MADDRAX Die dunkle Zukunft der Erde Band 110
Kampf um Coellen von Jo Zybell
Chraaz, am 7. Tag des 2. Mondes im 508. W...
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MADDRAX Die dunkle Zukunft der Erde Band 110
Kampf um Coellen von Jo Zybell
Chraaz, am 7. Tag des 2. Mondes im 508. Winter nach Kristofluu Das Ende kam in der Nacht zum dritten Tag, dem höchsten der Schindung. Zwölf ministricis trugen das Baumkreuz mit der mater. Regen klatschte auf ihre nackten Mädchenkörper, auf die Sterbende, auf alle. Die mater sang, aber es klang wie das Kreischen von Schlittenkufen. Sechzig ministratos eskortierten den Zug. Die Burschen drohten mit Spießen in die Dunkelheit. Maris schritt direkt vor dem Fußende des Baumkreuzes, denn im nächsten Winter würde es ihr gehören. Wie die Schwestern an ihrer Seite schulterte auch sie ihr Schwert und hielt ihren Pelz dicht unter dem Kinn zusammen. Wie eine Frau standen sie still, als der Boden bebte und Gebrüll sich erhob.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Körperlose Wesen, die Daa'muren, kamen damals mit dem Kometen zur Erde und veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie ihn nun gefunden: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt die Herkunft der Daa'muren, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Inzwischen versuchen die Gefährten, die Sippen und Bunker Britanas zu einen. Auf den Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Aikos Gehirn wurde
geschädigt, und er muss in Amarillo operiert werden. In Washington stellt sich Victor Hymes zur Wiederwahl als Präsident des Weltrats. Doch obwohl er keinen Gegenkandidaten hat, verliert er mehr als nur die Wahl: Mit seiner Weigerung, den Androiden Miki Takeo in Los Angeles – Aikos Vater – als Bedrohung anzusehen, die schnellstmöglich beseitigt werden muss, stellt er sich gegen seinen General Arthur Crow... der ihn, »zum Wohle des Landes«, ermordet. Von Europa unbemerkt, lässt eine AtomExplosion den Kratersee erbeben! Aus den Tiefen des Alls kam eine japanische Rakete, die damals »Christopher-Floyd« treffen sollte, zur Erde zurück. Die Detonation auf der Meeresoberfläche kann den Daa'muren zwar kaum schaden, offenbart aber einen überraschenden Effekt: Der Antrieb der Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert!
Maris lauschte in die Regennacht. Und die Schwestern lauschten auch - Naryma, Schinee, Maschee, Rimaya, alle. Nur die mater, die lauschte nicht, die krächzte, röchelte, versuchte zu singen und zu sterben. Der Regen vermischte sich mit ihrem Blut. Ein paar Atemzüge lang hörte Maris die schweren Tropfen auf Blattwerk und Dachschindeln klatschen, hörte die mater krächzen, hörte das Gebrüll anschwellen. Sonst nichts. Es war nicht das Gebrüll von Tieren. Auch nicht das der Reiter aus dem Osten, wenn die Gier sie mindestens einmal im Jahr aus dem Bergwald gegen Chraaz und Mariaschnee trieb. Überhaupt hörte es sich nicht an wie Gebrüll einer Kreatur. Und es schwoll immer weiter an. »Kristofluu...«, flüsterte Schinee rechts von Maris. »Er kommt dennoch...« Sie hatte ihr Schwert von der Schulter gehoben und reckte es dem Nachthimmel entgegen, als könnte sie auf diese Weise das Gericht des Höchsten Sohnes aufhalten. Von allen Seiten flüsterte es: »Wir haben nicht genug geopfert, wir haben nicht genug gekniet, wir haben nicht genug Ostreiter getötet...« Und so weiter: Nicht genug geschlagen, nicht genug gehungert, nicht genug, nicht genug... »Still!«, zischte Maris. Augenblicklich verstummte das Geflüster. »Närrinnen! Kristofluu kommt kein zweites Mal, solange eine mater sich opfert...!« »Weiß man's?«, flüsterte Rimaya hinter ihr. Maris fuhr herum und schlug mit dem Handrücken zu. Die Jüngere duckte sich, drückte die Linke gegen die Wange, wagte aber nicht das Schwert gegen die neue mater zu erheben. Das Gebrüll war jetzt sehr nah – so nah, als würden ihre Körper jeden Moment davon verschlungen werden. Jetzt mischten sich das Splittern von Holz und die Schreckensschreie von Menschen in den entsetzlichen Lärm. Auf einmal: ein Lichtstrahl, und fast zeitgleich: ein Feuerball. Eine Sonnenvision? Die theosmater selbst? Oder doch ein
neuer Kristofluu? Die ministratos klemmten die Spieße unter die Achseln und wichen zurück, bis Maris mit ihrem Schwert nach den Spießschäften schlagen konnte und die kahl geschorenen Burschen zusammenzuckten. »O Niawaana!«, rief einer von ihnen mit brüchiger Stimme, und sofort stimmten andere ein: »O Niawaana! Niawaana, Niawaana...!« »Still!«, schrie Maris. Schwächlinge allesamt, Schwächlinge und Dummköpfe! »Still beim Höchsten!« Im erlöschenden Feuerball erkannte sie die Umrisse der Klostertürme. Ein Ruinenflügel von Mariaschnee stand in Flammen. Alle sahen es, bevor die Dunkelheit Kloster und Dorf wieder einhüllte. Auch die ministricis sahen es, und sie sanken in die Knie, ließen das Baumkreuz von ihren nackten Schultern gleiten, seufzten oder stießen spitze Schreie aus. Das Baumkreuz rutschte schräg ins Laub, krachte ins Unterholz, schlug im schlammigen Waldboden auf. Die mater gab ihre Gesangsversuche auf. »Nix Niawaana!«, stöhnte sie laut. »Wir haben Recht gehabt! Es ist der Höchste Sohn, er kommt zurück...! Adventus, adventus!« Wieder ein Feuerball; Flammen schossen in den Nachthimmel. Einen Atemzug lang spiegelten sie sich in der roten Feuchtigkeit des geschundenen Körpers der mater, in den bloßgelegten Muskelsträngen und Sehnen. Die Flammen loderten an der Stelle, wo das Tor zu Mariaschnee sein musste. Maris Herz stolperte, schien nicht Blut, sondern Eiswasser in ihre Adern zu pumpen. Und dann sah sie es – ein Ungeheuer, ein Höllenbiest, lucifa leibhaftig: Schwarz, pelzig, gewaltig, hoch wie ein Haus, lang und breit wie die Heilige Gruft. Den Bruchteil eines Atemzuges nur sah sie es, dann erlosch das Gleißen, und sie hörte das Ungeheuer nur noch brüllen und näher kommen. »Weg mit euch!«, schrie sie. »Rettet euch!« Schatten spritzten auseinander, huschten an Maris vorbei, stolperten ins Unterholz. Maris kniete neben dem Querholz des
Baumkreuzes in den Morast, so dicht neben dem Kopf der sterbenden mater, dass deren letzte Wärme über ihr Knie strich. Mit ausgestreckten Armen hielt sie das Schwert vor der Brust. »Es ist nicht der Sohn«, flüsterte sie. »Nicht Kristofluu und schon gar nicht Niawaana. Es ist...« Sie verstummte, denn die Flammen aus den alten Gemäuern von Mariaschnee warfen das Spiegelbild der Hölle in den Nachthimmel. Seit Anbeginn der Zeit ragten jene Türme in den Gotteshimmel, seit Kristofluu trotzten sie und die Frauen hinter ihren Mauern der Dunkelheit und dem Bösen. Und jetzt... »Es... es ist...« Die sterbende mater versuchte den Satz zu beenden. »Es ist... lucifa... nicht wahr...?« Ihre letzten Worte, danach bäumte sich ihr wunder Körper dreimal auf – jedes Mal schwächer – und dreimal noch riss sie den lippenlosen Mund auf, um nach Luft zu schnappen. Mit dem letzten Atemzug gurgelte ein Strom mit Schaum vermischten Blutes aus ihrem Rachen. Danach erschlaffte sie und blieb für immer still. Im Lichtschein des Feuers zeichneten sich die Umrisse des Monstrums ab. Welch metallenes, unmenschliches Gebrüll es ausstieß! Es walzte eine Hütte vor dem brennenden Tor nieder, pflügte durch das Feuer in den Klosterhof hinein. Das war der Augenblick, in dem Maris zum ersten Mal ahnte, dass das Ende nahe war. Mehr als zwei Monde sollten noch vergehen, bis die dunkle Ahnung sich zur unausweichlichen Gewissheit verdichten würde. * Irgendwo südlich von London an der Themse, Ende März 2520 Das Biest zappelte, schlug um sich, warf sich hin und her. Das Wasser färbte sich schlammig braun, dann rot, schäumte und spritzte. Die Männer brüllten, am lautesten der Druud, obwohl er doch in sicherer Entfernung im seichten Uferwasser stand. Der Lupa neben ihm stemmte seine Vorderläufe ins
Wasser und Schlamm und bellte sich die Kehle heiser. Die Jagdbeute war ein sehr junger Kwötschi, den die Lords im nahen Schilf mit Pfeilen gespickt hatten: Rulfan erkannte es am kleinen Kopf und an der hellgrünen Unterseite. Ausgewachsene Kwötschis hatten meist einen weißen Bauch. Selbst nachdem der Grandlord dem Riesenfrosch seinen Spieß in die Flanke gerammt und ihn daran auf den Rücken gedreht hatte, gab das Tier noch nicht auf. Einem Biglord namens Djeymes stieß es den Hinterlauf gegen die Brust, sodass der Arme samt seiner zum Schlag erhobenen Axt im aufgewühlten rotbraunen Wasser verschwand. Ein zweiter Biglord – er bearbeitete den Schädel des Biestes mit einem Kurzschwert – ließ plötzlich die Waffe fallen und griff sich mit beiden Händen an die Kehle: Die Zunge des Kwötschis hatte sich um seinen Hals gewickelt und würgte ihn. Es war Wichaad, der älteste Sohn des Grandlords. Zwanzig Meter entfernt trieben vier Boote auf dem Fluss. Sie bildeten einen Halbkreis um die Jäger. Insgesamt acht Bogenschützen standen darin, hatten Pfeile eingelegt und die Sehnen gespannt. Sie zielten auf die Wasseroberfläche, schossen aber nicht. Eine übliche Vorsichtsmaßnahme: Manchmal versuchten Kwötschis einem gefangenen Artgenossen zur Hilfe zu kommen. Zwei weitere Lords sprangen mit erhobenen Schwertern in die Themse. Einer hieb die Kwötschizunge durch, und Bigload Wichaad taumelte rücklings ins Uferwasser. Die Kinder und Frauen in der Böschung klatschten in die Hände und stampften mit den Füßen auf, um die Jäger anzufeuern. Der Druud brüllte, Wulf bellte, Grandlord Paacival fluchte, und Biglord Djeymes tauchte wieder aus den Fluten auf. Er heulte vor Wut. Rulfan langte nach einem Ast und schob die Glut unter dem Swaan zusammen; in größter Ruhe tat er das. Was sollte auch er sich in die Jagdszene einmischen? Die Lords waren zähe Burschen, zäher sogar als diese Bestien von Mammutkröten.
Der Albino stand auf, nahm das Tongefäß vom Stein am Rand der Glut und fasste den Spieß. Während er den schon braun gebratenen Schwanenvogel drehte, übergoss er ihn mit dem Sud aus Wasser, Steinsalz, Waldkräutern und Honig. Zischend verdampfte Flüssigkeit in der Glut. Ein Stück Hals und der Kopf des Swaans lösten sich aus der Schlinge, mit der sie am Körper festgebunden waren, und baumelten in die Glut hinunter. Rulfan stellte den Krug ab. Mit dem Brateisen hielt er den Kopf fest, mit einem Schwert schnitt er ihn ab. Er fiel in die Glut. Der Applaus am Ufer schwoll an, Druud Alizan und Paacival brüllten nicht mehr, sondern lachten jetzt. Rulfan sah, wie sie den Kwötschi aus dem Wasser zerrten. Dessen Rachen öffnete und schloss sich nach letzten vergeblichen Atemzügen schnappend, seine Vorderläufe zuckten noch ein wenig, doch er hatte schon aufgegeben. Na also. Im Schneidersitz ließ Rulfan sich wieder am Rande der Glut nieder. Die Luft war mild und feucht. Rulfan trug einen langen Mantel aus dunkelbraunem Wakudaleder, dessen Kragen und Säume mit anthrazitfarbenem Taratzenfell besetzt waren; ein Geschenk seines Vaters. Ebenfalls neu und ein Geschenk von Sir Leonard waren die pelzbesetzten schwarzen Stiefel. Sein langes, fast weißes Haar hatte Rulfan sich mit einem schwarzen Tuch aus der Stirn gebunden. Seit er wieder ein freier Mann und in Britana war, fühlte er sich manchmal auch innerlich wie neu; manchmal. Rulfan gehörte zu den Männern, denen es schwer fiel, sich von vertrauten Waffen, Werkzeugen oder Kleidern zu trennen. Doch die Monate am Kratersee, die Kämpfe auf dem Rückzug nach Westen und vor allem die mörderischen letzten Wochen in der Sklaverei hatten seine Ausrüstung und seine Kleidung verschlissen; und beinahe auch ihn selbst. Er beugte sich nach vorn, streckte den Arm nach dem Spieß aus, wendete den Swaanenbraten um eine viertel Drehung. Der
Bratenduft trieb ihm das Wasser auf den Gaumen. Am Themseufer standen Paacival und seine Leute um den erbeuteten Kwötschi herum und palaverten. Wahrscheinlich stritten sie, ob sie ihn schon hier oder erst im Lager schlachten und essen sollten. Im Lager gab es erheblich mehr hungrige Mäuler; ein Argument für die erste Variante. Rulfan verzog das Gesicht. Krötenfleisch – widerlich! Ja, länger als ein Jahr war es her, dass er London verlassen hatte, um Matthew Drax' Hilferuf zu folgen und mit Dave McKenzie und den beiden Hydriten Quart'ol und Mer'ol in den fernen Osten an den Kratersee zu reisen, an den Einschlagsort des Kometen. Er rechnete nach: vierzehn Monate waren es genau; vierzehn harte Monate. Die Lords schienen sich geeinigt zu haben. An Seilen schleiften sie den Kwötschi zu einer der knorrigen Weiden am Rande des Schilfs. Der Lupa sprang zwischen ihren Beinen herum, kläffte und schnappte nach den Schwimmfüßen des Riesenfrosches. Von den Verletzungen, die er sich als rettender Bote nach Salisbury zugezogen hatte, war nichts mehr zu bemerken. Biglord Djeymes warf ein Seil über einen Ast, daran zogen sie das Tier hoch. Also doch: Schlachtung an Ort und Stelle. Rulfan pfiff durch die Zähne. Wulf warf sich herum, stellte die Ohren auf, hörte auf zu kläffen und lauschte. Ein zweiter Pfiff, und in großen Sprüngen setzte der Lupa durch das Ufergras. Am Feuer neben seinem Herrn ließ er sich nieder. »Nichts für dich, dieses ekelhafte Krötenfleisch.« Mit der Linken kraulte Rulfan seinen vierbeinigen Gefährten im Nacken, mit der Rechten deutete er auf den Braten. »Hab noch ein Weilchen Geduld, mein Freund, dann teile ich den Swaan mit dir.« Der Lupa raunzte, als verstünde er, und es klang so tief und rau wie das Blöken eines jungen Wakudastieres. Rulfans Blick fiel auf Wulfs Ohr. Ein Mediziner der Community Salisbury
hatte die Tätowierung wieder entfernt, die Botschaft, die ihm und McKenzie das Leben gerettet und die Freiheit beschert hatte. »Mein kluger, mutiger Freund.« Er klopfte dem Lupa gegen die Flanken. Ohne ihn hätten Dave McKenzie und er noch immer auf der verdammten Meera-Insel festgesessen. »Überlass das stinkende Fleisch diesen struppigen Barbaren.« Er blickte hinüber zu der Weide, wo sich eine Menschentraube um das kopfüber aufgehängte Tier drängte. Rulfan mochte die Lords, vor allem den Clan des Biglords Paacival. Seit die Communities und die Barbaren ein Bündnis geschlossen hatten und zusammen arbeiteten, bewegten sie sich wie selbstverständlich am Themseufer, in den Ruinen Londons, sogar in der Gegend der Houses of Parliament und auf den vielen Baustellen, die es dort seit einigen Wochen gab. Er schätzte ihren Mut, ihren derben Humor und ihre Kampfkraft. Nur ihre Essgewohnheiten und ihre religiösen Sitten – sie pflegten Orguudoo Menschen zu opfern – stießen ihn ab. Er hörte den greisen Druud schreien und sah die Leute zurückweichen. Eine Schwertklinge blitzte kurz über den Köpfen auf, dann folgte das hässliche Geräusch zerreißenden Fleisches, und gleich darauf klatschte etwas Schweres auf den Grasboden. Wulf sprang auf und bellte. Rulfan rümpfte die Nase und drückte seinen weißen Gefährten zurück auf den Boden. Acht Wochen war es nun her, dass sie zurückgekehrt waren. Drax und Aruula hatte er kaum gesehen seitdem. Irgendwo auf dem Festland waren sie mit einer EWAT-Crew der Community London unterwegs, auf der Suche nach Verbündeten. Alles stand im Zeichen des bevorstehenden Krieges gegen die Daa'muren. Auch der Amerikaner, Mr. Black, war nicht mehr in London. Vor einigen Tagen war er mit neuen Forschungsergebnissen rund um das Immunserum nach Prag aufgebrochen. Von dort sollte es weiter nach Moskau gehen.
Black war die treibende Kraft hinter den Bemühungen, die auf lange Sicht sterilisierende Wirkung des Serums zu tilgen. Vermutlich weil es aus seinem Blut gewonnen wurde. Wer trug schon gern die Schuld daran, dass die Bunkerleute zwar wieder ungefilterte Luft atmen konnten, dafür aber mit der nächsten Generation aussterben würden? Der Weltrat in Washington, der das Serum seit über dreißig Jahren nutzte, stand bereits dicht davor. Denen zu helfen war allerdings nicht Mr. Blacks Bestreben, hatte er doch über lange Jahre mit seiner Rebellengruppe, den »Running Men«, gegen die amerikanische Regierung gekämpft. Und Dave? Der Astrophysiker aus der Vergangenheit hielt sich die meiste Zeit in der Community London auf – die Queen beanspruchte ihn, und das nicht nur als Berater für zahlreiche Bauprojekte. Er selbst, Rulfan, streifte meistens zwischen Salisbury und London durch die Wälder oder am Ufer der Themse entlang. Wohin gehörte er nun? Nach Salisbury? Schon möglich. Nach London? Seit wann das? Oder in die Wildnis? Schon eher. Oder doch nach Coellen, wo er den größten Teil seiner vierundfünfzig Jahre verbracht hatte? »Du bist ruhelos«, hatte sein Vater gesagt, und Recht hatte er. »Eine woom«, krächzte es plötzlich vom Schlachtplatz her. »Eine woom, eine woom!« Rulfan fragte sich, was jetzt wieder los war. Woom bedeutete im Dialekt der Lords Frau – doch mindestens ein Dutzend Frauen hielt sich am Schlachtbaum auf. Paacival drehte sich um und winkte. »Hea zu uns, Wulfan, hea zu uns!« Rulfan lächelte und stand auf. Weil sie aus irgendeinem Grund kein R aussprechen konnten, nannten sie ihn Wulfan. Neben seinem Lupa schritt er zum Schlachtplatz. Es gab nicht viel Grund zum Lächeln in letzter Zeit für den Albino. Wenn er über die ungeheuerlichen Dinge grübelte, die vom Kratersee aus auf die Menschheit zukamen, schnürte es
ihm das Herz zusammen. Nun, wenigstens hatte er sich mit Matthew Drax versöhnt, was Aruula anbelangte. Die hübsche Barbarin hatte sich für den Piloten aus der Vergangenheit entschieden, und Rulfan hatte es endlich akzeptiert. Akzeptieren müssen. Auch wenn es ihm schwer gefallen war. Die Lords öffneten eine Gasse, um ihn zu Alizan und ihrem Grandlord durchzulassen. Einige grinsten ihn an, Grandlord Paacival feixte gar, als hätte sein Druud ihm gerade einen schmutzigen Witz erzählt. Hatte er aber nicht. Vielmehr stand Druud Alizan leicht vornüber gebeugt und die Hände auf die Knie gestützt und beäugte das aus dem geöffneten Kwötschileib herausquellende Gedärm. »Er sieht eine woom«, feixte der massige Paacival. »Eine woom für dich, Wulfan.« Rulfan begriff: Aus dem Kwötschigedärm weissagte Alizan die Zukunft. Auch eines dieser unappetitlichen Rituale der Lords. »Ich? Eine Frau?« Der hochgewachsene Albino rang sich ein Grinsen ab. »Blödsinn!« Kurz dachte er an Aruula, und ein leiser Schmerz loderte in seiner Brust auf, aber dann stellte er sich wieder der Realität. »Doch, Wulfan, doch!«, krächzte der Greis. »Lassen Ganzmond veagehen. Noch voa de next wiast du de woom deines Lebens begegne! Yea...!« * Dysdoor, März 2520 Hundertzwanzig Schritte trennten die bunte Schar noch von der Zeltkuppel, und dennoch wagte schon jetzt keiner mehr zu reden. Nicht einmal Getuschel hörte Haynz hinter sich. Und das war gut so. Dem Zelt hatte man sich nicht anders als in größter Andacht und Ehrfurcht zu nähern. »Jawoll!«, raunzte er vor sich hin, womit er sich befremdete Blicke seines Adjutanten und der beiden Jungfrauenträger einhandelte. Der
Hauptmann von Dysdoor ignorierte sie. Haynz war klein und ziemlich dick; dazu kahlköpfig, wie alle Dysdoorer Männer im waffenfähigen Alter. Ihm unfreundlich gesonnene Lästermäuler – solche gab es vorwiegend im nahen Coellen – bezeichneten Haynz gern als wandelndes Fässchen. Zur Feier des Tages hatten seine Frauen ihm die grünen Hosen und den grünen Umhang gewaschen. Jedes Stück Haut an ihm, das nicht grün verhüllt war, hatte er sich mit fettiger roter Farbe eingeschmiert. Auch seine achtundneunzig Krieger, die den Festzug an diesem Morgen begleiteten, trugen frisch gewaschenes Tuch – gelb. Auf seine Anweisung hin hatten sie die schwarze Farbe der Kriegszeit angelegt. Die etwa dreihundertsiebzig Frauen hinter ihm waren bis über die Nasen in rote, blaue und grüne Tücher gehüllt. Die Kinder hatten die Dysdoorer an diesem Vormittag übrigens in ihren Pfahlhütten am Fluss eingesperrt. Ein Befehl des Hauptmanns, und die meisten stimmten ihm zu, denn Kinder mussten nicht alles sehen und hören, was es in letzter Zeit in den Ruinen Dysdoors zu sehen und zu hören gab. Etwa achtzig Schritte vor der silbernen Kuppel blieb Haynz stehen und hob seine fleischige Rechte. Der Festzug hielt an. Haynz drehte sich um. »Kniet nieder und betet IHN an«, flüsterte er, während er die Arme ausstreckte und beide Zeigefinger abspreizte, sodass sie hinunter auf den zerbröselnden und von frischem Huflattich und Löwenzahn übersäten Asphalt deuteten. Diejenigen, die verstanden, sahen sich zunächst verlegen an. In Dysdoor pflegte man eigentlich nicht niederzuknien, geschweige denn zu beten. Doch seit SEINER Ankunft hatte sich allerhand verändert. »Hurtig!«, zischte Haynz. »Wird's denn bald? Knien und anbeten!« Die ersten Krieger und Weiber in seiner Nähe gehorchten, und bald ging ein Rauschen und Rascheln durch
die Menge: Alle knieten nieder und begannen vor sich hin zu murmeln. Alle außer dem Hauptmann, seinem Adjutanten, den Jungfrauenträgern und den Jungfrauen selbst natürlich; die konnten ja nicht knien, weil sie getragen werden mussten. Haynz warf einen Blick auf die kniende und murmelnde Menge, grunzte zufrieden und wandte sich wieder dem Silberzelt zu. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er den drei Männern, ihm zu folgen. »ER wartet.« Der Hauptmann setzte sich in Bewegung und schaukelte durch Brennnesselfelder und Unkrautgestrüpp, vorbei an blühenden Ginsterbüschen und Gruppen kleiner Birken auf die Lichtung hinaus, wo SEIN Kuppelzelt stand. Den Alten musste diese Stelle einst ein wichtiger Platz gewesen sein. Viele mit Geröll und Unkrautteppichen bedeckte Straßen führten von hier aus an den Großen Fluss, die von Efeu und wildem Wein eingesponnen Ruinenfassaden standen weit auseinander und waren hoch und breit, und auf dem Platz zwischen Ginsterbüschen, Birkengruppen und Nesseln standen viele moos- und windenbedeckte Eisenpfähle jeden Umfangs und jeder Höhe. Haynz drehte sich nach seinen Begleitern um. »Schneller!«, winkte er. Die Jungfrauen – Töchter seines Bruders Gleemenz, siebzehn und neunzehn Jahre alt – waren blass, machten große Augen und ehrfürchtige Gesichter. Sie zogen das weiße Tuch um ihre Schultern zusammen. Ihr Haar war abgeschoren. Fünfzehn Schritte von der Kuppel entfernt überquerte Haynz einen gerodeten, gejäteten und ausgebesserten Straßenstreifen. Er führte aus einem breiten Gebäude, über dessen glas- und türlosem Tor die einst roten Zeichen DB verblassten, und von dort aus über den Platz, und fast schnurgerade durch die Ruinen des Alten Dysdoor und bis zum Pfahldorfviertel hinaus am großen Fluss. Harte Arbeit war das gewesen; lange vor dem Neujahrsfest schon hatten sie damit
begonnen. Bald nach SEINER Ankunft hatte ER Haynz' Gastgeschenk in die Tiefen der DB-Ruine bringen lassen und dem Hauptmann auch gleich die Pläne offenbart, nach denen er den Straßenstreifen instand gesetzt wissen wollte. Sie ließen den seltsam unbewachsenen und relativ glatten und geraden Straßenzug hinter sich. Wenige Schritte vor dem Kuppelzelt blieb Haynz stehen. Er winkte die beiden Jungfrauenträger an sich vorbei. Sein Adjutant zog es vor, eine Art Sicherheitsabstand einzuhalten. Er verharrte am Rande der gerodeten Straße. Das gelb gewandete Duo schleppte die beiden Jungfrauen an Haynz vorbei. Die Träger schnauften geräuschvoll, und die Frauen stanken nach Knoblauch. Nun, obschon sie zierlich und entsprechend leicht waren, mussten die beiden Männer sie immerhin schon seit dem Aufbruch im Palasthof des Hauptmanns tragen; gut zwanzig Speerwürfe weit, das ging natürlich in die Knochen. Sie setzten die Frauen auf einem feuchten Teppich ab, der vor der Silberkuppel ausgebreitet war. Das wünschte ER so. Auch dass sie barfuß kamen, kurz zuvor kahl geschoren, in sehr heißem Wasser gebadet und mit Knoblauchöl eingerieben worden waren und nichts als gekochte und besonders heiß gebügelte Leinentücher an ihren Leibern trugen, entsprach ganz und gar SEINEN Anweisungen. Die von ihrer Last befreiten Träger huschten wieder an Haynz vorbei und blieben hinter ihm stehen. Als der Hauptmann in die Knie ging, ließen auch sie und der Adjutant sich zum Gebet nieder. Es summte seltsam aus dem Inneren des Zeltes. Eine ovale Öffnung bildete sich, dahinter glitzerte ein metallen schimmernder Vorhang in bläulichem Licht. Die Jungfrauen drängten sich aneinander, eine ergriff die Hand der anderen. Der Vorhang bewegte sich, eine Hand und ein Arm
erschienen, beide in goldglänzenden Stoff gehüllt. Die Hand winkte die Jungfrauen zu sich, der Vorhang wurde ein wenig zur Seite geschoben, und für einen Augenblick konnte Haynz SEINEN kräftigen, goldglänzenden Leib sehen. Die Jungfrauen ließen ihre Leintücher auf den feuchten Teppich gleiten. Nackt huschten sie hinter den Vorhang. »Bestens«, sagte SEINE Stimme. Dann drehte sich SEINE Hand so, dass die Handfläche nach unten zeigte. Eine knappe Bewegung der Finger gab Haynz zu verstehen, dass er sich zu entfernen habe. Der Hauptmann wandte sich zu seinen drei Begleitern um. Er ahmte die Bewegung mit den Fingern nach. Sie gefiel ihm, und sein Adjutant und die Jungfrauenträger verstanden sie auch sofort: Sie hasteten zurück zur knienden Menge. Haynz selbst schritt in die entgegengesetzte Richtung am Kuppelzelt vorbei und setzte sich achtzig Schritte weiter neben das Tor zur DBRuine Danach geschah das Übliche. Zuerst hörte Haynz Stimmen aus dem Kuppelzelt, danach kicherten die Jungfrauen, schließlich quiekte und stöhnte erst die eine und nach ihr die andere. Etwa nach der Zeit, die man zum Häuten einer Wisaau braucht, schob sich die seltsam geformte Tür wieder auf und die Jungfrauen tänzelten aus der Kuppel. Sie bückten sich nach ihren Tüchern, wickelten sich ein und hüpften kichernd zu ihren Leuten am Rande des großen Platzes. Kurz darauf jedoch geschah etwas Unübliches, etwas, das heute zum ersten Mal geschehen würde. ER hatte Haynz darauf vorbereitet, und das war der Grund, warum Haynz saß, wo er saß und wartete. Denn jetzt bildete sich in der dem Platz abgewandten Kuppelseite eine Luke. ER trat ins Freie und kam geradewegs auf den Hauptmann zu. Haynz erhob sich ächzend. Er sah nicht viel von SEINEM goldglänzenden Leib – ein schweres dunkelblaues Tuch bedeckte IHN bis zu den Knien; selbst
SEINEN kugelrunden Kopf verhüllte es fast vollständig. »Unser Anblick ist für sie nur schwer zu ertragen«, hatte ER gleich nach SEINER Ankunft gesagt. ER ging an Haynz vorbei und schien ihn nicht einmal zu bemerken. »Könnt Ihr den guten Haynz nicht mitnehmen? Bitte.« Der Hauptmann legte die Handflächen zusammen, wie die Coelleni es taten, wenn sie zu ihren Göttern beteten. ER befand sich bereits drei Schritte im Inneren der DBRuine. Dennoch blieb ER stehen, allerdings ohne sich umzuwenden. »Das würde er möglicherweise nicht überleben«, sagte SEINE dunkle Stimme in jenem feierlichen Tonfall, der Haynz von Anfang an bis in die Haarspitzen hatte erschauern lassen. »O, ich bin stark, HERR, ja, der Hauptmann bin ich!« Haynz wagte sich einen Schritt weit in das Halbdunkel der Halle hinein. »Und ich möchte es doch so gerne lernen, HERR, ja, das möchte ich.« »Na gut«, sagte ER. »Verschaffe er uns morgen zwei Frauen, die in der Liebe bewanderter sind als die kichernden Küken; eine morgens und eine abends. Und mit der Zweiten bringe man uns ein frisches Fass Coelsch. Dann werden wir über sein Ansinnen nachdenken.« Das Herz des fetten Hauptmanns machte einen Sprung, und ER schritt in die alte Halle hinein. So schnell seine kurzen Füße ihn trugen, rannte Haynz zu seinen Leuten zurück, zu seinem Volk von Dysdoor, wie er zu sagen pflegte. Sie knieten noch immer, starrten ihm aber neugierig entgegen statt zu beten. »In die Ruinen, los, los!« Wieder irritierte Blicke; keiner außer dem Hauptmann wusste ja, was bevorstand. »Hört ihr nicht, was der gute Haynz sagt?! Weg mit euch! In die Ruinen! Gleich geht's los! Hurtig!« Schon erhob sich aus der DB-Ruine ein gewaltiges Röhren und Dröhnen. Viele Dysdoorer bekamen es derart mit der
Angst, dass sie aufsprangen und statt in die nächstbeste Ruine Richtung Pfahldorf rannten. Ein paar auf der gerodeten und instandgesetzten Straße. »Seid ihr denn besoffen?!«, brüllte Haynz. »Runter von der Straße, sag ich! Rein in die Ruinen!« Einige gehorchten, andere waren viel zu panisch. Der Lärm aus der Halle erreichte einen schier unerträglichen Pegel. Haynz selbst und Arwyn, sein Adjutant, sprangen in eines der riesigen und nur noch teilweise verglasten Fenster. Dort wucherten Winden und Brennnesseln zwischen umgestürzten und bemoosten Nachbildungen menschlicher Körper. Haynz und Arwyn warfen sich auf die Bäuche und starrten hinüber zum Hallentor. Seltsames grelles Licht erfüllte plötzlich das Innere der großen DB-Ruine, Rauch quoll heraus, und das Dröhnen und Röhren näherte sich rasch. Haynz und Arwyn pressten ihre Hände auf die Ohren. Dann schoss ein eiserner Feuervogel aus der Halle, rauschte entlang der neuen Straße über den Platz und raste zwischen den alten Ruinen Richtung Fluss davon. Haynz sprang aus dem großen Fenster, rannte zur gerodeten Straße, spähte dem Feuervogel hinterher. Es war der schönste aus seiner stattlichen Sammlung, ein Saab 40 Viggen. Und gleich würde er ihn zum ersten Mal fliegen sehen! Nur noch Umrisse hinter einer Feuerkugel konnte er erkennen, sein Gedröhne und überirdisches Gefauche erfüllte die Ruinen von Dysdoor. Aus allen Löchern und Schlupfwinkeln kamen die Krieger und Weiber herbei geeilt. Sprachlos starrten sie die gerodete Straße hinunter. Das Dröhnen entfernte sich. »Boali!«, stöhnte ein Krieger namens Krautz. »Wohin geht ER?« »ER geht nirgendwo hin, Taratzenkopf! Er fliegt wo hin!« Das Dröhnen und Röhren näherte sich wieder, und auf einmal tauchte der Feuervogel über den Ruinendächern auf und
brauste über den Platz. Alle warfen sich auf den Boden und schrien. Nur Haynz nicht – sehnsüchtig reckte er den Hals und sah den Feuervogel Richtung Mittag davonfliegen. * Chraaz, am 8. Tag des 2. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu Lange blieb es stumm, bis es im ersten Morgengrauen sein Brummen, Rasseln und Brüllen erneut erhob. Die Furcht schnürte Maris die Kehle zu. Doch das Ungeheuer entfernte sich rasch. Bald verlor sich sein Getöse Richtung Sonnenuntergang. Doch noch nicht das Ende? Sollten sie noch einmal davon gekommen sein? Maris verbot sich die Hoffnung. Der Regen nahm zu, wurde zur wahren Flut, als hätte sich der Höchste Sohn selbst des brennenden Klosters erbarmt und die Schleusen seines Himmels geöffnet. Das Feuer erlosch allmählich. Maris kniete im Winkel zwischen Querholz und Kopfstamm. Der Regen drang längst durch ihren Mantel bis auf ihre Haut. Ihre Knie waren im morastigen Waldboden versunken. Ihr langes Haar klebte wie feuchtes Stroh an ihrem Kopf, in ihrem Pelz, auf ihren bleichen Wangen. Mit klammen Fingern hielt sie den Griff ihrer gegen das Querholz gestemmten Klinge umklammert. Hellwach spähte sie in den Regenschleier. Sie konnte das Ungetüm nirgends mehr sehen. »Gerettet...« Endlich konnte sie es fassen. »Dank dir, Höchster – wir sind gerettet...!« Im Buschwerk schlichen ein paar Gestalten zwischen den Hütten herum. Drei besonders Mutige pirschten sich an das Kloster heran. Über dem Gemäuer dort schwebten Rauchschwaden. Der Regen drückte sie auf Zinnen und Dächer herab.
»Dank dir, Höchster...!« Maris senkte den Blick. Regen klatschte auf Fetzen geronnenen Blutes in den Augenhöhlen und zwischen den Zähnen der mater. Sie war tot, lange schon. Hinter sich hörte Maris Atemzüge und Zähneklappern. Sie drehte sich um. Die sehnige Gestalt einer sehr jungen Schwester hockte hinter ihr am Ende des Längsstammes, blond und nass wie Maris selbst. Sie stützte ihre Stirn gegen den Knauf ihres in den Morast gebohrten Schwertes. Maris musste lächeln. »Hast du mit mir gewacht, kleine Naryma?« Scheu lächelte die andere zurück. Sie nickte hinter ihrem Schwertknauf. Maris sah, dass die andere am ganzen Körper zitterte. Ihre Zähne schlugen gegeneinander. Gerade sechzehn Winter zählte Naryma; zum letzten Geburtsfest erst hatten die Schwestern sie in den innersten Zirkel des Ordens aufgenommen. »Lass uns gehen und sehen, was es war, das uns heimsuchte.« Maris stand auf. »Lass uns gehen und dem Höchsten danken!« Ihre Glieder waren steif. Das Schwert über die Schulter gehievt, stelzte sie durchs Unterholz. Naryma huschte an ihre Seite. »Es ist vorbei«, flüsterte sie. »Was immer es gewesen ist, der Höchste Sohn hat es vertrieben.« Mit der Faust schlug sich das Mädchen gegen Stirn, Schultern und Brust und stieß gleichzeitig ihre Klinge nach oben ins regenschwere Geäst der Buchen. Auf dem Prozessionspfad stapften sie dem nahen Waldrand entgegen. Unterholz und Bäume lichteten sich, die Umrisse erster Hütten schälten sich aus Halbdunkel und Regenschleiern. Aus Erdlöchern voller Wasser und Schlamm krochen kahlköpfige ministratos. Einzelne Schwestern und ministricis kletterten von Bäumen und befreiten einander aus Gebüschen. Als Maris und Naryma aus dem Wald traten, folgten ihnen bereits an die dreißig durchnässte und schlamm verschmierte Männer und Frauen. Maris blieb stehen und drehte sich nach ihnen um. »Was
habt ihr hier zu schaffen?«, herrschte sie den Obersten der Kahlköpfe an. »Los, zum Kreuz. Bringt die mater zur Heiligen Gruft!« Und mit Blick auf die älteste der nackten ministricis sagte sie: »Überwacht sie. Bereitet alles für die Bestattung vor. Danach kommt zum Haus des Sohnes, auf dass wir dem Höchsten gemeinsam danken.« Die Nackten und die Glatzen liefen in den Wald zurück. Nur vier Schwestern blieben bei Maris und Naryma. »Auf dass wir dem Höchsten gemeinsam danken«, echote eine von ihnen. »Ja, om, ja, amen...« * Vorbei an Hütten, Äckern und Pfützen groß wie Teiche setzten sie ihren Weg zum Kloster fort. Hinter Rauchschwaden und Regenschleiern verwandelten sich gewaltige Schatten in Türme und Gemäuer. Wieder schlossen sich ihnen Frauen und Kinder und Glatzen an. Aus allen Richtungen spuckten Regen und Dunkelheit sie aus. Sie tuschelten miteinander: »Was war das? Woher kam es? Wohin ging es? Wer hat es gesehen?« »Ein Drache«, sagte eine alte Schwester. »Es war ein Drache, ich schwör's.« »Konntest du ihn von Nahem sehen?«, fragte Maris. Die Alte blieb stumm, doch eine ministrics schlug sich an Stirn und Brust und rief: »Nix Drachen! Es waren die wilden Reiter aus dem Osten! Sie haben sich einen Wagen aus Eisen gebaut!« »Einen Wagen, der Feuer husten kann?«, höhnte die alte Schwester. »Wie sollten diese Hohlköpfe einen Wagen zustande bringen?«, widersprach auch einer der Glatzen, und andere behaupteten, sie hätten lucifa auf einem Höllenwurm reiten sehen. »Ja, lucifa höchstselbst!«, bestätigte Rimaya, und einige Glatzen brummten zustimmend: »Om, om, om...!«
So ging das hin und her, bis alle vor einem verwüsteten Anwesen stehen blieben. Viel konnten sie nicht erkennen, dazu war es noch zu dunkel, aber jeder sah den niedergewalzten Zaun, die aufgewühlte Erde und die zersplittert in die Dämmerung ragenden Balken und Bretter zweier Holzhaufen, die vor kurzem noch Menschen Dach und Zuflucht geboten hatten. Das Palaver verstummte für ein paar Atemzüge; bis eine Frauenstimme zu flüstern begann. »Wer richtet solche Zerstörung an?« Wieder war es Rimayas Stimme. »Wer außer lucifa, frage ich euch?« Aufs Neue wollte sich ängstliches Getuschel erheben. Eine rasche Handbewegung Maris' brachte die Menge zum Schweigen. Die neue mater bückte sich, fuhr mit der Hand in die aufgewühlte Erde, versuchte zu verstehen. Zwei Furchen führten über den zermalmten Zaun in das verwüstete Anwesen; so tief und so breit, dass man den Leib selbst des fettesten ministras darin hätte versenken können. Zwei Speerlängen etwa lagen zwischen den Furchen. »Der Höllenwagen hat alles umgepflügt«, sagte Naryma mit erstickter Stimme. »Den Zaun, den Acker, die Hütten...« Auf der anderen Seite der Ruinen führten die Furchen wieder aus dem Grundstück hinaus und verloren sich Richtung Kloster im Morgengrauen. Lichter von Öllampen näherten sich vom zerstörten Klostertor her. Drei Schwestern hatten sich aus ihren Verstecken gewagt. Maris, Naryma und Rimaya gingen ihnen entgegen. Greisinnen waren es, zu alt und gebrechlich, um noch an der jährlichen Schindungsprozession teilnehmen zu können. »Sie haben jeden getötet, der sich ihnen in den Weg stellte«, sagte die zahnlose Karliam. »Jeden auch, den sie in seinem Unterschlupf aufstöberten. Sie haben die Vorratskeller geplündert.«
Karliam war die jüngste der drei Greisinnen. Riesig und feucht lagen ihre Augen in den Höhlen eines zerknitterten und grauen Gesichts. »Pökelfleisch, Obst, Eingemachtes, getrockneten Fisch. Alles.« Sie schluckte und senkte den Blick. Leise, fast flüsternd fügte sie hinzu: »Und sie haben die Träne des Höchsten mitgenommen.« Heißer Schrecken zuckte durch Maris' Glieder. »Das ist nicht wahr...« Karliam starrte auf ihre knochigen grauen Füße. Mit keiner Geste reagierte sie. Doch die anderen beiden nickten. »Habt ihr sie gesehen?«, wollte Maris wissen. Ihre Stimme klang auf einmal sehr heiser. Diesmal nickten alle drei. »Hoch gewachsene Leute«, sagte Karliam ohne den Blick zu heben. »Drei oder vier, vielleicht auch mehr. Ihre Beine und ihre Rümpfe waren in dunklen Stoff aus einem Stück gehüllt. Einer trug einen gelben Anzug und einer einen Helm wie eine Kugel. Sie hatten Stäbe, damit versprühten sie Feuer, wie auch ihr Teufelswagen Feuer versprühen konnte.« »Lucifa!« Rimaya stöhnte auf. »Lucifa und seine Dämonen! Sag ich's nicht? Wer sonst sollte die Träne Gottes...« »Still!«, zischte Maris. Sie rammte ihr Schwert zwischen ihre schmutzigen Füße, stützte sich auf den Knauf und sah die Greisinnen auffordernd an. »Nichts weiter«, krächzte Karliam. »Sie schafften die Beute und sich selbst in ihren Teufelswagen und fuhren weg.« Die Alte drehte sich um und deutete über die Klostermauern hinweg Richtung Sonnenuntergang. Dahinter schälten sich die ersten Schneegipfel aus der Dämmerung. »Dorthin.« Aus schmalen Augen blickte Maris durch Rauch- und Regenschleier zum Eisgebirge hin. Lange verharrte sie so und ihre sonst so vollen Lippen waren blutleer wie ein Strich. »Messe und Befragung im Haus des Sohnes«, sagte sie endlich.
»Gleich nach der Bestattung der mater. Wir müssen das Los werfen.« * London, Februar 2520 Am frühen Nachmittag erreichte er die erste Brückenruine im Süden der ehemaligen Metropole. Von den Lords hatte er sich gleich nach dem Essen verabschiedet. Da entfachten sie gerade ein Feuer, um den geschlachteten und bereits vom Bratspieß gepfählten Kwötschi über der Glut zu braten. Rulfan überließ ihnen, was er und Wulf von seinem Swaanenbraten übrig gelassen hatten. Der Albino suchte einen Pfad, der zu der zerstörten Brücke hinauf führte. Er wollte einen Blick auf die Überreste Londons werfen, bevor er sich auf den Weg nach Westminster machte. London hieß bei den Lords übrigens Landän. Rulfan drang ein Stück in den Wald ein. Über die gut erhaltene Ruine einer Klinik gelangte er auf eine zugewucherte Straße, und von ihr aus zur Brückenruine. Wulf lief ihm voran. Jedes Mal, wenn der Lupa eine Stelle fand, an welcher die uralte Fahrbahndecke zusammengebrochen war, stieß er ein heiseres Bellen aus, um seinen menschlichen Gefährten zu warnen. Ungefähr fünfundsechzig Meter weit führte die Brücke auf die Themse hinaus, dann brach sie ab. Von feuchten Schlingpflanzen und Moos eingesponnene Pfeiler und Masten ragten hier und da wie die Reste eines Saurierskeletts aus dem Strom und verrieten den ehemaligen Verlauf der Brücke. Am anderen Ufer konnte Rulfan nur die frühlingsgrüne Wand des Waldes sehen. Wenige Schritte vor der Bruchstelle ließ er sich auf den Boden nieder. Der Lupa setzte sich neben ihn. Richtung London war das Geländer auf halber Länge
zusammengebrochen und der Albino konnte den Strom bis zur nächsten Biegung einblicken. Eine halbe Meile weiter lichtete sich der Wald schon, da und dort waren Ruinen zu erkennen, in der Ferne auch die der Tower Bridge. Kurz vor dem Knick und mitten auf dem Fluss schwamm ein dunkler Punkt. Ein Boot? Gedankenverloren blickte Rulfan auf den Strom und über die Ruinen. So saß er oft – auf irgendeinem Baum, einem Turm, einer Uferböschung – und grübelte. Manchmal dachte er dann an jenen anderen Strom, den Großen Fluss, an dem er so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte. Der Punkt auf dem Wasser wurde zum Fleck. Tatsächlich, ein Boot. Es fuhr stromabwärts und würde die Brücke passieren, wenn es nicht zuvor wendete. Eine merkwürdige Beklommenheit hatte sich auf Rulfans Brust gelegt, seit Druud Alizan ihm eine Frau aus den Innereien des Kwötschis geweissagt hatte. Und das, nachdem er endlich akzeptiert hatte, dass er Aruula nicht für sich gewinnen konnte. Und nachdem er sich endlich mit Matthew Drax versöhnt hatte. »Blödsinn!«, schimpfte er mit sich selbst. »Hör endlich auf damit!« Der Lupa spitzte die Ohren. Aus schmalen Augen fixierte Rulfan das näher gleitende Boot. Er glaubte einen Mann darin zu erkennen. Und eine zweite Person – eine Frau vielleicht, oder ein Kind? Rulfan seufzte. Nein, lange hielt er es nicht mehr aus in dieser Gegend der Welt. Das gezähmte Leben in den Communities ödete ihn an. Und die Lords? Nun ja, keine Leute, mit denen er unter einem Dach leben wollte. Er legte dem Lupa die Linke auf den Rücken und streichelte ihn. »Hast du auch manchmal Sehnsucht nach Honnes und Juppis und dem Dom? Vielleicht sollten wir einfach unsere Sachen packen und...« Er runzelte die Stirn. Tatsächlich: Eine Frau lag auf den Schenkeln des Mannes. Sie hatte keine Haare. Eine Frau aus
der Community also? Und der Mann, er trug eine Brille... Rulfan drückte Wulf tief in das Gestrüpp, das auf der Brücke wucherte. Er selbst legte sich auf den Bauch. Keine Frage: Dave und Victoria! Ohne Hast stach Dave McKenzie das Paddel mal nach links, mal nach rechts ins Wasser. Er trug nur ein Hemd, Rulfan konnte seine nackten Knie sehen. Das Boot glitt auf die Brücke zu. Schon hörte der Albino ihre Stimmen - sie turtelten und lachten leise –, und bei Wudan: Die Queen trug nur eine blaue Decke; darunter war sie nackt! Dave legte das Paddel hinter sich und beugte sich über die Queen. Dann verschwand das Boot unter der Brücke. Rulfan drehte sich um. Bald tauchte der Kahn unter der anderen Brückenseite wieder auf. Dave machte Anstalten, zu Victoria unter die Decke zu kriechen. Die Queen lachte ihr dunkles Lachen und das Boot begann mächtig zu schaukeln. Nach und nach wurde es wieder zu einem Fleck auf dem Strom und bald zu einem Punkt. Rulfan stand auf und spuckte aus. »Warum macht sie das?« Wulf spitzte die Ohren und raunzte. »Sie liebt einen Mann, der sie nicht liebt, und tröstet sich mit einem anderen, den sie selbst nicht liebt.« Während er hinunter ans Ufer kletterte, fragte er sich, ob auch er zu solchem Verhalten fähig wäre. Er wusste keine Antwort. * Coellen, etwa zur gleichen Zeit Ein kleines Treppenhaus, dunkel, mit windschiefen Holzwänden. Die beiden Männer stiegen die letzten Stufen hinab und verharrten vor einer niedrigen Tür aus groben Holzbohlen. Tones lauschte einen Augenblick ins Haus und zur Haustür
hin, bevor er die Kellertür aufschloss. Manchmal kamen Bekannte herein, ohne zu klopfen. Musste aber keiner sehen, dass er mit Juppis in den Keller stieg, ging niemanden etwas an. Keine Schritte auf der Gasse, also die Tür geöffnet und die schmale Stiege hinunter. Er hielt die Öllampe vor sich über die ausgetretenen Stufen. Der alte Juppis schloss die Tür hinter ihnen und folgte dem rotblonden Oberst der Stadtwache in seinen Keller hinunter. In einem Sack trug er ein sperriges Gefäß mit sich. Unten angekommen, durchquerten sie einen relativ trockenen und großen Raum. Der Lichtschein fiel auf Regale voller Gläser mit eingemachten Früchten und auf Fässer mit Kraut und gesalzenem Fleisch. Was man in Coellen nach einem guten Sommer eben so in seinem Keller zu lagern pflegte. Tones blieb vor einem schmalen Regal mit leeren Gläsern stehen und reichte Juppis die Lampe. Danach packte er das Regal und klappte es von der Wand weg. Dort war es mit zwei Scharnieren an der linken Seite im Holz befestigt. Die Gläser bewegten sich nicht, klirrten nicht einmal. Das zerfurchte Gesicht des alten Juppis legte sich in hundert weitere Falten – er grinste. »Festgeleimt«, sagte Tones. Er schloss die niedrige Tür auf, die hinter dem Regal sichtbar geworden war. Sie bückten sich hinein und stiegen über sieben Steinstufen in einen uralten Gewölbekeller hinunter. Es roch nach Moder und nach Hopfen, und es war sehr kühl. Der Lampenschein fiel auf Röhren, riesige Flaschen und blank gescheuerte Kessel, so groß, dass man zwei Männer darin hätte ersäufen können. In einer Ecke standen halb gefüllte Säcke, bedeckt mit Spreu und Pflanzenfasern. Wieder mussten sie sich bücken und gelangten so in einen zweiten, noch kälteren, noch tiefer gelegenen Keller. Tones hob die Lampe – die Umrisse dreier Fässer schälten sich aus
dem Halbdunkeln. Sie ruhten auf Holzböcken; jedes fasste zweihundert Liter. »Alle drei voll?«, staunte Juppis. »Nur eines.« Tones ging zu dem einzigen Fass, aus dem ein Zapfhahn ragte. Er stellte die Lampe darauf. »Und das hier ist halb voll.« Juppis öffnete seinen Sack und holte eine Fünf-LiterMilchkanne heraus. Er zog den Deckel ab und reichte sie dem Jüngeren. Tones stellte sie unter den Zapfhahn und drehte ihn auf. Duftendes Coelsch strömte schäumend in die Kanne. Schweigend lauschten die Männer dem Rauschen des Bierstrahls. Der Duft des begehrten Flüssiggoldes hüllte sie ein. Hin und wieder drehte Tones den Hahn zu, wartete bis der Schaum sich absenkte, drehte dann den Hahn wieder ein wenig auf. Seit die Coelleni mit Unterstützung von Maddrax, Aruula und Rulfans Rebellen das grausame Joch der Priesterschaft und der drei Klonmutanten abgeschüttelt hatten, war Coelsch in Coellen verboten. Klingt wie ein Witz, war aber so. Streng verboten sogar. Und doch war das gut so. Denn seitdem die Coelschmeister ihr altes, ehrbares Handwerk in den Untergrund verlegen mussten, konnten sie dreimal so viel für ein Maß verlangen wie vor der Revolution. Der alte Juppis zahlte sogar das Vierfache. Immerhin war er stellvertretender Kanzler und brach ein Gesetz, das er selbst mit unterschrieben hatte. So was kostete halt. »Wie viel?«, wollte Tones wissen. »Voll«, sagte Juppis. Plötzlich stutzten beide. Ein ungewöhnliches Geräusch näherte sich. Von draußen drang es durch Mauern und Decken nach hier unten. Da lärmte etwas über den Dächern! Es pfiff erst, heulte dann und dröhnte schließlich wie der unvergessene Herbstorkan, der zwölf Winter zuvor die Stadt und die Ufer des Großen Flusses verwüstet hatte. Die Männer sahen sich an, und jeder wusste, dass dem anderen die gleiche Erinnerung durch
den Kopf schoss. Die Erinnerung an Maddrax und seinen Feuervogel! Tones drehte den Hahn ab und stellte die Kanne auf den Boden. Sie rannten aus dem Gewölbe, hasteten durch den ersten Keller, stolperten die Treppe hinauf, stürzten auf die Straße. Eine Menge Leute standen dort schon, legten die Köpfe in den Nacken und stierten in den Himmel. Einige gestikulierten, fast jeder rief irgendetwas. »Es ist wie damals!«, schrie ein junger Mann. »Wie damals, als Maddrax kam!« Und wie zur Bestätigung röhrte auf einmal ein Feuervogel über die Dächer Richtung Dom, so schnell, dass man ihn kaum einen Atemzug lang zu sehen bekam, aber Tones befand dennoch, dass er Maddrax' Feuervogel verdammt ähnlich sah. Er schloss sich der Menge an, die zum Domplatz rannte. Der Feuervogel flog eine Schleife um den Doppelturm und über die Stallungen und kehrte dann zu den Gassen, Hütten und Häusern zurück. Für Augenblicke konnte Tones seine Unterseite sehen, als der Vogel über ihn hinweg fauchte. Er sah verrostet aus, und an manchen Stellen waren Metallplatten eingefügt, die nicht verrostet oder von hellerer Farbe als die anderen Rumpfteile waren. Auf einmal öffnete sich eine Klappe an der Unterseite, Geröll fiel aus dem Bauch des Feuervogels. Kurz darauf prasselten unzählige Steine auf eines der Dächer. »Habt ihr das gesehen?«, brüllte ein kleinwüchsiger Mann namens Münges. »Er zerstört mein Dach! Orguudoo soll ihn holen!« Ein paar Steine schlugen zwischen den rennenden Menschen auf. Während ein Aufschrei durch die Menge ging und die meisten sich zu Boden warfen und ihre Arme über den Köpfen verschränkten, bückte sich Münges nach einem der Steine, hob ihn auf und schleuderte ihn gen Himmel. Doch der Feuervogel flog viel zu hoch und verschwand auch im nächsten
Augenblick wieder hinter den Dächern. Die Leute erhoben sich, rannten los und setzten ihren Weg zum Domplatz fort. Dort blieb die Menge stehen und äugte in den Himmel. Das Dröhnen näherte sich wieder, Tones sah den Feuervogel über dem Großen Fluss nach Sonnenuntergang abdrehen. Er zog einen kerzengeraden Nebelschweif hinter sich her, und etwas an seiner Rückseite glühte. »Er kommt zurück!«, schrie Juppis. Tatsächlich zog der Feuervogel nur eine weite Kurve und nahm anschließend wieder Kurs auf Fluss und Stadt. Als er den Dom erneut ansteuerte, flog er so tief, dass man meinte, er würde jeden Augenblick die Dächer streifen. Und schon wieder ging eine Klappe an seiner Unterseite auf – diesmal fiel ein ziemlich großer Felsbrocken heraus, stürzte auf das Dach eines Hauses und durchschlug es glatt. Ein Aufschrei ging durch die Menge, die Leute rannten auseinander, viele stolperten, und schon wieder war das röhrende Ungeheuer aus Eisen über ihnen. Diesmal sah Tones nicht, wie sich die Klappe öffnete, er hatte genug damit zu tun, seinen Weg und die Treppen und seine Beine im Auge zu behalten. Doch auf einmal klatschte es hinter ihm, als hätte jemand mit Wasser gefüllte Wisaaublasen vom Dom geworfen. Flüssigkeit spritzte ihm in den Nacken. Er warf sich zu Boden, drehte sich um. Der Feuervogel röhrte über die Stallungen hinweg, raste erneut über den Fluss und entfernte sich diesmal Richtung Mitternacht. Richtung Dysdoor, schoss es Tones durch den Kopf, Er rümpfte die Nase. Es stank fürchterlich. Auf dem Domplatz erhoben sich Männer, Frauen und Kinder; auch der alte Juppis war unter ihnen. Sie sahen an sich herab. Einige fingen an zu fluchen. Es stank nach Gülle und verfaultem Fisch! Tones konnte es nicht glauben, nur riechen konnte er es. Er rappelte sich auf. Während er zurück zum Dom stolperte, hielt
er sich die Nase zu. Pfützen brauner Brühe breiteten sich auf der Domplatte aus. Eine Frau wrang ihr Kleid aus. Zwischen den Pfützen lagen angeweste Fische, und Dreckklumpen jener Art, wie man sie normalerweise zusammen mit der braunen Brühe auf Äcker oder in bestimmte Gruben leert... * London, etwa zur gleichen Zeit Früher war alles still gewesen, wenn man durch die Ruinen Westminsters ging. Vor vier Jahren zum Beispiel, als er zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder nach London gekommen war – hatte er da etwas anderes gehört als das Heulen des Windes in den Ruinen und das Gezwitscher der Vögel in Birken und Gebüsch? Nein. Aber jetzt hörte man von allen Seiten Hammerschläge, Bohrmaschinen, Motorsägen, Rufe und das Quietschen von Stahlseilwinden. Schluss mit der Stille. Westminster wollten die Communities als ersten Stadtteil wieder aufbauen. Und bei den Houses of Parliament hatten sie angefangen. Ein Gerüst aus Kunstglas rankte sich statt Efeu um Big Ben. Gerüste überall, und Menschen – Technos ohne Schutzanzüge und Lords –, und überall Maschinen. Kräne, Sägen, Kompressoren für Presslufthämmer, kleine Gabelstapler. Zwei EWATs hatten die Londoner zu Kombiraupen umgebaut. Sie konnten für Erdarbeiten und zu Transportzwecken benutzt werden. Rulfan betrachtete die Baustellen, die er durch die Lücken in der Hallenmauer sehen konnte. Er staunte, wie schnell sich alles verändern konnte und wie schnell man sich daran gewöhnte! Der Lupa schnüffelte an einem Stromgenerator herum. Mit angelegten Ohren wich er zurück, als wenige Schritte entfernt ein Lord eine Kreissäge einschaltete. An Stapeln zugeschnittenen Holzes und Kunstglasträgern vorbei schlenderte Rulfan durch die Westminsterhall, als der T-
Rechner in der Brusttasche seiner Lederweste vibrierte. Hier, wo auch das Hauptschott in die unterirdische Bunkerstadt lag, waren die kleineren Anbauten schon fertiggestellt; sogar ihre Dächer waren gedeckt und ihre Fenster verglast. In der Haupthalle schickten die Technos sich eben an, die teilweise zerstörten Wände und den gewaltigen Dachstuhl neu hochzuziehen. Rulfan kramte den T-Rechner aus der Tasche – das Symbol der Zentral-Helix von Salisbury war auf dem kleinen Display: eine stilisierte Grafik von Stonehenge. Sein Vater versuchte ihn zu erreichen. Seit sie ein ISS-Funkrelais in die Mini-Computer einbauten, war dies auch bei der allgegenwärtigen CFStrahlung möglich. Rulfan setzte sich auf einen Bretterstapel und aktivierte den Hauptempfänger. Auf dem Display erschien das harte und ernste Gesicht eines Mannes, ein hellhäutiges Gesicht voller Furchen. Der Schädel war kahl. Sir Leonard Gabriel, Prime der Community Salisbury und Rulfans Vater. »Ich hab Neuigkeiten für dich, mein Sohn.« »Guten Tag, Vater. Lass hören.« »Seit Wochen durchforsten wir die Datenbanken der Zentral-Helix in London nach Hinweisen auf festländische Bunkeranlagen. Jetzt haben wir welche gefunden. Es kann als sicher gelten, dass es irgendwo am Rhein zwischen Koblenz und Köln einen alten Bunker der deutschen Regierung gibt. Eine riesige Anlage, Tunnelsysteme von fast fünfzehn Meilen Länge und Platz für mehrere tausend Menschen.« »Hinweise auf Überlebende?« »Nicht viele, aber die Zentral-Helix hat eine Wahrscheinlichkeit von dreiundachtzig Prozent errechnet, dafür, dass in diesem Bunker eine Kolonie überlebt hat. Eine Kolonie, die sich technisch und zivilisatorisch weiter entwickelt haben könnte.« »Interessant. Und jetzt?« Rulfan war sicher, dass sein Vater
ganz konkrete Absichten mit seinen Informationen verband. »Nun, wenn das zutrifft, ist diese Bunkerkolonie als Bastion gegen die Daa'muren unentbehrlich. Die Menschen dort brauchen Informationen, und vor allem brauchen sie das Serum. Sollten sie den Einschlag >Christopher-Floyds< und die finsteren Jahre danach wirklich in ihrem Tunnelsystem überlebt haben, dann müssen wir davon ausgehen, dass ihre Immunabwehr genauso desolat ist, wie unsere es war, bevor ihr uns das Weltrat-Serum gebracht habt. Um die Expansionspläne der Außerirdischen zu stoppen, brauchen wir gesunde und widerstandsfähige Menschen.« Der Krieg... manchmal vergaß Rulfan ihn einfach. Nirgendwo Schlachtenlärm, nirgendwo feindliche Panzer oder Schiffe, nirgendwo Flüchtlinge. Und dennoch hatte der Krieg längst begonnen. Auch wenn der Feind sich noch nicht zeigte. Nein, er konnte nicht kneifen, er durfte die Communities in dieser wichtigen Aufrüstungsphase nicht im Stich lassen. »Wir sollten jemanden über den Kanal schicken und nach dem Bunker suchen lassen«, fuhr Sir Leonard fort. »Ich habe dich vorgeschlagen, weil du dich in der Gegend bestens auskennst; ich hoffe, damit ist dir geholfen. Sie werden dich wahrscheinlich noch heute fragen.« Rulfan war so perplex, dass er vergaß sich zu verabschieden. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit einem legitimen Grund, von der Insel flüchten zu können. Er starrte auf das leere Display seines T-Rechners. Der Lupa stieß ihm die Schnauze gegen den Schenkel. Rulfan packte ihn an der Kehle. »Wir werden Coellen wiedersehen, alter Freund.« * Sie fragten ihn noch am gleichen Abend. Die Prime lud Rulfan zu einer Sitzung des Octaviats. Ein einziger Punkt stand auf der Tagesordnung: Fraglicher Bunker auf dem ehemaligen
Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, irgendwo am Rand der Eifel wahrscheinlich. Lady Warrington erklärte in etwa das Gleiche, was Rulfan schon von seinem Vater wusste, und kam danach sofort zur Sache: »Wir möchten Sie mit einem Beutel Serum und der Formel aufs Festland schicken, Rulfan von Salisbury, damit Sie den Bunker suchen und Kontakt mit den Einwohnern aufnehmen. Sind Sie bereit, diesen Auftrag anzunehmen?« Er dachte an Coellen und an Honnes und Juppis, die alten Kampfgefährten, und er sagte: »Ja«. Und fügte hinzu: »Ich denke, wir sollten uns zu zweit auf den Weg machen. Dave ist sicher bereit, mich zu begleiten.« »Professor McKenzie kann im Moment keinen Auftrag außerhalb Londons übernehmen«, entgegnete die Queen so rasch, als wäre sie auf diesen Wunsch vorbereitet gewesen. »Er wird hier gebraucht.« Das verhangene Lächeln in ihren Augen verriet Rulfan mehr als ihre glatten Worte. Sie hob bedauernd die Schultern. Bei Wudan, wie unschuldig sie blicken konnte! Kann keinen Auftrag übernehmen... Sie redete über die Verbündeten schon wie über Untergebene. »So weit uns bekannt ist, verfügen Sie über sehr gute Beziehungen in Coellen.« Wieder dieses nebelhafte Lächeln. Was steckte bloß hinter der Fassade dieser Frau? »Sicher wird man Ihnen dort helfen, den Bunker zu finden.« »Sicher doch«, sagte Rulfan. Mehr nicht. Zum ersten Mal empfand er Verachtung für sie. Als er nachts auf seinem Lager im SEF (Septisch Externes Foyer) lag, fragte er sich allerdings, ob seiner Verachtung möglicherweise uneingestandener Neid zugrunde lag. Und während er in einen unruhigen Schlaf hinüber dämmerte, sah er den greisen Druud in seinem weißen Gewand und mit dem langen weißen Haar sich über die Innereien des Mammutfrosches beugen. Lassen Ganzmond veagehen. Noch voa de next wiast du de woom deines Lebens begegne...
Am nächsten Morgen ging Rulfan zu dem alten Hangar, in dem er die Twilight Of The Gods untergestellt hatte, das Luftkissenboot, das er Professor Dr. Jacob Smythe einst abgenommen hatte. Er kletterte an Bord und machte eine Bestandsaufnahme aller Schäden, die ihm auffielen. Danach begann er mit den Reparaturarbeiten. * Chraaz, am 8. Tag des 2. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu Sämtliche Bewohner Mariaschnees drängten sich vor den Stufen zum Altarraum: zweiundsiebzig ministricis, knapp über hundert ministratos, dreiundvierzig greise Männer und Frauen, die zu alt waren für den Dienst an den Schwestern, und neunundsechzig Knaben und Mädchen unter zwölf Jahren. Sie hielten sich an den Händen, wiegten ihre Körper zum Trommelschlag, sangen die Verse der Vorsängerin nach. Die ministratos trugen gelbe und rote Festgewänder, und ihr Oberster und seine beiden Stellvertreter hatten ihre Gottbilder mitgebracht. Nach jeder Wiederholung eines Gesangverses, während die Vorsängerin schon den nächsten Vers anstimmte, stemmten sie die Statuen über ihre Köpfe und riefen: »Om!« Bis auf die Seitenaltäre und einige Statuen war das Haus des Sohnes leer. Niemand unter den Anwesenden war schon auf der Welt gewesen, als einer ihrer Vorfahren den Splitter der letzten Bank des Gestühls ins Herdfeuer geworfen hatte. Die meisten der vierundzwanzig Schwestern standen breitbeinig und im Halbkreis um den Heiligen Tisch herum. Die Klingen stützten sie zwischen ihre nackten Füße, und ihre gefalteten Hände ruhten auf den Knäufen. Die Trommlerin stand links des Altars neben der lebensgroßen Statue einer Frau, die ein nacktes Kind auf dem Arm hielt; die Vorsängerin an seiner rechten Seite neben einem ebenfalls lebensgroßen
Glatzen-Gottbild, der Statue eines schlitzäugigen dicken Mannes, der auf gekreuzten Beinen hockte. Maris hatte ihr Schwert auf den Heiligen Tisch gelegt, wandte ihm den Rücken zu und streckte die Arme zum Hochkreuz im Chorraum hinauf. Und vor dem Altar wartete Naryma mit dem schwarzen Schädel der letzten Äbtissin in den Händen. Die jeweils jüngste Schwester hatte das Los zu werfen. »Gloriamitaba...!« Die Vorsängerin hob ihre Stimme. »... bodisatwa sicutera svabhawikakay principio etnunc etsemper etinsaecula saeculorum etheruca! Heruca, heruca, amen et om et amen...« Während sie das Amen aushielt und ihre Stimme sich dabei in überirdische Höhen schraubte, schritt Naryma zum Heiligen Tisch, verschloss die untere Öffnung des schwarzen Schädels mit der flachen Hand, schüttelte ihn und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm über ihren Kopf. Kaum verstummte das Amen, warfen sich die vor den Stufen Versammelten auf die Knie, und Naryma knallte den Schädel auf den Heiligen Tisch. Danach hob sie ihn ein wenig an, sodass die Knöchelchen heraus- und auseinander fallen konnten. Vollkommene Stille trat ein. Maris ließ die Arme sinken, wandte sich um, betrachtete die vierundzwanzig Knöchelchen. Es waren Handknochen der letzten Äbtissin, ein Ende rot bemalt, das andere schwarz. Aufmerksam studierte Maris, wie sie lagen; vor allem wie viele rote Enden zum Hochkreuz zeigten. Viele Atemzüge lang blieb die neue mater in den Anblick des Loses versunken. Endlich hob sie ihr Schwert und schlug gegen den Heiligen Tisch. »Es war ein Höllenwagen lucifas und ein Vorbote Kristofluus zugleich!«, rief sie. »Das Reich des Höchsten Sohnes ist in Gefahr! Er selbst sendet uns aus, den bösen Boten zu vernichten. Entweder wir töten die Räuber der Heiligen Träne, oder Kristofluu wird das Gericht des
Höchsten erneut über uns hereinbrechen lassen. Gehen wir also. Amen.« * Coellen, im 2. Mond des 508. Winters nach Kristofluu Von Sonnenuntergang bis kurz nach Mitternacht traten die Zeugen im Haus des Kanzlers vor dem Kanzler und dem Bürgerrat auf. Vier Männer und dreiunddreißig Frauen. Alle berichteten sie von dem ungeheuerlichen Ereignis, und jeder tat es auf seine Weise; die Frauen sehr wortreich. Die Erscheinung des Feuervogels erregte die Coelleni außerordentlich, und erregte weibliche Coelleni sind schwer wieder zum Schweigen zu bringen, wenn sie sich einmal heiß geredet haben. So unterschiedlich die Zeugenaussagen bei oberflächlichem Hinhören klangen, der Kern, in dem sie übereinstimmten, ließ sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Ein Feuervogel hatte die Stadt dreimal überflogen und mit Geröll, einem Felsbrocken und schließlich Gülle mit verfaultem Fisch bombardiert. Und: Der Feuervogel erinnerte entfernt an das Gerät, mit dem Dave McKenzie anderthalb Winter zuvor auf dem Großen Fluss, und sehr stark an jenes, mit dem Maddrax vier Winter zuvor auf der Brücke gelandet war, die man in Coellen den »Schwebenden Pfad« nannte. Nun hatte jeder und jede berichtet, was er oder sie zu berichten hatte - manch eine noch ein wenig mehr –, und es war still geworden im Bürgersaal. Im Kamin prasselte das Feuer, manchmal hörte man Stiefelsohlen scharren und manchmal ein Rascheln, wenn einer der anwesenden Männer sich das Kinn unter dem Bart oder die Kopfhaut schabte. Etwa fünfunddreißig Augenpaare richteten sich auf die drei Männer, die neben dem Kamin saßen: auf den Kanzler, seinen Stellvertreter und auf Honnes, den Britanier. Niemand in Coellen genoss mehr Ansehen als diese drei.
»Was sind das für Zeiten?«, sagte der greise Kanzler mehr zu sich selbst als zum Bürgerrat. »Bald zweiundachtzig Winter habe ich erlebt und achtundsiebzig davon einen Feuervogel nicht einmal vom Hörensagen gekannt!« Jannes Attenau thronte in einem kunstvoll geschnitzten Lehnstuhl. Er war von hoher dünner Gestalt und in einen dunkelblauen Mantel gehüllt, den er fest um sich gezogen hatte, denn er fror meistens ein wenig. Altersflecken statt Haar bedeckten seinen schmalen Schädel. Der Patriarch hatte über Jahrzehnte den innerstädtischen Widerstand gegen die Tyrannei der Priesterschaft und der »Scheußlichen Drei« geleitet, während Honnes und Juppis den sogenannten »Streitern« angehörten, die das Terrorregime unter der Führung Rulfans von außen bekämpft hatten. »Und nun taucht in nur vier Wintern schon der dritte Feuervogel am Himmel über Coellen auf!« Jannes Attenau schüttelte den Kopf. »Was wollen die Götter uns damit sagen? Was steht uns bevor?« »Lassen wir doch die Götter aus dem Spiel, verehrter Jannes«, sagte Juppis, Vorsitzender des Bürgerrates und Stellvertreter des Kanzlers. »Es war einer der Eisenvögel, die wir mit Dave McKenzie auf der großen Lichtung am anderen Flussufer unter dem Schnee gefunden haben. >Flughafen< nannte der Mann aus der Vergangenheit diesen Ort, wenn ich mich recht entsinne.« Seine grauen Augen glitzerten hellwach. »Jeder weiß, dass Haynz von Dysdoor sich acht dieser Maschinen unter den Nagel gerissen hat. Sehen wir sie nicht jedes Mal, wenn wir auf dem Fluss an Dysdoor vorbei rudern?« Juppis war weit über siebzig Jahre alt, verstand aber noch immer seine Waffen zu führen. Er trug graue Hosenkleider, eine braune Wildlederjacke und darüber eine rote Wolldecke. Sein struppiger Bart bedeckte die obere Hälfte seiner Brust, und sein weißes Haar hing ihm zu einem dicken Zopf
geflochten tief in den Rücken. Wie viele der Anwesenden und wie auch Honnes hatte der Alte sein Leben in den Uferwäldern des Großen Flusses verbracht und von dort gegen die Tyrannen gekämpft. »An der Unterseite der Eisenvögel sah man rostige und geflickte Stellen«, fuhr er fort. »Das haben die meisten Zeugen berichtet. Es war eines von Haynz' Spielzeugen, glaubt mir. Ihm allein haben wir den Angriff zu verdanken. Die Frage ist nur, wie er das Ding zum Fliegen gebracht hat.« Wieder herrschte Schweigen. Alle Augen hingen nun an dem dritten Mann neben dem Kamin, an Honnes dem Britanier. Die Coelleni hatten ihm erst das Amt eines Kriegsrates, dann das eines Botschafters und schließlich einen Stuhl im Rat angeboten. Honnes hatte alles abgelehnt. Doch Jannes Attenau und Juppis wollten nicht auf seinen scharfen Verstand und seine Erfahrung verzichten. Darum überredeten sie Honnes immer wieder, an den BürgerratsSitzungen teilzunehmen, wenn wichtige Entscheidungen anstanden. Selten ergriff er dann von sich aus das Wort, und auch heute brach er sein Schweigen erst, als der Kanzler ihm auffordernd zunickte. »Juppis hat Recht«, sagte Honnes der Britanier. »Es war Haynz. Die Dysdoorer haben das Bündnis gebrochen.« Der kahlköpfige Mann hatte ein Gesicht, das wie zerknautschtes Leder aussah. Ein zernarbtes Gesicht außerdem, die Lippen auffallend wulstig. Er trug einen Anzug aus braunen Lederschuppen und darüber einen braunen Wollmantel. Sein Schwert stemmte er zwischen den Knien auf den Boden. Niemand außer Honnes durfte es wagen, in der Ratsversammlung eine Waffe zu tragen. Wie alle Versammelten war auch er in Coellen geboren und keineswegs in Britana; fast siebzig Winter war das her. Doch Honnes hatte die ferne Insel gesehen und auf ihr mehr, als das Herz eines Mannes zu fassen vermochte: Mächtige Freunde
Rulfans, die in unbegreiflichen Städten unter der Erde lebten; die unbegreiflichen Waffen und Wagen, über die sie geboten; eine junge Frau ohne ein einziges Haar auf dem Kopf, die sie als Königin über sich duldeten; blutgierige Krüppel aus dem kalten Norden, die auf Dampfschiffen über die Küsten herfielen, weder Kind noch Weib schonten und dennoch vergeblich versucht hatten, Honnes' Leib und Seele zu zerbrechen. In seltenen Stunden erzählte er von diesen Erlebnissen, und weil er all das und mehr gesehen und erlebt hatte, nannten sie ihn in Coellen den »Britanier«. »Räubern sie nicht seit vier Monden wieder in unseren Jagdgründen und Gewässern?«, fuhr Honnes fort. »Und plünderten ihre Kinder und Frauen nicht im Herbst einen unserer Obsthaine? Hat Haynz unsere Schadensersatzforderungen etwa beglichen? Oder hat er sich je für den Diebstahl entschuldigt? Nein, hat er nicht. Das Bündnis mit den Dysdoorern ist das Leder nicht mehr wert, auf dem es geschrieben steht.« »Was glaubst du, was der Hauptmann vorhat?«, fragte Münges, der dem Rat angehörte. »Gib einem Narren einen Stein, und er schmeißt ein Fenster ein«, sagte Honnes. »Gib ihm Feuer, und er zündet ein Haus an. Gib ihm einen Eisenvogel, und er wird Tod und Zerstörung über eine ganze Stadt bringen.« Die Ratsmitglieder tauschten betretene Blicke aus. Einige tuschelten, andere räusperten sich, viele scharrten unruhig mit den Füßen. »Du hast längst nachgedacht, Honnes«, sagte der Kanzler endlich. »Verrate uns, was du tun würdest.« »Du wolltest wissen, was uns bevorsteht, Jannes«, sagte Honnes. »Ich habe eben gesagt, was uns bevorsteht, und ich sage weiter: Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand. Lasst uns schon morgen eine Abordnung zu Haynz schicken, um zu protestieren und auf das Bündnis zu pochen.
Lasst uns aber gleichzeitig die besten Kundschafter nach Dysdoor schicken, während wir unsere Essen anfeuern und unsere Schmiede bis zum Ende des Mondes Tag und Nacht am Amboss stehen und Schwerter und Pfeilspitzen fertigen...« * Chraaz, am 8. Tag des 2. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu Kurz vor Sonnenuntergang führten die für die Stallung zuständigen ministratos sechsundzwanzig Frekkeuscher auf den Klosterhof, gesattelt und vollgepackt mit Proviant und Waffen. Alle Bewohner des Klosters und der Hütten vor seinen Mauern hatten sich im Hof versammelt. Es hatte aufgehört zu regnen. Zwölf Schwestern hatte die neue mater für die gefährliche Mission berufen, unter ihnen auch ihre Lieblingsschwester, die junge Naryma. Maris selbst würde die Zwölf in den Kampf führen. Wie auch der Höchste Sohn selbst einst seine zwölf apostoli in den Kampf geführt hatte. Jede der Schwestern nahm einen ministratos als persönlichen Diener mit sich. Maris befestigte das leichte Kreuz aus dem rechten Seitenschiff hinter ihrem Sattel. Sie hatten die Haut der mater daran aufgespannt. Danach schritt sie die Reihe der zwölf Schwestern ab. Lederharnische bedeckten deren Oberkörper, gehörnte Schildplatten ihre Schultern und Rücken. Jede trug ein Langschwert in der Rückenscheide und ein Kurzschwert am Hüftgurt. Die Beine hatten sie sich mit Lederriemen umwickelt, und wie alle Schwestern des Ordens Mariaschnee – und wie schon die Alten – trugen sie kein Schuhwerk. Wen der Höchste aussandte, hatte barfuß zu gehen. »In die Sättel!«, rief Maris. Die Schwestern und ihre ministratos kletterten auf die Frekkeuscher. Maris stellte sich
neben ihr Fluginsekt. »Bringt die Standarte herbei!«, wandte sie sich an die Versammelten. Zwei Schwestern trugen eine an einer Holzstange befestigte Tafel aus Flechtwerk herbei. Ein paar Schilder und Bruchteile waren an der Tafel befestigt. Schwarze Zeichen, die alljährlich zum Geburtsfest erneuert wurden, prangten auf den Schildern. Die Schwestern reichten die Standarte der blonden Naryma hinauf. Die pflanzte die Tafel vor sich im Sattel auf, sodass jeder die Zeichen sehen konnte. Nun trat die Vorsängerin vor Narymas Frekkeuscher. Nur wenige Schwestern des Ordens vermochten zu lesen oder gar alte Zeichen zu entziffern. Wer Vorsängerin werden wollte, musste diese Kunst erlernen, um die Texte der alten Schriften singen zu können. Die Vorsängerin hob an, die Heiligen Worte der Alten zu intonieren. »Karmelitenkloster«, sang sie, und die Menge wiederholte andächtig: »Karmelitenkloster.« Die Vorsängerin fixierte die Tafel mit den Zeichen. »MariaSchnee!«, sang sie, und »Maria-Schnee!«, antwortete die Menge. Was ein Kloster war, wusste jede und jeder, aber die meisten anderen Worte auf den Schildern verstand niemand; nicht einmal die Vorsängerin. Das war auch nicht nötig – heilige Worte mussten nicht verstanden werden, heilige Worte mussten wirkten. Und so sang die Vorsängerin jedes der Worte von der Heiligen Standarte, und die Menge wiederholte sie: Graz, Grabenstraße. Buddhistisches Zentrum She Drup Ling Graz. Gemeinnütziger Verein und Zur Förderung. Die Buchstaben der letzten beiden Heiligen Worte auf der Tafel waren teilweise zerstört und nur schwer zu entziffern, eigentlich überhaupt nicht. Doch viele Generationen von Vorsängerinnen hatten sie einander überliefert, sodass die Vorsängerin an jenem Abschiedsabend sie mehr oder weniger fehlerfrei singen konnte. Die Worte lauteten: Buddhistischer
Werte. Als die Sonne sank, ritt Maris an der Spitze von zwölf Schwestern und dreizehn ministratos aus dem Klosterhof. Ein Hautfetzen, der gestern noch ein Bein der mater umhüllt hatte, löste sich vom Kreuz hinter Maris Sattel und flatterte im Abendwind. Die Frekkeuscher schwirrten mit den Flügeln, erhoben sich und sprangen über die Buchenwipfel hinweg Richtung Sonnenuntergang. Alle Bewohner von Mariaschnee sahen ihnen hinterher. Bald schrumpfte die kleine Armee zu einem dunklen Fleck vor dem Abendrot zusammen, und der Fleck verschwamm schließlich mit den dämmergrauen Hängen des Eisgebirges und mit der Nacht. * Dysdoor, Anfang April 2520 Die Uferwälder des Großen Flusses glitten rechts und links vorbei. Es nieselte noch ein wenig, und die Luft außerhalb der Kommandobrücke war entsprechend feucht. Allerdings auch erstaunlich mild, viel milder als auf der britischen Insel. Hin und wieder sah Rulfan Fischer und Jäger von Anlegestellen in den Wald flüchten, manchmal auch halbnackte Menschen unter den Vordächern ihrer Hütten oder an den Eingängen ihrer Zelte, die sich zu Boden warfen oder Zuflucht im Unterholz suchten, sobald sie das Luftkissenboot sahen. Nur wenige - meist Kinder – standen still, um das für sie fremdartige Gefährt genau zu beobachten. Einzelne wagten sich sogar bis ins Uferwasser, damit sie ja nichts versäumten. Die seltenen und durchweg winzigen Siedlungen standen ufernah auf Rodungen, die jene postapokalyptischen Barbaren dem Urwald und den Ruinen abgetrotzt hatten. Hin und wieder entdeckte der Albino Fabrikruinen –
schwarzen Saurierskeletten gleich ragten sie aus dem Flusswald –, und zwei oder drei Mal glitten gekenterte und kieloben aus dem Wasser ragende Rostkähne vorbei, an deren Rümpfen sich Treibgut aus fünf Jahrhunderten gesammelt hatte. Länger als vier Wochen hatten die Vorbereitungen der Reise in Anspruch genommen: Studium der alten Karten und Datenbanken, Auswahl und Beschaffung von Material und Proviant, und vor allem die Generalüberholung der Twilight Of The Gods. Seit Rulfan Smythes Boot übernommen hatte, seit drei Jahren also, hatte es über zehntausend Seemeilen zurückgelegt, ohne je gewartet worden zu sein. Der Abschied von London war Rulfan schwer gefallen, und das hatte ihn überrascht. Mindestens so schwer wie der Abschied von Coellen dreieinhalb Jahre zuvor. Nicht einfach, seine Wurzeln an zwei so weit voneinander entfernten Orten zu wissen und zu spüren. Wo gehöre ich eigentlich hin? Es hatte geregnet, und eine Delegation der Communities war am Themseufer erschienen. Lady Josephine, die Prime von London, Valery Heath, Octavian für Außenbeziehungen, und natürlich Sir Leonard Gabriel, der Prime von Salisbury und Rulfans Vater. Auch Dave McKenzie war gekommen, um ihn zum Abschied zu umarmen. Das rechnete der Albino seinem Kampfgefährten hoch an. Der Astrophysiker gab Rulfan einen Koffer aus Kunstleder. »Ein medizinischer Notfallkoffer«, sagte er. »Mit schönem Gruß von Queen Victoria II.« Die Heath ließ eine Kiste mit nagelneuen Bauwerkzeugen und zwei Ruderboote aus Leichtmetall an Bord schaffen – ein Geschenk der Community an die Kölner. Josephine Warrington überreichte Rulfan das Serum persönlich – »nur wenn die Deutschen sich seiner würdig erweisen!«, musste sie zum hundertsten Mal betonen. Und sein
Vater küsste ihn – das war schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen – und umarmte ihn so heftig, als wolle er ihn gar nicht mehr loslassen. Während der Abschiedszeremonie tauchte sogar noch Grandlord Paacival mit zwei Biglords am Ufer der Themse auf und überreichte Rulfan zwei gebratene und gepökelte Swaane als Wegzehrung. Zehn Tage war das nun her, und immer wenn Rulfan daran zurückdachte, wurde ihm ganz wehmütig. Wie einen, der nie wieder zurückkehren sollte, hatten sie ihn verabschiedet. Ja, so empfand er es. Er ahnte ja nicht, wie nahe er damit der Wahrheit kam. Und vielleicht war es gut so, dass er es nicht ahnte... Rulfan blickte auf die Armaturen: Der Radar zeigte mehrere kleine Objekte in knapp zwei Meilen Entfernung an, die Infrarot-Ortung meldete zunehmende Konzentration von Wärmequellen am rechten Ufer in etwa der gleichen Entfernung. Schiffe flussaufwärts und eine größere Siedlung näherten sich. Die Ruinen Düsseldorfs; oder Dysdoor, wie ihre Bewohner sie heute nannten. Knapp zwei Stunden noch bis nach Coellen. Die Wasserstoffmotoren summten unter ihm im Rumpf. Rulfan spürte es mehr, als dass er es hörte, denn vom Heck her dröhnten die beiden Luftpropeller. Die Twilight Of The Gods bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von 46 Kilometer pro Stunde nach Süden. Bald konnte Rulfan die Flöße – es waren drei - und die Umrisse der großen Ufersiedlung mit bloßem Auge erkennen. Er wandte sich um und blickte über die Sessellehne des Kommandantensitzes hinweg zur rückwärtigen Fensterfront hinaus: Auf dem Oberdeck lag Wulf und beschäftigte sich mit dem zweiten der beiden Swaane. Rulfan hatte es nicht über sich gebracht, das Gastgeschenk selbst zu verspeisen. Sicher – er hatte unter Barbaren und mit ihren Ernährungsgewohnheiten
gelebt, aber die Art und Weise, wie die britanischen Lords schlachteten, brieten und aßen, war ihm doch eine Spur zu barbarisch. Wer wusste denn, ob sie das Fleisch nicht in einem Kessel eingesalzen hatten, in den vielleicht nur einen Tag zuvor Blut aus einer menschlichen Halsschlagader geflossen war? Während die Pfahlbauten und Steinhäuser am Ufer und die Flöße auf dem Rhein größer und größer wurden, dachte der Albino an jenen Tag zurück, an dem er das Luftkissenboot zum ersten Mal betreten hatte. Es war der Tag, an dem er Aruula vor dem wahnsinnigen Jacob Smythe rettete, dem Professor aus der Vergangenheit. Damals, in Plymouth, waren sie in Smythes Helikopter von der Twilight Of The Gods an die Südküste des ehemaligen Schweden geflohen; zu den Dreizehn Inseln, der Heimat Aruulas. Drei Jahre war das her, doch so farbig, so intensiv glühten die Bilder jener Zeit in seiner Erinnerung, dass es schmerzte: die Frauen aus Aruulas Volk, die blutrünstigen Nordmänner, der Kampf gegen den Izeekepir, die Eroberung der Twilight Of The Gods schließlich, danach die Reise über den Atlantik. Und dann die Nacht auf Island. Jene eine Nacht, in der sein Leben an den Wendepunkt gelangte; die Nacht im Gemeinschaftsiglu der Isländer, die Nacht, in der er Aruula besaß, zum ersten und zum letzten Mal besessen hatte. Wulfs Gebell riss Rulfan in die Gegenwart zurück. Deutlich konnte er jetzt die Menschen auf den Flößen erkennen. Vorwiegend gelb gewandete Gestalten mit rußgeschwärzten Gesichtern. Nein, halt – eines war rot. Dysdoorer also. Führten sie schon wieder Krieg? Rulfan atmete tief durch, verscheuchte die Wehmut. Der kleine rundliche Mann in Grün mit rot geschminktem Gesicht auf dem ersten Floß, das konnte nur einer sein: Haynz, der Hauptmann von Dysdoor. Wahrhaftig – in dieser Gegend der
Welt gab es angenehmere Männer als Haynz. Und dennoch wurde es Rulfan warm ums Herz, als er den kleine Dicken erkannte. Haynz ließ keine Seele an Dysdoor vorbeifahren, ohne sie zu schröpfen - oder sie zu grüßen, falls sie in der Überzahl und besser bewaffnet war als seine Bande. Trotzdem erstaunte Rulfan die Dreistigkeit, mit der die Dysdoorer ihre Flöße so dicht an die Twilight Of The Gods heran steuerten. Ausgeschlossen, dass Haynz je zuvor so ein Fahrzeug gesehen hatte. Warum flößte es ihm keine Angst oder wenigstens Respekt ein? Zwei-, höchstens dreihundert Meter waren die Flöße noch entfernt, die Siedlung nur unwesentlich weiter. In Ufernähe standen viele Hütten auf Pfählen, dahinter fast ausschließlich lange Flachbauten aus Holz. Nur wenige Steingebäude waren zu erkennen. Wie vertraut war Rulfan die Landungsstelle vor dem langgezogenen Gebäudekomplex! Wie vertraut ihr Zentrum, das aus einem klobigen zweistöckigen Steinhaus bestand. Und wie vertraut sogar der knapp dreißig Meter hohe Turm auf dem Haus mit der grünschwarzen Flagge auf seiner Spitze. »Palast« hieß dieser Komplex nach der Dysdoorer Sprachregelung. Mit dem Flugzeug auf dem vielleicht acht Meter hohen Holzgerüst direkt vor dem zentralen Steingebäude begann das weniger Vertraute: Nicht mehr der stahlblaue Eisenvogel thronte dort, mit dem Maddrax und Aruula einst in Coellen gelandet waren, sondern eine uralte Spitfire, angerostet und hundertfach geflickt. Nun gut, von der Spitfire und ihrer Geschichte hatte Dave McKenzie ihm ausführlich erzählt; doch die sechs anderen Jets auf sechs weiteren Gerüsten rund um die Hauptmanns-Residenz waren Rulfan neu. Wo um alles in der Welt hatte das Fässchen diese Maschinen her? Zwei der Flöße gingen jetzt auf Konfrontationskurs, und Rulfan blieb gar nichts anderes übrig, als Hubgebläse und
Turbinen abzuschalten, wollte er sie nicht rammen. Seine Finger flogen über die Instrumentenkonsole. Das Geheul der Turbinen ebbte ab und verstummte, das Schiff senkte sich auf die Wasseroberfläche, die Wasserstoffmotoren summten im Leerlauf. Die Leute des Hauptmanns manövrierten das erste Floß backbord an die Twilight Of The Gods heran. Ein Feldstecher baumelte um Haynz' Hals. Rulfan begriff: Durch das Gerät hatte der Hauptmann ihn erkannt. Daher also die Furchtlosigkeit, mit der er sich dem fremdartigen Schiff genähert hatte! Der Lupa stand schon an der Dachreling und bellte zu den Dysdoorern hinunter. Rulfan verließ die Kommandobrücke. Ein Pfiff durch die Zähne, und Wulf kehrte knurrend zu den Resten seines Mittagessens zurück. »Hauptmann Haynz grüßt dich, Rulfan von Coellen!«, rief der Dicke. »Oder muss ich jetzt sagen: Rulfan von Britana? Kommst ja doch zurück! Schönes Bootchen haste da, bei Wudan, ein schönes Bootchen, sag ich!« »Sei gegrüßt Hauptmann Haynz! Ja, ich kehre zurück.« Es war wie ein Déjà-vu-Erlebnis, und schlagartig fiel Rulfan ein, wie er mehr als drei Jahre zuvor in seinem kleinen Dampfer an Dysdoor vorbei getuckert und Haynz mit einigen Streitern auf den Fluss hinaus gerudert war, um ihn zu verabschieden. Man weiß nie, ob man zurückkommt, hatte Rulfan damals gesagt. Honnes war zurückgekehrt, und nun kehrte er selbst zurück. Alle anderen, die damals mit ihm aufgebrochen waren, um den Kristall nach London zu bringen, waren im Kanonenfeuer der verfluchten Nordmänner gestorben. »Schönes Bootchen«, wiederholte Haynz. »Kann sogar fliegen, hab's genau gesehen, ho, ho!« Er strich mit der Rechten über die Bordwand. »Kann es auch schießen?« »Es fliegt nicht, es schwebt nur auf einem Luftpolster.« »Und schießen?« In den schmalen Augen des Hauptmanns
funkelte es. Rulfan schüttelte den Kopf. »Was willste dafür, Rulfan von Britana und Coellen? Sag dem guten Haynz einen Preis.« »Das Schiff ist unverkäuflich«, entgegnete Rulfan knapp. »Und jetzt muss ich weiter.« Er drehte sich um und machte Anstalten, die Kommandobrücke zu betreten. »Warte, geehrter Rulfan, nicht so hurtig!«, rief Haynz. »Hat er meine schöne Sammlung von Feuervögeln gesehen? Neun habe ich jetzt, neun Feuervögel, sag ich! Und alle gehören dem guten Hauptmann Haynz von Dysdoor! Jetzt du!« Rulfan drehte sich um, beugte sich wieder über die Reling. Er hatte nur sieben Flugzeuge gezählt. »Nicht schlecht«, sagte er. »Schade, dass man sie nicht mehr zum Fliegen bringen kann, was?« »Oh, oh, geehrter Rulfan! Er weiß ja nicht, was er da redet, überhaupt nicht weiß er das!« Rulfan musste schmunzeln. Der kleine Hauptmann sprach ihn in der dritten Person an; eine neue Nuance in der ohnehin geschraubten Ausdrucksweise des wunderlichen Fässchens. »Ich schenke dir eins«, krähte Haynz. »Ich schenke ihm einen Feuervogel, der fliegen kann, jawoll!« Der Hauptmann stemmte seine Fäustchen in die fetten Hüften. »Und er schenkt mir dafür sein Bootchen!« Triumphierend blinzelte er zu Rulfan hinauf. Der schüttelte den Kopf. »Ich brauche ein Wasserfahrzeug, keinen Flieger.« Rulfan winkte und griff nach der Klinke der Tür zur Kommandobrücke. »Zwei!«, rief Haynz. »Zwei fliegende Feuervögel gegen ein klitzekleines Bootchen, das nur ein bisschen schweben kann...!« Der Lupa erhob sich von den Resten seines Swaans, schüttelte sein weißes Fell, lief zur Dachreling und knurrte hinunter zu den Dysdoorern. Rulfan grinste und stieß die Tür auf.
»Was ist, Rulfan von Coellen und Britana. Zwei Eisenvögel! Was ist?! So einen Tausch wird er niemals...« Eine Explosion im Uferwald riss Haynz die Worte von den Lippen. Rulfan war mit einem Satz zurück an der Reling, blickte hinüber zum Dysdoorer Ufer. Eine dunkle Rauchwolke stieg aus dem Wald hinter der Pfahlsiedlung und den wenigen Steinhäusern der Dysdoorer. »Was war das?!« »Was das war?« Haynz zuckte mit den Schultern und rieb sich gleichzeitig die Hände, als wären sie schmutzig. »Weiß ich's? Ein Gewitter wohl. Natürlich, doch, ein kleines Gewitterchen war das!« Wieder ertönte eine Detonation am Rande der Ufersiedlung. Menschen schrien und eine zweite Rauchsäule stieg zwischen den Baumwipfeln auf. »Noch ein Gewitter, ts, ts...« Haynz lächelte gequält. Mit einem Wink bedeutete er seinen Kriegern, das Floß Richtung Ufer zu steuern. »Hauptmann Haynz wünscht gute Fahrt!« Aus schmalen Augen spähte Rulfan über die Dächer der Ufersiedlung. Schon wieder eine Explosion! Sprengstoff in unmittelbarer Nähe der Dysdoorer Behausungen? Und Haynz faselte etwas von Gewittern? Hier war was faul im Staate Doyzland! Rulfan stürzte an die Instrumentenkonsole, warf Turbinen, Gebläse und Motor an und riss seine Laserpistole vom Wandhaken... * Darauf waren sie nicht vorbereitet gewesen. Auf Dysdoorer in Kriegsbemalung, ja. Auf Dysdoorer, die sich prügeln wollten, auch. Sogar auf einen mysteriösen Verbündeten der Hohlköpfe um den Oberhohlkopf Haynz. Aber nicht auf prall gefüllte Fischblasen mit glühenden und zischenden Schwänzchen, auf Fischblasen, die es plötzlich
zerriss und die dann Blitz und Donner erzeugten! Dazu unbegreifliche Kräfte, die einem Schwert und Axt aus den Fäusten schlugen, die einen von den Füßen rissen und drei oder vier Schritte weiter ins Unterholz schleuderten. Nein, darauf waren Juppis und Honnes und ihre Streiter nicht vorbereitet gewesen. »Rückzug!«, brüllte Honnes. Drei seiner Streiter lagen am Waldrand vor der Dysdoorer Siedlung und rührten sich nicht mehr. Die unbegreifliche Kraft hatte sie gegen Bäume geschmettert oder in die Spieße ihrer Gefährten. »Rückzug!« Keinen weiteren Streiter wollte Honnes dem Ungeheuerlichen aussetzen. Doch schon wieder flog eine gefüllte Fischblase, diesmal in eine Gruppe von Armbrustschützen. Ein Lichtblitz, ein Donnerschlag, und dann wirbelte ein junger Coelleni durch die Luft, schlug im Wurzelwerk einer Eiche auf und blieb reglos liegen. Dort, wo die Fischblase wie Blitz und Donner eingeschlagen war, brannte das Gestrüpp. In panischer Flucht rannte die kleine Streitmacht aus Coellen in den Wald. Die schweren Äxte, mit denen sie die Gerüste hatten fällen wollen, auf denen Haynz' Feuervögel standen, ließen sie einfach fallen. Plötzlich entdeckte Honnes Dysdoorer mit schwarzen Gesichtern im Geäst der Waldbäume. Sie schleuderten seiner Truppe mit Blitz und Donner gefüllte Fischblasen entgegen. Wieder erzitterten Erde und Luft von gewaltigem Krachen, Blitze zuckten, Flammen loderten, Rauch stieg auf. »Zum Fluss!«, brüllte Honnes. Der alte Juppis übernahm die Führung des Rückzugs, stürmte an der Spitze seiner Streiter dem Ufer entgegen. Er lief auf die Pfahlhütten am äußersten Rand der Siedlung zu. Mit was auch immer die Dysdoorer da um sich warfen – es zwischen ihre eigenen vier Wände zu schleudern würden sie nicht wagen.
Honnes begriff den Plan seines alten Kampfgenossen sofort. Er blieb stehen und winkte die zumeist viel jüngeren Streiter an sich vorbei. Einige schleppten Verwundete mit sich. »Zu den Hütten am Ufer!«, schrie er. »Hinter Juppis her! Erobert ein Haus, bildet dort einen Verteidigungsring!« Wie es allerdings danach weitergehen sollte, wusste er nicht. Aber eins nach dem anderen. Vielleicht konnte man Geiseln nehmen, vielleicht die Dysdoorer zu Verhandlungen bewegen. Schon wieder flog eine der verdammten Fischblasen aus den Bäumen des Waldrands. In hohem Bogen trudelte sie durch die Luft und prallte knapp zwanzig Schritte hinter den letzten beiden Coelleni in einen Kohlacker. Honnes erkannte das Ratsmitglied Münges und Tones, den Oberst der Stadtwache. »Zu Boden!«, brüllte er, während er sich fallen ließ. Kaum bohrte er die Stirn in den feuchten Dreck, da ertönte auch schon der nächste Donnerschlag und ein Lichtblitz blendete seine Augen trotz geschlossener Lider. Fast gleichzeitig erhob sich das Triumphgeheul der Dysdoorer aus den Baumkronen und von der Pfahldorfsiedlung her. Bei allen Göttern – welch schreckliche Waffe hatte Orguudoo diesen Wakudahirnen aus seiner finsteren Tiefe heraus in die Hände gegeben? Der Donner, die Feuerblitze, die stoßartige Kraft – all das erinnerte Honnes an die Kanonen der verfluchten Nordmänner. Seine besten Streiter hatten sie einst in den Tod gerissen, und jetzt... Er sprang auf. Wut, Schrecken und Schmerz trieben ihm die Tränen in die Augen. Wie durch einen Schleier hindurch sah er Tones und Münges auf sich zu wanken. Der Kleinere stützte den verwundeten Stadtwachenoberst. Sie leben, Wudan sei Dank! Honnes stolperte den beiden entgegen, packte Tones am Arm, fasste ihn unter der Achsel. Der kräftige Mann blutete aus einer Kopfwunde, sein Lederpanzer war über der Hüfte aufgerissen. »Zur Pfahlsiedlung«, krächzte Honnes.
Zu seinem Entsetzen musste er sehen, dass eine Schar von etwa zwanzig Dysdoorern Juppis und seiner Truppe den Weg zu den Hütten und ans Ufer versperrte. Sie drohten mit Speeren und schwangen Äxte über ihren schwarz angemalten Kahlschädeln. Ihren untersetzten, stämmigen Anführer erkannte Honnes sofort: Gleemenz, der schieläugige Bruder des Dysdoorer Hauptmanns! Honnes und Münges blieben stehen, hielten den torkelnden Tones fest, so gut sie konnten. Das Triumphgeheul hinten im Wald verstummte, und Honnes ahnte, was das bedeutete. Münges wollte es genau wissen und blickte über die Schulter zurück. »Runter! Sie schleudern gleich das nächste Feuer!« Schon lagen sie wieder im Dreck. Doch statt Donner und Blitz erfüllte auf einmal ein anderes Geräusch die Luft: ein Rauschen wie von starkem Sturm. Honnes hielt den Atem an und starrte zur Pfahlsiedlung. Die Dysdoorer und die Coelleni dort standen wie festgewachsen, stierten ebenfalls zum Flussufer. Ein gewaltiges Schiff schwamm mit hoher Geschwindigkeit aus der Flussmitte der Anlegestelle entgegen. Nein, es schwamm nicht, es schwebte! Und es schwebte mit gewaltigem Lärm vom Ufer aus auf den Strand neben der Anlegestelle und weiter an den Hütten vorbei, dem Waldrand und den Kämpfern entgegen. Schwarz war die wulstige Unterseite des Schiffes, rostrot sein Mittelteil und stahlblau seine Aufbauten. Es hielt an, sackte auf den Boden, der Lärm ebbte ab. Ein Mann erschien am Bug neben schrägstehenden Fenstern, und ein feiner Lichtstrahl löste sich aus einer Waffe in seinen Händen. Der Strahl zischte über die Dysdoorer, über Juppis und seine Coelleni und über Honnes, Münges und Tones hinweg. Am Waldrand schlug er in die Baumkronen ein. Blitz und Donner erhoben sich, als drei oder vier Schweinsblasen in den Händen von Dysdoorern in den Baumkronen platzten. Im jähen
Feuerschein sah Honnes Äste, gelbe Stofffetzen und Menschen durch die Luft wirbeln. Er sprang auf. »Zum Schiff! Es ist Rulfan!« Die meisten Dysdoorer um Gleemenz lagen von Entsetzen gelähmt am Boden. Auch Juppis und die anderen standen oder knieten starr vor Schreck. Doch der Name, den Honnes heraus brüllte, löste ihre Starre. »Es ist Rulfan!«, klang es nun aus vielen Kehlen. Die Coelleni rannten dem fremdartigen Schiff entgegen. Die Dysdoorer flohen in ihre Siedlung. Honnes und Münges schleppten den Verletzten zum Flussufer. Jetzt ließ Honnes seinen Empfindungen freien Lauf. Es war Rulfan! Sein Kommandant aus Rebellenzeiten war zurückgekehrt! Der beste Freund, den er auf der Welt hatte! Er schrie, stieß die geballte Faust in die Luft, stampfte mit dem Fuß auf. Wenig später streckten sich ihm Männerarme von Bord des Schwebeschiffes entgegen. Honnes und Münges stemmten den verletzten Tones nach oben. Und hinter den auf den Schiffsplanken liegenden und knienden Streitern stand er: groß, in einen langen Mantel aus dunkelbraunem Wakudaleder gehüllt, mit einer klobigen kurzen Laserpistole in den Händen. Sein langes, fast weißes Haar flatterte im Wind, und die roten Augen in seinem bleichen Gesicht musterten lauernd den Waldrand und die äußeren Hütten der feindlichen Siedlung. Dann begegneten sich ihre Blicke für einen Moment, und für einen Moment lächelten beide. * Virruna, am 14. Tag des 3. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu Dunstschwaden hingen über dem kleinen See. An seinen Ufern bog sich hohes Schilf in der Abendbrise. Die Leute waren in Lumpen und nur notdürftig bearbeitete Felle
gekleidet. Sie sahen aus wie Flüchtlinge und machten einen kranken und schlecht ernährten Eindruck. Viele kauerten auf einem Geröllhaufen, der sich zwischen Wald und See erhob. Andere umstanden die FrekkeuscherHerde der Fremden, bestaunten die Reitinsekten und die kahlköpfigen ministratos. Drei der Eingeborenen hatten sich mit Geschenken – Pökelfleisch und Trockenobst – in die Nähe Maris' und einiger Schwestern locken lassen, und nun versuchten Naryma und Schinee sich mit ihnen zu verständigen. Beide Schwestern waren sehr sprachbegabt und genossen seit Jahren eine Ausbildung als Vorsängerinnen. »Der Höllenwagen hielt da.« Schinee deutete auf eine Stelle am Ufer, an der das Gras aufgewühlt und das Schilf auf der Fläche eines Kartoffelackers niedergewalzt war. Verrostete Metallteile lagen dort herum. Auch ein sesselartiges Gebilde aus lauter Spiralen erkannte Maris, und ein Rad an einer langen Stange. »Das wissen wir bereits.« Maris winkte ab. Die Furchen, die der Wagen lucifas zog, hatten sie bis zu dieser Stelle geführt. Ihr folgend, waren sie viele Tage am Fuß des Eisgebirges entlang geritten. Die Frekkeuscher waren ausgeruht und standen gut im Futter, so hatten sie nach einem halben Mond das Südland zwischen dem Großen Strom und dem Eisgebirge erreicht. Und noch einmal einen halben Mond danach die Ruinen der Stadt, die jene Lumpengestalten »Virruna« nannten und die früher einmal »Verona« geheißen hatte. »Versucht herauszufinden, wann das gewesen ist«, befahl Maris. Naryma und Schinee palaverten weiter mit den abgerissenen Gestalten. Es waren zwei Männer und eine alte Frau. Die Alte trug einen Bogen auf dem Rücken, den Männern steckten kleine Beile in den Hüftgurten; abgegriffene und vielfach ausgebesserte Waffen mit stumpfen Klingen. »Vor drei Tagen«, übersetzte Naryma ihre Antworten. »Sie hatten sie
zunächst für eine Rasse gehalten, die sie Wulfanen nennen.« »Wulfanen?« Maris hatte nie von Wesen dieses Namens gehört. »Hundartige Menschen ohne Erbarmen und Tugend«, übersetzte Schinee den plötzlichen Redeschwall der Alten. »Sie gehen aufrecht, sind stark behaart und haben diese Leute hier gejagt, gegessen und fast ausgerottet. Nun aber werden die Hundartigen seit vielen Monden von schwarzen Riesenspinnen verfolgt. Die meisten sind umgekommen, einige Sippen konnten fliehen, manche haben sich auch in kleinen Gruppen zwischen den Ruinen der Todesstädte verschanzt.« Maris schlug sich die geballte Rechte gegen Stirn, Brust und Schultern. »Der Höchste Sohn sei uns gnädig!« Misstrauisch beäugte sie den Waldrand. »Hundartige und Riesenspinnen...«, stöhnte sie. Der Trümmerhaufen, auf dem die Zerlumpten hockten, erinnerte sie plötzlich an ein Grabmal, die zertretene Grasfläche zwischen Ufer und Wald an ein Schlachtfeld, und auf einem der Blechteile im seichten Schilfwasser glaubte sie ein Kreuz zu erkennen. Nein, das hier schien ihr kein Land zu sein, in dem man sich länger als unbedingt nötig aufhalten sollte. »Was ist mit lucifas Höllenwagen? Fragt sie danach!« Die beiden Schwestern und die drei zerlumpten Gestalten gestikulierten, palaverten, deuteten hierhin und dorthin. Nach und nach erfuhren Maris und die Schwestern Genaueres über den Höllenwagen und was sich nach seiner Ankunft am See abgespielt hatte. Wie eine mit feinem schwarzen Pelz überzogene Raupe habe der Wagen ausgesehen und sich auf gigantischen Ketten fortbewegt. So lang wie der vierte Teil eines Speerwurfs sei er gewesen und gut zwei Speerlängen hoch und breit. Aus drei gegeneinander beweglichen Gliedern habe er bestanden und vorne, an den Seiten, ein Zeichen getragen: zwei gelbe Werkzeuge auf rotem Grund.
Sieben in dunkle, ungeteilte Anzüge gehüllte Menschen seien ausgestiegen, einer sei sogar in goldfarbenen Stoff gehüllt gewesen. Groß wären sie gewesen und ziemlich bleich. Eine Frau habe sie angeführt, und vier von ihnen hätten sich ausgezogen und wären in den See getaucht. Die Frau habe befohlen, dicke Seile im Wasser zu versenken, und Stunden später habe die böse Horde zuerst Blech- und Eisenteile und danach zwei große Kristalle aus dem Wasser gezogen. Wie riesige Tannenzapfen hätten die ausgesehen, und ihr Leuchten habe den See mit grünem Licht getränkt... »Tränen des Höchsten!«, entfuhr es Maris. Dieser Teil des Berichtes verwirrte sie. Gab es also auch an anderen Orten der Welt die göttlichen Kristalle? Das hätte sie nie für möglich gehalten. Den Überlieferungen der Vorfahren nach hatte der Höchste Sohn die Träne einzig und allein den Schwestern des Ordens von Mariaschnee als Lebenspfand geschenkt. »Sind sie ganz sicher?« Naryma und Schinee übersetzten die Frage so gut sie konnten, und die drei Eingeborenen waren sich ganz sicher. Die Lumpengestalten bemerkten Maris' Erregung und wollten wissen, was es mit den Kristallen auf sich hatte. »Es sind Tränen Gottes«, sagte Maris. »Er hat sie vergossen, als er Kristofluu zum ersten Mal auf die Welt warf. So lange wir sie besitzen, verehren und pflegen, wird der Höchste die Welt nicht noch einmal vernichten. Erklärt ihnen das.« Während Naryma und Schinee sich an der Übersetzung versuchten, dachte Maris über das nach, was sie gehört hatte. Wahrscheinlich gab es nur sehr wenige Tränen des Höchsten. Und wenn lucifas Höllenwagen diese wenigen in seine Gewalt brachte, wenn er das Pfand des Höchsten Sohnes raubte – dann gab es nichts mehr, das Kristofluu noch davon abhalten konnte, die Erde ein zweites Mal zu verheeren. Harsch unterbrach sie das Palaver der Schwestern und der Eingeborenen. »Wann ist der schwarze Wagen weiter
gefahren?« »Gestern«, übersetzte Naryma. »Gestern vor Sonnenaufgang. Er brach nach Mitternacht auf, rollte dem Eisgebirge entgegen.« Maris umklammerte den Knauf ihres Kurzschwertes so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »In die Sättel!«, rief sie. »Wir ziehen weiter!« * Dysdoor, Anfang April 2520 Schummriges Licht erfüllte die Halle. Zu dunkel, um rechts oder links Wände erkennen zu können, geschweige denn das Tor. Irgendwo dort vorn Richtung Steigrohr lag es; gut vier Speerwürfe weit hatte Haynz laufen müssen, bis er vom Eingang der DB-Ruine zu seinem Saab 40 Viggen gelangt war. »Steigrohr...«, flüsterte Haynz andächtig. Er saß im Cockpit und sah sich um. »Tragfläche, Triebwerk, Seitenruder, Cockpit...« ER hatte ihm die Namen aller Einzelteile des Feuervogels beigebracht. Sobald er sie auswendig sagen und ihre Bedeutung beschreiben konnte, würde er mitfliegen dürfen. Vielleicht schon heute. »Steuersäule.« Haynz umfasste den Griff der Stange zwischen seinen Beinen. »Hebel zum Haubenöffnen, Haubenschalttafel, Klappenanzeiger...« Irgendwo rechts schrie eine Frau. Was heißt schrie – es klang mehr nach Jubeln, oder wie lustvolles Gelächter. Undeutlich sah man dort die Konturen SEINES Kuppelzeltes. Nach dem Feuervogel-Angriff auf Coellen hatte ER es ins Innere der DB-Ruine verlegen lassen. Solange man sich im Kriegszustand befände, sei das sicherer, hatte ER gesagt. Kriegszustand – schönes Wort eigentlich. Fast so schön wie Feuerwarntafel. Ein warmer Schauer rieselte Haynz über den Rücken. »Feuerwarntafel«, murmelte er andächtig.
»Fahrwerkhebel, Steiganzeige, Sinkanzeige...« Sein fleischiger Zeigefinger wanderte über die Instrumentenkonsole. »Steigschalter, Sinkschalter...« Er unterbrach sich und lauschte. Jetzt hörte er SEINE dunkle Stimme aufstöhnen; und die Frau lachte, ja, jetzt lachte sie wirklich. Also lebte sie noch. »Radardisplay, Geschwindigkeitsmesser...« Es war die Frau, die sie IHM an jenem Abend vor fast einem Mond zusammen mit einem Fass Coelsch gebracht hatten. Sie hieß Hille. Eine Zeitlang war sie Krautz' Lieblingsfrau gewesen. Jetzt schien sie SEINE Lieblingsfrau zu sein, denn nach jenem Abend hatte ER nur noch nach ihr verlangt, und seit SEINE Residenz ins Innere der DB-Ruine verlegt worden war, schien sie die Kuppel überhaupt nicht mehr verlassen zu haben. In der Siedlung am Großen Fluss jedenfalls hatte Hille seitdem niemand mehr gesehen. »Not-Abwurfschalter, G-Zähler, HUD-Kontrolltafel, Höhenmesser, Fluglage...« Haynz verstummte, denn Schritte näherten sich aus dem Halbdunkel. Da! ER trat in den Lichtkreis der Wandlampen. Das dunkelblaue Tuch bedeckte SEINEN goldenen Anzug vom Kopf bis zu den Knien. Das Oberteil des Tuches war zu einer Art Kapuze umgenäht worden. Hatte Hille sich noch in anderer Weise nützlich gemacht? Anscheinend gehörte sie zu jenen Auserwählten, die SEINEN Anblick ertrugen. Oder wie sonst ging das vor sich da im Zelt, wenn sie jubelte und er stöhnte? Haynz kletterte aus dem Saab 40 Viggen. »Ich kenne nun jedes einzelne Ding mit Namen!« Er strahlte wie ein kleiner Junge. Doch ER beachtete ihn gar nicht. SEINE Hand streckte sich ins Halbdunkle einer Nische, öffnete dort so etwas wie einen Kasten und drückte auf einen der vielen Schalter. Grelles Licht flammte auf. Haynz kniff die Augen zusammen. Diese göttlich hellen Lichter – auch sie blieben ihm ein Geheimnis. Wie bei Wudan konnte ER nur diese kleinen
Sonnen entzünden? ER ging zu einer Anordnung gewaltiger Tische, die sich links der Feuervögel an der Wand befanden. Dort standen Flaschen, Gläser und metallene Behältnisse jeder Größe. Seltsame Hülsen sah Haynz dort neben frischen Fischblasen liegen, dazwischen Schnüre, Drähte, Schüsseln mit Pulver und Werkzeuge, so filigran und ungewöhnlich, wie der Hauptmann von Dysdoor keine zuvor gesehen hatte. »Hört Ihr, HERR? Ich... äh...« Haynz tänzelte um IHN herum. »Der gute Haynz ist so weit, er kennt nun alle Worte, die man braucht, um einen Feuervogel zu fliegen, jawoll!« ER lachte nur, griff nach einer leeren Schüssel und einem Löffel und begann dann Pulver aus den vollen Schüsseln in ein rohrförmiges Glas mit Ziffern und Strichen an den Wänden zu leeren. Wenn das seltsame Glas bis zu einer bestimmten Zahl mit Pulver gefüllt war, leerte ER es in die frische Schüssel. Dabei murmelte ER Worte, die Haynz nie zuvor gehört hatte und die er nicht begriff. Zauberworte, vermutete der Hauptmann von Dysdoor. Zum Beispiel: »Fünfundsiebzig Prozent Kalisalpeter.« Drei verschiedene Sorten von Pulver gab es in den vollen Schüsseln. Das graue und das gelbe hatte ER in den Kellern irgendwelcher Ruinen gefunden. Das schwarze hatte Haynz einige Frauen anfertigen lassen, nach SEINEN Anweisungen selbstverständlich. Zerriebene Holzkohle, weiter nichts. Haynz konnte sich nicht vorstellen, warum das entzündete Gemisch dieser Pulver derartige Donnerschläge und Blitze verursachte, dass die sonst so schlauen Coelleni Hals über Kopf auf Rulfans Schiff geklettert waren und die Flucht ergriffen hatten. ER mischte die drei Sorten Pulver miteinander. Danach stemmte ER die Fäuste in die Hüften und ließ den Blick über das Durcheinander auf den Tischen schweifen. Haynz beobachtete IHN voller Ehrfurcht. »Das mit den Fischblasen war für den Anfang nicht schlecht«, sagte ER. »Aber noch
nicht das, was wir brauchen.« ER sprach wie mit sich selbst. »Versuchen wir es einmal damit.« ER griff nach einigen der Hülsen, häufte sie vor sich auf den Tisch und begann eine nach der anderen mit dem Pulver zu füllen. Anschließend verschloss ER sie mit einer weichen Substanz – sie erinnerte Haynz an frisches Harz –, legte eine der weichen Schnüre zwischen fünf von ihnen und band sie danach mit einem Draht zusammen. So verfuhr ER mit sämtlichen Hülsen. Danach betrachtete ER sein Werk. Ganz zufrieden schien er noch nicht zu sein. »Wenn das auch nichts taugt, müssen wir eben schauen, ob die Eier wieder scharf zu kriegen sind.« ER drehte sich um und lief in die Halle hinein. Haynz, der keine Ahnung hatte, wovon die Rede war, folgte IHM wie ein aufgeregter kleiner Hund. Am Saab 40 Viggen schritt ER vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Vor dem Bug des zweiten Eisenvogels blieb ER stehen und stemmte abermals die Fäuste in die Hüften. Haynz tänzelte an IHM vorbei und sagte: »Grumman A-6E Intruder!« Der Hauptmann tastete sich am Rumpf der Maschine entlang. »Steigrohr! Radaranlage! Triebwerklufteinlauf! Cockpit! Zwei Schleudersitze...!« Zu gern hätte Haynz die Reaktion des HERRN auf seine Leistung beobachtet, doch die blaue Kapuze verhüllte den kugelrunden und sehr großen Kopf fast gänzlich. Nur hin und wieder meinte Haynz ein Augenpaar unter einer weißen Stirn blitzen zu sehen. ER ging zur linken Tragfläche, legte seine behandschuhte Rechte auf ein dünnes Rohr an ihrer Unterseite. »Und wie sagt er hierzu?« »Raketenschiene!«, rief Haynz. Und dann folgte er den schnellen Handbewegungen des HERRN: »Tandemrüstsatz für Sprengbomben, leer! Antischiffsrakete! Streubombe,
panzerbrechend! Sprengbombe mit vorstehendem Zünder...!« Und so weiter... ER nickte. »Gefährliche Eier, weiß er das überhaupt?« Haynz nickte, obwohl er keine Ahnung hatte. »Er hatte viel Glück, als er den Vogel auf sein Gerüst hievte. Wie leicht hätte eines davon explodieren können, und dann wäre es aus gewesen mit ihm und seinen Leuten.« Haynz erschrak. Blitz und Donner ganz besonderer Heftigkeit also? »Wir wissen nicht genau, ob die Eier noch scharf sind nach so langer Zeit. Wir zögern noch, es herauszufinden. Zu gefährlich. » ER wandte sich zu den Tischen an der Seitenwand um und deutete auf die zusammengeschnürten Hülsen. »Probieren wir doch erst einmal die kleinen Stängelchen dort aus.« »Jawoll!« Der Hauptmann von Dysdoor kletterte ins offene Cockpit des uralten Zweisitzers. »Und jetzt zeigt der gute Haynz, wie brav er die Teile des Vogels schon aufsagen kann!« ER stieg neben Haynz auf den Sitz des Navigators und klappte die beiden Seitenschalen des Cockpits zu. Und Haynz legte los: »Steuersäule, Hebel zum Haubenöffnen, Haubenschalttafel, Klappenanzeiger, Radarschirm...« * In der Gegend von Vreybürg, am 6. Tag des 4. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu Sie waren tot, alle vierzehn. Eine Horde, die zu den sogenannten »Wandernden Völkern« gehört hatte. Drei Kleinkinder waren unter den Toten. Maris ließ sich neben ihrem Frekkeuscher ins Gras des Flusswaldes sinken. Sie konnte nicht begreifen, warum die Bestien aus dem Höllenwagen diese Menschen getötet hatten. Alle drei oder vier Jahre zog auch in Chraaz ein »Wanderndes
Volk« vorbei und klopfte ans Klostertor. Meistens um Felle und junge Frekkeuscher gegen Werkzeuge und Waffen zu tauschen. Friedliche Leute in der Regel, niemand, der sich freiwillig auf Kämpfe einließ. Schon gar nicht gegen Feuerspuckende Höllenwagen. Doch sie waren tot, alle. Die Mörder hatten ihnen die Schädel gespalten oder die Gurgeln aufgeschlitzt. Selbst ihre Lasttiere – vier Frekkeuscher – hatten sie getötet und ihnen das Fleisch der Brustmuskeln herausgeschnitten. »Höchster, erbarme dich! Kommt her!« Rimaya schlug das Kreuz mit der Faust. »Höchster, erbarme dich unser! Seht euch das an!« Sie stand am Ufer eines der Flussarme, die hier an vielen Stellen den Wald durchzogen. Während ihre Rechte unablässig gegen Stirn, Brust und Schultern hämmerte, deutete ihre ausgestreckte Linke ins Riedgras. Nach und nach versammelten sich die Frauen und Männer um sie. Die meisten, um sich sofort wieder abzuwenden. Einige ministratos warfen sich im Unterholz auf die Knie und übergaben sich. Vier abgeschlagene Köpfe lagen dort in geronnenem Blut. Dazu weißgraue, blutige Hände, bläuliche Füße und ein großer Haufen Innereien. Es stank nach Verwesung. Maris spuckte aus. Ihr war übel. »Geschlachtet!«, stöhnte Rimaya. »Geschlachtet wie Vieh!« Die grobknochige Schwester wollte gar nicht mehr aufhören sich zu bekreuzigen. »Sie haben ihr Fleisch...« »Es ist gut!«, schrie Maris. »Schweig endlich!« Sie scheuchte die Versammelten weg vom Ufer und dem grausigen Fund. Die zwei ältesten ministratos winkte sie zu sich. »Vergrabt das!« Später sammelten die ministratos Schwerter, brauchbare Werkzeuge und halbwegs unbeschmutzte Felle der Toten ein. Die Schwestern stocherten in der Erde herum, um Grabplätze zu suchen. Einige hieben Äste aus den Bäumen, um Kreuze
anzufertigen. Auch wenn die Opfer Heiden waren, würden sie sie mit dem Segen des Höchsten bestatten. Maris dachte nach. Hatten sich diese Nomaden den Höllischen in den Weg gestellt? Hatten sie eine Träne des Höchsten mit sich geführt? Oder waren sie gar im Schlaf überrascht worden? Die von den Ketten des Höllenwagens ins Erdreich gerissenen Furchen führten jedenfalls durch die Überreste zweier Lederzelte. Beschwerlich war er gewesen, der Weg über das Eisgebirge, trotz der kräftigen Rieseninsekten. Stürme, Schneetreiben, schneidende Kälte, Taratzen – länger als einen halben Mond hatten sie gebraucht und eine Schwester an die Taratzen verloren. Dazu drei Frekkeuscher und zwei ministratos. Sie hatten die Spur des Höllenwagens entlang des großen Flusses verfolgt, bis hinter den mitten im Wald liegenden Ruinenhaufen, den die wenigen Sesshaften in dieser feuchten Gegend Vreybürg nannten. Mindestens zwei weitere Tage Vorsprung hatten die sieben Knechte lucifas mit ihrem Höllenwagen gewonnen, schätzte Maris. Die Intensität des Leichengeruchs und die Beschaffenheit der von den Ketten umgepflügten Erde sprachen dafür. Hier, am Lagerplatz der Toten, führte die Spur durch zwei Zelte, bevor sie in der feuchten Erde des Flusswaldes verschwand. Maris schritt an den Furchen entlang und lief zwei Speerwürfe weit in den Wald hinein. Unaufgefordert folgte Naryma ihr. Sie fanden die Leiche eines großen und dicken Mannes. Ein wahrer Hüne – bärtig, mit langem Haar und in schwarzes Taratzenfell gehüllt. Der Höllenwagen hatte ihm beide Beine knapp unterhalb der Hüften abgetrennt. Seine Rechte hielt noch ein Langschwert umklammert. Möglicherweise war er der Häuptling dieser kleinen Horde gewesen. Hinter ihnen brachen Äste unter Schritten. »Es ist
gefährlich, sich von uns zu entfernen!« Rimaya eilte mit blanker Klinge herbei. Maris wandte sich wieder dem Toten zu, dem der Höllenwagen die Beine abgefahren hatte und den sie für den Häuptling der kleinen Horde hielt. Er trug etwas um den Hals, das ihre Aufmerksamkeit erregte: eine Kette aus fingernagelgroßen und von Grünspan überzogenen Gliedern. Auch die beiden jüngeren betrachteten sie, Rimaya neugierig und Namyra mit einem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem schönen Gesicht. Maris rammte ihr Langschwert neben dem Kopf des Toten in den weichen Waldboden und ging in die Hocke. Sie betrachtete die Kette. Merkwürdig - nicht einmal in Mariaschnee gab es Handwerker, die sich auf solch filigrane Arbeiten verstanden. Etwas beulte das Taratzenfell auf der Brust des Toten aus; etwas, das an der Kette hing. Mit spitzen Fingern zog Maris daran. Ein Amulett von der Größe einer Babyfaust kam zum Vorschein. Es war ein wenig trüb, aber dennoch durchsichtig. Glas? Kristall? Oder irgendein Halbedelstein? Schwer zu sagen. Sollte der Tote wirklich der Häuptling gewesen sein, dann besaß dieses Amulett ganz gewiss magische Kräfte. Maris betrachtete das Schmuckstück genauer. In seinem Inneren befand sich ein rundes flaches Ding voller blauer Zeichen. Es war, als würde es in dem durchsichtigen Stein schwimmen. Blau waren auch die zwei Strahlen, die vom Zentrum der weißen Scheibe ausgingen; ein kurzer und ein längerer. Scheibe, Strahlen und Zeichen erinnerten Maris an die Überreste einer viel größeren Scheibe, die sich an einem der Türme von Mariaschnee befand. Angeblich hatten die Alten daran einst die Tageszeit abgelesen. In der Mitte der Scheibe prangte das Bildnis eines Mannes. Ein sehr eigenartiges Bild. Der Mann trug schwarze Kleider,
darüber einen sandfarbenen Mantel und an den Füßen gelbe Stiefel. Zwei Zeichen prangten auf seiner Brust. Maris drehte sich nach den Schwestern um. »Naryma! Komm zu mir!« Die junge Frau ließ die Äste sinken, die sie gerade zu einem Kreuz zusammenband, und kam zur mater. »Sieh dir das an.« Mit einer herrischen Geste winkte Maris die Jüngere zu sich herunter. Sie deutete auf das Amulett. »Kannst du diese Zeichen lesen?« Naryma ging neben Maris in die Hocke. Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, nahm das Amulett in die Hand. »Der Kranz besteht aus Zahlen, von eins bis zwölf. Und die Zeichen auf der Brust des Mannes bedeuten ein J und ein T...« Keine der Schwestern wusste, was diese Zeichen zu bedeuten hatten; die ministratos schon gar nicht. Behutsam löste Maris das Amulett vom Hals des Toten. »Nicht«, sagte Rimaya. »Wirf es weg. Hat es dieser Horde etwa geholfen? Wenn die Kraft des Höchsten Sohnes darin wohnen würde, lebten sie noch.« »Wie schlau du tust!«, höhnte Maris, während sich ihre Faust um Kette und Amulett schloss. »Diese armen Leute waren Ungläubige, deswegen konnten sie lucifas Knechten nicht widerstehen. Wir aber sind Töchter des Höchsten Sohnes.« Sie begruben die Toten im Waldboden und rammten aus Ästen zusammengebundene Kreuze auf die Hügel. Schinee sang eine Totenmesse. Anschließend ruhten sie ein paar Stunden und feierten danach die Abendmesse. Während des Lobgesangs weihte Maris das Amulett dem Höchsten Sohn und legte es danach der jungen Naryma um den zarten Hals. »Der unsichtbare Kriegsengel des Höchsten sei mit dir, meine Kleine.« Rimaya verfolgte die Zeremonie mit ängstlichem Blick.
Doch keiner achtete auf sie. Noch am selben Tag brachen sie wieder auf und ließen die Frekkeuscher am Großen Fluss entlang Richtung Mitternacht springen. Fast ein halber Mond verging, bis sie den Höllenwagen endlich einholten. * Coellen, Anfang April 2520 Die Melodie der Flöten und Posaunen brach ab. Nacheinander ließen sie die drei Holzkisten an Seilen in die Gruben hinunter. Drei Tote. Und im Hospital am Ufer des Großen Flusses, keine fünfzig Schritte entfernt vom kleinen Friedhof, quälten sich fünf Verletzte mit entzündeten Wunden, Knochenbrüchen und Fieber. So hatte Rulfan sich seine Rückkehr nach Coellen nicht vorgestellt. Der alte Kanzler Attenau sprach ein Gebet. Honnes hielt eine kleine Rede, rief die Coelleni zur Wachsamkeit und Kampfbereitschaft auf. Anschließend schaufelten sie Erde in die Gruben und auf die Särge. Rulfan half mit. Auf dem Rückweg zum Haus des Kanzlers, wohin Gittis Attenau zu einem Mahl geladen hatte, kam der Trauerzug an den Gemeinschaftsstallungen vorbei. Der Gestank von Wakudas, Andronen und Frekkeuschern wehte aus den zum Dom hin geöffneten Toren. Sie hörten Blöken, Zirpen, und Flügelscharren. Rund um die zur Stallung und Lagerhalle wieder aufgebaute Bahnhofsruine hatten die Coelleni Katapulte auf Holzrädern in Stellung gebracht. Neben den schweren Geräten häuften und stapelten sich Steinbrocken und mit Metallspitzen versehene Rundhölzer. Sogar auf dem geschwärzten Glasdach entdeckte Rulfan zwei Katapulte. Das gleiche Bild auf dem Domplatz. Es war rührend und niederschmetternd zugleich: Sie glaubten allen Ernstes einen Flugzeugangriff mit derart antiken Waffen abwehren zu
können! Natürlich hatten sie ihm in der Bürgerratsversammlung von den Katapulten erzählt. Rulfan behielt seine Skepsis für sich. Später, während des Mahles, saß er zwischen seinen alten Kampfgefährten Honnes und Juppis. »Ich habe zu lange gegen Fanatiker gekämpft, um Haynz' Wahn als eine vorübergehende Laune abzutun«, sagte Honnes. »Wer sich auf die Götter beruft, dem ist alles zuzutrauen. Und einem, der sich für einen Auserwählten jener Götter hält, sowieso.« Auf der Bürgerversammlung drei Tage zuvor hatten die Coelleni dem Mann aus Britana nicht nur vom Angriff des Feuervogels erzählt, sondern auch von den merkwürdigen Veränderungen berichtet, die sich in Dysdoor seit vier oder fünf Monden vollzogen. Sie waren gläubig geworden, die Dysdoorer, und zogen regelmäßig in feierlicher Prozessionen ins Zentrum der Ruinen an den ehemaligen Bahnhof der zerstörten Stadt, um einem unsichtbaren Gott Jungfrauen und Coelsch zu opfern. Vor allem Haynz schien ernsthaft dem Größenwahn verfallen. Er behauptete einem Gott begegnet und ein Auserwählter dieses Gottes zu sein. Einmal, so wusste ein Kundschafter zu berichten, habe er sich selbst sogar als »Gottessohn« bezeichnet. Auch jetzt, während des Trauermahls, ließ Rulfan sich haarklein berichten, was die Kundschafter herausgefunden hatten, ließ sich das Kuppelzelt beschreiben, die Prozessionen, die fahrbare Plattform, mit der sie das Zelt in die alte Bahnhofshalle transportiert hatten, und natürlich den Jet. »Haynz wollte schon immer so ein Ding zum Fliegen bringen«, sagte Juppis. »Irgendwie muss er es geschafft haben. In den letzten sechs Tagen steigt fast täglich ein Eisenvogel auf und dreht seine Runden über dem Großen Fluss und über Dysdoor.« »Weiß nicht...« Honnes wiegte den Kopf hin und her. »Trau
ich ihm eigentlich nicht zu. Und die Sache mit diesem angeblichen Gott gefällt mir nicht. Bei Orguudoo, die gefällt mir ganz und gar nicht!« »Richtig«, pflichtete Rulfan ihm bei. »Haynz kann so eine Maschine nicht fliegen. Es sei denn, jemand bringt es ihm bei. Und Haynz entwickelt auch keinen Sprengstoff. Es sei denn...« Er unterbrach sich, weil Gittis, die Schwiegertochter des Kanzlers, ans Fenster gelaufen war. Sie öffnete es und schien zu lauschen. »Wer soll den Blechvogel dann gesteuert haben?«, hakte Juppis nach. »Und woher soll Haynz das Zeug haben - wie nennst du es gleich? – diesen Sprengstoff? Von Leuten wie Maddrax und Dave McKenzie etwa?« Rulfan sah ihn nachdenklich an, antwortete aber nichts. An beiden Fenstern hatten sich Menschentrauben versammelt. Ein leises Heulen drang von der Straße herein. So hastig sprang Rulfan auf, dass sein Stuhl umkippte. »Ein Feuervogel!«, schrie es von den Fenstern. »Ein Feuervogel nähert sich!« Plötzlich drängten die Menschen zur Tür hinaus. »In den Keller!«, rief Juppis. »Frauen und Kinder in den Keller! Die Männer mit mir zu den Katapulten!« Rulfan sprang aus dem Fenster, rannte die Gasse hinunter und dann quer über den Domplatz Richtung Flussufer. Das leise Heulen schwoll zu einem dröhnenden Orkan an. Als er durch eines der kleinen Tore der Stadtmauer schlüpfte und die Twilight Of The Gods vor der Anlegestelle im Ufergras liegen sah, hörte er die erste Explosion. Genau das hatte er befürchtet... * »Hat er gut aufgepasst? Hat er genau zugesehen? Hat er sich eingeprägt, wie es geht?«
»Hat er, der gute Haynz, ganz genau hat er Euch auf die göttlichen Finger geschaut.« Der Hauptmann von Dysdoor war in Hochstimmung, euphorisch geradezu. Rechts unter ihm glitt der Wald und das dunkelgrüne Band des Großen Flusses vorbei. Die Nase der Grumman A-6E Intruder zeigte auf den Dom von Coellen. Ja, er saß auf dem Navigatorensitz eines Feuervogels. Und neben ihm saß ER, der HERR. »Schau er her! Schau er mir auf die Finger! Sage er mir, was ich berühre!« Die goldfarbene Rechte hielt den Steuerknüppel fest, die Linke glitt über die Instrumentenkonsole, deutete hierhin, deutete dorthin, drückte jenen Knopf, legte jenen Schalter um. Und Haynz rasselte die Bezeichnungen der Kontrollleuchten, Anzeigen, Schalter und Hebel hinunter: »Steuersäule, Verfolgungsradar, Öldruck rechts, Öldruck links, Head-Down-Display, Digitalrechner, Schleudersitzauslöser, Bombentandem links, Bombentandem rechts...« Es war schon das vierte Mal, dass er mitfliegen durfte, und wenn heute alles gut ging, würde morgen er die Maschine steuern dürfen – der Hauptmann von Dysdoor wusste nicht wohin mit so viel Glück. Unter ihnen rauschten jetzt die ersten Ruinen Coellens vorbei. Schon näherten sich die schiefen Dächer des kleinen, bewohnten Viertels im Zentrum der Ruinenstadt. Zum Greifen nahe war jetzt der Dom. Da – das Haus des Kanzlers, und da – der Domplatz, und hinter ihm die Stallungen und Lagerhallen. »Steuersäule!«, schrie Haynz, als ER den Knüppel ein wenig nach vorn drückte. Die Dächer schienen ihnen entgegen zu springen. Magensäure schoss Haynz in den Rachen. Er schluckte sie hinunter. Zwanzig Meter entfernt beschrieb ein großer Steinbrocken einen Bogen, rechts schoss in fünfzig Metern Entfernung ein spitzes Rundholz vorbei. ER lachte laut. Unter ihnen der Domplatz; drei Katapulte zählte Haynz, es
waren aber mindestens dreimal so viele. »Bombentandem rechts!«, schrie der Hauptmann, als ER die erste Ladung Blitz und Donner ausklinkte. Der Feuervogel kippte nach links, schoss am Dom vorbei, rauschte über die Stallungen. Haynz hatte Mühe das Wasser zu halten, blickte aber trotzdem zurück und jubelte, als grelles Licht über den Domplatz zuckte und gewaltiges Getöse die Luft erzittern ließ. »Donner und Blitz!«, schrie er begeistert. »Jawoll, es funktioniert!« Das nächste Bündel der mit Donnerpulver vollgestopften Hülsen ließ ER über dem gewölbten Dach der Stallungen fallen. Ohrenbetäubendes Krachen blieb hinter ihnen zurück. In einem weiten Bogen steuerte ER den Eisenvogel zum Domplatz zurück. Das Donnerbündel hatte ein Loch in das Stallungsdach gerissen, auf dem Domplatz brannten die Überreste eines Katapultes in einem flachen, rußgeschwärzten Krater von vielleicht vier Speerlängen Durchmesser. »Ganz zufrieden sind wir nicht«, sagte ER. »Testen wir den Sprengstoff noch am Schwebeschiff dieses Fremden. Das Ding könnte uns sonst noch Schwierigkeiten machen.« ER drückte den Steuerhebel noch ein Stück nach vorn. Der Feuervogel raste dicht über die Stadtmauer hinweg. Steinbrocken und Rundhölzer schlugen am Ufer ein, einige Hölzer sogar im seichten Uferwasser. Rulfans Schiff lag ein-, zweihundert Schritte entfernt im Ufergras. ER steuerte den Eisenvogel direkt darauf zu. »Müssen wir's wirklich kaputtmachen, das schöne Bootchen?« Haynz blickte ein bisschen unglücklich aus seinem roten Gesicht in diesen Sekunden. »Ich mein, es ist doch so schön und kann schweben.« »Von mir bekommt er Dinge, die mehr können als nur ein bisschen schweben, hat er das bereits vergessen? Raketenschiene links, spreche er mir gefälligst nach!« »Raketenschiene links«, sagte Haynz mit weinerlicher
Stimme. Er schlug seine fleischigen, rot gefärbten Hände vors Gesicht. »Rulfan wird uns böse sein, sehr böse wird er uns sein...« * Wulf stemmte die Vorderläufe auf den Kunststoffboden des Daches und bellte sich die Kehle heiser. Der Jet heulte über die Stadtmauer. Rulfan schwang sich in den Kommandostand, schnappte sich sein Laserphasen-Gewehr, lief wieder nach draußen, kniete neben dem Lupa nieder und legte an. Zu spät – schon röhrte der Jet über sie hinweg. Etwas löste sich von seiner linken Tragfläche, rauschte Ufer und Schiff entgegen und schlug keine dreißig Meter entfernt ins Uferwasser. Rulfan warf sich flach auf den Bauch, drückte den Lupa mit der Linken auf das Dach. Dann die Explosion. Eine Fontäne stieg hoch, ein Regen aus Schlamm und Wasser ging auf Mann und Lupa nieder. »Verdammte Orguudoo-Knechte!« Rulfan jagte der Maschine einen Laserstrahl hinterher. Natürlich traf er nicht der Jet zog schon jenseits des Rheins eine weite Schleife über Ruinen und Wald. Der Albino rannte zurück auf die Brücke, schlug auf den Knopf für den Bordrechner, legte die Schalter für die Turbinen und das Gebläse um, warf die Wasserstoffmotoren an. Dann wieder hinaus aufs Dach der Twilight Of The Gods. Schon kehrte der Jet zurück. Rulfan hatte keine Ahnung, um was für einen Flugzeugtyp es sich handelte. Er wusste nur, dass es nicht die Maschine war, die drei Wochen zuvor Steine und Gülle über Coellen abgeworfen hatte – zu hell war die Farbe des Rumpfes, zu gerade die Tragflächen und zu groß die Spannweite. Außerdem saßen zwei verdammte Kerle unter der Cockpit-Kuppel. Was er aber genau wusste: Sie hatten es auf die Twilight Of The Gods abgesehen, auf sein Schiff.
»Nehmt das, Taratzenärsche!« Er jagte dem Jet einen Laserstrahl entgegen. Der streifte zwar nur knapp die Spitze der rechten Tragfläche, bewirkte aber immerhin, dass der Pilot die Maschine steil nach oben zog und gleichzeitig nach links wegkippen ließ. Der Angreifer dröhnte Richtung Domplatz über die Stadtmauer, raste durch einen Schwarm wirkungsloser Katapultgeschosse und verschwand irgendwo über den rechtsrheinischen Ruinenwäldern. Langsam, unendlich langsam füllte die elastische Schürze sich mit dem Luftpolster. Das Schiff erhob sich. Die Turbinen schienen eine Ewigkeit zu brauchen, bis sie auf Touren kamen. Doch endlich konnte Rulfan sein Boot in den Rhein steuern. Sie würden zurückkommen, er machte sich keine Illusionen. Schon schwoll das Dröhnen der Düsentriebwerke wieder an. Er fuhr in die Mitte des Flusses – er wollte die Angreifer von der Stadt weg auf den offenen Fluss locken – und dann flussabwärts Richtung Dysdoor. Überflüssig, sein Radar zu befragen; mit bloßem Auge sah er den Punkt am Horizont wachsen, und bald röhrte das JetTriebwerk lauter als die Turbinen. Rulfan wechselte wieder aufs Dach. Breitbeinig lehnte er dort gegen die Rückwand der Kommandobrücke und zielte auf die tief fliegende Maschine. Der Lupa stand mit gesträubtem Rückenfell auf der Schwelle und kläffte und bellte. Rulfan drückte den Auslöser des LP-Gewehres. Wieder daneben, denn die Maschine drehte ab, flog aber eine enge Schleife und kehrte über Steuerbord zurück. Der nächste Laserstrahl traf die Spitze des Seitenruders am Heck – und eine Sprengladung prallte aufs Schiffsdach, schlitterte über den Kunststoffboden, blieb an Backbord im Gestänge der Dachreling hängen. Rulfan ließ sich fallen, wo er stand. Sein Lupa aber machte zwei Sätze, schnappte das Bündel mit den Zähnen und schleuderte es über die hüfthohe Reling. Im Lichtblitz der Explosion sah Rulfan, wie die Druckwelle
seinen Lupa steuerbords in den Fluss schleuderte. Flammen schlugen vom unteren Deck aus über die Dachreling. Zurück in den Kommandostand! Rulfan stoppte die Wasserstoffmotoren, riss den Feuerlöscher von der Wand, rannte wieder hinaus und hielt den Schaumstrahl in die Flammen. Die Fensterfront zum ehemaligen Passagierraum war auf zwei Metern Länge aufgerissen. Rulfan bekam das Feuer unter Kontrolle, konnte es sogar löschen, denn der Jet kehrte nicht mehr zurück. Minuten später suchte er mit seinem Feldstecher den Rhein nach seinem Lupa ab. Hundert Meter flussaufwärts entdeckte er einen weißen Kopf im aufgewühlten Wasser. Ein Blick nach Norden: keine Spur mehr von dem Jet. Hatten die Kerle aufgegeben? Hatte sein Treffer ihnen möglicherweise eine Notlandung aufgezwungen? Er lauschte. Nein, nichts zu hören, was nach einem Düsentriebwerk klang. Der Albino wendete das Schiff, fuhr seinem Lupa entgegen. Als er das treue Tier aus dem Wasser gefischt hatte, hielt er es lange fest, flüsterte ihm seine Dankbarkeit ins Ohr. Er überlegte, was zu tun war. Zurück nach Coellen oder gleich nach Dysdoor? Der Schaden am Schiff nahm ihm die Entscheidung ab: Die Schürze war unterhalb des Treffers eingerissen und konnte das Luftkissen nur noch teilweise aufrecht erhalten. Rulfan manövrierte die Twilight Of The Gods dicht ans rechte Ufer. Dort schaltete er die Turbinen und das Gebläse aus. Der Wasserstoffmotor ließ die Kurbelwelle und die Schrauben des Notantriebs rotieren. Unter tief hängenden Zweigen von Weiden und Eichen hinweg glitt das Boot langsam flussabwärts Richtung Dysdoor. Die Mündung eines kleineren Flusses, den man hier in der Gegend Wuppa nannte, glitt vorbei. Zwei Stunden etwa fuhr er mit kaum zehn Stundenkilometern unter Baumkronen an dicht bewachsenen
Uferwäldern vorbei. Gegen Abend endlich erreichte er die fast vollkommen zugewucherte Bucht, die er aus seinen alten Zeiten als Untergrundkämpfer kannte: ein ehemaliger Yachthafen. An ihn grenzten die südlichsten Ruinen der ehemaligen Großstadt. Rulfan ging zwischen dichten Weiden und von Moos und Rankengewächsen eroberten Schiffswracks vor Anker. Die Nacht verbrachte er auf der Kommandobrücke der Twilight Of The Gods. Im ersten Morgengrauen zog er seinen Mantel an, schnallte sich einen Ledertornister mit Proviant und Material um, hängte sich das LP-Gewehr vor die Brust und kletterte von Bord. Der Lupa protestierte nicht, als sein Herr ihm befahl, zurückzubleiben. Wulf hatte sich an seinen Job als Schiffswächter gewöhnt, und hier gab es genug Wild, das er jagen konnte. Eine Stunde später ging die Sonne auf, und der Lärm eines Düsentriebwerks näherte sich. Rulfan legte Waffe und Tornister ab und kletterte in die Krone einer Eiche. Von dort sah er einen Jet über die Ruinen fliegen. Es war derselbe, der am Tag zuvor Coellen und sein Schiff angegriffen hatte. Nachdem er ein paar Schleifen über dem Fluss, den Ruinen und dem Uferwald gedreht hatte, verschwand er wieder. Rulfan konnte sich keinen Reim darauf machen. Bald fand er den Pfad nach Norden, den er suchte. Die Pfahlsiedlung der Dysdoorer und das Zentrum der Ruinenstadt waren noch etwa einen Tagesmarsch entfernt. * In der Gegend von Cooplens, am 15. Tag des 4. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu Manchmal erschauerte Maris, so traumhaft und lieblich erschien ihr die Landschaft: Wie die Wogen eines
frühlingsgrünen Meeres breiteten sich die Laubwaldhügel unter den Schwestern und ihren kahlköpfigen Begleitern bis zum Horizont aus. An sanften Waldhängen vorbei schlängelte sich der Große Fluss durch ein liebliches Tal, und hin und wieder ragten Türme von Ruinen aus den grünen Wogen. Die einzige Spur menschlichen Lebens, die sie entdeckten, war eine dünne Rauchsäule, die von einer fernen Lichtung aufstieg; eine Horde der Wandernden Völker, vermutete Maris. Welch ein Glück für die Barbaren, nicht den Boten lucifas in die Hände gefallen zu sein! Naryma hielt ihren Frekkeuscher dicht neben Maris' Tier. Wann immer die Jüngere eine Gelegenheit sah, der neuen mater zu dienen, nutzte sie die. So suchte sie günstige Lagerplätze, jagte und schlachtete Wild, brachte Maris fast jeden Morgen eine Handvoll frischer Beeren aus dem Wald, übernahm die Spitze, wenn die mater müde wurde, und wärmte sie des Nachts unter derselben Decke. Schon als Naryma noch ein Kind war, hatte Maris mit Wohlgefallen auf sie geblickt. Jetzt, nach diesen mühsamen Wochen in der Fremde, hatte sie das einundzwanzig Winter jüngere Mädchen tief in ihr Herz geschlossen. Gegen Mittag jenes Tages, an dem die Jagd nach lucifas Höllenwagen an ihr Ende gelangte, deutete Naryma nach unten zum Flussufer. »Die Spur!« Ihr Frekkeuscher schwirrte etwas unterhalb der anderen Tiere über dem Fluss. »Sie weicht nach Sonnenuntergang aus!« Naryma ließ das Insekt auf der Böschung landen. Der Höllenwagen musste weite Strecken im Uferwasser des Großen Flusses zurückgelegt haben. Denn nur wenn der Waldrand weit genug entfernt und die Böschung flach genug war, sahen sie die Spuren aus dem Wasser an Land und vor unwegsamen Uferabschnitten wieder zurück ins Wasser führen. Naryma hatte eine Spur entdeckt, die aus dem Fluss heraus in den Wald führte. Maris drehte sich nach den Schwestern und
ministratos um und gab das Zeichen zur Landung. Nacheinander brachten die Männer und Frauen ihre Tiere zwischen Waldrand und Flussufer. Naryma kroch dort schon auf den Knien durch das Unterholz der Böschung. Maris und Rimaya gingen zu ihr. Die junge Schwester kniete zwischen den beiden Furchen, angelte einen länglichen Gegenstand aus dem Gestrüpp und richtete sich schließlich langsam auf. Sie machte ein angewidertes Gesicht, während sie ihren Fund in Augenhöhe hob. Es war ein menschlicher Oberschenkelknochen. Sehnen und knorpelige Muskelansätze hingen von einem seiner Enden herab. Maris trat zu der Jüngeren. Aus zusammengekniffenen Lidern beäugte sie den Knochen und die Gewebsfetzen daran. Die waren nicht blutig, auch nicht schwarz vor Verwesung – sie waren grau oder bräunlich; jedenfalls gegart. »Habe ich es nicht gesagt?«, flüsterte Rimaya mit zitternder Stimme. »Wer sonst außer lucifas Höllenbrut frisst Menschenfleisch?« »Lupas zum Beispiel«, sagte Maris trocken. »Aber nicht gebraten.« Entsetzen und Ekel zerrten an ihren Nerven. Sie ließ es sich nicht anmerken. Die Schwestern fanden eine Feuerstelle und noch weitere menschliche Überreste am Ufer. Die beiden Spuren des Höllenwagens führten in den Wald hinein und dort den Hügel hinauf vom Großen Fluss weg. Sie zogen die Frekkeuscher an den Zügeln in den Wald hinein. Die riesigen Heuschrecken scheuten anfangs die dicht stehenden Stämme, die herabhängenden Äste und das unwegsame Unterholz. Ihre Reiter redeten beruhigend auf sie ein, und allmählich gewöhnten sie sich an den Wald. Im Sprungflug hätten die Spurenleser die Furchen unter dem frischen Laubdach nicht erkennen können. Und zum Reiten hingen die Äste des Waldes viel zu tief herab. So führten sie die Frekkeuscher bergauf und die Bresche entlang, die der
Höllenwagen ins Unterholz gepflügt hatte. Sie kamen schneller voran, als Maris anfangs gehofft hatte. Bis zur Abenddämmerung verfolgten sie die Spur der Todesboten. Bei Sonnenuntergang führte sie auf eine steil abfallende Lichtung, an deren Ende sie einen Fluss rauschen hörten. Deutlich waren die Furchen des Höllenwagens zu erkennen: Sie hatten sich tief in den Steilhang eingegraben. Die Schwestern und ihre ministratos folgten der Spur mit den Augen, bis sie sich nach drei oder vier Speerwürfen in niedrigem Buschwerk verlor. »Da, ein Turm«, sagte Naryma leise. Maris' Blick folgte ihrem ausgestrecktem Arm. Es war kein Turm, den die Jüngere jenseits eines Abhanges entdeckt hatte, es war eine Art Stützpfeiler. Dort wo das Rauschen des Flusses herkam, ragte er aus den Bäumen und Büschen eines Steilufers. Moos bedeckte ihn, und wilder Efeu rankte sich an ihm empor. Maris blickte an ihm hoch. Der alte Stützpfeiler gehörte zu einer dieser Brücken, mit denen die Alten Schluchten, Täler und Flüsse überwunden hatten. Kurz nach dem Stützpfeiler brach der uralte Weg ab. Und dort, wo er abbrach, stand ein Mensch und blickte ins Flusstal hinunter. Maris hielt den Atem an. Mit wenigen Handzeichen machte sie ihre Begleiter auf ihre Entdeckung aufmerksam und bedeutete ihnen, sich in den Wald zurückzuziehen. Sie pirschten sich im Schutz der Bäume näher heran. Der Mensch dort oben schien sie nicht bemerkt zu haben. Jetzt sahen sie auch den Höllenwagen. Schwarz und unheimlich stand er dort oben am Rand der eingestürzten otowajii. Etwas Rotes, Rundes mit gelben Flecken schimmerte an seiner schwarzen Seitenwand. Vermutlich die Zeichen, von denen die Leute aus Virruna berichtet hatten. Auch auf dem Wagen stand eine Gestalt. Ihr goldfarbener Anzug glitzerte in der letzten Abendsonne. »Endlich«, flüsterte Maris. »Wir haben sie. Lasst uns
warten, bis es ganz dunkel ist. Danach werden wir den Willen des Höchsten Sohnes an ihnen vollstrecken.« * Dysdoor, Mitte April 2520 Zehn Krieger hatte ER in die DB-Ruine kommen lassen, denn zehn starke Männer und einen Holzkran brauchte es, um das Ding, das ER »Sprengbombe mit Zündstab« oder »scharfes Ei« nannte, in den vierrädrigen Wagen zu hieven. Es wog so schwer wie drei ausgewachsene, gut genährte Männer. Mit einem Handzeichen scheuchte ER die Hälfte der Krieger aus der Halle, als das Ding im üppig ausgepolsterten Handwagen lag. Ein letztes Mal schritt ER um die Grumman A-6E Intruder herum, beäugte die Halterungen der Sprengbomben, tastete die Kabel und Drähte ab, mit denen sie verbunden waren, und überprüfte das Ding, das ER an der Spitze des Feuervogels in den Radar eingebaut hatte. Dieses Ding namens »Kontaktzünder«. Mit klopfendem Herzen beobachtete Haynz den HERRN. Genauso Hille und die fünf zurückgebliebenen Männer. Die Krieger machten ehrfürchtige Gesichter, Hilles Miene sah eher besorgt aus. »Er kann einsteigen«, sagte ER schließlich. Mit stolz geschwellter Brust schaukelte Haynz zu seiner Grumman Intruder, kletterte erst auf die Tragfläche und dann in den Pilotensitz. ER legte Haynz selbst die Gurte an. »Und jetzt erzählt er uns noch einmal, was zu geschehen hat.« ER lehnte gegen die Tragfläche und verschränkte die Arme über der Brust. Rötliche Augen glitzerten unter einer weißen Stirn. »Zuerst warte ich«, begann Haynz. »Warten werde ich, bis es knallt. Jawoll!« »Was tut er, wenn es nicht knallt?«
»Nix, rein gar nix!« Haynz' Augen leuchteten, sein rundes Gesicht glühte. »Nur aussteigen, irgendwann.« »Und was, wenn er uns doch knallen hört?« »Triebwerke anwerfen und los geht's!« Haynz klatschte in die Hände. Hilles Miene verfinsterte sich zunehmend. »Was aber muss er tun, bevor er die Triebwerke hochfährt?«, fragte der HERR streng. Haynz blickte zur Hallendecke hinauf. »Ah!« Er tippte sich an seinen kahlen, rot bemalten Schädel. »Bevor der gute Haynz die Triebwerke hochfährt, wird er selbstverständlich die Cockpit-Schalen herunterklappen und schließen, jawoll...!« So ging ER mit dem Hauptmann Schritt für Schritt durch. »Und was tut er ganz am Schluss, wenn die beiden schwarzen Türme vor ihm auftauchen?«, wollte ER schließlich wissen. »Dann wird Haynz sie ansteuern und den Knopf für den Schleudersitz drücken.« ER nickte. »Wir sind zufrieden. Er lebe wohl.« Sprach's und ging zu Hille und den Kriegern. »Was geschieht eigentlich, wenn der gute Haynz den letzten Knopf gedrückt hat?«, rief der Hauptmann von Dysdoor in einem Anflug von Furcht ihm nach. »Dann wird er landen, ganz von allein.« ER winkte und legte den Arm um Hille. Zwei Streiter schnappten sich die Deichsel des Handwagens, drei schoben von hinten. ER und Hille folgten dem Wagen mit dem »Scharfen Ei mit vorstehendem Zünder«. Haynz sah ihnen hinterdrein. Bald verschluckte die Dunkelheit den Wagen, das »Scharfe Ei«, die Menschen und den HERRN. Haynz wartete. Sein Herz klopfte. Zum ersten Mal würde er ganz allein fliegen. Gestern hatte er zum ersten Mal einen Feuervogel gesteuert, aber da hatte ER neben ihm gesessen. Heute aber würde er ganz allein starten und fliegen und... Landen hatte nicht geklappt gestern. Das hatte ER vom
Navigationssitz aus übernehmen müssen. Na und? Hatte ER nicht gesagt, er würde von ganz allein landen, wenn er zum Schluss den einen Knopf drückte, den man sonst um Wudans Willen niemals drücken durfte? Jawoll, das hatte ER gesagt! Die Schritte verhallten, das Rasseln der Wagenräder verlor sich in der Dunkelheit. Haynz war allein. »Bitte, bitte lass es knallen, bitte, bitte...« Der Hauptmann wusste selbst nicht, zu wem er betete, aber es tat einfach gut. »Lass es unbedingt knallen, bitte, bitte...« Er wartete und lauschte und wartete und lauschte... * In der Gegend von Koblenz, Mitte April 2520 Frauen. Wunderbar! Besser konnte es gar nicht kommen! Grinsend schaltete er Objektiv und Innenokular seines Helmes ab. Zwölf Frauen, eine attraktiver als die andere, und alle im geburtsfähigen Alter. Was für ein unverschämtes Glück! Das letzte der dreiundzwanzig Rieseninsekten war im Wald verschwunden. Er warf sein Gewehr und seinen Vitalkoffer ins Boot, schob es aus der Uferböschung bis ins Wasser und sprang hinein. Keine Aufzeichnung, keine Chronik in den Datenbanken berichtete von amazonenhaften Barbaren in dieser Gegend des Rheintals. Aber diese Frauen hier trugen – neben Kreuzen und postchristlich anmutenden Symbolen – Schwerter, Spieße und Jagdbögen mit sich. Er aktivierte den Außenbordmotor. Das Carbonit-Boot setzte sich in Bewegung und trug ihn über den Strom. Allerdings hatten sie Männer dabei. Elf kahl geschorene Burschen in seltsamen Gewändern, die in besseren Zeiten wahrscheinlich mal rot gewesen waren. Doch die Art, wie sie
sich bewegten, wie sie um ihren Platz im hinteren Teil der Karawane bemüht waren und wie sie die Schultern hochzogen, wenn die Frauen mit ihnen redeten – all das verriet ihm, wer in dieser seltsamen Schar das Sagen hatte. Egal; die Kerle mussten eh verschwinden. Am anderen Ufer versteckte er den Kahn im Unterholz, schnallte sich den Vitalkoffer auf den Rücken und legte seine Waffe über die Schulter. Manchmal brauchte man sie von einem Augenblick auf den anderen. Und er kannte diese Amazonen nicht. Bevor er der Heuschrecken-Karawane in den Wald folgen konnte, fiel sein Blick auf die parallel verlaufenden Spuren im Dreck. Er stutzte. Eindeutig ein Kettenfahrzeug. Was, beim Kometen, hatte das nun zu bedeuten? Verfolgten die Amazonen etwa jemanden? Geduld. Er würde es herausfinden. Immer eins nach dem anderen. Er folgte der Karawane den Hang hinauf und fragte sich, was die Leute, denen das Kettenfahrzeug gehörte, dort oben zu suchen hatten. Den Vulkansee? Die Überreste der A-61? Oder wussten sie am Ende, dass in dieser Richtung und nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt Leute seines Schlages lebten? Seine Hand tastete schon nach dem Funkgerät. Eine Warnung konnte nicht schaden, oder? Nein, lieber nicht. Am Ende orteten die Fremden mit dem Kettenfahrzeug die Funkquelle. Erst einmal abwarten; eins nach dem anderen. Hinter den Amazonen her pirschte er bis zu jener Lichtung unter der alten Autobahn. Noch vor ihnen entdeckte er den Wagen und einige Besatzungsmitglieder auf der Brücke. Er aktivierte Helmobjektiv und Okular, zoomte die Brückenruine heran und sah sich Gefährt und Besatzung genauer an. Ein Panzer – und was für einer! Sicher fünfundzwanzig
Meter lang und gut vier Meter hoch und breit. Eine wahre Festung auf mindestens sechs Achsen, wenn er richtig zählte. Schwer zu erkennen, denn die rollende Festung stand auf mächtigen Kettenschuhen. Eine dreigliedrige Konstruktion, gegeneinander beweglich vermutlich; Lamellen verbanden die einzelnen Segmente. Aus was für einem Material dieser Panzer wohl hergestellt war? Die Außenhülle war von einem stumpfen Schwarz. Bis auf ein kreisförmiges Emblem in Bugnähe: Hammer und Sichel, gelb auf rotem Grund. »Ich fass es nicht...« Halb belustigt, halb erstaunt schüttelte er den Kopf. Zwei Besatzungsmitglieder konnte er sehen. Einen Mann im graugrünen, einteiligen Anzug. Sah aus wie ein Schutzanzug, doch einen Helm trug der Kerl nicht. Genauso wenig wie die Frau, die auf dem Dach des Panzers stand. Sie war blond und in einen metallic-goldenen Overall gehüllt. Eine ziemlich große Frau. Mit einem Feldstecher suchte sie die Gegend ab. Interessante Leute, doch nicht halb so interessant wie die Amazonen. Er schaltete Objektiv und Okular aus und zog sich in den Wald zurück. Sicher, die Anwesenheit technisch begabter Leute in dieser Gegend machte ihn neugierig, mehr aber auch nicht. Alle zehn, zwanzig Jahre durchquerte irgendeine Expedition irgendwelcher Bunkerleute in irgendwelchem rollenden oder fliegenden Schnickschnack diese Gegend, um dem Rhein nach Süden oder nach Norden zu folgen. Na und? Wem nutzten diese Leute schon? Nein, es gab nichts Neues unter der Sonne, und Seinesgleichen hatte es bisher erfolgreich vermieden, mit solchen Abenteurern Kontakt aufzunehmen. Allerdings hätte er schon gerne gewusst, wieso diese Typen da oben auf den Überresten der Autobahn es wagten, ihre Nasen ohne Helm in die Abendluft zu strecken. Vielleicht waren sie seinen Leuten ja ähnlicher als vermutet?
Die Amazonen jedenfalls zogen sich in den Wald zurück, und die Art und Weise, wie sie sich bewegten, räumte auch den letzten Zweifel aus: Die verrückten Weiber planten einen Überfall auf das Kettenfahrzeug und seine Besatzung. Dabei waren sie so attraktiv; schade um sie, wirklich schade! Die Nacht fiel über die Waldhänge und das Rheintal. Oben auf der alten Autobahn entzündeten die Kollegen ohne Schutzhelme ein riesiges Feuer und brieten irgendwelches Fleisch. Schienen sich sehr sicher zu fühlen. Die Amazonen aber stellten Wachen auf und rollten sich ansonsten in ihre Decken und Felle. Er selbst kletterte ein Stück den Hang hinauf, bis zu einer Stelle, wo er sowohl die Heuschrecken-Karawane als auch den Expeditionspanzer – um was sonst sollte es sich handeln? – im Auge behalten konnte. Unter einer Birkengruppe hielt er seine abendliche Übung ab. Er hieß übrigens Franz-Gustav von Leyden und stammte von präapokalyptischen Unternehmern und Esoterikern ab. »Abendliche Übung« bedeutete: Er zog Helm und Schutzanzug aus, drückte die gefalteten Handrücken ins Moos und die Stirn in die Handflächen und streckte die Beine dem Sternenhimmel entgegen. Kurz: Er machte einen Kopfstand. In dieser Stellung und nur mit Unterwäsche bekleidet verharrte er in der Regel mindestens eine halbe Stunde. Andere Technos, deren Immunsystem in den Jahrhunderten nach der Kometenkatastrophe zusammengebrochen war, hätten bei diesem Anblick an bodenlosen Leichtsinn und Selbstmord gedacht. Doch von Leyden und Seinesgleichen praktizierten diese Art Übungen schon seit zwei Generationen. Auch sie waren infektionsanfällig: Ein Dorn, der sich in die Handfläche bohrte, eine Zecke, die aus dem Birkenlaub fiel und sich in der Kniekehle fest biss, ein kühler Luftzug, der die Durchblutung der Mundschleimhaut hemmte und so den Nährboden für Bakterien schuf – all das konnte auch sie ins Grab bringen.
Dennoch hielten sie an den Übungen fest und festigten damit ihre Widerstandskraft. Die einen nannte es Infektionsroulette, die anderen Yoga in Alarmstufe, wieder andere Nashornübungen. Egal wie man es nannte: Es verlieh einem Mann das Gefühl, ein König zu sein, es gab ihm das Bewusstsein von Würde und Kraft. So einfach war das. Bin mal gespannt, dachte Franz-Gustav von Leyden, während sich das Blut in seinem Hirn sammelte, ob diese Amazonen wirklich blöd genug sind, waffenstarrende Technos anzugreifen. So dachte der Wissenschaftler in ihm - Franz-Gustav von Leyden war Psychologe und Mediziner. Der Mann und politisch denkende Bunkerbürger in ihm aber dachte: Jammerschade um die Frauen. Sie scheinen genau aus jenem Holz geschnitzt zu sein, das wir zu Hause so verdammt gut brauchen könnten. * Dysdoor, Mitte April 2520 Aus dem Tagesmarsch war ein Wochenmarsch geworden. Noch am Vormittag des ersten Tages hatte ihn ein Unwetter in das Mittelgeschoss einer Hochhausruine gezwungen. Blitz und Donner, Hagel und Sturm gingen auf den Flusswald und die Ruinen Düsseldorfs nieder. Rulfan nutzte die Zeit zum Schlafen, so gut es eben ging. Als er am Abend weiterziehen wollte, fand er die Ruine bis zum zweiten Obergeschoss überflutet. Er schaute aus einer der Fensteröffnungen – Geröllhaufen, Bäume und von Efeu und wildem Wein eingesponnen Schilder und Ampelmasten ragten aus einem Tümpel, und der Tümpel schloss die Ruine ein. Es dämmerte bereits. Trotzdem versuchte der Mann aus Salisbury die Ruine über eine Feuertreppe zu verlassen. An der Stelle, wo Sprossen und Holme im Wasser verschwanden,
saßen zwei Kwötschis, die sofort abtauchten, sobald sie seiner gewahr wurden. Unter Wasser konnten noch weitere lauern. Selbst wenn Rulfan die beiden mit seinem Lasergewehr erlegt hätte, wäre das Risiko zu groß gewesen. Zwei Tage verbrachte er in dem Hochhaus, dann erst zog sich der über die Ufer getretene Rhein allmählich wieder in sein Bett zurück. Durch den Schlamm watete Rulfan weiter nach Norden und schoss dabei ein gutes Dutzend Kwötschis ab- Das unbestimmte Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben, trieb ihn voran. Einen vierten Tag kostete es ihn, ausgedehnte Tümpel im Ruinenwald und einige Vorposten der Dysdoorer zu umgehen, einen fünften verbrachte er damit, Fische zu fangen und einen Wisaau-Frischling zu jagen. Mit dem Fleisch frischte er seinen zur Neige gehenden Proviant auf. Am Abend des sechsten Tages erst entdeckte er vom Obergeschoss einer Hochhausruine im Zentrum des alten Düsseldorf die Pfahlsiedlung der Dysdoorer am Ufer des Rheins. Während dieser sechs Tage hatte mindestens zweimal täglich der Jet mit dem hellen Rumpf und den geraden Tragflächen seine Runden über dem Wald und den Ruinen gezogen. Die Nacht verbrachte Rulfan in dem ziemlich gut erhaltenen Hochhaus. Aus morschen Möbeln gelang es ihm ein Feuer zu entfachen, über dessen Glut er die Fische garte, die ihm noch geblieben waren. Sie rochen bereits ein wenig streng. Als die Morgensonne ihn weckte und er kurz darauf vom Fenster aus auf Wald und Ruinen hinunter blickte, beobachtete er einen Trupp von ungefähr zehn Dysdoorer Kriegern, die von der Ufersiedlung weg in Richtung Ruinenzentrum marschierten. Sie zogen einen Handkarren mit sich. Ein kleiner rundlicher Kerl in grünen Kleidern führte sie an. Haynz natürlich, wer sonst. Rulfan warf sich Tornister und Waffe auf den Rücken und
stieg aus der hohen Ruine in den Wald hinunter. Er schlich hinter der Truppe her und folgte ihr bis ins Zentrum der ehemaligen Stadt. Dort verschwanden sie in der gut erhaltenen Ruine des Hauptbahnhofs. Es schien dem Albino nicht ratsam, die alte Bahnhofshalle zu betreten. Wusste er denn, wer sich außer Haynz und seinen zehn Streitern noch in der Ruine aufhielt? Nein, in einen Hinterhalt zu geraten war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Also wartete er in der Deckung eines von Haselnussbüschen und Birken bewachsenen Schutthügels am Rande der Lichtung, die einmal ein Bahnhofsvorplatz gewesen war. Die Minuten verstrichen, und aus den Minuten wurden Stunden. Seine Intuition verriet Rulfan, dass sich in der Bahnhofsruine etwas Entscheidendes tat. Geduldig harrte er aus; irgendwann musste Haynz zurückkommen. Rulfan sah sich um. Wenn man den Kundschaftern der Coelleni glauben wollte, hätte hier, auf der zentralen Lichtung der Ruinenstadt, eigentlich ein silbergraues Kuppelzelt stehen müssen. Rulfan konnte dergleichen aber nicht entdecken und fragte sich, wie zuverlässig die Ortsangaben der Spione aus Coel-len wohl sein mochten. Er wartete ungefähr drei Stunden. Mit Anbruch der vierten kamen einige Dysdoorer Krieger aus dem fenster- und türlosen Eingang der Bahnhofsruine. Fünf Männer zählte Rulfan. Sie schienen es sehr eilig zu haben. Noch einmal eine dreiviertel Stunde später zogen und schoben fünf weitere Dysdoorer in Gelb den Leiterwagen aus der Ruine. Ein elliptischer Körper von über einem Meter Länge und mit einem dünnen Rohr an der Spitze lag schräg in dem mit Fellen ausgepolsterten Wagen. Der Anblick der offensichtlich nicht leichten Spindel elektrisierte Rulfan: Ohne Zweifel war das Ding aus Metall und alles andere als harmlos. Und dann kam der Augenblick, an den er sich in den
kommenden Wochen noch oft erinnern würde; der Augenblick, in dem er ihn zum ersten Mal sah. Dem Wagen mit dem gefährlich anmutenden Ding folgte nämlich ein Paar. Es ging Arm in Arm – sie eine bunt gekleidete junge Frau, wie man sie früher schon häufig und gern in Dysdoor getroffen hatte, und er... Nun, er war jedenfalls kein Dysdoorer. Er trug einen goldfarbenen Ganzkörperanzug, von dem Rulfan nur Arme und Beine und ein kleines Stück des Helmes sah. Ja, ein Helm musste es wohl sein, was sich kugelförmig unter dem blauen Tuch abzeichnete. Der schwere Stoff verhüllte fast die ganze Gestalt. Sollte dies der sogenannte »Gott« sein, von dem die Gefährten aus Coellen erzählten und als dessen Auserwählter Haynz sich sah? »Warte nur, du falscher Heiliger«, knurrte Rulfan. »Dich werde ich gleich ins Gebet nehmen...« Der Helm unter dem blauen Umhang war es, der seine These erhärtete: Der Bursche in Gold stammte aus irgendeiner Bunkerkolonie. Was trieb er hier für ein Spiel mit Haynz und seinem naiven Anhang? Wo steckte er eigentlich, der Hauptmann von Dysdoor? Warum blieb er in der Bahnhofsruine zurück? Rulfan erinnerte sich, dass die Dysdoorer die Ruinen eher mieden. Sollte er in die Halle eindringen und sich den kleinen Dicken vorknöpfen? Oder sollte er sich um lieber um den Fremden kümmern? Wut und Neugier gaben den Ausschlag. Rulfan wollte dem Kerl ins Gesicht sehen, der Coellen völlig grundlos mit einem Jet und antikem Sprengstoff angegriffen hatte. Also wartete er, bis die Gruppe die Lichtung überquert hatte und ein sechsstöckiges Haus erreichte, dessen Dach fehlte. Birken wuchsen aus der obersten Etage dem Mittagshimmel entgegen. Die schwarze Fassade und die Fensteröffnung waren zum größten Teil von Efeu und wildem Wein bedeckt.
In der Deckung von Birken, Ginsterbüschen und Mauerresten pirschte Rulfan sich Meter um Meter an sie heran. Vierzig Schritte etwa trennten ihn noch von dem Fremden, dem Wagen und den Dysdoorern. Der Kerl in Gold zog einen schweren Hammer unter seinem Umhang hervor. Er hob ihn über die Schulter, als wollte er zum Schlag ausholen, doch stattdessen deutete er mit der Linken auf den dünnen Stab, der aus der Spitze des elliptischen Körpers ragte. Danach drückte er einem Dysdoorer den Hammer in die Hand. Der nickte und folgte seinen Gefährten, die den Wagen mit dem gefährlich aussehenden Ding in die Ruine hinein zogen. Der Unbekannte schritt hinter ihnen her, bis zur Schwelle. Dort drehte er sich zu der Frau um und bedeutete ihr zu warten, bevor auch er in dem sechsstöckigen Gebäude verschwand. Die bunt gekleidete Frau tänzelte auf und ab, zog die Schultern hoch und presste immer wieder die gefalteten Hände gegen die Lippen. Sie schien nervös zu sein, und Rulfan wurde es allmählich auch. Er erhob sich, aktivierte sein LP-Gewehr und stemmte den Kolben auf die Hüfte. So verließ er seine Deckung und ging auf das Paar vor der Ruine zu. Die Frau schrak zusammen, als sie ihn bemerkte. Sie starrte ihn und das Gewehr aus großen Augen an, blieb aber stehen. Als er sich ihr bis auf fünf oder sechs Schritte genähert hatte, richtete sie das Wort an ihn: »Er ist verrückt! Orguudoo muss seinen Geist verwirrt haben!« Rulfan runzelte die Stirn. Über einen Gott sprach man normalerweise anders, oder? »Könnt ihr helfen, Rulfan von Coellen?«, flehte die Frau. Sie hatte ihn also erkannt. Nun, dazu bedurfte es nur einer Beschreibung; es gab keinen anderen wie ihn. »Wie heißt du?«, fragte Rulfan. »Hille.« »Und er?«
In diesem Augenblick rannten vier Dysdoorer Streiter aus dem Haus. Sie stießen Rulfan und die Frau auseinander und verschwanden zwischen den Mauerresten. »In Deckung! Schnell, schnell!«, brüllte im nächsten Moment eine tiefe Stimme aus der Ruine. Der Fremde sprang mit wehendem Umhang aus der Tür... und schrak für eine Sekunde zurück, als er Rulfan gewahrte. Dann entschied er wohl, dass andere Dinge vorrangig waren, denn er packte die Frau und riss sie mit sich. Rulfan beschloss die Warnung Ernst zu nehmen – so schnell er konnte, rannte er dem Paar hinterher. Nach achtzig Schritten warfen sie sich hinter einer niedrigen Mauer flach auf den Bauch. Einen Atemzug später erzitterte die Erde, und eine Detonation zerriss die Stille über den Ruinen. Rulfan verschränkte die Arme im Nacken. Nicht weit entfernt ging ein Geröllhagel nieder. Lange Sekunden rührten sie sich nicht. Rulfan war als Erster wieder auf den Beinen. Über die Grundmauer hinweg spähte er zu der Ruine, in die sie die Bombe geschafft und den armen Trottel mit dem Hammer zurückgelassen hatten. Die Ruine gab es nicht mehr; eine gigantische Staubwolke senkte sich auf einen riesigen Schutthaufen herab. Neben Rulfan rappelte sich der Fremde hoch und klopfte sich den Dreck aus Umhang und Goldanzug. »Du hast den ahnungslosen Kerl mit dem Hammer auf den Zünder schlagen lassen, stimmt's?« Rulfan sprach leise und schleppend und mit tonloser Stimme. »Kümmere er sich um seine Angelegenheiten!«, blaffte der Verhüllte. Er hörte auf zu klopfen und blickte Rulfan an. »Wer ist er überhaupt? Wir haben ihn noch nie hier gesehen!« Blitzschnell rammte Rulfan ihm den Ellenbogen in den Solarplexus. Der Fremde klappte zusammen, blies stöhnend die Luft aus. Die Frau namens Hille stieß einen spitzen Schrei aus
und warf sich zwischen Rulfan und den Mann in Gold. Offenbar empfand sie etwas für ihn – auch wenn Orguudoo seinen Geist verwirrt haben mochte. Rulfan stieß zur Seite, riss dem Mann das blaue Tuch von Kopf und Schultern, packte ihn knapp unterhalb seines Helmes an seinem Goldanzug und riss ihn hoch. Der Helm war von innen beschlagen. Kurzerhand hebelte Rulfan den Bügel auf, der Helm und Anzug miteinander verband. »Wer bist du, verdammt noch mal?!« Obwohl er wusste, dass er etwas Gefährliches tat, stieß er ihm den Kugelhelm in den Nacken. Er blickte in rote, weit aufgerissene Augen. Augen, die zu einem bleichen, langen und sehr schmalen Gesicht gehörten. Unzählige Pickel blühten auf der weißen Haut, vor allem auf der Stirn und am Kinn. Der Bursche war allerhöchstens siebzehn Jahre alt. »Wer bei Orguudoo bist du?!«, brüllte Rulfan ihn an. Der Junge ging in die Knie, hob abwehrend die Hände, als fürchtete er Prügel. »Conrad... bitte nicht schlagen... Es war alles nur ein Test...!« Jede Affektiertheit war von dem Burschen abgefallen. Weinerlich klang seine Stimme jetzt und viel heller; vermutlich hatte er zuvor einen Stimmsythesizer im Helm benutzt. »Conrad?« Rulfan ließ die Faust sinken. Von irgendwoher dröhnte ein Triebwerk. »Conrad von Leyden aus Marienthal...« Er griff hinter sich, langte nach seinem Helm und stülpte ihn wieder über seinen kahlen Schädel. »War alles nur ein Test... ein harmloser Test... Sie müssen mir glauben!« Das Heulen und Röhren des Triebwerks wurde lauter. Ohne den Burschen loszulassen, blickte Rulfan sich um. Aus der alten Bahnhofshalle schoss ein heller Jet. Rulfan sah ihn nur eine oder zwei Sekunden lang, dann war die Maschine zwischen den Ruinen verschwunden. »Was soll das?!«, brüllte er den Hänfling an. »Wer fliegt das
Ding?!« »Haynz«, sagte Hille. Der Bursche breitete die Handflächen aus. »Auch nur ein kleiner Test, ehrlich!« »Hat er...« Rulfan deutete auf den noch immer in Staub gehüllten Trümmerhaufen. »Hat er etwa auch eine Bombe an Bord...?« »Für den schwarzen Doppeldom. Sieht doch sowieso scheiße aus, oder?« Der Junge lächelte dümmlich. »Ich sag doch, nur ein Test...« »Du verdammter Mistkerl!« Diesmal schlug Rulfan mit der Faust zu, und das mit voller Wucht... * In der Gegend von Cooplens, am 12. Tag des 4. Mondes des 508. Winters nach Kristofluu »Ich habe Angst.« Ganz nah an Maris' Ohr flüsterte Naryma diese Worte. Niemand durfte sie hören, niemand außer der geliebten mater. »Ich habe solche Angst.« In ein Wakudafell gewickelt drängten sie sich an einem der Hänge jener zauberhaften Flusslandschaft aneinander. Zwischen den Baumkronen schimmerte der Mond als verwaschener Fleck hinter den Wolken. Die Nacht war still; nur die Atemzüge der Schwestern, die ihnen am nächsten lagen, hörten sie manchmal. Maris schloss ihre starken Arme um die Kleine, drückte Narymas Blondschopf zwischen ihre Brüste. »Nein, kleine Schwester, hab keine Angst. Wir werden sie vernichten. Niemand kann den Töchtern des Höchsten Sohnes widerstehen.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher, mein kleines Herz. Wir werden sie in den Abgrund stoßen, aus dem sie heraufgekrochen sind. Wir wer53
den ihre grausamen Fratzen aus dem Gedächtnis der Erde tilgen, und nie wieder wird Kristofluu diese Welt bedrohen. Ich weiß es, vertrau mir.« Narymas Körper bebte in ihren Armen, das Mädchen antwortete nichts. Maris konnte die Hitze ihres Atems auf ihrer Haut spüren. »Vertraust du mir, Kleines?« »Ja«, flüsterte Naryma. »Glaubst du an den Sieg des Höchsten Sohnes?« »Ja.« Naryma griff nach dem geweihten Amulett, dass sie bei jenem getöteten Hordenhäuptling gefunden hatten. Ihre Faust schloss sich darum. Unter den Küssen und Liebkosungen der mater kam ihr flatterndes Herz endlich zur Ruhe. Kurz vor dem ersten Morgengrauen weckte die dritte Nachtwache sie. Leise sangen Schinee und Naryma die Morgenmesse. Danach tranken sie Wasser und aßen Trockenobst. Anschließend schmierten sich die Schwestern die sichtbaren Stellen ihrer Haut mit feuchtem und mit Speichel vermischtem Waldboden ein. Wie die wilden, kriegerischen Reiter aus dem Osten sahen sie danach aus – schmutzig, wild und zum Äußersten entschlossen. Rimaya, die kräftig gebaut war, nahm das Kreuz mit der Haut der geschundenen mater, und Naryma trug die Heilige Standarte. Maris ließ die elf ministratos auf die Frekkeuscher steigen und wies sie an, einen Angriff gegen den Höllenwagen und lucifas Knechte zu führen. Wurfspieße und Jagdbögen sollten sie einsetzen. Die Männer fragten oder protestierten nicht. Sie stiegen in die Sättel und ließen ihre Tiere springen. Maris selbst kletterte an der Spitze der Schwestern die Böschung hinauf. Als die ersten beiden Frekkeuscher mit ihren Reitern in einem Feuerball verglühten. schlugen sich die Frauen mit den Fäusten gegen Stirn, Brust und Schultern. Dann griffen sie den Höllenwagen aus dem Hinterhalt an.
* Dysdoor, Mitte April 2520 »... hören Sie auf! Bitte, bitte...!« Der Bursche krümmte sich im Gestrüpp, hatte die Knie an die Brust gezogen und hielt die Unterarme schützend über seinen Helm. »Es sind doch nur Tests! Ich führe Krieg, ich muss doch kämpfen...!« Hille warf sich über ihn, deckte ihn mit ihrem Körper. »Bitte, Rulfan von Coellen«, flehte sie. »Bitte...!« Breitbeinig und die Waffe im Anschlag stand Rulfan über ihnen. Auf einmal tat ihm der dürre, hochgewachsene und pickelige Junge Leid. »Krieg? Was haben dir die Coelleni denn getan, du Rotzbengel?!«, schnauzte er ihn an. »Nicht gegen die Coelleni führe ich Krieg, sondern gegen meinen Vater...« Rulfan runzelte die Stirn, seine Augen wurden schmal. »Das wirst du mir nachher in aller Ruhe erklären. Jetzt aber steigst du in die andere Maschine und holst Haynz von Dysdoor vom Himmel. Und zwar bevor er den Dom erreicht. Wie du das anstellst, ist mir egal!« »Aber... ich...« »Mach schon!«, brüllte Rulfan. Er packte die Frau und richtete das LP-Gewehr auf den Jungen namens Conrad. »Steig in die andere Maschine und hol ihn runter, von Leyden!« Der Junge rappelte sich auf. »Und wehe, du machst dich aus dem Staub!« Rulfan schwenkte den Lauf seiner Waffe auf Hille. Die schlug erschrocken die Hände vor den Mund. »Es liegt dir doch was an ihr, oder?«, fragte er mit drohendem Unterton. »Verhindere die Bombardierung und du bekommst sie unversehrt zurück!« Der Albino griff in die Innentasche seines Ledermantels und zog den Beutel mit dem Weltrat-Serum heraus. »Und als Zugabe eventuell das hier. Ein Mittel gegen die Immunschwäche. Darunter leidet du doch auch, sonst würdest
du diesen Anzug nicht tragen. Und nachdem du eben verseuchte Luft geatmet hast...« Ungläubig stierte Pickelgesicht auf den Beutel mit der weißlichen Flüssigkeit. Dann nickte er hastig. »Dann mach schon! Hol ihn runter! Du hast nicht mehr viel Zeit!« Der Junge rannte los, verschwand in der Bahnhofsruine. Neunzig Sekunden später heulte der Jet aus der Halle und verschwand zwischen den Ruinen. Und noch einmal dreißig Sekunden später sah Rulfan ihn an der Stelle in den Himmel steigen, wo der Rhein verlief. Rulfan und Hille blickten dem Düsenjäger hinterher. »Hab keine Angst, Hille«, sagte der Albino. »Ich habe nicht vor, dir etwas anzutun. Ich will nur...«, er sah zu dem Trümmerhügel der gesprengten Ruine, »... dass er sich genauso viel Mühe gibt wie mit dem Kaputtmachen!« * Im Urwald zwischen Koblenz und Maria Laach, Mitte April 2520 Franz-Gustav von Leyden schlief nicht. Wenn er nicht wollte, brauchte er nicht zu schlafen. Wenn er nicht wollte – davon war er überzeugt – konnte kein Virus, kein Bakterium der Welt ihm etwas anhaben. Vorausgesetzt, er bekam regelmäßig seine Weinration und war auf der Höhe seiner Kraft. Und das war er, sonst hätte er es nicht gewagt, dem Alten zu trotzen und sein Lager außerhalb der Kolonie aufzuschlagen. Und schon gar nicht hätte er es gewagt, sich auf die Suche nach seinem Neffen Conrad zu machen. Der Kleine war seit Monaten überfällig. Als die Frauen aufstanden und sich zum Kampf rüsteten, hörte er jedes Laubblatt, das sie streiften, jedes Ästchen, das unter ihren nackten Fußsohlen brach. Er hörte die Flügel der
Frekkeuscher schwirren, als sie die Kahlköpfe mit ihren lächerlichen Spießen und Bögen und Pfeilen zur Autobahn hinauf trugen, er sah die Umrisse der Amazonen nahe an seiner Deckung vorbei schleichen, als sie an den Panzer heran pirschten. Er hörte ihren Atem, er roch ihren Schweiß. Ihre Nähe erregte ihn; und gleichzeitig bedauerte er die Frauen. Schade, wirklich schade um sie. Im Osten schimmerte bereits ein milchiger Streifen am Nachthimmel. Der neue Tag brach an. Von Leyden wartete, bis die zwölf Kämpferinnen den Rand der alten Autobahntrasse erreicht hatten. Danach kletterte er den Hang hinunter und gelangte wieder zu der Lichtung, von der aus er den Panzer zum ersten Mal beobachtet hatte. Er aktivierte den Nachtsichtmodus seines Helmobjektivs. Das Okular stülpte sich aus der Innenseite seines Helmes und schmiegte sich an seine Augenhöhlen. Deutlich sah er den Panzer oben auf der Brückenruine stehen. Noch war alles ruhig. Die Russen – er nannte sie wegen ihres drolligen Banners aus antiken Zeiten so – hatten sich in ihre Festung verkrochen und fühlten sich so sicher, dass sie nicht einmal Wachen aufgestellt hatten. Nicht nur wegen ihrer bevorstehenden Niederlage bedauerte von Leyden die Amazonen, sondern auch wegen ihrer Dummheit. Wer einen solchen Koloss mit Schwert und Bogen angriff, der konnte nicht mehr richtig ticken. Die ersten drei Mammutheuschrecken schwirrten durch sein Blickfeld. Von unten, vom Flusstal stiegen sie in der Deckung des Brückenpfeilers auf, sprangen über den Bruchrand der Autobahn und gingen den Panzer frontal an. Warfen ihre Reiter Speere oder schössen sie Pfeile ab? Trotz Nachtsichtgerät und Zoom war das schwer zu entscheiden. Aber egal; es würde ihnen nichts nützen. »Arme Irre...« Kaum hatte er das gesagt, schraubte sich ein Geschützturm aus dem Mittelteil des Panzers, und fast
zeitgleich zischte ein Laserstrahl in das HeuschreckenGeschwader – zwei verglühten samt Reiter in einer gleißenden Feuerkugel. »Himmel über Köln...!«, stöhnte von Leyden. »Heiliges Rhinozeros...!« Eine dritte und vierte Glutkugel blähte sich am Nachthimmel auf. Luken Öffnete sich an der Seite des Panzers, vier oder fünf Gestalten sprangen ins Freie. Nicht einmal jetzt trugen sie irgendeinen Kopfschutz. Viele nadelfeine Strahlen schossen in den Himmel, trafen Heuschrecken und Reiter. Im Schein des tödlichen Lichts sah von Leyden Speere und Pfeile gegen den Panzer prallen. Und dann sah er die ersten Amazonen aus ihrer Deckung in der Böschung springen. Bis auf zehn Schritte hatten sie sich im Schutz von Gestrüpp und Gebüsch an den Panzer herangeschlichen, nun legten sie die letzten Meter mit gezückten Langschwertern und Äxten zurück. Von Leyden konnte ihre Kampfrufe hören. Sie klangen wie das Geschrei hungriger Greifvögel. Kalte Schauer rieselten ihm über Rücken und Schultern. Eine hochgewachsene und stark gebaute Frau führte den Sturmangriff an. Sie trug ein Kreuz vor sich her. Dieses Weib trafen die mobilen Laserwaffen der Russen als Erste. Mit brennendem Haar stürzte sie von der Brücke. Im Feuerschein eines getroffenen Rieseninsekts erkannte von Leyden ein Schild an einer Stange; eine Art Standarte, vermutete der heimliche Beobachter. Die hinterste der angreifenden Amazonen trug das Ding. Schon drangen die ersten Schwertträgerinnen auf die hoffnungslos überlegenen Russen ein. Von Leyden biss sich auf die Unterlippe. In diesem Augenblick drehte ein getroffenes Fluginsekt eine Schleife über dem Flusstal, trudelte vom Himmel wie eine brennende Fackel und nahm Kurs auf von Leydens Standort. Er rannte in den Wald, so schnell ihn seine Füße trugen. Die brennende Heuschrecke schlug auf, und in Null Komma nichts
stand die Lichtung in Flammen. »Scheiße!«, fluchte von Leyden. Er versuchte auf einen Baum zu steigen, um einen besseren Aussichtspunkt zu gewinnen, doch die nächste Heuschrecke brach nur wenige Schritte neben ihm brennend durch das Laubdach. Sekunden später brannten ein paar Bäume rechts und links. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich noch tiefer in den Wald zurückzuziehen. Er fand einen Felshang, kletterte hinauf, aber die über ihm stehenden Bäume ließen keine Sicht auf den Kampfplatz zu. Von Leyden hockte im Moos auf seinen Fersen, stemmte sein Lasergewehr zwischen seine Knie und aktivierte das Funkgerät an seinem linken Handgelenk. Die Russen hatten jetzt anderes zu tun als auf ihre Ortungsinstrumente zu glotzen. Er funkte seinen Identifikations-Code. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Marienthal an FGL«, schnarrte eine Männerstimme. »Sieh einer an! Doch noch Heimweh gekriegt? Kommen. » »FGL an Marienthal. Leck mich. Reines Verantwortungsgefühl. Gibt schließlich auch anständige Menschen bei euch. Also hör zu...« »Standort, FGL. Kommen.« »Ich werd dir gleich ›Standort‹! Spitz gefälligst die Ohren, ich hab eine Warnmeldung! Da ist ein Riesenpanzer im Anmarsch, steht hier auf einer Autobahnbrücke und äschert gerade arme Barbarinnen ein. Kommen.« »Was für ein Jammer! Standort?« Von Leyden seufzte. »Ehemalige A 61, Höhe Ruinen Koblenz, Neuwied, würd ich mal sagen.« Er blieb bewusst ungenau. Er hatte Marienthal nicht den Rücken gekehrt, damit sie ihn nach zwei Wochen schon wieder einfingen und dem Zorn des Alten zuführten. »Möglich, dass sie in unsere Gegend kommen. Mein Rat: Geht ihnen aus dem Weg. Sag das dem Alten. Kommen.«
»Du weißt doch, dass wir Kontakte mit fremden Zivilisationsträgern ohnehin meiden. Was soll das also? Kommen.« »Nun, Marienthal – die hier scheinen mir besonders gefährlich zu sein. Außerdem halte ich es für möglich, dass sie nach etwas Bestimmtem suchen in unserer Gegend. Würde mich nicht wundern, wenn sie von Marienthal Wind bekommen haben und nach dem Schlachtfest hier Richtung Ahrtal weiterfahren. Ich fürchte um unsere Weinvorräte. Kommen, Marienthal.« »Du redest Schrott, FGL. Wann kommst du nach Hause? Irgendwann musst du doch um deinen Weinvorrat fürchten...« »Das war's dann, Marienthal, Ende der Durchsage.« FranzGustav von Leyden unterbrach die Verbindung. Wieder wuchs eine Feuerkugel über den Bäumen. Der Wind trug wildes Geschrei zu ihm herüber, Flammen prasselten im Unterholz. Am östlichen Horizont schob sich das Morgengrauen in den Nachthimmel. * Zwischen Coellen und Dysdoor, Mitte März 2520 Sein Feuervogel erreichte die äußeren Ruinen von Coellen. Kiefern und Kaumuskeln schmerzten, so fest biss Haynz die Zähne aufeinander. Der Hauptmann von Dysdoor flog langsam, nur so schnell, wie ER es ihm eingeschärft hatte, und er flog nicht höher, als ER geboten hatte: zweihundert Fuß. Haynz hatte nie zuvor gehört, dass man Höhe auch in Füßen messen konnte, aber was »zweihundert Fuß« bedeutete, würde er nie wieder vergessen. Von Efeu und Winden gefesselte und von Birken und Haselnuss besetzte Rostskelette ragten so hoch aus Wald und Ruinen, dass Haynz glaubte, ihnen ausweichen zu müssen. Von Zeit zu Zeit schloss er sogar die Augen statt den Eisenvogel zu manövrieren, weil er den Zusammenprall
für unausweichlich hielt. Manchmal sah er die Eier in den Vogelnestern auf den Kronen der höchsten Bäume. Am Horizont erkannte er die Dächer des besiedelten Teils der Ruinenstadt. Schwarz reckten sich die beiden Spitzen des Doms in den Himmel. Seine Rechte verkrampfte sich um die Steuersäule – wenn er sich nicht gerade die nasse Handfläche an seiner grünen Hose abwischte –, die Finger der Linken schwebten zitternd über Dutzenden von Anzeigen und Schaltern. Dutzenden? Nein – Hunderte von Instrumenten waren das, Tausende! Bei Wudan, wie schnell der Dom heran flog! Wie schön war es gewesen, ein paar Schleifen über Dysdoor und den Großen Fluss zu ziehen, wie schön vor allem, wenn ER die Steuerung wieder übernahm und den Eisenvogel zurück auf die Erde brachte. Haynz schielte nach dem Knopf für den Schleudersitz. Zum ersten Mal fragte er sich, warum der Sitz »Schleudersitz« hieß. Die Dächer Coellens! Zum Greifen nah waren sie jetzt! Und der Dom erst! Mit einer Ecke seines grünen Umhangs wischte sich Haynz den kalten Schweiß von der Stirn. »Also, Haynzchen, ganz stark sein, hörste? Wie hat der HERR befohlen?« Er schluckte, wischte wieder Schweiß von der Stirn. Unter ihm huschten nun die ersten Dächer der Coelleni vorbei. »Das schrecklich schwarze Dom-Ding ansteuern und kurz davor den Knopf für den Schleudersitz drücken, das hat der HERR befohlen, jawoll!« Er reckte das Kinn nach vorn, schluckte erneut, schielte nach dem Knopf für den Schleudersitz. So fest hielt er die Steuersäule umklammert, dass seine Fingerknöchel bleich unter der rot gefärbten Haut hervortraten. Der Dom, wenige hundert Meter noch, und dann... Da! Was war das! Ein schlanker Schatten glitt von hinten heran, flog plötzlich neben ihm – der zweite Feuervogel, den ER zum Fliegen gebracht hatte!
Haynz riss Mund und Augen auf, als er sah, wie gefährlich nahe der andere Stahlvogel neben dem seinen flog, und wie er näher und näher kam. Unter der Cockpit-Kuppel erkannte Haynz IHN, und zum ersten Mal sah er sein Gesicht: ER fuchtelte, deutete auf die Armaturen, bewegte die Lippen und – Haynz traute seinen Augen nicht – schnitt ängstliche Grimassen. Ja, ängstliche Grimassen. Wie konnte ein Gott Angst haben? So dicht schob ER SEINEN Feuervogel heran, dass Haynz gar nichts anderes übrig blieb, als abzudrehen. Der Fluss, der Dom und die Dächer von Coellen blieben rechts zurück... * Im Urwald zwischen Koblenz und Maria Laach, Mitte April 2520 Endlich verstummte das Kampfgeschrei. Der Schein der Lasersalven und der brennenden Angreifer verglomm nach und nach. Eine halbe Stunde später zog ein Regengebiet von Westen her über das Gebirge. Der Schauer löschte die Flammen am Waldrand und in der Böschung. Noch einmal eine halbe Stunde später ging die Sonne auf und der Regen hörte auf. Franz-Gustav von Leyden wagte sich von seinem Felsen in den Waldhang hinunter. An drei verkohlten Kadavern von Riesenheuschrecken vorbei schlich er bis an den Rand der Lichtung unter der Autobahntrasse. Dort aktivierte er seine Helmoptik. Aus dem Flusstal quoll noch Rauch, auch im Steilhang der Böschung schwelten noch Leichen von Menschen und Insekten vor sich hin. Er richtete seinen Blick zur Autobahnbrücke hinauf und zoomte den Panzer heran. »Das ist nicht wahr!«, entfuhr es ihm. »Das kann einfach nicht sein!« Dort oben, neben dem Panzer und auf seinem Dach standen
die Amazonen! Mindestens fünf zählte von Leyden. Eine mit langem Schwarzhaar war übermütig genug gewesen, in den goldfarbenen Anzug ihrer besiegten Gegnerin zu steigen. Alle schwangen sie ihre Schwerter und Äxte und schrien den Himmel an. Vielleicht war das ihre Art zu beten, vielleicht brüllten sie auch nur ihren Triumph heraus. Von Leyden an ihrer Stelle hätte auch gebrüllt vor Erleichterung. Eventuell sogar gebetet. Er war fassungslos. * Coellen, Mitte April 2520 Inzwischen wussten alle Coelleni, was auf sie zu kam, wenn das Heulen eines Feuervogels sich von fern bemerkbar machte. Die meisten hatten sich in ihre Keller verkrochen. Nur Honnes und Jup-pis und ein paar Aufrechte versammelten sich auf dem Domplatz. Die meisten neben den Katapulten. Einige standen für sich allein am Rande des Domplatzes und zielten mit ihren Armbrüsten in den Himmel. Wut und Verzweiflung verdunkelte ihre Gesichter. Doch dann wurden sie Zeugen eines .seltsamen Schauspiels: Statt die zerstörerischen Dinge abzuwerfen, die Rulfan »Sprengladungen« nannte, flog der schlankere und dunklere der beiden Eisenvögel so dicht an den breiteren und helleren heran, dass dieser ausweichen und eine Kurve fliegen musste. Die Spitzen seiner Flügel wippten auf und ab. während er sich von der Stadt entfernt. Es sah aus, als könnte er sich für keine Flugrichtung entscheiden. Auf einmal bäumte sich sein Schnabel auf, und er raste steil himmelan. Der zweite, schlankere Eisenvogel drehte ab und begann eine weite Schleife über den Wald zu fliegen, der sich vor der Stadt ausbreitete. Der helle Eisenvogel wackelte hin und her, begann sich plötzlich um seine Längsachse zu drehen. So
schoss er in flachem Winkel dem Wald entgegen. Honnes und seine Streiter beobachteten es mit ungläubigen Blicken. Etwas löste sich plötzlich von der Oberseite des abstürzenden Feuervogels, und etwas anderes, Dunkleres wurde aus ihm heraus geschleudert. Eine Art Kuppeldach entfaltete sich darüber und bremste den Fall des dunklen Körpers ab. Der Feuervogel aber raste ungebremst dem Wald entgegen. Als er einschlug, erbebte die Erde. Ein gewaltiges Krachen donnerte über die Baumwipfel und die Dächer Coellens. Einige Streiter hielten sich die Ohren zu, andere warfen sich auf das Pflaster des Domplatzes. Eine Feuersäule schoss aus dem Wald, und ein Pilz aus Rauch stieg auf... * Im Urwald zwischen Koblenz und Maria Laach, Mitte April 2520 Was jetzt? Mit diesen wunderbaren Frauen Kontakt aufnehmen? Oder diesen mörderischen Amazonen aus dem Weg gehen? Hin und her gerissen, zog sich Franz-Gustav von Leyden in den Wald zurück. Im Unterholz ließ er sich nieder und öffnete seinen Vitalkoffer. Noch drei Beutel und zwei Fläschchen. In seinem sterilen Kuppelzelt in den Ruinen von Koblenz hatte er zwar noch einen gewissen Vorrat an Wein, Nahrung und Flüssigkeit, aber auch der reichte nur noch bis zum Frühsommer. Wenn er seinen Neffen nicht bald fand, würde er daran denken müssen, sich mit dem Alten zu versöhnen. Von Leyden betätigte einen Knopf unten an der Dichtung seines Helmes. Ein Kunststoffröhrchen wuchs hervor, außen und innerhalb des Helmes bis zu seinen Lippen. Er riss den Beutel mit der steril abgefüllten Flüssignahrung auf und steckte das externe Ende des Röhrchens hinein. Langsam saugte er die
Kaltsuppe auf. Anschließend öffnete er den Wein. Ein Riesling, Jahrgang 2516. Kein schlechter Jahrgang, obwohl die Sorte ihm fast ein wenig zu lieblich war. Aber in der Hast und der Tarnung, die sein überstürzter Aufbruch nun mal verlangt hatten, war ihm auf die Schnelle nichts Besseres in die Hände gefallen. In der Kuppel in Koblenz lag noch ein besserer Tropfen, ein Spätburgunder von 2517. Er gönnte sich das ganze Fläschchen. Dabei dachte er gründlich nach. Schließlich entschied er sich, den Amazonen aus dem Weg zu gehen. Kannte er denn den Grund ihres Angriffs auf den Panzer? Nein. Möglicherweise hatten sie ihn aus reiner Mordlust verfolgt und angegriffen. Das Gewehr in der Armbeuge, stieg er Minuten später den Hang hinunter. Er wollte zurück zum Fluss. Der Gedanke an diesen prächtigen Panzer wurmte ihn. Eigentlich sollte er sich das Ding unter den Nagel reißen. Er blieb stehen. Natürlich! Irgendwie würde er die Festung schon zum Rollen bringen. Schließlich war er nicht auf den Kopf gefallen. Was wollten die Amazonen schon mit dem Panzer anfangen? Aber wenn er, Franz-Gustav von Leyden, mit einem solchen Gerät vor dem Hauptschott von Marienthal aufkreuzte, dann würde dem Alten seinen Größenwahn ganz schnell vergehen. Er beschloss zurück zur Lichtung zu marschieren, um abzuwarten, bis die Amazonen das Feld räumten. Keine drei Schritte später raschelte es im Unterholz. Sofort ging er in die Knie, aktivierte sein Gewehr und legte es an. Er lauschte. Äste brachen dreißig oder vierzig Meter entfernt. Wieder raschelte Laub, und dann stöhnte jemand. Etwas Braunes bewegte sich dort. Fell? Er pirschte sich näher heran. Bis er menschliche Haut und blondes Haar erkannte. Die Frau aus dem Panzer oder eine der Amazonen? Er richtete sich auf, ging zu der Stelle. Die Frau
sah eher nach einer Amazone aus. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Ihr Unterkiefer bebte, Speichel triefte von ihren Lippen. Mit der Linken umklammerte sie ein Kreuz, die gespreizten Finger der Rechten streckte sie ihm entgegen. Sie brabbelte unverständliches Zeug, als von Leyden sie nach Verletzungen untersuchte. Er fand eine klaffende Risswunde am Unterschenkel. Sah nicht gut aus. Sie war sehr jung, höchstens sechzehn. Und sie war schön. Himmel über Köln, war sie schön! Und vollkommen verstört. Er Öffnete seinen Vitalkoffer, entnahm ihm Verbandsmaterial. Das Mädchen schluchzte und klapperte mit den Zähnen. Nervenzusammenbruch. Die Kämpfe schienen sie um den Verstand gebracht zu haben. Wahrscheinlich wusste sie gar nichts von dem Sieg ihrer Gefährtinnen. Von Leyden reinigte die Wunde, sprühte den antibakteriologischen Heil verband auf. An ihrem schlanken Hals entdeckte er ein Schmuckstück. Behutsam nahm er es in die Hand und betrachtete es. Es war eine Art Amulett. Fast musste er lachen, als er begriff, woraus es bestand: »Heiliges Rheintal! Eine Uhr in geschmolzenem Glas! Und Jim Trash persönlich auf dem Zifferblatt!« Wo hatte sie das denn her? Das Mädchen nahm ihm das Ding aus den Fingern. Große blaue Augen hingen ängstlich an seinem Helm. Er strich ihr eine blonde Strähne aus dem schmutzigen Gesicht. »Keine Angst, ich helfe dir.« Er lächelte. Wie göttlich schön dieses Mädchen war! Wenn er eine solche Frau nach Marienthal brachte... Seine Gedanken begannen zu arbeiten, er wog das Für und Wider ab, während er die Kleine mit Wasser und anschließend mit einem Beutel seiner Flüssignahrung versorgte. Dann war seine Entscheidung gefallen. Er schnallte sich den Vitalkoffer auf den Rücken und schob
die Arme unter ihren schmalen Körper. »Komm, Kleine, ich bring dich zu deinen Schwestern.. .« * Dysdoor, Ende April 2520 n.Chr. Zwei Tage lang suchten sie Haynz in den Ruinenwäldern. Schließlich entdeckte ihn Wulf in der Nähe der Stadionruine, dem ehemaligen Hauptquartier der Rebellen. Der Schleudersitz klemmte im Geäst einer Buche fest, der Fallschirm hatte sich in der Krone verfangen. Durst und Blutverlust hatten dem Hauptmann von Dysdoor das Bewusstsein geraubt. Drei Stunden brauchten sie, um ihn aus dem Baum zu holen. Auf einer rasch zusammengebundenen Trage aus Ästen schleppten sie ihn nach Coellen und ans Rheinufer, wo Rulfan inzwischen die Twilight Of The Gods geankert hatte. Im Notfallkoffer, den Dave ihm zum Abschied geschenkt hatte, fand er ein paar Infusionsflaschen mit einer Art Humanalbumin. Das verabreichte er dem bewusstlosen Haynz. In den Infusionsschlauch spritzte er ihm ein Kreislauf stabilisierendes Mittel. Auf dem Luftkissenboot transportierten sie den Bewusstlosen nach Dysdoor. Am nächsten Tag kam er zu sich, und die nächsten zwei Wochen jammerte er. Er hatte sich etliche Rippen gebrochen, dazu wohl auch die Wirbelsäule, wie Rulfan vermutete, denn er konnte seine kurzen stämmigen Beine nicht mehr bewegen. Conrad scheute die Dysdoorer auf einmal, außer Hille natürlich. Das Paar war unzertrennlich. Rulfan fragte sich, wie der Junge es anstellte, die Frau zu befriedigen, ohne sich irgendwelche Krankheitserreger einzufangen; rein technisch betrachtet. Wie er erfahren hatte, waren die Technos in Marienthal seit zwei Generationen bemüht, ihr Immunsystem durch regelmäßige, kontrollierte Belastungen wieder aufzubauen. Es
war ein heikles, risikoreiches Verfahren, aber es zeitigte schon erste Erfolge: Ansonsten hätte von Leyden bei aller Vorsicht die Zeit hier draußen kaum so lange überstehen können. Rulfan sah ihn manchmal mit zurückgeklapptem Helm aus der Bahnhofsruine kommen, einmal sogar mit nacktem Oberkörper. Eine Tätowierung bedeckte seinen gesamten Rücken bis zum Nacken: ein Rhinozeros. Nun, bald schon würde sich die Infektionsgefahr ohnehin enorm reduzieren: Rulfan hatte dem Jungen wie versprochen den Serumsbeutel auf die Brust geklebt und die Infusionsnadel in eine Vene eingeführt. In ein paar Tagen würde sein Immunsystem vollends wieder anspringen. Der Junge hielt sich an Rulfans Seite, wann immer er konnte. Wenn der Albino von der britischen Insel, von den Nordmännern und von der Expedition zum Kratersee erzählte, hing Conrad an seinen Lippen wie an denen eines Lehrers. Der Bursche war übrigens tatsächlich erst siebzehn. Seinen wirklichen Vater hasste er. Viel mehr hatte Rulfan noch nicht herausbekommen. Er verlangte von Conrad, dass er die Dysdoorer und ihren Hauptmann über seine Menschlichkeit aufklärte. Das tat er, wenn auch ein wenig stammelnd und mit sehr sparsamen Worten. Zu einer Entschuldigung aber konnte er sich nicht durchringen. Dafür suchte er die Ruinen nach Material ab, aus dem er Haynz einen Rollstuhl bauen konnte. Von da an ging er den Dysdoorern aus dem Weg. Auch von einer Entschuldigung bei den Coelleni wollte er zunächst nichts wissen. Doch in diesem Punkt blieb Rulfan hart. »Dein Schwarzpulver hat drei Männer das Leben gekostet«, hielt er ihm tagtäglich vor. »Außerdem hast du das Dach eines Mannes namens Münges zerstört. Du hast außerdem den Domplatz verdreckt, ein Loch in die Stallung meiner Freunde gesprengt und zwei Frekkeuscher, drei Wakudas und eine Androne getötet. Bring die Sache in Ordnung, und zwar
schnell! Sonst werden sie dich vor ein Bürgergericht stellen.« So kam es, dass Rulfan acht Tage, nachdem sie Haynz in seinem Schleudersitz gefunden hatten, mit Conrad von Leyden und Hille nach Coellen fuhr. Der Kanzler, Juppis und drei Vertreter des Bürgerrates kamen an Bord der Twilight Of The Gods, und Conrad stammelte seine Entschuldigung. Außerdem bot er als Wiedergutmachung seine Werkstatt in der Bahnhofsruine, sein Know-how zur Herstellung von Schwarzpulver und vier Fässer Wein, die er allerdings erst aus Marienthal beschaffen musste. Die Delegation aus Coellen akzeptierte Entschuldigung und Reparationspreis. Nach der knapp einstündigen Verhandlung lud Jannes Attenau zum Versöhnungsmahl in sein Haus. »Wer bist du, Conrad von Leyden?«, wandte sich Honnes nach dem Essen an den Jungen. »Wo kommst du her? Erzähl uns von Marienthal. Erzähl uns deine Geschichte.« Die Gespräche um die runde Tafel verstummten. Alle Augen hingen jetzt an Conrad von Leyden. Der sah hilfesuchend nach Rulfan. »Los, Junge, erzähl schon«, sagte der. »Marienthal ist eine Stadt unter der Erde«, begann Conrad. »Wir sind dort sehr viele Männer und sehr wenige Frauen.« Mit einer Kopfbewegung bedeutete Jannes seiner Schwiegertochter, sich Notizen zu machen. Gittis wickelte einige Wachstäfelchen aus einem Tuch und begann sie zu beschriften. »Ich bin geflohen, weil mein Vater mich töten wollte«, erzählte Conrad. »Ich habe die Flugzeuge repariert und die Sprengstoffe getestet, weil ich meinen Vater angreifen will. Er heißt Hanns-Claudio von Leyden, oder einfach HCL, wie viele von uns ihn nennen, wenn er nicht in der Nähe ist. HCL ist ein abscheulicher Tyrann. Er hat die rechtmäßige Regierung von Marienthal gestürzt und die Herrschaft an sich gerissen...« Rulfan kraulte Wulfs Nackenfell, hörte zu und nickte
gedankenversunken. Wenn er seinen Auftrag erfüllen wollte, den Bunkerleuten das Serum zu bringen und sie auf eine Allianz einzustimmen, hatte noch viel Arbeit vor sich. Und wie es sich anhörte, würde sie nicht einfach werden... * Im Urwald zwischen Koblenz und Maria Laach, Mitte April 2520 Sie war nicht schwer, die Kleine, vierzig oder fünfundvierzig Kilo vielleicht. Kein Problem für einen durchtrainierten Mann wie Franz-Gustav von Leyden, sie bis zur ehemaligen Autobahn hinauf zu tragen. Sie klammerte sich an ihn, bohrte ihre Stirn in seine Achsel und weinte ununterbrochen. Vollkommen fertig, das Mädchen. Ihr Körper bebte, und sie war schweißnass. Oben, auf der Autobahntrasse, ging es dann leichter. Die Amazonen waren noch da, Gott sei Dank! »Hallo!«, rief von Leyden schon von weitem. »Hier bringe ich euch jemanden!« Die Amazonen hatten ein Feuer angezündet und brieten irgendetwas; roch ziemlich gut. Drei saßen am Feuer, eine stand mit ihrem Schwert in der Hand auf dem Panzer, und die in dem erbeuteten Goldanzug machte gerade Anstalten sich umzuziehen. Vermutlich war ihr der metallic-goldene Overall doch zu unbequem, und sie wollte wieder in ihren Pelzmantel schlüpfen. Halb entblößt stand sie da. Peinlich. Von Leyden ging langsamer. Sollte er warten, bis sie umgezogen war? Doch die Frau sah ihn kommen und schälte sich trotzdem weiter aus dem merkwürdigen Anzug. Also setzte er seinen Weg fort. Was hatte er erwartet? Es waren halt Barbarinnen. »Eure kleine Standartenträgerin!«, rief er. »Ihr habt sie
sicher schon vermisst!« Die Frauen am Feuer standen auf, ließen aber ihre Schwerter stecken. Ein gutes Zeichen. Die Anführerin – warum er sie dafür hielt, hätte er gar nicht genau sagen können – ließ den Goldanzug fallen. Doch statt ihre Blöße so rasch wie möglich mit ihrem Mantel zu verhüllen, schritt sie von Leyden entgegen. Unbewaffnet und vollkommen nackt. Franz-Gustav von Leyden blieb stehen. »Äh... ich... sie ist verletzt... ich habe sie selbstverständlich versorgt...« Die nackte Frau mit dem langen schwarzen Haar lächelte. Sie war nur noch vier Schritte entfernt. Von Leyden gab sich alle Mühe, nicht auf ihre herrlichen Brüste zu starren – etwas, das die Frauen in Marienthal überhaupt nicht leiden konnten –, dennoch entging ihm nicht, wie vollkommen ihr weißer Körper war. »... bin nämlich Arzt... äh, ja, unter anderem auch Arzt... Nett, Sie kennen zu lernen...« Behutsam ließ er die kleine Blonde auf den Boden gleiten. Ein Fehler; wohin jetzt mit den Händen? »Danke«, sagte die Frau. Merkwürdiger Akzent. »Vielen Dank. Sie umarmte ihn und drückte sich an ihn. »Heiliges Rhinozeros...!« Von Leyden gehörte in Marienthal zu den privilegierten Bewohnern männlichen Geschlechts, die des Öfteren in den Genuss weiblicher Umarmungen gerieten. Und sicher hatte er sich in seinen Männerträumen die Begrüßung ungefähr so gewünscht. Aber sie nun in Wirklichkeit zu erleben war doch etwas ganz anderes. So viel Dankbarkeit machte ihn einfach platt. Die Frau drückte ihn ein wenig von sich, hielt ihn aber fest. Sie lächelte ein unglaublich erotisches Lächeln. Von Leydens Knie wurden weich. »Wer... ähem... wer seid ihr eigentlich? Wo kommt ihr her?« Sie antwortete nicht, sondern schob ihre Hand an den unteren Rand seines Helms und spielte an der Verriegelung
herum. Gleichzeitig glitt ihre Linke hinunter in seinen Schritt und begann ihn dort zu massieren. Von Leyden war völlig perplex. Er schüttelte den Kopf. »Nein, tu das nicht. Da darfst den Helm nicht öffnen, wegen der Bak-« Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn in diesem Moment schrie die kleine Blonde markerschütternd auf. Sein Blick zuckte zu ihr hin. Ihre Faust hatte sich um das Amulett geschlossen, und sie starrte ihre Anführerin entsetzt und irgendwie... ungläubig an. Ihr Schrei übertönte das Klicken des Helmverschlusses... ENDE des ersten Teils
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Das Schlangen-Ei von Jo Zybell Zugegeben: Selten war ein Cliffhanger in MADDRAX gemeiner... Was erwartet Rulfan im Bunker Marienthal – kann er seine Mission erfüllen? Oder wird Conrad einen Krieg vom Zaun brechen? Was geschieht mit Franz-Gustav von Leyden? Wie konnten die Amazonen die Technos besiegen – oder steckt viel mehr dahinter, als der erste Blick verrät? Fragen, die der nächste Roman auf atemberaubende Weise klären wird. Keinesfalls verpassen! Mit »Das Schlangen-Ei« erwartet euch der Abschluss des spannenden Doppelbandes!