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W ENN D ER W ÜRFEL R OLLT , S PIELT D IE W ELT V ERRÜCKT ! Ein Roman von George Spelvin. Nach dem Drehbuch von Jonathan Hensleigh und Greg Taylor & Jim Strain, der Filmstory von Greg Taylor & Jim Strain und Chris Van Allsburg und dem Buch von Chris Van Allsburg.
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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 12499
© 1995 TriStar Pictures, Inc. All rights reserved. © für die deutschsprachige Ausgabe: Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Printed in Germany, März 1996 Einbandgestaltung: Gisela Kullowatz Titelfoto und Bildteil: Columbia TriStar Satz: MPM, Wasserburg/Inn Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
PROLOG Es ist nur ein Spiel. Regeln und ein Brett. Spielmarken und Würfel. Hübsche Bilder. Eine Einladung zum Abenteuer. Eine Flucht aus der Realität und in das wilde Unbekannte. Alles in der angenehmen Umgebung Ihres eigenen Wohnzimmers. Ein Spiel. Nicht mehr und nicht weniger. Bis man es spielt. Für die wenigen, die es gespielt haben, gab es kein Zurück. Und niemand, keine einzige Seele, hat es je zweimal gespielt.
Willkommen bei Jumanji
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TEIL EINS New Hampshire, 1869
KAPITEL 1 KRRRRACCCK! Blitze zerschneiden den Nachthimmel, tauchen den Wald in ein geisterhaftes Blauweiß. Für einen Augenblick können Caleb und Benjamin Sproul durch den strömenden Regen die steilen Wände der Grube sehen, die sie gegraben haben. Die Brüder hören ein erschrecktes, hohes Wiehern. Ihr Pferd zerrt auf dem unbefestigten Weg an seinem Karren, über den Segeltuch gespannt ist. Wie jedes Tier, wie jeder vernünftige Mensch, weiß es, daß es in einer so schlimmen Nacht nicht draußen sein sollte. Doch nicht einmal die tiefe, instinktive Furcht des Pferdes kommt dem Grauen gleich, das in den Herzen von Caleb und Benjamin steckt. Dem Grauen, das von dem ausgelöst ist, was unter dem Segeltuch steckt. Heftig keuchend, die Augen gegen den Regen zusammengekniffen, werfen die Brüder ihre Schaufeln aus der Grube. Sie wanken hoch, sind schlammverschmiert und erschöpft. Caleb rennt zu dem Karren. Er hebt das Segeltuch hoch, 7
unter dem eine eiserne, mit Vorhängeschlössern versehene Truhe zu sehen ist. Benjamin starrt sie wie gelähmt an. »Mach schon!« schreit Caleb durch den heulenden Wind. »Wir sind es fast los!« Die beiden jungen schleppen die schwere Kiste durch den Schlamm. An der Grube heben sie sie hüfthoch. Als sie sie über den Rand wuchten, rutscht Benjamin aus. Schreiend stürzt er hinab. Die Kiste fällt dröhnend auf den Boden. Benjamin fällt darauf. Ein trommelndes Geräusch beginnt. Dschungeltrommeln schneiden tief und pulsierend durch das Heulen des Sturms. Der Rhythmus ist hitzig und kriegerisch. Aber er ist irgendwie sinnlich und einladend. Und absolut unwiderstehlich. Benjamin ist erstarrt. Seine Gliedmaßen sind vor Entsetzen wie gelähmt. »Gütiger Gott, nein«, flüstert Caleb, dessen Stimme nur ein Krächzen ist. »Nein!« »Es ist hinter mir her!« Die Worte explodieren förmlich aus Benjamin. Er springt von der Kiste fort und versucht, die schlammige Wand zu erklimmen. Caleb langt nach unten und zieht seinen Bruder an die Oberfläche. Das Trommeln ist jetzt lauter. Es ruft sie beide, befiehlt ihnen, zurück in die Grube zu kehren. »Lauf!« jammert Benjamin. »Lauf!« Caleb packt seinen Bruder bei den Schultern. »Nein! Wir müssen das beenden! Hilf mir, es zu begraben!« Sie ergreifen beide Schaufeln. Stöhnend, am Rande der Erschöpfung, schaufeln Caleb und Benjamin Brocken schwerer, wasserdurchtränkter Erde in das Loch. Langsam wird die Kiste zugedeckt. Das Trommeln wird schwächer, endet dann. 8
Die Jungen wenden sich wieder iiirem Pferd zu. Sie atmen schwer. Sie blinzeln in den peitschenden Regen. »Was ist, wenn es jemand ausgräbt?« ruft Benjamin. Caleb schüttelt ernst seinen Kopf, während er seine Schaufel auf den Karren wirft. »Möge Gott seiner Seele gnädig sein.« Wieder durchschneiden Blitze den Himmel. Bevor das Dröhnen des Donners verebbt, sind die Jungen auf dem Karren und treiben ihr Pferd an. Caleb sieht einen Meilenstein aus Granit, in den die Worte Brantford – 1 Meile gemeißelt sind. In wenigen Augenblicken werden sie daheim sein. In Sicherheit und im Trockenen. Vielleicht werden sie die schreckliche Kiste eines Tages vergessen. Vielleicht nicht. Zumindest aber haben sie ihre Pflicht für künftige Generationen getan. Tief im Boden, fern von der Zivilisation, wird die Kiste niemand schaden. Solange sie dort bleibt.
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TEIL ZWEI New Hampshire, 1969 Einhundert Jahre später
KAPITEL 2 Nieeaaarrrr ... Der B-52-Bomber schießt im Sturzflug auf das feindliche Lager zu ... wirft die Bomben ab ... dreht nach rechts ab und verschwindet! Alan Parrish nahm die scharfe Abbiegung nach rechts auf die Main Street. Er fuhr mit mindestens fünfundzwanzig Stundenkilometer Geschwindigkeit. Vielleicht sogar mit dreißig. Diese Dreigang-Schwinns waren die besten – Schnelligkeit, Stabilität und Stil. Er raste über die Zufahrt der Bäckerei, sprang über den Bordstein vor dem Blumenladen und schoß wieder auf die Straße. Bereite dich vor, die Versorgungskreuzung zu beharken ... jetzt, solange Feldmarschall Harrison das Panzerbataillon zurückhält! An der Ecke von Elm und Main entdeckte Streifenpolizist Harrison Alan und hielt den Verkehr an. »Der Weg ist frei, Alan!« rief er mit einem Lächeln.
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Alan bombte hindurch. Er schwebte auf den Stadtplatz und nickte wie üblich schnell einer Statue seines Urururgroßvaters zu, dem Bürgerkriegshelden General Angus Parrish. »Bereite dich auf deinen Tod vor, Parrish!« wurde ein Kriegsschrei hinter dem Denkmal laut. Hinterhalt! Es war Billy Jessup, Alans schlimmster Alptraum. Zur Hälfte ein scharfer Hund, zur Hälfte ein Affe, verpackt in den Körper eines dreizehn Jahre alten Jungen. Nur für ein großes Ziel in seinem Leben da: Alan Parrish zu vernichten. Für Billy bedeutete Strategie üblicherweise, zu sagen »Komm her!«, bevor er zuschlug. Aber er wurde schlauer. Er hatte den Hinterhalt geplant, und er hatte seine ganze Bande von Schlägern mitgebracht. Alan trat wild in die Pedale. Sie besaßen Stingrays. Wenig Profil, winzige Räder. Der Schwinn hatten sie nichts entgegenzusetzen. Alan bog von der Main Street ab. Strampelte die Mill Road hoch. An einer Seite plätscherte der Brantford River friedlich gegen Felsen und Schilf. An der anderen Seite wich ein kleiner Wald bald einer weiten, sonnenüberfluteten Baustelle. Und hinter dieser Baustelle war ein altes Ziegelgebäude, das Alan fast ebensogut kannte wie sein Haus. Die Schuhfabrik seines Vaters. Sicherheit. Alans Schenkel schienen vor Schmerz zu brüllen, als er an dem vertrauten Schild vorbeizischte: Parrish-Schuhe vier Generationen Qualität
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Er ließ sein Fahrrad nahe der Vordertür fallen und hastete hinein. Billy und seine Bande kamen schleudernd zum Halt. »Nur zu, lauf zu Papi!« höhnte Billy. »Wir werden warten!« Alan ließ die Tür hinter sich zufallen. Er stützte sich an die Wand und rang nach Atem. Um ihn summte die Parrish-Schuhfabrik vor Betriebsamkeit. Handwerker schnitten und formten sorgfältig, was Alans Vater als »die Schuhe, die Neuengland beim Laufen halten« bezeichnete. Ein Förderband trug Ledersohlen zu einer riesigen Stanzmaschine. Gruppen von Arbeitern nähten, färbten, putzten und kontrollierten. Alle an blitzsauberen Tischen und Böden. Der gewölbte Raum war von wildem mechanischem Geklapper erfüllt. Was nach dem, was Alan durchgemacht hatte, Musik für seine Ohren war. Alles, was er jetzt zu tun hatte, war, sich im Schatten zu halten. Fern von seinem Vater. Wenn er herausfand, daß Alan hier war ... »He, Mann, Alan!« Beim Klang der Stimme wirbelte Alan herum. Carl Bentley, der drüben bei der Sohlenstanzmaschine stand, winkte ihm zu. Carl war cool. Von all den Fabrikarbeitern war er einer der jüngsten, mutigsten und klügsten. Für 1969 waren die meisten Arbeiter ziemlich konservativ gekleidet, aber Carl trug Bellbottom-Jeans und hatte eine Frisur im Afro-Look. Die jüngeren Arbeiter nannten ihn den Sohlenmann. »Hi, Carl«, grüßte Alan ihn. »Ich muß dir was zeigen«, sagte Carl. »Ich habe jetzt 13
seit einem Jahr daran gearbeitet, und heute nachmittag habe ich einen Termin mit deinem Vater, wo ich ihm das zeigen werde.« Er hielt den verrücktest aussehenden Schuh hoch, den Alan je gesehen hatte. Er war aus Segeltuch und Leder gefertigt, hatte Rennstreifen und Polsterung – eine Menge Polsterung. Die Sohle war breit und dick, mit einem Waffelmuster versehen. Alan glaubte, daß es irgendeine Art von Sportschuh sei, aber es hatte absolut keine Ähnlichkeit mit den Segelschuhlatschen, die alle trugen. Sah mehr aus wie ein Turnschuh aus dem Weltraum. »Na?« Carl grinste stolz. »Glaubst du, das wird ihm gefallen?« »Was ist das?« fragte Alan. »Was ist das? Das ist die Zukunft. In ein paar Jahren wird in jedem Schrank in Amerika ein Paar von denen stehen. Dieser Schuh wird absolute Topmode sein und ...« Aber Alan hörte nicht zu. Durch ein Fenster in der Nähe hatte er einen Blick von Billy und seinen Kumpanen erhascht, die draußen herumstreunten. Sie warteten genau so, wie sie es versprochen hatten. »Was ist los?« fragte Carl. »Nichts«, gab Alan zurück. Während Carl an das Fenster trat, um selbst nachzusehen, rief eine dröhnende Stimme: »Alaaaan!« Schluck. Alans Mut sank so schnell, daß er eine Magenverstimmung bekam. Er zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich zu seinem Vater um. Mr. Parrish ging auf die gleiche Art, wie er seine Fabrik führte: eigensinnig, schnell und alles ignorie14
rend, was ihm im Wege stand. Eine Wolke duftenden weißen Rauches stieg aus seiner stets präsenten Pfeife. Seine Brauen waren zu einem Ausdruck zusammengezogen, der rein äußerlich wie milde Verstimmung wirkte. Aber Alan wußte, was innerlich war. Und das war alles andere als mild. Es gab zwei Dinge, die Alans Vater nicht ertragen konnte. Das eine war Untätigkeit. Alan war in der Fabrik nicht willkommen, wenn er nicht lernte oder arbeitete. Nummer zwei war Schwäche. Für Mr. Parrish war Weglaufen unmännlich. Ein Gentleman hielt die Stellung, um jeden Preis. »Was tust du hier?« fragte Mr. Parrish streng. »Ich habe dir schon mehrfach gesagt, daß diese Fabrik kein Spielplatz ist.« Alan wich zurück. Er ließ Carls neuentwickelten Schuh auf das Förderband fallen, das stehengeblieben war. »Ich wollte sehen, ob du mich mit nach Hause nehmen könntest, Dad«, erwiderte Alan. Mr. Parrish hob eine Augenbraue. »Wieder Billy Jessup?« Alan blickte zu Boden. Hier kam sie wieder. Die Predigt. Diesmal in Hörweite von Carl und all den Fabrikarbeitern. »Sohn, früher oder später wirst du mit ihm fertig werden müssen«, intonierte Mr. Parrish. »Wenn du vor etwas Angst hast, mußt du dich dem stellen.« Die Arbeiter taten, als hörten sie nicht zu. Was bedeutete, daß sie alles hörten. Alan wäre am liebsten im Boden versunken. 15
Mr. Parrish klopfte Alan mit einem grimmigen Lächeln auf den Rücken. »Und jetzt geh!« Alan fühlte sich, als sei er etwa fünf Zentimeter groß. Er schlich sich davon, hielt sich dicht an der Wand. Die mitleidigen Blicke der Arbeiter waren wie winzige, intensive Scheinwerfer. In seiner Eile zu gehen bemerkte er nicht, daß das Förderband wieder angelaufen war. Und ebensowenig sah er, daß Carls futuristischer Schuh auf die Stanzmaschine zurollte. Carl sah das auch nicht. Er war vollauf damit beschäftigt, seine eigene, kurze Version der Predigt über sich ergehen zu lassen. »Du solltest wissen, daß du den Jungen hier drinnen nicht spielen lassen sollst«, sagte Mr. Parrish zu ihm. »Tut mir leid, Sir«, erwiderte Carl. »Oh, das hätte ich ja fast vergessen. Was wolltest du mir zeigen, Carl?« Carl sah sich nach seinem Schuh um. Von der Stanzmaschine kam ein lautes, reißendes Geräusch. Ihr langsames rhythmisches Klappern wurde hektisch. Der Mechanismus hackte und stöhnte, spuckte, begleitet von Funken und beißendem Rauch, Bolzen in die Luft. Waaah! Waaaah! Waaaah! Waaaah! Der Fabrikalarm jaulte. Verstört beobachtete Alan, wie das Chaos ausbrach. Sein Vater rannte durch eine Menge schreiender, in Panik geratener Arbeiter auf die Maschine zu. Dann kam die Maschine mit einem letzten Zittern zum Stillstand. Mr. Parrish brach das qualmende Wrack auf. Er griff hinein und zog eine Handvoll verkohlter und 16
verschlungener Streifen von Segeltuch und Leder heraus. Carls Gesicht wurde beim Anblick seiner zerstörten Kreation lang. »Wer hat das getan?« wollte Mr. Parrish wissen, wobei er Carl anfunkelte. O Gott. Alan wollte nicht bleiben, um das Massaker mitzuerleben. Er machte auf dem Absatz kehrt und floh aus der Vordertür. Aber er erstarrte in dem Augenblick, als er ins Tageslicht trat. Sein Gehirn schickte ihm einen Jessup-Alarm. Alan spähte nach links und nach rechts. Sein Fahrrad war da, wo er es zurückgelassen hatte, lehnte an der Wand. Kein Billy. Keine Bande. Hallelujah. Wahrscheinlich versuchten sie, Schnürsenkel zu klauen. Alan sprang auf sein Fahrrad. Vor ihm gähnte offen und frei die Mill Road. Als er in die Pedale zu treten begann, entdeckte er eine Bewegung hinter einem Baum an der linken Seite der Straße. Vielleicht ein Hirsch. Er beugte sich instinktiv in die andere Richtung. Aber es war kein Hirsch. Auch kein Bär. Es war in der Futterkette ein bißchen höher angesiedelt. Nur ein bißchen. Wie ein Wolfsrudel sprangen Billy und seine Kumpanen hinter den Bäumen hervor. Und Alan fuhr direkt auf sie zu.
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KAPITEL 3 Quieeetsch! Alan trat in die Bremse. »Nur weil du ein Parrish bist«, knurrte Billy, »bedeutet das noch lange nicht, daß du dich mit meiner Freundin rum treiben kannst.« »Du meinst Sarah?« Alan konnte nicht glauben, was er hörte. Jagten sie ihn deshalb? Sarah Whittle war eine Nachbarin – ein ziemliches Großmaul, aber im Winter ein anständiges Ziel für Schneebälle und ganz okay. Das war's. »Aber wir sind immer schon Freunde gewesen«, erklärte Alan. Billy grinste. »Jetzt nicht mehr.« Seine Kumpel brüllten vor Lachen, so als ob Billys Witz besonders geistvoll gewesen wäre. Und dann näherten sie sich mit raubtierhaftem Lächeln Alan. Er stand da mit weichen Knien, überlegte, welche Wahl er hatte: Vor ihm wartete das sichere Verderben. Hinter ihm die Predigten seines Vaters. Weglaufen würde sinnlos sein, und stillstehen wäre dumm. Dummheit siegte. Die Jungen stürzten sich auf ihn. Alan versuchte sich zu wehren, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Er fühlte sich glücklich, daß sein Kopf auf seinen Schultern blieb. Die Schläge in seinen Bauch waren so heftig, daß er glaubte, ihre Fäuste würden glatt durch ihn hindurchgehen. Als sie ihn zerschlagen und blutig in einen Straßengraben stießen, fühlte er sich wie ein durchgekauter und ausgespuckter Klumpen Bazooka-Kaugummi. 18
Stöhnend und verschwollen schleppte er sich aus dem Straßengraben. In der Ferne konnte er seine Peiniger sehen, die auf ihren Stingrays davonrasten. Außer Billy. Der fuhr jetzt auf Alans Schwinn im Zickzack die Straße hinunter und lachte. Alan spuckte Blut. »Blödmänner«, murmelte er. Während er sich aufrappelte, warf er nervöse Blicke zu den Fabrikfenstern hinüber. So schlecht er sich auch fühlte, eines konnte dafür sorgen, daß er sich noch schlimmer fühlte. Nur eine Sache war erniedrigender, als von Billy Jessup zusammengeschlagen zu werden: vor den Augen seines Vaters zusammengeschlagen zu werden. Ein Netz trübgrauer Fenster starrte ihn an. In keinem davon war ein wütendes, funkelndes, enttäuschtes Gesicht zu sehen. Mit einer gewissen Erleichterung wandte Alan sich ab und begann, nach Hause zu humpeln. Sein Hemd war ein verdreckter, zerrissener Fetzen, seine Beine steif und verschrammt. Toll! Wie, zum Himmel, sollte er das vor seinen Eltern verbergen? Er konnte die Zukunft deutlich vor sich sehen: Seine Mutter rief, in Tränen aufgelöst, die Jessups an, um sich zu beschweren. Vergeltung von Billy. Weitere Anrufe. Weitere Vergeltung. Nächtliche Predigten von Dad. Boxunterricht. Überlebenstraining in der Wildnis. Führungsseminare. Und dann, heute in ein paar Jahren, würde Dad Alan sicherheitshalber ins Schuhgeschäft zwingen und Billy als seinen Boß einstellen. Ein Leben absoluten Elends. Tränen füllten die Schlitze von Alans schwellenden Augenlidern. Ich hasse, hasse, hasse dieses Leben! dachte er. Wenn ich nur aus Brantford und vor seinen 19
dämlichen Kindern fliehen könnte, weg könnte von dieser miesen, total repressiven Parrish-Familiendynastie. Wenn seine Schwinn doch wirklich ein Kampfflugzeug wäre und ihn weit, weit fortbringen könnte ... Ein trommelndes Geräusch unterbrach seine Gedanken. Schrecklich. Ein Migräneanfall. Vielleicht ein geplatztes Trommelfell oder eine Gehirnerschütterung. Neben der Kränkung noch eine kleine Verletzung. Er schüttelte den Kopf. Er steckte einen Finger in sein Ohr und bewegte ihn heftig hin und her. Das Geräusch war noch da. Lauter. Nein, dies konnte kein Kopfschmerz sein. Es war nicht das regelmäßige Pochen eines Herzschlages. Es war ein fremdartiger Rhythmus, wild und primitiv, fast kriegerisch. Aber das Verrückte war, daß es Alan mit einer sonderbaren Art von Freude erfüllte. Ein Teil von ihm wollte weglaufen, aber der andere Teil wollte tanzen. Das Geräusch kam irgendwoher von der anderen Straßenseite. Von der Baustelle direkt hinter dem alten Meilenstein, auf dem in verwitterten Buchstaben unter jahrzehntealtem Moos Brantford – 1 Meile stand. Alan trat näher. Der Schlag wurde schneller. Es war, als ob die Trommler wüßten, daß er näherkam. Als ob sie ihn heranlockten. Er ging zum Rand der Baustelle. Neben einem Schild stehend, auf dem Bürogebäudeneubau von Parrish-Schuhe stand, spähte er über den Rand einer riesigen Baugrube. Er hatte die Pläne für das neue Gebäude gesehen. Eines Tages würde es die Größe der Fabrik verdoppeln. Im Augenblick aber war es nichts weiter als ein gewaltiges Loch im Boden. Gefüllt mit Lastwagen, Ma20
schinen, Arbeitern, Werkzeug ... und dem coolsten Trommelrhythmus, den er jemals gehört hatte. Er sah sich um. Auf der anderen Seite der Grube fuhr ein Imbißwagen eine Rampe hinunter. Die meisten Arbeiter hatten ihr Werkzeug fallengelassen und gingen auf ihn zu. Die Trommeln wüteten jetzt, waren betäubend. Aber Alan konnte nirgendwo eine Band sehen. Und keiner der Arbeiter schien das Geräusch überhaupt zu hören. Es ist nur für mich. Der Gedanke sprang plötzlich in seinen Kopf. Alan lächelte. Er hörte Dinge. Er hatte eine Schraube locker. Das mußte es sein. Er wandte sich zum Gehen. Jetzt schienen die Trommeln die Erde zu erschüttern. Als ob eine Armee von Dschungelkriegern dabei sei, aus dem Boden hervorzustürzen. Aus dem Boden. Unter dem Boden. Dort waren die Trommeln. Alan wußte nicht, wieso er das wußte. Aber er wußte es. Langsam musterte er die offene Grube, suchte einen Weg nach unten. Was tue ich da? Hinunterklettern war eine lächerliche Idee. In seinem Zustand würde er wahrscheinlich abstürzen und sich den Hals brechen. Aber, he, wenn man's nicht versuchte, würde man das nie erfahren. Tief einatmend, ließ Alan sich langsam in die Grube hinunter. Als er den Boden erreicht hatte, merkte er, daß der Schmerz verschwunden war. 21
Die Schrammen und Schnitte waren noch da, aber er spürte sie kaum. Der Trommelschlag schien in sein Innerstes gedrungen zu sein, schien ihn zu durchspülen, ihm Kraft zu geben. Alan fühlte sich elektrisch aufgeladen. Jede seiner Poren klingelte in Erwartung eines Abenteuers. Er folgte dem rasenden Geräusch, wankte durch ein Labyrinth aufragenden Betons. Unmittelbar dahinter blieb er stehen. Die Wand. Die Lehmwand der Grube. Darin waren die Trommeln vergraben. Die Erde war sehr hart, aber Alan grub seine Hände hinein. Er scharrte Lehmklumpen heraus, zerrte winzige Wurzeln hervor, warf einen Regenwurm in die Luft. Keine dreißig Zentimeter tief stießen seine Fingerspitzen auf etwas Festes. Auf eine Art von Griff aus Metall und verrostet. Er packte ihn, stemmte sich auf den Boden und zog. Die Kiste löste sich. Alan kippte rücklings um und fiel auf den Boden. Schmutz regnete auf ihn herab. Augenblicklich hörten die Trommeln auf. In Alans Schoß lag eine rostige Metallkiste, die mit einem Vorhängeschloß verschlossen war. Alan stellte sie auf den Boden und griff nach einer Schaufel. Er schwang sie hoch und schlug damit direkt auf das Schloß. Mit einem dumpfen Klacken zerbrach es und fiel ab. Langsam hob Alan den Deckel.
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KAPITEL 4 Sand. Die Kiste war mit Sand gefüllt. Jetzt werde ich wirklich verrückt, dachte Alan. Mit einem Seufzen stand er auf und ging davon. Da war es wieder. Das Trommeln. Laut und wütend, boxte praktisch auf seine Ohren. Alan wirbelte herum, kniete sich hin und steckte seine Hände in die Kiste. Unter dem Sand berührten seine Finger etwas Solides. Er zog daran. Als der Sand beiseite fiel, sah Alan, daß er eine rechteckige Holzkiste hielt. Scharniere waren auf einer der Längsseiten, an der anderen eine Schließe. Wie ein hölzernes Schachspiel oder ein Backgammonbrett. Das Holz war glänzend und glatt. Unter dem Klarlack war ein Bild, so farbenkräftig und prächtig, als sei es gestern gemalt worden. Zwischen frischgrünen Dschungellianen und fernen bernsteinfarbenen Savannen waren Löwen, Affen, exotische Vögel und tobende Rhinozerosse. Ein breitschultriger, schnurrbärtiger Jäger stand in der Mitte von all dem, einen Tropenhelm tragend und ein Gewehr haltend. Auf dem Deckel stand in schillernden, kunstvollen Buchstaben ein sonderbares Wort: Jumanji. Alan schüttelte die Kiste. Darin klapperte etwas. Vorsichtig öffnete er die Schließe und klappte die beiden Hälften des Brettes auseinander. Aus dem Innern der Kiste sah er das Blitzen leuch23
tender Farbe. Aber bevor er das näher untersuchen konnte, hörte er Stimmen hinter sich. Arbeiter näherten sich. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, daß Männer ihn bei seinem Vater meldeten. Alan klappte die Kiste zu und stieg aus der Grube. Der Heimweg war lang und qualvoll. Alans Schnitte hatten zu stechen begonnen, und seine Lippe und die Augen pochten vor Schmerz. Das Parrish-Haus stand auf dem höchsten Punkt von Brantford, am Ende der Jefferson Street. Es war das größte und älteste Haus der Stadt, ein Herrenhaus, das General Angus Parrish mit der Beute des Bürgerkrieges erbaut hatte. Der General hatte keine Kosten gescheut – geschnitzte Eichentüren, ein großartiges Eingangsfoyer und ein gewölbtes Wohnzimmer, ein Kamin, der groß genug war, um eine Rinderhälfte darin zu braten, eine antike Großvateruhr von der Größe eines kleinen Baumes, genug Schlafzimmer für eine große Familie und Dienerschaft und ein riesiger Dachboden. Alans Familie hatte die Dienerschaft nicht und auch nicht den großartigen Lebensstil, aber sie hatte das Haus liebevoll gepflegt. Es war in erstklassigem Zustand, regelmäßig Haltepunkt bei historischen Rundfahrten durch New Hampshire. Aber an das alles dachte Alan nicht, als er sich durch die Vordertür schlich. Seine einzige Sorge war die, nicht gehört zu werden. Wenn seine Mutter ihn sah, würde sie ausflippen. Und er brannte darauf, die Kiste zu öffnen. Er durchquerte das Wohnzimmer auf Zehenspitzen, setzte sich auf das Sofa und öffnete die Schließe. »Mann ...«, murmelte er. 24
Es war ein Brettspiel, na schön, aber keinem vergleichbar, das er je zuvor gesehen hatte. Das Brett war solides, handgeschnitztes Holz. Vier Pfade von leeren Rechtecken wanden sich durch ein wildes, farbenprächtiges Bild – Dschungeltiere und üppige Bäume, stilisiert wie auf einem alten Zirkusplakat. In der Mitte all dessen war ein tiefschwarzer gläserner Kreis. An der Seite lagen in einem Fach zwei Würfel und vier kleine Spielfiguren. Alan nahm eine der Figuren heraus, eine kunstvoll geschnitzte afrikanische Statuette. »Alan?« hörte er seine Mutter rufen. »Bist du zu Hause?« Herrje. Alan setzte die Spielfigur auf das Brett, warf einen ängstlichen Blick zur Wohnzimmertür. Hätte er nach unten geschaut, hätte er gesehen, daß die Figur sich schnell und lautlos über das Brett bewegte. Als sie das erste Rechteck auf einem der Pfade erreichte, blieb sie stehen. Bereit zum Spielen. Aber Alan sah überhaupt nichts. Er schlug das Brett zu und schob es unter das Sofa, als seine Mutter im Türrahmen auftauchte. Als sie seinen Zustand sah, verflog ihr Lächeln augenblicklich. »Oh, Alan«, stöhnte sie, »nicht schon wieder.« Alan erklärte seiner Mutter alles, bis auf die JumanjiKiste. Das kam später. Nachdem er sich geduscht und umgezogen hatte, fühlte er sich ein wenig besser. Aber nicht viel. Alan blieb an diesem elenden Tag ein Trost: Seine 25
Mutter und sein Vater gingen an diesem Abend zu irgendeiner vornehmen offiziellen Party aus. Was bedeutete, daß er alleine zu Abend essen würde. Und daß es keine lange, unerträgliche Predigt gab. Gereinigt und mit intakter Garderobe bekleidet, stocherte Alan in seinem Essen. Der Eßtisch der Parrishs ragte bedrohlich vor ihm auf, schwer, dunkel und glänzend poliert. Es schien ihm, als habe er die Größe eines Footballfeldes. Wahrscheinlich eine Antiquität aus den Tagen, als der gesamte königliche Hof gemeinsam aß. Wenn man einen Teller mit heißem Kartoffelbrei herumreichte, würde er längst kalt sein, bis er die andere Seite erreicht hätte. Klonk, klonk, klonk ... Alan hörte die unverwechselbaren Schritte seines Vaters die Treppe des Eingangsfoyers herunterkommen. Und dann seine Stimme: »Harte Arbeit, Entschlossenheit und immer ein fröhliches Gesicht...« Oje, überlaß das Dad. Eine Predigt um jeden Preis. »... Attribute, die beispielhaft für den Geist von Brantford sind, seit unsere Vorväter diese Stadt gegründet haben«, fuhr Mr. Parrish, noch immer im Foyer, fort. »Trotz der granitenen Härte unserer Scholle und der Rauhheit unseres Klimas haben wir – haben wir ... Oh, Teufel, was?« »Erfolg gehabt?« kam die Stimme von Mrs. Parrish. »Nicht nachgegeben?« »Heute morgen konnte ich die ganze Rede noch auswendig!« Alan seufzte erleichtert. Eine Rede. Gut. Sollten andere Leute sich winden. Für einen Augenblick murmelten seine Mutter und sein Vater leise miteinander. Dann traten sie in das 26
Eßzimmer. »Also«, sagte Mr. Parrish förmlich, »wir gehen jetzt.« »Okay«, erwiderte Alan mit einem Schulterzucken. »Alan«, fiel seine Mutter ein, »ich habe deinem Vater erzählt, was du mir heute nachmittag erzählt hast. Daß es nicht nur Billy Jessup war.« Sie warf Mr. Parrish einen Blick zu, worauf dieser sich unbehaglich bewegte. »Wenn ich das gewußt hätte«, sagte er, »hätte ich nicht...« Typisch Dad. Wenn er Taten wollte, fand er die richtigen Worte, aber er war wie ein stolperndes kleines Kind, wenn er zugeben mußte, daß er sich irrte. »Ist schon okay, Dad«, sagte Alan. »Aber ich möchte, daß du weißt, daß ich stolz auf dich bin«, fuhr Mr. Parrish fort. »Du hast dich ihnen gestellt, obwohl du ihnen unterlegen warst. Und da du das wie ein Mann hingenommen hast...« Er zog eine Broschüre aus seiner Tasche und legte sie vor Alan hin. »Deine Mutter und ich sind zu dem Entschluß gekommen, daß du jetzt bereit bist, die Cliffside-Akademie für Knaben zu besuchen. Das hast du heute bewiesen.« »Meinen Glückwunsch, mein Liebling«, sagte Mrs. Parrish und beugte sich zu Alan, um ihn zu küssen. Alan starrte offenen Mundes auf die Broschüre. Sie zeigte einen sauber gekämmten, fatzkenhaft aussehenden Jungen mit Jackett und Krawatte. Er spazierte fröhlich an einem efeubewachsenen Gebäude vorbei und trug einen Stapel Bücher, mit dem sich ein Gorilla einen Bruch zugezogen hätte. Dies war ein Internat, wurde Alan klar. Sie wollten ihn fortschicken. »Ihr wollt, daß ich hier nicht mehr wohne«, sagte Alan. 27
»Oh, Alan, wie kannst du so etwas auch nur denken?« rief Mrs. Parrish aus. »Ihr schämt euch meinetwegen, weil ich dauernd verprügelt werde«, fuhr Alan fort. »Ich habe dir gerade gesagt, wie stolz ich auf dich bin, Sohn«, entgegnete sein Vater. »Und wir hatten schon immer geplant, daß du nach Cliffside gehen sollst, wenn du soweit bist. Ich meine damit, daß die Parrishes seit dem siebzehnten Jahrhundert dorthin gehen.« Alan betrachtete aufmerksam das Foto. »Seht euch das an! Parrish Hall! Die Kinder hatten immer was gegen mich, weil ich ein Parrish bin. Wartet mal ab, was passiert, wenn ich in einem Gebäude lebe, das nach mir benannt ist!« Mr. Parrish wirkte gekränkt. »Das ist der Hauptschlafsaal. Er wurde nach meinem Vater benannt.« »Gut«, erwiderte Alan. »Warum wohnst du nicht darin?« »Das habe ich. Und ich wäre nicht, wer ich heute bin, wenn ich dort nicht meine Jahre verbracht hätte. Also komm mir nicht neunmalklug, Alan –« »Das tue ich ja nicht! Vielleicht will ich nicht werden, wer du bist! Vielleicht will ich nicht einmal ein Parrish sein!« »Glaube mir, das wirst du nicht sein!« Jetzt wurde das Gesicht seines Vaters rot vor Wut. Mrs. Parrish legte sanft eine Hand auf seine Schulter, aber das nützte nichts. »Nicht, bevor du dich wie einer verhältst!« Mit diesen Worten stelzte Mr. Parrish zur Tür. »Dann, denke ich, bin ich wohl doch noch nicht bereit, um nach Cliffside zu gehen«, murmelte Alan. Mr. Parrish wirbelte herum. »Wir bringen dich am 28
nächsten Sonntag dorthin, und jetzt möchte ich kein Wort mehr darüber hören!« »Das wirst du nicht!« gab Alan zurück, wobei er gegen seine Tränen ankämpfte. »Ich werde nie wieder mit dir reden!« Für einen Augenblick starrte Alans Vater ihn nur an. Eine Mischung von Schock und Ekel zeigte sich in seinem Gesicht. Dann gab er Mrs. Parrish wortlos ein Zeichen, und sie verließen beide das Haus. Alans Augen füllten sich mit Tränen. Schmerz und Wut und Erschöpfung rangen in seinem Inneren wie eine Meute kämpfender Tiere. Er riß die Broschüre in Fetzen und ließ die Stücke auf den Tisch fallen. Wenn sie wollten, daß er ihr Zuhause verließ, schön. Das würde er jetzt gleich tun, damit es vorbei wäre. Aber er würde nicht zur Cliffside-Akademie gehen. Er würde für immer fortlaufen.
KAPITEL 5 Alan rannte hoch auf sein Zimmer. Er riß seinen Schrank auf und schnappte sich einen Koffer. Nur das Notwendigste, sagte er sich. Er warf ein paar Kleidungsstücke und Utensilien hinein, wetzte dann in die Küche hinunter und klaute ein Glas Erdnußbutter und eine Schachtel Kekse. Alan erinnerte sich an die Kiste, als er das Eingangsfoyer halb durchquert hatte. Er schoß zurück ins Wohnzimmer, zog sie unter dem Sofa hervor und 29
stopfte sie in seinen Koffer. Dann sprintete er zur Eingangstür. Ding dong! Das Geräusch der Glocke ließ ihn zusammenzucken. Er schob schnell seinen Koffer unter einen in der Nähe stehenden Tisch und öffnete die Tür. Auf dem Treppenabsatz stand lächelnd Sarah Whittle. Die Quelle für Alans Schmerz und Leiden. Die offizielle Freundin des Achtkläßlers aus der Hölle, Billy Jessup. »Oh«, sagte Alan glatt und griff nach dem Koffer. »Du bist es.« »Willst du irgendwohin?« fragte Sarah. »Ja, ich ...« Alan erhaschte einen Blick von seiner Schwinn auf dem Bürgersteig hinter Sarah. »Ich wollte gerade zu Billy gehen, um dieses Fahrrad zu holen.« »Mit deinem Koffer?« Alan ging schweigend an ihr vorbei und begann, seinen Koffer auf dem Fahrradgepäckhalter zu befestigen. »Ich hab' Billy gesagt, daß ich an diesem Wochenende nicht mit ihm ins Kino gehen werde, wenn er dir nicht dein Fahrrad zurückgibt«, sagte Sarah. »Toll«, erwiderte Alan trocken. »Vielen Dank.« »He, ich wollte nur, daß er auf dir nicht mehr herumhackt. Ich habe versucht, dir einen Gefallen zu tun.« Alan begann sein Fahrrad vom Haus fortzuschieben. »Das kannst du dir für deinen Freund aufsparen.« »Billy ist nicht mein Freund«, erwiderte Sarah. »Aber zumindest ist er in meinem Alter.« »Ja, aber geistig könnte ich sein Großvater sein. Und ich bin nur zehn Monate jünger als du.« Sarah funkelte ihn an. »Aber du bist so unreif!« 30
»Schön«, rief Alan über seine Schulter. »Dann wünsche ich dir viel Spaß mit Billy.« Bum-b-b-bum-b-b-bum ... Der Trommelschlag dröhnte für einen Augenblick, endete dann wieder. Alan blieb wie erstarrt stehen. »Was war das?« rief Sarah. »Nichts«, antwortete Alan. Als er zu laufen begann, dröhnten die Trommeln wieder. »Was ist da drin?« fragte Sarah. Alan schaute auf die dunkle Straße. Er sollte jetzt schon längst davonrasen. Aus Brantford fliehen. Die Nacht verbringen in einem ... was? In einem Motel, das fünf Dollar die Nacht kostete? So was gab's nicht, aber fünf Dollar war alles, was er hatte. Am Straßenrand kampieren mit Moskitos und Waschbären und Schnecken? Uh, uh. Und was würde passieren, wenn er versuchte, Jumanji allein zu spielen? Was, wenn man für das Spiel zwei oder mehr Spieler brauchte? Sarah starrte auf seinen Koffer. Sie konnte die Trommeln hören. Sie würde spielen wollen. Und sogar Sarah war besser als niemand. Alan wendete sein Fahrrad. »Das mußt du dir ansehen«, sagte er. »Es ist wirklich cool.« Drinnen nahm Alan das Spiel heraus und klappte es auf dem Boden auf. Sarah hatte die Würfel genommen und untersuchte sie. Alan suchte nach einer Spielanleitung. Keiner von ihnen hatte die Figur bemerkt, die auf dem ersten Rechteck stand, noch immer an der Stelle, zu der sie vorher gerückt war. »Es ist so unheimlich. Ich meine, woher kommt die31
ses Trommeln?« Alan las laut die Spielanweisung, die auf dem Deckel stand: »Jumanji, ein Spiel für diejenigen, die einen Weg suchen, um die Welt hinter sich zu lassen. Wer als erster das Endes des Weges erreicht und Jumanjii ruft, gewinnt.« Sarah schnitt ein Gesicht. »Ich hab' vor fünf Jahren aufgehört, Brettspiele zu spielen.« Sie ließ lustlos die Würfel auf das Spielbrett fallen. Sie zeigten eine Vier und eine Zwei. Die Spielfigur begann sich zu bewegen. Sie schob sich genau sechs Felder vorwärts. Dieses Mal sahen Alan und Sarah das. Ihre Unterkiefer fielen praktisch auf den Boden.
KAPITEL 6 »Das muß magnetisiert sein oder so was«, vermutete Alan. Sarah antwortete nicht. Ihre Augen waren auf den gläsernen schwarzen Kreis in der Mitte des Spielbretts gerichtet. »Alan, sieh nur!« rief sie aus. In einem nebeligen Wirbel nahm eine Botschaft Gestalt an: Sie fliegen nachts. Sei auf der Hut! Die geflügelten Dinger sind nicht gut.
Alan ergriff die Würfel und las die Worte laut. Als die Buchstaben verschwanden, kam ein flappendes Geräusch aus dem Kamin. 32
Sarah richtete sich ruckartig auf. »Was war das?« »Ich weiß nicht«, antwortete Alan. »Stell das Spiel weg, Alan!« Sarahs Stimme zitterte. Donnnng! Donnnng! Donnnng! Die Großvateruhr erschreckte Alan so, daß er aufsprang. Sein Haar stand ihm zu Berge. Er ließ die Würfel fallen. Sie fielen mit einer Zwei und einer Drei auf das Spielbrett. Eine andere Spielfigur schob sich aus dem Fach auf einen der anderen Pfade und bewegte sich fünf Felder vorwärts. »O nein!« keuchte Alan, als eine weitere Botschaft erschien: Warte im Dschungel, doch warte sacht, bis die Würfel die Fünf zeigen oder die Acht. »Warte im Dschungel?« wiederholte Alan. »Was bedeutet das?« »Alan, was geschieht mit dir?« Sarahs Schrei überraschte Alan völlig. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenem Mund an, als ob er plötzlich Reißzähne hätte. »Was meinst du denn?« fragte Alan. »Nichts geschieht mit –« Eine dünne, nebelhafte Ranke streifte Alans Nase. Er blickte herab und sah, daß Rauch aus dem schwarzen Kreis aufstieg, sich um seinen Körper schlang und ihn rasch mit einem dicken, grauen Wirbel umhüllte. »Was ...«, stammelte er, »was ...« Und dann, bevor er einen Muskel bewegen konnte, spürte er, daß sein Körper nach unten gezogen wurde. 33
Er stieß einen durchdringenden Schrei aus. Er hallte wild, prallte von den Wanden des Wohnzimmere ab. Und er hörte erst auf, als Alan in das Spielbrett hineingesaugt worden war. Sarah saß wie versteinert da. Sie konnte ihre Muskeln nicht bewegen. Ihr Gesicht wurde blutleer. Er war verschwunden. In dem Spiel. In einem Spiel? In dem schwarzen Kreis war jetzt eine Miniaturwelt, ein dichter Dschungel mit schwankenden Blattwedeln und einem gewundenen Fluß. Von darin plärrte Alans Stimme laut: »Sarah? Saraaaah!« »Alan?« flüsterte Sarah voller Entsetzen. Langsam schwand die Dschungelszene zu einem Schwarz. Und wieder bemerkte Sarah das flappende Geräusch. Es war jetzt gewaltig. Wie ein Miniaturunwetter im Innern des Kamins. In einer plötzlichen Explosion schossen Hunderte von Fledermäusen in den Raum. Sie erfüllten die Luft, kreischten, jagten heran, stürzten herab. »Iiiiiiiiiaaaaaahhhhhh!« Sarah rannte ins Eingangsfoyer, gefolgt von der wirbelnden schwarzen Wolke. Die Fledermäuse umschwärmten sie, prallten gegen sie, zerrten an ihrem Haar. Sie fiel auf die Knie. Blindlings vorankriechend erreichte sie die Eingangstür. Sarah rappelte sich auf und stieß die Tür auf. Die Fledermäuse flogen in die Nachtluft. Unter ihnen rannte Sarah und rannte. Später erzählten die Leute in Brantford, daß man 34
Sarahs Schreie bis hin zur Main Street hätte hören können. Daß sie so weit und so schnell gerannt sei, daß die Polizei sie in der nächsten Stadt aufgreifen mußte. Ob diese Dinge nun wahr waren oder nicht, zwei Dinge waren sicher: Alan war verschwunden. Und Sarah weigerte sich, jemals wieder in die Nähe des Hauses der Parrish zu gehen.
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TEIL DREI New Hampshire, 1995 Sechsundzwanzig Jahre später
KAPITEL 7 Judy und Peter Shepherd haßten das Haus. Sicher war es groß. Und ihre Tante Nora, die darauf brannte, es zu kaufen, nannte es ständig 'so alt', als ob das ein Kompliment sei. Es war von einem General des Bürgerkrieges erbaut worden, sagte sie. Schön, seit wann wußten Generäle, wie man gute Häuser baut? Und außerdem gab es in den Tagen des Bürgerkrieges keine Elektrizität. Oder Whirlpools. Oder Mikrowellen. Oder etwas auch nur annähernd Cooles, was in ein Haus gehörte. Sogar Peter wußte das, und er war erst acht. Tante Noras Absätze klapperten flott auf dem rissigen Fußweg an der Frontseite. Die Maklerin neben ihr, Miss Winston, konnte mit dem Gequatsche nicht aufhören. »Ich bin so froh, daß Sie sich entschlossen haben, dieses Haus zu kaufen«, zirpte sie. »Ich glaube, daß
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eine Frühstückspension genau das ist, was diese Stadt braucht.« »Nun ja, es war schwer, bei diesem Preis nein zu sagen«, erwiderte Tante Nora. »Vor allem, da es voll möbliert ist.« Miss Winston öffnete die Eingangstür, und sie alle traten in das Foyer des Hauses. »Gott...«, sagte Tante Nora mit einem Keuchen. »Ich vergesse dauernd, wie groß das Haus ist.« Wahnsinn, dachte Judy. Das war das Wort, das Tante Nora meinte. Ein Synonym für groß. Zudem das perfekte Wort, um das Innere des alten Parrish-Herrenhauses zu beschreiben. Spinnweben streckten sich über die Decke, so zerfetzt und staubbedeckt, daß es aussah, als ob Miniaturspinnenwäsche von ihnen herabhing. Das Wohnzimmer war so riesig, daß man darin Baseball spielen konnte. Die Kaminziegel waren bemoost und der Ofenraum mit einem grünen, irre wirkenden ekelhaften Zeug bedeckt. An der Wand darüber hing ein langer Säbel in einem Glaskasten. Die Möbel, falls es sich darum handelte, waren unter altersgrauen Laken verborgen. Eine Großvateruhr stand an der Wand. Sie war zerbrochen und sah traurig aus, wie eine Art Leichnam. Judy und Peter wechselten einen Blick. Das war nicht die Zukunft, die sie sich vorgestellt hatten ... »Ich werde hier einen Empfangsbereich einrichten«, erklärte Tante Nora, wobei sie auf den vorderen Teil des Foyers deutete, »und hier im Salon eine Bar ...« »Klingt wundervoll«, flötete Miss Winston. »Ich bin sicher, daß Sie und Ihre Kinder hier sehr glücklich sein werden.« Tante Nora beugte sich dicht zu Miss Winston und 38
murmelte: »Also tatsächlich sind das die Kinder meines verstorbenen Bruders. Er und seine Frau sind vor vier Monaten verschieden.« Ähh, glaubte Tante Nora wirklich, sie könnten sie nicht hören? überlegte Judy. Versuchte sie, ihre Gefühle nicht zu verletzen oder so? Wohl kaum. Seit dem Tode ihrer Eltern konnten Judy und Peter sich kaum mieser gefühlt haben. Mum und Dad wollten nur eine Woche wegfahren. Ein Skiausflug in die kanadischen Rockys. Ihre zweiten Flitterwochen hatten sie das genannt. Judys größte Sorge war, daß Dad sich bei der Abfahrt ein Bein brechen könnte. Aber ein katastrophaler Autounfall? Darauf war wohl kein Kind vorbereitet. Ganz zu schweigen von dem, was danach kam. Die mitleidsvollen Blicke, die weiche, übersensible Art, wie Leute meinten, mit einem sprechen zu müssen. Die Telefonanrufe und die Familienstreitigkeiten um die Vormundschaft. Und die Fragen! Es waren immer dieselben, immer und immer wieder. Armer Peter! Er hatte einfach den Mund nicht mehr aufgemacht. Hatte außer zu Judy seit dem Unfall kein Wort mehr gesagt. Und was Judy betraf, nun, sie war den anderen Weg gegangen – warum nichts sagen, wenn man... ein wenig beschönigen konnte? Es machte mehr Spaß, Erklärungen zu erfinden. Dinge so zu schildern, wie man sie gerne haben wollte. Zu beobachten, ob die Leute einem glaubten oder nicht. Gewöhnlich taten sie's. Tante Nora glaubte, sie brauchten einen »neuen Anfang«. Und sie war ein komischer antiquierter Vogel, der schon immer einen Gasthof haben wollte. So waren sie also hier, rausgerissen aus ihrer Heimatstadt, weg von ihren alten Freunden. In diesem runtergekomme39
nen Brantford, New Hampshire, an einem Frühlingssonntag vor Schulbeginn. Welch ein Trost! Miss Winston lächelte Peter an. »Und was meinst du, junger Mann? Ist es groß genug für euch?« Peter drehte sich stumm um und verließ den Raum. »Er hat kein Wort gesprochen, seit es passiert ist«, erklärte Judy. »Mein Gott.« Miss Winstons Lippen senkten sich zu dem Gesichtsausdruck, den Judy nur allzugut kannte. Diese Himmel-fühl'-ich-mich-unbehaglich-aber-ichwill-Mitgefühl-zeigen-Miene. »Es tut mir leid. Wie entsetzlich.« »Ist schon gut«, log Judy. »Wir kannten unsere Eltern kaum. Sie waren immer fort, zum Skilaufen in St. Moritz, zum Spielen in Monte Carlo oder auf Safari im schwärzesten Afrika. Wir wußten nicht einmal, ob sie uns überhaupt liebten. Aber als die Jacht des Scheichs unterging, schafften sie's, uns einen wirklich wunderschönen Abschiedsbrief zu schreiben, und den fand man dann in einer Champagnerflasche inmitten der Reste des Wracks.« Sie ging mit einem Schulterzucken davon. Ließ Miss Winston wie benommen zurück. Während Judy durch die Halle zur Treppe ging, hörte sie Tante Nora flüstern: »Sie waren sehr aufopferungsvolle Eltern. Es war ein Autounfall in Kanada.« Seufz. War wieder mal nichts. Judy folgte einem Bogengang, der zu einer großen Bibliothek führte. Bücherregale aus dunklem Holz streckten sich vom Boden bis zur Decke, waren vollgestopft mit staubigen ledergebundenen Büchern. Auf der einen Seite lag ein von Glas umschlossener Winter40
garten, der düster in dem Tageslicht glühte, das durch die verschmutzten Fenster fiel. Peter war darin. Judy beobachtete, wie er ein altes Laken von einer Bronzebüste zog. Sie konnte ihn keuchen hören, als die strengen Augen von General Angus Parrish ihn anfunkelten. Das war schon ein fröhliches Haus. Für eine alleinstehende Frau hatte Tante Nora wirklich eine Menge Trödel. An diesem Nachmittag, nach Entladen des Möbelwagens, schien das ganze riesige Herrenhaus mit ihren Kartons vollgestopft zu sein. Sollte Tante Nora doch machen. Es würde eine Ewigkeit dauern, das alles auszupacken. Die Schlafzimmer befanden sich alle an einem langen Korridor in der zweiten Etage. Als Peter und Nora ihre Koffer zu ihren Räumen schleppten, entdeckten sie, daß Tante Nora mit einer Tür am Ende des Ganges kämpfte. Mit einem verzweifelten Seufzer sagte sie: »Dafür werde ich wohl einen Schlosser holen müssen.« Peter flitzte zu der Tür und spähte durch das Schlüsselloch. Alles, was er sehen konnte, war ein Bilderrahmen an der Wand und ein Pokal auf einer Kommode. Ein Kinderzimmer. Vielleicht ist darin irgendsoein cooles Zeug, dachte er. »Also schön, Kinder«, rief Tante Nora, »laßt uns das alles wegräumen. Peter, bring diesen Koffer auf den Dachboden. Und danach essen wir alle Eiscreme.« Während Judy auf ihr Zimmer ging, schnappte Peter sich eine Taschenlampe aus einem Pappkarton und zog dann den Koffer seiner Tante die Treppe zum Dachboden hoch. Am Ende befand sich eine Holztür, die einen Spalt offenstand. 41
Er stieß mit seiner Schulter dagegen. Langsam schwang sie nach innen. IIIIIIIIIEEEEE ... Das Quietschen hallte in dem pechschwarzen Raum wider. Ein Schwall kalter, feuchter Luft drängte hinaus. Und dann ein leises Geräusch, ein flappendes Geräusch. Geh weg! Peter ignorierte die Stimme in seinem Kopf. Der Raum war unheimlich, aber es war das Coolste, was er in dem Haus gesehen hatte. Er schaltete seine Taschenlampe ein und beugte sich vor. Zwei dunkle Augen funkelten ihn an. Peter schreckte zurück. Er versteckte sich hinter dem Türpfosten und spähte wieder hinein. Die Augen gehörten zu einem Gesicht in einem Gemälde. Es war ein spießiger alter Zausel, der irgendwie mit der Büste von General Angus Parrish verwandt schien. Er schwenkte die Lampe von rechts nach links. Der Raum war wie der Rest des Hauses gerammelt voll: alte Überseekoffer an der Wand. Möbel, die unter dem Gewicht von Pappkartons zusammengebrochen waren. Ein Klavier. Über allem waren hölzerne Sparren, mit Nägeln gespickt, an denen aller möglicher Trödel hing – Mäntel, Decken, Camping- und Sportausrüstungsgegenstände ... Und ein schwarzes, verschrumpeltes, ledernes Ding. Peter trat ein wenig näher. War das vielleicht so eine Art altmodischer Baseballfanghandschuh? Nee. Baseballfanghandschuhe bewegten sich nicht. Sie flogen auch nicht. 42
Oder kreischten. Oder griffen achtjährige Kinder an. »Iiiiäääääääaaarrrrgggghh!« Peter ließ seine Taschenlampe fallen und rannte los. Eine riesige Fledermaus stürzte auf ihn zu, und ihre rasiermesserscharfen Zähne blitzten!
KAPITEL 8 Judy und Tante Nora stürmten zum Fuße der Treppe, die zum Dachboden führte. Peter kam aus der Tür gestürzt. Er schlug sie hinter sich zu. Er taumelte die Treppe hinunter und stieß Tante Nora dabei fast um. »Was ist?« wollte sie wissen. Poch. Sie alle warfen einen Blick nach oben. Das Geräusch war laut. Stark. Gedämpft. »Ich gehe ins Motel Six«, schwor Judy. Tante Nora warf beiden einen abweisenden Blick zu. »Oh, um Himmels willen ...« Während sie mutig nach oben stapfte, kauerten sich Judy und Peter hinter ihr zusammen. Tante Nora griff nach dem Türknopf und stieß die Tür auf. Bummm! Das Geräusch war sogar noch lauter als das andere. Und näher. Tante Nora schlug die Tür zu und eilte fort. »Vielleicht kann ich morgen früh jemand hierherholen, der da mal nachsieht.« 43
In dieser Nacht hörte Judy ein anderes Geräusch. Sie lag in ihrem Bett und versuchte einzuschlafen. Das Geräusch war auf dem Dachboden. Aber es war kein dumpfes Pochen. Es klang nicht so, als ob da oben noch irgendeine Kreatur sei. Es klang wie Trommeln. Keinesfalls würde sie heute nacht allein bleiben. Judy kroch aus ihrem Bett. Wahrend sie über den Korridor zu Peters Zimmer lief, hörte das Trommeln auf. Auch Peter war wach. Er betrachtete ein Foto von ihrer Mum und ihrem Dad. Was er in eine Nachttischschublade stopfte, als Judy hereingeplatzt kam. »Rück rüber«, forderte sie ihn auf, während sie sich neben ihn unter die Decke schob. »Hast du vor kurzem irgendwas gehört?« Peter runzelte seine Stirn. »Ich auch nicht«, wandte Judy schnell ein. Sie schwiegen beide, lauschten dem Zirpen von Grillen und dem Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. »Ich vermisse Mum und Dad«, sagte Peter schließlich. »Du nicht?« »Nein«, erwiderte Judy leise. »Lügnerin. Wenn du damit nicht aufhörst, wird man dich zu einem Psychiater schicken.« »Und was glaubst du, wohin man dich schickt, wenn du nicht wieder zu reden anfängst?« Peter drehte sich mit mürrischer Miene um. Judy fühlte sich schrecklich. Sie wußte, daß sie zu grob zu Peter gewesen war. In einer Zeit wie dieser war er alles, was sie auf der Welt hatte. Sie preßte ihr Gesicht in das Kissen und drückte ihren Bruder. Langsam begannen sich ihre Augen zu schließen. 44
Und die Trommeln begannen wieder. Sie riß die Augen weit auf. Etwas war da oben. Etwas sehr, sehr Unheimliches. Es sei denn, es war ihre Phantasie. Posttraumatischer Schock, oder wie sie das nannten. Sie überlegte, ob sie Peter wecken sollte, beschloß dann aber, es nicht zu tun. Der Kammerjäger würde morgen kommen. Vielleicht fand er da oben einen alten Kassettenrecorder. Oder eine Familie musikalischer Fledermäuse. Falls nicht, würde Judy drastischere Maßnahmen planen müssen. Eine Pflegefamilie in Sibirien könnte ganz nett sein. Judy wußte nicht, wie es ihr gelungen war, überhaupt zu schlafen. Aber sie und Peter mußten es geschafft haben, denn als am nächsten Morgen die Türglocke läutete, wurden sie durch sie geweckt. Es war der Kammerjäger, der absolut pünktlich kam. Während Tante Nora ihn auf den Dachboden begleitete, frühstückten Judy und Peter schnell und machten den Abwasch. Um dem Mann zu zeigen, wie die Fledermaus ausgesehen hatte, schlug Peter in seinem Lexikon die »Fledermäuse der Welt« auf. Dann rannten er und Judy nach oben und warteten vor der Tür zum Dachboden darauf, daß der Kammerjäger sein Urteil abgab. Nachdem der Mann eine Weile herumgesucht hatte, tauchte er mit einem freundlichen Schulterzucken auf. »Ich habe keinen Guano gefunden.« Peter hielt ihm das aufgeschlagene Lexikon hin und deutete auf ein Foto. Der Kammerjäger kicherte. »Das ist eine afrikanische 45
Fledermaus, mein Sohn. Solche Fledermäuse haben wir in Neuengland nicht.« »Aber das ist es, was er gesehen hat«, beharrte Judy. »Na gut, aber was immer es gewesen sein mag, es ist jetzt verschwunden«, erwiderte der Kammerjäger. »Außerdem sind's nicht gerade Fledermäuse, derentwegen ich mir in diesem Hause Sorgen machen würde.« Diese Bemerkung hing wie ein fauliger Geruch in der Luft. »Worüber würden Sie sich denn Sorgen machen?« fragte Judy. »Also, ich persönlich würde nicht in einem Haus wohnen wollen, in dem jemand ermordet wurde.« Judy und Peter warfen sich einen Blick zu. »Ermordet?« wiederholte Judy. »Ja. Der kleine Alan Parrish. Er verschwand einfach vor etwa fünfundzwanzig Jahren. Einige sagen, er sei gekidnappt worden, aber Lösegeldforderungen sind nie gestellt worden. Ich sage, daß es sein Vater getan hat. Ist eine Schande, weil die Parrishes hier wirklich eine berühmte Familie waren. Aber er hatte Probleme mit dem Kind, und eines Tages ist er einfach durchgedreht. Verlaß dich drauf, wenn's kein Parrish gewesen wäre, hätten die Bullen das Haus auseinandergenommen, um nach den Überresten zu suchen. Aber da der Familie praktisch ja die Stadt gehörte, bekam sie eine Sonderbehandlung.« Der Kammerjäger duckte sich in den Dachboden und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um. »In diesem Haus gibt es tausendundeinen Platz, an dem er die Leiche versteckt haben könnte, zumal, wenn er sie vorher kleingehackt hat.« Judy spürte, daß ihr Frühstück in ihrem Magen ru46
morte. Mann, was für fröhliche Überraschungen dieses Haus auf Lager hatte. »He, ihr da oben!« rief Tante Nora von der zweiten Etage. »Ihr wollt doch wohl nicht an eurem ersten Schultag zu spät kommen!« »Keine Fledermaus zu sehen, Ma'am«, verkündete der Kammerjäger. Tante Nora lächelte. »Seht ihr, Kinder? In diesem Haus gibt es nichts, wovor man Angst haben müßte.« Richtig, dachte Judy. Leichenteile in den Wänden. Pochen auf dem Dachboden. Verschwindende Riesenfledermäuse. Dschungeltrommeln. Überhaupt nichts, vor dem man Angst haben müßte.
KAPITEL 9 Augen. Das war Judys erster Eindruck, als sie ihre Abschlußklasse in der Brantford Junior Highschool betrat. Dutzende von Augen, die sie anstarrten. Sie abschätzten. Alles über sie wissen wollten. Obwohl es ein kühler Tag war, klebte Judys verschwitzter Hemdkragen an ihrem Hals. Ihre Lehrerin, Miss Kiely, lächelte sie an, als ob sie ein niedliches herumstreunendes Hündchen sei, das gerade hereinspaziert war. »Klasse«, verkündete Miss Kiely, »wir haben in diesem Jahr eine Neue, die den ganzen weiten Weg aus Philadelphia gekommen ist. Judy, warum stehst du nicht auf und erzählst uns ein wenig von dir?« 47
Judy atmete tief ein. Diese Augen waren jetzt sengend auf sie gerichtet. Ihr Herz schlug wie eine Waschmaschine im Schleudergang. »Äh, mein Name ist Judy Shepherd, und mein Bruder und ich sind gerade nach Brantford gezogen, um bei unserer Tante zu wohnen, weil –-« Mach schon, befahl ihr Gehirn ihr. Und mach es gut! »Weil meine Eltern von maoistischen Guerillas in Papua Neuguinea entführt worden sind, wo sie diese sonderbaren neuartigen Regenwaldviren erforschten. Man hatte sie gewarnt, wegen der instabilen politischen Situation nicht dorthin zu fahren, aber sie glaubten, daß es im Namen der Wissenschaft ihre Pflicht sei...« Miss Kielys Lächeln schwand. Aber Judy hatte erst angefangen. Während der Ferien hatte sie die Geschichte um mehrere neue Kapitel ergänzt. Und es gelang ihr, eine riesige Schulhofzuhörerschaft zu fesseln – einschließlich Peter. »... und weil ihre Arbeit so absolut top-secret war«, erklärte sie zum Abschluß ihrer Geschichte, »wurde die Rettungsmission abgeblasen, bis das Außenministerium einen Weg gefunden hat, um die ganze Geschichte zu vertuschen.« Sie strahlte ihre Zuhörer an. Hinten in der Menge starrte Peter düster auf den Boden. »Wenn soviel Wert darauf gelegt wird, das zu vertuschen«, rief ein Mädchen, »warum erzählst du uns das dann?« »Sie lügt!« schrie ein grinsender dicker Junge. »Meine Mama hat ihnen ihr Haus verkauft und mir alles 48
darüber erzählt. Ihre Eltern sind keine Wissenschaftler. Sie sind tot!« Peter blickte auf. Sein Gesicht war knallrot. Er sprang, die Fäuste schwingend, auf den Jungen zu. »Peter, tu's nicht!« schrie Judy. Zu spät. Peter versenkte seine Zähne in den Arm seines Peinigers. »Aaaaaaaaahh!« kreischte der Junge. »Er hat mich gebissen!« Während er weinend davonrannte, bleckte Peter seine Zähne und knurrte die anderen Kinder an. »Er beißt!« spottete ein Mädchen. »Er glaubt, er sei ein Tier!« brüllte ein anderes. Judy hatte genug. Sie nahm ihren Bruder beim Arm und zog ihn mit sich fort. Während sie in die Schule zurückkehrten, hallten die Buhrufe und das höhnische Johlen über den Schulhof. Tante Nora war an diesem Abend am Eßtisch wütend. »Ich kann einfach nicht glauben, daß ich schon nach eurem ersten Tag mit dem Direktor sprechen muß! Was soll ich denn mit euch machen? Das ist nicht meine Abteilung!« »Du solltest uns besser bestrafen«, schlug Judy vor. »Wahrscheinlich solltest du uns Hausarrest geben.« »Ach, ja?« Tante Nora furchte wütend ihre Stirn. »Also schön, ihr beide habt Hausarrest! Aber jetzt wollen wir mal versuchen, uns zu entspannen, unser Abendessen zu beenden und über etwas anderes zu reden.« Sie aßen schweigend. »Also«, meldete Judy sich schließlich zu Wort, »wir haben herausgefunden, warum du das Haus so billig 49
bekommen hast. Vor fünfundzwanzig Jahren lebte hier ein Kind namens Alan Parrish. Und dann, eines Tages, verschwand er. Die Polizei hat überall gesucht, aber sie haben ihn nie gefunden, weil seine Eltern ihn in kleine Stücke zerhackt und die in den Wanden versteckt haben. Jeder in der Stadt glaubt, daß es in diesem Haus spukt.« Tante Noras Gabel fiel klirrend auf den Teller. »Das reicht! Ich kann mir deine Lügen nicht mehr anhören, junge Dame. Du hast Hausarrest!« »Den hast du bereits gegeben«, erinnerte Judy sie. Sie wartete darauf, ihre nächste Strafe zu hören, aber Tante Nora starrte sie nur stammelnd an. Deshalb bot Judy ihr an: »Schick mich auf mein Zimmer.« Tante Nora nickte matt. Judy stand auf und ging. Als sie durch die Eßzimmertür trat, sagte sie: »Aber nur zu deiner Information: Das war keine Lüge.« Am nächsten Morgen warteten Judy und Peter verdrießlich in der Eingangshalle auf den Schulbus. Tante Nora kam nach unten geeilt, gekleidet für einen Tag voller geschäftlicher Besprechungen. »Im Kühlschrank liegt ein Imbiß für euch, wenn ihr heimkommt«, sagte sie. »Wenn ich auf dem Amt aufgehalten werde, rufe ich euch an.« Bum-b-b-bum ... Bum-b-b-bum ... Judy drehte sich zu dem Geräusch um, das von oben kam. Sie bemerkte, daß auch Peter das getan hatte. Hatte er es gehört? Oder reagierte er nur auf sie? »Hört ihr mir überhaupt zu?« fragte Tante Nora. »Hallo? Hm, vielleicht sollte ich mit euch warten, bis 50
der Bus kommt. Haben eure Eltern euch zum Bus gebracht?« »Nein«, sagte Judy. »Bist du sicher? Ihr wirkt besorgt.« Hörte sie das nicht? Judy konnte es nicht glauben. Die Trommeln dröhnten unentwegt, und Tante Nora schien es nicht zu bemerken. Judy rannte zur Eingangstür und öffnete sie. »Mach dir keine Sorgen, wir kommen zurecht.« Tante Nora schaute sie zweifelnd an. »Also schön ..., seid brav.« Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr ging sie zu ihrem Wagen. Judy schloß rasch die Tür. Das Trommeln stoppte. »Du hörst es!« sagte Judy zu Peter. »Was höre ich?« fragte Peter. Bum-ba-ba-bum ... Bum-ba-ba-bum ... Er hört das, jawohl. Sein Haar stand ihm zu Berge. Sie stolperten über ihre Füße und rannten beide nach oben. Dann, als sie den Fuß der Treppe zum Dachboden erreichten, schwiegen die Trommeln abrupt. Judy schluckte. Peters Atem kam flach, schnell und in der Stille unangenehm laut. Die Dachbodentür stand einen Spalt offen. Langsam, Seite an Seite, schlichen Judy und Peter die Treppe hoch. Judy stieß die Tür auf. Morgensonne fiel durch die winzigen Fenster und tauchte den verkommenen Trödel in ein blasses, schattiges Grau. »Woher ist das gekommen?« fragte Judy, während sie langsam in den Raum trat. Peter schüttelte den Kopf und ging in die andere Richtung. 51
Die Bodendielen knarrten unter ihrem Gewicht. Bum-buuuuum-ba-ba-ba-bum-bum-bum! Judy schrie so laut auf, daß ihre Kehle schmerzte. Sie hatte die Antwort. Es war direkt hinter ihr – in einem Haufen von altem Spielzeug und Spielen! Peter rannte darauf zu. Er und Judy begannen, sich auf das Geräusch zu zu wühlen, warfen Schachteln, Baseballhandschuhe und Tennisschläger beiseite. Und je weiter sie wühlten, desto lauter wurde das Trommeln. Als sie schließlich den Boden erreicht hatten, war der Lärm unerträglich. Und nur eine Kiste war noch übrig. Eine wundervolle Holzkiste, auf der JUMANJI stand.
KAPITEL 10 »Wow ...«, flüsterte Judy. Das Trommeln hatte wieder aufgehört, und Peter hatte das Spielbrett auf einer alten Kommode aufgeklappt. Er und Judy standen in stummer Ehrfurcht da. Das Bild, der pechschwarze Kreis, die kunstvolle Schnitzerei – es war alles so lebendig. Zwei schwarze Spielfiguren standen auf dem Brett – auf dem sechsten Feld des einen Weges und auf dem fünften eines anderen. Peter versuchte sie hochzunehmen. »Unheimlich«, sagte er. »Sie kleben fest.« Er nahm die Würfel und die beiden anderen Spielfiguren aus dem Fach an der Seite. Während er sie 52
genauer betrachtete, las Judy die Spielanleitung: »›Jumanji, ein Spiel für diejenigen, die einen Weg suchen, um die Welt hinter sich zu lassen.‹« Die beiden Spielfiguren flogen aus Peters Hand. Sie landeten auf den ersten Rechtecken der verbliebenen unbesetzten Pfade. Peter warf seiner Schwester einen Blick voller Panik zu. »Es muß ein ... Mikrochip oder so was sein«, sagte Judy. Sie nahm ihm die Würfel aus der Hand und schaute sie an. »Mach du zuerst«, beharrte Peter. Judy schluckte. »Okay.« Sie ließ die Würfel auf das Brett fallen. Sechs und drei. Neun. Das Trommeln begann wieder. Eine der beiden ungespielten Spielfiguren bewegte sich neun Felder vorwärts. Judy und Peter schauten zu, erstarrt vor Erstaunen, als eine Botschaft in dem schwarzen Kreis Konturen annahm: Und ist's auch nur ein kleiner Stich, er bringt zum Niesen, Kratzen dich. Während die Buchstaben verschwanden, begann ein summendes Geräusch über ihren Köpfen. Drei Moskitos flogen auf sie zu. Moskitos, die die Größe von Tauben hatten. Mit Stacheln wie Messer. Judy schnappte sich einen Tennisschläger und schlug zu. Mit einem scharfen »Schmatz« schickte sie einen der Moskitos krachend durch ein Fenster. Die beiden anderen flogen ihm nach und verschwanden draußen. 53
Peter ergriff die Würfel und betrachtete sie neugierig. Dann begann er zu würfeln. »Tu's nicht!« warnte Judy ihn. Zu spät. Schlangenaugen. Eins und eins. Die letzte Spielfigur schob sich zwei Felder weiter. Und eine weitere Botschaft erschien in der Mitte: Dies wird keine leichte Mission; Affen stoppen die Expedition. Ein lautes Krachen war von unten zu hören. »Was ist das?« fragte Judy. Sie und Peter rannten aus der Tür. Als sie die Dachbodentreppe hinunterrannten, hörten sie ein weiteres Krachen. Aus der Küche. Sie stürmten ins Erdgeschoß. Das Krachen und Klirren war außer Kontrolle, und jetzt konnten sie wildes Geschrei hören. Judy stieß die Küchentür auf. Affen? Der Raum wimmelte von ihnen. Mindestens ein Dutzend. Einer warf einem anderen Porzellantassen zu, der sie mit einer Suppenkelle zerschlug. Andere plünderten den Kühlschrank, warfen mit Lebensmitteln und verschütteten Milch. Zack! Ein Fleischermesser flog in den Türpfosten. Peter sprang zurück. Auf der anderen Seite der Küche bog sich ein spöttisch blickender Affe zurück, um es wieder zu versuchen, diesmal mit einem Fleischbeil. Zeit zu gehen. Judy und Peter rannten zurück auf den Dachboden. Sie schössen zu dem Spielbrett. Verzweifelt überflog Judy die Spielanleitung: »›Will54
kommen bei der Safari‹ ... mal sehen. ›Man wirft die Würfel, um seine Spielfigur zu bewegen ... Wer einen Pasch hat, darf nochmals würfeln ... Der erste Spieler, der das Ende erreicht und Jumanji ruft, gewinnt, und ...‹« Sie erbleichte plötzlich. »Uh, oh ... ›Hütet euch, Abenteurer: Beginnt nicht, wenn ihr nicht die Absicht habt, auch zu Ende zu spielen. Die aufregenden Folgen des Spieles werden erst verschwinden, wenn ein Spieler Jumanji erreicht und seinen Namen gerufen hat.‹ Waaaaas?« Ein lauter Schlag ließ sie beide zusammenzucken. Die Haustür. Sie rannten zu dem zerbrochenen Fenster. Sie konnten sehen, wie die Affen aus dem Haus marschierten, paarweise in alle Richtungen ausschwärmten, sich zu den Straßen begaben. Zu verrückt. Peter kniete sich über das Brett und begann, es zusammenzuklappen. »Warte!« sagte Judy. »In der Spielanleirung steht, daß alles verschwindet, wenn wir das Spiel beenden. Das sollten wir lieber tun, denn sonst wird Tante Nora Zustände kriegen.« Peter gab nicht nach. »Wir beenden das schnell«, beharrte Judy. »Würfle einfach weiter. Ich meine, dazu muß man ja kein Können beweisen.« Peter überlegte einen Augenblick. Mit einem unwilligen Seufzer öffnete er das Spielbrett und hielt Judy die Würfel hin. »Nein, nein, nein, du hattest einen Pasch gewürfelt!« erinnerte Judy ihn. »Du bist noch mal dran.« Peters Hand zitterte, als er die Würfel auf das Brett fallen ließ. 55
Der erste zeigte eine Fünf, der zweite eine Drei. Acht. Während Peters Spielfigur sich vorschob, nahm seine Botschaft Form an: Seine Fänge sind scharf. Bloß nicht verweilen! Bewegt euch lieber. Ihr müßt euch beeilen. »Beeilen?« wiederholte Judy. \ Plink. Hinter ihnen klimperte eine Klaviertaste. Eine Gänsehaut lief über Judys Arme. Sie und Peter erhoben sich langsam und schauten zu dem Piano. Sie sahen einen Schwanz, der über die Tasten fegte. Und eine riesige Silhouette richtete sich auf ihren Hinterbeinen oben auf dem Piano auf. Sie hörten das häßliche Geräusch, als es auf die Tasten trat und dann zu Boden sprang. Aber es dauerte eine Weile, bis sie erkannten, was es war. Es geschieht nicht oft, daß man einen Löwen auf einem Dachboden sieht. Besonders einen Löwen von der Größe eines Busses. »Rrroooaaarrrr!« Judy und Peter flogen aus der Tür und rasten die Treppe hinunter. Der Löwe sprang von der Wendeltreppe herunter und verfehlte nur knapp einen Kronleuchter. Mit einem schweren »Wumm« landete er im Korridor der ersten Etage. Jetzt war er direkt vor Judy und Peter. Und er sah sehr hungrig aus. Vor Entsetzen heulend, rannten sie in die andere Richtung. 56
Und sahen sich von Angesicht zu Angesicht einem bärtigen, messerschwingenden Höhlenmenschen gegenüber. Sein Haar war lang und verfilzt, sein Blick irr und durchdringend. Er war mit Tierfellen bekleidet und trug einen Strohhut. Sein Messer sah selbstgemacht aus und hatte einen Knochengriff. »Iiiiiiaaaaahhh!« Judy und Peter sprangen zurück, wankten auf den Löwen zu. Der Mann stieß sie beiseite. Sie sprangen in einen offenen Wäscheschrank und versteckten sich. Der Mann und der Löwe sahen sich an, angespannt und reglos. Mit einem plötzlichen Knurren warf der Mann sein Messer. Es blieb vor den Füßen der Bestie im Boden stecken. Der Löwe sprang dem Mann an die Kehle. Judy, die aus dem Schrank zuschaute, zuckte zusammen. Doch der Mann sprang mit kräftigen Beinen hoch und griff nach dem Kronleuchter. Der Löwe landete auf dem Teppich des Korridors und rutschte weiter – direkt in Tante Noras Schlafzimmer. Der Mann sprang auf den nackten Boden, rannte zu der Tür und trat sie zu. Drinnen brüllte der Löwe. Mit einem lauten »Kraaack« schlugen fünf scharfe Krallen durch das Holz. Die Tür im Auge behaltend, wich der Mann langsam über den Korridor zurück. Sein Gesicht veränderte sich, wurde weicher. Er musterte die Wände, den Kronleuchter, die Türen mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck, mit großen Augen voller ... was? Schock? Staunen? Furcht? Hunger? Judy vermochte es nicht zu sagen. 57
Er ging zu der Tür am Ende des Korridors, zu der, die Tante Nora nicht öffnen konnte. Er drehte kurz an dem verschlossenen Türknopf, versetzte der Tür dann einen heftigen Tritt. Sie schlug an die Innenwand, als sie sich öffnete. Der Mann ging hinein und sah sich um. Judy und Peter krochen aus dem Wäscheschrank. An die Wand gedrückt, gingen sie auf Zehenspitzen zu dem Raum und spähten hinein. Er war wie der Rest des Hauses voller Trödel. Doch anders als in den anderen Zimmern war nichts mit schützenden Laken abgedeckt. Ein Schreibtisch, ein Bett, Sportposter an der Wand, Bücherregale. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, genau so belassen, wie es gewesen sein mußte, als die Familie auszog. Alan Parrishs Zimmer, dachte Judy. Sie empfand so etwas wie Traurigkeit für den Jungen, den sie nie gekannt hatte. Der haarige Mann stand bei einem alten SchwinnFahrrad, das an die Wand gelehnt war. Er fuhr mit seinen Fingern über den Rahmen, zeichnete eine schlängelnde Spur in den Staub. Trotz seines wilden Aussehens wirkte seine Berührung weich und liebevoll. Er ging in den hinteren Teil des Zimmers und öffnete einen Schrank, der mit Knabenkleidung gefüllt war. Er betastete ein zerrissenes, dunkelfleckiges Hemd, das an einem Haken hing. Dann ging er wie in Trance zu der Kommode und betrachtete das Foto eines lächelnden Mannes und einer Frau. Er starrte es lange Zeit an, blickte dann in den Spiegel, der über der Kommode hing. Er drehte sich plötzlich um und starrte Judy und Peter an. 58
Seine Lippen bewegten sich. Zuerst kam kein Ton heraus. Dann sprach er undeutlich und unbeholfen, aber auf Englisch. Judy und Peter beugten sich vor, um seine Worte zu verstehen. »Haaat jeeee ... mand eine Fünf oder eine Acht geworfen?«
KAPITEL 11 Eine Fünf oder Acht? Peter schluckte. Er entspannte seine Nackenmuskeln und nickte. »Aaaaaaaaahhhhhh!« Mit einem ohrenbetäubenden Schrei sprang der Mann auf ihn zu. Peter schrie auf, aber es gelang ihm nicht mehr, zu entkommen. Der Mann hob ihn hoch und hüpfte auf und ab, johlte und tanzte vor Freude, wirbelte herum. Lachend. Peter war wie erstarrt. War dies eine Art Stammesritual? Ein Tanz vor dem Töten? Der Mann ließ ihn plötzlich fallen. Sein verzücktes Lächeln verschwand. Mit katzengleichen Bewegungen schoß er die Treppe zum Erdgeschoß hinunter. Judy und Peter rannten ihm nach. Er stürzte in jeden Raum hinein und wieder heraus, schaute sich wie ein Wahnsinniger um. »Mom! Dad!« schrie er. »Wo seid ihr? Ich bin daheim!« Peters Mund klappte auf. 59
Judy schaute den Mann mit schmalen Augen an. »Du bist doch nicht... Alan Parrish, oder?« Der Mann wirbelte herum. »Wer seid ihr?« »Ich bin Judy, und er ist Peter. Wir wohnen jetzt hier. Dieses Haus hat jahrelang leergestanden. Alle dachten, du seist tot.« Alan Parrish starrte sie an. Verwirrung zeigte sich in seinem Gesicht. Judy schätzte, daß er in Tante Noras Alter sein müsse, vielleicht älter, aber in seinen verwirrten Augen konnte sie die Seele eines Jungen sehen. »So ...«, sagte er unsicher. »Wo sind meine Eltern?« Judy und Peter wechselten einen Blick. »Das wissen wir nicht«, sagte Judy leise. »Tut mir leid.« Ohne ein weiteres Wort drehte Alan sich um und rannte aus der Haustür. Judy und Peter eilten ihm nach. Er lief über den Rasen, drehte sich dann um und starrte das Haus voller Verwunderung an. Seine Felle flappten im Wind, als er auf die Straße zurückwich. Quiiiiiieeeee ... Ein Streifenwagen schlingerte auf ihn zu, versuchte anzuhalten. Alan wirbelte herum und sprang. Er landete mit einem lauten Bums auf der Kühlerhaube. Ein Polizist stieg aus dem Wagen. Er war ein stämmig gebauter Afroamerikaner, dessen Haar an den Schläfen grau wurde. Und er war nicht amüsiert. »Gehen Sie runter von meinem Wagen!« befahl er. Alan sprang auf die Straße. »Treten Sie auf den Bürgersteig«, befahl der Polizist, während er sorgsam seine Kühlerhaube untersuchte. Soweit Judy sehen konnte, hatte Alan keinen Schaden angerichtet, doch der Beamte benutzte seinen Jacken60
ärmel, um die Stelle abzuwischen, die Alans Füße berührt hatten. Dies war ein Mann, der aufs Detail achtete. Alan beugte sich über die Schulter des Polizisten. Er schien über das Aussehen des Wagens erstaunt zu sein. »Welches Jahr ist es?« »Er ist nagelneu!« erwiderte der Polizist. »Nein, ich meine, welches Jahr haben wir jetzt?« Der Polizist blickte Alan finster an, als ob er verrückt sei. Judy trat rasch vor und sagte: »Äh ..., du weißt doch, neunzehnhundertfünfundneunzig?« »Haben Sie Papiere bei sich?« fragte der Polizist zweifelnd, während er Alans Aufzug musterte. Aber Alan murmelte, tief in Gedanken versunken, etwas vor sich hin. »Fünfundneunzig minus neunundsechzig ... sechsundzwanzig Jahre?« »Ja, ich weiß, sind in Ihrer anderen Hose, richtig?« knurrte der Polizist. »Sind Sie von hier irgendwo?« »Ja«, erwiderte Alan, »aber ich bin in Jumanji gewesen.« »Indonesien«, warf Judy ein. »Er war bei der Friedenstruppe.« Alans Augen waren jetzt auf das Abzeichen des Polizisten gerichtet, auf dem der Name Bentley stand. Er musterte das Gesicht des Mannes, das plötzlich vertraut schien. »Carl Bentley?« Officer Bentley wandte sich an Judy. »Ist dieser Mann mit dir verwandt?« »Ja, Sir«, log Judy. »Er ist unser ... Onkel.« Hinter Officer Bentleys Rücken sprangen zwei Jumanji-Affen die Straße herunter und kletterten in seinen Streifenwagen. Alan entdeckte sie. Er knirschte mit den Zähnen und stieß ein lautes, löwengleiches Gebrüll aus. 61
Polizist Bentley wirbelte herum. Die Affen duckten sich auf den Boden des Wagens. »Ist er okay ... im Oberstübchen?« fragte Officer Bentley Judy. »Er hat vor ein paar Monaten eine schwere Kopfverletzung erlitten«, antwortete Judy. »Sie wissen ja – wenn man in einem Zug ist, soll man nichts aus dem Fenster stecken, oder? Als –« Wrrrrouuum! Der Wagen sprang an. Während er sich vom Bordstein entfernte, schlug ein Schuß drinnen ein Loch durch das Dach des Autos. Schnatterndes Gelächter erfüllte die Straße, als der Wagen davonraste. »Waaaas?« Officer Bentley spurtete seinem Wagen hinterher und brüllte über seine Schulter: »Bleibt ja, wo ihr seid!« Alan schlug augenblicklich die entgegengesetzte Richtung ein. »Warte mal«, rief Judy. »Wohin gehst du?« »Meine Eltern suchen!« erwiderte Alan. »He, was ist mit dem Spiel?« schrie Judy. »Es heißt, wir müssen's zu Ende spielen!« »Nur zu, spielt's zu Ende!« sagte Alan und verschwand hinter einer Ecke. Judy und Peter sprinteten ihm nach. Auf halbem Wege kamen sie an einem Briefträger vorbei. Er war mitten auf dem Bürgersteig stehengeblieben, nieste wie verrückt und versuchte verzweifelt, sich den Rücken zu kratzen. Judy und Peter schauten ihn beide an und hätten Alan fast aus den Augen verloren. In die Main Street einbiegend, holten sie ihn schließlich ein. 62
Alan stand stocksteif an der Kreuzung mit der Elm. Der Stadtplatz war ein trostloser, heruntergekommener Streifen von Leihhäusern, Schnapsläden und billigen Kneipen. Viele der Schaufenster waren mit Brettern zugenagelt. Auf der anderen Straßenseite lag ein restlos geplündertes Autowrack auf dem Dach. Haufen von Abfall bildeten kleine Wirbel im Wind. Alan trat auf die Kreuzung, als versuche er, sich an etwas zu erinnern. Eine Bande von Fahrradfahrern in schwarzem Lederzeug jagte vorbei und überfuhr ihn fast. Alan sprang auf den Bürgersteig zurück. Dann rannte er in den Stadtpark und blieb am Fuße einer alten Statue stehen. Unter dem Geschmiere der Graffiti war der Name General Angus Parrish kaum zu sehen. Eine Bierdose war auf die Spitze des Schwertes des Generals gesteckt worden. »Was ist geschehen?« murmelte Alan zu sich. Er schoß plötzlich von dem Platz weg, die Mill Road hoch. Er schien in einem mühelosen, schwingenden Schritt, der für Judy und Peter viel zu schnell war, zu gleiten. Ächzend und keuchend holten sie ihn an einer verlassenen Baustelle ein, die nahe bei einem überwachsenen Meilenstein aus Granit lag. Die Baustelle war nicht mehr als eine große Grube. Ein paar Betonstücke ragten aus einem Dickicht von wilden Ranken und Unkraut. Dürre Bäume und Sträucher waren aus dem Boden gewachsen. Es sah aus, als ob die Arbeiter eines Tages einfach mit ihrer Arbeit aufgehört hätten und nie zurückgekehrt wären. Judy hoffte, daß dieser Platz das Ende von Alans Suche sei. 63
Aber Alan ging weiter, auf ein zerfallendes Fabrikgebäude aus Ziegelstein zu, das sich direkt hinter einem leeren, von Unkraut überwucherten Parkplatz befand. Vor dem Gebäude stand ein rostiges, von Kugellöchern durchsiebtes Schild, auf dem stand: ParrishSchuhe – vier Generationen Qualität. Alan sah aus, als bräche es ihm das Herz. Seine Augen wurden dunkel und feucht, als er durch die Eingangstür der Fabrik trat. Im Halbdunkel standen die verrotteten Wracks alter Maschinen wie Dinosaurierskelette. Vögel flogen unter den Dachsparren auf große Nester zu, die in die Ecken gestopft waren. Aus klaffenden Löchern in der Decke tropfte Wasser in kalküberkrustete Pfützen. Alan bückte sich und hob eine alte, flachgedrückte Schachtel vom Boden auf. Das verblichene Signet Parrish Shoes darauf war kaum zu erkennen. Er preßte es wie ein verletztes Schoßtier an seine Brust und fragte: »Wo sind denn alle? Hier waren doch Hunderte von...« Er drehte sich zu Judy und Peter. »Mein Dad hat hier Schuhe gemacht. Die besten Schuhe in Neuengland.« Alans Blick schoß nach oben, zu einer Bürotür auf einem Balkon. Er rannte die Metalltreppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Worte Sam Parrish, President standen auf der Milchglasscheibe. Durch sie sah Alan die Silhouette eines Mannes, der seine Füße auf den Schreibtisch gelegt hatte. Die Füße des Mannes waren auf einem Schreibtisch. Seine Hände hatte er hinter dem Kopf verschränkt. Und in seinem Mund steckte eine Pfeife. Alans Gesicht erhellte sich vor Freude. Ja! Er lebte! Eifrig stieß er die Tür auf. 64
In einer alten, verstaubten Kiste auf dem Dachboden entdeckt Peter das geheimnisvolle Spiel JUMANJI.
Seltsame Dinge geschehen im Haus, nachdem Peter und seine Schwester Judy das Spiel begonnen haben.
Nach 26 Jahren kehrt Alan als Erwachsener in die Gegenwart zurück.
Die Gefahren lauern plötzlich überall.
Alan geht das Wagnis ein, den Würfel erneut zu werfen.
Sarah, Alans Freundin aus Jugendtagen, wartet gemeinsam mit Alan und Judy darauf, was als nächstes passiert. In letzter Sekunde wird Peter davor bewahrt, von einer fleischfressenden Riesenpflanze verschlungen zu werden.
Judy und Sarah haben nur wenig Zeit erleichtert aufzuatmen.
Schon bald ertönen im Haus wieder erschreckende Geräusche.
Alan droht in den Bodendielen zu versinken.
Wird es Sarah gelingen, Alan zu retten?
KAPITEL 12 Der Mann im Sessel drehte sich um. Sein Haar war weiß, sein Gesicht eingefallen und grau. Neben ihm, auf dem Boden, zwischen Bergen von Müll, lag ein Schlafsack. Ein Kessel mit Wasser kochte auf einem Propangasofen, der an der Wand stand. Alan ließ die Schultern hängen. »Entschuldigung. Ich dachte, Sie seien jemand anders.« Das Gesicht war völlig fremd. Es war ein Obdachloser. Jemand, der Zuflucht in dem alten Büro gesucht hatte. Der an Mr. Parrishs Schreibtisch saß. Alan wandte sich zum Gehen, änderte dann seine Meinung. Er schaute den alten Mann hoffnungsvoll an. »Wissen Sie, was mit der Schuhfabrik passiert ist?« Der Mann musterte Alans zerlumptes Äußeres und schien sich zu entspannen. »Hat Pleite gemacht. Wie alles andere in dieser Stadt.« Er hielt ihm eine Kaffeetasse hin. »Ist kalt draußen. Wollen Sie?« Alan schüttelte den Kopf. »Was ist mit den Parrishes?« fragte er weiter. »Nachdem ihr Kind durchgebrannt war, haben sie alles gegeben, was sie hatten, um ihn zu finden«, erklärte der alte Mann. »Ihr Geld, ihre Zeit, ihr alles. Nach einer gewissen Zeit kam Sam nicht mehr zur Arbeit. Er kümmerte sich einfach nicht mehr darum. Einige von uns versuchten, den Betrieb am Laufen zu halten, aber ich denke, wir hatten einfach diesen Parrish-Elan nicht.« Er langte in einen Haufen Kleidungsstücke und zog eine weit ausgestellte Safari-Anzughose aus Polyester hervor, die so abscheulich war, daß Judy fast lachte. 65
»Hier«, bot der Mann an, »die paßt besser zu diesem Mantel.« Alan zog sie abwesend an. »Sind die Parrishes noch irgendwo hier?« »Ja«, sagte der Mann mit einem sonderbaren Lächeln. »Sie sind drüben, an der Adams Street.« Vor Freude strahlend, eilte Alan aus dem Büro. Judys Beine schmerzten vom Rennen. Sie und Peter folgten ihm aus dem Gebäude, aber Alan ließ sie im Staub der Mill Road zurück. Schließlich fanden sie Alan an der Adams Street, fast direkt neben dem Stadtplatz. Er kniete vor zwei Grabsteinen auf einem Friedhof. Als Judy näherkam, konnte sie die Namen lesen, die in den Marmor gemeißelt waren: Samuel Alan Parrish, 18. Juni 1921 – 6. Mai 1991; und Carol Anne Parrish, 20. November 1930 – 19. August 1991. Judy und Peter hielten respektvoll Abstand. Alan fuhr sich über die Augen und legte seinen Strohhut zärtlich auf die Gräber seiner Eltern. Als er Judy und Peter bemerkte, verbarg er sein Gesicht in den Händen und rief: »Ich wünschte, diese Familie existierte nicht!« »Unsere Eltern sind auch tot«, sagte Judy leise. »Sie waren im Mittleren Osten, wollten Frieden stiften, als –« Peter gab ihr einen kräftigen Stoß mit dem Ellenbogen. Er trat zu Alan und stieß die ersten Worte aus, die er außer Judy zu jemand nach dem Unfall gesprochen hatte. »Unser Dad war in der Werbung.« Alans und Peters Blicke trafen sich. Für einen Moment sagte keiner ein Wort. Dann stand Alan auf und schlenderte davon. »Da geht er wieder«, sagte Judy. »Komm.« 66
Alan spazierte nur gemächlich, aber die Kinder mußten laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie folgten ihm über einen Weg, der sich durch den alten Friedhof wand. »Hör zu«, rief Judy, »ich weiß, daß du außer Fassung bist und so, aber ich hatte gehofft, du könntest meinem Bruder und mir helfen, das Spiel zu beenden.« »Bedaure«, schnappte Alan. Sie kamen an einer Frau vorbei, die ernst vor einem Grab kniete. Peter bemerkte, daß sie sich wie verrückt kratzte. Genau wie der Briefträger. Eigenartig. »Du könntest ruhig ein bißchen dankbar sein«, sagte Judy. »Ohne uns würdest du noch immer da stekken.« »Ich stehe ewig in eurer Schuld, weil ihr mich da rausgeholt habt«, erwiderte Alan, »aber es würde nicht besonders viel Sinn machen, wenn ich als erstes loslege und dann wieder da drin stecke, oder? Nein! Ich habe zuviel nachzuholen.« »Im Schlafzimmer meiner Tante ist ein Löwe!« schrie Judy. »Ruf einen Zoo an!« konterte Alan. »Ich bin nicht mehr im Löwengeschäft.« Während sie den Friedhof verließen und auf die Main Street traten, näherte sich ein Krankenwagen mit heulender Sirene. Die Wagen fuhren links und rechts an den Bordstein. Bis auf einen. Es war ein Kabriolett, das quer über die Straße schoß. Alan, Judy und Peter blieben stehen, um zuzuschauen. Der Krankenwagen scherte aus. Der Wagen scherte in dieselbe Richtung aus. Iiiiiiiiiiiiieeeeee ... 67
Reifen quietschten. Mit einem Übelkeit erregenden Knirschen von Metall prallten der Wagen und der Krankenwagen seitlich aneinander. Beide kamen am Bordstein zum Stehen. Die Türen des Krankenwagens öffneten sich, und zwei Sanitäter eilten heraus. Einer ging nach hinten, um eine Bahre zu holen. Der zweite ging zu dem Auto, öffnete die Fahrertür und zog eine Frau heraus. Sie zitterte heftig und kratzte sich. Ihr Gesicht war grünlich-gelb, und sie war schweißbedeckt. »Wir haben wieder einen, Larry!« rief der Sanitäter. »Das sind jetzt schon über fünfzig!« sagte der andere, während er die Bahre neben die Frau legte. »Was geht hier vor?« Als die Männer die Frau auf die Bahre legten, warf sie ihren Kopf zurück und nieste. Judy erkannte sie sofort. Es war Miss Winston, die Maklerin. »He, ist das nicht –?« »Still!« platzte Alan heraus. Er neigte seinen Kopf zur Seite, und ein wachsamer Blick war in seinen Augen. »Hört ihr das?« »Was hören?« fragte Judy. Judy und Peter lauschten aufmerksam, aber sie konnten nichts Ungewöhnliches hören. Alans Augen indes weiteten sich vor Entsetzen. Er stieß die beiden Kinder zu Miss Winstons Wagen. »Schnell! Bewegt euch!« Sie alle drei schoben sich durch die offene Fahrertür auf den Vordersitz. Alan schlug die Tür zu und umklammerte das Lenkrad. »Denkt nach!« drängte er. »Was kam vor mir aus dem Spiel?« »Da war ein Löwe«, sagte Judy, »eine Horde von Affen und ...« 68
Ein riesiger Moskito fiel vom Himmel auf die Motorhaube des Autos. »Das!« schrie Peter. Tap-tap ... tap-tap-tap ... Der Moskito stieß mit seinem Stachel gegen die Windschutzscheibe. »Keine Angst«, sagte Alan, »hier kommt er nicht an uns ran.« Der Moskito summte davon und verschwand aus dem Blickfeld. »Seht ihr?« sagte Alan mit einem anmaßenden Lächeln. »Wir sind sicher.« Rrrritsch! Der Stachel des Moskito drang durch das Dach des Kabrios. Judy und Peter schrien auf. Während sie sich an das Armaturenbrett preßten, stocherte der Stachel eine Weile herum, zog sich dann zurück. »Wir sind sicher«, versicherte Alan ihnen. »Diese Dinger machen einen krank, wenn sie einen stechen, aber wenn wir nach Hause fahren und drinnen bleiben, passiert uns nichts.« Bzzzzzzzz – Klatsch! Der Moskito knallte im Sturzflug gegen die Windschutzscheibe, so daß das Glas brach. »Wie?« Judys Frage war ein gequälter Schrei. Alan untersuchte die Lenkradsäule, in der noch immer die Schlüssel steckten. »Weiß einer von euch, wie man fährt?« fragte er. Judy und Peter schüttelten ihre Köpfe. »Okay, okay, kein Problem. Macht mal etwas Platz. Mein Dad hat mich mal das Auto auf der Zufahrt zurücksetzen lassen, und ich durfte immer auf seinem Schoß sitzen und die ganze Zeit lenken. Ist zwar eine Weile her, aber ...« 69
Er drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang mit einem Brüllen an. »Okaaaaaay!« rief Alan. »Und los geht's!« Judy und Peter legten schnell ihre Sicherheitsgurte an. Alan preßte seinen Fuß auf das Gaspedal. Der Motor heulte laut auf, aber der Wagen bewegte sich nicht. Alan drückte versuchsweise auf einen Knopf links neben dem Lenkrad. Nichts geschah. Er zog an einem Hebel. Die Scheibenwischer begannen zu schwingen. Ein Knopf. Das Radio dröhnte. Ein anderer Knopf. Das Faltdach begann sich zu senken. »Alan!« schrie Judy. »Das Dach!« Während sich das Dach sauber hinter ihnen zusammenfaltete, saß Alan verblüfft da. Bzzzzzzzzzzz ... Judy blickte auf. Der Moskito schoß von hoch oben herunter. Schnell. Sie tat das einzige, was sie tun konnte. Schloß ihre Augen und schrie.
KAPITEL 13 Peter lehnte sich an ihr vorbei. Er riß den Schalthebel auf Drive. Der Wagen schoß mit quietschenden Reifen davon. Judy öffnete ihre Augen und blickte über ihre Schulter. Der Moskito landete auf dem Asphalt und prallte ab. Alan drehte das Lenkrad wie wild. Der Wagen hol70
perte über einen Bordstein und schoß auf ein Stoppschild zu. Judy und Peter duckten sich. Sie wurden nach vorn geschleudert, als der Wagen aufprallte. Das Schild knickte um und fiel zu Boden. Alan fuhr weiter, machte einen Schlenker auf die Straße, schleuderte von einem Bordstein zum anderen. Er bog hart auf die Jefferson Street ab. Iiiiiieeeee ... krach! Der Zaun des Nachbarn brach zusammen. Iiiiiiiieeee ... broch! Judys und Peters Briefkasten. Alan trat wuchtig auf die Bremse. Judy glaubte, ihr Sicherheitsgurt würde sie halbieren. Sie und Peter stützten sich am Armaturenbrett ab. Der Wagen kam holpernd am Bordstein zum Stehen. Alan atmete schwer aus. »Ein Kinderspiel«, sagte er und stellte den Motor ab. Er stieg aus dem Wagen und eilte ins Haus. Für einen Augenblick konnten sich weder Judy noch Peter bewegen. Ich lebe. Ich lebe noch. Judy wiederholte diese Worte in Gedanken ständig. Als müsse sie sich selbst überzeugen. Langsam lösten sie und Peter ihre Hände, deren Knöchel weiß waren vom Klammern an das Armaturenbrett. Sie fanden Alan auf dem Dachboden. Ein Koffer, gefüllt mit Männerkleidung, lag geöffnet zu seinen Füßen. Er stand vor einem Spiegel und hielt sich ein verknautschtes Hemd vor die Brust. Er schien auszuprobieren, ob es paßte – bewunderte es aber auch zärtlich. War in seiner eigenen Welt verloren. Es muß seinem Dad gehört haben, erkannte Judy. Sie empfand wieder Traurigkeit und dachte daran, ihn 71
allein zu lassen. Aber sie entdeckte das Jumanji-Spielbrett auf dem Boden und erinnerte sich an die Botschaft: Die aufregenden Folgen des Spiels verschwinden nur, wenn ein Spieler Jumanji erreicht und seinen Namen ausgerufen hat. Wirklich aufregende Folgen – Löwen, eine Affenarmee und angreifende Moskitos, die eine juckende Krankheit übertrugen. Sie mußten das Spiel beenden. Mehr als alles andere. Und sie brauchten Alan, damit er sie beschützte. Judy hob das Spiel hoch und rief leise: »Alan? Wann wirst du uns beim Spiel helfen?« Alan drehte sich verwirrt zu ihr um. Als er das Spiel sah, wich er zurück. Selbst im düsteren Licht des Dachbodens konnte sie sehen, daß sein Gesicht blaß wurde. Als er sprach, war seine Stimme ein gequältes Flüstern. »Halt mir das Ding vom Leib!« »Aber wir müssen uns beeilen!« beharrte Judy. »Unsere Tante wird bald heimkommen.« Alan nahm ein paar Kleidungsstücke aus dem Koffer und ging an Judy und Peter vorbei. »Gut. Dann kann ich ihr mitteilen, daß sie die Ex-Besitzerin dieses Hauses ist. Euch ist doch wohl klar, daß dieses Haus mir gehört, da meine Eltern tot sind, oder?« Er sprang die Dachtreppe hinunter und ließ Judy ebenso sprachlos zurück wie ihren Bruder. »Wie klappt's denn jetzt mit dem heißen Wasser?« rief Alan über die Schulter. »Hat jemand den alten Boiler ersetzt?« Noch immer das Spielbrett haltend, rannte Judy ihm nach. Peter war dicht hinter ihr. Alan verschwand auf der ersten Etage im Bad und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu. 72
»Was, glaubst du wohl, werden die Affen mit dem Ökosystem hier anstellen?« schrie Judy. »Hallo?« Alan begann, vor dem Hintergrund laufenden Wassers und einer schnippenden Schere eine Melodie zu summen. Verzweifelt setzten sich Judy und Peter auf den Boden des Korridors. Hinter sich konnten sie den Löwen in Tante Noras Schlafzimmer schnauben hören, der Laken zerfetzte und gegen Möbel krachte. Als die Badezimmertür sich öffnete, trug Alan die Freizeitkleidung seines Vaters: ein grelles Hemd im Stil der sechziger Jahre und eine ausgestellte Hose. Den größten Teil seines Haares hatte er in unregelmäßigen Stücken abgeschnitten, und sein rasiertes Gesicht war so voller Schnitte, daß Judy zusammenzuckte. »Was willst du?« sagte Alan stirnrunzelnd. »Ich hab' mich noch nie zuvor rasiert.« Wieder rannte er an ihnen vorbei. Sie verfolgten ihn die Treppe hinunter zur Küche. Dort war Judy, als müsse sich ihr der Magen umdrehen. Die Affen hatten den Raum völlig verwüstet. Die Wände und der Boden waren voll von zertrampelten, faulenden, angebissenen Lebensmitteln. Alan sammelte Brocken davon in einer großen Schüssel. »Wie wär's, wenn Peter und ich das Spiel spielen, und du schaust einfach zu?« schlug Judy vor. »Nein, danke.« Alans Blick fiel auf einen zerquetschten Donut und fügte ihn seiner Sammlung bei. »Ich hab's gesehen. Außerdem plane ich immer nur bis zur nächsten Mahlzeit. Ich hab' das auf die harte Tour gelernt.« »Schön, aber wenn du uns nicht helfen willst, was wirst du dann tun?« fragte Judy. Alan dachte einen Moment darüber nach. »Ich den73
ke, ich werde da weitermachen, wo ich aufgehört habe«, sagte er, während er nach der Kühlschranktür langte. »Ich überlege, ob Mrs. Nedermeyer noch immer die sechste Klasse unterrichtet...« »Iiiii!« Ein Affe sprang aus dem Kühlschrank. Er zitterte und schaute böse drein. Alan sprang beiseite und ließ seine Schüssel fallen. Der Affe schnatterte ihn wütend an und trollte sich dann. Alan räusperte sich und versuchte, gleichgültig zu lächeln, um seine Furcht zu verbergen. Aber sein Gesicht war vor Verlegenheit hellrot. Das brachte Peter auf eine Idee. »Komm, Judy«, sagte er. »Er wird uns nicht helfen. Er hat Angst.« »Was?« rief Alan aus. »Was hast du gesagt?« »Du hast Angst«, erwiderte Peter mit einem Schulterzucken. »He, ist doch okay, Angst zu haben.« »Ich habe keine Angst!« entgegnete Alan. »Beweise es!« »Ich brauche dir überhaupt nichts zu beweisen.« Peter wandte sich an seine Schwester. »Stellen wir's im Wohnzimmer auf.« Als Peter sich anschickte, zur Küchentür zu gehen, baute Alan sich vor ihm auf. »Hör zu, du weißt nicht, worauf du dich da einläßt.« »Was immer es ist, wir werden allein damit fertig«, sagte Peter. »Wir brauchen dich nicht. Komm, Judy.« »Ihr meint, Affen und Moskitos und Löwen seien schlimm?« höhnte Alan. »Das ist Kinderkram. Ich habe Dinge gesehen, die euch für den Rest des Lebens mit Alpträumen versorgen. Dinge, die ihr euch nicht mal vorstellen könnt – Schlangen, so lang wie ein Schulbus, Spinnen von der Größe eines Bulldozers, Dinge, die 74
nachts im Dschungel jagen. Dinge, die man nicht einmal sehen kann, die man nur laufen hört und ... fressen. Ist in Ordnung, wenn man Angst hat? Du weißt gar nicht, was Angst ist. Glaub mir, ohne mich überlebt ihr keine fünf Minuten!« Peter schaute Alan für einen langen Augenblick in die Augen. »Dann wirst du uns also spielen helfen?« Vor Enttäuschung knurrend, stolzierte Alan aus der Küche. »Also gut, also gut!« Judy grinste ihren Bruder bewundernd an. »Peter, das war echt cool.« »Umpol-Psychologie«, erwiderte Peter. »Dad hat das bei mir immer gemacht.« Sie liefen ins Wohnzimmer. Dort zog Alan alle Vorhänge zu und tauchte den Raum so in Halbdunkel. Als er wieder zu Judy und Peter kam, war sein Gesicht von Furcht gezeichnet. Judy öffnete das Spielbrett. Die Figuren standen noch auf ihren Plätzen. Sie ergriff die Würfel und sagte: »Bereit?« »Bereit«, erwiderte Peter. »Bereit«, murmelte Alan. »Okay, los geht's!« Judy warf die Würfel auf das Brett. Sie starrten alle auf ihre Spielfigur. Die stand völlig still. »Ich versuch's noch mal.« Judy würfelte ein zweites Mal. Nichts. »Alan, es funktioniert nicht«, sagte Judy. Ein Verstehen machte sich langsam in Alans Gesicht breit. »Oh, nein!« Er sprang von seinem Sitz auf. »Du bist nicht dran!« 75
»Ich habe zuerst gewürfelt«, erklärte Judy, »dann Peter zweimal, weil er einen Pasch hatte. Jetzt bin ich wieder dran.« »Nein, seht mal.« Alan deutete auf Judys und Peters Figuren. »Wenn diese beiden eure sind, wem gehören dann die anderen? Eine davon ist meine.« Sein Blick wurde plötzlich abwesend und traurig. »Ihr spielt das Spiel, das ich neunzehnhundertneunundsechzig angefangen habe.« »Also, wer ist dann dran?« fragte Judy. »Die Person, mit der ich gespielt habe«, sagte Alan leise. »Und? Wer war das?« drängte Judy. Alan trat langsam zum Fenster hinüber. Seine Augen wurden feucht, während er hinausschaute. Dann sprach er mit ersticktem Flüstern: »Sarah Whittle.«
KAPITEL 14 Madame Serena Wahrsagerin nur nach Vereinbarung Das Holzschild war wellig und rissig, die Worte verblichen. Während Alan das Haus betrachtete, das einst den Whittles gehört hatte, wirkte sein Gesicht leer und enttäuscht. Dicke, knorrige Bäume ragten düster auf und tauchten das Haus und den wuchernden Rasen in tiefen 76
Schatten. Unkraut wuchs in den Rissen des Gehwegs, der zu einer zerfallenen Veranda führte. »Mir wird richtig unheimlich«, sagte Peter. »Ich wußte, daß sie nicht mehr hier sein würde«, sagte Alan mit einem Seufzer. »Gut, laßt uns zumindest fragen«, schlug Judy vor. »Vielleicht weiß sie, wohin Sarah gezogen ist.« Sie gingen zur Eingangstür, und Judy klopfte. Alan schaute sich mit einem sehnsüchtigen Lächeln um. »Hier, auf dieser Veranda, haben wir gespielt. Damals wirkte sie viel größer.« »Hallo?« Eine gedämpfte Frauenstimme war hinter der Haustür zu hören. »Können Sie uns helfen?« fragte Judy laut. »Wir sind –« »Habt ihr einen Termin?« unterbrach die Stimme. »Nein«, erwiderte Judy, »wir versuchen nur, jemand zu finden.« »Madame Serena will euch jetzt nicht empfangen!« kam ungeduldig die Antwort. »Gut, aber vielleicht können Sie uns helfen«, sagte Alan. Die Tür öffnete sich langsam mit einem Knarren. Eine Frau stand da, blinzelte sie an. Ihr blondes Haar war wirr und ihre Augen verquollen, so als ob sie gerade erwacht sei. »Wir suchen nach jemand, der hier einmal gewohnt hat«, informierte Alan sie. »Ich habe mein ganzes Leben hier gewohnt«, schnappte die Frau. »Dann müssen Sie Sarah Whittle kennen«, sagte Judy. »Wa-was ... was wollt ihr von Sarah Whittle?« 77
Alans Augen wurden so groß wie Fußbälle. »Sarah?« »Ich ...« Die Frau wurde nervös. »Ich höre nicht mehr auf diesen Namen.« »Sarah Whittle?« Der Name kam wie ein fröhlicher Schrei aus Alans Mund. Er trat zu ihr und grinste breit. Sarah wich zurück. »Was wollen Sie?« »Als Sie dreizehn waren, haben Sie unten an der Straße mit einem Kind ein Spiel gespielt«, sagte Alan. »Das Spiel mit den Trommeln.« »Woher wi-wissen Sie davon?« Sarah zitterte jetzt unbeherrscht. »Weil ich dort war, Sarah.« Sie atmete keuchend ein. Ihre verschlafenen Augen waren jetzt hellwach und offen. »Alan?« flüsterte sie. Bevor er antworten konnte, fiel sie ohnmächtig zu Boden. Alan brauchte ein paar Minuten, um sie halbwegs aus ihrer Bewußtlosigkeit zurückzuholen. Ihren linken Arm um seine Schultern gelegt, ihren rechten Arm um Judys, führte Alan sie alle langsam zurück zum alten Parrish-Haus. Da sie noch immer benommen war, rannte Peter in die Küche und kam mit etwas Limonade zurück, die die Affen nicht erwischt hatten. Alan schob das Spiel unter den Kaffeetisch. Besser, wenn sie sich erst einmal von der Vergangenheit erholte. Nach ein paar Schlucken kam Sarah wieder zu sich. Alle ignorierend, ging sie direkt zu dem Telefon im Wohnzimmer und wählte schnell eine Nummer. Ein gedämpftes Piepen drang aus dem Hörer. »Ja, Doktor Boorstein, hier spricht Sarah Whittle«, sagte sie. »Meine Dosis müßte vielleicht überprüft wer78
den. Sie kennen doch dieses Ereignis, worüber wir die beiden letzten Jahrzehnte gesprochen haben? Diese Sache, die nicht wirklich passierte? Also, ich scheine nun wieder eine Episode mit diesem kleinen Jungen zu haben, der nicht wirklich verschwand. Ich sitze in seinem Wohnzimmer und trinke Limonade. Mich würde Ihre Interpretation sehr interessieren. Rufen Sie mich doch bei nächster Gelegenheit an. Danke.« Sie legte auf und sah sich nervös im Haus um. »Er wird in fünfzig Minuten zurückrufen.« »Okay.« Alan holte tief Luft. »Gut, während wir warten ...« Er langte unter den Kaffeetisch und zog das Spiel hervor. Sarah sprang auf und kreischte: »Schaff mir dieses Ding vom Hals!« »Du mußt uns helfen, das Spiel zu beenden, Sarah«, erklärte Judy. »Nein, tu' ich nicht!« Sarah wandte sich mit geröteten Augen an Alan. »Ich habe über zweitausend Stunden in Therapie verbracht, um mich zu überzeugen, daß dieses Ding nicht existiert! Ich habe verdrängt, daß du dich in Rauch aufgelöst hast und in dem Spiel verschwunden bist, weil es einfach zu schrecklich war, was wirklich passierte!« »Ja, es war schrecklich«, sagte Alan mit einem Nikken. »Aber es war wirklich.« »Nein! Dein Vater hat dich ermordet und in kleine Stücke zerhackt und dich in den Wänden versteckt!« »Mein Vater tat das?« Sarah nickte. »Sarah, du kanntest meinen Vater. Er konnte mich kaum umarmen, geschweige denn, mich in Stücke zerhacken.« 79
»Naja, es sind immer die unterdrückten Typen, die –« »Hör zu! Vor sechsundzwanzig Jahren haben wir etwas angefangen, und jetzt werden wir alle es beenden. Nun rate mal, was?« Alan nahm die Würfel und drückte sie Sarah in die Hände. »Du bist dran.« Sarah sprang zurück. »Ich will nicht spielen!« Alan beugte sich zu ihr. »Du wirst spielen!« »Dann zwing mich doch«, zischte Sarah. Sie hatte die Zähne wie ein Tier gebleckt, das angegriffen wird. Alan schlug das Spielbrett auf den Kaffeetisch. »Also gut, dann gib mir die Würfel und mach zu, daß du rauskommst!« Judys Mut sank. Peter sah aus, als würde er zu weinen anfangen. Alan hielt Sarah seine Handfläche hin. Sie streckte ihre Hand aus und ließ die Würfel fallen. Alan zog seine Hand blitzschnell zurück. Die Würfel klapperten auf das Spielbrett. »Aaaaaaaaahhhh!« heulte Sarah. »Wie konntest du das tun?« »Bedaure.« Alan grinste. »Gesetz des Dschungels.« Das Trommeln begann leise und bedrohlich. Sarahs Spielfigur rutschte auf dem Pfad vorwärts. Sarah ließ sich auf den Boden fallen. »Wenn ich an all die Energie denke, die ich aufgebracht habe, um dich als strahlenden Geist zu visualisieren ...« Ihre Botschaft begann, sich in dem Kreis zu materialisieren. »Los schon«, drängte Judy. »Lies es.« »Zweiundzwanzig Jahre Doktor Boorstein einfach für die Katz«, beklagte sich Sarah. »Ich kann nur sagen, daß ich Gott sei Dank eine Krankenversicherung hatte ...« »Lies es!« befahl Alan. 80
Sarah blickte zögernd auf das Spielbrett: »Schneller als Bambus wachsen sie hier«, las sie. »Sei vorsichtig, oder sie folgen dir.« Ein Stück Stuck fiel von oben herunter und knallte auf das Spielbrett. Alan, Sarah, Judy und Peter blickten auf. Eine grüne Ranke schob sich durch einen Spalt in der Decke. Sie wand sich in Spiralen nach unten und löste noch mehr Stuck. »Nein!« schrie Sarah. »Nein! Laßt das nicht zu!« Kraaaacks! Eine weitere Ranke platzte durch ein Bild an der Wand. Zzzzzzt! Funken sprühten, als sich die nächste aus einer Steckdose ringelte. Aus Brettern, Sofakissen, dem Kamin kamen die Ranken und wanden sich um die Möbel, trieben augenblicklich Blätter und Knospen. »Haltet euch von den Wänden fern!« warnte Alan. Judy sah voller Scheu zu, wie eine Knospe sich zu einer üppigen purpurnen Blüte entfaltete. »Mann, die sind wunderschön!« Als sie eine Hand ausstreckte, um eine zu berühren, schrie Alan: »Tu's nicht! Sie verschießen giftige Stacheln!« »Heeee!« Peter schrie plötzlich auf. Eine Ranke hatte sich um seinen Knöchel gewunden. Sie zog ihn zu Boden, zerrte ihn unter den Teppich. »Peter!« kreischte Judy. Die Ranke war schnell. Peter schoß quer durch den Raum, ein sich bewegender, kreischender Klumpen. »Faßt ihn!« bellte Alan. Er, Sarah und Judy nahmen die Verfolgung auf. Die Ranke zog Peter unter dem anderen Ende des Teppichs 81
wieder hervor. Er wand sich, schüttelte sein Bein, suchte nach Halt. Aber die Ranke hielt ihn fest wie ein Schraubstock. Sie zerrte ihn zu einem antiken Mahagonischrank mit Glastüren. Die Türen brachen klirrend auf. Durch die gezackte Öffnung wuchs eine monströse grüne Hülse nach außen. Sie sprang auf Peter zu und öffnete sich dabei, lange, glitzernde Zähne entblößend!
KAPITEL 15 »Ne-e-e-i-i-i-n!« Peters Schrei hallte durch den gewölbten Raum. Er schlug verzweifelt um sich. Die Kiefer der Hülse öffneten sich weiter. Speichel blubberte darin, tropfte auf den Boden. Alan sprang durch das Zimmer. Er ergriff Peters freien Knöchel. Judy und Sarah packten Peters Arme. Sie stemmten sich alle drei auf den Boden und zogen. Die Ranke streckte sich wie ein dickes Gummiband. Aber sie hielt fest. Judy spürte, daß sie zu rutschen begann. Alans Armmuskeln, sehnig und stark durch die Jahre des Dschungellebens, waren machtlos gegen die Ranken. Sie würden alle ein Fressen für die Pflanze werden. Alan schaute sich wild im Zimmer um. Dann ließ er ohne Vorwarnung los. Judy, Sarah und Peter sausten nach vorn. Alan jagte zum Kamin. Er langte über den Kamin82
sims nach dem Glaskasten, in dem sich der alte Säbel befand. Er warf den Behälter auf den Boden und ergriff dann die Waffe. Die Hülse geiferte kübelweise, während Peters Beine langsam näherrückten. »Hiiiiiijjjaaaah!« Alan rannte zurück und heulte aus vollem Halse. Er schwang den Säbel hoch über seinem Kopf. Swooooosch! Er schlug heftig zu. Mit einem lauten Schnappen zerriß die Ranke. Peter, Judy und Sarah flogen nach hinten, schleuderten durch das Wohnzimmer. Die andere Hälfte der Ranke peitschte zurück zu der Hülse. Eine Wolke fedriger Samenkörner zerplatzte in der Luft. Alan schaute zu, wie sie vorbeitrieben. »Oh, oh«, sagte er. »Was immer ihr tut, öffnet keinesfalls ein Fenster. Ihr glaubt gar nicht, wie schnell diese Dinger wachsen.« Nach halbem Weg durch Brantford trottete Officer Bentley erschöpft über eine ruhige Wohnstraße. Er nutzte seine Polizei-Instinkte, um seinen Streifenwagen aufzuspüren. Es war nicht schwer. Er brauchte nur der Spur der angefahrenen geparkten Wagen zu folgen. Er bog um eine Ecke und verzog das Gesicht. »Allmächtiger Gott!« Sein Streifenwagen war mitten auf der Straße zum Halt gekommen. Sein Kühlergrill war um einen alten Ahornbaum gewickelt. Dach und Fenster waren von 83
Löchern durchsiebt. Und die Türen und Stoßstangen zeigten all die Beulen, die Folge des Karambolagetanzes auf der Strecke waren. Als er näherkam, konnte er sein Funkgerät rauschen hören. Bentley öffnete die Vordertür und stieg ein. »Carl hier«, sagte er und ergriff das Mikrofon. »Wo, in Himmels Namen, hast du gesteckt?« bellte die Stimme des Dienstleiters, Lorraine Gordon. »Wir haben hier ein ernstes Problem mit Tieren zu lösen.« »Setz Stan oder Willy darauf an«, erwiderte Bentley. »Ich fahre rüber zu dem alten Parrish-Haus, um einem verdächtigen Kerl auf den Zahn zu fühlen.« Er knallte das Mikrofon zurück in seine Halterung. Direkt links daneben baumelten seine Schlüssel aus dem Schloß. Er sprach ein kurzes Gebet und drehte sie. Der Motor sprang sofort an. Officer Bentley lächelte erleichtert. Er legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Mit einem lauten »Rrriippp« löste sich der Bug vom Baum. In der hinteren Halle des Parrish-Hauses fädelte Alan das Ende einer Ranke durch die Griffe der Glastüren. Er machte einen festen Knoten darin und wich dann zurück. Als die Ranke sich zu befreien versuchte, zog der Knoten sich nur noch fester zu. Alan grinste. »Versuch's in ein paar Millionen Jahren zu lösen. Vielleicht kommst du ja drauf.« Hinter ihm ging Sarah auf Zehenspitzen zur Vorderseite des Hauses. 84
Alan drehte sich um und lief ihr nach. Er faßte ihren Arm von hinten. »Nimm deine Hände weg!« schrie Sarah. »Das Spiel ist noch nicht vorbei, Sarah«, erklärte Alan. »Für mich schon. Laß mich los!« Alan zerrte Sarah ins Wohnzimmer, nahm das Jumanji-Brett aus den Glasscherben und zog sie dann in die Bibliothek. Judy und Peter rannten hinter ihnen her. »Wir werden das Spiel genau hier beenden«, befahl Alan. »Das ist so beleidigend«, erwiderte Sarah. Judy nahm die Würfel und reichte sie Alan. »Du bist dran.« »Als ich dieses Spiel das letzte Mal gespielt habe, hat es mein Leben ruiniert«, murrte Sarah. Alan spuckte seine Antwort förmlich aus. »Es hat dein Leben ruiniert? ›Warte im Dschungel. Habe acht! Bis die Würfel fallen auf Fünf oder Acht‹ – erinnerst du dich? Aber sie haben seit sechsundzwanzig Jahren weder die Fünf noch die Acht gezeigt, weil jemand aufgehört hat zu spielen!« »Ich... ich w-war noch ein Kind«, erwiderte Sarah, die zurückwich. »Ich konnte damit nicht fertig werden.« Judy trat zwischen sie. »Ist schon okay, Sarah. Wir haben auch Angst. Aber wenn wir das Spiel beenden, wird alles verschwinden.« »Woher weißt du, daß es nicht wieder passiert?« entgegnete Sarah. »Wie soll ich wissen, ob ich nicht im Dschungel hängenbleibe?« »Weil«, fiel Alan ein, »ich, Sarah, anders als manche Menschen, meine Freunde nicht im Stich lasse.« 85
Sarahs Gesicht zerfiel bei diesem indirekten Vorwurf. »Ich auch nicht«, sagte Judy entschlossen. Wortlos schob Peter seine Faust vor. Judy legte ihre obendrauf. Alan setzte seine darüber. Alle für einen und einer für alle. Wie die drei Musketiere. Sie alle sahen Sarah an. »Nun?« fragte Alan. Sarah schluckte. Ihr Blick wurde abwesend und verzweifelt. Schließlich legte sie mit einem Seufzer ihre Faust auf die von Alan. Unter dem strengen Blick von General Parrishs Büste hielten sie ihre Arme so für einen grimmigen Moment von Solidarität. Judy hatte sich noch nie in ihrem Leben so nervös gefühlt. Als sie ihre Hände gelöst hatten, griff Alan nach den Würfeln und warf. »Ich wußte, daß dies ein böser Tag werden würde«, murmelte Sarah. »Ach, reg dich ab. Wir brauchen nur zu würfeln, klaren Kopf zu behalten, und alles wird gut werden.« Mit einem zuversichtlichen Lächeln las Alan die Botschaft in dem Kreis in der Mitte: »Ein Jäger kommt, wild wie Wind. Du fühlst dich ... hilflos wie ein ...« Alan schluckte. Sein Lächeln verflog. »Kind«, las Judy weiter. »Kind?« Alan hatte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier halb geduckt. Seine Stirn war schweißbedeckt, während er den Raum musterte. Mit gedämpfter und furchtsamer Stimme krächzte er: »Van Pelt...« Wie? Judy warf Peter und Sarah einen Blick zu. Ka-Bummmmm! 86
Ein Schauer von Glas regnete aus dem Wintergarten in die Bibliothek. Eine Kugel zischte durch eine Wolke hochgewirbelter Hülsensamen. Alan warf sich auf den Teppich. Nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt wurde die Wand der Bibliothek kräftig getroffen. »Runter!« brüllte Alan. Die anderen warfen sich zu Boden. Durch die Öffnung trat ein stämmiger, breitschulteriger Jäger. Van Pelt war mit schwerem, olivbraunem Khakizeug bekleidet und trug einen Tropenhelm. Sein schmaler, grimmiger Mund war von einem buschigen Schnurrbart und einem Kinn wie Granit umrahmt. Van Pelt fixierte Alan mit einem kalten, mörderischen Blick, hob sein Gewehr, zielte und schoß!
KAPITEL 16 Alan wich dem Geschoß aus. Es schlug in eine Holzform. Schreiend rannte Alan zur Tür. »Das ist kein Wettlauf, Bursche, verdammt!« brüllte Van Pelt. »Stell dich und laß mich dich offen und anständig erschießen!« Judy, Sarah und Peter kauerten in einer Ecke. Van Pelt stapfte in das Zimmer. Seine schweren Schaftstiefel knallten wie Schüsse auf dem Boden. Er richtete seinen Blick auf die drei. Judy spürte, wie sie erstarrte. Ihre Beine zitterten. Aber er wandte sich ab, ohne daß sich seine Miene 87
auch nur im geringsten veränderte, und pirschte Alan nach. Alans Schritte hallten im Korridor, stoppten dann. Unmittelbar vor der Bibliothekstür hob Van Pelt sein Gewehr. Zzzzzinng! Der Säbel schoß durch die Luft auf Van Pelt zu. Mit einem lauten, reißenden Geräusch durchschnitt er seinen Jackenärmel und drang in die Wand. Sein Gewehr wurde nach oben gerissen. Bllammmm! Der Schuß riß ein Loch in die Decke. Van Pelt schaute prüfend auf seinen Arm. Nicht einmal ein Kratzer. Ein böses, triumphierendes Grinsen verzerrte das Gesicht des Jägers. »Du bist eine Schande für die ganze Art, Junge!« Er riß den Säbel heraus und trampelte schweren Schrittes den Korridor entlang. Alan stürmte aus der Haustür. Er rannte über den Rasen und auf die Straße. Etwa einen halben Block entfernt kam Officer Bentleys Streifenwagen quietschend zum Stehen. Bentley sprang heraus. »He, du!« Aber Alan rannte weiter. Und Van Pelt zielte. Blllaaammm! Der Ast eines Baumes brach und fiel Zentimeter von Alan entfernt herunter. Bentley duckte sich hinter der offenen verbeulten Tür des Streifenwagens. Er zog schnell seine Pistole und richtete sie auf Van Pelt. »Lassen Sie die Waffe fallen und heben Sie die Hände hoch!« befahl er. Van Pelt drehte sich ruhig um. Blllaaammmm! Er zerschoß die Windschutzscheibe des Streifenwagens. Bllammmmm! Bllaaammmm! Die Scheinwerfer. 88
Blaammmm! Eine Straßenlaterne zerbarst direkt über Bentley und ließ einen Schauer von Glas auf seinen Kopf regnen. Jetzt hatte Van Pelt Alan entdeckt. Auf den weiten, sauber gemähten Rasenflächen der Umgebung gab es keinen Platz, an dem er sich verstecken konnte. Ein sicherer, einfacher Schuß. Van Pelt grinste. Klick. Keine Munition mehr. Van Pelt fluchte. Enttäuscht vor sich hinknurrend, stapfte er hinter Alan her. Bentley steckte vorsichtig seinen Kopf über die Tür des Streifenwagens und schaute sich den Schaden an. »Oh, Mann ...«, murmelte er. Er griff in den Wagen und schaltete sein Funkgerät ein. »Lorraine, Lorraine!« rief er. »Komm schon ran, Lorraine!« »Ja, Carl«, antwortete die Stimme des Einsatzleiters. »Ich verfolge einen bewaffneten und gefährlichen männlichen Europäer, schätzungsweise hundertsechzig Pfund schwer, einssechzig groß, trägt einen ZehnGallonen-Tropenhelm und einen Bart von achtzehnhundertneunzig.« »Äh, könntest du mir das noch mal erzählen?« »Nein, ich muß los. Ich melde mich später wieder.« Er setzte sich auf den Fahrersitz und streifte das geborstene Glas beiseite. Die verbeulte Tür quietschte, als er sie zuschlug. Er legte einen Gang ein und fuhr vom Bordstein weg. Judy, Peter und Sarah spähten aus dem kleinen Fenster neben der Eingangstür aus dem Haus. »So«, erklärte Sarah atemlos, »selbst wenn Alan aus 89
dieser Situation rauskommt, wird ihm das gleiche immer wieder passieren. Wenn man soviel unterdrückte Wut mit sich rumschleppt, zieht das eine Menge negativer Energie an. Er ist nicht zufällig im Dschungel gelandet. Es gibt einfach keine Zufälle –« »Wer ist jetzt dran?« fragte Alan hinter ihnen. Sie alle wirbelten herum. Alan kletterte durch das Eßzimmerfenster herein. Er schenkte Sarah ein breites Lächeln. »Nun, wo ist das Spiel?« »Wo wir's gelassen haben«, antwortete Judy. »Ich bin als nächste dran.« Alan rannte in die Bibliothek. Während die anderen ihm folgten, quiekte Sarah: »Du hättest uns davor warnen können, daß jemand mit einem Gewehr darin war, der versucht, uns zu töten!« »Ist er der Grund, warum du nicht spielen wolltest?« fragte Judy. Ein verstehendes Grinsen breitete sich über Sarahs Gesicht. »Oh, er wollte auch nicht spielen? Sieh an, sieh an, Mister Wir-haben-was-angefangen-und-jetzt-müssen-wir's-beenden. Was ist denn mit dir und diesem Burschen? Ein kleines persönliches Problem?« Alan nahm seinen Platz am Spielbrett ein. »Er ist ein Jäger«, erklärte er scharf. »Er jagt. Das macht er. Im Augenblick jagt er mich.« »Warum?« fragte Sarah. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Alan. »Er scheint alles an mir so herausfordernd zu finden, daß man meinen könnte, er will keine Zeit vergeuden.« Sarah nickte. »Hast du je versucht, dich mit ihm zusammenzusetzen und eure Differenzen zu bereinigen?« 90
»Bist du verrückt? Man kann nicht mit ihm reden. Er ist absolut unzugänglich!« »Wage es ja nicht mich verrückt zu nennen!« tobte Sarah. »Jeder hält mich für verrückt, seit ich den Bullen vor sechsundzwanzig Jahren erzählt habe, daß du in einem Spielbrett verschwunden bist!« Alan verdrehte die Augen. »Ich hab' dich nicht verrückt genannt. Es war nur so eine Redensart –« »Vielleicht sollte ich würfeln«, unterbrach Judy. Sie hielt die Würfel zwischen Alan und Sarah und schüttelte sie heftig. »Joho, jetzt lasse ich sie rollen!« »Weißt du, wie es ist, das kleine, kleine Mädchen zu sein, das gesehen hat, wie Alan Parrish ermordet wurde?« ereiferte Sarah sich weiter. »Glaubst du, jemand wäre gekommen, als ich meinen vierzehnten Geburtstag feierte?« »Nicht einmal Billy Jessup?« höhnte Alan. »Klingt ganz nach seiner Art von Party.« Sarah verschränkte stur ihre Arme. »Billy wer? Ich habe keine Ahnung, von wem du redest.« »Nun hör aber auf, Madame Serena«, spottete Alan. »Ich bin ganz sicher, daß du, wenn du in den niederen Ebenen deines höheren Bewußtseins herumgräbst, auf die Erinnerung an deinen Freund Billy stoßen wirst. Du warst die perfekte Partnerin. Sein Ärger war nicht unterdrückt ...« »Mach zu«, drängte Peter seine Schwester. »Wirf!« Judy warf die Würfel auf das Brett. Ihre Spielfigur bewegte sich auf dem Pfad, und eine neue Botschaft erschien: Es ist kein Donner, der da dröhnt. Schnell fort, bevor vor Schmerz ihr stöhnt. 91
Sarah, die das nicht wahrnahm, sagte: »Du redest von diesem Jungen, der dir dein Fahrrad wegzunehmen pflegte?« »Ich rede von dem Jungen, mit dem du im Kino warst, statt das Spiel zu beenden, das wir angefangen hatten«, antwortete Alan. Peter bemerkte, daß eine Gipsbüste von Beethoven in einem Bücherregal zu wackeln begann. Sarah schaute Alan mit schmalen Augen an. »Du bist so unreif!« »Ich bin unreif? Zumindest habe ich...« Alan hielt abrupt inne. Er spitzte seine Ohren. »Seid still! Hört doch!« In der Ferne wurde ein leises rumpelndes Geräusch zunehmend lauter. Alan trat an das Bücherregal und legte seine Hand dagegen. Die Büste wackelte jetzt heftig. Alans Augen wurden so groß wie Straußeneier. »Stampeeeede!« brüllte er. Er sprang auf und stieß Peter, Sarah und Judy durch das Zimmer. Wahrend sie zur Eingangshalle wankten, explodierte die Wand der Bibliothek.
KAPITEL 17 Bücher flogen in einer Wolke von Putz durch die Luft. Holzregale zersplitterten. Durch die herumwirbelnden Trümmer stürmte ein ... ein Gewitter von Rhinozerossen. Das war das richtige Wort. Ein »Gewitter« von Rhinozerossen. Judy erinnerte sich, das in der Schule gehört zu haben. 92
Komisch, wie man auf solche Dinge kam, wenn man sterben mußte. Im eigenen Haus zertrampelt zu werden. Judy spürte nicht, daß ihre Füße den Boden berührten. Sie rannte mit Peter und Sarah in das vordere Foyer, wurde von hinten von Alan gestoßen. Die Rhinos dröhnten heran. Donnernd. Zerstörten alles, was ihnen im Wege war. Möbel wurden aus den Seitenfenstern hinausgeschleudert. Wände zerbarsten. Judy wußte, daß sie schrie, aber sie konnte ihr Schreien nicht hören. Die Stampede verschluckte jedes Geräusch. Die Türen der Bibliothek wurden aus den Angeln gerissen. Jetzt stürmten die Rhinos durch das vordere Foyer. Judy, Peter, Alan und Sarah stürzten sich kopfüber in den Salon. An die Wand gepreßt, spürten sie das Rauschen von Luft, die Hitze der Haut der Tiere, ihr stinkendes Schnauben. Die Westwand des Hauses zerriß wie ein Stück Papier. In einem ohrenbetäubenden Trommeln von Hufen trampelten die Rhinos über den Rasen. Hinter den Rhinos kamen Elefanten. Hinter den Elefanten waren Zebras. Als das letzte Tier hinausgestürmt war, senkte sich Staub wie ein ersterbender Schneesturm in dem Salon. Judy starrte auf dieses Bild der Verwüstung, wollte sich nicht bewegen, wollte keinen plötzlichen Angriff riskieren von ... was? War da noch etwas? Hyänen? Wasserbüffel? Wer mochte das sagen in der Welt von Jumanji? 93
Den Staub von Putz hustend, richteten sich die Spieler langsam auf. Der Salon war ein Schutthaufen, die Wände klaffende Löcher. Der Boden war unter dem Gewicht der Stampede eingebrochen und geborsten. Aber Alan hatte das Spielbrett gerettet. Es lag jetzt zu ihren Füßen, und die Spielfiguren standen noch immer dort, wo sie zuvor gestanden hatten. Was machen wir da? dachte Judy. Sie vier brachten diese Welt zum Sein. Aber konnten sie sie überhaupt kontrollieren, oder beherrschte diese Welt sie? Würde das Spiel sie zerstören, bevor sie es beenden konnten? Ein flappendes Geräusch unterbrach Judys Gedanken. Ein Schwärm von Pelikanen flog in das Zimmer. Ihre Schwingen waren riesig und tauchten Teile des Raumes in Schatten. Sie rauschten vorbei, strebten direkt auf die geborstene Wand zu. »He!« schrie Alan plötzlich. Der letzte Pelikan stürzte sich auf das Jumanji-Spiel hinab. Der Vogel schloß seinen Schnabel um das Brett und hob es in die Luft. Alan sprang hinter dem Pelikan her. »Laßt ihn nicht entkommen!« Mit einem mächtigen Flügelschlag flog der Pelikan ins Foyer. Die vier Spieler nahmen die Jagd auf. Über ihren Köpfen kreiste der Pelikan wild. Er schwenkte zum vorderen Korridor ab. »Judy! Halt ihn auf!« sagte Alan. Ihre Arme schwenkend, rannte Judy los, um ihm den Weg zu versperren. Als er über sie hinwegflog, sprang sie hoch. Ihre Finger streiften den Boden des Brettes. Der Pelikan wich aus. Seine Augen waren auf die 94
zerschmetterte Wand des Eßzimmers gerichtet. Seine Flügel schwingend, glitt er in diese Richtung. Alan deutete dorthin. »Sarah! Peter! Laßt ihn nicht raus!« Sarah und Peter rannten zu der Wand. Sie standen vor dem klaffenden Loch, das die Rhinos gerissen hatten. Der Pelikan schwebte auf Peters Kopf zu, gewann an Geschwindigkeit, kam im Sturzflug heran ... Peter duckte sich. Der Pelikan entkam nach draußen, schwang sich hinter den Bäumen hoch, das Spielbrett fest in seinem Schnabel. Alan hastete ärgerlich murmelnd an Peter vorbei. »Es tut mir leid«, jammerte Peter. »Er hat mir angst gemacht.« Aber Alan war bereits draußen, rannte über den Rasen und schaute himmelwärts. Peter war völlig zerstört. »Scheusal«, murmelte Sarah und warf Alan einen finsteren Blick nach. Sie lächelte Peter mitfühlend an. »Gräm dich nicht. Er ist wohl der letzte Mensch, den du dir als Vorbild wünschen wirst.« Judy rannte an ihnen vorbei und rief Alan zu: »Wohin willst du?« »Er wird zum Wasser fliegen!« rief Alan zurück. Bevor die anderen reagieren konnten, läutete das Telefon. Judy hastete zurück ins Haus. Das Klingeln war gedämpft, kam aus dem Verborgenen. Sie suchte im Zimmer und zog schließlich ein verstaubtes Telefon aus einem Haufen von Trümmern. Sie nahm schnell den Hörer ab. »Hallo? – Oh, hi, 95
Tante Nora, ich kann im Augenblick wirklich nicht sprechen. Naja, gerade ist eine Stampede wilder Tiere durchs Haus gerast, ein Dutzend Affen haben die Küche zertrümmert, und in deinem Schlafzimmer ist ein wirklich großer Löwe gefangen – Ja, richtig – Nein, ich verstehe – Okay. Wiedersehen.« Peter und Sarah schauten sie ungeduldig an. »Ich hab' noch 'ne Woche Hausarrest bekommen«, verkündete sie, während sie den anderen voran durch die Wand und über den Rasen ging. Im Pfandhaus von Brantford an der Main Street saßen Ralph Smigel und Lenny Creech hinter dem Tresen und dösten. Ralph riß die Augen weit auf, als ein Mann vor das Schaufenster trat. Ein potentieller Kunde. Etwas, das er und Larry in diesen Tagen nicht sehr oft sahen. Und was für ein Typ. Wie ein von den Toten auferstandener Teddy Roosevelt. Einschließlich Jagdgewehr. Bereit, Großwild auf dem Stadtplatz zu jagen. Ralph kicherte. Es erwischte halt jeden. Der Bursche musterte die Feuerwaffen in der Schaufensterauslage. Dann betrat er den Laden. Ralph versetzte Lenny einen Stoß. Der wachte mit einem Schnarcher auf. »Morgen«, sagte Ralph zu dem Kerl. Van Pelt antwortete nicht. Er knickte sein Gewehr auf dem Tresen so, daß dabei eine verbrauchte Patrone in die Luft flog. Ralph fing sie auf. Van Pelts Khakiaufzug musternd, fragte er: »Bei der Post arbeiten Sie aber nicht, oder?« »Ich bin Jäger«, erwiderte Van Pelt. 96
Ralph warf seinem Partner die Patrone zu. »Lenny, führen wir die?« Lenny hielt die glänzende Metallhülse hoch und lächelte. »Kynock Nitroball... naja, unglücklicherweise hat die Firma 1903 Pleite gemacht.« »Wenn Sie richtige Munition wollen, brauchen Sie auch eine richtige Waffe«, sagte Ralph ganz sachlich zu Van Pelt. »Was jagen Sie?« »Tiere«, sagte Van Pelt. Ralph langte unter den Tresen und holte einen Stoß Papier hervor. »Okay, ich brauche ein paar Informationen – Führerschein, Sozialversicherungsnummer, die letzten drei Adressen. Vorbestraft sind Sie doch nicht, oder?« Van Pelt griff wortlos in seine Tasche und warf eine Handvoll Goldmünzen auf die Theke. Ralph mußte blinzeln, um zu glauben, was er sah. Visionen von einem neuen Auto und einem Urlaub in der Karibik tanzten in seinem Kopf. »Äh, das scheint alles in Ordnung zu sein.« Ralph schob die Formulare wieder unter die Theke. »So, Sie scheinen einen Blick für Qualität zu haben.« Er murmelte Lenny zu: »Achte auf die Tür.« Lenny marschierte zur Vordertür, verschloß sie und hielt Wache. Aus einem versteckten Bereich unter dem Tresen holte Ralph ein automatisches Scharfschützengewehr mit Zielfernrohr und Schalldämpfer hervor. Illegal? O ja. Das wußte Ralph. Aber er dachte sich, okay. Sicher könnte das ungezählte Tote und Vernichtung bedeuten. Sicher würde er in den Knast wandern, wenn er beim Verkauf erwischt würde. Aber, he, das Gold lag auf der Theke. Und das war alles, was Ralph etwas bedeutete. 97
Er grinste Van Pelt an. »Erste Klasse. Es gefällt Ihnen, was?« Van Pelt schaute durch das Zielfernrohr. Er schwenkte das Gewehr herum, visierte im Laden... das Fenster... die Straße draußen ... den vertrauten verbeulten Polizeistreifenwagen, der gerade am Bordstein gehalten hatte... den Polizisten darin, der in sein Funkgerät sprach. Van Pelt erinnerte sich an dieses Ungeziefer, jawohl. Mit einem bösen Lächeln stampfte er aus der Tür. »Falls jemand Sie fragt«, rief Ralph, »Sie haben das nicht hier bekommen!« Aber Van Pelt hörte nicht hin. In Gedanken war er bereits bei Alan Parrish.
KAPITEL 18 »Au!« Ein Zweig peitschte in Judys Gesicht. Sie stieß ihn beiseite und rannte weiter, bahnte sich den Weg durch den Wald von Brantford. Peter stolperte über eine Wurzel und fiel zu Boden. Er stieß dabei gegen Sarahs Knie, so daß sie gegen eine Kiefer prallte. »Entschuldigung«, sagte er. Vor ihnen eilte Alan weiter, als ginge er auf einem Teppich. Es war nicht leicht, mit einem Dschungelmann Schritt zu halten. Am Ende des Waldes, da wo er an den Fluß stieß, blieb Alan schließlich stehen. Judy, Peter und Sarah hinkten und wankten auf ihn zu. 98
»Psssst!« Er drehte sich um und winkte ihnen drängend auf eine Art zu, die »Versteckt euch!« bedeutete. Während sie sich ins Unterholz duckten, sank Alan auf seine Knie. Unmittelbar vor ihm, auf einem flachen Felsen, der in den Fluß ragte, stand friedlich der Pelikan. Er hatte sich von allem abgewandt und sonnte sich. Zu seinen Füßen lag das Jumanji-Spielbrett. Alan kroch lautlos durch das Schilf am Ufer. Er tauchte an dem Felsen, duckte sich tief und näherte sich dem Jumanji-Brett auf Zehenspitzen. Der Pelikan drehte seinen Kopf zu Alan. »Ganz ruhig, Junge«, sagte Alan, während er nach dem Spiel griff. »Du hast etwas, was mir gehört.« Schnnnapp! Der Pelikan sprang vorwärts und stach mit seinem Schnabel nach Alans Hand. »Aua!« Alan fiel rücklings auf den Fels und massierte seine getroffene Hand. »Okay, versuchen wir's mit Bestechung.« Alan beugte sich über den Fluß. Er starrte absolut reglos für einen langen Augenblick in die Strömung. Dann griff er mit einem flinken Stoß ins Wasser und zog einen lebenden, wild schlagenden Fisch heraus. Judy keuchte vor Erstaunen. Der Pelikan hob den Kopf. Er watschelte näher zu Alan und öffnete hungrig seinen Schnabel. »Oh, das magst du, nicht wahr?« Alan hielt den Fisch hoch, lockte den Pelikan näher ans Ufer. Und dann, bevor der Vogel den Fisch verschlingen konnte, warf Alan ihn über den Felsen. Der Pelikan sprang ihm flügelschlagend hinterher. 99
Seine Füße spreizten sich für einen Sekundenbruchteil, streiften das Jumanji-Spielbrett. Alan sprang danach. Das Spielbrett wankte einen Augenblick. Dann fiel es hinein. Judy wurde fast ohnmächtig. Sarah zischelte vor Entsetzen. Peter sprang auf und rannte los. Die Strömung trieb das Spiel flußabwärts. Er folgte dem Fluß, sprang über Felsen. Um eine Biegung laufend, überholte er das Spiel. Einige Meter voraus entdeckte er einen Baum, der über den Fluß gefallen war. Er ragte weit über das Wasser, hatte kaum mehr Halt im Boden. Peter sprang darauf. Er knarrte und senkte sich tiefer aufs Wasser. Er warf einen Blick stromaufwärts. Das Jumanji-Brett trieb auf ihn zu, hüpfte auf den Schaumkronen. Jetzt kam's drauf an. Wenn Peter es jetzt nicht erwischte, war das Spiel Geschichte. Er balancierte über den Stamm. Der bog sich bei jedem Schritt, warf ihn aus dem Gleichgewicht. Er kroch tief gebückt, mit ausgestreckten Armen weiter. Der Stamm wurde schmaler, das Holz nasser. Peter rutschte ab. Er streckte seine Arme, um Stabilität zu bekommen. Das Spiel hob und senkte sich, kam schnell näher. Peter richtete sich auf, griff dann nach unten. Zu weit. Der Stamm lag etwa einen Meter über dem Wasser. Er würde es verfehlen. Sportunterricht. Barren. Der Gedanke kam ihm in den Sinn. Er stellte ihn keinen Augenblick in Frage. 100
Er setzte sich hin, winkelte seine Knie um den Stamm. Dann ließ er seinen Oberkörper nach hinten fallen, der reißenden Strömung entgegen. »Nein, Peter!« hörte er Sarah und Judy vom Ufer schreien. Das Spielbrett kam näher. Nur Zentimeter entfernt. Peter streckte seine Fingerspitzen. Zu weit! Verzweifelt schwang Peter seinen Körper. Mit einem Stöhnen senkte sich der Stamm nach unten. Das Jumanji-Brett hüpfte direkt unter ihm. Peters Finger berührten eine Ecke des Spielbrettes. Hab' es! Er umfaßte das Brett fest und schwang sich nach oben. Er drückte es an seine Brust, stieg auf den Stamm und ging darüber zurück zum Ufer. Judy und Sarah keuchten. Alan kam hinter ihnen herbeigelaufen und blieb abrupt stehen. »Das war cool, Peter«, bemerkte Judy. »Sehr beeindruckend«, stimmte Sarah zu. Peter strahlte vor Stolz. Alan räusperte sich stirnrunzelnd. »Nette Arbeit«, murmelte er mürrisch. »Aber los jetzt, wir müssen uns beeilen.« Als er sich umdrehte und fortlief, salutierte Sarah sarkastisch. Die vier liefen zurück durch den Wald, dann auf die Straße, die zur Stadt führte. Sie überquerten eine gußeiserne Brücke, als Officer Bentleys Streifenwagen aus einer Seitenstraße auf sie zugerast kam. Er kam schlingernd zum Halt, schnitt ihnen den Weg ab. Bentley sprang aus dem Wagen und faßte Alan beim 101
Arm. »Du solltest wissen, daß die Verfolgung einer wildgewordenen Herde von Tieren direkt zu dir führt«, fauchte er. »Leg los! Wo ist dieser schießwütige Bursche, der dich gejagt hat?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte Alan. »Schön«, schnappte Bentley. »Dann nehme ich dich zwecks Vernehmung mit, Schlaumeier!« »Ich gehe nirgendwohin!« sagte Alan. Bentley löste die Handschellen von seinem Gürtel und schloß sie um Alans Handgelenke. »Augenblick mal!« protestierte Sarah. »Bitte! Äh – bring ihn nicht weg. Er ist –« »Ihr Verlobter!« fiel Judy ein. Sarah schluckte. »Ich dachte, er sei dein Onkel«, sagte Bentley. »Das ist er!« erwiderte Judy kurz. »Aber er ist der Halbbruder der Mutter meiner Schwester aus der ersten Ehe ihres Vaters.« »Bitte, nehmen Sie unseren Halbonkel nicht mit«, bettelte Peter. »Er ist das einzige Familienmitglied, das wir noch haben.« Pfott. Niemand außer Alan hörte das schallgedämpfte Gewehr. Sein Blick schoß zu dem Streifenwagen, als die Kugel lautlos über ihn hinwegglitt. Van Pelt. Er war irgendwo unter der Brücke. In den Büschen versteckt. »Schon gut«, sagte Alan zu Peter. »Ich werde bald zurück sein.« Van Pelt war ein großartiger Schütze. Ein Scharfschütze. Alan mußte etwas unternehmen. Ein sich bewegendes Ziel sein. Ihn daran hindern, auf ein deutliches Ziel zu schießen. 102
Alan sprang nach rechts und nach links. Er duckte sich und hüpfte, drehte sich, zerrte Officer Bentley dabei zum Streifenwagen. »Laß uns fahren, Carl!« drängte er. Bentley schaute Alan an, als habe der den Verstand verloren. Sarah schüttelte wütend den Kopf. »Du warst derjenige, der gesagt hat, er würde seine Freunde ›niemals‹ im Stich lassen, Alan!« Pfutt. Aus den Augenwinkeln sah Alan eine Kugel direkt in den Schmutz hinter dem Streifenwagen einschlagen. Er sprang auf den vorderen Sitz. »Und jetzt haust du einfach ab und läßt uns die Suppe auslöffeln!« fuhr Sarah fort. »Ich werde in die Suppe fallen, wenn ihr mich nicht von hier weg laßt!« rief Alan. »Carl! Komm schon!« Bentley rutschte auf den Fahrersitz. Während er die Tür zuschlug, sagte er zu den anderen: »Ich schlage vor, ihr geht alle nach Hause. Irgendwas stimmt nicht in Brantford.« Er ließ den Motor an und fuhr los. Keiner von ihnen sah Van Pelt, der dreißig Meter entfernt durch das Unterholz pirschte, verhalten fluchte und schwor, Alan Parrish zu töten. »Er ist völlig durchgedreht«, sagte Judy zu Sarah. »Aber wie sollen wir das Spiel beenden?« »Überhaupt nicht«, erwiderte Sarah. »Ohne ihn werde ich nicht spielen.« »Judy!« Peters gequälter Schrei ließ Judy zusammenzucken. Sie drehte sich um. Peter kniete über dem Jumanji-Spielbrett und starrte auf den schwarzen Kreis. 103
»Was ist passiert?« fragte Sarah. »Ich dachte, ich könnte das Spiel alleine beenden«, sagte Peter. »Ich war nur noch zehn Felder vom Ziel entfernt.« Sie alle lasen die Botschaft im Kreis: Ein Gesetz von Jumanji wurde gebrochen. Spüre die Strafe bis auf die Knochen. »Du hast versucht zu mogeln?« fragte Sarah. »Ich habe versucht, die Würfel so zu werfen, daß eine Zehn dabei rauskommt!« erklärte Peter. Judy bemerkte, daß Peters Spielfigur auf das erste Feld zurückgerückt war. Aber das war nicht das Schlimmste. »Deine Hände, Peter!« schrie sie voller Entsetzen. »Sieh dir deine Hände an!« Peter hob sie langsam hoch. Aus ihnen sproß ein dicker, dunkler Pelz.
KAPITEL 19 »... männlich, Ende fünfzig, kratzt sich und zeigt Symptome von Gelbsucht ... Besitzer berichtet, daß die Verbrecher Affen sind ... dreizehn Kunden im Supermarkt mit Fieber und kratzen sich ... Pavian in Dumpster hinter dem Imbiß gesehen ...« Die Stimme knisterte im Funkgerät des Streifenwagens. Officer Bentley hörte aufmerksam zu. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er. »Ich weiß, daß du es weißt.« 104
Alan beugte sich auf dem Rücksitz vor und legte seine mit Handschellen gefesselten Hände in den Schoß. »Ich kann's dir nicht erklären, Carl. Und selbst wenn ich's könnte, würdest du mir nicht glauben.« »Moment mal! Moment mal! Woher weißt du, daß mein Name Carl ist?« »Ich weiß mehr als das. Du hast am Stanzband bei Parrish Shoes gearbeitet. Man nannte dich den Sohlenmann.« »Ja ... das stimmt«, sagte Bentley vorsichtig. »Bis der alte Parrish mich feuerte.« »Dich feuerte?« Bentley atmete schwer aus. »Und ich hatte etwas, das diese Stadt berühmt gemacht hätte.« Er schwieg und starrte mürrisch geradeaus. Alan musterte sein Gesicht neugierig im Rückspiegel. »Ich weiß nicht, was man da an den Füßen trägt, wo du gewesen bist«, fuhr Bentley fort. »Aber sieh dich hier mal um – luftgepolsterte, lederbesetzte, knöchelhohe, waffelmusterbesohlte Turnschuhe! Und ich hab' das damals, neunzehnhundertneunundsechzig, alles kommen sehen. Ich hatte einen Schuh gemacht, der alles, was man heute auf der Straße trägt, in den Schatten stellte.« Alan überlegte. Irgendwie erinnerte er sich an den Tag, an dem er sich vor Billy Jessup in der Schuhfabrik versteckt hatte. Er hatte das mißbilligende Gesicht seines Vaters vor Augen ... erinnerte sich an das Gespräch mit Carl... alles war immer gegenwärtig, alles, bis auf das Ende. »Und ... was ist passiert?« fragte Alan. »Der Parrish-Junge legte ihn aufs Band der Sohlenstanzmaschine«, erwiderte Bentley bitter. »Machte den 105
Schuh kaputt, die Maschine kaputt, und ich wurde fristlos gefeuert.« Ich bin fortgerannt. Die Erkenntnis traf Alan wie ein Vorschlaghammer. Ich hab's Carl ausbaden lassen. »Als die Fabrik Pleite machte, wurde die Stadt böse«, fuhr Bentley fort. »Für mich war das allerdings ein Glück, weil sie die Polizei von drei auf sechs verdoppeln mußten. Andernfalls hätte ich keinen Job gehabt.« »Ich weiß, daß es überhaupt nichts bedeutet«, sagte Alan, »aber ich entschuldige mich.« »Entschuldigen für was?« »Dafür, daß ich alles ruiniert habe.« Bentley richtete den Blick zum Rückspiegel. Er musterte Alans Gesichtszüge eingehend. Dann stieß er ein plötzliches, erstauntes Keuchen aus. Quuiiieee ... Er trat auf die Bremse, und der Streifenwagen kam rutschend zum Halten. Bentley drehte sich um, um besser sehen zu können. Den Mann besser sehen zu können, der einmal der Junge gewesen war, der ihm sein Leben gestohlen hatte. Alan kam ins Gefängnis. Er würde eine Kaution brauchen. Soviel wußte Sarah. Sie war bereit, ihr Bankkonto zu plündern, um ihn herauszuholen. Sie, Judy und Peter kamen per Anhalter zurück in die Stadt, auf der Ladefläche eines Pick-up. Sie bedankten sich bei dem Fahrer, als sie am Stadtplatz in Brantford abstiegen. Rings um sie herrschte das totale Inferno. Kreischen und Geschnatter hallte aus den Gebäuden. Ein Kran106
kenwagen raste vorbei. Plünderer rannten aus Läden durch zerschlagene Türen und Fenster, hielten Arme voll Waren. Kisten flogen aus den Fenstern der ersten Etage, krachten auf den Bürgersteig. Autos standen kreuz und quer auf dem Gras, auf den Bürgersteigen und den Straßen geparkt. Ihre Türen waren offen. Bei einigen liefen die Motoren, und die Radios plärrten. Nicht weit entfernt fiel ein Mann auf den Bürgersteig, sich kratzend und stöhnend. Ein Motorrad sauste vorbei, gefahren von drei kreischenden Affen. Peter beobachtete sie gebannt. Ich auch! Der Gedanke erfüllte ihn instinktiv. Fast hätte er das Jumanji-Brett fallenlassen und wäre ihnen nachgerannt. Er wollte aufspringen, um mitzufahren. Einer von ihnen sein. Aber er beherrschte sich. Voller Furcht schaute er zu Boden. Seine Arme, mindestens zehn Zentimeter länger, als sie eigentlich waren, ragten aus seinen Ärmeln. Waren mit dichtem, braunem Haar bedeckt. Und das wuchs auch in seinem Gesicht. Während er Sarah und Judy zu einem Geldautomaten folgte, schwankte er von einer Seite zur anderen, trottete. Seine Schuhe schmerzten wie verrückt. Seine Füße wuchsen. Sarah stöhnte, als sie die Meldung auf dem Bildschirm des Geldautomaten sah: Vorübergehend außer Betrieb. »Vielleicht können wir einen Scheck als Kaution geben, um ihn rauszubekommen«, überlegte sie. Judy hörte schwere Schritte hinter ihnen. Sie drehte sich um und stieß einen Schrei aus. Van Pelt riß grinsend das Jumanji-Brett aus Peters Hand. »Sagt dem Feigling, wenn ihm an diesem Spielzeug liegt, kann er mich erreichen, und zwar ...« 107
Seine Stimme verlor sich. Er schaute jetzt auf das Bild auf dem Spielbrett. Er runzelte die Stirn, als er es hochhielt. Der Jäger unter dem Schriftzug des Spiels erwiderte seinen finsteren Blick. Die Ähnlichkeit war perfekt. Während er mit offenem Munde da stand, stürmte eine Menge von Stadtbewohnern voller Panik hinter einer Ecke hervor. Schreiend, sich kratzend und schnatternd scharten sie sich um Van Pelt, rissen ihn mit sich. Peter sprang in ihre Mitte, bahnte sich mit den Ellenbogen seinen Weg zu Van Pelt. Er entriß ihm das Spielbrett und rannte davon. Direkt vor einen heranschleudernden Wagen. »Peter!« schrie Judy auf. Peter sprang beiseite, als der Wagen hielt. Der Fahrer stieg blaß vor Wut aus. Doch der Mann erstarrte, bevor er ein Wort herausbringen konnte. Sein Blick war auf etwas hinter Peters Schulter gerichtet. Der Boden begann zu beben. Peter brauchte nicht hinzusehen. Wahrend der Fahrer die Straße hinunterraste, sprang Peter in den verlassenen Wagen. Den Asphalt zertrampelnd, rasten die Rhinos Schulter an Schulter über die Main Street. Die Menschen sprangen kreischend zwischen die Häuser und in die geborstenen Schaufenster. Die Rhinos liefen geradewegs auf das Auto zu. Sie trampelten alles nieder, was ihnen im Wege stand – Mülleimer, Feuerhydranten und Verkehrszeichen –, als ob es aus Karton sei. 108
Peter duckte sich, so tief er konnte. Er bedeckte seinen Kopf mit seinen langen Armen und legte sich auf das Jumanji-Brett. Mit einem plötzlichen, donnernden »Krrrrunch« stieß die wild gewordene Herde auf den Wagen.
KAPITEL 20 Puff! Puff! Puff! Puff! Peter konnte die Reifen unter sich platzen hören. Die Fenster wurden nach außen gerissen. Das Dach beulte sich nach innen auf ihn zu. Er biß die Zähne zusammen und schloß die Augen. Er stellte sich seinen Nachruf vor: »Halb Pavian, halb Mensch – von Rhinos in Neuengland zertrampelt.« Was für eine Art zu sterben. Der Lärm war mehr als nur ein Geräusch. Er war wie ein massiver Schlag auf die Ohren. Krrrrrruncccchhhh! Jetzt waren die Elefanten gekommen. Peter konnte den Unterschied hören. Das Dach drückte sich näher auf ihn zu. Der Raum wurde knapp. Plötzlich wußte er, wie Thunfisch in Dosen zumute war. Dann spürte er kaltes Metall auf seinem Rücken. Er warf einen entsetzten Blick nach oben. Das zertrampelte und verbeulte Dach sperrte ihn ein, preßte ihn zu einem Blatt zusammen. Er wußte, daß er schrie, weil sein Mund weit offen war und seine Kehle schmerzte. Aber durch den Lärm der Stampede konnte er nichts hören. 109
Dann, abrupt, hörte alles auf. Der Schrei blieb in Peters Kehle stecken. Er sah nichts und hörte nichts als das Dröhnen schwindender Hufschläge. Als ob es ein Traum wäre. War so der Tod? Pechschwarz, dumpf und still? Er öffnete die Augen. Er hatte nicht gemerkt, daß sie geschlossen waren. Das Autodach war noch immer auf seinen Rücken gepreßt. Er schaute aus dem zerschlagenen Fenster und sah Asphalt. Er drehte und wendete sich, um das Jumanji-Brett unter sich hervorzuziehen. Er lebte. Er konnte noch spielen. Vielleicht wäre der Tod besser gewesen. »Peter!« Judys hysterische Stimme drang von draußen in das Wrack. Ein Arm griff hinein. Peter lächelte. Bis er merkte, daß er mit einem schweren Khaki-Ärmel bedeckt war. »Gib mir das, Junge«, knurrte Van Pelt. »Nein!« Peter umklammerte das Spiel. Er versuchte, es aus Van Pelts Reichweite zu bringen, aber dafür war kein Platz. Van Pelt zerrte es einfach aus dem schmalen, verbogenen Fenster und rannte davon. »Hilfe!« schrie Peter. »Holt mich hier raus!« Judy und Sarah rannten zu dem Wagen. Peter hielt sich an ihren ausgestreckten Händen fest. Stöhnend und sich drehend strampelte er auf die Fensteröffnung zu. Als er endlich auf der Straße lag, schaute er voller Entsetzen auf den metallenen Pfannkuchen zurück, der sein Versteck gewesen war. Es war knapp gewesen. Sehr knapp. 110
Aber es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußten das Spiel zurückbekommen. Judy und Sarah liefen die Straße hinunter, in die Richtung, die Van Pelt genommen hatte. Peter folgte ihnen. So sehr er sich auch bemühte, konnte er doch nicht wie ein normaler Mensch laufen. Seine Beine hatten sich gebogen, und seine Arme baumelten beim Laufen herunter. Sie sprangen über Müll, zerbrochenes Glas, plattgetretene Kartons und Kisten. Sarah sprintete voraus, verschwand für einen Augenblick um eine Ecke. »Dort!« schrie sie. Peter und Judy kamen gerade rechtzeitig, um Van Pelt einen riesigen Supermarkt betreten zu sehen, der »Sir Sav-a-Lot« hieß. Sie rannten über einen Parkplatz und in den Laden. Die Gänge waren ein Chaos. Plünderer suchten herum. Verkäufer verfolgten sie. Andere Verkäufer jagten sie und plünderten dann selbst. Über den ganzen Boden lagen Waren verstreut: Bücher, Batterien, Regenschirme, Spielzeug, Lebensmittel. Aber kein Van Pelt. Judy, Sarah und Peter durchsuchten den Laden Gang auf Gang. Haushaltswaren, Sportkleidung, Gesundheits- und Kosmetikartikel, Spielzeug ... »Seht!« rief Judy. Am Ende des Spielzeugganges, oben auf einem Glastresen, lag das Jumanji-Brett. »Wartet hier«, sagte Sarah. Sie eilte den Gang hinunter und ergriff die Kiste. Van Pelt schoß hinter der Theke hervor und packte ihr Handgelenk. »Ich hätte es wissen müssen«, stöhnte Sarah. 111
»Aber du wußtest es nicht«, höhnte Van Pelt. »So, wenn Alan hört, daß ich dich habe, wird er kommen. Und dann werde ich ihn endlich zur Strecke bringen!« »Großartiger Plan, Sie Schlaumeier, aber wie soll er erfahren, daß Sie mich haben?« Er richtete sein Gewehr gegen die Decke und feuerte ein paar Schüsse ab. »Beweg dich nicht, Frau!« bellte er. »Oder ich werde dich zu Schnipseln zerschießen!« Putz regnete auf den Boden. Plünderer ließen ihre Beute fallen. Voller Panik kreischend, rannten die Leute zu den Ausgängen. Van Pelt lächelte zuversichtlich. »Alan wird schnell genug von deiner mißlichen Lage hören.« Im Schutz des angrenzenden Ganges näherten sich Judy und Peter Van Pelt. Peter schlich auf allen vieren um die Ecke – was durch seine neue Gestalt immer angenehmer wurde. Er sprang vor und biß Van Pelt ins Knie. Der Jäger jaulte vor Schmerz auf und ließ Sarah los. Judy rannte zum Tresen, riß das Laser-Preislesegerät an sich und richtete den Strahl auf seine Augen. Van Pelt wich zurück, bedeckte seine Augen mit einer Hand. Mit der anderen Hand drückte er wieder und wieder den Abzug seines Gewehres ab und feuerte wild.
Sarah nahm das Spielbrett und rannte weg, Judy und Peter dicht hinter sich.
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KAPITEL 21 Bentley war nicht überzeugt. Nicht völlig. Er glaubte Alans Identität. Die Ähnlichkeit war da, die Erinnerungen waren korrekt. Aber dieser Jumanji-Kram? Vergiß es. Bentley wollte kein Wort davon hören. Verärgert lief Alan vor dem Streifenwagen auf und ab. Seine Hände waren noch immer in Handschellen, und er fühlte sich wie ein gefangenes Tier. Sie hatten am Straßenrand geparkt und weiter diskutiert, während Van Pelt und die Hälfte der wilden Tiere von Jumanji verrückt spielten. »Carl, du mußt mir glauben«, bettelte Alan. »Wenn du mich gehen läßt, kann ich all dies beenden. Ich werde es später erklären. Aber im Augenblick mußt du mir helfen!« Bentley, der an der Fahrertür lehnte, hob skeptisch eine Augenbraue. »Als ich dir das letzte Mal zu helfen versuchte, verlor ich alles, was ich hatte.« »Diesmal ist es anders!« Alan hielt ihm seine gefesselten Hände hin. »Bitte.« Widerwillig langte Bentley nach seinem Schlüsselbund. »Ich weiß, daß ich das bedauern werde«, murmelte er, während er die Handschellen aufschloß. »Okay, was kann ich tun?« »Nichts.« Mit einer blitzschnellen Bewegung ließ Alan eine Handschelle um Bentleys rechtes Handgelenk schnappen und schloß die andere an den Türrahmen. »Das ist etwas, was ich allein tun muß.« Er löste die Schlüssel von Bentleys Gürtel und warf sie in ein nahe gelegenes Feld. Dann rannte er die Straße hinauf. 113
»Aaaaallllllaaaaannnnnn!« heulte Bentley. »Eines Tages wirst du mir danken!« rief Alan. Bentley zerrte wutschnaubend an den Handschellen. Im Streifenwagen plärrte Lorraines Stimme aus dem Funkgerät: »Carl! Melde dich, Carl! Möglicherweise eine Geiselnahme im Sav-a-Lot, darunter eine Frau, zwei Kinder und ein schwerbewaffneter Europäer, der dem Täter ähnelt, den du früher erwähntest. Bist du da, Carl?« Alan, der das gehört hatte, kam zum Streifenwagen zurückgerannt. »Van Pelt!« erklärte er. »Er hat sie erwischt!« Bevor Bentley ein Wort sagen konnte, begann Alan, ihn in den Streifenwagen zu schieben. »Steig ein!« drängte Alan. »Wir fahren zurück in die Stadt.« »Was?« grunzte Bentley. »Und wie, denkst du, soll ich –?« Sein Körper war zu einem Knoten verdreht. Sein rechter Arm, der an die Tür gefesselt war, lag quer über seiner Brust. Alan packte ihn auf den Fahrersitz und stieg neben ihm ein. »Keine Sorge, ich habe das schon gemacht«, sagte er, während er den Zündschlüssel drehte. »Einmal.« Der Motor brüllte auf. An Bentley gepreßt, legte Alan den Schalthebel zurück. »Gott helfe mir«, sagte Bentley verhalten. Bbbrrroooummmmm! Der Streifenwagen schoß mit einem Satz vom Bordstein weg. Rückwärts. Alan und Bentley schossen auf die Windschutzscheibe zu. Alan trat voll auf die Bremse und riß wild am Lenkrad. Der Wagen schleuderte herum. Als sie in Richtung Stadt standen, trat Alan aufs Gaspedal. 114
Der Streifenwagen raste vorwärts, mit dem Heck voran die Straße hinunter. Bentley kauerte sich an die Tür. »Wo ist dieses Sav-a-Lot?« fragte Alan. »Monroe und Elm«, erwiderte Bentley. »Bei der Episkopalkirche?« »Kirche? Das ist jetzt ein Speedy Burger. Oder war es. Wer weiß, was davon übriggeblieben ist, nachdem die Leute hier alle den Verstand verloren haben.« Im Rückspiegel entdeckte Alan blitzende Lichter. Er verlangsamte die Fahrt, als ein Polizeimotorrad neben ihm hielt. Darauf saßen drei grinsende Affen. Einer von ihnen wirbelte einen Revolver. Bentley keuchte. Alan schüttelte angewidert den Kopf, trat aufs Gaspedal und ließ die Affen in einer Staubwolke stehen. Im Sav-a-Lot rannte Sarah durch die Gänge um ihr Leben. Das Jumanji-Spielbrett fest an sich pressend, lief sie in die Frauenbekleidungsabteilung. Van Pelt war dicht hinter ihr. Drei Kugeln schlugen in eine Schaufensterpuppe, die links neben Sarah stand. Sie bog nach rechts ab, genau in die Mitte der Abteilung Freizeitkleidung. Judy winkte ihr wild aus der Glühlampenabteilung zu, die ein paar Gänge entfernt war. Sie deutete auf einen Einkaufswagen, der direkt vor Sarah stand. Sarah packte den Wagen, warf das Jumanji-Brett hinein und versetzte ihm einen Stoß. Der Wagen schoß quer durch den Laden. Judy bekam ihn zu fassen und rannte los. Van Pelt jagte knurrend und mit irrem Blick hinter ihr her. 115
Indes suchte Peter in der Sportabteilung verzweifelt nach etwas, das er als Waffe benutzen konnte, nach einer Mine oder irgendwas, um Van Pelt aufzuhalten. Vor einem großen Aluminiumkanu blieb er stehen. Ihm kam eine Idee. Eine brillante, gemeine Idee. Ich mag zwar wie Sheetah der Schimpanse aussehen, dachte er, aber ich kann noch immer wie ein achtjähriger Junge denken. Er zog das Kanu herunter und legte es auf den Boden. Dann suchte er, so schnell er konnte, den Rest der Ausrüstung zusammen, die er brauchte: etwas Seil, eine Taucherausrüstung mit zwei Sauerstoffflaschen und ein Kajakpaddel. Zuerst löste er die Sauerstoffflaschen von der Ausrüstung. Mit dem Seil band er eine Flasche an das linke Dollbord des Kanus, das andere an die Steuerbordseite. Dann band er das Paddel am Kanu fest, legte es quer über die Mitte, so daß die Paddel an beiden Seiten herausragten. Als dies befestigt war, drehte er den Bug in Richtung auf die nächste Kreuzung der Gänge. In der Ferne konnte er Van Pelt schreien und herantrampeln hören. Schnell ergriff er einen Hammer und eine 5-Liter-Flasche Flüssigreiniger aus der Haushaltswarenabteilung. Er schraubte den Deckel ab und schüttete das Zeug auf die Kreuzung vor dem Kanu, so daß eine große Pfütze entstand. Schließlich deckte er das Kanu mit einer Segeltuchplane zu. Er nahm den Hammer, duckte sich hinter dem Ding und wartete. 116
Van Pelt schoß um eine Ecke und mitten auf die Kreuzung. Peter zog blitzschnell die Plane weg. Kkllaaaannnggg! Kkllaaaannnnggg! Er zerschlug die beiden Stutzen mit dem Hammer. Ssssstttttttttt... Luft stieß zischend aus den beiden Sauerstofftanks und trieb das Kanu vorwärts. Auf Van Pelt zu. Van Pelt versuchte wegzurennen. Er rutschte mit seinen Schaftstiefeln auf dem Flüssigreiniger aus. Seine Beine verhedderten sich unter ihm. Das Kanu schoß wie ein Torpedo zwischen sie. Mit einem dröhnenden »Brack« schlugen ihm die Kajakpaddel in die Kniekehlen. Vor Schmerz aufbrüllend, kippte Van Pelt vorwärts in das Kanu. Es schoß über den glitschigen Boden in die Campingausstellung. Eine lächelnde Puppenfamilie, mit feschem Freizeitdreß bekleidet, fiel in einem Durcheinander von Armen und Beinen auf Van Pelt. Das Kanu tauchte in die offene Eingangsklappe eines riesigen Zeltes. Mit einem lauten Ratschen brach das Zelt zusammen. Dort blieb das Kanu schließlich unter einem Haufen von Rucksäcken, Kochern, Segeltuch und Schaufensterpuppenteilen schließlich stehen. Aus dem wüsten Durcheinander kamen wütendes Geschrei und wildes Schießen. Sarah rannte um eine Ecke. Judy war dicht hinter ihr. Sie trug die Jumanji-Kiste. »Komm, Peter!« schrie Sarah. »Laß uns hier verschwinden!« Die drei rannten zur Tür. 117
Hinter ihnen befreite sich Van Pelt aus dem Haufen. Er biß die Zähne zusammen, weil der Schmerz in seinen Beinen fast unerträglich war. Doch als er die drei Flüchtigen entdeckte, richtete er sich wachsam auf. Der Schmerz war vergessen. Sie waren leichte Ziele. Er hob sein Gewehr und visierte an.
KAPITEL 22 An der Monroe und Elm riß Alan das Lenkrad nach links. Sir Sav-a-Lot ragte gewaltig durch die zersplitterte Windschutzscheibe auf. Der Streifenwagen raste mit siebzig Meilen Geschwindigkeit darauf zu. »Brems ab!« befahl Officer Bentley. Alan trat auf die Bremse. Das Pedal verschwand im Boden. Eine gelbliche Flüssigkeit spritzte seitlich aus dem Streifenwagen heraus. Alan trat wieder zu. Und wieder. Nichts. Die Bremsen waren ausgefallen. Während der Streifenwagen auf die massive Wand von Sir Sav-a-Lot zuschoß, wechselten Alan und Bentley ein letztes Wort: »Aaaaarrrhhhhhhhh!« Drinnen im Laden kicherte Van Pelt. Die drei Schwächlinge liefen zum Seitenausgang. Sie glaubten, sie könnten ihn überlisten. Ruhig zog er den Trigger durch. 118
Pfffatt! Die Kugel schoß jaulend durch die Luft. Van Pelt senkte das Gewehr und lächelte. Volltreffer! Die Kugel zerschlug den Riegel eines Reifenhalters, der direkt über dem Seitenausgang hing. Der Halter schwenkte von der Wand weg. Reifen regneten herunter. Sarah und Judy erstarrten, blockiert von der Lawine. Voller Entsetzen sahen sie zu, wie Peter unter einem Berg von schwarzem Gummi begraben wurde. Während sie hastig die Reifen wegräumten und versuchten, Peter zu befreien, schlenderte Van Pelt auf sie zu. Sarah wich zurück, hielt das Jumanji-Spiel an ihre Brust gepreßt. »Hör auf mit der Kriecherei«, schnarrte Van Pelt. »Es ist unsportlich, eine wehrlose Frau zu erschießen.« Sarah fuhr zornig hoch. »Das ist das absolut Bescheuertste, was ich je gehört habe!« Van Pelt entriß ihr das Jumanji-Brett mit einem rauhen Lachen. »Jetzt wird er zu mir kommen!« Buuuuuummmmmm! Das Geräusch hinter Van Pelt war wie ein Kanonenschuß. Er drehte sich um. Mehrere Gänge entfernt flogen Waren durch die Luft. Er konnte das Brummen einer Maschine hören, ein aufeinanderfolgendes Krachen... Er machte einen Schritt rückwärts, auf die aufgetürmten Farbeimer zu. Aus dieser Perspektive entdeckte er das Loch in der anderen Wand. In diesem Moment explodierte das Regal vor ihm – und Officer Bentleys Streifenwagen kam hindurchgeschossen. Van Pelt hatte einem Löwen so nah gegenüberge119
standen, daß er seinen Atem riechen konnte. Er hatte einem Rhinozeros in die Augen geschaut, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Wilde Tiere waren für einen Jäger wie ihn nichts. Aber dies – dies war wirklicher Schrecken. Er sprang weg. Das Jumanji-Brett entfiel ihm. Mit einem markerschütternden Krachen pflügte der Streifenwagen in einen Stapel Farbdosen. Van Pelt fiel zu Boden und bedeckte seinen Kopf, als die Dosen platzten und auf ihn kollerten. Der Streifenwagen kam schließlich an der Wand zum Stillstand. Ein Haufen von verbogenem Metall. Alan sprang heraus und rannte zu Judy und Sarah. Officer Bentley wankte mit schwachen Knien und völlig verwirrt hinter ihm her. Seine Handschelle ruckte an der Fahrertür, die mit einem dumpfen Poltern herausfiel. Er warf Alan einen Blick zu. Er schaute auf seine Handschellen. Dann trottete er völlig benommen davon, die Tür hinter sich herschleppend. »Gott sei Dank, daß mit euch alles in Ordnung ist!« sagte Alan zu Judy und Sarah. »Wo ist Peter?« Sarah richtete einen zitternden Finger auf den Berg von Reifen. Alan rannte hinüber und schleuderte die Reifen beiseite. Bald tauchte Peters Gesicht auf. Oder das, was Peters Gesicht gewesen war. Völlig mit Haar bedeckt, der Kiefer weit vorragend, sah es mehr und mehr wie das eines Pavians aus. Alan mußte keuchen. Er wußte nicht, was passiert war, aber er vermutete, daß es mit dem Spiel zu tun hatte.
Es blieb keine Zeit zu vergeuden. Wenn sie das Spiel nicht bald beendeten, würde Peter in einem Zoo landen. 120
KAPITEL 23 Tante Nora, die am Stadtrand entlangfuhr, lauschte aufmerksam einer beruhigenden Stimme von einer Kassette: »Also, vergessen Sie nicht, daß wir Situationen immer unter Kontrolle haben.« Ein leises Piepen ertönte. »Ende von Kassette drei. Führen Sie nun Kassette Nummer vier ein, ›Die drei wichtigen Punkte: Gelassenheit, Charisma und Üüüüüübeeeerleeee –‹« Die Kassette stoppte mit einem Winseln. »O Gott«, murmelte Tante Nora. Sie trat auf die Bremse, um an einer roten Ampel zu halten. Als sie die Kassette herausdrückte, schaltete sich das Radio automatisch ein: »Und jetzt die neuesten Informationen zu den ungewöhnlichen Ereignissen in Brantford, New Hampshire«, verkündete der Sprecher, »wo mindestens achtundneunzig Menschen in Krankenhäuser eingeliefert werden mußten. Die Symptome reichen von unerklärlichen Fieberanfällen und Ausschlägen bis hin zu Anfällen von Gewalttätigkeit. Die lokalen Aufnahmemöglichkeiten sind völlig erschöpft. Die Staatsbehörden bitten nun jeden, der solche Symptome hat, unter folgender Sondernummer anzurufen: 1-800-555-RASH. Immunologen des Epidemiezentrums in Atlanta haben festgestellt, daß...« »O mein Gott«, flüsterte Tante Nora. »Die Kinder!« Der Boden begann zu beben. Tante Nora sah sich neugierig um. Wie eigenartig. Gab es in Neuengland Erdbeben? Als die Ampel umsprang, wollte sie ihren Fuß von der Bremse nehmen. 121
Aber sie trat sofort wieder voll darauf. Die Kreuzung war plötzlich blockiert. Von Rhinozerossen. Die stürmten von links nach rechts vorbei. Schnaubend und sehr unfreundlich dreinschauend. Ihr Unterkiefer sank herunter. Was war auf dieser Kassette? Es hatte ihren Verstand völlig ergriffen. Sie öffnete die Tür des Autos und stieg aus. Der Staub der Stampede wallte um sie. Den Blick nach vorn gerichtet, bemerkte sie den Affen nicht, der sich aus der Stampede löste und in ihrem Auto versteckte. Sie beobachtete, wie die Elefanten und Zebras vorbeistürmten. Dann stieg sie völlig benommen wieder in ihren Wagen und legte einen Gang ein. Die Kreuzung war jetzt völlig zertrampelt und von Trümmern übersät. Tante Nora steuerte langsam hindurch und gab auf der anderen Seite Gas. Der Affe sprang vom Rücksitz nach vorn. Er landete neben ihr und grinste sie bewundernd an. »Iiiieeeeeeaaaahhh!« Tante Nora trat auf die Bremse. Der Wagen rutschte von der Straße und in einen Graben. Schreiend stieß sie die Tür auf und krabbelte auf die Straße zu. Während sie davonlief, steckte der Affe seinen Kopf aus dem Beifahrerfenster und beschimpfte sie wütend. Es war ein langer Weg vom Sir Sav-a-Lot zur Jefferson Street, aber Alan, Sarah, Judy und Peter legten ihn schnell zurück. Unmittelbar vor dem Parrish-Haus begann Peter zu
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winseln. Sein Körper war knorrig und gebeugt, und das Laufen schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Als Sarah ihn ansah, wurden ihre Augen feucht. »Sprich mit ihm, Alan«, flüsterte sie. Alan hatte Mitleid mit dem armen kleinen Kerl. Diese Transformation mußte schwer gewesen sein. Während Alan steif zu Peter trat, versuchte er, die richtigen Worte zu finden. In all diesen Jahren im Dschungel hatte er niemals Rat erteilen müssen. »Also, Peter«, begann Alan und räusperte sich, »du hast gemogelt, und jetzt mußt du mit den Folgen wie ein Mann fertig werden.« »Ohhhhhhhhhh!« stöhnte Peter. »Komm schon. Kopf hoch«, fuhr Alan fort. »Jammern hat noch nie genützt. Wenn man ein Problem hat, muß man sich ihm stellen.« Peter begann zu weinen. Entsetzlich, dachte Alan. Der Junge ist ein Affe, und ich erzähl' ihm, er soll's von der heiteren Seite nehmen. »Du hast ja recht, Peter, du hast ja recht. Ich bin völlig unsensibel. Sechsundzwanzig Jahre war ich im dunkelsten, abgelegensten Dschungel begraben und bin dennoch wie mein Vater geworden!« Er legte seine Arme um den schluchzenden Affen-Jungen. »Es tut mir leid, Peter.« Puh. Alan fühlte sich erleichtert, daß er das herausgebracht hatte. »Das ist es nicht«, sagte Peter schwach. Alan wich zurück. »Was ist es dann?« »Sieh mal runter«, sagte Peter mit rotem Gesicht. Alan sah, daß ein Büschel braunen Fells aus dem Ende von Peters Hosenbein ragte. Er drehte Peter schnell um und riß ein Loch in die Sitzfläche von Peters Hose. 123
Er griff hinein und zog einen langen Schwanz heraus. Sarah und Judy erblaßten vor Schreck. Peter lächelte erleichtert. »Danke.« »Okay, aber jetzt mach dir keine Sorgen«, sagte Alan, während er mit Peter auf die Veranda trat. »Wir werden dich in Null Komma nichts wieder zurückverwandeln. Wir gehen jetzt gleich da rein, setzen uns hin, und dann werden wir die Sache gemeinsam beenden, egal was –« Er stieß die Eingangstür auf, und die Worte blieben ihm im Halse stecken. »Waaaas?« flüsterte er entsetzt. »O nein!« keuchte Sarah hinter ihm. Die Wände des Foyers waren ein tiefes, üppiges Grün, das von dicken Ranken strotzte. Durch die Blätter fiel aus dem Kronleuchter gedämpftes Licht. Die Decke, die Böden, die Treppen, die Möbel – die Ranken hatten sich um alles geschlungen. Das Haus wurde von einem wachsenden Dschungel verschluckt. »Vielleicht sollten wir woanders spielen«, schlug Sarah vor. »Nein, mit dem Zeug bin ich mein ganzes Leben lang fertig geworden«, sagte Alan, während er hineinmarschierte. Er deutete über seine Schulter. »Das Zeug da draußen haut mich um.« Sssssst... ssssst... sssst... In der Werkzeugabteilung von Sir Sav-a-Lot benutzte Officer Bentley eine Bügelsäge, um die Kette der Handschellen durchzusägen. Die Tür des Streifenwagens fiel mit einem Scheppern zu Boden. Bentley reckte seine Arme. Endlich war er frei. 124
Bentley rannte zur Autozubehörabteilung hinüber. Unter den von Trümmern übersäten Regalen fand er eine Dose mit Bremsflüssigkeit. Er eilte zu seinem Streifenwagen hinüber. Die Farbdosen beiseite wischend, öffnete er die Motorhaube. Dann füllte er die Bremsflüssigkeit in den Behälter und schlug die Motorhaube wieder zu. Sie brach ab und fiel zu Boden. Es blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Bentley sprang auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Der Streifenwagen erwachte brüllend zum Leben. Langsam setzte er ihn von der Motorhaube zurück, trat dann auf die Bremse. Der Wagen hielt. Die Bremsen funktionierten! Er drehte das Lenkrad nach links und fuhr langsam in Richtung Ausgang, wobei er in Schlangenlinien zwischen den Trümmern bugsierte. »Lorraine, hier ist Carl!« rief er ins Mikrofon. »Ich weiß, wer hinter all diesem Wahnsinn steckt. Ich bin auf dem Weg zum Parrish-Haus. Gib mir Deckung ... Lorraine?« »Iiiiii-ii-ii-oo-oo-aaaaaah!« kam als Antwort. Die Polizeiwache klang wie ein Affenhaus. Bentley warf das Mikrofon angewidert von sich und trat aufs Gas. Während er aus dem Laden hinausfuhr, hob sich eine Hand aus dem Stapel von Farbdosen. Langsam arbeitete Van Pelt sich heraus. Er war benommen und halb bewußtlos.
Und er war sehr, sehr wütend.
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KAPITEL 24 »Hilfe! Hilfe!« Tante Nora winkte dem näherkommenden Wagen wild zu. »Halt!« Endlich. Sie war eine Ewigkeit gelaufen, ohne auch nur ein einziges Fahrzeug zu sehen. Aber was war das für ein Fahrzeug. Ein Polizeistreifenwagen, der aussah, als ob er durch einen Mixer gedreht worden sei – verbeult und zerschrammt, ohne Fahrertür und ohne Motorhaube. Ganz zu schweigen von den Farbspritzern darauf. Officer Bentley hielt an. »Alles in Ordnung, Ma'am?« fragte er. »Nein. Bei mir ist überhaupt nichts in Ordnung!« erwiderte Tante Nora. »Ich muß sofort nach Hause.« »Wo wohnen Sie?« »Jefferson Street. Das alte Parrish-Haus.« Bentley dachte kurz nach. »Haben Sie Kinder? Einen Jungen und ein Mädchen?« »O mein Gott.« Tante Nora erbleichte. »Was ist passiert?« »Das erzähle ich Ihnen unterwegs. Steigen Sie ein.« »Ich wußte es! Ich wußte, daß ich damit nicht fertig werden würde! Ich bin eine schreckliche Mutter – und jetzt ist etwas Entsetzliches passiert!« Durch das Fenster hinter Bentley wandt sich eine Schlingpflanzenranke hinein, bewegte sich auf seinen Hals zu. Tante Nora versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Statt dessen schrie sie nur. »Beruhigen Sie sich, Ma'am«, sagte Bentley auf eine 126
Art, wie sie sich für einen Polizisten gehört, der alles unter Kontrolle hat. »Sie sind zu aufgeregt.« Tante Nora deutete auf die Ranke, die jetzt nur noch Zentimeter von seinem Hals entfernt war. Officer Bentley drehte sich um. »Aaaaagggghhh!« Er sprang aus der Tür. Die Ranke schoß auf den leeren Sitz. Dann schob sie sich weiter, schlang sich um den Boden des Streifenwagens herum. Mit einem dumpfen, scharrenden Geräusch rutschte der Streifenwagen seitwärts. Die Schlingpflanze zerrte ihn in ein dichtes Gebüsch, wo er aus dem Blickfeld verschwand. »Na, schön!« bellte Bentley. »Behalt ihn!« Er wandte sich an Tante Nora und sagte cool: »Bedaure, Ma'am, aber wir müssen laufen.« Alan trat in den von Pflanzen überwucherten Salon. Er trat einige Ranken auf dem Boden beiseite und stellte das Jumanji-Brett ab. »Naja«, sagte er mit einem Schulterzucken, »dieses Haus brauchte schon immer etwas mehr Leben.« Sarah, Judy und Peter knieten sich neben das Brett. Als Alan sich setzte, sah er, daß Sarah ihn ansah. Zum ersten Mal verspürte er keine Wut auf sie, keine Bitterkeit. Zweieinhalb Jahrzehnte lang hatten sie völlig getrennt voneinander existiert, nicht einmal aneinander gedacht. Aber in gewisser Hinsicht konnte ihr Leben nicht vollständig sein ... bis jetzt. Als Sarah die Würfel aufnahm, wollte Alan ihr sagen, was er empfand, ihr es jetzt sagen, bevor etwas anderes Schreckliches geschah. Doch ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, daß das nicht 127
nötig war. Sie wußte es auch. Hier steckten sie als Team drin. »Sarah«, sagte Judy, »wenn du eine Zwölf wirfst, wirst du gewinnen!« Sarah schloß ihre Augen. Sie schüttelte die Würfel und murmelte verhalten einen Wunsch. Dann warf sie. Vier ... und eins. Fünf. Begleitet von einem Chor enttäuschter Seufzer, bewegte sich ihre Spielfigur weiter. »Steht der Mond ein Viertel voll«, las Sarah, »tobt Monsun in der Lagune toll. Lagune? Gut, daß wir drinnen sind.« Sie reichte Judy die Würfel. »Judy, schnell. Du bist dran.« Krrrrrach! Blitze zuckten durch das Haus. Der Boden erzitterte. Judy sprang auf, weil sie sich an die Stampede erinnerte. Aber diesmal kamen keine Tiere. Nur Regen. Eine Menge Regen. Vorhänge von Regen. Regen, der sich so heftig ergoß, daß sie sich kaum noch sehen konnten. Augenblicklich war der Salon überflutet. Das Spielbrett trieb davon. Alan ergriff es. Das Wasser um ihn stieg knöchelhoch ... kniehoch ... »Was machen wir jetzt?« schrie Sarah durch den Lärm. »Wir müssen auf einen höheren Platz!« schrie Alan zurück. Die vier Spieler beschirmten ihre Gesichter vor dem sintflutartigen Guß und bahnten sich ihren Weg ins Foyer. Wasser ergoß sich wie ein reißender Fluß die Treppe 128
hinunter. Sie versuchten, nach oben zu steigen, doch die Strömung drückte sie zurück. Judy und Peter mußten jetzt Wasser treten. Das Wasser stieg bis zur Decke hoch. Alan begann, auf den Kronleuchter zu zu schwimmen, der dicht über der Wasseroberfläche baumelte. »Kommt her!« drängte er. Aber Sarah schlug in blinder Panik wild um sich. »Alaaaaaan!« schrie sie. Hinter ihr waren zwei riesige Krokodile, in deren klaffenden, grinsenden Mäulern drohend Zähne ragten.
KAPITEL 25 »Schwimm!« schrie Alan. Er schwamm zu dem Kronleuchter voran. Darunter trieb der Eßtisch vorbei. Alan zog sich darauf. Er setzte das Spielbrett ab und streckte dann seine Arme aus, um Sarah, Judy und Peter hinaufzuhelfen. Schnnnnnapp! Kiefer schnappten so dicht hinter Judy zusammen, daß sie den Luftzug spürte. Sie schrie und machte einen Satz beiseite. Schnnnnnapp! Schnnnnnapp! Die Krokodile griffen von beiden Seiten an. Direkt unter dem Kronleuchter verschränkte Alan seine Hände. »Steig hoch!« Judy packte das Spielbrett. Sie trat in seine Hände, griff nach dem riesigen Kronleuchter und zog sich hoch. 129
Danach kletterte Peter mit affenartigem Geschick hoch. Mit einem dumpfen »Wumms« schlug ein Krokodil auf den Tisch. Alan und Sarah wurden hochgeschleudert. Sie knallten mit den Köpfen voran in den Kronleuchter. Peter verlor den Halt. Mit seinen langen Armen um sich schlagend, stürzte er in die Fluten. »Hiiilllllffffee!« kreischte er. Eines der Krokodile tauchte aus dem Wasser auf und öffnete sein Maul um Peters Kopf. Alan kniete sich hin. Er packte Peters Schwanz und zog daran. Schnnnnapp! Das Maul schloß sich. Peter flog unversehrt zum Kronleuchter hoch. Aber Sarah rutschte ab – direkt hinein in das klaffende Maul des anderen Krokodils. »Alaaaan!« schrie sie. Sie landete mit dem linken Fuß auf dem Unterkiefer des Krokodils. Ihr rechter auf seinem Oberkiefer. Sie erstarrte. Das Krokodil öffnete und schloß sein Maul, wollte fressen. Sarahs Beine klappten mit der Bewegung wie eine Schere auf und zu. »Aaaaaaggggghhhhh!« jammerte sie. Alan sprang auf das Tier hinab. Er rang mit ihm und drängte es zurück ins Wasser. Während er kämpfend untertauchte, klammerte sich Sarah an den Kronleuchter und zog sich daran hoch. Sie, Peter und Judy schauten erstarrt vor Furcht zu. In dem brodelnden Wasser konnten sie nur das Blitzen von Haut sehen, einen Streifen von grünem Leder. Das andere Krokodil ruderte näher heran, begierig darauf, an der bevorstehenden Mahlzeit teilzuhaben. 130
Tante Nora und Officer Bentley trabten den Weg zum Haus hinauf. Als sie näherkamen, hörten sie von drinnen Schreie. Und ein Geräusch wie eine laufende Dusche. Als Tante Nora zu Boden blickte, sah sie Wasser unter der Tür hervorströmen. »O nein!« keuchte sie. »O nein! Diese armen Kinder. Gott verzeihe mir.« Bentley zog mit einer Hand seinen Revolver, umfaßte mit der anderen den Türknopf. »Lassen Sie mich das erledigen, Ma'am.« Mit einem kräftigen Ruck öffnete er die Tür. Wuuuuuschhhh! Sie riß aus den Angeln. Klappte von unten nach oben. Schlug gegen Bentley und Tante Nora und hob sie beide hoch. Sie schossen auf der Krone einer Flutwelle auf die Straße hinaus. Möbel und zerrissene Schlingpflanzen wirbelten ringsum im Wasser. Sie klammerten sich mit aller Kraft an die Tür, während sie über den Vorrasen und die Jefferson Street hinunterrauschten. Die im Augenblick mehr wie die Jefferson-Wasserfälle aussah. Im Innern des Hauses schauten Judy, Peter und Sarah zu, wie das Wasser durch den Türrahmen abfloß. Es war, als ob man den Stöpsel aus einer riesigen Badewanne gezogen hätte. Unter ihnen riß die Strömung Alan und die Krokodile auf die Tür zu. Alan ruderte wild auf den Kronleuchter zu. Peter streckte einen seiner langen Arme nach unten. Alan faßte seine Hand und zog fest daran. Der Kronleuchter begann zu schwingen. Peter versuchte verzweifelt, sich festzuhalten, trotz der Stärke der Strömung und Alans Griff. 131
Seine Füße rutschten ab. Judy sprang zu ihm. Als sie nach seinen Knöcheln griff, wurde auch sie heruntergezogen. Sarah hielt Judy fest. Die drei bildeten jetzt eine menschliche Kette, die sich vom Kronleuchter zu Alan streckte, und sie hielten ihn verzweifelt von den Mäulern der Krokodile fern. Der Wasserspiegel sank schnell. Die Krokodile schlugen wild um sich, schnappten nach Alans Füßen. Oben auf dem Kronleuchter zerrte Sarah noch einmal. Die Kette ruckte den Bruchteil eines Zentimeters zurück. Mit einer letzten gewaltigen Welle wurden die Krokodile aus der Tür gesaugt. Alan hielt sich weiter fest. Bald spürte er den Boden unter seinen Füßen. Er ließ Peter los und stand auf. Der Eßtisch war direkt neben ihm. Er kletterte hinauf und zog erst Peter herunter, dann Judy. Sarah glitt in seine Arme. Während sie auf den Boden traten, strahlte sie ihn voller Dankbarkeit und Bewunderung an. »Du hast für mich mit einem Alligator gekämpft.« Alan errötete. »Es war ein Krokodil. Alligatoren haben keine Fransen an den Hinterbeinen.« Er wich Sarahs liebevollem Blick aus. »Kommt, wir sollten besser nach oben gehen.« Während sie die Treppe hochgingen, schüttelte Sarah den Kopf. »Angst vor einer Beziehung«, flüsterte sie Judy und Peter zu. Sie holten ihn auf dem Korridor der ersten Etage ein. Zu seiner Rechten knurrte der Löwe hinter der geschlossenen Tür von Tante Noras Schlafzimmer. Zu seiner Linken blockierte eine riesige Schote den Durchgang. 132
»Nach oben!« erklärte Alan. »Der Dachboden ist sicherer.« Sie eilten die Wendeltreppe hoch und nahmen dabei zwei Stufen auf einmal. Der Dachboden war trocken und frei von Schlingpflanzen. Alan staubte einen alten Überseekoffer ab und stellte das Spielbrett darauf. Sarah, Judy und Peter ließen sich erschöpft auf Kartons und Kisten fallen. Alan begann die Würfel zu schütteln, hielt dann aber inne. »Oh, oh!« rief er plötzlich. Judy wäre fast von ihrer Kiste aufgesprungen. »Habe ich beim letzten Wurf vergessen, die zweihundert Dollar zu kassieren?« fragte Alan. Während er über seinen eigenen Witz kicherte, funkelten die anderen ihn an. »Okay, okay.« Alan warf die Würfel aufs Brett. Seine Spielfigur bewegte sich vorwärts, und alle schauten auf die Botschaft: Achte wohl und gut auf festen Stand, der Boden ist schneller als Treibsand. Alan sank nach unten. Sarah griff nach den Würfeln, Peter nach dem Spielbrett. Sie alle sprangen von dem Überseekoffer weg. Außer Alan. Er steckte fest. Der Boden unter ihm war zu einer braunen, blubbernden Flüssigkeit geworden. Sie schäumte und warf Wellen, verschluckte ihn.
»Helft mir!« schrie Alan verzweifelt, als seine Füße im Boden verschwanden.
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KAPITEL 26 »Alan, beweg dich nicht!« drängte Sarah. Judy stieß gegen einen Notenständer. Sie ergriff ihn und hielt ihn Alan hin. Er zog daran. Aber der Notenständer bestand aus zwei Teleskopstücken, und sein Stück rutschte aus dem von Judy. »Aaaaahhhh!« Der Boden reichte Alan jetzt bis an die Brust. Peter brachte eine alte Posaune herbei. Er und Sarah packten das Mundstück und drückten den Zug zu Alan hin. »Zieh!« schrie Sarah. Das tat Alan. Der Zug rutschte heraus, und er sank tiefer. »Hört auf, mir Sachen zu geben, die auseinanderfallen!« heulte er. Sarah ergriff einen Holzstuhl. Sie beugte sich vor, biß die Zähne zusammen und hielt ihn hin. Schnapp! In dem Augenblick, als er das Bein erfaßte, zerbrach der Stuhl an einer Stelle, die Termiten zerfressen hatten. Alan war fast untergetaucht. Sarah sprang mit ausgestreckten Armen zu ihm. Sie fiel mit den Ellenbogen voran in den Treibsand. Judy, die hinter ihnen war, kam ein verzweifelter Gedanke. Sie mußte werfen. Vielleicht würden die Folgen ihres Zuges dies beenden. Sie griff wild nach den Würfeln und warf:
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Du mußt eins lernen für dein Glück: Zuweilen muß man mal zurück! Judy Spielfigur rutschte auf dem Brett schnell rückwärts. Schlupp! Der Boden wurde fast augenblicklich wieder fest. Alan war gefangen. Sein nach oben geneigtes Gesicht ragte ebenso über dem Boden hervor wie seine Arme und Hände. Neben ihm kniete Sarah. Ihre Unterarme steckten unter den Holzbrettern fest. »Danke, Judy«, sagte Alan mit gezwungener Ruhe. »Das war reaktionsschnell. Aber jetzt würden Sarah und ich gerne aus dem Boden rauskommen. Ich glaube, Peter ist am Zug.« Während Judy und Peter rannten, um das Spiel zu holen, wandten Alan und Sarah sich einander zu. Sie waren da praktisch Auge in Auge, atmeten sich an und konnten sich in ihren bizarren Stellungen nicht bewegen. Sarah kicherte laut auf. »In meiner Selbsthilfegruppe würden sie jetzt sagen, daß wir den persönlichen Raum des anderen verletzen.« »Ist das schlimm?« fragte Alan. »O ja, das ist eine Todsünde.« Sarah lächelte. »Aber eigentlich genieße ich das irgendwie.« Alan wollte den Blick abwenden. Aber das konnte er nicht. Statt dessen zwang er sich, genau das zu sagen, was er dachte. »Ich auch.« Uh, dachte Peter. Sentimentales Gesülze. Er hüpfte zu dem Jumanji-Brett und warf seine Würfel. Gemeinsam lasen er und Judy die Botschaft:
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Brauchst eine Hand? Das ist gemacht. Wir helfen raus. Wir haben acht!
Ein plötzliches scharrendes Geräusch veranlaßte beide aufzublicken. Aus den Dachsparren senkte sich an einem silbrigen Faden eine Spinne von der Größe eines Pitbull-Terriers herab.
KAPITEL 27 Peter brüllte vor Entsetzen auf. Rings um ihn fielen Riesenspinnen wie Hagelkörner herab. Dutzende von ihnen waren da, auf dem Spielbrett, in den Ecken, vor dem Spiegel, am Klavier. Sie hingen fast reglos da, wackelten nur mit ihren dünnen Beinen und schlössen und öffneten ihre scharfen Mäuler klackend. »Was ist das?« fragte Alan. »Ich kann nichts sehen!« Sein Blick wanderte zu dem Spiegel. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus. Judy ergriff den gebrochenen Notenständer und begann, auf die Spinnen links und rechts einzuschlagen. »Peter!« schrie Alan. »Mein Dad hatte eine Axt im Holzschuppen. Hol sie!« Peter sprintete die Treppe hinunter und aus dem Haus. Er rannte zu dem Holzschuppen, aber der war verschlossen. Er ergriff eine rostige Axt, die an einer Seitenwand lehnte, und begann, kräftig auf das Schloß zu schlagen. 136
Geschafft. Die Axt in der Hand, jagte er zum Haus zurück. Naß und erschöpft betrat Tante Nora das Haus. Ihre Frühstückspension, ihr Lebensbaum war ein mit Unkraut überwuchertes, trümmerübersätes Chaos. Während sie durch das verwüstete Erdgeschoß ging, schlug ihr Herz wie ein Preßlufthammer. »Judy?« rief sie. »Peter? Kinder?« Der ferne Schrei eines Dschungelvogels antwortete ihr. Während sie die Treppe hochstieg, richtete sie den Blick zum Himmel. »Wenn du machst, daß sie wohlauf sind«, murmelte sie, »werde ich sie nie wieder aus meinem ...« Am Treppenabsatz der ersten Etage blieb sie entgeistert stehen. Über ihr baumelten die Beine eines Mannes und die Hände einer Frau von der Decke. Sie schrie auf und wich über den Korridor zu ihrem Schlafzimmer zurück. Sie griff hinter sich, tastete nach dem Türknopf, stieß die Tür auf und rannte hinein. Ein Löwe lag ausgestreckt auf ihrem Bett und döste. Er schlug die Augen auf. Langsam hob er seinen Kopf. Dann bleckte er seine Zähne und brüllte. Tante Nora schoß aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Peter, jetzt schon fast völlig Pavian, kam mit der Axt die Treppe hochgehüpft. »Tante! Ich! Peter!« kreischte er mit schriller, affenartiger Stimme. »Iiiiiiiaaaaaaagggghhhh!« Tante Nora wich über den Korridor zurück, direkt in den Wäscheschrank hinein. »Kann jetzt nicht reden!« rief Peter. »Erkläre später!« 137
Er schlug die Wascheschranktür zu und verschloß sie, indem er den Schlüssel drehte, der darin steckte. Dann rannte er zur Dachbodentreppe. Oben auf dem Dachboden zerschlug Judy immer noch Spinnen. Aber für jede, die sie erlegte, tauchten zwei andere auf. »Sarah!« rief Alan. »Du bist dran! Du brauchst nur eine Sieben!« Sarah versuchte vergeblich, ihre Arme aus dem Holz zu ziehen. »Was soll ich denn tun? Ich kann nicht würfeln!« »Warte«, sagte Alan. »Vielleicht kannst du's doch.« Er sah sie an und entblößte seine Zähne. Sarah verstand. »Natürlich!« »Judy!« rief Alan. »Bring das Spiel her, schnell!« Judy nahm das Brett vom Boden auf. Während sie zu Alan rannte, schoß eine purpurne Blume zwischen den Bodenbrettern hoch. Ihre Knospen öffneten sich und entblößten Giftstacheln, die wie Messer baumelten. In diesem Moment betrat Peter den Dachboden. Er entdeckte seine Schwester und dann die Blume. »Juuuuudyyy!« brüllte er. Die Blume schnellte vor. Stacheln schossen auf Judy zu und blieben lautlos in ihrem Nacken stecken. Peter schwang seine Axt und zerteilte den Stengel. Die Purpurblüte flog davon. Er rannte zu seiner Schwester. »Judy? Alles in Ordnung?« »Mir geht's gut!« sagte Judy, während sie die Stacheln abstreifte. »Hilf Alan und Sarah!« Sie rannte mit dem Jumanji-Brett zu ihnen. »Gib mir die Würfel«, sagte Sarah, »in den Mund!« Judy klemmte die Würfel zwischen Sarahs Zähne. 138
Sarah biß darauf, ließ dann die Würfel auf das Spielbrett fallen. »Ich kann's nicht sehen«, rief sie. »Lies den Vers vor.« »Es geht um alles, fast am Ziel«, las Judy, »doch Boden zittert, und das viel.« Bevor sie die Worte aufnehmen konnte, schwang sich eine Spinne auf sie. Dann noch eine und noch eine. Sie vereinten sich jetzt, ließen sich auf den Boden fallen und huschten auf Judy zu, die aufstand, um sich zu verteidigen. Dann blieben sie plötzlich, ohne Warnung, stehen. Eine nach der anderen machte kehrt und krabbelte in die Winkel des Dachbodens. »Einfach Klaaaaaasssse!« sagte Peter. Aber seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ein rasselndes Geräusch begann. Die Möbel vibrierten. Judy stürzte mit aschfahlem Gesicht zu Boden. Peter eilte zu ihr. Er hob ihren Kopf, legte ihn in seinen Schoß. »Sie wurde von der Blume gestochen!« schrie er. »Was wird mit ihr geschehen?« Alan schluckte schwer. »Wir müssen das Spiel beenden. Es ist ihre einzige Chance.« Der Boden begann zu zittern – nicht in dem gleichmäßigen Rhythmus wie bei der Stampede, sondern mit einem ungleichmäßigen, heftigen Rucken. Von unten kam ein Rumpeln, das Peters Knochen schüttelte. Er hielt seine Schwester ganz fest. »Es wird alles gut werden, Judy«, flüsterte er. »Tut es weh?« »Nein«, krächzte Judy. »Lügnerin.« Judy versuchte, ihren Blick auf Peter zu konzentrieren. »Ich wünschte, Mom und Dad wären hier.« 139
Krrrrrrrackkkkks! Der Boden des Speichers riß wie ein hölzerner Reißverschluß auf. Alan fiel geradewegs nach unten, befreit aus seiner Falle, aber wild um sich schlagend. Sarah ergriff seine Handgelenke und hielt ihn fest. Alan pendelte über der ersten Etage. Das Krachen unter ihm wurde stärker, zerriß das ganze Haus vom Dach bis in die Grundmauern. Ein schwarzes Loch öffnete sich im Boden. Ringsum fiel Putz in großen Stücken von den Wänden, Wasser schoß aus platzenden Rohren, Stromleitungen sprühten, und Möbel rutschten. Das Jumanji-Spielbrett schwankte am Rande des Spaltes. Die Würfel rollten hinab, und Alan riß eine Hand los, um sie aufzufangen. »Nimm das Spiel!« schrie Alan, während er die Würfel in seine Tasche steckte. »Ich werde dich nicht loslassen!« erklärte Sarah. Ein weiterer Stoß erschütterte das Haus so, als sei es von einer gigantischen Bowlingkugel getroffen worden. Das Jumanji-Brett kippte über den Rand. Mit einem scharfen Knall landete es in der ersten Etage. Es lag nun auf einem zersplitterten Holzbrett. Darunter war nichts als Schwärze. Alan befreite sich aus Sarahs Griff. Er faßte nach einer herabhängenden Ranke und sprang. Die Ranke trug ihn in die erste Etage. Dort wechselte er zu einer anderen Ranke und schwang sich durch den Spalt nach unten, ergriff dabei das Jumanji-Brett. Er landete, nach Atem ringend, im Wohnzimmer. Er schielte geradezu vor Erschöpfung, und seine Stirn war schweißnaß. 140
Aber er hatte das Spiel. Und jetzt war er am Zug. Er stellte das Spiel hinter einem dichten Rankengewirr auf den Boden, steckte dann die Hände in die Tasche und nahm die Würfel heraus. Seine Spielfigur war nur fünf Felder vom Ziel entfernt. Nur fünf. »Ich werde es schaffen!« sagte er zu sich. »Ich werde dieses Spiel ein für allemal beenden.« Er schüttelte die Würfel, hielt seine Hand über das Spielbrett. »Laß sie fallen!« Das Blut erstarrte in Alans Adern. Er blickte zum Eingangsfoyer, direkt in den Lauf von Van Pelts Gewehr!
KAPITEL 28 Van Pelts Khakizeug war zerrissen und mit Farbe verschmiert. Sein Tropenhelm war verbeult. Seine Schaftstiefel waren abgestoßen und zerrissen. Sein stattlicher Schnurrbart hing schlaff herab. Aber er bot den unheimlichsten Anblick, den Alan je in seinem Leben gesehen hatte. Langsam pirschte Van Pelt auf Alan zu, das Gewehr auf ihn gerichtet. »Solltest du nicht wegrennen?« »Im Augenblick nicht«, erwiderte Alan. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun.« »Ist das ein Trick?« Van Pelt kniff seine Augen mißtrauisch zusammen. »Was ist das da in deiner Hand?« »Nichts.« 141
»Nichts? Dann laß es fallen.« Sarah schlich langsam die Treppe hinunter. »Du solltest lieber tun, was er sagt«, rief sie vorsichtig. Alan drückte die Würfel. Fünf ... fünf ... fünf, wünschte er. Er öffnete seine Hand. Die Würfel fielen. Der erste klapperte auf das Brett. Er blieb mit einer Drei liegen. Der andere rollte weiter, direkt auf den Rand zu ... Als er in die klaffende Schwärze fiel, wäre Alan beinahe das Herz aus dem Mund gesprungen. »Wichtigere Dinge zu tun?« spottete Van Pelt. »Wie mit Spielzeug spielen? Die Spielzeit ist vorbei, kleiner Junge. Lauf!« Alan schüttelte stur den Kopf, hoffte nicht wider alle Vernunft. Schweißtropfen fielen von seiner Stirn, brannten in seinen Augen. Er konnte hören, wie der Würfel klappernd in den Abgrund fiel, von einem Vorsprung der unterirdischen Felsen zum nächsten, tiefer und tiefer. »Aber du mußt rennen!« donnerte Van Pelt. »Hier, ich werde dich laufen lassen, bis ich bis drei gezählt habe. Eins ...« Van Pelts Finger schloß sich um den Abzug. »Zwei ...« Das Klappern hatte aufgehört. Der Würfel mußte gelandet sein. Aber was zeigte er? »Und ... drei!« Alan hielt den Atem an. Das war es. Jetzt würde er all die schrecklichen Dinge, die er getan hatte, nie wiedergutmachen können. Er hatte das Leben aller ruiniert, die er je geliebt hatte, und war für Jahre verschwunden – und jetzt war er zurückgekehrt, um 142
das Haus zu zerstören, in dem er gelebt hatte, die Stadt, vielleicht sogar die Welt. Was für ein Weg zu sterben. Van Pelt senkte langsam sein Gewehr. »Du hast zumindest Mut bewiesen.« Alan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er würde verschont bleiben! Nein. »Du bist eine würdige Beute«, sagte Van Pelt und hob sein Gewehr wieder. Aus dem Augenwinkel sah Alan eine Bewegung auf dem Jumanji-Spielbrett. Er warf einen Blick nach unten. Der andere Würfel mußte gelandet sein. Seine Spielfigur rückte vor. Drei Felder ... vier ... Fünf. Alan schluckte. Er blickte zu Van Pelt auf. Seine Augen waren ungläubig weit aufgerissen. »Irgendwelche letzten Worte?« knurrte Van Pelt. Alan konnte kaum einen Ton herausbringen. »Jumanji?« Van Pelt drückte den Abzug durch. Blaaaammmmm! »Neeeeiiiiiiin!« Sarah rannte in das Zimmer, lief genau in die Bahn der fliegenden Kugel!
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TEIL VIER New Hampshire, 1969
KAPITEL 29 Gonnnng! Gonnnng! Verrückt. Irgendwas muß mit der Großvateruhr passiert sein, dachte Alan. Sie ging wieder. Das letzte Mal hatte er sie 1969 gehört, kurz bevor er verschwunden war. Er preßte Sarahs Arm. Was geschah mit ihnen? Sie wirkten so ... klein. Alan warf einen Blick in ihr Gesicht. Er wäre fast ohnmächtig geworden. Sie war wieder dreizehn. Sarah genau so aus, wie er sie in Erinnerung hatte von jenem schrecklichen Tag, als die Großvateruhr geschlagen hatte und er ... Aber war das wirklich so? Er betrachtete seine eigenen Arme. Die eines Zwölfjährigen, dünn und nackt. Und das Haus? Es war wundervoll! Keine Schlingpflanzen, keine Stampede- oder Flutschäden. Und kein Staub. Jedes Möbelstück war poliert und stand an seinem Platz. 145
Das Jumanji-Spielbrett lag zwischen ihm und Sarah aufgeklappt auf dem Kaffeetisch. Die Eingangstür öffnete sich. Alan sprang fast an die Decke. Sarah wich erschreckt an die Couch zurück. Ein Geist kam hereinspaziert. Für einen toten Mann sah Alans Vater verdammt gut aus. Sogar robust. Keinen Tag älter als das letzte Mal, als Alan ihn gesehen hatte. Was sechsundzwanzig Jahre her war. Was jetzt war. Alan stand langsam auf. Tränen standen in seinen Augen. Seine Kehle war vor Glück so zugeschnürt, daß er kaum sprechen konnte. »Dad ... du bist zurück.« »Ich habe meine Redenotizen vergessen«, erwiderte Mr. Parrish. Er ging steif zum Eßzimmer hinüber. Alan kannte diese Gangart. Sein Dad war über irgend etwas wütend. Was, auf Erden, war das? Aber wen interessierte das? Während seiner Zeit in Jumanji hatte Alan oftmals über sein Leben nachgedacht. Wenn er ganz von vorne anfangen könnte, hatte er gedacht, dann würden so viele Dinge anders sein. So viele Chancen würden nie vertan werden. Nun, jetzt war er wieder zurück. Zurück am Anfang. Und er würde keinesfalls denselben Fehler zweimal machen. Er rannte durch das Zimmer und schlang seine Arme um seinen Vater. »Dad, Dad ... ich bin ja so froh, daß du zurückgekommen bist!« Mr. Parrish zuckte zusammen. Er schaute seinen Sohn befremdet an. Dann breitete sich langsam ein 146
verlegenes Lächeln über sein Gesicht. »Ich war doch nur fünf Minuten fort.« »Mir kam es viel länger vor«, sagte Alan, wobei er Tränen wegwischte. Sein Vater kicherte und drückte Alan fester. »He, ich dachte, du wolltest nie wieder mit mir reden.« »Was immer ich auch gesagt habe, es tut mir leid.« »Sieh mal, Alan, ich war wütend. Ich ... es ... mir tut's auch leid.« Er holte tief Luft. »Und was die Cliffside-Akademie betrifft...« »Cliffside?« Die widerliche Erinnerung daran war plötzlich wieder in Alans Hirn. »Richtig. Warum sprechen wir nicht morgen darüber, von Mann zu Mann?« »Wie wär's zwischen Vater und Sohn?« Mr. Parrish lächelte herzlich und nickte. »He, ich muß jetzt los! Ich bin der Ehrengast.« »Dad?« sagte Alan schnell. »Damals, neunzehnhundertneun – also, ich meine heute – in der Fabrik? Das war nicht Carl Bentleys Schuld. Ich habe den Schuh auf das Förderband gelegt.« »Ich bin froh, daß du mir das erzählt hast, Sohn.« In diesem Moment entdeckte Alan im Gesicht seines Vaters einen Ausdruck, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Einen von Vertrauen. Von Stolz. Liebe. »Wiedersehen, Dad«, sagte Alan. Mr. Parrish drehte sich um und verließ das Haus. Als die Haustür zufiel, war Alan, als müsse er tanzen. Vor Freude schreien. Bis sein Blick auf das Jumanji-Spielbrett fiel. »Heiliger Strohsack!« rief er. »Judy und Peter! Wir müssen rauf auf den Dachboden!« 147
Er wollte losrennen, aber Sarah hielt ihn ruhig zurück. »Alan, sie sind nicht dort. Wir sind wieder im Jahr neunzehnhundertneunundsechzig. Sie existieren noch gar nicht.« Sarah streckte ihre linke Hand aus. Darin lagen zwei Spielfiguren. Zwei, mit denen noch nicht gespielt worden war. Die von Judy und Peter. Während Alan einen kurzen Blick auf die Figuren warf, bemerkte er ein fernes Glitzern. Einen Spiegel. Sein eigenes Spiegelbild verschlug ihm den Atem. Der Bart, die Tierhäute, die breiten Schultern und die dicken Armmuskeln waren verschwunden – und etwa fünfundzwanzig Zentimeter von seiner Größe. Sich selbst als den zwölfjährigen Alan Parrish zu sehen, war ein Schock. Aber nie in seinem Leben war er glücklicher gewesen. Minuten später fuhr Alan, wild in die Pedale tretend, durch die dunklen Straßen von Brantford. Sarah saß hinter ihm auf dem langen Fahrradsattel. An der Brücke, die über den Fluß führte, bremste er. Es war die Stelle, von wo Van Pelt aus dem Hinterhalt auf ihn geschossen hatte, als er Handschellen trug. Nein, dachte Alan. Es ist noch nicht passiert. Und es würde niemals passieren. Er und Sarah würden dafür sorgen. Sie stiegen vom Fahrrad ab, und Sarah hielt eine große, braune Einkaufstüte hoch. Alan griff hinein und nahm die Jumanji-Kiste heraus, um die sie eine starke Schnur gebunden hatten. An der Schnur baumelten zwei große Steine. Mit einem Grunzen hob Alan die Last über das 148
Brückengeländer. Im düsteren Mondlicht schauten er und Sarah zu, wie sie ins Wasser fiel. Verschwunden. Für immer. Alan atmete aus. »Ich beginne langsam zu vergessen, wie es ist, erwachsen zu sein«, sagte Sarah. »Ich auch«, erwiderte Alan. »Aber das ist in Ordnung, so lange wir uns nicht vergessen.« »Oder Peter und Judy ...« Gedankenverloren schauten sie auf die Strömung hinab. Dann drehte Sarah sich um und schaute Alan in die Augen. »Alan? Es gibt etwas, was ich wirklich tun möchte ..., und das sollte ich lieber tun, bevor ich mich zu sehr wie ein Kind fühle.« Sie schlang ihre Arme um ihn. Und sie küßten sich lange und innig, während die Welt von Jumanji forttrieb.
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TEIL FÜNF New Hampshire, 1995
KAPITEL 30 Der Schnee fiel in diesem Winter früh in Brantford. Er deckte die blühende Stadt zu, dämpfte den Verkehrslärm und zog Familien zum Schlittenfahren auf den Stadtplatz. Skilangläufer sausten an der Parrish-Schuh-Fabrik und dem Nebengebäude vorbei. Der Parkplatz, üblicherweise voll belegt, lag leer unter einer weißen Dekke. Über seiner Zufahrt verkündete ein Schild: Parrish-Schuhe: Fünf Generationen Qualität Drinnen waren nur wenige Leute. Einer von ihnen war der Besitzer und Aufsichtsratsvorsitzende. Alan Parrish. Er ging Seite an Seite mit seinem Bilanzbuchhalter, Marty Lawrence, den mit Teppich ausgelegten Korridor entlang, von dem aus man auf den Fabrikbetrieb hinunterschauen konnte. »Die Händler sind wütend, weil Sie vorhaben, all
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diese Schuhe in diesem Jahr zu Weihnachten wieder zu verschenken«, erklärte Marty. »Marty«, sagte Alan geduldig, »die Kinder, denen ich diese Schuhe gebe, gehen ohnehin nicht hin, um sich Neunzig-Dollar-Turnschuhe zu kaufen. Niemand verliert etwas bei diesem Geschäft.« Marty schüttelte den Kopf. »Ja, außer uns.« »Sehen Sie's doch mal so: Wenn diese Kinder erwachsen sind und einen Beruf haben, werden sie sich an Parrish-Schuhe erinnern und treue Kunden werden.« Als sie sich einer offenen Tür näherten, trat Carl Bentley heraus. Mit seinem graumelierten Haar und einem maßgeschneiderten europäischen Anzug, der sich um seine kräftige Gestalt schloß, war Mr. Bentley ein respekteinflößender Mann. Und Alan wußte das. »Es ist eine Investition in unsere Zukunft«, sagte Mr. Bentley, als ob er das Gespräch mitgehört hätte. Mit einem gewinnenden Lächeln legte er einen Arm um Martys Schultern. »Kommen Sie doch einfach rein, und wir sprechen über die Einzelheiten, okay?« Als sie in den Raum traten, schloß Alan hinter ihnen die Tür. Für einen Augenblick betrachtete er die beiden Silhouetten durch die Milchglasscheibe über die goldenen Worte Carl Bentley – President hinweg. Er wußte, daß Marty überzeugt werden würde. Alan war leicht umzustimmen, aber niemand sagte zu dem Erfinder der Bentley-Air-Turnschuhe nein. Alan schaute auf seine Armbanduhr. Sarah müßte jetzt von ihrer Arbeit heimgekommen sein. Sie kam mit ihrer Schwangerschaft gut zurecht, aber es wäre nicht fair, sie mit all den Vorbereitungen für die Weihnachtsparty heute abend allein zu lassen. 152
Vor allem, wenn man bedachte, wie nervös sie beide waren. Wegen der neuen Gäste. Alan holte tief Luft. Nervös? Aber nicht doch. Angsterfüllt. Die ersten Gäste trafen um halb sieben in dem großen Haus an der Jefferson Street ein. Alan begrüßte sie, rannte dann hoch und legte sein Weihnachtsmannkostüm an. Als er nach unten lief, klingelte das Telefon. Alan eilte in die Küche und nahm ab. Während er sprach, liefen Leute hinein und heraus, nahmen hoch mit Speisen beladene Tabletts von den Tischen. »Hallo?« sagte Alan. »Oh, hi, Dad! Ja, einfach riesig – Die Wanderschuhkollektion läuft wirklich großartig – Ja, war ein unglaubliches Jahr – Danke.« Sarah steckte ihren Kopf in die Küche. »Sie sind da, Liebling«, sagte sie. Alans Herz begann zu rasen. »Ich muß laufen, Dad, mein neuer Marketingdirektor ist gerade gekommen. Grüß Mom von mir ... ich hole euch am Weihnachtsabend am Flughafen ab – Bye.« Alan vermißte seinen Dad und seine Mom sehr, seit sie nach der Pensionierung in den Süden gezogen waren. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Aber eins nach dem anderen. Er legte auf, nahm die beiden in Geschenkpapier eingewickelten Schuhkartons vom Tisch und rannte aus der Küche. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge der Gäste, schüttelte rasch Hände und begrüßte Leute. In der Eingangshalle stand ein freundlich wirkendes 153
Paar, das mit Sarah sprach. Alan erkannte Jim Shepherd, seinen neuen Angestellten. »Jim!« rief Alan. »Schön, daß Sie gekommen sind.« »Danke«, erwiderte Jim. »Das ist meine Frau, Martha.« »Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Mrs. Shepherd und trat vor, um Alans Hand zu schütteln. Mr. Shepherd schaute sich um. »Hm, wo sind die Kinder?« Aber Alan wußte das bereits. Er hatte sie sofort erkannt. Sie kamen durch die Menge auf ihn zu. »Hier sind sie«, sagte Alan und schaute voller Verwunderung in die zwei Gesichter, die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Die Gesichter von Judy und Peter Shepherd. Mrs. Shepherd warf Alan einen überraschten Blick zu. »Woher wußten Sie das?« »Nur eine Vermutung«, fiel Sarah ein. Alan nahm seinen Weihnachtsmannbart ab. Er lächelte Judy und Peter an und zeigte ihnen sein wahres Gesicht. Er erwartete beinahe, daß sie ihn nach dem Spiel fragten. Und andererseits wünschte er es sich. Um ihre alte Freundschaft da fortzusetzen, wo sie geendet hatte. »Nun ja, Sie haben recht«, sagte Mr. Shepherd. »Dies sind unsere Kinder, Judy und Peter. Kinder, ich möchte euch Mr. und Mrs. Parrish vorstellen.« »Hi«, murmelte Peter. »Nett, Sie kennenzulernen«, fügte Judy höflich hinzu. Sie erinnern sich nicht, erkannte Alan. Sie erinnern sich nicht, weil es nie geschehen ist. Er warf Sarah einen kurzen Blick zu. Traurigkeit, 154
Freude, Erleichterung und Scheu zeigten sich abwechselnd in ihrem Gesicht. Nur Alan konnte das sehen. Weil nur Alan genauso empfand. »Wir ... haben so ein Gefühl, als kennten wir euch bereits«, sagte Sarah sanft zu den beiden Kindern. »Wir haben soviel von euch gehört«, fiel Alan rasch ein. Er hielt ihnen die beiden Geschenke hin. »Fröhliche Weihnachten.« Während Judy und Peter die Schachteln auspackten, konzentrierte Alan sich wieder ganz auf die Wirklichkeit. »Also«, sagte er zu Mr. Shepherd, »wann können Sie anfangen?« »Also, wissen Sie, eigentlich«, erwiderte Mr. Shepherd, »dachten Martha und ich daran, eine kleine Skitour in die kanadischen Rockys zu machen. Wissen Sie, so eine Art zweiter Flitterwo –« »Nein!« schrien Alan und Sarah gleichzeitig. Der Unfall war auf dieser Reise passiert – der Unfall, der Judy und Peter zu Waisen gemacht hatte. Weder Sarah noch Alan würden das je vergessen können. Die Shepherds schauten auf diesen Ausbruch verstört drein. »Entschuldigung«, sagte Alan, »äh, es ist nur so, daß wir ...« »Wir brauchen die Kampagne für die neue Kollektion wirklich dringend«, schloß Sarah. »Kein Problem«, sagte Mr. Shepherd ein wenig zögernd. »Ich kann nächste Woche anfangen.« Judy und Peter hielten nun ihre Geschenke hoch – die neueste Kollektion luftgepolsterter Turnschuhe von Parrish Shoes, mit einem Dschungelmotiv. Judy las das Signet. ›»Ju ... man ... ji's?‹« »Was haltet ihr davon?« fragte Alan. 155
»Ist ein verrückter Name für Turnschuhe«, sagte Peter. Bum! Alan empfand das wie einen Stich ins Herz. Zum ersten Mal wußte er wirklich – wußte er in seinem tiefsten Innersten, daß Jumanji vorbei war. Er würde es absolut nicht vermissen. »Kommen Sie«, schlug Alan vor, »ich möchte Sie allen vorstellen.« Während er sie in das Wohnzimmer führte, schaute Mrs. Shepherd sich bewundernd um. »Das ist ein so wundervolles Haus!«
»Ja«, sagte Mr. Shepherd mit einem Lachen. »Nora würde so ein Haus nur zu gerne in die Finger bekommen ...«
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EPILOG Irgendwo in Südfrankreich, heute
KAPITEL 31 Emilie Reynaud und Isabel Villeneuve schlendern grimmig am Strand entlang, schmiegen sich gegen den frostigen Wind aneinander. Sie sind zwölf Jahre alt und die besten Freundinnen, die vieles miteinander verbindet: ihr Geschmack in Sachen Kleidung und Musik, ihr Haß auf die Schule und ihr Jammer über das Leben ganz allgemein ... Sie sprechen in ihrer Muttersprache Französisch schnell miteinander. »Meine Mum und mein Dad kritisieren mich immer«, sagt Emilie bitter. »Niemals lassen sie mich mal etwas Spaß haben.« »Bei mir ist das genauso«, pflichtet Isabel ihr bei. »Niemand versteht mich!« Die Wellen schlagen nahe bei ihnen, berühren fast ihre Füße. Ein paar Meter vor ihnen ragt etwas Dunkles und Rechteckiges aus dem Sand. Etwas, das vom Meer angespült worden war.
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Die Mädchen hören auf zu reden. Endlich einmal etwas Interessantes in ihren langweiligen Leben. Sie wenden sich ihm zu ... Und ein leises trommelndes Geräusch beginnt...
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