Tamora Pierce Dhana Band 01
Kampf um Tortall
Pferdemeisterin Onua aus dem Königreich Tortall ist zuerst mißtrauisch, d...
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Tamora Pierce Dhana Band 01
Kampf um Tortall
Pferdemeisterin Onua aus dem Königreich Tortall ist zuerst mißtrauisch, dann beeindruckt: Ihre neue Gehilfin, die 13jährige Dhana, besitzt die Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen. Bald zeigt sich, wie wichtig diese übernatürliche Gabe ist, denn mit ihrer Hilfe meistert Dhana vielfältige Gefahren, die sie und Onua auf der Reise nach Tortall bedrohen. Doch das gefährlichste Abenteuer steht noch bevor: Kaum in Tortall angekommen, muß Dhana an der Seite der Ritterin Alanna in den Kampf ziehen, um die königliche Familie zu retten. In diesem neuen Roman von Tamora Pierce, der Autorin der erfolgreichen »Alanna« – Bücher, sind Legenden und Mythen zu einer spannenden Geschichte um eine faszinierende Mädchengestalt verwoben Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Pierce, Tamora: Dhana / Tamora Pierce. – Würzburg: Arena.Der Titel der Originalausgabe
lautet: »Wild Magic« (Volume l in the »Daine« Series)
© 1992 by Tamora Pierce Originalverlag: Atheneum, New York
4. Auflage 1996 © 1992 by Arena Verlag GmbH, Würzburg ISBN 3-401-04420-6
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Für Racjuel Wolf-Schwester
Und für Tas Pferde-Herz,
die mein Herz für die Gesänge aller Tiere öffneten
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1 Das Mädchen mit dem Pony Jedes Jahr Ende März wurde in Cria, der Hauptstadt von Galla, ein großer Markt abgehalten. Wie tausend andere in den Östlichen Ländern ging auch Onua Chamtong dorthin, um Geschäfte zu machen. In ihrem Fall, um Ponys zu kaufen. In diesem Jahr hatte sie noch etwas anderes zu erledigen, doch gegen Ende ihres fünften Tages auf dem Markt schien es, als würde sie niemals den Gehilfen finden, den sie suchte. Die Aussicht, ihre Tiere ohne Hilfe nach Süden bringen zu müssen, war äußerst unerfreulich. »Entschuldigung, Händlerin Onua?« Ein Mädchen sprach sie an, schüchtern und offensichtlich vom Land. »Ich habe gehört, Ihr sucht Dienstboten. Ich kann…« Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort: »… gut umgehen mit Tieren, mit allen Arten von Tieren.« Sie wartete, während Onua sie betrachtete. Ein Mädchen in einem grünen Wollkleid, geschürzten Röcken, die Beinkleider und Stiefel sehen ließen. Braune, von einem Band gezähmte Locken fielen auf schmale Schultern herab. Ein weicher, voller Mund deutete darauf hin, daß sie verletzlich war. Ihr Kinn jedoch war eigensinnig. Ein mit langen Pfeilen gefüllter Köcher hing auf ihrem Rücken, in ihrer Hand lag ein Bogen ohne Sehne. »Ist das deiner?« fragte die Händlerin und deutete darauf. Blaugraue Augen blitzten auf. »Andernfalls hätte ich wohl nicht die Dreistigkeit, ihn zu tragen.« »Hm! Spanne ihn!« Das Mädchen zögerte. »Dachte ich es mir doch«, triumphierte Onua. »Wem gehört er wirklich?« Das Mädchen holte eine zusammengerollte Sehne aus seinem Gürtel. Mühelos befestigte sie die Sehne an einem Ende des Bogens und stemmte ihn gegen ihren Fuß. Sie hielt das freie Ende der Sehne, zog das andere Ende des Bogens herunter und verband die beiden Enden. Der Bogen krümmte sich, sie stellte sich daneben in Position, faßte die Sehne mit zwei Fingern und zog sie mit einer geschmeidigen, geübten Bewegung zurück bis zu ihrem Ohr. Nun 4
konnte Onua sehen, daß sie den Handgelenk- und Armschutz eines Bogenschützen trug. »Ich würde ja einen Pfeil abschießen«, sagte das Mädchen und verringerte langsam den Zug an der Sehne, »aber ich könnte jemanden verletzen.« Onua grinste. »Ich bin beeindruckt. Ich kann einen so großen Bogen nicht spannen.« Das Mädchen löste die Sehne vom Bogen, rollte sie zusammen und steckte sie weg. »Auch ich konnte es zuerst nicht. Ich halte diesen hier geschmeidig, sonst könnte ich ihn noch immer nicht spannen.« »Kannst du etwa auch mit der Armbrust umgehen?« Diese Frage war Onua entschlüpft, ehe sie sich erinnerte, daß sie die Kleine eigentlich gar nicht einstellen wollte. Ich muß sie nach Hause zu ihrer Mutter schicken, dachte sie. Sie ist bestimmt eine Ausreißerin. »Ja. Wir haben…« Die Augen des Mädchens flackerten. Sie senkte den Blick. »Wir hatten Banditen zu Hause. Ich habe oft bei den Schafen Wache gehalten, also habe ich Armbrust- und Bogenschießen gelernt. Und mit der Schleuder umzugehen.« Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. »Nicht, daß ich prahlen will.« Wir »hatten«, dachte Onua. Hat sie sich verbessert, weil sie mir weismachen will, daß sie schon vor längerer Zeit von zu Hause weggegangen ist? Oder hat sie überhaupt kein Zuhause? Hinter dem Mädchen lugte etwas hervor und betrachtete Onua mit großen, braunen Augen. Es war ein zottiges Bergpony, eine stahlgraue Stute. Sie war untersetzt, gut gestriegelt und trug mühelos zwei Packen. »Deine?« Das Mädchen nickte. »Wieviel würdest du für sie verlangen?« Onua machte eine Kopfbewegung nach hinten, zu einem Pferch voller Ponys. »Ich bin interessiert.« »Ich kann Wolke nicht verkaufen. Sie ist meine Familie, die ganze Familie, die ich habe.« Wieder sah Onua ein Aufblitzen von Angst, das aber sofort wieder verdrängt wurde. »Wie heißt du?« Die Frau steckte ihre Finger in einen Beutel, gefüllt mit einem als »Augenklar« bekannten Pulver. »Dhana«, lautete die leise Antwort. »Veralidhana Sarrasri.« Das Augenklar ließ Onuas Finger jucken, als sie ihre magische Gabe anrief. »Wie alt bist du, Dhana?« 5
»Fünfzehn.« Eine Aura aus rotem Feuer, nur für Onua sichtbar, umfloß das Gesicht des Mädchens. Die Lüge war gut, sie muß auf dem Weg hierher geübt haben, dachte die Händlerin spöttisch, aber es war trotzdem eine Lüge. Sie sah eher wie dreizehn aus. »Woher kommst du?« »Aus Winterthal, oben im Norden. Ungefähr zwei Wochen Fußmarsch von hier.« Jetzt war kein rotes Aufflammen zu sehen. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Onua seufzte. »Bist du ausgerissen? Von zu Hause, oder von einem schlechten Herrn?« »Nein.« Der weiche Mund zitterte. »Ich habe keine Familie mehr. Nur Wolke.« Auch diesmal kein rotes Aufflammen. Onua wischte sich das Pulver von der Hand. »Ich bin Onua Chamtong, von den K’miri Raadeh.« Dhana sah sie verdutzt an. »Die K… Die was?« »Die K’mir sind ein Volk aus dem Osten. Raadeh ist der Name eines Stammes der K’miri.« Dhana sah nur eine Spur weniger verwirrt aus. »Nicht so wichtig. Du sagst, du kannst gut mit Tieren umgehen? Komm mit.« Onua führte das Mädchen zum Pferch. Drinnen drängten sich siebenundzwanzig zottige Ponys in allen Farben und Größen. »Ich kaufe Pferde. Ich hatte einen Gehilfen, aber man bot ihm hier eine bessere Stelle an, und ich machte mir nicht die Mühe, ihn zurückzuhalten. Falls du bei mir in Dienst trittst – und damit habe ich nicht gesagt, daß ich dich einstelle -, wirst du mir helfen, diese Tiere hier nach Süden zu bringen. Es ist eine Reise von drei Wochen. Falls wir nicht im Schlamm versinken, falls wir nicht von Räubern überfallen werden und falls wir aufbrechen, ehe alle diese Leute hier sich zum nächsten Markt auf den Weg machen. Wir wären nur zu zweit, du und ich, und mein Hund Tahoi. Warum kletterst du nicht rein und schaust sie dir an? Ich möchte sehen, wie du mit ihnen zurechtkommst.« Dhana warf einen Blick auf ihre Stute. »Bleib stehen, rühr dich nicht vom Fleck, und ja nicht beißen!« befahl sie streng und kletterte über den Zaun in den Pferch. 6
Das arme Ding muß lange Zeit allein gewesen sein, daß es mit einer Stute spricht, als könnte diese antworten, dachte Onua. Sie setzte sich auf den Zaun, um ihr zuzuschauen. Die Ponys beobachteten Dhana, die sich mitten unter ihnen bewegte. Ohren wurden angelegt. Jene, die in ihrer Nähe standen, schienen zu überlegen, ob sie lieber beißen oder ausschlagen sollten. Als ein lohfarbener Hengst, der König der kleinen Herde, sich ihr trippelnd von hinten näherte, wirbelte das Mädchen herum, legte die Hände unter seine Schnauze, hob seinen Kopf hoch und sah ihm in die Augen. »Nein, mein Lieber«, sagte sie streng zu ihm. »Keine Tricks mit mir! Ich bin zwar ein Mensch, aber ich bin nicht blöd.« Der Hengst versuchte sich aufzubäumen. Sie zwang ihn herunter, dann blies sie ihm sanft in die Nüstern, um ihm ihren Geruch zu vermitteln. Er wollte ihr ausweichen, scharrte nervös mit den Hufen, doch schließlich senkte er den Kopf als Zeichen der Unterwerfung. Bei allen Pferdegöttern! dachte Onua. Sie zwingt ihm und der ganzen Herde ihren Willen auf! In den vielen Jahren, in denen sie mit Pferden umging, hatte sie so etwas noch nie gesehen. Gerade diese Rasse war für ihre feurige Art bekannt. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie diese Pferde für ihren Auftraggeber einkaufte. Sie kam mit ihnen ganz gut zurecht, weil sie ihre Kraft, ihren Verstand und kleine Bestechungen anwendete. Alle Pferde-Leute behandelten ihre Tiere auf diese Weise. Nur dieses Kind war anders. Dhana behandelte den Hengst, als sei sie selbst ein Pony, allerdings eines, das ihm überlegen war. Was sie über ihre Herkunft gesagt hat, das stimmt, dachte Onua, nur beim Alter hat sie gelogen. Wenn ich sie wegschicke, bekommt sie vielleicht Schwierigkeiten. Es treiben sich zu viele Gauner herum, die nach einem hübschen Ding Ausschau halten. Die Straße ist nicht allzu sicher, aber was ist schon sicher? Onua sah zu, wie sich das Mädchen zwischen den Pferden bewegte, einem jeden übers Fell strich. Dhana gab ihnen kleine Apfel- und Zuckerstückchen, die sie aus ihrer Tasche holte. »Reitest du?« rief Onua. 7
Dhana kam zum Zaun. »Ja. Meistens ohne Sattel, aber ich kann auch mit Sattel, und ich weiß mit Pferdegeschirren umzugehen.« »Wie steht’s mit Jagen, Fischen, Fährtenlesen?« Ein belustigtes Lächeln erhellte das Gesicht, das zu schmal und Augen, die zu wachsam waren. »All das mußte ich tun, um überhaupt hierher zu kommen. Den Leuten unterwegs konnte ich nicht trauen. Manche haben sehr nach Banditen ausgesehen.« Als Dhana über den Zaun kletterte, war wieder der Schatten in ihren Augen. Kummer, dachte Onua, aber auch Unmut. »Hast du schon genug?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich hol’ ein bestimmtes Öl und einen Schaber. Der Fuchs hat Ohrmilben. Es ist noch nicht allzu schlimm. Wenn ich sie jetzt erwische, wird er nicht die ganze Herde anstecken.« Sie ging zu ihrer grauen Stute und öffnete einen der Packsäcke. »Woher weißt du, daß du mir trauen kannst?« Dhana zuckte mit den Schultern. »Überhaupt nicht. Woher wißt Ihr, daß Ihr mir trauen könnt?« »Sollte das ein Witz sein?« Onuas Stimme klang streng, aber ihre Augen lachten. Ihre letzten beiden Gehilfen hatten keinerlei Sinn für Humor gehabt. Dhana lächelte sie ebenfalls an, dann kletterte sie in den Pferch, in der Hand hielt sie eine Tonschale und einen Schaber. Verblüfft sah Onua zu, wie der rotbraune Wallach dem Mädchen entgegentrottete. Wenn ihr jemand am gleichen Morgen gesagt hätte, sie würde zusehen, wie sich einer ihrer Schützlinge freiwillig einer Ohrensäuberung unterzog, sie hätte sich krankgelacht. Ich sollte mich nicht darauf einlassen, überlegte Onua. Sie ist ja noch ein Kind. Andererseits – mein Zauber wird uns des Nachts schützen, und sie kann mit Pfeil und Bogen umgehen. »Dhana!« rief sie. Das Mädchen war mit der Behandlung des Wallachs fertig. Sie kam herüber. »Ja?« »Ich will’s dir geradeheraus sagen, ich hab’ in letzter Zeit eine Menge wirrer Geschichten gehört. Es heißt, Ungeheuer in der Wildnis fallen Reisende an. Die Leute sagen, es sind irgendwelche Monster, 8
Ungeheuer wie in den Legenden. Ich selbst habe noch keine gesehen, aber das heißt nicht, daß das nicht noch geschieht. Bist du sicher, daß du bei mir in Dienst gehen willst?« Dhana zuckte die Schultern. »Ich hab’ das Gerede gehört. Aber ich brauche Arbeit. Wenn ich Ungeheuer sehe, dann sehe ich sie eben. Meine Familie wurde getötet und mein Heim niedergebrannt, und zwar von menschlichen Ungeheuern.« »Also gut, du bist eingestellt«, sagte die K’mir. »Du, ich und mein Hund führen die Herde nach Süden, wie ich gesagt habe. Ich besitze die Gabe und kann unser Lager nachts schützen. Du bekommst zwei Kupferstücke pro Tag und zwei Silberstücke als Prämie am Ende. Ich bezahle alle Ausgaben, und wir teilen uns die Arbeiten. Kein Alkohol, keine Drogen. Wenn du mich unterwegs verläßt, wirst du dir wünschen, du wärst schon als Kind gestorben.« Dhana kicherte. »Am Ende des Trecks, na ja, da sehen wir dann weiter. Unser Ziel ist die Hauptstadt von Tortall.« Das Gesicht des Mädchens leuchtete auf. »In Tortall ist doch eine Ritterin Kämpe des Königs, richtig? Und sie lassen Mädchen als Kriegerinnen ins Heer? Ist es dieses Tortall?« »Ah, diese Geschichten hast du also auch gehört«, murmelte die K’mir. »Nun, in das reguläre Heer lassen sie zwar keine Mädchen, nur zu den Reitern der Königin. Wieso? Hast du etwa die Absicht, Kriegerin zu werden?« Dhana schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber wenn sie dafür Mädchen nehmen, lassen sie vielleicht auch ein Mädchen Stallknecht werden oder im Lager arbeiten oder so was.« In ihren Augen stand schmerzvolle Hoffnung. »Nun ja, es ist zufällig so, daß sie wirklich Mädchen im Stall arbeiten lassen, jedenfalls mich! Ich bin für die Pferde der Reiter verantwortlich.« »Oh, so ein Glück!« flüsterte das Mädchen. »Ich werde tun, was immer Ihr von mir verlangt, wenn Ihr mich…« Onua legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. Sie war von ihrem Eifer angerührt, wenn sie es auch niemals zugegeben hätte. »Wir werden sehen. Wenn wir nicht miteinander auskommen, sorge 9
ich dafür, daß du eine andere Arbeit bekommst, ich lasse dich schon nicht im Stich. Abgemacht?« Dhana nickte heftig. »Ja, Herrin Onua.« Onua hielt ihr eine schwielige Hand hin. »Dann schlag ein. Und hör auf, mich Herrin zu nennen. Ich heiße Onua.« Dhana erwiderte den festen Händedruck der Frau. »Onua Chamtong, von den K’miri Raadeh«, sagte sie. »Ich hab’s nicht vergessen.« Onua lächelte. »Sehr gut. Und nun, wird sich deine Wolke unter die anderen mischen?« »Kein Grund, warum sie’s nicht tun sollte.« Dhana nahm Lasten und Sattel vom Rücken ihres Pferdes. »Verstau deine Sachen bei den meinen.« Onua deutete auf einen mit einer Plane bedeckten Haufen in der Ecke. »Dort sind sie sicher. Diese Ponys sind besser als Wachhunde.« Dhana führte Wolke in den Pferch und brachte ihre Gepäckstücke zu denen von Onua. Sie war gerade rechtzeitig genug fertig, um Wolke davon abzuhalten, den lohfarbenen Hengst zu beißen und eine braune Vollblutstute zu treten. »Benimm dich jetzt«, befahl sie ihrem Pony. »Ich mein’s ernst.« Wolke legte ein Ohr zurück und hob probeweise einen Hinterfuß. Dhana beugte sich hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Stute schnaubte und stand dann ganz friedlich da, als könnte sie kein Wässerlein trüben. »Was hast du ihr gesagt?« fragte Onua und ließ das Mädchen aus dem Pferch heraus. »Ich hab’ gesagt, ich würde sie an den Mann verkaufen, der weiter unten an der Straße Klöße macht.« Onua kicherte. »Damit hat meine Mutter mir auch immer gedroht. Schau, ich möchte, daß du meinen Hund Tahoi kennenlernst.« Sie legte die Finger an die Lippen und stieß zwei kurze, scharfe Pfiffe aus. Ein großes Etwas sauste durch den Pferch, setzte mit einem mühelosen Sprung über den Zaun und saß dann hechelnd zu Onuas Füßen.
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»Er ist ja selbst fast so groß wie ein Pony.« Dhana bot ihm ihre geöffnete Handfläche an. Der Hund knurrte mißbilligend und beschnüffelte mißtrauisch ihre Finger. »Tahoi bedeutet ›Ochse‹ auf K’mir. Vorsicht, er ist ein Hund, der nur einem Menschen ge…« Onua brach ab. Tahois buschiger Schwanz hatte zu wedeln begonnen. Der grimmige, zuverlässige Wächter ihrer Herde verwandelte sich in ein Schmusehündchen, das Dhanas Hand leckte und dann aufstand, um ihr Gesicht zu beschnuppern. »Er soll ein Wachhund sein«, fuhr Onua stirnrunzelnd fort, »kein Schoßhündchen! Kein Hund, der jeden Menschen für seinen Freund hält!« »Seid nicht böse auf ihn.« Dhana blickte um Entschuldigung bittend zu Onua auf. Ihre Finger kratzten Tahois lockiges, graues Fell an einer Stelle, die er selbst nicht erreichen konnte, während sein Schwanz den Staub vom Boden hoch wirbelte. »Tiere gehen mir einfach zu, das ist alles.« »Hm! Kannst du eine Weile auf sie verzichten, Majestät?« sagte die Frau zu Tahoi. »Ich würde gern was essen. Und deine neue Freundin kommt mit mir. Du hältst Wache.« Sie führte Dhana vom Pferch weg. In einem der Küchenzelte, die überall auf dem Marktplatz von Cria verstreut waren, bestellte Onua für sie beide ein reichhaltiges Mahl. Nachdem sie fertig waren, sahen sie sich noch auf dem Markt um. Bald taten Dhana die Augen vom vielen Schauen weh. Sie kam aus einem armen Bergdorf und konnte die Vielfalt der dargebotenen Dinge kaum fassen. »Wie steht’s mit Kleidung und ähnlichem?« fragte ihre neue Arbeitgeberin. Sie prüfte gerade ein Paar Stiefel am Stand eines Handwerkers, der Leder verarbeitete. »Oh, gut«, antwortete Dhana. Sie begegnete dem forschenden Blick der K’mir und versicherte noch einmal: »Wirklich. Es war zu naß…«, sie schluckte und versuchte weiterzureden, als handle es sich um die Farm eines anderen, »zu naß, als daß alles verbrannt wäre. Ich brauche wirklich nichts.« Als sie sah, daß die graugrünen Augen der Frau noch immer zweifelnd blickten, hob sie eine Hand. »Ich schwor’s bei der Göttin.« 11
»Na schön. Aber denk dran, ich bin dafür verantwortlich, daß du anständig gekleidet und ausgestattet bist. Ich will nicht, daß die Leute sagen, ich bin ein Geizkragen.« Dhana dachte an die üppige Mahlzeit, die sie gerade hinter sich hatte. »Die zeigt mir! Denen werd’ ich was erzählen!« Onua kicherte. »So ist’s recht.« Nach ihrer Rückkehr errichtete die K’mir vor dem Pferch eine Schlafstelle. »Wir gehen jetzt am besten schlafen«, riet sie. »Morgen brechen wir eine Stunde vor der Dämmerung auf.« Dhana breitete die Bettrollen aus, schlüpfte in ihre hinein und zog sich unter den schützenden Decken aus. Nur ihr Hemd behielt sie an. »Onua?« Die Frau war schon beinahe eingeschlafen. »Ja?« »Danke.« Sie frühstückten nur Obst, Käse und Brot. Onua sagte wenig. Nach dem Frühstück teilte sie einen Haufen Führseile und zeigte Dhana, wie sie die Pferde damit zusammenbinden sollte. Mit der anderen Hälfte band sie die restlichen Pferde selbst zusammen. Sie arbeiteten rasch, während der Markt zum Leben erwachte und sich Frühstücksdüfte ausbreiteten. Als die Ponys fertig waren, bepackte Onua das erste Pferd jeder Gruppe. »Willst du sie nicht am Führseil nehmen?« Onua deutete auf Wolke, die abseits von den anderen Pferden stand, nur ein Halfter trug und verdrießlich dreinschaute. Die Stute schnaubte und schüttelte den Kopf. »Es ist schon in Ordnung so«, versicherte Dhana der K’mir. »Auf diese Weise ist sie so gut wie ein Wachhund.« »Du mußt es ja wissen«, sagte Onua zweifelnd. »Los, führen wir sie raus.« Die K’mir ging voran. Als sie die offene Straße erreicht hatten, legte sie eine Vormittagsrast ein. Onua kramte in ihren Taschen herum und reichte Dhana dann einen Apfel. »Den ißt du«, befahl sie. »Übrigens, ich hätte dich warnen sollen. Ich bin morgens ein richtiger Muffel. Es ist nicht gut, wenn du zuviel mit mir redest. Ich beiß’ dir höchstens den Kopf ab. Du hast’s nicht persönlich genommen, oder?« Dhana hatte sich tatsächlich schon gefragt, ob die K’mir es bedauerte, sie angestellt zu haben. Erleichtert lächelte sie. »Schon in 12
Ordnung. Ma sagt immer…« Ihre Lippen wurden schmal. »Meine Mutter hat immer gesagt, bis zum Mittagessen sei’s mit mir fast nicht auszuhalten.« »Du vermißt sie«, stellte Onua sanft fest. Dhana drehte den Stiel von ihrem Apfel ab. »Sie, Großpapa, unsere Farm.« Ihr Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Sie haben mir mein Leben genommen, diese Banditen. Ich habe zwar Dinge gerettet, Kleider und Essen, aber meine ganze Familie habe ich verloren, außer Wolke. Sie war bei mir, und wir beide waren gerade unterwegs, als alles passierte.« Sie stand auf. »Entschuldigung. Ich wollte nicht…« »Darüber sprechen?« fragte die K’mir. Dhana nickte. »Das mußt du aber, einfach um den giftigen Stachel aus der Erinnerung zu entfernen.« Das Mädchen zuckte die Schultern. »Nun ja, aber es mußte ja nicht unbedingt heute sein.« Sie blinzelte in die Sonne. »Bis Mittag haben wir das nächste größere Dorf erreicht. Sehen wir, daß wir darüber hinauskommen, bevor wir wieder eine Pause machen.« Dhana arbeitete während des ganzen Weges mit jedem einzelnen Pferd; sie redete mit ihnen, mahnte, schmeichelte. Immer wieder erklärte sie den Tieren, weshalb sie Onua folgen sollten, ohne Theater zu machen. Onua erklärte Ponys und Pferden seit achtundzwanzig Jahren Dinge ohne den Erfolg, den diese Dreizehnjährige hatte. Wie macht sie das bloß? fragte sich die K’mir fasziniert. Schließlich sind es Ponys, bei allen Göttern. Es sind wundervolle, kluge Tiere, aber sie denken nicht so wie Menschen denken! Mittags machten sie, wie geplant, an einer Quelle hinter dem nächsten Dorf Rast, sie pflockten die Tiere an und setzten sich, um ein Mahl aus Brot und Käse zu teilen. »Sag mir, wenn du müde wirst«, befahl die K’mir. »Wenn ich erst einmal anfange, kann ich stundenlang gehen.« »Mir geht’s bestens«, sagte Dhana. Das war die Wahrheit. Es war gut, sich in der frischen Luft zu bewegen, die Stadt zu verlassen. »Es ist leichter, als der Weg nach Cria war. Die Straßen waren schlammig, wißt Ihr, von den Frühjahrsüberschwemmungen.« »Warst du vorher schon jemals in Cria?« 13
Dhana schüttelte den Kopf. »Ich hab’ bis gestern noch nie einen größeren Ort als Winterthal gesehen.« Sie seufzte. »Wie können die Leute bloß so leben, so zusammengepfercht?« Onua zuckte die Schultern. »Stadtleute. Sie sind eben anders, das ist alles. Sie rümpfen über jeden die Nase, der nicht so eingepfercht aufgewachsen ist.« Sie stand auf und streckte sich. »Wenn nichts schiefgeht, werden wir bis zum Einbruch der Dunkelheit Zauberthal erreichen. Dort werden wir lagern. Wir kommen wunderbar voran, das ist dein Verdienst.« Dhana sah sie verblüfft an. »Mein Verdienst?« »So rasch bin ich seit sechs Jahren nicht mehr von Cria weggekommen. Du mußt die Gabe haben, allerdings habe ich noch nie davon gehört, daß sie jemandem zu solchem Zweck verliehen wurde.« Dhana lachte. »Oh, bitte, nein! Ich kann gut mit Tieren umgehen, aber ich habe doch nicht gleich die Gabe! Mutter…« Sie hielt inne, zwang sich dann aber weiterzureden. »Sie hat versucht, mir etwas beizubringen, aber ich habe es nie gelernt. Ich kann nicht einmal ein Feuer anzünden, und mit der Gabe ausgestattete Babys können das schon. Ma war so enttäuscht. Sie wollte immer, daß ich ihr auf ihrem Weg nachfolge.« Onua fuhr dem Mädchen übers Haar. »Deine Mutter wird stolz auf dich sein, egal, welchen Pfad du einschlägst, Dhana. Ich kenne dich nicht gut, aber soviel kann jeder sehen.« Dhana lächelte sie an. »Danke.« Schweigend saßen sie noch eine Weile, dann machten sie sich wieder auf den Weg. Rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit führte Onua sie abseits der Straße zu einer von Bäumen umstandenen Senke. Offensichtlich machten andere Reisende hier ebenfalls Rast. Eine Feuerstelle war mit Steinen abgegrenzt, und ein überdachtes Holzgestell hielt Feuerholz trocken. »Losen wir aus, wer die Ponys versorgen muß«, schlug Onua vor. »Der Gewinner buddelt den Latrinengraben und fängt Fische.« Dhana überlegte. »Ich würd’ mich lieber um die Ponys kümmern.« Onua grinste. »Das paßt ja gut – mir ist jetzt so richtig nach Fischen zumute.« 14
Lächelnd machte sich Dhana an die Arbeit. Solange sie unterwegs waren, hatte es nicht viel Sinn, die Ponys einer gründlichen Pflege zu unterziehen, aber sie befreite sie von den schlimmsten Kletten und Gräsern, die im Fell hängengeblieben waren. Dann untersuchte sie die Hufe eines jeden Pferdes. Das Mädchen war fertig, als Onua mit zwei fetten Forellen zurückkehrte. »Glaubst du, das ist genug?« fragte die K’mir und hielt die Fische in die Höhe. »Mehr als genug. Ich bin so müde, ich bringe kaum noch etwas hinunter.« Dhana sah, daß Onuas Haar naß und ihr Gesicht sauber war. »Ist es ungefährlich, sich zu waschen?« »Wenn du schnell machst.« »Es ist zu kalt, um zu trödeln.« Sie zögerte. »Braucht Ihr noch meine Hilfe?« Onua winkte ab. »Tahoi wird an deiner Stelle Wache halten.« Das Wasser war wirklich eiskalt. Dhana schrubbte sich rasch ab und sprang dann heraus. Das Abendessen war bereits fertig. Es bestand aus Fisch und einem Topf voll gewürzter, weißer Körner, die Onua »Reis« nannte. Sie aßen ohne zu reden, aber es war ein freundschaftliches Schweigen. Nach dem Essen spülte Dhana ab. Das Feuer war eingedämmt. Als sie fertig war, lagen die Schlafsäcke bereits ausgebreitet auf dem Boden. Sie kroch mit einem Seufzer hinein. Es war warm, und das dicke Polster ihres Schlafsacks linderte die Schmerzen des Tages. Sie sah zu, wie Onua verschiedene Beutel hervorholte und an ihrem Gürtel befestigte. »Ich hab’ dir schon gesagt, daß ich die Gabe besitze, richtig? Nun, ich werde jetzt die Wächter aufstellen. Letzter Aufruf für die Latrine.« Dhana gähnte. »Schon erledigt, danke.« Sie beobachtete, wie Onua einen Kreis um das Lager zog, zuerst mit Salz, dann mit Wasser. Leise singend Umschrift die Frau den Kreis ein drittes Mal und rief die magischen Kräfte zum Schutz all dessen an, was sich innerhalb des Kreises befand. Rotes Feuer schien dabei von ihren Händen zu sprühen. »Ma hat das auch gemacht«, bemerkte Dhana schläfrig, als Onua fertig war. »Allerdings war sie nicht besonders gut.« Es fiel Dhana 15
leichter, über ihre Mutter zu sprechen, wenn sie so müde war. »Vielleicht war’ sie noch am Leben, wenn sie es besser gekonnt hätte.« »Oder auch nicht«, sagte Onua und glitt in ihren Schlafsack. »Es gibt immer jemand mit stärkerer Magie. Eine Menge Räuber haben ihre eigene Zauberin oder ihren Magier. Deshalb sind bei jedem Reitertrupp mindestens zwei Mitglieder, welche die Gabe besitzen.« »Erzählt mir doch bitte noch von den Reitern. Ich weiß nur, daß sie Mädchen aufnehmen. Sind sie nicht wie die gewöhnlichen Krieger?« »Ganz und gar nicht. Deshalb werden sie auch ›die Ungewöhnlichen‹ genannt. Tortall hat schlimme Zeiten mit den Banditen hinter sich. Das Heer ist zu groß und dadurch zu langsam. Banditen jedoch schlagen zu und verschwinden sofort wieder. Um sie zu bekämpfen, muß man sich in der gleichen Weise bewegen können. Die Königin, Thayet, hat vor sieben Jahren ›die Reiter‹ gegründet. Jede Gruppe besteht aus sechs oder acht Reitern, männlichen und weiblichen. Sie reiten Ponys. Zur Zeit gibt es sechs Gruppen, überall in Tortall verteilt. Sie leben auf dem Land und beschützen die kleinen Dörfer vor den Räuberbanden.« »Wer befehligt sie?« »Königin Thayet ist Oberbefehlshaberin. Ihre Leibwächterin Buri kümmert sich um die alltäglichen Dinge, sie trägt den Titel Befehlshaberin. Ein Schwarzer, Sarge, kommt nach ihnen. Vom Kämpen des Königs, Alanna, hast du ja schon gehört. Sie hilft aus.« Onua warf einen Blick auf das Mädchen und sah, daß es fest eingeschlafen war. Lächelnd zog sie die Decken hoch und schloß die Augen. Bald danach kroch der Dachs zu Dhana hinein. Obwohl er groß war, weckte er sie nicht. Sie war an derartige nächtliche Besucher gewöhnt. Sie bemerkte ihn erst, als sie später aufwachte, und setzte sich vorsichtig auf. Was hatte sie nur geweckt? »Wenn ich’s dir sage, ich hab’ sie gesehen. Zwei Gruppen mit Ponys. Die sind Gold wert unten in Tortall.« Die Stimme, die sie hörte, war rauh und verriet den Mann vom Land. Dhana griff nach dem Bogen neben sich und sah, daß Onua und Tahoi ebenfalls wach 16
waren. Die Nackenhaare des Hundes waren gesträubt, die Zähne gefletscht, aber er gab keinen Ton von sich. Die K’mir sah zu Dhana und legte einen Finger an die Lippen. Dhana nickte und senkte den Bogen. Im Innern ihres Schlafsacks bewegte sich ihr Gast nervös. Er beruhigte sich erst, als sie ihre Hand auf seinen Kopf legte. »Wenn du sie gesehen hast, wo sind sie dann hin?« Blätter raschelten, als die Männer die Senke um das Lager herum durchstöberten. »Bin ich ‘n Zauberer, daß ich so was weiß? Es ist, wie wenn sie vom Erdboden verschwunden wären.« »Halt’s Maul. Wahrscheinlich haben sie ‘ne Farm gefunden, oder sie sind weitergezogen. Los, zurück zum Rastplatz.« Die neue Stimme drückte Autorität aus. Die anderen brummelten, gehorchten aber. Sie waren bereits einige Minuten verschwunden, ehe sich Dhana entspannte und ihre Waffe weglegte. Tahoi leckte Onuas Gesicht und wedelte mit dem Schwanz. »Schon gut«, flüsterte Onua. »Niemand kann uns hören, wenn wir uns still verhalten.« »Das nenn’ ich einen Schutz!« flüsterte Dhana zurück. »Bei den Kreisen meiner Mutter war es immer so, daß man zwar nicht rein konnte, aber jeder merkte, daß einer da war.« Die K’mir grinste. »Jetzt weißt du, wieso ich mit nur einem Gehilfen und Tahoi über die Straßen ziehen kann.« Sie kuschelte sich in ihren Schlafsack. »‘Nacht!« Der Dachs grunzte, als Dhana sich zurechtlegte, und wanderte in ihre Träume. »Es wurde aber auch Zeit, daß ich dich gefunden habe«, sagte er. »Weißt du, wie lange ich schon nach dir suche? Ich mußte sogar ins Reich der Menschen vordringen, um deinen Geruch aufzunehmen!« »Ich will ja nicht unhöflich sein«, entschuldigte sie sich, »aber warum hast du mich gesucht? Ich glaube nicht, daß wir einander schon mal begegnet sind, oder?« »Nicht direkt«, gestand er verlegen schnaubend. »Verstehst du, ich hab’ deinem Vater versprochen, dich im Auge zu behalten. Also hab’ ich bei dir vorbeigeschaut, da warst du noch ‘n kleines Kind, rosig 17
und laut, und als ich wieder nach dir gesehen hab’, warst du weg. Ich hab’ vergessen, daß die Zeit im Reich der Menschen anders vergeht.« Ihr waches Ich hätte sich bei seiner Erklärung, daß er ihren Vater kannte, bestimmt schrecklich aufgeregt. So aber fragte ihr Traum-Ich nur, als sei es nicht besonders wichtig: »Hast du denn meinen Vater getroffen?« »]a, natürlich. Nun, hör zu, ich komm’ nicht öfter ins Reich der Menschen, als ich unbedingt muß. Wenn du weiterwandern willst, müssen wir irgendwie miteinander in Verbindung bleiben.« Er schaute eine Pfote an und seufzte. »Ich weiß, daß es kaum weh tut und daß sie nachwächst. Aber ich tu’s höchst ungern. Na gut.« Er begann an der Wurzel einer seiner Pfoten herumzunagen. »Nein, nein, bitte!« protestierte sie. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen…« Die Pfote fiel ab. Er ließ sie ihr in den Schoß fallen. »Da! Behalte sie, was auch geschieht. Auf diese Weise werde ich nicht wieder die Zeit verpassen und kann dich finden. Verstanden?« Sie nickte. Silberner Nebel sammelte sich um seine Pfote und verschwand. Eine neue Pfote war nachgewachsen. »Und jetzt schlaf weiter!« Gehorsam verließ sie den Traum und verbrachte die Nacht ohne weitere Traumbilder. Ein kalter Luftzug an ihren Füßen weckte Dhana am Morgen. Ihr Gast hatte die Bettrolle bei dem Bemühen, sich daraus zu befreien, vollkommen auseinandergestrampelt. Gähnend und lächelnd setzte sie sich auf. Wenn sie sich vorstellte, daß sie von einem Dach geträumt hatte, der ihren Vater kannte… Ihr Hand umschloß etwas. Eine große Tierpfote! Oder zumindest eine Nachbildung davon. Aus schimmerndem Silber. »Göttin«, flüsterte sie. »Dhana?« Onua war bereits angezogen und machte das Frühstück. »Komm, wir müssen weiter.« Jetzt hab’ ich keine Zeit, darüber nachzudenken, sagte sich Dhana und stand auf. Denn wenn ich darüber nachdenke, weiß ich wirklich nicht, was ich davon halten soll. 18
Später am Tag flocht sie eine Schnur, die sie fest um die Pfote band und die sie sich dann um den Hals hängte. Die Tatsache allein, daß sie nicht ganz sicher war, woher diese Pfote kam, ja war noch kein Grund, sie nicht dicht bei sich zu tragen. Für alle Fälle.
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2 Der Falke Eine Woche später überquerten sie auf einem Fährschiff den Fluß Drell nach Tortall. Beim Anblick der sich entfernenden Ufer von Galla erforschte Dhana ihre Seele. Ich wollte Onua die Wahrheit sagen, dachte sie. Bis dahin hatte sie ihrer neuen Freundin die weniger schmerzlichen Einzelheiten ihres Lebens erzählt und war zu der Einsicht gekommen, daß Onua recht hatte. Man fühlte sich besser, wenn man darüber redete. Ich sollte ihr auch noch den Rest erzählen, überlegte sie. Aber wenn sie sich dann auch gegen mich stellt, wie die anderen? Vielleicht ist es doch besser, den Mund zu halten. Den Wahnsinn, die Schande, all das ließ sie dort zurück. Vielleicht sollte es da auch bleiben. Sie ging nach vorn und sah nach Tortall hinüber, das allmählich näher kam. Ich könnte von vorne anfangen, dachte sie. Schlimmer als zu Hause kann es auch nicht sein, wo sie mich »Bastard« geschimpft und verachtet und verspottet haben. Hier weiß niemand, daß ich keinen Vater habe, und sie wissen auch nichts von dem anderen, von dem Schlimmen. Sie brauchten es überhaupt nicht zu wissen. »Du machst dir zu viele Gedanken.« Onua fuhr ihr durchs Haar. »Es wird schon gut werden. Du wirst sehen.« Wolke stupste sie an, Tahoi kratzte mit der Pfote an ihrem Bein. Die Zuneigung der Tiere und Onuas Besorgnis spendeten ihr Trost. Ich schaffe es, sagte sie sich, als die Fähre gegen den Landungssteg an der Küste von Tortall rumpelte. Am besten, ich sag’ nichts. Das Land diesseits des Flusses bestand aus Hügeln und weiten Tälern. Es gab Felder und Weiden, am meisten jedoch große Wälder. Die Städte lagen abseits der Straße, und der Verkehr war jetzt zu Beginn des Frühjahrs noch recht spärlich. Onua und Dhana zogen mit den Tieren weiter. Der dritte Tag nachdem sie übergesetzt hatten, brachte Regen. Dadurch verlangsamte sich ihr Marsch, ehe der Himmel am Ende des Tages wieder aufklarte. Beide Frauen waren bis spät in die Nacht 20
hinein damit beschäftigt, den Schlamm aus dem zottigen Fell der Tiere, aus ihren eigenen Kleidern und von der Haut zu entfernen. Zum erstenmal kroch auf diesem Treck des Nachts kein Tier zu Dhana hinein. Sie schlief miserabel, warf sich herum und war doch nie richtig wach oder fest eingeschlafen. Ihre Träume waren flüchtig und beunruhigend. Sie konnte sich nur an einen erinnern. Der Dachs war in seinem Bau und räumte auf. »Da bist du ja. Ich bin froh, daß das mit der Pfote so gut funktioniert.« »Entschuldigung…«, begann sie. »Keine Fragen. Ein Junges hat zuzuhören, nicht zu fragen. Paß auf.« Er sah sie eindringlich an. »Wenn du genau und lange genug zuschaust, kannst du uns finden. Wenn du genau und lange genug hinhörst, kannst du jeden von uns hören und jeden von uns rufen.« Er rollte sich auf den Rücken und fügte hinzu: »Der Wahnsinn war dazu da, um dich etwas zu lehren. Du solltest dir die Lektion zu Herzen nehmen.« Dhana erwachte kurz vor Tagesanbruch. Der Himmel war grau und dunstig, und die Luft schlecht. »Onua.« Als sich die Frau nur etwas bewegte und brummte, ging Dhana zu ihr und schüttelte sie. »Ich glaube, wir bekommen Ärger. Als ich das letztemal so ein Gefühl hatte, kann ein wütender Bär aus den Wäldern und tötete den Schmied.« »Ein wütender Bär?!« Die K’mir schlüpfte schnell in ihre Kleider, und Dhana zog sich ebenfalls rasch an. »Göttin, wieviele wütende Bären begegnen einem schon im Leben!« »Einer ist mehr als genug.« Dhana rollte ihren Schlafsack zusammen und befestigte ihn an ihrer Satteltasche. Die Tiere waren unruhig und schlecht gelaunt. Tahoi lief mit gesträubtem Nackenfell im Lager auf und ab. Er blieb oft stehen, um die Straße entlangzuschauen, setzte seinen Rundgang jedoch danach wieder fort. »Vielleicht kommt wieder ein Sturm?« meinte Onua während des Frühstücks. »Das glaube ich nicht.« Dhana gab ihren kaum angerührten Haferbrei Wolke. »Mein Kopf tut mir weh, nein, weh ist nicht das 21
richtige Wort, es ist mehr ein Jucken.« Sie schnupperte in die Luft. »Auch der Wind ist nicht in Ordnung.« Onua sah sie nachdenklich an, dann löschte sie das Feuer. »Gehen wir.« Sie band die Ponys an die Führseile, während Dhana die Bündel festzurrte. »Auf der anderen Seite des nächsten Tales, wo der Sumpf beginnt, ist ein Lehensgut. Wenn nötig, werden wir dort um Unterschlupf bitten. Allerdings würde ich’s lieber nicht tun.« Sie befestigte die Sehne an ihrem Bogen. »Lord Sinthya mag die Königin nicht. Er haßt die Reiter. Trotzdem können wir in seinen Scheunen einen Sturm überstehen, besonders dann, wenn ihm keiner sagt, daß wir da sind. Wenn wir uns im Sumpf verirren, kommen wir wirklich in Schwierigkeiten. Ich kenne keinen Sumpf-Zauberspruch.« Dhana wärmte ihren Langbogen und befestigte die Sehne. Das Gewicht des Köchers auf ihrem Rücken verlieh ihr ein gutes Gefühl, als sie sich auf den Weg machten. Hinter der nächsten Hügelkette sah sie ein weites, flaches Tal voller Schilfrohr und Wasserstellen und keinerlei Möglichkeit, sich zu verstecken. Als sie schließlich die Mitte dieser grünen Fläche erreicht hatten, sträubte sich ihr mittlerweile das Haar im Nacken. Wo sind die Frösche und Vögel, fragte sie sich, als sie eine kurze Verschnaufpause einlegten. Ich sehe nicht einmal Libellen. Irgend etwas ließ sie zu den Wäldern hinüberblicken, die den Sumpf am anderen Ende begrenzten. »Onua!« Sie deutete mit der Hand auf einen Vogel, der aus dem Schutz der Bäume herausgeschossen kam. Er war schwarz und hatte die Umrisse eines Falken. Er flog, als sei er betrunken. Metallische, schrille Schreie zerrissen die Luft. Acht riesige Wesen – sie sahen zuerst wie Vögel aus – jagten den Falken. Ungeheure Flügel peitschten die Luft, deren Druckwellen bis zu den beiden Frauen und den Pferden reichten und ihre Nasen mit einem derartig faulen Gestank erfüllten, daß es Dhana würgte. Die Ponys wieherten laut vor Angst. Dhana versuchte, sie zu beruhigen, obwohl sie selbst am liebsten auch geschrien hätte. Das waren Monster! Es gab kein Tier, das Kopf und Brust eines Menschen mit Beinen und Flügeln eines Vogels vereinte. Das Sonnenlicht prallte von Klauen und Federn ab, die wie 22
Stahl glänzten. Sie zählte fünf männliche und drei weibliche Wesen. Ein Weibchen trug eine Krone aus schwarzem Glas. Onua stieß auf zwei Fingern einen Pfiff aus, der über das ganze Tal hinweg gehört werden konnte. Als die Monster sich umdrehten, um festzustellen, woher das Geräusch kam, ließ sich ihre Beute in die Deckung des Schilfs fallen und verschwand. Die Monster fegten in der Luft hin und her und versuchten, den schwarzen Falken zu finden, jedoch ohne Erfolg. »Schau sie dir an«, flüsterte Onua. »Sie suchen diesen Teil des Sumpfes systematisch ab, Quadrat für Quadrat. Es sind intelligente Wesen!« »Und sie können nicht gut auf ebenem Boden landen«, stellte Dhana fest. »Diese Klauen sind nicht dazu geeignet, flach aufgesetzt zu werden. Die Monster müssen fliegen, sie können nicht laufen!« Die Geschöpfe gaben es auf, nach dem Falken zu suchen. Jetzt wandten sie sich den Frauen zu. Mit schußbereitem Bogen sah Dhana ihnen entgegen, genau wie Onua. Die Angreifer waren mit Schmutz beschmiert. Wenn sie sprachen oder grinsten, sah man rasierklingenscharfe Zähne, an denen altes Blut klebte. Über der Straße wurden sie langsamer. Ihr Gestank war zum Ersticken. »Wir hatten diesen mutterlosen Spion beinahe«, schnarrte einer von ihnen. »Aber ihr da unten mußtet euch ja einmischen«, kreischte ein anderer. »Untersteht euch, uns noch mal in die Quere zu kommen.« Er schoß im Sturzflug herunter. »Dhana, schieß!« Onua schoß. Ihr Pfeil traf das erste Monster am Flügel, Metall klirrte auf Metall, der Pfeil prallte ab. Dhana traf ein männliches Wesen mitten in die Kehle. Es stürzte mit einem Schrei zu Boden, der ihr den Schweiß auf die Stirn trieb. Onua und Dhana schossen ohne Unterbrechung ihre Pfeile ab, sie zielten nach den fleischigen Teilen von Kopf und Brust. Ein Weibchen hätte Dhana beinahe bei den Haaren gepackt, ehe Onua es tötete. Wolke erwischte eines der Monster am Bein, und Tahoi packte dessen anderen Fuß. Gemeinsam rissen das Pony und der Hund das Monster auseinander. Von überall her aus ihren Verstecken erhoben sich Vögel, um gegen 23
die Monster zu kämpfen, sie zu blenden, zu zerpicken. Sie verdunkelten durch ihre große Anzahl die Luft, so daß der Feind nichts mehr sehen konnte. Viele bezahlten dafür mit ihrem Leben. Schließlich war die Glas-Gekrönte als einziges Monster noch am Leben. Sie schwebte knapp außerhalb Onuas Schußweite über ihr, einen der Pfeile der K’mir in der Schulter. »Rosa Schweine!« knurrte sie. »Wie könnt ihr es wagen, mir zu trotzen, ihr Maden! Dreck!« »Hört, hört, wer redet denn da!« rief Dhana und legte einen Pfeil an die Sehne ihres Bogens. Sie senkte den Bogen, um das Monster glauben zu machen, sie sei erschöpft. »Deine Mutter war ‘n dreckiger Blutegel mit schlechten Zähnen«, höhnte sie. Onua mußte unwillkürlich lachen. »Dein Vater war ‘ne miese Pfauenhenne. Ich kenne Hühner, die haben mehr Grips als du!« Die Königin kreischte auf und ließ sich mit gespreizten Klauen fallen. Dhana hob den Bogen und schoß. Der Pfeil bohrte sich in das Auge der Königin, während Onua Beifall klatschte. Dhana hatte bereits einen weiteren Pfeil aufgelegt, aber die Königin drehte ab. Blut tropfte aus ihrem zerstörten Auge. Falls sie Schmerzen empfand, achtete sie nicht darauf. Sie hielt sich außerhalb der Schußweite des Bogens in der Luft. Ihr gesundes Auge blitzte wütend. »Ohhh, dich merke ich mir, du Göre!« Der Haß in ihrer Stimme ließ Dhana einen Schritt zurücktreten. »Dein Name ist mir ins Herz graviert.« Sie sah Onua an. »Ich komme wieder und hol’ euch zwei Boden-Kriecher. Ihr gehört jetzt Zhaneh Bitterklaue.« Sie schraubte sich höher in die Luft und verschwand. »Ich glaub’s einfach nicht.« Onua redete mit sich selbst. »Ich hab’ Gerüchte gehört, daß es Monster geben soll, aber solche? Woher kamen die?« Sie untersuchte den Kadaver eines der Dinger. Der Gestank war so schlimm, daß sie sich die Nase zuhalten mußte, um näher herangehen zu können. Dhana folgte hinkend. Sie war unverletzt, aber sie fühlte sich geschlagen und wie in tausend Stücke zerrissen. Ein Rotkehlchen lag auf der Straße. Sie hob es auf und entdeckte, daß ein Flügel nur noch durch einen Hautlappen festgehalten wurde. Tränen rollten ihr über 24
die Wangen und fielen auf den sterbenden Vogel. Überall um sie herum lagen Vögel im Rohrdickicht, blutend, tot. »Es tut mir leid, ihr Kleinen«, flüsterte sie. »Ihr hättet in euren Verstecken bleiben sollen.« In ihren Schläfen pochte es. Streifen aus schwarzem und gelbem Feuer schossen durch ihren Kopf. Ihr dröhnten die Ohren, sie wurde ohnmächtig. Onua sah sie fallen. Der Vogel, der in Dhanas Hand gewesen war, hüpfte in die Luft und schwirrte vorüber, haarscharf an der Nase der K’mir vorbei. Überall im Sumpf hörte sie anschwellendes Vogelgezwitscher. Vögel flogen hoch, schwerfällig zuerst, als seien sie steif. Eine Eule, die auf der Straße lag, bewegte sich und flog dann weg. Onua war sicher, daß der Kopf des Vogels vorher halb abgetrennt gewesen war. Kopfschüttelnd ging sie zu dem am Boden liegenden Mädchen. Soweit sie es beurteilen konnte, war Dhana unverletzt. Aufstöhnend lud sie sich das Mädchen auf die Schulter, überrascht davon, wie leicht es war. »Du mußt mehr essen«, sagte sie zu ihrer Last, während sie sie zu den Pferden trug. Wolke trottete herbei und berührte Dhana mit der Schnauze. Jede Faser des Pferdekörpers drückte Besorgnis aus. »Ich nehme nicht an, daß du einen Platz weißt, wo wir alle abseits der Straße lagern können«, fragte Onua, ohne auch nur im entferntesten daran zu denken, daß diese Tiere sie ebenso verstehen würden, wie sie das Mädchen verstanden. Wolke trottete auf ein nahe gelegenes Schilfdickicht zu. Direkt dahinter sah Onua eine Lichtung mit festem Boden. Das war Stoff zum Nachdenken. Onua ließ sich von Wolke führen. Die übrigen Pferde folgten ihr. Tahoi bildete die Nachhut. Rauhe Haare kitzelten Dhanas Gesicht. Als sie die Augen aufschlug, sah sie nichts außer Wolkes Nase. »Laß mich hoch.« Ihre Stimme war nur ein Krächzen. »Mir geht’s gut.« Das stimmte eigentlich nicht, ihr ganzer Körper tat weh, aber zumindest der Schmerz, der ihr das Bewußtsein genommen hatte, war vorbei.
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»Trink das.« Onua brachte ihr einen Becher Wasser. Während des Trinkens schmeckte Dhana Kräuter. Es prickelte unter ihrer Haut, danach fühlte sie sich viel besser. »Ich bin nicht ohnmächtig geworden, weil ich noch zu klein bin oder so was…«, begann sie, denn sie fürchtete, die K’mir könnte von ihrer Schwäche angewidert sein. Sie rappelte sich hoch und trank das Wasser aus. »Erzähle keinen Unsinn!« Onua gab ihr eine silbrige Feder. »Rühr die Ränder nicht an«, warnte sie. »Sie sind rasiermesserscharf.« Es war Metall, graviert und geformt wie eine Feder. Es schien Stahl zu sein, papierdünn und so fest, daß man ihn unmöglich biegen konnte. Mehr noch, er fühlte sich unangenehm und falsch an, genau wie der Anblick der Wesen unangenehm und falsch war. Wenn Dhana auch sonst nicht viel wußte, über die Natur wußte sie Bescheid. Derartige Geschöpfe gehörten nicht zu dieser Welt. Ihr Anblick machte sie schlaff und krank. »Was waren das für Wesen? Wißt Ihr es?« »Ich habe Gerüchte gehört, aber… aber eigentlich dürfen sie gar nicht existieren, nicht hier. Sie werden Sturmflügel genannt.« Dhana hörte Scheu und Angst in Onuas Stimme. »Was sind Sturmflügel?« »Die Esser.« Onua wickelte die Feder ein und steckte sie weg. »Aber es sind Legenden! Niemand hat sie seit drei, vier Jahrhunderten gesehen! Sie lebten auf Schlachtfeldern, entweihten die Toten, aßen sie, verstreuten die Stücke überall.« Sie kauerte sich neben Dhana nieder. »Hör zu, ich muß dich und die Ponys für eine Weile verlassen, ich hoffe, nicht für allzulange. Ich kann dir nicht sagen, weshalb.« »Dann folge ich Euch.« Dhana war jetzt mit der K’mir so vertraut, daß sie sich das erlauben konnte. »Ihr wißt doch, das ist Sumpfland. Treibsand, Schlammlöcher, Schlangen… Ihr habt mir gesagt, Ihr habt keine Ahnung von Sümpfen.« »Das kann ich auch nicht ändern. Was ich tun muß, ist wichtig. Du bleibst hier…« »Es ist der Falke, nicht wahr?« fragte Dhana. »Der schwarze Falke. Ihr habt versucht, ihn zu rufen, aber er schaffte es nicht, deshalb hat er 26
sich im Schilf versteckt. Und jetzt wollt Ihr ihn suchen. Weshalb ist dieser Vogel so wichtig?« Onuas Augen glitzerten vor Unwillen. »Das geht dich nichts an. Er ist es, das ist alles. Er ist wichtiger, als du dir vorstellen kannst. Wenn mir irgend etwas zustößt, bring die Ponys zu den Reitern. Erzähl Buri oder Sarge, was passiert ist.« Dhana sah eine Möglichkeit, sich dieser Frau endlich dafür erkenntlich zu zeigen, daß sie sie eingestellt hatte. »Ich werde gehen.« »Kommt überhaupt nicht in Frage.« Dhana holte ihren Bogen und den Köcher aus dem Gepäck. »Bitte! Ich kenne mich mit Schlammlöchern aus. Und ich kann verlorene Tiere wiederfinden.« Wenn sie noch länger wartete, würde der K’mir bestimmt ein guter Grund einfallen, um sie zurückzuhalten. Sie sah einen Wildwechsel, der ins Schilf führte, und schlug diesen Weg ein. »Ich werde nach Tahoi rufen, wenn ich steckenbleibe«, rief sie. »Dhana!« Es kam keine Antwort. »Als ich in diesem Alter war, habe ich auf die Erwachsenen gehört«, murmelte Onua, die bequemerweise vergessen hatte, daß sie nichts dergleichen getan hatte. Sie hielt Wolke am Zügel fest, als sie ihrer Herrin folgen wollte. »Nein, du bleibst hier, und versuch ja nicht, mit mir herumzustreifen.« Zum erstenmal seit sie den Markt verlassen hatten, band Onua die Stute an ein Führseil. Dann setzte sie sich und wartete. Der Pfad führte Dhana zu einem Teich. Sie ging am Ufer entlang und achtete immer darauf, ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: die Stelle, an der die Monster aus dem Wald gekommen waren. Sie war hübsch, diese grüne Wildnis. Der Duft wachsender Pflanzen erfüllte Dhanas Nase. Die Geräusche von Tieren, die aus ihrem Winterschlaf erwachten, erfüllten ihre Ohren. Was hatte der Dachs in ihrem Traum gesagt? Wenn du genau und lang genug hinhörst, kannst du jeden von uns hören, jeden von uns rufen. Sicherlich würde bloßes Zuhören nicht den Wahnsinn bringen. Sie versuchte schließlich nicht, ein Tier zu sein. Sie wollte ihnen nur zuhören.
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Außerdem, wenn der Falke lebte und verletzt war, schlug er vielleicht mit den Flügeln und schrie vor Schmerzen. Wenn sie genau hinhörte, würde sie ihn hören. Aber sie mußte sehr, sehr still sein. Sie machte es sich bequem und verlangsamte ihre Atmung. Eine Brandwunde an einem Finger begann zu pochen. Sie verdrängte den Gedanken daran. Vor ihr platschte es. Zwei Frösche bei der Paarung. Dafür interessierte sie sich nun wirklich nicht! Das scharrende Geräusch neben ihr stammte von einer Grasschlange, die herauskroch, um sich zu sonnen. Es war angenehm auf dem Stein. Die Wärme tat gut. Da! Links, in der Nähe der Bäume! Sie runzelte die Stirn. Das klang nicht nach einem Vogel. Dhana war schwindlig und ein bißchen übel, wie damals, als sie von dem selbstgebrauten Met ihrer Mutter gekostet hatte. Dieses Jaulen stammte von einem Fuchs, der eine Amsel gefunden hatte. Eine große Amsel. Dhana eilte in seine Richtung. Wieder jaulte der Fuchs, weil sie beinahe eine falsche Richtung eingeschlagen hätte. Sie fand ihn neben einem großen, hohlen Holzklotz. Der Falke hatte sich darin verborgen. »Danke«, sagte sie. Der Fuchs nickte und verschwand im hohen Riedgras, während sich Dhana ihren neuen Patienten anschaute. »Kluger Bursche, daran zu denken, sich hier drin zu verstecken«, murmelte sie. »Komm jetzt raus, sie sind weg.« Sie griff mit den Händen in die Öffnung und hoffte, keinen Schnabelhieb abzubekommen. Der Vogel schmiegte sich in ihre Hände. Ganz langsam holte sie ihn heraus und setzte ihn oben auf sein Versteck. Schwer atmend starrte er sie mit geöffnetem Schnabel an. Einen Flügel streckte er von sich. Er schien an zwei, vielleicht auch an drei Stellen gebrochen zu sein. Dhanas Nacken kribbelte. Jemand, der mit Falken weniger vertraut war als sie, hätte diesen Vogel vermutlich für einen Falken gehalten. Sie nicht. Er war zu groß, und Falken waren nicht pechschwarz. Seine Farbe war stumpf, wie Samt, auf seinen Federn lag nicht der mindeste Glanz. Es war nicht unangenehm und falsch, wie die Sturmflügel, aber irgend etwas stimmte auch nicht. Sie schnitt Schilfrohr für Schienen. »Ich komme von Onua Chamtong von den K’miri Raadeh«, sagte sie 28
zu ihm. »Kennst du den Namen?« Sie erwartete natürlich keine Antwort, aber sie wußte, daß jede verletzte Kreatur auf eine freundliche Stimme ansprach. »Ich muß deinen Flügel schienen. Er ist gebrochen.« Sie verwünschte sich, daß sie keinerlei Bandagen dabei hatte und schnitt Streifen aus ihrem Unterrock. »Es wird weh tun«, warnte sie. »Versuch, nicht nach mir zu hacken, sonst werden wir’s nie schaffen.« Ohne auf seinen durchdringenden Blick zu achten, spreizte sie vorsichtig den Flügel auseinander. Der Falke schrie nur einmal auf. Das ist auch wieder so etwas Seltsames, dachte sie. Andere Vögel haben mich schon wegen geringerer Schmerzen angefallen. Sie befestigte den ausgestreckten Flügel an den Schienen aus Schilfrohr und spürte, wie der Vogel unter ihren Händen zitterte. »Du bist ein feiner, tapferer Bursche«, schmeichelte sie und band die letzten Baumwollstreifen fest. Nachdem sie mit dem Verbinden fertig war, schwang sie sich den Bogen auf den Rücken. »Ich muß dich tragen«, erklärte sie. »Versuch stillzuhalten.« Als sie ihn hochhob, zitterte er, aber er hackte nicht mit dem Schnabel nach ihr. »Du bist der seltsamste Vogel, der mir je in meinem Leben begegnet ist«, murmelte sie, während sie sich auf den Rückweg machte. »Und schwer bist du auch.« Als sie bei Onua ankam, schwitzte sie. »Sein Flügel ist geschient.« »Die Pferdegötter seien gepriesen, du hast ihn gefunden!« Die Erleichterung auf dem Gesicht der K’mir war fast erschreckend. Als wäre er ein Freund von ihr, dachte Dhana. Onua nahm den Falken aus Dhanas Armen und untersuchte ihn behutsam. Irgendwie war Dhana nicht überrascht, daß er bei Onua ebenso ruhig blieb, wie er bei ihr gewesen war. »Wenn wir die Bündel auf eines der sanfteren Ponys verladen, kann er darauf sitzen«, schlug Onua vor. »Wir müssen zusehen, daß wir ziemlich weit kommen, ehe wir unser Nachtlager aufschlagen.« Dhana nickte und lud die Sachen auf einen gutmütigen Wallach. Unterwegs verhielt sich der Vogel ruhig, doch er atmete immer noch schwer. Sie verließen das sumpfige Tal und erreichten den Wald. Auch nach Einbruch der Dunkelheit gingen sie weiter. Onua leuchtete voraus mit 29
ihrer Magie. Erst nach Stunden bog Onua von der Straße in einen kleinen Pfad ein. Hier zündete sie eine Fackel an und reichte sie Dhana. »Weiter vorn ist ein offener Stadel für trockenes Holz. Er ist groß genug, um uns und den Ponys Schutz zu bieten.« Sie kramte die Utensilien heraus, die sie brauchte, um ihre Magie anzuwenden. »Mach Feuer. Ich bin da, sobald ich kann.« Sie ging zur Straße zurück, einen Beutel mit Pulver in der Hand. Tahoi wollte ihr folgen. Sie befahl ihm, bei Dhana zu bleiben. »Ich glaube, sie will unsere Spur verwischen«, sagte Dhana zu dem Hund. Sie führte das Packpferd, die anderen folgten gehorsam. »Aber warum? Das Monster… wie hieß es? Zhaneh Bitterklaue, kann es denn im Dunkeln sehen? Abgesehen von seinen Rachegelüsten, warum sollte es uns folgen?« Sie warf einen Blick auf den Falken. In ihrem Kopf drehte sich noch immer alles, wenn sie ihm direkt in die Augen schaute. »Deinetwegen sicher nicht.« Der Vogel erschauderte. Der Stadel war groß, mit Wänden an drei Seiten, um den Wind abzuhalten. Mehr noch, es gab eine Feuerstelle und vor dem Stadel eine Quelle. Erleichtert band sie die Pferde los, tränkte und fütterte sie. Tahoi hatte am Nachmittag drei Kaninchen gebracht. Sobald das Feuer brannte, enthäutete und waidete Dhana sie aus. Zwei kamen für sie und Onua auf den Spieß. Die Hälfte des dritten bekam Tahoi. Von der übriggebliebenen Hälfte schnitte sie Streifen ab und bot sie ihrem Patienten an. Er drehte den Kopf weg. Vielleicht hatte er den Geruch nicht aufgenommen. Dhana wedelte vor ihm damit herum. Wieder wendete er den Kopf ab. Sie roch an dem Fleisch. Es war keine Spur anders als das, an dem Tahoi neben ihr zufrieden herumkaute. Sie legte es vor den Vogel. Der Falke pickte das Fleischstück mit dem Schnabel auf und schleuderte es weg. Dhana holte das verschmähte Fleischstück und bot es Tahoi an. Der Hund schlang es hinunter und kehrte zu seinem Knochen zurück. Dhana stemmte die Hände in die Hüften und sah den Vogel ärgerlich 30
an. Sie hatte schon davon gehört, daß gefangene Vögel sich weigern zu fressen, aber ihr war so etwas noch nie passiert. »Es gibt ‘ne Menge Falken, die wären froh um ein schönes Stück Kaninchen«, sagte sie ungehalten zu ihm. »Er will nicht fressen«, berichtete sie Onua, als die K’mir zu ihnen trat. »Was ist los mit ihm? Ich hatte noch nie ein Tier, das von mir kein Fressen annahm.« Die Frau kauerte sich neben den Falken. Ihre graugrünen Augen wirkten ratlos. »Laß es mich versuchen. Vielleicht ist es, weil er dich nicht kennt.« »Ich habe schon massenhaft Tiere gefüttert, die mich vorher noch nie gesehen hatten«, stieß Dhana hervor und schnitt noch ein Stück Fleisch ab. Der Falke weigerte sich auch diesmal. Onua kratzte sich am Kopf. »Versuch’s mit gebratenem Fleisch. Ich muß diesen Ort bewachen. Überall auf der Straße treiben sich bewaffnete Männer herum. Sie scheinen etwas Bestimmtes zu suchen.« Sie trat vor den Stadel. »Uns?« fragte Dhana. Onua schüttelte den Kopf und begann mit dem üblichen Zauber. »Dich doch wohl nicht«, flüsterte das Mädchen dem Falken zu. Sie schnitt Fleisch vom Spieß ab, kühlte es mit Wasser und reichte es dem Vogel. Er roch eine Weile daran, lehnte es aber schließlich doch ab. »Vielleicht ist er krank«, meinte Onua während des Essens. »Ich hab’ mir einmal das Schlüsselbein gebrochen, da war mir auch ein, zwei Tage übel.« »Oder es ist der Schock.« Dhana stützte ihr Kinn auf die Knie. »Er ist nicht einfach irgendein Tier.« Onua beendete ihr Mahl. »Er ist vielleicht ein bißchen schwer zu behandeln, Dhana. Aber gib einfach dein Bestes, bitte.« Das Mädchen wachte in der Nacht auf und hörte leises Gemurmel. Aus halb geöffneten Augen spähte sie hinüber und sah Onua bei dem Falken sitzen und leise mit ihm reden. Und Ma hat behauptet, ich sei verrückt mit Tieren, dachte Dhana. Sie drehte sich auf die andere Seite und glitt zurück in den Schlaf. 31
Am Morgen zogen sie weiter. Suchtrupps begegneten ihnen unterwegs. Männer zu Pferd und Männer zu Fuß, aber niemand schien den Vogel zu bemerken, der hoch zu Roß reiste. »Ich kann weder Feuer schleudern noch heilen«, sagte Onua zu Dhana, »aber wenn ich etwas verstecke, bleibt es versteckt.« Drei Tage lang zogen sie so schnell wie möglich weiter. Die Augen des Falken konnten sich nicht auf einen Punkt konzentrieren, und er konnte kaum mehr das Gleichgewicht halten. Schließlich band Dhana ihn leicht an dem Bündel fest, auf dem er hockte. Es schien ihm nichts auszumachen, was sie noch mehr beunruhigte. Selbst der gutmütigste Spatz hätte sich gegen das Festbinden gewehrt. Der Zustand ihres Patienten verschlechterte sich. Er verweigerte jegliche Art von Fleisch, ob roh oder gekocht. Am dritten Tag bot sie ihm rohe Eier und dann Käse an. Er fraß beides zu ihrer großen Freude, spuckte es später aber wieder aus. In dieser Nacht wachte Dhana auf und hörte, wie Onua einen Zauberspruch über den Falken sprach, aber er schien nicht zu wirken. Einmal, nachdem Dhana in die Augen des Vogels geschaut hatte, trat sie in einen Graben. Ein andermal stolperte sie über ihre eigenen Füße. Danach vermied sie es, ihn anzuschauen, und wich seinem Blick aus. Warum bloß konnte sie diesen Vogel nicht anschauen? Und warum fühlte sie sich nicht so mit ihm verbunden wie mit anderen Tieren? Sein Flügel heilte nicht. In der vierten Nacht hielt sie bei ihm Wache und flößte ihm mit Honig vermischtes Wasser ein. Es nützte nichts. Das Fieber, gegen das sie angekämpft hatte, brach aus und begann zu steigen. Irgendwann nach Mitternacht weckte sie Onua. »Er wird sterben. Nicht heute, vielleicht morgen. Ich hasse es, jemanden zu verlieren, den ich gepflegt habe!« Beschämt spürte sie Tränen auf ihren Wangen und wischte sie mit ungeduldiger Hand weg. »Irgendwas stimmt nicht mit ihm! Er ist nicht wie andere Vögel, mit denen ich zu tun gehabt habe, und ich kann ihn nicht in den Griff kriegen! Können wir in einem Dorf oder in einer Stadt halten, um einen Zauberer zu finden, der vielleicht…« 32
Onua schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.« Als Dhana den Mund aufmachte, um dagegen aufzubegehren, sagte die Frau: »Es gibt Gründe dafür. Wichtige Gründe.« Sie biß sich auf die Lippen und kam zu einem Entschluß. »Also gut. Ruh dich etwas aus. Ich rufe nach Hilfe. Wenn es der Wille der Pferdegötter ist, wird jemand in Reichweite sein.« Dhana war zu erschöpft, um zu protestieren oder Fragen zu stellen. Es fiel ihr sogar schwer, in ihre Bettrolle zu kriechen. Das letzte, was sie sah, war Onua, die vor einem jetzt scharlachrot brennenden Feuer kniete und mit nach oben gerichteten Handflächen vor sich hin summte. Dhana schlief bis zur Morgendämmerung, und Onua begrüßte sie fröhlich. »Ich hatte Glück, die Hilfe ist näher, als ich dachte. Iß etwas, und dann willst du dich vielleicht waschen. Hinter diesem Hügel ist ein Badeteich. Sie werden etwa um die Mittagszeit hiersein.« »Sie? Wer?« Dhanas Stimme kam nur als Krächzen aus ihrer Kehle. Onua schüttelte den Kopf. »Wunderbar. Noch mehr Geheimnisse. Genau das liebe ich«, murmelte Dhana verstimmt, während sie Handtücher und Seife suchte. Da es ein warmer Tag war, wusch sie sich das Haar und nahm sich besonders viel Zeit, jeden Millimeter ihrer Haut zu schrubben. Warum sich beeilen? dachte sie noch immer schlecht gelaunt. Sie würden nicht vor Mittag hiersein, wer immer sie auch sein mochten. Als sie zurückkehrte, hatte der Falke die Augen geschlossen und fröstelte. Dhana wärmte kleine Steine und wickelte sie in Tücher ein, in Handtücher, Schals, Taschentücher. Vorsichtig und ständig mit ihm redend, hüllte sie Vogel und Steine in eine Decke und hoffte so, das Fieber herausschwitzen zu können. Nach einer Stunde in diesem Schwitzkasten nahm der Falke ein bißchen erwärmtes Wasser mit Honig zu sich. Onuas magische Anstrengungen hatten sie erschöpft. Sie schlief den ganzen Vormittag. Dhana mußte sich darauf beschränken, gelegentliche Ausflüge zur Straße zu unternehmen und nach der versprochenen Hilfe Ausschau zu halten. Wolke und Tahoi folgten ihr, ebenso besorgt wie sie selbst. 33
Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, von immer dichter werdenden Wolken verdeckt, als Dhana im Osten Bewegung sah. Sie rannte zum Lager zurück. »Onua, da kommen Leute!« Die K’mir griff nach Pfeil und Bogen. Auch Dhana holte ihre Waffe. Sie gingen zur Straße und warteten. Es dauerte nicht lange, dann sagte die K’mir: »Es sind meine Freunde. Diejenigen in Weiß stehen im Dienste des Königs. Sie unterstehen direkt König Jonathan.« Dhana starrte auf die sich nähernde Gesellschaft. Das Bild, das sich ihr bot, war das Nobelste, was sie im Lauf ihrer dreizehn Jahre gesehen hatte. Krieger in Kettenhemden auf wundervollen Pferden ritten in Viererreihen. Von ihren Schultern flatterten majestätisch weiße Kapuzenumhänge. Die Erde erbebte unter dem Donner der Hufe ihrer Streitrösser. Vor ihnen her ritt ein Standartenträger, dessen Banner eine silberne Klinge und eine Krone auf königsblauem Feld zeigte. Neben ihm ritt ein Krieger in vergoldeter Rüstung, sein goldener Helm war spiegelblank. Er trug eine Lanze. An seinem linken Arm hing ein roter Schild mit einem Wappen, das wie eine auf den Hinterbeinen stehende Katze aussah. Das Pferd des Ritters war größer als jene der weißgewandeten Krieger, jedoch nicht so groß wie die normalerweise von Rittern in voller Rüstung verwendeten Streitrösser. Es war ebenso golden wie die Katze auf dem Schild des Ritters, mit schwarzer Mähne und schwarzem Schwanz. Zusammen bot die Gesellschaft ein Bild wie aus einer Sage. »Oh, gütiger Himmel«, flüsterte Dhana. Bei Onua angekommen, gebot der Ritter mit erhobener Hand den Kriegern Halt. Sein Pferd trabte jedoch auf Dhana zu und stieß seinen Kopf gegen ihre Brust. »Meine Schöne«, flüsterte sie und fuhr ihm mit der Hand durch die Mähne. »Oh, du wunderschönes, wunderschönes Ding.« Lachend trat Onua hinzu und drängte das Pferd sanft zurück. Der Ritter spähte durch sein geöffnetes Visier auf die K’mir hinunter. »Lagert ihr hier?« 34
Onua nickte, und er drehte sich zu seinen Gefolgsleuten um. »Hakim, wir sind da.« Ein brauner Mann in der ersten Reihe der weißgekleideten Reiter nickte und gab einige Befehle nach hinten. Das Ergebnis war geschäftiges Treiben. Mehrere Männer stiegen von den Pferden, Packstücke wurden von den Reitpferden und den Ersatzpferden abgeladen. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie die Straße verlassen und errichteten die Zelte auf der Lichtung. Der Ritter befestigte Schild und Helm an seinem Sattel. Während er abstieg, reichte er die Zügel einem anderen, dann streifte er sich die mit Amethysten besetzten Stulpenhandschuhe von den Händen. »Ich hätte Lederkleidung anziehen sollen«, klagte er. »Mein Rücken war während der letzten Meile ein einziges Jucken.« Er sah Dhana an. »Die Ausrüstung sieht zwar hübsch aus, aber sie ist nicht sehr bequem.« Dhana war völlig durcheinander. Der Ritter, der vom Pferd gestiegen war und vor ihr stand, war mindestens fünf Zentimeter kleiner als sie selbst und von untersetzter Gestalt. Sein kurzes, kupferfarbenes Haar war vom Helm zerzaust. An den Ohrläppchen blinkten Amethyste, deren Farbe mit der Farbe der Augen wetteiferte. »Ach, das hab’ ich ja ganz vergessen«, sagte Onua. »Dhana, dies ist Sir Alanna von Piratenbeute und Olau, der Kämpe des Königs. Alanna, das ist Dhana. Wartet, bis Ihr seht, was sie mit Tieren anstellen kann.« Dhana sah auf die ihr dargebotene Hand, dann in purpurfarbene Augen. »Der Kämpe? Die Ritterin, die man die Löwin nennt?« »Sag mir jetzt bloß nicht«, meinte Alanna, »du hättest jemand Größeres erwartet.« Dhana nahm die ihr dargereichte Hand. Ihr Patient fiel ihr ein, und sie fragte: »Könnt Ihr helfen? Ich komme nicht mit ihm zurecht.« Onua nahm die Ritterin am Ellbogen. »Alanna ist eine Heilerin und eine Zauberin. Wenn sie mit etwas nicht fertig wird, kann es niemand.« »Wollen wir hoffen, daß ich es kann«, sagte die Ritterin, während Onua sie zu dem kranken Falken führte. 35
Dhana befreite den Vogel von seinen Verbänden. »Er will nichts zu sich nehmen außer ein wenig Wasser mit Honig«, erklärte sie, »weder Fleisch noch Fisch. Und ihm ist dauernd schwindlig.« Die purpurnen Augen fixierten sie. »Wie willst du das wissen?« Dhana hielt dem Blick stand. »Ich weiß es einfach. Ich…« »Kann eben mit Tieren gut umgehen«, sagte Onua gleichzeitig mit ihr und grinste. Alanna hob den Vogel hoch und achtete besonders auf den geschienten Flügel. Der Falke blinzelte, sah sie an – und barg seinen Kopf an ihrer Brust. »Er kennt mich. Gut.« Sie trug ihn in ein Zelt, das die Krieger aufgestellt hatten. »Warte hier«, sagte Onua zu Dhana und folgte der Ritterin ins Zelt. Dhana band die Ponys an den Pflöcken fest, damit sie nicht den großen Pferden der Krieger in die Quere kamen. Tahoi hielt sich dicht bei ihr, und Wolke legte ihr bestes Benehmen an den Tag. Die Krieger, die weitere Zelte aufstellten und Feuerstellen zum Kochen errichteten, lächelten sie an. Ein paar gingen mit Angelruten in den Händen zum nahe gelegenen Fluß. Dhana wäre gern mitgegangen, aber sie brachte es nicht über sich, diese vielbeschäftigten Tortallaner zu fragen. »Grundgütige Göttin!« Der Ruf kam aus dem Zelt, in das Alanna und Onua den Falken gebracht hatten. »Bei allen gottverfluchten, hirnverbrannten…« Dhana schnappte nach Luft. Der Mann, den die Ritterin Hakim genannt hatte, grinste. »Die Löwin hat Temperament«, sagte er zu dem Mädchen. »Manchmal geht es mit ihr durch.« Die Ritterin stapfte aus dem Zelt. Sie hatte die Rüstung gegen Reiterhosen und ein weißes Hemd eingetauscht. An einer Kette um ihren Hals leuchtete brennendrot ein Edelstein wie ein Stückchen Kohle im Feuer. »Ich kann nicht…« Ihr Blick fiel auf Dhana. »Du, Mädchen, komm her!« Tahoi knurrte mit gesträubtem Fell. Der Tonfall der Ritterin gefiel ihm gar nicht. Alanna starrte den Hund an, dann lächelte sie. »Tut mir leid. Dhana, würdest du bitte herkommen? Ich glaube, ich brauche deine Hilfe.« 36
Sie führte das Mädchen ins Zelt und sagte: »Onua sagt, du hast ihn unter, nun, unter ungewöhnlichen Umständen gefunden.« Der Falke saß auf einem Feldbett. Seine Augen waren weit aufgerissen und angsterfüllt. »Wie?« Irgend etwas hier dröhnte Dhana in den Ohren und machte sie nervös. »Ehrlich, Euer Gnaden…« »Alanna«, unterbrach die Ritterin sie barsch. Bei der Vorstellung, den Königs-Kämpen, die einzige Ritterin seit Menschengedenken, beim Vornamen zu nennen, zuckte Dhana zusammen. »Ich habe gehorcht, ob ich ihn höre, das ist alles. Ich habe mich einfach hingesetzt und gelauscht.« »Würdest du das mir zuliebe jetzt noch einmal tun, bitte?« Dhana schluckte. »Aber er ist doch hier, Löwin.« »Dann dreh ihm den Rücken zu, wenn das hilft.« Alanna fingerte an dem roten Edelstein an ihrem Hals herum. »Horch haargenau so auf ihn, wie du damals gehorcht hast.« Horchen ist in Ordnung, dachte Dhana nervös. Bisher hatte sie damit noch keinerlei Schwierigkeiten gehabt. Und der Dachs sagte, es sei alles in Ordnung. Na schön! Sie schloß die Augen, verbannte alle Gedanken aus ihrem Gehirn, ließ ihren Atem immer langsamer werden, bis sie ihn nicht mehr hören konnte. Sie konzentrierte sich auf ihre Ohren. Draußen kaute Wolke auf einem Grasbüschel herum und überlegte, daß sie nach Dhana sehen sollte, die ganz allein unter lauter Fremden war. Das goldene Streitroß bewegte sich unruhig. Es wollte weiter rennen. Da! Eine fremdartige und weit entfernte Stimme, die keinem Tier gehörte, das sie kannte. Das mußte der Falke sein. Er murmelte vor sich hin! »Ich höre ihn.« Diese schläfrige Stimme war die ihre. »Er ist ein Gefangener. Er kann nicht heraus. Aber er liegt bloß auf dem Bett…« »Psst!« Purpurnes Feuer spielte hinter ihren Augenlidern. »Ruf ihn, Dhana, mit deinen Gedanken. Sein Name ist Numair Salmalin.« »Alanna, vielleicht ist Arram besser.« Das war Onua, sie klang, als sei sie weit entfernt. »Er ist erst seit acht Jahren Numair, sein ganzes Leben lang war er Arram.« 37
»Stimmt. Ruf ihn als Arram, Dhana.« Die Flammen beruhigten sich, wurden zu einem beständigen purpurnen Licht, das ihr Gesicht wärmte wie die Sonne. »Warum…« »Rufe ihn!« Die Stimme der Ritterin war sanft, aber bestimmt. Dhana seufzte. »Arram Salmalin? Arram, komm. Du bist zu weit weg. Es ist alles in Ordnung, Arram, du bist in Sicherheit…« Irgend etwas hinter ihr schnalzte und zerstörte ihre Konzentration. Sie schlug die Augen auf, als Holzstöckchen vor ihr gegen die Zeltwand flogen! Die Schienen des Falken. »Nun schaut euch das an«, schimpfte sie und hob sie auf. »So wird sein Flügel bestimmt nicht besser.« Sie drehte sich um und wollte den anderen die Beweisstücke zeigen. Der Falke war weg. Onua zog ein Leintuch hoch, um einen großen, nackten Mann zuzudecken. Er lächelte die drei schläfrig an. »Könnte ich was zu essen bekommen?« Dhana blieb der Mund offenstehen. »Wo ist denn der hergekommen?« Alanna beugte sich über den Neuankömmling und sah ihm in die Augen. Onua packte das Mädchen am Ellbogen und führte es aus dem Zelt hinaus. »Erklärungen später«, sagte die K’mir. »Es muß noch eine Menge für ihn getan werden.« »Onua, wo ist mein Falke? Wo kommt dieser Mann her?« Ihre Knie zitterten. Onua legte eine Hand über Dhanas Mund. »Psst. Keine Fragen mehr. Ich werde dir alles erklären – später.« Sie ging ins Zelt zurück und zog die Plane sorgfältig hinter sich zu. »Später«, brummte Dhana vor sich hin. »Wunderbar. Falken verschwinden, Männer erscheinen, warum auch nicht? Später.« Sie stapfte davon, um nach ihren Ponys zu sehen, die ihr wenigstens etwas erzählen und nicht auf irgendein »später« warten würden.
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3 Spinnenmonster und das »Sitz-Ding« Igel, die sich vor Angst zitternd in Dhanas Bettrolle wurstelten, weckten sie auf. Es war nicht die beherrschte Furcht, die sie in der Nähe von Jägern empfanden, sondern wilde Panik. Dhana stand auf. »Ist schon gut«, flüsterte sie. »Bleibt hier.« Sie zog ihre Kleider und Stiefel an. Jetzt spürte sie es auch. Einen beklemmenden Druck in der Luft und in ihrem Kopf. Nicht wie bei den Sturmflügeln oder dem wütenden Bären, dennoch hatte die Luft einen Beigeschmack, der sie an die geflügelten Ungeheuer erinnerte. Im Lager ringsum schliefen die Männer ruhig. Onua murmelte im Schlaf. Tahoi war weder bei ihr noch bei den Ponys. »Bleib«, befahl Dhana Wolke, die ihr folgen wollte. Sie befestigte die Sehne an ihrem Bogen und prüfte den Zug, während sie sich umschaute. Im Zelt der Löwin brannte Licht. Im Wald außerhalb des Lagers lastete schwer die Angst. Die kleineren Tiere verkrochen sich, so tief sie konnten, in Kaninchenbauten. Die großen Tiere waren verschwunden. Eine über ihr im Baum sitzende Eule schien beinahe von Sinnen vor Angst zu sein. Das war schlimm. Eulen fürchteten sich normalerweise nicht so leicht. Tahoi saß am Waldrand, die Nase im Wind. Als Dhana die Hand auf seinen Rücken legte, zuckte er zusammen. »Was ist es?« Er wußte nur, daß etwas Schlimmes näher kam. »Bleib bei den Ponys. Paß auf sie auf.« Der Hund winselte protestierend. Einen Feind geduldig zu erwarten fiel ihm schwer. Lieber machte er Jagd darauf. »Geh schon.« Widerstrebend gehorchte er. Ein Wachtposten in der Nähe hob grüßend die Hand. Hinter ihm sah Dhana noch einen weiteren. »Hörst du irgend etwas?« fragte sie. »Ich glaube, etwas Schlimmes kommt auf uns zu. Etwas Unwirkliches.« 39
»Ich höre nichts.« Es war Hakim. Er ließ kein Auge von den Wäldern. »Geh wieder schlafen.« Jetzt war nicht an Schlafen zu denken. Dhana sah nach den Ponys und merkte, daß auch sie Angst hatten. Die Pferde hinter ihnen waren unruhig und beobachteten die Bäume wie Wachtposten. Das Streitroß schlug mit den Hufen in die Luft. Es wußte, daß die Gefahr ganz in der Nähe war. Es wollte kämpfen und zerrte an seinem Strick. »Nicht jetzt«, sagte sie und tätschelte seinen Hals. »Paß auf. Warte.« Sie ging auf den Wald zu. »Geh nicht allein!« Dhana wirbelte herum und verlor das Gleichgewicht. Eine starke Hand packte ihren Ellbogen und stellte sie wieder auf die Füße. Es war die Löwin, die ein Hemd, Reithosen und Stiefel anhatte. Der rote Edelstein an ihrem Hals glühte beständig. In ihrer rechten Hand lag ein Schwert. »Keine Aufregung«, beruhigte die Ritterin sie. »Was führt dich hier heraus?« Sie gingen zu einer fast hundert Meter entfernten Lichtung. Dhana holte tief Atem und zwang sich zur Ruhe. »Irgend etwas ist ganz in der Nähe, was nicht in Ordnung ist. Besser kann ich es nicht erklären.« Die Löwin sah sich forschend um. »Ich spüre es auch.« Sie berührte den Edelstein. »Der hier warnt mich manchmal vor Schwierigkeiten.« »Schaut!« Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie habe die Augen einer Eule. Deshalb entdeckte sie auch das Kaninchen auf der Lichtung, das sonst wohl keiner gesehen hätte. Sie kniete nieder, um den kleinen Körper aufzuheben, und merkte, daß er noch warm war. Weißes Licht, Alannas Magie, leuchtete über ihrem Kopf auf. Die Ritterin berührte den Körper mit der Handfläche und spürte seine Wärme, dann fühlte sie die raten Tropfen an der Nase des Kaninchens. Sie roch an ihren Fingern. »Blut? Sein Herz zerbarst…« »Es ist vor Angst gestorben.« Dessen war Dhana sicher. Sanft legte sie das tote Tier auf einen nahen Baumstumpf. »Da ist noch etwas, Löwin. Die großen Tiere… im Umkreis von einer Meile ist nicht ein einziges dieser Tiere. Horcht.« Die Ritterin löschte ihr Licht und lauschte. »Nichts rührt sich hier…« 40
Eine Fledermaus sauste zwischen ihnen hindurch und zwitscherte ihnen eine Warnung zu. Erschrocken sprangen die Ritterin und das Mädchen zurück. Im gleichen Augenblick fiel ein ekelhaft gelb-grün leuchtendes Seil genau auf die Stelle, auf der Alanna soeben noch gestanden hatte. Ein Geräusch über ihrem Kopf ließ Dhana emporschauen, während sie einen Pfeil an die Sehne legte. Eine Riesenspinne glitt von oben herunter, und Dhana schoß, ehe sie genau wußte, auf was. Über ihr schrie ein Mann auf. Schwarze Flüssigkeit tropfte auf ihre Hand und brannte wie Säure. Sie schoß zwei weitere Pfeile auf das Wesen ab und sprang schnell zur Seite, als es am Boden aufschlug. Alanna schrie dem Lager einen Warnruf zu. Dhana wollte sich gerade die Hand an einem Blatt abwischen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Sie sprang beiseite, und Alanna glitt an ihre Stelle, so geschmeidig wie eine Katze. Ihr Schwert blitzte einmal auf: ein mächtiger Hieb trennte zwei Beine eines neuen Angreifers ab. Ein zweiter Hieb enthauptete das Wesen. Alles geschah so schnell, daß Dhana nicht wußte, ob es überhaupt geschehen war, bis Alanna sie von dem sich in Todesqualen windenden Wesen wegzerrte. Ritterin und Mädchen warteten ein paar Augenblicke atemlos, ob noch eine weitere Riesenspinne auftauchen würde. »Ich glaube nicht, daß noch mehr da sind«, sagte Dhana schließlich. »Vorher hatte ich hier draußen ein unheimliches Gefühl, das verschwindet jetzt langsam.« Ineinander verschlungene Beine bewegten sich, und sie wußte, daß das, was sie abgeschossen hatte, noch lebte. Sie schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter und zog ihren Dolch. Dann ging sie auf das Monster zu, um es zu töten. Ihm den Kopf abzuschneiden war wohl das beste. Sie hatte gedacht, es wären Spinnen, beinahe genauso groß wie sie selbst, mit fellbedeckten, mattschwarzen Körpern. Das war schon schlimm genug, bis sie dieses Monster von vorn sah! Kopf und Hals waren die eines Menschen, seine Zähne scharf und spitz wie von einer Riesenkatze. Es schrie mit der Stimme eines Mannes, als es das Messer sah. 41
Dhanas Mund blieb offenstehen. Ein Schrei der Angst und des Ekels entstieg ihrer Kehle als ersticktes Krächzen. Aus steifen Fingern entfiel ihr das Messer. Kein Wunder, daß sie ein ähnliches Gefühl wie bei den Sturmflügeln gehabt hatte. Die hier waren ebenso unwirklich, eine unheimliche Mischung aus Tier und Mensch, die keine Daseinsberechtigung hatten. »Grundgütige Göttin.« Alanna tauchte hinter ihr auf. Dhana fühlte sich bedeutend besser, als sie merkte, daß die Blässe auf Alannas Gesicht nicht nur von dem Licht herrührte, das sie entzündet hatte, um besser sehen zu können. »Hast du jemals so etwas gesehen?« »Noch nie.« Dhana drehte dem Monster den Rücken zu und ließ es langsam sterben. Sie fand einen Holzklotz, auf den sie sich setzen konnte. Großpapa hatte ihr Geschichten von Ungeheuern erzählt, von Monstern mit Menschenköpfen und Spinnenleibern, Spinnerlinge genannt. Ein tapferer Mann könne sie am besten nachts jagen, hatte er gesagt, ihre Netze leuchteten im Dunkeln. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Kleines Mädchen, deine Ahnen sind heute nacht stolz auf dich.« Es war Hakim, der Wächter. »Du bist der beste Bogenschütze, den ich je gesehen habe, sogar noch besser als die Löwin.« Alanna nickte. Sie kniete neben dem Monster und untersuchte es mit einem Stock, denn mit der Hand wollte sie es nicht berühren. »Wir hatten Glück, daß du ihren Angriff gespürt hast, Dhana.« Das Mädchen schluckte und dachte, nicht für viel Geld würde ich das Ding berühren, auch nicht mit einem Stecken. »Die Igel haben mich aufgeweckt. Sie wußten nicht, was hier draußen los war. Ich konnte spüren, daß etwas nicht stimmte, aber ich hätte nicht gedacht, daß es so wie das da aussehen würde. Mein Großpapa hat mir Geschichten von Spinnerlingen erzählt, aber er sagte, sie wären schon vor einer Ewigkeit ausgerottet worden.« »Nicht ausgerottet.« Hakims Stimme war fest, doch sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Sie wurden vor vierhundert Jahren vom größten der Schamanen im Göttlichen Reich eingesperrt.« »Ihr meint, es sind Götter?« fragte Dhana entsetzt. »Unsterbliche und Götter sind nicht dasselbe, sie leben nur am gleichen Ort.« Alanna wischte sich die Hände ab. »Wie die 42
Sturmflügel, Dhana. Sie wurden zur gleichen Zeit in das Göttliche Reich eingeschlossen, zusammen mit einer großen Anzahl anderer Geschöpfe, Greife, Drachen und so weiter.« Dhana schluckte. Es gab also noch mehr davon! Was, wenn sie auch frei waren, wenn sie alle aus dem Gefängnis ausgebrochen waren, in das man sie so lange eingesperrt hatte? »Herr der Pferde!« Onua trat zu ihnen. »Löwin, was…« »Sie heißen Spinnerlinge.« Die Stimme der Ritterin war beinahe sachlich. »Die Göttin mag wissen, wie viele von uns sie getötet und weggeschleppt hätten, wäre Dhana nicht wachsam gewesen.« »Ihr habt auch einen getötet«, erinnerte Dhana sie. Sie ging zum Rand der Lichtung und lauschte in die Wälder, nur so, für alle Fälle. Überall um sich herum hörte sie, wie sich die Tiere regten, große und kleine, und ihrer nächtlichen Beschäftigung nachgingen. Ich weiß nicht, ob ich an ihrer Stelle jemals wieder aus meinem Kaninchenbau herauskäme, dachte sie. Ihr fiel ein, daß sie eine Verpflichtung hatte. Hakim und Onua untersuchten den Spinnerling mit Stöcken. Die meisten Männer aus dem Lager waren gekommen, um sich die Wesen anzuschauen. Einer der Soldaten übergab sich am Ende der Lichtung, was Dhana tröstete. Sie hatte sich wenigstens nicht erbrechen müssen. Sie sah zu den Bäumen hinüber, wohin die Fledermaus geflogen war, nachdem sie sie gewarnt hatte. »Danke, kleiner Flügelfreund«, flüsterte sie. »Danke im Namen von uns beiden.« In der Dunkelheit vor ihr antwortete eine Fledermaus. Dhana lächelte und kehrte zu den Menschen zurück. »Es ist vorbei«, berichtete sie Alanna. »Die Tiere kommen wieder heraus.« Plötzlich fühlte sie sich erschöpft. Die Brandwunde an ihrer Hand pochte. Onua legte einen Arm um sie. »Wir hatten heute beide genug Aufregung. Komm.« Sie führte sie zum Feuer. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Als Dhana ihr die Brandwunde zeigte, stieß sie einen kurzen Pfiff aus und holte rasch ihre Heilmittel. Dhana merkte kaum, daß sie ihr die Wunde säuberte und verband, so müde war sie. Nachdem der Schmerz verebbt war, schlüpfte sie in ihren Schlafsack. »Ist sonst alles in Ordnung?« Onua klang ehrlich besorgt. 43
Dhana lächelte sie an. »Ich denke schon.« Die Igel kuschelten sich wieder an sie. »Aber ich werde bestimmt Alpträume haben.« »Ich auch«, seufzte Onua. »Wenigstens sind wir am Leben und können träumen.« Sie schlüpfte in ihre Bettrolle. »Was ist mit ihm? Mit dem Falken… dem Mann?« Dhana deutete auf das Zelt des Patienten. Onua lächelte. »Meister Salmalin hat die ganze Geschichte verschlafen. Er wird fuchsteufelswild werden, wenn er davon hört. Spinnerlinge liegen mehr auf seiner Linie als auf der unseren.« Schüchtern fragte Dhana: »Warum habt Ihr mir nicht die Wahrheit gesagt? Über den Falken?« Aus der anderen Bettrolle kam ein Seufzer. »Seine Verwandlung ist ein Geheimnis. Nur ein paar Menschen wissen davon, und wir dürfen nichts sagen. Es ist nicht so, daß ich dir nicht vertraue. Ich vertraue dir wirklich.« »Er ist ein Späher?« »Nur manchmal, wenn der König keinen anderen schicken kann.« »Er sollte wieder gesund werden und wegfliegen, und ich hätte niemals etwas davon erfahren.« »Genau das war der Plan.« Onuas Stimme hatte einen bedrückten Unterton. »Jetzt weiß ich es aber.« »Ja. Kannst du es für dich behalten?« Dhana dachte darüber nach. »Ihr habt doch eben gesagt, es ist ein Geheimnis, nicht wahr? Ich werde ganz bestimmt nichts erzählen.« »Gut. Und jetzt schlaf.« Niemand verließ am nächsten Tag das Lager. Die Männer der königlichen Leibgarde verbrannten die toten Ungeheuer und durchsuchten die Wälder nach weiteren Monstern. Die Löwin und Onua verbrachten den ganzen Morgen bei ihrem Patienten. Am Nachmittag riefen sie Hakim und einen anderen Soldaten, der ein Schreibpult brachte. Dhana hielt sich von den Männern fern. Sie war es nicht gewohnt, von so vielen Leuten bemerkt und gegrüßt zu werden. Ihre Zurückhaltung dehnte sich natürlich nicht auf die Pferde aus. Als sie die Ponys versorgt hatte, schaute sie bei den großen Pferden vorbei. 44
Ihr Liebling war Alannas Streitroß, der junge Hengst, der sie am Tag zuvor so herzlich begrüßt hatte. »Ich glaube, die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit.« Dhana fuhr zusammen. Wieder einmal war die Löwin unhörbar näher getreten. »Er ist eine Schönheit.« »Sein Name ist Dunkelmond.« Der Hengst berührte mit den Lippen Alannas Hosentasche. »Er ist entsetzlich verwöhnt.« Sie fischte ein Zuckerstückchen heraus und fütterte ihn damit. »Seine Großmutter war mein erstes Pferd, eine prächtige Stute, treu wie Gold.« Während sie Dunkelmond noch ein Zuckerstückchen gab, fügte sie hinzu: »Du hast mir gestern nacht das Leben gerettet.« Dhana errötete. »Ihr habt meines gerettet.« Purpurne Augen sind sehr beunruhigend, wenn sie einen so direkt anschauen, dachte sie. Oder kommt es daher, daß sie so viel von der Gabe besitzt? »Wo hast du so gut Bogenschießen gelernt?« »Mein Großvater hat es mir beigebracht. Er hat mir auch diesen Bogen geschnitzt.« »Man möchte meinen, jemand von deiner Größe könnte nur mit einem kleineren Bogen umgehen.« Dhana zuckte mit den Schultern. »Ich war schon immer eine annehmbare Schützin.« Die Frau lachte auf, aber sie wandte ihre Augen nicht von Dhanas Gesicht. Sie spielte mit dem Edelstein an ihrem Hals. »Dreimal hast du nach oben auf ein bewegliches Ziel in der Dunkelheit geschossen und getroffen. Das ist mehr als ›annehmbar‹.« Wieder zuckte Dhana die Schultern. »Ich habe viel Übung.« Alanna grinste. »Ich hör’ schon auf. Ich wollte dich nicht ausfragen. Ich war so damit beschäftigt, Arrams Geschichte aus ihm herauszukriegen, daß ich ganz vergessen habe, einfach ›Danke‹ zu sagen. Du hast mein Leben und das eines meiner besten Freunde gerettet. Arram wäre nicht hier, wenn du ihn nicht gepflegt hättest. Das werde ich dir nie vergessen.« Dhana schluckte. »Es war keine Mühe.« Alanna nahm ihre Hand. »Wenn du irgend etwas brauchst, komm zu mir. Einen Ort, wo du bleiben kannst, Geld, Arbeit, es ist mir egal. Falls ich nicht da bin, geh zu meinem Mann.« Überrascht blickte 45
Dhana auf Alannas Ringfinger und sah einen breiten Silberreif. »Er ist der Baron von Piratenbeute. Er wird an meiner Statt alles für dich tun.« Dhana schluckte. Ein Königs-Kämpe in ihrer Schuld! Leute wie sie konnten doch die Reichen und Berühmten nicht belästigen! Und wenn Alanna die Wahrheit über sie kennen würde, wenn sie wüßte, was sie getan hatte? Ganz bestimmt würde sie Dhana hassen. Die Ritterin mußte die Ablehnung auf ihrem Gesicht gesehen haben. »Versprich es mir.« Dhana zögerte. Alanna sah jedoch so aus, als würde sie nicht lockerlassen. »Ich verspreche es, Löwin.« »Alanna!« rief Onua vom Zelt her. »Wir brauchen Euch für eine Minute.« »Ich komme«, erwiderte die Ritterin. »Übrigens, kannst du mit einem Schwert umgehen?« »Ich? Gütiger Himmel, nein!« sagte sie entsetzt. Das Schwert war eine Waffe der Vornehmen. Die Löwin grinste. »Eigentlich sollte ich mich ja nicht darüber freuen, aber ich tue es.« Sie bemerkte Dhanas Verwirrung und erklärte: »Wenn du mit dem Schwert ebenso gut wärest wie mit dem Bogen, könnte ich es nicht mit dir aufnehmen.« Sie versetzte Dhana einen Schlag auf die Schulter und kehrte zu ihrem Patienten zurück. Am nächsten Tag standen alle bereits beim ersten Licht des Tages auf. Onua und Dhana aus Gewohnheit, die anderen aus Notwendigkeit. »Ihr bleibt noch hier?« wollte Alanna wissen. Onua schöpfte Haferbrei in eine Schale und reichte sie ihr. »Nur heute noch, um Arram ein bißchen mehr Zeit zu geben, ehe wir nach Osten Weiterreisen. Wie steht’s mit Euch?« »Ich werde den örtlichen Richter aufsuchen, da ich jetzt Arrams Information habe«, erklärte Alanna und träufelte Honig in die Schale. »Wenn ich erst einmal von ihm den Haftbefehl habe, gehört Sinthya mir.« »Deshalb wart Ihr also so nahe, als ich um Hilfe rief«, sagte Onua. »Im Frühjahr seid Ihr doch für gewöhnlich in Piratenbeute. Ihr habt auf Arram gewartet?« 46
Alanna nickte. »Er hat jetzt den Beweis, daß Sinthya mit Carthak in Verbindung steht.« Onua lächelte grimmig. »Ich wußte es!« Die Ritterin runzelte die Stirn. »Ich lasse dem König eine Botschaft zukommen über unsere Besucher von gestern nacht und über die Sturmflügel. Ich kann nicht verstehen, weshalb diese Unsterblichen jetzt auftauchen. Wir haben Berichte aus ganz Tortall und von den Nachbarn. Noch etwas, es gefällt mir gar nicht, daß sie zur Stelle waren, um unseren Freund zu verfolgen, nachdem er entkommen war.« »Ihr haltet es nicht für einen Zufall?« fragte Onua. »Hat Sinthya eine Abmachung mit diesen… Wesen?« Dhana zuckte zusammen. Der Gedanke, daß Menschen sich mit solchen Kreaturen anfreundeten, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Alanna seufzte. »Ich weiß es nicht. Das ist eine der Fragen, die ich Seiner Lordschaft stellen werde, wenn ich ihn gefangennehme. Achte du bitte inzwischen darauf, daß Arram nichts übertreibt. Er sollte das Gestaltwechseln für eine Weile bleibenlassen. Nicht daß ich glaube, er sei stark genug, es überhaupt zu versuchen.« Die Ritterin beendete ihr Frühstück und stand auf. »Zeit zum Weiterreiten.« Mit der Erlaubnis des Mannes, der Dunkelmond immer versorgte, führte Dhana das gesattelte Pferd zu seiner Herrin und hielt es, während die Löwin aufstieg. Diesmal trug die Ritterin ein mit Metallringen beschlagenes Lederwams anstelle des Kettenhemdes. Als sie Dhanas Blick bemerkte, sagte sie: »Ich hab’s aus unserem Ersatzgepäck rausgezogen. Sie nehmen immer eines in meiner Größe mit. Es sieht zwar nicht so hübsch aus wie die Rüstung, aber es ist bequemer.« Sie reichte Dhana eine behandschuhte Hand. »Wir sehen uns wieder, wenn nicht im Palast, dann später. Paß auf meine Freunde auf, und auf dich selbst.« Dhana erwiderte den festen Händedruck der Frau. »Gute Reise, Löwin. Gebt diesem Sinthya-Mann ein paar Ohrfeigen von mir.« Alanna lachte. »Ich hoffe, genau das tun zu können.« Sie drehte sich um. Die Männer der königlichen Leibgarde saßen im Sattel. »Vorwärts!« 47
Ehrfürchtig sah Dhana ihnen nach. Davon hatte sie geräumt, seit Onua ihr gesagt hatte, sie würden nach Tortall reisen. Nun, einige Dinge waren ganz anders, dachte sie, als die Reiter aus ihrem Blickfeld verschwanden. Sie zog die Dachsklaue aus ihrem Hemd und polierte sie mit dem Daumen. Die Ritterin ist kleiner, als ich erwartet hatte. Und ich hätte niemals gedacht, daß sie fluchen und Witze machen könnte. Sie ist eine Legende, soviel ist sicher, aber sie ist so menschlich! Ein Gedanke durchfuhr Dhana und ließ sie mit offenem Mund dastehen: Wenn sie eine Legende ist, eine Heldin, dann könnte vielleicht jeder ein Held sein. Sie stopfte die Klaue wieder in ihr Hemd und rannte zum Lager zurück. Wenn jeder ein Held sein kann… könnte ich’s dann vielleicht auch? fragte sie sich und lächelte. Dieser Gedanke beschäftigte sie noch, als sie einen Berg von Zügeln und Riemen ausbesserte. Onua kam mit eigener Lederarbeit zu ihr ans Feuer. Sie arbeiteten schweigend, bis Onua plötzlich sagte: »Sieh mal, wer da steht.« Ihr Patient stand vor seinem Zelt. Jemand hatte ihm anscheinend ein weißes Hemd, Reiterhosen und auch ein Paar Stiefel gegeben. Er war fast zwei Meter groß, mit breiten Schultern und einem muskulösen Körper. Die Masse seines kohlschwarzen Haars war zurückgekämmt und im Nacken zusammengebunden, um ein Gesicht zu zeigen, das dunkel und empfindsam war. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Riesenkatze, als er sich auf einen Holzklotz neben Onua setzte. Dhana schätzte ihn auf Ende Zwanzig. »Wie hast du ein Paar auf getrieben, das paßt?« Onua deutete mit der Ahle, die sie gerade benützte, auf seine Füße. »Im Kessel ist Tee, und hier ist auch ein sauberer Becher.« Seine weichen Lippen teilten sich, um in einem scheuen Lächeln blendendweiße Zähne zu zeigen. »Danke.« Er schenkte sich Tee ein und blies, um ihn zu kühlen. »Alanna hat sie verhext, damit sie passen.« Er hatte schmale, dunkle Augen und betrachtete die Stiefel mit einem versonnenen Lächeln. »Niemand hatte ein Paar, das auch nur annähernd groß genug gewesen wäre.« »Was ist mit deiner eigenen Magie?« fragte Onua. 48
»Ich bin im Augenblick ausgetrocknet.« Seine Stimme war warm und ein bißchen zögernd. Nett anzuhören, dachte Dhana. Sie wandte die Augen von ihm ab und beschäftigte sich mit ihrer Lederarbeit. Zwei große Hände tauchten in ihrem Gesichtskreis auf und hielten den Lederstreifen fest, während sie die letzten Stiche machte. »Danke«, flüsterte sie errötend. »Du siehst anders aus.« Erschrocken blickte sie auf. »Was?« Er lächelte. »Du warst viel, viel größer.« Trotz ihrer Schüchternheit mußte sie lachen. »Mir scheint, Ihr wart ein bißchen kleiner, wenn ich’s mir recht überlege.« Der Lederstreifen war fertig. Ihr Patient kehrte zu seinem Platz auf dem Holzklotz zurück. »Ich wäre tot, wenn du nicht gewesen wärst. Du heißt Dhana?« Sie nickte. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Dhana. Ich bin Numair Salmalin.« »Ich dachte, Ihr heißt Arram.« Er sah rasch zu Onua hinüber. »Arram ist mein Kindername. Ich heiße jetzt Numair.« Dhana verstand den Wink. »Es ist mir eine Ehre, Meister Numair.« Und dann, weil sie es einfach wissen mußte, fragte sie: »Warum habt Ihr Euch nicht zurückverwandelt?« »Ich steckte fest.« »Ihr stecktet fest?« »Als Sinthya mich erwischt hatte, gaben mir seine Zauberer Drogen. Ich geriet in Panik und veränderte die Gestalt. Ich dachte nicht mehr daran, daß ich genug von dem Zeug in mir hatte, um jemand von meiner Größe umzuhauen.« »Ihr hattet Glück, daß sie Euch nicht umgebracht haben«, stellte Onua fest. »Du hast recht. Zu der Zeit, als ihr mich gefunden habt, konnte ich den Boden nicht mehr von der Luft unterscheiden. Das Essen, das ihr mir angeboten habt? Ich wußte nicht einmal, daß es etwas zu essen war. Und ich war auch nicht fähig, irgend etwas unten zu behalten.« 49
Er nippte an dem Tee. »Es wird lange Zeit dauern, bis ich wieder Falkengestalt annehme.« »Deshalb habt Ihr auch so komische Augen gehabt«, fiel es Dhana ein. »Und deshalb wurde mir so… schwindlig.« »Das wollte ich dich schon fragen. Onua sagt, dir ist übel geworden, du hast die Orientierung verloren. Ich kann nicht verstehen, wieso. Sie sagt, du hast die Gabe nicht.« »Jetzt geht das schon wieder los!« fauchte Dhana. Würden all ihre neuen Freunde auf dieser Sache herumhacken, genau wie ihre Mutter es immer getan hatte? »Ich begreife nicht, was an dieser ›Gabe‹ so Großartiges dran ist. Sie kommt und geht. Man darf nicht zuviel auf einmal tun, und man braucht alle möglichen Regeln. Sie bringt doch mehr Schwierigkeiten, als sie wert ist.« Dhana stand auf. »Aber wo ich auch aufkreuze, irgend jemand fragt immer, ob ich sie habe. Ich kann einfach gut mit Tieren umgehen, genügt das nicht?« Wütend und ohne zu merken, daß ihr die Tränen die Wangen herunterliefen, stapfte sie in den Wald. Numair sah Onua erstaunt an. »Was habe ich denn gesagt, daß sie so außer sich ist?« Die K’mir seufzte und legte ihre Arbeit weg. »Ihre Mutter war eine Winkelzauberin. Sie hatte niedere Gaben und war Dorfheilerin und Hebamme. Sie und Dhanas Großvater wurden im Januar von Räubern getötet. Sie meinte, daß Dhana die Gabe hätte. Die törichte Frau hat sie dauernd geprüft, weil sie glaubte, das Mädchen könnte über Nacht Fortschritte machen. Ich sehe lieber nach ihr.« »Nein, wenn sie sich erst beruhigt hat, möchte ich zu ihr gehen. Du und Alanna, ihr hattet recht. Sie besitzt echte Kraft. Jedoch nicht die Gabe.« Er spielte mit zwei Ästen und sah nachdenklich drein. »Es ist wilde Magie, rein und unverfälscht. Sie ist randvoll davon. Ich habe noch niemals einen Menschen mit derartigen Kräften gesehen.« »Dann hast du es also gespürt.« Er lächelte. »Ich spürte es, als ich ein Vogel war, halb verrückt und halbtot.« Onua seufzte. »Geh behutsam mit ihr um, Arram. Sie ist sehr verletzlich.« 50
»Mache ich.« Er stand auf und streckte sich stöhnend. »Verwende Numair, ja? Ich weiß, du vertraust Dhana, aber man kann nie wissen, wer noch zuhört. Ich habe noch immer Feinde in Carthak, die gern wissen möchten, wer ich bin.« Onua verzog das Gesicht. »Du hast recht… Numair.« Er grinste. »Komm schon, welcher große Zauberer hat schon einen Namen wie Arram Draper? Ich brauche einen Namen, der meiner Berufung entspricht, findest du nicht?« »Ihr Zauberer seid doch alle Kindsköpfe, das schwöre ich. Könnt keinen Zauber machen, wenn ihr nicht alle möglichen Arten von Roben und anderen Klimbim und eine große Zuschauermenge habt, die euch Beifall klatscht.« Sie schickte ihn mit einer Handbewegung fort und machte sich lächelnd wieder an die Arbeit. Numair sah, wie Dhana einen Biber begrüßte, und blieb unter den Bäumen stehen, um zuzuschauen. Das Mädchen lag auf dem Boden, ihre Augen auf gleicher Höhe wie die des Tieres. Der Biber stand auf den Hinterbeinen und plauderte mit ihr. Sie kicherte, dann hielt sie ihm die Hand hin. Der Biber kuschelte sich einen Moment hinein. Dann verabschiedete er sich und trottete in den Wald davon. Numair kam langsam auf sie zu. »Er schien eine Menge zu erzählen.« Dhana dachte an den Biber und wie nett er war, im Gegensatz zu den Monstern der vergangenen Nacht. »Oh, das war nur das übliche Frühlingsgerede. Über die Ausbesserungen am Bau, wo er gutriechende Blätter herbekommen könnte. Ich hab’ ihm gesagt, wo er wilde Pfefferminze finden kann.« Dann fiel ihr das Gespräch von vorhin wieder ein, und sie wurde rot. »Meister Numair, ich…« Er lächelte. »Schwamm drüber, wenn du aufhörst, mich ›Meister‹ zu nennen. Wenn ich für den Rest des Weges mit den Ponys helfen soll, können wir uns genausogut mit Vornamen anreden und duzen.« »Ist Onua wütend auf mich? Weil ich die Beherrschung verloren habe?« Er schüttelte den Kopf. Durch die Bewegung ging das Band auf, das seine Locken zusammenhielt, und fiel zu Boden. »Ach, du liebe Güte…« 51
Dhana half ihm suchen. Als sie das Band wiedergefunden hatten, hatte Dhana auch ihre Scheu Numair gegenüber vollkommen überwunden. »Es ist einfacher, wenn du das Band naß machst, bevor du es ins Haar bindest«, erklärte sie ihm, als sie ins Lager zurückgingen. »Wenn es trocknet, zieht es sich zusammen.« »Guter Rat. Macht dein Haar dir Schwierigkeiten?« »O Göttin, und wie. Mein Haar ist so verdammt dick, daß ich mit solchen Bändern gar nicht anzufangen brauche.« Plötzlich kicherte sie. »Wir pflegen da ja eine recht seltsame Unterhaltung.« Er grinste auf sie herab. »Jungen machen sich über ihr Aussehen genauso viele Gedanken wie Mädchen. Wir können es nur besser verbergen.« »Im Ernst?« fragte sie erfreut. Durch ihr von allen Männern des Dorfes abgeschiedenes Leben allein mit der Mutter und dem Großvater hatte sie geglaubt, die Männer seien vollkommen anders. »Im Ernst«, versicherte er ihr. »Du solltest die Schönheitswässerchen sehen, die ich auf mein Haar gebe, um es einigermaßen zu bändigen.« Er winkte Onua zu, als sie das Lagerfeuer erreicht hatten. Onua und Dhana verbrachten den nächsten Tag damit, die Ponys zu trainieren und den Nahkampf zu üben, von dem Onua behauptete, daß ihn jede Frau können sollte. Numair döste, flickte sein zweites Hemd oder machte Übungen mit dem Arm, der gebrochen gewesen war. »Kann er denn schon mit uns laufen?« fragte Dhana, während er wieder einmal ein Nickerchen unter einem nahen Baum machte. »Er sollte vielleicht lieber reiten, aber für die Ponys ist er zu groß.« »Wir wollen es gemächlich angehen lassen«, sagte die K’mir. »Alanna hat ihm eine langsame Heilung verordnet. Sie sagt, in zwei oder drei Tagen wäre er wieder in Ordnung.« »Kennt Ihr ihn von früher?« »Wir sind alte Freunde.« Als sie den Ausdruck auf Dhanas Gesicht sah, sagte Onua: »Nicht die Art von Freunden, die du denkst! Nein, unser Falke hat sich meiner angenommen, als ich außer der Königin und Buri niemanden kannte. Wenn er dich mag, ist er der allerbeste Freund. Aber die Pferdegötter mögen dir beistehen, wenn du dir’s bei 52
ihm verscherzt hast.« Da sie sah, daß Dhana verdutzt dreinschaute, erklärte sie: »Er ist der mächtigste Zauberer in Tortall.« Dhana starrte sie an. Ein kindischer Mann, der sich über Haarbänder unterhielt? Sie sah, wie ein Schmetterling über Numairs langer Nase gaukelte. »Er?« Onua kicherte. »Ja, er. Man braucht schon eine mächtige Gabe, um seine Gestalt zu verändern.« Numair schlug die Augen auf. »Ihr redet über mich. Ich spüre es.« »Und er ist eitel«, sagte Onua laut. »Um sich für seine Amtshandlungen bei Hofe anzuziehen, braucht er soviel Zeit wie die eitelste Lady. Das ist schon schlimm genug, aber dann ruiniert er sich auch noch seine Kleidung, indem er sich ins Gras setzt, um Meteoritenschwärme zu beobachten.« »Aber das sind meine guten Eigenschaften«, protestierte Numair. »Du solltest ihr mal einige meiner wirklichen Fehler aufzählen.« Er grinste und fügte dann hinzu: »Ach, nein, lieber doch nicht. Ich hab’ vergessen, daß du meine Fehler ja tatsächlich kennst.« Dhana lachte. Sie merkte schon, der Rest der Reise würde ein großer Spaß werden. Die Erwachsenen stritten sich über schützende Kreise, sie dagegen dachte allmählich ans Abendessen. Es war nicht fair, daß Onua immer auf Jagd gehen mußte. Dhana holte Angelhaken und Schnur und sagte den beiden, wohin sie ging. Am Flußufer stand ein großer Baum, wo sie sitzen und sich in aller Bequemlichkeit um ihre Angel kümmern konnte. Onua bereitete Forellen auf eine besonders gute Art zu. Es dauerte nicht lange, bis sie ihren Haken mit Ködern versehen und die Ruten befestigt hatte. Nachdem der schwierige Teil erledigt war, betrachtete sie den Himmel und gab sich Tagträumen hin. Sie erhob sich hin und wieder, um vorbeikommende Tiere zu begrüßen. Wolke fand in der Nähe einen Flecken mit Klee, dort graste sie und leistete ihr Gesellschaft. Tahoi gesellte sich zu ihnen. Er legte sich so hin, daß Dhana ihn bequem hinter den Ohren kratzen konnte. Von ihm erfuhr Dhana, daß Onua und Numair das Sitz-Ding machten. Tahoi langweilte sich tödlich. »Was ist das Sitz-Ding?« fragte Dhana. 53
Der Hund zeigte ihr in seinen Gedanken ein Bild: Onua saß mit gekreuzten Beinen da, die Hände auf die Knie gelegt, die Augen geschlossen. Zu diesem Bild fügte er Numair hinzu, der dasselbe machte. Schimmerndes, perlenfarbenes Licht leuchtete um jeden und rieselte in kleinen Wellen über ihre Gesichter. »Was ist das?« fragte Dhana. »Dieses Licht?« Tahoi wußte es nicht. Es war etwas, was manche Menschen hatten und manche nicht. Magie, erklärte Wolke. Deine Mutter hatte es und noch ‘n paar andere zu Hause. Nicht so hell wie die beiden hier, mehr wie ‘n Glitzern. Aber es ist trotzdem Magie. Onua macht das Ding nur mit Leuten, die dieses Licht haben, berichtete Tahoi und seufzte. Das Mädchen lächelte. »Such dir ein Stöckchen, ich spiel’ mit dir. Nicht hier, ich will die Fische nicht erschrecken.« Tahoi wedelte mit dem Schwanz und machte sich auf die Suche nach einem Stock, der ihn nicht am Maul verletzte. »Wolke, hab’ ich dieses Licht in mir?« Nein, antwortete die Stute. Das Licht ist nur was für Menschen. Du siehst vielleicht aus wie ein Mensch, aber du bist keiner. Du gehörst zu den Verwandten, zum Volk von Pelz und Klaue, Flügel und Schnabel. »Unmöglich«, sagte das Mädchen tonlos. »Schau mich doch an. Ich bin rosig, ich hab’ nur an manchen Stellen so was wie Fell, ich gehe aufrecht auf zwei Beinen, ich bin menschlich, durch und durch menschlich.« Von außen, beharrte das Pony. Nicht innerlich. Innerlich bist du verwandt. Tahoi brachte einen Stock, und Dhana ging weg, um mit ihm zu spielen. Wolke machte natürlich Witze. Sie war doch ein Mensch. Außerdem hätte ihre Mutter es ihr gesagt, wenn dem nicht so wäre. Am nächsten Tag brachen sie auf. Onua schlug ein gemäßigtes Marschtempo an und ließ während des Vormittags zweimal anhalten, um zu rasten. Numair zeigte keinerlei Ermüdung. Einmal fing er Dhanas Blick auf, klopfte sich grinsend an die Brust und sagte. 54
»Wenn die Löwin einem Mann Heilung verspricht, dann bleibt er geheilt.« Der Tag verging rasch. Numair und Onua erzählten Geschichten über die Leute, die sie im Palast kannten. Numair jonglierte sogar für sie, ein höchst unübliches Kunststück für einen Zauberer. Als sie schließlich das Nachtlager aufschlugen, hatte Dhana das Gefühl, ihn schon jahrelang zu kennen. Das Entfachen des Feuers machte ihr Schwierigkeiten. Gleichgültig, was sie mit Feuerstein und Wetzstahl auch anstellte, das Holz war zu feucht. Endlich schmeichelte sie ihm eine winzige Flamme ab und hielt den Atem an. »Wie klappt’s?« fragte Numair über ihre Schulter, und die Flamme erlosch. »Ach, verflixt!« fauchte sie. »Was ist los?« »Oh, es muß gestern hier geregnet haben. Alles ist feucht.« »Tritt ein bißchen zurück.« Sie gehorchte, und das Reisig loderte auf. Rasch legte sie große Holzscheite auf. »Aber du hast nicht drauf gedeutet oder Kreise gezogen oder etwas gesungen.« Er hob die Schultern. »Manche Leute brauchen derartige Hilfsmittel. Ich nicht.« Sie war sprachlos über seine Arroganz. »Oh, entschuldige, daß ich die gleiche Luft wie Euer Zauberkeit atme.« Sein tiefes, kehliges Lachen brachte sie zum Grinsen. »Was? Mußten sie dort, wo du herkommst, Feuerrituale aufführen, ehe etwas brannte?« Ihre gute Laune war dahin. »Zu Hause hat es leicht gebrannt«, sagte sie tonlos. »Wirklich sehr leicht.« Sie schnappte sich die Schaufel und ging, um die Latrine auszuheben. Zähne gruben sich in den Ellbogen des Magiers und ließen ihn aufschreien. Er sah auf seinen Angreifer herab. Es war Wolke. »Hör auf damit, oder ich zünde dir unterm Schwanz ein Feuer an.« 55
Die Stute biß noch ein wenig fester zu und ließ dann seinen Arm los. »Dabei ging gerade alles so gut.« Onua striegelte die Ponys. »Sie hat sogar gelacht.« Numair rieb sich den Ellbogen. »Sie wird wieder lachen.« Dhana sonderte sich ab, und die Erwachsenen ließen sie in Ruhe. Nach dem Aufräumen machten sie das »Sitz-Ding«. Es war genau, wie Tahoi erzählt hatte. Sie atmeten so ruhig und gleichmäßig, als ob sie schliefen. Allein vom Zuschauen schlief Dhana tatsächlich ein. Am Morgen stand sie leise auf und schickte den Waschbären und den Marder, die beide die Nacht bei ihr verbracht hatten, weg. Sie haßte Entschuldigungen, aber wenn Onua und Numair ärgerlich waren, würde sie sich entschuldigen. Das Glück war auf ihrer Seite. Die schlechte Laune schien die normale Morgenlaune von Onua und Numair zu sein. Alle beide wollten nichts weiter als frühstücken und Weiterreisen. Dhana beließ es dabei. Wenn sie sich nicht über ihr Benehmen geärgert hatten, warum sollte sie sie daran erinnern? An diesem Tag kamen sie ein gutes Stück weiter. Nach beendetem Abendessen und nachdem der Abwasch getätigt war, streckte sich Numair. »Komm, Onua, gehen wir. Ohne Übung kommst du nicht weiter.« Dhana fragte: »Was ist denn diese Sitz-Geschichte?« Beide sahen sie verständnislos an. »Ihr wißt schon, was ihr jetzt macht.« »Meditation«, sagte Numair. »Sie klärt die Gedanken und bringt sie zur Ruhe. Wenn du die Gabe hast, hilft die Meditation dir, deine Gedanken zu lenken.« Nachdenklich sah er sie an. »Möchtest du es lernen?« »Ich habe die Gabe nicht.« Fing er jetzt schon wieder damit an? Numair zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht nur für diejenigen, welche die Gabe besitzen. Ich habe dir ja gesagt, es beruhigt das Gemüt. Es hilft dir, deine Gedanken in den Griff zu bekommen.« »Es hilft dir zu entscheiden, was du willst«, fügte Onua hinzu. »Und wie du es bekommen kannst.« Dhana scharrte mit dem Fuß im Sand. »Ist es schwer?« Beide lächelten. »Das weißt du erst, wenn du es versuchst«, sagte Numair. 56
Dhana zuckte mit den Achseln und setzte sich zu den beiden anderen im Schneidersitz auf den Boden. »Und was jetzt?« »Hände auf die Knie. Sitz gerade. Schließ deine Augen, laß deine Gedanken leer werden. Das genügt für heute abend. Laß einfach deine Gedanken los.« Dhana hörte Tahoi seufzen. Nun hatte er niemand mehr zum Spielen. Am nächsten Morgen waren sie noch nicht weit von ihrem Lager entfernt, als Reiter sie auf der Straße überholten: Alanna und die Männer der königlichen Leibgarde. Dhana war überrascht, die Löwin, die vorher so freundlich gewesen war, nun blaß vor Zorn zu sehen. Dunkelmond war ebenso wütend wie seine Herrin. Er bäumte sich auf und tänzelte unruhig hin und her, bis Dhana zu ihm trat. Langsam beruhigte er sich unter ihren Händen. »Er ist weg«, erzählte die Ritterin. »Wie es aussieht, floh er in derselben Minute, als er erfuhr, daß du in Sicherheit bist. Er soll verflucht sein! Seine Verliese…« »Ich weiß«, flüsterte Numair. Er sah plötzlich müde aus. »Ich verstehe nicht«, begehrte Onua auf. »Ihr habt sie durchsucht?« »Haben wir.« Alanna rieb sich den Nacken. »Seine Diener behaupteten, die Sturmflügel seien mit einer Kiste gekommen, die einer Sänfte ähnelte. Er stieg hinein, und sie flogen mit ihm fort.« Die Löwin seufzte. »Also gut, wir müssen zum König. Kommt jetzt, so schnell ihr könnt. Und achtet darauf, euer Lager nachts gut abzusichern!« »Machen wir«, versicherte Numair. »Bis dann, im Palast.« Die Ritterin und Hakim nickten, und innerhalb weniger Momente war die ganze Truppe galoppierend ihren Blicken entschwunden. Vier Tage später erreichten Onua und ihre Gefährten eine Hügelkuppe, und Dhana kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Vor ihnen dehnte sich ein Tal aus, das von einem Fluß durchschnitten wurde. Eingebettet in dieses Tal lag eine von Mauern umgebene Stadt mit mehr Häusern, als Dhana zählen konnte. Im Herzen des Tales verbanden drei Brücken die Nord- und Südufer, und von allen Seiten führten Straßen in die Stadt. Im Westen wuchs die Stadt über ihre 57
Mauern hinaus. Landgüter und Tempel zogen sich einen langen Hang hinauf. Über allem erhob sich eine durch hohe Mauern abgeschirmte Burg. Ihre Türme, von denen Fahnen in leuchtenden Farben flatterten, schimmerten in der Morgensonne. Eine kleine Kuppel dazwischen funkelte silbern wie eine Riesenperle. Schwarze Punkte, die von fern aussahen wie Ameisen, stiegen eine breite, weiß gepflasterte Straße von der Stadt herauf, um sich vor den Mauern zu zerstreuen und durch mehrere Tore hineinzuströmen. »Das ist der Palast«, sagte Numair. »Das Heim des ungewöhnlichsten königlichen Paares der Geschichte, und ihres seltsamen Hofstaates.« »Ich glaube nicht, daß ›ungewöhnlich‹ und ›seltsam‹ die richtigen Worte sind«, protestierte Onua, und Tahoi bellte zustimmend. »Wohnst du dort?« fragte Dhana. Er schüttelte den Kopf. »Ich lebe im Süden, an der Küste. Allerdings gibt es hier Räume für mich.« Er sah Onua an. »Gehen wir weiter?« Sie nickte. Die Straße führte sie um die Stadt herum, bis sie zu einer Brücke über einen tiefen Graben kamen. Hier war die Stadtmauer nur vier Meter hoch. Hinter einem Tor aus Holz und Eisen lag die kleine Stadt. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach geschmolzenem Kupfer, nach Tannen, Kühen, frisch geschnittenem Gras und Gebackenem. All dies, sagte Numair, diene dazu, den Palast zu versorgen. Dhana schüttelte ehrfurchtsvoll den Kopf. Wächter in Kastanienbraun und Beige winkten sie über die Brücke. Hinter dem Tor deutete Numair auf den Palast. »Ich gehe dorthin, ich muß Bericht erstatten.« Tränen verschleierten Dhanas Augen. Du wußtest, daß er eines Tages weggehen würde, schalt sie sich selbst, jetzt ist es soweit. Sei kein Baby, er hat wichtige Dinge zu erledigen! Eine große Hand klopfte ihr auf die Schulter. »Nur vorübergehend«, sagte Numair. »Wir sehen uns bald wieder.«
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Onua grinste, als er sie auf die Wange küßte. »Du kannst es nicht erwarten, deine Bücher wieder in die Hände zu bekommen. Ich kenne doch diesen Ausdruck in deinen Augen.« »Du hast recht«, bekannte Numair. »Paß gut auf unsere Dhana auf.« Er winkte und eilte auf den Palast zu, die Hände in den Hosentaschen. »Komm«, sagte Onua. »Hier entlang.« Dhana folgte ihr und bewunderte dabei die hoch aufragenden, verschiedenen Stockwerke des Palastes. Flügel und Türmchen in vielerlei Stilformen zeugten von Um- und Anbauten über viele Jahre hinweg. Sie sah auf einen Blick mehr Glas als bisher in ihrem ganzen Leben. Ihre Nase nahm den Duft exotischer und einfacher Blumen auf. Ihre Ohren waren erfüllt vom Knarren der Wagen, dem Rufen vieler Menschen und dem Klirren von Metall. Onua führte sie hügelabwärts. Sie kamen an vielen Gebäuden vorbei, die größten darunter waren Ställe, erfüllt vorn Geruch nach Pferden. Dhana hätte dort gerne haltgemacht, aber Onua ging weiter. Vor ihnen lagen Wiesen, auf denen friedlich Tiere grasten. Dahinter begann der Wald. »Der königliche Forst«, sagte die K’mir. Die Straße endete bei den Wiesen, auf denen zwei lange Holzgebäude standen. Das eine war ein weiterer Stall, sauber und ruhig. Das andere, mit dem Stall durch einen überdachten Gang verbunden, war eine Art Truppenunterkunft. Davor stand ein hoher Mast, an seiner Spitze wehte eine Fahne. Als wollte er das Banner zeigen, griff der Wind hinein und breitete es aus. Auf goldbraunem Feld bäumte sich ein rotes Pferd auf. »Die königliche Reiterei«, sagte Onua. »Mein Zuhause, oder zumindest das, was jemand wie ich als Zuhause braucht! Bringen wir die Ponys auf die Weide, dann unterhalten wir uns.«
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4 Die Reiter der Königin Sie luden das Gepäck ab und brachten die Ponys auf die Weide, dann folgte Dhana Onua in das zweistöckige Unterkunftsgebäude. Onua stieg eine Treppe hinauf und führte Dhana durch eine rotgestrichene Tür. Dahinter lag ein großer Raum mit zwei Reihen von Betten, sechs in jeder Reihe. Am Fußende eines jeden Bettes stand eine Kommode. Die K’mir holte einen Schlüssel aus ihrer Gürteltasche und schloß einen Raum nicht weit von der Tür auf, in dem sich ein Bett, verschiedene Kisten, ein Schreibtisch und ein Bücherregal befanden. Mit einem Seufzer setzte sie ihr Gepäck auf dem Boden ab und bedeutete Dhana, dasselbe zu tun. »Ich bin nicht oft hier, aber ich freue mich immer, dies alles wiederzusehen.« Sie öffnete die Fensterläden und warf sich aufs Bett. »Zieh dir einen Stuhl her.« Dhana gehorchte. Die Frau lächelte sie an. »Und nun zu deiner Zukunft. Ich hätte es gern, wenn du bei mir bleiben würdest, du bist die beste Gehilfin, die ich jemals hatte. Wenn du das nicht willst, nun, du hast viele Möglichkeiten. Alanna würde dir Arbeit geben, hier oder in Piratenbeute. Numair könnte dasselbe tun. Beide haben gesagt, sie werden dich dem König gegenüber erwähnen.« Dhana schüttelte den Kopf. Die Straße war eine großartige Sache, die Menschen mochten dort vielleicht ihre Stellung im Leben vergessen. Hier ging das normale Leben weiter. Hochgestellte Personen wie Alanna zerbrachen sich ihre Köpfe sicherlich nicht über ein heimatloses Mädchen aus Galla. Umgeben von Wohlstand und mit seiner Magie beschäftigt, hatte auch Numair sicherlich anderes im Kopf. Onua zog einen Lederbeutel aus ihrer Tasche und gab ihn Dhana. »Das ist dein Lohn und die Prämie. Du kannst hier schlafen, bis du dich entschieden hast.« 60
»Redet keinen Unsinn«, sagte Dhana zu ihr. »Ich werde auf jeden Fall für Euch arbeiten.« Onuas Gesicht hellte sich auf, sie grinste. »Willst du nicht die Bedingungen erfahren?« Dhana hatte den Beutel geöffnet und starrte auf den Inhalt: eine Handvoll Silber und zwei Goldmünzen. »Habt Ihr mich nicht überbezahlt?« fragte sie erstaunt. Onua lachte. »Du hast dir jeden Penny verdient, Kind.« Sie zählte an den Fingern ab: »Du hast gegen Sturmflügel und Spinnenungeheuer gekämpft. Du hast Numair gefunden und gepflegt. Und das alles zusätzlich zu dem, wofür ich dich ursprünglich bezahlen wollte. Nein, keine Widerrede. Hör zu: Die Arbeit hier bringt zwei Kupfermünzen täglich, dazu Unterkunft und Verpflegung. Für besondere oder außergewöhnliche Aufgaben gibt es eine Extrazulage. Du hilfst mir bei den Reitschülern, bei der Auswahl der Reitpferde, beim Trainieren, Striegeln und so weiter. Jeder Schüler hat zwei Pferde, eines ist also immer frei. Du weißt ja, wie diese Ponys sind, eines ist für die meisten Menschen schon eine Aufgabe, geschweige denn zwei!« Dhana kicherte. »Eure Schüler tun mir leid.« »Das müssen sie nicht. Entweder sie lernen, oder sie versagen. In ein paar Wochen gehen wir alle ins Trainingslager, und bis dahin muß dafür gesorgt sein, daß die Schüler ihre Ponys nicht mißhandeln. Du hast eine Menge Freizeit. Deine gesellschaftliche Stellung ist höher als die der Schüler, denn du weißt, wie man mit Pferden umgeht, sie nicht. Laß dich von ihnen nicht herumkommandieren. Die meisten der faulen Äpfel gehen ohnehin nach etwa einer Woche wieder heim und heulen sich bei Manu aus.« Onua grinste. »Nun, was hältst du davon?« In Dhanas Kopf drehte sich alles. »Ich bleibe!« Sie schüttelten einander die Hände. »Da bist du ja wieder!« Ein Mann und eine Frau kamen herein. Die Frau war eine kleine K’mir mit einem breiten Gesicht, das weniger freundlich dreinsah als Onuas, und schwarzen anstatt grau-grünen Augen. Der Mann war groß, sogar noch größer als Numair und sehr kräftig. Seine Haut war dunkelbraun, sein kurzgeschnittenes Haar sah 61
aus wie schwarzer Draht. Rosige, durchscheinende Haut wie von alten Wunden zog sich um seine Handgelenke. Onua umarmte die Besucher. »Dhana, das ist Buriram Tourakom, die Befehlshaberin der Reiterei. Und das hier ist Sarge.« Zu den Erwachsenen sagte sie: »Dhana ist meine Gehilfin. Sie ist jung, aber sie ist ihr Gewicht in Gold wert.« Dhana errötete und blickte zu Boden. »Onua!« »Sie ist mit Lob nicht gerade freigebig«, sagte Buri. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Wenn Onua Gutes über dich sagt, dann stimmt das auch. Willkommen.« Sie reichte Dhana die Hand, und auch Sarge streckte die Hand aus. Dhana war erleichtert, an deren Händen die Schwielen zu fühlen, die ihr verrieten, daß die beiden hart arbeiteten. »Übrigens«, sagte Buri, »wir haben gerade Numair getroffen. Scheint, daß ihr ziemlich harte Zeiten hinter euch habt.« »So schlimm war es auch wieder nicht«, erwiderte Onua. »Wie geht’s hier?« »Wie immer.« Buri lehnte sich gegen die Mauer. »Die neue Klasse ist bereit. Wir fangen nach dem Mittagessen an. Die übliche Bande von patschhändigen Kaufleuten und Farmerbabys.« »Wir haben zwei aus der dritten Reitergruppe verloren, einen aus der fünften«, fügte Sarge hinzu. Er saß auf dem Fußboden und reichte Dhana trotzdem bis zur Hüfte. »Die Hälfte der ersten Reitergruppe steht auf der Ausfall-Liste, aber nichts von Dauer.« Dhana stand auf. »Entschuldigung«, sagte sie. »Onua, ich gehe hinaus und schau’ nach der Herde.« Ihre Freundin lächelte. »Geh nicht zu weit weg.« »War nett, dich kennengelernt zu haben, Dhana«, sagte Sarge zu ihr. »Wir machen uns später noch näher bekannt. Es ist nur so…« Dhana lächelte und verabschiedete sich winkend. Ein bißchen neidisch war sie schon. Onua hatte ein Zuhause und Freunde. Aber sie kämpfte diesen Neid nieder. Sie verließ die Unterkunft und kletterte über den Zaun auf die Pferdeweide. Die Tiere, die sie und Onua hergebracht hatten, hielten sich im Hintergrund. Fremde Ponys umdrängten sie. Jetzt mischten sich die Ponys, die sie kannten, unter die fremden und dokumentierten, daß sie eigentlich ihre Herrin war. Dhana 62
kicherte, als sie mit den Köpfen stießen und mit den Schwänzen peitschten. Sie brauchte wirklich nicht neidisch auf Onua zu sein. Nicht, solange sie solche Freunde hatte. Sie merkte nicht, daß die Zeit verging. Als eine große Glocke läutete, fuhr sie zusammen. Später erfuhr sie, daß man die Glocke in der ganzen Stadt hörte. »Das ist die Mittagsglocke.« Dhana hatte die Frau am Zaun zuerst nicht gesehen. »Zeit fürs Mittagessen.« Sie lächelte. »Oder möchtest du lieber mit der Herde grasen?« Sie hatte eine tiefe, klare Stimme. Dhana grinste und löste sich von ihren Freunden. Sie sah sich beim Näherkommen die Frau gut an. Sie trug einfache Reithosen und ein Hemd, aber an ihr sahen die Kleidungsstücke wie die teuersten Gewänder aus. Eine Flut von kohlschwarzem Haar war zu einem Zopf geflochten und um den Kopf gewunden. Sie hatte braune Augen unter geraden Brauen, elfenbeinfarbene Haut und einen vollen, roten Mund. Ihre stolz geschwungene Nase war nicht gerade klassisch, aber sie paßte zu ihr. Ihr einziger Schmuck bestand aus einem Diamanten an ihrem Ehering und Diamanten an den Ohrläppchen, aber mehr Schmuck brauchte sie auch nicht. Sie war die schönste Frau, die Dhana jemals gesehen hatte. Die Frau hatte etwas gesagt. Dhana wischte sich die Hände nervös an ihren Röcken ab und kam zum Zaun. »Entschuldigung, ich hab’ Euch nicht verstanden.« »Du siehst aus wie Chavi Westwind.« Sie legte Dhanas Erstaunen falsch aus und erklärte: »Chavi ist für ihre Pferdemagie bekannt. Sie ist eine Göttin in der Gegend, woher ich komme, eine der vier…« »Pferde-Herrinnen. Onua hat mir davon erzählt. Bian Nordwind, Shai Südwind, Vau Ostwind und Chavi. Aber das sind K’miri-Götter. Entschuldigt, wenn ich das sage, aber Ihr seht nicht wie eine K’mir aus.« Die Frau fuhr sich über den Nasenrücken. »In meiner Familie ist schlechtes Blut. Ich bin auch nur eine halbe K’mir. Du bist eine Freundin von Onua?« »Ich arbeite für sie.« Die haselnußbraunen Augen sahen sie scharf an. »Du bist Dhana.« Lächelnd erklärte sie: »Neuigkeiten verbreiten sich schnell hier. Daran 63
wirst du dich gewöhnen.« Sie reichte ihr eine kleine, zarte Hand. Dhana schüttelte sie und spürte Schwielen an den Handflächen. Erleichtert lächelte sie die Fremde an. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, sie würde mit einer Adligen sprechen. Sie hatte noch nie eine Adlige kennengelernt, mit Ausnahme der Löwin, und sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte. Was sollte sie zu so jemand sagen? »Gehen wir essen«, sagte die Frau. »Ich bin am Verhungern, und du wahrscheinlich auch.« Dhana kletterte über den Zaun. »Ich glaube, die halbe Stadt kennt schon meinen Namen«, brummte sie, als sie sich auf den Weg zum Haus machten. »Habt Ihr mir den Euren schon gesagt?« »Nein. Ich bin Thayet.« »Die Königin?« »Nur, wenn ich es nicht vermeiden kann«, sagte Thayet von Tortall. »Bitte, werde jetzt bloß nicht förmlich. Wir haben uns so nett unterhalten.« Dhana runzelte die Stirn. »Du meine Güte, das ist vielleicht ‘ne komische Gegend. Ritterinnen, die sagen, ich soll sie beim Vornamen nennen, Zauberer, die Feuer anzünden, und Königinnen, die in Kleidern wie normale Menschen herumrennen.« Thayet lachte. »Kein Wunder, daß Alanna und Numair dich mögen. Du hast eine sehr ungewöhnliche Art, die Dinge zu betrachten.« Dhana wurde rot. »Entschuldigung. Ich bin hier nur so… durcheinander.« »Das ist normal«, versicherte die Königin ihr. »Mir war früher genauso zumute.« Sie betraten das Haus. »Nach dem Mittagessen fühlst du dich schon besser.« Thayet führte Dhana durch eine Tür und ins Chaos. Der Raum war voll langer Holztische und -bänke. Ein Drittel davon war von Männern und Frauen im Alter um die Zwanzig besetzt, die lärmten und lachten. Dhana machte es Thayet nach, die sich ein Holztablett nahm und zur Essensausgabe im hinteren Teil des Raumes ging. Die Bediensteten dort bestätigten die Identität der Frau, jeder verbeugte sich respektvoll und nannte sie »Majestät«, während er Brot, Käse, Schüsseln mit Eintopf, Obst und Becher voll Apfelwein auf ihr Tablett und das von Dhana stellte. 64
»Thayet, da seid Ihr ja!« Buri trat zu ihnen. »Wir haben nach Euch gesucht. Onua sagte, sie und Dhana seien mit Sturmflügeln und einer Art von Spinnen mit Menschenköpfen zusammengetroffen…« Sie führte die Königin zu einem Tisch am oberen Ende des Raumes, wo Onua und Sarge warteten. Onua winkte Dhana zu sich, aber das Mädchen wollte nicht dort sitzen, unter aller Augen. Sie ging lieber zu einem leeren Tisch in einer Ecke. Aber ich bin jünger als alle anderen hier, dachte sie. Wie kann ich sie dazu bringen, auf das zu hören, was ich sage? Ein Mädchen setzte sich ihr gegenüber. »Hallo!« Sie hatte jungenhaft kurz geschnittenes dunkles Haar und grüne Augen, in denen der Schalk tanzte. Mit ihrer Stupsnase, dem Grübchen im Kinn und einem Anflug von Sommersprossen sah sie wie der reinste Übermut aus. »Ich bin Miri. Bist du eine neue Schülerin?« Dhana schüttelte den Kopf. »Ich arbeite für Onua, die Pferdemeisterin. Ich werde euch wohl bei den Ponys helfen.« »Gut, wir brauchen mehr Mädchen. Es gibt hier zu viele Jungen.« Miri streckte ihre Zunge einem großen, blonden Jungen heraus, der sich mit seinem Tablett neben Dhana setzte. Er lächelte. »Macht es dir etwas aus, wenn ich hier sitze?« Sie schüttelte den Kopf. Er hatte ein sehr freundliches Lächeln und strahlendblaue Augen. »Evin Larse.« Er setzte sich und streckte ihr die Hand hin. Dhana nahm sie. »Dhana Sarrasri.« Er griff nach ihrem Ohr und schien ein Brötchen daraus hervorzuziehen. »Hast dich heute morgen nicht gewaschen, stimmt’s?« Er schmierte sich Käse auf das Brötchen und grinste über Dhanas offensichtliche Verwirrung. »Meine Familie besteht aus Schauspielern«, erklärte er. »Ich hab’ ‘ne Menge nutzloser Talente.« »Sie wird uns mit den Ponys helfen«, sagte Miri. »Ich brauche jede Hilfe, die ich nur kriegen kann«, informierte sie Dhana. »Bis vor zwei Wochen konnte ich die Zeiten an einer Hand abzählen, in denen ich mich auf einem Pferd halten konnte.« »Du machst deine Sache schon gut«, beruhigte Evin sie. Er sah Dhana an. »Sie hat die Pferde in den Stallungen des Palastes versorgt.« 65
»Aber diese Ponys sind anders«, protestierte Miri. »Du hast ja Sarge gehört. Sie machen Schwierigkeiten, sind niederträchtig und beißen.« Dhana grinste. »So schlimm sind sie nicht. Es gibt ein paar nette darunter. Du wirst schon sehen.« Sie blickte um sich und dachte, daß sie das letztenmal auf dem Markt in Cria eine derart zusammengewürfelte Menge Leute gesehen hatte. Es waren noch zwei andere Schwarze da, drei sehr braune junge Leute, und fünf, die mehr blond waren, hellhäutig und blauäugig wie Scanrans. Alle übrigen konnten aus allen möglichen Königreichen um den Fluß Drell kommen. »Du siehst so beeindruckt aus«, sagte Evin zu ihr. »Das sind alles bloß Reitschüler wie Miri und ich.« »Ja, aber was für Voraussetzungen sind nötig, um Schüler zu werden?« fragte sie. »Wie seid ihr beide dazu gekommen? Wenn ihr mir die Frage nicht übelnehmt.« »Oh, man braucht sich bloß in Listen einzutragen«, sagte Miri. »Sie liegen in allen Schulen und Rekrutierungsstellen in der Stadt aus.« »Du mußt fünfzehn oder älter sein«, sagte Evin, »und natürlich gesund.« »Alleinstehend«, fügte Miri hinzu, »keinen Ehepartner oder Kinder. Es ist hilfreich, wenn du reiten kannst, aber es wird nicht verlangt. Mich haben sie schließlich auch genommen, und ich kann lediglich Wellenreiten. Ich komme nämlich von den Fischern am Meer.« »Du brauchst ein gutes Reaktionsvermögen«, fuhr Evin fort. »Du mußt lesen und schreiben können. Für Tortall-Leute ist das kein Problem, seit neun Jahren sind die Schulen für jedermann offen. Diejenigen, die nicht lesen können, bekommen Arbeit im Palast, bis sie es gelernt haben. Ich glaube, das ist alles. Oh, und du mußt bis zum März-Vollmond hiersein. Da beginnt nämlich jedes Jahr das Training.« »Das ist alles?« fragte Dhana überrascht. »Viel ist das nicht!« »Ist es auch nicht«, sagte Evin. »Das Problem ist nicht, wie man zu den Reitern kommt, dabeizubleiben ist die Schwierigkeit! In den letzten zwei Wochen haben wir zehn verloren, krank, wollten keine Befehle ausführen, konnten noch immer nicht mit dem Zeitplan 66
zurechtkommen. Bis zum Ende des Sommers werden noch weitere abspringen.« Sarge erhob sich und rief mit donnernder Stimme: »Paßt auf, Schätzchen! Heute ist euer letzter Tag, an dem ihr auf Kosten des Königs euren Spaß habt.« »Uns über die Weiden zu hetzen, das nennt der Spaß!« flüsterte Miri Dhana zu. »… Hier ist Onua, unsere Pferdemeisterin.« Onua stand auf und nickte allen zu. »Dhana – steh auf, Mädchen…« Dhana gehorchte. »… ist ihre Gehilfin.« Dhana setzte sich gleichzeitig mit Onua. »Sie brachten den Rest der Ponys, die wir brauchen«, fuhr Sarge fort. »Jetzt sind wir soweit, daß wir mit der richtigen Arbeit beginnen können. Bis zum Glockenschlag habt ihr Zeit, das zu tun, was nötig ist. Mit dem Glockenschlag kommt ihr zur Koppel.« Er klatschte in die Hände. »Sitzt nicht rum und haltet Maulaffen feil, Kinder, ihr werdet heute eure Ponys in Empfang nehmen. Bringt eure Tabletts in die Küche und dann raus hier!« Onua nahm Dhana beiseite. »Wie steht’s mit dem Schlafen? Ich meine, ich kann dir ein Feldbett in mein Zimmer stellen oder in eine Vorratskammer, oder du kannst bei den Mädchen schlafen. Wie du willst.« »Bitte, Pferdemeisterin…« Es war Miri. »Wenn niemand was dagegen hat, könnte Dhana neben mir schlafen… wenn du willst, Dhana.« Dhana überlegte und nickte. »Gut«, sagte Onua. »Nach dem Abendessen kannst du Dhana ihr Bett zeigen. Aber würdest du uns jetzt entschuldigen? Ich möchte sie einiges fragen.« Das Mädchen nickte und rannte die Treppe hinauf. Onua und Dhana folgten ihr langsamer. »Ich bin froh, daß du Freundschaften schließt«, sagte die K’mir. »Es ist gut für dich, junge Leute deines Alters zu treffen. Hör zu, ich muß dich etwas fragen…« Sie deutete auf Dhanas Röcke. »Ist dir in diesen Kleidern denn nicht heiß?« Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Mädchen runzelte die Stirn. Die ganze Litanei, die sie ihrer Mutter seit Jahren vorgebetet hatte, sprudelte ihr über die Lippen: »Heiß im Sommer, kalt im 67
Winter, dauernd verheddern sie sich oder bleiben irgendwo hängen oder werden klatschnaß, sie sind unpraktisch, schwer…« Onua lächelte. Sie erkannte, da machte sich jahrelanger Arger Luft. »Warum trägst du sie dann? Hol dir ein Paar Hosen und ein Männerhemd.« Dhana schnappte nach Luft. »Männersachen? Ihr meint, ich soll Männersachen tragen? Damit sich alle über mich den Mund zerreißen?« Onua schüttelte den Kopf. »Du bist hier nicht mehr in Galla. Hier herrschen andere Bräuche.« Dhana wollte etwas erwidern, ließ es dann aber bleiben. Sie sah an ihren Röcken hinunter. Wenn sie die loswerden könnte, und die Unterröcke… Es traf sie wie ein Schlag, wirklich wie ein Schlag, daß sie Winterthal entronnen war. Was konnten sie ihr jetzt noch antun? Aus dem, was Evin und Miri gesagt hatten, schloß sie, daß die Reiter aus allen Bevölkerungsschichten kamen. In Galla war sie die Fremdartige gewesen, hier unterschieden sich alle voneinander. Diese Leute hier kümmerten sich vermutlich nicht darum, ob ihre Mutter eine Hexe war. Vielleicht wäre es ihnen sogar gleichgültig, daß ihr Vater unbekannt war, irgendein Mann, den ihre Mutter einmal getroffen und dann nie wiedergesehen hatte. Aber sicher wäre es ihnen nicht gleichgültig, wenn sie wüßten, daß du schon mal verrückt geworden bist, warnte eine winzige Stimme in ihrem Inneren. Darüber hältst du am besten den Mund! Onua ließ Dhana nachdenken und sah sich belohnt, als die blaugrauen Augen des Mädchens aufleuchteten. »Ich würd’ liebend gern Hosen anziehen.« »Dann komm mit.« Onua ging mit ihr aus dem Mädchenschlafsaal und den Gang entlang. »Das ist Männergebiet«, sagte sie und deutete auf eine gelbe Tür. »Tabu für Frauen, genau wie unser Bereich tabu für sie ist.« Im Lager sah eine große Frau mit rotgoldenem Haar und ungemein freundlichem Gesicht von ihrem Schreibtisch auf. »Onua, willkommen!« Sie kam um den Tisch herum und umarmte die K’mir. »Deine Gehilfin?« fragte sie. 68
»Dhana, das ist Kuri Tailor, sie ist für die Mädchen verantwortlich. Wenn du irgend etwas brauchst, mußt du Kuri fragen.« Onua legte Dhana den Arm um die Schultern. »Kuri, sie braucht Reithosen und Hemden. Dhana, ich hasse es, so herumzuhetzen, aber ich muß unbedingt mit Sarge sprechen. Kommst du zurecht?« Das Mädchen nickte. »Wenn du fertig bist, komm raus auf die Weide, und wir werden sehen, daß wir diese Zweibeiner auf die Pferde raufbekommen.« Sie verließ den Raum. »Der erste Tag ist immer ein bißchen verrückt«, erklärte Kuri. »Sie fangen immer an, sobald Onua kommt, deshalb muß sie sich beeilen.« Sie nahm rasch Dhanas Maße. »Bis heute abend habe ich andere, aber nimm fürs erste diese hier.« Aus einem Stapel selbstgesponnener Kleidungsstücke wählte sie ein Paar abgetragener Reiterhosen und ein geflicktes weißes Hemd. »Es hat keinen Zweck, gute Kleidung anzuziehen, wenn du mit den Pferden arbeitest«, erklärte sie. »Geh hinter diesen Wandschirm und probier das an, wir wollen einmal sehen, ob dir die Sachen passen.« Hinter dem Wandschirm zog Dhana mit zitternden Händen das Hemd und die Hosen an. Zweifellos waren die anderen Mädchen an derartige Sachen gewöhnt. Sie hatte gesehen, daß sie alle Kniehosen trugen. Aber sie hatte ein wenig Angst. Als sie angezogen war, trat sie vor den Wandschirm. »Was ist los?« Kuri kam und zog und zupfte an den Kleidungsstücken herum. »Das sind Männersachen«, erklärte Dhana schüchtern. »Die Priester und der Dorfälteste daheim wären damit niemals einverstanden.« »Vergiß sie.« Kuri drehte sie um und überprüfte den Sitz der Sachen. »Du gehörst jetzt zu uns. Ich will damit nicht sagen, daß es hier nicht auch Leute gibt, die an dir herumnörgeln und dich kritisieren werden. So ist eben die menschliche Natur, was soll’s.« Dhana nickte. Das wußte sie nur allzu gut. »Aber hier ist das Leben das, was du aus ihm machst. Was du einmal warst, zählt nicht. Schau Sarge an, er war früher Sklave. Onua ist von ihrem Mann verprügelt und halbtot liegengelassen worden. Ihre Majestät, die Königin, und Befehlshaberin Buri mußten aus Saraine fliehen. Begreifst du, was ich sagen will?« 69
Das waren ein paar dicke Brocken. Es war unmöglich, sich vorzustellen, daß Onua von jemandem geschlagen und verlassen worden war. Und Sarge? »Ich… ich glaube schon.« Die Glocke schlug einmal an und ließ Dhana zusammenfahren. »An die Glocke muß man sich auch erst gewöhnen«, sagte die Frau mit einem Seufzer. »Wie oft läutet sie denn?« fragte das Mädchen und zog sich die Stiefel an. »Jede Stunde bis in den späten Abend. Das muß so sein, weil hier so viele Leute Unterrichtsstunden haben.« Kuri lächelte. »Alles in Ordnung?« »Ja.« Dhana lachte sie an. »Danke.« »Willkommen im Verein, Schätzchen«, rief die Frau ihr nach, als sie aus dem Zimmer rannte. Onua, Buri und Sarge warteten mit einem Korb voller Äpfel am Zaun. Dhana kam gerade dazu, als Onua Miri alle Taschen mit Obst vollstopfte. »Du mußt sie bestechen«, sagte sie und scheuchte das widerstrebende Mädchen durch das Tor, das Sarge aufhielt. »Was soll ich tun?« fragte Dhana. »Tu, was du für richtig hältst.« Onua betrachtete das Geschehen. »Du mußt dir bei den Schülern Autorität verschaffen, aber ich denke, das wird kein Problem sein. Halt einfach die Augen offen. Und denk daran, sie müssen zwei auswählen.« »Eines für den Vormittag, eines für den Nachmittag«, fügte Sarge grinsend dazu. »Du mußt dir Autorität verschaffen« zu sagen, war eine Sache, sie tatsächlich zu erlangen, eine ganze andere. Im Augenblick sah Dhana nur zu. Die meisten der Reitschüler begegneten den Ponys vorsichtig oder gelassen, je nach ihrer Veranlagung. Eine mausgraue Stute umkreiste Evin, als sei sie eine Katze. Dhana sah sich nach Miri um und merkte, daß sich da etwas zusammenbraute. Einige der boshafteren Tiere hatten gemerkt, daß das Mädchen Angst hatte. Sie blieben in Armeslänge vor ihr stehen und trieben ihre Scherze mit ihr, wobei sie mehr Zähne und Hufe zeigten als unbedingt nötig.
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So geht das nicht, dachte Dhana und sprang über den Zaun auf die Weide. Mit finsterem Gesicht steuerte sie auf die Unruhestifter zu. Wolke folgte ihr wie ein verlassener Hund. »Hört sofort auf damit!« befahl Dhana den Tieren. »Schämt euch! Haut ab und laßt euch ja nicht eher blicken, als bis ihr bessere Manieren erlernt habt!« Die Ponys schüttelten betreten die Mähnen und flohen. »Wenn sie eine Reiterin werden will, sollte sie wenigstens wissen, wie man reitet«, murmelte hinter ihr eine weibliche Stimme. Dhana sah sich um, aber keines der Mädchen erwiderte ihren Blick. »Bei uns daheim reiten nur Lords oder Kuriere«, erklärte Miri und machte ein verlegenes Gesicht. »Ich hab’s ja geübt. Es ist nur, es sind so viele, und sie sind so lebhaft.« Dhana legte ihr die Hand auf die Schulter. Ihre neue Freundin war kräftig gebaut, muskulös und mit einer Lebensfreude, die sie beinahe spüren konnte. »Schau, hier sind ein paar, die dir gefallen werden.« Sie deutete auf eine Gruppe von Ponys, die auf der offenen Weide um einen Zaun herumliefen. »Aber dazu muß ich durch die ganze Herde gehen«, flüsterte das ältere Mädchen. Dhana steckte die Hände in ihre Hosentaschen. »Ich hab’ gesehen, wie du dich am Zaun entlanggedrückt hast. Weil du schüchtern bist?« »Ich glaub’ nicht, daß schüchtern das richtige Wort ist«, gestand Miri. »Psst. Diese Ponys sind nett, aber sie sind auch schüchtern. Wenn du dich mit ihnen bekannt machen willst, mußt du den ersten Schritt tun. Es sind Tiere, sie können nicht wissen, daß du dich am Zaun festgehalten hast, weil du schüchtern bist.« »Es kann auch nicht schlimmer sein, als durch einen Sturm zu segeln«, sagte Evin, der in der Nähe stand. »Das hab’ ich nur einmal gemacht.« Miri sah zu der Herde und den scheuen Ponys hinüber, schluckte… und marschierte darauf zu. Dhana und Wolke folgten ihr zum Baum. »Komm her, Junge.« Das Pony, das Dhana zu sich heranwinkte, war ein Wallach mit schwarz weißem Fell. Mähne, Schwanz, Kopf und Socken waren schwarz. »Ich möchte dich jemandem vorstellen.« Das Pony näherte sich vorsichtig von der Seite, bis es hinter Dhana 71
stand, und beäugte seine menschliche Freundin. »Der Bursche da ist ein Rappschecke. Wir sind zusammen gekommen.« Dhana warf einen Blick über ihre Schulter. »Komm jetzt vor und begrüße Miri. Wenn du sie nett darum bittest, gibt sie dir vielleicht einen Apfel.« Bei dem Wort »Apfel« schnellten die Ohren des Ponys nach vorn. Vorsichtig kam es hinter Dhana hervor und näherte sich dem älteren Mädchen. »Er ist wunderschön.« Zaghaft bot Miri ihm die Frucht an. Innerhalb von Sekunden war sie verschwunden, und das Pony untersuchte ihre Taschen nach weiteren Äpfeln. Dhana wies Miri nun weiter an: »Jetzt blase in seine Nüstern, aber ganz sanft. Auf diese Weise machst du dich mit ihm bekannt.« »Das kommt mir aber unhöflich vor.« Miri gehorchte und kicherte, als das Pony die Artigkeit erwiderte. »Weißt du, sie sind gar nicht so furchterregend, wie ich dachte.« »Tiere sind leicht zu verstehen«, sagte Dhana. »Du mußt nur wissen, wie man mit ihnen spricht.« »Du sprichst ja mit ihnen, als wären sie wirklich Menschen.« Miri lächelte, als sich der Wallach gegen ihre Hand drückte. »Sag das nicht so, als hätte ich irgendeinen Zauber«, sagte Dhana. »Ich hör’ das ständig, und es macht mich verrückt.« »Hängt ganz davon ab, was du meinst«, gab Miri zu bedenken. »Das Meer ist auch voller Magie, aber wir können sie nicht nützen wie die Gabe. Es ist nicht das gleiche. Mein Onkel ist ein Wellenbesprecher. Er schwimmt mit den Delphinen und redet mit ihnen. Da hast du einen Apfel«, sagte sie zu einer lohfarbenen Stute, die sich genähert hatte. Das Pony nahm ihn ganz vorsichtig. Bald schon bliesen sie einander ins Gesicht. »Geh ein bißchen mit ihnen herum«, schlug Evin vor, der zu ihnen trat. Die Zügel, die er in der Hand hielt, gehörten zu der mausgrauen Stute und zu einem großen Hengst, einer cremefarbenen Schönheit mit weißer Mähne und weißem Schwanz. »Dhana, was meinst du dazu?« Sie begutachtete beide. Evin hatte gut gewählt. Beide Tiere waren groß für Ponys, was bedeutete, daß sie zu Evins langen Beinen paßten. Der Hengst war ein prächtiger, lebenslustiger Bursche, genau wie der Schauspieler. Die Stute war von ihm hingerissen. 72
»Du hast Glück gehabt«, sagte Dhana. »Diese beiden werden alles für dich tun, wenn du sie richtig behandelst.« Evin grinste. »Ich bin froh, daß du mit meiner Wahl einverstanden bist.« Ein anderer Schüler, ein Rotschopf namens Padrach, rief Dhana zu Hilfe. Ehe sie es merkte, war der Nachmittag vorüber, und die Reitschüler führten ihre neuen Pferde in die Ställe zum Striegeln. Dhana, Onua, Buri und Sarge halfen ihnen. Dhana wußte nicht, wie sie es anstellen sollte, einem zwanzig Jahre alten Mann klarzumachen, daß er beim Striegeln Stellen ausließ. Sie versuchte es: »Entschuldigung, Schüler, wie hast du gesagt, daß du heißt?« Blaugraue Augen zwinkerten ihr über den Rücken einer cremefarbenen Stute zu. »Ich hab’ es noch gar nicht gesagt. Ich heiße Farant.« Dichtes, blondes Haar kräuselte sich um seinen Kopf. »Danke. Schüler Farant, du läßt einige Stellen aus.« »Keineswegs, Schätzchen. Ich kämme nur so schnell, daß du’s gar nicht sehen kannst.« »SCHÜLER FARANT, Du LÄSST STELLEN AUS!« donnerte Sarge direkt hinter Dhana. Später dachte sie, sie wäre in diesem Moment am liebsten im Boden versunken, wie bestimmt auch Farant. »WENN DIR DIE GEHILFIN DER PFERDEMEISTERIN DAS NÄCHSTEMAL ETWAS SAGT: FLIRTE NICHT, SONDERN KORRIGIERE DICH!« Er ging weiter, und Dhana preßte die Hände gegen ihre brennenden Wangen. Farant lehnte sich auf seine Stute und seufzte. »Ja, Gehilfin der Pferdemeisterin. Sofort.« Er zwinkerte ihr zu und machte sich wieder an die Arbeit. Dhana ging zu Sarge, während die Schüler ihre Arbeit beendeten. »Sarge, ich…« Er schüttelte den Kopf. Dhana fürchtete, die Stallwand würde einstürzen, wenn er sich noch ein bißchen fester dagegen lehnte. Wie konnte ein Mann, ohne daß Bärenblut in ihm floß, nur so groß werden? »War nicht dein Fehler. Diese Stadtjüngelchen sehen dich an, du bist jung, siehst süß aus…« Er lachte sie an. »Sie versuchend eben. Aber wenn ihre Gedanken nicht bei der Arbeit sind, nachdem ich sie 73
zwei Wochen lang in meinen rosigen Patschhändchen hatte, dann fress’ ich einen Besen.« Jetzt war sein Grinsen wölfisch. Als er ihr fassungsloses Gesicht sah, fragte er: »Ist was, Lämmchen?« Sie schloß den Mund wieder. »Nein. Ich hab’ nur noch nie jemanden wie Euch getroffen.« »Und wenn du Glück hast, wirst du’s auch nie mehr«, murmelte Buri, die gerade vorüberging. Nach der Stallarbeit gab’s ein Bad, ein heißes. Mit anderen Frauen zusammen in einem Zuber von der Größe eines Teiches zu baden, daran mußte sie sich auch noch gewöhnen, dachte Dhana. Aber wenigstens hatte sie massenhaft Seife zur Verfügung. Sauber gekleidet ging sie in den Speisesaal, wo Evin und Miri sie zu sich winkten. Ihr fiel auf, daß viel weniger geredet wurde als beim Mittagessen. Nach dem Essen räumten die Schüler die Tische ab und wischten sie sauber. Jetzt trat Kuri ans Kopfende des Saales. Buri und Sarge stellten hinter ihr eine Landkarte von Tortall auf, während sie selbst Bündel von Pflanzen auf einen Tisch vor sich legte. »Heute abend geht es um Heilkräuter«, verkündete sie, und die Schüler stöhnten. Sie lächelte. »So schlimm ist das nicht. Erinnert euch, letzte Woche brachte ich euch bei, wie ihr euch selbst eure Wunden vernähen könnt – ohne irgendwelche schmerzstillenden Mittel.« Dhana sah, wie Onua aus dem Saal schlüpfte, und folgte ihr. »Muß ich bleiben?« »Nein, natürlich nicht. Du bist ja keine Schülerin. Du kannst mir beim Auspacken helfen.« Das konnten ihre erschöpften Muskeln und ihr ausgelaugtes Hirn wohl gerade noch schaffen. Sie folgte Onua die Treppe hinauf in ihr Zimmer. »Müssen die Schüler denn die ganze Zeit lernen?« Sie setzten sich aufs Bett, während die K’mir ihre Gepäckstücke öffnete. »Kleider auf einen Stapel neben die Tür. Steh nicht auf, wirf sie einfach hinüber. Die anderen Sachen aufs Bett neben dich. Schriftrollen und Papiere gibst du mir.« Dhana machte sich an die Arbeit. »Nun, sie müssen das, was man aus Büchern lernen kann, jetzt lernen, solange wir hier sind. Wenn wir erst einmal im Sommer 74
Trainingslager sind, haben sie nicht mehr viel Zeit dafür. Unser diesjähriges Lager wird dir gefallen. Piratenbeute.« Dhanas Gesicht leuchtete auf. »Lady Alannas Zuhause?« »Genau.« Sie kehrte wieder zu dem zurück, was sie in Gedanken beschäftigte: »Was studieren sie? Die Schüler, meine ich.« Onua zählte an ihren Fingern ab: »Gifte, Heilkräuter, eßbare Pflanzen. Fährtenlesen und Jagen. Kartenlesen, Kartenzeichnen. Unsere Karten sind jetzt viel genauer, seit die Reiter helfen, sie zu zeichnen. Kampfstrategie. Den Umgang mit Waffen und Nahkampf. Den Unterricht im Nahkampf und in Kampftaktik, denn sie müssen später den Dorfbewohnern zeigen, wie sie sich selbst schützen können. Diejenigen, welche die Gabe besitzen, müssen lernen, was sie damit anfangen können. Tiermedizin. Ich denke, das wäre das Wichtigste.« »Und sie lernen das alles?« fragte das Mädchen entsetzt. Die K’mir lachte. »Sie tun ihr Bestes. Sie müssen, denn vor dem Winteranfang gehen sie zu Reitergruppen in die Außenbezirke, um mit ihrem Probejahr zu beginnen. Wenn sie das überleben, und heutzutage tun es die meisten, werden sie einer festen Gruppe zugeteilt. Warum? Denkst du etwa daran, auch zu den Reitern zu gehen?« »Jetzt nicht mehr!« rief Dhana leidenschaftlich. Onua mußte lachen. »Es fällt mir auch schwer, mir vorzustellen, daß du Soldat spielst, auch wenn die Soldaten eine noch so komische Figur machen.« Als Dhana später in ihrem Bett neben dem von Miri lag, dachte sie über das, was Onua gesagt hatte, nach. Es mußte schwer sein, mit jeder Minute des Tages zu rechnen, wie es die Schüler zu tun hatten. Da hätte sie ja keine Zeit mehr, neue Tiere kennenzulernen! Sie war schon fast eingeschlafen, als sie mit einem Ruck aufwachte und das Gefühl hatte, in einer Falle zu sitzen. Zuerst fiel ihr nicht einmal ein, wo sie war. Sie setzte sich auf und sah sich um. Die fünf Mädchen lagen schlafend in ihren Betten. Im ganzen Haus herrschte Ruhe. 75
Wenn sie jetzt keine frische Luft bekam, würde sie ersticken! Über ihrem Bett befand sich ein Fenster. Sie drückte die Fensterläden auf und hörte gerade den entfernten Ruf eines Wächters: »Die Stunde der Mitternacht, und alles ist gut!« Nachdem sie so viel auf dem Boden geschlafen hatte, kam ihr das Bett nun viel zu weich vor. Leise fluchend legte sie Decken und Kissen auf den Boden. Da war es zumindest hart und die Luft war auch kühler. Sie versuchte, wieder einzuschlafen. Miri drehte sich um und sagte deutlich: »Aber ich liebe Reiten.« Dhana setzte sich auf, um zu dem Mädchen hinüberzuschauen. Es schlief fest. Dhana legte sich wieder hin. Die Dachsklaue lastete schwer auf ihrer Brust. Als sie sich auf die Seite drehte, hätte die Kordel sie beinahe erwürgt. Sie lockerte sie und schloß die Augen. Leintücher und Decken raschelten. Ein blondes Mädchen, das sie im Bad angeschnauzt hatte, schnarchte. Ein anderes drehte sich hin und her und schien stundenlang zu brauchen, ehe es endlich still lag. Draußen hörte Dhana einen Hund bellen. Hinter ihren Schläfen wuchsen Kopfschmerzen. Sie vermißte es, Tiere dicht neben sich zu haben. Zu Hause hatte sie ein ebenerdiges Zimmer gehabt. Selbst im Winter ließ sie die Läden einen Spalt offenstehen und fror niemals. Ihre Freunde hielten sie immer warm. Entnervt schnappte sie sich ihre Hosen von der Kommode vor ihrem Bett. Ihre Reiseausrüstung war auch dort, einschließlich ihrer Bettrolle. Es war das Werk von Sekunden, sich anzuziehen. Mit ihrer Bettrolle unter dem Arm rannte sie die Treppe hinunter und nach draußen. Die Nachtluft war eine Erleichterung. Glücklich sog sie den Duft von Wäldern und Feldern ein, sie fühlte sich schläfrig und zufrieden, während sie die offene Wiese überquerte. Sie lief zu dem Baum, der am Nachmittag den Ponys Schatten geboten hatte. Der Boden darunter war glücklicherweise frei von Pferdemist. Schläfrig breitete sie ihre Bettrolle aus und kroch hinein. Wolke legte sich nieder, um ihr den Rücken zu stützen. Ein Pony, das sie nicht kannte, beschnüffelte das Fußende ihrer Decke. »So ist es viel besser«, murmelte Dhana. »Gute Nacht, alle miteinander.« Während sie in den Schlaf hinüberglitt, 76
merkte sie, daß die freilaufenden Ponys gekommen waren und ihr Gesellschaft leisteten. Im Traum ging sie neben Onua die Straße entlang. Anstelle von Ponys führten sie Menschen, die Schüler, die aneinander gebunden waren. Die Nachtluft war dick und säuerlich, und Sumpfwesen machten einen unglaublichen Lärm. Unvermittelt hörte der Lärm auf, wie abgeschnitten. Onua blieb stehen. »Was ist das?« In Wellen stürzte Gestank auf sie nieder. »Sturmflügel!« schrie Dhana. Sie war aufgewacht und saß aufrecht in ihrer Bettrolle. Im Osten schimmerte die Morgendämmerung durch die Wolken. Die Ponys liefen in der Nähe umher, rastlos und ängstlich. Dhana holte tief Luft und fühlte, daß die Luft dick wie Suppe war. Sie stand auf und warf einen Blick nach oben. Der Himmel war leer, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie näherten sich. Sie zog ihre Stiefel an und rannte auf das Gebäude zu. Die Ponys rannten mit ihr. »Ho-ho!« schrie sie und wußte doch, daß sie zu weit entfernt war. »Miri! Onua, wacht auf!« Ein zerzauster Kopf erschien. »Dhana, was ist los?« schrie Kuri. »Hol Onua!« schrie Dhana. »Sag ihr, die Sturmflügel kommen!« Sie rang nach Atem. Sie fühlte, wie sich hinter ihrem Rücken etwas Ungutes zusammenbraute. Kuri verschwand vom Fenster. Das Mädchen drehte sich um und wußte, daß sie das Haus niemals rechtzeitig würde erreichen können. Sie hoben von den Bäumen ab, die ersten dünnen Strahlen der Sonne trafen metallene Flügel. Der vertraute Gestank schlug über ihr zusammen. Zhaneh Bitterklaue führte ihre Schar im Direktflug zu Dhana. »Tötet sie!« kreischte sie. Ihr linkes Auge war ein schwarzes, triefendes Loch. »Tötet dieses Luder!« Mehr als fünfzig Sturmflügel gingen im Sturzflug zum Angriff über. Das kalte Grauen erfaßte Dhana, sie duckte sich eng an den Boden. Wolke bäumte sich auf und befahl der Königin der Sturmflügel, herunterzukommen und wie ein Pferd zu kämpfen. 77
Stählerne Klauen versuchen, die Stute zu packen, als sie mit den Hufen nach dem Monster schlug. Die Ponys umdrängen Dhana und preschten vor, sobald die Sturmflügel zu dicht herankamen. Göttin, Pferdegötter, bringt mich hier heraus, und ich werde nie, nie mehr ohne meinen Bogen schlafen, versprach Dhana. Tahoi kam mit einer Meute Jagdhunde auf die Wiese gerannt, alle genauso groß wie er selbst. Bellend folgten weitere Hunde. Dhana sah in der Nähe faustgroße Steine liegen. Sie packte sie, und der erste traf Zhaneh Bitterklaue mitten auf die Nase. »Da, du Ungeheuer!« schrie Dhana und drohte mit der Faust, »Komm nur näher, damit ich’s noch mal machen kann!« Ein kleiner Hund, der mit den Jagdhunden gekommen war, flitzte zwischen den Hufen der Ponys hin und her, um ihr weitere Wurfgeschosse zu bringen. Schwarzes, mit silbernen Lichtern durchsetztes Feuer umhüllte einen der Sturmflügel. Das Geschöpf mühte sich, es abzuschütteln, doch vergebens. Das Feuer kroch in sein Maul und sprengte es auseinander. Weitere Wolken schwarzen Feuers verfolgten die Sturmflügel, um sie zu töten. Dunkelmond kam, gesattelt und die Zügel hinter sich herschleifend. Er sprang hoch, um einen Sturmflügel am Bein zu erwischen. Wie ein Terrier schüttelte er seine Beute hin und her und brach ihr das Genick. Andere Kampfrösser folgten. Hinter ihnen kam Sarge, nur mit einer Unterhose bekleidet und bewaffnet mit einem Arm voller Wurfspieße. Mit einem Schrei schleuderte er den ersten. Dhana japste, als ein Sturmflügel herunterfiel und versuchte, sich die Waffe aus der Brust zu ziehen. Sarge peilte ein neues Ziel an und wartete auf die beste Gelegenheit zum Wurf. Er war so ruhig wie beim Mittagessen. Nach jedem seiner Würfe stürzte ein Sturmflügel herunter. Im Nachthemd raste Onua auf die Wiese, in der Hand ihren kleinen Bogen und den Köcher. Sie hatte einen Pfeil an der Sehne und holte einen Sturmflügel herunter. Zhaneh Bitterklaue sah die K’mir und ging mit Geschrei zum Angriff über. Dhana schrie auf. Die Hälfte der Tiere umringte Onua, genau wie die andere Hälfte sich um Dhana scharte. Weitere Pferde und Hunde sprangen über den Zaun, um Sarge zu decken. Purpurnes Feuer – Alannas Magie – erschien und wob ein 78
Netz um einige Angreifer. Diese brüllten auf und schlugen vergebens danach. Es zog sie zu Boden, wo die Jagdhunde sie empfingen. Donner, der mehr war als gewöhnlicher Donner, erschütterte die Luft. Die Hunde jaulten auf. Dhana preßte die Hände gegen ihre schmerzenden Ohren. Die Sturmflügel kreischten und versuchten, das gleiche mit ihren stählernen Federn zu tun. Blaue Blitze schossen vom oberen Ende des Feldes herunter und verzehrten jeden Sturmflügel, den sie trafen. Ein bärtiger Mann in Hemd und Reithosen, der in der Nähe des Zaunes stand, war die Quelle des blauen Feuers. Es leuchtete um ihn und sprudelte aus seinen Händen. Neben ihm stand Alanna, wie er in Reiterkleidung. Auch Numair war dort. Er hatte etwas an, das wie ein Nachthemd aussah. Feuer sprühte von ihren Händen. Purpurnes von der Löwin, schwarzes von Numair. Zhaneh redete in ihrer seltsamen Sprache und begann, höher zu steigen. Jene, die dazu in der Lage waren, folgten ihr. Eine Mauer aus Feuer umhüllte sie und färbte sie scharlachrot mit einer Spur von Gold. Der bärtige Mann sandte ihnen blaues Feuer nach. Der Schild aus rotem Feuer saugte es auf, doch der Mann fuhr fort, Blitze zu schleudern, bis die Ungeheuer nur noch als kleine Punkte am Himmel zu sehen waren. Dhanas Knie schlotterten vor Erschöpfung und Angst. Numair kam den Hang herunter. Er sah ebenso müde aus wie damals, als sie ihn zum erstenmal als Mann gesehen hatte. »Ich hab’ ja gesagt, wir würden uns wiedersehen«, scherzte er und lehnte sich an den Baum. Sie lachte ihn an. »Gute Gelegenheit.« Dunkelmond und die anderen Pferde, Ponys und Hunde legten sich nieder, wo sie gerade waren. Viele Tiere hatten Schnittwunden davongetragen und bluteten, aber wie durch ein Wunder war keines von ihnen tot. Der bärtige Mann kauerte sich neben einem getöteten Sturmflügel nieder. Der Gestank mußte ihm aufgefallen sein, denn er nieste und legte eine Hand über seine Nase. Alanna und Onua traten zu ihm. Onua stützte sich auf Tahoi. Ein Brauner und ein eisengraues Pferd schnüffelten an Sarge herum, als wollten sie sich davon überzeugen, 79
daß er noch in einem Stück sei. Dhana kicherte, als ihr von Wolke die gleiche Behandlung zuteil wurde. Numair reichte ihr die Hand. Wolke stützte sie von der anderen Seite, und eine Stute ließ es geschehen, daß Numair sich an sie lehnte. »Für gewöhnlich warten die Reitschüler, bis sie vom Palast weg sind, ehe sie irgendwelche Streitereien anfangen«, sagte Numair zu ihr. »Die Herrschaften werden sich beklagen, daß du sie aus dem Bett geholt hast.« Dhana sah besorgt zu ihm auf. »Werde ich Schwierigkeiten bekommen?« Sarge hatte zugehört. Er lachte. »Sollen sie sich ruhig beklagen. Es ist gut, wenn sie rechtzeitig zum Frühstück wach sind.« Nachdem sie ruhiger geworden war, bedankte Dhana sich bei den Hunden, den Pferden und Ponys, die zu ihrer Rettung herbeigeeilt waren. Erst als die Stallbediensteten kamen, um ihre Schutzbefohlenen einzusammeln, kehrte sie in die Unterkunft der Reiter zurück. »Sollte ich ihnen vielleicht helfen?« fragte sie Onua, als sie sich säuberte. »Einige der Tiere waren verwundet. Sie müssen genäht und verbunden werden.« »Immer mit der Ruhe«, sagte die Frau. »Für alle Stallungen und Hundezwinger gibt es einen Zauberer, der für das Heilen zuständig ist. Deine Tiere werden gut versorgt.« Neidisch folgte Dhana ihr zum Frühstücken. Wäre das nicht wundervoll, wenn sie in der Lage wäre, mit dem Winken der Hand dem Leiden einer Kreatur ein Ende zu bereiten? Evin und Miri bestürmten sie mit Fragen. Warum war sie auf der Wiese gewesen? Hatte sie denn keine Angst gehabt? Warum hatten die Tiere für sie und Onua gekämpft? Sie antwortete, so gut sie konnte, aber als Padrach und Farant hinzukamen und die gleichen Fragen stellten, wurde sie sehr verlegen. Nach dem Frühstück beorderte Sarge die Schüler zu einer Säuberungsaktion auf die Pferdeweide. Dhana half Kuri, einen ebenerdigen Lagerraum auszuräumen, der ihr als Schlafzimmer dienen sollte. Das beste daran war eine Tür nach draußen, die sie offenlassen 80
konnte. Ansonsten war der Raum winzig. Gerade groß genug für ein Bett, eine Kommode, einen Stuhl und einen kleinen Tisch. An diesem Nachmittag half sie den Reitschülern beim Satteln und Reiten ihrer neuen Pferde. Bis es für alle Zeit war, das tägliche Bad zu nehmen, war sie erschöpft. Sie war beim Abendessen zufrieden damit, ihren neuen Freunden einfach nur zuzuhören. Danach, als die Schüler sich auf ihre allabendliche Unterrichtsstunde vorbereiteten, winkte Onua Dhana zu sich. »Was ist?« fragte Dhana. Die K’mir führte sie zu dem gegenüberliegenden Raum. »Da ist jemand, der dich gern kennenlernen möchte.« Sie öffnete die Tür. »Ich habe sie gebracht«, verkündete sie und trat hinter Dhana ein. »Kommen wir zu spät?«
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5 Wilde Magie Am Tisch saß der bärtige Mann, den sie am Morgen gesehen hatte. »Ich bin auch gerade erst gekommen«, sagte er mit tiefer, freundlicher Stimme. »Ich habe mir die Freiheit genommen, bei den Köchen ein paar Erfrischungen zu bestellen.« Von nahem besehen bot der Mann einen Anblick, der jedes Frauenherz schmelzen ließ. Sein kurzgeschnittenes Haar und sein Bart waren blauschwarz, seine Augen saphirblau, seine Zähne leuchteten weiß gegen die Schwärze seines Bartes. Dhana schluckte. Sie kam sich drei Meter groß, plump und schwerfällig vor. Und in ihrem Gesicht blühten vermutlich genau jetzt jede Menge Pickel auf. Der Mann stand auf und lächelte auf sie herunter. »Du mußt Dhana sein. Du erinnerst dich vielleicht nicht an mich, du warst… beschäftigt.« Während sie in jene Augen aufschaute, fühlte sie ihr Herz dahinschmelzen wie Butter in der Sonne. »Doch, Sir… ich erinnere mich. Ihr habt die Blitze geworfen.« Er zog einen Stuhl für sie heran. »Setz dich, bitte.« Dhana gehorchte. Ein Koch trat mit einem Tablett ein, auf dem Kuchen, Obstschalen und ein Krug mit Saft standen. Er stellte alles auf den Tisch und verbeugte sich vor dem Mann. »Euer Majestät.« »Genau das, was wir jetzt brauchen«, sagte der Mann. »Ich danke dir.« Wieder verneigte sich der Koch und entfernte sich. Dhana starrte ihren Gastgeber an. »Ihr seid der König!« rief sie. Zu spät fiel ihr ein, daß sie sich verbeugen, niederknien oder etwas Derartiges tun sollte, und sie sprang auf. Jonathan – König Jonathan – lachte. »Schon gut, bitte setz dich. Sonst verlangen meine guten Manieren, daß ich auch wieder aufstehe, dabei bin ich so müde.« 82
Zitternd setzte Dhana sich. Das ist tatsächlich ein sehr seltsames Land, sagte sie sich nicht zum erstenmal. Und allmählich wurde ihr klar, daß sie es auch nicht zum letztenmal gesagt hatte. Daheim hätte sich ein Edler nicht für viel Geld dazu herabgelassen, mit einem gewöhnlichen Menschen zu sprechen! Der König suchte sich ein Stück Kuchen aus und biß hinein. »Wundervoll«, sagte er mit vollem Mund. »Die Reiter essen besser als ich.« »Das kommt Euch nur so vor. Wir haben keine sechs Lakaien, die uns fragen, ob wir auch ganz bestimmt keinen Vorkoster haben wollen«, neckte Onua. Sie schenkte Saft für alle ein. König Jonathan schnaubte, sein Mund war inzwischen wieder leer. »Erinnere mich bloß nicht.« Dann sah er Dhana an. »Seher können manchmal vorhersagen, ob die Unsterblichen einen Ort angreifen werden. Du jedoch bist die erste, von der ich weiß, die ihre Nähe spüren kann. Gibt es in deiner Familie Seher oder Wahrsager?« Er lächelte sie an, sie ganz allein. Sie hätte ihm sonstwas erzählt für ein weiteres Lächeln. »Ma war eine Hebamme, Euer Gnaden. Sie hatte die Gabe für Geburtshilfe und Heilung. Sie kannte Zaubersprüche zur Schutzgewährung, aber nicht so gute wie Onua. Mit Pflanzen konnte sie am besten umgehen. Allerdings, in die Zukunft konnte sie nie sehen.« »Hatte sie die Gabe von ihrer Familie?« fragte er. Dhana nickte und fummelte an dem Spitzenbesatz ihres Hemdes herum. »Alle Mädchen in ihrer Familie waren Heilerinnen, außer mir.« Sie schluckte und dachte daran, wie enttäuscht ihre Mutter gewesen war, daß sie nicht in ihre Fußstapfen treten konnte. »Was ist mit deinem Vater?« Seine Stimme war freundlich, aber seine Frage schmerzte. Das wird mir noch weh tun, wenn ich schon Großmutter bin, dachte Dhana. Der König sah es ihrem Gesicht an und sagte sanft: »Es tut mir leid, aber ich muß es wissen.« Er drückte ihr sein Taschentuch in die Hand. »Wenn dein Vater Hausierer oder Vagabund war, hat er vielleicht auch andere Kinder mit deiner Fähigkeit gezeugt. Wir können mehr Leute wie dich brauchen.« »Warum? Sir… Euer Majestät, warum denn?« 83
»Geflügelte Pferde wurden in diesem Winter in Saraine gesehen.« Die Bitterkeit in seinen Augen hielt sie gefangen. »Greife nisten in den Klippen der Kupferinseln. Überall im Hügelland gibt es in diesem Frühjahr Spinnerlinge.« Geflügelte Pferde? Greife? »Woher kommen sie, wißt Ihr das?« »Aus dem Reich der Götter. Vor vierhundert Jahren haben mächtige Zauberer die Unsterblichen dort eingesperrt. Nur die größten Götter konnten es verlassen – bis heute.« Ein Arm erschien in Dhanas Blickfeld, um sich einen Kuchen zu nehmen. Numair holte sich einen leeren Sessel, und der König fuhr fort. »Unsere Nachbarn – Galla, Scanra, Tusain – berichten von Einhörnern, Riesenvögeln, selbst von geflügelten Menschen, die so klein sind wie Zaunkönige. Wir werden von Monstern, von Menschenfressern und Trollen heimgesucht!« Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Es ist interessant, daß ein schwacher Magier wie Sinthya seltene Geschöpfe wie die Sturmflügel auf dich hetzen konnte. Woher hatte er solche Macht? Soweit wir wissen, hatte er nur ein Geheimnis, das es wert ist, gehütet zu werden: Er ließ sich mit Carthak ein.« »Carthak ist ein anderes Land?« fragte Dhana und wurde ihrer Dummheit wegen rot. »Jenseits des Großen Binnenmeeres«, sagte Numair. »Sie sind verzweifelt. Ihre Saaten sind zwei Jahre hintereinander nicht aufgegangen. Nicht genug Regen, aber Tornados, welche die Felder aufwühlten. Im vergangenen Winter gab es in der Hauptstadt Plünderungen und Krawalle. Der Kaiser braucht gutes Farmland, und wir sind das nächstgelegene Ziel.« »Carthak hat die Universität, seine Magierschulen und seine Bibliothek. Es ist die gleiche Bibliothek, welche die Magier benutzten, die die Göttlichen Reiche versiegelten.« Der König sah Numair an. »Ich denke, die Magier von Carthak haben diese Zaubersprüche gefunden.« Numair knetete ein Stück Kuchen zu einer Kugel. »Und zusätzliche Zaubersprüche, die Unsterbliche dazu bringen, Menschen zu gehorchen. Wie anders könnte es möglich sein, daß Sinthya die Sturmflügel dazu gebracht hat, mich zu verfolgen?« 84
»Wir haben nichts, was diesen Zaubersprüchen gleicht«, sagte Jonathan zu Dhana. »Sinthyas Papiere sind verschwunden. Wir durchforschen unsere eigenen Bibliotheken, aber das kann Monate dauern. In der Zwischenzeit genügen uns die Weissagungen nicht, die uns die Wahrsager geben. Wenn wir Menschen mit deinen Fähigkeiten, die Unsterblichen zu spüren, in unsere Dörfer und Städte schickten, könnten wir unsere Leute besser schützen. Wenn wir deinen Vater finden könnten…« Jetzt war es soweit. Gedemütigt schüttelte sie den Kopf. »Dhana?« Es war Onua, die ihr vertraute und die ihr Arbeit gegeben hatte, die sie liebte. Dieser Frau schuldete sie zumindest eine Antwort. Sie blickte zu Boden. »Ich weiß nicht, wer er ist. Es ist schon in meinem Namen. Sarrasri – Sarras Tochter. Nur Bastarde heißen wie ihre Mütter.« Sie spuckte das verhaßte Wort aus, aber sein Geschmack blieb auf ihrer Zunge. »Warum weißt du das nicht?« Sie blickte nicht einmal auf, um zu sehen, wer gesprochen hatte. »Meine Mutter hat es mir nie gesagt. Sie hat es niemandem gesagt. Sie hat immer wieder gesagt, ›eines Tages, eines Tages‹.« »Weißt du denn irgend etwas, wenigstens eine Kleinigkeit?« Onua legte eine Hand auf Dhanas Schulter. Sie kämpfte, um sich unter Kontrolle zu bringen. »Es war Beltane. Da werden überall Feuer angezündet, und die Pärchen springen zusammen über die glühenden Scheite.« Damit sie im nächsten Jahr Babys bekommen, dachte sie, aber natürlich sagte sie so etwas nicht. »Wir machen das gleiche«, bemerkte der König. Dhana sah ihn entsetzt an. »Ihr seid doch noch nie über ein Feuer gesprungen«, rief sie, ehe sie wußte, was sie da sagte. Die anderen lachten. Sie senkte den Kopf, um ihr Erröten zu verbergen. »Der König nimmt an allen großen Festen teil, um den Göttern seine Verehrung zu erweisen«, erklärte ihr der König ernst. Seine Augen glitzerten. »Thayet und ich machen das jedes Jahr.« »Ich wollte nicht, ich meinte nicht… ich wollte nicht respektlos…« Er tätschelte ihr Knie. »Das habe ich auch nicht vermutet. Fahr fort.« 85
»Meine Mutter war in niemanden verliebt, deshalb ist sie allein im Wald spazierengegangen. Sie hat jemand getroffen. Ich hab’ immer gedacht, daß er vielleicht verheiratet war, aber als ich sie letztes Jahr gefragt hab’, hat sie nein gesagt. Und ich sehe niemandem aus unserer Gegend ähnlich. Die meisten dort sind blond und blauäugig.« Seufzend lehnte sich der König zurück. »Nun, es war so eine Idee«, sagte er zu niemand besonderem. »Ich werde helfen, wenn ich kann«, sagte Dhana, die wußte, daß sie die anderen enttäuscht hatte. »Ich weiß nur einfach nicht, was ich tun könnte. Und die Warnungen sind nicht so genau. Ich weiß nur, daß irgend etwas Böses kommt. Bei den Tieren, da empfinde ich manchmal in Farben. Bären zum Beispiel kündigen sich mit Braun an. Ich empfinde auch die Ungeheuer in Farben, aber sie sind golden mit schwarzen und grünen Lichtern drin. Ich habe noch niemals irgendwelche Wesen als so golden empfunden.« »Ich hab’ Euch ja gesagt, sie hat die Magie«, sagte der Zauberer triumphierend zum König. »Nein!« rief Dhana und sprang auf. »Hat meine Mutter mich nicht immer und immer wieder geprüft? Glaubt Ihr nicht, ich hätte mich auf die Magie gestürzt, wenn ich sie hätte, nur um meiner Mutter eine Freude zu machen?« »Ruhig Blut, Kleines.« Der König legte ihr eine Hand auf den Arm und schob sie wieder auf ihren Stuhl zurück. »Numair ist fest davon überzeugt, und ich stimme ihm zu, daß du Magie besitzt. Du magst vielleicht nicht die Gabe haben, aber es gibt noch andere magische Fähigkeiten, ›wilde Magie‹. Die Stämme der Bazhir verwenden eine Art, um ihre Leute zu vereinen. Die Doi können mit einer anderen Art die Zukunft vorhersagen. Es gibt Wesen, die wir die ›Ursprünglichen‹ nennen, deren ganze Natur aus wilder Magie besteht.« Dhana runzelte die Stirn. »Miri hat mir gesagt, daß die MeeresLeute davon wissen. Manche von ihnen wenden sie an, um mit den Fischen und den Delphinen zu reden.« »Genau. Nach dem, was deine Freunde erzählen«, der König machte eine Kopfbewegung zu Onua und Numair hin, »verleiht dir deine wilde Magie ein besonderes Verhältnis zu Tieren. Das hat deine 86
Mutter vielleicht nicht erkannt. Nur wenige Menschen wissen, daß es so etwas überhaupt gibt.« Dhana zog die Brauen hoch. »Kann man das nicht bei jemandem sehen, so wie diejenigen, die die Gabe haben, sie bei anderen erkennen können?« »Ich kann es«, sagte Numair. »Und du auch.« Dhana starrte ihn an. Jonathan sagte: »Er ist möglicherweise der einzige lebende Fachmann auf dem Gebiet der wilden Magie.« »Ich habe Glück gehabt, hierher zu kommen«, bemerkte der Magier zum König. »Du und Alanna wußtet von wilder Magie. Ich brauchte euch nicht davon zu überzeugen.« Dhana sah Numair böse an. »Du hast unterwegs nie etwas davon gesagt.« Er lächelte. »Wenn du versuchst, einen wilden Hirsch dazu zu bringen, sich dir zu nähern, würdest du irgendwelche plötzlichen Geräusche machen?« Ihr Blick wurde noch böser. »Das ist etwas anderes. Ich bin kein Hirsch.« »Die Sturmflügel verbürgen sich für deine Klauen«, sagte Onua grinsend. Jonathan nahm Dhanas Hand. »Willst du dir von Numair beim Studium der wilden Magie helfen lassen? Es wird dich möglicherweise befähigen, dein Gespür für die Unsterblichen zu erweitern.« »Wäre es nicht viel einfacher, den Tieren zu befehlen, dir zu gehorchen?« fügte Onua hinzu. »Während der ganzen Reise hierher hast du die Ponys dazu überredet, das zu tun, was du von ihnen wolltest. Du kannst sie beherrschen, das weiß ich. Warum es jedem einzelnen Pony der Herde immer wieder aufs neue beweisen, wenn du deine Stellung ein für allemal festlegen kannst?« »Dhana.« Etwas in Numairs Stimme veranlaßte sie, ihn und nur ihn allein anzusehen. Der Ausdruck seiner dunklen Augen ließ sie sogar vergessen, daß der König noch immer ihre Hände hielt. »Ich kann dich lehren zu heilen.« 87
»Tiere?« Das Wort kam nur als ein Quieken heraus. »Du meinst, wie meine Mutter es bei Menschen gemacht hat? Aber woher willst du wissen, daß ich das kann?« »Weil ich es dich einmal habe tun sehen.« Es war nicht Numair, der das sagte, sondern Onua. »Im Sumpf, nach dem Kampf. Du hast einen Vogel in der Hand gehalten, und du bist ohnmächtig geworden, erinnerst du dich?« Dhana nickte. »Ich hatte gerade eine Eule angesehen, deren Kopf beinahe abgetrennt war. Die Wunde heilte, und sie flog weg. Genauso ging es mit einer Menge anderer Vögel, die eigentlich überhaupt nicht mehr fähig waren, zu fliegen. Ich glaube, es geschah, weil ihre Not die Heilung aus dir herauszog.« Die K’mir nickte Numair zu. »Er kann dir beibringen zu heilen, ohne daß du dich verausgabst, ohne daß du ohnmächtig wirst.« Ihr ganzes Leben lang hatte sie Gliedmaßen geschient, Wunden genäht, verbunden. Die meisten ihrer Patienten waren wieder gesund geworden, einige aber nicht. Sie spürte das Gewicht der Dachsklaue schwer auf ihrer Brust. Sich ihren Freunden einzuprägen, wie er sich ihr eingeprägt hatte, indem er ihr diese Pfote geschenkt hatte… Sie sah den König an. »Ich finde immer noch, daß es verrückt ist… aber ich will’s versuchen.« Er drückte ihre Hände. »Du willst?« fragte er leise. Ich bin verliebt, dachte sie und nickte. »Oh, wartet, ich bin den Sommer über bei Onua im Dienst.« »Das ist kein Problem«, sagte Numair. »Die Schüler gehen ins Sommerlager nach Piratenbeute. Ich wohne ganz in der Nähe. Ich könnte doch mitkommen.« Als der König die Stirn runzelte, fügte er hinzu: »Zum Kuckuck, Jon, ich kann hier nichts anderes tun als das, was schon hundert andere Zauberer für dich tun. Wenn ich jedoch mit Dhana arbeite, kann ich vielleicht einen Zauberspruch erfinden, um die Menschen vor kommenden Unsterblichen zu warnen.« Der König verzog das Gesicht. »Das sagst du jetzt bloß, damit ich dich gehen lasse.« »Es wimmelt hier doch ohnehin von Zauberern, die sich die Köpfe zerbrechen«, betonte Onua. »Und es ist ja nicht so, daß Ihr ihn nicht erreichen könnt, wenn es sein muß.« 88
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?« fragte der König. Die Frau lachte. Er seufzte und sah wieder Dhana an. Noch einmal preßte er ihre Hände, dann ließ er sie los. »Danke.« Er stand auf. »Onua, Numair, ihr haltet mich auf dem laufenden?« Sie nickten. »Dann gehe ich jetzt besser. Ich muß mit der Frau des Botschafters von Carthak tanzen.« Numair grinste ihn an. »Dann tragt lieber Eisenschuhe, Euer Majestät.« Dhana sagte: »Entschuldigung… Euer Majestät…« Der König drehte sich zu ihr um. »Ja, meine Liebe?« Noch nie hatte jemand sie so genannt. Sie errötete und stotterte: »Es tut mir leid, daß ich nicht mehr helfen kann. Mit dem Spüren und meinem Vater und alldem…« Jonathan von Conte lächelte sie an. »Wenn ich als König etwas gelernt habe, dann, daß ich weiß, wenn jemand in der Lage ist, mir zu helfen. Ich habe das Gefühl, du bist in diesem Königreich mehr als willkommen, Veralidhana Sarrasri.« Und weg war er, und das war auch gut so, denn Dhana hatte plötzlich große Mühe mit dem Atmen. Onua tätschelte ihr den Rücken. »Wenn’s dir hilft, er hat diese Wirkung auf die meisten von uns.« Numair erhob sich und knabberte noch an einem letzten Keks herum. »Am besten fangen wir gleich an. Dhana, holst du bitte Wolke? Wir treffen uns bei den Stallungen.« Wie betäubt ging sie hinaus und rief ihre Stute. Nachdem die Nächte so schön waren, hatte Wolke darum gebeten, bei den freien Ponys bleiben zu dürfen, anstatt mit den Pferden der Schüler im Stall zu stehen. Sie kam über die Wiese gerast und wartete nicht erst darauf, bis das Mädchen das Tor geöffnet hatte, sondern sprang über den Zaun. Von den Ereignissen des Tages überwältigt, vergrub Dhana ihr Gesicht in Wolkes Mähne. Sie roch nach Nachtluft, Farnen und Pferd. »Hier ist alles so sonderbar«, flüsterte sie. »Hast du jemals was von ›wilder Magie‹ gehört? Sie sagen, ich hab’ sie.«
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Du hast was, und das weißt du auch. Ist doch egal, was das für einen Namen hat. Oder hast du wirklich geglaubt, die wilden Tiere besuchen dich, weil sie Menschen so gern haben? »Aber Magie?« Hast du mich gerufen, damit ich mir über die Namen von Sachen den Kopf zerbrech? Dann geh’ ich nämlich wieder. Bei diesem großen Felsen dort drüben ist eine Salzlecke, die möchte ich gerne kosten. »Dhana?« Numair und Onua kamen. »Gut, du hast sie«, sagte Numair. »Wenn du sie überreden kannst, mit mir zu kommen, würde ich gern deine Reichweite bei einem Tier testen, das du gut kennst.« »Was meinst du mit ›Reichweite‹?« fragte sie. »Ich habe beobachtet, daß du, wenn du sagst, du ›hörst‹ ein Tier, es in deinen Gedanken hörst, nicht mit den Ohren. Ich möchte feststellen, wie weit ich mit Wolke gehen kann, bis du sie nicht mehr hörst.« »Aber woher willst du das wissen?« fragte das Mädchen vernünftig. »Soll ich ihr sagen, daß sie es dich wissen läßt, wenn sie die Verbindung mit mir verliert?« »Nein, bloß nicht!« rief Onua und lachte. »So wie ich Wolke kenne, würde sie das mit einem Tritt in den Hintern machen. Numair wird einen Sprach-Zauber mit mir aufbauen. Wir beide setzen uns hierher, und du sagst mir, was du von Wolke hörst und wann du nichts mehr hörst.« »Wenn Wolke überhaupt mitmacht«, ergänzte Numair. »Natürlich macht sie mit.« Das tust du doch, oder? fragte das Mädchen. Wolke schweigend. Die Stute schwenkte ihren Schweif und überlegte. Dhana drängte sie nicht. Na schön. Das Pony trottete am Zaun entlang und entfernte sich vom Palast. »Ich glaube, du solltest ihr folgen«, sagte Dhana zu dem Zauberer und grinste. Numair seufzte und lief hinter dem Pony her. »Nur einer von uns kann führen, und das muß ich sein«, rief er. Onua und Dhana schwangen sich auf die oberste Latte des Zaunes, und Onua hielt ihre Handflächen nach oben. Darin glühte ein Ball aus rubinrotem Feuer. »Numair braucht ein Weilchen, um sein Ende des Zaubers einzurichten.« 90
»Onua… wenn der König mit diesem Carthak im Streit ist, warum muß er dann mit der Frau des Botschafters tanzen?« »Politik«, sagte Onua. »Den Göttern sei Dank, daß wir uns damit nicht rumzuschlagen brauchen. Es bedeutet, du setzt dich mit deinen Feinden zum Mittagessen und fragst, wie es ihren Kindern geht.« »Sind wir dann also nicht im Krieg mit ihnen?« »I wo!« erwiderte die Frau. »Wir sind so lange nicht im Krieg, bis beide Seiten ein Dokument unterschreiben, in dem steht, daß wir im Krieg sind. Der Kaiser von Carthak kann uns überfallen und uns mit Monstern angreifen, aber Krieg ist das keiner. Noch nicht.« »Das ist verrückt«, sagte Dhana. Onua nickte. Sie warteten und genossen die Nacht. Auf dem Hügel glitzerte der Palast, seine Lichter löschten die Sterne am Himmel aus. Unter ihnen lag der Wald, dunkel, feucht und schweigend. Die freien Ponys waren gekommen, um in der Nähe der beiden Frauen zu grasen. Ihre sanften Bewegungen verursachten ein angenehmes Geräusch. In der Ferne hörte das Mädchen die Rufe eines Wolfsrudels. Hab’ ich unterwegs Wölfe gehört? fragte sie sich. Nicht so nahe, das bestimmt nicht. Ob sie mich wohl vermissen, Brokefang und Rattail und die anderen? Hör diesen Wölfen zu! Ist es das Jagdlied? Nein, der Rudelgesang. Sie singen einfach nur so, nicht, um die Erlegung einer Beute zu feiern. Wenn ich doch nur wegrennen könnte… Eintauchen in den Wald. Zu ihnen gehen, Jagdschwester sein, eins mit ihnen… »Dhana? Dhana!« Onua schüttelte sie mit ihrer freien Hand. »Onua? Was ist los?« Numairs Stimme kam aus dem Feuer in der anderen Hand der K’mir. Große Göttin… ich habe beinahe vergessen, wer ich bin! »Alles in Ordnung«, sagte sie zu Onua und zwang sich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben. »Kannst du sie hören?« »Die Wölfe? Natürlich«, antwortete Onua. Das Rudel hatte sie gespürt. Die Stimmen der Wölfe näherten sich zwischen den Bäumen. Die Ponys schnaubten ängstlich und drängten sich nahe an die Frauen und den Zaun. »Ich bin sofort wieder da«, sagte Dhana und sprang vom Zaun herunter und auf die Weide. »Beruhigt euch und bleibt hier«, befahl 91
sie der Herde. Sie ging weiter, bis sie in der Mitte zwischen den Bäumen und dem Zaun war. Sie wußte, die Ponys würden sich den Wölfen nicht weiter nähern. »Geht weg!« schrie sie. »Hier sind Jäger und Hunde! Verschwindet!« Es gab noch diese andere Möglichkeit, mit ihnen zu reden, aber sie wagte den Versuch nicht. Nicht, nachdem sie beinahe vergessen hätte, ihnen nur zuzuhören! Das Geheul der Wölfe brach ab. Sie hatten einen Menschen gehört und rannten davon! Es war sowieso gegen ihr besseres Wissen, sich menschlichen Siedlungen zu nähern. Dhana kehrte zu Onua zurück und war froh, daß die Nacht das Glitzern der Tränen auf ihren Wangen verbarg. »Ich bin zu müde dafür, es tut mir leid. Es hat mich ganz plötzlich überfallen.« Onua redete in das rote Feuer in ihrer Hand, dann schloß sie die Finger darum. Die Feuerkugel verschwand. »Geh zu Bett. Numair wird Wolke auf die Wiese zurückbringen. Ich hole jemand, um die Herde zu bewachen für den Fall, daß die Wölfe wiederkommen.« Dhana sah ihr nach. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, obwohl nur die Ponys sie hören konnten. Sie drängten sich dicht an sie und suchten Schutz, nachdem sie die Wölfe gehört hatten. Sie brauchte einige Minuten, um sie zu tätscheln und wieder zu beruhigen. Es war nicht deren Fehler, daß die Wölfe geglaubt hatten, in der Nacht eine Wolfsschwester gehört zu haben. Sie kletterte gerade über den Zaun, als Numair und Wolke ankamen. Wolke lief geradewegs auf sie zu und beschnüffelte sie nach Wolfsgeruch. »Ist alles in Ordnung?« fragte der Zauberer keuchend und legte eine Hand auf Dhanas Schulter. »Ich hätte daran denken sollen, daß du nach diesem Morgen müde bist. Manchmal lass’ ich mich einfach hinreißen und vergesse, daß nicht jeder meine akademische Begeisterung teilt.« Sie starrte ihn an, während sie Wolke streichelte. Er war ein Zauberer, ihm war nichts Ungewöhnliches fremd. Wer, wenn nicht er, wird mich verstehen, dachte sie und wollte gerade den Mund aufmachen, um es ihm zu sagen. 92
»‘n Abend, Sir, Miss.« Ein untersetzter Mann mit einer Armbrust kletterte über den Zaun. Zwei große Hunde drängten sich durch die Zaunlatten und kamen schwanzwedelnd näher, um Dhana zu beschnüffeln. »Meisterin Onua sagt mir, daß heut’ nacht am Waldrand Wölfe sind. Muß ‘n neues Rudel sein, die meisten wissen, daß sie nich’ in die Nähe vom Palast kommen dürfen. Ich un’ meine Kumpel passen ‘n bißchen auf, bloß daß sie nich’ zu frech werden.« Dhana kraulte die beiden »Kumpel« hinter den Ohren. Die Hunde waren beinahe so groß wie Tahoi. Lauft, Brüder! rief sie den Wölfen zu und konzentrierte ihre Gedanken, so fest sie konnte. Lauft und haltet nicht an, es sind Jäger hier! Sie und Numair wünschten dem Mann eine gute Nacht, und Numair führte sie zu ihrem neuen Zimmer. Sie öffnete die Tür und winkte ihm nach, als er den Hügel hinauf zum Palast stieg. Die Gelegenheit, ihm endlich die ganze Wahrheit zu erzählen, war vorbei. Auch gut, dachte sie, als sie ihr Nachthemd anzog. Was er nicht weiß, tut ihm nicht weh – und mir auch nicht. Als sie unter ihre Decken kroch, schlichen drei Palastkatzen durch die halb geöffnete Tür herein und kletterten zu ihr ins Bett. Dhana lächelte, als sie es sich gemütlich machten. Es wäre nett gewesen, nach dem Lichterlöschen mit Miri zu plaudern, aber so war es besser. Miri konnte nicht schnurren. Erst als am nächsten Morgen lautes Donnern durch die Decke über ihr dröhnte, wurde ihr klar, daß ihr neues Zimmer direkt unter dem Schlafsaal der Jungen lag. »Schüler! Aufstehen!« Sie fuhr hoch, links und rechts purzelten die Katzen aus ihrem Bett, und eine Eule flüchtete erschrocken zur offenen Tür hinaus. Dieser Donner war Sarges Stimme gewesen. Sie mußte auf die männlichen Reitschüler die gleiche Wirkung gehabt haben, denn bis Dhana ihre Hosen angezogen hatte, stolperten sie bereits halbblind und vollkommen angekleidet zu den Stallungen. Weder Onua noch Buri, die im Mädchentrakt schliefen, konnten brüllen, aber ihre Mittel schienen ebenso wirkungsvoll gewesen zu sein. Die Schülerinnen 93
waren genauso schnell unten. Nachdem die Pferde in den Stallungen gestriegelt und gefüttert waren, frühstückten die Reiter. Während dann alle anderen aufsattelten, ging Dhana zur Weide und war erstaunt, die Königin dort bereits anzutreffen, die gerade eine wild aussehende falbe Stute streichelte. Bald erschienen die Schüler, Onua und Buri auf ihren Ponys, und Sarge gesellte sich auf einem kräftig gebauten kastanienbraunen Wallach zu ihnen. Die vier Lehrer zu Pferd jagten die Reitschüler durch einen Morgen harter Arbeit: Schrittgehen, Trab, Handgalopp, Galopp mit und ohne Sattel. Nach dem Mittagessen wechselten sie zu ihren Ersatzpferden, und alles begann noch einmal von vorn. Dhana begriff bald, daß ein höfliches »Entschuldigung« ungehört verhallte. Sie begriff auch, daß sie nicht schüchtern sein durfte, wenn sich ihrer Meinung nach ein Pony einen Stein eingetreten oder einen Muskel überdehnt hatte. Bis zum Ende des Vormittags hatte sie gelernt zu brüllen. Nicht so schmetternd wie Sarge, aber für ihre Zwecke genügte es. Nach dem Mittagessen suchte Numair sie. »Wie geht’s?« fragte er und lehnte sich neben sie über den Zaun. Als sie den Mund öffnete, kam nur ein Krächzen heraus. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Prima. Es geht sehr gut.« »Ich hab’ mir überlegt… wegen diesem Experiment, du weißt schon…« Er blinzelte zum Himmel empor. »Du bist jetzt wahrscheinlich zu beschäftigt, um es zu versuchen, oder?« Wolke kam angetrottet. Sag dem Mann mit den Storchenbeinen, ich gehe mit ihm. Numair sah Dhana erstaunt an, als das Mädchen über Wolkes treffende Beschreibung des Zauberers lachen mußte. Als sie wieder zu Atem gekommen war, sagte sie: »Nein, frag mich nicht. Es ist nichts, was du wissen mußt!« Zum Pony sagte sie: »Aber es gibt keinen Zauberspruch, durch den ich mich mit ihm verständigen kann. Und Onua kann ich nicht fragen, nicht jetzt. Ich sollte es nicht einmal selbst versuchen, da ich dazu da bin, um mir hier mit diesen Leuten mein Geld zu verdienen.«
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Das Pony stampfte ungeduldig auf. Du tust, als wärst du hier die einzige Schlaue. Ich sag’ dem Storchen-Mann schon selbst, wenn ich dich nicht mehr hören kann. Dhana übermittelte Numair das Angebot des Ponys. »Du meinst, sie will sich dem Test ohne deine Vermittlung unterziehen? Kann sie das denn?« fragte er fasziniert. »Sie sagt, sie kann es. Ich weiß, daß sie mich immer findet, wenn einer von uns allein wegläuft.« »Na schön.« Er verneigte sich vor dem Pony. »Übernimm du die Führung.« Während sie weggingen, hörte Dhana noch, wie er sagte: »Und es wird nicht gebissen.« Die Schüler verließen die Stallungen mit ihren Ersatzponys, gefolgt von der Königin und den anderen Lehrern. Dhana war bald sehr beschäftigt. Sie dachte nicht mehr an Wolke und Numair. Der Nachmittag verlief genau nach dem Muster des Vormittags, mit einem Unterschied: die Lehrer waren noch immer frisch und munter, aber bei den Schülern zeigten sich Spuren der Ermüdung. »Komm schon, Evin!« schrie die Königin und umkreiste den Schauspieler im Galopp. »Angreifer geben dir keine Zeit für eine Mittagspause, Bürschchen!« »Ich will keine Luft zwischen Hintern und Sattel sehen, Schülerin!« brüllte Sarge dicht hinter Miri. »Du reitest diesen Wallach, als wäre er ein anderes Wesen! Das ist er nicht. Er ist ein Teil von dir, also bring die beiden Teile zusammen!« Onua raste auf Shelda, ein brünettes Mädchen, zu und schlug ihr den Bogen aus der Hand. Sie ritt einen Halbkreis und kam zurück. »Ein Feind hätte das mit einer Axt tun können. Jedesmal, wenn du dich auf dein Pferd konzentrieren mußt, gibst du dem Gegner eine Chance.« »Dein Steigbügel ist zu lang!« schrie Dhana einem der Männer zu. »Halt an und verkürze ihn!« Er schien sie nicht zu hören. Innerhalb weniger Sekunden kam Buri unbeobachtet heran. Sie beugte sich weit über die Seite ihres Ponys herunter und packte den betreffenden Steigbügel. Das Pony des Schülers wirbelte herum und versuchte, der K’mir zu entkommen. Der Reiter, Tarrus, rutschte ab und fiel herunter. 95
Buri richtete sich im Sattel auf und sah Tarrus an. »Dein Steigbügel war zu lang, Schüler. Verkürze ihn.« Ruhig ritt sie davon. »Tut mir leid«, sagte Dhana, als sich der junge Mann aus dem Schlamm hochrappelte. Sie reichte ihm die Hand. »Ich habe versucht, dich zu warnen.« Er grinste sie an. Seine kleine, spitze Nase zitterte wie die eines Kaninchens. »Ich wollte ihn bei der nächsten Pause verkürzen. Das nächstemal mach’ ich’s gleich.« Als es für die Schüler Zeit war, ihre Reitpferde in den Stall zu bringen, war Dhana müde. Aber sie wußte, sie konnte nicht so müde sein wie die anderen. Steif bewegten sie sich beim Striegeln und Füttern der Pferde. Sie machten keine Spaße mehr und beklagten sich nicht einmal, wenn Dhana oder die Lehrer sie korrigierten. Erst als jedes Pony versorgt war und die Schüler sich in die Baderäume zurückgezogen hatten, verabschiedete sich die Königin und wanderte den langen Gang zum Palast hinauf. Sie hatte ihre Pferde gestriegelt, genau wie die Schüler, und war dennoch rechtzeitig genug damit fertig geworden, um deren Arbeit kritisieren zu können. »Macht sie das jeden Tag?« erkundigte sich Dhana bei Buri, als sie den Reitlehrern zum Haus folgte. Die stämmige K’mir nickte. »Im Herbst und im Winter kann sie nicht draußen auf der Weide sein. Das ist die Gesellschaftssaison. Sie muß herumreisen und Königin sein. Sie arbeitet mit den Schülern als Ausgleich für die Zeit, in der sie nicht bei der Gruppe sein kann.« »Aber es gibt auch Zeiten, da verläßt sie selbst einen Ball oder ein Essen, um einer Gruppe, die in Schwierigkeiten ist, zu Hilfe zu kommen«, ergänzte Onua. »Einmal hat sie sich dabei sogar ein teures Ballkleid ruiniert.« »Und der König war nicht wütend?« wollte Dhana wissen. »Er hat ihr nur gesagt, sie soll das nächstemal versuchen, vorher die Kleider zu wechseln.« Erst als das Abendessen beinahe beendet war und der Zauberer an der Speisesaaltür erschien, fiel Dhana wieder ein, daß er ja mit Wolke herumexperimentiert hatte. »Bereit für den Unterricht?« fragte er und setzte sich neben sie. 96
»Wie war’s heute nachmittag?« fragte sie. »Wir haben herausgefunden, daß du Wolke etwa innerhalb eineinhalb Meilen erreichen kannst. Bei Tieren, die nicht für längere Zeit mit dir in Verbindung stehen, mag es etwas weniger sein. Und Dhana, hast du bemerkt, daß Tiere, mit denen du viel Zeit verbringst, klüger sind als andere? Klüger in einem menschlichen Sinn?« Sie spielte mit ihrem Löffel. Ein Freund ihrer Mutter hatte das gleiche gesagt, nachdem Dhana einen seiner Falken gepflegt hatte. Aus diesem Grund hatten es einige der Hirten gern gehabt, wenn sie ihre Hunde dressierte. »Ist das schlimm?« »Nein, wieso denn? Dadurch besitzen deine Tiere nicht weniger Fähigkeiten, in der Wildnis zu überleben, ganz im Gegenteil.« Numair nahm ihr Tablett und stand auf. »Komm, wir gehen spazieren.« Er brachte ihr Tablett weg. Seufzend stand Dhana auf, ihre müden Muskeln schmerzten. Miri winkte ihr. »Wenn du keinen Unterricht bei ihm willst, ich opfere mich«, bot das Mädchen sich an. »Er ist süß.« Dhana folgte ihrem Lehrer und schüttelte den Kopf. Numair sah blendend aus, aber er war nicht der König. Der Zauberer führte sie über die Pferdekoppel. Alle paar Schritte blieben sie stehen, weil Dhana die grasenden Ponys und Pferde begrüßen mußte. Jedesmal tätschelte sie ihnen den Hals, entschuldigte sich und sagte, sie würde sie ein andermal besuchen. Die Pferde blieben zurück, und Numair und Dhana erreichten den Wald. Sie konnten gerade genug erkennen, um nicht gegen die Bäume zu rennen. Der Pfad führte zu einer grasbewachsenen Lichtung. Die Tiere, die normalerweise an dem großen Teich in der Mitte zur Tränke kamen, waren geflohen, als sie die Menschen hörten. Aber Dhana spürte ihre Blicke. Über ihr quiekte eine Fledermaus. »Setz dich.« Numair deutete auf einen Stein in der Nähe des Teiches. Sie gehorchte ein wenig nervös. Er stellte sich hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Ich werde jetzt meine Gabe benützen, aber durch dich. Du mußt das verstehen. Wenn ich das mit dem König oder mit Alanna machen würde, sie würden nicht sehen, was du sehen wirst.« 97
»Wenn du es sagst.« Das Haar in ihrem Nacken sträubte sich, und sie zitterte. Es war eigentlich keine Angst, denn sie fürchtete sich nicht vor ihm. Andererseits, die Dunkelheit war erfüllt von seltsamen Strömungen, deren Ursprung in dem Mann hinter ihrem Rücken lag. Er legte seine Finger an ihre Schläfen. »Nun… genau wie wir es machen, wenn wir meditieren«, befahl die weiche Stimme über ihrem Kopf. »Langsam, tief atmen… einatmen.« Er atmete mit ihr zusammen. »Halt den Atem an. Atme aus, vorsichtig. Noch einmal, ein… aus… ein… aus…« Mit geschlossenen Augen atmete sie nach seinem Kommando. Ihr Kopf füllte sich mit Ranken aus glitzerndem Licht, eingehüllt in Dunkelheit – oder war es andersherum? Als der Raum hinter ihren Augen ausgefüllt war, brach die Magie aus ihr heraus. Sie spürte, wie sie durch die Lichtung rieselte, Gras und Bäume durchtränkte. Sie tröpfelte in den Teich, folgte dem Wasser bis auf den Grund. »Öffne deine Augen.« Sein Flüstern schien aus dem Innern ihres Kopfes zu kommen. Sie gehorchte. Die vorher so dunkle Lichtung war durchzogen von schimmernden Adern. Alles, was bei Tag grün war, war jetzt von smaragdgrünen Fäden durchzogen. Ehrfürchtig bückte sie sich und pflückte einen Grashalm. Die Nadel aus grünem Feuer, die seine Rippe bildete, leuchtete auf und wurde dunkel. Reuevoll seufzte sie: »Ich wollte nicht…« »Psst«, sagte Numair leise. »Schau auf den Boden.« Ein fahler, bronzefarbener Nebel lag auf den Schichten abgestorbener Blätter unter den Bäumen. Als sie den Grashalm fallen ließ, verwandelte sich seine Blattrippe in die gleiche matte Bronze, sobald er den Boden berührt hatte. »Er kehrt zur Göttin zurück«, flüsterte sie. Der Stein unter ihr und die anderen Felsbrocken, die sie sehen konnte, waren geädert mit dunklem Silber. Eine Eule auf einem nahen Ast leuchtete durch eine Spur von kupferfarbenem Feuer. Eine Wühlmaus buddelte unter einem Busch in der Nähe der Quelle, ein Punkt aus kupfernem Licht. Dhana sah ihre Hände an. Sie waren durchzogen von rötlichen Linien, beinahe, als hätten ihre Adern die Fähigkeit zu leuchten. 98
Verflochten mit dem Rot waren Streifen aus kupfernem Feuer. Sie betrachtete die Eule, die Wühlmaus und dann ihre Hände – überall derselbe kupferfarbene Schimmer. Sie drehte sich halb um, und es gelang ihr, einen Blick auf Numair zu werfen. Auch er war von roten Feuerfäden durchzogen. Dazu waberte über seiner Haut ein weißer, perlmuttfarbener Schein wie ein Schleier. »Sitz gerade«, befahl ihr der Magier leise. »Ich muß mit dir in Verbindung bleiben, damit der Zauber nicht erlischt.« Sie gehorchte. »Ich wollte, ich könnte das alles aus eigener Kraft sehen.« »Du kannst es lernen, Dhana. Glaub mir. Der Seherblick ist in dir, genau wie die Macht zu heilen. Du mußt dir nur in Erinnerung rufen, welches Gefühl du hattest, als dich die Magie überkam. Und du mußt daran arbeiten, dieses Gefühl willentlich hervorzurufen.« »Aber wie denn?« Etwas zwischen ihnen bewegte sich, und sie wußte, daß sie in sich hineinschaute. Tief in ihrem Inneren entsprang eine Quelle aus kupfernem Feuer. Sie rief, und ein dünner Faden stieg daraus empor. Sie fing ihn ein, öffnete die Augen und warf ihn zu der Eule hin. »Du brauchst die Handbewegung nicht«, sagte Numair. »In der Magie ersetzt der Gedanke die Tat.« »Man muß es nur eindringlich genug wollen«, fügte sie hinzu. »Das hat meine Mutter immer gesagt.« »Sie hatte recht.« Die Eule glitt durch die Luft. Dhana streckte den Arm aus, und der Vogel setzte sich darauf und betrachtete sie aus ernsten Augen. Es war eine Schleiereule mit dem weißen Geistergesicht ihrer Art und einem kraftvollen Griff. Du hast mich gerufen, Schwester der Nacht? Die Stimme der Eule klang kalt und abgehackt. Sie war deutlicher als die jedes anderen Tieres, mit dem sie im Laufe ihres Lebens gesprochen hatte, ausgenommen Wolke. »Nur, um dich zu begrüßen, du Lautlose«, sagte sie respektvoll. »Du brauchst es nicht laut zu sagen«, unterwies Numair sie. 99
Dhana schüttelte den Kopf. »Könnten wir das alles ein bißchen nach und nach lernen?« fragte sie und ließ die Eule nicht aus den Augen. »Bitte.« Sie spürte sein Lächeln. »Wie du willst.« Die Eule plusterte ihre Federn mißbilligend auf. Es ist nicht Sache der Nestlinge, die richtige Zeit für den Unterricht zu bestimmen, sagte sie und flog weg. »Das hab’ ich auch gehört«, bemerkte Numair. »Sie hat recht. Und es ist jetzt Zeit aufzuhören.« Das Ende des Zaubers fühlte sich für Dhana so an, als sei sie von einer Wasserhülle umgeben, aus der das Wasser langsam herauströpfelte. Sie öffnete die Augen. »Wie fühlst du dich?« fragte Numair. Sie antwortete nicht. Sie verspürte ein Prickeln im Kopf, ähnlich dem von den Sturmflügeln verursachten, doch viel schwächer und weitaus angenehmer. Rasch sah sie sich nach dessen Ursprung um. Dieses Prickeln kam vom Teich! Ein winziges Geschöpf, kaum größer als die Eule und mit glitzernden Schuppen bedeckt, tauchte aus dem Wasser auf. Numair folgte ihrem Blick. Er sprach ein Wort, das Dhana nicht verstehen konnte, und die Lichtung füllte sich mit strahlendem Licht. Die kleine weibliche Gestalt im Teich stieß einen schrillen Pfiff aus und verschwand wieder im Wasser. »Ihr Haar war blau.« Dhana sagte das ganz gelassen. Sie hatte ihre Tagesration an Begeisterung verbraucht. »Sie war über und über voller Schuppen, und ihr Haar war blau.« »Undine«, flüsterte Numair. Sein dunkles Gesicht glühte vor Ehrfurcht. »Ich bin sicher, wir haben soeben eine Nixe gesehen, einen Wassergeist.« Er ging zum Teich und kniete sich davor. »Es tut mir leid, Kleines. Möchtest du nicht wieder heraufkommen?« »Vielleicht, wenn du das Licht dämpfst«, schlug Dhana vor. Sie hatte sich wieder auf den Stein gesetzt, denn mit dem Stehen haperte es, ihre Knie zitterten. »O ja, natürlich.« Wieder sagte er etwas, und die Lichtung wurde dunkel. 100
Sie warteten, Dhana war schon fast eingeschlafen, aber die Nixe kam nicht wieder. Schließlich gab Numair seine Nachtwache auf und weckte das Mädchen. »Das muß ich dem König erzählen«, sagte er, als sie sich streckte. »Oder vielleicht auch nicht. Sie tut niemandem etwas. Es heißt, daß sie Menschen gegenüber unglaublich scheu sind.« »Das hab’ ich bemerkt«, sagte Dhana trocken. Er zauberte eine Lichtkugel, damit sie den Pfad sehen konnten. Sie waren beide müde und brauchten diese Hilfe. »Einen Wassergeist zu sehen«, murmelte er. »Wir leben in wundervollen Zeiten, mein kleines Zauberlein.« »Was ist ein kleines Zauberlein?« fragte sie und gähnte. »Nun, eine kleine Magierin. Bist du das denn nicht?« Als sie die Lichtung verließen, sah Dhana aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Eine weitere winzige Gestalt, ein grünes weibliches Wesen, sah ihnen vom Zweig einer hohen Eiche aus nach. Dhana beschloß, Numair gegenüber nicht gerade jetzt Baumgeister zu erwähnen. Sie wußte nämlich nicht recht, ob es ihr gefiel, Zauberlein genannt zu werden. Der nächste Tag verlief – was die Arbeit betraf – nach dem gleichen Muster wie der vorhergehende. Doch, als habe der Aufenthalt in der Lichtung der Nixe ihren Geist erweitert, sah Dhana nun in jedem pelzigen und gefiederten Wesen, das in ihre Nähe kam, Spuren von kupferfarbenem Feuer. Das machte sie ganz verrückt, und es dauerte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Dann jedoch mochte sie es sogar. Später machte sie eine verblüffende Entdeckung: Als sie Onua mit den Ponys beobachtete, bemerkte sie, daß die gleiche Kupferfarbe Kopf und Hände der K’mir umrahmte. »Warum so überrascht?« fragte Numair am Abend, als sie es ihm erzählte. Sie waren wieder einmal auf dem Weg zur Pferdekoppel. »Sie ist – wie lautet der K’miri-Ausdruck? – die mit dem PferdeHerzen. Hast du denn geglaubt, Thayet würde irgend jemand mit der Beschaffung von Reitpferden beauftragen? Die Reiter sind von den Pferden abhängiger als alle anderen Krieger. Onua bietet die Garantie, daß sie die besten Tiere haben.« »Weiß sie das?« fragte Dhana. 101
»Natürlich.« Er setzte sich neben sie auf die oberste Zaunlatte. »Aber sie hat nicht genug davon, als daß man damit trainieren könnte wie bei dir. Es gibt noch ein paar Leute hier, die es haben. Ein Mann und sein Enkel im königlichen Marstall, zwei Schwestern bei den Hundezwingern. Stefan, der königliche Stallmeister, hat eine ganze Menge davon. Mit ihm habe ich auch schon geübt.« Kopfschüttelnd betrachtete Dhana die auf der Wiese grasenden Tiere. »Es ist nicht zu fassen. Und ich hab’ von alldem erst vor zwei Tagen gehört.« Er zwickte sie in die Nasenspitze. »Ja, mit dreizehn Jahren sollte man schon allwissend sein«, neckte er sie. »Und jetzt an die Arbeit.« Er deutete auf ein Pony, das etwa zweihundertfünfzig Meter weiter entfernt weidete. »Ruf es.« Sie öffnete den Mund, und er legte ihr sofort die Hand darüber. »Ohne Ton!« Sie starrte ihn an. »Wie soll ich sie dann rufen?« fragte sie, und seine Handfläche kitzelte sie an ihren Lippen. »Mit deinen Gedanken. Wir werden dir abgewöhnen, magische Vorgänge in konkrete Handlungen umzusetzen.« »Was?« »Du sollst nicht mehr glauben, daß du tatsächlich mit deinen Ohren hörst oder laut sprechen mußt, wenn sich alles in deinen Gedanken abspielt. Ruf jetzt dieses Pony.« »›Dieses Pony‹ ist eine Stute. Warum kann ich nicht einfach mit ihr sprechen?« Er seufzte. »Es könnte eine Zeit kommen, in der es deinen Tod bedeutet, wenn man dich hört. Also, dein Geist braucht Disziplin. Wenn dein Denken direkter wird, wird auch das, was du mit deinen Gedanken tun kannst, eine direktere Wirkung haben. Lerne, deine Gedanken zu konzentrieren. Konzentration schafft Kraft. Meditation führt zu dem gleichen Ergebnis. Wir machen hier oben Frühjahrsputz.« Er tippte mit seinem langen Finger an ihre Stirn. »Wenn du erst einmal alles geordnet an seinem Platz hast, kannst du es auch rasch finden. Und jetzt ruf sie, bitte.« Dhana biß die Zähne zusammen und dachte, so laut sie konnte: Komm her, bitte! 102
Die Stute graste weiter friedlich vor sich hin. »Denk an die Magie«, sagte Numair ruhig. »Versuch es noch einmal.« Nach etwa einer Stunde gaben sie auf und gingen ins Haus. Dem Mädchen tat der Kopf fürchterlich weh, und das Pony war auch nicht einen Schritt näher gekommen. »Wir werden weiter üben«, sagte Numair ruhig. »Hab’ ich aber ein Glück«, brummte sie und folgte ihm in ihr Zimmer. Auf ihrem Schreibtisch lag ein großes Buch. »Was ist das?« Sie schlug es auf, sah eine farbige Seite und zog überrascht die Luft ein. Es war die genaue Zeichnung der Knochen eines Wildschweins. »Es ist ein Buch über die Anatomie der Säugetiere«, sagte er und legte sich auf ihr Bett. »Ein Buch über was?« Er seufzte. »Ich vergesse ständig, daß du ja keine Schülerin bist, tut mir leid. Anatomie ist das, was in einem Körper drin ist, Muskeln, Adern, Organe und so weiter. Was Säugetiere sind, weißt du, du kennst nur den Fachausdruck nicht. Warmblütige Tiere, die ihre Jungen säugen, sind Säugetiere.« »Das sind die meisten meiner Freunde.« Sie sagte es leise und blätterte Seite um Seite um mit Fingern, die sie sich zuvor sorgfältig an ihrem Hemd abgewischt hatte. »Genau. Wenn du lernen willst zu heilen, muß du verstehen, wie die Tiere zusammengesetzt sind.« »Ein paar kenne ich schon.« Hier war das Skelett eines Bären und hier die Adern und Organe einer Katze. Jede Zeichnung war mit einem feinen Gefühl für die kleinsten Details ausgeführt. »Dieses Buch wird dir dabei helfen, das zu ordnen, was du schon weißt, und deinem Wissen Neues hinzuzufügen.« Sie verzog das Gesicht. »Warum? Meine Freunde ordnen ihre Gedanken auch nicht. Alles, was sie denken, geht wild durcheinander, drunter und rüber.« »Für sie genügt das auch«, sagte er geduldig. »Tiere können sich nur ungenau an die Vergangenheit erinnern. Sie sind nicht fähig, sich die Zukunft vorzustellen, abgesehen vom Wechsel der Jahreszeiten. Sie haben keine Vorstellung von der Vergänglichkeit, von ihrem Tod. 103
Sie lernen nicht aus Büchern oder von Lehrern, deshalb brauchen sie auch ihre Gedanken nicht zu ordnen. Du jedoch bist ein Mensch und deshalb anders. Wenn du keinen Weg findest, deine Gedanken zu ordnen, wirst du im schlimmsten Fall verrückt. Bestenfalls bleibst du dumm.« Sie schnitt eine Grimasse. Weder die eine noch die andere Vorstellung gefiel ihr. Seufzend betrachtete sie die Seite, die sie gerade aufgeschlagen hatte. Der Künstler hatte eine Fledermaus gezeichnet, mit freiliegendem Skelett, so daß man sehen konnte, wie die Knochen zusammenpaßten. »Du nimmst das am besten mit, wenn du gehst. Meine Freunde kommen jede Nacht hier herein. Ich will nicht, daß es beschädigt wird.« »Das Buch ist mit einem Zauber gegen Schmutz und Beschädigung belegt. Es gehört dir, ich will, daß du es benützt, nicht bewunderst.« Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er gesagt hatte. »Mir!« rief sie aus. »Nein! Es ist viel zu… zu wertvoll. Leute wie ich haben keine solchen Sachen!« Ihre Finger bebten, sie wollte es so gern behalten, aber Bauernmädchen wie sie besaßen keine Bücher. Er nahm ihre Hand, seine Augen waren sehr ernst. »Dhana, hör mir zu.« Er zog sie neben sich aufs Bett. »Du bist eine Studentin der Magie. Du brauchst Bücher wie dieses, um deine Arbeit zu tun. Ich bin dein Lehrer. Es ist meine Pflicht – in diesem Fall ist es mein Vergnügen -, dir alle Bücher und Schriftrollen zu geben, von denen ich glaube, daß du sie zum Lernen brauchst. Außer du willst nicht lernen?« »So ein Quatsch, natürlich will ich!« »Gut. Dann nimm dein Buch. Wir beginnen auf Seite eins.« Sie hörten erst auf, als Onua klopfte und ihren Kopf zur Tür hereinstreckte. »Wir wollen gerade meditieren. Kommt, wenn ihr mitmachen wollt.« »Müssen wir?« fragte Dhana und klappte das wunderbare Buch zu. »Frühjahrsputz«, sagte Numair und stand auf. Sie folgte ihm in den Speisesaal. Sie war überrascht, daß Meditation von allen Schülern verlangt wurde, nicht nur von denen mit der Gabe. 104
Dieser Tag setzte die Maßstäbe für die nächsten drei Wochen. Dhana brauchte sechs Tage, um zu lernen, ein ganz in der Nähe stehendes Pony ohne Worte zu rufen. Dann ließ Numair sie ein Pony rufen, das weiter weg war, aber noch in Sichtweite stand, bis sie auch das konnte. Als nächstes mußte sie ein Tier aus dem Haus oder den Stallungen rufen, das sie nicht sehen konnte. Oft war das Tahoi oder eine der Katzen, die in ihrem Zimmer schliefen. Sie arbeitete hart. Jede Aufgabe meisterte sie in immer kürzerer Zeit. Den Anatomie-Unterricht saugte sie förmlich in sich hinein. Jede freie Minute verbrachte sie mit dem Studium ihres geliebten Buches. Meditation war das schwerste. Sie gab sich große Mühe, sie wollte das kupferfarbene Feuer unter Kontrolle bringen, das ihre wilde Magie verkörperte. Das Problem bestand darin, alle Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen. Wirre Gedanken sprangen plötzlich in ihr Gehirn. Irgend etwas juckte sie, ein Muskel verkrampfte sich, und sie mußte wieder von vorn beginnen. Oft schlief sie ein. Das beste an der Meditation mit den Reitschülern war die Erkenntnis, daß sie nicht die einzige war, deren Gedanken abschweiften oder die einschlief. Allmählich gewöhnten sich alle an ihre Arbeit. Die Schüler wurden kräftiger, die Routine wurde zur Gewohnheit. Nach zwei Wochen unterrichtete Dhana die Schüler im Bogenschießen. Da mußten selbst die Lehrer hart arbeiten, um mithalten zu können. Dhana schlief beim Meditieren auch nicht mehr ein. Es fiel ihr jetzt leicht, an überhaupt nichts zu denken. Die tiefen Atemzüge machten ihre Gedanken leer und beruhigten den Rhythmus ihres Körpers. Sie lernte, so zu fühlen wie damals im Sumpf, als sie auf den Falken lauschte. Ist es das? dachte sie eines Nachts, als sie wach im Bett lag. Sie griff nach der Dachsklaue. »Ich wollte, du würdest kommen und es mir sagen«, flüsterte sie und erntete einen neugierigen Blick von dem Baummarder-Weibchen, das es sich mit seinem Jungen gerade auf ihren Beinen gemütlich gemacht hatte. Falls der Dachs sie hörte, so kam er doch nicht. »Typisch«, sagte Dhana zu den Mardern und schlief ein.
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6 Der Zauberlehrling Am nächsten Tag, seit ihrer Ankunft war ein Monat vergangen, wartete Dhana darauf, daß die Reitschüler ihr Morgentraining beendeten. Da hörte sie tiefes, beständiges Rumpeln. Eine Woche lang hatte es auf dem Hügel hinter dem Haus nur so von Männern gewimmelt, die leere Wagen beluden. Jetzt waren Ersatzpferde vorgespannt worden, und einer nach dem anderen rollten die Wagen davon. Sarge versetzte Dhana einen Klaps auf die Schulter. »Das war’s«, sagte er fröhlich. »Der König hat sich auf den Weg gemacht, jetzt können wir auch verschwinden. Ich bin fertig.« »Ich verstehe nicht recht«, sagte sie und verrenkte den Hals, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Auf welchen Weg?« »Schau, mein Lämmchen, im Sommer begibt sich der König auf seine Rundreise, um zu sehen, wie die Dinge in seinem Königreich stehen. Sobald er weg ist, bringt die Königin die Reitschüler in unser Sommerlager.« »Wir reisen morgen ab«, verkündete Alanna, die während der letzten Woche mit den Schülern trainiert hatte. »Das ist aber kurzfristig«, beklagte sich Farant, der mitgehört hatte. »Wieviel Zeit brauchst du denn, Schüler?« fragte Sarge. »Schließlich hast du einen halben Tag, um dich vorzubereiten. Eines Tages wirst du direkt aus dem Bett springen müssen, um dich auf einen langen Ritt zu begeben. Da wirst du diesen Schlendrian hier zu schätzen wissen.« Wie immer wurde die Meditation im Speisesaal abgehalten. Als Numair den Beginn der Stunde verkündete, beschloß Dhana, ihre Idee der vergangenen Nacht auszuprobieren. Anstatt an nichts zu denken, schloß sie die Augen und lauschte. Wie konnte Atmen nur so laut sein! Sie konzentrierte sich und ignorierte das Geräusch ihrer Lungen. Mit dem nachlassenden Lärm beruhigten sich auch ihre Nerven. Ein Trommeln in ihren Ohren war der Schlag ihres eigenen Herzens. Still, 106
befahl sie in Gedanken, und das Trommeln wurde leiser. Sie holte tief Atem und blickte in ihr Inneres. Dort sah sie die Quelle ihrer Kraft genau wie in jener Nacht am Teich der Nixe. Als sie dieses Gefühl in ihrem Gedächtnis verstaut hatte, wußte sie genau, wo sie es wiederfinden konnte. Es ist geordnet, dachte sie mit einem inneren Lächeln. Sie lauschte wieder. In der verschlossenen und dunklen Küche hinter ihrem Rücken machten Mäuse Jagd auf Abfälle. Sie dirigierte sie zu einer Käserinde, die sie unter dem langen Tisch für sie versteckt hatte. Dann schickte sie ihr Gehör aus dem Speisesaal hinaus in die Nacht. Alle möglichen Töne stürzten auf sie ein. Fledermäuse jagten Insekten, Katzen waren auf der Jagd, die Hunde in den Zwingern legten sich zum Schlafen zurecht, die Pferde entspannten sich, und die Falken in den Volieren des Palastes erwachten. Es waren fast zu viele Geräusche auf einmal, ihre innere Ruhe war in Gefahr. Sie drängte die tierischen Töne zurück. Erst als sie sicher war, sie unter Kontrolle zu haben, schickte sie ihr Gehör wieder auf die Pferdeweide hinaus. Dort graste eine Herde Ponys, einschließlich Wolke. Mittlerweile kannten alle sie von ihren Unterrichtsstunden im lautlosen Rufen. Sie trat zu ihnen. Eine Brise erhob sich und brachte üppige Düfte: reifes Gras, Blätter, den schweren, würzigen Geruch der Erde. Um sie herum waren ihre Brüder und Schwestern. Ein Leithengst wachte über seine Familie, er war bereit, sie beim leisesten Hauch der Gefahr in Sicherheit zu bringen. Der Frühling machte alle rebellisch. Schnaubend fing der Hengst an zu rennen, nur um des Rennens willen. Die Herde und Dhana folgten, sie brausten dahin, schwarze Erde wirbelte unter ihren donnernden Hufen auf, die Nachtluft strömte in ihre Nüstern. Bei der Herde war sie in Sicherheit. In der Herde hatte sie alles, was sie brauchte, ihre Kameraden, ihre Familie… Wolke bemerkte Dhanas Anwesenheit in der Herde sofort. Sie hatte das kommen sehen, als der Storchen-Mann das Mädchen ermunterte, sich immer weiter und immer weiter von sich selbst zu entfernen. Heute nacht war das Gefühl von Dhanas Anwesenheit stärker denn je, seit sie in diesen riesigen Menschenstall gekommen waren. Wolke hatte ein ungutes Gefühl. Als Dhanas Geist sich zu verändern begann, 107
als er begann, den Geruch der Herde anzunehmen, wußte Wolke, daß sie wieder mal in Schwierigkeiten waren. Sie rannte zum Zaun und setzte darüber. Von der Weide her hörte sie den Ruf der Herde, ihr zu folgen. Sie zögerte. Dann gab sie mit einem ärgerlichen Wiehern dem Teil von sich nach, der unpferdmäßige Dinge dachte, und rannte zu dem Stall, in denn sich Dhanas Körper befand. Das Tor war verriegelt. Sie warf sich dagegen, drosch mit ihren Hufen darauf ein, bis es der große Mensch, dieser holzbraune Mann, endlich aufriß. Sie raste an ihm vorbei – für Höflichkeit war jetzt keine Zeit – und sah sich in diesem Raum um, in dem es nach Menschenessen roch. Natürlich, da saß Dhana auf dem Boden, die Vorderhufe schlaff im Schoß, die Augen geschlossen. Wolke trabte zu dem Mädchen und warf es um. Eine warme Kraft ergoß sich in Dhanas Körper. Plötzlich hatte die Herde sie losgelassen, sie war innerhalb ihres Gedankenkreises in Sicherheit. Sie öffnete die Augen und sah Wolke über sich stehen. Menschen standen herum und redeten. »Ich hab’s wieder getan, oder?« flüsterte sie. Numair kniete neben ihr, seine dunklen Augen waren voller Sorge. »Was ist passiert? Sie hat fast die Tür eingetreten, um zu dir zu kommen.« Dhana zitterte. Sie wußten es nicht. Sie wußten nicht, was Wolke verhindert hatte. Danke, sagte sie zu der Stute. Lauf nicht wieder mit den Verwandten, bis du weißt, wie du dich zurückholen kannst. Ich werd’ nicht immer dasein, um dich aufzuwecken! Dhana suchte in ihrer Tasche herum und brachte zwei Stück Zucker zum Vorschein. »Am besten gehst du jetzt nach draußen«, flüsterte sie, und Wolke gehorchte. Numair half Dhana auf die Füße. »Es ist schon gut«, versicherte er allen. »Wir haben nur ein Experiment versucht. Ich ahnte nicht, daß es so gut funktionieren würde.« Er schirmte sie vor den neugierigen 108
Blicken der Schüler ab und führte sie aus dem Speisesaal hinaus und in ihr Zimmer. »Was ist passiert?« fragte er und schloß die Tür. »Mir ist übel geworden«, log sie. »Bloß Kopfschmerzen, das ist alles.« »Deswegen wäre Wolke nicht gekommen«, entgegnete er. »Sie war regelrecht in Panik. Was ist denn schiefgelaufen? Und was ist das da?« Die Dachspfote war aus ihrem Hemd gerutscht. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie. »Allem Anschein nach eine Klaue.« »Die gehört mir«, erwiderte Dhana und riß sie ihm aus der Hand. »Das ist privat! Darf ich denn überhaupt nichts Privates mehr haben?« »Dhana…« Sie erhob ihre Stimme, denn sie wußte, sie würde gleich anfangen zu heulen. »Würdest du jetzt bitte gehen! Ich bin müde, und mein Kopf tut weh! Kannst du mich denn nicht wenigstens einmal in Ruhe lassen?« »Na schön.« Sein Gesichtsausdruck war ernst und traurig. »Aber ich wünschte, du würdest mir vertrauen.« Er verließ das Zimmer und schloß leise die Tür. Dhana setzte sich aufs Bett, Tränen liefen ihr über die Wangen. Was konnte sie tun? Wenn sie sich zu tief in die Meditation versenkte, riskierte sie, verrückt zu werden. Wenn sie aber nicht tief hineinging… Er sagt, ich könnte lernen zu heilen, dachte sie verzweifelt und preßte die Klaue fest an sich. Aber zuerst muß ich das in den Griff kriegen, sonst werde ich niemals in der Lage sein zu heilen. Gefangen zwischen der Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren, und dem Wunsch, die Macht zu erlangen, von der Numair gesagt hatte, daß sie sie in sich trage, warf sich das Mädchen in dieser Nacht hin und her. Sie schlummerte ein, aber nur um davon zu träumen, wie sie auf allen vieren einen Waldpfad entlangrannte. Gewohnheitsmäßig wachte sie im Morgengrauen auf. Es war die Zeit, zu der Sarge üblicherweise losbrüllte, um alle zu wecken. An diesem Morgen hatte man den Schülern eine zusätzliche Stunde Schlaf zugebilligt. Dies bedeutete, sie hatte den Stall für sich allein, wenn sie sich beeilte. 109
Lautlos rief sie Wolke herein, um sie gründlich striegeln und ihr ein ausgiebiges Frühstück geben zu können. Später würde sie dazu bestimmt keine Zeit mehr haben. Onua hatte sie gebeten, sich um den Wagen mit den Vorräten zu kümmern. Dhana vermutete, daß ihre Zeit bis zur Abfahrt damit ausgefüllt sein würde, das Zugpferd zu versorgen und sich davon zu überzeugen, daß alle Dinge, die noch in letzter Minute eingepackt wurden, sicher verstaut waren. Ein Fremder war im Stall, ein Mann mit einem Schmerbauch, den die Ponys in ihren Boxen begeistert begrüßten. Kupferfarbenes Feuer leuchtete in seinem roten Gesicht. Als er sie sah, fuhr sein Kopf hoch, als sei er ein überraschtes Pferd. Plötzlich schüchtern, blieb Dhana unter der Tür stehen. »Entschuldigung… könnte es sein, daß Ihr Stefan seid? Der Stallmeister?« »Könnte sein. Wer bist du?« Er kann es in mir nicht sehen, erkannte sie. Ich kann seine Magie sehen, aber er nicht die meine. »Dhana, Sir. Meister Numair sagte, Ihr habt die wilde Magie. Ich auch.« Der Mann wurde ein bißchen freundlicher. »Ah, die bist du. Hab’ dir’n Zugpferd gebracht.« Er führte sie zu einem Neuankömmling, einem stämmigen Braunen. »Das is’ Lümmel.« Dhana bot dem Wallach ihre Hände zum Beschnuppern an. »Lümmel?« fragte sie grinsend. Ihr schien der Braune ein ruhiges, gutmütiges Pferd zu sein. Stefan lächelte und senkte den Kopf. »Na ja«, murmelte er. »Jedenfalls is’ er für jede Art von Arbeit gut zu gebrauchen.« Dhana beugte sich nieder, um in Lümmels Nüstern zu blasen. »Er mag dich. Onua sagt, ich brauch’ mir keine Sorgen nich’ machen, wenn du dich um ihn kümmerst.« Wolke stieß Stefan von hinten an. »Wer is’n diese feine Dame?« Er begrüßte die Stute, während Dhana sich weiterhin mit dem Braunen bekannt machte. Stefan tätschelte die Stute noch ein letztes Mal, winkte Dhana zu und ging zur Stalltür. »Meister Stefan?« Er drehte sich um. »Ist Euch jemals danach, mit der Herde wegzurennen? Einfach… ein Pferd zu sein? Zu tun, was die Herde tut?« Sie schwitzte und wartete gespannt auf seine Antwort. Es hatte sie eine Menge Überwindung gekostet, diese Frage zu stellen. 110
»‘türlich«, sagte er gelassen. »Geht’s nich’ allen so?« Sie faßte nach der unter ihrem Hemd verborgenen Dachsklaue. »Was hält Euch davon ab?« Er fuhr sich durch das strohblonde Haar. »Ich bin ‘n Mann. Ich kann doch nich’ einfach mit ‘ner Herde wegrennen, oder?« Damit verließ er den Stall und schloß die Tür hinter sich. Wie er das sagte, klang es sehr einfach, aber das war es nicht. Mit mir stimmt irgend etwas nicht, entschied sie. Es ist das Verrücktsein, das nur darauf wartet, daß meine Aufmerksamkeit nachläßt und ich mich wieder fortreißen lasse. Stefan kann sich dadurch schützen, daß er niemals vergißt, wer er wirklich ist, aber ich kann mich dann nicht daran erinnern. Das Mädchen führte Wolke in eine leere Box und schwor sich, ständig auf der Hut zu sein. Es war besser, Numair zu enttäuschen, als auszuklinken und den Respekt ihrer Freunde in diesem Land zu verlieren. Sie war beinahe mit Wolke fertig, als Onua den Stall betrat. »Da bist du also. – Hat Stefan unser Zugpferd gebracht?« Dhana wies mit dem Daumen nach ihm. »Er heißt Lümmel.« Onua grinste, als der Braune an ihren Taschen schnupperte. »Tatsächlich?« Während sie dem Braunen einen Apfel gab, sah sie Dhana an. »Hast du Stefan kennengelernt?« Das Mädchen nickte. »Onua… wegen gestern abend… es tut mir leid.« »Weswegen?« Die K’mir versetzte Lümmel einen letzten Klaps und kümmerte sich dann um ihre eigenen beiden Ponys. »Dhana, deine Magie führt dich auf einen Pfad, der sich von dem der meisten anderen Menschen unterscheidet. Deine Freunde verstehen das, wenn du es schon nicht verstehst. Hör auf, dir so viele Gedanken zu machen.« »Danke«, flüsterte sie. »Bedank dich nicht, beweg dich lieber. Wir wollen schließlich fertig und zum Abmarsch bereit sein, wenn die erste Morgenglocke läutet.« Nach einem schnellen Frühstück verstaute Dhana das Gepäck der Reitlehrer im Wagen, spannte Lümmel vor und fuhr zum ebenen Platz vor dem Tor zur Pferdekoppel, wo sich die Reiter versammeln sollten. 111
Alanna winkte, als sie auf Dunkelmond vorbeiritt, um neben der Königin zu warten. Dhana winkte zurück, sie wußte, die Löwin würde nach dem Mittagessen gesprächiger werden. Allmählich fragte sie sich, wo Numair blieb, als plötzlich mehrere Packen polternd hinten auf den Wagen fielen. Der Magier kam auf einem schwarzweißen Wallach angeritten und sah sehr müde aus. Als wollte er das noch beweisen, legte er sich auf den Rücken seines Pferdes. »Weck mich auf, wenn ‘s losgeht«, sagte er und schlief allem Anschein nach ein. Dhana betrachtete ihn lächelnd. In einem braunen Waffenrock, weißem Hemd und grünen Reithosen glich er dem Mann, den sie von der Straße nach Corus her kannte, nicht dem in Seide gehüllten Freund der Könige, der ihr Unterricht erteilt hatte. Die juwelenbesetzten Nadeln und Ringe, die er seit seiner Rückkehr an den Hof getragen hatte, waren nicht zu sehen. Der einzige Hinweis auf seinen offensichtlichen Wohlstand war ein großer Bernsteintropfen, der von einem Ohrläppchen baumelte. Langsam versammelten sich dreiundzwanzig Reitschüler in zwei Reihen vor Dhana. Ihre Ersatzpferde führten sie an den Außenseiten. Jeder einzelne wurde von der Königin, Buri, Sarge oder Onua inspiziert. Einige wurden zurückgeschickt, um ihr Gepäck zu erleichtern. Vier davon mußten sogar ein zweites Mal zurück, aner diesmal begleitet von Sarge. »Reiter reisen leicht!« hörte man ihn brüllen, als er mit seinen Opfern in der Unterkunft war. Endlich waren alle fertig. Alanna und Buri nahmen ihre Plätze an der linken Seite, Sarge und Onua an der rechten Seite der Reihen ein. Thayet ritt an die Spitze des Zuges, und Dhana stieß Numair heimlich an. »Ich glaub’, es ist soweit«, flüsterte sie. Er öffnete ein blutunterlaufenes Auge und nickte. Dann richtete er sich im Sattel auf. Es war soweit! Thayet zog ihren leicht gekrümmten Säbel aus der Scheide und hielt ihn hoch. »Reiterei, vorwärts!« rief sie und ritt los. Die Schüler folgten in der vorgeschriebenen Entfernung und im vorher festgelegten Abstand zueinander. Sie schlugen eine gut markierte Straße ein, die in den königlichen Forst führte. 112
Dhana spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. »Das ist wirklich wunderschön«, sagte sie zu niemand Bestimmtem. »He, Lümmel, los!« Er spitzte die Ohren und gehorchte. Um zwölf Uhr machte die Truppe Mittagspause. Dann wurden die Pferde gewechselt. Dhana, die ihre Verlegenheit wegen des vergangenen Abends verdrängte, verkniff sich ein Lächeln, als Numair sie fragte, ob er neben ihr reiten dürfe. Sie war sofort damit einverstanden. Es war schwer, sich von einem Mann fernzuhalten, der so miserabel zu Pferd saß, daß er jede Unebenheit der Straße spüren mußte. Sie freundete sich mit seinem geduldigen Wallach an und sagte dem Pferd, es verdiene eine Karotte dafür, daß es einen derart unbeholfenen Reiter tragen mußte. Im Laufe des Nachmittags kamen sie schneller voran und legten eine ziemliche Entfernung zurück, ehe sie ihr Nachtlager aufschlugen. Das Abendessen kam aus Kesseln, die im Wagen verstaut gewesen waren. »Morgen werdet ihr euch euer Essen jagen«, kündigte Sarge an, als sie sich ihre Schalen mit Eintopf füllten. »Da macht ihr dann besser keinen Krach, sonst gibt’s nichts zu essen.« Dhana, die zwischen Evin und Miri saß, unterdrückte ein Grinsen. Als sie zu den Lagerfeuern zurückkehrten, nachdem sie ihre Sachen abgewaschen und aufgeräumt hatten, wurde sie von Numair abgefangen und zu einem abgelegenen Platz geführt. »Unterricht«, sagte er knapp. »Solange wir beide zusammen reiten, gibt’s auch Unterricht, mein kleiner Zauberlehrling.« Sie konnte wirklich nichts dagegen einwenden. Sie wußte, auch die Reitschüler hatten Unterricht, und die hatten sich während des ganzen Tages mit zwei quicklebendigen Ponys abplagen müssen. Seufzend setzte sie sich auf einen nahen Felsbrocken. Numair legte ihr Buch auf einen anderen Stein, wo Wolke, die mitgekommen war, nicht daran herumknabbern konnte. Im Schneidersitz setzte er sich neben Dhana. Er rieb seine großen Hände aneinander. »Heute abend werden wir etwas anderes ausprobieren. Während du abgewaschen hast, habe ich Lümmel und mein Pferd, Fleckchen, 113
losgebunden. Ich möchte, daß du sie beide zu uns rufst, und zwar gleichzeitig.« »Warum kann ich nicht eines nach dem anderen rufen?« »Du machst es einem vielleicht schwer«, wies er sie zurecht. »Es kommt mir so sinnlos vor.« »Erinnerst du dich noch an den Angriff der Sturmflügel auf der Pferdeweide? Du hast ziemlich viele Tiere gerufen, alle auf einmal. Möglicherweise mußt du eines Tages wieder das gleiche tun. Wäre es dann nicht nett, wenn du anstatt ganze Herden zu rufen, nur so viele Pferde rufen mußt, damit du in Sicherheit bist?« Da hatte er ihr’s wieder einmal gegeben! Sie fand den kupferfarbenen Faden in ihrem Gedächtnis, wickelte ihn um einen Ruf und hielt ihn fest. Lümmel, Fleckchen, würdet ihr bitte herkommen? Die beiden brachen durchs Unterholz und stießen Dhana und Numair mit ihren Mäulern an. »Siehst du? Das war gar nicht so schlecht«, sagte Numair zu Dhana. »Schick sie jetzt wieder zurück, bitte.« Mit einer Entschuldigung und einer kurzen Erklärung gegenüber den Pferden gehorchte sie. Numair hielt Daumen und Zeigefinger empor. Dazwischen glitzerte ein winziger Ball seiner Magie. »Onua, jetzt, wenn ich bitten darf«, sagte er ruhig. Er preßte Daumen und Zeigefinger zusammen und schnippte den Ball davon. »Unsere Freundin läßt einige der anderen Reitpferde frei«, sagte er zu Dhana. »Wie viele hat sie freigelassen?« Dhana lauschte – nicht mit meinen Ohren, schärfte sie sich ein. »Fleckchen und Lümmel sind schon frei. Onua hat, Moment mal… Kadett und General, Sarges beide Pferde, und ihre beiden, Wüstenwind und Seidenglanz, und Dunkelmond freigelassen.« »Ruf sie, alle auf einmal«, sagte Numair. Sie hatte ihre Mühe mit dem Ruf-Zauber. Er funktionierte nur bei einem Tier, bestenfalls bei zweien, denn sie machte nichts anderes, als ihre Magie auf ein Gehirn zu konzentrieren, das sie leicht hören konnte. Um mehrere Gehirne zu erreichen, mußte sie sich für ihre 114
Umgebung öffnen. Sie versuchte es, verlor jedoch die Konzentration, als eine Eule über ihr kreischte. »Ganz ruhig«, sagte Numair mit seiner tiefen Stimme. »Es wird leichter, je mehr du übst. Finde sie, und dann ruf sie, sanft. Du brauchst nicht zu viele.« Sie nickte, wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht und versuchte es noch einmal. Sie schloß die Augen und lauschte auf jene, die nicht angebunden waren. Das war einfach. Ein festgebundenes Pferd dachte immer nur an das Ding, das es davon abhielt, dieses besonders saftige Grasbüschel direkt vor seiner Nase zu erreichen. Da, jetzt hatte sie sie! Sie öffnete die Schublade in ihrem Gehirn, in der sie all ihre Fähigkeiten des Rufens aufbewahrte… Die Brise führte den Geruch des Hirsches mit sich; ein Frosch quakte in der Ferne. Das weiche Flattern von Fledermäusen, die über ihr auf der Jagd waren. Die Herde war um sie herum, zufrieden das saftige, fette Gras weidend, das verblüffenderweise von den Hirschen übersehen worden war. Kadett und General waren bei ihr, dann kamen Wüstenwind, Seidenglanz, Fleckchen und Lümmel. Dunkelmond, jung und heißblütig, widersetzte sich ihrem Befehl. Sie würde ihm schon zeigen, wer hier das Sagen hatte, mit Hufen und Zähnen würde sie es ihm zeigen… Sie keuchte und warf sich selbst aus ihrer Magie hinaus. Die Herde hatte sie soviel leichter eingefangen als letzte Nacht! »Ich kann nicht«, sagte sie zu Numair, und ihre Stimme bebte. »Mein Kopf tut weh.« »Du mußt das lernen.« Zum erstenmal seit Beginn dieser Unterrichtsstunden war seine Stimme streng. »Vorher hattest du auch keine Kopfschmerzen. Versuch’s noch mal.« Ich kann nicht, dachte sie, aber es hatte keinen Sinn, ihm das zu erzählen, nicht, solange sie ihm nicht alles erzählen wollte. Verzweifelt beschwindelte sie ihn und haßte sich deswegen. Sie zog ihr Gesicht in Falten, biß die Zähne aufeinander, schloß die Augen, sie machte alles, damit er denken sollte, sie versuche es, aber sie achtete darauf, daß ihr Geist leer blieb. Sie machte das so lange, bis er seufzte. 115
»Vielleicht übe ich zu großen Druck auf dich aus. Du hast es bisher gut gemacht. Vielleicht zu gut. Die meisten Zauberlehrlinge brauchen über ein Jahr zu dem, was du in einem Monat gelernt hast.« Sie starrte ihn an. »Aber ich dachte, ich war nicht… Woher willst du das wissen?« Ängstlich fügte sie hinzu: »Kannst du in meine Gedanken hineinsehen?« »Nein. Und wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Wir haben alle unsere Geheimnisse.« Traurigkeit wanderte wie ein Schatten über sein Gesicht, und sie fragte sich, was wohl sein Geheimnis sein mochte. Dann lächelte er. »Ich bin ein Magier, ein sehr gut ausgebildeter. Wenn ich will, kann ich Dinge sehen, die dem normalen Auge verborgen bleiben, wie zum Beispiel die magische Aura eines Menschen. Siehst du die meine?« Er hob die Hände. Weißes, von Schatten durchzogenes Feuer umhüllte seine Finger. »Am ersten Tag, an dem ich wieder kräftig genug war, habe ich deine Aura untersucht.« Er ließ das Leuchten erlöschen. »Deine Magie war wie ein Durcheinander aus Weinreben, das dich umgab und in hundert Richtungen auseinanderstrebte. Du hast dieses Durcheinander unter Kontrolle gebracht, hast es unter deine Haut gezogen, und du machst das rascher als irgend jemand, den ich je kannte. Nun, vielleicht hast du dir einen freien Abend verdient. Komm, gehen wir zu den anderen zurück. Wir werden meditieren und dann schlafen gehen.« Sie wollte schon gegen das Meditieren protestieren, hielt dann aber den Mund. Ich schwindle ihm wieder was vor, wie beim Rufen, sagte sie sich. Als sie auf die Lichtung traten, wo die Reiter lagerten, sagte soeben Padrach in seinem harten Bergdialekt: »Warum erklärt er dann nicht den Krieg?« »Es stimmt, Carthak hat das größte stehende Heer der Welt«, erwiderte die Löwin. Sarge rollte eine große Landkarte ein, die vorher auf dem Boden ausgebreitet gewesen war. Alanna fuhr fort: »Aber um uns anzugreifen, müssen sie bei jeder Richtung übers Wasser – entweder über das Große Binnenmeer, oder sie müssen übers Smaragdmeer an unsere Küsten gelangen. Wir haben 116
den Vorteil, auf dem Land zu sein, während sie uns von See aus angreifen müssen.« »Seit König Jonathan den Thron bestiegen hat, ist die Kriegsflotte angewachsen«, mischte sich Thayet ein. Die Königin war wie die anderen gekleidet. Sie trug Reithosen aus Tuch, einen Waffenrock und ein schlichtes weißes Hemd. Ihr wunderbares Haar hatte sie festgesteckt, aber nichts konnte die Schönheit ihres Gesichtes und ihrer klaren, ruhigen Augen dämpfen. »Durch die Politik des Kaisers, Überfälle auf die Küste zu machen und Banditen dafür zu bezahlen, daß sie in den Bergen und den Hügeln angreifen, sind die Leute in diesen Gegenden wild entschlossen zu kämpfen. Seit Seine Majestät die Universität außerhalb von Corus erbaut hat, haben wir außerdem eine Menge Magier nach Tortall gebracht, und zwar so viele, daß es sich selbst Kaiser Ozornes erfahrene Zauberer zweimal überlegen, ob sie sich mit uns anlegen.« »Und nur ein Narr würde König Jonathan ohne echte Übermacht angreifen«, sagte Numair. »Nicht auf dem Boden von Tortall.« »Warum denn, Meister Numair?« fragte Miri. »Jonathans Magie und die Magie der Krone sind mit jedem Körnchen Erde dieses Landes verbunden«, erklärte der Magier. »Wenn ein Feind nicht irgendeine Art von Macht hat, die den König verletzt oder ihn davon abhält, seine Magie anzurufen, ist es möglich, daß jeder Baum, jeder Fluß und jeder Stein tödliche Fallen für einen Feind auslegen kann.« Dhana konnte in den Gesichtern der Schüler die Angst erkennen, die einen jeden Krieger erfassen mußte, wenn das Land selbst gegen ihn kämpfte. Dieser Gedanke verursachte auch bei ihr eine Gänsehaut. »Na schön, meine Täubchen, es ist wieder einmal Zeit«, schmetterte Sarge, nachdem er den Schülern einen Moment Zeit gelassen hatte, über diese Art der Kriegsführung nachzudenken. »Macht es euch bequem, aber nicht zu bequem!« Dhana setzte sich in die Nähe der Bäume am Rand der Lichtung. Innerhalb weniger Minuten hörte man nur noch das Atmen der anderen. Neidisch sah Dhana ihnen zu. Während dieses Monats, den sie bei den Reitern verbracht hatte, war ihr klargeworden, daß die 117
Meditation allen etwas gab, was sie sonst nirgendwo bekommen konnten: eine Zeit der Ruhe, eine Zeit, zu sich selbst zu finden. Vorsichtig, sachte schloß sie die Augen und holte tief Atem. Alles war gut, sie war in Sicherheit. Sie entließ ihren Atem, atmete erneut tief ein. Friede umfing sie wie die Arme ihrer Mutter. Sie öffnete die Ohren für die Geräusche der Nacht. In der Ferne heulte ein Wolf und bekam keine Antwort. Armer Wind-Bruder, dachte sie traurig. Niemand, der mit dir singt, keine Brüder und Schwestern, die mit dir jagen… es geht dir wie mir. Es ist sehr einsam außerhalb des Rudels. Während sie atmete, wurde ihr Geist klar, ihr Herzschlag verlangsamte sich. Sie vergaß die Gefahr und öffnete sich für die Musik des Waldes. Schwänze peitschten die Luft, Füße bewegten sich, Gras wurde von breiten Zähnen zermalmt. Frieden strömte von den Menschen auf die Reitpferde über. Die Herde war zufrieden… Wieder zwang Dhana sich aufzuwachen. Sie merkte, daß sie ihre Kleider durchgeschwitzt hatte. Was mache ich bloß? fragte sie Wolke, als die Stute sie mit den Lippen berührte. Ich kann nicht einmal die Augen schließen, schon passiert es wieder! Es passiert nicht, wenn du schläfst, stellte die Stute richtig. Es passiert nur, wenn du dieses Feuer-Zeug benutzt oder wenn du das Sitz-Ding machst. Laß das Feuer-Zeug sein und dieses Herumsitzen, und alles ist in Ordnung. Dhana schüttelte den Kopf. »Scheint, als komm’ ich vom Regen in die Traufe«, sagte sie leise zu Wolke. »Manchmal denke ich, ich hätte nicht von zu Hause weggehen sollen.« Am nächsten Tag beschleunigten die Reiter das Tempo. Es gab weniger Aufenthalte während des Ritts durch das Hügelland entlang der Küste. Und die wenigen Pausen waren kürzer. An jenem Abend schwindelte Dhana beim Unterricht, genauso wie sie bei den Meditationen schwindelte. Sie dachte, sie hätte ihre Sache gut gemacht, da hielt Numair sie auf, als sie gerade in ihre Bettrolle kriechen wollte. »Alles in Ordnung?« fragte er und befühlte ihre Stirn. »Stimmt irgendwas nicht?« 118
Sie sah zu ihm auf und schluckte. »Was soll schon nicht stimmen, außer daß ich mich zu Tode schufte?« fragte sie und versuchte, ihn durch ihre schroffe Art abzuwimmeln. »Ehrlich, kannst du nicht wenigstens einen Tag lang aufhören, so ein Theater wegen mir zu machen?« Tahoi, durch den Ton ihrer Stimme besorgt, winselte. Dhana sah zu ihm hinüber und merkte, daß Onua, Evin, Miri und die Löwin alles mit angehört hatten und sie anstarrten, als wären ihr plötzlich Hörner gewachsen. »Ich hab’s satt, die ganze Zeit beobachtet zu werden!« Sie wickelte sich in ihre Decken und wollte gar nicht sehen, wie die anderen auf diesen Ausbruch reagierten. Sie hörte Numair seufzen. Er tätschelte ihre Schulter. »Schlaf gut, Zauberlehrling.« Er ging weg, als Tahoi kam und sich neben sie legte. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie ihr Gesicht in den Decken versteckte. Ich habe Angst, hätte sie gerne zu ihren Freunden gesagt. Ich habe Angst, daß ich vergesse, wer ich bin, wenn ich mich tiefer in meine Magie versenke. Als sie am nächsten Morgen erwachte, war das Land in dichten Nebel gehüllt. Ohne mit irgend jemand ein Wort zu sprechen, striegelte und fütterte sie Lümmel und Wolke und spannte Lümmel vor den Wagen. Schweigend fuhr sie den ganzen Tag und ignorierte die Besorgnis, die sie auf Onuas und Numairs Gesicht sah. Im Laufe des Vormittags löste sich der Nebel auf, doch die Luft blieb kühl. Am Nachmittag trug die Brise, die vom Westen kam, einen neuen Geruch mit sich. Dhana schnupperte des öfteren und fragte sich, woher er kam. »Das ist das Meer«, erklärte Miri ihr, als sie sah, wie Dhana die Nase in die Luft streckte. Ihre Wangen waren rot, ihre grünen Augen glitzerten. »Es ist ganz nahe. Was du riechst, sind Salzwasser und Tang. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das vermißt habe!« »Wenn sie anfängt, seemännisches Zeug zu reden, stopf dir die Ohren zu«, riet Evin. »Sie gibt bloß an.« Miri streckte ihm die Zunge raus. Die Straße führte einen Hang hinauf, und eine neue Welt breitete sich vor ihnen aus. Dhana ließ die Zügel fallen. »Alle Götter und Göttinnen«, rief sie aus. Miri strahlte vor Stolz. »Ich hab’s dir ja gesagt.« 119
Nichts hatte Dhana auf diesen Anblick vorbereitet. Endloses blaugraues Wasser erstreckte sich von Nord nach Süd, und Wellen donnerten gegen die Felsenküste. Salzige Winde rissen ihr beinahe das Tuch vom Kopf, ehe sie es wieder festbinden konnte. In der Ferne schaukelte etwas mit einem weißen Tupfen obendrauf. Ein Boot, erkannte sie, aber sehr weit weg. Bald erreichten sie die Küstenstraße und überquerten sie, um in einer sandigen Bucht das Lager aufzuschlagen. Automatisch kümmerte sie sich um Lümmel und Wolke, obwohl sie ihre Augen kaum von dem Wasser wenden konnte. Sie war überwältigt. Sobald alle die Schießübungen mit dem Bogen absolviert hatten, führten Alanna und Miri die Schüler zu den Felsentümpeln in der Nordwestkurve der Bucht, um für das Abendessen zu sorgen. Thayet zog ihre Stiefel und Strümpfe aus und rollte die Hosenbeine hoch. »Komm«, sagte sie zu Dhana. »Wir gehen spazieren.« Dhana rannte los, um die Königin einzuholen, und versuchte, gleichzeitig ihre Stiefel abzuschütteln. Thayet lachte, blieb stehen und stützte Dhana. »Es läuft dir nicht davon«, sagte sie. »Mach nur langsam. Onua sagt, du hast das Meer zuvor noch niemals gesehen?« »Nein.« Sie überzeugte sich, daß ihre Hosen, die sie wie die Königin bis übers Knie hochgerollt hatte, auch fest saßen. »Dann schau es dir nur an. Siehst du, wie steil hier der Strand ist? Das heißt, die Wellen schlagen hart dagegen. Diese Wellen entwickeln einen Sog, der dich packt und hinauszieht, wenn du nicht aufpaßt. Je sanfter sich ein Ufer zum Wasser absenkt, um so weniger Sog gibt es. Aber vergiß niemals, daß er da ist.« Thayets Stimme war sehr ernst. »Eine Menge guter Schwimmer ertrinken, weil sie nicht gegen diesen Sog ankämpfen können.« Dhana nickte. Dieser Ort barg seine Gefahren wie jeder andere Ort auf der Welt. Das leuchtete ihr ein. »Also, dann gehen wir.« Die Königin machte sich an den Abstieg, als eine Welle gegen das Ufer schlug. Schaumiges Wasser umkreiste ihre Knöchel.
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Dhana holte tief Atem und folgte. Das Wasser war eisig. Als es ihre Haut traf, hörte sie ein Singen. Sie schnappte nach Luft und sprang zurück. Thayet stand bis zu den Knöcheln in den sich zurückziehenden Wellen und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während das Wasser den Sand unter ihren Füßen wegfraß. »Zu kalt?« fragte sie lachend. Sie hört es nicht, dachte Dhana. »Komm schon«, drängte die Königin. »Du wirst bald ganz blau gefroren sein.« Sie lief weiter ins Meer hinaus und blieb erst stehen, als das Wasser um ihre Knie wirbelte. Sie hob das Gesicht zur Sonne und stieß einen lauten, markerschütternden Kriegsschrei aus. »Thayet, laß das«, rief Numair. Mit hochgerollten Hosenbeinen war er ebenfalls ins Wasser gegangen, um einen klumpigen, zerfurchten Stein am nördlichen Ende der Bucht zu untersuchen. Er hielt etwas in die Höhe. »Komm, schau dir das an.« Thayet ging zu ihm. Dhana ging weiter. Noch ein paar Schritte, und sie war so weit draußen, daß die zurückweichenden Wellen sie nicht mehr auf dem Trockenen zurückließen. »Singen« war wohl nicht der richtige Ausdruck, aber sie konnte nicht sagen, welches das richtige Wort gewesen wäre. Teilweise war es ein Summen, ähnlich dem zärtlichen Geplauder einer Wölfin mit ihrem Jungen, aber anders als beim Wolf blieb der Ton konstant. Es folgte ein stöhnendes Pfeifen, dann eine Reihe kurzer, hoher Töne. Der Klang erinnerte an verwehte Laute in einer Höhle. Hallo? rief sie schweigend. Das fehlte ihr gerade noch, daß Numair sie fragte, warum sie mit dem Meer redete. Wer bist du? Keine Antwort, nicht einmal die erhöhte Aufmerksamkeit spürte sie, die sonst von den meisten Tieren ausging. Waren das Ungeheuer? Nein, in ihrem Geist sah sie kein goldenes Feuer. Sie faßte nach einem Faden ihrer Magie und versuchte es noch einmal. Ist da jemand? Ich bin’s, Dhana! Könnt ihr mich hören? Die Gesänge, es waren viele, und sie waren alle wunderschön, brachen ab. Hat jemand gerufen? Die Stimme war leise und unheimlich, anders als jede Tierstimme, die sie jemals gehört hatte. 121
Sie strengte sich an, ohne ihre Macht zu nützen, die ihr sonst das Hören erleichterte. Ja! Ich rufe euch! Ich, hier bei den Felsen… Kein Ruf. Ich habe gerufen! Wo seid ihr? Wer seid ihr? Rief ein Kälbchen? Kein Ruf. Ich bin nicht laut genug, meinte sie. Wenn ich meine Magie benützen würde, könnten sie mich vielleicht hören, aber ich traue mich nicht. Thayet schrie gellend auf und versuchte, Dhanas Aufmerksamkeit zu erringen, während sie auf das Mädchen zurannte. Die Königin schaffte es nicht mehr rechtzeitig, eine mächtige Gestalt, die Dhana niederwarf, war vor ihr da. Dhana stürzte ins Wasser, den Mund voller Salz. Wieder und immer wieder wurde sie von der Wucht eines Tieres ins Wasser gestoßen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und atmete Meerwasser ein. Miri und Evin erzählten später, sie hätte mit dem Kopf nach unten, wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, in der Luft gehangen und Wasser ausgespuckt. Sie wußte nur, daß sie wieder frei atmen und die Flüssigkeit ausspucken konnte, die sie beinahe getötet hätte. Nach unten blickend, schrie sie auf und versuchte, an sich selbst hinaufzuklettern und sich an dem unsichtbaren Griff festzuklammern, der ihre Knöchel umfaßt hielt. Hände, die nicht da waren, schleuderten sie auf den Strand, wo Onua mit einer Decke wartete. Dhana wurde sanft auf die Füße gestellt, aber die Knie gaben unter ihr nach. Onua fing sie auf, ehe sie fiel. Numair kam mit Riesenschritten den Strand heruntergerannt. Sein Gesicht sah aus wie eine Gewitterwolke. Schwarzes Feuer, durchsetzt von weißem Licht, waberte um seine ausgestreckte Hand. Sarge schnappte sich einen Köcher mit Wurfspießen, Buri ihren Bogen. Beide stürmten zum Angriff auf die braune Gestalt, die sich schwerfällig an Land begab. Dhana sah sie gerade noch rechtzeitig. »Nein, nicht!« Sie warf sich vor das Tier. »Nicht!« schrie sie, als Feuer Numairs Finger verließ und auf sie zuflog. Er drehte die Hände, und es verschwand. Dhana zog die Decke um sich und sah dem Wesen entgegen, das versucht hatte, sie zu töten. 122
Das Tier erwiderte ihren Blick aus riesigen, feuchtbraunen Augen in einem spitzen, von einem kleinen Haarschopf gekrönten Gesicht. Sein Körper war in der Mitte breit und lief vorne und hinten schmal zu. Sein glattes, hellbraunes Fell war um den Kopf herum licht und schäbig. Es watschelte auf Flossen, die in Klauen endeten, auf sie zu. Neugierig berührte sie sein Kinn und hob den Kopf hoch, um seine schlitzförmigen Nasenlöcher und seine kleinen, wie ein verschrumpeltes Blatt aussehenden Ohren zu betrachten. Es sprach in scharfen, abgehackten, vielfältigen Bell-Lauten. Es war ganz durcheinander, denn es hatte gedacht, sie sei ein männlicher Rivale, der gekommen war, ihm seinen Harem wegzunehmen. Sie folgte seinem Blick: zwölf weitere Wesen, alle etwa ein Viertel kleiner als das Männchen, beobachteten sie vom äußersten Ende der Bucht. »Wieso hast du gedacht, ich sei ein anderes Männchen?« fragte sie neugierig. Sie fühlte sich tatsächlich wie ein Männchen, wie ein Königsbulle. Er war entsetzt gewesen, er war jung, und die Kraft ihrer Gedanken hatte ihn davon überzeugt, daß sie ihm leicht seine Weibchen wegnehmen könnte. »Nun, ich bin kein Königsbulle«, versicherte ihm Dhana und strich über seine Schnurrbarthaare, bis er sich beruhigt hatte. »Ich bin ich, was immer das auch sein mag.« Er war erleichtert. Sein Harem war nicht in Gefahr. »Darf ich dich nach dem Abendessen besuchen?« fragte sie. Essen? Bilder von fettem, saftigem Fisch durchzogen sein Gehirn und das Wissen, daß er die Weibchen nicht verlassen durfte, um zu jagen. Sie versprach, ihm etwas zu bringen. Das schien das Mindeste, was sie für ihn tun konnte, nachdem sie ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Er bellte seinen Dank und glitt ins Wasser. Er hatte es eilig, zu seinen Damen zu kommen, ehe sich ein anderes Männchen an sie heranmachte. »Jetzt hab’ ich ganz vergessen, ihn zu fragen, was er ist«, murmelte Dhana vor sich hin. 123
»Ein Seelöwe.« Miri war neben sie getreten. »Während der Brutzeit sind sie sehr empfindlich. So, wie der sich auf dich gestürzt hat, hat er bestimmt geglaubt, du willst ihm seine Weibchen klauen.« »Essen sie während der Brutzeit was?« fragte Dhana neugierig. »Die Anführer nicht. Während sie jagen, würde ihnen ein anderes Männchen den Harem wegnehmen. Sie können es zwei Monate ohne Nahrung aushalten. Da, schau – Wellen Wanderer!« Eine riesige Gestalt, viel größer als der Seelöwe, schoß am Eingang der Bucht aus dem Wasser. Ein wuchtiges, graues Ding, das sich aus dem Wasser erhob und sich mit einem ungeheuren Platscher wieder hineinplumpsen ließ. »Ich kann’s nicht fassen, daß sie so nahe ans Ufer kommen«, flüsterte Miri. »Sie? Wer?« Dhanas Herz klopfte heftig. »Ist das ein Fisch?« Miri schüttelte den Kopf. »Sie säugen ihre Jungen, wie Pelztiere.« »Säugetiere!« Dhana schöpfte ihr Wissen aus Numairs Unterricht. »Oh. Das war ein Buckelwal. Wale sind die größten Tiere im Meer. Sie singen, weißt du.« Dhana packte ihre Freundin am Arm. »Was meinst du damit, sie singen?« »Na ja, nicht singen wie wir. Sie reden mit Tönen, Pfiffen, Stöhnen, ganz unheimlichen Geräuschen. Du solltest sie mal von einem Schiff mitten auf dem Meer hören…« Bis Dhana sich in einem Süßwassertümpel gewaschen und trockene Kleider angezogen hatte, war das Essen fertig. Sie aß wenig und grübelte über die Walgesänge nach und über ihr Versagen, sie zu erreichen. Nachdem alles erledigt war, packte sie übriggebliebenes Essen zusammen und klemmte sich ihre Bettrolle unter den Arm. »Kein Unterricht heute?« fragte Numair leise. »Ich hab’ ihm versprochen, daß ich ihm etwas zu essen bringe. Und ich brauche wirklich mal einen freien Tag.« Sie sah den Magier nicht an, denn sie konnte die Enttäuschung in seinen Augen nicht ertragen. »Wenn es das ist, was du willst. Dann also gute Nacht.« Aber Numair sah ihr den ganzen Weg zu den Seelöwen nach. Der Leitbulle begrüßte sie und das Essen mit Begeisterung und ließ ihr von einem der Weibchen das erste Junge dieses Frühjahrs zeigen. 124
Später schlief sie mit der Wange gegen die Flanke eines Jährlings geschmiegt und mit schweren, nach Fisch riechenden Körpern um sich herum. Der Dachs kam. Er hatte sein Fell aufgeplustert und war sehr, sehr ärgerlich. Ich hab’ die Geduld mit dir verloren, knurrte er. Wenn du mein Junges wärst, ich würde dich übers Knie legen! Wann willst du endlich aufhören, so stur zu sein? Ich hab’ dich nicht diesen ganzen Weg geführt, damit du dich weigerst, das zu lernen, was du mußt! Erzähl diesen Leuten, was in deinem Dorf passiert ist, erzähl ihnen, wovor du dich fürchtest! Hast du gedacht, ich würde dich zu weiteren Jägern schicken? Raubtieren, sagte sie zu ihm. Er sprang ihr auf die Brust. Keine Widerworte, Junges! Hast du denn den Verstand verloren? Deine Zeit läuft ab! Bald wird der Sturm dasein. Leben hängt davon ab, wie gut du deine Lektionen lernst. Mir ist zwar klar, daß du bloß ein Kind bist, aber selbst du mußt endlich kapieren, daß mehr auf dem Spiel steht als deine blödsinnige Angst vor der Jagd. So, und jetzt versprich mir, daß du es ihnen sagst. Sie zögerte, und der Dachs knurrte. Versprich es! Er wirkte mit seinem ganzen Willen auf sie ein und stieß ihr seine Schnauze ins Gesicht. Ich verspreche es. Morgen, und keinen Tag später! Er kletterte von ihrer Brust herunter, und sie- konnte wieder atmen. Sie setzte sich auf und sog die Luft in ihre zusammengequetschten Lungen. Na ja, bist ein gutes Mädchen, brummte er. Das war soviel wie eine Entschuldigung. Ich mach’ mir nur Sorgen, und die Dinge entwickeln sich so schnell. Er hob die Nase und schnüffelte. Puhh, deine Freunde hier stinken nach Fisch! Als sie aufwachte, hing Nebel schwer und feucht im Fell der Seelöwen. Sie setzte sich auf und zuckte zusammen. Alles tat ihr weh. Am Tag zuvor hatte sie wirklich Glück gehabt. Wäre sie nicht im seichten Wasser gewesen, wäre sie von vierhundertundfünfzig Pfund Seelöwe zerquetscht worden. Zusätzlich zu den blauen Flecken von gestern spürte sie neue, scharfe Schmerzen. Sie lugte vorsichtig unter 125
ihr Hemd und entdeckte tiefe Abdrücke, vier auf jeder Schulter, als habe ein Dachs mit seinem ganzen Gewicht draufgesessen. Der Morgennebel verwandelte sich in Regen, und Thayet verkündete, sie würden in ihrem jetzigen Lager bleiben. Dhana gab sich einen Ruck und trat zu Onua und Numair, als das Frühstück serviert wurde. »Kann ich später mit euch sprechen?« fragte sie »Allein?« Sie schluckte. »Es gibt da etwas über mich, was ihr wissen solltet.« Ein paar Worte zu Thayet und Buri waren nötig, sonst nichts. Numair und Onua folgten ihr zum Südende der Bucht hinüber, wo ein Felsüberhang einen schmalen Sandstreifen trocken hielt. Numair entfachte ein Feuer. Tahoi streckte sich zwischen ihm und Onua aus, den Kopf in Onuas Schoß, den Bauch gegen die Wärme des Feuers gerichtet. Wolke legte sich so, daß Dhana sich an sie lehnen konnte. »Ist es so schwer, damit zu beginnen?« fragte Onua. Dhana sah auf die hohen Wellen hinaus und spürte, wie ihr Kinn zitterte. Sie faßte nach der Dachspfote, um sich Mut zu machen. »O ja. Bitte unterbrecht mich nicht, ja? Wenn ich unterbrochen werde, weiß ich nicht, ob ich den Mut haben werde fortzufahren.« Sie holte tief Luft und begann: »Als das Tauwetter kam, Ende Januar, war meine Mutter schlecht gelaunt, aber ich sollte ins nächste Tal gehen und eine Freundin von ihr besuchen, die einen Schäfer geheiratet hatte. Ma wußte, daß Lory, ihre Freundin, ziemlich hustete, und wollte ihr einen Sirup geben. Ich hab’ meiner Mutter noch versprechen müssen, nicht in der Dunkelheit heimzukommen, sondern bis zum Morgen dort zu bleiben. Manchmal frag’ ich mich, ob sie es gewußt hat… andererseits war sie als Wahrsagerin gar nicht besonders gut. Also, ich hab’ Wolke gesattelt und bin fortgeritten. Lory hat sich gefreut, mich zu sehen. Sie und Rand, das ist ihr Mann, waren immer sehr nett zu mir. Sie hatten auch ein neues Baby, mit dem durfte ich spielen. Und Rand wollte, daß ich mir sein bestes Mutterschaf anschaue. Ein Glück, daß ich’s getan hab’, es war dabei, ihm Zwillingslämmer zu gebären, aber beides Steißgeburten, das hätte die Jungen und die Mutter umbringen können. 126
Also war ich bis spät in die Nacht auf, und Lory ließ mich am nächsten Tag bis Mittag schlafen. Als ich ‘n Stück von ihrem Haus weg war, konnte ich nichts sehen vor lauter Nebel, konnte ich nichts riechen, nichts hören. Erst als ich kurz vor unserem Dorf war, merkte ich es. Die Mühle war niedergebrannt, der Müller tot. Sie hatten das älteste Mädchen des Stellmachers mitgenommen und die Frau des Vorarbeiters. Sie wären vielleicht an unserem Haus vorbeigeritten, wo Ma doch die Gabe hatte, aber sie wußten, daß Ma auch sehr hübsch war. Sie haben alle gekämpft, Ma, Großpapa, die Hunde, die Ponys und die Pferde, sogar die blöden Hühner und die Gänse. Die Kaninchen nicht, die sind weggerannt. Na ja, sie kämpfen nie, und man kann nicht von ihnen verlangen, daß sie sich gegen ihre Natur stellen. Aber alle übrigen haben gekämpft. Sie haben ein paar von den Banditen getötet. Da haben die Banditen durchgedreht und alle auf der Farm umgebracht und nichts mitgenommen, hat mir Mammoth gesagt. Mammoth war mein Leithund. Er hat gesagt, sie haben sich gefürchtet vor Tieren, die so kämpften. Mammoth hat mir erzählt, was passiert ist, dann ist er gestorben. Also haben wir sie begraben, ich und Wolke, unsere ganzen Familien. Wolkes Mutter und Vater und ihre Brüder sind in diesen Gräbern. Ich hab’ das Haus aufgeräumt, was noch davon übrig war. Die Banditen haben versucht, es niederzubrennen, aber nur das obere Stockwerk und das Dach waren weg. Ma hatte in der Küche ein Bündel Zauberkräuter gegen Feuer, deshalb ist das meiste vom Erdgeschoß gerettet worden. Es hat zwei Tage gedauert, bis irgend jemand gekommen ist, um nach uns zu sehen. Zwei Tage! Ma hätte die ganze Zeit verletzt, aber am Leben sein können! Wenn die Banditen uns verschont hätten, wär’ Ma sofort mit Medizin und Verbänden ins Dorf runtergelaufen und hätte mir und Großpapa befohlen mitzuhelfen. Als ich sie dann kommen sah, bin ich einfach ausgerastet. Ich hab’ geschrien, sie sollen verschwinden. Ich hab’ Steine geworfen, und da sind sie davongerannt. 127
Ihr müßt verstehen, da war das Verrückte in mir, all dieser Haß und diese Wildheit. Ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Meine Freunde, die Tiere, die waren die einzigen, die sofort gekommen sind, um nachzuschauen, ob ich noch am Leben war. Ich bin zu ihnen gegangen, als ich die Blutspur der Banditen gefunden hatte. Ich hab’ gewußt, wo das Wolfsrudel war. Der Leitwolf und die Wölfin fanden, ich sei für einen Zweibeiner ziemlich schlau. Ich mußte ihnen erst alles erklären, sie jagen nämlich ihre eigene Art nicht. Es ist eine Sache, ein anderes Rudel vom angestammten Territorium zu verjagen, aber Angehörige der eigenen Art wie eine Beute zu jagen, so etwas gibt’s nicht. Als ich ihnen unsere Farm gezeigt hab’, nun, das hat sie ganz wild gemacht. Wir haben die Spur der Banditen aufgenommen und sie in einer Höhle entdeckt. Es war schwer, das Rudel davon abzuhalten, alle Banditen auf einmal zu töten. Aber ich wollte nicht, daß die Wölfe getötet würden. Wir haben uns drei Wächter geschnappt, die einander abgelöst hatten. Niemand war wach oder nüchtern genug, um zu merken, daß die alten Wächter nicht zurückkamen. Als am Morgen dann die anderen Banditen herauskamen, haben wir sie alle umgebracht. Ich war noch soweit bei Verstand, daß ich die Frauen, die sie aus dem Dorf verschleppt hatten, freiließ und meine Rudelbrüder zurückhielt, als sie diese auch töten wollten. Mittlerweile war ich vollkommen wild geworden. Ich bin auf allen vieren gegangen, und ich und das Rudel haben uns in der Höhle der Banditen versteckt. Im Rudel war ich in Sicherheit. Wolke konnte nicht mal mit mir sprechen. Sie war vor Angst fast verrückt, in der Nähe der Wölfe zu sein, aber ich hab’ mich erinnert, daß sie zur Familie gehört, und ließ die Wölfe nicht an sie heran. Außerdem war eine Menge Fleisch da, das die Banditen überall gestohlen hatten. Dann hörten wir Menschen kommen. Ich hab’ dem Rudel gesagt, es soll in der alten Höhle bleiben. Ich hab’ gewartet und wollte sehen, was passierte, vielleicht würde ich ja wieder menschlich, wenigstens ein bißchen. Ich hab’ mich im Gebüsch versteckt. Sie schickten Hakkon Falconer voraus, um mit mir zu reden. Er hat immer Ma besucht, bevor er wieder geheiratet hat. Er hätte Ma gern geheiratet, aber ich 128
hab’ gehört, wie sie ihm gesagt hat, daß das meinem Paps nicht gefallen würde. Sie hat von meinem Paps immer so geredet, als wäre er bloß hinter der nächsten Ecke. Jedenfalls hat mich Hakkon immer gut behandelt, auch nachdem er wieder verheiratet war, weil ich ihm mit seinen Falken geholfen hab’. Er sagte, die Frauen, die wir freigelassen hatten, hätten erzählt, was wir getan haben. Er hat gemeint, ich sollte am besten mit ihm kommen, bevor ich krank würde. Er hat gesagt, er würde mich großziehen und ich könnte mir bei ihm meinen Lebensunterhalt verdienen. Er trainierte Falken für unseren König. Ich bin auf die Straße rausgekommen. Sie hätten mich fast erwischt, aber Wolke ging auf einen der Bogenschützen los und versetzte ihm eins mit dem Huf. Er schoß zu früh, und ich bin weggerannt. Hakkon hat mir nachgerufen, ich war’ verrückt und es wäre nur zu meinem Besten. Er hat gesagt, ich war’ wie ein wilder Bär, ich müßte den Gnadenschuß bekommen. Wenn ich rauskäme, war’ s in einer Minute vorbei und würde überhaupt nicht weh tun. Alle anderen nannten mich ein Monster. Dann haben sie versucht, die Hunde auf mich zu hetzen. Aber die Hunde gehorchten nicht. Als sie mit den Ponys versuchten, mir nachzujagen, haben die Ponys sie abgeworfen und sind nach Hause gelaufen. Sie hätten es wissen müssen, daß sie ihre Tiere nicht dazu bringen würden, mich zu hetzen. Ich und Wolke, wir sind in die Felsen hinaufgerannt. Das blöde war, daß es Leute aus den Bergen waren, Fährtenleser, auch ohne Hunde. Ich hab’ nicht wie ein Mensch gedacht und vergessen, meine Spur zu verwischen. Auch das Wetter war keine Hilfe. Ich weiß nicht mehr, wie lange sie mich gejagt haben. Ich glaube, es war fast eine Woche. Ich war ganz schön müde und hungrig, und mir war kalt. Wolke hat mich gerettet. Sie hat angefangen, mich in den Arm zu zwicken. Hier, da ist noch eine Narbe über meinem Ellbogen. Sie ließ mich erst in Ruhe, als ich wieder auf meinen Hinterbeinen lief. Als ich mich daran gewöhnt hatte, auf diese Art zu laufen, fiel mir auch wieder ein, daß ich ein Mensch war, und ich wußte, ich mußte 129
fort. Ich hab’ mich heimlich in unser Haus gestohlen, die Sachen geholt, die ich dortgelassen hatte, und bin immer nach Süden gegangen. Deshalb hab’ ich Angst bei den Unterrichtsstunden. Es ist noch nie passiert, bevor meine Leute getötet wurden, aber wenn ich jetzt tief in meine Magie eindringe oder in die Meditation, wenn ich ganz in mir drinnen bin, dann fang’ ich an zu denken wie die Gruppe von Tieren, die mir am nächsten ist, wie eine Herde Pferde oder wie ein Wolfsrudel. Ich vergesse, daß ich ein Mensch bin. Ich vergesse, daß ich ich bin. Ich hatte Angst, die Wahrheit zu sagen. Ihr wißt nicht, wie das ist, wenn einen die Menschen, die man sein ganzes Leben lang kennt, wie Wild jagen. Zu hören, wie sie deine Spur aufnehmen, und zu wissen, wenn du jetzt nicht losrennst, wird deine Haut auf irgendeinen Rahmen gespannt, und alles übrige von dir wandert in einen Kochtopf. Ich war wirklich verrückt, daß ich auf allen vieren gelaufen bin, daß ich mit dem Wolfsrudel gejagt habe. Ich wollte das alles vergessen. Ich wollte hier ganz neu anfangen, ganz normal wie alle anderen auch sein. Nur – anscheinend kann ich das nicht. Der Dachs sagt, ich muß lernen.«
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7 Die Heilerin Während des Erzählens hatte sie keinen der beiden angesehen, und sie fürchtete sich, es jetzt zu tun. Plötzlich umarmte Onua sie heftig. Die Tränen, die zu fließen aufgehört hatten, als sie ihre Familie beerdigte, kamen jetzt wieder, in einer heißen und stillen Flut. »Was ist mit dem Dachs?« fragte Numair, als sie sich wieder beruhigt hatte. Dhana zuckte die Schultern. »Er kommt in meinen Träumen, oder so ähnlich.« Sie beschrieb die Besuche des Dachses und zeigte die Silberpfote und die Abdrücke auf ihren Schultern als Beweis. Onua schüttelte den Kopf über die Wunden und holte ihre Medizin. Während sie sich um Dhanas Kratzer kümmerte, dachte Numair nach. Schließlich sagte er: »›Die Zeit läuft ab‹, ›Der Sturm wird kommen‹. Welche Zeit, welcher Sturm?« Er seufzte. »Ich hasse Omen. Sie hängen von der Übersetzung oder Auslegung ab, und darin war ich noch nie besonders gut. Wenn er dir irgend etwas Handfesteres sagt, laß es mich wissen.« Dhana nickte. »Und was das übrige anbelangt… Ich habe noch niemals davon gehört, daß ein Mensch mit wilder Magie den Kontakt zu seinem Wesen verloren hat, zu dem Teil seines Ichs, der ihm sagt, daß er ein Mensch ist. Andererseits habe ich noch nie jemanden getroffen mit derart mächtiger Magie wie der deinen. Es ist denkbar, daß deine Verbundenheit mit den Tieren dein Menschsein überlagert.« Er rieb seine Hände aneinander. »Nun, das bekommen wir leicht in den Griff.« Sie starrte ihn an. »Wirklich? Die ganze Zeit hatte ich Angst, mich einer Herde, einem Rudel oder einem Vogelschwarm anzuschließen oder was auch immer, und ich hätte es in den Griff kriegen können?« 131
»Mit Hilfe deiner dir ergebenen Freunde.« Er streckte seine Arme aus. »Ist dir jetzt nach Meditation zumute? Ich lass’ dich schon nicht mit deinen großen Freunden hier wegschwimmen.« Er lächelte das Mädchen herzlich an, und sie lächelte zurück. Onua tätschelte ihr Knie. »Ich lass’ euch Zauberer jetzt allein. Ich gehe ins Lager zurück und quäle ein paar Schüler.« Leise fügte sie hinzu: »Danke für dein Vertrauen, Dhana.« »Ich wollte, ich hätte es schon früher erzählt«, erwiderte Dhana schuldbewußt. »Nur, ich hatte Angst…« Die K’mir stand auf und klopfte sich den Sand von ihrem Hinterteil. »Nachdem dein Dorf dich gejagt hat, wundert es mich, daß du überhaupt noch mit einem Menschen sprichst. Mach dir keine Sorgen, und laß dich von ihm nicht zu sehr schinden.« Sie winkte und ging den Strand entlang. Tahoi sah ihr nach. Er weigerte sich, die Wärme des Feuers zu verlassen, um in den kalten Nebel einzutauchen, der sich gerade in leichten Regen verwandelte. »Das ist vielleicht eine Frau!« sagte Numair. »In ihr hast du eine gute Freundin.« »Ich weiß«, gab das Mädchen zu. »Nun, und jetzt zur Meditation.« Sie nickte und schloß die Augen. Sie spürte, wie er seine Finger an ihre Schläfen legte. Seine Hände waren warm. Vorsichtig atmete sie, schob sie die Laute ihres Herzens und ihrer Lungen aus ihrem Geist, bis sie sie kaum noch hörte. Einer nach dem anderen entspannten sich ihre Muskeln. Jetzt hörte sie ein Hämmern. Numairs Herz. Sie schob auch dieses Geräusch beiseite und ließ ihr Gehör wandern. Tahoi schlief und träumte von Kaninchen. Ganz in der Nähe hatte eine Seelöwenkuh mit der Niederkunft begonnen und brachte ein neues Junges zur Welt. Das bereits geborene Baby saugte an der Zitze seiner Mutter. In einigen der anderen Kühe hörte sie doppelte Herzschläge, Anzeichen für die kommenden Jungen. »Nach innen«, sagte Numair. Gehorsam hielt sie Ausschau nach der Quelle ihres kupferfarbenen Feuers. Sie ließ sich hineinfallen, bis sie einen weißen Kern im Feuer sah. Ihr Kopf war vollkommen klar. Zum erstenmal seit Wochen war 132
sie sich ihrer selbst sicher. Die Magie war jetzt vollkommen getrennt von ihrem inneren Sein. Sie öffnete die Augen und kehrte in die reale Welt zurück. »Wie fühlst du dich?« fragte der Magier. Sie versuchte zu stehen und wäre beinahe umgefallen, sie war ganz steif! »Ein bißchen eingerostet, aber abgesehen davon wundervoll. Haben wir’s in den Griff bekommen? Bin ich wieder in Ordnung?« »Das mußt du mir sagen«, antwortete er. »Versuch noch einmal zu lauschen. Seelöwen leben in Gruppen wie Wölfe und Pferde. Bei ihnen könntest du dich möglicherweise auch verlieren. Wenn nicht, die Ponys sind ein Stück weiter weg am Strand.« Dhana schloß die Augen, holte tief Atem und befand sich mitten unter den Weibchen des Harems. Sie hörte dem schläfrigen Geplauder über Fische und das Wetter zu. Die Kuh hatte ihr Junges zur Welt gebracht, das bereits zufrieden saugte. Sie bellte es an und lehrte es, den Klang ihrer Stimme zu erkennen, so daß es immer wissen würde, welches Weibchen seine Mutter war. Dhana öffnete die Augen und grinste Numair an. Der Magier erwiderte das Lächeln. »Hast du vergessen, wer Dhana ist?« »Unsinn«, sagte sie fröhlich. »Bist du sicher, daß du nicht ins Salzwasser plumpsen und lebende Oktopi essen willst? Das essen sie nämlich, unter anderem.« Sie sah ihn mißtrauisch an. »Was ist ein Oktopi?« »Ein Oktopus ist ein Oktopus. Zwei oder mehr Oktopusse sind Oktopi.« »Und was ist ein Oktopus?« »Ich finde, das wichtigste ist, daß du fähig warst, Dhana zu bleiben.« »Stimmt. Was ist ein Oktopus?« Er lachte. »Na schön, kleiner Zauberlehrling. Wenden wir uns dem Meer zu.« Sie arbeitete den ganzen Tag über, lernte von Meerestieren und wie sie Gruppen von Tieren zu sich heranrufen konnte. Danach war es ein Vergnügen, einfach zu essen, sich zu waschen und zusammen mit den anderen Sattelzeug und dergleichen zu flicken. Onua mußte sie aufwecken, als es Zeit war, in die Bettrolle zu kriechen. 133
In der Nacht kam der Seeotter zu ihr. Er humpelte auf drei Pfoten. Die vierte baumelte nutzlos herunter. Er erzählte ihr, daß er in einem von der Flut zurückgelassenen Teich gefischt hatte, als eine Welle ihn gegen eine Felsspalte schleuderte. Eine zweite Welle hatte ihn wieder herausgerissen, aber die Pfote steckte fest und brach. Dhana nahm ihren Patienten auf den Arm und flüsterte ihm beruhigende Worte zu, während sie aus dem Zelt kroch, in dem sie geschlafen hatte. Sie steckte den Kopf in das kleine Zelt des Magiers und sagte: »Numair?« Er setzte sich in seiner Bettrolle auf. »Dhana? Was ist los?« »Ich hab’ hier einen Otter mit einer gebrochenen Pfote. Ich hasse es, dich zu stören, aber wo ich nun schon besser mit der Magie umgehen kann, da dachte ich, es wäre vielleicht eine Gelegenheit…« »Natürlich. Komm rein.« Licht erfüllte das Innere des Zeltes und ließ Dhana und den Otter blinzeln. »Setz dich.« Sie gehorchte und nahm den Otter vorsichtig auf den Schoß. »Du wirst dich tief versenken, aber in deinen Patienten statt in dich selbst. Du mußt seine Knochen von innen sehen, verstehst du?« »Ich verstehe sehr gut, ich glaube bloß nicht, daß ich das kann.« »Dabei helfe ich dir. Was du allein tun mußt, ist, deine Magie auf den Bruch zu richten. Du mußt ihm den Willen übertragen zu heilen. Jegliche Infektion ist auszubrennen. Überzeuge dich davon, daß die Muskeln, die Adern und Nerven zusammenpassen, nicht nur die Knochen. Die Kraft deines Wunsches wird das Werk vollenden. Du mußt dir mehr als alles andere wünschen, daß es gelingt, und du darfst nicht aufhören zu wünschen, gleichgültig wie müde du wirst. Das ist der schwerste Teil – die Konzentration bis zum Ende durchzuhalten. Deine Gedanken möchten abschweifen, sich mit etwas anderem beschäftigen, genau wie bei der Meditation. Du wirst einen Muskelkrampf bekommen, oder es juckt dich. Aber du darfst dich nicht ablenken lassen, bis du deinen Freund lange genug ruhig gehalten hast, um die Wunde zu heilen.« Dhana sah ihren Patienten an. Der Otter sah ruhig zu ihr auf. Er hatte gespürt, daß Dhana ihm helfen konnte, und war zufrieden. »Ich mach’s«, sagte das Mädchen entschlossen. »Fangen wir an.« 134
Die Magie kam sehr rasch über sie. Der Zauberer geleitete sie ins Innere des Tieres und zu dem gebrochenen Bein. Sanft legte er ihre Magie um die Verwundung und zeigte ihr einen besonders hellen Faden kupferfarbenen Feuers aus den tiefsten Tiefen ihrer Magie. Sie packte ihn und umgab damit den gebrochenen Knochen. Es war wirklich harte Arbeit. Sie war müde, ihr Kopf begann zu schmerzen. Sie brauchte viel Geduld. Eine Weile schien es, als würde nichts geschehen. Sie wollte schon aufgeben, aber sie dachte an das grenzenlose Vertrauen des Otters. Hatte sie nicht versprochen, ihn zu heilen? Endlich sah sie Bewegung. Winzige Knochensplitter wuchsen über den Bruch, zuerst langsam, dann immer schneller. Knochenmark bildete sich im Innern der Knochensplitter. Quetschungen in den Muskeln um die Bruchstelle herum begannen zu verschwinden. Dhana wurde schläfrig. Ihr Rücken krampfte sich fast unerträglich zusammen. Nein, nein, dachte sie wütend. Ich gebe nicht auf, niemals! Wenn ich das alles gewußt hätte, hätte ich Mammoth retten können. Wenn ich es lerne, kann ich andere retten. Sie gestattete sich nicht, an irgend etwas anderes zu denken, bis Knochenmark, Knochen, Nerven, Adern und Muskeln wieder ganz gesund waren. Als sie ihre Augen öffnete, war sie in Decken eingehüllt und hungrig wie ein Wolf. Der Otter war fort. Numair auch. Sie krabbelte aus dem Zelt und sah, daß die Reitschüler im Regen Nahkampf übten. »Wie fühlst du dich?« Numair saß unter einer Zeltplane und schrieb in ein dickes Notizbuch. Er schraubte seine Tintenflasche zu und legte die Feder beiseite. »Jetzt fühle ich mich schon wieder ganz gut. Aber wie geht es dem Seeotter?« fragte Dhana. »Prima, vor einer Weile sah ich ihn wegschwimmen. Wir haben schon zu Mittag gegessen, ich hab’ dir was aufgehoben.« Er reichte ihr einen kleinen Beutel. Sie fiel über den Inhalt her: Stücke von geräuchertem Schinken, Brot, Käse, getrocknete Feigen, eine Orange. In Rekordzeit hatte sie alles vertilgt. »Ich kann nicht fassen, wie hungrig ich war«, sagte sie, als sie alles aufgegessen hatte. »Du hast hart gearbeitet, natürlich hast du Hunger.« 135
»Wie lange hat es gedauert?« fragte sie und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Einige Stunden, das war zu erwarten. Das Heilen mit wilder Magie ist schwieriger als mit der Gabe. Bei der wilden Magie kommt es auf die Kraft des Körpers an, um zu heilen, was zerstört wurde. Die Gabe stellt nur die verlorene Gesundheit wieder her.« »Eines verstehe ich nicht. Onua sagte, ich hätte die Vögel damals im Sumpf geheilt, erinnerst du dich? Aber damals wußte ich noch nicht, wie man heilt, und jetzt brauche ich Stunden dafür.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Ich bin außerdem ganz erschöpft. Mag sein, daß ich im Sumpf ohnmächtig geworden bin, aber so wie jetzt habe ich mich nicht gefühlt.« »Hm.« Numair fuhr sich über den Nasenrücken. »Es gibt verschiedene mögliche Theorien, aber nur eine trifft auf die beiden Arten zu, die du soeben beschrieben hast. Ich würde sagen, die Notwendigkeit der Vögel, geheilt zu werden, zog die Magie in Rohform aus dir heraus. Du hast sie nicht gezwungen, innerhalb der Grenzen deiner eigenen Magie zu wirken, du hast nur als Kanal gedient. Die Stärke des Kraftstromes ließ dich ohnmächtig werden, aber deine Schutzschicht aus Gesundheit und deine Kraftreserven blieben unangetastet. Das ist eben das Problem bei wilder Magie, man weiß, daß sie auch ohne Mitwirkung des Trägers handelt.« »Du meinst, das könnte wieder passieren, und ich könnte nichts dagegen tun?« »Ich fürchte, so ist es. Doch ich nehme an, das Bedürfnis jener, die mit dir durch wilde Magie verbunden sind, muß überwältigend sein. Soviel du weißt, ist es bis jetzt doch nur einmal passiert, oder? Keine Ohnmachtsanfälle in der Kindheit?« Sie schüttelte den Kopf. »Also einmal in dreizehn Jahren. An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen.« Er lächelte, als sie ungeniert gähnte. »Geh wieder schlafen. Ich weck’ dich zum Abendessen.« Er hielt Wort. Sie war noch immer müde, zwang sich aber, ein Bad zu nehmen und die Ponys zu besuchen. Als die Schüler mit der Meditation begannen, lag sie bereits wieder schlafend in ihrer Bettrolle. 136
Spät in der Nacht wurde sie durch die Rückkehr des Otters geweckt. Er brachte ihr ein leeres Seeigel-Gehäuse. »Danke«, flüsterte Dhana gerührt. »Ich werd’s in Ehren halten.« Der Otter bedankte sich auch noch einmal und schlängelte sich dann durch einen Spalt in der Zeltwand wieder hinaus. Dhana lächelte und kuschelte sich in ihre Decken. Ich kann wirklich heilen, dachte sie. Ma, ich wünschte, du wärst hier und könntest es sehen! Am nächsten Morgen brachen sie bei klarem Himmel auf. Dhana verfeinerte ihre Fähigkeit, Tieren ihren Willen aufzuzwingen, immer mehr. Ihren größten Erfolg hatte sie eines Morgens, als ein Rudel Rotwild in der Nähe des Lagers äste. Bei Sarges Ruf »Aufstehen!« schickte sich das Wild an zu fliehen. »Halt!« rief sie und warf ihren Arm hoch. Das Wild blieb stehen und rührte sich nicht, bis sie sagte: »Was mache ich da? Los, haut ab!« Sie nahm ihren Willen von ihnen, und sie rannten los. Selbstzufrieden drehte sie sich um und sah, daß die Schüler, die bereits aufgestanden waren, sie seltsam anstarrten. »Es wäre eine gute Idee, nichts laut zu sagen«, murmelte Numair und trat neben sie. Sie sah zu ihm auf. Lächelnd fügte er hinzu: »Es verhindert, daß die Uneingeweihten etwas bemerken. Nur ein kleiner Rat unter Kollegen.« Die Löwin kam zu ihnen. »Gratuliere, Numair, deine Schülerin lernt schnell.« »Ich habe einen guten Lehrer«, sagte Dhana, und der Magier fuhr ihr durchs Haar. »Kommt, Kinder, ihr werdet nicht dafür bezahlt, dazustehen und zu gaffen wie eine Herde von Idioten!« Dhana war davon überzeugt, daß Sarges Stimme Steine durchschneiden könnte. Evin stand so dicht bei ihr, daß sie sein leises: »Wir werden überhaupt nicht bezahlt!« hören konnte. An diesem Tag absolvierten sie ein hartes Tagespensum. Sie machten nur einmal halt, um die Pferde zu wechseln. Bis Mittag hatte Dhana das Gefühl, ihre Zähne würden nie mehr zu klappern aufhören, so ratterte der Wagen über die holprigen Straßen. Dabei hatte sie schon zweimal ihren Platz auf dem Kutschbock gegen Wolkes Rücken getauscht. 137
Etwa um die Mittagszeit fand sie neben der Straße ein Kaninchen. Es war von einem Hühnerhabicht verletzt worden und lag im Sterben. Dhana nahm es auf den Schoß und machte sich an die Arbeit. Die Heilung war schwieriger als je zuvor, teilweise dadurch bedingt, daß sie sich auf einem ratternden Wagen nicht so gut konzentrieren konnte wie letzte Nacht in Numairs Zelt. Immer wieder wurde Dhana aus ihrer Meditation herausgeschleudert. Schließlich tauschte sie Platz mit Numair und bat Fleckchen, sie so sanft wie möglich dahinzuschaukeln. Auf dem Rücken eines großen und ruhigen Pferdes hatte sie mehr Glück als auf einem Pony oder im Wagen. Als sie endlich fertig war, hatte sie ihre Kleidung dennoch total durchgeschwitzt und fast den ganzen frühen Nachmittag gearbeitet. Erschöpft ließ sie das Kaninchen frei. Es bedankte sich und versprach, in Zukunft besser auf Raubvögel zu achten. Die Truppe schlug ihr Lager auf einem weiten, offenen Platz auf, der in einem Steilufer über großen Felsbrocken endete. »Dhana, schau!« rief Miri, während sie sich um die Pferde kümmerten. Sie deutete aufs Meer hinaus. Drei lange, schlanke, graue Gestalten durchbrachen die Wellen und tauchten wieder ein, dann vier, dann zwei. »Delphine!« Nachdem sie ihre Arbeiten erledigt hatte, ging Dhana zum Steilhang. Sie sah zum erstenmal Delphine, und sie wollte mit ihnen reden. Sie setzte sich ins Gras und tastete nach ihrer Magie, aber sie konnte sie nicht in den Griff bekommen. Die Heilung des Kaninchens hatte sie so ausgelaugt, daß ihr die Kraft fehlte. Sie schloß die Augen und versuchte es noch einmal. Tahoi bellte. Einer der Schüler stieß einen durchdringenden Pfiff aus. »Konzentriere dich!« befahl sie sich selbst mit zusammengebissenen Zähnen. »Du kannst das!« Langsam schaltete sie jedes Geräusch in ihrer Nähe aus, bis sie nur noch ihren eigenen Herzschlag hörte. Auch den verbannte sie weiter und immer weiter weg. Irrsinnigerweise hämmerte er in ihren Ohren lauter als je zuvor. Wieder zwang sie ihn zur Ruhe. Numair sah, wie sie zusammenbrach. »Alanna!« brüllte er. »Komm schnell!« 138
Ein weiter, glatter Weg, von wilden Blumen eingesäumt, stieg vor ihr einen Hang hinauf. Auf der Hügelkuppe warteten zwei Menschen im Schatten einer alten, knorrigen Eiche. »Ma?« flüsterte Dhana, und die Frau breitete die Arme aus. Dhana schwebte ihr entgegen. Der Mann war ihr nicht vertraut. Er stand lässig neben Ma und hatte lediglich einen Lendenschurz an. Er war sehr braun, muskulös und hielt einen Bogen ohne Sehne in der Hand, als sei er damit geboren worden. Da so viel von seiner Haut bloß lag, konnte sie in seiner Bräune grüne Streifen erkennen, ein tiefes Grün, das auch in seinen Augen leuchtete. Das allerseltsamste war, sie sah in seinem krausen, braunen Haar etwas, das wie ein Geweih aussah. »Neuer Freund, Ma?« fragte sie trocken. Die Frau lachte. »Bemutterst du mich immer noch, Dhana?« Ein Blitz schoß einmal, zweimal durch ihre Brust. Das Gesicht ihrer Mutter wurde traurig. »Nein!« rief sie. Dhana wehrte sich, aber eine ihr unbekannte Kraft zog sie fort. »Ma!« schrie sie gellend. »Sarra!« befahl die Stimme des Mannes. »Es ist nicht die Zeit. Laß sie gehen.« Plötzlich zerbarst alles um sie her. Sie hing in der Luft hoch über einer steilen Felsenküste, wo sich Ameisen um ein purpurnes Feuer versammelten. Sie warf einen Blick zurück zum Hügel, und in diesem Moment schob sich ein Sturmflügel zwischen sie und ihre Mutter. Er betrachtete sie, und ein häßliches Grinsen zeigte seine verrotteten Zähne. »Aber, aber, welch eine Überraschung. Was führt dich denn hierher, kleines Täubchen? Bist du nicht das Schätzchen, das wir für eine hohe Belohnung lebendig zu Königin Zhaneh bringen sollten?« »Deine Königin kann meine Pfeile fressen!« schrie sie. »Ich will meine Mutter wiederhaben!« »Küß meine Klauen und sag ›bitte, bitte‹«, höhnte er und verschwand. Dhana fiel zu Boden und zurück in ihren Körper. Numair schüttelte Dhana heftig. »Du Biest!« schrie er. »Was um alles in der Welt ist in dich gefahren? Du warst tot! Ich sollte dich mit meinen eigenen Händen umbringen!« 139
»Numair, beruhige dich.« Die Löwin beugte sich über Dhana. Sie sah leichenblaß und erschöpft aus. »Wie geht’s, Kleines? Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt.« Dhana faßte ihre Hand. »Ihr seid das purpurne Feuer. Ihr habt mich zurückgeholt?« »Ich hab’ dir einen Energiestoß direkt ins Herz gegeben. Wir dachten schon, wir hätten dich verloren.« »Mein Herz?« Dhana runzelte die Stirn und erinnerte sich. »Es machte zu viel Krach. Ich wollte, daß es still ist, damit ich mit den Delphinen reden konnte.« »Habt ihr das gehört?« fragte Numair, den Blick in den Himmel gerichtet. »Sie wollte mit den Delphinen reden und hat deshalb ihr eigenes Herz zum Schweigen gebracht! Mithros, Mynoss und Shakith!« Dhana setzte sich auf. »Hab’ ich nicht.« Numair machte den Mund auf, doch Onua, die hinter ihm stand, legte ihre Hand darüber. »Nicht, solange du nicht reden kannst, ohne zu brüllen«, sagte sie fest. »Dhana, Meditation ist dazu da, um die Kontrolle über Körperfunktionen und dadurch auch über den Geist zu bekommen.« Alannas purpurne Augen blickten amüsiert, andererseits aber auch sehr ernst. »Indem du den Klang deines Herzens drosselst, bringst du dein Herz selbst zum Stillstand.« »Nun, das mache ich bestimmt nicht wieder«, versprach Dhana. »Ich hab’ ein Gefühl, als hätte mich ein Muli in die Rippen getreten.« Die Ritterin kicherte. »In gewisser Weise trifft das zu. Ich hab’ dir einen ziemlichen Schlag verpaßt, Kleines.« Sie reichte Evin eine Hand, und er half ihr beim Aufstehen. »Wirst du dich jetzt benehmen?« fragte Onua Numair. Der Zauberer nickte und seufzte, als sie ihre Hand von seinem Mund nahm. »Und da behaupten die Männer immer, wir seien emotional«, sagte die K’mir zu Dhana. »Aber mach das bitte nie wieder. Ich würde mir äußerst ungern zu dieser Jahreszeit eine neue Gehilfin suchen.« Sie wischte sich die Hand an ihrer Reithose ab und ging zu den Schülern zurück. 140
»Darf ich fragen, weshalb du Delphine nicht auf die übliche Weise hören konntest?« Numairs Stimme klang gefährlich liebenswürdig. Dhana rieb sich die Augen. »Ich war müde.« »Du warst müde, aha. Dadurch wird die Sache natürlich viel einleuchtender. Hör mir zu, Zauberlehrling. Wenn du das nächstemal müde bist, versuche, dich eine Weile auszuruhen. Und wenn du dich nicht ausruhen kannst, geh dahin, wo es angenehm kühl ist, oder lauf im Salzwasser herum.« Er deutete auf das Meer unter ihnen. »Wie du sehen kannst, gibt’s davon ‘ne ganze Menge dort unten.« »Das kapier’ ich nicht.« Er seufzte. »Senkung der Temperatur oder der Kontakt mit Salzwasser können zur Verstärkung der Magie dienen.« »Deshalb also sind die Gesänge der Wale im Wasser so laut!« »Genau, deshalb sind sie so laut. Dhana, du mußt dir über eines im klaren sein. Diese Dinge, die du tust, wenn du meditierst, geschehen wirklich. Wenn du also den inneren Klang deiner Atmung verringerst, verringerst du deinen Atem. Wenn du dein Herz ruhig stellst, bringst du es zum Stillstand. Dein Körper reagiert, kapiert?« »Ja, Sir.« Stöhnend stand sie auf. »Haben Leute Visionen, wenn sie glauben, daß sie tot sind?« Seine Selbstbeherrschung war dahin. »Ich weiß es nicht! Ich hab’s noch nie versucht!« brüllte er. »Schon gut, ich seh’ schon, mit dir kann man heute abend nicht mehr vernünftig reden«, sagte sie weise. »Nicht, solange du so miese Laune hast.« »Ich hab’ miese Laune?« schrie er. Nun ist es aber wirklich Zeit, die Pferde zu striegeln, dachte sie. Während des Abendessens schlief sie ein und schlief die ganze Nacht hindurch. Als sie noch vor der Morgendämmerung aufwachte, fühlte sie sich ausgeruht. Aber irgend etwas lauerte im Hintergrund ihrer Gedanken. Es war der Sturmflügel. Er war so wirklich gewesen, anders als Ma und ihr Freund. Selbst jetzt konnte sie den Gestank von diesem Ding riechen, der die salzige Luft verpestete. Salzige Luft! In ihrer Vision hatte der Hügel keinen Geruch gehabt. Sie hatte eine feine Nase, und sie hätte sich daran erinnert. Blumen waren da 141
gewesen. Ma trug immer Waldlilien- oder Wickensäckchen bei sich – und Dhana hatte überhaupt nichts gerochen. Aber der Sturmflügel war gekommen, als sie genau hier in der Luft hing! Ihn hatte sie gerochen! Sie trat vors Zelt in den kalten Wind hinaus. Sie war zu müde, um weit zu gehen. Sie entfernte sich nur etwa eine Meile. Einen Albatros, der über den Felsen seine Kreise zog, scheuchte sie aus ihren Gedanken. Aber in dieser Entfernung konnte sie ihren Augen genauso gut trauen wie ihrer Magie, und die sagte ihr, daß in der Nähe keine Sturmflügel waren. Wolke folgte ihr zum Meer hinunter. Sie war ebenso sauer auf Dhana wie Numair. Hast du nicht schon genug Spaß gehabt? fragte sie und stieg anmutig den Steilhang hinunter, während ihre Herrin rutschte und schlitterte. Dhana seufzte erleichtert, als sie den schmalen Sandstreifen zwischen Klippe und Wasser erreicht hatten. »Lenk mich jetzt nicht ab.« Fällt mir ja nicht im Traum ein, erwiderte die Stute. Wahrscheinlich krieg’ ich nur eine Gänsehaut, sagte Dhana zu sich selbst. Vermutlich ist es nicht annähernd so kalt, wie es aussieht. Sie zog die Stiefel und die Strümpfe aus, dann watete sie bis zu den Knien in die Wellen. Nachdem ihre Füße vor Kälte taub waren, versuchte sie es wieder, hielt sich aber an einem Felsen fest, um nicht die Balance zu verlieren. Da, hoch über ihr, hinter einer langen Wolke, ein winziger Fleck von etwas Ungutem. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Warum so weit oben, fragte sie sich. Er hängt einfach da rum und wartet. Beobachtet er uns? Sie setzte sich. »Wolke, paß auf, daß ich nicht ins Wasser hineingezogen werde!« Den Teufel werd’ ich tun, erwiderte die Stute. Komm sofort wieder raus! Dhana drehte sich um und fixierte Wolke mit den Augen. Komm schon, bitte. Sie wendete ihren Willen an, nur ein winziges bißchen. Es ist wichtig. Murrend watete das Pony ins Wasser und packte Dhanas Hemd mit den Zähnen. Ich hoffe, es reißt, brummte sie. 142
Dhana griff hinter sich und packte die Mähne des Ponys, »Wenn ich untergehe, gehst du auch unter«, sagte sie. Bis an die Hüfte taub vor Kälte, schloß sie die Augen und schickte ihre Magie aus. Da war ja ihr abscheulicher Freund, ein schnarrender Ton am Himmel. Es war jedoch alles andere als ein einzelner Ton, vielmehr war der ganze Himmel erfüllt von dünnen Mißtönen, sie reichten vom Norden bis zum Süden, bis an den Rand der donnernden Wellen. Sie schleppte sich aus dem Wasser. »Bring mich zu den anderen. Bitte!« keuchte sie und krabbelte auf Wolkes Rücken. »Nicht zu den Schülern. Zzzzuuu…« Numairs Zelt. Unwillkürlich machte sich Wolke nun doch Sorgen. »Gut. Ja. Hhhhol Tahoi. Bring Onua. Es ii-i-st w-w-wichtig!« Halt dich einfach nur fest und sei ruhig. Dhana brach über dem Hals ihrer Freundin zusammen. »Natürlich.« Wolkes Mähne war wunderbar warm an ihrem Gesicht. »Ich bin ganz sicher«, wiederholte Dhana. Alle Erwachsenen hatten sich um Numairs kleines Feuer versammelt. »Sie sind landauf, landab an der Küste, so weit ich hören kann.« »Wie können sie derart regungslos in der Luft stehen?« fragte Buri. »Sie haben ihre eigene Magie«, antwortete Numair, der sich soeben nach seinem Meerwasserausflug die Füße abtrocknete. »Können sie alles sehen?« wollte Alanna wissen. »Können sie durch Wände oder Stein hindurchsehen?« »Ich denke, sie sehen wie Falken«, vermutete Dhana. »Ich weiß nicht, was sie mit ihrer Magie machen können.« »Sie können nur ein bißchen davon anwenden, ohne bemerkt zu werden.« Numair schauderte noch immer. »Wenn ein Zauberer weiß, wohin er schauen muß, kann er die Aura ihrer Magie meilenweit sehen. Sie wagen nur das wenige anzuwenden, was sie in der Luft hält.« Er verzog das Gesicht. »Dazu hätte ich aber erst einmal auf den Gedanken kommen müssen, dorthin zu schauen.« »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Alanna schroff. »Ich kann auch Magie sehen, und ich hab’ sie auch nicht entdeckt.« Sie klopfte Dhana auf die Schulter. »Gute Arbeit.« Dann stand sie auf. »Ich muß Jonathan unterrichten. Er wird nicht erfreut sein.« 143
Sie entfernte sich von den lärmenden Schülern, die gerade aufstanden. Buri legte noch Holz aufs Feuer. »Und was jetzt?« fragte sie die Königin. Thayet seufzte. »Eigentlich wollte ich gern noch ein paar Tage am Bussardfelsen bleiben, aber vielleicht ist das keine gute Idee. Wir werden heute dorthin reiten, zeitig unser Lager am Felsen aufschlagen und vor Anbruch der Morgendämmerung weiterreiten. Onua kann das Lager schützen. Viel mehr können wir jetzt nicht tun.« »Wir haben Fischerboote gesehen und Dörfer«, sagte Onua nachdenklich. »Doch niemand wird angegriffen.« »Aber das klingt ja fast so, als würde es dir leid tun«, bemerkte Buri. »In gewisser Weise stimmt das auch. Das würde einen Sinn ergeben.« Onua stand auf. »Sie beobachten die Küste wie Katzen die Mauselöcher. Nur, wer ist die Maus?« Die Reiter brachen rasch auf und hielten das gleiche Tempo wie am Tag zuvor. Numair, der seine schlechte Stimmung vom Abend offensichtlich überwunden hatte, unterhielt sich mit Dhana über die Gewohnheiten von Delphinen und Walen. Später am Tag, als sie eine Seitenstraße einschlugen, die zum Dorf am Bussardfelsen führte, nahm Dhana ein immer stärker werdendes Summen wahr. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl von etwas Andersartigem, allerdings nichts, was auf Monster oder auf die Wasser- oder Baumgeister des königlichen Forstes hinwies. Sie wollte Numair davon berichten, wenn sie erst ihr Lager aufgeschlagen hatten. Doch dann kam es vorher schon dazu. Als sie den Ort erreicht hatten, entdeckten sie, daß er verlassen war. Thayet teilte die Reiter in Gruppen auf, die ausschwärmten, um die Gebäude zu durchsuchen. Dhana und Wolke folgten Numair, der sich allein auf die Suche machte. »Es ist schnell geschehen, was immer es auch war«, sagte er wie zu sich selbst. »Allerdings hatten sie Zeit, den Viehbestand zusammenzutreiben und zu retten, das meiste davon jedenfalls. Was ist mit deinen Ohren los?« Sie wurde rot. »Ich höre dauernd dieses… Summen.« 144
»Oh?« Er sah sie skeptisch an. »Mit deinen Ohren oder mit deinem Geist?« Sie lauschte einen Augenblick. »Mit meinem Geist. Tut mir leid.« »Ist es wie bei den Sturmflügeln?« »Nein, eher wie bei Undine, aber auch nicht ganz so. Und ich hab’ dieses Gefühl, als ob ich… ich weiß nicht recht… als ob ich einen Gaukler oder irgend etwas Wundervolles sähe.« Sie sah ihn ratlos an. »Es tut mir leid, ich kann dir nichts anderes sagen.« »Mach dir keine Sorgen. Komm, vielleicht haben die anderen etwas erfahren. Gib mir sofort Bescheid, wenn sich irgend etwas ändert.« Sie trafen auf dem Dorfplatz mit den anderen zusammen. Niemand hatte irgendwelche Hinweise gefunden. »Sie hatten Zeit zu packen«, sagte Alanna. »Es war weder ein Überfall noch eine Krankheit.« Das Summen in Dhanas Kopf verwandelte sich zu einem dröhnenden Läuten. Eine Schülerin, Shelda, kreischte. Sie kamen tief über dem Strand hereingeflogen, von dort, wo die Fischerboote lagen, und sie waren riesig. Die Pferde drehten vor Angst fast durch, und es bedurfte der ganzen Aufmerksamkeit ihrer Reiter. »Waffen!« befahl Thayet. Jene, die dazu imstande waren, griffen zu ihren Bogen. Die Vögel – falls es Vögel waren – schwenkten ein und gingen zum Angriff über. Ihre riesigen Flügel glänzten in der Sonne wie mattes Gold. Dhana sah, was gleich passieren würde. »Halt!« schrie sie Angreifern wie Verteidigern zu. Buri gab den ersten Schuß ab, Thayet den zweiten. Die Riesengeschöpfe waren außer Reichweite, aber schon flogen sie wieder in einer weiten Kurve heran. »Nein!« brüllte Dhana nun den Menschen zu. »Laßt sie in Ruhe!« »Wir werden angegriffen!« schrie Buri. »Schießt nicht! Sie verstehen nicht… gebt mir nur eine Sekunde…« Aber sie konnte sehen, daß bereits fünfzehn Pfeile aufgelegt waren. Sie schrie wütend auf. Ponys und Pferde schnappten nach den Pfeilen und zerbrachen sie mit ihren Zähnen. Sarges Kadett stieß seinen Herrn tatsächlich nieder. 145
Dhana verschwendete keine Zeit darauf, einem Schauspiel zuzuschauen, für das sie später noch Schwierigkeiten bekommen würde. Sie rannte aufs Meer zu und den hereinkommenden Geschöpfen entgegen, dabei schwenkte sie die Arme. »Nein! Halt! Es ist nicht so, wie ihr denkt!« Sie schloß die Augen, klammerte sich an ihre Magie und warf sie aus wie ein Netz. Sie flehte: Hört mich an! Zwei Flügelschläge vor ihr brachen sie ihren Angriff ab und flogen links und rechts an ihr vorbei. Das Weibchen erhob sich über die Wellen, flog zu einem Felsen am Fuß einer nahen Klippe und hockte sich dort hin. Das Männchen kam einen knappen Meter vor Dhana herunter. Ruckartig bewegte es den Kopf, sah sie aus den glitzernden Raubvogelaugen an und wartete. Sitzend ging es Numair etwa bis zur Schulter. Jede seiner Klauen war so groß – wie ein kleines Schwert. Sein Körper glich dem einer riesigen, gefiederten Katze und ging harmonisch in den Kopf über, Schnabel und Flügel ähnelten denen eines Adlers. Seine Augen zeugten von einem Wesen, das zwar fremd, aber intelligent war. Seine Stimme in ihrem Kopf war ohrenbetäubend. »Ist es in Ordnung, die Waffen niederzulegen?« fragte Numair. Der Greif, es mußte ein Greif sein, nickte hoheitsvoll. Die Augen des Magiers leuchteten vor Erstaunen auf. »Du kannst mich verstehen?« »Ein bißchen, sagt er«, übersetzte Dhana. »Es sind Begriffe, die er versteht, wie ›Waffen‹ und ›Sicherheit‹.« »Danke«, sagte Numair zu dem Greif. Er ging zu den Reitern, während Dhana sich die beiden Wesen auf dem Felsen und dem Strand genauer ansah. Das Weibchen war silbergrau, ihr Gefährte braun mit goldenen Fäden. Beide leuchteten und schimmerten im Licht der untergehenden Sonne. »Ich nehme an, ihr könnt eure Stimmen nicht dämpfen, nein«, sagte Dhana, als der Greif sie hochnäsig anschaute. Schritte knirschten im Sand. Alanna kam auf Dunkelmond heran, den Schild über dem Arm, das blanke Schwert in der Hand. Das große Pferd blieb ein paar Schritte entfernt stehen, seine Flanken waren schweißgebadet. Dhana wußte, weshalb die Ritterin ihn so dicht an ein Geschöpf herangeführt hatte, das ihn derart in Angst versetzte, daß er fast den Verstand 146
verlor. Falls der Greif zuschlagen sollte, würde ihr Dunkelmonds Höhe von Nutzen sein. Aber Dhana wünschte, Alanna hätte weniger auf ihren Vorteil und mehr auf den Seelenfrieden des Pferdes geachtet. Sie ging zu dem Hengst und streichelte seine Nüstern und versicherte ihm, es bestehe keine Gefahr. Er glaubte ihr nicht recht. »Frag ihn, wo die Dorfbevölkerung ist«, befahl Alanna Dhana mit harter Stimme. Der große Kopf ruckte hin und her, und der Greif begutachtete die Ritterin. Dhana schluckte, als das Läuten in ihrem Kopf in eine Reihe von Tönen auseinanderbarst. »Was?« flüsterte sie. »Bitte, Sir, ich bin noch sehr neu, ich… Ihr müßt…« Wieder das Glockenläuten, ungeduldig diesmal. Aus dem Feuer, das seine Anwesenheit in ihrem Kopf darstellte, holte sie sich ein Bild heraus: Alannas Schild. Sie schüttelte den Kopf, und der Greif wiederholte seine Frage, sein Fragebild. »Löwin, ich glaube, er möchte, daß Ihr ihm das Wappenbild auf Eurem Schild erklärt. Vorher will er über nichts anderes sprechen.« Die Augen der Frau glichen harten Edelsteinen. »Es ist eine Löwin, mein eigenes Zeichen. Ein weiblicher Löwe.« Das Männchen streckte seine Flügel und setzte sich wieder. »Könntet Ihr vielleicht etwas leiser reden?« fragte Dhana ihn. »Eure Stimme tut weh, ich spüre Eure Antworten in meinen Knochen. Es macht die Übersetzung schwierig.« Sie spürte eine breite Hand auf ihrem Nacken. Plötzlich befand sie sich inmitten eines Lichtkreises, der sie vor dem schlimmsten Lärm der Greifenstimme schützte. »Beruhige dich«, sagte Numair sanft. »Entspann dich. Ich schirme dich ab. Hol tief Atem… gutes Mädchen. Du kannst das schaffen, geh es ganz locker an.« Sie ordnete ihre Gedanken und sortierte, was vom Greif kam und was von anderen Tieren. Sie konzentrierte sich ganz auf den Greif und drang direkt in seinen Geist ein, bis jeder klingende Ton zu einem Symbol oder zu einer Idee wurde. Sobald sie damit umgehen konnte, was ihre Gedanken hörten, befreite Numair sie behutsam von seinem 147
Schutz. Jetzt konnte sie mit der Übersetzung zurechtkommen. Der Greif sprach erneut. »Er sagt, es werden zu viele Greife auf menschlichen Schilden gefangengehalten«, erklärte Dhana der Ritterin. »Deshalb haben sie das Dorf angegriffen, nein, Angriff ist nicht richtig. Sie sind darüber hinweggeflogen, genau wie sie es bei uns gemacht haben, um die Leute zu warnen, die Nester nicht auszuräubern und die Kleinen für ihre Schilde zu stehlen. Sie haben ihr Nest auf diesem spitzen Felsen.« Sie deutete dorthin, wo das Weibchen am Fuß des Felsens saß. »Wie viele Dorfbewohner haben sie bei dieser ›Warnung‹ getötet?« wollte Alanna wissen. »Und, Dhana, es wäre gut, wenn du nicht lügen würdest, um sie zu beschützen.« Dhana hörte sich an, was der Greif antwortete. »Ich könnte nicht lügen, Löwin, selbst wenn ich es wollte. Er würde es nicht zulassen.« Seine Berichtigung dröhnte in ihrem Kopf, und sie seufzte. »Das stimmt so nicht ganz. Aber in der Nähe eines Greifen können einfach keine Lügen erzählt werden. Er ist überrascht, daß wir das nicht wissen. Deshalb werden sie ja gefangen und in den Schilden eingesperrt.« »Hier waren schon seit Jahrhunderten keine Greife mehr«, mischte sich Numair ein. »Wir haben ihre Lehre vergessen. Weiß er, wie lange es schon her ist, seit sie in Menschenländern nicht mehr gesehen wurden?« Dhana hatte Schwierigkeiten mit der Antwort. »Er… tut mir leid, Numair… er weiß nicht, was du meinst. Ich glaube, er hat einen anderen Zeitbegriff. Er sagt, sie hätten niemanden getötet. Die Dorfbewohner hätten viel geschrien und wären dann weggerannt. Sie sind in einem großen Steinhaus weiter unten an der Küste.« »Piratenbeute«, sagte Alanna erleichtert. »Das kann sehr leicht überprüft werden. Stimmt das, daß man in ihrer Nähe nicht lügen kann, Numair?« »Ich habe davon gehört. Du könntest es ja versuchen.« Alanna öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Ihre Kehle arbeitete, aber nichts geschah. Schließlich lächelte sie. »Ich kann nicht.« »Wie leben sie?« Thayet trat zu ihnen. »Was essen sie?« 148
Das war wenigstens leicht zu verstehen. »Fisch«, sagte Dhana. »Delphine, wenn sie welche erwischen, Seehunde, Seelöwen, aber meistens Fisch. Er sagt, im offenen Meer gibt es große.« »Kein Vieh? Keine Schafe oder Schweine?« wollte die Königin wissen. Wieder eine leichte Frage. »Nein. Sie finden, daß Grasfresser scheußlich schmecken.« Die Königin hakte die Hände in ihren Schwertgürtel ein und überlegte. »Wäre er damit einverstanden, daß die Dorfbewohner zurückkehren, und wird er sie nicht beunruhigen?« Die Antwort des Greifen war leidenschaftlich. »Au! Solange sie sich von ihren Nestern fernhalten, ist es ihm egal, was die Menschen tun.« Dhana lächelte die Königin etwas verzerrt an. »Ihre Stimmen – unsere Stimmen – bereiten ihren Ohren Unbehagen. Sie möchten uns nicht näher kommen als unbedingt nötig, um ihre Jungen zu schützen.« Alanna seufzte und lehnte sich auf ihren Sattelknauf. »Es wäre eine Schande, solche Herrlichkeit zu zerstören«, sagte sie und bewunderte die großartigen Geschöpfe. Der Greif plusterte seine Brustfedern auf und richtete sich ein wenig auf. Thayet lachte. »Schon gut. Ich werde mit den Bewohnern sprechen, wenn wir sie sehen. Sag deinem Freund, wir werden mit Sicherheit kämpfen, falls sie einem Menschen oder einem Stück Vieh ein Leid zufügen.« Die Antwort des Greifen war so laut, daß es in Dhanas Ohren dröhnte. »Er sagt, Ihr sollt ihn nicht beleidigen, indem Ihr ihn meinen Freund nennt. Er hätte Besseres zu tun, als sich mit Menschen einzulassen.« Sie wußte, daß sie rot wurde. »Er sagt, allerdings würde ihm meine Stimme wenigstens nicht in den Ohren weh tun.« Alanna salutierte vor dem Greifen mit ihrem Schwert. »Euer Standpunkt ist klar, Sir. Kehrt zu Eurem Nest zurück, und wir werden Euch nicht noch einmal mit unseren Stimmen belästigen.«
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Das Männchen öffnete den Schnabel und stieß einen mächtigen, glockenhellen Schrei aus. Noch ehe die Echos verhallt waren flogen er und seine Gefährtin bereits in Spiralen zu ihrem Nest empor. Die Menschen schlugen ihr Lager auf dem Dorfplatz auf. Als die Schüler beschäftigt waren, nahmen die Lehrer und Numair Dhana beiseite. »Du hättest unsere Pferde nicht gegen uns aufhetzen dürfen.« Thayets naselnußbraune Augen waren sehr ernst. Sie schluckte. »Das hab’ ich nicht, ehrlich. Sie haben es ohne meine Bitte gemacht. Wenn Ihr mir nicht glaubt, könnten wir vielleicht den Greif zurückholen.« »Nein«, sagte Alanna fest. »Wir haben die Ponys gerade erst mit Müh und Not beruhigt.« Die Königin kräuselte die Lippen. »Du solltest lieber an deiner Selbstkontrolle arbeiten, Fräuleinchen«, warnte sie Dhana. »Wenn wir uns nicht mehr auf unsere Pferde verlassen können, kommen wir in Schwierigkeiten.« »Da gibt es nicht soviel, was sie tun kann«, mischte sich Numair ein. »Dies ist wilde Magie, Euer Majestät, nicht die Gabe. Sie kann nichts dafür, daß die Tiere ihre Gefühle erkennen, genausowenig wie sie etwas dafür kann, daß sie atmet. Ich habe ihre Selbstkontrolle geprüft. Sie ist so gut, wie es nur geht. Wilde Magie ist unberechenbar – deswegen heißt sie auch so.« Onua legte ihren Arm um Dhanas Schultern. »Für sie ist es schwerer als für uns, Majestät. Sie ist ein gutes Mädchen.« Dhana biß sich auf die Lippe. Ich habe echte Freunde, dachte sie, menschliche, nicht nur Tiere. Thayet rieb sich nachdenklich den Nacken. »Ich bin heilfroh, wenn wir Piratenbeute erreicht haben«, sagte sie. »Ein heißes Bad und eine Nacht ungestörten Schlafs, und ich bin ein neuer Mensch.« Sie lächelte Dhana an. »Ich werde dich nicht fressen, Kindchen. Ich bin nicht einmal richtig ärgerlich. Ich muß sagen, das Reiten mit dir hat mir die Augen geöffnet.« »Willkommen im Club«, murmelte Numair.
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»Wißt ihr was«, bemerkte Alanna, »ich hab’ das Gefühl, wenn die Leute hierher zurückkommen, wird das wenigstens eine ehrliche Stadt werden.« Am Morgen führte die Straße, auf der sie weiterzogen, wieder von der Küste weg. Dhana sah mit Enttäuschung, wie Bäume ihr die Aussicht auf das Meer nahmen. Ihre Traurigkeit wuchs, als Numair sie mittags verließ. Er wohnte in einem Turm, den man im Westen sehen konnte. Doch er versprach ihr, daß sie sich bald wiedersehen würden. Damit mußte sie sich zufriedengeben. Im Verlauf des Nachmittags wurden die Bäume immer weniger und verschwanden schließlich ganz. Die Hauptstraße führte hügelabwärts an einer großen, blühenden Stadt vorbei. Die Straße, der sie folgten, zweigte von der Hauptstraße ab zu einer mächtigen Festung mit drei Türmen, von denen einer viel dicker war als die anderen. »Piratenbeute«, sagte Evin. Er ritt neben Dhana. »Es wird dir hier gefallen. Ich glaube, du wirst auch den Baron mögen. Er und mein Vater sind seit Jahren befreundet. Er ist… anders.« Die Tore vor ihnen zu des Barons und Alannas Besitztum öffneten sich für sie.
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8 Auf Gut Piratenbeute Sie erreichten die Festung über einen hohen Erdwall. Dhana war beeindruckt von der Stärke der Mauern, die den äußeren Hof umgaben, und von den gut bewaffneten Wachposten. Der Baron von Piratenbeute hielt sein Heim in abwehrbereitem Zustand. Buri und Sarge führten die Reitschüler zu langen, niedrigen Gebäuden, die sich entlang der Mauer hinzogen. Offensichtlich die Stallungen und die Unterkünfte der Wachen. Auf einem der drei Türme wurde gerade eine Fahne hochgezogen. Als sie vom Wind erfaßt wurde, mußte Dhana lächeln. Es war eine sich aufrichtende Löwin auf rotem Feld, die gleiche wie auf Alannas Schild. Auf dem Turm daneben flatterte eine braune Fahne mit einem goldenen Schlüssel. »Die Flagge des Barons«, sagte Onua, die ihrem Blick gefolgt war. »Diese Fahnen bedeuten, daß sich der Baron und die Baronin in der Residenz befinden.« »Keine Fahne für die Königin?« fragte Dhana. Onua schüttelte sich. »Bei den Göttern, nein! Es ist schon schlimm genug, daß die ganze Stadt weiß, wo das Sommerlager ist, da braucht man’s nicht auch noch von den Türmen zu schreien. Georg hat sein Heim zwar zu einer Festung ausgebaut, aber man muß die Schwierigkeiten ja nicht unbedingt heraufbeschwören.« Stallknechte übernahmen Alannas und Thayets Pferde. Plötzlich erfüllten schrille Schreie die Luft. Dhana brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, daß nicht Vögel kreischten, sondern Kinder. »Mama, Mama!« Eine ganze Schar raste durchs Tor zum inneren Hof und teilte sich dann. Drei liefen zu Alanna, zwei zur Königin. Thayets zwei – beide dunkelhaarig, ein Junge und ein Mädchen – verneigten sich, als sie einen Meter von ihrer Mutter entfernt waren, dann warfen sie sich ihr in die Arme. »Der Prinz ist neun, die Prinzessin acht«, erklärte Onua. »Sie haben darum gebeten, dieses Jahr beim Training zuschauen zu dürfen, anstatt mit den jüngeren Kindern im Sommerpalast zu bleiben.« 152
Alannas drei – das größte ein richtiger Blondschopf, die jüngeren beiden blond mit rötlichen Strähnen im Haar – blieben nicht stehen, um sich zu verneigen, sondern begruben ihre Mutter unter sich. »Man könnte meinen, sie wären im Stall aufgewachsen«, bemerkte eine fröhliche Stimme in der Nähe. »Sie klettern auf ihrer Mutter herum, als war’ sie ein Schaukelpferd.« Dhana blickte von ihrem Platz auf dem Kutschbock herunter. Der Sprecher war ein großer, breitschultriger Mann mit braunem, von der Sonne gebleichtem Haar. Seine Nase war ein bißchen zu groß, aber in seinen grünbraunen Augen lag ein schalkhaftes Zwinkern, und sein Lächeln ließ alles andere vergessen. Er trug ein Hemd und Reithosen und hatte offenbar gerade das Meer beobachtet, denn sein Haar war zerzaust, und er hielt ein Fernglas in der Hand. Sie mußte sein Lächeln unwillkürlich erwidern. »Sie scheinen sie sehr zu lieben.« »Es ist leicht, sie zu lieben«, antwortete er. »Für dich vielleicht«, sagte Onua und stieg vom Pferd. »Ich kenne Dutzende von Gesetzesbrechern, die sie keineswegs liebenswert finden. Hallo, Baron.« »Onua, jedesmal, wenn ich dich sehe, die Götter sind meine Zeugen, dann wünsche ich mir, ich wäre nicht verheiratet.« Sie umarmten einander heftig und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. »Du könntest mich auch nicht zügeln, Georg. Dhana, dieser Gentleman ist…« »Nenn mich nicht Gentleman, ich arbeite schließlich für meinen Lebensunterhalt«, unterbrach er sie. Dhana grinste. Das gleiche sagte Sarge auch oft. »Dieser edle Mann ist Baron Georg von Piratenbeute. Georg, das ist Dhana, meine Gehilfin.« Dhana schüttelte die große Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Wie bei allen Vornehmen in diesem seltsamen Land war auch diese Handfläche hart von Schwielen. »Willkommen in Piratenbeute, Dhana. Wie kommt’s, daß du in solch schlechte Gesellschaft geraten bist?« Sie wurde rot und wußte nicht, wie sie sich diesem reizenden Mann gegenüber verhalten sollte. 153
»Hör auf, mit ihr zu flirten, Georg, du wirst ihr nur das Herz brechen.« Onua blinzelte Dhana zu, und Dhana blinzelte zurück, dankbar für die Rettung. »Wie lange sind der Prinz und die Prinzessin schon hier?« »Erst eine Woche«, antwortete der Baron und wendete seine Augen von Dhana ab. In gedämpfterem Tonfall fragte Onua: »Irgendwelche Schwierigkeiten?« Georgs Augen streiften kurz Dhana. »Du kannst ihr vertrauen. Wir tun’s alle«, versicherte ihm die K’mir. Wieder errötete Dhana, als Georg die Augenbrauen hochzog. »Das ist nun wirklich eine Empfehlung, junge Lady. Ich wußte nicht, daß Onua Zweibeiner überhaupt zur Kenntnis nimmt.« Er sah sich um und sagte: »Du liebe Güte, ihr habt Evin Larse aufgenommen.« Evin sah zu ihnen herüber, winkte und kam auf seinen langen Beinen in Sekundenschnelle über den äußeren Schloßhof gerannt. »Georg, ich hab’s geschafft!« verkündete er keuchend und reichte dem Baron die Hand. »Ich hab’s dir ja gesagt. Warte, bis du hörst, was wir für ‘ne Reise hatten! Wußtest du, daß an der Küste Greife ihr Nest haben?« »Ich hab’ die ganze Stadt hier einquartiert«, sagte Georg und verzog das Gesicht. »Sie fressen uns kahl und betteln, daß wir Soldaten schicken sollen. Sagt mir die Wahrheit, sind es wirklich Greife oder bloß ein paar armselige Albatrosse?« »Es sind wirklich Greife, und du brauchst keine Kompanie zu schicken«, versicherte ihm Evin. »Dhana hier hat sie dazu überredet, Frieden zu halten.« »Ich hab’ sie zu gar nichts ›überredet‹«, entgegnete Dhana. Dem charmanten Baron gegenüber war sie auf den Mund gefallen, aber nicht bei Evin. »Sie tun nichts, was sie nicht freiwillig tun wollten. Aber sie haben der Königin versprochen, weder Menschen noch Vieh anzugreifen«, erzählte sie Georg. »Und sie können nicht lügen, deshalb glaube ich ihnen.« »Moment«, sagte der Baron, »du hast mit ihnen geredet und einen Vertrag abgeschlossen…« 154
»Das ist ja ein schöner Empfang, den du mir da bereitest, du Schwerenöter«, sagte Alanna, die inzwischen näher gekommen war, und versuchte, den gleichen Tonfall anzuschlagen wie ihr Mann. Sie trug auf jeder Hüfte ein goldhaariges Kind. »Hier bin ich, aus vielen Schlachten zurückgekehrt, und du läßt mich von Barbaren überfallen, während du mit meinen Freunden herumschäkerst.« »Entschuldigung«, sagte Georg ernst zu den Erwachsenen und zu den Kindern, die er von der Hüfte seiner Frau herunterpflückte. Er umarmte die Löwin und bog sie zurück in einem langen Kuß, der aussah wie eine Szene in einem Schauspiel. Alle, selbst die bewaffneten Männer entlang der Mauer, klatschten, pfiffen und riefen »Bravo!« »Benimmt sich in diesem Land eigentlich irgend jemand so, wie man es von ihm erwartet?« murmelte Dhana. Onua hörte ihre Frage. »Vielerorts tun sie es«, sagte sie und zwinkerte. »Aber hier ist nicht ›vielerorts‹, hier ist Piratenbeute. Und wenn dir das schon komisch vorkommt, warte, bis du ein paar Tage hier bist.« Nach dem Abendessen in der großen Halle des Schlosses ging Dhana auf Entdeckungsreise. Sie stand auf der Beobachtungsplattform des größten Turmes. Hier stieg die Mauer direkt aus den Felsen empor. Unter sich sah sie die Klippen, einen Streifen Strand und schwere Wellen. Entspannt sah sie zu, wie die Sonne ins Meer tauchte. Eine kühle Brise streifte ihr Gesicht. Piratenbeute gefiel ihr. Wenn sie ihr ganzes Leben lang inmitten Steinmauern leben müßte, dies wäre der Ort, wo sie es tun könnte. »Wunderschön, nicht wahr?« Die Löwin lehnte sich neben Dhana an die Steinbrüstung. »Ich bin so froh, zu Hause zu sein.« Du hast ein Heim, wohin du gehen kannst, dachte das Mädchen und schämte sich sofort. Wie konnte sie die Ritterin nur um ihr eigenes Zuhause beneiden? »Ich begreife nicht, wie Ihr dies jemals verlassen könnt«, gestand sie. »Ich auch nicht, außer, daß ich einen Eid als Ritterin und als Königs-Kämpe geschworen habe, und ich pflege meine Eide zu halten«, gab sie zu. 155
Beide schwiegen. Es ist komisch, sie in einem Kleid zu sehen, dachte Dhana, und Parfüm an ihr zu riechen. Es riecht gut, was es auch sein mag. Aber es steht ihr. Sie seufzte. Ich wünschte, dies wäre mein Zuhause, dachte sie sehnsüchtig. Ich wette, ich würde auch hierher passen. Ein entfernter Schrei drang an ihre Ohren. Sie und Alanna sahen nach Norden, wo über dem Meer ein vogelähnlicher Schatten kreiste. »Die Greife«, bemerkte Alanna. »Es ist wie in einem Märchen oder einer Ballade.« So ist es auch mit Ritterinnen, dachte Dhana, behielt das aber für sich. »Wenn die Greife nur alles wären.« Sie sahen nach oben. Nur wenige Wolken hingen am Himmel, aber sie wußten, daß hinter jeder ein Sturmflügel lauerte und daß entlang der Küste noch weitere warteten. »Mein Vater ist ein Gelehrter.« Die Stimme der Frau war sanft. »Der König bat ihn, einen Bericht zu erstellen über das, was er über Sturmflügel erfahren konnte, und er hat ihn uns geschickt. Er sagt, sie leben, um zu zerstören. Sie ernähren sich vom Krieg, von Hungersnot und Krankheit. Sie trinken die Energie menschlichen Leids und menschlicher Raserei. Sie haben eine lange Fastenzeit hinter sich, mindestens vierhundert Jahre, in dem Reich der Götter. Ich habe das Gefühl, sie werden nicht so leicht wieder dorthin zurückzuschicken sein, wie sie freigelassen wurden.« »Zurückschicken?« Dhana überlegte, und es gefiel ihr gar nicht, was ihr da in den Sinn kam. »Wenn sie in das Göttliche Reich eingesperrt werden mußten, ist es doch möglich, daß sie eigentlich gar nicht dorthin gehören. Vielleicht sind sie unsere Raubtiere.« »Unsere Raubtiere?« »Klar.« Sie zupfte an einer ihrer Locken herum. »Ihr redet davon, sie wieder einzusperren, als könnte man das so einfach. Was ist, wenn die Götter es nicht erlauben, weil die Sturmflügel in Wirklichkeit hierher gehören?« Alanna zuckte zusammen. »Das ist ja ein ungemein erheiternder Gedanke. Ich wünschte, du hättest ihn für dich behalten. Wenn du recht haben solltest, stehen uns noch eine Menge Kämpfe bevor.« 156
Dhana schlief auf dem Dachboden des Stalls, wobei ihr die Körper der vielen Katzen und Hunde des Schlosses als Kissen dienten. Beim Frühstück hörte sie, daß den Schülern ein Tag frei gegeben wurde (außer, daß sie sich um ihre Pferde kümmern wußten). Das bedeutete auch einen freien Tag für sie, und den konnte sie brauchen. Alle ihre Hemden mußten ausgebessert werden, und Waschen würde keinem ihrer Kleidungsstücke schaden. Sie erkundigte sich nach der Schloßwäscherei und kehrte dann auf den Dachboden zurück, um ihre Kleidungsstücke einzusammeln. Als sie die Leiter wieder herunterstieg, traf sie auf Shelda, die in einer Satteltasche kramte. »Da staunst du, was?« sagte das Mädchen und stopfte ihre Habseligkeiten in einen Sack. »Ich hau’ ab, ich hatte genug Spaß in der Wildnis.« Dhana sah zu Boden. Sie würde das Mädchen bestimmt nicht vermissen. An allem hatte sie etwas auszusetzen gehabt. »Schau nicht so zufrieden drein.« Shelda hängte die Packtaschen neben ihr Zaumzeug. »Wird nicht mehr lang dauern, dann packst du dein Zeugs auch zusammen.« »Ich? Wieso?« Das Lächeln des älteren Mädchens war gehässig. »Bist du blind? Was glaubst du, wie lange sie es sich noch leisten können, dich zu behalten? Nach der Geschichte mit den Greifen hätte ich gedacht, die Sache ist für dich gelaufen.« Dhana erstarrte innerlich. »Ich hab’ keine Ahnung, was du meinst.« »Was passiert, wenn du während eines Kampfes verletzt wirst? Glaubst du vielleicht, sie können es riskieren, daß ihre Pferde zu deiner Rettung herbeieilen und die Reiter im Stich lassen? Ich nicht.« Das Mädchen schulterte sein Gepäck, als Onua eintrat. »Sag bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Onua sah sie mißtrauisch an. »Du machst am besten, daß du zum Hafen kommst. Das Schiff wartet nicht.« Shelda grüßte die beiden spöttisch, dann war sie fort. Onua rollte ihre Ärmel hoch. »Dies ist eine Überraschungsinspektion. Während die Schüler ausruhen, wollen wir mal nachschauen, wie ihre Pferde aussehen. Du fängst dort drüben an, ich beginne hier«, befahl sie. »Wir können reden, während wir 157
arbeiten. Achte auf alles, das heißt von der Schnauze bis zum Schwanz. Was hat die dir gerade für’n Gift in die Ohren getröpfelt?« Dhana streichelte die Nüstern des ihr zunächst stehenden Ponys mit zitternder Hand. »Sie sagt, die Reiter könnten es sich nicht leisten, mich zu behalten. Sie hat recht, oder? Wenn Tiere merken, daß ich in Schwierigkeiten bin, kommen sie bestimmt, um mir zu helfen. Numair hat selbst gesagt, ich kann nicht all meine wilde Magie abschirmen.« »Das mag schon sein.« Onua fuhr mit der Bürste über Padrachs Pony, um zu sehen, ob nach dem morgendlichen Striegeln noch Haare ausfielen. »Aber nicht die Reiter haben dich eingestellt, sondern ich. Solange ich es sage, arbeitest du für mich, nicht für sie.« »Aber wie kannst du das tun?« flüsterte Dhana. »Du bist eine Reiterin.« »Nein, ich bin eine zivile Expertin. Ich handle mit allem, was mit Pferden zu tun hat. Das ist aber auch alles. Ich bin keine Kriegerin.« Onua deutete mit der Bürste auf Dhana. »Du hast mir im Sumpf und beim Angriff der Sturmflügel auf den Palast das Leben gerettet. Du hast Numair gerettet. Er war hier der erste Mensch, von dem ich wußte, daß er mich um meiner selbst willen gern hatte. Ich lass’ dich schon nicht fallen.« Sie wischte Dhana eine Träne von der Wange. »Wir mit den Pferdeherzen müssen doch zusammenhalten, stimmt’s?« Dhana nickte. »Aber du wirst es mir sagen, wenn man mit mir nicht zufrieden ist?« Onua grinste. »Wenn wir zum Überprüfen dieser Pferde länger als den Vormittag brauchen, werde ich allerdings äußerst unglücklich sein. Ich hatte vor, den Nachmittag freizunehmen.« Dhana machte sich lächelnd an die Arbeit. Sie waren gerade fertig geworden, als von draußen Hufschlag zu hören war und eine Stimme schrie: »Dhana? Man hat mir gesagt, du bist da drin.« Sie rannte nach draußen, als Numair gerade von seinem schweißgebadeten Wallach stieg. »Komm mit mir«, befahl er. »Wir müssen die Sturmflügel finden.« Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab, um besser zu ihm aufblicken zu können. »Was meinst du? Liegen sie nicht hinter den Wolken auf der Lauer?« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind weg. Verschwunden.« 158
Sie verbrachte den Nachmittag mit Numair und Alanna auf der Beobachtungsplattform und schickte ihre Magie so weit aus, wie sie nur konnte, um irgendein Zeichen der Unsterblichen zu bekommen. Die mit der Gabe verließen sich auf Hellseherei. Numair benützte dazu einen Kristall, Alanna einen Spiegel, der auf der Rückseite mit Rosen bemalt war. »Das ist nicht mein Geschmack«, sagte die Ritterin trocken. »Er ist von Thom, meinem Ältesten. Ein Geburtstagsgeschenk.« Sie warf einen Blick auf die Rückseite des Spiegels, zuckte mit den Schultern und drehte ihn wieder um. »Ist aber sehr gut als Werkzeug zum Wahrsagen zu gebrauchen.« Dhana selbst versank in tiefe Meditation und lauschte, so weit sie konnte, die Küste auf und ab. Sie hörte das Greifenweibchen mit Futter ins Nest zurückkehren. Anscheinend halfen Greifenmännchen beim Ausbrüten der Eier. Ihre Freunde unter den Seelöwen plauderten glücklich miteinander, genau wie die Seehunde. Eine Anzahl Wale schwamm um Piratenbeute herum. Andere Töne mußten wohl von Delphinen kommen. Schließlich ließ sie ihre Gedanken wieder zum Schloß zurückkehren. »Nichts.« Alanna zog eine Grimasse. »Wir hatten auch kein Glück.« »Da haben unsere Freunde uns also die Tüte aufgesetzt.« Der Baron war zu ihnen getreten. Als er Dhanas verwunderten Gesichtsausdruck sah, erklärte er: »Sie sind uns entwischt. Das ist Gaunerjargon und bezeichnet einen reizenden Trick, bei dem man auf die Verfolger wartet und ihnen dann eine große Papiertüte auf den Kopf stülpt, damit sie nichts mehr sehen können.« Dhana runzelte die Stirn. »Nun, ich kann sehr gut sehen, und sie sind nicht da.« Georg lächelte sie an. »Ich glaube dir.« Er sah Numair an. »Gibt’s irgendeine Möglichkeit, eines dieser Tierchen zu schnappen, um es auszufragen?« Numair zog die Brauen hoch. »Ich bin mir da wirklich nicht sicher. Wenn wir sie töten können, nehme ich an, daß wir sie auch gefangennehmen können. In Momenten wie diesem vermisse ich die Universitätsbibliothek am meisten.« 159
»Wir arbeiten an der unseren«, betonte Alanna. »Vielleicht hat der König bereits die Bücher. Und warte, wie ist es mit dem Goldenen Netz?« Numairs Gesicht hellte sich auf. »Mit ein paar Verstärkungen…« »Meine verehrten Damen und Herren.« Ein würdiger Mann in der Livree eines Schloßbediensteten war auf die Plattform gekommen. »Wir dinieren in einer halben Stunde.« »Ich glaube, ich habe den grundlegenden Zauberspruch in einem Buch, das ich gerade gelesen habe«, sagte Alanna zu Numair. »Wenn du mitkommen und nachschauen willst…« Sie folgten dem Diener die Turmtreppe hinunter und redeten über Zaubersprüche und deren Abwandlungen. Dhana sah zur Sonne. Sie stand tief. »Kein Wunder, daß ich Hunger habe.« »Wenn du wieder einen von diesen Widerlingen hörst, schnappen wir ihn uns«, sagte Georg. »Ich glaube nicht, daß wir mit ihnen reden können«, meinte Dhana. Das Grinsen des Barons war weder warm noch freundlich. »Das überlaß ruhig mir.« Gemeinsam sahen sie aufs Meer hinaus. »Es ist seltsam, wie verschieden Leute die Dinge betrachten. Numair sieht, was auf uns zukommt. Er denkt an die Rückkehr der alten Magie, einer Magie, die von niemandem kontrolliert und nur von wenigen verstanden wird. Meine Frau sieht eine Bedrohung ihres Königreiches. Ich, ich bin ein gewöhnlicher Mensch und als solcher geboren und erzogen worden, Titel hin oder her. Weißt du, woran ich denke? An Omen und Vorzeichen, wie den roten Stern, der über uns aufleuchtete, als Kaiser Ozorne vor sieben Jahren gekrönt wurde.« »Dann haben wir vielleicht Glück, daß uns die Sturmflügel soviel Zeit lassen, über sie nachzudenken, ehe sie etwas Abscheuliches mit uns anstellen«, sagte Dhana. Georg lachte. »Das ist nun mal eine wirklich praktische Art, die Dinge zu betrachten, und ich danke dir dafür. Es ist nicht gut, über etwas zu brüten, was vielleicht auf einen zukommen könnte.« Mit einer Verbeugung bot er ihr seinen Arm. »Gehen wir zum Abendessen, und trinken wir auf die Verwirrung unter unseren Feinden.« 160
Numair gab ihr Unterricht, bis die Mitternachtsstunde ausgerufen wurde. Danach schleppte sich Dhana müde zum Stall der Reiter und gähnte herzhaft, als sie zu ihrem Lager auf dem Dachboden hochkletterte. Sie wachte davon auf, daß neben ihr eine Stallkatze Junge zur Welt brachte und drei Kinder sie anstarrten, ein Mädchen und zwei Jungen. »Ich nehme an, du bist mächtig stolz auf dich«, sagte Dhana zur Katze. »In meinem Wunderbuch steht, du bist eine Raubkatze, ein Fleischfresser, ein Wirbeltier und ein Säugetier.« Dhana schälte sich aus den Decken und schnappte sich ihre Kleider. Die Katze war eifrig damit beschäftigt, das letzte der neuen Kätzchen zu säubern, und weigerte sich zu antworten. »Es ist noch zu früh, um Leute zu besuchen«, sagte Dhana zu den Kindern. »Unsere Mama sagt, du bist eine Zauberin.« Das war Thayets Tochter Kalasin. Sie schlug ihrem gutaussehenden Vater nach, hatte die gleichen blauen Augen und das gleiche schwarze Haar. Dhana setzte sich in ihrem Bett auf. »Ich bin keine Zauberin.« Sie lachte. »Numair nennt mich einen Zauberlehrling, aber das ist nur Spaß. Jetzt ist es aber wirklich zu früh, um Fragen zu beantworten.« »Mama sagt, du heilst Tiere.« Thoms Haar war röter als das von Alanna, und er hatte Georgs grünbraune Augen. »Wir haben ihn mitgebracht. Er lag auf der Mauer.« Die beiden älteren Kinder hoben einen Korb hoch und hielten ihn Dhana hin. Drinnen lag ein Seeadler und starrte sie an. Ein Bein war gebrochen. Wenn die Katze nicht in ihrer Nähe geworfen hätte, wäre ihr seine Anwesenheit nicht verborgen geblieben. Dhana seufzte und nahm den Korb. »Na gut. Ihr könnt jetzt gehen.« Sie wendete ihre Aufmerksamkeit dem Vogel zu und holte ihn vorsichtig aus dem Korb. »Wie ist dir denn das gelungen, mein Guter?« Er schrie auf und hackte nach ihr, als sie sein Bein bewegte. »Tut mir leid«, murmelte sie und beruhigte ihn kraft ihrer Gedanken. »Ich mach’s wieder gut, hoffentlich.« Sie machte sich an die Arbeit und merkte nicht, daß die Kinder ihr fasziniert zuschauten. Vogelknochen waren leichter zu flicken als Otterknochen, sie waren dünner und hohl. Außerdem war es kein schlimmer Bruch. 161
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß der Bruch geheilt und der Schmerz des Vogels verflogen war. Ihr Schweiß tropfte auf den Vogel. »Entschuldigung«, murmelte sie, als er sich schüttelte. Er verrenkte den Hals und betrachtete sein Bein. Er war beeindruckt und überwältigt von dem, was sie getan hatte. Im Augenblick interessierte er sich allerdings am meisten für ein kleines Nickerchen. Sie lächelte. »Nur, wenn du aufwachst, mußt du dich an die Regeln hier halten: es wird niemand und nichts in diesem Schloß gejagt oder geneckt. Es sind alles meine Freunde, kapiert?« Der Seeadler verstand. Sie setzte ihn auf einen Holzbalken und brachte ihm Wasser aus dem Stall. Dann versprach sie, später wieder nach ihm zu sehen, und sammelte ihre Sachen ein. Ihre frühen Besucher warteten an der Stalltür auf sie. »Du hast das Frühstück verpaßt«, sagte Prinz Roald. »Wir haben dir was mitgebracht.« Er reichte ihr eine Serviette, in die Brötchen eingewickelt waren. »Danke«, sagte Dhana. »Das war sehr nett von euch.« Sie schlang zwei der Brötchen hinunter und wußte, daß ihre Manieren grauenhaft waren, aber das kümmerte sie wenig. »Papa bekommt immer Hunger, wenn er die Gabe anwendet«, bemerkte die Prinzessin. Dhana wischte sich den Mund ab. »Es war lieb von euch, den Seeadler und das Frühstück zu bringen. Danke. Aber jetzt, denke ich, solltet ihr ins Kinderzimmer zurückgehen, bitte. Werden euch die Kindermädchen nicht vermissen?« »Wir sind zu alt fürs Kinderzimmer«, antwortete Thom mit der ganzen Würde seiner sechs Jahre. »Bloß die Zwillinge müssen dortbleiben. Sie sind vier.« »Arme Dinger. Hört zu, ich muß jetzt baden, und dann arbeite ich für die Reiter, und das bedeutet, ich hab’ keine Zeit zum Plaudern. Wiedersehen!« Die Kinder sahen sie hoffnungsvoll an. Was sollte sie tun? Zu Hause hatte sie noch nie mit einem Kind gesprochen, deren Eltern hatten sie immer von ihr ferngehalten. Wenn ich sie einfach übersehe, werden sie schon gehen, dachte sie und ging 162
zum Baderaum. Als sie herauskam, warteten die drei auf sie. Sie trotteten hinter ihr her zum Stall, bewunderten die neuen Kätzchen und sahen zu wie Dhana ihre Sachen verstaute. Sie folgten ihr zu den Ponys und halfen ihr bei Sheldas Ponys und bei Lümmel und Wolke. Sie hielten Bürsten, Eimer und Rechen für sie. Sie waren noch immer bei Dhana, als die Reitschüler ziemlich geknickt nach der morgendlichen Besprechung mit ihren Lehrern kamen und sich um ihre Reitpferde kümmerten. Thayet lachte hell auf, als sie sah, was vor sich ging. »Tut mir leid, Dhana«, sagte sie und kicherte, »aber sie sind wie kleine Enten. Keine Widerrede, Kinder.« »Du hast gesagt, wir sollen mehr über die Ställe lernen, Mama«, Kalasin war vorlauter als ihr Bruder. »Du hast gesagt, wenn wir mit dir und den Reitern mitkommen wollen, wenn wir älter sind, müssen wir uns um unsere Sachen und alles selber kümmern.« »Dhana muß aber entscheiden, ob ihr bleiben dürft«, sagte die Königin. Dhana wünschte, die Kinder würden sie nicht so flehentlich anschauen. Thayet hatte recht, sie waren wirklich wie die Entenküken. »Onua? Sarge?« fragte sie hoffnungsvoll. Beide schüttelten die Köpfe. »Betrachte es mal von der Seite«, sagte Buri, »du wirst Hilfe bei den Ersatzpferden brauchen, Jacy und Kenelm haben vor kurzem Entlassungsgesuche eingereicht. Morgen fangen wir damit an, außerhalb der Mauern die Schüler gruppenweise zu trainieren, und zwar für einige Tage an einem Stück. Du wirst nicht einmal Onua als Hilfe haben.« Shelda hatte recht gehabt, dachte Dhana und sah Buri und die Königin an. Sie wissen, ich bin nutzlos auf dem Feld, wenn die Ponys in erster Linie mir gehorchen. Eine sanfte Hand legte sich auf ihre Schulter: Onua. »Irgend jemand muß sich doch um die Pferde der Versager kümmern«, flüsterte die K’mir. »Es ist richtige Arbeit, nicht nur etwas zu tun, weil wir vielleicht nicht das Herz haben, dich rauszuwerfen. Und du mußt sowieso in der Nähe bleiben und mit Numair lernen schon vergessen?« 163
»Wenn ihr erst einmal damit begonnen habt, gibt’s kein Aufhören mehr«, erklärte Thayet ihren Kindern. »Wenn ihr euch dazu bereit erklärt habt, Dhana zu helfen, ist das eure Arbeit. Ihr übernehmt Verantwortung, ihr könnt nicht einfach aufhören, bloß weil ihr es satt habt.« Die beiden kohlrabenschwarzen Köpfe nickten ernsthaft. »Thom?« fragte die Löwin. Ich finde nicht, daß er schon alt genug ist, um ihm ein solches Versprechen abzunehmen, dachte Dhana, aber Thom gab bereits sein Versprechen ab. Sie kannte den Ausdruck auf seinem Gesicht. Er mochte zwar erst sechs sein, aber er würde es mit Kalasin und Roald aufnehmen oder bei dem Versuch sterben. Was bedeutet, ich werde auf ihn aufpassen müssen, dachte sie seufzend. Küken. Eine Woche verging. Der Umgang mit ihnen war einfacher, als sie erwartet hatte. Die Möglichkeit, wilde Tiere zu treffen, war eine mächtige Attraktion, derer sie nie müde wurden und die sie auch nie aufs Spiel setzen wollten. Dhana war überrascht, daß Roald und Kalasin in den Ställen tatsächlich halfen und daß Thom nur zu klein war, um das gleiche zu tun wie sie. Noch mehr überrascht war sie, als sie erfuhr, daß Thayets Kinder auch zu Hause ihre Ponys selbst versorgten. Sie hatte noch nie von Prinzen und Prinzessinnen gehört, die Pflichten hatten. »In einem Jahr werde ich Page«, verkündete Roald eines Tages, als sie ihrer Dauerbeschäftigung nachgingen und das Zaumzeug und Lederwerk flickten. »Dann muß ich sowieso alles lernen. Es ist gut, vorher schon soviel wie möglich zu wissen. Papa sagt, die anderen Unterrichtsstunden werden mir keine Zeit mehr lassen.« »Ich werde auch Page.« Kalasin hatte darauf bestanden, daß Dhana sie Kally nannte, wie die Kinder. »Papa sagt, Mädchen können auch Ritter werden, und das will ich.« Dhana wollte gerade Thom fragen, ob er auch seinen Schild haben wolle, als ein Bote in vollem Galopp durch das Tor kam. Er glitt vom Pferd, das sofort von Stallknechten in Empfang genommen wurde, und keuchte: »Löwin, Nachricht für die Löwin!« Ein Diener verneigte sich. »Hier entlang.« 164
Thom, der Prinz und die Prinzessin sahen ihm mit grimmigem Gesichtsausdruck nach. »Großartig«, sagte Thom. »Sie muß wieder weg.« Kally seufzte. »Das ist genau wie bei Mama, wenn sie mit den Reitern unterwegs ist«, erklärte sie ihm. »Wir haben Glück, Mütter zu haben, die kämpfen! Unsere Väter müssen zu Hause bleiben und ihre Leute beschützen.« »Paps kämpft, wenn sie das Dorf angreifen.« Thom war ein eifriger Verfechter der bestehenden Tatsachen. »Papa kämpft, wenn er kann.« Roald versuchte zu lächeln, was ihm aber mißlang. Arme Dinger, dachte Dhana. Sie vermissen ihre Eltern, die dauernd kommen und gehen. Solange Ma und Großpapa lebten, waren sie wenigstens immer für mich da. »Wie war’s, wenn wir zum Strand gingen und mit den Seehunden spielten? Sie sind nicht weit draußen, und wenn wir sie recht nett bitten, kommen sie vielleicht heraus.« Kaum waren sie bei den Seehunden, kam die Löwin auf Dunkelmond geritten. In dem Augenblick, in dem sie stehenblieb, wußten Dhana und die Kinder, daß es ernst war. Sie war in voller Rüstung. Eine Kompanie der Piratenbeute-Krieger wartete am Tor in Kampfausrüstung. Einer von ihnen trug ein Banner: karmesinrote Seide mit einer goldenen Löwin als Wappentier, das persönliche Banner des Königs-Kämpen. Die Ritterin glitt aus dem Sattel und hängte Schild und Schwert an den Sattelknauf, bevor sie sich niederkniete, um ihren Sohn zu umarmen. Thom kämpfte gegen die Tränen an. »Ihr kennt Fief Mandash?« Sie sprach zu allen dreien. »Es gibt dort Menschenfresser. Drei. Sie haben den Lord und seinen Sohn getötet und den Rest der Familie in der Zitadelle eingesperrt. Ich muß gehen, wir sind die nächsten Repräsentanten des Königs.« Thom schluckte. »Aber Menschenfresser sind Riesen.« »Keine riesigen Riesen. Der Bote sagt, das Männchen ist drei Meter groß oder so, das ist nicht schlimm, und die beiden anderen sind nicht einmal so groß.« Alanna lächelte, aber ihre Augen sprachen von Sorge und Wachsamkeit. »Ich nehme ein paar Männer mit, in Ordnung?« Das 165
schien die Kinder zu beruhigen. »Thom, sei brav und lauf den Leuten nicht zwischen den Füßen rum. Gib mir einen Kuß und sei ein lieber Junge.« Sie fuhr ihm durchs Haar und schüttelte Roald und Kally die Hand. »Sagt euren Seehunden jetzt gute Nacht«, gebot sie. »Ihr müßt euch vor dem Essen waschen.« Alle gehorchten. Die Ritterin sah ihnen nach, wie sie zu den Seehunden gingen und sie streichelten. »Soll ich mit Euch gehen, Löwin?« bot Dhana an. »Wenn es Unsterbliche sind?« »Nein, mit zwanzig Mann sollte es keine Probleme geben. Was mich verärgert, ist, ich habe Mandash gesagt, er soll seine Leute bewaffnen. Aber nein, ›wir können unsere Bauern nicht mit Waffen ausrüsten, was ist, wenn sie ihre Herrschaft nicht mögen?‹.« Sie seufzte. »Ich sollte nicht schlecht von Toten reden. Es ist nur so, der Zeitpunkt paßt mir nicht, und es paßt mir nicht, daß es Unsterbliche sind.« Sie nahm eine von Dhanas Händen zwischen ihre beiden. Ihr Griff war schmerzlich. »Willst du dich mit Numair um meine Familie kümmern? Laßt nicht zu, daß ihnen irgend etwas zustößt.« Kalt kroch es Dhana das Rückgrat hinauf. »Wir werden es nicht zulassen, Löwin.« Alanna lächelte. »Danke.« Sie holte tief Atem und ging, um sich noch einmal von den Kindern zu verabschieden. Die Löwin war seit zwei Tagen fort. Dhana war erschöpft von ihren Abendlektionen ins Bett gesunken. Sie träumte: Bäume und ein mondheller Himmel purzelten um sie herum. Boote voller Männer kamen an die Strande, und die Männer krochen zwischen die Bäume. Sie redeten leise und schnell, dann zündeten sie Feuer an und versengten die Horstbäume. Geblendet stürzte sie in wilder Flucht davon, über den kalten und salzigen Ort, mit Panik in der Kehle. Vor ihr war ein Licht, von dem die Waldfledermäuse einst gesungen hatten, ein Fanal der Sicherheit. Sie, Dhana, war die größte des Volkes, sie konnte sie schützen, wenn fremde Männer die Rituale der Nacht störten! Dhana setzte sich keuchend auf. »Du meine Güte, was war das denn?« 166
Dank ihrer ausgezeichneten Fähigkeit, in der Nacht zu sehen, und im Licht des vollen Mondes, das durch die Fenster unter dem Mauervorsprung schien, entdeckte sie, daß die Dachsparren über ihr dick mit Fledermäusen besetzt waren. Mindestens dreißig verschiedene Arten sahen sie aus nervösen Augen an. »Flügel-Freunde, was ist los?« fragte sie leise. »Kommt und sagt es mir.« Innerhalb von Sekunden war sie ein Fledermaus-Baum, kleine Körper klammerten sich in ihren Locken und an ihrem Nachthemd fest. Alle zitterten vor Angst. »Pschsch«, sagte sie beruhigend. Sie schloß die Augen und dachte an tiefe und gleichmäßige Atemzüge, an Sicherheit und Geborgenheit in Höhlen, an das stetige Tropfen von Wasser in hohen Räumen. Langsam saugten die Fledermäuse ihre Ruhe in sich auf. Kleine Krallen lockerten ihren Griff, das Zittern ließ nach und ging in eine leichte Vibration über. Einige der mutigeren Tiere kehrten ins Gebälk zurück, um Dhana etwas mehr Luft zum Atmen zu lassen. Sie schickte die Ruhe mit ihnen hinauf. Übrig blieben die Alten und die Anführer jeder Gruppe. Dhana öffnete die Augen. Nun, laßt hören. Einer nach dem anderen. Sie mußte sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben, als die Tiere ihr erzählten, was sie gesehen hatten. Es war genau ihr Traum: Männer – Fremde kamen aus den Wäldern und auch mit Booten und versteckten sich unter den Bäumen. Sie mußte ihre Augenzeugen ein bißchen bremsen, um auf die ungefähre Anzahl der Männer zu kommen. Fledermäuse tendieren dazu, ihre Zählweise auf ihre Brut abzustimmen. Dhana wußte, sie konnte weder dem Baron noch den Reitern erzählen, daß ihre Freunde sechs Viertelkolonien gesehen hatten. Alle Flattertiere versicherten Dhana, daß sich ihre Zählungen nicht überlappten, und das glaubte sie ihnen auch. Ihre Zählweise mochte vielleicht verrückt sein, aber die Kenntnis einer Fledermaus war punktgenau, was ihr Territorium betraf. Dhana sah auf die Zahlen, die sie mit Holzkohle auf ihre Schreibtafel geschrieben hatte, und war entsetzt. Wenn die Fledermäuse recht hatten, dann hatten sie mehr als fünfhundert Fremde gesehen, die entweder zu Land oder zu Wasser 167
gekommen waren, um die Bucht zu umzingeln. Die kleinen Tiere behaupteten beharrlich, daß es Fremde waren, die sie nicht kannten. Die Fremden trugen alle Metall über Teilen ihrer Körper, und alle hatten Hölzer mit Metallspitzen dabei und Metallstangen. Dhana konnte ihre Gesichter in den Gehirnen der Fledermäuse erkennen: Es waren die Gesichter von Kriegern. Vorsichtig, um die Tiere nicht zu erschrecken, schlüpfte sie in ihre Reithosen und ihre Stiefel. Zwei der alten Fledermäuse konnte sie dazu überreden dazubleiben. Die anderen, der Anführer jeder Kolonie, ein einsamer Vampir und eine besonders verängstigte graue Fledermaus klammerten sich an ihr Nachthemd und in ihr Haar. Sie wollten mit ihr gehen, sagten sie. Dhana hatte sie im Verdacht, daß sie sich zu sehr fürchteten, um sie zu verlassen, andererseits sollten aber ihre Freunde nichts davon merken. Sarge und Kally saßen vor dem Stallgebäude und unterhielten sich. »Dhana?« fragte Sarge, und die blauen Augen des Mädchens weiteten sich vor Staunen. Plötzlich wurde Dhana klar, wie ihre Freunde sie sehen mußten: kleine, krabbelnde Tiere überall an ihr, die sich zwar bemühten, sauber zu sein, aber ein paar hatten doch die Kontrolle über ihre Eingeweide verloren. »Ich muß unbedingt mit dem Baron sprechen«, flüsterte sie, ohne die beiden anzusehen. Kally kam zögernd näher. Sie schluckte, dann streckte sie die Hand aus, um einen pelzigen Körper zu berühren. Die kleine braune Fledermaus übertrug ihre Zuneigung sofort auf das Mädchen. Zuerst quietschte sie, dann kuschelte sie sich in Kallys Kragen. Sarge stand auf. »Kommt, Mädchen.« Der Herr von Piratenbeute war in seinem Arbeitszimmer. Die Königin und Josua, der Kommandant der Wache, waren ebenfalls da und saßen in bequemen Sesseln, während Numair aus einem der Fenster starrte. »Was soll das?« fragte Georg. Seine scharfen Augen hatten sofort Dhanas und Kallys kleine Anhänger entdeckt. Thayet schrie auf, als sie Dhana sah, Josua sprang auf und zog seinen Degen halb aus der Scheide. Numair drehte sich stirnrunzelnd zu ihr um. 168
»Bitte, erschreckt sie nicht.« Die Fledermäuse spürten die Furcht, die im Raum herrschte. Macht eure Augen nicht auf, warnte Dhana die Fledermäuse. Vom menschlichen Standpunkt aus war das Zimmer gemütlich hell, aber nicht für den Geschmack von Fledermäusen. »Sie tun niemandem etwas.« »Es sind nur Fledermäuse, Mama.« Sarge verzog den Mund. Er konnte unmöglich sagen, daß Kally selbst noch vor wenigen Minuten entsetzt gewesen war. Thayet und Josua starrten Dhana an. »Es ist wichtig, Sir«, sagte sie zum Baron. »Ich hätte sie sonst nicht mitgebracht.« »Darf ich?« fragte Numair und deutete auf die alte, graue Fledermaus. Die Nase des Tieres war bereits auf der Suche, denn sie hatte interessante Gerüche an der Kleidung des Zauberers festgestellt. Vorsichtig reichte Dhana sie ihm. In einer von Numairs riesigen Handflächen wirkte die Fledermaus noch kleiner. »Welche Neuigkeiten haben deine Freunde für mich gebracht?« fragte Georg. Dhana sah ihm ins Gesicht, aber sie entdeckte keine Spur von Spott oder Unglauben. Entweder ist er beste Schauspieler der Welt, oder er glaubt an mich, dachte sie. »Habt Ihr eine Landkarte?« Er wies hinter sich. Sie drehte sich um und sah einen mit Pergamentblättern bedeckten Tisch. Obenauf lag eine Landkarte von Piratenbeute. An einer Ecke wurde sie von einer Schachtel mit kleinen farbigen Steinchen festgehalten. Nach Absprache mit ihren Freunden legte Dhana ein Steinchen auf jeden Platz, an dem Fremde gesehen worden waren. »Das alles seit Einbruch der Dämmerung«, sagte sie, als sie fertig war. »Wir glauben, es sind mehr als fünfhundert.« Sie betrachtete das Bild, das sie angelegt hatte, und erbleichte. Die Steinchen bildeten einen Halbkreis ungefähr eine Meile entfernt von Schloß und Dorf von Piratenbeute. Sie waren in der Dunkelheit umzingelt worden.
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9 Belagerung Es ging alles so schnell, daß sich Dhana der Kopf drehte. Piratenbeute war für einen nächtlichen Angriff bestens gerüstet. Innerhalb von Minuten waren Kommandant Josua, Thayet und Sarge verschwunden, um leise das Dorf zu wecken und die Leute ins Schloß zu bringen. Mit sich nahmen sie Dhanas Versprechen, daß sich das Vieh geräuschlos bewegen würde. Nachdem sie ihnen die Sache erklärt hatte, waren die Dorftiere ganz wild darauf zu helfen. Dhana schämte sich zwar ein bißchen, weil sie ihnen Bilder von den Kochtöpfen der Angreifer in so grausamen Details gezeigt hatte, aber sie sagte sich, daß der Zweck die Mittel heilige. Selbst die Gänse und Hühner waren danach bereit, den Anweisungen zu folgen. Als nächstes bat sie die Fledermäuse, zu ihren Freunden im Stall zurückzukehren. Die Leute, mit denen ich jetzt reden muß, werden euch nicht gefallen, versicherte sie ihnen, und sie glaubten ihr. Georg hatte sie um Spione gebeten, die weniger phantasievolle Berichte bringen würden als die Fledermäuse, und in ihrer Welt bedeutete das nur eines: Eulen. Dhana mußte zugeben, es war entnervend, mit den Eulen zu verhandeln, aber sie mochte sie – die Fledermäuse mochten sie nicht. Sie waren zwar keine natürlichen Feinde der Eulen, doch es bestand immer die Gefahr, daß eine Eule sich irren konnte, und Entschuldigungen nützten einer toten Fledermaus wenig. Nachdem die Fledermäuse weg waren, ging Dhana bis an die äußerste Grenze ihrer Wahrnehmungskraft, nahm Verbindung mit den Eulen auf und erklärte ihnen ihr Problem. Es überraschte sie nicht, daß die stillen Räuber über die Eindringlinge bereits sehr verärgert waren. Die Fremden hatten alle jagenswerten Beutetiere in ihre Höhlen und Löcher zurückgescheucht. In Erwartung des Berichtes der Eulen gingen Dhana und Numair auf die Beobachtungsplattform. Von dort aus beobachteten sie, wie die Tore 170
von Piratenbeute sich leise öffneten und Wachen und Reiter ins Dorf eilten. Dhana stellte befriedigt fest, daß die Hufe der Ponys und Pferde durch Lappen gedämpft waren. Da es eine klare Nacht war und der Mond schien, brauchten sie keine Fackeln, ein kleiner Trost, nachdem die Eindringlinge ebenfalls mit Hilfe des Mondlichtes ihre Ankunft geheimgehalten hatten. Die Eulen erstatteten Bericht, und Dhana schrieb ihre Informationen mit bebenden Fingern auf ein Blatt Papier. Sie zählte die einzelnen Posten zusammen und kam zu dem gleichen Ergebnis wie zuvor. Ihre Stimme war nur ein Krächzen. »Baron?« Er war heraufgekommen, während sie arbeitete. »Ich hab’ die Endsumme.« Er zog die Brauen in die Höhe. »So schnell?« »Eulen sind flink.« Sie deutete auf das Ergebnis: Etwas mehr als sechshundert Mann waren in die Wälder eingedrungen. »Die Eulen sagen, sie rücken nicht vor. Sie haben Lager aufgeschlagen, keine Feuer, aber sie richten sich für länger ein.« »Sie warten auf die Morgendämmerung«, sagte der Baron. »Sie warten auf das da!« Er deutete mit dem Kopf aufs Meer hinaus. Zwei Meilen weit draußen auf dem Meer lag eine Nebelbank, so hoch wie der Turm, auf dem sie standen. Dhana brauchte eine Minute, um festzustellen, was mit dieser Nebelwand nicht stimmte. Der gekrümmte Rand war scharf umrissen, als sei das Ding von einem Bildhauer gemeißelt. »Numair?« fragte Georg. Der Zauberer lehnte an der Mauer und hielt die Augen geschlossen. Eine durchsichtige schwarze Wolke umhüllte ihn. Wie Feuerfliegen flackerten kleine Lichtfunken darin. Er schüttelte den Kopf. »Sie ist undurchsichtig. Ich kann nicht einmal die wettermachenden Zaubersprüche spüren, die sie festhalten, und es muß solche Zaubersprüche geben. Nebel untersteht Naturgesetzen wie jede atmosphärische Situation. Sind diese Gesetze ausgeschaltet, müssen wir Magie vermuten, und diese Magie müßte ich spüren können. Nachdem das nicht der Fall ist, läßt dies auf das Vorhandensein dämpfender Zaubersprüche schließen.« »Dämpfende Zaubersprüche.« Georgs Gesichtsausdruck war angespannt. »Dann sitzen wir also in der Falle wie Ratten. Was immer sich in diesem Nebel verborgen hält, wird uns am Morgen angreifen, 171
das ist so sicher wie die Gemeinheit des Gottes der Gauner. Wieso hatten wir keine Ahnung, daß das auf uns zukommt?« Der Magier sah seinen Freund an. »Georg, es gibt mehr Täuschungs- und Ablenkungssprüche als Sterne am Himmel. Die Wahrsagerei ist eine ungenaue Magie, ich muß wissen, wonach ich suche. Sicher, ich bin gut, aber selbst ich kann ausgetrickst oder überwältigt werden. Alanna und Jon würden dir das gleiche sagen.« Georg legte seine Hand auf Numairs Schulter. »Entschuldige. Ich wollte damit nicht sagen, daß du deine Arbeit nicht gut machst. Es ist nur schon so lange her, seit ich übers Ohr gehauen worden bin, und es gefällt mir ganz und gar nicht.« Sein Gesicht hatte schärfere Züge bekommen. »Sie werden uns zermalmen zwischen dem da draußen und diesen sechshundert in unserem Rücken.« »Und die Armee wird nicht eher hiersein, bis wir geschlagen sind«, sagte Numair. »Mhm.« »Wie viele Krieger sind hier?« »Achtzig, die Reiter nicht mitgezählt.« Georg holte tief Atem und sah Dhana an. »Was können deine Freunde tun, um uns zu helfen?« Sie schluckte. »Bittet mich nicht darum, sie zum Kämpfen zu überreden«, flehte sie. »Dies hier geht sie nichts an. Ich kann nicht von ihnen verlangen, daß sie kämpfen und für die Menschen sterben.« Erschaudernd erinnerte sich das Mädchen an den Sumpf und an die abgeschlachteten Vögel. »Bitte, versteht das.« Georgs Schweigen zog sich lange hin, und es war unmöglich zu sagen, was in ihm vorging. Schließlich lächelte er und tätschelte ihren Arm. »Ich verstehe es nicht, nicht ganz, aber ich bin sicherlich allzu menschlich. Willst du sie wenigstens bitten, Ausschau zu halten? Daß sie uns wissen lassen, wenn noch mehr Soldaten kommen oder wenn die dort draußen sich in Bewegung setzen?« Sie nickte und flüsterte: »Danke.« Sie schickte ihre Bitte aus und wartete auf die Berichte ihrer Freunde. Während sie lauschte, weckten Wachen und Reiter die Dorfbewohner und halfen ihnen beim Packen. Das Vieh wartete auf seine Besitzer, bis diese herauskamen. Es gab keinerlei Schwierigkeiten, die Tiere einzufangen, nicht einmal mit den Hühnern. Die Reitschüler hatten zumindest eine ungefähre Ahnung, 172
weshalb dies hier alles geschah, im Gegensatz zu den Dorfbewohnern. Diese folgten ihren Tieren, als hätten sie sich in Gespenster verwandelt. Morgendämmerung. Die ersten Feinde kamen in Sicht und fanden das Dorf leer und die Tore des Schlosses versperrt. Die Zinnen waren mit Kriegern besetzt, die nicht im mindesten erstaunt schienen, Feinde außerhalb ihrer Mauern zu sehen. Als sich die Sonne über den Horizont erhob, rollte der Nebel über Piratenbeute herein. Eine sanfte Hand schüttelte sie, und eine nasse Zunge wusch ihr das Gesicht. Dhana blickte auf und sah Tahoi, Onua und Kalasin. »Entschuldigung, ich muß eingeschlafen sein.« Sie wurde tiefrot vor Verlegenheit und versuchte aufzustehen. Ihre Knie knickten ein. »Götter! Wie lang bin ich schon hier?« Onua stützte sie auf der einen Seite, Kally auf der anderen. »Seit Mitternacht. Der Baron sagt, wir verdanken dir und deinen Freunden die Warnung.« »Bedankt euch bei meinen Freunden, ich habe die Nachrichten nur weitergegeben.« Sie massierte ihre Beine. Kally gab ihr ein mit Obst und Broten gefülltes Körbchen und hielt ihr einen Krug Saft hin. Dhana war noch immer hungrig, nachdem sie alles aufgegessen hatte. »Was ist jetzt los?« fragte sie und nahm dankbar noch ein Brötchen entgegen. »Wir stecken in Schwierigkeiten. Das da…« Onuas Handbewegung umfaßte den Nebel, der sie umgab, »ist nicht nur Nebel. Eine Menge Zauberer müssen daran gearbeitet haben, ihn mit Zaubersprüchen zu versehen, welche die Gabe ausschalten.« »Das trifft euch hart, nicht wahr?« sagte Dhana. Onua nickte. »Zum Glück brauchen wir jetzt gerade keine Magie. Numair hat noch vor dem Eindringen des Nebels Nachricht an den Palast und den König schicken können.« »Am besten ziehe ich mir jetzt etwas Sauberes an und hole meinen Bogen«, sagte Dhana. Sie hörte von unten einen ärgerlichen Ton. »Und laß Wolke wissen, daß ich noch am Leben bin. Sie ist sauer auf mich.« »Darf ich mit ihr gehen?« fragte Kally.
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Onua lächelte. »Natürlich. Achte nur darauf, daß du auch wirklich bei Dhana bleibst. Und wenn dir dein Bruder über den Weg läuft, sag ihm, er soll sich bei uns melden.« Dhana sah sich um und entdeckte die Königin, Numair und den Baron zusammen mit den Reitschülern und der Wache, alle bewaffnet. »Und wo soll ich mich melden?« »Hier. Aber laß dir Zeit. Solange dieses Zeug über uns hängt, kann nichts passieren.« Sie nickte. »Gehen wir, Kally, ich muß was Sauberes anziehen.« Roald und Thom warteten auf dem Dachboden auf Dhana. Sie scheuchte sie nach unten, während sie sich umzog, das Haar kämmte, ihre Waffen holte und die verängstigten Fledermäuse beruhigte. Erst auf dem Rückweg bemerkte sie die Veränderungen, die im äußeren Hof vorgenommen worden waren. Lange Zelte waren für die Heiler aufgestellt worden. Wassertonnen standen überall. Behelfsmäßige Umzäunungen hielten die Dorftiere zusammen. Als Dhana sie sah, ging sie zu ihnen, um sich zu bedanken und ihnen zu versichern, daß ihnen hier nichts geschehen konnte. Außerdem bekräftigte sie noch einmal die Notwendigkeit für ihr gutes Benehmen. Es war das erstemal, daß ihnen jemand erklärte, daß Überfälle die Ursache dafür waren, daß sie so oft zum Schloß hinaufgetrieben wurden. Nachdem sie das verstanden hatten, waren sie ganz begierig zu helfen. »Ehrlich, man sollte doch denken, die Leute hätten es ihnen schon früher erzählt und sich dadurch ‘ne Menge Schwierigkeiten erspart«, brummte Dhana. »Übrigens, da wir gerade von Leuten sprechen, wo sind ihre Besitzer?« »Ein paar sind auf der Mauer«, sagte Thom. Dhana blickte nach oben und sah Dorfbewohner mit Bogen, Schilden und Metallkappen zwischen den Wächtern und den Reitern. »Die übrigen sind in den unteren Stockwerken. Wir haben tief in den Fels gebohrt. Da ist jede Menge Platz.« Sie war überrascht. Sie hätte sich niemals träumen lassen, daß es außer dem, was sie sah, noch mehr Räumlichkeiten gab. »Wie viele Überraschungen hat dein Vater denn noch im Ärmel?« Thom grinste. »Eine Menge.« 174
Wieder auf dem Beobachtungsturm, sah sie zwei Wachen und zwei Reitschüler, Elnore und Padrach, mit gespanntem Bogen und schußbereit. Die Königin und Onua waren ebenfalls bewaffnet. Buri war, genau wie Sarge, irgendwo auf der Mauer, um ein Auge auf die Reitschüler zu haben. Baron Georg redete leise mit einer der Wachen. Thayet lächelte Dhana an und winkte ihren Sohn und ihre Tochter zu sich. »Kommt, redet ein bißchen mit mir«, befahl sie, und die Kinder gehorchten. Thom ging zu seinem Vater hinüber, und Dhana suchte sich Numair aus. »Alles in Ordnung?« Er sah müde und angestrengt aus. Seine vollen Lippen waren fest geschlossen, als fürchte er, zuviel zu sagen, wenn er sie öffnete. Es gelang ihm, ihr ein verzerrtes Lächeln zu schenken. »Ich bin ziemlich durcheinander«, sagte er leise. Sie sah zu ihm auf. Ich bin die einzige, die das versteht, dachte sie. Wenn die Löwin hier wäre, hätte er es zu ihr gesagt, aber so bin eben ich da. Magie liegt in der Luft, eine Menge Magie, und alle erwarten von ihm ein Wunder. Und er kann nicht einmal sagen, ob seine Magie die richtige ist. Und er hat Angst. Sie legte ihre Hand in die seine, und er drückte sie fest. »Ich hasse es, ohne Informationen zu theoretisieren, aber ich brauche einen Arbeitsplan«, sagte er leise zu ihr. »Entweder kann ich die Zaubersprüche von Piratenbeute fernhalten, damit die anderen wirken können, oder ich lasse die Dämpfer, wie sie sind, und versuche durchzukommen und mit meinen eigenen Mitteln zu kämpfen. Das Problem ist nur, als Krieger-Magier sind meine Fähigkeiten begrenzt, und ich habe keinerlei Heilmagie. Wäre Alanna hier, könnten wir unabhängig voneinander arbeiten, aber…« Wieder wirkte sein Gesicht verschlossen. »Das ist es also«, sagte Dhana und versuchte, laut zu denken wie er auch. »Sie haben die Löwin weggelockt und eine Armee zwischen sie und uns gestellt.« Er nickte. »Was bedeutet, sie haben uns die ganze Zeit beobachtet.« Dhana und Numair schraken beide zusammen, als Georg plötzlich hinter ihnen redete. »Sie wissen, daß wir die Königin hier haben und die beiden nächsten Thronanwärter.« 175
Dhana und Numair sahen einander an und sagten wie im Chor: »Die Sturmflügel!« »Deshalb also haben sie die Küste ausspioniert«, fuhr Numair fort. »Sie haben gewartet, bis wir uns hier niederließen. Ich wette, sie haben auch dafür gesorgt, daß weder unsere Armee noch unsere Marine nahe genug sind, um helfen zu können.« Etwas fiel ihm ein, und seine Augen leuchteten auf. »Dhana, deine Magie! Wie steht’s damit?« Es überraschte sie, daß er überhaupt fragte. »Sie ist so wie immer. Du hast mir doch selbst gesagt, ich kann sie nicht abstellen.« »Wilde Magie«, sagte Numair leise. »Sie ist in allem. Gleichgültig, wie viele Dämpfer sie uns aufsetzen, dir können sie nichts anhaben!« Etwas rührte sich in ihrem Gedächtnis, etwas Häßliches und Bitteres. »Ich kann meine Freunde nicht in den Tod schicken«, erinnerte sie ihn, aber ihre Aufmerksamkeit wurde bereits abgelenkt. »Bogen!« schrie sie gellend, riß sich den ihren vom Rücken und legte einen Pfeil auf. »Bogen! Sturmflügel sind in der Luft!« Georg packte Thom und schob ihn zwischen Mauer und Boden, das gleiche machte er mit dem Prinzen und der Prinzessin. Thayet und Onua hielten ihre Waffen in der Hand. Die Reitschüler und die Wachen waren bereit. Der Baron hatte sein Schwert gezogen und seinen Degen in der Hand. Numair sagte: »Der Wind dreht sich. Sie brauchen den Nebel nicht mehr.« »Die Dämpfer?« fragte der Baron hoffnungsvoll. Der Magier schüttelte den Kopf. »Noch immer da. Der Nebel hat sie mitgeführt und abgelegt. Jetzt kleben die Zaubersprüche an allem, was der Nebel berührt, deshalb brauchen sie ihn nicht mehr.« Innerhalb von Minuten hatte sich der Nebel aufgelöst, und die Welt um sie herum wurde von der Sonne beleuchtet. Dhana sog die Luft ein beim Anblick der Szene, die sich ihr bot. Eine Flotte lag in der Bucht, fünf lange Boote oder Galeeren, von unter Deck angeketteten Männern gerudert. Dazu kamen noch sieben kleinere Schiffe, alle strotzten vor Kriegern und ihren Waffen. Dahinter lagen vier Lastkähne, riesige, flache Schiffe ohne Kiel, die sich offensichtlich nicht bewegen konnten. In der Mitte eines jeden Kahns befanden sich 176
große Holzgestelle und daneben Berge von Steinkugeln. An der Reling und um die Holzgestelle herum hingen große Sandsäcke. »Eine derart aufwendige Belagerung einer so kleinen Burg«, meinte Thayet. »Woher mögen sie bloß kommen?« »Von der Kupferinsel«, antwortete Georg ruhig. »Die sind jetzt Carthaks Verbündete.« »Was sind das für große, flache Schiffe?« fragte Dhana und suchte weiter den Himmel nach dem Sturmflügel ab, den sie gespürt hatte. Die Königin hob ein Fernglas an ihre Augen. »Kriegsschiffe, die Schreckenswaffe der carthakischen Flotte.« Sie reichte Dhana das Glas. »Die Dinger in der Mitte sind Katapulte. Jedes Schiff ist durch Magie und Ballast ausbalanciert, so daß die Katapulte Steinkugeln oder flüssiges Feuer schleudern können. Es gelingt ihnen, die Mauern einer Burg wie dieser innerhalb eines Tages in Schutt zu legen.« »Dann hat dieser Kaiser also den Krieg erklärt?« fragte Dhana. Sie hatte den Sturmflügel hoch oben am Himmel entdeckt. Er schoß nach unten, landete an Deck der größten Galeere und lachte, als die Menschen vor ihm flohen. »Keine carthakischen Flaggen«, sagte Onua. »Es ist nichts Offizielles.« Dhana starrte sie an. »Das macht aber bestimmt keinen Unterschied, eine Fahne ist schließlich nur ein Stück Stoff.« »Ein Krieg ist kein Krieg, solange keine offizielle Kriegserklärung erfolgt ist und die Armeen nicht unter Fahnen marschieren.« Onua kräuselte spöttisch die Lippen. »Weder diese Männer noch unsere Freunde in den Wäldern tragen Uniformen.« »Und das kann er einfach machen?« fragte Dhana empört. »Es ist kein Krieg, bis dieser Kerl von einem Kaiser es sagt?« »Oder bis Seine Majestät es sagt«, bemerkte Numair. Onua fragte: »Wir können überhaupt keine Hilfe von unseren Seestreitkräften erwarten, nicht wahr?« »Vor einer Woche haben Schiffe aus Scanran an der Nordküste angegriffen«, berichtete Georg. »Der größte Teil unserer Flotte befindet sich dort oben oder im Großen Binnenmeer.« »Wie reizend«, murmelte Prinz Roald. 177
»Kopf hoch, Schätzchen«, sagte Georg. »Ich denke, wir werden gleich die Bedingungen erfahren.« Der Sturmflügel hatte sich wieder in die Luft erhoben, eine weiße Flagge in der einen Klaue und in der anderen etwas viel Kleineres. »Das bedeutet nichts Gutes.« Auch Numair hatte ein Fernglas. »Seht ihr die roten Roben am Bug eines jeden Schiffes? Und in jedem Lastkahn sind mindestens vier gelbe Roben.« Er senkte das Fernglas. »Eine scharlachrote Robe der Universität von Carthak bedeutet, du hast deinen Meistertitel, die gleiche Stufe, welche die Mithrans der schwarzgoldenen Robe zugestehen. Gelbe Roben der Universität tragen die Eingeweihten. Diese Zauberer haben die Kähne hergebracht, und es sind ihre Zaubersprüche, die sie im Gleichgewicht halten und den Mechanismus der Katapulte auslösen.« »Welche Robe hast du?« fragte Dhana und beobachtete die Ankunft des Sturmflügels. »Keine«, erwiderte er. »Hast du jemals ein solches Ding angehabt? Sie sind irrsinnig heiß.« »Er hat ‘ne schwarze«, sagte Onua und hielt ihren Bogen fest, während sie ebenfalls das Monster nicht aus den Augen ließ. »Davon gibt es auf der ganzen Welt nur sieben.« Der Sturmflügel war noch etwa dreißig Meter entfernt. »Bogen«, sagte Thayet leise. Gleichzeitig mit ihr hoben alle Bogenschützen auf der Plattform ihre Waffen und visierten den Boten an. Grinsend hing er in der Luft über ihnen. »Na, ist das ‘ne nette Überraschung?« Dhana knirschte mit den Zähnen. Er war es, der sich zwischen sie und ihre Mutter gestellt hatte. Er war so nah, daß sie mit Leichtigkeit einen Pfeil hätte durch ihn hindurchschießen können. Das Ungeheuer ließ eine Schriftrolle auf den Steinboden zwischen Thayet und den Baron fallen. Die Königin zuckte nicht einmal mit der Wimper. Der Baron hob sie auf und öffnete sie. »An Königin Thayet von Tortall und Baron Georg Cooper von Piratenbeute vom Herrn der Freien Korsaren, Mahil Eddace, mit den besten Grüßen. Kraft meiner Überlegenheit an Zahl und Bewaffnung beanspruche ich Schloß, Dorf, Territorium und Gewässer von Piratenbeute für die Liga der Freien Korsaren. Solltet Ihr 178
Verstocktheit zeigen, habe ich keine andere Wahl, als das Schloß in Schutt und Asche zu legen, die Überlebenden zu versklaven, die Tiere zu töten und die Felder mit Salz zu bestreuen. Ihr habt nur eine Möglichkeit, Tod, Gefangenschaft oder Sklaverei zu vermeiden: Übergebt mir Thayet von Tortall und ihre Kinder, Prinz Roald und Prinzessin Kalasin, und deren Besitz. Euch bleiben der Rest des heutigen Tages und die folgende Nacht, um darüber nachzudenken. Falls die drei genannten Personen uns nicht übergeben werden, bis die Sonne in der Morgendämmerung die ersten Strahlen über den Horizont schickt, werden wir mit der Bombardierung durch Katapulte beginnen. Wenn Ihr die Annahme dieser Bedingungen kundtun wollt, könnt Ihr das tun, indem Ihr drei weiße Wimpel hißt.« Ruhig rollte der Baron das Papier zusammen, und genauso ruhig riß er es in Stücke und warf diese über die Mauer. »Sieht danach aus, als wollte Ozorne sich ein Druckmittel gegenüber dem König verschaffen«, murmelte Onua. »Es gab einmal eine Zeit, da ließ euer Volk sich nicht als Laufburschen mißbrauchen«, sagte der Baron zu dem Sturmflügel. Seine Stimme war gelassen und beinahe freundlich. »Es macht uns nichts aus zu helfen«, sagte der Sturmflügel und entblößte seine verfaulten Zähne in einem häßlichen Grinsen. »Für einen guten Zweck, selbstverständlich.« Er sah Dhana an. »Hallo, rosa Schweinchen. Zhaneh Bitterklaue wird bald hier sein, um dich zu sehen.« Er nickte Onua zu. »Euch beide.« Dann wandte er sich wieder an Georg und Thayet und sagte: »Nun? Eure Antwort?« Der Baron spuckte auf den Stein neben seinem Fuß. »Verschwinde, bevor ich zulasse, daß sie ein Nadelkissen aus dir machen.« Das Kichern des Sturmflügels war hoch und schneidend. »Oh, sehr gut. Wir haben gehofft, daß ihr das sagen würdet.« Er schlug mit den Flügeln und hob rasch ab. Ein Jagdschrei zerriß die Luft, und Dhanas Seeadler-Freund schoß an den Menschen vorbei. Er verhakte seine Füße im Haar des Monsters und pickte nach dessen Augen. Der Sturmflügel kreischte wütend und versuchte, den Vogel von seinem Kopf abzuschütteln. 179
»Dhana, ruf ihn zurück«, sagte Numair. Seine Stimme klang plötzlich gepreßt. »Ich hab’ ihn nicht hergerufen…« »Tu es!« schrie ihr Freund. Vor ihnen breitete sich über den Galeeren goldenes Feuer aus und bildete ein großes Quadrat, das von den Rot-Roben gehalten wurde. Komm zurück, rief Dhana und legte ihren ganzen Willen in diesen Befehl. Es lohnt sich nicht, komm zurück! Irgend etwas stampfte durch die Luft, daß es in ihren Ohren schmerzte. Der Seeadler brach den Angriff ab und kehrte zurück. Onua packte die Kinder und drängte sie von der Plattform. Ich habe beinahe seine Augen gehabt, beklagte sich der Vogel. Nur noch ein Flügelschlag… Das goldene Feuer in dem Quadrat explodierte und warf alle zu Boden. Wie ein Alptraum brach eine Horde von Sturmflügeln hindurch, angeführt von Zhaneh Bitterklaue. Sie erfüllten die Luft mit Gestank und Bösem, wie die Welt es seit vier Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte. Hinzu kam schiere Angst mit einem derartigen Gewicht, daß die Menschen davon beinahe zermalmt wurden. Etwas Riesiges, Rotes schien die gigantische Schar durchs Tor zu schieben, aber es verschwand wieder. Dhana war zu sehr damit beschäftigt, trotz der lastenden Angst zu atmen, daß sie kaum mehr als eine Sekunde darüber nachdenken konnte. Sie streckte sich und hob ihren Langbogen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Numair und der Baron wieder hochrappelten. Sie mußte lächeln, wischte sich den Schweiß aus den Augen und entließ ihren Pfeil. Der Bote hatte beschlossen, mit der Schar anzugreifen. Wie erwartet, drang ihr Pfeil direkt durch ihn hindurch. Noch ehe er auf den Felsen unten aufschlug, hatte sie bereits einen weiteren Pfeil am Bogen und schickte ihn los. Er flog mit einem Schwärm anderer Pfeile, den die Menschen um sie herum abschossen. Der Kampf tobte. Die Bogenschützen einschließlich Dhana feuerten Pfeil um Pfeil ab, wobei sie ihr Ziel vorher genau anvisierten. Numair traf rasch eine schwere Entscheidung: Er lehnte sich an die Mauer, wo er niemandem im Weg war, und machte sich daran, die dämpfenden Zaubersprüche 180
zu entkräften. Leute mit geringeren Gaben, einschließlich jener, die Feuer- und Kriegsformeln kannten, machten sich ebenfalls an die Arbeit. Onua zog schnell einen Schutzkreis um den Magier, um ihn vor den Sturmflügeln zu verbergen. Dhana kämpfte einen Zweifrontenkrieg. Ihre Tier-Freunde wollten sie retten, aber sie untersagte es ihnen. Schon bald mußte sie erfahren, daß es unmöglich war, ihren Willen so vielen verschiedenen Arten in den Wäldern, im Schloß und in der Luft aufzudrängen. Der Schmerz brannte sich ihr zweimal in ihren Kopf. Sie verlor die Kontrolle über die Möwen und den Seeadler. Mit triumphierenden Schreien schwangen sich die Vögel in die Luft, um die Sturmflügel zu martern. Mit Krallen und Schnäbeln griffen sie an und versuchten, die Monster in die Felsen oder gegeneinander zu treiben. Viele Sturmflügel entledigten sich der Vögel, um dann aber durch Pfeile oder Zusammenstöße mit ihresgleichen getötet zu werden. Tränen liefen über Dhanas Wangen. Mechanisch kämpfte sie weiter, während Vögel starben, von Stahlschwingen in Stücke zerschnitten oder von Stahlklauen und Zähnen zerrissen. Als die Sturmflügel angriffen, griffen auch die Landtruppen ein, verstärkt durch die Flotte. Den Rest des Morgens und bis in den langen Nachmittag hinein versuchten sie, Rammböcke und Leitern an die Burgmauern anzulegen, wurden aber immer wieder zurückgeschlagen. Allmählich verloren die Sturmflügel das Interesse an der Schlacht und bereiteten sich aus den Toten unterhalb der Mauer ein Festmahl. Sie hatten, was sie wollten, gleichgültig, wer gewonnen hatte. Sie verließen als erste den Luftraum über der Plattform, denn sie hatten keine Lust mehr, sich gegen Pfeile und Vögel zu verteidigen. Als es eine Zeitlang still auf der Plattform wurde, befahl Georg Dhana zu rasten. Sie fand dicht bei Numair etwas Schatten, setzte sich und legte ihren dröhnenden Kopf auf die hochgezogenen Knie. Nein! beschwor sie die Vögel, die kämpfen wollten. Nein, nein, nein! »Schau dich bloß an!« Während sie mit ihren Freunden gestritten hatte, war Miri mit Kalasin und einem der Dienstmädchen heraufgekommen. Alle drei trugen vollbeladene Tabletts und Weinschläuche. Das Fischermädchen kam zu Dhana und runzelte die 181
Stirn. »Deine Haut ist krebsrot. Ihr Landratten denkt nie an die Spiegelung des Wassers.« Sie rieb eine kühle Salbe auf Dhanas Gesicht und Arme. »Kally, wo ist das Stärkungsmittel?« Die Prinzessin füllte einen Krug aus ihrem Weinschlauch und reichte ihn Miri. »Trink, oder dir wird schlecht.« Miri hielt den Krug an Dhanas Lippen. Sie nahm einen Schluck und hustete. Es war Tomatensaft mit Salz und anderen Gewürzen. »Trink aus.« »Götter, das schmeckt ja abscheulich!« krächzte sie. Sie hatte hundsgemeine Kopfschmerzen, ihre Hände pulsierten, sie konnte die Finger nicht mehr schließen. In den Muskeln beider Arme spürte sie rasende Schmerzen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben soviel geschossen. »Es mag vielleicht abscheulich schmecken, aber es bewahrt dich davor, daß du uns hier zusammenklappst. Trink noch etwas. Maude hat es eigens für dich gebraut. Denk doch, wie sehr du ihre Gefühle verletzen würdest, wenn du’s nicht trinkst.« Dhana setzte sich auf. Maude? Ach ja, die alte Frau, die für das Kinderzimmer verantwortlich war. »Richtig, sie ist ja eine Heilerin, nicht wahr?« Von der Wiege an war Dhana gewohnt zu tun, was die Heilerin sagte. Sie holte tief Atem und trank alles, was im Krug war, so schnell wie möglich aus. Einen Augenblick lang drehte sich ihr der Magen um, und ihr Kopf hämmerte, doch dann waren Schmerz und Übelkeit nahezu verschwunden. »Den Göttern sei Dank für Heilerinnen«, flüsterte Dhana und seufzte. Das Dienstmädchen reichte ihr eine Schale mit Schmorfleisch und ein Brötchen. Dhana aß, während sich Miri und das Mädchen um Numair kümmerten. »Solltest du hier draußen sein?« fragte sie Kally. »Onua hat um diesen Platz einen Schutzkreis gezogen«, erklärte Miri über die Schulter hinweg. »Und die Dorfkinder helfen unten.« »Sie wollen nicht die Dorfkinder haben, sie wollen sie und Roald.« Sie lächelte Kally an, dann wandte sie sich an Miri. »Wie läuft’s?« »Nicht schlecht.« Die Antwort kam von Numair. Er saß mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen an der Mauer. Sein Gesicht war schweißgebadet. Man hatte Kissen an seine Seiten 182
gestopft, um es ihm bequem zu machen. Jemand – ein rothaariger Sechsjähriger – hatte seinen Lieblingsteddy unter eine der großen Hände des Magiers gelegt. »Sie können keine Bresche in die Mauer schlagen, sie können nicht einmal in die Nähe kommen. Unsere Bogenschützen machen ihnen schwer zu schaffen. Wir haben jedoch keine Verluste bei den Unseren.« »Kannst du essen oder trinken?« fragte Kally. »Maude sagt, du sollst, falls es dich nicht von den Zaubersprüchen ablenkt.« Er nickte. Das Mädchen holte einen Becher Wasser aus einer der in der Nähe stehenden Tonnen und hielt ihn an seine Lippen. Er trank, ohne die Augen zu öffnen. »Wie geht’s, Euer Majestät?« »Bitte, nenn mich nicht so.« Die Stimme des Mädchens brach. »Alles das passiert nur, weil ich eine Prinzessin bin. Es ist meine Schuld, und ich finde es furchtbar!« Dhana rollte sich auf die Knie und wandte sich dem Kind zu. »Na, na, jetzt hör aber auf«, sagte sie und tätschelte Kallys Schulter. Das Mädchen drehte sich um und verbarg seinen Kopf in Dhanas Hemd. Sie weinte und bemühte sich sehr, keinen Ton von sich zu geben. Sie ist doch erst acht, dachte Dhana traurig. »Das hast du alles falsch verstanden, Schätzchen. Diese Männer würden das auch dann tun, wenn du keine Prinzessin wärst. Es ist ihnen gleich, hinter wem sie her sind. Sie hätten genausogut Numair verlangen können, der in diesem blöden Carthak Schwierigkeiten gehabt hat, oder Sarge, der ist schließlich ein entlaufener Sklave. Es ist nicht deinetwegen oder wegen Roald oder sonst jemandem – ihr seid nur ein Vor wand. Wenn du irgend jemandem die Schuld geben mußt, dann gib sie den Carthakern.« »Carthak!« korrigierte Numair. Er lächelte ein wenig. »Dhana hat recht, Kalasin. Derjenige, der eine Handlung begeht, ist der Schuldige, nicht der, gegen den sich diese Handlung richtet.« »Aber sie haben doch ausdrücklich gesagt, es ist wegen mir und Mama und Roald.« Kally schneuzte sich die Nase und wischte sich das Gesicht ab. »Das ist doch klar.« Dhana kochte vor Wut. Sie alle waren schon einmal in Situationen gewesen, in denen ein Kampf unausweichlich 183
war. Aber einem kleinen Mädchen in den Kopf zu setzen, daß es allein schuld an diesem Kampf hatte – das war grausam. »Böse Menschen sagen böse Dinge, damit gute Menschen weinen und unsicher werden. Laß dich davon nicht beeindrucken. Es ist, weil sie zu geizig sind, um Nahrungsmittel zu kaufen, sie stehlen sie lieber. Genau darum geht es nämlich wirklich.« »Kalasin?« Maude rief von der Treppe her. »Ich brauche dich unten, es gibt einiges zu heilen.« Kally schniefte und wischte sich noch einmal das Gesicht ab. »Komme schon.« Dhana sah ihr nach. »Aber sie ist noch ein Kind.« »Dieses Kind ist eine starke, naturbegabte Heilerin.« Numair hatte seine Augen noch nicht einmal aufgemacht. »Sie ist noch teilweise ungeübt, aber Maude kann ihr sagen, was sie tun soll. Wie kommst du zurecht?« Dhana sah ihn mißtrauisch an. »Was meinst du?« »Ich meine, deine Freunde dort draußen müssen doch ganz wild drauf sein, die Eindringlinge anzugreifen. Und ich erinnere mich genau, daß du gesagt hast, du willst nicht, daß sie kämpfen. Die Vögel sind dir heute morgen entwischt, nicht wahr?« Dhana ballte ihre Finger zu Fäusten und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. »Ich komm’ schon zurecht.« »Lügnerin.« Er sagte es beinahe amüsiert. Die Luft sang. »Was ist?« Sie sprang auf. Woher kam das? »Numair, hörst du es?« »Was?« Es war ähnlich wie bei den Greifen und doch anders, ein Singen aus dem Norden, tief und nah. Es füllte ihre Augen und Ohren und schlug gegen die wunden Innenseiten ihrer Hände. Onua versuchte, zusammen mit Georg und Kommandant Josua, Thayet zu überreden, nach unten zu gehen, als sie spürte, wie der Schutzkreis um sie herum verschwand. »Runter!« Sie stieß die Königin zu Boden. Georg und Josua hatten ihre Schwerter gezogen, als der Verursacher der Musik von unten heraufgerauscht kam und über ihre Köpfe hinwegfegte. Numair 184
sprang sofort hoch, seine Kontrolle über die Burg war zerschmettert. Das Drachenweibchen kreischte wütend und raste in großem Bogen aufs Meer hinaus. Dann machte es kehrt und kam zurück. Alle außer Dhana lagen auf dem Boden. Sie stand auf der Mauer, nur Millimeter trennten ihre Fußspitzen von der schwindelerregenden Tiefe. Wie gebannt starrte sie die Schönheit an, die sich ihr bot. Scharlachrote Schuppen glitzerten wie Rubine auf dem langen, anmutigen Körper. Die Flügel, in der Form denen der Fledermäuse ähnlich, waren riesige, zarte Gebilde in tiefstem Rot und wurden von innen durch silberne Knochen erleuchtet. Als der Drache nur Zentimeter über ihrem Kopf hinwegflog und sie beinahe von der Plattform warf, konnte sie sehen, daß orangefarbene und gelbe Schuppen den Bauch des großen Geschöpfes schmückten. Wie bei den Sturmflügeln waren auch Krallen und Zähne silbern, aber nicht das harte Silber von Metall. Der Gesang des Drachenweibchens machte Dhana fast taub. Sie bemühte sich, die Töne in eine Form zu bringen, die sie verstehen konnte. Dann hörte sie: Kidnapper! Dreckige Kidnapper! Zerreißt sie, bringt die Rabenhaarige in einen Käfig auf dem Schiff! Dhana schüttelte den Kopf. Was hörte sie da? Der Drache kam tief herangeflogen und hätte beinahe Thayet gepackt, ehe er wieder hochzog. Hat mich hierhergebracht! Du wirst mich mit deinen Menschentricks nach Hause schicken! Das Mädchen schloß die Augen. Welche Tricks? rief sie, so laut sie konnte. Tahoi bellte. Die Pferde unten schrien, ihre empfindlichen Ohren schmerzten. Der Drache kam erneut herangeflogen und schlug Josua das Schwert aus der Faust. Der Mann wurde zu Boden geschleudert, wo er betäubt liegenblieb. Halt! schrie Dhana. Halt! Welche Kidnapper? Welche Lügen? Wieder kam der Drache angebraust. Schick mich nach Hausei Ich verlange es! Numair schickte Feuer zu ihr, Feuer, das sich wie ein Mantel um sie legte und dann erlosch. Der lange Hals drehte sich, und das Tier sah ihn scharf an. 185
Menschenzauberer, du wirst dafür bezahlen, daß du mich gestohlen hast! Dhana warf sich gegen Numair und stieß ihn zu Boden. Der lange Schatten fiel auf sie beide und blieb da. Der Steinboden unter ihnen bebte. Irgendwo in der Ferne schrien Leute. Die Plattform hatte einen Durchmesser von ungefähr zwanzig Metern. Etwa ein Drittel davon nahm der Körper des Drachen von den Vorderpfoten bis zu den Hinterbeinen ein, und über ein gutes weiteres Drittel wirbelten sein Schwanz und seine Flügel. Alle außer Dhana und Numair, die zwischen den Vorderpfoten lagen, waren an die Mauer gepreßt worden oder hatten es bis zur Treppe geschafft. Dhana sprang auf die Füße und hob die Hände. Ich glaube, ich hab’ jetzt den Dreh raus, dachte sie, zumindest, Göttin, hoffe ich es… Sie legte ihre Hände an die scharlachrote Brust und rief: Hör mir zu, Flügel-Schwester! Informationen fluteten in ihr Gehirn, als der Drache einen ohrenzerreißenden Schrei ausstieß. Dhanas Nase begann zu bluten, die Intensität des Kontakts mit den Gedanken des Drachen belastete ihren Körper bis an die äußerste Grenze. Sie schob all ihr plötzliches Wissen um die Gedanken des großen Geschöpfes beiseite, als sie hörte: Wer spricht? Sie holte tief Atem, zwang ihren Herzschlag zu einer ruhigeren Gangart. Ich! Das soll wohl ein ‘Witz sein. Unglaube machte sich im Gehirn des Drachen breit. Das ist kein Witz, sagte Dhana. Was haben diese Rot-Roben auf dem Schiff dir denn erzählt? Wieso hatte sie das Gefühl, als würde sie heilen? Ein rascher Blick in ihr Inneres zeigte ihr, daß ihr kupfernes Feuer durch ihre Hände in den Körper des Drachen strömte. Dann merkte sie, daß sie ihre Hände nicht von den Schuppen des Tieres lösen konnte. Es war, als hätten sich ihre Handflächen dort festgesaugt. Der Drache war jetzt unsicher.
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Sie sagen, sie sagen, die Rabenhaarige und ihre Kinder haben mich von daheim gestohlen und hierhergebracht, damit ich die Schiffe kaputt mache. Kannst du eine Lüge denn nicht riechen? fragte Dhana. Sie bekam eine Ahnung von den Gedanken hinter den riesigen, katzenartigen Augen. Dieser Drache war nicht viel älter als ein Mensch in Miris Alter und sehr verängstigt, um nicht zu sagen, von panischer Angst gepackt. Der einzige Geruch an den Roten Roben war der von Essern. Die Sturmflügel wurden in den Gedanken des Drachen sichtbar. Sie haben dich hierhergebracht, die Roten Roben. Sie haben dich mit den Essern hierhergebracht. Verstehe nicht… Der Drache war verwirrt und hatte Angst. Er zitterte unter den Händen des Mädchens… Müde. Krank. Kleines… Dhana spürte, wie ein Zittern durch den Drachen ging. Es war wie ein Krampf oder ein Pressen! Dhana begriff plötzlich. Du bekommst ein Baby! schrie sie. Unvermittelt erfüllte sich das Gehirn des Drachen mit heißer Erregung, die das magische Gehör des Mädchens betäubte. Dhana konnte ihre Hände von dem Drachen lösen und hielt sich die Ohren zu. Der Drache schrie auf und schwang sich in die Luft. Noch ehe Dhana begriff, was geschah, war er fort, flog an den Klippen entlang nach Norden. Sie kann mit Magie umgehen, erkannte das Mädchen ehrfurchtsvoll. Numair sprang hoch und riß sie in seine Arme. »Du kleine Idiotin«, flüsterte er und drückte sie so fest an sich, daß sie quietschte. »Sie war in den Wehen und auf dem Weg nach Hause«, erzählte Dhana ihm. »Sie haben das Tor geöffnet, und es zog sie zu uns herein. Ich denke, dabei wurde ihr Baby getötet. Vielleicht wäre auch sie getötet worden, aber es war genau, wie du gesagt hast, die wilde Magie wurde direkt aus mir herausgesaugt, und deshalb glaube ich, daß sie gesund wird. Und sie ist gebildet, Numair! Ihre Gedanken sind alle geordnet, wie du es mich gelehrt hast!«
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Die anderen umringten sie. In Josuas Augen und in denen der Wachsoldaten sah sie eine Gemütsbewegung, die sehr nach Angst aussah. Jemand kam auf die Plattform gerannt. Es war Farant. »Meister Numair? Die Heilerinnen fragen, ob etwas nicht stimmt. Wenn Ihr sie jetzt nicht abschirmt, werden wir Sarge verlieren.« »O nein«, flüsterte Thayet. Numair ließ Dhana los und setzte sich wieder mit dem Rücken zur Wand. Er schloß die Augen, und die Beschaffenheit der Luft um ihn herum veränderte sich. Dhana merkte, daß sie sich selbst gern ein bißchen setzen würde. Ihre Beine klappten unter ihr zusammen, ehe sie ihnen den Befehl dazu erteilt hatte, und sie konnte sich nicht erinnern, wie sie auf den Boden gekommen war.
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10 Bis an die äußerste Grenze Jemand hatte sie nach unten getragen und im Studierzimmer des Barons auf ein Feldbett gelegt. Tahoi lag besorgt daneben. Ein paar Fledermäuse hingen unauffällig an der Wandbespannung. Der Seeadler, dem ein Auge fehlte, der aber wie durch ein Wunder am Leben geblieben war, saß auf der Sitzstange und ließ sich von Onua mit rohem Fleisch füttern. Dhana setzte sich auf. Ihr Kopf schmerzte mehr als je zuvor, und sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. »Ich glaube, mir wird schlecht«, flüsterte sie. Onua brachte ihr gerade noch rechtzeitig eine Schüssel. »Was ist los?« fragte sie, als Dhana sich übergeben hatte. »War es der Drache?« »Nein«, krächzte sie. »Wie lange war ich bewußtlos?« »Nicht allzu lang. Es ist kurz nach Sonnenuntergang.« Dhana sah auf ihr Hemd, das in einem fürchterlichen Zustand war. »Was ist passiert?« »Du hattest Nasenbluten. Was ist mit deinem Kopf los? Kannst du uns das erklären?« Sie strich ihr übers Haar. »Es ist wichtig. Du bist wichtig.« Sie wußten, daß sie wach war, und verstärkten ihre Anstrengungen, sich zu befreien. Dhana wußte nicht einmal, daß sie aufgehört hatte, auf die Fragen der K’mir zu antworten, bis Kühle durch ihre Adern sickerte und das heiße Feuer der Kopfschmerzen zurückdrängte. Sie öffnete die Augen. Kally hielt eine ihrer Hände, Thom die andere. Die Kühle war von ihnen gekommen. »Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang wie eine verrostete Torangel. »Danke.« »Du verausgabst dich.« Maude stand hinter den Kindern und sah ernst aus. »Du mußt ein paar Zauberkräfte loslassen. Ich weiß, deine Magie ist anders, aber dein Körper ist genauso wie der aller anderen. Du tust zu viel. Laß einige deiner Zaubersprüche frei, oder wir können keine Verantwortung für die Konsequenzen übernehmen.« 189
Dhana sah Onua an, während die alte Frau Kally und Thom hinausführte. »Die hat leicht reden«, murmelte sie, nachdem die Tür geschlossen war. Onua brachte ihr ein Tablett mit Essen und stellte es auf den Tisch neben dem Feldbett. »Iß! Welche Magie wendest du überhaupt im Moment an?« Heiße Kuchen, mit Butter und Sirup getränkt, Fruchtsaft, heißer Kakao. Der Zucker schaffte ihr während des Essens einen klaren Kopf. »Ich darf sie nicht kämpfen lassen«, sagte sie mit vollem Mund. »Wen nicht kämpfen lassen?« Onua kraulte Tahois Ohren und erlaubte geduldig den Fledermäusen, sich auf ihren Schultern niederzulassen, während sie Dhana zuhörte. Sie trank eine halbe Kanne kaltes Wasser, um die Süße hinunterzuspülen. »Sie.« Sie deutete mit ihrer Gabel in Richtung der Wälder außerhalb des Schlosses. »Die wilden Tiere, sie lassen mich nicht in Ruhe. Sie wollen gegen die Angreifer kämpfen. Sie warten schon den ganzen Tag darauf.« Onua fuhr mit den Fingern über das Rückgrat Tahois, und der große Hund seufzte. »Ich verstehe nicht. Ist es denn so schlimm, wenn sie kämpfen? Es ist auch ihr Heim.« Dhana starrte sie an. »Sie werden getötet! Es sind Tiere, sie dürfen nicht in die menschliche Dummheit verwickelt werden!« »Du magst nichts davon«, sagte Onua zu der Fledermaus, die an dem Tablett schnüffelte. Zu dem Mädchen sagte sie: »Mir scheint, wir verwickeln sie ständig in unsere Dummheiten. Wenn du ihnen sagst, wie sie kämpfen sollen, hätten sie doch wenigstens eine Chance.« Dhana stand auf und ging im Zimmer umher. »Du verstehst mich nicht! Wenn ich einmal mit ihnen geredet oder sie getroffen habe, dann kenne ich sie persönlich. Sie sind meine Freunde. Sie sind ein Teil von mir. Wenn sie verletzt werden und sterben, tut es mir weh.« »Du glaubst, es tut mir nicht weh, wenn eines meiner Pferde stirbt?« Dhana wurde rot und verlegen. »Das hab’ ich vergessen. Entschuldige.« Die ältere Frau seufzte. »Wir teilen uns diese Welt, Dhana. Wir können uns nicht voneinander trennen. Menschen und Tiere sollen 190
Partner sein. Stimmt’s, Tahoi?« Der Hund wedelte mit dem Schwanz. »Er weiß das. Er hat mir das Leben gerettet, als mein Mann mich verließ, während ich schon im Sterben lag. Seitdem habe ich ihm das Leben gerettet. Er kann weder kochen noch singen, und ich kann keine Kaninchen jagen, aber wir sind Partner. Die Ponys der Reiter sind vollwertige Partner ihrer Herrn, sie müssen es sein, und genau das versuche ich ihnen beizubringen, damit jeder eine bessere Chance zum Überleben hat. Die Tiere von Piratenbeute sitzen in der gleichen Falle wie wir. Männer sind in ihr Heim eingedrungen, haben ihre Familien getötet, und du willst ihnen nicht erlauben, etwas zu tun; aus Angst, daß es dir weh tun könnte. Das ist selbstsüchtig. Wie würdest du das finden, wenn ich dir deinen Bogen wegnehmen und sagen würde, ich mache mir zu große Sorgen um dich, als daß ich dich kämpfen lassen könnte?« Dhana zuckte zusammen. »Ich verstehe, was du meinst.« »Du hast deine Freunde hilflos gemacht, genau wie die Banditen dich hilflos gemacht haben, als sie deine Familie töteten. Naturlich wehren sie sich gegen dich.« Onua seufzte. »Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir gejagt werden wollen, weder Tiere noch Menschen. So ist die Welt eben. Die einzige Wahl, die wir haben, ist die, uns zu ergeben oder zu kämpfen. Warum zeigst du ihnen nicht, wie sie kämpfen sollen, und überläßt ihnen die Entscheidung?« Sie betrachtete eingehend ihre Fingernägel und fügte hinzu: »Ich will ehrlich zu dir sein. Wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können.« Dhana trat ans Fenster und befühlte ihre Dachspfote. Ich weiß, was sie meint, dachte sie. Sie werden am Morgen damit beginnen, unsere Mauern mit diesen Katapulten zu zerschmettern. Dann werden sie kommen und Thayet und die Kinder holen, falls diese noch am Leben sind. Und die übrigen, Thom, die Zwillinge, Tahoi und Wolke und Lümmel… Es muß etwas geben, womit meine Freunde uns helfen können. Plötzlich erinnerte sie sich an ein Gespräch, das Buri einmal mit den Schülern geführt hatte. »Wenn eure Zahl gering ist, etwa nur eine Reitergruppe, dann wäre es idiotisch, den überlegenen Feind direkt anzugreifen. Aber Feinde 191
sind nur Männer, und Männer bekommen es rasch mit der Angst zu tun. Verwendet simple Fallen, mit Zweigen bedeckte Löcher, streut Kieselsteine auf die Straßen, damit sie und ihre Pferde lahmen. Sorgt dafür, daß ihre Quellen fauliges Wasser liefern. Stehlt euch in ihr Lager und vernichtet ihre Nahrungsmittel, wenn ihr könnt. Lärmt die ganze Nacht, damit niemand zur Ruhe kommt, dann werden die Schildwachen vor lauter Müdigkeit Gespenster sehen. Kaufen oder stehlen sie Nahrungsmittel von den Bewohnern? Sorgt dafür, daß das Essen, das sie in ihre Pfoten bekommen, verschimmelt, abgestanden oder naß ist. Ein Feind, der müde, schlecht gefüttert und verängstigt ist, ist schon halb besiegt.« Das könnten wir tun, dachte Dhana jetzt. Wenn die Soldaten hier an Land geschwächt sind, könnten Thayet und alle anderen sich den Weg nach draußen erkämpfen und entkommen, bevor die Schiffe ihre Krieger zum Schloß gebracht haben. Sie schloß die Augen und öffnete ihre Gedanken bis an den Rand ihrer Reichweite. Die zahllosen Tiere in den Wäldern rund um Piratenbeute begannen zu schreien, sie wollten losgelassen werden. Sie wollten reißen, nagen und springen. Ruhe! befahl sie. Sie gehorchten. Zuerst griff sie nach Nerzen, Wieseln und Mardern – klugen, kleinen Tieren mit scharfen Krallen und Zähnen. Sie erfaßten rasch die Bilder von Lederzeug, Seilen und Bogensehnen. Sie durften sich nicht sehen lassen, das sagte sie ihnen immer und immer wieder. Sie durften sich nicht erwischen lassen. Sie drückte ihnen die Bilder von Bogen, Messern und Schwertern ins Gedächtnis, bis sie wußten, sie mußten wegrennen oder sich verstecken, wenn sie einen Menschen mit einer Waffe in der Hand sahen. Bären, Wildschweine und Biber waren auf Eßbares aus, nachdem sie ihnen eingeschärft hatte, beim geringsten Anzeichen menschlicher Angriffe wegzurennen. Sie ließ sie Säcke und Kisten mit Korn, Käse, Pökelfleisch und Gemüse aufreißen. Spitzmäuse und Wühlmäuse boten an, sich um die Tee- und Kaffeevorräte zu kümmern. Sie wäre sehr überrascht gewesen, wenn sich bis zum Morgen auch nur irgend etwas Eßbares oder Trinkbares im Lager gefunden hätte. Die Füchse bat sie, die angepflockten Pferde und Mulis zu befreien. Nachdem sie ihnen die Sache erst einmal erklärt hatte, waren die 192
Pferde des Feindes nur allzu glücklich, ihre Herren zu verlassen und sich in die Wälder davonzumachen. Einige der Mulis der Feinde versetzten noch schnell den Wassertonnen einen Huftritt oder ließen sie Abhänge hinunterrollen. Eulen und Fledermäuse machten sich einen Spaß daraus, die Wachen zu beschäftigen. Ein Wachmann nach dem anderen machte die unangenehme Erfahrung, daß sich eine Eule lautlos von oben auf ihn fallen ließ oder daß ihm eine Fledermaus direkt ins Gesicht flatterte. Waschbären liefen mit Messern und Pfeilen davon. Wölfe heulten an den Grenzen des Lagers und erhielten Antwort von Wildkatzen aller Größen. Mögen die Götter euch alle beschützen, dachte Dhana traurig und brach den Kontakt ab. Der Raum war leer. Überraschenderweise hatte es nicht lange gedauert, um ihre Armee zu mobilisieren. Die Kerze, welche den Ablauf der Zeit anzeigte, war über die Markierung einer Stunde und einer weiteren halben Stunde heruntergebrannt. Anscheinend ist es leichter, sie das tun zu lassen, was sie ohnehin tun wollen, als sie ständig davon abzuhalten, dachte Dhana. Bitte, Göttin, laß es nicht zu, daß meinen Freunden ein Leid geschieht! Sie zog die sauberen Kleider an, die auf dem Feldbett lagen, und verließ das Zimmer. Sie fand Numair in einem Raum voller Bücher. Sein Gesicht war grau, die Nase stach daraus hervor wie der Bug eines sinkenden Schiffes. Gesicht und Haare waren schweißgebadet. Dhana sah, daß der Wasserkrug auf dem Tisch neben ihm leer war. Sie ging und holte ihm Wasser. Als sie zurückkam, hatte er die Augen offen. Sie waren matt und müde. »Danke«, flüsterte er, als sie ihm Wasser einschenkte. Seine Hände zitterten, als er nach dem Becher griff. »Warte.« Sie stützte seinen Kopf und seine Schultern und half ihm mit der freien Hand, den Becher zum Mund zu führen. »Drängst du noch immer diese Dämpfer zurück?« Er nickte. »Kann ich dir etwas zu essen bringen?« »Ich würde mich bloß übergeben.« Er lächelte. »Wie gefällt dir deine erste Belagerung?« »Sehr komisch«, sagte sie säuerlich. »Ich bin ja so froh, daß du deinen Sinn für Humor nicht verloren hast.« 193
Er schloß die Augen und lächelte. »Das ist mein Zauberlehrling!« »Kannst du nicht eine Weile loslassen?« Er schüttelte den Kopf. »Die Heilerinnen. Sie sind noch immer bei der Arbeit. Dhana, du hast gesagt, der Drache kann denken. Ist er gebildet?« »Sie. Sie ist gebildet. Selbst die Greife sind wie alle meine Tiere, in ihrem Kopf purzelt alles wild durcheinander. Bei ihr ist das anders. Sie hat Sachen auf Schriftrollen gelesen, die Bilder davon waren in ihrem Kopf.« »Erstaunlich«, flüsterte er. »Ich hab’ Gerüchte gehört, aber nie daran geglaubt.« »Welche Gerüchte?« »Es sind Magier. Nun, wir haben’s ja gesehen. Sie kam direkt auf uns zu, und du hast sie erst gehört, als sie ganz dicht bei uns war. Und sie verschwand. Hörst du sie jetzt?« Dhana lauschte angespannt. »Nein.« Sie zog ihm seine Stiefel aus und legte ein Kissen unter seine Füße. Weitere Kissen stopfte sie ihm hinter seinen Kopf. Sie bemerkte, daß er noch immer das Spielzeug umklammert hielt, das Thom ihm in die Hand gedrückt hatte. »Ich hab’ noch etwas getan. Ich hab’ die Landtiere freigelassen, sie richten ein bißchen Zerstörung an. Leider sind nicht genug Tiere auf den Schiffen, mit denen ich arbeiten könnte. Dort draußen gibt es in der Hauptsache Ratten. Ich kann mit Ratten nicht arbeiten, ich hab’s versucht, aber sie wollen mir nicht einmal zuhören.« »Wale? Bitte sie, unter die Kähne zu schwimmen, sie sollen sie wenigstens zum Kentern bringen. Die Katapulte sind die größte Gefahr. Und dann die Rot-Roben auf den Galeeren.« Sie überlegte. »Wenn es dort draußen Wale gibt, so kann ich sie nicht hören. Sie sind außerhalb meiner Reichweite.« Sie kaute auf einem Daumennagel. »Ich bin auch hundemüde. Der Drache hat mich beinahe ausgetrocknet. Blöd, daß ich nicht zum Meer kann. Wenn es im Keller einen kalten Ort gäbe…« »Such Georg. Er wird eine Möglichkeit finden, dich ans Wasser zu bringen.« 194
Sie sah eine weitere Gefahr. »Was ist, wenn mich die Magier von den Schiffen fangen?« »Das ist ein Risiko, aber du hast eine bessere Chance als irgend jemand mit der Gabe. Nur ganz wenige können wilde Magie erahnen. Die Magier aus Carthak halten sie für Altweibergeschwätz. Sollte irgend jemand dort draußen sie wirklich spüren, hätte er ziemliche Mühe, die anderen davon zu überzeugen. Falls man dich entdeckt, kannst du zwischen den Seelöwen und Robben verschwinden.« Er seufzte. »Ich weiß, es ist gefährlich, und ich hasse den Gedanken, dich dazu zu überreden, aber wir brauchen ein Wunder. Ich hoffe, du kannst uns eines verschaffen.« Sie stand auf. »Wünsch mir Glück.« Sie zögerte, dann küßte sie ihn auf die Wange. Er umarmte sie kurz. »Viel Glück, Zauberlehrling.« Sie sah an den Felsen auf der Rückseite der Burg hinunter. Georg und Evin standen mit Seilen und einer Schlinge dabei. »Habt Ihr früher schon Leute auf diese Weise hinuntergeschickt?« »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, versicherte ihr der Baron. »Vom Wasser aus kann man dich nicht sehen, denn du gehst in einer Art Kamin hinunter. Wenn du zurückkehren willst, tritt einfach in die Schlinge und zieh dreimal heftig am Seil und dreimal leicht. Jemand, dem ich vertrauen kann, wird hier warten. Verstanden?« Sie nickte und befestigte die Schlinge um ihren Körper. »Wie gut, daß ich in den Bergen aufgewachsen bin und keine Angst vor der Höhe habe«, sagte sie mit gespielter Fröhlichkeit. »Ich hab’ Euch doch gesagt, es kann auch ein Fehlschlag werden, nicht wahr?« »Des öfteren«, versicherte ihr der Baron. »Aber keine Sorge, ich bin Experte in Fehlschlägen, Kindchen. Hab’ mein ganzes Leben lang gelernt, damit umzugehen.« »Wie steht’s mit einem Licht?« fragte Evin. Sie sah ihn überrascht an. »Ich brauche keins. Schließlich scheint der Mond. Und ich kann im Dunkeln gut sehen.« Georg nickte. »Versuch, wieder an Deck zu sein, wenn der Spaß morgen früh beginnt.« Sie lächelte ihn an. »Das möchte ich doch nicht um alles in der Welt verpassen.« 195
Die Schwebepartie den Kamin hinunter war vorbei, kaum daß sie begonnen hatte. Unten stand sie auf einem Streifen Sand. Sie stieg aus der Schlinge, zog ihre Stiefel aus und rollte die Hosenbeine hoch. Rasch ging sie an der Klippe entlang nach Norden. Sie brauchte einen Platz, wo sie sich zwischen den Felsen festkeilen konnte, denn es war nicht ihre Absicht, sich aufs Meer hinausspülen zu lassen. Endlich erreichte sie einen Platz, der ihr geeignet erschien. Sie umklammerte die Dachspfote, quetschte sich zwischen zwei Felsbrocken hindurch und ließ sich langsam ins Wasser sinken. Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um keinen Schrei auszustoßen, so kalt war das Wasser. Innerhalb von Sekunden war sie gefühllos bis zur Hüfte. Das Salzwasser gab ihr ein Gefühl, als hätte das Drachenweibchen nichts von ihrer Magie herausgezogen. Als erstes fand sie die Robben und rief ihnen einen Gruß zu. Sie wollten mit ihr spielen, aber sie erklärte ihnen, daß sie jetzt keine Zeit dazu hatte. Weiter hinaus schickte sie ihre Magie, über ihre normale Reichweite hinaus und in tieferes Wasser. Walgesänge erfüllten die See mit ihrem Zauber. Dhana hatte eine Gruppe von annähernd vierzig Blauwalen gefunden. Dreiviertel davon waren erwachsen, jeder mindestens vierundzwanzig Meter lang und über einhundertundvierzig Tonnen schwer. Dhana zögerte, von Panik ergriffen, dann rief sie: Hallo! In einer Höhle hoch über Dhanas Kopf hörte das Drachenweibchen auf, sein Baby zu beschnuppern. Das war das Magierkind, das ihr Baby wieder zum Leben erweckt hatte, als sie schon glaubte, es sei tot in ihrem Bauch. Der Drache konnte diesen schauderhaften Akzent nicht mißdeuten. Wale kamen in Dhanas Gedanken, riesige Schatten, die den Mädchenschatten anstarrten. Einer schwamm vor den anderen her in großer Anmut und Majestät. Wer ruft? Das war etwas anderes, als mit Landtieren, Robben oder Fischen zu reden. Sie waren auf ihre Art weise, und Worte drückten nur unzureichend die Dinge aus, die sie sagten. Als Antwort übermittelte sie ihnen ein Bild von sich selbst, wie sie sich sah. Die Wale waren belustigt. 196
Warum suchst du uns auf, winziges Menschenkalb? Mit Bildern und Ideen erklärte sie die Belagerung, die Carthak, die Sturmflügel und den Drachen. Sie wollen uns unsere Freiheit nehmen und verletzen meine Freunde. Ich bin gekommen, um euch um Hilfe zu bitten. Wenn vier oder fünf von euch unter die Kähne schwimmen und sie umkippen würden und vielleicht ein oder zwei der großen Schiffe, dann hätten wir eine Chance. Ich weiß, ich bitte euch da um einen großen Gefallen. Ich kann nicht sagen, daß sie euch nicht verletzen werden, vielleicht können sie es. Aber ihr seid meine größte Hoffnung, versteht ihr? Der Leitwal hörte sie höflich an. Seine Antwort dröhnte in ihrem Kopf und in ihren Ohren. Nein! Sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, daß sie im Freien war, um einen Schrei unterdrücken zu können. Sie biß sich ins Handgelenk, um ihn zu ersticken. Ihr versteht nicht! Wie konnte sie es ihnen bloß erklären? Der Feind tötet Menschen und Tiere, die noch niemals jemandem etwas getan haben. Sie haben Monster hergebracht. Wir haben dort Kälbchen, kleine Menschen, die darauf angewiesen sind, daß wir für ihre Sicherheit sorgen. Sie bot Roald, Kally und Thom diesen kaltschnäuzigen Richtern an. Ihr würdet eure Kälbchen doch auch nicht sterben lassen. Erwachsene Menschen jagen euch vielleicht, aber diese nicht. Helft mir, sie zu retten! Das Drachen Weibchen sah ihr Neugeborenes an. Ihr erstes Baby war tot gewesen, bis dieses Mädchen seine Hände auf ihren Bauch gelegt hatte. Drachen gebären nicht leicht, sie nehmen den Verlust eines Jungen nicht gleichgültig hin. Du verstehst nicht, sterbliches Kälbchen, sagte der Anführer der Wale. Würdest du es mir bitte erklären? Dhana bemühte sich, höflich zu sein. Es mußte einen Weg geben, sie zu überreden. Wir werden weder kämpfen noch töten. Nicht für uns, nicht für jemand anderen. Gewalt gegen höhere Lebensformen ist widerlich. 197
Vor Jahrhunderten hat unsere Rasse geschworen, es als Greueltat anzusehen, höhere Lebensformen zu vernichten. Aber Miri hat gesagt, ihr habt Schiffe angegriffen, die euresgleichen getötet haben… Nein! Wieder tat ihr die Heftigkeit der Antwort in den Ohren und in ihrem Kopf weh. Es hat Unfälle gegeben. Es gibt Zeiten, da verliert man den Verstand. Immer, wenn derjenige oder diejenige, die gekämpft hat, begriff, was da vor sich gegangen ist, hat er oder sie sich zu Tode gehungert, um für die Sünden zu bezahlen. Wir werden nicht kämpfen. Wir werden nicht töten. Dhana hatte noch niemals eine so rückhaltlose Ablehnung erfahren. Dann werden wir sterben. Ihre Maschinen werden unsere Mauern durchbrechen, sie werden uns herausziehen, wie ein Oktopus einen Einsiedlerkrebs aus seiner Muschelschale zieht. Meine Freunde in der Luft und auf dem Land werden umsonst gestorben sein. Du hättest sie niemals darum bitten dürfen zu kämpfen. Ich habe sie nicht darum gebeten! Sie wollten es, weil sie meine Freunde sind! Es gibt keinen guten Grund, um zu kämpfen. Es gibt keinen guten Grund, um zu töten. Die Stimmen der Wale wurden immer schwächer. Wohin geht ihr? Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie waren ihre letzte Chance, und sie wollten ihr nicht einmal zuhören. Wenn hier Schiffe sind, besteht die Gefahr eines Unfalls. Wir können dieses Risiko nicht eingehen. Wir entfernen uns weit von diesem Ort, den du zu einem Ort des Tötens machen willst. Ich habe das doch nicht gemacht! schrie sie wütend. Sie haben angefangen! Die Wale waren fort. Das einzige Geräusch in ihrem Kopf und in ihren Ohren war das Klatschen der Wellen. Es würde wieder geschehen, wie damals zu Hause. Die Königin würde eher sterben, als sich und ihre Kinder den Carthak! auszuliefern. Numair würde ausbrennen. Die Angreifer würden gewinnen. Hätte sie nur ihre 198
Lektionen besser gelernt! Hätte sie nur damals im Palast schon alles erklärt, anstatt zu warten, bis der Dachs sie dazu aufforderte! Wenn du lange und aufmerksam lauschst, kannst du jeden von uns hören, jeden von uns rufen. Das klang jetzt so nahe, daß sie aufblickte, um zu sehen, ob der Dachs da war. Wenn du lange und aufmerksam lauschst, kannst du jeden von uns rufen. Das war es! Vielleicht konnte sie die Wale ihrem Willen unterordnen? Das bedeutet doch, jemanden rufen, oder nicht? Es ist falsch, die Wale zum Kampf zu zwingen, sagte eine kleine Stimme in ihrem Innern. Wo sie es doch so sehr hassen. Ich werde meine Leute nicht sterben lassen, sagte Dhana zu der winzigen Stimme. Ich kann nicht. Sie holte tief Atem und dann noch einmal. Sie ließ sich gehen, öffnete ihre Sinne ganz der wilden Magie. Das kupferfarbene Feuer trug sie nach Westen. Sie rollte über den Meeresgrund wie eine Welle, sie hörte jedes Glucksen und Gurgeln, das die Meeresgeschöpfe verursachten. Ihr Wahrnehmungsvermögen erfaßte die entschwindenden Wale. Sie hätte mit ihnen geredet, aber das kupferfarbene Feuer umschloß sie enger und trieb sie weiter fort. Tiefer und tiefer sank der Meeresboden. Mit träumerischem Erstaunen glitt sie an einer Gruppe von Inseln vorüber. Woher waren die gekommen? Sie sank in Eiswasser, das schwarz war wie Tinte. Im Westen, jenseits der Insel lag er, der Untergang unzähliger Schiffe, der Menschenfresser, so alt wie die Zeit selbst. Die Magier hatten ihn übersehen, als sie vor Jahrhunderten die Göttlichen Reiche versiegelt hatten. Er lag auf dem Grund, der allerletzte der großen Räuber, ernährte sich von Walen und den Schiffen der Menschen. Seine ungeheuren Tentakel, jeder eine Meile lang, vibrierten vor Interesse. Der Krake hatte noch niemals einen so kleinen Fisch wie Dhana gesehen. Dhana starrte ihn entsetzt an. Er hatte den Körper eines Tintenfisches mit viel zu vielen Armen, sein Mantel maß eineinhalb Meilen im Quadrat. Ich werde jede Flotte töten, die du willst, kleiner Fisch. Seine Stimme war voll sanften, tödlichen Humors. Du hast mit den Walen geredet. Pazifisten, alle miteinander. Sie sind zum Kotzen. Zeig mir 199
nur, wo diese abscheulichen Eindringlinge sind. Ich kann dir garantieren, die machen euch nicht mehr lange Schwierigkeiten. Du würdest es niemals rechtzeitig schaffen, sagte sie. Überlaß das ruhig mir. Komm schon, meine Liebe, jetzt ist keine Zeit, um zickig zu sein. Es ist ein Handel mit einem Dämon, dachte sie nervös. Warte, was ist mit Numair? Wenn er erst seine volle Kraft wiederhat, wird er diesem Monster gewachsen sein. Ich hoffe es wenigstens, denn dieser Krake ist die einzige Hoffnung, die ich noch habe. Bitte, Göttin und Pferdegötter, macht, daß dies eine gute Wahl ist, die ich da getroffen habe! Dhana übertrug alles, was sie von der Flotte wußte, auf den Riesenkraken und floh, als sein Lachen überall um sie herum erscholl. Sie flitzte schneller durch das Wasser, als sie es für möglich gehalten hätte. Schwer zu sagen, was sie tat. Floh sie vor dem Kraken, oder beeilte sie sich, um Piratenbeute noch vor Sonnenaufgang zu erreichen? Es war zu spät. Als sie die Augen öffnete, reichte ihr die Flut bis ans Kinn, und der Himmel über ihr war rosarot. Sie bemühte sich, ihren zwischen den Felsen eingezwängten Körper zu befreien. Alles war gefühllos. Ihre Hände fanden nirgendwo Halt. Wie soll ich bloß das Schloß erreichen, ganz zu schweigen von der Plattform? überlegte sie, als sie sich keuchend zu befreien versuchte. Und was kann ich ihnen sagen? Falls diese Inseln das sind, was ich vermute, dann sind es die Kupferinseln, vier Tagesreisen entfernt. Wenn ich dieses gewisse Etwas, diesen Kraken, nicht bloß geträumt hab’, dann wird es in vier Tagen hier nichts mehr für ihn zu fressen geben. Gebogene Silberstäbe schlössen sich sanft um ihre Mitte. Sie sah hoch in die katzenartigen Augen des Drachen. Ich bringe dich zu deinen Freunden, kleine Magierin. Es gab einen ungeheuren Ruck, und sie waren in der Luft. Dhana schrie vor Entzücken, als die Erde unter ihr wegsank, rasch vergaß sie alles, was sie soeben durchgemacht hatte, und alles, was noch kommen mochte. Zur Linken sah sie den Feind. Die Rot-Roben auf den Galeeren und Transportschiffen saßen oder lagen auf dem Bug ihrer Schiffe, viele hatten die Köpfe in den Händen verborgen. 200
Sklaven, die außer einem Lendentuch und einer Halskette nackt waren, bedienten die Rot-Roben. Ihr Erscheinen – das Erscheinen des Drachen – hatte dramatische Auswirkungen. Männer deuteten auf sie und schrien. Bogenschützen suchten hastig nach ihren Waffen. Einer mit einer roten Robe stand auf und fuchtelte mit den Händen. Das Ergebnis war eine gelbliche Wolke, die ihnen brodelnd entgegenkam. Amateure, sagte der Drache kalt, blies in die Wolke, und sie verschwand. Das Drachenweibchen ging elegant in die Kurve und flog aufs Schloß zu. Winzige Gestalten auf der Plattform zeigten hinauf, und einige der Bogenschützen hoben ihre Waffen. Jemand erkannte Dhana und schrie einen Befehl. Langsam ließen die Schützen die Bogen sinken. Dhana betrachtete eine der Zehen des Drachen und untersuchte den Knochenbau und die violetten Schuppen. Entschuldigung, aber warst du gestern nicht rot? Ich war wütend. Wir können die Farbe wechseln, je nach unserem Gemütszustand. Das große Geschöpf zögerte, dann fuhr es fort: Ich hörte dich mit den Walen sprechen. Dhana drehte sich herum, um dem Drachenweibchen ins Gesicht sehen zu können. Wirklich? Aber sonst hört doch niemand etwas, wenn ich mit einer ‘Tierart rede. Das mag bei Sterblichen möglicherweise der Fall sein. Dhana hatte den Verdacht, daß ihre Retterin ein Snob war. Wir sind Magier der Lüfte. Ängstlich fügte sie hinzu: Könntet ihr mich nach Hause schicken? Ich verstehe nicht, wieso ich hier bin, und ich möchte bei meiner Familie sein. Wir wissen nicht, wie, antwortete Dhana traurig, während sie niedersanken. Wir versuchen es allerdings zu lernen. Wenn du bei uns bleibst, werden wir einen Weg finden, um dich nach Hause zu schicken – das heißt, falls wir überleben. Der Drache ließ sich auf der Plattform nieder, sehr viel eleganter als am Tag zuvor, und gab Dhana frei. Onua, Roald, Kally und Thom rannten herbei, um sie aufzufangen, während sich das große Wesen wieder in die Luft erhob und an der Klippe entlang davonflog. Wieder verschwand es mitten im Flug. 201
»Glück gehabt?« fragte der Baron, als er mit Thayet herbeieilte. Ihre Gesichter waren abgezehrt und erschöpft. Dhana sah sich um und entdeckte Numair, der noch immer an der Mauer saß. Er winkte ihr mit zitternder Hand. »Nein«, gab sie ihren Zuhörern leise zur Antwort. »Die Wale haben nein gesagt.« Sie brachte es nicht über sich, Numair anzuschauen. »Es… es könnte vielleicht noch eine Möglichkeit geben, aber… aber ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß er rechtzeitig hiersein kann. Tut mir leid.« Die Königin tätschelte ihren Arm. »Du hast es versucht. Du hast bereits so viel getan. Ich glaube nicht, daß die Männer aus dem Lager vor den Mauern so fit sind, daß sie sich heute in einen Kampf stürzen möchten. Das haben wir deinen Freunden zu verdanken.« »Was ist mit dem Drachen?« fragte Georg Dhana. »Ich weiß nicht. Sie ist nicht sehr kräftig. Ich könnte es versuchen und sie zurückrufen…« »Schön. Schön. All die kleinen Schweinchen hübsch in einem Stall zusammen.« Zhaneh Bitterklaue schwebte über ihren Köpfen herum, gerade außerhalb der Reichweite der Bogenschützen. Das Aussehen der Königin der Sturmflügel hatte sich nicht gebessert. Ihre Augenhöhle triefte noch immer. Was immer die Sturmflügel auch für Magie haben mögen, Heilen gehört bestimmt nicht dazu, dachte Dhana. Dhana suchte mit den Augen nach ihrem eigenen Bogen und nach dem Köcher. Beides lag in Numairs Schoß. Thom stahl sich von seiner Gruppe weg und näherte sich dem Magier rückwärts gehend, die Hände hinter dem Rücken geöffnet. »Wie lautet eure Antwort, Sterbliche? Werdet ihr uns die drei aushändigen, die wir haben wollen?« »Wir händigen dir und deinen Helfershelfern gar nicht aus«, fauchte Thayet. »Sag ihnen, sie haben sich die ewige Feindschaft meines Mannes erworben – und die meine!« »Du wirst nicht lange genug leben, um dir über Feindschaft groß Gedanken machen zu können!« geiferte Zhaneh Bitterklaue. Etwas Hartes und etwas Ledernes wurden gegen Dhanas kalte Hände gepreßt. Thom hatte ihren bereits bespannten Bogen und ihren 202
Köcher gebracht. Die erstarrten Muskeln des Mädchens konnten nicht schnell genug reagieren. Der Sturmflügel lachte und stieg höher, als sie versuchte, ihren Bogen in die richtige Position zu bringen. Dhana fluchte und bewegte ihre Hände, um sie wieder geschmeidig zu machen. »Kinder, nach unten mit euch!« zischte Thayet. Sie zögerten, und die Königin brüllte: »Sofort!« Erschrocken rannten sie los. Dhana sah aufs Meer hinaus und erkannte, was die Frau dazu veranlaßt hatte, ihre Stimme so ungewöhnlich scharf zu erheben. Während der Nacht waren die vier Lastkähne in die vorderste Reihe manövriert worden, und jedes Katapult war mit einer Steinkugel geladen. Zwei davon feuerten. Die Kugeln trafen die Felswand unterhalb des Turmes mit einem ohrenbetäubenden Knall. Der Stein unter ihren Füßen bebte. Die beiden übrigen Kähne bewegten sich. Es müssen die Magier sein, die sie bewegen, dachte Dhana, denn man sah weder Ruder noch Segel. Die Katapulte schickten ihre Ladung los. Die erste Steinkugel krachte in einen der anderen Türme. Die zweite traf den Zwischenwall. Männer waren bereits dabei, die beiden ersten Katapulte erneut zu laden. Als käme es aus dem leeren Himmel, ließ sich plötzlich das Drachenweibchen niederplumpsen. Diesmal waren seine Schuppen aus flammendem Gold. Umgehend strafte es alle Geschichten Lügen, wonach ihresgleichen Flammen aus dem Maul speien. Das Feuer kam aus den Vorderpfoten und verschlang die Segel von Eddaces Flaggschiff. Der Drache flog eine scharfe Kurve knapp an der Vorderseite eines der Katapulte vorbei und schnappte sich die Steinkugel. Unter dem Gewicht des Steins sackte er zwar etwas im Flug ab, aber nur vorübergehend, denn er ließ die Kugel auf den nächsten Kahn fallen, der sofort Schlagseite bekam. Numair stützte sich auf Dhanas Schulter. »War sie gestern nicht rot?« »Sie können die Farbe wechseln. Numair, sie ist nicht groß genug.« »Vielleicht ist sie groß genug, um sie zu stoppen. Und das ist die ausgleichende Gerechtigkeit, mein kleiner Zauberlehrling. Schließlich haben die sie hierhergeschleppt.« 203
Bogenschützen schössen vergebens ihre Pfeile auf den Drachen. Die Rot-Roben versuchten es mit ihrer Magie, aber gleich der von Numair prallte sie von dem Wesen ab. Es schleuderte Feuer auf ein Transportschiff und brannte es zur Gänze aus, ehe es wieder zu den Katapulten zurückeilte. Sturmflügel brachen aus den Wäldern hervor und kamen im Gleitflug, um die Schiffe zu verteidigen. Schluchzend sah Dhana zu, wie sich ihre Krallen tief in die Seite des Drachenweibchens bohrten. »Kannst du nicht helfen?« fragte sie, wobei sie vergaß, in welchem Zustand sich Numair befand. »Ich wünschte, ich könnte es. Ruf sie hierher zurück, wenn du kannst. Unsere Bogenschützen können ihr die Sturmflügel vom Leib halten.« Dhana rief, so laut sie konnte. Der Drache hörte nicht auf sie, sondern stürzte sich auf die Rot-Robe im Bug von Eddaces Schiff. Mit ihr in den Klauen erhob sie sich in die Luft und ließ den Mann mitten in ein Knäuel von Sturmflügeln fallen. Sie explodierten. Obwohl sie um das wundervolle Geschöpf Angst hatte, klatschte Dhana begeistert, als die anderen Rot-Roben zu geschützteren Teilen ihrer Schiffe flohen. Wieder feuerte ein Katapult. Blitzschnell fing der Drache das Geschoß mit seinen Krallen auf. Diesmal wartete er, bis er viel höher über dem Schiff war als das erstemal. Der Stein durchschlug beim Aufprall den Holzboden. Die übrigen Steinkugeln gerieten aus dem Gleichgewicht, rollten überall umher, und das Schiff begann rasch zu sinken. »O ihr Götter«, flüsterte Numair. »Ruf sie her, Dhana. Schnell!« »Sie wird nicht hören. Was ist los?« »Sie laden die Schlingen mit flüssigem Feuer. Ruf sie sofort zurück!« Dhana schrie mit all der wilden Magie, die sie aufbringen konnte. Die einzige Antwort des Drachen bestand in der Übermittlung des Bildes einer Höhle hoch über dem Meer, aus deren Eingangsöffnung Licht strömte. »Sie wird nicht kommen«, flüsterte Dhana und versuchte es noch einmal. 204
Die Sturmflügel rotteten sich vor dem Drachen zusammen und drängten ihn zurück. Er versuchte, entweder höher zu steigen oder sich fallen zu lassen, aber sie blockten ihn ab. Im richtigen Moment feuerten die beiden übriggebliebenen Katapulte, doch diesmal keine Steine, sondern Kugeln aus klarer, geleeartiger Substanz. Sie zerplatzten auf dem Drachen und breiteten sich wie ein loderndes Flammenmeer aus. Das Drachenweibchen stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, den niemand, der diesen Kampf miterlebte, jemals vergessen würde, und stürzte herunter. Ihr flammender Körper krachte auf einen Lastkahn und versenkte ihn. Dhana wimmerte vor Kummer. »Ich werde sie umbringen!« schrie sie und legte mit bebenden Fingern einen Pfeil in die Bogensehne. »Laß sie bloß nahe genug herankommen, und ich werde sie alle umbringen!« Das letzte Katapult, das noch übrig war, feuerte. Der Stein donnerte in die Mauer am Fuß des Turms. Numair sah aufs Meer hinaus und erstarrte, seine Hand umkrampfte Dhanas Schulter. Seine Augen öffneten sich so weit, daß sie ihm beinahe aus dem Kopf fielen. »Welche Teufelei treibt die Friedhofshexe jetzt?« Jemand auf dem Wall unter ihnen schrie auf, als ein riesiger schwarzer Fangarm aus dem Wasser schoß und das Katapult erfaßte, das soeben geschossen hatte. Wie ein Baby eine Rassel, so umklammerte er das Katapult und den Kahn, auf dem es befestigt war, schüttelte es und warf es dann weg. Ein weiterer Tentakel schoß neben Eddaces Flaggschiff aus dem Wasser. Immer höher wand er sich empor, bis er den Mastkorb erreichte. Ganz vorsichtig mit genauer Präzision packte er den Korb und den Mann darin und löste ihn vom Mast. »‘n Freund von dir?« fragte Numair. Seine Stimme war sehr leise, aber sie konnte ihn gut hören. Niemand im ganzen Schloß gab einen Laut von sich. »Nicht direkt«, flüsterte sie. Ein dritter Tentakel kroch über den Rand des letzten Schiffes, desjenigen, das der Drachen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er 205
kroch über das Deck, packte den gegenüberliegenden Rand und kippte das ganze Ding um. Dhana schluckte. »O du meine Güte, ich fürchte, er wird recht abscheulich.« »Wie groß ist er, hast du gesagt?« Georg hatte sich neben sie gestellt. Sein Gesicht war unter der Sonnenbräune kalkweiß. »Ich hab’ nichts gesagt«, antwortete sie. »Ich schätze, er bewegt sich schneller, als ich dachte.« Tentakel schössen rund um die Flotte in die Höhe wie ein Wald aus Schlangen und schlossen sie ein. Weitere Tentakel krochen auf die Schiffe und begannen ein systematisches Zerstörungswerk. Numair straffte sich und blinzelte. »Die dämpfenden Zauberkräfte lassen nach.« Thayet war auf die gegenüberliegende Seite der Plattform gerannt, von wo aus man den übrigen Teil des Schlosses sehen konnte. »Horcht!« rief sie. Hörnerklänge zerrissen die Luft. Aus den Wäldern im Osten kamen eine Kompanie der Königsarmee und der Rest der Schloßgarde, die Löwin an der Spitze. Aus den nördlichen Wäldern sprengte eine weitere Kompanie der Königsarmee heran. Onua, Thayet und Georg rannten die Treppe hinunter, um auf den Zwischenwall zu gelangen, von wo aus sie eine bessere Aussicht hatten. Numair sank zu Boden. »Ich bin vollkommen ausgelaugt«, sagte er zu Dhana und lächelte sie an. Seine Lider flatterten und schlossen sich dann. »Erhol dich schnell«, sagte sie zu ihm. »Du und Lady Alanna, ihr müßt den da draußen loswerden.« Er winkte schwach und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Zu ihrer Überraschung hörte sie Hufschlag auf Stein. Wolke erschien am Ende der Treppe. Ich hab’ dich überall gesucht, sagte das Pony verärgert und beschnupperte Dhana von Kopf bis Fuß. Zuerst hat man mir gesagt, du bist krank, dann hat man mir gesagt, du bist zum Meer runter gegangen und dann… uahhh! Dhana blickte hoch. Zhaneh Bitterklaue war wieder da. »Ich vermute, du bist mächtig stolz auf dich, kleiner Fratz. Ich vermute, du 206
glaubst, du hast was Wundervolles geleistet, daß du diesen Vielfraß hergebracht hast.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Kraken, der noch immer ein Schiff nach dem anderen frühstückte. Das Mädchen bebte vor Zorn. Sie hatte den Pfeil noch nicht von der Bogensehne genommen, aber es würde sicher nicht gutgehen. Numair war nicht der einzige, der ausgelaugt und erschöpft war. Die Sturmflügel-Königin wußte das auch. Sie flatterte näher heran. »Du gehörst mir«, verkündete sie grinsend. »Ich schnapp’ dich, bevor du die Treppe erreicht hast. Und vielleicht schneid’ ich deinen langen Freund da auch noch auseinander, bevor ich gehe. Denk mal einen Moment darüber nach. Es wird deine Schuld sein, wenn er stirbt.« »Lügnerin«, fauchte Dhana. »Euresgleichen schiebt die Schuld immer auf andere. Wenn ich auf solches Geschwätz gehört hätte, hätte ich mich vor Monaten von meinen eigenen Leuten umbringen lassen.« »Die hätten dich umbringen sollen, Fratz.« Der Sturmflügel kam noch näher. »Du nennst mich ein Monster, und was bist du? Mich haben meine Götter gemacht. Du bist bloß eine Mißgeburt. Du bringst nichts weiter fertig, als daß deine Freunde getötet werden, wie dieser arme Drache. Die wären alle viel besser dran, wenn du dich jetzt gleich von dem Felsen hier runterstürzen würdest.« Wolke lehnte sich gegen Dhanas Hüfte. Plötzlich war das Mädchen voller Energie, sie war frisch und kräftig, als hätte sie eine ganze Nacht erholsamen Schlafs hinter sich. Blitzschnell hob sie ihren Bogen und ließ den Pfeil losschnellen. Der Pfeil fuhr glatt durch Zhaneh Bitterklaues Hals, das Monster gab einen erstickten Schrei von sich. Die Königin der Sturmflügel fiel und versuchte noch im Fallen, den Pfeil aus ihrem Hals zu ziehen. Ihr Körper zerschellte auf den Felsen unterhalb des Turms. Während er weiter zum Meer abstürzte, wurde er von den eigenen Schwingen in Stücke gehackt. Dhana und Wolke beugten sich über die niedere Mauer und sahen zu, wie der Sturmflügel starb. Endlich streckte sich das Mädchen. Ihre neugewonnene Kraft war schon wieder dahin. Hat sie recht? fragte Dhana ihr Pony. Hat sie nicht, sagte Wolke fest. Deine Freunde haben alle ihre Entscheidung selbst getroffen, ob sie für dich leben oder sterben 207
wollten. Ich habe bis jetzt noch nicht erlebt, daß du einen Freund in den Tod gezwungen hast. Vorsichtig, mit schmerzenden Muskeln, löste Dhana die Sehne vom Bogen, rollte sie zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Konnte ich wissen, daß du das tun kannst? fragte sie. Ich meine, daß, du mir Kraft geben kannst, wie eben jetzt? Natürlich nicht, antwortete das Pony. Wir müssen dir ja nicht alle unsere Geheimnisse preisgeben. »Das sagt sie mir jetzt!« Dhana setzte sich zu Numair und kuschelte sich an ihn. Weck mich rechtzeitig zum Abendessen, sagte sie zu Wolke. Natürlich, sagte die Stute, die wußte, daß ihre Herrin bereits eingeschlafen war. Wo Numair gesessen war, als der Drache Dhana zurückbrachte, lag noch eine Decke. Wolke schleppte sie herbei und deckte den Mann und das Mädchen zu. Sie übernahm die Wache neben den beiden und wartete darauf, daß der Kampf ein Ende fand.
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11 Himmelslied Ihre Träume waren erfüllt von dem Bild, das der Drache ihr von einem Loch in den Klippen übermittelt hatte. Zu Anfang war das silberne Licht, das aus der Höhle kam, so stark gewesen, daß man dabei beinahe hätte lesen können. Je öfter sie den gleichen Traum träumte, um so schwächer wurde es. Kurz bevor sie aufwachte, war es fast erloschen. »Wie lang?« Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Ihr Hals war so trocken, daß sie zu husten begann. Numair stützte sie, bis sie aufrecht saß, und hielt ihr einen Krug an die Lippen. »Trink!« Dhana schnappte nach Luft, trank einen Mundvoll von der Flüssigkeit, rang wieder nach Luft und trank weiter. Schließlich leerte sie den Krug. »Wie lang?« fragte sie noch einmal. »Den Rest des Tages, an dem der Krake kam, dann gestern und heute.« Er gab ihr ein Stück Kuchen, mit Honig gesüßt und gefüllt mit Rosinen und Nüssen. Dhana aß es und nahm noch eines. »Ich muß raus.« »Red keinen Unsinn«, sagte er. »Du bist schwach. Du bleibst hier.« »Da irrst du dich«, erwiderte sie. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Einen Moment drehte sich der Raum um sie, dann stand alles wieder fest an seinem Platz. Sie war im Stall. Man hatte ihr Feldbett in eine leere Box gestellt, wo die Ponys sie beobachten konnten. Ihre Fledermausfreunde hingen über ihr im Gebälk und ließen noch genügend Platz für den einäugigen Seeadler. Keiner ihrer Freunde war erfreut, als Dhana begann, ihre Kleider anzuziehen. Besonders Wolke stierte sie böse über die Zwischenwand hinweg an. Da fiel ihr etwas ein, und sie erstarrte. »Meine Freunde, die Waldtiere…« »Ein paar wurden getötet«, sagte Numair sanft. »Als wir den Feind zurückgeschlagen hatten, fanden wir die Verletzten. Sie wurden 209
versorgt. Es gab nicht so viele Verluste, wie du glaubst. Du hast ihnen die richtigen Anweisungen gegeben.« »Gut«, sagte sie, und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Sie fuhr zufrieden fort, sich anzuziehen. »Aber du mußt unbedingt ruhen und essen. Ich bin selbst noch wacklig auf den Beinen.« »Es gibt da etwas, um das ich mich kümmern muß«, sagte Dhana. »Und zwar jetzt sofort.« Sie zwängte ihre Füße in die Stiefel. Ihr Freund seufzte. »Dann warte einen Moment. Wir brauchen eine bewaffnete Eskorte, es könnten sich draußen noch immer Feinde herumtreiben. Und wir nehmen Pferde. Wohin gehen wir?« Sie schloß die Augen und rief sich das Bild in Erinnerung. »Nach Nordwesten«, sagte sie schließlich. »An den Klippen entlang. Wir müssen uns beeilen.« Numair lächelte sie an. »Dann beeilen wir uns.« Sie konnte nicht einmal mit Wolkes Sattelzeug fertig werden. Kurz nachdem der Magier gegangen war, kam Miri hereingerannt. »Meister Numair sagt, du brauchst jemand, der dir beim Satteln hilft.« Sie warf Wolke einen warnenden Blick zu. »Und du benimmst dich«, sagte sie zu der Stute, »oder ich verseng’ dir deinen Schwanz.« Wolke stand brav da und gehorchte. Dhana war froh, daß sie auf ihrem Feldbett sitzen und zuschauen konnte. »Wie spät ist es?« »Nachmittag«, sagte das Mädchen. »Du hast Meister Numair um einen halben Tag übertroffen. Er ist heute morgen aufgestanden.« »Er sieht viel besser aus.« Dhana hielt plötzlich die Luft an. »Das hab’ ich ja ganz vergessen«, keuchte sie, »der Krake!« Miri grinste. »Mach dir um den keine Sorgen«, sagte sie. »Als Meister Numair wach war, hatten er und Lady Alanna ein Gespräch mit diesem alten Schiffsräuber. Du hättest ihn aus der Bucht hinausflitzen sehen sollen! Er hat alles Wasser weggesaugt und trockenen Boden zurückgelassen. Die Löwin mußte es wieder hereinziehen!« Sie tätschelte Wolkes Widerrist. »So, fertig.« Dhana stand auf und nahm die Zügel. »Du hast mächtige Fortschritte gemacht, seit wir einander kennengelernt haben.« 210
Miri lächelte scheu. »Danke. Das von dir zu hören bedeutet mir viel.« Sie warteten im Hof, bis die Stallburschen Dunkelmond, Fleckchen und die Pferde aus der königlichen Reitertruppe brachten. Nun bemerkte Dhana die ersten Auswirkungen dessen, was sie getan hatte. Vor der feindlichen Invasion hatten die Stallknechte gern mit ihr geplaudert. Jetzt wichen sie ihrem Blick verlegen aus und hielten sich von ihr fern. Eine kleine Erschütterung traf ihren Rücken und hätte sie beinahe umgeworfen. Es folgte eine zweite und eine dritte. Was immer die Stallknechte denken mochten, Roald, Kally und Thom waren froh, sie wieder wohlauf und munter zu sehen. Mit Tränen in den Augen kniete Dhana nieder, um die Umarmung zu erwidern. »Ist ja gut, ist ja gut«, flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu den Kindern. »Es ist alles vorbei.« »Dürfen wir auch mitgehen, Ma?« fragte Thom die Löwin, die soeben erschien. »Nein, meine Lieben. Ein andermal. Wir sind nicht sicher, ob sich der Feind vollkommen zurückgezogen hat.« Die Ritterin lachte Dhana an. »Du warst ja ein fleißiges Mädchen.« Dhana erwiderte das Lachen. »Ihr aber auch.« Unter den Männern, die Alanna folgten, erkannte sie Hakim und seine Kameraden. »Es ist schön, euch wiederzusehen«, sagte sie. »Die Ehre ist ganz auf unserer Seite«, erwiderte Hakim ernst. »Du hast doch gesagt, es sei dringend«, erinnerte Numair sie. Die Gruppe verließ das Schloß und folgte Dhana. Der Lockruf des Bildes war deutlich in Dhanas Kopf. Sie lenkte Wolke auf eine Straße, die am Rande der Klippen hoch über dem Meer dahinführte. Möwen folgten ihnen und erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei. Alanna ritt an der Seite des Mädchens. »Ich muß mich noch bei dir bedanken«, sagte sie leise. »Ich hätte nie gedacht, daß du dein Versprechen auf derartige Weise würdest halten müssen.« Dhana lächelte die Ritterin an. »Was ist passiert? Sie haben Euch weggelockt, nicht wahr?« 211
Alanna nickte. »Die Menschenfresser waren allerdings echt genug. Sie haben uns für mehr als einen Tag in Atem gehalten. Als wir dann das Gefühl hatten, wir könnten zurückkehren, lag zwischen uns und dem Schloß eine kleine Armee. Zu meinem Glück kam Hakim mit zwei Kompanien der Königsgarde geritten. Sie waren noch immer in Corus, als Numair mich wissen ließ, daß ihr bis zum Hals in Schwierigkeiten steckt.« Dhana hob die Hand. Sie waren ganz dicht davor. Sie lauschte und stieg vom Pferd. »Bleib stehen«, befahl sie Wolke. Numair kam ihr zu Fuß nach. »Wonach genau suchen wir eigentlich?« Sie wollte gerade sagen, das wüßte sie auch nicht, als der Boden unter ihren Füßen wegsackte. Für eine Sekunde hatte sie das zweifelhafte Vergnügen, in der Luft zu hängen. Beim Hinuntersehen merkte sie, daß sie beinahe durch das Dach einer Höhle gefallen wäre, die sich zum Klippenrand hin öffnete. »Könnt ihr mich da hinunterlassen?« Sie war nicht sicher, wer sie festhielt, Alanna oder Numair. »Ich hab’s gefunden.« Die Löwin kicherte. »Du hast eine einmalige Art, Dinge zu finden.« Sanft wurde Dhana durch das Loch hinuntergelassen, bis sie auf dem steinernen Boden der Höhle stand. Es raschelte in der Nähe, dann hörte sie ein Zirpen. Ein silbernes Wesen, nicht größer als eine große Katze, kam auf Beinchen angewackelt, die die Kunst des Laufens noch nicht beherrschten. Sie kniete nieder. Das kleine Wesen starrte sie aus blauen Augen mit schlitzartigen Pupillen an. Winzige, schuppenbedeckte Vorderpfötchen faßten nach ihren Reithosen. Das Drachenbaby zog sich auf die Hinterbeine hoch. Dhanas Augen schwammen in Tränen. Es tut mir leid, sagte sie zu dem kleinen Drachen. Ich glaube, ich bin jetzt wollt deine Mutter. Sie hob das Armvoll Drachenbaby hoch und sah zu dem Loch hinauf. Alanna, Numair und Hakim starrten zu ihr hinunter. »Das Drachenweibchen hatte ein Junges«, erklärte sie. »Es ist hungrig.« 212
Vorsichtig zog die Löwin und das Drachenjunge hoch – und sie und anderen lächelten warm. Dhana gelang es, eine Flasche zu konstruieren, die den kleinen, aber scharfen Zähnchen des Drachenbabys standhielt. Nachdem sie sich Rat bei der Heilerin Maude geholt hatte, wärmte sie Ziegenmilch und reicherte sie mit Butter an, um sie noch nahrhafter zu machen. Das Drachenbaby schluckte einen halben Liter von dem Zeug hinunter, rülpste und schlief zufrieden in Dhanas Schoß ein. Der Vorgang wurde ehrfurchtsvoll von der Königin, Alanna, Georg, Numair, Buri, Onua, Maude und den Kindern beobachtet. Sanft fuhr Kally mit einem Finger über die Flanke des schlafenden Tierchens. »Es ist so weich«, flüsterte das Mädchen. »Wie heißt es?« »Himmelslied«, sagte Dhana. Sie runzelte die Stirn. Woher hatte sie dieses Wissen? »Ich glaube, das hat mir seine Mutter auch noch übermittelt, bevor sie starb.« Sie überlegte einen Moment, dann faßte sie einen Entschluß und sah Onua an. »Ich glaube nicht, daß ich nach dem Sommer noch bei den Reitern bleiben kann. Meine Pflicht ist es jetzt, für das Kleine zu sorgen.« »Du kannst gerne bei uns bleiben«, sagte Thayet. »Das heißt, wenn du willst. Wir würden dich sehr gern bei uns im Palast haben.« Dhana starrte sie an. »Mich?« »Dich.« Thayet nahm ihre Hand. »Veralidhana Sarrasri, du hast mein Leben und das Leben meiner Kinder gerettet. Ein Zuhause ist wirklich das Mindeste, was wir dir anbieten können.« Dhana senkte den Kopf, um ihr knallrotes Gesicht zu verbergen. »Aber wir möchten, daß sie hier lebt«, protestierte Georg. »Unser Haus ist doch mehr als Zuhause geeignet, wo es so nah am Meer liegt und noch dazu in der Nähe von Meister Numair.« Er grinste. »Und wo unser Mädchen sich doch so viele Freunde in den Wäldern geschaffen hat.« »Ich sehe nicht ein, weshalb sie nicht in meinem Turm wohnen kann«, meldete sich Numair zu Wort. »Schließlich ist sie mein Lehrling.« »Ein Mädchen braucht Frauen, mit denen es reden kann«, klärte Alanna ihn auf. »Du hast nicht einmal eine neue Haushälterin, seit die alte eines deiner Experimente kaputtgemacht hat.« 213
»Komm und wohne bei uns im Palast«, bettelten Kally und Roald und zupften sie am Arm. »Wir werden auch immer ganz brav sein.« Himmelslied nieste und bewegte sich in Dhanas Schoß. »Pssst«, befahl Maude. »Ihr weckt das Baby auf.« Schuldbewußt schwiegen die Kinder. »Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden«, erklärte Onua. »Aber ich sehe jedenfalls nicht ein, weshalb die Aufzucht von Himmelslied dich daran hindern sollte, mir in diesem Sommer zu helfen.« Dhana sah diese ungewöhnlichen Menschen an, die ihre Freunde geworden waren, und lachte. »Es ist schon komisch«, erklärte sie. »Zuerst hatte ich überhaupt kein Zuhause mehr, und jetzt habe ich zu viele!« Die Löwin lächelte und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Willkommen in Tortall«, sagte sie.
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