnis des Gerichtsarztes Schackwitz lautete, dass es sich um Schweinefleisch handele.lJ4 Ebenso wurde die Tatsache, dass Haarmann in seiner eigenen oder in der Küche seiner j eweiligen Vermieterinnen Wurst oder Sülze hergestellt hatte, regelmäßig wieder aufgegriffen.135 Die Her kunft des Fleisches wurde auf diese Weise in den Berichten nicht nur als zweifelhaft dargestellt, sondern es wurde auch suggeriert, Menschenfleisch könnte ein Bestandteil des Haarmannsehen Speisezettels gewesen sein. Nach den Aussagen von Augenzeugen und -zeuginnen zu urteilen "war das Leben lustig" an seiner Tafel gewesen, stets seien ,,[g]roße Platten Fleisch" aufgetragen worden.136 Alle, die mit ihm gemeinsam aßen, waren so möglicherweise selbst zu Anthropophagen geworden. Wie ich bereits in den vorangegangenen Kapiteln zwei und vier de monstriert habe, spielten Befürchtungen, gerade Kinder und Jugendliche könnten durch Nachahmung und schlechte Vorbilder der Menschenfresse rei verfallen, eine besondere Rolle im Kannibalismusdiskurs. So hatte bei spielsweise Lombroso dargestellt, wie gefahriich leicht es sei, Kinder an Menschenfleisch zu gewöhnen, da ihnen eigenständige moralische Hem mungen fehlten. Das Ergebnis seien kleine Kannibalen aus Gewohnheit und Feinschmeckerei, eine der verabscheuungswürdigsten Formen der Anthropophagie. Ebenso fürchtete Lord Greystoke alias Tarzan nichts mehr, als dass sein Sohn unter wilden Kannibalen aufwachsen und so selbst durch Gewohnheit zu einem solchen werden könnte. Andererseits wurde die potenzielle Gefahrdung der Hausfrauen und Familien, die Haarmann mit Fleisch versorgt hatte, nicht erwähnt. Stattdessen wurden diese Frauen vor Gericht als eine Art Expertinnen zu Geschmack und Konsistenz des Fleisches, welches sie vom Angeklagten erhalten hatten,
134 Siehe dazu etwa: "Haarrnann soll die Noske-Polizei reinwaschen! ", in: Rote Fahne, 6. 1 2. 1 924. 135 Siehe: "Mordprozeß Haarrnann" , in Vorwärts 1 0 . 1 2. 1 924 (Abendausgabe); "Mordprozeß gegen Haarrnann", in: Vorwärts 1 2. 12. 1 924 (Morgenausga be); "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarrnann als Vertrau ensmann der Polizei", in: Rote Fahne 1 3.7. 1 924; "Der Haarrnann-Prozeß", in: Kölner Gerichtszeitung 50 ( 1 3 . 1 2 . 1 924), S. 1 1 - 12; Lessing 1 973, S. 8 182 sowie Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haar mann und Hans Grans, 1 9. 1 2. 1 924, NHStA Hann. 1 73 Acc. 30/87, Nr. 80, BIl. 1 07-1 55 , hier BI. 1 1 8. 136 Lessing 1 973, S . 80.
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befragt. Ihre Angaben, es habe "wie Pferdefleisch" geschmeckt, wurden in der Presse unkommentiert zitiert. 137 Diese zweite Gefahr, die angeblich von Haarmanns ausgehen sollte, die Ansteckung mit Homosexualität, wurde ebenso wie sein angeblicher Kannibalismus in der Presse unterschiedlich offen verhandelt. Wenn sie jedoch thematisiert wurde, dann, wie zu sehen sein wird, vorzugsweise in denjenigen Presseberichten oder Publikationen, in denen auch von Men schenfresserei berichtet wurde. Eine Vorgehensweise, die mutmaßlich der Entscheidung der jeweiligen Redaktionen geschuldet war, der oben ge schilderten gerichtlichen Aufforderung nach Zurückhaltung Folge zu leis ten oder eben nicht. Auf diese Weise wurde auf diskursiver Ebene eine Kopplung zwischen Anthropophagie und Homosexualität hergestellt, die ihre unheimliche Parallele daran fand, dass beide Praktiken mit der Inkor poration von menschlichen Körpermaterialien (Fleisch, Blut, Sperma) und der Überschreitung der vermeintlich stabilen Grenzen des männlichen Körpers identifiziert wurden. Gleichzeitig nahmen die B erichte über Haarmanns Sexualität innerhalb der politischen Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD eine zentrale Position ein, so dass ich hier etwas ausführlicher auf die zeitgenössischen Debatten um männliche Homosexu alität eingehen möchte, um die Diskussionen um den Fall Haarmann in diesen Zusammenhang einordnen zu können. Umgekehrt wird in meinen Ausführungen deutlich werden, dass Haarmanns Fall als Argument für eine strengere, anti-homosexuelle Strafgesetzgebung genutzt wurde. Grundsätzlich wurde in der zeitgenössischen medizinisch psychiatrischen und sexologischen Fachliteratur zwischen vorübergehen den, zeitlich begrenzten Formen von Homosexualität und dauerhafter ho mosexueller Neigung unterschieden.138 Für alle Formen jedoch galt Ver führung als entscheidendes Moment. So ging beispielsweise Krafft-Ebing davon aus, dass homosexuelles B egehren als vorübergehendes Phänomen in Situationen auftrete, in denen Männer in geschlechterhomogenen Grup pen lebten: "in Gefangnissen, Schiffen, Kasernen, Bagnos, Pensionaten 137
Siehe: "Mordprozeß Haannann", in: Vorwärts, 10.12. l 924 (Morgenausga be); "Mordprozeß Haannann", in: Vorwärts, 1 O . l 2 . 1 924 (Abendausgabe). 138 Wie eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten über die Geschichte der (Homo-) Sexualität demonstriert hat, ist um 1900 eine Entwicklung hin zu einem biologistischen Erklärungsmodell ganz wie im Falle der Kriminalität zu beobachten. Innerhalb dieses Modells wurde Homosexualität als eine pathologische, degenerative Veranlagung angesehen, die mit einer Nei gung zu kriminellem Verhalten einhergehen sollte: Es entstand der homo sexuelle Körper. Ebenso wie beim Kriminellen war allerdings auch hier der Unterschied zwischen dem homosexuellen und dem gesunden Körper nur auf den ersten Blick ein eindeutiger. Stattdessen wurde auch in diesem Zusammenhang ein Kontinuum der (Ab)Nonnalität skizziert, wie wir es bereits im 4. Kapitel in Bezug auf Kriminalität kennen gelernt haben. Siehe dazu auch die Aufsätze von: Fout 1992; Somerville 1994; Hekma 1994 und Terry 1 995.
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USW." 139 Die betroffenen Männer würden bei ihrer Rückkehr in das norma le gesellschaftliche Leben auch zur sexuellen Norm, dem reproduktiven, heterosexuellen Geschlechtsverkehr zurückkehren. Darüber hinaus galt homoerotisches Begehren bei jungen Erwachsenen als ein normales Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer voll entwickelten Persönlich keit, die sich nach Abschluss der Entwicklungsphase einer reproduktiven, heterosexuellen Beziehung zuwendet.140 Hier bestand die Verführung nicht so sehr in einer Person, sondern in der Situation, der Gelegenheit oder ei ner fehlgeleiteten Anziehung, die nicht in Schach gehalten werden konnte. Die dauerhafte Neigung zum gleichen Geschlecht hingegen, die "kon träre Sexualempfindung", entstehe, so Krafft-Ebing, auf der Grundlage einer erworbenen Perversität oder einer angeborenen Perversion. 141 Erstere sei das Ergebnis einer durch Masturbation selbst herbeigeführten Nerven zerrüttung und einer damit einhergehenden Neurasthenie. Selbstbefriedi gung ruiniere das Nervensystem und zerstöre darüber hinaus das gesunde, heterosexuelle Sexualempfinden: "die Glut der sinnlichen Empfindungen erlösch[e]" und "die Neigung zum anderen Geschlechte" sei danach nur noch "eine bedeutend abgeschwächte". Was bleibe, sei allein der "grob sinnliche[ ] tierische[ ] Trieb nach geschlechtlicher Befriedigung" sowie ein zerstörtes Nervensystem.l" Auch diejenigen Jugendlichen, die bereits qua Geburt eine degenerative Veranlagung hatten, die sogenannten Psy chopathen, gehörten zu der Gruppe derjenigen, die eine dauerhafte homo sexuelle Neigung erwerben konnten.I'3 Beide, die durch Masturbation ge schwächten sowie die qua Degeneration schwach veranlagten Individuen, könnten den homosexuellen Verlockungen nicht widerstehen. Sie gäben den homoerotischen Komponenten einer Jugendfreundschaft nach oder, und das war die weitaus größere Gefahr, würden leichtes Opfer der Ver-
139 Krafft-Ebing 1993, S. 227. Alle von Krafft-Ebing genannten Einrichtungen sind damit "totale Institutionen" (siehe: Goffman 1972, S. 1 1 , 17). 140 Siehe: Spranger 1924, S. 88-89, 123 - 1 24. Spranger unterschied zwischen rein seelischem Eros und körperlicher Sexualität. Siehe dazu auch: Bühler 1922, S. 1 6 und Hoffmann, W. 1 922, S. 120- 1 2 1 . 1 4 1 Krafft-Ebing 1 993, S. 226-229, Zitat S . 224. Die Mehrheit seiner Fachkol legen stimmte dieser Einteilung prinzipiell zu, auch wenn sie im Detail zu anderen Beurteilungen kamen (beispielsweise Schrenck-Notzing 1 898, S. 7, 14). Wulffen folgte in seinem Handbuch der Krafft-Ebing'schen Eintei lung (siehe: Wulffen 1 928, S. 580-583). Moll sprach von einer Disposition anstelle eines angeborenen Triebs, da er grundSätzlich das Bestehen eines angeborenen Sexualtriebes verneinte. Ansonsten stimmte er Krafft-Ebing zu (siehe: Moll 1 926, S. 765-766). 142 Krafft-Ebing 1993, S. 227-228, Zitate S. 227. Mit dieser Erklärung knüpfte Krafft-Ebing an den seit Beginn des 1 8 . Jahrhunderts geführten Onaniedis kurs an. Zur Entwicklung des Anti-Onaniediskurses und zu seiner Rolle in der Ökonomie der Lüste des 1 8. und 19. Jahrhunderts siehe: Laqueur 2003, S. 204-2 1 0, 276-278; Sarasin 200 1 , S. 403-417. 143 Siehe: Krafft-Ebing 1 993, S . 229.
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führung durch Homosexuelle. '44 Aus dieser Gruppe entwickelten sich die "Päderasten": Männer, die Analverkehr praktizieren oder sich als männli che Prostituierte für diese Form des homosexuellen Verkehrs verkauften.''' Die Infizierten durchliefen eine psychische und physische Metamorphose, die in Stadien der graduellen Abweichung von der heterosexuellen Norm angeordnet wurde und die von der ,,[e]infache[n] Verkehrung der Ge schlechtsempfindung" bis hin zur "Eviration und Defeminatio" reichen sollte.'46 Sie übernähmen "alle Mängel des Weibes, ohne dessen Vorzüge", seien "launisch, feige, kleinlich". '47 Auch ihr Körper verwandele sich in einen weiblichen: "breite Hüften, runde Formen, reichliche Fettentwick lung, fehlende oder spärliche Bartentwicklung, weibliche Gesichtszüge, feiner Teint, Fistelstimme" bis hin zu Brustbildung und Milchfluss seien zu beobachten. 148 Diesem psychopathischen, weibischen, fast schon grotesken Körper wurde der "Urning" gegenüber gestellt. Er verkörperte die angeborene Perversion. Er wies wenig oder keine weiblichen Charakteristika auf, son dern wurde im Gegenteil als mit positiv besetzten männlichen Attributen ausgestattet angesehen. 149 144 Entsprechend der Theorie von der Ansteckung bei "angeborener psycho oder neuropathischer Disposition" (Schrenck-Notzing 1 892, S. 4). 145 Siehe: Krafft-Ebing 1 993, S. 427, 439. Der Begriff des "Päderasten" war damit deutlich anders besetzt als im heutigen Sprachgebrauch (vgl. dazu: Moll 1 926, S. 765). Wie Brigitte Kerchner demonstriert hat, entwickelte sich das Konzept des "psychosexuellen Infantilen", der unserem heutigen Verständnis vom "Päderasten" oder "Pädophilen" entsprechen würde, erst im Verlaufe der zweiten Hälfte der Weimarer Republik. Sie verweist dabei auf die zentrale Bedeutung der Debatten um die Reform des § 1 75 und die erstmalige Systematisierung durch Borwin Himmelreich im Jahr 1 93 1 . (Siehe: Kerchner 2005, S . 247-255.) 146 Krafft-Ebing 1 993, S. 229-238, Zitate S. 229, 234. 147 Schrenck-Notzing 1 892, S. 2. 148 Ebd., S. 2. Diese letzte Stufe der Metamorphose stelle der "Wahn der Ge schlechtsverwandlung" dar (Krafft-Ebing 1 993, S. 252). Oft wurde Haar mann mit diesen Charakteristika beschrieben, siehe beispielsweise: Lessing 1 973, S. 20-22; Hyan 1 924a, S. 4 1 -42. Beide bezeichnen Haarmann als "Tante" - als Vertreter des Typus des weibischen Homosexuellen - ein Begriff, der auch innerhalb der Homosexuellenbewegung negativ besetzt war und zur Diskriminierung ,effiminierter' , gleichgeschlechtlich orien tierter Männer benutzt wurde. Siehe dazu: Micheier 2005, S. 1 8 1 - 1 94. 149 Krafft-Ebing 1 993, S. 256-267; 275-288. Der Begriff "Uming" wurde zu erst eingefilhrt von Karl Heinrich Ulrichs ( 1 825- 1 895), der damit den ho mosexuellen Mann bezeichnete (filr die homosexuelle Frau verwendete er "Uminde"). Homosexualität war seiner Ansicht nach eine ebenso natürli che Erscheinung wie Heterosexualität und sei daher zu Unrecht der straf rechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Siehe: Ulrichs' Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe (Ulrichs 1 994, in Teilen erstmalig er schienen 1 864). Laut dem Vorwort zum ersten Band (S. 9) benutzte er den Begriff zum ersten Mal 1 870 in "Prometheus" (Bd. 4 der Neuausgabe). Zu U1richs Biographie siehe: Kennedy 200 1 .
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Die Ansteckung durch einen sogenannten Verführer wurde von Krafft-Ebing und vielen anderen Forschern als das entscheidende auslö sende Element für beide Formen, die erlernte wie die angeborene Homo sexualität, angesehen. Vor allem Jugendliche seien von dieser Bedrohung betroffen, da ihr Sexualtrieb noch undifferenziert sei und eine durch ein Schlüsselerlebnis entwickelte Neigung sich ftir den Rest des Lebens fixie re. 1 50 Diese anti-homosexuelle Infektionsparanoia wurde vor allem in der Frage der Reform des § 1 75 zum Politikum. Seit den 1890er Jahren hatten verschiedene Mediziner, Aktivisten und Politiker für eine Aufhebung des 1871 eingeführten § 1 75 und für eine Straffreiheit mann-männlicher Sexu alität plädiert. Diese Bewegung war ganz maßgeblich geprägt durch die fachliche und politische Arbeit des Mediziners Magnus Hirschfeld ( 1 8681 935). 151 Dieser entwickelte unter Rückgriff auf das Konzept vom " Ur ning" eine Theorie der Homosexualität, nach welcher diese zwar angebo ren, aber nicht als degenerativ oder als krankhaft anzusehen sei. 1 52 Ausge hend von der These, dass alle Embryos bis zum dritten Monat der Ent wicklung im Mutterleib geschlechtlich undifferenziert seien, sprach Hirschfeld stattdessen von einer "angeborenen Evolutionsstärung" oder auch "Hemmungsbildung" und verglich Homosexualität mit Phänomen wie der Hasenscharte oder der Farbenblindheit. 1 53 Hirschfeld verneinte darüber hinaus ganz explizit die Möglichkeit, homosexuelle Neigung kön ne "erworben" werden, sondern sei "stets eine absolut endogene, aus schließlich in der angeborenen Konstitution begründete, mit der Indivi dualität eines Menschen untrennbar und unabänderlich verknüpfte Eigen schaji. "154 1 50 Siehe dazu: Placzek 1 925, S. 1 0- 1 1 . Laut Moll f1ihlte sich angeblich sogar die Mehrzahl der männlichen Homosexuellen zu Knaben und Jugendlichen hingezogen (Moll 1926, S. 764, 767). 1 5 1 Hirschfeld studierte in Straßburg, München, Heidelberg und Berlin Philo sophie, Philologie und Medizin. Er etablierte die Zeitschrift Jahrbuch fiir Sexuelle Zwischenstufen (deren erste Ausgabe 1 899 erschien) und errichte te 1 9 1 9 das Institut fiir Sexualwissenschqfi in Berlin. Hirschfelds Publika tionsliste ist umfangreich. An dieser Stelle können lediglich die fiir den hier behandelten Zusammenhang zentralen Werke genannt werden: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (Hirschfeld 1 9 1 4) ; Sexualität und Kriminalität (Hirschfeld 1 924); Sexuelle Zwischenstufen (Hirschfeld 1 922) sowie Geschlecht und Verbrechen (Hirschfeld 1930, bes. S. 2092 1 1 , 2 1 3 zum Fall Großmann). Zu Leben und Werk Hirschfelds siehe: Herzer 2001 sowie die Beiträge im Band von KotowskilSchoeps (Hg.) 2004. 152 Hirschfeld 1 9 1 4, S. 5- 10. 153 Ebd., S. 372. 154 Ebd., S. 3 1 5-324, Zitat S. 325 (HiO). Vgl. auch seine ausfiihrliche Wider legung der "Gründe gegen das Angeborensein der Homosexualität" (ebd., S. 325-347). Siehe dazu auch: Hirschfeld 1922, S. 1 79-223, bes. S. 1 821 84.
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Damit sei die Ausübung homosexuellen Begehrens nicht widernatür lich, sondern ganz im Gegenteil Teil ihrer Natur, Folge der körperlichen Konstitution von gleichgeschlechtlich begehrenden Männern und Frauen. Wie eine Reihe von Forscherinnen und Forschern deutlich gemacht hat, war diese Konstruktion in vielerlei Hinsicht ein Drahtseilakt: einerseits anschlussfahig an Teile der Degenerationstheorie (siehe exogene Degene ration durch Störung der Entwicklung des Embryos im Mutterleib) und andererseits terminologisch missverständlich, gerade durch die von Hirschfeld gewählten Vergleiche (etwa mit einer Hasenscharte). Während mit Hilfe dieses Konzepts politisch für eine Entkriminalisierung argumen tiert werden konnte, blieb sein Argument der biologistischen Logik der Theorie vom homosexuellen, devianten Körper verhaftet. 1 ss Eine Krimina lisierung, wie vom § 1 75 RStG vorgesehen, hielt Hirschfeld daher für völ lig verfehlt. Gemeinsam mit Max Spohr, Eduard Oberg und Max von Bü low gründete Hirschfeld 1 897 das Wissenschaftlich humanitäre Kommitee (WhK), welches trotz vieler Rückschläge das Projekt einer Entkriminali sierung homosexueller Akte systematisch vorantrieb. Die Initiative des WhK wurde von vielen Liberalen, Sozialdemokraten und Kommunisten sowie die diesen politischen Lagern nahestehenden Medizinern unter stützt. IS6 SO reichte 1 922 das Kommitee eine von insgesamt 6.000 öffentlichen Persönlichkeiten unterzeichnete Petition auf Änderung des § 1 75 ein, wel che die Straffreiheit von konsensualen homosexuellen Handlungen zwi schen Erwachsenen forderte. Zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeich nern gehörten unter anderem Gustav Radbruch ( 1 878- 1 949), ausgebildeter Jurist, SPD-Mitglied und von Oktober 1 92 1 bis November 1 922 im Kabi nett Wirth sowie von August bis November 1 923 im Kabinett Stresemann Reichsjustizminister. Im gleichen Jahr reichte Radbruch einen Reform entwurf ein, der im Zuge einer generellen Reform des Strafgesetzbuches, und ganz im Sinne der Petition des WhK, homosexuelle Akte zwischen Erwachsenen entkriminalisieren und mann-männliche Sexualität lediglich bei Involvierung von Jugendlichen bestrafen sollte. Gleichzeitig sah der Entwurf eine Milderung der angedrohten Haft vor. Weder das Kabinett von Wirth noch das von Stresemann verabschiedete seinen Reforment wurf. Dem gegenüber verabschiedete 1 925 die Reichsregierung unter Hans Luther eine Vorlage des Reichsjustizministeriums, die unter der Leitung Siehe: Lautmann 2004; Keilson-Lauritz 2005 sowie MicheIer 2005, S. 1 5 3 - 1 59. 156 Die Geschichte der Auseinandersetzungen um den § 1 75 in der Weimarer Republik ist durch eine Vielzahl an Publikationen aufgearbeitet worden. Siehe dazu: Steackley 1 975; Stümke 1 989, S. 53-9 1 ; Mende 1 990; Dworek 1 990; Hutter 1 990; Sommer 1 998, S. 163- 1 75, 1 75-308; Bastian 2000, S. 2 1 -22 sowie Hirschfeld 1 986, S. 47-64, 74-87 (die autobiographischen Tei le darin erschienen zuerst 1 922/23 in: Die Freundschaft).
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des späteren Reichsgerichtspräsidenten und späteren NSDAP-Mitgliedes Erwin (Konrad Eduard) Bumke (1 874- 1 945) ausgearbeitet worden war. l57 Hierin wurde im Gegensatz zum Entwurf Radbruchs an der Strafbarkeit der "widernatürlichen Unzucht" zwischen Männern festgehalten und eine Verschärfung der Strafe im Falle von "Jugendverführung", Prostitution oder Mißbrauch vorgeschlagen. Der Entwurf wurde in Presse und Politik kontrovers diskutiert. 158 In dieser Auseinandersetzung wurde das Schre ckensbild des homosexuellen Verführers von Sittenwächtern und Konser vativen als rhetorisches Mittel benutzt, um die Gegnerschaft dieser sexual reformerischen Initiative zu mobilisieren. So war ein zentrales Argument in der Begründung des Bumke'schen Entwurfs die besondere Gefährdung von Jugendlichen durch homosexuelle Verführer sowie durch die Propa ganda der homosexuellen Emanzipationsbewegung.l59 Gerade Haarmann galt den Gegnern der Sexualreform als Paradebeispiel für die Verbindung von Homosexualität und Sadismus: "Die häufige Verbindung von Homosexualität, besonders wenn sich die Neigung auf Jugendliche richtet, mit Sadismus, ist dem Fachmann bekannt. Der Fall Haarmann sollte die Homosexuellen etwas vorsichtiger in der Anpreisung ihrer Harmlosigkeit machen. "' 60
1 57 Bumke arbeitete seit 1 907, nach Abschluss seines Jurastudiums in Frei burg, Leipzig, München, Berlin und Greifswald fiir das Reichsjustizamt (in Weimar: Reichsministerium der Justiz). 1 929 wurde er Präsident des Reichsgerichts, ab 1937 war er Mitglied der NSDAP. Bruder Erwin Bum kes war der Psychiater Oswald Bumke ( 1 877- 1 9 50), der nach mehreren Professuren (Rostock, Breslau, Leipzig) 1 924 der Nachfolger Emil Kraepe lins auf dem Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität München sowie Lei ter der Münchner Nervenklinik wurde. Oswald Bumke gehörte zu den an gesehensten Vertretern des Fachs seiner Zeit und war einer der nachdrück lichsten Anhänger der Degenerationstheorie. Zu seinen einflussreichsten Werken zählen: Lehrbuch der Geisteskrankheiten (Bumke 1 9 1 9), Kultur und Entartung (Bumke 1 922), das ursprünglich unter dem Titel Über ner vöse Entartung im Jahre 1 9 1 2 erschienen war. Die Debatte um die Straf rechtsreform wurde in der Zeit der Weimarer Republik nicht zu Ende ge führt.
158 Der Entwurf Erwin Bumkes wurde zwar im Reichsrat beraten und eine entsprechend überarbeitete Fassung, die in § 296 die "Unzucht zwischen Männern" und in § 297 die "schwere Unzucht zwischen Männern" als Straftatbestand vorsah, am 14. Mai 1 927 dem Reichstag vorgelegt und in Erster Lesung diskutiert. Allerdings wurde er vor der Reichstagsauflösung am 1 8. Juli 1 930 nicht endgültig verabschiedet (siehe: Sommer 1 998, S. 1 98-293). 1 59 Siehe: Kerchner 2005, S. 262-269; Sommer 1 998, S. 1 94- 198, 203 -204. 1 60 Moll 1 926, S. 772-773, Zitat S. 772. Dem gegenüber betonten die Befiir worter der Reform, dass Haarmann nicht als repräsentativ fiir die soge nannten Uminge angesehen werden durfte und dass es gerade die beste hende Kriminalisierung sei, die weiteren Verbrechen, namentlich aufgrund von Erpressungen, Vorschub leiste. In diesem Sinne beispielsweise: Hyan
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In Bezug auf die Repräsentation Haarmanns in der massenmedialen Öf fentlichkeit hält dieser B efund allerdings nicht Stand. Hier können wir be obachten, wie auch im sozialdemokratischen Vorwärts oder der kommu nistischen Roten Fahne das Schreckensbild des Verführers Haarmann an die Wand gemalt wurde. Dort hieß es: "Er hat Bourgeois ,aus den höchs ten Gesellschaftsschichten' in riesigem Umfang Opfer für ihre homosexu ellen Gelüste zugetrieben und diejenigen dann ermordet, die für diese Bourgeois unbequem oder gefährlich zu werden drohten."I6l Hier findet sich auch eine der wenigen bildlichen Darstellungen der angeblich für Haarmann typischen Vorgehensweise, seinen Opfern im "Sexualrausch" die Kehle durchzubeißen (siehe: Anhang Abb. 9 . 1 6).162 Wie bereits oben dargestellt, war die gegenseitige Beschuldigung, der homosexuelle Mörder Haarmann stehe im Dienst oder sei gar Mitglied des jeweiligen politischen Gegners, fester Bestandteil der Auseinandersetzun gen zwischen der kommunistischen und der sozialdemokratischen Pres se.163 Haarmann als J ugendfürsorger? Der g ute Hirte und die Normalisierung männlich-jugendlicher Körper
Anders als bei der Darstellung Haarmanns kann in Bezug auf die Bericht erstattung über die Opfer Haarmanns keine relativ eindeutige Zuordnung von politischen Positionen vorgenommen werden. Gleichzeitig spiegelte diese Diskussion die medizinisch-psychiatrische Fachdebatte um die Be deutung von sogenannter degenerativer Veranlagung und der Rolle des sozialen Milieus in der Entwicklung von Kriminalität wider. So wurden die Ermordeten in konservativ-bürgerlichen Berichten, in Verlautbarungen der Polizei oder auch von Seiten des Gerichts, als "entlaufene Fürsorge zöglinge" gekennzeichnet. 164 Diese Jugendlichen galten gemeinhin als Psy chopathen, als verhaltensauffällig und wegen ihrer degenerativen Disposi tion für die Verlockungen von Kriminalität und Homosexualität als beson ders anfällig.l65 In einer Mitteilung an die Bevölkerung beschrieb der Poli-
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1 924a, S. 62. Zum Zusammenhang von männlicher Prostitution und Er pressung, siehe: Lücke 2007, S. 1 3 8 - 1 79. Siehe beispielsweise: "Mordprozeß Haarmann", in: Vorwärts, 1 l . l 2 . 1 924 (Morgenausgabe, Beilage); "Die SPD. - Haarmann-Verteidiger allein", in: Rote Fahne, 29.7. 1 924. "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauens mann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3 .7. 1 924. Siehe: "Das Spitzelverwertungsgeschäft der SPD", in: Rote Fahne, 20.7. 1 924. Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 1 9 . 1 2 . 1 924, NHStA Hann. 1 73 Acc. 30/87, Nr. 80, Bil. 1 071 55, hier BI. 1 1 2; Anklageschrift gegen Fritz Haarmann, ebd., BlI. 3 - 1 06, hier BII. 27-28. Zum Krankheitsbild der Psychopathie siehe Kapitel 4.
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zeipräsident Hannovers das soziale Umfeld Haarmanns als "das verdor benste Proletariat der Großstadt" und betonte, [aJlle dabei beteiligten Personen, auch die meisten der unglücklichen Opfer" seien "mehr oder weniger verwahrlost und moralisch minderwertig."166 In der Vossischen Zeitung wurden die jungen Männer aus dem Umfeld Haarmanns, die vor Gericht als Zeugen gehört wurden, im der Stil einer anthropologischen Analyse ihres Schädelprofils gar als "beschmutzt, unrettbar verdorben" beschrieben und ihre Aussagen als fragwürdig markiert: "Es sind ja fast alles Psychopathen, denen es selbst bei Anstrengung nicht mehr gelingt, Gehörtes von Erlebtem zu unterscheiden". 167 Sogenannte Fürsorgezöglinge stammten in der Regel aus dem Arbei termilieu, aus Familien, welche die bürgerlichen Normen hinsichtlich Auf sicht und Erziehung nicht erfüllten. Bereits seit dem Kaiserreich wurden diese Kinder und Jugendlichen auf Grundlage verschiedener Landesgeset ze zwangsweise in eine entsprechende Erziehungsanstalt oder zu anderen Familien verbracht. 168 Diese Interventionspraxis machte Heranwachsende aus proletarischen Familien zu Objekten eines staatlichen Zugriffs, der zeitgenössisch auch als ",innerer Imperialismus'" bezeichnet wurde. Die Herstellung tüchtiger, männlicher Körper im Mutterland wurde als Vor aussetzung für den Erfolg Deutschlands im imperialistischen Wettlauf um den Platz an der Sonne angesehen. 169 Mit Ende des Ersten Weltkrieges und zu Beginn der Weimarer Repu blik spitzte sich die Debatte um die staatliche Fürsorge weiter zu: Nah rungsmittelknappheit und Mangelemährung, Jugendarbeitslosigkeit, Auf lösung der traditionellen Erziehungsinstitutionen Familie und Schule, An stieg der Jugendkriminalität und die "Verwahrlosung" gaben dem biopoli tischen Imperativ zur "Nutzbarmachung des Nachwuchses" weiteren Vor schub.170 Die Bestrebungen, eine reichsweite Regelung der Jugendfürsorge ,,
1 66 Zitiert nach Katz [ 1 924], S. 23 (HiO). Bei aller Vorsicht vor der häufig übertriebenen Darstellung von kommunistischer Seite kann hier davon ausgegangen werden, dass Katz politisch zu klug agierte, als dass er sich die Blöße eines anfechtbaren Zitats geben mochte. Zweitens steht diese Diffamierung inhaltlich in einer Linie mit Aussagen aus anderen ver gleichbaren Quellen. 1 67 Sling, "Reste des Menschentums", in: Vossische Zeitung, 1 2 . 1 2. 1 924 (Morgenausgabe) . 168 So sah das 1 900 in Preußen verabschiedete "Gesetz über die Fürsorgeer ziehung Minderjähriger" vor, dass Kinder und Jugendliche bis zur Vollen dung des 1 8 . Lebensjahres der Fürsorgeerziehung unterstellt wurden, so fern diese straffallig geworden waren oder ein Versagen des Vaters bzw. des rechtlichen Vormundes festgestel1t worden war (siehe: Gräser 1 995, S. 25). Zur Entwicklung der Jugendfürsorge vom Kaiserreich bis in die Wei marer Zeit siehe: Peukert 1 986b, S. 3 7-253 ; Harvey 1 993, S. 28-37, 43-6 1 , 1 52-1 73 ; Gräser 1 995, S. 26-5 1 , 52-68. 1 69 Siehe: Gräser 1 995, S. 26-36, Zitat S. 26. Vgl. dazu auch als Fallstudie dieser Verflechtung von Kolonie und Metropole: Conrad 2004. 1 70 Siehe: Gräser 1 995, S. 37-5 1 , Zitat S. 39, 43-44; Harvey 1 993, S. 1 03-1 12.
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durchzusetzen, die bereits vor dem Weltkrieg bestanden hatten, kulminier ten unter dem Eindruck dieser Debatten in der erfolgreichen Verabschie dung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (14.6. l 922), in dem einleitend auf das "Recht eines j eden deutschen Kindes auf ,Erziehung zur leibli chen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit'" verwiesen wurde. 171 Entsprechend waren die sogenannten psychopathischen Jugendlichen eine der Hauptzielgruppen eugenischer Politiken in der Zeit der Weimarer Re publik.l 72 Besondere Besorgnis erregte in den Augen der Befürworter und Befürworterinnen der staatlichen Jugendfürsorge die männliche Prostituti on, da diese, wie oben dargestellt, eine latent bestehende homosexuelle Neigung der betreffenden Jugendlichen manifest werden zu lassen droh te.17l Ein Blick auf die Berufe der Opfer, wie sie im Urteil gegen Haarmann und Grans aufgelistet sind, zeigt, dass die Beschreibung als ,Fürsorgezög ling' kontrafaktisch vorgenommen wurde. Die Opfer Haarmanns waren zwar allesamt Jugendliche im Alter zwischen 1 4 und 20 Jahren, allerdings waren sie Auszubildende, Schüler, arbeitslose Arbeiter oder Handwerker. Einige unter ihnen hatten ihre Heimat und ihre Familie verlassen, um in der Stadt neue Arbeit oder auch Unterhaltung zu suchen, keiner unter ih nen war aus einer Fürsorgeanstalt geflohen. Manche hatten engeren Kon takt zu homosexuellen Männem und besuchten regelmäßig das Cafe Kröpke, einen der damaligen Szenetreffs in Hannover. 174 Ähnlich wie 171
Gräser 1 995, S. 46. Fast parallel dazu wurde das Jugendgerichtsgesetz ( 1 .7 . 1 923) verabschiedet, welches Jugendlichen in Strafrecht und -vollzug einen Sonderstatus garantierte. Siehe dazu: Peukert 1 986b, S. 1 3 1 - 1 39; Harvey 1 993, S. 1 76- 1 80; Gräser 1 995, S. 47. 1 72 Weindling 1 989, S. 3 8 1 -385. 1 73 Siehe beispielsweise: Rupprecht 1 9 1 1/12. Mann-männliche Prostitution war bislang ein in der Historiographie zur Jugendfürsorge der 1 920er zu Unrecht vernachlässigtes Thema, wie Martin Lücke in seiner Dissertation "Ein lichtscheues Treiben. Männliche Prostitution in Deutschland im Kai serreich und in der Weimarer Republik" (Lücke 2007) demonstriert. Vgl. besonders seine Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zur Ju gendf11rsorge (Lücke 2007, S. 1 8 1 - 1 92). Siehe dazu auch seine EinzeIbei träge: Lücke 2005; Lücke 2003. 1 74 Siehe: Urteil und Urteilsbegründung im Prozeß gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 1 9 . 1 2 . 1 924, NHStA Hann. 173 Acc. 30/87, Nr. 80, Bil. 107- 1 55 , hier Bil. 128-1 50. Hannover hatte zu Beginn der 1 920er, darin sind sich alle zeitgenössischen Quellen einig, eine aktive und lebendige Homosexuellenszene. Die genaue Zahl aller Homosexuellen hingegen wurde sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während Kriminaloberinspektor Kopp von 30-40.000 Personen sprach, ging das Unzuchtsdekanat der Poli zei Hannovers von 2.000 Personen aus, darunter 500 registrierte Homose xuelle und 1 00 männliche Prostituierte (siehe: Hyan 1 924a, S. 63; Lessing 1 973, S. 1 3) . Wie Kompisch anmerkt, scheint die erste Zahl angesichts ei ner Gesamtbevölkerung von knapp 450.000 weit zu hoch gegriffen (siehe: Kompisch 2001/02, S. 1 00). Zur zeitgenössischen Situation der Homose xuellen in Hannover siehe: Hyan 1 924a, S. 62-65; Lessing 1 973, S. 1 3 ; Hoffschildt 1 992, S. 48-69 sowie Kompisch 2001 102, S. 1 0 1 - 1 02.
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Großmann suchte sich Haarmann damit seine Opfer unter Menschen, die es auf der Suche nach Arbeit, Erfolg und besseren Verdienstmöglichkeiten in die Stadt gezogen hatte. Haarmanns Heimatstadt Hannover, gelegen am Mittellandkanal und ein Knotenpunkt des überregionalen Zugverkehrs, fungierte als Drehscheibe der Binnenmigration der Nachkriegsj ahre, die weniger geschlechtsspezifisch als vielmehr alterspezifisch war.175 Alle Betroffenen erfüllten damit jedoch gleichzeitig das Profil des verwahrlosten Jugendlichen, auf welchen die Jugendfürsorgediskussion abzielte. Als angebliche Psychopathen, die sich obendrein auch noch der staatlichen Kontrolle durch Flucht entzogen hatten und Teil der kriminel len und homosexuellen Szene waren, waren diese aus konservativer Sicht sowie aus Perspektive der Polizei, des Gerichts und der Staatsanwaltschaft nicht unverschuldet in Gefahr geraten, im Gegenteil: Sie hatten sich selbst ins kriminelle Abseits begeben. Ihr Tod war damit nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, dem in der Presse diskutierten Polizeiversagen anzu lasten. Auf der anderen Seite standen liberale, sozialdemokratische und kom munistische Stimmen, welche auf die Notlage der jungen Männer, ihre Hilflosigkeit und das Versagen staatlicher Institutionen wie etwa der Ju gendfürsorge verwiesen. So schrieb beispielsweise der Vorwärts: ,,[D]ie soziale und seelische Not der Jugend lauert, deren wollüstiger Nutznießer Haarrnann war. Entwichene Fürsorgezöglinge, arbeitslose und obdachlose Bur schen, jungen Menschen die, durch Zwist mit den Eltern dem Heim entfremdet, auf [sic] schiefe Ebene geraten sind, finden keine andere Unterkunft, suchen nir gends wo anders Schutz und Hilfe, als . . . bei Haarrnann."176
Zwar wurden die Jugendlichen auch hier als Fürsorgezöglinge und Psy chopathen beschrieben, aber in erster Linie als unverschuldet in Not gera tene, kranke und fürsorgebedürftige Opfer, die vom Staat im Stich gelas sen worden waren. Stattdessen sei der Mörder als das Zerrbild des verant wortlichen Vater Staat aufgetreten: "Haarmann als Jugendfürsorger". 177 Eine Kritik an der Leistungsfähigkeit staatlicher Einrichtungen, die sich im Falle der kommunistischen Presse an die Vorhaltungen gegenüber Polizei anschloss.
175 Siehe: Seitz 1987a, S. 1 1 5 ; Seitz 1989, S. 58-6 1 . 176 "Mordprozeß Haarrnann", in: Vorwärts, 1 1 . 12. 1924 (Morgenausgabe, Bei lage) (HiO und AiO). 177 "Mordprozeß Haarrnann", in: Vorwärts, 1 1 . 12. 1924 (Morgenausgabe, Bei lage) (HiO). Wie gesehen wurden die Männer in der Roten Fahne als "ar me Teufel" beschrieben, "die froh waren, Unterschlupf zu haben und sich satt essen zu können". ("Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarrnann als Vertrauensmann der Polizei", in: Rote Fahne, 1 3 .7. 1 924.)
282 I KANNIBALE-WERDEN
Auch Vertreter christlich-karitativer Einrichtungen meldeten sich in diesem Sinne zu Wort. Hier wurden die Getöteten als Produkte ihrer sitt lich verkommenen Umwelt dargestellt. Sie seien inmitten sittlicher Not in überfüllten und dunklen "Wohnhöhlen", unterhalb jedes hygienischen Standards, "in denen sich niemals ein glückliches Familienleben" hätte entfalten können, aufgewachsen. Diese Umstände hätten sie "geradezu mit Gewalt auf die Straße, in die Wirtschaft, zum Verbrechen getrieben".'78 Die Straße wiederum sei der "Sitz der Prostitution", dem moralischen und kriminellen Übel schlechthin. 179 Wie wir bereits im Kontext des kolonialen Kannibalismusdiskurses beobachtet haben, stand auch hier die Unversehrtheit des, in diesem Falle jugendlichen, männlichen Körpers auf dem Spiel. Allerdings war in diesen Körper eine Differenz eingetragen. Die Rede von der Gefahrdung der männlichen Jugend war nämlich eine im doppelten Sinne klassenspezifi sche: Während einerseits die Gefahr der kannibalischen und/oder homose xuellen Ansteckung für die männlichen jugendlichen Körper immer wie der betont wurde, waren die betroffenen Körper gleichzeitig als kriminell und proletarisch, als nicht-bürgerlich und damit nicht den Söhnen der he gemonialen, weißen, bürgerlichen Männlichkeit zugehörig markiert. Diese Differenz wurde wiederum von denjenigen Sprechern eingetragen, welche sich selbst als Teil der hegemonialen Männlichkeit verstehen konnten, wie Staatsanwälte, Richter, Abgeordnete, Journalisten oder Kriminologen. Auf diese Weise wurde das Wissen um die Gefahr einer Infektion ständig aktualisiert, gleichzeitig aber deutlich gemacht, dass betroffen nur sei, wer sich bereits j enseits der heterosexuellen, bürgerlichen Norm be wegte. Ganz wie einige unter den Opfern Haarmanns es getan hatten: Söh ne aus mittelständischen Handwerker- oder Angestelltenfamilien, die sich in Szenelokalen umgesehen oder ihr Glück in der Großstadt gesucht hat ten. In diesem Sinne kann diese scheinbar widersprüchliche diskursive Strategie als Teil eines Normalisierungsdiskurses begriffen werden, der angesichts einer zunehmenden Zahl junger Männer, die im Umfeld von Jugendbewegungen verschiedenster politischer Prägung, einer immer selbstbewusster auftretenden homosexuellen Emanzipationsbewegung und den ökonomischen und sozialen Umbrüchen der Nachkriegszeit ihre Un abhängigkeit von traditionellen Rollenvorbildern proklamierten und neue Lebensformen ausprobierten, die Grenzen zwischen Normalität und Ab weichung nachdrücklich einzeichnete. Die einzige wirkliche Gegenstimme 178 Victor Bode, "Gedanken zum Fall Haarmann", in: Hannoverscher Kurier, 2.8. 1 924. 1 79 Ebd. Bode differenzierte nicht zwischen Mann-männlicher und weiblicher Prostitution. Aus seinen weiteren Schilderungen, in denen er ausschließlich über junge Männer sprach, die in diesem sozialen Milieu "auf die schiefe Bahn" zu geraten drohten, lässt sich allerdings schließen, dass er sich dar über bewusst war, dass mann-männliche Prostitution ein Teil der Lebens realität der späteren Opfer Haarmanns darstellte.
DER BODY POLITIC ISST SICH SELBST I 283
zu diesem Normalisierungsdiskurs, die der Kommunisten und Kommu nistinnen, hatte dem kein attraktives Männlichkeitskonzept entgegen zu setzen. Gerade über die rhetorische Identifikation der Opfer Haarmann mit denen antikommunistischer, polizeilicher Gewalt gerieten diese in den Be richten zu geschundenen Körpern, hilflos und verletzlich. Zusammenfassend können wir festhalten, dass sich um die Metapher der Krise ein Diskurs um Männlichkeit, Kannibalismus und die Verfasstheit des body politic anordnete, welcher mit einer aktiven Transformation und Aneignung des ethnologischen und medizinisch-psychiatrischen Wissens vom Kannibalismus einherging und in mehrfacher Hinsicht politisch auf geladen war. Bei der Analyse dieses Krisendiskurses ist seine genaue Ver ortung innerhalb der zeitgenössischen Debatten um Männlichkeit, die Lage der Nation und der Staatsorgane sowie um Homosexualität und die Unver sehrtheit der männlichen Jugend von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig wurde in meinen Untersuchungen deutlich, dass erstens, auf der Grundlage der seit Mitte des 1 9. Jahrhunderts etablierten Verknüp fung von Nation und Maskulinität ein allgemeiner Verfall von Moral und Sittlichkeit als Folge des Ersten Weltkrieges und der (Hyper)Inflation wahrgenommen wurde, als deren sichtbarstes Zeichen das Auftreten von Sexualstraftätern wie Karl Großmann oder Fritz Haarmann gedeutet wur de. Dieser Sittenverfall wiederum wurde dezidiert als männliche Krise in terpretiert. Zweitens wurde der Kannibalismusvorwurf in der politischen Ausei nandersetzung ganz besonders zwischen KPD und SPD instrumentalisiert. Der Spitzel Haarmann, der sich an Verrat und Tod bereicherte, so die kommunistische Presse, repräsentierte ein von der Sozialdemokratie instal liertes Unterdrückungssystem mit all seinen menschenverachtenden und vernichtenden Charakteristika. Indem das angeblich auf Gewalt und Men schenfresserei beruhende politische System (Republik) mit dem ökonomi schen (Kapitalismus) gleichgesetzt wurde, wurden beide als "Menschen schlachthaus" diskreditiert. 180 Drittens schließlich war die im Zusammenhang mit den kannibalischen Lustmördern am häufigsten in der Publizistik beschworene Krise die der männlichen Jugend. Es war ihre Unversehrtheit, die angeblich auf dem Spiel stand; ihr drohte die physische und moralische Degeneration. Wie oben gesehen, war diese Beschwörung Teil eines Normalisierungsdiskur ses, der gleichzeitig eine klassenspezifische Differenz in den männlichen Körper einschrieb. Während angeblich gerade junge Männer aus einem proletarischen Umfeld betroffen sein sollten - Stichwort Fürsorgezöglinge - wurde das Schreckensbild der Degeneration auch dazu benutzt, um das Verhalten der Söhne der Mittel- und Oberschicht zu beeinflussen. Ähnlich
180 "Das Menschenschlachthaus", in: Rote Fahne, 1 8.7. 1 924.
284 I KANNIBALE-WERDEN
wie im kolonialen Kontext war der Kannibalismusdiskurs auf diese Weise eng mit einem Netzwerk gouvernementaler Praktiken der Regulation und Norrnalisierung von Lebensäußerungen verbunden.
7 . " I ch bin doch kein Kanniba l e " : Sch l ussbetrachtu ngen
Ende des Jahres 1 930, fast ein halbes Jahr nach seiner Verhaftung, führte Peter Kürten mit Max Raether, dem Leiter der Provinzial Heil- und Pfle geanstalt Bedburg-Hau, im Rahmen einer psychiatrischen Untersuchung mehrere Gespräche. Die Mitschriften dieser Interviews wurden Bestandteil des von Raether angefertigten Gutachtens, welches er am 2. Januar 1 9 3 1 dem Gericht vorlegte. Dort findet sich folgender Dialog: "Spontan: ,Ich hätte noch gern etwas hinsichtlich der Bildung hinzugefügt. Ich
sagte, ich hätte mich mit Vorliebe mit Länder- und Völkerkunde beschäftigt. Ich habe mich auch für Sitten und Gebräuche, auch sexueller Art der betreffenden Völker interessiert.' Zum Beispiel) ,Für Südseeinseln oder Indien, für Anhänger des Bud[d]ha, also für Japan und China, auch für so Taten der Amokläufer und Kopfjägerei, wie in Australien und auf den Südseeinseln. ' Auchfür erotische Literatur?) ,Ich habe natürlich alles verschlungen. ' Können Sie mir die Titel nennen?) , Titel sind mir nicht i n Erinnerung. Die Sa chen sind schnell gelesen worden und weniger haften geblieben.' [ ... ] Hat Ihnen das Gelesene auch bei Ausführung Ihrer Taten vorgeschwebt?) ,Jules
Veme hat mir vorgeschwebt. Ich habe vieles in mich aufgenommen und ge wünscht, in die Tat umzusetzen. Es blieb aber bei diesen Phantasien oder Wahn vorstellungen. Zum Beispiel habe ich mir ein Luftschiff konstruiert und damit eine Reise auf den Mars und die Venus ausgeführt, wie ich Ihnen das schon er zählt habe. Im übrigen habe ich das, was einschlägig ist, gewünscht, ausführen zu können, z.B. Schilderungen aus den Südseeinseln, wo sie Gefangene massak riert haben, wo ich von Kannibalismus gelesen habe, der dort üblich ist. ' Haben Sie denn auch das Fleisch Ihrer Opfer gegessen?) ,Nein, ich bin doch kein Kannibale. Ich habe wohl versucht, Blut zu trinken. ,,,'
Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2. 1 . 1 93 1 , HStA Düsseldorf, 17/73 1 , hier Bll. 225-227 (Hervorhebung EB).
286 I KANNIBALE-WERDEN
Wie dieser Ausschnitt zeigt, bezogen sich sowohl Raether als auch sein Gesprächspartner Kürten in diesen Interviews gemeinsam auf ein diskursi ves Feld, in dem Kannibalismus, Kolonialismus und Kriminalität, genauer Sexualverbrechen, miteinander gekoppelt waren. Darüber hinaus können wir beobachten, wie Kürten sich einerseits mit dem Eingeständnis, durch erotische Literatur, Abenteuerromane und Science Fiction beeinflusst worden zu sein, Eigenschaften des in der medizinisch-psychiatrischen Fachliteratur beschriebenen Täterprofils aneignete, während er sich ande rerseits durch vehemente Abgrenzung zu dem angeblich im kolonialen Raum ausgeübten Kannibalismus als Teil weißer Normalität darstellte. Anders als bei der zu Beginn meiner Studie zitierten ironischen Bemer kung des liberianischen Studenten AI-Haj Massaquoi, die mit rassistischen Vorurteilen gegenüber Menschen afrikanischer Herkunft spielte, handelte es sich bei Kürtens Aussage um eine komplexe und vielschichtige Einord nung in ein Kontinuum weißer, männlicher (Ab)Normalität. Damit ver deutlicht der oben zitierte Ausschnitt das diskursive Geflecht, welches den Untersuchungs gegenstand meiner hier vorgelegten Studie bildete: ein Dreieck, aufgespannt zwischen dem kolonialen Diskurs um den wilden
Kannibalen, den psychiatrisch-medizinischen und kriminologischen De batten um die kannibalischen Lustmörder und der Bezugnahme auf diese Diskurse bei der Artikulation hegemonialer Männlichkeit in der postkolo nialen Gesellschaft der Weimarer Republik. Auf den folgenden Seiten möchte ich kurz die zentralen Arbeitsergebnisse meiner Untersuchungen festhalten sowie sich daran anschließende, fortführende Forschungsfragen aufzeigen. Kan n ibale-Werden
Wie in Kapitel vier und fünf rekonstruiert, suggerierte der normalistische Diskurs der Medizin, Psychiatrie und Kriminologie einerseits eine binäre Trennung zwischen , normalen' und , anormalen' Männlichkeiten. Ande rerseits wurde in diesem Diskurs ein Normalfe1d von Geschlechteridentitä ten etabliert, in dem jede Männlichkeit verortet wurde. Auf diese Weise wurde eine Männlichkeit entworfen, die sich durch multiple und teilweise widersprüchliche Bezüge auf andere Identitäten definierte: auf Wilde, Kinder, Frauen, Tiere sowie andere Männlichkeiten, etwa homosexuelle oder nicht-weiße Männer. Gleichzeitig wurde der weiße, männliche Kör per als gefährliche Inkorporation atavistischer Triebhaftigkeit aufgefasst. Der männliche Körper galt als evolutionäres Überbleibsel aus einer ,primi tiven' Periode der Menschheit. In Anlehnung an Anne McClintock habe ich in diesem Zusammenhang auch von einem anachronistischen Körper gesprochen. Aus der Perspektive der Experten hauste der Kannibale in jedem Mann. Nur die permanente Selbstkontrolle des Einzelnen konnte seinen
SCHLUSS BETRACHTUNGEN I 287
Ausbruch verhindern. Wie wir im dritten und fünften Kapitel gesehen ha ben, wurde diese Triebkontrolle und der dazu notwendige Wille als das exklusive Privileg weißer, gesunder Männer angesehen: Kriminellen, kranken, nicht-weißen Männern wurde unterstellt, sie wären zu dieser Art der Triebkontrolle nicht fähig und würden von ihrer Körperlichkeit be herrscht, statt umgekehrt sie zu beherrschen. Sie seien, ganz im wörtlichen Sinne, wie die Wilden. Gleichzeitig war aber aus wissenschaftlicher Per spektive die Grenze zwischen Psychopathie und Gesundheit nicht genau zu bestimmen. Vielmehr wurde ein Kontinuum von (Ab)Normalität ent worfen, in dem jeder Mann nach Faktoren wie erblicher Disposition, Le benssituation, Klassenzugehörigkeit, Alkoholkonsum oder Alter eingeord net wurde. Diese Einordnung war fluide und häufig uneindeutig. Wie anhand der Analyse so unterschiedlicher Texte wie Tarzan, tro penhygienischer Fachliteratur oder der Propaganda gegen die Tirailleurs Senegalais gezeigt, findet sich diese Ambivalenz auch außerhalb krimino logischer Fachdarstellungen. Der kannibalisch-sadistische Impuls galt als Eigenschaft jedes männlichen Körpers, egal ob degeneriert-psychopathisch oder gesund, europäischer oder afrikanischer Herkunft. Hand in Hand mit diesem Diskurs ging die Regulation männlicher Sexualität einher, welche die Ausübung sexualisierter Gewalt nach geographischem Kontext, Ge schlecht und Verortung der Partnerin innerhalb einer rassistischen Hierar chie anordnete. Während beispielsweise die Gewalt weißer Kolonisatoren gegenüber indigenen Frauen innerhalb bestimmter Parameter als , normal' angesehen wurde, galt das gleiche Verhalten gegenüber weißen Frauen als unangemessen, ja pathologisch. In diesem Sinne wurde der Kannibale, beziehungsweise der s adistische Lustmörder, nicht als binär codiertes Ge genüber oder als Abjektion des Mannes konstruiert, wie bislang in der Forschungsliteratur angenommen, sondern war inhärenter B estandteil sei ner Identität. Dieses Ergebnis unterstreicht die Notwendigkeit einer post kolonialen Perspektive für die deutsche Geschlechtergeschichte. Die geschilderte Komplexität ist mit dem bislang in der Forschung an genommenen Negationsverhältnis zwischen Identität und Alterität nicht angemessen zu beschreiben. Der von der feministischen Theoretikerin Ro si Braidotti entwickelte Begriff des "nomadic subject" bot hier einen Aus weg. Um kurz zu rekapitulieren: Braidotti versteht das vergeschlechtlichte und verkörperlichte Subjekt als agencement oder Mannigfaltigkeit, wel ches in und durch die vielfältigen Konnexionen und Austauschprozesse existiert, die es mit seiner Umwelt herstellt. Diese Prozesse werden von ihr als ergebnisoffene und kontingente B eziehungen begriffen.2 Sie beschreibt das Subjekt daher als "shifting, partial, complex and multiple", als "relay point for many sets of intensive intersections and encounters with multiple
2
Vgl. Braidotti 2002, S. 75-76.
288 I KANNIBALE-WERDEN
others", das stets "in the shifts and the patterns of repetitions" existiere, in einer Form des "intransitive becoming", einem , Werden' .3 Gewendet auf den hier vorliegenden historischen Gegenstandsbereich verweist die Mannigfaltigkeit weißer, heterosexueller, bürgerlicher Mann damit auf eine Vielzahl von Beziehungen zwischen heterogenen Termen, etwa Mann-Frau, Mann-Wilder, die in ihrer Gesamtheit die Identität kon stituierten. Einige dieser Beziehungen wurden zur Herstellung der Identität stärker herausgehoben als andere, überkodiert und auf diese Weise in eine binäre Struktur gebracht. Gleichzeitig handelte es sich dabei nicht nur um das Hervorheben einer Verbindungslinie, sondern auch um das Aufrufen weiterer Konnexionen (Mann-Natur, Mann-schwarzer Mann, Mann Werwolf, Mann-Kannibale). Aus dieser Perspektive erscheint die gleich zeitige Einordnung der hegemonialen Männlichkeit in ein rassistisches Normalfeld einerseits und die Vorstellung vom männlichen Körper als Inkorporation von kannibalischer Alterität andererseits nicht als Wider spruch, sondern vielmehr als Teil ihrer historisch spezifischen (Re)Pro duktion. Der Kannibale war in diesem Sinne der äußerste Punkt des agen
cements und gleichzeitig seine notwendige Bedingung. Oder anders for muliert: ,Mann-Werden' , das heißt Triebe kontrollieren, sich beobachten und zügeln, hieß ,Kannibale-Werden' , begehren, reißen und fressen wol len. Diese Interpretation wirft jedoch gleichzeitig einige grundsätzliche Fragen über die geschlechterspezifischen Dimensionen des ,Werdens ' auf. In ihrem Werk Tausend Plateaus argumentieren Deleuze und Guattari, dass das ,Werden' aufgrund seines destabilisierenden, deterritorialisieren den Charakters eine Strategie sei, bestehende Identitäten aufzulösen und den gegenwärtigen politischen, patriarchalen und kapitalistischen Verhält nissen zu entkommen. Als die beiden privilegiertesten Ausgangspunkte dafür präsentieren die Autoren das "Frau-Werden" und das "Tier Werden", da diese im Vergleich zu anderen Identitäten fluider und weni ger stark territorialisiert seien: In diesem Zusammenhang sprechen sie auch vom Werwolf als eines der dämonischen Tiere, die Mannigfaltigkei ten bilden, sich qua Ansteckung vermehren und sich daher besonders für die "widernatürlichen Anteilnahmen", die das ,Werden' kennzeichnen, eignen.' Demgegenüber verneinen Deleuze und Guattari ganz grundsätz lich die Möglichkeit eines "Mann-Werden[s]", da "der Mann die Mehrheit par excellence", die Verkörperung des "Herrschaftsstatus" darstelle.6 Wie im Verlauf meiner Untersuchungen deutlich wurde, war , Mann' jedoch keineswegs so molar-einheitlich wie von Deleuze und Guattari an
3 4 5 6
Braidotti 2002, S. 75, 86. Vgl. Deleuze/Guattari 2002, S. 378, 396-397. Siehe dazu auch: Colebrook 2002, S. 63-64. Deleuze/Guattari 2002, S . 328-330, Zitat S. 330. Ebd. , S. 396 (Zitat), 398.
SCHLUSSBETRACHTUNGEN I 289
dieser Stelle angenommen, sondern ein komplexes agencement, entstanden entlang der Fluchtlinien nicht allein von gender sondern auch von race und class. Ausgehend von meinen Arbeitsergebnissen stellen sich damit eine Reihe von Fragen: Müsste Deleuzes und Guattaris Konzept des ,Wer dens' einer Historisierung unterzogen werden? Wenn der (Wer)Wolf und seine Triebhaftigkeit Teil männlicher Identität war, bedeutet dies im Um kehrschluss, dass dieses , Werden' gar keinen Ausweg aus gegebenen ge sellschaftlichen Strukturen bietet, sondern diese lediglich reproduziert? Was würde dies in Bezug auf die anderen von Deleuze und Guattari pro pagierten ,Werden' bedeuten? Geteilte Geschichte(n) moderner Gouvernementalität
Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, entstand das Wissen vom wil den Kannibalen in einer spezifischen historischen Situation im letzten Drittel des 1 9 . Jahrhunderts unter maßgeblicher Mitwirkung der indigenen Bevölkerung: Die Reisen Georg Schweinfurths, Eduard Schnitzers oder Wilhelm Junkers nach Ost- und Zentralafrika wären ohne die infrastruktu rellen Voraussetzungen des Karawanenhandels unmöglich gewesen, und indigene Mitarbeiter lieferten wesentliche geographische und ethnologi sche Informationen. Oft waren es lokale Gerüchte, welche die Forscher auf die Spur mutmaßlich kannibalischer Gemeinschaften brachten. In dem auf diese Weise entstandene Wissen wurde eine bestimmte Form der triebhaf ten und gewaltbereiten Männlichkeit mit einer Neigung zum Kannibalis mus verknüpft. Wie die Afrikanistin Heike B erend festgestellt hat, war dieses Wissen vom Kannibalen damit weder ein "rein westliches Phantas ma", noch handelte es sich dabei ausschließlich um "afrikanische, lokale Imaginationen". Vielmehr entstand dieses Wissen in "einem Raum inter kultureller B egegnungen, im Kontext von wechselseitigen, oft gegneri schen, sich jedoch verschränkenden Intentionen und Strategien".' Auf europäischer Seite, auch das konnten meine Ausführungen zeigen, war dieses Wissen Teil einer "colonial govemmentality", welche auf die Umgestaltung und Regulation der Lebensäußerungen der kolonialen Be völkerung zielte. 8 Kannibalen waren die Objekte biopolitischer Interventi onen: Sanktionen gegen sie wurden als hygienische Maßnahmen zum Schutz der restlichen indigenen Bevölkerung vor einer befürchteten An steckung angesehen. Die ,Ausrottung' bestehender kannibalischer Sitten und die Infektionsprävention dienten im Verständnis der Kolonisatoren, wie ich am Bespiel des Prozesses auf der Station Iringa in DOA demons triert habe, darüber hinaus gleichzeitig der Zivilisierung der indigenen Be völkerung. Es ist dieses Selbstverständnis der Kolonialherren als die ,gu ten Hirten' einer nach rassistischen Kriterien hierarchisch strukturierten 7 8
Behrend 2004, S. 1 65 . Siehe dazu: Scott, D. 2005, S. 24-25, 3 5 .
290 I KANNIBALE-WERDEN
kolonialen Gesellschaft und damit die Betonung des pastoralen Aspektes der modernen Bio-Macht, so meine Argumentation, welche die koloniale Gouvernementalität auszeichnete. Der damit einhergehende Glaube an die Zivilisierungsmission be schränkte sich jedoch nicht nur auf den kolonialen Raum. Auch in Europa und dem deutschen Mutterland wurde die Ausübung kannibalischer Prak tiken vermutet. Wie in Kapitel vier gezeigt, standen Proletarierinnen und Proletarier ebenso wie die Bevölkerungen ländlicher Gebiete unter dem Verdacht, aufgrund von abergläubischen Vorstellungen Menschenfleisch oder -blut zu verzehren. Die Wahrscheinlichkeit für diesen "kriminellen Aberglauben" nahm laut Ansicht der Experten mit steigender sozialer oder räumlicher Entfernung von einem imaginären bürgerlich-städtischen Zent rum zu.9 Auch hier sollten gouvernementale Eingriffe in Form von ärztli cher Aufklärung und schulischer Bildung das Leben und die Subjekte im Sinne einer Modernisierung neu ordnen. Wie Mitchell Dean rekonstruiert hat, war diese Normalisierung der Bevölkerung auf dem Territorium des Nationalstaats ein zentraler Bestandteil des historischen Prozesses der Ausbildung der modernen Bio-Macht.!O Mit Beginn der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Erklärungsmodell für Kannibalismus jedoch. Nicht länger galt das Festhalten an überkommenen, abergläubischen Vorstellungen, also eine zivilisatorische und sittliche Rückständigkeit als Grund für Menschenfres serei, sondern eine bestimmte, , degenerative' Körperlichkeit. Von zentra ler Bedeutung für diesen Wandel war die fachwissenschaftliehe Auseinan dersetzung um das Konzept des geborenen Verbrechers von Cesare Lombroso. Die Analogie wie die Wilden bezeichnete fortan nicht nur ein ,niedriges' evolutionär-zivilisatorisches Niveau, sondern eine Korporeali tät. Mit der Durchsetzung dieses biologistischen Modells zur Erklärung von abweichendem und mutmaßlich kannibalischem Verhalten können wir eine Verschiebung der gouvernementalen Rationaliät beobachten. Anstelle der pastoralen Ordnung, Anleitung und Normierung der Bevölkerung the matisierten die kriminologischen und medizinisch-psychiatrischen Schrif ten nun zunehmend die Frage nach der Sicherung der Gesellschaft." Die Frage nach der Verknüpfung von Kolonie und Metropole im histo rischen Prozess der Entwicklung moderner Gouvernementalität ist in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen diskutiert worden. Dabei ist vorgeschlagen worden, die Kolonien als , Laboratorien der Moderne' zu verstehen, in denen Technologien und Disziplierungspraktiken getestet wurden, bevor sie in den jeweiligen Mutterländern zu Anwendung ge bracht wurden. Demgegenüber schlägt Dirk van Laak vor, stattdessen von einem " ,Experimentierraum'" zu sprechen, in dem "bevölkerungspoliti9 10 11
Hellwig 1 908, S. 4. Siehe: Dean 2007, S . 78-82. Aschaffenburg 1 9 1 2, Zitat: Titel.
SCHLUSSBETRACHTUNGEN I 291
sehe und Raumanordnungs-Modelle ausprobiert wurden". 1 2 Allerdings geht auch van Laak von einer Transferbewegung des solcherart in den Ko lonien hergestellten Wissens aus. Seiner Ansicht nach sei es Aufgabe der Forschung, zu rekonstruieren "wohin das koloniale know-how abgewan dert" sei und "welche Metamorphosen es dabei durchlebt[ ]" habe.!3 Dem gegenüber haben meine Analysen des Kannibalismusdiskurses gezeigt, dass wir anstelle einer Transfergeschichte vielmehr die Geschichte einer komplexen Verflechtung beobachten können. Sowohl sozial und geogra phisch periphere Räume innerhalb Deutschlands, wie auch ihre B ewoh nerinnen und Bewohner waren Ziel gouvernementaler Rationalitäten und Technologien, welche auf die Regulation, Normalisierung, kurz die Mo dernisierung der Lebensäußerungen abzielten. Diese bezogen sich auf ei nen gemeinsamen, auf rassistischen Grundsätzen basierenden Referenz rahmen und arbeiteten mit den gleichen biopolitischen Technologien, die auch in den Kolonien zum Einsatz kamen: der anthropometrischen Ver messung der Körper, der ethnographisch-soziologischen Datenaufnahme und der statistischen Erfassung der Bevölkerung. Wenn wir der kolonialen Situation eine Besonderheit zuschreiben können, dann ist es ihre zentrale Bedeutung bei der Ausbildung des diesen biopolitischen Maßnahmen zu Grunde liegenden Rassismus, der, wie Robert Young festgestellt hat, so wohl entlang einer binären Unterscheidung zwischen Eigenem und Ande ren operierte als auch durch die ",computation of normalities'" eine Ein ordnung in ein Kontinuum der (Ab)Normalität vornahm." In diesem Sinne können wir also, in Anlehnung an eine Formulierung Shalini Randerias, von der geteilten Geschichte einer modernen Gouvernementalität spre chen. l' Postkoloniale Geschlechtergeschichte als multidimensionales Geflecht
Eines der Ziele der hier vorgelegten postkolonialen Geschlechtergeschich te ist es, den Wechselwirkungszusammenhängen zwischen den verschie denen diskursiven und non-diskursiven Praktiken in Kolonie und Metropo le nachzuspüren, die Teil des Prozesses der Artikulation hegemonialer, weißer, bürgerlicher und heterosexueller Männlichkeit waren. In diesem Sinne leistet diese Arbeit einen Beitrag zur Rekonstruktion möglicher Ein flüsse der deutschen Kolonialerfahrung auf die deutsche Gesellschaft über den unmittelbaren Zeitraum der Existenz der sogenannten Schutzgebiete hinaus.
12 13 14 15
van Laak 2004b, S. 258-259, 263 sowie S . 279. Ebd., S . 277. Hier stellt van Laak auch die Frage, inwiefern "koloniale Vorerfahrungen" bei der späteren NS-Ostraurnplanung eine Rolle spielten. Young 2003, S. 1 80 . Vgl. Randeria 2000, S . 90; Randeria 2002, S. 286.
292 I KANNIBALE-WERDEN
Die Frage nach der Kontinuität des deutschen Kolonialismus wird in den letzten Jahren, vor allem in Bezug auf die Interpretation der NS Ostraumplanung und der Einordnung der Shoah in den Kontext imperialer genozidaler Gewalt, kontrovers diskutiert. Im Zentrum der Debatten steht die Frage nach den Kriterien, die eine historiographisch feststellbare Kon tinuität konstituieren. Handelt es sich um die gleichen Personen, die Nut zung gleicher Infrastrukturen, den Bezug auf die gleiche rassistische, bio politische Argumentation?1 6 Die Postcolonial Studies wiederum lenken den Blick weniger auf die Rekonstruktion einer möglichen Kausalkette als vielmehr auf die "Verwo benheit der europäischen mit der außereuropäischen Welt" und fragen nach der " wechselseitigen Konstitution von Metropole und Kolonien" so wie der zentralen Kategorien der Moderne wie etwa dem Nationalstaat oder den bürgerlichen Identität. Anstatt dabei von einer kausalen, linearen Wirkungskette auszugehen, wird "Geschichte" vielmehr als ein "en
tanglement" verstanden, als ein Komplex, in welchem "die miteinander in Beziehung stehenden Entitäten [. . ] selbst zum Teil ein Produkt ihrer Ver flechtung" darstellen. 1 7 .
Auf diese Weise ist eine postkoloniale Geschlechtergeschichte gleich zeitig verpflichtet, auch diejenigen Konnexionen der Mannigfaltigkeit weißer Männlichkeit in den Blick nehmen, deren Entstehungszusammen hang vornehmlich im kolonialen Mutterland selbst zu verorten ist. Dieses Element habe ich in meiner Analyse aus darstellerischen Gründen zuguns ten der Rekonstruktion der Einflüsse des kolonialen Diskurses in den Hin tergrund gerückt. Nur an wenigen Stellen ist dieser Aspekt des histori schen Geflechts kurz angeklungen: in Bezug auf das Selbstverständnis der Offiziere der kolonialen Schutztruppe (Kapitel 2), der angeblichen Unfä higkeit der afro-französischen Soldaten, sich an die Regeln militärischer Zucht und Ordnung zu halten (Kapitel 5), sowie hinsichtlich des Wehr dienstes der , Lustmörder' der Zeit der Weimarer Republik (Kapitel 6). Sie alle verweisen auf das Ideal der soldatischen Männlichkeit. Um das volle Potenzial einer solchen, auf die Untersuchung von Wechselwirkungen ab zielenden, postkolonialen Geschlechtergeschichte zu verdeutlichen, möch te ich an dieser Stelle kurz auf einige derjenigen Resonanzen hinweisen, die sich aus den bislang in dieser Arbeit im Vordergrund stehenden Kon nexionen zwischen kannibalischer Alterität und weißer Männlichkeit erge ben. Sowohl der soldatischen Männlichkeit als auch der von mir nachge zeichneten Männlichkeitskonstruktion war die B etonung männlicher Selbstbeherrschung und Disziplin eigen. Auf einen ersten Blick hingegen scheint dem soldatischen Mann jedoch die Ausübung von Gewalt im Rahmen von Kriegshandlungen als Angehörige der Armee gestattet. Ein 16 17
Siehe beispielsweise: Kundrus 2006a, S. 45-50. Conrad/Randeria 2002, S . 10, 1 7 (HiO).
SCHLUSSBETRACHTUNGEN I 293
Umstand, auf den die berühmt gewordene Formulierung Kurt Tucholskys in seiner Glosse "Der bewachte Kriegsschauplatz" hinwies: "Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verbo ten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder."18
Hingegen stand die Kontrolle und Regulation der Ausübung von (sexuali sierter) Gewalt im Zentrum der von mir hier rekonstruierten weißen Männ lichkeit. Ein genauerer Blick auf das Verhältnis zwischen männlicher Selbstdis und der Ausübung von Gewalt im Kontext der Armee offenbart je plin zi doch, dass ein komplexes System der Regulation von legitimer und illegi timer Gewaltausübung konstitutiver Bestandteil dieser " , Schule der Männ lichkeit'" war. !9 Einerseits sollten im Wehrdienst die zentralen bÜTgerlich männlichen Tugenden vermittelt werden: "Ordnung, S auberkeit, Pünkt lichkeit, Gehorsam" sowie "Willensstärke", "Enthaltsamkeit und B elast barkeit" sowie "Achtung vor den Gesetzen, Vaterlandsliebe und Königs treue".'o Gleichzeitig lernten die Wehrdienstleistenden hier, dass Gewalt ausübung ein gesellschaftlich anerkannter Teil von Männlichkeit war. Als Zeugnis dafür sind Phänomene wie etwa die starke Identifikation von Re serveoffizieren mit ihrem S äbel, die sich über das Militär vom Adel ins Bürgertum sich verbreitende Duellpraxis sowie die Mannbarkeitsrituale, die mit dem Eintritt in den Wehrdienst verbunden waren.'! Das gleiche galt für Körpererfahrungen. Auseinandersetzungen um den Einsatz von Prügel und anderen Körperstrafen deuten darauf hin, dass physische Gewalt zur Herstellung und Festigung von Hierarchien innerhalb der Truppe benutzt wurde. Darüber hinaus galt die Armee auch als Raum, in dem junge Män ner Wissen über Sexualität erwarben: Wissen, das vermittelt wurde von anderen Rekruten oder älteren Soldaten, durch pornographische Literatur oder durch sexuelle Beziehungen, die sie mit Frauen und Männern knüpf ten. Stets jedoch waren diese Erfahrungen rückbezogen auf die geschlech terhomogene Gruppe des militärischen Männerbundes und häufig genug explizit misogyn." Wie Karen Hagemann und Ute Frevert herausgearbeitet haben, waren die Antinapoleonischen Kriege Preußens ( 1 8 1 3- 1 8 1 5) sowie die damit verbundene Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen
18 19 20 21 22
Tucho1sky 1 989, S . 253 (zuerst erschienen unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel in: Die Weltbühne 3 1 vom 4.8. 1 93 1). Siehe: Frevert 200 1 , S. 228-245, Zitat S . 228. Ebd., S. 272, 275. Siehe: Ebd., S . 243-245, 229-232; Frevert 1 995b, S. 1 46- 1 62; 296-3 15. Frevert 2001 , S. 234-237. Homosexuelle Erfahrungen sind, wie Frevert hier anmerkt, weitaus schwieriger zu rekonstruieren, waren aber dennoch nicht unmöglich. Siehe dazu auch: Rachamimov 2006, S. 377, 3 8 1 -382.
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( 1 8 1 3) von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung der soldati
schen Männlichkeit. Die kolonial-rassistische Betonung der männlichen Triebkontrolle und Selbstdisziplin rief damit also Eigenschaften auf, die bereits in anderen Kontexten und vor Beginn der aktiven Kolonialpolitik des Kaiserreiches als Teil hegemonialer Männlichkeit galten. Aus der Perspektive einer postkolonialen Geschlechtergeschichte stellen sich angesichts dieser Be obachtungen eine Reihe von Fragen: Welches waren die Resonanzen zwi schen den verschiedenen diskursiven und non-diskursiven Praktiken, wel che die soldatische Männlichkeit und die von mir rekonstruierte weiße, bürgerliche und heterosexuelle Männlichkeit konstituierten? Inwiefern bezogen sich die Zeitgenossen selbst, etwa die Kolonialoffiziere, aber auch die sogenannten Lustmörder auf diese Männlichkeiten? Fritz Haarmann beispielsweise bestand sehr nachdrücklich darauf, gerne Soldat gewesen zu sein.23 Wie ich bereits im sechs Kapitel angemerkt habe, standen für die Mehrheit der sogenannten Lustmörder an Stelle des Militärs die Erfah rungen in einer anderen "totalen Institution": dem Gefängnis bzw. dem Zuchthaus.2• Ähnlich wie im Militär, der anderen gesellschaftlich veran kerten "Heterotopie", spielten auch hier der Ausschluss und die Deevalua tion von Femininität sowie die Anwendung physischer Gewalt untereinan der eine zentrale Rolle.25 Können wir von einer disziplinarischen Zurich tung des lustmordenden Kannibalen sprechen? Transnationale D imension
Sowohl die Entstehung des Wissens vom wilden Kannibalen als auch die psychiatrisch-medizinische und kriminologische Forschung hatte, wie an mehreren Stellen der hier vorgelegten Analyse deutlich wurde, eine trans nationale Dimension.26 Dazu gehörten im Einzelnen beispielsweise 23
24
25 26
Siehe: Vernehmungen (Protokolle) Haarmann durch Ernst Schultze in Hannover, 26.7.-9.8.1924, NHStA Hann. 155 Göttingen Nr. 864a, Bll. 676-734, hier Bll. 679, 682; Vernehmungen (Protokolle) Haarrnann durch Geheimrat Ernst Schultze in der Niedersächsischen Heil- und Pflegeanstalt zu Göttingen, 1 8.8.-25.9. 1 924, NHStA Hann. 155 Göttingen Nr. 864a, BI!. 298-586, hier Bll. 304-305, 499, 505, 5 15 . Eine totale Institution ist nach der Definition von Erving Goffman eine "Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen [... ], die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen." (Goffman 1 972, S. 1 1 ). Als Beispiele für totale Institutionen nennt Goff man neben psychiatrischen Einrichtungen auch Strafvollzugsanstalten, "Kasernen, Schiffe, Internate, Arbeitslager, koloniale Stützpunkte" sowie Klöster (ebd., S. 1 6). Zum B egriff der Heterotopie siehe: Foucault 2005, S. 1 1 -1 2 , 1 6- 18 . Ich verstehe hier in Anlehnung an Kiran Klaus Patels Überlegungen zur transnationalen Gesichte unter einer transnationalen Dimension diejenigen Aspekte meines historischen Gegenstandbereiches, welche sowohl "jen-
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Schweinfurths, Schnitzers und Junkers Reisen in den britischen Sudan, die Rezeption US-amerikanischer oder italienischer Fachliteratur wie Beards Neurasthenia oder Lombrosos L'uomo delinquente, die begeisterte Lektü re von Burroughs Tarzan-Romanen im Deutschland der 1 920er Jahre, so wie die multiplen Bezüge auf Männlichkeiten anderer Nationalitäten, allen voran Briten und Buren in der deutschen Kolonialliteratur. Umgekehrt spielten, wie oben dargestellt, deutschsprachige Texte in der Etablierung eines europäischen Kannibalismusdiskurses eine entscheidende Rolle. Die Beschreibungen Hans Stadens oder Georg Forsters seien hier stellvertre tend genannt. Auch hier handelt es sich eine Spur, der ich aus Gründen der Arbeits ökonomie und der Darstellbarkeit nur teilweise nachgehen konnte. Dabei wären j enseits der genannten Zusammenhänge noch weitere Themenkom plexe zu nennen. So etwa die in den zeitgenössischen Publikationen über die sogenannten Lustmörder häufig zu beobachtenden Vergleiche zum Fall lack the Rippers, der in London zwischen August und November 1 888 mutmaßlich fünf Prostituierte ermordete hatte. Besonders oft wurde Peter Kürten mit ihm in Beziehung gebracht. 27 Arthur Hübner, einer der psychiatrischen Gutachter, erinnerte den Fall lack the Ripper so deutlich und verband diesen derart eng mit Kürtens Fall, dass er in einem Interview mit ihm den involvierten Zeitrahmen um zwölf Jahre fehlkalkulierte. ",Kurz vorher, etwa 1 900, da war ja in London die Geschichte passiert mit dem Jack, dem Bauchaufschlitzer, hatten Sie das gelesen?' Ja, diese Berichte und auch andere Geschichten, die habe ich richtig verschlungen. ,Sind Sie dadurch irgendwie beeinflusst worden?' Ja, ich muss die Möglichkeit zugeben, aber nicht bewusst; die erste Unterlage zum B auchaufschneiden habe ich wohl daher. Beim Bauchaufschneiden hatte ich einen regelrechten S amenerguss."28
Kürten wurde im Jahr 1 883 geboren. Als die Morde im Londoner Stadtteil
Whitechapel stattfanden, war er noch nicht im lesefähigen Alter, sondern erst sechs Jahre alt. Allerdings, so können wir festhalten, wuchs Kürten
27
28
seits (und manchmal auch diesseits) des Nationalen" lagen und sich gleich zeitig sowohl daraus speisten als auch dagegen abgrenzten. Siehe: Kiran Klaus Patel, "Transnationale Geschichte - ein neues Paradigma?", http://geschichte-transnational.c1io-online.net/forumlid=573&type= diskussionen (28 . 1 2.2010). Neben dem im Folgenden zitierten Gutachten Hübners wäre hier als Bei spiel zu nennen: H. Kortig, ,,1 5000 Mrk Belohnung. Der Massenmörder von Düsseldorf', Deutsche Kriminalpolizeiblatt (Sondernummer) 1 930, zit.n.: LenklKaever 1 997, S. 1 6-40, hier S. 32. Bereits Krafft-Ebing führt den Ripper als typisches Beispiel eines Lustmörders an. Siehe: Krafft Ebing 1 993, S. 77. Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Prof. Hübner, 26.3. 1 9 3 1 , HStA Düsseldorf, 17/730, BI. 9 1 .
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nach eigenen Angaben mit Geschichten über den ,Bauchaufschlitzer' auf. Er selbst antwortete, befragt zu seiner Lektüre während Kindheit und Ju gend, dass er ein großes Interesse an "Schmutz- und Schundliteratur" ge habt und eine besondere "Vorliebe" für Geschichten über lack the Ripper entwickelt habe.29 Darüber hinaus verfasste Kürten, ganz ähnlich wie der Londoner Mörder, eine Reihe von anonymen Bekennerschreiben, welche der Polizei den Fundort der Leichen seiner Opfer anzeigten oder einen weiteren Mord ankündigten.3o Ein weiterer, transnationaler Aspekt ist die medial vermittelte Rezep tion der deutschen Lustmordfälle, sei es in Form der medizinisch psychiatrischen und kriminologischen Fachliteratur zur Verknüpfung von Sexualität, Gewalt und Kriminalität, sei es in Form filmischer Interpreta tionen des Stoffes. So fiel beispielsweise die erste Aufführung von Fritz Langs und Thea Harbous Film M. Eine Stadt sucht einen Mörder in den Vereinigten Staaten im Jahr 1 933 in eine Zeit intensiver Debatten über Kriminalität, Sexualität und ,Normalität' .31 Die Historikerin Estelle Freedman bezeichnet die daran anschließende Phase von 1 937 bis 1 940 als die "sex crime panics".32 Ihrer Ansicht nach trugen eine Reihe von Fakto ren zur Entstehung dieser Situation bei: Die Übersetzung und Rezeption einschlägiger europäischer und deutscher psychiatrischer Fachliteratur. So erschienen 1 932 Magnus Hirschfelds Sexual Pathology: A Study of Ar rangements of the Sexual Instincts und 1 939 Richard von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis: A Medico-Forensic Study. Im Zuge dieser Rezep tion veränderte sich die fachwissenschaftliche Definition des Begriffs "se xual psychopath". Während damit zuvor eine Frau bezeichnete wurde, de ren Sexualität als abnormal aktiv und triebhaft, als "egocentric, selfish, irritable, antisocial, nervous" eingeschätzt wurde, so übernahmen US amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun das oben in Kapitel vier ausführlich darstellte Konzept des , Psychopathen' .33 Des Weiteren wurden neue Technologien der Bestimmung des Feldes sexueller (Ab)Normalität entwickelt und bestehende verfeinert. Freedman verweist in diesem Zusammenhang auf die Einrichtung des National Re search Council Committeefor Research on Problems of Sex im Jahr 1 93 1 , diejenige Institution, welche in den 1 940er und 1950er Jahren die For schung Alfred Kinseys förderte. Gleichzeitig wurde die strafgesetzliche 29 30
31 32 33
Ebd., Bll. 2 14-2 1 5 . Siehe: Vermerk über Zahl der eingegangenen Anzeigen und Zuschriften in den Mordsachen aussehl. der Fälle, für die Staussberg als Täter in Frage kommt, 1 1 . 1 . 1 930, HStA Düsseldorf, 1 7/734, BI. 1 ; H. Kortig, ,, 1 5000 Mrk Belohnung. Der Massenmörder von Düsseldorf', Deutsche Kriminal polizeiblatt (Sondernummer) 1 930, zit.n.: Lenk/Kaever 1 997, S. 1 6-40, hier S. 35, 37. "The Dusseldorf Murders", New York Times, 3 .4. 1933, S . 1 3 . Freedman 1 987, S. 92. Siehe: Freedman 1 987, S. 87-88.
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Verfolgung intensiviert: Mehrere Bundesstaaten erließen zwischen 1 935 und 1 939 "psychopath laws". Diese Gesetze sahen vor, dass geisteskranke Straftäter auf unbestimmte Zeit in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden konnten. Ziel dieser Gesetzgebung war der Schutz der B evölke rung vor Sexualstraftätern.34 Zusammen mit den in den einzelnen Kapiteln dieser Studie bereits thematisierten Aspekten machen diese beiden B eispiele deutlich, dass eine postkoloniale Geschlechtergeschichte nicht nur die Wechselwirkungen zwischen Kolonie und Metropole thematisiert, sondern auch transnationale Verflechtungen zwischen den europäischen Kolonialmächten anspricht. Über eine Transferanalyse, einen historischen Vergleich oder eine Histoire croisee könnten Bezüge, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Ver flechtungszusammenhänge aufgeschlüsselt werden. Mögliche Fragen sol cher Analysen könnten sein: Wurden in den Vereinigten Staaten aus schließlich weiße Männer als Psychopathen gekennzeichnet? Im Deutsch land der Weimarer Republik wurden die afro-französischen Truppenteile der Rheinlandbesatzung als typische B espiele einer unbeherrschbaren und zügellosen, ,schwarzen' Sexualität dargestellt. Können wir etwas Ähnli ches in den Vereinigten Staaten beobachten? Welche Rolle spielten dabei die rassistischen Ausschreitungen gegen Afro-Amerikaner, denen die Ver gewaltigung weißer Frauen unterstellt wurde? Judith Walkowitz hat in ihrer Studie City 0] Dreadjul Delight heraus gearbeitet, dass die Debatte um lack the Ripper mit einer Verschärfung der Regulation weiblicher Verhaltens und einer Debatte um eine angeblich drohende sittliche Degeneration der Gesellschaft einherging.J5 Wie ich in Kapitel fünf dargelegt habe, wurden die wilden Kannibalen wie auch die Psychopathen und Lustmörder vor allem im Kontext der Regulation männ licher Sexualität thematisiert. Können wir ähnliche Debatten um weiße Weiblichkeit im deutschen Kontext beobachten? Wie stand es um die Re gulation männlicher Sexualität in Großbritannien um 1 900? Ist eine mit der deutschen Diskussion vergleichbare Auseinandersetzung um die ,triebhafte Natur' des Mannes und die Notwendigkeit von Selbstdisziplin und Triebkontrolle zu verzeichnen? Leider muss die B ehandlung dieser Fragen anderen, nachfolgenden Studien vorbehalten bleiben. William Arens hat in seiner wegweisenden Studie The Man Eating Myth festgestellt, dass "the idea of the cannibalistic nature of others is a myth in the sense of [ . . . ] containing and transmitting significant cultural messages for those who maintain it. "36 Auch heute noch entfalten der Kannibalis musdiskurs und die damit einhergehenden Rassismen seine Wirkungen: Afrikanische Menschen werden wieder - oder vielleicht besser immer 34 35 36
Siehe: Ebd., S. 90-96. Siehe: Walkowitz 1 982, S. 543. Arens 1 987, S . 1 82 .
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noch - in Zoos zur Unterhaltung eines weißen Publikums ausgestellt," Karikaturen anlässlich des jüngsten deutschen Kannibalismusfalles, dem Fall Armin Meiwes, zeigen die bekannten Stereotypen des afrikanischen Kannibalen (siehe exemplarisch: Anhang Abb. 9 . 1 7). Die steigende Zahl gewaltsamer Angriffe auf Menschen afrikanischer oder nicht-deutscher Herkunft legen von der ungebrochenen Wirkungsmacht rassistischer Dis kurse Zeugnis ab. Eine kritische Auseinandersetzung mit den rassistischen Mythen der kolonialen Vergangenheit Deutschlands scheint damit heute notwendiger denn je. Zu dieser Debatte soll die hier vorgelegte Studie einen Beitrag leisten.
37
Etwa die Ausstellung "African Village" im Augsburger Zoo im Jahr 2005. Siehe dazu: "Repräsentationen des "Exotischen" - "Gezähmte Wilde" und "Völkerschauen" in Deutschland", http://wwwJreiburg-postkolonial.de/ Seiten/rez-dreesbach-2005.htm (28. 1 2.2010).
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I
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9.2 "König Munsa in vollem Staat", Schweinfurth 1 9 1 8, S . 309.
372 I KANNIBALE-WERDEN
9.3 "Unheimliches Geschenk", Junker 1 89 1 , S. 1 79.
tlllIJdmll�t� Gltid.1cnf.
9.4 "Gruss vom Bremer Freimarkt", Schaustellermuseum Essen: Postkarte, Original: 1 4 , 1 23. 1 0.05.
x
9,4 cm, (Farblithographie, "Gesch. M No 3"),
ANHANG: ABBILDUNGEN I 373
9.5 Heye 1 927, Schutzumschlag.
9.6 Ferdinand von Reznicek: "Die Macht der Gewohnheit", Simplizissimus 9,6 ( 1 904), S. 52.
374 1 KANNIBALE-WERDEN
9.7 Qtta Dix: "Lustmörder, 1 920" (VG Bild-Kunst, Bann 20 1 1).
9.8 George Grosz: "Der kleine Frauenmörder, 1 9 1 8" (VG Bild-Kunst, Bann 20 1 1 ).
ANHANG: ABBILDUNGEN I 375
9.9 earl Olof Petersen, "Frankreichs Kulturpioniere" , Simplizissimus 20,5 ( 1 9 1 5), S. 53.
�ranfreldJe st'ultutpionlcrt
9.10 "Sudanneger, Kannibale, als französischer Soldat" aus: "Die Naturvölker im Weltkriege", Kolonie und Heimat 1 2,7 ( 1 9 1 8- 1 9), S. 4-5, hier S. 5.
376 I KANNIBALE-WERDEN
9. 1 1 "Jumbo, der Menschenfresser", Propagandaplakat des Deutschen
Notbunds gegen die Schwarze Schmach von K. Sohr, Theweleit 1986, S. 1 25.
9. 1 2 "Sog. Ruhrtaler', 1 923", Hirschfeld 1 966, S. 1 1 3 .
ANHANG: ABBILDUNGEN I 377
9. 1 3 "Die Londoner Konferenzbrüder", Kladderadatsch 77,32 vom 1 0 . August 1 924, S. 5 1 1 .
9. 1 4 "Besatzer auf Urlaub in Paris: , Pierre, benimm dich. Wir sind hier nicht in Deutschland! ' Zeichung von R. Rost, 1921", Hirschfeld 1966, S. 1 08.
378 I KANNIBALE-WERDEN
9 . 1 5 "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauensmann der Polizei", Rote Fahne, 1 3.7. 1 924.
9. 1 6 "Massenmörder und Menschenfleischhändler Haarmann als Vertrauensmann der Polizei", Rote Fahne, 1 3.7. 1 924.
9 . 1 7 Zeichnung von A. Greser u. H. Lenz, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 3 1 . 1 .2004, S. 2 (mit freundlicher Genehmigung der Autoren).
Dank Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Disserta tion, die ich im Oktober 2008 unter dem Titel ",Ich bin doch kein Kanni bale' : Alterität und Männlichkeit zwischen 1 890 und 1 933" an der Lud wig-Maximilians Universität München eingereicht und am 26. Januar 2009 verteidigt habe. Wie jede Arbeit wäre auch die hier vorliegende ohne die freundschaft liche Unterstützung, die fachliche Kritik und die intellektuellen Anregun gen, die ich von so vielen Menschen erhalten habe, nicht zustande kom men. Ich möchte all diesen Menschen dafür danken. Leider kann ich un möglich jede und jeden hier persönlich nennen. Hier die Ausnahmen von der Regel: Johnny Danger, Michael Fluck, Irene Franken, Michaela Hampf, Jens Jäger, Jutta Kahle, Ulrike Lindner, Andrew MacNeille, Tho mas Maier, Maren Möhring, Franziska Thorma und Birgit Zimmermann. Ein großes Dankeschön schulde ich außerdem Dagmar Abresch Hausmann, Birte Christ und Harald von Aschoff für die energische Durch setzung der aktuell gültigen Fassung der deutschen Rechtschreibung. Stefan Bold gilt mein Dank für den Erhalt meiner geistigen Gesundheit angesichts der ewig anmutenden Arbeiten im Hamsterrad Dissertation. Ferner möchte ich mich bei den Mitgliedern des Graduiertenkollegs "Postcolonial Studies" an der LMU München bedanken, die mir nicht nur zu Kolleginnen und Kollegen, sondern darüber hinaus auch zu lieben Freundinnen und Freunden geworden sind. Dies gilt in besonderem Maße für Richard Manson, der mir immer mit Rat und Tat zur Seite stand, und für den ehemaligen Leiter des Kollegs, Graham Huggan, dessen kluge Fra gen mir bis heute Inspiration und Herausforderung zugleich sind. Darüber hinaus möchte ich auch den Archivarinnen und Archivaren der von mir angesteuerten Archive in Berlin, Düsseldorf, Essen und Han nover danken. Besonders ausdrücklich erwähnt sei an dieser Stelle Frau Unterumsberger, die mir durch ihr Engagement den Zugang zu den bereits für die Verfilmung vorbereiteten Akten der Berliner Missionsgesellschaft ermöglichte. Ein weiterer Dank geht an die Deutsche Forschungsgemein-
380 I KANNIBALE-WERDEN
schaft, die mich von Oktober 2003 bis März 2005 als Stipendiatin des Graduiertenkollegs "Postcolonial Studies" gefördert hat, und an den Deut schen Akademikerinnenbund (DAB) , welcher die Drucklegung dieses Werkes in großzügiger Weise finanziell unterstützt. Last but not least gilt mein besonderer Dank Martin Geyer und Norbert Finzsch für ein gelungenes Teamcoaching. Alle Doktoranden und Doktorandinnen sollten das Privileg genießen, zwei sich so ausgezeichnet ergänzende Wissenschaftler beratend an ihrer Seite zu haben. Ich widme dieses Buch der Frau, die mich am längsten und unerschütter lichsten unterstützt hat, auch wenn ihr meine Vorlieben manchmal arg zu denken gaben: Annemarie Bischoff, geb. Meyburg. B erlin, im Dezember 20 1 0