JOY LAUREY
Joy
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8048 Titel der Originalausgabe...
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JOY LAUREY
Joy
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8048 Titel der Originalausgabe: JOY Aus dem Französischen übersetzt von Sara Pitti Copyright © 1981 Editions Robert Laffont S.A. Paris Copyright © der deutschen Übersetzung 1983 by Rowohlt Ta schenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Copyright © dieser Ausgabe 1992 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1992 Umschlagillustration: DFA-Bilderteam/Amthor, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Satz & Repro Grieb, München Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN: 3-453-04174-7
Als Aktmodell und Filmstarlet macht Joy in Paris nur mäßig Karriere – als Liebhaberin hingegen kann die hübsche Pariserin auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Es ist die Geschichte einer sexuellen Verfallenheit, aus der diese verführerische Frau immer wieder auszubrechen versucht – mit Erfolg, wie ihre zahllosen amourösen Eskapaden zeigen…
Die Liebe ist voller Widersprüche…
I
ch ha be nie etwas von Männern verstande n. Ich habe alles durcheinandergebracht, wie eine schlecht gelernte Lektion, ohne zu überlegen, ohne aufzupassen, ich habe alles falsch ge macht alles verpfuscht, verkorkst . Ich war Verführerin, Sirene, Superfrau, Juliette, die Erste, die Meistgeliebte, der alles gelingt, die Feuerperle im kalten Wasser, ich hatte kein Gefühl für das Leid, das widerstreitende Neigungen hervo rruft, ich habe Mid li fe-Krisen schamlos ausgenutzt und zug espitzt, ich war grenze n los schön und töricht, aber glücklich; leer und glücklich. Jetzt lebe ich im Rückwärtsgang , in de r Angst, das linde, lustvolle Land meiner Kindheit zu verlieren, ich habe wieder den Erdbeergeschmack jener Tage im Mund, ich schmecke die bitte r süßen Tränen, die ich weinte. Ich schließe die Augen, und mir ist, als spürte ich meine angor aweiche Mutter, als drückte ich im rosafarbenen Lichtkegel des Lampenschirms, der meinem Zi m mer die Farbe eines Fruchtbonbons gab, die Nase in ihren Pull o ver. Es war die Zeit der Vanille, der Schoko lade und des schwa r zen Johannesbeersafts, des Zahnwechsels, der Bonbons und des köstlichen Dufts von Marmeladen in handbeschrifteten Gläsern. Damals verstrichen die Stunden mit langsamer Würde, angezeigt von einer großen Wanduhr mit einem Kupf erpendel, das im Halbdunkel der Nachmittage glänzte, wenn die Fensterläden geschlossen waren, um die Frische gefangenzuhalten, und sicher auch mich, das Mädchen, das sich auf dem weichen Sofa mit dem geblümten Bezug rekelte. Ich brauchte ein Jahrhundert, um zwanzig zu werden, ein Berg von Empfindungen, in einem Tagebuch getrocknet und eing e sperrt, Erinnerungen, die mich seither verfolgen und mich einho len, wenn ich allein bin. Ein Wort, eine Melodie, und ich blicke zurück. Ein fremder, gehei mnisvoller Name kann mich beu nru higen, bedrohen, die unerträgliche Gewißheit, es schon einmal erlebt zu haben, stört ein paar Stunden lang das geduldige, kra ft lose Spiel, das nun mein Leben ist. Ich stelle mich meinem Übe r druß mit der Verzweiflung des Matrosen, der gegen den Sturm
ankämpft, und kehre immer wieder zurück in das Haus meiner Kindheit, wo Dinge, die eine Seele haben, meine Rüc kkehr er warten. Meine Puppen tragen immer noch ihre knister nden Taftkleider, auf dem Speicher rascheln immer noch die Mäuse, die Haustürglocke bimmelt leise, wenn der Wind weht, die Vogel wetzen ihre Schnäbel an der Dachrinne, der Hahn kräht immer noch heiser, alles bleibt, wie es ist, nur ich nicht, die Durchre i sende, die man vergißt, sobald sie wieder fort ist. Der Anschlu ß zug wird ausgerufen, du hast keine Zeit, die Koffer auszupacken. Ich bin zweiundzwanzig, zweimal elf, ich bin zu schnell gega n gen, ich habe den falschen Weg eingeschlagen, ein verhängnisvol ler Fehler. Ich hätte eine von diesen gutverheirateten jungen Frauen sein sollen, Kinder großz iehen, die genauso normal sind wie der Vater, der sie abends vom Fernseher wegscheucht. Ich hätte bei ausgedehnten Diners geglänzt, wo man mich verstohlen gemustert hätte; ich hätte am freien Tag des Mädchens den geheimen Zauber der Hausarbeit kennengelern t; ich hätte, fre i lich nur an jenem einen Tag, die Suppe mit dem Gartengemüse aufgewärmt, das wohlerzogenen Kindern rosige Wangen schenkt; ich hätte die Grüße der Nachbarn mi t der Herausf orderung zufriedener, eleganter Frauen erwidert . Ich hätte in einer Pro vinzstadt mit schattigen Alleen gelebt, hochmütig , gedämpft und lau, wo Anstand und gute Manieren noch im Konjunktiv Plusquamperfekt konjugiert werden. Ic h hätte das berauschende Abenteuer der alljährlichen Reise nach Paris erlebt, wo mich der schäbige Liebhaber erwartet hätte, um meinen scheinheiligen Körper durch seltene Lust zu erniedrigen. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte es gekonnt. Aber ich war zu schön. Ich hatte alles: den unwiderstehlichen Charme, das Auftreten, die Ausstrahlu ng, all das, was Männer verliebt macht, schüchtern, zuvorkommend, brutal, närrisch, bedrohlich, verwirrt. Wie oft habe ich Antonius von Padua, den ich verehre, darum gebeten, mir eine schiefe Nase zu geben , ein spitzes Kinn, eine zu hohe Stirn, eine weniger sanfte Haut, ir gendeinen Makel, damit ich nicht mehr diese vollkommene
Schönheit bin, die auf Mode und Schminke verzichten könnte, ohne etwas von ihren Reizen einzubüßen. Nicht gerade häßlich hätte er mich machen sollen , aber auch nicht sch ön, meinetw e gen so unscheinbar wie eine brave Ehefrau oder eine freudlose Jungfer. So weit ich zurückdenken kann, hat man mich mit Ad jektiven überschüttet, die nichts besagen. Ich war der Reihe nac h schelmisch, keck, frühreif aufreizend . Dann sagt e man, ich sei »vielversprechend«, und ic h sei »kein Eisschrank«. Ich wurde »kokett«, »bezaubernd«, »hinreißend« und »sexy«. Kürzlich erhob man mich in den Rang der »Exhibitionisten«. Ich begriff sehr früh, daß eine Geste oder ein Blick genügte, um die Erwachs e nen, die mir imponierten, nervös und verwundbar zu machen. Ich lernte, kehlig zu lachen, unter halbgeschlossenen Lidern hervorzublicken, zärtlic h zu seufzen. Stundenlang übte ich im rosigen Licht meines Zimmers Blicke zu werfen und lässig zu gehen, ich lernte, den Kopf sehr langsam zu wenden und träume risch um mich zu schauen, und studierte die Wirkung in den vielen, geschickt angebrachten Spiegeln, in denen mein Blick sich im Unendlichen verlor. Ich übte, plötzlich zu erbeben, leise zu stöhnen, die Hand auf den Ansatz meines Busens zu legen, mit den Fingern zu zittern, meine gezupf ten Augenbrauen kaum merklich hochzuziehen und meine hellblauen Augen mit Mela n cholie zu tränken. Wenn ich sicher war, eine gute Pose gefunden zu haben, testete ich sie so fort bei den sehnigen, weißgekleideten jungen Leuten, die meine Mutter täglich besuchten, in der ung e hörigen Hoffnung, unvermutet auf mich zu treffen. Ich beobach tete meine Triumphe und kostete meine Siege aus. Es bereitete mir Vergnügen, zu sehen, wie ein junger Sportler errötete und unbehaglich au f seinem harten Stuhl hin und her rutschte. Ich kannte keine Gnade und ließ das gequälte Gesicht meines Opfers nicht aus den Augen: Ich habe Sportler nie ausstehen können, und ein verliebter Sportler ist für mich eine biologische Absurd i tät! Ich wurde unwi derstehlich, und die Männer sanken mir zu Füßen, plumps! Ich war kokett und kapriziös, egoistisch und kalt, zynisch und arrogant, verdorben und leichtsinnig, treulos und
verlogen, ich habe ihnen jeden Tort angetan. Biest, sagt ihr? Viel schlimmer. Ich empf inde die schlimmste Scham, die es gibt: die rückblickende Scham. Doch zwischen jenem Entmannungswahn und dem dunklen Abgrund, in dem ich mich heute jammernd befinde, geschah etwas, was ich nicht für mich behalten konnte. Ich habe zuviel erzählt, meinen Fre unden, meinen falschen Freunden, den Redakteuren großer Illustrierten, zuviel, um das schreckliche Abenteuer zu ve rschweigen, das ein begehrtes Topmodell in eine arme kleine Heulsuse verwandelte. Ich bereue und gestehe. Ich gehöre nicht zu denen, die vor geben, sie könnten ein Buch schreiben, und dann von ihrem Slip reden, als wäre er das heilige Grabtuch von Turin, ich habe keine Ahnung, wie eine Beichte anfängt, ich versuche es einf ach mal so: Ich bin 22 Jahre alt und heiße Joy. Sprecht es bitte nicht Fran zösisch aus, wie Joie, das ist schauderhaft sagt bitte joy, weil es ein amerikanischer Vorname ist. Mein Vater war Amerikaner, und da Mama Feingefühl besitzt, wollte sie mir einen Namen aus seiner Heimat geben. Dieser Vorname, der mir mein Leben oft kompliz iert hat, ist übrigens das einzige, was Papa mir hinterlassen hat. Unmittelbar danach ist er verschwunden, und wir haben ihn nie wiedergesehen. Ich habe ihn nicht gekannt, meine Mutter hatte nicht mal die Zeit, ein Polaroid-Foto von ihm zu machen: ein verr egnetes Osterwo chenende in La Croix-de-Vie, und als Andenken ließ er mich zurück. Vater unbekannt. So habe ich mir einen Papa ausgedacht, einen echten Cowboy, blond und stark, der Leuten half, denen Unrecht geschehen war, der alles konnte, Blockhütten baue n und wilde Pferde zureiten, der in der Lage war, mit einem einzigen Wort alle meine Sorgen und Ängste zu vertreiben. Ich habe lange geglaubt, er würde mich eines Tages von der Schule abholen und in einem grünen Cadillac mit Antennen auf den Heckflossen entführen, aber er kam nie. Ich bin sicher, er lebt irgendwo, vielleicht sogar in meiner Nähe, in Frankreich, in Paris, in me i nem Viertel, an der Ecke meiner Straße, ohne eine Ahnung von dem süßen kleinen Fratz zu haben, den er an einem verregneten
Ostern in La Croix -de-Vie in der Vendee gezeugt hat . Wenn ich einem großen blonden Mann begegne, drehe ich mich oft mit klopfendem Herzen um und will »Papa!« rufen, aber die großen blonden Männer gehen immer weiter, ohne den Kopf zu we n den. Mama sagte mir, er sei ei n schöner Mann gewesen, aber sie übertreibt immer ein bißchen. Ich bete sie an, meine Mutter, sie schenkte mir alle Liebe dieser We lt, und vielleicht noch mehr. Wir haben eine zweischneidige, leidenschaftliche Beziehung, jeden Moment kann die Liebe übe rkochen, zweimal 100 Watt stark, und nicht endendes, zerbrechl iches, entzweites Schweigen, wer zuerst den Mund auftut, kann was erleben. Sechs Monate ohne Anruf, und dann lassen wir uns von den angestauten Fr u strationen fortschwemmen, Spaghetti beim Italiener, wir schlafen in einem Bett, Mama , es tut so weh, und sie versteht, sie nimmt mich in die Arme, ich lutsche am Daumen, sie singt sogar ein Lied, und wenn sie singt, hat sie Ähnlichkeit mit Ro my Schne i der, die gleichen Augen, das gleiche St rahlen, ganz anders als ich mit meiner blonden, ins Rötliche spielenden Mähne, meinem zu großen Mund und meinen Pfe rdezähnen. Es stimmt, ich habe Pferdezähne, sie stehen auseina nder und sind schrecklich weiß, die Leute sagen dauernd: »Was für schöne Zähne du hast!« Ich finde sie viel zu groß, ich hätte lieber winzige, perlmuttfarbene Beißerchen, aber ich habe leider Pferdezähne. Meine Mutter lebt mit einem Schweizer zusammen, der rote Haare und eine Zweistärkenbrille hat. Ich kann ihn nicht ausst e hen. Er ist spießig, er ist verkniffen und rothaarig und in allem das Gegenteil von dem starken blonden Cowboy, aber er strotzt vor Schecks und Kreditkarten, schweizerisch, trübselig, er giert mit den Augen nach meinem Rock, und seine Lippen werden feucht, wenn wir allein im Zimmer sind. Wir gehen uns aus dem Weg seit dem denkwürdigen Abend, als er mich, von lauwarmem Champagner beschwipst, lachend aufs Sofa stieß, während Mama in der Küche eine Fondue à la savoyarde vorbereitete. Er hob meinen Rock hoch, streichelte meine Schenkel, Mama überrasch te uns, ich vorgebeugt und bis zu den Hüf ten entblößt, er mit
dem Gesicht an meinen Knien und einer Hand auf dem weißen Dreieck meines Slips. Ich werde nie vergessen , wie sie vor uns stand, den dampfenden Topf in der Hand, rührend gefaßt. »Hört mal, seid vernünftig, ihr könnt doch in eurem Alter nicht mehr wie die Kinder spielen!« rief sie lächelnd. Mir war speiübel. Albert lachte rauh, seine Brillengläser waren beschlagen, und Mama schien mir sagen zu wollen: Weißt du, Joy, sie sind alle gleich, sei ihm nicht böse, du bist so sch ön, er konnte einfach nicht anders, der Champagner war lauwarm, aber es ist nicht von Bedeutung, was dich und mich betrifft… Ich kann seitdem kein Fondue à la savoyarde mehr sehen, ich besuche Mama in ihrer scheußliche n Maisonettewohnung in der Avenue de Breteuil nur noch, wenn Albert in Lausanne ist. Ich bin 22 Jahre alt, blond und blauäugig wie Millionen andere Mädchen. Der angeblich aufreizende Blick ist in Wahrheit der Blick einer Kurzsichtigen , denn ich bin blind wie ein Maulwurf. Wenn ic h meine Lehrerinnenbrille vergessen habe, kann ich einen Bus auf 20 Meter Ent fernung nicht sehen und verwechsle meine Träume mit der Wirklichkeit. Es ist nicht leicht, über sich selbst zu sprechen, aber es gehört zur Begleichung mei ner Schuld. Falls es euch also interessiert: Ich bin groß und dünn. Ich habe schöne Brüste, sie sind schwer und rund, zweifellos mein amerikanisches Erbteil, ich habe Millionen Liter Milch getrunken, davon sind meine Brüste stramm geworden, es liegt daran, daß die Amerikanerinnen soviel Milch trinken, daß sie so volle Brüste haben, habt ihr das gewußt? Meine Brüste sind hart und stehen etwas nach oben, ich mag sie und streichle sie oft: Ich habe sensible Brüste, empfindlich wie Radar, ich weiß nicht, warum Brünette eifersüchtig auf Blonde sind. Sicher, Blonde reden nie davon, sich die Haare rabenschwarz zu färben, während die meisten Brünetten davon träumen, blond wie Schwedinnen zu sein. Ich verstehe sie nicht: Brünette sind doch umwerf end, siehe Mama! Der Zufall wollte, daß alle meine Rivalinnen brünett waren, neben ihnen sah ich aus wie ein Schluck Wasser. Meine Blondheit fasziniert die Männer, aber nicht die guten. Eine echte
Blondine ist eine Sehenswürdigkeit. Wenn ein Mann sie das erste Mal auszieht, verliert er den Verstand, er kommt ins Schwärmen, vergleicht und kommentiert. Einer von ihnen fiel mir eines Tages röchelnd, mit glasigem Blick zu Füßen: »Du bist ja ganz golden und rosig!« Ein schöner Kunstgegenstand ist des Umwegs und der Mühe wert. Ich li eß die Huldigungen an meine Schönheit mit Genuß über mich ergehen, ein armes, unbedarftes Dummchen, das sich an der unerträglichen Weite des Nichts weidete. Von einem Augenblick zum andern verlor ich den Appetit, und meine Ungezwungenheit, ich konnte nicht mehr lachen, ich konnte bei schicken Dinner -Parties keine albernen Witze mehr erzählen, ich habe nie wieder einem Verehrer Eiswürfel in den Kragen gesteckt, nie wieder in dunklen Avantgardekinos um Hilfe gejuchzt, ich bin an einem Tag um tausend Jahre gea ltert. Falten und Ringe unter den Augen, alt und zerknittert und abst o ßend wie der Küster von Sarcre -Cœur. Ich liebe. Vom Blitz getroffen, von bösen Kräften überwältigt. Seit vier langen und unerbittlichen Jahren liebe ich denselben Mann. Er brauchte nur einen Finger zu heben, und ich würde zu ihm lauf en, mich vor ihm niederwerfen, ich bin bereit, alles aufzugeben, ohne etwas zu verlangen, ohne etwas zu erhoffen. Er kann mit mir machen, was er will, ich akzeptiere alles, ich unterschreibe alles, ich verzich te auf meine Rechte, ich verschenke mich, ich kenne das Wort Freiheit nicht mehr. Meine Liebe ist nicht wie die der anderen, sie ist schöner, stärker, edler, und weil sie sublim ist, kann ich sie ertragen. Ich bin total definitiv zu haben. Meine Liebe ist über wirklich und phantastisch, und dank ihrer we ide ich an der Seite Juliettes, Helo ises und anderer Früchtchen meiner Art in die Legende eingehen. Marc Charroux, im Namen der nicht erhörten Ver liebten, der Stuhlverleiherinnen, die so viele Schmachtende au f den Parkbä n ken gesehen haben, der leidenden Nonnen, die ihr Geheimnis noch auf dem Sterbebett wahren , der trinkfesten Mannweiber, die kriminell werden, der Musen und Nymphen, der Nachtwan d
lerinnen, der Stummen, ich stelle mich vor dich, ich trete dir in den Weg, schneide dir den Rückzug ab. Du wirst keine Ruhe mehr haben. Wo du auch bist, das Gift meiner Eri nnerungen wird dich verfolgen, nie wirst du diejenige vergessen, die ich hätte sein können, du schmutziger Lügner, du mittelmäß iger Eh e mann. Verheirat et, zwei Kinder, gesicherte Position , höhnische Grabinschrift eines unnützen Lebens. Aber Mama hatte mich gewarnt: »Finger weg von verheirateten Männern! Sie sind alle Lügner und Egoisten, du kanns t ihnen noch soviel geben, sie werden dich zappeln lassen bis in alle Ewigkeit, und jedesmal, wenn du gesiegt zu haben glaubst, ziehen sie sich wieder zurück, du wirst es sehen. Verheiratete Männer sind Männer ohne Wochenenden, die mitten in der Nacht nach Hause gehen, die sich davonstehlen, während du schläf st, ohne dich vorher zu küssen, weil sie Angst haben, dich zu wecken. Wenn du die Augen aufmachst, bist du allein mit der Lust, die zurückgeblieben ist und so schwer auf dir lastet, daß sie dich zu ersticken droht. Joy, mein Liebes, verheir a tete Männer, das ist die unaufhörliche Flucht, das sind Komödien am Telefon, Restaurants, die man meiden muß, Reisen , die man immer wieder verschiebt, einsame Weihnachten, Silvester allein mit der Flasche, vielleicht acht Tage Halbpension in Hammamet, wenn es sich mit den Sch ulferien vereinbaren läßt, aber unter falschem Namen. Verheiratete Männer sind Entfesselungsküns t ler, die immer an zwei Orten zugleich sein möchten, aber ihre Nummer ist schlecht, und sie schaffen es nie, sich aus ihrem Käfig zu befreien. Ihr unsteter Blic k spiegelt die Angst vor der vergessenen Kleinigkeit, den Gedanken an das Sandkorn, das ihr kompliziertes Räderwerk zum Stillstand bringen kann. Sie sagen nie ja, sondern vielleicht, sie spicken ihre Sätze mit wenn und aber, Grammatiker der unbestimmten Zu kunft, Künstler des Konditional, geniale Lügenarchitekten. Sie kultivieren die Unau f richtigkeit: Du hast mich gesehen, nicht möglich, nicht mit ihr, niemals, ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist. Ehrenworte, Schwüre, empörte Proteste, der Himmel is t mein Zeuge, wenn er
sonst zu nichts nütze ist, bei meinem Sohn, vor allem, wenn er über achtzehn ist, und wenn ihnen nichts anderes mehr einfällt, flüstern sie atemlos, während sie dich aufs Bett pressen: ›Und das, ist das etwa kein Beweis, daß ich dich liebe?‹ Joy, mein Lieb ling, sie lieben dich alle, wirklich – solange du nicht zu weit gehst. Überschreite nie die Grenze, du hast immer nur ein Recht auf die Nebenrolle, du wirst nie die erste Geige spielen, nie werden sie diejenigen verlassen, die sie in dem Haus erwartet, wo die Kle i nen schlafen…« Ich zuckte mit den Schultern, du übertreibst, Liebes, du redest, wie du es verstehst, du glaubst doch selbst nicht, was du da sagst, jetzt ist es genug. »Joy, du gehörst nun mal nicht zu den Mädchen, die man hei ra tet! Joy, mein Liebes…« Es tut weh im Herzen, dieses unwiderrufliche Urteil, dieses Los, das Mama mir ausmalte. Joy -mein-Liebes, diese drei ane inander gehängten Worte, die so oft geflüstert werden, Briefe einleiten, Nächte beenden. Flehend, drohend, ironi sch, bitter, laut im Lustschrei, leise in der schwarzen Telefonmuschel. Joy -meinLiebes, drei kleine, abgedroschene Worte, die vor meinen Augen tanzen, mit roter Tinte oder Filzstift geschrieben, in zerknüllten Telegrammen, in Abschiedsbrief en, die in der Hand zittern und mit Tränen getränkt werden. Drei kleine, idiotische Worte, sie flattern aus Geschenken, die ich zurückweise, Car tier, Van Cleef und Boucheron, kenne ich nicht, und schmücken diejenigen, von denen ich träume, ohne si e je zu bekommen. Ich brauchte einen Koffer, um all die Joy-mein-Liebes unterzubringen, die man mir geboten hat, einen Koffer, den ich hinter mir herziehe und in einem schwachen Lichtschein fieberhaft durchwühle, wie eine Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat und nur das eine Jo y-meinLiebes sucht, das sie haben will, das eine, das er nie sagt, nie geschrieben, nie gesungen, nie gerufen hat. Er hat mich nie »Joy mein-Liebes« genannt, das läßt mich nicht los und bringt mich um, für ihn war ich nur Joy, und heute bin ich gar nichts mehr.
Ich ließ mich treiben, ertrug die Menschen und die Dinge, Tag und Nacht, ich war immer auf der Flucht und lauerte, auf einen Schlüssel, der sich im Schlo ß dreht, eine Stimme, ein nächtliches Taxi, ließ mich fortschwemmen von der Flut der Freunde, Li eb haber, Affären, Schimären, ließ mich retten oder reparieren, mein Motor macht so ein komisches Geräusch, würden Sie mal nach sehen, was es ist? Ich ließ mich umschlingen, mitreißen, umf an gen, küssen, ich gab allem nach, den Launen, der Lust, dem Laster, das die Zeit so gut vertreibt, das arme, alleinstehende Mädchen, du bist so schön, Joy, wie wär’s mit einem Wochene n de am Meer, es ödet mich an, doch ich klammere mich an die Requisiten meiner Tragödie: eine schwarzglänzende Straße, Nantes im Regen, ein erl euchtetes Fenster nachts, das Hinter zimmer der Kneipe um die Ecke, der rote Neonschriftzug eines Hotels, der Parkplatz, der als Zimmer diente, wenn wir es eilig hatten, die weißen Vorhänge der Mietwohnung, die wir nie be wohnen würden. Mist, dieser Breitwan dfilm in Grau. Ich fuhr nach Hause, ich drehte den Schlüssel zweimal herum, ich warf mich aufs Bett, vergrub den Kopf im Kissen, um seine Stimme nicht mehr zu hören, um nicht mehr zu sehen, was er tat, wenn er plötzlich aufhörte zu reden und mich an sich zog, sich gegen mich preßte, mich pfählte, so daß ich vor Schmerz schrie, es tat weh, er tat mir so weh, wie er konnte, und er sagte nie ein einziges Wort, wenn er sich aus mir löste, Marc Charroux, Scheusal, Dämon, schlag dich, wenn du ein Mann bist! Er sa gte nie etwas, nicht ein Wort, keine von diese netten Banalitäten, nicht ein einziges »Joy -meinLiebes«.
A
lles vergeht, alles ermüdet, alles nervt. In jener Zeit sagte Joy ihren Jüngern: »Nehmt und eßt: dies ist mein Leib.« Ich blätterte in meiner Bibel , dem Terminkalender mit der Vuitton Hülle, heilige Schriften, Vornamen und Telefonnummern, die der Wind verweht, kurze und monotone Sequenzen, die einem jeden Mut nehmen, wie kalte Morgen, an denen man sich in die Decke kuschelt und nicht die Augen öffnen mag. Ich verabscheute meine Gefährten der Nacht, es waren Schreie ohne Sinn, Ab schiede ohne Beda uern. In jener Zeit genügte es, Joy an einen weißen Strand zu führen, mit Palmen und so, um alles von ihr zu erhalten, was sie geben konnte: eine Leidenschaft, die durch das Klima, den roten Pfeffer und das totale Fehlen jeder and eren Zerstreuung, außer der Sonne bei Tag und der Liebe bei Nacht, begünstigt wurde. Die Rückkehr nach Roissy war jedesmal ein Alptraum, schwere Koff er voll schmutziger Wasche und Tour i stenschund. Ein schnelles »Bis bald«, das »Lebewohl« hieß, und ich stand wartend im Regen am Taxistand, und meine Sonne n bräune verwandelte sich in Grau. Das Ende eines Abenteuers, selbst des kürzesten, ist ein Wettlauf mit der Uhr, und jedesmal gewinnt der jenige, der als erster geht ; ich dumm e Gans bleibe immer etwas zu lange und verliere, wei l er, das Miststück, genug Zeit gehabt hat, mich fortzuschicken, und dann fängt alles wieder von vorn an. Die schmachvolle Flucht mit Koffern voll ung e ordneter Erinnerungen, das Abschiedslied, allein in der Wohnung und Warten, Warten ohne Ende. Ich lauerte späten Passanten auf, ein flehender Blick , ein Lä cheln, der Beweis, daß ich noch existierte für all diese kalten, widerwärtigen Männer, diese Typen, die ich alle auf einmal ken nen wollte, um schneller voranzukommen, um weniger Zeit zu verlieren, um zu finden. Ich versuchte alles. Ich schlenderte an den Schaufenstern teurer Boutiquen in feinen Straßen vorbei. Ich besuchte Museen und Ausstellungen. Ich fuhr spätabends mit der Metro. Ich ging in bekannte Straßenca fés. Ich las zitternd die Anzeigen in der Libération und im Nouvel Observateur. Ich ging zur
Sorbonne und zur Alliance Fran çaise. Ich war Stammgast in den progressiven Kinos. In der Cinémathéque. Ich trieb mich de n ganzen Sonnabend auf dem Flohmarkt herum . Ich wurde von einer Woge der Leidenschaft getrieben. Ich hechelte wie ein Jagdhund. Beim kleinsten Signal setzte ich meine Lehrerinne n brille auf und verzog meine samtenen Lippen zum betörendsten Lächeln. Ich hatt e das Bedürfnis, geliebt zu werden. Ich war zu allem bereit. Ich hätte mein Lebe n gegeben für den einen, aber gekommen sind die anderen. Die Schweigsamen, die Überhöfl i chen, die sich nicht gleich trauten, die Aufdringlichen, die sich zu mir an den Tisch se tzten und mich frech anglotzten. Sie haben mich wissen lassen, daß die Frau, die zu haben ist, sich prostit u iert: Sie erwartet den Kunden in dem Bewußtsein, daß sie viel geben wird, um als Lohn eine magere Zärtlichkeit zu erhalten. Die Ungeniertheit dieser Männer war abstoßend. Sie sprachen mich an, als sei ich einzurückgebliebenes Kind, und taxierten mit gierigen Blicken, was ich gut verbergen konnte. Sie fragten sich nach der Wölbung meiner Hüften, kalkulierten die Festigkeit meiner Brüste. Ich zuckte zus ammen bei diesen Angriffen, preisgegeben und angewidert, obgleich ich sie scham los provoziert hatte, ich raffte meine Illusionen zusammen und floh, so schnell ich konnte, fort von dieser wimmelnden Menge, weit fort. Durch meine unschlüssigen Weigerungen de r Einsam keit preisgegeben, durch meine hartnäckige Suche nach dem Absoluten isoliert, entfernte ich mich langsam von der Stadt und ihrem Lärm. Ich schloß mich ein in dem Zimmer, das nach Jasmintee duftete, und liebkoste mich stundenlang, spannte alle Muskeln meines Körpers, bis es schmerzte, und wartete auf den einen großen Orgasmus, der alle Gespenster verjagen würde. Ich las die Stunden an den Schatten ab, die über die Decke krochen. Ich lag halb über dem Bettrand, den Kopf in weichen Kissen, und bearbeit ete meinen Körper. Ich kannte seine kleinsten Schwächen und gab mir Mühe, ihn grausam zu quälen. Ich verstand es, die Spitzen meiner Brustwarzen zu reizen, bis ich es nicht mehr aushalten konnte, ich rieb die Innenseiten meiner
Schenkel gegen den Flaum, bi s ich die Wä rme meines Ge schlechts in den Fingern spürte. Ich berauschte mich daran, atmete trunken seine süßen Düfte, das schwere und klebrige Aroma, das betörende Öl, das langsam auf die bestickte Decke tropfte, in die ich mich drückte, um vor Glück zu weinen. Diese doppelte Suche nach dem Mann und nach mir selbst beschäftigte mich Jahre. Ich hatte schon so lange masturbiert, daß es eine unerläßliche Funktion war, ein grundlegendes Bedürfnis, auf das zu verzichten ich mir nicht träumen ließ. Ich hatte oft das unb e zwingliche Verlangen, meinen Körper zu berühren, und mußte es augenblicklich befriedigen. Ich knöpfte meine Hemdbluse auf und faßte zärtlich nach meiner Brust, oder ich drückte zwei Finger unmerklich durch den Rock in die Wunde meines Ge schlechts und empfand bei dieser so selbstverständlichen Berü h rung die gleiche Lust , die ich bei der brutaleren Inbesitznahme durch eine fremde Hand gefühlt hätte. Ich war verliebt in mich selbst. Abend s schob ich den Auge n blick, in dem ich mi r nachgeben würde, so lange wie möglich hinaus. Ich kämpfte gegen die Wogen der Ekstase, die in mir aufbrandeten. Ich benutzte Mittel , die mich erzittern ließen, streichelte mich ohne Ende, reizte die empfindlichste Partie mit dem Fingernagel. Ich wand mich hin und her, um anstö ßige Stellungen einzunehmen, ich öffnete mich, bis es weh tat, um bewundern zu können, was ich auf diese Weise darbot. In meiner blühenden Phantasie übertrieb ich die Schamlosigkeit meiner Hingabe, das Leuchten der Quelle, die sich zwischen meinen Schenkeln ergoß. Vor meinem inneren Auge zogen unerträglich große Bilder vorbei, denen ich nicht widerstehen konnte. Ich pfählte mich mit beiden Händen und führte mich zu einer Erl ö sung, deren Heftigkeit ich zu erliegen fürchtete. In meinem Bedürfnis nach mir selb st zog ich mich täglich mehr von den anderen zurück, und diese Zeit war die glücklichste meines Lebens, weil ich mich nie betrog. Bei einer jener Wallfahrten des Fleisches begegnete ich ihm. Seitdem sind vier Jahre vergangen, aber die Begegnung ist mir bis
in die kleinsten Einzelheiten gegenwärtig geblieben. Es war der 18. August, und wir beerdigten einen Onkel aus der Provinz an einer abgelegenen Ecke des Friedho fs Pére-Lachaise. Die bleie r ne Sonne lastete auf den wenigen Getreuen, die ihren Urlaub abgebrochen hatten oder auch nur der Hitze widerstanden, um Gaspard Tulard, einem Onkel von Mama, den letzten Dienst zu erweisen. Ich hatte ihn nie gesehen, obgleich er wie ein Schatten über meiner Kindheit hing. So weit ich zurückdenken kann, hatte man an meinen blonden Locken jene schreckliche Drohung gezischt… »Wenn du nicht artig ist, bringen wir dich einf ach zu Onkel Gaspard.« Onkel Gaspard wurde für mich zu einem Wolf, einem scheußli chen und erbarmungslosen Ungeheuer. Ich deckte die böse Lüge erst Jahre spät er auf. Als Mama ihre Sachen ordnete, fiel ihr ein Fotoalbum in die Hände. Sie blätterte darin und rief unvermittelt aus: »Da ist ja Onkel Gaspard!« Armer Gaspard Tulard. Jahrelang hatte ich ihn mir als gehör n tes, buckliges Monster vorgestellt, das mit sei nen Klauen kleine Kinder packte und verschlang und eine Familie nach der anderen in Ver zweiflung stürzte. Onkel Gaspard war nichts von alldem. Eine hohe Stirn unter lichtem Haar, das Bäuchlein stolz herau s gedrückt, wie es die Herren einer vergangenen Epoch e zu tun pflegten, eine rührende und zugleich rätselhafte Gestalt auf einem vergilbten Foto. Der schwarze Gehrock fiel untadelig auf die gestreifte Hose, die Schnürstiefel glänzten auf dem Perse r teppich. Sein Blick war faszinierend. Ein Blick, der so weit reichte, daß mir schwindelte. Ein Blick, der so viele Dinge versprach, daß mir unbehaglich wurde. Während ich das Bild betrachtete, trat Mama hinter mich und flüsterte über meine Schulter hinweg: »Ein merkwürdiger Mensch, dieser Gaspard. Er war die Schande und der Stolz der Familie. Der Stolz, weil er das erste Automobil im ganzen Departement besaß und alle Leute zusahen, wenn wir sonntags morgens zu unseren Spazier fahrten aufbrachen. Die
Schande, weil er eines Tages, als er aus dem Bistro kam, wo er mit se inen Jugendfreunden den Aperitif nahm, einen närrischen Einfall hatte: Er machte ein Freudenhaus auf. Gut, er war Jun g geselle, aber trotzdem…« Gaspard Tulard hatte ein Bordell gehabt. Er hatte es nicht wirk lich geführt, es war nur ein Mittel gewesen, um di e Zukunft seiner Freundin zu sichern, der »Tante« Germaine, der er das Haus am Stadtrand von Limoges überließ. Er hatte sein Leben zwischen Paris, wo ihn wichtige Textilgeschäfte beanspruchten, und Limoges geteilt. Eines Morgens war er im Bett gestorben, den Namen Germaines auf den Lippen. In den letzten Monaten war Gaspard schon ein bißchen verkalkt gewesen, er erinnerte sich nicht mehr daran, daß Germaine lange tot und das Freude n haus in Limoges längst geschlossen war. Er hatte es nie verkau fen wollen, und es verfiel langsam, während rings umher Ferti g häuser wie Pilze aus der Erde wuchsen. Eines Tages blieb ich auf dem Heimweg davor stehen. Ich machte die Tür auf und betrat den halbdunklen Salon, wo sich die rotgoldene Tapete stellenwei se von den Wanden lö ste. Die abtransportierten Möbel hatten ihre Spuren auf den Teppichen hinterlassen, und ich glaubte wuchtige Büfetts, polierte Tische, tiefe Betten zu sehen , in denen Onkelchens Zöglinge geschlaf en hatten. Ein staubiger großer Spiegel verbarg vergessene Um schlingungen unter seiner erbli n deten Folie, und träumerisch stellte ich mir die schwellenden Hüften eines Landmädchens unter den stürmischen Attacken eines bezechten Stadtrats vor. Ich schloß die Tür hinter dieser verlorenen Welt, diesem nächtlichen Paradies, wo die Damen auf die Herren warteten, während sie, die üppigen Formen von seidenen Geweben verhüllt, im Salon plauderten, und bedauerte, daß ich mich nicht ein einziges Mal zu ihnen hatte gesellen kö n nen, um darauf zu warten, daß ich erwählt würde. Der Sarg wurde in die trockene Erde hinabgelassen . Mama fä chelte sich mi t der Hand Luft zu. Ich wandte den Kopf zu den stummen Gestalten, und ich sah ihn. Er hatte die Hände in den Taschen seines Sommeranzugs und fixierte mich. Sein Blick war
nicht liebenswü rdig. Er musterte mich dreist, und unter seinem schamlosen Blick wurde mir unbehaglich zumute. Ich beugte mich kaum merklich vor und tat so, als betrachte ich das offene Grab, und drehte mich dann wieder langsam zu ihm. Er starrte mich immer noch an, und ich dachte bei mir, er muß ein unang e nehmer Zeitgenosse sein. Ich hätte ihn am liebsten auf gefordert, unsere Trauer nicht zu stören, denn eine Beerdigung sei kein öffentliches Schauspiel. Er war braungebrannt, ich fand, er sah sehr gut aus. Mama beugte sich zu mir. »Joy, wir werden beobachtet.« Ich wußte nicht, ob sie ihn meinte oder unsere Angehörigen, die leise schnieften und sich die Stirn abwischten. Der Pfarrer wandte sich zu uns um. Auch er betrachtete mich. In diesem Moment betrachteten mich alle. Das eindringliche Murmeln des Gebets drang zu mir. Ich war krank vor Scham, aber ein unw i derstehliches Bedürfnis trieb mich, zu diesem Mann zu gehen, mit ihm zu reden. Unruhige, unbestimmte Gedanken, die ich auf die Hitze zurück führte, bestürmten mich. Wie ge rn hätte ich mich gestreichelt, langsam meinen Slip ausgezogen und diesen verdammten Kerl herausgefordert! Meine Beine zitterten. »Ist dir nicht gut?« fragte Mama. »Ich muß in den Schatten«, antwortete ich. Ich ließ die anderen stehen und lehnte mich an einen Baum. Als ich mich umdrehte, war er fort. Ich suchte ihn im Wald der Kreuze und Grabsteine und sah, wie er langsam zum Ausgang schritt. Ohne zu überlegen ging ich ihm nach, überließ Mama und Gaspard ein fach ihrem Schicksal. Ich wollt e diesen Mann haben, ich mußte ihn haben. Die Luft war stickig. Ich schwitzte, mein schwarzes Kleid klebte an meiner Haut. Ich fing an zu laufen. Eine Frau, die einen Topf bleicher Blumen in der Hand hatte, sah mich vorwurfsvoll an. Vor dem Eingang zum Friedhof schlenderten Passanten vorbei Ich achtete nicht auf die Blicke, die sie mir zuwarfen. Er war vor einem schwarzen Auto stehe n geblieben und stieg ein, ehe ich über die Straße eilen kon nte. Als er mich sah, lächelte er wissend und machte ein freches Zeichen.
Diese kleine, spöttische Geste trieb mir die Röte in die Wangen. Er hatte verstanden, was ich wollte, und kostete seinen Sieg aus , seinen zweifachen Sieg, denn er fuhr langsam an, ohne den Blick von mir zu wenden. Die Botschaft war klar: »Ich mag keine Frauen, die wählen.« Ich hatte noch nie eine solche Abfuhr erlebt . Das schwarze Auto fädelte sich zwischen zwei Bussen ein und verschwand. Gedemütigt und zornig, aber auch voller Angst, ihn nicht wi e derzusehen, ging ich zum Friedhof zurück. Ich verlor mich im Schachbrettlabyrinth der Wege, wo die lastende Hitze den Du ft welker Blumen atmete. Hinter einem Grabmal bemerkte ich eine Gestalt, die sich an ein schwarzes Marmorkreuz lehnte. Als ich näher kam, ging ich langsamer und sah einen großen, gutauss e henden Burschen mit lockigen Haaren, der mir einen flackernden Blick zuwarf. Ich Närrin glaubte, er fühle sich nicht gut, ein Sonnenstich oder gar ein Hitzschlag, und ging hilfsbereit auf ihn zu, nicht ohne meine Brille mit den runden Gläsern aufzusetzen. »Sind Sie krank? Brauchen Sie etwas?« Der große Bursche sah mich überrascht an und senkte den Blick. Ich sah ebenfalls nach unte n und entdeckte sein Ge schlecht, das er aus der Hose geholt hatte und leidenschaftlich masturbierte. Ich trat einen Schritt zurück, ohne freilich etwas anderes zu sehen als das Glied, das er vor mir entblößte. Er beschleunigte den Rh ythmus, ich schüttelte traurig den Kopf, er sah mich flehend an, und ich weiß nicht, warum, aber ich blieb bis zuletzt stehen, bis er sich stöhnend wie ein Kind und so heftig, daß der Saum meines schwarzen Kleides das Zeugnis seiner Lust empfing, seines Samens entledigte. Er blieb vor mir stehen, ohne sein Geschlecht loszulassen, als wolle er erfahren, was sein Akt hervorgerufen hatte. Ich hätte gern mit ihm geredet, ihm erklärt, daß auch ich solche Anwandlungen hätte, denen ich auf der Stelle nachgeben müßte, daß ich von ganzen Busladungen schweigender Männer träumte, die mir zusähen, ohne die kleinste Bewegung zu machen. Ich hätte ihm gestehen können, daß ich
mich jeden Abend selbst befriedigte, daß ich ihn verstünde, doch ich sagte nichts, ich murmelte nur: »Wie schade…« Ich lächelte ihn hil flos-komplizenhaft an und ging weiter, und er blieb, unglücklich und enttäuscht, die Hand um sein Glied, an das Kreuz gelehnt stehen. Onkel Gaspard war inzwischen mit Erde bedeckt. So wie ich ihn mir vorstellte, suchte er dort unten bereits nach vielverspr e chenden Adressen und hatte vielleicht schon eine aufgeschloss e ne und gefällige Seele gefunden, die ihm die nunmehr grenzenl o sen Weiten zeigte. Mama und ich stiegen in eine schwarze Limousine, die uns heimfuhr. Gaspard Tulard hatte seine Bestattung bis ins letzte geplant, einschließlich der Speisenf olge des Leichenschmauses, der Limousinen und Abschiedsgeschenke. Alle, die ihn zum Friedhof begleitet hatten, bekamen ein schwarzes, mit einer schwarzen Schleife verziertes Päckchen. Meines enthielt eine Karte und einen Schlüssel: »Mein Kleines, ich weiß, daß Du schön bist, und ich liebe Dich seit langem. Verlier diesen Schlü s sel nicht, er öffnet Dir einen kostbaren Schatz, ein Geheimnis, das ich mit niemandem geteilt habe und für Dich aufhebe.« Ich legte den wunderbaren Schlüssel in mein schönes Krok o portemonnaie, das ich zur Kommunion bekommen und aus Angst es abzunutzen, noch nie gebraucht hatt e. Onkel Gaspar d wollte sich mit mir treffen, aber wo und wann sollte es sein? Am Abend fuhr Mama wieder nach Genf. Ich ging mit Irina und Margopierre essen, zwe i Mädchen, die ich anbete und die mich mehr als alles lieben. Ich aß süße Sa chen, die ich nicht kannte, und trank den lauwarmen, prickelnden Saft exotischer Früchte. Mir drehte sich schon der Kopf, aber Margopierre schleppte mich mit Gewalt ins 78, wo sie von ihren vielen Verehrern erwartet wurde. Margopierre ist ein Prachtstück, groß, blond, nervig und muskulös wie eine junge Stute, lange Beine, kleine Brüste, apf elrunde Gesäßbacken, sie ist schön, sie weiß es, sie fordert einen hohen Preis von denen, die sie haben wollen. Wen n sie zuviel getrunken hat, verliebt sie sich in mich
und schleckt mir stu ndenlang die Ohrläppchen ab und flüstert mir unmögliche Dinge zu, über die ich lachen würde, wenn sie mich nicht erzittern ließen. Zum Beispiel: »Meine Sonne, mein Weizen, ich träume davon, deinen Körper zu befeuchten, ich möchte dein Hut sein, dich auf mi r davontra gen, sag ja, Joy, gib dich mir hin, du wirst meine Gef angene sein, ich werde dich grausam züchtigen, ich werde mich auf dich stürzen, du wirst um Gnade flehen, doch ich werde kein Mitleid haben, ich werde dich umbringen, Joy, verstehst du, ich werde dich töten, meine Sonne, Joy, mein Liebes…« Sie küßte mich auf den Mund, ihre heißen Lippen legten sich auf meine. Es gefiel mir. Ich hatte das Gefühl , beobachtet zu werden, das erregte mich noc h mehr, so daß ich Margopierres leidenschaftlichen Kuß erw iderte. Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich ihn. Er stand vor mir, die Hände in den Ta schen, sein unverschämter Blick streichelte mich, und Margopie r re drückte mit aller Kraft meine Hand. D ie Stunde war gekommen. Ich mußte kämpf en und sterben. Der Feind, den ich seit so vielen Jahren floh, stand mir mit ge zückter Waffe gegenüber. Der grausame Augenblick erschien mir in all seinem Schrecken. Das lärmende Publikum des 78 umbra n dete mich. Margopierre beugte sich zu Irina und redete lange auf sie ein. Er kam näher und streckte die Hand aus. »Ich heiße Marc. Ich weiß alles über Sie. Kommen Sie mit.« Guten Tag, ihr Machos, ihr Phallokraten, ihr siegessicheren Widerlinge. Ich wollte mich wehren, aber ich war zu verschreckt. Ich schüttelte schwach den Kopf, wie um zu sagen: Aber ich kenne Sie ja gar nicht. »Joy, seit heute morgen denke ich nur noch an Sie. Ich habe ganz Paris nach Ihnen abgesucht, ich wußte, daß ich Sie finden würde. Kommen Sie.« Als seine Hand mich berührte, gab ich jeden Widerstand auf, und er führte mich zum Ausgang. Wir blieben einen Moment stehen und ließen uns von der warmen Luft über den Champs Elysees liebkosen. Marc betrachtete mich sehr aufmerksam.
»Sie sind nicht hübsch, Sie sind schlimmer. Aber ich fürchte, ich bin nicht der erste, der Ihnen das sagt.« Ich gewann die Fassung zurück, ich brachte ein Lächeln zu stande und wartete auf das, was nun kommen würde, die Worte, er habe sich geirrt, meine Vernichtung. »Was suchst du in diesen Discos? Dort sieht man jeden Abend die gleichen Sz enen, die gleiche Isolation. Was findest du daran? Ich hätte dich nicht bei diesen Leuten vermutet. Ich hatte den Eindruck, du seist einsam, allein, du zögst dich vor der We lt zurück, und finde dich im schlimmsten Gedränge wieder.« Ich sagte nichts und verzog den Mund, als öde er mich an. »Entschuldige. Ich wollte mit dir reden, aber jetzt weiß ich nicht was ich dir sagen soll. Ich bringe dich nach Hause.« Er entfernte sich verdrossen und machte die Tür seines schwarzen Wagens auf. »Steig ein.« Ich setzte mich, meinte eine Fall e zu sehen, war nervös, urplötzlich wieder nüchtern. Er ließ den Motor an und fuhr mit kreischenden Reifen los, Kavalierstart. Er biß die Zähne auf ein ander und sah starr geradeaus, als existiere ich nicht. Ich stellte überrascht fest, daß er den kürzesten Weg zu meiner Wohnung nahm. »Woher wissen Si e meine Adresse?« fragte ich mit Grabessti m me. Er lächelte, ohne zu antworten, und sagte kein Wort, bis wir vor meiner Haustür hielten. Er beugte sich nach unten und küßte mir die Hand. Er sah mich ernst an. »Ich werde hier warten.« Er öffnete mir die Tür, begleitete mich zum Eingang, fand so fort den Lichtschalter und ging. Ich sah, wie er wieder ins Auto stieg und sich eine Zigarette anzündete. Der Fahrstuhl brachte mich wider Willen zu dem stillen Appartement, der Stätte meiner Phantasien. Ich warf meine Tasche auf einen Sessel, fing an, mich zu entkleiden, und eilte, da ich es nicht mehr aushalten konnte, zum Fenster. Der schwarze Wagen war noch da, umgeben von
einer bläulichen Auspuffwolke, die sanfte Wirbel in die Nacht malte. Ich war verstört, besiegt, ich verging vor Freude. Ich nahm das längste, laueste, duftendste Bad meines Lebens, ich wusch mir die Haare, ich schminkte mich mit entnervender Langsamkeit ab und lief wieder ans Fenster. Er war immer noch da. Ich legte mich in das frischbezogene Bett, wälzte mich eine Ewigkeit hin und her, um die richtige Lage zu finden, beobachtete voller Schrecken die Zeiger meines Weckers, die sich dem Morgen näherten. Um drei Uhr war er immer noch da, der kleine schwar ze Wagen , er hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Das verdiente ich nicht. Ich zog Jeans an, ein Hemd, ich trommelte an die Fahrstuhltür, die sich nicht öffnen wollte, ich nahm meine Poliz i stenhaltung ein, die Frau, die nichts verzeiht, ich riß die Autotür auf. »Jetzt reichts. Entweder Sie fahren oder Sie kommen mit rauf.« Er blickte mich aus rotgeränderten, melancholischen Spaniela u gen an. »Danke, Joy.« Er folgte mir langsam, warf mir dann und wann einen kurzen Blick zu, der wie ein Nadelst ich war, jetzt hatte ich Angst, Angst, daß es nicht so laufen würde, wie ich wollte. Mein Herz spielte Bachs Toccata auf der großen Orgel von Saint-Eustache. Was ich beim erstenmal am meisten fürchte ist die halbe Stunde des Zauderns, des Streicheins, der Sätze, die nicht enden, der Blicke, die einem ausweichen, all diese Zwänge, die uns von zwanzig Jahrhunderten dekadenter Bourgeoisie hinterlassen wurden. Ich wollte nicht, daß er meinen Traum durch irgendeine Ungeschicklichkeit zerstörte, meine Freude vertrieb, diesen Augenblick verdarb, den ich seit tausend Jahren verzweifelt herbeigesehnt hatte. Wenn ich nicht sof ort etwas unternähme, würde er mich zur Farbe des Teppichbodens be glückwünschen und die Einrichtung entzückend finden. Also warf ich meine Sache n auf den nächsten Sessel, band meine Uhr ab, weil ich keine Armbanduhr dabei ertrage, und zog mich aus. Ich zog mir das Hemd so hastig über den Kopf, daß ich mir ein paar Haare ausriß, ich machte die Jeans auf und streifte sie zu
sammen mit dem Slip nach unten. Ich blieb unbeweglich stehen und tat so, als sähe ich ihn nicht. Sein Blick brachte mein Blut in Wallung. Er betrachtete mich von oben bis unten und flüsterte: »Mein Gott, wie schön du bist!« Er kam auf mich zu. Seine Hand brauchte eine Stunde, um si ch auf meine Brüste zu legen, und sobald er mich berührte, wußte ich, daß mir etwas Großes bevo r stand. Um das Vorspiel kurz zu machen, legte ich mich mit weit gespreizten Beinen aufs Bett, damit er meine Scham sehen kon n te. Er ließ sich Zeit, und ich gab mir Mühe, nicht ungeduldig zu werden, während er sich seiner Kleidungsstücke entledigte, ein Mann, der sich auszieht, ist selten eine fesselnder Anblick, er ist lächerlich und absurd. Er legte mir die Hand ins Kreuz, auf die unerträgliche Stelle, ich stieß einen Schrei aus. Böse kleine Fi n gernägel folterten mich. Er liebkoste mich mit den Fingerspitzen, er fuhr unendlich langsam meine Gesäßrille hinunter, bis er beinahe mein Geschlecht erreichte. Mit off ensichtlicher Gra u samkeit hielt er dort inne, ignoriert e mein Zucken, um dann , nach kurzem Zögern, wieder eine Stelle aufzusuchen, an der ich ihn nicht wünschte. Die nervende Hand bewegte sich bis zu meinen Schultern, ohne freilich eine einzige erogene Zone ausz u lassen, obgleich er meine empfindlichen Punkte g ar nicht kennen konnte, und dann glitt sie zu meinem Bauch, streichelte meine Hüften und berührte den Ansatz meiner Scham, die sie in Flam men setzte. Er wiederholte diese Prozedur an die zwanzigmal, ich biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, da nahm seine andere Hand von meinen Brüsten Besitz , zwei Fingernägel be mächtigten sich einer Knospe und zwickten sie bis aufs Blut. Ich spürte unerträgliche Schauer der Erwartung und wandte mich so hin, daß er mein hungriges Geschlecht nicht länger meiden konn te. Seine Finger penetrierten mich. Kleine, fühle r bewehrte Tiere erkundeten meinen Leib, kratzten mich zart, um meine Sensibilität abzuschätzen, dann wurden die feuchten Finger zu Haken, die mich rhythmisch betraten und verließen, bis ich das erste Mal auf schrie. Seine ganze Hand versuchte, in mich einzudringen, ich wollte sie zurückstoßen, doch sein Mund sog
mich ein, und ich hatte nicht die Kraft, mich zu wehren. Er tat mit mir, was er wollte, brachte mich in Wallung, hielt unvermi t telt inne, und als ich mich wieder abkühlte, nahm er mich in Besitz und tat mir sehr weh. Als er sich aufrichtete, befiel mich ein nervöses Zittern, ich hielt den Atem an und wurde von etwa s Unsäglichem gepfählt, das heiß war und zugleich kalt, von einer schrecklichen Kraft, die mich formte und zu sprengen drohte. Er drang bis in meine tiefsten Tiefen vor, und als er mich restlos besaß, bewegte er sich plötzlich nicht mehr. Er zog meinen Kopf an den Haaren hoch, so daß ich ihm in die Augen sehen mußte, und erst in diesem Moment fing er an, sich wieder zu bewegen. Ich stöhnte bei jedem Stoß, doch seine Bewegungen blieben langsam, und ich hatte das Bedürfnis, schneller zu keuchen; ich umfing seinen Oberkörper, zerriß sein offenes Hemd, preßte mich an ihn, trieb die Fingernägel in se ine Haut, wühlte mich in die dichten Haare auf seiner Brust. Sobald er jedoch spürte, daß ich ihn einholte, erstarrte er wieder tief in mir, betrachtete mich aufmerksam, fast ironisch. Dann versetzte er mir einen brutalen Stoß, der mich bis ins Mark schmer zte, dann noch einen und einen dritten, ich biß mir schluchzend in die Finger und kam wie eine Rasende, schrie ihm Worte der Lust zu, die ich noch nie über die Lippen gebracht hatte. Ich erschlaffte, vor Glück außer mir. Er verließ mich unsanft, rieb sein Glied an meinem bebe n den Bauch. Entsetzt begriff ich, was er vorhatte, ich bettelte mit rauher Stimme: »In mir, komm in mich, bitte…« Er sah mir in die Augen und bespritzte mich mit seiner Lust, als speie er eine Beleidigung aus. Nicht ich war das Instrume nt seiner Begierde gewesen, sondern er selbst. Ich haßte ihn, ich schämte mich seiner Verachtung, ich hätte ihn so gern in mir gefühlt, mein Leib dürstete danach, von ihm getränkt zu werden. Meine Schläfen pochten meine Niederlage hinaus, mein Herz hüpfte in meiner Brust, und als ich mich nach einer Million Jahren aufrichtete, mit aufgelöstem Haar, besudelt, geschunden, erniedrigt, sah ich ihn gerade noch gehen, ohne ein Wort, er machte einf ach die Tür hinter sich zu, ich blieb mit off enem
Mund liegen, halbtot, vor Scham krank. Ich wollte nicht glauben, daß er so hatte gehen können, nicht mal ein Händedruck, kein Wort, nicht der kleinste Blick auf das arme alte und häßliche Ding, das sich dort auf dem Bett wand. Ich konnte diese Preisgabe nicht ertragen und lief bei Morge n grauen durch nasse, glänzende Straßen, im eiskalten Regen, der mir den Hals hinunterlief. Meine Schritte führten mich zu Ma r gopierre. Aus ihrer Wohnungstür drang dichter Qualm, sie war betrunken, und eine Menge Gäste lungerten, umwabert von süßlichem Schweißgeruch und Alkoholdunst, im Halbdunkel herum. Margopierre hängt sich an meine Lippen. »Meine kleine Hündin, du zitterst ja, du frierst, komm und laß dich wärmen, laß dich ablecken, komm in meine Nacht, ich habe auf dich gewartet, mein Wiesel, meine Maus.« Ich schubste sie gereizt zur Seite und stieß ins Dunkel vor. Glucksende Laute begrüßten meinen Einzug ins Schattenreich. Fahrige Hände drückten sich an mich, Finger streiften meine Brüste, rieben meinen mißbrauchten Leib. Unbekannte Stimme n riefen mich. »Guten Abend, Joy, zu wem möchtest du, vielleicht zu mir?« Zwitterlaute, fiebrige Winke, Anspielungen, grelles Lachen. Jemand zog mich in die schwellende liefe eines Sof as, die mich langsam umfing wie ein ruhiges Meer, in dem man ertrinken möchte nach einem Abend, an dem man zu sehr geliebt hat. Margopierre fand mich wieder und schmiegte sich an mich. »Trink, mein Liebes, Joy, mein Reh, trink und vergiß deine Ängste…« Margopierres Geschraubtheit war unerträglich. Ich trank in einem Zug einen herben, schweren Saft und hörte in mein Ohr geflüsterte Worte, ohne sie richtig wahrzunehmen. »Schmutzige Hure, ich weiß, warum du gekommen bist, sag, worauf du stehst…« Mein anonymer Partner fing an, meinen Pullover hochzuziehen. Er nahm lange meine Brüst e in die Hand, bemühte sich, die Spitzen zu wecken, die sittsam schliefen. Die Nervenfasern, die
meine Brüste mit meinem Geschlecht verbinden, erwachten aus ihrer Betäubung, und ich wölbte meinen Leib, um den Aufruhr in mir besser zu spüren. Ich öffnete se lbst meine Jeans, konnte es kaum erwarten, die Finger kennenzulernen, die mein Heisch erkunden würden. Das undurchdringliche Dunkel schien von den Strahlen meiner Lust erhellt zu werden. Die schwielige Hand des Mannes legte sich auf mein noch bereites Gesc hlecht, ein Finger wagte sich vor, und während er unmerklich eindrang, hob der Liebhaber zu einem sonderbaren Rezitativ an: Eukalyptus schwängerte die Nacht, aber eine Krokusblüte fiel sacht auf die Wohnlandschaft… Sein Finger bohrte sich gnadenlos weite r, und ich drehte mich zur Seite, um die köstliche Penetration auszukosten. Sie war verängstigt wie ein Kind, das Zuflucht sucht vor dem Gewitter, doch ihr Mund schmeckte nach Absinth, und ihre Küsse waren bitter… Er hatte sein Ziel erreicht und begann sich langsam zu drehen, als wolle er den neugefundenen Besitz vergrößern. Sein Mund netzte meinen Busen, meine Hüften und bedeckte meine erigierte Klitoris. Ohne daß ich widerstehen konnte, fu h ren zwei blendende Blitz e auf mich nieder . Dann kehrte der feuchte Mund zu meinem Gesicht zurück. Die große strahlende Sekunde kostete mich alle Kraft, und nach unserer letzten Runde fiel ich auf die Wohnlandschaft. Jemand fing an zu lachen. Eine Zündholzflamme vertrieb die Schatten, und ich stand hastig auf. Margopierre weinte lautlos vor sich hin. Ich zog mich schnell wieder an und stahl mich zur Tür. Hinter mir war alles still, bis die Stimme mir spöttisch nachrief: »Auf Wiedersehen, Joy, kleines, verliebtes Flittchen!«
M
ama wollte immer nur in den großen Ferien zu unserem schönen großen Haus in der Dordogne fahren, und dort, in der erhabenen Landschaft, wo einst Fenelon seinen Gedanken nachhing, machte ich meine ersten Erfahru ngen mit Jungen. Jedes Jah r stolzierten elegante Jünglinge in Weiß vor unseren Fenstern auf und ab, sobald wir ang ekommen waren. Ich lief die Treppe hinunter und warf mich in ihre Arme, voll Staunen , sie größer, manchmal bärtig, auf jeden Fall älter wiederzufinden. Sie bewunderten die Veränderung, die seit dem letzten Jahr mit meinem Körper vorgegangen war, und machten mir ungeschickte Komplimente, während ich mein neues Kleid vorführte, das weiß war und zu kurz, und mit der Selbstsicherheit eines Vamps meine spitzen Knie und meine mageren Schenkel zeigte. Mitte August zogen unweigerlich heftig e Gewitter auf, die die Sonne vertrieben un d lange Regenwochen ankündigten. Dann veranstalteten wir endlose Kartenpartien im Wohnzimmer, wo das erste Feuer dieser Saison brannte. Unsere jungen Freunde verloren selbstlos, während ich mit Zutun meiner Mutter mogel te. Nicht selten fühlte ich, wie ein Bein das meine berührte und an meiner nackten, warmen Wade verharrte, während ich so tat, als sei ich ganz in das Spiel vertieft. Ich warf meinem Gegenüber verstohlene Blicke zu und legte seine Aufmerksamkeiten al s Freundschaftsbekundungen aus. Ich lächelte, wie mein Spiegel es mich gelehrt hatte, den Kopf ein wenig vorgebeugt, einen Finger auf den Lippen, und erwiderte den Druck rückhaltlos. Meine Mutter setzte dann ein ironisches oder – je nachdem, wie ihre Stimmung war – ärgerliches Lächeln auf, und ich fühlte, wie das freundschaftliche Bein meine Wade verließ, während sich auf dem Gesicht des Spielers große Verwirrung abzeichnete. An den seltenen Tagen, wenn die Sonne über die Wolken tr i umphierte, gingen wir, Ma ma, die Freunde und ich, an die Do r dogne zum Baden. Wir gingen über Geröll zu einer versteckten Bucht, wo wir uns niederließen und unsere Kleider abwar fen, unter denen wir bereits unser Badezeug trugen. Ich muß gest e
hen, daß ich dann immer ei fersüchtig auf meine Mutter war. Die Jungen musterten ihren reifen, sportlichen Frauenkö rper mit schamloser Direktheit. Die Blicke, die sie auf ihre vollen Brüste richteten, sollten gleichgültig sein, doch sobald sie ihnen den Rücken kehrte, zwinkerten sie sich vielsage nd zu, was sie nicht sehen konnte. Sie betrachteten ihre starken, gebräunten Hüften und vor allem ihre runden, festen Gesäßbacken, die in den stets zu knappen Bikinislips gut zur Geltung kamen. Da ich nicht mit Mamas Schönheit konkurrieren konnte, vergaß ich meine gute Erziehung, um die Aufmerksamkeit der Jungen wi eder auf mich zu lenken. Ich machte ein gelangweiltes Gesicht, stöhnte ein bißchen und legte mich mit weit gespreizten Beinen auf mein Badetuch, so daß die blonden Härchen meines jun gfräulichen Dreiecks aus meinem winzigen Slip lugten. Ich wurd e wieder der Nabel der We lt. Sie bespritzten mich mit Wasser, und mit dem köstlichen Gefühl, wunderbare Ferien zu verleben, schloß ich die Augen. Das wichtigste Ereignis des Sommers fand in den letzten Augusttagen statt das Dorffest . Jedes Jahr baute n dieselben Schausteller ihre Buden auf dem Marktplatz auf, und die müß i gen Urlauber genossen die willkommene Abwechslung, au s der die Einheimischen sich nichts machten. Quäkende Lau tsprecher und Zuckerwatteduft stö rten die Ruhe de s Dorfes, das bei dem ungewohnten Treiben dem Vorort einer Großstadt glich. Ich war sechzehn, als meine Mutter mir zum erstenmal erlaubte, allein zum Fest zu gehen. Wir waren im Garten und pflückten Blumen, während der blaue Abend anbrach. Mama nahm meinen Arm. »Du bist jetzt sechzehn. Ich fühle mich dieses Jahr zu alt, um die halbe Nacht auf dem Rummel zu verbringen . Du gehst allein, einverstanden? Du bist jetzt groß, Joy, mein Liebes, du brauchst mich nicht mehr. Christine kann mit dir geh en, oder Sophie. Du mußt mir nur ve rsprechen, daß du nicht zu spät zurückkommst. Nun? Was hältst du davon?« Ich schwieg. Ich wußte schon lange, daß die großen Mädchen beim Dorffest mit den Jungen tanzten und danach nicht auf dem
kürzesten Weg nach Hause gi ngen. Die kleinen erzählten sich wahnsinnig aufregende Geschichten, in denen von Liebe im Heu die Rede war. Also war es mit sechzehn soweit. Ich gab meiner Mutter einen Kuß und versprach ihr, kein e Minute später als Mitternacht nach Hause zu kommen, wie As chenbrödel, und brav zu sein wie eine Klosterschülerin, nicht mit fremden Jungen zu reden und nur Limonade zu trinken. Zwei Tage lang suchte ich in meinen Koffern nach einem Gewand für das große Erei g nis. Ich wählte schließlich ein weißes Kleid, mit drei Knöpfen vorn, die ich nach Verlassen des Hauses sofort aufmachen wü r de. Gegen fünf Uhr nachmittags nahm ich ein Bad, das so lange dauerte wie die Sonntagsmesse, und spielte in der Rokokowanne mit meinen Brüsten, die Bojen auf dem Meer glichen. Das Wa s ser lief ab, und mein sonnenbrauner Körper glänzte wie ein Fels bei Ebbe. Ich musterte meine immer noch dürren Schenkel, meinen flachen Bauch und das Kräuselnest, das sich zwischen meinen Schenkeln zu bilden begann. An jenem Tag wagte ich es zum erstenmal, einen Finger auf mein schlafendes Geschlecht zu legen, und wie von einem Stromstoß getroffen, preßte ich die Beine schnell wieder zusammen. Ich stieg aus der Wanne und verließ mit bebenden Knien das Badezimmer, nachdem ich mich mit einem Eau de Cologne besprüht hatte, das so süß war wie eine englische Nachspeise. An diesem Abend hielt ich mein Versprechen nicht. Ich trank gekühlten Weißwein, ich rauchte Craven mit Korkmundstück, ich küßte Bertrand hinter dem Tanzzelt und fand mich gegen Mitternacht mit belegter Zunge und träumenden Augen in einem 2 CV wieder, der einen nicht endenden Hang hinaufkletterte. Es war eine fast pechschwarze Nacht, und an der Einmündung eines schmalen Weges hielt Bertrand plötzlich an. Ich verkrampfte mich, ich dachte, jetzt kommt’s, je tzt ist es soweit. Ich hätte natürlich nicht genau sagen können, was kommen würde, und starrte auf die Straße, die sich vor uns schlängelte, als würde auf ihr das Gespenst erscheinen, das ich so sehr fürchtete. Bertrand beugte sich zu mir, stammelte dreima l: »Joy, Joy, mein Liebes«
und fing an, mich zu küssen, eigentlich war es sehr spannend. Ich preßte stur die Lippen aufeinander, weil ich Angst hatte, seine Zunge werde mich schwach machen. Er biß mir pausenlos in die Ohren, in den Hals, in den Nacken, er machte mein schönes weißes Kleid ganz kraus, als er meine großen Brüste drückte, die ihn einschüchterten. Er roch nach Lavendel, Schweiß und Wei ß wein, ich bemühte mich, mir vorzustellen, er sähe gut aus, und spreizte unaufgef ordert die Beine, um ihm seine ungeschickten Liebkosungen zu erleichtern. Als er das spröde, feuchte Hinder nis meines Spitzenslips überwunden hatte, keuchte er wie von Sinnen, und seine zitternden Finger machten sich an meinem nassen, verblüfften Geschlecht zu schaffen, um in die natürl iche innere Fältelung meines dargebotenen Bauchs zu dringen. Ich atmete stoßweise und wartete auf Empfindungen, die sich nicht einstellen wollten, und während meine Nervosität im gleichen Maße wuchs wie meine Enttäuschung, überrumpelte Bertrand mich, indem er meine Hand an sein gerades, hartes Glied legte, das er klammheimlich aus seiner beigen Leinenhose geholt hatte. Ich schloß meine Finger um das heiße lange Ding und stellte mir vor, gleich werd e die Erde erbeben , und mein Leben werde nie mehr so sein wi e früher, und ohne mir dessen bewußt zu sein, führte ich die animalische Bewegung aus, die ich nie gelernt hatte, ich betrachtete wie gebannt den braunen Stab, der zwischen meinen weißen Fingern hervorstieß und wieder verschwand, und ich hörte entsetzt Ber trands Stöhnen, das sich ins Dramatische steigerte. Ich drückte heftiger, ich massierte schneller, und Ber t rand stieß kleine Schreie aus. »Joy, mein Liebes! Joy, mein Li e bes!« So sanft ich konnte, fuhr ich mit meiner anderen Hand unter mein weißes Kleid un d rieb meine Scham, die im Rhyt h mus der Liebkosungen vo n Bertrands Glied erbebte. Ich fühlte eine ungewohnte Hitze in meinem Geschlecht, und bald regneten die Sterne vom Himmel auf mich nieder; fast im selben Augen blick ergoß Bertrand sich in meine Hand . Ich konnte mich nicht mehr rühren, mein Herz stand still, meine Hand war klitschnaß, ich starrte ins Dunkel und fragte mich voll Angst, ob ich ihm
weh getan hätte, und vor allem, was ich jetzt tun mußte, mein Gott. Ich glaube, ich hatte noch nie eine solche Wonne gespürt, wie Bertrand sie mir verschaffte, ohne es zu wollen, und sogar, ohne es zu ahnen. Bis zum Ende des Sommers stieg ich jeden Abend in seinen 2 CV, und geduldig lehrte er mich, sein Geschlecht zu küssen, das heißt, es in den Mund zu nehmen, bi s es an meine Kehle stieß, dann langsam die Lippen zu bewegen, um es an schließend lange mit der Zunge zu liebkosen, bis ich seine Lust zum erstenmal empfing, und ich gewöhnte mir an, seine Flut herbeizusehnen, sie berauschte mich, und ich liebte dieses etw as unanständige Gefühl, das mich dürsten machte und mir ein unerklärliches Vergnügen bereitete. Am letzten Ferientag legte er mich ins Gras und entjungferte mich. Es tat weh, und ich spürte nichts und wollte zur Wiedergutmachung sein Geschlecht in den Mund nehmen, damit er mir wie sonst seine Lust schenkte. Ich habe nie wieder so starke Empfindungen gehabt, obgleich mir alle Männer, denen ich begegnete, Lust schenkten, aber eine Lust auf ihre Art, nie so beseligend wie Bertrand. Marc hat all das zerstört, er hat mir mein erstes Glück, meine Jugend geraubt, indem er mir Wonnen auf zwang, die ich mir nie hätte träumen lassen. Seit der gemeine Kerl in mein Leben getreten war, irrte ich wie eine arme Seele durch das ferienleere Paris, kraf tlos und verstört wie eine desillusionierte Alte. Dann und wann blieb ich an einer Straßenecke stehen und faßte mir mit beiden Händen an den Kopf, ich verstand nicht, warum er das getan hatte, ich hatte doch nichts von ihm verlangt, ich hatte nichts Böses getan, ich hatte ruhig und in Frieden gelebt, und dann kam er und machte alles kaputt. Die Tage nahmen kein Ende, und die Nächte daue r ten Ewigkeiten. Ich rieb mich damit auf an ihn zu denken, meine unvergeßlichen Augenblicke wieder zu durchleben, meine Lust und meinen Schmerz. Ma ma war nach Griechenland gereist, und ich war allein wie eine Waise, ohne einen Menschen, mit dem ich reden konnte, und ohne Geld, ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich habe nie Geld, wenn ich welches brauche, und wenn ich
welches habe, ist es so schnell wieder weg wie Marc. Ich hatte nur Margopierre, also habe ich sie unangemeldet besucht, und sie war frisch wie der junge Morgen, ungeschminkt, hübsch wie ein Pfirsich, ruhig, sanft und all das, ich fand meine kleine Maus von der Schule wieder, meine Kamera din, mit der ich alles teilte, als wir beide nichts hatten, meinen bösen Geist, der mich drängte, Aufnahmen machen zu lassen, um da s große Geld zu verdienen, der mir diverse Männer ausspannte und mir einige Liebhaber zuführte, meine Margot, meinen Pierre, meine einzige Freundin. Ich erzählte ihr die Sache mit Marc, sie nahm mich in die Arme und nannte mich ihren kleinen Dachs. Sie war plötzlich sehr schüchtern. »Sag mal, war ich neulich abend wirklich so high?« Ich antwortete, sie sei wirklich high gewesen, sie habe mich schrecklich genervt, ich sei sauer auf sie gewesen. Eine dicke Träne rollte ihre Wange herunter. Sie bat mich um Verzeihung. »Sei bitte nicht böse, in diesen Augenblicken weiß ich einfach nicht, was ich tue.« Ich sagte ihr, ich würde ihr nie böse sein, ich hätte es schon vergessen un d es spiele überhaupt keine Rolle. Dann sagte ich ihr, ich bräuchte Geld. Sie schnitt eine Grimasse. »Ich bin total blank, meine Liebe. Ich habe keinen Sou, und ich fliege morgen mit David nach Los Angeles, ja, mi t David, du weißt ja, wie weit es gekommen ist. Ich fahre nur deshalb mit diesem unmöglichen Kerl, um zu überleben, nur weil ich am Ersten die Miete nicht zahlen kann. Aber bei dir ist es etwas anderes, du kannst doch immer noch Fotos machen lassen…« Ich sagte ihr, ich br äuchte sofort Geld, die Fotografen zahlten zu spät. Sie sah mich niedergeschlagen an. »Ich wüßte was, aber du wirst es nicht machen wollen…« »Ich habe wirklich keine Wahl.« »Ich weiß, es ist nicht sehr elegant, aber es hat schon vielen von uns geholfen. Er ist Amateurfotograf. Du brauchst nur zu posi e ren, er macht nur Aufnahmen. Er ist sehr nett, manchmal ist er
nicht allein, aber sie fassen einen nie an. Er zahlt 2000 Franc s für eine Sitzung.« »Bist du verrückt, ich kann mich doch nicht für solche Bilder hergeben, die Agenturen und die Illustrierten kennen meinen Kopf, und wenn sie es herausbekommen… Nein, das wäre Wahnsinn.« »Aber Liebling, er macht die Aufnahmen nur für sich privat. Es hat noch nie Probleme gegeben.« Als ich ging, sagte ic h ihr, ich würde es mir überlegen, und am Abend war ich einf ach gezwungen, es zu tun. Ich weiß genau, daß es im Grunde nicht das mangelnde Geld war, was mich dazu trieb, sondern meine schmutzige Manie, mich zu zeigen. Sie erregt mich mehr als alles andere, und ich wußte, daß dieses Abenteuer verrückt genug war, um alle meine Bedenken zu zerstreuen und mich neugierig zu machen auf die abscheuliche Komödie. Ich habe nie jemandem erzählt, was damals passierte, und wenn ich es jetzt au fschreibe, werden Tausende von Mä n nern und Frauen das Geheimnis erf ahren, was mir eigentlich ganz lieb ist. Seit jenem Erlebnis haben zahlreiche Illustrierte Bilder von mir gebracht, auf denen ich mehr oder weniger be kleidet war, aber all die Leute, die mir schrieben, um mir zu sagen, wie schön ich sei, alle, die denken, ich sei ebenso brav wie blond, nicht überkandidelt, nicht progressiv, schwer ansprechbar, unerreichbar, unberührbar, all diese Leute ahnten nicht, daß ich meinen Körper für obszöne Fotos hergegeben habe, daß mir die perverse Zurschaustellung gefiel, ja, Lust bereitete. Seit ich Marc kennengelernt habe, gehe ich ganz bewußt bis an die Grenzen des Zulässigen, und ich empfinde ein geradezu morbides Ve r gnügen, wenn ich meine Sexualitä t beschmutze, die mir keine Ruhe läßt. Margopierre hatte Angst, ich könnt e es mir im letzten Moment anders überlegen, und zweifellos bestand sie deshalb darauf, mich zu begleiten. Sie kam mit dem großen Wagen von David, der ein Schlappschwanz war, oberflächlich, plump, ohne Charme, hinter fotzig, aber er wurde zu den Pariser Parties eingeladen. David
war für Margopierre ein Reisebüro, ein Freizeitclub, ein Blank o scheck für die Boutiquen in der Avenue Victor-Hugo und der Rue du Faubourg Saint -Honoro, ein Urlaubsvertrag über zwei Wochen Winterspo rt in Crans -sur-Sierre, eine Villa mit Swi m mingpool auf Ibiza, der obligate Aufenthalt in Los Angeles, der Umweg über New York. Als Gegenleistung für diese ve rschie densten materiellen Vorteile und für regelmäßige Überwe isungen auf ein Konto bei der Banque Jordaan stellte sie ihm eben ihren Körper zur Verfügung. »Du machst das schlechteste Geschäft in Paris«, konnte ich nicht umhin zu bemerken, als sie das widerliche große Auto schnell durch die Straßen fuhr. »Bitte, sag das nicht! Ich weiß es, aber ich werde bald dreißig…« »In fünf Jahren, du dumme Gans, du hast noch mehr als genug Zeit…« »O Joy, dreißig, das ist der Tod, die Einsamkeit, das Ende, man geht nicht mehr aus, kein Mensch redet mehr mit einem, es ist furchtbar…« »Ich glaube wirklich, du bist verr ückt!« Ich hätte es beinahe geschrien, sie verstand, was ich meinte, und sagte den Rest der langen Fahrt nichts mehr. Ich trug ein enges schwarzes Kleid, das mit nur zwei Knöpfen zu öffnen war, und darunter nichts. An einer bestimmten Ab zweigung verließen wir die Autoroute und drangen aufs Land vor. Wir durchquerten einen Wald und hielten vor einem großen weißen Haus, wie es Notare und Ärzte am Rand von Kleinstäd ten besitzen. Die Zimmer im Erdgeschoß waren beleuchtet, und hinter den nicht ganz zugezogenen Vorhängen sah man rote Lichter. Margopierre klingelte. Ihre Augen glänzten. »Ich möchte bleiben. Um zuzuschauen.« Eine junge blonde Frau öffnete uns. Sie musterte uns einen Moment ernst und führte uns dann wortlos in einen mit karm e sinrotem Samt ausgeschlag enen Salon. Ein schwerer, bera u schender Duft hing in dem riesigen Zimmer, dessen Teppichb o den und Möbel ebenso blutrot waren wie die Wände. Auf einem
Tisch stand ein Sektkübel. In der Mitte des Raums, beleuchtet von Punktstrahlern, die hinter den Deckenbal ken angebracht waren, blitzte ein bedrohlich wirkender, gynäkologischer Behand lungsstuhl. »Das ist es«, flüsterte Margopierre, meine Hand drückend. »Bist du soweit?« Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich brachte kein Wort hervor. Ich unterdrückte den Impu ls, mich so fort auszuziehen und auf den Stuhl zu legen, wo ich mich total öffnen konnte. Margopierre reichte mir ein Glas Champagner, ich leerte es in einem Zug. »Du mußt dich jetzt ausziehen.« Ich machte die beiden Knöp fe auf, und mein Kleid fiel auf den Teppich. Ich blieb stehen, feucht und schlaff, bis Margopierre mich zu dem Stuhl schubste. »Setz dich da hin. Er kommt gleich.« Als ich mich auf den Behandlungsstuhl gesetzt – gelegt – hatte, schwindelte mir. Das Gerät war sorg fältig eingestellt worden. Meine Lenden waren vorgewölbt, und als ich die Füße in die metallenen Steigbügel geschoben hatte, war mein Unterleib schutzlos. Ich war so weit gespreizt, daß meine Pobacken zitter ten. Ich rührte mich nicht, sah nur die grellen Scheinwerf er, und schon nach wenigen Sekunden in dieser schamlosen und beglü k kenden Position fühlte ich, wie die Lippen meines Geschlechts sich voneinander lösten und langsam öffneten. Margopierre strich sanft über meine Brüste. »Ich wußte, daß es dir gefallen würde. Mein Gott«, fügte sie atemlos hinzu, »wie schön du bist, man könnte meinen, dein Leib werde gleich bersten… Übrigens, er tut irgendwas in den Cha m pagner. Vielleicht bist du deshalb schon so feucht…« In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und der Mann kam auf mich zu. Ich bin sicher, mein Herzklopf en war bis ans andere Ende des Hauses zu hören. Meine Hände zitterten. Kalter Schweiß lief über meine Lenden.
»Sehr gut, ganz ausgezeichnet«, sagte der Mann mit lauter Stimme, und ich war wie erlöst. Dann wandte er sich an Mar gopierre: »Glückwunsc h meine Beste, Ihre Freundin ist großartig. Wir werden zusammen arbe i ten können.« Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er nach einer Kamera griff, die auf ein Stativ montiert war, und sie auf mich richtete. »Sie werden die Qualität der Bi lder synchron prüfen können, meine Liebe, und Sie werden ein Ich entdecken , von dem Sie sicher nichts geahnt haben…« Er drückte auf einen Knopf und ein überdimensionaler Bil d schirm erschien. Zuerst flimmerten undeutliche Grautöne, dann sah ich die Großaufn ahme mei nes Geschlechts in all seiner Obszönität, ein rosiges, glänzendes Relief, das sich im Schatten eines malvenfarbenen Schlunds verlor. Oben auf dem Bildschirm bebte eine leuchtende Protuberanz, wie ein e fragile Blüte… Der Mann kommentierte den Anblick kühl: »Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet.« Er richtete das Objektiv langsam nach unten auf meine Gesä ßbacken. »Entspannen Sie sich bitte, lockern Sie Ihre Muskeln.« Verblüfft sah ich, wie mein Fleisch sich leicht öffnete und schwach bebte. »Jetzt bitte nicht mehr bewegen.« Das Bild zeigte die Geheimnisse meines Körpers, dann klickte es mehrmals hintereinander, und ich wußte, daß er jetzt normale Fotos machte. Die Tü r ging auf, und ein zweiter Mann kam herein. »Da sind Sie ja«, rief der Fotograf. »Sie sehe n, mein Lieber, was den Reiz der jungen Geschlechter ausmacht ist ihre warme Farbe. Bewundern Sie dieses weiche Rosa, diesen hellen Ockerton der Haut, er ist außerordentlich rar. An diesem Modell ist alles zart, lebendig, samten.« Die Blicke, die ich in me ine intimsten Tie fen getaucht wußte, erregten mich wie die subtilste, sanfteste, unwiderstehlichste
Liebkosung. Mein Narzißmus wuchs ins Grenzenlose, und meine erzwungene Schamlosigkeit rief eine fast schmerzhafte Wollust hervor. Die sexuelle Bewegung, die ich empfand, vermittelt durch diese beiden Männer, die mich betrachteten, aber nicht berührten, kam aus mir selbst. »Da Sie zum erstenmal hier sind, haben Sie einen Wunsch frei. Dieses Mädchen ist prachtvoll und gesund, was relativ selten ist. Sie werden gleich die besten Stücke meiner Sammlung sehen. Einige sind außergewöhnlich.« »Welch sonderbare Leidenschaft. Ich gestehe, daß es eine übe r raschende, neue Erfahrung ist«, sagte der zweite mit rauher Stimme. »Aber ist Ihr Vergnügen total, mein Freund?« »Wissen Sie, es kommt darauf an, daß das Modell das Bedürfnis hat, sich zu zeigen. Nur dann habe ich eine ideale Partnerin. Unsere Beziehung braucht als Katalysator die Kamera, und wir beide haben nur dieses eine Verlangen. Manchmal kommen junge Frauen, die un bedingt Geld brauchen und nur aus Ve r zweiflung mitmachen. Für eine richtige Exhibitionistin ist es dagegen eine wahre Erlösung. Ich ermögliche die unpersönlichste Zurschaustellung, die es gibt, und deshalb muß die Motivation absolut rein sein. Sich zeigen wollen, nichts anderes. Leider sind die authentischen Fälle äußerst selten. Ich merke sofort, wenn ein Mädchen nur herkommt, weil es Geld braucht, und ich erkenne auch die Neulinge, die sich sperren, sobald wir die sozusagen bürgerlichen Grenzen des Schauspiels überschreiten. Der interes santeste Fall ist zweifellos eine junge Schauspielerin , die Sie bestimmt schon oft im Film gesehen haben. Dieses großartige Mädchen besucht mich regelmäßig, und sie ist bisher die einzige, die uneingeschränkt befriedigt wird , wenn sie auf diesem Stuhl sitzt. Sie hat mich um eine Kopie der Videofilme und um Abzüge von den Fotos gebeten, zu ihrem persönlichen Gebrauch . Ihr Fall ist einzigartig, und er allein entschädigt mich fü r mancherlei Enttäuschungen. Unsere junge Freundin hier ist interessant, aber sie malt sich noch aus, daß sie genommen wird, was für mich den
Reiz mindert. Für Sie vielleicht nicht… Ich hole jetzt die anderen Filme…« Er zögerte. »Ich lasse Sie einen Augenblick allein. Wenn Sie wollen…« Er beendete den Satz nicht und verließ das Zimmer. Marg o pierre näherte sich mir, aber der Mann hielt sie auf. »Würden Sie uns bitte auch allein lassen?« Sie sah mich besorgt an. Ich gab ihr ein Zeichen zu gehen. Als wir allein waren, beugte sich der Mann über mich. »Heb die Beine hoch.« Ich gehorchte. Er befahl mir immer akrobatischere Posen ei n zunehmen, und als er mich ihm genügen d ausgeliefert fand, hielt er mich fest und fing an, lange den Körperteil zu küssen, den ich ihm in meiner schmerzenden Position darbot. Seine Zunge brauchte mich nicht lange zu bearbeiten. Mein Kopf explodierte. Ich stellte mir vor, der Mann, der mich so systematisch leckte, sei Marc, und das entschuldigte meine Erregung. Ich stöhnte vor Glück, und er wartete, bis ich an der Grenze der Wollust war, ehe er mich brutal penetrierte. Jeder seiner Stöße warf mich nach hinten, und mein Kopf schlug gegen den Metallrahmen des Behandlungsstuhls. Ich biß mir auf die Lippen, um nicht zu schreien, er stieß immer schneller, ich machte den Mund weit auf, um vor Lus t zu heulen, doch in eben diesem Augenblick bohrte er sich besonders tief in mich hinein und hielt inne. An den Kontraktionen seines Geschlechts spürte ich, daß er sich in mir ergoß, und ich schaffte es, ihn am Ende seiner Lust festz u halten, um selbst in einem unglaublichen Orgasmus zu kommen. Der Mann zog sein Glied mit einem brutalen Ruck aus mir he r aus, trocknete es an meinem Bauch, machte seine Hose zu und ging aus dem Zimmer, ohne ein Wort zu sagen.
D
anach ging ich tausend Jahre kaum aus dem Haus. Ich badete stundenlang, um wieder rein zu werden. Ich betete zur Jungfrau. Ich bat um Vergebung. Ich erkannte meine Fehler. Ich wollte sterben vor Scham und Einsamkeit, nie wieder reden, blind werden, ewig von Schwärze um fangen sein, mich nicht mehr erinner n. Ich wollte leer sein, den Erdbeergeschmack der Marmelade meiner Kindheit wi ederfinden, Mamas Pullover, die Würze der Suppe, alles, was beruhigt, wärmt und die Angst vertreibt. Eine schreckliche Gewißheit hatte sich meiner bemäc h tigt: Ich hatte eine Seit e meines Lebens umgeblättert, ein Kapitel beendet, vielleicht einen ganzen Band. Es war das Ende einer Epoche. Ich wollte mich nicht mehr treiben lassen, wie ic h es jahrelang getan hatte. Mein Ekel und meine Scham wurden unerträglich, als Margopierre mir die vier Fün fhundert-FrancsScheine gab, den Preis für meine Lust und Erniedrigung. Ich wollte aufgeben, ich wollte alles ve rschenken, was ich hatte, damit es mir gelang. Ich wollte Mar c gewinnen. Für ihn würde ich die Freiheit auf geben, als Opfer bot ich meine Einsamkeit, meine Geduld, meine Enthaltsamkeit. Ich würde nicht mehr zu Männern gehen. Ich würde meinen Leib nicht mehr den Freuden öffnen, die ich so liebte. Ich wollte neu sein, unschuldig , ich wollte brachliegen und verfügbar sein. Verliebt. Ich na hm ab und wurde blaß. Die Statisten meiner bewegten Nächte fingen an, mich zu meiden. Ich war nicht mehr lustig , nicht mehr zu allem bereit. Wenn das Telefon klingelte, nahm ich ab und sagte nichts. »Hallo! Joy?« »…« »Hallo, Joy, hörst du mich? Antworte, bitte…« »…« »Joy, sag bitte was! Ich weiß, daß du da bist. Was ist denn los? Du erkennst mich doch, oder?« Der Monolog wurde zum Drama. Wenn es mitleiderregend oder langweilig wurde, legte ich auf, ohne einen Laut von mir
gegeben zu haben. Es war eine Zeit des großen Aufräumens. Ich nahm mir meine Fotoalben und klebte die Bilder der Männer ein, in der Reihenfolge der Jahre, in denen sie mir gehör t hatten. Ich las alte Briefe wieder, ich verbrannte Lügen. Wenn es Abend wurde, sehnte ich mich danach, eine rich tige Grippe zu beko m men, mit tränenden Augen, verstopfter Nase und alldem, nur damit Mama kam, so wie früher, und mir Gemüsebouillon und Milch mit Rum einflößte, damit sie in meiner Nähe blieb, bis ich einschlief. Ich hätte am liebsten einen Dickkopf aufgesetzt, damit niemand gewagt hätte, mir etwas abzuschlagen. Ich stellte mi r vor, daß Marc eines Tages in meine ärmliche Klause treten und ausrufen würde: Ich habe gewußt, daß du krank bist, ich bin gekommen, um dich zu pflegen! Aber ich blieb allein wie ein e alte Jungf er, schmuddelig und zottelig. Margopierre störte meinen Streik. »Was ist denn mit dir los? Du bist ja blaß wie der Tod, du hast mindestens zwanzig Kilo abgenommen! Wie schrecklich! Mein Gott, du bist krank!« Ich stieß sie zum Bett und betrachte te sie lange. Sie war brau n gebrannt, sie strahlte vor Gesundheit, sie sah blendend aus. »Ich komme gerade aus Los Angeles zurück. Es war Spitze.« »Und David?« fragte ich leise. »Die Hölle, mein Liebes. Er wird immer dümmer, eitler und feiger. Das Letzte. Hör bitte auf, von ihm zu reden, ich halt s nicht aus. Und du?« Zum erstenmal seit langer Zeit ließ ich mich gehen. Ich breitete mein Unglück vor ihr aus, und je mehr ich erzählte, desto weiter riß sie Mund und Augen auf. Und dann wich sie lebhaft zurück. »Aber… du bist ja verliebt?« rief sie angewidert. »O nein, bitte nicht das, ausgerechnet du!« »Doch«, antwortete ich niedergeschlagen. »Aber Joy, du weißt doch, das ist gefährlich, das tut man einfach nicht. Verliebt! Mädchen wie uns bleibt nichts mehr, wen n sie plötzlich anfangen zu lieben. Wir müssen nur schön sein, wir müssen lächeln können, wir müssen unseren Stil finden und
ausgeglichen sein! Aber lieben, mein Gott, wie furchtbar! Joy, begreifst du wirklich nicht, was das bedeutet? Wenn man liebt, kann man nicht mehr egoistisch sein, man muß an den anderen denken, man rätselt pausenlos herum, was ihm Freude machen könnte, und dann verpaßt man alle Gelegenheiten, man reist nicht mehr, man geht abends nicht mehr aus, man verkracht sich mit allen Leuten… Un d glaub bloß nicht da ß der, den du liebst , dir das dankt . Er denkt, er habe ein Recht darauf. Er fordert immer mehr, und manchmal wird er sogar eifersüchtig , ist dir das klar? Jedenf alls gibt er sich keine Mühe mehr, er wird bequem, und das ist das Ende. Jo y, mei n Liebes, hör auf damit! Er ist stärker als wir. Der Kampf ist ungleich, und eines Tages gefällst du ihm nicht mehr. Du reizt ihn plötzlich nicht mehr!« Margopierre trat dicht an mich heran. Ihre Augen funkelten. »Weißt du, wie es einem dann ergeht, Joy? Man ist auf einmal allein, verlassen. Alt. Das ist kein Mann wert, keiner von den Männern, denen Frauen wie wir begegnen. Die Liebe, an die du denkst, ist etwas für die anderen, für die Mädchen, die acht Stu n den täglich im Büro arbeiten und abends erl edigt und völlig mit den Nerven am Ende in die Metro steigen, um nach Hause zu fahren. Sie kommen zurück, wenn wir uns zum Ausgehen zu rechtmachen, sie setzen ihre Suppe auf, wenn wir uns zu Ende schminken, sie gehen zu Bett, wenn wir anfangen zu leben. Vergiß ihn, Joy, aber bitte schnell, flieh, pack deine Koffer, hau sofort ab, du bist in Gefahr! Verschwinde, ehe er dich verei n nahmt und eine gräßliche kleine, brave, treue, betrogene Hau s frau aus dir macht. Du wirst doch nicht einen einzigen Mann lieben, Joy, wo wir sie alle haben können? Ich flehe dich an, Joy mein-Liebes!« Ich fing an zu lachen. Sie sah mich entgeistert an. »Das verstehst du nicht. Du wirst nie lieben, du gehst durchs Leben und siehst nur die Spitzen deiner Schuhe, du verpaßt die Landschaft. Wenn du wüßtest, wie gut es ist, einen Typ zu li e ben… Margo! Morgens, noch bevor du die Augen geöffnet hast, ist er schon da, in deinem Kopf. Ich habe jetzt ein Ziel. Ei n
langer Kampf bahnt sich an, und glaub mir, ich werde ihm nichts schenken. Ich will ihn für mich haben, für mich allein, und ich werde ihn bekommen. Ich fange langsam an, den Krieg zu ve r stehen, den Krieg, das Verbrechen und den Tod lieben – das ist ein bißchen von alldem, alles zur selben Zeit. Und wenn er es nicht verdient, na und? Dan n wird mein Sieg um so größer sein. Ich möchte nur, daß du es eines Tages auch erlebst. Dann wirst du es verstehen.« »Es ist furchtbar«, murmelte Margopierre , »du meinst es ernst, du mußt diesen Wahn loswerden!« »Nein, dazu ist es zu spät.« Margopierre ver ließ mich, als sei ich eine Todkranke, sie wünschte mir alles Gute, aber sie glaubte selbst nicht an ihre Worte – du wirst jetz t viel Mut brauchen, du kannst auf mich zählen und all das, jedenfalls bildlich gesprochen. Ich wußte natürlich schon, daß ich nur noch auf mich allein zählen konnte. Am nächsten Tag schrieb ich Mama einen langen Brief, was ich nicht oft tue, weil sie nie antwortet, aber ich wollte, daß sie Marc kennenlernt. Während ich den Brief schrieb, wurde mir klar, daß ich nichts über ihn wußt e, nicht einmal seinen Nachnamen, ich mußte alles erfinden. Aber sowas kann ich ganz gut. Um meine Einsamkeit zu sublimieren, wollte ich schöne Dinge sehen. Ich ging in den Louvre, in das Musee de l’Homme, ins Hugo -Haus, ins Musee Carnavalet. Ich stand Stunden vor düsteren Gemälden. Ich hörte klassische Musik, las Bücher, die mir imponierten und die ich bisher nie aufzuschlagen gewagt hatte. Ich schrieb drei Gedichte: »Der Tag, an dem du zurückkommen wirst«, »Ich könnte vor Liebe sterben« und »Ich warte nachts auf dich«. Es war herrlich. Liebe mich, liebe dich, lieben wir einander;
küsse mich, küsse dich, unsere Lust währt immerdar.
Ich rezitierte meine Gedichte vor dem Spiegel, und dabei mußte ich manchmal schrecklich weinen. Abends schlief ich ein, wä h rend ich mit ihm redete: »Mein Liebling, ich stelle mir vor, du liegst im Bett. Du bist müde, und du bist traurig, du rauchst eine Zigarette, du drückst sie im Aschenbecher aus, und bei der Bewegung, die du dabei machst, deckst du dich auf. Wenn du das Li cht gelöscht hast, siehst du im Traum das Mädchen mit den schweren Brüsten, das du nicht festgehalten hast. Das bi n ich, mein Liebling, und ich werde bis ans Ende meines Leben s bei dir bleiben und dich vor Liebe und Lust umbringen.« In der staubigen Hitze der großen Stadt tröpfelte der August langsam dahin. Ich dachte oft an unser schönes, leeres Haus, dessen Laden nun geschlossen waren. Ich erlebte die Ferien meiner Jugend wieder, die Abende, die morgens in einem fre m den Zimmer endeten, mit einem Jungen, der neben mir schlief, ohne daß ich auch nur seinen Vornamen wußte. Ich erinnert e mich an die Rückkehr nach Paris, die Abf ahrt in aller Frühe, die letzte Gruppe der Bäume, die das Haus verbarg, und die süßen Bonbons, die ich au f der langen, stillen Fahrt ununt erbrochen lutschte, an Mama, die rauchend am Steuer saß und mich da u ernd fragte: »Joy-mein-Liebes, ich hoffe, du bist wenigstens nicht allzu unglücklich?« Am Morgen der Rückkehr sah ich viele Autos in den Straßen. Die Kinder waren braungebrannt, und die Mü tter hatten zug e nommen. Der Bäcker an der Ecke drehte seine Eisenjalousie hoch. In meinem Briefkasten lagen eine Postkarte von Mama und der wunderbare Scheck einer Werbeagentur, für die ich vor den Ferien Aufnahmen gemacht hatte. Den ganzen Tag kostete ich meinen Reichtum aus. Ich fuhr Taxi und kaufte Blumen. Abends besuchte mich Alain. Er kam ebenfalls aus dem Urlaub zurück, und sein erster Besuch galt mir. Alain ist mein Freund, mein großer Bruder, mein Komplice, der Mensch, dem ich alles sage, der mich versteht, ohne daß ich ein Wort sagen müßte, der mich zum Lachen bringt, wenn ich traurig
bin, der sich zu verabschieden weiß, wenn ich fröhlich bin. Wir stehen uns schon seit Jahrhunderten sehr nahe, ich würde ihm eine Lunge schenken, wenn es ihn retten kö nnte, und er würde vielleicht sogar sein Leben für mich geben. Er nahm mich la chend in die Arme. »Du bist ja noch größer geworden, du wirst eine richtige kleine Frau!« Ich schmiegte mich an seine tröstende Schulter und erzählte ihm stundenlang von Marc. Zu erst hörte er lächelnd zu, dann ernst. Er sagte nichts, er sah mich nur lange an, ehe er ging, ich begriff, daß es ihm weh tat. Diese Entdeckung beunruhigte mich, und ich konnte kaum einschlafen. Ich streichelte mich und dac h te dabei an Marc, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, war September.
I
ch bekam einen Brief von Marc. Ehe ich den Umschlag öffnete, roch ich lange daran, ich kannte die Schrift nicht, und ich war krank vor Neugier. Ein weißer, zweimal gefalteter Bogen,
und in der Mitte, mit winz igen blauen Buchstaben, die vor me i nen Augen zu tanzen begannen:
Frau, hör auf dein Herz, lies kein anderes Buch.
Ganz unten standen die magischen Worte: »Ich denke an Dich.
Marc.«
Es war unwiderstehlich. Ich war total fertig vor Glück, meine Knie gaben nach, ich suchte den Umschlag nach einem Finge r abdruck ab, ich prüfte den Poststempel, gestern abend 19 Uhr 30, Rue Balzac. Ich versank in die Betrachtung meines eigenen Namens, den ich das erste Mal von ihm geschrieben sah: Mad e moiselle Jo y Lorey, Mademois elle Joy Lorey, Mademoiselle Lo rey, Mademoiselle Lorelei, bald werde ich ihn haben , bald werde ich dich haben. Verriet diese Nachricht, daß er zum erstenmal schwach geworden war? War sie die weiße Fahne, die er oben auf seiner Festung schwenkte? Wollte der Feind sich ergeben? Arme Torin. Alain hatte Geburtstag, ich ging abends zu ihm. Ich hatte ihm einen Schlüsselanhänger von Dunhill gekauft, natürlich Sterling massiv, von meinem letzten Geld. Ich sah, daß er sich aufrichtig freute, er öffnete das Päckchen, das ich ihm überreicht hatte, und seine Lippen fingen an zu zittern. Er nahm meine Hand. »Ich werde ihn an die Schlüssel deines Hauses hängen… die Schlüssel unseres Hauses.« Ich war sprachlos, er profitierte davon und nahm mich in die Arme, ich machte die Nase kraus, als verstünde ich nicht, er drückte mich an sich und wirbelte mich herum wie in Ein Mann und eine Frau. Er küßte mich auf den Hals, er roch frisch, nach Lavendel, ich fühlte mich pudelwohl. Er fing einen langen Mono log an. »Joy, du mußt dein Leben ändern…«
Ich hörte nicht zu, ich war fasziniert von seinen Lippen, die sich rundeten und im Rhythmus der Worte blitzende Zähne freigaben, ich stellte mir vor, es sei Marc s Mund, es seien Marcs Lippen und Marcs Worte: »Joy, du brauchst einen Mann, der stark ist wie ein Felsen, der dich versteht und dir hilft, groß zu werden, du bist noch ein kleines Mädchen, Joy, mein Liebes. Du bekommst ein Haus mit einem riesengroßen Kamin und einem Garten voller Blumen, und dein Bett wird so breit sein, daß du lange suchen mußt, um ihn zu finden…« »Wen zu finden?« fragte ich, mit jäh erwachendem Interesse. »Deinen Felsen, deinen Typ.« Ich wollte nett zu ihm sein: »Ich möchte, daß er deine Augen hat. Ich mag deine Augen.« Du meine Güte, was hatte ich da gesagt! »Ihr se id alle gl eich«, antwortete er böse, »sobald euch jemand ein bißchen liebt, interessiert er euch nicht mehr. Ihr braucht Gleichgültigkeit, flüchtige Blicke. Um euch zu interessieren, muß man unerreichbar sein: Das Leben ist übel, man muß betrügen, lügen, heucheln, Scheiße.« Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich fragte mich, warum ich nicht mit ihm zusammenlebte. Ich bin sicher, er hätte mich heiß geliebt, er hätte jede Nacht zu einem Fest gemacht. Ich schloß die Augen, um mir vorzustellen, wie er mich liebte, aber ich sah nur Marc. Ich war ausgehöhlt, total fertig. Mir fehlte der Mann, der nicht mehr zu mir kam. Ich wanderte stundenlang herum, ging Treppen hoch, übe r querte Avenuen, wartete, daß Ampeln von Grün auf Rot spra n gen. Ich setzte mich auf Plätze, die von Kindern wimmelten, ich ruhte mich in leeren Kirchen aus. Ich schritt weiter wie ein Pilger, ohne mich um die Erschöpfung, die Hitze zu kümmern, fest davon überzeugt, daß mein Glaube nicht zerbrechen werde, setzte ich einen Fuß vor den andern . Ich wußte, daß ich irgend wohin ging, ich hatte nur keine Ahnung, wo das sein würde. Ich setzte mich auf die Terrasse einer Brasserie und bestellte Wasser
und Brot. Ich wurde mystisch. Nachdem ich einen Croque Monsieur verschlungen und eine Cola getrunken hatte, nahm ich eine Illustrierte, die auf einem Stuhl lag, und entdeckte ein Bild von mir, ganzseitig, in Farbe, fabelhaft. Die umwerfende junge Frau mit dem winzigen Slip, das war ich, der Po dem Betrachter zugedreht, befreit, eingeölter Rücken, ein pro vozierender Blick. Ich betrachtete mich hingerissen, ich hob die Nase, ich kniff meine kurzsichtigen Augen zusammen, und ich sah ihn. Eine eisige Han d umklammerte mein Herz, ei n schrecklicher Stich, mein Kopf fing an, sich zu drehen, ich warf das Geld ins Glas meines Nachbarn, drückte meine Zigarette im Senf topf aus und trat zweitaus end Leuten auf die Füße, ehe ich den Bü r gersteig erreichte. Ich begann zu rennen, ich war völlig außer Atem, ic h schrie mit umkippender Stimme: »Marc, Marc, bitte, warte auf mich!« Er drehte sich um und blieb stehen. Ich hatte so viel Schwung, daß ich nicht rechtzeitig bremsen konnte, ich sauste gegen ihn, er fing mich auf, ich dachte: So möchte ich sterben, hier und jetzt. Nichts wird jemals schöner sein als die Sekunden, die ich eben durchlebt habe. Wir gingen Hand in Hand, wortlos und schüchtern, in steter Erwartung unauslöschlicher Worte, die der Zeit trotzen könnten. Der Tag wurde grau, die Nacht umfing uns, und wir setzten uns auf eine Bank an der Seine, dem Fluß, der Paris teilt, der an jenem Abend aber ebensogut durch Borneo hätte fließen können oder durch Saint -Clairly-Apocher, Lozere, Kreisstadt, 5016 Einwohner. Di e Sirene eines Schleppkahns heulte über den schimmernden Fluß. »Marc, ich möchte immer bei dir bleiben. Ich werde dir überall hin folgen, ich werde gehen, wohin du willst, aber ich möchte mich nie wieder von dir trennen. Ich habe das Bedürfnis, dich zu sehen, deine Stimme zu hören. Maaarc, sag doch was«, flehte ich mit bebender Stimme. Das waren die Sätze, die ic h in meiner Jugend mühselig vorb e reitet hatte, allein in meinem Zimmer mit dem Messingbett, unter
dem Schieferdach unseres Hauses in der Dordogne. In den Träumen, die ich als kleines Mädchen hatte, richtete ich diese Liebeserklärung an einen Gott, braun wi e ein Wilder, schöner als eine antike griechische Statue, mit einer Haut, weicher als Samt, und jetzt hatte ich einen Mann vor mir, der ziemlich durc h schnittlich war, weder groß noch sch ön, alles andere als ein Gott. Aber es war er, ich liebte ihn, und ich wußte inzwischen, daß die Gottheiten des Olymp mich nicht mehr reizten. Er hatte eine deprimierende Wohnung in einer besseren Miet s kaserne im tristen Plaine Monceau. Die lackierte Doppeltür führte in eine Diele, die in ein Wohnzimmer führte, das ins Schlafzimmer führte, das ins Bad führte. Überall standen Möbel herum, viele Stühle und Sessel, ein Stoß Schallplatten an der Wand, Topfpflanzen und rote Vorhänge, ein Sofa. Ich hätte auf alarmierende Kleinigkeiten achten sollen, auf die Illustriertenseite mit meinem Bild neben dem Telefon, meine Nummer, die groß auf eine Zeitung gekritzelt war. Ich hätte warten sollen, daß er die Fragen beantwortete, die ich gestellt hatte, ich hätte ihn bewegen sollen, sein dramatisches Schweigen zu brechen, ich hätte lügen sollen, ein bißchen schauspielern und mogeln. Ich hätte wieder gehen sollen. Ja, das hätte ich tun sollen. Ich hätte es gekonnt. Ich habe mich vor ihm erniedrigt. Ich habe ihn ausgezogen, als wäre er ein kleiner Junge. Sein Körper war warm und zart, weich, er roch nach Anislakritzen. Mein Mund legte einen langen Hal b kreis zurück, während ich seine Schultern, seine Brust, seine Flanken mit den Handflächen rieb. Er war schön wie ein gekre u zigter Christus. Er erwartete den Tod. Ich lernte seine Haut kennen, prüft e seine Reaktionen, testete seine Schwächen und seine Sensibilität. Ich erkundete dieses fremde Land mit der berauschenden Wollust, die ein Entdecker empfinden muß, der zum erstenmal den Fuß auf eine seit Jahrhunderten verlassene Wüste setzt. Ich nahm sein Geschlecht in meine Hände und schmiegte mich daran, ich be feuchtete es mit der Zunge, ich wagte sogar, es zu küssen. Marc schloß die Augen. Ich drückte sein Geschlecht
herunter, bis es meine Stirn berührte, und betrachtete es gierig und flüsterte ihm närr ische Dinge zu, die ich sonst nicht mal gedacht hatte und die ich nie den Mut hätte, zu Papier zu bri n gen. Ich nahm es in den Mund, ließ es bis an meine Kehle dri n gen, ein langes, herrliches Gleiten. Je weiter es vordrang, um so länger schien es mir zu sei n, ich träumte, es ersticke mich, meine Augen füllten sich mit Tränen, aber diese Tränen hatten nichts mehr mit Liebe gemein, ich hätte sterben können mit diesem wunderbaren Ding im Mund, das wie ein Herz pochte und wie ein Brunnen lief. Ic h klammerte mich an das gespannte Fleisch , das ich verehrte wie eine Heidin, unterwarf mich zum erstenmal jener Obsession, die mich schon immer gequält hat: die myst i sche Trennung des Mannes von seinem Geschlecht, dieses vom Körper losgelöste Fleisch nur noch küssen, leck en, blasen, die Erektion zerstören, das Glied essen, den geröteten, feindseligen Phallus, den ich liebe, für den mein Mund da ist, und ihm meinen Mund zu schenken, damit er dort den Samen ergießt, dessen klebrige Konsistenz mich rasend macht und zugleich beseligt. Marc stieß einen langen Seuf zer aus. Ich beschleunigte meinen Rhythmus, drückte ihn, so heftig ich konnte, hielt plötzlich inne und fuhr mit dem Gesicht an seinem Glied auf und ab, so lan g sam, daß es unerträglich sein mußte für ihn. Marc verkrampf te sich. Er wühlte seine Finger in meine Haare und stöhnte. »Joy, ich komme gleich.« Er knickte zusammen, er zerbrach wie ein Stock, während er meinen Mund überschwemmte, sich über mein Gesicht, auf meine Brüste ergoß. Er wollte sich umdrehen, sich mir entreißen, aber ich gab ihn nicht frei , ich fuhr fort, ihn zu trinken, ihn aufzunehmen, ihn einzuatmen, mich von seinem lauwarmen, aus den Tief en seines Lebens gedrungenen Samen zu nähren. Ich besudelte mich mit seinem süßen Honig, ich leckte seinen Kö r per ab , ich marterte mein verflüssigtes Geschlecht, ich war wie ein Tier, ein Weibchen, das den Rudelf ührer anbetet. Er stützte sich mit einem Ellbogen hoch, stieß mich zurück, öffnete mich und drang in die liefe meines Leibes. Es schmerzte.
Er sagte: »Sieh mich an. Mach die Augen auf. Sieh mich an.« Ich sah sein über mich gebeugtes Gesicht, alles war verworren, undeutlich, beißender und leuchtender Nebel. Er penetrierte mich langsam, bei jeder Bewegung schrie ich auf, ich schrie immer lauter, bis ich zuletzt ununterbrochen wimmerte und dann – als meine Erlösung nahte – in den höchsten Tönen heulte. Wir maßen uns mit den Blicken. Der gleiche Haß. Die gleiche Hä ß lichkeit. Ich spürte, daß es gleich passieren würde, daß nichts die Explosion aufhalten konnte, die uns in Staub verwandeln würde, mir war, als hätte ich noch nie etwas so Köstliches empfunden, ich biß ihn wie rasend, kratzte ihn mit meinen spitzen Nägeln. Er bäumte sich auf, er wurde herkulisch, und eine Flut schwemmte mich fort, ich konnte mich nirgends fe sthalten, ich riß alles mit, und ich verlor das Bewußtsein. Eine Million Jahre später, als ich erwachte, fühlte ich, daß ich des Wissens teilhaftig geworden war. Ich wußte, daß mein Leben nichts als eine Folge von Irrtümern, Dummheiten und verlor e nen Illusionen gewesen war. Marc streichelte meine Lippen. »Du bist ein komisches Mä d chen!« »Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich hab’ noch nie so was erlebt. Ich habe das noch nie gemacht. Es kann nicht wahr sein. Es ist so anders als alles andere.« Er lächelte und drückte mich an sich. Ich atmete seinen Man n geruch ein und dachte: Er darf sich nicht bewegen, es soll wieder von vorn anfangen, wie im Kino, wenn der Film zu Ende ist, das Wort ENDE leuchtet auf und erlischt, aber man weiß, es wird wieder von vor n anfangen, man mochte noch einmal weinen, während man den Film wieder sieht. Es ist verrückt, aber ich kann im Kino weinen. Ich bin die einzige, die schluchzt. Die anderen lachen, ich vergieße Tränen. Marc stand auf. Er trank Mineralwasser aus der Flasche . Er zwinkerte mir zu und ging ins Badezimmer, schloß die Tür hinter sich. Ich hörte das scheußliche Prasseln, das alle Duschen der Welt verursachen, wenn die Männer wollen, daß man geht. Ich
eilte zu ihm , ich kniete mich vor ihn hin und trocknete ihn mit dem Frottiertuch ab. »Joy, ich werde Paris verlassen. Ich fliege nächste Woche oder Ende des Monats nach New York. Ich werde dir schreiben.« Ich stand da wie eine arme Irre, mit ausgestreckten Händen. »Hast du nachgesehen, wie das Wetter ist? Ich spüre, da ß es regnen wird. Mist, nicht? Joy, was hast du?« Er zog sich stirnrunzelnd an. »Als ich dein Bild in der Illustrierten gesehen habe, du weißt schon, das mit dem Slip, da hatte ich auf einmal das Bedürfnis, dich wiederzusehen. Es war ein sonderbares Gefühl.« Er lächelte, während er sein Hemd zuknöpfte. »Mein bester Freund… er heißt Didier, er wollte nicht glauben, daß wir… na ja, daß wir uns kennen. Ich hab’ ihm gesagt, wir könnten ja mal zusammen essen gehen. Du bist doch einversta n den?« Ich stieß einen drohenden Seufzer aus. »Schweig!« »Wie bitte? Was ist mit dir?« »Schweig, ich will nichts mehr hören. Ich gehe.« Ich werde selten wütend, ich gehöre eher zu denen, die stumm vor sich hin zürnen, aber wenn ich explodiere, ist es sehenswert. »Spinnst du? Was hab’ ich denn gesagt?« »Dummheiten. Belangloses Zeug. Es ist unglaublich, wie idi o tisch ein Mann werden kann, wenn er gebumst hat.« »Hör auf, so zu reden. Wenn du gehen möchtest, bitte, ich halte dich nicht auf.« Ich zog mich an wie von Sinnen, die Jeans kl emmte, der Pull o ver war links herum. »So ist es, ich gehe. Das ist besser. Leb wohl. Wie hab ’ ich bloß glauben können, daß ich dich liebe? Ich muß verrückt sein.« Blaß vor Zorn folgte er mir zur Tür, mit hängenden Armen, ganz Herr der Schöpfung, der den letzten Schlag austeilen will. »Du bist verrückt, bestimmt. Aber du bist auch ein Flittchen. Du wolltest mir vormachen, du seist in mich verliebt? Ich bin doch nicht blöd!«
Wütend öffnete ich die Tür und drehte mich um. »Was ve r stehst du schon von Liebe und von Frauen?« »Vielleicht nicht viel, aber ich kann zumindest eine läufige Hündin von einer normalen Frau unterscheiden.« Angewidert von seiner Vulgarität wandte ich ihm den Rücken und ging die Treppe hinunter. Er beugte sich vor und versetzte mir mit leise r Stimme den Todesstoß: »Ich habe die Fotos ges e hen, die du aus Geilheit machen läßt. Das würde nicht mal eine Nutte tun. Weißt du jetzt, wieviel ich auf deine Liebe gebe?« Er warf die Tür zu. Ich sank auf die nächste Stufe, legte die Stirn ans Geländer, ich war vernichtet. Ich sah die Posen, die ich bei dieser Sitzung hatte einnehmen müssen, ich stellte mir vor, wie scharf die Aufnahmen geworden waren, und wider Willen erregte es mich, weil ich wußte, daß es Marc erregt hatte und weil er vielleicht wegen dieser Fotos Lust bekommen hatte, mich wiederzusehen. Hinter mir ging die Tür auf. Mit einem vernic h tenden Blick warf Marc mir meine Handtasche nach. »Da, du hast was vergessen.« »Marc«, stammelte ich mit letzter Kraft. »Was ist denn noch?« »Weißt du, es stimmt. Ich liebe dich.« Er hielt inne und kam langsam auf mich zu, faßte mich an den Schultern, tauchte seinen Blick erbarmungslos in meine nassen Augen. »Komm. Verzeih mir. Ich hätte das nicht sagen sollen…« »Aber du denkst es, und du hast recht.« Er brachte mich zum Sofa, half mir, Platz zu nehmen , wie einer alten Dame, und sank vor mir auf die Knie. »Joy, du gef ällst mir, ich habe noch nie jemanden so begehrt wie dich.« »Ich liebe dich.« Er stieß einen herzzerreißenden Seufze r aus und drückte seinen Haarschopf an meine Knie. »Ich liebe dich auch, aber es hat keinen Sinn, du lebs t dein Le ben und ich das meine. Was sollen wir schon zusammen machen,
wenn nicht bumsen? Ich weiß nie, wann ich nach Hause komme, ich muß reisen, ich habe spätabends Termine. Das kann ich keiner Frau zumuten . Wenn ich dich sehe, habe ich natürlich Lust, alles hinzuschmeißen, dich in die Arme zu nehmen und mit dir auf eine einsame Insel zu fahren. Aber ich weiß, daß ich nicht lange dort bleiben würde. Ich liebe meinen Beruf, ich liebe das Leben, das ich führe. Und vor allem liebe ich meine Freiheit. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Frau mir überallhin folgen wird, daß sie hinter allen Türen stehen wird, die ich öffne, daß sie in allen Betten liegen wird, in denen ich schlaf en will. Joy, es geht nicht mit uns beiden.« Ich antwortete, ich hätte keine Eile, ich würde auf jeden Fall stärker sein als er, ich sei bereit, alles aufzugeben, und da ich fast nichts hätte, würde es nicht mal schwer sein, ich könnte ihm folgen und auf ihn warten. »Ich habe das Leben, das ich führte, auch geliebt, und ich liebte meine Freiheit. Aber seitdem du da bist, ist mir meine Freiheit egal, denn meine Freiheit bist du. Verstehst du?« Er nahm mich in die Arme, drückte mich an sich. Er streichelte meine Hüften und meinen Po und seuf zte: »Ich hätte dich wa r nen sollen.« Er küßte mich noch einmal, dann zog er mir die Jeans aus und legte mich aufs Sofa. Ich spürte, wie sein Glied an meine Sche n kel schlug und in mich hineinfuhr. Ich biß mir auf die Lippen, um nicht zu schreien. »Als ich die Fotos gesehen habe«, fuhr er mit rauher Stimme fort, »dachte ich, ich verliere den Verstand, so scharf war ich auf dich… Wirst du es auch für mich tun?« Ich machte die Augen zu. Ich mußte meinem Los gewachsen sein. Und dann rief ich etwas, was ich sonst nie sage, weil ich es gewöhnlich finde: »Fick mich, Marc!«
A
n einem Montagmorgen um acht flog Marc nach New York. Erkältet und fröstelnd, mit roter Nase und tränenden Augen brachte ich ihn nach Roissy zum Flugha fen. Ich klammer te mich an seinen Arm und sagte dauernd leise: »Du kommst doch bald wieder, ja? Du wirst mir schreiben?« Er antwortete: »Aber ja, aber ja«, und kramte nach seinem Paß und seiner Bordkarte. Ich versprach ihm, nicht mehr auszugehen, ihm treu zu bleiben, jeden Abend vor dem Einschlafen an ihn zu denken. Ich fragte: »Und du, wirst du drüben auch an mich denken?« Und er antwortete: »Aber ja, aber ja.« Ich drückte seine Hand, er machte sich san ft los und zwinkerte mir dabei zu. Ich rannte zum Kiosk und kaufte ihm Magazine, Lui, Playboy, Penthouse, ich sagte: »Guck mal, da, das bin ich«, er nahm das Magazin und betrachtete es nickend. »Du bist wirklich die Schönste. Bestimmt, Joy, dich mag ich am liebsten.« Das machte mich froh. Gruppen von Passagieren warteten traurig und müde mit ihren großen Koff ern vor den Flugsteigtü ren. Ich sagte mir, ich wäre nicht traurig , wenn ich mit ihm flöge. Ich hätte ihn gern überrascht und gesagt: »Hör mal, ich kauf mir schnell ein Ticket und komme mit.« Aber ic h hatte natürlich ke in Geld, und außerdem hätte ich nicht gewagt, mich aufzudrängen. Ich fragte ihn, ob er in New York Mädchen kenne, er antwortete: »Weißt du, ich fliege hin, um zu arbeiten, für sowas habe ich wirklich keine Zeit.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Außerdem ist mir nicht nach anderen Mädchen.« Ich wußte natürlich, daß er log, aber ich freute mich trotzdem. Wir setzten uns hin, und ich mußte ihm versprechen, daß ich arbeiten würde. »Mit deinem Aussehen und deiner Klasse kannst du das be rühmteste Fotomodell der Welt werden, wenn du dir ein bißchen Mühe gibst. Hättest du keine Lust dazu?«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich eine schreckliche Erkältung hatte, und ich hasse diese Aufnahmen, es dauert so lange, es ist deprimierend, ich würde gern was anderes machen, bloß nicht Topmodell werden und Kekse knabbern, bis ich vierzig bin, und mir dann eines Tages sagen lassen, ich sei zu alt. »Ich verspreche, daß ich versuchen werde, etwa s aus mir zu machen«, schwindelte ich. »Du wirst sehen, daß es mir ernst ist, weil ich dann eines Tages mit dir zusammen arbeiten kann!« Er blickte gen Himmel. »Ach weißt du, jeden Tag Geschäf te, das ist kein Spaß. Du würdest dich schnell langweilen.« Oh, ich habe ganz vergessen, Marc vorzustellen. Marc Cha r roux, Geschäftsmann. Er sagte mir, er müsse in einem fort Geld für Industrielle, für Produzenten und für Künstler au ftreiben, also für Leute, die schon welches haben. Er beschä ftigt sich mit allen möglichen Dingen, mit Fabriken und Zahnpasta, mit Fi l men und Skilif ts. Ich hätte ihm gern bei der Arbeit zugesehen. Ich dachte, ich hätte das Zeug, seine Assistentin zu werden, ich stellte mir vor, ich hätte eine große schwarze Brille auf und wimmelte zudringliche Besucherinnen ab, die stundenlang darauf warteten, zu ihm vorgelassen zu werden: Nein, es geht leider nicht, Monsieur Charroux ist zu beschäftigt, haben Sie bitte Verständnis, unser Flug nach Bogota geht in einer Stunde. Ich wäre wieder in sein Büro gegangen, ich hätte ihm seinen Terminkalender gereicht und ihm gesagt: Hör mal, wir haben noch eine Stunde, und er hätte mich auf dem So fa geliebt, ehe wir in die lange schwarze Limousine gestiegen wären und uns von dem unsympathischen, schweigsamen Chauf feur zum Flu g hafen hätten bringen lassen. Die Concorde hatte Verspätung, und wir nahmen an der Bar einen Drink. Ich hatte Lust, den Kopf auf seine Knie zu legen, aber da kam ein Mann auf uns zu und rief: »Charroux, nicht möglich, Sie hier!«
Sie gingen ein Stückchen beiseite und redeten mindestens eine Stunde aufeinander ein, im Stehen. Dann wink te Marc mich zu ihnen und stellte mich vor. »Präsident, darf ich Ihnen Joy vorstellen, Joy Lorey, wissen Sie, das Fotomodell.« Er betonte jedes Wort, und der Präsident, der auch so aussah, nickte mit großem Vergnügen. »Ja«, wiederholte er, »ich weiß, ich weiß…« Ich schluckte meine schönen Abschiedsworte hinunter, er gab mir hastig und ze rstreut einen Kuß auf die Stirn. »Auf Wieders e hen, bis bald«, und er verschwand am Ann dieses widerwärtigen Präsidenten, den ich verwünschte, während ich mich schneuzte. Ich blieb ganz allein in der unmenschlichen, tristen Halle stehen. Ich war unnütz, das war es, unnütz, ohne Bedeutung. Ich dachte daran, daß ich nicht genug Geld hatte, um ein Taxi zu nehmen, und stellte mich in die Schlange an der Bushaltestelle, ich mußte zwanzig Jahre warten und fühlte mich sterbense lend, die Erkältung, der Kummer, das Herz, da s zu schnell schlug , kalter Schweiß. Ich betete zu Gott, Marc Char roux möge nicht verunglücken. Ich setzte mich neben einen dicken Japaner, der mit dem Kopf zu nicken begann wie ein Automat, guten Tag, guten Tag. Ich drückte die Stirn an das schmutzige Fenster und sah die Autoroute vorbeifliegen, den Regen, die Staus, wie er bärmlich das alles ist, wenn der Mann, den man liebt, nach New York fliegt. Eine Woche lang rann te ich dreimal täglich zum Briefkasten, ich blieb in der Nähe des Telef ons, und wenn ich aus dem Haus ging, um schnell eine Baguette oder eine Scheibe gekochten Schinken zu kaufen, legte ich den Hörer daneben, damit Marc, falls er anrief, das Besetztzeiche n hörte und nicht auf die Idee kam, ich sei ausgegangen. Natürlich bekam ich weder einen Brief noch ein Telegramm, noc h einen Anruf. Am achten Tag reichte es mir, und ich besuchte Alain. Seine Sekretärin führte mich in sein Büro.
»Monsieur Guichard kommt sofort. Wenn Si e einen Moment Geduld haben würden…« Ich kannte Alain und war sicher, daß er diese junge Person, die mich abschätzig taxierte, schon längs t vernascht und sitzengela s sen hatte. Sobald ich allein im Zimmer war, rief ich das New Yorker Hotel an, wo Marc wohnte. Ich spreche so gut englisch, daß ich seinen Namen dreimal wiederholen und buchstabieren mußte. Es knackte wer weiß wie oft, es war unerträglich, und dann sprach die näselnde Stimme des Portiers das Urteil. »Mister Cheru ist nicht mehr bei uns.« Ich fragte den Idioten, der so gut französisch konnte, ob Mister Cheru eine Adresse hinterlassen habe, aber das Tier hatte schon aufgelegt. Ich wurde schrecklich melancholisch, und um mich aufzuheitern, ging Alain mit mir in ein teures Restaurant am Boulogne, nahe bei seinem Haus. Pate de foie gras, Magret de canard, einen unsäglich alten Bordeaux, Armagnac, der Chefkoch des Co mte de Gascogne hatte sich selbst übertrof fen. Ich war total betrunken, und ich spürte meinen kugelrunden kleinen Bauch, der mein zu enges Kleid zu sprengen drohte. Ich stieß mein Glas um, aber Alain war nicht sauer, er lächelte und nahm meine Hand, ich hätte losheulen können, aber ich war wunschlos glücklich, ich sagte es ihm. »Alain, wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich wohl.« »Ich mich auch.« »Sehr gut.« Draußen war es saukalt, und ich warf mich an seinen Hals. »Ich will heute abend nicht zu mir zurück.« »Wohin willst du denn?« »Zu dir.« Er verfrachtete mich wie ein kostbares, sperriges Paket in se i nen Wagen und fuhr los, es war dunkel, die Scheibenwischer schnurrten, die Musik war ohrenbetäubend laut.
Wie schön das Fahren ist . Wie schön das Sterben ist Wenn das Radio spielt. Das Radio spielt. Er hielt vor einem rostigen Tor. »Das ist mein neues Haus. Du wirst gleich alles sehen.« Er zeigte stolz auf das schmalbrüstig e Haus mit spitzem Dach, das ein bißchen mittelalterlich wirkte, die teure, freistehende Sandsteinvilla im Pariser Vorort, sie hatte etwas Verwunschenes, vielleicht hätte sie Hitchcock gefallen. Er öffnete di e Tür und hob mich hoch. »Eine Jungvermählte muß über die Schwelle ihres Hauses ge tragen werden«, flüsterte er. Ich hickste. Er knipste drei Lampen an, und ich war in eine sanfte, bläuliche Wärme getaucht, die nach Vanille und Zimt duftete, ich bin sehr empfänglich für Gerüche. Er brachte mir ein Glas, das sang und Bläschen sprühte, und zeigte mir ein beunr u higendes, prachtvolles Gemälde. »Ich habe es gekauft, weil SIE Ähnlichkeit mit dir hat.« Ich riß die Augen auf und sah ein großes, nacktes Mädchen in einer unheilverkündenden Pose, mit vornübergeneigtem Obe r körper und einem Herzen, einer Sonne un d Schlüsseln, die aus ihren Lenden hervortraten. »Siehst du«, sagte er, »sie ist genauso bizarr wie du. Das Schöne ist übrigens immer bizarr.« Ich schwankte im Rh ythmus meines Rauschs, feucht und schlaff. »Du mußt jetzt schlafen«, sagte Alain. Ich nickte, er brachte mich zärtlich ins Schlafzimmer. Er legte mich aufs Bett und knipste eine Lampe an, die bonbonsüßes Licht verbreitete. In einer kugeligen Kristallvase standen ge trocknete Blumen, goldene Rahmen warfen gelbe Staubkörnchen in den Nebel. In weiter Ferne spielte ein Klavier eine leise, aut o matische, nostalgische Melodie, mechanisch und metallisch. Während Alain die Wendeltreppe hinunterging, zog ich mich aus und schlüpfte unter die veilchenduftende Decke. Ich hörte nicht, wie er zurückkam, ich schwebte in einer malvenfarbenen , watt i
gen Wolke, feuchte Blüten regneten auf mich herunter, beige Hunde und Zwergp ferde liefen mir entg egen, um meine Han d flächen zu lec ken, große, rauhe Zungen kitzelten und quälten mich. Die Sonne, die vorn Organdiplafond brannte, erlosch langsam, der Sturm brach los, und der frische Wind härtete die Knospen meiner Brüste. Ich brummelte mit belegter Stimme: »Was machst du da? Ich möchte noch eine rauchen. Alain, sag doch was!« Die Stille machte mir angst. Ich öffnete die Augen. Er lag zwischen meinen Schenkeln, und seine Zunge befeuchte te liebevoll mein Geschlecht. Er leckte mich langsam, wie die Zwergpferde meine Handflächen leckten, doc h seine Zunge war weich wie ein Pfirsich. Der Mund, der mich liebte, öffnete me i nen Bauch, drang in meine Hitze ein und vibrierte zart. Ich spreizte die Beine, um mich mehr darzubieten, ich spürte einen Ansturm der verschiedensten Empfindungen, schwere Lip pen, die sich tief innen verloren, unerträgliche Reibungen meines elektrisierten Flaums, die Zunge, die nun spitz wurde, um mich zu penetrieren, während aus dem Schatten dringende Finger mich sanft massierten und bis in die Mitte meines Körpers gli t ten. Ic h stieß einen Schrei aus, meine glatten und glänzenden Beine strampelten in der Luft, meine Lenden wurden von einer Dünung ergriffen. Der gierige Mund wanderte von einem Bru n nen zum andern und netzte mich mit brennendem, süßem Spe i chel. Die Lust kam schneller, als ich erwartet hatte, ich fiel nach vorn, mit der Nase in das veilchenduftende Kopfkissen. Alain drückte sich langsam gegen mich, ich nahm ihn in die Hand, er drängte sich mir noch mehr entgegen, und ich beugte mich nach unten, um sein enormes Volum en zu kosten, das eine Jungfrau geängstigt hätte, mich aber noch mehr erregte, mich, ein kleines, unverstandenes, verdammtes Flittchen. Ich preßte meine Finge r nägel in das erigierte Fleisch, um einen Schrei hervorzulocken, der nicht kam, ich versuchte, es in den Mund zu nehmen, doch er schob mich zurück. »Seitdem ich dich liebe und dich begehre«, sagte er.
Er drehte mich um, zwang mich auseinander. Mein ganzes Sein konzentrierte sich auf dieses Eindringen, be siegt von Empfindungen, die ich in meinem Delirium analysierte, die prickelnde Wärme des Fleisches, die nachgebende Spannung der Muskeln, das obszöne Flüstern der feuchten Schleimhäute, die scharfen Gerüche, die meinen Geist betörten. Das geheimste Wunschbild meiner Sexualität verwirklichte sich , die Dis krepanz zwischen dem angreifenden Glied und dem besiegten Gefäß war bewiesen. Die Macht und die Unterwerfung, alle Ungerechtigkeit der We lt, kastrierendes Weibchen werden, die verheerenden Stöße erwarten, sich schämen, vor Zorn weinen, weil das Warten unendlich ist, zotige Dinge schreien, um zu scharfgestochene Bilder, wie Pornoaufnahmen auf Hochglanzpapier, aus der Nacht zu verjagen, und dan n alles vergessen, alles aufhalten, weil er plötzlich angefangen hat, sich zu bewegen, öfter und heftiger, der Körper folgt dem Rhythmus, die Brüste wippen, die Arme su chen halt. Die teuflische Bewegung kehrt sich um, enttäuschende Entdeckung, Vordringen und Rückzug , Ja und Nein, Liebe und Haß, Leben und Tod. Ich versuche, unter der dunklen Masse, die mich erdrückt, zu neuem Leben zu erwachen, ich stammle schwach: »Stoß, stoß tiefer«, er hörte mich nicht, und dann hörte er mich. »Joy. Mein Liebes.« Er wütete noch lange, nachdem ich zerbrochen, geblendet, ve r nichtet war. Ich kam unmerklich wieder zu mir, und er fuhr f ort, meinen Körper mit erschreckendem Ungestüm zu lieben, mein Bewußtsein kehrte zurück, und ich stellte fest, daß meine Lust weit fort war, aber er machte weiter. Zum erstenmal an jenem Abend drängte sich mir das verschwommene und schreckliche Bild Marcs auf. Ich verspannte mich, um Alain aus mir zu ve r treiben, doch er deutete meine Geste falsch und löste sich nur, um mich mit jener Flut zu überschwemmen, die ich nicht mehr empfangen wollte. Ich versuchte, so lange wie möglich zu warten, ehe ich ihm sagte, daß ich ihn nicht liebe. Er lag neben mir, ruhig und gefaßt,
wie es sich gehört, zurückhaltend und ein bißchen abwesend, er kannte mich gut, ich wagte nicht, ihn zu verletzen. Ich lauschte dem Ticken der Uhr, dem Kratzen der Nadel in der letzten Plattenrille. Er legte unbef angen die Hand auf meine Brust. Ich betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. »Alain, ich liebe dich nicht.« Er drehte mir den Kopf zu, und ich glaubte zu sehen, daß er lächelte. »Ich weiß.« Ich spürte, wie er erlosch wie eine Flamme, zwischen uns wuchs eine Mauer. Er wußte natürlich, daß ich ihn nicht liebte, aber er nahm es mir übel, daß ich es ihm gesagt hatte. Ich hätte gern hinzugefügt: Du hast mir mehr Lust geschenkt als die anderen, viel mehr als ER, aber mein Herz liebt dich nicht, es ist nicht mehr frei. Alain liebkoste meine Wange, eine große schwarze Wolke sen k te sich auf mich. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.« Er sagte nichts, und ich kleidete mich zitternd an. Ich hoffte trotz allem, er werde versuchen, mich zurückzuhalten, er werde etwas sagen, doch er ließ mich wortlos hinuntergehen. Ich preßte meine Tasche an mich und lief mit kleinen Schritten über das schmierige Pflaster hinaus in die Nacht, ich ging zu Fuß von Boulogne nach Paris, verdammt – na und – der feine Regen, der in mein Gesicht stach, durchnäßte mich bis auf die Haut, ich war trunken vor Freude und Verzweiflung. Marc schrieb nicht. Alain rief nicht mehr an. Mama hatte in Lausanne Wurzeln geschlagen. Margopier re ließ nichts von sich hören. Ich ging nicht aus, ich sah kein en Menschen, ich frönte meinen Gewissensbissen. Der September verging mit der entne r venden Langsamkeit eines mißlungene n Films. Es kam der Ok tober, mit den Kastanien, dem prasselnden Feuer im Kamin, nicht für dich, Kleines. Ich rief Marc an und hörte seine Stimme, die sagte: »Hallo, ja, ich bin’s.«
Ich legte entsetzt den Hörer auf Ich dachte: Von mir aus kannst du verrecken, du widerlicher Kerl, du bist wieder da und meldest dich nicht, ich krepiere, und du weißt es nicht mal. Ich wurde für drei Werbekamp agnen engagiert, kurz hintereinan der. Ich lernte neue Mädchen kennen, mit zusammengedrüc kten Pobacken und spitzen Mündern, sie waren zickig zu mir. Die drei Fotografen bemühten sich um mich, fünf Assistenten ebe nfalls, der sechste war sichtlich weit davon entfernt, weiblichen Reizen zu erliegen. Wenn sie mir Fragen stellten, antwortete ich gar nicht oder, falls mir nichts anderes übrigblieb, nur sehr schnippisch. Sie redeten von meiner Karriere und meinen »Möglichkeiten«. Ich sagte, das sei mir absolut wurscht, und das ärgerte sie furchtbar. Eines Abends kam ein Mann nach den Aufnahmen auf mich zu. Ich zitterte vor Erschöpfung , mein Rücken tat weh, meine Arme taten weh, ich hatte zwei Stunden idiotische, verkrampfte Posen hinter mir. »Ich heiße Mocoroni«, sa gte er, »ich habe Ihre Fotos in den Illustrierten gesehen. Ich produziere einen Film von Alexandre Goraguine, und ich hätte vielleicht was für Sie. Wie wär ’s, wenn wir gelegentlich im Elysie-Matignon äßen?« Ich weiß nicht, warum ich angenommen habe. Das he ißt, in Wahrheit weiß ich es sehr gut. Ich wollte einen Film drehen, meinen Namen ganz groß in der Zeitung sehen, und ich wollte, daß es Marc Charroux krank machte, daß er die Gelbsucht be kam und auf die Isolierstation mußte. Am Abend des Essens brauchte ich drei Stunden zum Schminken und betrat an Moco ronis Arm das Elysie-Matignon, aufgedonnert wie ein Hollywoo d star, mit brennendem Mund und flatternden Lidern. Alexandre Goraguine muß der kleinste Mann der We lt sein. Ein Meter fünfzig, aber nur, wenn er auf Zehenspitzen steht. Er ist glat z köpfig und rundlich und hat lange Arme, die in nervösen und faszinierenden Klauenhänden enden, man sieht nur diese Hände,
man folgt ihnen mit dem Blick, sie machen einen schwindeln. Als er uns erblickte, kam er auf uns zugestürzt. »Sie sind göttlich«, sagte er sehr laut zu mir, »Ihre Augen sind wunderbar, meine Liebe, riesengroß und leuchtend, das ist sehr gut für die Leinwand. Die Wangenknochen… drehen Sie sich doch mal zur Seite… ja, sie springen nur leicht vor, genau die richtige Mischung von Licht und Schatten, fabelhaft. Die Taille könnte nicht besser sein, und diese Brüste, unübertrefflich. Sie tragen keinen Büstenhalter, Sie haben recht. Ihre Beine, lassen Sie doch mal Ihre Beine sehen, bewundernswert, lang, vielleicht ein bißchen zu dünn, aber das kommt an, das ist Teenagerlook. Große Klasse, wirklich große Klasse.« Er ließ mich Platz nehmen. Ich war total fertig. Er bestellte eine Flasche Dom Perignon. »Sie haben das Zeug für einen Star, Joy. Wenn Sie wollen…« Kurze Pause, eine Sekunde zu lang. »… können Sie eine internationale Karriere machen. Sie sind genau das, was im Moment gefragt ist. Die gut erzogene, aber haltlose junge Frau, die noch nicht ganz erwachsen ist.« Goraguine platzte los. Mocoroni prustete. Ich betr achtete sie verdrossen. Ich langweilte mich, ich wollte keine internationale Karriere machen. Ich war keine gut erzogene und haltlose junge Frau. Ich wollte von niemande m etwas haben. Das einzige, was ich haben wollte, war Marc Charroux. Aber ich hatte ihn nicht.
I
ch wurde Mode. Man sah mich in den Massenillustrierten, in der Regenbogenpresse und in den progressiven Monatshe f ten. Ich erschien auf den Plakaten, die in großen Städten an Mauern geklebt werden , ich wuchs, bi s ich fünf Meter groß war. Ich wur de von nervösen Frauen interviewt, die kette nrauchten. Ich war Gast einer Sonntagssendung des Ferns ehens. Man stellte mir schwachsinnige Fragen. Man dichtete mi r eine neue Jugend an, Abenteuer, Mißerfolge und eine schwere Krankheit. Die Fotografen gaben si ch alle Mühe, den Kuß eines Freundes, eine halb entblößte Brust, einen nackten Oberschenkel einzufangen. Mehrere Filmemacher luden mich fürs Wochenende in die Nor mandie ein, in Landhäusern die von nervenden Gästen wimme l ten. Eine Luftfahrtgesellschaft bot mir unbeschränkte Freiflüge gegen einen Werbefilm in einem Airbus. Ein großer Couturier gewährte mir freien Ei nkauf in seinen Geschäften, ich mußte dafür nur ab und zu ein Modell aus seiner Kollektion »Boutique« tragen. Ein Automobilfabrikant stellte mir ein Luxusgefährt zur Verfügung, falls ich es selbst steuerte, aber ich kann nicht fahren. Ich wurde zu Vorführungen in Deauville, Avoriaz, Monaco eingeladen. Ein großer Seifenfabrikant schlug mir vor, schau m bedeckt auf einer Brücke aus Gold zu posieren. Man sah mich bei den exklusivsten Festen, am Arm dummer, aufgeblasener Männer. Sogar zum Mittagessen war ich immer vierzehn Tage im voraus ausgebucht. Jeden Morge n bekam ich Einladungen und Geschenke. Leute, die ich gar nicht kannte, versuchten mir Geld für fabelhafte Transaktionen zu leihen. Eine Plattenfirma wollte die Disco-Version eines klassischen Themas mit mir aufnehmen. Eine kleine Run dfunkgesellschaft bot mir an, eine Nachmittag s sendung zu moderieren. Produzenten schickten mir Drehbücher, die nie real isiert wurden. Steinreiche Männer boten mir Geld, damit ich mit ihnen auf die Bahamas fuhr. Eine berühmte Le s bierin bot mir eine goldene Kette gegen eine Liebesnacht. Schüchterne, Größenwahnsinnige und Abartige schrieben mir leidenschaftliche Briefe. Neugi erige lauerten mir vor dem Haus
auf. Ich wurde mit Greta Garbo, Marilyn Monroe, Twiggy und Farah Fawcett verglichen. Ein Konzertcafe fragte an, ob ich eine erotische Eine -Frau-Show machen würde. Ich sollte die Pate n schaft für ein Restaurant, einen Nachtclu b, eine Galerie erot i scher Objekte, eine Kosmetikserie und eine Single -Bar überneh men. Man ließ nicht eher locker, bis ich in Begleitung eines jungen Nachwuchstalents eine Nummer für die Gala de l’Union des Artistes einstudierte. Ein berühmter Schlagersäng er behaup tete in einem Skandalblatt, er habe eine traumhafte Nacht mit mir verbracht. Ein alter Mann beging Selbstmord, weil er nicht mehr ohne meine Liebe leben konnte. Ich wurde verfolgt, gehetzt, kritisiert, beleidigt. Sechs Monate lang war mein Leben ein einzi ger Alptraum. Nachts wachte ich schweißgebadet auf und bildete mir ein, meine Wohnungstür werde aufgebrochen. Margopierr e verriet Intimes aus unserer Beziehung. Mama war stolz auf ihre Tochter. Sie schnitt Fotos von mir aus, sie schnitt Artikel übe r mich aus, sie rief regelmäßig aus Lausanne an. Ich blieb allein, es war die absolute Isolation, ich mißtraute allen, ich ging nicht mehr ans Telefon, und ich weinte oft. Sechs Monate. Goraguines Film, in dem ich eine Nebenrolle spielte, war ein Flop. Die Projekte, die man mit mir geplant hatte, verschwanden nacheinander in der Schublade. Man hörte auf, mir Briefe und Geschenke zu schicken. Die Luftfahrtgesellschaft und der Coutu rier teilten mir mit, sie bedauerten, aber von nun an müsse ich für ihre Diens tleistungen oder Produkte zahlen. Reisen wurden abgesagt. Mocoroni, der sich in diesen sechs diabolischen Mon a ten um mich gekümmert hatte, gab mir in einem langen Brief die Freiheit zurück, die ich an niemanden abgetreten hatte. Ich war immer noch allein, aber ich raffte mich auf, zu meinen alten Freunden zu gehen. Sie tätschelten mir die Hand und sagten: »Keine Sorge, das geht vorüber.« Ich war in Mamas Sechs -Zimmer-Wohnung in der Avenue de Breteuil gezogen. Die Wohnung war herrlich, und ich brauchte keine Miete zu zahlen. Fi nanziell kam ich mit Ach und Krach
über die Runden, und ich zahlt e langsam die Schulden ab, die sich in den sechs närrischen Monaten angesammelt hatten. Marc hatte sich die ganze Zeit nur zweimal gemeldet Er hatte mir in einem Brief zu meinem Erfolg gratuliert. Der Brief endete so: »Ich nehme an, Deine neuen Pflichten lassen Dir keine Zeit mehr für alte Freunde. Deshalb bitte ich Dich nicht, mit mir essen zu gehen oder ein Wochenende mit mir zu verbringen, ich hasse Körbe. Aber ich denke oft an Dich, Joy. Ich küsse Dich. Marc Charroux.« Ich stürzte zum Telefon, um ihm vorzujammern, er irre sich, ich warte nur auf ihn, er sei derjenige, der mich habe sitzenlassen. »Der Teilnehmer hat eine neue Rufnummer. Schauen Sie bitte im Telefonbuch nac h oder fragen Sie die Auskunft. Der Tei l nehmer…« Auch das Telef on war gegen mich. Ich bemühte mich zu schreiben, es war wie Gebären, ich spie meine Liebe durch das spitze Ende der Feder, die über das Papier fuhr, ich leerte blaue Tintenpatronen, ic h warf vollgeschriebene Seiten weg, wie ich meine Ideen weggeworf en hatte, ich vermasselte Sätze, wie ich alles andere vermasselt hatte, ich strich zu schwache Worte durch, denn die starken streicht man nie durch, ich apostrophie r te, zitierte, versa uerte, kursivie rte wie im Fieber. Ich sagte ihm alles. In Schönschrift: Ich liebe Dich, ich schrieb meinen Hilferuf auf englisch. Es war kein Brief, es war eine umfassende Beichte, ich gelobe, daß es wahr ist, ich hebe die rechte Hand, die linke, die des Herzens, ich schwöre es, ich flehe dich an. Ich faltete das Velinpapier, ich leckte die Umschlag gummie rung, ich befeuchtete die Briefmarke mit meinem Spe ichel, ich zitterte bei dem Namen, fröstelte bei der Adresse. Ich brachte meine heilige Schrift fort, ich warf meine Flaschenpost in den schwarzen Schlund eines gierigen Briefkastens, Postamt 107, keine Zeitungen und Drucksachen, nur für Botschaften des Herzens.
Ich wartete. Ich betrank mich vergebens. Ich fixte mich zu To de. Es wäre mir lieber gewesen, wenn der Brief zurückgekommen wäre, schmutzig und zerknittert, wohnt nicht mehr unter der angegebenen Adresse, unbekannt verzogen, unzustellbar, zurück an den Absender. Nie hat man mir wiedergegeben, was ich schenkte. Später brachte ich die Geduld auf, die Auskun ft anzu rufen. Das Fräulein am anderen Ende war Madegass in und schwerhörig. Nach einer Milliarde Jahren teilte sie mir fröhlich mit: »Charroux hat eine Geheimnummer, ich kann sie Ihnen nicht geben.« Klick, Tuuut. Der Weg meines Abstiegs führte unweigerlich über die Lo kale Le Palace, Les Bains Douches, Elysie-Matignon, Le 78, Le Paradis Latin, Le Palace, Le Palace. In einer lauen, blauen, trunkenen Nacht schob Goraguine mich an seinen Stammtisch im Elysie-Matignon. In der Arena wu rden Rufe laut. »Da ist ja Joy!« »Guten Abend, Schatz. Gib mir einen Kuß!« »Wie schön, du bist göttlich.« »Joy-mein-Liebes!« Ich ging von Hand zu Hand, von Mund zu Mund, sie befu m melten meinen Hintern, meine Schenkel, meine Brüste. Goragu i ne gab mit mir an, er war im siebten Himmel, ich wußte, daß er geprahlt hatte, er habe mit mir geschlafen, es war von A bis Z gelogen, er hatte es natürlich versucht, nichts leichter als das. Ich hatte ihm eine unmißverständliche Abfuhr erteilt: »Alexandre, hören Sie bitte auf damit. Machen Sie unsere Be ziehung nicht kaputt Sie ist wichtiger als unser VERLANGEN!« Mit gesenktem Blick und bebenden Lippen war ich unwide r stehlich, ich gewann, weil ich ein Komplice war, ein magisches Wort für eine bestimmte Gruppe von emotionalen Ausbeutern. Goraguine drückte mich auf den Stuhl, scheuchte zudringliche Hände weg und reichte mir die Karte. Köstliche Pute. Kleines Ferkel, in der Brühe von Versprechungen sautiert Sorbet von Lügen, Château Herzensnot 1980.
In dem vergoldeten Facettenrahmen eine s altersblinden ven e zianischen Spiegels erschien Marc zwischen den Gästen. Ich war wie erstarrt, stumm und ungläubig. Er schritt lächelnd durch den Raum, ich fand ihn schön, groß, stark, er setzte sich genau hinter mich. Ich durc hwühlte meine vollgestopfte Handtasche fiebe r haft nach me iner Maulwurfsbrille, ich setzte sie auf und glaubte, ich würde in Ohnmacht f allen. Er war es tatsächlich. Marc. Marc Charroux. Am Tisch hinter uns. Alexandre Goraguine beugte sich zu mir. »Nie eine Brille in der Öff entlichkeit, Kleines, Brillen zerstören das Geheimnis.« Ich durchbohrte ihn mit einem drohenden Blick. Genau in di e sem Moment bahnte sich ein Höhepunkt an, das Drama entfalte te sich, mein Herz machte einen Sprung, der Lauf der Geschichte wurde geändert Der Oberkellner, der nichts von der mythischen Rolle ahnte, die das Schicksal ihm in meiner menschlichen Ko mödie zugedacht hatte, der Oberkellner, ein Rabe mit langen, spitzen Flügeln, segelte feierlich einem biblischen Geschöpf voraus. Marc erhob sich hastig. Ich nahm ihr Bild mit aller Kra ft in mich auf. Sie hatte die strahlende Schönheit einer Romanhe l din, die überlegene Eleganz der Vollkommenheit, die Leichtigkeit eines Traums, Augen, deren Farbe, ein tiefes Blau mit lindgrün golden schimmernden Tüpfelchen, man sei n Lebtag nicht wi e derfinden würde, kupfern-kastanienfarbene Haare in meisterha f ten Wellen, einen vollen Rosenmund, alles an ihr war sch ön, die Harmonie war perf ekt bis zu den Grübchen, wenn sie lächelte, und der kleinen Flamme, die in ihrem maliziösen Blick funkelte. Marc Charroux murme lte praktisch an meinem Ohr: »Ich habe auf dich gewartet, Liebling. Du siehst wunderbar aus.« Er küßte sie, und sie küßte ihn, unanständig und lächerlich an einem solchen Ort, wo echte Gefühlsbekundungen verpönt sind. Haß wallte in mir auf, eine qualvoll brennende Wunde öffnete sich, und je länger ich sie betrachtete, um so schöner fand ich sie. Die Adjektive drängten sich in meinem Kopf: charmant, anm u tig, umwerfend, betörend, schelmisch, und für mich: alt, häßlich,
abstoßend und welk wie eine Pflanze, die keine Sonne beko m men hat. Ich stand brüsk auf, rempelte Goraguine und die and e ren im Vorbeigehen an, ich durchquerte den Raum wie ein Au tomat und ging zum Klo, wo ich weinte und mir in die Daumen ballen biß, um die Schreie zu ersticken, die mein Herz ausstieß. Später, viel später kehrte ich zurück auf die Bühne, so schön ich konnte, und er sah mich in dem Augenblick, als er ihre Hand küßte, die sicher klein und weiß war, nicht so große Pranken wie meine. Er war so verblüfft, daß ich glaube sagen zu können, ich habe noch nie in meinem ganzen Leben eine solche Wirkun g auf einen Mann gehabt. Bleich und fassungslos verzog er den Mund zu einem schiefen Lächeln und sah dann schnell woanders hin, das heißt, zu ihr. Für die dramaturgisch notwendige Ablenkung sorgte das unvermutete Eintreff en einer lärmenden Gruppe, eines Starjournalisten vom Fernsehen, eines Romanciers, der sic h auf die Schilderung primärer Liebesschmerzen spezialisiert hatte, und einer Schlagersängerin, die für ihre Temperamentsau sbrüche berühmt war . Der Star des TV -Journals umarmte mich, der Romancier küßte mir die Ha nd, die Sängerin sagte: »Meine Lie be.« Unser Tisch war die Sensation des Lokals, das Diner war von nun an eine einzige Pein. Ich spürte, wie Marcs Blicke me i nen Rücken verbrannten, und seinen Blick zu ihr, der jetzt kühler war. Mir war übel, wie auf einem schlingernden Schiff. Ich schaffte es, den Oberkellner abzufange n und ihn so diskret wie möglich zu fragen, wer das Mädchen am Tisch hinter mir sei. Ich benutzte einen Trick, damit er meine Bitte erfüllte, ich nannte ihn bei seinem Kosenamen, dessen Gebrauch nur Stammgästen erlaubt war, Riri. Gegen große Krankheiten helfen nur starke Geschütze. Riri fotografierte das Geschöpf mit erf ahrenem Blick und tauchte in den Schatten, der günstig ist für Erkundungen. Die Antwort kam mit dem Steinbutt Nantaise. »Der Steinbutt, für Mademoiselle?« Leisen »Joelle Garnier, Jour nal de la Mode. Nachwuchs.« Ich dankte ihm mit einem raffinierten Blick und interessierte mich plötzlich wieder für die Unterhal tung, die meine Tischg e
fährten so faszinierte. Da dramatische Situationen in mir den Sinn für Humor wecken, gelangen mir ein paar Scherze und Wortspiele, ohne daß ich den Blick von dem verruchten Paar wenden mußte. Die Begegnung fand an der Garderobe statt , wer kriegt schon die Kulissen, die er verdient? Marc war gezwungen, mir zuzul ä cheln. Ich rief fröhlich: »Na sowas, Marc, wie geht’s?« Wir haben uns umarmt, harmlose und laute Küsse getauscht, uns wie alte Kameraden am Veteranentag unter dem Ar c de Triomphe auf die Schultern geklopft. »Joelle, du kennst sicher Joy. WER KENNT SIE NICHT! Joy, darf ich bekanntmachen, Joelle Garnier, eine GUTE FREUNDIN.« Ich verzog meine ausgedörrten Lippen zu meinem schönsten Lächeln. Sie lächelte liebenswürdig, perlend und f risch wie Limo nade, ein weicher Mund mit kleinen, spitzen Zähnen, die sicher gern knabberten und bissen. Ich drückte lange eine Hand, die in der Tat klein und weiß war. Sie sagte komplizenhaft: »Wir mü s sen unbedingt mal zusammen Mittagessen. Ich möchte in mei nem Blatt etwas über Sie machen.« »Sehr gern«, antwortete ich schlicht, während Marcs Lächeln gefror. Ich kritzelte meine Adresse und Tele fonnummer auf eine Rechnung, die ich aus meiner Handtasche gefischt hatte, wir umarmten uns, sie roch nach Babypude r, ich winkte Marc ne k kisch zu, er starrte mich fassungslos an, und ich rauschte hinaus, der große Star. Ich ließ sie stehen, als wären sie mir egal. Wir beschlossen die Nacht bei Castel. Dort traf ich Alain. Er begrüßte mich von weitem und wagte nicht, zu uns zu kommen. Also ging ich zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals, bedeckte ihn mit Küssen, fuhr ihm mit den Händen durchs Haar legte den Kopf an seine Schulter und gurrte: »Ich will heute abend nicht zu mir!« Etwas später lag ich mit gespreizten Beine n in seinem Schla f zimmer aus Kaschmir und Seide. Er betrachtete mich anbetend,
liebkoste sehr zart meine entblößten Schenkel und schien wie gebannt von meinem Geschlecht, das im mandarinfarbenen Halbdunkel glänzte. Ich legte meine Hand auf seine, ganz flac h, das bedeutete Verzeihung. »Mein Rücken tut weh, würdest du mich ein bißchen massi e ren?« bat ich sehr leise und stellte mir bereits seinen Mund auf meinem Bauch vor. Ich freute mich auf die Lust, die er mir schenken würde. Er beugte sich über mich, um meine Lenden zu massieren, ich folgt e dem Druck seiner Hände auf meinem Ge säß, dann weiter unten, den Spitzen seiner Finger, die meine Härchen erreichten, dann machte er schneller. Seine Finger zwickten mich, quälten mich ein wenig, glitten über meine feuc h ten Lippen, ich bäumte mich auf seine Hand , penetrierte mich, und wir versanken im Glück. Am nächsten Morgen weckte mich das endlose Bimmeln des Telefons. Ich war total kaputt, ich hatte zu viele von den starken Joints geraucht, die Alain dreht. Ich erinner te mich kaum noch, wie ich nach Hause gekommen war, sicher mit dem Taxi, nach zweimal Bumsen, schwerelos wie lange nicht mehr. Ich hatte Alain schlafen lassen, ich hätte ihn sowieso nicht wecken können, der Taxif ahrer hatte mir Arrivederci Roma vorgesungen, und ich war auf mein Bett gefallen, ohne mich auszuziehen. Zitternd vor Kälte nahm ich den Hörer ab. Dann zitterte ich vor Aufregung, weil ich seine Stimme ahnte, ehe er etwas sagte. »Ich komme jetzt«, sagte er und legte auf. Marc Charroux, HI. Akt, 3. Szene. Ich wankte ins Bad, ich stellte mich unter die Dusche, ich ließ mich überfluten von einer Milliarde Liter kalten Wassers, das mich weckte, mich beflügelte. Er klingelte zweimal. Beide Male ganz kurz. Ich ging zur Tür und dachte daran, daß dies das er ste Mal war, daß er bei mir klingelte. Wie betrachteten uns durch die halbgeöffnete Tür, der Kater und die Maus, die Katze und die Ratte, di e Katze und die Ratze. Er schob mich sanft zurück, damit er eintreten konnte. Er streichelte flüchtig meine Wange, ein ziemlich auf gesetztes Lä
cheln um die Lippen, blieb an der Wohnzimmerschwelle stehen und nickte. »Gediegen und schweizerisch.« Ich fiel aus allen Wolken. »Wie hast du das herausbekommen?« »Ein Foto von Genf, ein Foto von Lausanne, ein Plakat von Basel…« »Schweizer, rote Haare, Bürstenfrisur und Zweistärkenbrille«, präzisierte ich, kaum darüber enttäuscht, daß er es nicht aus purer Intelligenz herausbekommen hatte. »Möchtest du etwas trinken?« »Einen Kaffee, wenn’s geht.« »Ich mach’ dir einen.« »Ich komme mit.« Wir setzten uns auf den Rand des Sofas im Wohnzimmer und tranken Kaf fee. Er nahm zwei Stück Zucker und rührte lange um, der Löffel schlug klingend gegen das beige Porzellan, meine Hände zitterten, ich brauchte dringend eine Zigarette. »Ich hatte Lust, dich zu sehen«, erklärte er. Dann geschah etwas Unfaßliches. Leichter als Luft, von einem unerträglichen Befremden gepackt, erhob ich mich über die Szene, die ich nun erleben würde, und aus dieser Höhe entdeckte ich, daß der Mann, der mit mir redete, ein Fremder war. Es war nicht mehr der Marc der gespenstischen Nächte. Ich hatte plöt z lich die Gewißheit, daß meine Leidenschaft nur eine optische Täuschung war, ein perspektivischer Ef fekt. Sobald man ihn aus einem anderen Blickwinkel als dem meinen betracht ete, verlor er jede Bedeutung und wurde lachhaft, unendlich klein, banal. Tödliche Angst packte mich. Ich hatte zu viel gegeben, um so enttäuscht zu werden. Seit einem Jahr hing mein Leben an einem Faden, und dieser Faden war er. Sollte er reißen, würde ic h ins Nichts stürzen. Ich sah ihn gierig an, wie jemand, der sich die letzten Augenblicke eines sterbenden Wesens für immer einpr ä gen will. Ich fixierte ihn so intensiv, daß er aufhörte zu sprechen. Er runzelte die Stirn und nahm meine Hand. Sofort war ich
beruhigt, ich hatte soeben begriff en, ich hatte die Botschaft empfangen, durch die Berührung dieser schweren, beruhigenden Hand. Mein emotionaler Heißhunger hatte meinen Wahn nicht katal y sieren können. Ich war magnetisier t. Er verkörperte das feindl i che Universum, auf das ich geprallt war. Marc, das war der letzte Kampf, das höchste Duell. Ich war nicht imstande, mich zu schlagen. Es war noch nicht alles gesagt. Das Duell wird nie an den Anfang des Western gestellt, sondern immer ans Ende, wenn alles geklärt ist, wenn der Gute und der Böse zweif elsfrei identifi ziert sind. Ich wußte nicht, ob Marc der Gute oder der Böse war, doch ich war überzeugt, daß er in Wahrheit sekundär war, ein guest Star, wie man in Hollywood sagt. Er war nichts als die Fleischwerdung des Mythos, den er für mich verkörperte, und als solcher würde er mich bis ans Ende meines Lebens begleiten. Nichts würde mir helfen können, dem zu entfliehen. »Ich hatte Lust, dich zu sehen«, wiederholte er, »weißt du, ich habe dich nicht vergessen, abe r irgend etwas hinderte mich daran, zu kommen.« »Ich weiß.« Die unterbrochene Symphonie ging wieder in die vollen. Die Geigen fingen wieder an zu spielen. Mein Herz schlug wieder. Mein Wahn riß mich wieder mit. Ich liebte seine grünen Augen, seine kleine Nase, seinen eigensinnigen Mund noch mehr als früher. Die Gemeinplätze meiner Liebe zogen wie Blaupausen an mir vorbei, wie naive, zu bunte Drucke, die meine Existenz aus den Fugen brachten. Ich war drauf und dran, aufzustehen , mich niederzuknien und ihn an zuflehen, er möge mich weihen, er, mein Ritter, zur Dienerin oder zur Dirne, egal, Hauptsache zu etwas, das ihm gehörte. Er hielt mich an der Hand fest. »Joy, weißt du, ich liebe eine andere. Du mußt es erfahren, ich könnte dich nie belügen.« In Kriminalfilmen sieht man manchmal, wie der Held eine Ku gel in den Rücken bekommt und trotzdem weitergeht, man beißt
sich in die Faust, man fragt sich, mein Gott, er ist doch nicht getroffen, das ist nicht möglich, nicht er, der Held. Und dann sinkt er plötzlich zu Boden, und man sieht seinen blutüberströ m ten Rücken. Ich wurde eine He ldin. Ich sprach weiter, ich stellte ihm Fragen, wo hast du sie kennengelernt, ist es das Mädchen von gestern abend, und nur ich allein wußte, daß ich getrof fen war, daß mein Rücken blutü berströmt war, daß ich gleich zu Boden sinken würde. »Joy, ich will dich nicht verlieren, ich möchte, daß es so ist wie früher, ich möchte dich haben. Ich habe in meinem Herzen so viel Liebe… FÜR EUCH BEIDE…« Ich hatte die Kraft zu lächeln. »Ja, ja, aber bitte nicht jetzt, vielleicht später.« Ich küßte ihn, legte meine eiskalten Lippen auf seinen brenne n den Mund. Ich schob ihn langsam zur Tür, ich öffnete die Tür, schob ihn weiter und flüsterte: »Marc, ich liebe dich.« Ich machte die Tür zu und sank zu Bode n, mit blutüberströ m tem Rücken. Nie wird er sich mir zuwenden und mir sagen, ich bin krank, Joy-mein-Liebes.
N
ie vergibt man denen, die ihre Chance verpaßt haben. Ich wurde streng gerichtet. Die Menge, die sich um mich gedrängt hatte, als ich in gewesen war, entfernte sich von mir. Es gab nichts mehr zu sehen. Bitte weitergehen. Ich war mir klar, einen wichtigen Termin versäumt zu haben, aber ich wußte auch, daß der eigentliche Grund meine Fehlanpassung war. Erfolg ist nie das Resultat eines Zufalls oder die Manifestation einer Glückssträhne. Ich kenne keinen wahren und bleibenden Erf olg, der ungerechtf ertigt ist, ebenso wie es kaum ein verkan ntes Talent gibt. Habgi erige Geschäftsleute hatten ein zerbrechl iches Gerüst um mich errichtet, ohne sich darum zu kümmern, in welche Gef ahr sie das Wesen, das darunter war, brachten. Ich konnte nur mein Äußeres in die Waagschale werfen. Der Rest ist unendlich re icher, kann aber nur von mir für mich eingesetz t werden. Ich kann nicht Komödie spielen, ich kann nicht sin gen, nicht tanzen, und man hat versucht, einen Star aus mir zu ma chen. Ich bin der Anti -Star. Ich habe eine Angestelltenmentalität, ich hasse Ve rantwortung, ich brauche kein Prestige, ich will mir keine Probl eme aufladen. Ich bin damit einverstanden, mich im Atelier eines Fotograf en einzufinden und dort zu arbeiten, aber nach den Aufnahmen will ich nach Hause, aufs Land fahren, schlafen, auf neue Träume warten. Alles andere tangiert mich nicht. Die Filmhyänen und andere Raubtiere haben sechs Monate gebraucht, um das zu begreifen. Seitdem bin ich verurteilt. Der einzige, der sich nach dem Ende der Jagd noch für mich interessierte, war Alexandre Goraguine. Sicher, er hatte unendlich viel in mich investiert und hoffte, seine Verluste wieder reinzuho len. Er wa r bemerkenswert effizient, während ich zu versinken drohte. Er ermutigte mich nachdrücklich, widerlegte die Arg u mente, die meine Schwäche mir eingab, führte mir vor Augen, ich könne mich nur aus der Affäre ziehen, wenn ich nicht noch mehr vermasselte.
»Joy, Liebling, laß dich bitte nicht gehen. Ein großer Soldat hat mal gesagt: ›Wer den Gedanken an eine Niederlage akzeptiert, hat schon verloren.‹« Er überredete mich, mit ihm nac h New York zu fliegen. Er hat lange gebohrt, ich habe aus Bequemlichkeit nachgegeben. »Joy, Liebling, es ist UNSERE letzte Chance!« Nichts hielt mich in Paris, Mama wohnte in Lausanne, und ich hatte sie nur ein kurzes Wochenende gesehen. Ich wäre gern zu ihr in die Schweiz gefahren, aber sie hatte es mir nie vorgeschl a gen, und ich würde sie nie bitten, mich einzuladen. Wir haben vor meiner Abreise lange telefoniert, sie hat ihre große, dramat i sche Nummer abgezogen: »Ach, Joy, weißt du, ich fühle mich schrecklich alt, ich habe Angst, dich nicht wiederzusehen. Laß dich nicht mit Schwarzen ein, nimm bitte keine Drogen, leg ein bißchen Geld für den Rückflug zurück. Mein Gott, warum mußt du denn weg, in Paris geht doch alles so gut für dich…« »Es ist nicht mehr wie früher, Mama, wir leben jetzt getrennt, aber nicht ich habe dich verlassen, son dern du mich, und ob ich in Paris oder in New York bin, ist für dich doch das gleiche, oder?« »Du wirst doch nicht etwa denken, daß ich dich nicht mehr liebe?« »Nein, nein, das ist es nicht, aber wir leben nicht mehr so wie früher, ich bin jetzt allein.« Ich wickelte mir die Telef onschnur um die Finger und konnte nicht umhin, ihr die Frage zu stellen, die mir seit so vielen Jahren auf den Lippen brannte: »Erinnerst du dich eigentlich noch an Papa?« Wir haben nie von ihm gesprochen. Ich habe nie gewagt, dies es heikle Thema anzuschneiden. Lange Sekunden des Schweigens sagten mir, daß ich sie in Verlegenheit gebracht hatte. »An deinen Vater? Natürlich erinnere ich mich an ihn, er sah gut aus, du siehst ihm ähnlich. Er strahlte Kraft aus, bei ihm
fühlte man sich geborgen, das habe ich bei anderen nie ge spürt…« Schüchtern, ganz leise, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, fragte ich: »Hast du viele Männer gehabt?« Sie lachte gezwungen. »O Joy! Du weißt doch, die Männer sin d sic h alle ähnlich, sie geben alle mehr od er weniger das gleiche, sie wollen alle die gleichen Beweise und die gleichen Opf er. Was sie voneinander unterscheidet, sind WIR. Ein Mann ist bei jeder Frau anders, aber für eine Frau sind die Männer sich alle ähnlich. Ich habe sie nicht gezählt, ich hab’ sie mir kaum angeguckt, außer deinen Vater, aber er war außergewöhnlich, einzigartig und… schnell. Jetzt, wo ich alt bin und an die Zukunft denke, klammere ich mich an Albert. Aber wieso kommst du auf deinen Vater?« »Würdest du ihn wiedererkennen, wenn du ihn jetzt sähest?« »Aber natürlich, ich würde ihn sofort wiedererkennen.« »Und wenn du ihn wiedersähest, würdest du wieder mit ihm gehen?« »Nein, Joy, das würde ich nicht. Man soll nie rückwärts gehen. Außerdem glaube ich, ic h liebe ihn imme r noch zu sehr . Das ist ihre große Angst, mehr geliebt zu werden, als sie selbst lieben. Liebe macht Angst, Joy, wenn sie zu sichtbar ist. Nicht nur den Männern, sondern auch Frauen.« Als Mama aufgelegt hatte, bekam ich Depressionen. Ich stopfte meinen Koff er mit unnütz en, platzraubenden Dingen voll, ich faltete meine neuen Kleider mit der linken Seite nach außen zusammen, ein idiotischer Aberglaube. Ich rief meine Freunde an, lebwohl, ich bleibe hundert Jahre fort, vergiß mich nicht, vielleicht komme ich eine s Tages zur ück. Ich ging zu Bett, ohne etwas gegessen zu haben, ganz allein in das große, kalte Bett, vor dem Einschlafen mußte ich unbedingt noch Alain anrufen. »Hör mal, ich gehe weg. Bist du sauer auf mich?« »Du mußt es tun.«
»Sag mal, warum muß ich eigentlich imm er alles Schöne ka puttmachen? Glaubst du, daß ich eines Tages glücklich sein werde?« »Später vielleicht, wenn du begriff en hast, daß es sinnlos ist, gegen das zu kämpfen, was geschrieben steht.« »Was steht geschrieben?« »Ich liebe dich, Joy, ich liebe dich mit all meiner Kraft, in jeder Hinsicht, ob du da bist oder nicht, ich habe dich immer geliebt.« »Das steht geschrieben?« »Ich schwöre dir, eines Tages wirst du meine Liebe erwidern.« »Aber ich liebe dich doch schon, Alain, wenn auch nicht mit all meiner Kraft und in jeder Hinsicht.« »Du kommst jedesmal zu mir, wenn es dir schlecht geht. Wenn es dir besser geht, verschwindest du wieder. Eines Tages wirst du nicht mehr zu heilen sein und bleiben, und ich werde dich pfl e gen, bis ans Ende. Was zählt, ist das Ende.« Ich schlief ein und träumte von den gewaltigen, hochragenden Häusern in New York, wie man sie auf Ansichtskarten sieht. Wir flogen mit der Concorde. Goraguine saß rechts von mir und drückte mir konvulsivisch die Hand. »Heute ist ein großer Tag, Lieb ling, ich habe vorhin den grö ß ten deal meiner Karriere perfekt gemacht. Wir sind gerettet. Ich werde für dich sorgen können, ja, meine Schönheit?« Kleine Kanapees mit Kaviar, kleine Toasts mit Gänseleberpastete, kleine Gläser Dom Perignon. Die Stewardeß sa h mich verschwörerisch an. Als sie sich über mich beugte, um mir zu servieren, streifte sie mit der Wange mein Haar. »Ich sammle all Ihre Fotos. Ich finde Sie so schön… Bleiben Sie in New York?« Ihre weiche Stimme und ihre Schönheit berührten mich, ich hätte ihr gern zugelächelt, mit ihr geredet. Ich nickte. »Hier ist meine Adresse. Wenn Sie sich mal langweilen, ko m men Sie doch zum Essen zu mir… Hätten Sie Lust dazu?«
Ich nickte wieder und steckte die Visitenkarte schnell in meine Tasche. Goraguine kam hüpf end wie ein kleines Kind von der Toilette zurück. »Ein dicker Vertrag, Joy, Millionen von Dollar, du hast mir Glück gebracht, Liebling.« Ein wenig später drohte er zusammenzubrechen. »Weißt du, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt Ich kann nicht mehr einschlafen, ich glaube…« Ich setzte langsam meine Brille auf, um das Ausmaß des Sch a dens festzustellen. Sein kleiner, kahler Schädel glänzte vor innerer Bewegung. Die kleinen Augen f unkelten vor Begierde, der kleine Mund war feucht. Mein schwerer schwarz er Blick war sicher sehr vielsagend, denn er erklärte übergangslos: »Das Äußer e und das Alter sind keine Hindernisse, Joy, IM GEGENTEIL, denk nur an Jackie Kennedy und Onassis…« »Er ist daran gestorben«, erwiderte ich kühl. Abergläubisch spuckte Goraguine unauffällig auf den Boden und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Und Sofia Loren und Carlo Ponti… Ich bin zu alle m bereit, verstehst du, zu allem, um dich mein Alter und… meine Mankos vergessen zu machen.« Dann kam das geballte Argument: »Ich habe mir alle s allein geschaffen, ganz allein, ich hatte nichts am Anfang, absolut nichts, ich habe über all e gesiegt, ich war ein kleiner Emigrant, ich hatte Hunger, ich werde warten, bis meine Zeit kommt, aber du wirst mir gehören, Joy!« Ich gähnte lauthals. »Sie mac hen mir Angst, Alexandre, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.« Ich tat so, als schliefe ich ein . Ich beobachtete ihn verstohlen, unter fast geschlossenen Lidern hervor, er ließ mich nicht aus den Augen , er zappelte hin und her, streckte eine Hand vor , konnte sich aber nicht dazu durchringen, sie auf mein entblößtes Knie zu legen.
Zum Glück dauerte der Flug nicht lange, und wir landeten auf dem Kennedy -Flughafen, ehe er den Entschluß fassen konnte, mich zu vergewaltigen. Eine lange schwarze Limousine mit Klimaanlage, Barfach samt Eiswürf eln und def ektem Fernseher erwartete uns am Ausgang. Der Chauffeur, der eine untadelige graue Livree trug und sein Gesicht hinter einer Ray-Ban versteck te, schloß die Türen. Zum erstenmal betrat ich den Boden meiner zwei ten Heimat. Ich dachte, vielleicht sitzt dein Vater in einem dieser scheußl i chen, abgetakelten Straßenkreuzer, die da die Straße entlangkri e chen. Ich entdeckte den Schmutz von New York, die aufgerissenen Straßen, die großen gelben Taxis, die Löcher mitten in den Av e nuen, aus denen heißer Dampf drang. Ich riß die Augen auf angesichts all dieser Wunder, der Freeway, grau von Staub, warf sich über eine Eisenbrücke in die Stadt, die Straßen Brooklyns waren schmutzig und menschenleer, die Wolkenkratzer Manha t tans betäubten mich, und dann das köstliche Gefühl, etwas zu sehen, was man nicht kennt, aber unzählige Male im Traum gesehen hat: Fifth Avenue, Broadway, Times Square, Empire State Building, Central Park, Waldorf Astoria. Ich nahm alles in mich auf, ich war besiegt und fasziniert, aufgewühlt, ein echter emotionaler Schock. Ich liebte diese erschreckende Stadt auf Anhieb wie eine Heimat. Und im Grunde meines Herzens wußte ich, daß diese Entdeckung eine Rückkehr war. Die Limousine brachte uns ins Park Lane Hotel direkt am Ce n tral Park. Ein als Kutscher kostümierter Va let riß den Schlag auf. Ich brauchte eine Stunde, um mich aus dem riesigen Gefährt hinauszuwinden, ich verhedderte mich in alle möglichen Dinge, mein Kleid rutschte bis zu den Schenkeln hoch, und al le konnten sehen, daß ich keinen Slip anhatte. Ich wurde rot wie ein Feuer wehrauto und ging hinter Alexandre in Deckung, der die Livrie r ten wie ein alter Stammgast begrüßte. Der Fahrstuhl schnellte unglaublich schnell hoch, brauchte aber trotzdem ein Jahrh un dert, tun uns in den 38. Stock zu bringen, wo ich auf den ersten
Blick sah, daß die beiden Zimmer, die für uns reserviert waren, eine Verbindungstür hatten. Ich schenkte Alexandre ein unhei l verkündendes Lächeln und zog mich in mein Gemach zurück. Die Angst der Fremdheit schnürte mir die Kehle zu, mir zitte r ten die Knie un d alles, ich wollte fliehen, zurück nach Paris Roissy. ein Zimmer war gewaltig, das Bett breit wie ein Flugzeug, die Fenster reichten bis zur Decke, und hinter der halbgeöffneten Verbindungstür blitzte Alexandres alter, kahler Schädel wie eine Drohung. Er lächelte selig. »Joy, Liebling, brauchst du etwas? Du mußt Durst haben! Möchtest du dein Kleid aufbügeln lassen? Einen Fingerhut Champagner? Soll ich den Fernseher anmachen? Fehlt auch nichts im Badezimmer?« Ich stürzte auf ihn zu, er streckte vor Schreck die Arme aus, um mich abzuwehren, aber ich begnügte mich damit, die Tür zuz u knallen. Vom Fenster aus blickte man in den Central Park, und ich sah winzige Paare, die langsam die Wege ent langspazierten, ich hörte beinahe ihr verliebtes Geflüster. Als ic h mich auszog, sagte ich mir zweimal: »Ich bin in New York, es ist kein Traum«, dann warf ich mich aufs Bett, und mir war, als würde ich gleich überschnappen. Ich ließ gerade mein erstes New Yorker Bad einlaufen, als ein Hotelbursche hereinkam, ohne angeklopft zu haben. Er stellte einen Strauß Blumen auf den Tisch. Ich blieb splitterfasernackt, wie ein e arme Irre, unter den anerkennenden Blicken des Burschen stehen. Ich machte ihm ein Zeichen , das in allen Sprachen der Erde besagt, Sie können gehen, dann nahm ich die Visitenkarte und hielt sie mir unter die Nase, weil ich ohne Brille keine kleine Schrift lesen kann. Die Erde begann zu beben: Ich denke an Dich. Marc.
Ich stieß einen gellenden Freudenschrei aus. Alexandre stürzte ins Zimmer und rief: »Was ist los?« Als er mich nackt sah, wurde er blaß, zog sich mit einem ni e dergeschlagenen Blick auf die Blumen zurück, ohne daß ich erklären mußte, was geschehen war. Vor meinen Augen tanzten Sterne, und ich ließ mich in die Wanne gleiten. Der Sturm der Gefühle in mir ließ mich die Realität vergessen, ich fing an zu phantasieren. Ich interpretierte den banalen Gruß als Heiratsa n trag, ich frohlockte, ich träumte davon, ihn eifersüchtig zu ma chen, ic h sah ihn in meine raffinierten Fallen tappen, ich ve r zehnfachte seine Leidenschaft: rasender, närrischer Wahn in einer New Yorker Wanne. Wahrend ich meine empfindlichen Brüste liebkoste, die auf dem Schaum schwammen, malte ich mir mein Glück aus. Zwei Kin der, ein Haus in der Normandie, mit wildem Wein, im August Urlaub an der Côte d’Azur, wie die Belgier. Ich hatte nur einen Wunsch, ein ganz normales Mädchen zu sein, wie alle anderen, das heißt, nicht ganz, sondern so, wie man sich die anderen vorstellt, wenn man glaubt, sie seien glüc k lich. Ich schlief in der Badewanne ein, und als ich zwei Stunden später frierend und triefend aus dem Wasser stieg, hatte ich mich erkältet. Ich nieste. Wir aßen im Traders Vic, dem polynesischen Restaurant des Plaza Hotel. Goraguine stellte mich Amerikanern vor, die er eingeladen hatte: the new sexy French Star. »Sie ist meine neueste Entdeckung«, fügte er eitel hinzu. Es gefiel mir überhaupt nicht, das Essen war finster, endlose Gespräche in einem unverständlichen , zerkauten Englisch, es ist nicht zu fassen, wie schlecht die Amerikaner englisch sprechen. Ab und zu warf mir einer von ihnen, schmutzig grinsend, einen Blick zu und Goraguine lachte laut auf und erklärte augenzwi n kernd, ich sei fifty percent French and fifty percent American; die ande ren brüllten Hurra, und der Fette, mit dem Goraguine besonders dicke tat, bestellte eine Flasche Dom Perignon . Ich trank, um mein Leid zu vergessen, ich dachte an die Blumen, die fern von mir im Hotelzimmer vor sich hin welkten. Ich be wunderte Marc,
weil er meine New Yorker Adresse schon am Tag meiner An kunft herausgefunden hatte. In meine Träumereien versunken, schüttete ich Hummer Thermido auf den Ärmel von Goraguine, der mich mit den Blicken erdolchte. Ich machte ein trauriges und bekümmertes Gesicht. »Seien Sie nicht böse, Alexandre.« Er schmolz dahin, küßte mir glühend die Hand und brummte: »Du… ach, du…« Ein Jahrhundert später standen wir auf, und Goraguine schob mich zu dem Dicken hin, der der wichtigste war, und flüsterte: »Joy , Liebling, lächle, bedanke dich, sie ne h men UNS mit in den Club 54.« Ich lächelte und bedankte mich, und der wichtige Mann säuselte mir zu: »Mädmoasäl Joy, call me Frank.« Seit dem Augenblick sagte ich Frank zu ihm, und er findet es anscheinend umwerfend. Wir nahmen Platz in einer Limousine, die noch unermeßlicher war als die vom Flughafen, wir drückten uns eng aneinander, Goraguine setzte sich auf den Klappsitz mir gegenüber und bedachte mich die ganze Fahrt mit widerlichen, schmatzenden kleinen Lippenbeweg ungen, die zärtlich sein sollten. Eine wogende Menge versperrte den Eingang des 54. Der Chauffeur hupte zweimal, damit ein Inder die hysterische Rotte auseinandertrieb, die um die Ehre bettelte, das Mekka des New Yorker Nachtlebens zu betreten. Am Arm Fran k Lorrimers, den ganz New York vertraulich King nennt, hielt ich Einzug ins 54, unter den haßerfüllten Blicken prachtvoller, halbnackter Ge schöpfe, die schon seit Stunden warteten. Musik und die typ i schen Nachtclubgerüche, schwere Parf üms, exotische Dünste , Schwaden von Schweiß, schlugen über mir zusammen und mach ten mich sof ort trunken. Frank reichte mir einen sehr starken Joint, ich zog gierig , und dann ging alles wunderbar. Kahlrasierte Schädel, rote Haare, ein geschminkter, flitterbehängter Neger, ein großer Blonder mit einem Regensc hirmhut auf dem Kopf, halb Karneval von Rio, halb Schaubude, eingeölte Brüste, von hau t engen Jeans modellierte Phalli und – wie immer – die nicht zu
besiegende Angst, die der Exzeß hervorruft. King Lorrimer stellte mich einem Star der Disco vor, Gary, er war schon wie ein Gott, Westernhemd auf einer Haut, so weich, daß Elizabeth Arden persönlich hätte neidisch werden können, weiße Joggin g schuhe und eine hautenge Nappalederhose, unter der sich sein Geschlecht abzeichnete. Er trat auf mich zu und küßte mich, als lebten wir seit zwanzig Jahren zusammen. Er schob mich auf die gestikulierende Horde zu und fing an, mit mir zu tanzen, sich rhythmisch an mir reibend. Er wollte nicht aufhören, ich konnte nicht mehr, der Champagner, die Stroboskopblitze, die Übelkeit in mir erregten, die aberwitzige Lautstärke, die Zeitumstellung und seine zu engen Jeans… ich dachte, ich würde jeden Moment ausflippen. Wir schafften es irgendwie, zur Bar zurückzuko m men, King Lorrimer schenkte mir eine kum pelhafte Geste und ein neckisches »Mädmoasäl Joy«, Goraguine schmollte. Gary zog mich mit sich, flüsterte mir dauernd Worte ins Ohr, die ich nicht verstand, und dann ein joie nach dem andern. Die Mädchen draußen fingen an zu kreischen, als sie ihn sahen, ich war stolz und beei ndruckt. Blitzlichter beleuchteten das prachtvolle Paar, das wir abgaben. Gary fragte mich, in welchem Hotel ich abg e stiegen sei, dann winkte er seinen Leibwächtern, zwei Kerlen , die keinen vertrauenerweckenden Eindruck machten, und wir stiegen in einen weißen Rolls -Royce, der uns auf dem kürzesten Weg zum Park Lane brachte. Ich wollte aussteigen. »Gute Nacht, Gary.« Er sah mich ironisch an. Na gut, er gefiel mir, aber trotzdem würde ich Marc nicht gleich am ersten Abend betrügen, mit d em Erstbesten, ob Discostar oder nicht, und dann noch in meinem Zimmer, vor den Blumen des Mannes, den ich liebte! Konnte ich so etwas tun? Ja. Nun erst recht!
E
in schlechtes Gedächtnis ist wie ein zwei faches Leben. Man kann zweimal denselben Roman lesen, zweimal beim selben Film weinen, ein Panorama zweimal sehen, zweimal dense lben Menschen grüßen und mit dem Herzklopfen, mit dem man einen Unbekannten entdeckt, zweimal denselben Mann lieben. Zahll o se Probleme, die auf Unachtsamkeit, Verge ßlichkeit, einf ache Zerstreutheit zurückgehen, wie: Das freut mich, Sie kennenzule r nen, zu einer Klassenkam eradin, oder das: Grüß dich, Max, zu einem fremden Passa nten, den man für einen anderen hält, so l chen kleinen Ko mplikationen folgt das Glück unerwarteter Erinnerungen, getreulich aufbewahrt von irgendeinem Teil uns e res Kö rpers, von denen jeder sein eigenes Gedächtnis besitzt. Die Nase erinnert sich an bestimmte Gerüche, die da s Gehirn schwer einordnen kann . Die Hände behalten nicht viel. Die Augen merken sich alles. Mein Herz und mein Geschlecht liegen nie au f einer Wellenlänge, sie kollidieren immerfort. Mein Herz hat nichts vergessen, seit es anf ing zu schl agen, es erinnert sich an die kleinste Einzelheit, die alltäglichste Empf indung, den ersten Kuß unter dem Schut zdach des Gymnasiums, die au f kommende Eifersucht, ein Wegble iben, eine Rüc kkehr, Lügen. Mein Geschlecht dagegen hat ein sehr schlechtes Gedächtnis. Es leidet an Amnesie, ist undankbar und zerstreut. Die intensi vsten Gefühle verblassen so schnell, daß sie manchmal wie ein Traum erscheinen. Es ist eine frustrierende Dualität, das Herz pocht, während das Geschlecht schweigt, oder das Herz bleibt stumm, während das Geschlecht nach Befriedigung ruft, unten gefoltert, oben ermahnt, Angst, Schlaflosigkeit und die Tränen einer Ve r lassenen auf jungfräulichem Kopfkissen. Die Liste der Bettg e fährten wird länger, Verzweiflung und Durcheinander. Ich verlebte meine erste amerikanische Nacht wie eine neugieri ge Pauschaltouristin, die alles mitmacht. Ich trank Bourbon, ohne den Blick von den vorwurf svollen Blumen wenden zu können, während Gary mir die Ohren ausschleckte und flüsterte: »I want to fuck your ass.« Ich hatte es nicht verstanden, also tat er es, ich
wurde von einer starken, spitzen Zunge angegriffen, die in mich hineinfuhr, ich betrachtete die Blumen, die vor Scham den Kopf senkten, während ungeschickte Finger mich malträtierten. Ich war verkrampft und unzugänglich, trocken, fremd. Er nahm mich gewaltsam, ich hätte es genießen sollen, ich hätte kommen können, aber ich hatte etwas anderes im Kopf, ich begriff nicht, was ich hier machte, in den Armen dieses schönen Jungen, der sich mechanisch abrackerte, mir aber nicht mehr Lust einflößte als der perlmuttfarbene Di ldo, den ich abends mal im Schauk a sten eines Museums gesehen hatte. Ich wurde nervös, ich bekam Mitleid mit ihm, er war so rührend mit seinen sorgsam gezielten Stößen, den uralten Tricks, mit denen er mich aus meiner Le thargie reißen wollte, mit der tapferen Erektion, die er mir stolz angeboten hatte wie ein e Blume, die Finger um das bebende Glied, rot wie das Blut das die knotigen Adern, die es wie Schlangen umschließen, anschwellen läßt. Ich ließ meine Hand an seinem eingeölten Körper hinuntergleiten, spürte dabei die gespannten Muskeln und griff nach der warmen, zuckenden Masse unter seinem aufgerichteten Glied. Vor Freude über diese Initiative bäumte er sich auf und drang so heftig und tief in mich ein, als wolle er mir das Rückgrat brechen. Ich wollt e nicht frigi de erscheinen, die Ehre Frankreichs, und si mulierte einen Or gasmus, der ihn – und mich selbst – beruhigte. Nach dem Schweigen, der Zigarette, den Gerüchen, die wie Nebelschleier in der Luft hingen, spürte ich die unvermeidliche Hand, die sich auf die Brust oder den Bauch legt, ich hörte den Satz, der in allen Sprachen gleich ist und in der Luft hängen bleibt wie ein e rheto rische Frage. Ich glaube, Gary hat sich nicht tauschen lassen, und bei Morgengrauen floh er geräuschlos, weil er mich nicht wecken wollte. Aber ich schlief gar nich t. Als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, stieß ich einen langen Seuf zer aus, ging zu meinen Blumen und streichelte sie, sie rochen nach Frankreich, nach Marc, nach allem, was ich liebe und was mir fehlt, sobald ich es nicht mehr habe.
Sonnenlicht durchflutete den Raum. Der Zimmerkellner weckte mich, er schob einen imposanten Tisch herein, einen Tisch, der für ein einsames Festmahl gedeckt war, kältebeschlagene Gläser, gewärmte Teller, Toast mit Butter, weichgekochte Eier, frisch gepreßter Orangensa ft, süße Konfitüren, ge bratener Schinken, Schnittblumen, goldene Croissants und Milchkaffee. Ich aß wie eine Verhungernde und legte mich wiede r hin, tun mich zu erho len. Goraguine kam ins Zimmer, nachdem er angeklopft hatte, er schenkte mir einen halb schmollenden, halb beleidig ten Blick, ein gedemütigter Märtyrer. Ein schnippischer Morgengruß: »Hoffentlich habt ihr euch gut amüsiert.« Ich wollte Marc einen langen Brief schreiben, aber nach »Ve r zeih mir, Liebster« und zwei lyrischen, leidenschaftlichen Seiten, sehr nuancenreich, Fragen ohne Antwort und immer wieder drei drohende Pünktchen, hielt ich es für besser, meine Liebesbeteu e rungen in Konfetti zu verwandeln, das sich in den schlammigen Abwasserkanälen von New York verlieren würde. Ich wanderte durch Manhattan, Fifth Avenue, Ma dison Av e nue, Park und Lexington Avenue, ich fand die gleichen Bo u tiquen wie in Paris, Rom und London. Die sogenannten feinen Amerikaner redeten ungeniert laut, ich kaufte mir ein paar TShirts, zwei oder drei Micky -Maus-Slips, eine automatische Brille, klick-klack, schwarz bei Sonne und hell im Schatten. Ich kam total erledigt zurück ins Hotel, wo Goraguine mit demonstrativer Unruhe auf mich wartete. »Aber Joy, Liebling, hast du den Verstand verloren, allein in New York herumzulauf en, du hättest vergewa ltigt oder umg e bracht werden können, weißt du das denn nicht!« Dann riß er die Augen auf. »Bist du in dieser Aufmachung lo s gegangen?« Er deutete mit einem zitternden Finger auf mein federleichtes Hemdblusenkleid, unter dem meine Brüste ungehindert wippten und, zugegeben, recht gut zu sehen waren.
»Das ist ja geradezu eine Auff orderung zur Notzucht! Joy, jetzt hör mir bitte mal gut zu, ich will nicht, daß du allein auf die Straße gehst…« Am nächsten Morgen begleitete er mich. Er bestand darauf, eine Pferdekutsche zu nehmen, wie die letzten Touristen, und wir fuhren durch die Avenuen und verursachten Verkehrsstaus, haßerfüllte Blicke wütender Autof ahrer, ich kam mir lächerlich vor mit Goraguine vor mir, der mit ausgestrecktem Ann den Fremdenführer spielte und endlose Kommentare über jedes Gebäude, jede Straße abgab. Von de n gewaltigen Betontürmen erdrückt, erinnerte er an Napoleon vor den Pyramiden. Die Kutsche setzte uns vor einem stinkf einen Geschäft ab, wo er immer seine gestreiften Boxershorts kauf te und lä cherliche Schottenmuster-Hosen, in denen er aussieht wie Zavatta. Wir beendeten den denkwürdigen Tag mit einer Besichtigung des World Trade Center. Ich kaufte überall Tausende von Ansicht s karten, die ich an Ort und Stelle schrieb und in Briefkästen warf an Freunde, an Alain, an Mama und sogar an Marc. »Küsse aus New York, was für eine Strapaze! « – »Ich beeile mich, alles zu sehen, damit ich Euch zu Hause berichten kann.« – »Deine kleine Freundin, die Dich liebt und auch in de r Ferne an Dich denkt.« – »New York ist wie Lausanne, nur höher, herzliche Grüße an Euch beide.« – »Von der Spitze der Freiheitsstatue alles Liebe und viele Küsse…« Je nach Schauplatz und Empfänger. Verze i hung, aber ich hatte schon immer etwas von einer Touristin aus der Provinz an mir, was die Männer, die mich begleiten, ärgerlich macht, aber wenn ic h schon besichtige, besichtige ich richtig. Ich lasse mich nie von meiner einzigen Sorge abbringen: Erinneru n gen speichern, damit ich später erzählen kann. Abends aßen wir oft mit King und se inen Freunden in ung e wöhnlichen Restaurants, die für New Yorker absolut traditionell waren, wir schauten ins 54 rein, wo man mich allmählich kannte, und fuhren dann zurück zum Hotel, Goraguine mir auf den Fersen wie ein degoutanter kleiner Basset, jeden Mo ment bereit, sich bei der kleinsten Schwäche auf mich zu stürzen. Mehrmals
rief ich mitten in der Nacht Marc an, aber sobald er abgeno m men hatte, legte ich auf, ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte, ich wollte nur wissen, ob er noch lebte, und seine verschla fene Stimme, die »Hallo?« grunzte, beruhigte mich. Eines Abends konnte ich jedoch nicht widerstehen. »Ich bin’s, Joy, ich rufe aus New York an.« Ein schauriges Schweigen trennte uns. »Wie schön, deine Stimme zu hören, ich denke natürlich viel an dich…« »Ich hab’ mich sehr über die Blumen gefreut, ich hatte nicht damit gerechnet«, stammelte ich blöde. »Du bist ein kleines Dummchen.« Schweigen. »Magst du New York?« Ich wurde schwach. »Wenn du hier wärst, wäre es bestimmt herrlich, aber du bist nicht hier!« Schweigen. »Weißt du« – Schweigen – »ich mag dich sehr« – Schweigen, au! – »aber ich glaube, ich muß es dir sagen, ich liebe Joelle…« Mein Herz fiel in Stücken auf den Teppichboden. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, Joy, hallo, sag doch was, hörst du mich? Hallo, sei bitte nicht TRAURIG!« Ich hätte ihm gern mit einem wunderschönen Satz mit vielen seltenen Worten geantwortet, aber ich konnte nur schniefen. »Joy, ich schwöre dir, wir sehen uns wieder, ich werde wieder mit dir schlafen, du weißt ja, daß ich nie darauf verzichten kön n te, aber etwas anderes kann zwischen uns nicht sein. Wir beide sind wilde Tiere, wir können uns nur nachts begegnen, im Wald, ohne daß uns jemand überrascht.« Die Wut ließ mich ein Vokabular finden, das vielleicht begrenzt, dafür aber unmißverständlich war. »Hör auf, ich hab’ kapiert, ich werde mich danach richten. Hörst du? Ich werde versuchen, nicht mehr an dich zu denken, ich werde mich von allen bumsen lassen, du Idiot, ich brauche nämlich nur den kleinen Finger krumm zu ma chen, und schon werfen sich mir die tollsten Typen zu Füßen.«
Er lachte laut los. »O Joy, ein Mädchen wie dich heiratet man NIE! D u reizt eben nicht zur Ehe. Hab ein bißchen Geduld, mit den Jahren wirst du vielleicht dein Gleichgewicht finden. Du bist wie eine Brennessel, Joy, du bist zu sch ön, zu jung, zu frei, zu… ich weiß nicht, was, es macht einem Angst und treibt einen zur Flucht…« »Du verstehst nichts, Marc. Ich glaube, im Grunde bist du ein bißchen dumm… Du kennst mich nicht.« »Ich dich nicht kennen, mein Gott, ich bi n sicher, du hast schon mit Männern in New York geschlafen, oder irre ich mich?« Ich fing an zu schreien. »Es ist deine Schuld, ich werde mich ALLEN Männern an den Hals werfen, und du wirst krank werden vor Eifersucht und eines Nachts bei Vollmond vor Eifersucht sterben.« »Du kannst mich gar nicht eif ersüchtig machen, weil ich dich nicht liebe. Ich hoffe, diesmal hast du begriffen , Joy? Ich liebe dich nicht. Du wirfst dich umsonst weg , schade.« Schweigen. »Ich bin müde, bis bald, ich ruf’ dich an.« Er legte auf, ich blieb am Telef on sitzen und zitterte vor Wut und Kälte. Ich warf mich aufs Bett, ich zog mir drei Kissen über den Kopf, um nichts mehr zu hören, und während ich einschlief betete ich zum Himmel, mich sterben zu lassen, jetzt, oh ne daß ich es merkte, feige bis zum Ende. Dann begann eine lange, langweilige, arbeitsreiche Phase. King Lorrimer, der Verwaltungsratsvorsitzender von General Artists war, hatte mich für intelligente Nebenrollen in B-Filmen eng a giert, ich drehte von morgen s bis abends Szenen, die gar nicht komisch waren . Abends schlief ich im Taxi ein und hatte keine Zeit, über mich armes Würstchen zu weinen. King war fabelhaft zu mir, nie eine zweideutige Geste, ich glaube, er betrachtete mich ein wenig als seine Tochter, und das tat mir gut. Eines Abends bekam ich furchtbare Depressionen und vertraute mich ihm an.
»Ich fühle mich so wahnsinnig allein, King Darling , ich kann das Hotel nicht mehr ertragen, i ch habe das schreckliche Bedür f nis, mich irgendwo zu Hause zu fühlen.« Kings Brillengläser beschlugen vor Anteilnahme, und am näc h sten Tag hatte ich eine Wohnung, für zwei Monate, gemietet von der Filmgesellscha ft. Ich war verrückt vor Freude, ich eilte zu King und umarmte ihn, wie ich meinen Vater umarmt hätte, glaube ich . Er wurde knallrot vor Verwirrung und drückte mir herzlich die Hand. In der folgenden Woche zog ich um. Das Haus war am Central Park, Ecke 70th Street. Von meinem Fe n ster im neunzehnten Stock aus sah ich nichts als Bäume, die im geheimnisvollen Schatten des Parks verschwammen. King und Goraguine kamen zur Einweihungsparty, mit einem Haufen von Leuten, die ich nicht kannte und die mein e eben erst geputzte neue Wohnun g in ein Schlachtf eld verwandelten. Ich bekam an dem Abend einen großen Schock. Goraguine st ellte uns Joana vor, eine üppige Puertoricanerin, in die er sich verliebt hatte. Ein Paar wie aus Dantes Fegefeuer, sie groß, prachtvoll und schwe l lend, mit dunkler Haut und bis zu den Lenden reichenden rabe n schwarzen Haaren, er dürr und grau, wirkte neben ihr noch kleiner und kahlköpfiger. Ich ahnte, daß sich diese Änderung in Goraguines Leben nachteilig für mich auswirken würde. Die Kleine hatte etwas. Er brauchte mich nicht mehr, und er gab es mir prompt zu verst e hen. Ich rief ihn mehrmals an, ohne ihn erreichen zu können, und eines Morgens erfuhr ich, er sei mit Joana nach Paris gefl o gen. Er hatte sich nicht mal von mir verabschiedet und mir natürlich keinen Cent von dem vielen Geld gegeben, das er mir schuldete. Als die letzten Gäste an jenem Abend die Tür hinter sich zu gemacht hatten, war ich allein mit meinen schmutzigen Tellern und meiner sublimen Einsamkeit , mei n freigegebenes Herz flog von Manhattan nach Lausanne und dann nach Paris, von Mamas Armen in Marcs Arme, ich war allein wie noch nie. Ich st rengte mich an zu vergessen, doch es war stärker als ich. Jedesmal, wenn
mir auf der Straße eine Gestalt begegnete, die ihm ähnelte, be gann mein Herz zu hämmern, ich stöhnte: »Marc!« un d mußte mich an eine Hausmauer lehnen. Goraguines Abreise gab mir den Rest. Ich wußte, daß nun alles wieder von vorn anfangen würde, in jeder Beziehung, der Au f enthalt in New York würde mir nichts bringen, im Gegenteil, ich hörte nicht auf, Fehler zu machen, denn letzten Endes wäre es besser gewesen, wenn ich Goraguine gegebe n hätte, was er hatte haben wollen, wenn ich mich vor ihm ausgezogen und ihn ge streichelt hätte, dann wäre alles anders gekommen. Aber bei dieser Vorstellung lehnte sich alles in mir auf, noch nie hat mich jemand zu etwas herumgekriegt oder gar ge zwungen, nicht mal Marc, alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich aus eigenem Antrieb getan. Das ist der einzige Reichtum, den ich besitze, und ich bin nicht bereit, mich zu ändern. Ich machte die Bekanntschaft von Steve Corleone. Er war 25 Jahre alt und hatte ein Restaurant in Little Italy. Er war der Typ Mann, dem man in Liebesromanen begegnet. Er war verführ e risch, elegant, rücksichtsvoll, er betete mich an, seit er mich gesehen hatte, er umsorgte mich wie ein zurückgebliebenes Kind. Er verbrachte sein e Abende zu meinen Füßen, stumm und be wundernd, ich hätte nie gedacht, daß so etwas möglich sei. Jede Nacht flüsterte er mir Millionen Liebesworte ins Ohr, und wenn er mich in das große Bett bettete, hatte ich den Eindruck, er zelebriere eine Messe. Er küß te meinen Körper, wie man die Bibel liest, mit religiöser Inbrunst und ohne eine Zeile zu übe r springen. Er liebkoste mich so unendlich sanft, daß ich eines Abends wider Willen unter seinen Feenfingern einschlief. Er wartete darauf, daß ich zu zittern began n, und hatte ständig Angst, mir weh zu tun, er nahm mich nie, ehe ich nicht so weit war und ihm von mir aus den Weg wies. Jahrhunderte vergingen, bis er bereit war, an sein eigenes Vergnügen zu denken, und selbst dann noch war er bekümmert, es nicht länger hinausg e schoben zu haben. Er erlaubte mir nicht, ihn anzuf assen. Wi e derholt wollte ich sein Glied nehmen, um es zu liebkosen und zu
küssen, weil ich das physische Bedürfnis danach hatte, aber er entzog sich mir. Ich versuchte, ihm zu erklären, daß ich den unbezwinglichen Drang hatte, das Glied des Mannes, den ich liebte, in den Mund zu nehmen, daß es mir unendliche Lust bereite, daß es für mich der logische Höhepunkt meiner Bezi e hung zu einem Mann sei, sein Geschlecht in Besitz zu nehmen und es zu trinken, und daß ich bei diesem Ritual keinerlei Scham empfände, im Gegenteil, seinen Samen in meiner Kehle zu sp ü ren, sei für mich ein Augenblick des Friedens. Er verstand mich nicht. Er zog seine schönen Brauen hoch, runzelte seine schöne Stirn, schloß seine sch önen Augen wie Jesus vor Maria Magdal e na, obgleich ich überzeugt bin, daß Jesus die Frauen besser verstand als Steve Corleone, den ich eine Woche lang närrisch liebte und der zufällig der einzige Mann ist, von dem ich heute in der Vergangenheit reden kann, im Tempus des unwiderruflich Abgeschlossenen, des Todes. Eines Tages konnte ich es nicht mehr aushalten, daß er meinen Mund verweigerte und daß er mich dazu auch noch mästete, indem er mir jeden Abend Cannelloni, Fettucini, Tortellini, Lasagne verdi, Macc aroni alla carbo nara, Chianti und Zuppa inglese brachte. Prüderie und Kilos, das war zuviel auf einmal. Mein italienisches Abenteuer endete sonntagmorgens am Tel e fon. Es regnete. Steve rief an, um mir mitzuteilen, er werde mich um zehn Uhr abholen, um mic h der Ma mma vorzustellen, amore mio, und ich antwortete: »Nein, Steve, tut mir leid.« »Nein? Warum nicht? Was tut dir leid?« Ich antwortete ihm gelassen, mit grausamer Gleichgültigkeit, ich hätte genug von seinen Tagliatelli und von seiner Mamma, von der er ununterbrochen redete, und von seinen Seminaristenkom plexen. Er legte auf, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ciao. Volare. Die Nacht danach liebte ich einen Freund von King, einen Mann mit grauen Schläf en und Schildpattbrille, der mich mitg e nommen hatte in sei n Penthouse, hoch über Manhattan, im letzten Stock eines in Lichtern schwebenden Turms. Die Nacht danach einen anderen. Die Nacht danach blieb ich allein zu
Hause, trank Milch und stopfte mich mit Popcorn voll. Gegen Mitternacht bekam ich einen Rappel, ich ging hinunter auf die schwarze Straße und schlenderte auf das bedrohliche Laubwerk des Central Park zu. Ich wußte, daß in den dunklen Gebüsche n der Tod lauerte, daß ein Kranker herausspringen und mich au f schlitzen konnte, aber ich ging weiter, starr vor Angst und en t schlossen. In dem Augenblick, als ich den Park betreten wollte, hörte ic h Bremsen kreischen. Ein grüner, total zerbeulter und verrosteter alter Laster hatte hinter mir gehalten, und ein Mann in blauem Drillich lief auf mich zu. Er war gro ß und kräftig, seine breiten Schultern hoben und senkten sich vertrauenerweckend, er war blond, hatte zottelig e Haare, ein blonder, fast roter Bart beherrschte sein Gesicht. Seine klaren Augen besiegten mich, sie waren blau, wie meine. Er lächelte mir zu, und ic h glaubt e das Lächeln wiederzuerkennen, er fragte mich mit näselnder Stimme etwas, ich verstand nicht, was er gesagt hatte, und antwortete auf gut Glück: »Je ne sais pas.« Er lachte, zeigte blitzende Zähne und schlug sich auf den Schenkel. »Sie sind Franzö sin«, sagte er mit einem starken Ak zent. »Sie kennen die Gefahr nicht . Nicht allein hier, nachts. Killer. Dangereux!« Er baute sich vor mir auf und machte mir ein Zeichen, in se i nen Laster zu steigen. Ich tat es, und am Morgen kannte ich New York, die verl assenen Straßen, die ausgeweideten Mietskasernen, die Autofriedhöfe Brooklyns, er hatte mir seine Stadt erzählt und mir ihre Geheimnisse gezeigt. Ich winkte ihm zum Abschied zu und bildete mir ein, ich hätte meinen Vater wiedergefunden.
A
n einem Tag wie jedem anderen fand ich im Briefkasten eine Ansichtskarte »Souvenir de Paris«, einen rosa Brief, der in Lausanne aufgegeben war, und einen Scheck von General Artists. Auf der Ansichtskarte standen nur zwei Worte: »Wann« und »Marc«, dazwischen ein gekrakeltes kleines Herz. Mama hatte in ihrer schönen, nach rechts geneigten Han d schrift, die ich einst so unglücklich im eiskalten Pensionat entzi f fert hatte, drei lange Seiten voll geschrieben. Sie berichtete über Lausanne, ihr nach Bohnerwachs und Kamillentee ri echendes häusliches Glück in der Schweiz, den Rückzug mit fliegenden Fahnen, und ich stellte mir unwillkürlich ihren schönen, brau n gebrannten, elastischen Körper vor, der so viele anspruchsvolle Männer erregt hatte und den sie jetzt diesem rothaarigen Wide r ling schenkte. Sie beendete den Brief mit rührenden Empfehlu n gen. Ich hatte das Gefühl, daß sie nun, wo wir getrennt waren, allmählich alt wurde, es war, als ob zwei Menschen auf dem Bürgersteig gleichzeitig losgehen, aber der eine geht ein bißchen schneller als der andere, und schließlich biegt der schneller Ge hende um eine Straßenecke und ward nicht mehr gesehen. Am späten Nachmittag rief Margopie rre an: »Ich bin’s, mein Kuckuck, in Paris ist herrliches Wetter, und ich denke an dich!« Die Worte sprudelten zwischen Fragen und Lachen. »Joy, mein Liebes, ich hab’ den Mann meines Lebens kennenge lernt, er hat mich auf die Bahamas mitgenommen…« »Auf die Bahamas?« Sie sprach von der Zeit, als ich mit Mama in einem alten, efe u umrankten Giebelhaus in Meudon wohnte . Die Rosen im Ga r ten, de r Kaffee auf der sonnenwarmen Terrasse, das karierte Tischtuch und die Erdbeermarmelade, das tut weh, wenn man in Manhattan im neunzehnten Stock hängt. Ich schniefte zweimal, und ihre Stimme wurde besorgt. »Was ist los, Joy? Ist was nicht in Ordnung?« Ich antwortete: »Nein, alles bestens, danke. Gora guine ist abge reist, und ich sterbe vor Einsamkeit, ich kann nicht mehr.«
»Joy, ich hab ’ einen fabelhaften Freund in New York , er wird dich auf andere Gedanken bringen. Ich rufe ihn sofort an…« »O ja!« erwiderte ich seufzend. Wir küßten uns, und ich wiederholte zweimal: »Ich zähle auf dich, ja? Meine Margopierre?« Ich wanderte durch meine Wohnung, ich suchte etwas, womit ich mich beschäftigen konnte, ich zählte mein Geld, 29 Dollar, und dann bimmelte wieder das amerikanische Telefon. Ich hörte eine Stimme, die aus den Tief en der Erde kam, sanft und hart zugleich. »Guten Abend, ich bin der Freund von Margopierre. Sind Sie heute abend frei?« Verblüfft und hingerissen sagte ich ja. »Ich werd e um acht Uhr vor Ihrem Ha ns warten. Ziehen Sie sich an. Seien Sie pünktlich.« Ich fragte mich eine geschlagene Stunde, was ich tun sollte. Ich wollte mit Margopierre reden, aber das dumme Ding war schon wieder ausgegangen. Ich legte mich in die Badewanne und stellte mir eine Stunde lang vor, wem diese umwerfende Stimme gehören mochte. Ich zog eine geschlitzte Tunika an un d eine todschwarze Hose, schlimmer als nackt, ich schminkte mich meisterha ft im Holl y woodstil der zwanziger Jahre, und ich setzte mich hin. Ich warte te auf den entscheidenden Augenblick und steckte mir eine Zigarette nach der andern an, und um Punkt acht fuhr ich nach unten und verließ die Lobby genau in dem Moment, in dem ein blitzender Rolls-Royce vor der Tür hielt. Ich blieb auf den Ei n gangsstufen stehen, ein schelmischer Wind versuchte meine Tunika zu lüf ten, ich hantierte mit meiner Tasche, um mir etwas Damenhaftes zu geben, aber er, am Steuer des Rolls, traf keine Anstalten auszusteigen. Ich sah eine dunkle, unbewegliche Ge stalt, wie in einem Bogart -Film, auf -re-gend. Nach einem Jah r hundert stoischen Trotzes öffnete mein Malteserfalke die Tür. Ich ging auf den Rolls zu, bückte mich etwas, um ihn sehen zu
können, und dachte, das sähe sicher so aus, als ob eine Hure einen Freier an Land zieht. »Steigen Sie ein.« Er lehnte am Fenster mit der unbekümmerten Eleganz der Leute, die nichts überraschen kann. Ich ließ mich auf den Sitz gleiten und wurde von einer raffinierten Mischung seltener Gerüche bestürmt, ungegerbtes Leder, Virginiatabak und kaum wahrnehmbare Spuren von Sandelholz. Die dunkle, immer noch stumme Gestalt musterte aufmerksam meine Umrisse, lange, blasse Finger streichelten instinktiv das Steuer, mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich glaubte ein Nicken auszumachen, er stellte di e Automatik ein, und der Rolls rollte geräuschlos die Straße entlang, wie ein Dampf er in der Nacht. Er lächelte, seine Zähne blitzten im Dunkeln. »Schönheit ist ein Versprechen von Glück.« Ich riß die Augen auf, so merkwürdig war noch niemand zur Sache gekommen. »Shakespeare hätte Sie kennen sollen, Joy.« Mir fiel keine Antwort ein, und er wiederholte langsam meh r mals, mit unterschiedlicher Betonung: »Joy… Joy. Joy…« Als er in die Fifth Avenue einbog, wurde es im Wagen heller, und ich konnte ihn endlich seh en. Er fuhr sehr umsichtig, ohne mir die geringst e Aufmerksamkeit zu schenken. Ich betrachtete ihn ernst, und sein Anblick erleichterte mich irgendwie. Ich wartete, daß er mir Fragen stellte, und wagte nicht, das Schwe i gen von mir aus zu brechen, aber er konzentrierte sich auf den Rolls, der alle Schlaglöcher zu schlucken schien. Ich legte den Kopf an die lederne Nackenstütze und beruhigte mich langsam, ich streckte die Beine in dem Wissen aus, daß er es nicht als aufreizend empfinden würde. Ich schloß die Augen und wünsch te, er würde das gleiche tun wie die anderen, mit mir reden, mich anfassen, aber er blieb stumm und gleichmütig. Jede Minute machte das Schweigen lastender, und die Stille kettete mich an ihn. Er hielt an einem rotgestrichenen Gitter und st ellte den Motor ab. Sein Blick richtete sich wie ein Laserstrahl auf mich.
»Ich heiße Bruce. Sie müssen alles vergessen, was Sie quält. Ich weiß alles. Sagen Sie mir nichts. Folgen Sie mir und schweigen Sie, egal, was geschieht Sie müssen gehorchen, DAS WISSEN SIE SEHR GUT…« Er ging mir voran zur Tür eines düsteren Hauses. Wir durc h querten einen Hof, dann läutete er an einem Tor aus Stahl. Ich folgte ihm zitternd, sicher wegen der Kälte. Wir betraten einen von Wandlampen beleuchtete n Lagerraum. Von Eisenträ gern hingen Tapisserien herab, die im bebenden Li cht wogten. Ein leuchtend roter Teppich bedeckte den Zementfußboden. Auf niedrigen, symmetrisch angeordneten Tischen standen Sträuße schwarzer Blumen. In dunklen Ecken lagen ausgestopfte Tiere, ein Panther mit erhobener Tatze, eine Löwin mit auf gerissenem Maul und andere, die ich aus Zeitmangel nicht genau sah. Eine jähe Angst packte mich, ich hatte Mühe, mich auf meinen hohen Absätzen zu halten. Bruce drehte sich um und sah mich hart an, als begriffe er mein e Befürchtungen. Er hob einen Wandbehang und schob mich in einen Salon, unter einen hohen schwarzen Baldachin. Etwa zwanzig Leute unterhielten sich gedämpft, die Männer waren dunkel gekleidet, die Frauen trugen Abendkleider, Eiswürfel klirrten leise in Glä sern mit schweren Cocktails, Seide raschelte, unterdrückte Seufzer. Bruce nahm meinen Arm und führte mich geradewegs zu einer großen Schwarzen, die die Stirn runzelte, als sie mich erblickte. Meine Lippen begannen zu be ben, ich hatte Angst, ich drehte mich um, aber Bruce war fort. Die Schwarze nahm meine Hand und schenkte mir ein Lächeln, das beruhigend sein sollte. Ich spürte ihre warme Handfläche und sah, daß ihr Mund sich entspannte. »Der schwarze Salon und der rote Salon. Bruce WILL, daß Sie beide kennenlernen. Beginnen wir mit dem roten!« Sie ging zu einem Tisch und reichte mir ein Glas Champagner. »Trinken Sie.« Ich trank die eisige Flüssigkeit und versuchte zu kaschieren, daß meine Hände zitterten. Dann ging ich auf ein Zeichen meiner Führerin durch die Katakomben und gelangte in einen mit tiefr o
tem Samt ausgeschlagenen Raum. Diffuses Licht brach sich in goldenen Beschlägen und wurde von Spiegeln zurückgeworfen. Drei Frauen saßen in blutroten Sesseln. Die erste, auf die mein Blick fiel, war eine junge Vietnamesin mit glatten, hochgesteckten Haaren. Ihre bernsteinfarbene, schweißf euchte Haut schimmerte wie malvenfarbener Atlas, ihr nackter Körper lehnte hingegeben im Sessel, und ihr trauriger Blick gab dem Lächeln, das ihre perlweißen Zähne entblößte, et was unendlich Geheimnisvolles. Neben ihr saß eine große Frau, deren platinblondes Haar bis auf die sommersprossigen Schultern fiel, mit großen, schwellenden Brüsten, die unter einem viel zu engen, halbdurchsichtigen TShirt vibrierten. Ihr Unterkörper war nackt, und die Locken ihres stark gekräuselten, sehr langen Vlieses verloren sich zwischen den Schenkeln. Die dritte Frau, etwas weiter im Hintergrund, schien sich verbergen zu wollen. Sie hatte kastanienbraunes Haar, hielt eine Hand an die Stirn und trug eine große Brille. Unschlüssig blieb ich stehen und sah mich nac h meiner Führ e rin um. Ich fragte mich, warum Bruce so abrupt verschwunden war, und versuchte, den Einsatz dieses Spiels zu erraten. Die Beleuchtung verlosch langsam, und nun sah man in der Wand drei goldumrandete Nischen, in denen plötzlich grelle, bläuliche Scheinwerfer aufflammten. Die drei identischen Nischen waren etwa so gro ß wie ein Do p pelbett. Dann fing es unvermittelt an zu regnen, und ich zuckte zusammen, merkte abe r sof ort, daß ich de n Regen nur hörte – ich spürte nicht einen Tropfen; das Prasseln wurde ohrenbetä u bend, beruhigte sich dann, wurde wieder intensiver und entfernte sich zugleich. Das prasselnde Geräusch ging mir auf die Nerven , und ich bekam eine Gänsehaut, als würde ich vo n einem eiska l ten Guß durchnäßt. In diesem Augenblick bewegten sich hinten in den Nischen Schatten, und es wurden drei Objekte sichtbar, die ich nicht gleich identifizieren konnte. Ich trat näher heran, ich arme Halbblinde, und entdeckte in jeder Nische ei n männliches Geschlecht, das sich sanft regte. Die muskulösen Bäuche zuckten verhalten, die Schamhaare glänzten im blendenden Li cht der
Scheinwerfer. Ich stellte mir vor, die drei Männer lauerten hinter den Nischen auf das, was komme n würde, und ein Schaue r durchlief mich. Die wartenden Phalli faszinierten mich. Die Vietnamesin erhob sich als erste und ging zur mittleren Nische. Sie kniete sich hin, und ich bemerkte, daß vor den Nischen dicke Kissen lagen. Langsam streckte sie die Hand aus und griff nach dem langen braunen Glied, das vor ihr hing. Das Prasseln des Regens wurde schwächer. Die junge Asiatin nahm es in die Hand und drückte es krä ftig und massierte es mit Leidenschaft, sie zog die glänzende Vorhaut zurück, bis die große Eichel, die sich mit Blut zu füllen begann, entblößt war. In wenigen Sekunden er reichte das Glied eindrucksvolle Ausmaße, unter der gespannten Haut zeichneten sich die knotigen Adern ab, und es richtete sich auf wie eine Schlange, die gleich zustößt. Eine außergewöhnliche Erregung bemächtigte sich meiner. Kalter Schweiß lief mir über die Schläf en, und in meinem Bauch brandete eine heiße Woge auf. Die junge Vietnamesin mit dem traurigen Blick hob das erigierte Glied an und liebkoste den faltigen Hautsack an seiner Wurzel mit ihrer Zunge. Das Stöhnen, das die große platinblonde Frau hinter mir nicht unterdrücken konnte, wühlte mich auf. Sie erhob sich und ging zur ersten Nische, in der ein anderes Glied wartete, sie warf sich zu Boden und nahm es mit einem leisen Lustschrei in den Mun d. Der Bauch des versteckten Mannes ruckte nach vorn, um den gierigen Schlund zu erreichen. Die dritte Nische wurde von einem Geschlecht eingenommen, das genauso rot war wie die Wandbehänge und sich langsam pulsierend aufrichtete. Ich ging darauf zu. Ich mußte es einfach berühren, mußte es mit den Fingern zum Leben erwecken und in meinen ausgedörrten Mund nehmen; ich konnte dem Ruf nicht widerstehen, es gab nichts als diesen Flammenstab, der nach Erlösung lechzte, die Musik des Regens wurde betörend, die Nacht umfing uns und trennte uns von der übrigen We lt, ich hatte Lust auf dieses anonyme Glied, mein Mund öffnete sich weit, um die harte Masse zu empfangen und von dem heftigen Erguß getränkt zu werden . Ich kniete mich hin, ich ergriff das
Geschlecht, das nach Moschus und Weihrauch duf tete, und umklammerte es. Es bebte und glitt mit erstaunlicher Leichtigkeit in meiner Hand auf und ab. Ich schloß die Augen, um es in Besitz zu nehmen, ich hatte das unsinnige Verlangen, es vor den anderen kommen zu lassen, es sollte al s erstes unter meiner Zunge sterben. Ich sog es mit aller Kraft ein, und ich stellte fest, daß ungeahnte Kräfte in mir schlummerten. Die Vietnamesin schüttelte den Kopf und löste ihre Haare, Tränen fielen von ihren Lidern, sie zog sich brüsk zurüc k, und das riesig gewordene Glied erglänzte im blauen Licht, ihre Zunge berührte wieder den zuckenden Pf eil, der helle Perlen über ihr Gesicht spritzte, auf ihre feine Nase und die langen Wimpern, und ihre safranfarbenen Brüste wurden ebenfalls von dem Sam en getroffen. Sie stillte ihren Durst und leckte und trank die sich ausbreitende Hut. Ich beschleunigte meine Liebkosungen und quälte die geschwollene Masse mit den Fingernägeln, bis sie unter dem Biß zuckte . Eine mächtige Woge näßte meinen Mund und lief über meine Lippen, eine unerschöpfliche Quelle ergoß sich auf mein Kinn und fiel auf mein Herz, wie eine Säure. Sanfte Hände ergriffen mich und trugen mich durch Schatten und Lichter. Ich empfand Scham, weil ich dem Verlangen erlegen war, statt das Ritual zu befolgen. Die geheimnisvolle Schwarze reichte mir ein kaltes Glas und schenkte mir ein Lächeln, aus dem ich amüsierte Überraschung herauszulesen meinte. Sie entkleidete mich behutsam, legte meine Tunika über einen Sessel, während ein Luftzug meine Brüs te streifte und ich instinktiv die Schenkel zusammendrückte, damit mein feuchtes Geschlecht nicht zu sehen war. »Und jetzt kommen Sie mit in den schwarzen Salon!« Sie nickte, als wolle sie hinzufügen: Es bleibt Ihnen nichts ande res übrig, Bruce hat es bef ohlen. Sie bedeckte mich mit einem silberbestickten Schleier aus schwarzer Seide und brachte mich in einen langen Raum, der in giftiges lila getaucht war. In dem Salon standen drei mit schwarzem Leder bezogene Chesterfield-Liegen, deren Fußende in einer dunklen Nische verschwand, sodaß jeder,
der darauf Platz nahm, mit dem Oberkörper in dem lila beleuc h teten Raum sein würde und mit dem Unterkörper und den Be i nen in undurchdringlichem Schatten. Ich kannte den Zauber des Ritus, der nun folgen und den brutalen Ansturm in meinem Leib besänftigen würde. Ich würde mein Geschlecht einem unbekan n ten Mund darbieten, der sich im Schatten verbarg. Die Priesterin würde zum Opfer werden, der Henker sein Martyrium erleiden, die Gerechtigkeit triumphieren. Ich bettete mich so auf die Liege, daß der untere Teil meines Körpers im phosphoreszierenden Schatten ruhte. Ich warf den Kopf zurück, beseligt, den Wunschbildern zu begegnen, die mich seit meiner Kindheit folterten, wenn ich mir morgens nach fiebernden Nächten den Augenblick ausmalte: unter dem hochgehobenen Rock ein Mund, der die rieselnde Wunde heimsuchte, gläserne Zunge auf fle i schenem Zapfen, eine sinnliche Viper beißt das schwellende Mark, das sich der Lust öffnet. Die kleine Vietnamesin glitt hinter mich. Einer geome trischen Alchemie folgend, legte sie ihr Gesicht so auf das meine, daß ihre Zunge meine Lippen und meine Nase lecken konnte, und in ihrem Speichel fand ich den duftenden Nachgeschmack der Lust, die sie vorhin getrunken hatte. Ich fuhr mit den Händen über eine schwere Brust mit langer Knospe, ich streichelte schmale Lenden, wie von einem hungrigen Tier, ich liebkoste eine ge wölbte Hüfte und erreichte das Kräuselwerk, das die Lippen des würzigen, bitteren, aufnahmebereiten Geschlechts umgab, und die fleischf ressende Pflanze zuckte unter meiner Berührung zusammen. Ich bohrte meine Finger in die feuchten Schleimhä u te und malträtierte das seidige Innere, die kleine Vietnamesin öffnete den Mund zu einem stummen Schrei, sie schob meine Hand noch tiefer hinein und schloß die Augen, knickte in der Taille ein, sie war hinreißend sch ön, und ihr Bauch pochte wie ein Herz. Plötzlich durchfuhr mich ein Stromstoß, und ich vergaß die zärtliche Liebkosung der Asiatin, die meine Wangen leckte. Mein Geschlecht wurde von einem elastischen un d zugleich heftigen
Organ angegriffen, das meine Klitoris zu zermalmen drohte und mich gewaltsam öffnete. Wie ein nervöser Schmetterling dran g die Zunge vor, eine Schlange, die sich bebend hin un d her wand, ich zuckte zusammen wie unte r einer Peitsche, ich biß mir in die Daumenballen, um das übernatürliche Schweigen nicht zu br e chen, ich richtete den Blick zu den schwarzen Perlen, die auf dem Samt glänzten, und glaubte die Tränen meiner eigenen Lust wiederzuerkennen. Der Rausch hebt mich auf flammende Höhen und sprengt meinen Bauch, ich explodiere in dem Mund, der mich gierig trinkt. Ich weinte im elektrischen Schatten des schwarzen Salons, die junge Vietnamesin hatte den Kopf auf meinen Bauch gelegt, ihre Augen glänzten wie Sterne, und ich erin nerte mich an ihren stummen Schrei, der Mund öffnete sich über der Lust, die ich niemals vergessen werde. Ich weinte , weil ich die Grenzen me i nes eigenen Verlangens überschritten hatte. Was blieb mir nun noch, wo ich bis ans Ende gegangen war, und sogar no ch da r über hinaus? Ich konnte meine Wollust weder mit Liebe noch mit Zärtlic h keit rechtfertigen, nicht einmal mit Leidenschaft oder Verlangen. Ich war von innen manipuliert wo rden› meine Nervenfasern waren sensibilisiert worden, und der schwindelerregende Spas mus, der mich emporgehoben und zu Boden geschleudert hatte, zeigte mir Horizonte, die ich nicht vermutet hatte, aber auch die Schwierigkeit, sie je wieder zu erreichen.
W
er interessiert sich schon für den Weltschmerz eines armen Mädchens, das allein ist in einer feindseligen und komplizierten Stadt? Wer wird auch nur den Wunsch haben, diese Beichte zu Ende zu lesen, die ich mühsam zu Papier bringe, ohne in meinem Kummer zu wissen, wie lange sie noch dauert? Ich höre bereits die unwiderrufl ichen Urtei le, sehe die unnac h sichtigen Kritiken. Diesmal zeige ich mich völlig nackt, stelle mich mit Worten scha mloser zur Schau als mit meinem Körper. Ich akzeptiere im voraus die Gleichgülti gkeit und das mangelnde Interesse, aber ich weiß, daß sich einige meiner Leserinnen wie dererkennen werden, denn meine Geschichte, mit all ihren Ban a litäten, all ihren schändlichen Begleiters cheinungen und ihrer pubertären, aber erhabenen Naivität ist die Geschichte der Liebe, die viele erlebt haben, der Bericht der gescheiterte n Beziehungen, den man niemandem anvertraut, sondern mit der Bitterkeit der Enttäuschten für sich behält. Die Spießer sollen mich ruhig verdammen, die Schmutzfinken können meinetwegen lächeln, mich interessi eren die anderen, die Frauen, deren Herz so groß ist wie das meine, die Bedauernswerten, die mit niema ndem reden können, weil ihnen niemand zuhört, weil sich niemand die Zeit nimmt, weil alle abgestumpft sind. Amen. Mein Vertrag mit General Artists lief aus. King versprach, mir zu helf en, falls ich irgend etwas brauchen sollte, aber er bot mir keine neuen Engagements an. Er lächelte väterlich. »Joy, es ist besser, wenn Sie nach Frankreich zurückkehren.« Ich nickte und lief durch die Park Avenue und erreichte nach einem langen Umweg meine Wohnung , wo ich mich einschloß. Ich ging sparsam mit meinem letzten Geld um, und wenn ich niemanden fand, der mich zum Essen einlud, kaufte ich mir einen Hamburger und saß vor dem Fernseher, bis ich einschlief, am Daumen lutschend und mir die Nase mit einer Angoradecke reibend, die sic h genauso weich anfühlte wie Mamas Pullover und auch ganz ähnlich roch.
Ein paar Tage später sah ich Bruce wieder. Er ging mit mir ins Palm’s in der Second Avenue. Ich verschlang einen gewaltigen Hummer und betrank mich mit kalifornischem Cham pagner, ich war glücklich und entspannt, endlich kümmerte sich wieder jemand um mich und behandelte mich aufmerksam, zuvorko m mend, höflich. Danach nahm er mich bei der Hand und öffnete mir die Tür des Rolls -Royce, ich beobachtete, wie er vorn um den Wagen herumging, der Wind zauste seine blonden Locken, auf seiner Stirn zeichnete sich eine bekümmerte Falte ab. Ich hätte mich am liebsten auf der Stelle von ihm nehmen lassen, im Stehen in der schmutzigen Nacht von New York, und als er dann neben mir Platz nah m, legte ich den Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Bruce…« Der Rolls schwebte über die Schlaglöcher hinweg und wurde von den Dampf Schwaden umwabert, die aus dem glänzenden Asphalt drangen, dann sah er mich an und sagte: »Ich verstehe, Joy. ICH AUCH.« Wir gingen ins Regine, Dom Poignon und reservierter Tisch, einfühlsamer Oberkellner, zu junge Mädchen am Arm zu alter Herren, die sich ablenken, aber nicht amüsieren wollten, lastende Atmosphäre. »Bruce, gehen wir, ich bin traurig.« Er musterte mich ernst. »Ich hole Ihnen ein Taxi.« Ich war gedemütigt bis in die Tiefe meiner Seele und erhob mich in dem Augenblick, in dem ein Paar durch einen bleichen Lichtkegel schritt. Ein sehr hübsches Mädchen in einem weinr o ten Kleid, Ringellöckchen bis zu den Schultern , ein leises Lä cheln, halb schelmisch, halb aufreizend, es war Joelle. Ich dachte, ich bekäme einen Herzinf arkt, eine Stange fuhr mir durch die Brust, mein Oberarm schmerzte unerträglich. Ich hatte Angst, ich würde Marc sehen, aber der Mann, der Joelle beg leite te, war blond und trug eine Zweistärkenbrille. Bruce sah meinen entsetzten Blick und beugte sich zu mir. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er besorgt. »Schon gut, Bruce, nur Erinnerungen.«
Er betrachtete Joelle und schenkte mir dann Champagner nach . Auf der Suche nach einem Tisch sah sie mich. Strahlendes Lä cheln. »Das ist ja phantastisch! Joy, was für ein Glück…« Ich liebe ihr Lächeln, ich werde es nie lernen, so zu lächeln, selbst wenn ich Kurse nehme, ich liebe ihre Augen, ich liebe dieses Mädchen, das mich ins Verderben gestürzt hat. Wir unterhielten uns ein Jahrhundert, im Stehen, während uns häßliche Kerle anrempelten, wir tranken unsere Worte. Ich wollte sie mit Bruce bekanntmachen, aber er war weg. Wir setzten uns an den frei gewordenen Tisch . Sie berichtete, daß sie beruflich vierzehn Tage in New York sei, und deutete mit einer ausdruck s vollen Geste auf den arroganten Menschen, der sie begleitete, es war ein unausstehlicher Typ. Er setzte sich zu uns und gewährte mir ein sehr kurzes Kopfnicke n, das guten Abend heißen sollte. Wir redeten eine Weile, aber es gelang uns nicht, ihn aufzutauen. Der schreckliche Mensch schien sich tödlich zu langweilen. »Er ist der amerikanische Repräsentant meiner Zeitung«, ve r traute sie mir mit einem gepeinigten Augenaufschlag an. »Ich weiß nicht, wie ich ihn loswerden soll.« Wir redeten Stunden aufeinander ein, bis der Mensc h sein Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Joelle klatschte laut in die Hände, das ist ihre algerische Herkunft, die manchmal durc h schlägt. »Es tut mir schrecklich leid, wir reden dauernd über Dinge, die Sie nicht interessieren… Sie sind müde? Sehen wir uns morgen?« Der Mensch stand auf, sehr gefaßt, Handkuß, gute Nacht, mor gen mittag im Büro, und dann verschwand er, begleitet von zwei servilen Servier ern, im Dunkel . Wir leerten die Flasche Cha m pagner, um unsere Befreiung zu feiern. Zwischen Haß und Zär t lichkeit schwankend, sah ich zu, wie sie lachte und zum Leben erwachte. Ich wußte bereits alles über sie, sie liebte Reisen und ihre Zwillingssc hwester, die sie nie sah, aber sehr mochte, und die sicher eines Tages gut heiraten würde, die Ärmste! Sie brauch te es, sie liebt das Land, obgleich sie nicht oft hinf ährt, und die
Männer, sof ern sie Eindruck auf sie machen. Ich konnte mich nicht länger bezwingen. »Und Marc?« Ihre Freude schwand. Sie senkte den Kopf und sah in ihr Glas. »Sprich bitte nicht von ihm. Er ruft mich dreimal am Tag an, es ist scheußlich, zu sehr geliebt zu werden…« Sie war sich nicht klar, daß sie mich bei lebendigem Leib ve r brannte und daß es mich übermenschliche Anstrengungen kost e te, um meine bittere Tränenflut zurückzuhalten. »Er ist wunderbar, aber ich verstehe unter Liebe etwas anderes als er. Ich habe dann und wann Lust auf ihn, aber wenn ich ihn zu oft sehe, halte ich es n icht mehr aus, er ist zu nett, er tut alles Erdenkliche, um mir eine Freude zu machen, aber ich ertrage es einfach nicht. Wenn ich mich dann ein paar Tage nicht mehr mit ihm treffe, ist das ein Drama, er stirbt vor Eif ersucht. Weißt du, Joy, ich habe einen anderen kennengelernt, ich fühle mich zu ihm hingezogen, ich weiß nicht genau, warum, ich werden ihn sicher heiraten. Die Ehe – das ist ein Ziel. Ich kann Leidenscha ft nicht ausstehen, und bei ihm riskiere ich nichts…« »Wirst du Marc dann nicht wiedersehen?« fragte ich. »Doch, ab und zu, um… Ich bin nicht treu. Mit achtzehn habe ich meine große Liebe erlebt. Er hieß Didier. Ich schäme mich, wenn ich daran zurückdenke, aber sobald er morgens zur Arbeit gegangen war, rief ich einen anderen an, damit er kam und mich in dem Bett liebte, das noch warm von Didier war, und trotzdem liebte ich ihn wahnsinnig.« »Aber mit Marc und dir scheint es doch in dieser Hinsicht nicht schlecht zu gehen?« fragte ich hinterhältig. Sie sah mich verlegen an. »Es geht sehr gut, abe r er liebt mich zu sehr, verstehst du, er macht es zu gut, ZU RICHTIG. Bei dem anderen ist es anders, er holt mich vom Podest runter, bei ihm bin ich ein Mädchen wie alle anderen, er betet mich nicht an, er liebt mich kaum, er be handelt mich schlecht, ich weiß, es ist idiotisch, aber gerade das reizt mich…«
Ein endloser Satz, der sich mit der Nacht verbindet, ich verst e he nichts mehr, in meinem Kopf wirbelt alles durcheinander, dieses Mädchen, das Marc liebt, das ihn aber nicht liebt, während ich ihn liebe, warum eigentlich nicht. Ich höre zu, nein, sehe zu, wie sie über ihre Jugend redet, Algerien, die Bomben, das Pe n sionat in Savoyen, ihre Familie, die sie nie richtig gekannt hat, all diese Klischees, diese Ansichtskarten, ihre Lippen zittern, ihre Finger ebenfalls, wenn sie sich eine Zigarette anzündet, Momen t aufnahmen auf Sepiabraun. Sie schaute mich an, Augen, die in der Nacht funkeln, haben mich schon immer rasend gemacht. »Joy, laß mich heute abend nicht allein. Kann ich bei dir schl a fen?« Ich fahre zusammen. »Ja, natürlich, gehen wir, komm.« Ich nahm sie an der Hand, und wir gingen, eng nebeneinander, die Park Avenue entlang , durch die ein heftiger Wind pfiff. Wir bogen in die 59th Street ein und dann in die Fi fth Avenue, die am Central Park entlangläu ft Ich hatte sie eingehakt, sie erzählte von ihrer Mutter, die sie nie sah, ihre Worte waren so ernst, so zärtlich, daß ich an mich halten mußte, um nicht mitten vor dem General Motors Building, wo die Luxusnutten die Touristen anmachen, stehenzubleiben un d sie zu küssen. Ich bin nun mal so, wenn ich jemanden mag, muß ich es zeigen, ich dachte nicht mehr an Marc, sie war hier, sie ging an meiner Seite. Als sie meine Wohnung betrat, stieß sie kleine, spitze Schreie aus. »Wie herrlich! Was für ein fabelhafter Teppich, und das da, hast du das selbst gemacht?« Sie tränkte die Dinge und die Menschen mit ihrer Person, sie gab nichts und niemanden wieder frei, sobald sie erst irgendw o eingedrungen war, oder jemanden mit Beschlag belegt hatte. Sie fragte mich, wo ihr Zimmer sei, und ich fing an zu lachen. »Ich habe nur ein Schlafzimmer und nur ein einziges Bett!« Sie sah mich sonderbar an und schenkte mir ihr unglaubliches Lächeln.
»Ach… gut.« Sie schloß sich im Bad ein. Ich ließ mich in den schlechten Ses sel sinken, total fertig, traurig wie an dem Tag, als Mama mich ins Ferienlager geschickt hatte. Die Tür des Badezimmers ging auf, und sie erschien, nervös und nackt. Ich fand sie schön, obwohl sie keine gute Haltung hatte und mit Leberflecken übersät war. Sie fragte mich leise, ob sie sich hinlegen könne. Ich antwortete nicht. Ich betrachtete ihre langen weißen Beine, ihr Vlies, das dunkel war, verglichen mit meinem, ihre Brüste, die apfelrund waren und schwellende Knospen hatten, und schüttelte den Kopf. »Ja, ja, natürlich«, sagte ich dann. Ich ging ins Bad und bereitete mich vor wie für einen Mann. Ich betrachtete mich im Spiegel und fragte mich, ob ich nicht vielleicht den Verstand verloren hätte. Ich hatte noch nie mit einer Frau geschlaf en, nicht weil es mich abs tieß, sondern weil mir nicht danach gewesen war. Außerdem hatte es sich nie erg e ben. Ich ahnte, daß zwischen ihr und mir etwas Ernstes passieren würde, ich hatte Angst, sie würde mich abweisen. Mir war unb e haglich zumute. Ich spielte zum erstenmal die Roll e des Gegners, des Mannes, und endlich konnte ich verstehen, was sie am ersten Abend empfinden, wenn sich ein neues Mädchen neben sie ins Bett legt. Ich parfümierte mich mit Jungle Gardenia und ging tapfer hinaus, hoch aufgerichtet, mein schönstes Lächeln auf den Lippen. Sie hatte alle Lampen ausgeknipst, und als ich zum Bett ging, hatte ich das absonderliche Gefühl, ich sei Marc, ja, das war’s, ich würde sie lieben wie er. Sie verkroch sich in einen Winkel des Betts, in meinen Winkel, wo ich sonst weine od er mich liebkose, ganz nahe an der Wand, möglichst weit von mir entfernt. Nach einem Augenblick wandte sie den Kopf und betrachtete meinen Körper, der sich hell gegen das dunkle Laken abzeichn e te. »Du bist schön, weißt du.«
Ich drehte mich auf dem kalten Laken um und streckte mich ganz langsam aus, um ihr keine Angst zu machen. In dieser Stellung blieb ich tausend Jahre liegen und wagte nicht, mich zu rühren oder Luft zu holen. Mein Leben hing an der Bewegung, die ich erwartete. Sie betrachtete mich immer n och, sie hatte den Kopf ein wenig gehoben, ihr Lächeln war ernster. Ich hörte ihr Herz an der anderen Seite des Bettes schlagen. Von draußen drang bläuliches Licht ins Zimmer, ihr Körper verschwamm mit der Nacht, doch nac h einiger Zeit bemerkte ich, daß si e mir in die Augen sah. Ihre Augen waren wie Sterne, ich wußte nicht, ob es Tränen waren, die sie so glänzen ließen. Ich wünschte mir so sehr, daß sie mit mir weine, daß wir beide zusammen weinen… Ich drehte mich seufzend um, ich streckte den Arm aus, und meine Hand legte sich auf ihre Hüfte. Sie erbebte, rührte sich aber nicht. Ich biß mir auf die Lippen. Ihre Haut war weich und sehr warm, ein bißchen feucht. Ich spreizte langsam die Finger, meine Nägel strichen über ihren Bauch, der sich zusammenzog. Meine Hand glitt nach unten, folgte der Rundung der Hüf te, erreichte ihre Schenkel und fand eine Zuflucht unter ihrem Knie. Langsam kehrte ich um, und je weiter ich kam, um so wärmer wurde die Haut, und dann war ich plötzlich am Rand der heißen Lippen. Ihr Kö rper verkrampfte sich. Ich vermied es, ihr Ge schlecht zu berühren, und glitt über den durchtrainierten Unte r leib. Ich erklomm ihre Brüste. Sie flüsterte: »Joy«, aber ich an t wortete nicht, ich richtete mich halb auf und küßte sie, wie ich noch nie einen Man n hatte küssen können. Zum erstenmal hatte der Kuß für mich einen Sinn, es war keine Gewohnheit mehr, ihr Mund roch nach Anis, wie ein Feld in der Sonne, warm und frisch zugleich, ich nahm sie wie ein Mann, ich war ein Mann, ich packte sie an den Schultern, mein Mund liebkoste ihre Wangen, ihre Ohren, sanft küßte ich ihre Lider, zärtlich ihre Nase. So war sie also, die Liebe, wenn man auf der anderen Seite der unübe r windlichen Schranke stand, hinter dieser Mauer, deren Fläche immer brennt. Sie stöhnte, als mein Mund sich auf ihre erigierten Brustwarzen legte, ich marterte sie, wie ich mich sonst gern selbst
martern ließ, ich streichelte ihre Schenkel, und sie stieß Schreie aus, die mich durchbohrten. Ich legte die Lippen auf ihr Ge schlecht, aus dem würzige, süße Düfte drangen, sie preßte beide Fäuste auf den Mund, um ihr Keuchen zu ersticken , ich rieb meine geschlossenen Lippen an ihren halbgeöffneten Lippen, meine Zunge entdeckte eine Perle, die plötzlich hart wurde, ich verwöhnte sie, bis sie meinen Kopf zu rückstieß, ich penetrierte die zuckende Furche mit meiner Zunge, so weit ich konnte, ich hob den Kopf, meine Lippen waren feucht, ich sagte: »Es ist das erste Mal…« »Bei mir auch«, antwortete sie. Ich leckte sie wie ein Hündchen, hartnäckig und ausdauernd, ihre Fingernägel gruben sich in meinen Hals, sie zitterte, und ich empfing ihre Lust wie einen Peitschenhieb, ich keuchte, meine Augen schwammen, ich trank den heißen Saft der Frucht, die ich liebte. Ich fiel zurück, ich war schmerzhaft weit geöffnet, aber ich wollte nicht, daß sie mich berührte, ich hatte das Bedürfnis, sie zu besitzen, in ihr zu sein, ihre Lust mit den Bewegungen meines Bauches zu lenken. Ich spürte ihre Hand, die an mir hochglitt, ich spreizte die Beine noch mehr. Sie öffnete mein Gesch lecht und drang ein, kratzte mich lange und grausam mit ihren Nägeln; ich heulte vor Lust und Schmerz, die Intensität überwältigte mich, ich verschränkte die Arme. Ich stellte mir vor, unsere Körper seien mit einem berauschenden Öl gesalbt. Unsere Beine waren ineinander verknotet, unsere Brüste ruhten aufeinander, unsere verschwitzten Haare peitschten unsere Gesichter. Mein Geschlecht zog sich um ihre Hand zusammen, mich erfaßte ein Schwindel. Dann war alles still, ein lastendes Schweigen, erste r bende Atemz üge, leuchtende Blitze in der blauen Nacht. Die Seele flatterte davon. Nach tausend Jahren stand ich auf, um meinen Durst zu stillen. Sie rührte sich nicht. Ich gab ihr zu trinken, ich mußte ihren Kopf anheben, als sei sie verletzt, und darauf achten, daß ihre geschwollenen, trockenen Lippen keinen Tropf en der Flüssigkeit verloren, die kostbar geworden war. Ich streckte mich neben ihr
aus, sie legte den Kopf an meine Schenkel, sie redete mit meinem Geschlecht, aber so leise, daß ich die gemurmelten Worte ni cht verstand. Sie küßte mich lange, küßte meinen geschundenen Bauch voller Hingabe. Ich drückte mich an sie. »Wir werden jetzt nichts Dummes sagen, nicht wahr? Wir mü s sen das, was wir getan haben, akzeptieren und…« Sie legte einen Finger auf meinen Mund, um mich zu unterbre chen. »Ich möchte es noch einmal, Joy.« Ich nahm ihre n Körper wieder in Besitz , zuerst zärtlich und dann brutal, ihr Mund liebte mich lange, ich zerging wie ein Kind unter diesem unendlichen Mund, ich vergaß meine Angst, sie war Marc, denn sie liebte mich. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, doch das Licht vertrieb die Schatten, die das Zimmer bevölkerten, und ich sah, daß sie da r geboten und glücklich neben mir lag. Unten fuhr ein Streifenwagen mit heulender Sirene vorbei. Der Tod erwacht früh in New York . Die Sonne streichelte ihr Haar, sie schlief an meinen Brüsten, ihr Mund war leicht geöffnet, ein Tautropfen perlte aus ihrem Leib, der von kleinen Schauern überlaufen wurde, weil sie ein bißchen fror.
A
m Morgen war alles anders. Die Umgebung war grau und unfreundlich wie an Allerheiligen. Wir vermieden es, uns anzusehen, und wenn unsere Blicke sich doch begegneten, lächel te sie gezwungen. Ich hätte sie gern geküßt, aber ich wußte, daß sie mich fortgestoßen und nein gesagt hätte, jetzt nicht. Der Kaffee war bitter wie der Grund meiner Seele, das Schweigen war unerträglich, wie blöd nach einer so schönen Nacht! Wir waren früh auf gestanden, und ich fürchtete mich vor dem Augenblick, in dem sie gehen würde, doch dann, ganz unvermi t telt, ohne ersichtlichen Grund, entspannte sie sich. Sie setzte sich neben mich, suchte Streichhölzer, um sich eine Zigarette anz u zünden, ich reichte ihr mein Feuerzeug, und sie verdrehte den Hals und betrachtete mich aus dem Augenwinkel. »Joy… Weißt du, Marc hat mir alles erzählt. Er hat gesagt, du liebtest ihn, er hat sogar erklärt, es sei ein bißchen hirnverbrannt, auf diese Art zu lieben. Er sagte, er liebte dich auch, aber auf seine Weise, du verstehst schon. Joy, er ist genau wie die anderen, sobald du dich an ihn klammerst, zieht er sich zurück.« »Ich habe mich nicht an ihn geklammert«, antwortete ich spitz. »Ich hatte gar keine Zeit dazu.« »Du bist zu ehrlich, du redest zuviel. Man muß ein bißchen geheimnisvoll bleiben, man darf sich nicht zu sehr hingeben, wenigstens nicht bei Männern wie ihm, und vor allem darfst du ihn nicht zu sicher machen, Joy…« Ich wollte nicht antworten. »Joy, was du gestern nacht getan hast, war wegen Marc, nicht wahr? Aus Rache? Das stimmt doch, oder?« Ich war vernichtet. Ich fühlte mich verraten, entblößt, ernie d rigt. Ich hätte ihr gestehen können, daß ich sie wirklich begehrt hatte, sie immer noch begehrte, aber was hätte das genützt? Ich zuckte mit den Schultern und machte ein mißmutiges Gesicht. Sie kniete sich vor mich und liebk oste zärtlich mein Haar, sie strich mit einem Finger über meine Lippen.
»Joy, dir kann man nicht widerstehen. Zuerst wollte ich gestern nacht nicht, aber dann begehrte ich dich auch.« Etwas später flüsterte sie: »Du gibst zuviel, du gibst alles, du bist zu zerbrechlich, zu weich, du mußt härter werden, als erste angreifen…« Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie begriff nichts. »Ich kann nicht. Ich kann nicht anders sein, als ich bin. Es ist nicht meine Schuld, ich bin nun mal so, mein Herz ist aus Pappe, sobald Tränen darauf fallen, wird es weich.« In ihren Augen glänzten Sterne. »Ja, ich weiß, ich weiß.« Sie ging und kam nicht wieder. In meinem Briefkasten lag ein Brief aus blauem Papier, und ich las ihn zitternd: Joy, Ich werde nie vergessen, was zwisc hen uns geschehen ist, es wird unser Geheimnis sein, aber das Leben geht weiter. Du liebst Marc, für mich ist das alles zu kompliziert, für Dich sicher auch. Ich flehe Dich an, erzähl Marc nichts davon. Ich küsse Dich leidenschaftlich. Joelle Am Abend die ses Trauertages lud Bruce mich zum Essen in ein Restaurant in Chinatown ein, er sagte, es sei ein Geheimtip. Das Lokal, in einer dunklen Straße kaum zu finden, bestand aus einem langen Raum mit goldener Täfelung, in dem etwa zehn Tische standen. Winzige ju nge Mädchen bedienten schweigend die wenigen Gäste. Sie brachten uns scharf gewürzte, delikate Speisen, die köstlich schmeckten, und jedesmal, wenn Bruce das Wort an sie richtete, verneigten sie sich furchtsam. Da ich noch nie ein Geheimnis für mich behalt en konnte, erzählte ich ihm von der wunderbaren Nacht mit Joelle. »Ich wußte es«, antwortete er mit feinem Lächeln.
Es gibt für mich nichts Schöneres, al s ihm Fragen zu stellen, weil er auf alles eine Antwort weiß. Wir unterhielten uns lange und kamen immer wieder auf Reisen zu sprechen. »Ich reise nicht gern«, gestand ich, »es bringt mein inneres Gleichgewicht durcheinander. Aber an dem Tag, an dem ich mit allem abgeschlossen habe, werde ich weit fort reisen, das weiß ich. Ich habe mir oft ausgemalt, daß ich eines Morgens ein Flu g ticket ans Ende der We lt finden werde. Ein einziges Ticket. Hinflug ins Unbekannte.« »Eine sehr verlockende Situation. Sind Sie aber auch sicher, daß Sie genug Mut hätten? Würden Sie wirklich fliegen?« »Wenn ich nichts mehr habe, ja, bestimmt. Aber bis jetzt hat es noch niemand gereizt. Ich habe diesen Traum allen Männern anvertraut, die ich kannte, und bis jetzt hatte noch keiner den Wunsch, mit mir auf eine einsame Insel zugehen…« »Männer sind dumm«, antwortete er. »Mögen Sie Pass ions früchte?« Ich schlug ihm vor, noch auf einen Drink mit zu mir zu ko m men, weil ich keine Lust hatte, schon wieder allein in der Wo h nung zu sein. »Ich trinke nie das letzte Glas«, erwiderte Bruce langsam. Der Rolls -Royce verschwand um die Ecke des Centra l Park, und ich beschloß, nach Paris zurückzukehren. Ich sagte es King Lorrimer als erstem, und er sagte: »Ich verstehe, Joy, ich denke, es ist das Beste«, aber er zeigte kein übermäßiges Bedauern. Ich rief Mama in Lausanne an, und als ich ausgeredet hatte , sagte sie: »O Joy, es ist wirklich ein Hammer, daß ich dich nicht abholen kann. Wir müssen mit Freunden nach Sankt Moritz. Aber wenn ich wieder da bin, verbringen wir ein paar Tage zusammen. Das schwöre ich dir.« Demütigungen, Enttäuschungen, Desillusion ierung, Scheitern und Rückkehr. Bruce wollte meinen Traum wahrmachen und flog einen Tag vor meiner Abreise mit mir nach Disney World. Ein Jet brachte uns im Morgengrauen in die We lt des Märchens und der Phantasietiere.
Ich sah Piraten, Hasen und blonde Pup pen, die sich im Reigen drehten, Micky-Maus und Donald Duck tanzten auf den Straßen des verzauberten Dorfes, ich war hingerissen, ich war acht Jahre alt, ich glaubte alles, ich war klein und glücklich, und ich aß Liebesäpfel, während Bruce mir eine Plastik uhr kaufen ging, auf der Micky -Maus die Stunden mit einem Kopfnicken anzeigte. Wir müssen jetzt zurück, sagte er immer wieder, und ich hätte am liebsten losgeheult. Ich kam zu spät zum Kennedy -Flughafen und rannte durch die Halle, in der einen Hand meinen großen Koffer, in der anderen mein durchgeschwitztes, halb zerknülltes Touristen -Ticket. Die Air-France-Stewardeß sah mich mit großen Augen an. Nach langem Suchen fand ich endlich einen freien Fensterplatz. Ich konnte den Unterschied zwischen einer Atlanti küberquerung mit der Concorde und einem Flug in der Touristenklasse feststellen. Erstens dauert es viel länger, und dann ist alles billig und ge wöhnlich, dieses Plastiktablett mit dem Essen, mein Gott! Die Leute sind nicht so liebenswürdig. Es ist nicht so bequem. Sei’s drum. Ein großer Herr mit Brille, der in der ersten Klasse saß, ging oft in meiner Nähe auf und ab und warf mir eindeutige und flehende Blicke zu. Als die Person, die neben mir saß, auf stand, setzte er sich sofort auf ihren Platz. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästige, aber ich würde Sie gern zum Essen einladen, wenn Sie gelegentlich einen Abend frei sind. Erlauben Sie mir, Ihnen meine Karte zu geben, ich heiße Henri, und Sie können mich jederzeit unter dieser Nummer erreichen. Denken Si e an mich, wenn Sie mal abends nichts vorhaben. Sie werden es nicht bereuen…« Ich versuchte ihn drohend, mit krauser Nase und gebleckten Zähnen, anzugucken. »Und warum werde ich es nicht bereuen?« Der Unbekannte lächelte eitel. »Aber Mademoiselle, jede Fra u hat ihren Preis, und ich bin be reit, den Preis zu zahlen, der verlangt wird. Man muß seltene Dinge nach ihrem Wert einschätzen. Was ist Ihr Preis?«
Ich wurde rot. Ich stand auf und schritt mit aller mir zur Verf ü gung stehenden Würde zum Klo. Ich habe Paris nicht wiedererkannt. Die Straßen waren schmal geworden, die Häuser winzig. Alles wirkte klein, es war deprimi e rend und beruhigend zugleich. Die Amerikaner sehen weiter, schon deshalb bauen sie höher. Der Taxif ahrer, der mich zur Avenue de Breteuil brachte, hatte eine Baskenmütze auf, im Auto roch es nach Knoblauch, er warf mir im Rückspiegel auffordern de Blicke zu: Vive la France! Ich ließ meinen großen Koffer auf dem Trottoir stehen und ging zu dem Kabuff der Concierge, aber die Dame war natürlich nicht da. Ich blieb eine Stunde im Ei n gang stehen, ich war halbtot vor Erschöpfung, ich bedauerte bereits, New York, King und vor allem Bruce verlassen zu haben. Ich brauchte dringend ein heißes Bad, ein Telefon, um all meinen Leuten zuzurufen, daß ich zurückgekommen war, Joy ist wieder da, Joy ist allein, sie braucht Musik und Trubel, um die Mela n cholie zu vertreiben, die ihr die Tage vergällt und die Nächte zur Hölle macht. Die Concierge kam angeschlurft. »Mein Gott, das nenne ich eine Überraschung! Mademoisel le, Sie ändern sich nie!« Sie erzählte mir, sie habe im Lotto gewonnen: »7000 Francs, wie finden Sie das?« Sie bestand darauf, mir den Glücksschein zu zeigen, den sie fotokopiert hatte. »Fassen Sie ihn an, fassen Sie ihn an, das bringt Glück!« Ich dumme Ku h berührte ihn, damit ich schneller von ihr lo s kam. »Würden Sie mir jetzt bitte die Schlüssel geben.« Mama hatte nur ein Schlüsse lset, das ich der Concierge dagela s sen hatte, damit sie die Pflanzen versorgte. »Die Schlüssel?« wiederholte sie erstaunt. »Ja. Die Schlüssel.« »Aber… Wissen Sie es noch nicht?« »Nein«, antwortete ich müde. »Was denn?«
»Aber Ihre Mutter hat die Wohnung doch an Schweizer Freu n de vermietet. Sie sind Montag eingezogen. Sie haben keine Schlüssel mehr…« Ich fing an zu weinen. »Ich verstehe das nicht, es ist doch meine Wohnung, warum hat Mama sie vermietet? Außerdem habe ich erst gestern mit ihr telefoniert, und sie hat kein Wort davon gesagt…« »Die Ärmste, sie hat geglaubt, Sie würden in New York bleiben, Sie müssen sie verstehen. Arme Mademoiselle…« Ich nahm meinen Koff er und ging unter den Platanen, die die Straße säumen, davon. Ich war verzweifelt, ich hatte kein Zuha u se mehr, kein Geld, ich wurde nirgends erwartet. Ich blieb vor einer Telefonzelle stehen. Gestört. Ich ging in eine Bar, ich stellte meinen Koffer hin und bat die Frau hinter der Theke, mir einen Kaffee und einen Sandwich mit Butter zu machen. Ich kaufte zwei Telefonmünzen und ging nac h hinten, in das enge, muffige Abteil mit dem Telefon. Ich wählte Alains Nummer (wen hät te ich sonst anrufen sollen?) und entzifferte abstoßende Inschriften , die unendliche Trauer der anonymen Verbalerotik, wann wird man auf diesen vergifteten Wänden endlich Worte lesen, die träumen machen, statt Illusionen zu rauben! In dem Hau s mit dem spit zen Dach, wo ich nunmehr ganz gern den Rest meiner Tage verbracht hätte, hörte das Telef on nicht auf zu klingeln, während ich mir die schmutzigen Aufforderungen und die übe r triebenen Zeichnungen einprägte. Alain nahm nicht ab, und ich hängte schließlich wi eder ein. Ich rief Marc an, mein Herz floß über, es klingelte einmal, zweimal, dreimal. »Hallo?« »Hallo, hallo? Marc, ich bin’s, Joy.« Ich stürzte mich ins Leere. »Ich bin eben angekommen.« Ich verstummte. Er schwieg. Weit hinter ihm untermalte Musik mein Herzklopfen. »Komm her. Ich warte hier.«
Ich lächelte. Wenn er mein Lächeln hätte sehen können, wäre er dahingeschmolzen. »Ich komme«, sagte ich und gab mir Mühe, meine Stimme nicht zu freudig klingen zu lassen. Ein Taxi brachte mich zu ihm, auf einem Weg, den ich nicht kannte. Ich stellte mir vor, ich sei eben in Belgrad oder Budapest eingetroffen, einer feindseligen und abweisenden Stadt, und ein Unbekannter erwarte mich in einer leeren Wohnung mit gilbe n den Wänden. Ich stellte meinen großen Koffer auf de n roten Teppichboden und klingelte. Er riß die Tür weit auf, als habe er dahinter auf mich gelauert. Er sagte: »Joy!« und zog mich an sich, er roch nach Niauliöl und altem Lavendel, er legte die Lippen auf meinen Mund, er küßte mich, er küßte mich lange, sanft, gefühl voll, inbrünstig, aufrichtig, nehme ich an; er zog mich weiter. »Joy, komm, komm mit.« Er faßte mich um die Taille und zog mich ins Wohnzimmer, er trug mich beinahe, er setzte mich aufs Sofa. Er gab mir etwas zu trinken, ich beobachtete ihn aus halbgeschlossenen Augen, ein dicker Kloß steckte in meiner Kehle, mein Gott, ich durfte jetzt nichts Blödes anstellen, ich wußte nicht, wer den ersten Fehler machen würde, ich hoffte, er würde es sein, damit ich später etwas gegen ihn in der Hand hatte. Er brachte eine Flasche Champagner, ich sackte förmlich auf dem Sofa zusammen, meine Schläfen waren eiskalt. Das war es also, das unvermutete Glück, unerwartet wie ein Schlag mit der Peitsche. Der Wandspiegel zeigte mir, daß ich sch ön war, schöner denn je, und dann sah ich im Aschenbecher Zigarettenkippen mit Lippenstift. Eine Frau war meinetwegen gegangen, eine Frau war mir unterlegen, ich glaubte, ich hätte gesiegt, ich übertraf mich selbst. Ich erzählte ihm von meiner Zeit in Ne w York, von den Leu ten, meiner Wohnung, meiner Arbeit. Stolz zeigte ich ihm Har per’s Bazar, Vogue, Playboy. »Du bist ein Star«, flüsterte er bewunde rnd, zog mich in seine Arme und streichelte meine Brüste. »Hast du viel gebumst?«
Ich schnitt eine neckische Grimasse und antwortete ni cht, er runzelte die Stirn, und seine Freude schwand. »Und du?« fragte ich dann. »Ich war zu müde dazu. Ich habe zuviel gearbeitet. Ich bin reif für einen Urlaub.« Ich ließ ihn lange reden, ehe ich ihn unterbrach: »Wie geht’s Joelle?« Er senkte den Kopf un d machte eine ausweichende Geste, die besagen sollte: es würde zu weit führen, dir das alles zu erklären. Ich begriff, daß er unglücklich war, ich hätte wer weiß was getan, um ihn aufzuheitern, am liebsten hätte ich Joelle aus der Tasche gezogen und gesagt: Hier, da ist sie, ich hab’ sie dir mitgebracht. Ich weiß, das kann kein Mensch begreifen, aber meine Reaktion ist dennoch die einzig richtige. Wenn man liebt , muß man bis zum Äußersten gehen, das ist der Löwe in mir, ich bin Löwin. Löwen gehen immer bis zum Äußersten, und wenn sie daran krepieren. Mein Bedürfnis, von jemandem gebraucht zu werden, ist so groß, daß ich, wenn man mich zu Hil fe ruft, Joy, SOS, komm sof ort her, alles stehen und liegen lasse, denn in solchen Augenblicken zählt nichts anderes al s di e Demonstration des Unvergleichlichen, emotionaler Größenwahn, unmäßiger Stolz und Masochismus. Ich weiß nicht, warum, ich will es auch gar nicht wissen, aber wenn Marc den Kopf senkt, weil er nicht mehr der Stärkere ist, muß ich etwas dagegen tun. Ich nahm sein Ge sicht zwischen meine Hände, ich küßte seine Augen und betete zum Himmel, er möge eines Tages auch meinetwegen weinen, ich flüsterte: »Marc, ich bin bei dir, und ich liebe dich, wie keine dich jemals lieben wird, denn nach meiner Liebe wird alles winzig und unbedeutend sein.« Sein Gesicht wurde hart. Ich hatte den verhängnisvollen Fehler gemacht. Er stand lächelnd auf und fragte mich hinterhältig: »Warum hast du eigentlich deinen Koffer mitgebracht?« Ich war zutiefst gedemütigt. Ich stammelte et was, das er nicht verstand, ich übrigens auch nicht.
»Du hast also die Absicht, hier zu bleiben?« fügte er noch hi n zu. Er knöpfte sein Hemd auf, schenkte mir Champagner ein, ich trank zitternd, er knipste die Lampen aus und betrachtete mich mit ironisch funkelnden Augen. »Komm«, sagte er. »Laß den Koffer da stehen und zahl die Mie te.«
D
ie Tage und Nächte folgten einander. Ich hatte mir nie vorgestellt, daß ein Wochenende so lange dauern kann. Wir schliefen und aßen und lachten und tranken auf dem total zerwühlten Bett. Ich weiß nicht, wie oft Marc mich geliebt hat, aber meine Lust wurde intensiver, und meine Seele schaf fte es, sich von meinem Körper zu lösen und diesen peinlichen, weil verdorbenen Kämp fen beizuwo hnen. Marc liebkoste mich und sagte mir Zärtlichkeiten. »Du bist wie ein Nest, wie ein Regen, wie eine Wolke, du bist schön, ich bekomme deine Schönheit nicht satt, du bist die Schönste, die ich je gehabt habe.« Manchmal spreizte er meine Beine und betrachtete lange mein unkeusches Geschlecht dann rieb er seine Lippen oder sein Kinn daran, bis ich mich bewegte un d wand, damit er eindrang. Er penetrierte mich mit einem brutalen Stoß, um den schmerzlichen Gesichtsausdruck hervorzuruf en, den ich nicht unterdrücken könnte, und dann hielt er inne. Ich fü hlte mic h erobert von diesem fremden Körper, der in meinem Bauch pulsierte, der stärker wurde, wenn ich langsam mit den Lenden ruckte, ich flüsterte ihm Worte zu, die er mochte. Er schlo ß die Augen, er macht dabei immer die Augen zu, und ich prägte mir ein, wie die aufsteigende Lust seine Züge verkrampfte, wie die Adern an seinen Schläfen schwollen, wie die große Strähne herunterfiel, die er immer über seine kleine Platte – so nannte ich die kahle Stelle – drapierte. Er blieb unbeweglich, solange er es aush ielt, dann versetzte er mir einen grausamen Stoß, der mir weh tat, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dann stieß er noch härter, hielt inne, ließ mich schmachten, flehen und Worte schreien, die auf einmal schön waren, weil er sie mochte. Ich streichelte seinen Rücken und grub plötzlich die Fingernägel in seine Haut und hinterließ eine rote Schramme, die bis an sein Gesäß reichte. Er schüttelte meine Hand ab und bearbeitete mich mit rasender Kraft. Sei n Körper preßte sich an mich, um noch einige Millimete r zu ge
winnen, damit er die liefen meines Leibes erreichte. Er löste sich aus mir und bat mich mit rauher Stimme, ihn um mehr zu bitten. Ich keuchte: »Marc, ich flehe dich an, komm zurück in mich, ich flehe dich an, bitte…« Er machte mich in wenigen Sekunden fertig, kraftvoll und ohne Erbarmen. Er kam nicht gern in meinen Schoß, und sobald ich mich von meinem Orgasmus erholt hatte, richtete er sich vor mir auf, und ich nahm ihn in den Mund, er verströmte meinen Ge ruch, ich führte ihn respektvoll zum Höhepun kt und bemühte mich, ihm mehr Lust zu schenken, als ich empfangen hatte, ich konzentrierte mich auf die Bewegungen meiner Lippen, die Biegsamkeit meiner Zunge. Ich schenkte ihm meine Kehle, und endlich entlud er sich stöhnend, als ob er Schmerzen hätte, er war auf dem Gipf el, wo die Lust der Pein gleicht. Ich trank ihn, sein Gesicht lockert e sich, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, ein Licht leuchtete in seinen Zügen auf und löschte alles aus, was das Leben eingegraben hatte. Die Tage verstrichen langsam, manchmal sagte er stundenlang kein Wort; er lag oft auf dem So fa und las, und wenn er den Kopf hob, schien er jedesmal überrascht, daß ich unbeweglich und aufmerksam dasaß. »Warum siehst du mich an?« fragte er dann und zog die Auge n brauen hoch. »Ich sehe dich nicht an«, log ich. Wir gingen ins Restaurant, ins Kino. Mitten in der Nacht mac h ten wir mit seinem Wagen Spritztouren ins Blaue, die uns durch Sevres und Meudon führten. Wir fuhren häuf ig an dem Haus vorbei, in dem ich als kleine, verängstig te Schülerin mit Mama gewohnt hatte, an dem Garten, in dem die Bienen gesummt hatten, und ich dachte an das rot-weiß karierte Tischtuch, das ich mit Marmelade bekleckert hatte. Mama war böse auf mich, und das zerriß mir das Herz, ich sah sie so wenig, und wegen eines Marmeladeflecks auf dem karierten Tischtuch war sie böse auf
mich! Das Haus war verkauft und frisch gestrichen worden. Es hatte seinen Zauber verloren und war ein spießiges Vororthaus wie alle anderen geworden. Ich hatte meinen Koffer nicht aus gepackt. Er wartete auf der Diele, wo er an der Wand lehnte und mich verhöhnte: Du bist hier nicht zu Hause, irgendwann mußt du gehen… Marc wollte nicht, daß ich kochte, und noch weniger, daß ich saubermachte. Jeden Morgen kam eine Spanierin zum Putzen, und sie betrachte te mich als Feindin. Sobald sie fort war, genoß ich das Glück, wieder allein zu sein, und fuhr fort, Marcs geheime We lt zu erkunden. Ich öffnete die Wandschränke und entdeckte eine eindrucksvol le Kollektion von Anzügen, Stapel von Oberhemden , Krawatten, die an einer wippenden Leist e übereinander hingen. Ich habe nie etwas angefaßt. Ich wollte nur die Dinge sehen, die ihm gehörten. Ich achtete auf die kleinsten Details, wie er eine Zigarette au s drückte, auf die Gesten, die er machte, wenn er abends nach Hause kam. Er ging zu einer Konsole und leerte seine Taschen und schaute sich dabei um, als sähe er diese vertraute Umgebung zum erstenmal. Dann trat er zum Spiegel und glättete abwesend sein Haar, knöpf te sein Hemd auf und streichelte seine Bru st Morgens ließ ich sein Bad einlaufen un d wohnte der rituellen Zeremonie des Einseifens und Abduschens bei, während ich mit spitzen Fingern eine Vi rginiazigarette hielt, an der er wollüstig sog. Ab und zu wurde er mich gewahr. »Alles in Ordnung?« »Ja, danke.« Dann nickte er, als ob das ganz natürlich sei. Oft stand er nachts auf, um kalte Milch zu trinken. Er setzte sich ins Woh n zimmer, wählte einen Videofilm und spielte ihn. Er hatte eine große Sammlung von Gruselfilmen, auch Krimis und Monumen talfilme, vor allem aber Pornofilme, an denen er sich nicht satt sehen konnte. In meinem unruhigen Schlaf hörte ich, wie er aufstand, und das weckte mich vollends auf. Ich wartete einen
Augenblick und ging zu ihm aufs Sofa. Er richtete sich auf wie ein ertappter Sünder. »Ich hab’ dich wieder geweckt! Verzeih.« Ich log: »Aber nein, ich hatte noch nicht geschlafen.« Er betrachtete meinen nackten Körper und streichelte lächelnd meinen Bauch: »Warum bist du da unten auch blond?« Er wartete nie, daß ich antwortete, und wan dte sich wieder se i nem Stummfilm zu, denn er hatte den Ton unhörbar leise ge stellt, um mich nicht zu stören. Manchmal kam er nicht nach Hause. Ich wartete eine Ewigkeit, schlang irgendwelche kalten, vertrockneten Dinge in mich hinein, die im Kühlschrank wa ren, und ließ mich in der Nähe des Tele fons nieder. Gegen Mitternacht rief er an. »Alles in Ordnung, ja? Ich bin gleich da.« Wenn er kam, lag ich im Bett, und er kuschelte sich fröstelnd an mich. Ich bettete den Kopf an seine Brust und atmete den schweren Geruch ein, den er verströmte, wenn er Sex gehabt hatte. Ich tat so, als schliefe ich, aber seine Hand suchte mein feuchtes Geschlecht, und er nahm mich oft, wenn er mich schl a fend glaubte, hart und pervers, egoistisch und unerbittlich, und dennoch war mei ne Lust ohnegleichen, wenn er mir auf diese Weise bewies, daß er mich auch danach begehrte. An manchen Abenden trank er mehr als sonst, weil er einen Vorwand brauchte, um gewisse Dinge zu verwirklichen, die in nüchternem Zustand nur Wunschbilder blieben. Er legte mich nackt auf den Fußboden und bef ahl mir, mich nicht zu bewegen, dann schüttete er mir eine rote Flüssigkeit über den Hals, trat etwas zurück und betrachtete mich lange. An einem Abend brauchte er nichts zu trinken, um mir mit einer Stimme, die beiläufig sein sollte, mitzuteilen: »Weißt du, es wird langsam Zeit, daß du dir eine Wohnung suchst…« Ich antwortete nicht. Was hätte ich sagen sollen? Ich wußte, daß ich rot wurde und daß meine Hände anfingen zu zittern. Er hatte genug von mir. Punkt. Schluß.
Mein Schweigen machte ihn verlegen, und er fügte hinzu: »Sie kommt wieder.« Ich wollte sof ort weg, ich ging zu meinem Koff er, der immer noch an der Wand auf mich wartete, aber er stürzte mir nach. »Nein, Joy, nicht gleich, bleib noch eine Nacht.« Ich weinte und blieb. Er liebte mich mit ungewohnter Zärtlich keit und wiegte mich in Schlaf, sein Mund war in meinem Haar, er war noch nie so zärtlich zu mir gewesen. Ehe ich einschlief, dachte ich noch: Morgen hat er es vergessen, und ich kann ble i ben. Doch eh e er am nächsten Morgen aus der Wohnung ging, drehte er sich zu mir um. »Ich hol dich gegen Mittag ab.« Ich seufzte tief auf. »Wohin soll ich gehen?« »Ein Freund von mir ist bereit, dich für ein paar Tage aufz u nehmen.« Ich nickte und schwor mir, schon vorh er zu verschwinden, damit er mich nie wiederfand. Ich klappte den Koffer zu, ich sagte der Wohnung Lebewohl, in der ich glücklich gewesen war, den Schränken, dem Schlafzimmer mit dem zerwühlten Bett, dem weichen Sofa im Wohnzimmer, und der Küche mit dem tropfenden Wasserhahn. Ich faltete sorgf ältig den letzten Hu n dert-Franc-Schein zusammen, den ich besaß, steckte ihn in mein Portemonnaie und wartete darauf, daß er mich abholte. Der Freund, der sich bereit erklärt hatte, hieß Holzer und wohnte am Boulevard de Port-Royal. Die Wohnung war alt und heruntergekommen, mein Zimmer lag ganz hinten und hatte eine graue Tapete mit schmalen Streifen. Das Holzbett stand gege n über vom Fenster, das zum Innenhof ging. Schmuddelige graue Vorhänge hingen durch, weil die meisten Ringe fehlten. »Hier bist du gut aufgehoben, bis du was Besseres findest…« Er gab mir einen Kuß. »Richte dich hier erst einmal häuslich ein, ich habe einen dri n genden Termin. Ich rufe an, dann machen wir uns mal wieder einen lustigen Abend.«
Von plötzli chem Entsetzen gepackt, klammerte ich mich an ihn. »Wann ruf st du an? Versprich mir, daß du bestimmt anruf st. Laß mich nicht… Heute abend?« »Sobald ich kann.« »Marc, wann? Heute abend?« »Nein, Joy, sie kommt nachher.« Ich ließ ihn gehen. Ich machte meinen Koffer auf. Ich hängte meine Kleider in den Schrank, dessen Tür beim Öffnen entset z lich quietschte. Ich dachte an meine New Yorker Wohnung, die mir auf einmal schöner vorkam als ein Palast, und dann an Bruce und Joelle. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie weich ihre Haut war und wie sie roch, all das, was sie ihm in ein paar Stunden geben würde. Diese Vorstellungen beunruhigten mich seltsame r weise gar nicht. Ich hatte zu viele Sorgen, um Eif ersucht zu empfinden. Ich hatte Angst. Dieses graue Zimmer strahlt e Elend aus, Einsamkeit, es ähnelte dem Zimmer im Pensionat, wo ich vier Jahre darauf gewartet hatte, daß Mama zurückkam, um mich abzuholen; die gleiche Tapete, der gleiche Schrank, ich war nicht traurig, nein, ich hatte Angst. Marcs Freund ist ein sehr ge fälliger Junge, rücksichtsvoll und zurückhaltend. Er klopfte an die Tür, um mich zu begrüßen. »Falls Sie etwas brauchen, sagen Sie es bitte. Ich hoffe, Sie fü h len sich wohl, dort ist das Bad, und das ist die Küche. Fühlen Sie sich wie zu Hause.« Er lächelte höflich und dachte an etwas anderes. »Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Holzer. Jean-Claude.« Er rieb sich verlegen die Hände. »Noch etwas. Es ist ein bißchen lästig… die Telefonschnur ist nicht lang genug, sie reicht nicht bis in Ihr Zimmer, deshalb steht der Apparat mitten auf dem Hur.« Er lachte. Ich auch. Ich wußte, daß ich stundenlang am Telefon hocken würde, mitten auf dem Flur. Ich schlief in meinem neuen Bett ein und träumte von einer bewimpelten Bahnhofshalle in
einer fern en Millionenstadt, wo ich von einer tobenden Menge empfangen wurde, während am Ende des Bahnsteigs der Mann meines Lebens auftauchte. Aber die Sonne brach sich in seiner Ray-Ban, die reflektierten Strahlen blendeten mich, ich konnte nicht erkennen, wer es war. Ich wachte auf, ich hatte einen wider lichen Geschmack im Mund, und mein Herz hämmerte, ich trank Wasser aus dem Hahn, weil der Kühlschrank leer war, ich rief Alain an, seine Sekretärin sagte, er sei verreist, ich betete zur Madonna der verlassenen Mäd chen, mich schnell aus diesem grauen Gef ängnis zu befreien, un d erinnerte sie schüchtern daran, daß ich eine so schwere Heimsuchung nicht verdient hätte. Ich besichtigte die Schreckenswohnung, den Louis XV ISalon, schmutzige Möbel und abgetretene Teppiche, entsetzlich bürgerlich, wie ein Wartezimmer beim Zahnarzt. Blumentöpfe aus Porzellan, schief hängende Bilder an den Wanden, alles, was ich im Leben verabscheue, tödliche Isolation, ich war in die Hölle umgezogen. Ich hätte mich am liebsten im hintersten Winkel von Marcs duf tendem Wandschrank versteckt, zwischen seinen Anzügen, um erstickt von meinen Erinnerungen zu sterben. Ich hatte Kopfschmerzen, ich holte zwei uralte Schlaftabletten aus einer Röhre, ich schluckte sie mit lauwarmem Wasser. Ich legte mich wieder ins Bett und rollte mich zusammen, ich steckte den Daumen in den Mund und zog die Decke über mich, ich wartete darauf, daß ich einschlief, und ich schlief ein, ohne es zu merken. Am nächsten Morgen weckte Jean -Claude mich um neun Uhr und fragte, ob ich Kaffee wolle. Ich sprang aus dem Bett, Du sche, Jeans und Pullover, ich trank den brühheißen Kaffee und zwinkerte meinem Zimmerwirt neckisch zu. »Sie sind wirklich sehr hübsch«, sagte er liebenswürdig , »nur am Morgen sieht man, wie schön eine Frau wirk lich ist, und so, eben aus dem Bett, sind Sie noch schöner als sonst.« »Es stimmt, daß ich morgens gut aussehe«, wiederholte ich ab wesend, »aber ich bin morgens auch immer zu spät dran.« Ich hauchte im Vorbeigehen einen Kuß auf seine verblüffte Stirn und lief hinaus. Es wurde ein hektischer Vormittag: Ich
holte mein restliches Gepäck aus der Avenue de Breteuil und schrieb Protestbriefe nach Lausanne. »Ich sitze buchstäblich auf der Straße, ich weiß nicht, wo ich hin soll, ich muß tun ein Bett für die Nacht betteln, und all das Deinetwegen, wegen Deiner Gedankenlosigkeit und Deiner Gleichgültigkeit. Warum hast Du es mir nicht wenigstens vorher gesagt? Schreib mir, ruf mich an, tu irgend etwas, ich bin allein, Mama, verstehst Du?« Ich nahm mein kleines, in tie f roten Samt eingebundenes Tag e buch, in dem ich seit Jahrhunderten alle wichtigen Daten festhal te, und rechnete nach, daß mein Glück zehn Tage gedauert hatte. Genau neun Nächte und zehn Tage, die mir länger erschienen als ein langes Jahr. Zehn kleine Tage, das war’s. Eine traurige Bilanz, Joy-mein-Liebes, verlorene Zeit, du hast die Kurve nicht gekriegt und sitzt jetzt in einer grauen Kammer mit Blick auf Innenhof: dieser weite Weg, um dort zu landen, eisige Einsamkeit in einem fremden Zimmer, während sich Tausende von Händen nach mir ausstrecken würden, wenn ich ins helle Sonnenlicht hinausträte! Warum mußt du dich immer freiwillig einigeln? Warum und für wen? Alain kehrte nach Paris zurück, und sobald ich es erfuhr, rief ich um Hilfe: »Ich bin’s, Joy, ich bin wieder da.« »Wo steckst du denn? Ich habe bei dir angerufen, und irgend jemand sagte, du wohntest nicht mehr da. Wo bist du?« »Ich werd ’ dir alles erzählen. O Alain, ich bitte dich, lad mich heute abend zum Essen ein…« Er zögerte kurz. »Einverstanden, ich mach’ mich frei. Wann paßt es dir?« Ich lachte auf. »Immer, ich habe keine Termine mehr, ich habe nichts mehr . Wann du willst.« Ich lachte wie eine Verrückte, und er lachte mit. »Bis heute abend, Joy-mein-Liebes…« Ich war unendlich erleichtert. Alain könnte mich aus meinem Gefängnis herausholen, er würde zur Eroberung der fernsten
Planeten aufbrechen, wenn ich ihn darum bäte. Bei ihm allein war ich privilegiert, wie Kriegsversehrte und schwangere Frauen in der U-Bahn. Ich würde immer einen Sitzplatz an seiner rech ten Seite haben. Aber hatte ich das Recht, ihn u m Hilfe zu bitten wie einen Freund oder einen Bruder, obwohl ich seine Gefühle nicht erwiderte? Sicher, Alain begehrte mich physisch, aber das war es nicht, was mich zaudern ließ. Der sexuelle Aust ausch ist unvermeidlich zwischen zwe i Wesen, die sich mögen. Doch bei Alain würde nach der Lust die Liebe bleiben. Und das konnte ich nicht akzeptieren. Ich ließ das Telefon mitten auf dem Flur stehen und ging in die graue Kammer zurück, in die niemals Son ne kommt, vor allem nicht bei schönem Wetter.
I
n einem unserer Sommer in der Dordogne geschah etwas, was ich nie vergessen werde. Ich hatte meinen achtzehnten Ge burtstag gef eiert, ganz allein in dem großen Haus, und wartete darauf, daß Mama aus London zurückkehrte. Gelegentlich ve r schwand sie nämlich für ein, zwei Wochen, um Geschäfte zu erledigen, wie sie sagte. Ich habe nie herausbeko mmen, was für Geschäfte das waren. Auch in jenen den kwürdigen Ferien regier te ich über meinen Hofstaat von Vere hrern, die alle eifrig darauf bedacht waren, meine Launen und Leide nschaften zu befried i gen. Es machte mir Spaß, sie zu veruns ichern, sie in ihrer Eite l keit zu verletzen. Ich spielte den Leichtgläubigen etwas vor, ic h schürte Eifersucht, ich zettelte Intrigen an un d goß Öl in die Flammen der Rivalitäten. Ich war ein kleines Biest, ich war bösar tig und dumm, wie man es mit achtzehn sein kann, wenn man sich für schön hält und noch nichts begriffen hat. Ende August, in der Zeit der schwarzen Gewitter und der let z ten Bä lle, wurde ich zu einem Fest eingeladen, das Freunde in einem Schloß in der Nähe gaben. Der Schauplatz war atemb e raubend. Das stolze Gemäuer stand auf einem Felsen und wurde von Türmen und verfallenen Zinnen gekrönt. Ich hatte mir den Jungen, der mich begl eiten sollte, selbst ausgesucht. Ich erinnere mich mit großer innerer Bewegung an dieses Fest. Mein Begleiter war groß und blond und glatt wie eine Marmorstatue. Seine Schönheit war vollkommen, und etwas in seinem Auftreten oder an seiner zu leichten Stimm e schien fast verdächtig. Eric hielt sich immer abseits, wenn ich meine lockeren Spiele trieb, er errötete mehr als ich, wenn ich mit meinen Erlebnissen prahlte, und er gebrauchte nie die vulgären Worte, die uns so sehr bege i sterten, daß wir sie dauernd im Munde führten. Er schien übe r rascht zu sein, als ich ihn bat, mich aufs Schloß zu begleiten. »Ich gehöre nicht zu den Jungen, die dir gef allen, Joy. Und du bist nicht die ideale Partnerin für mich. Wozu sollten wir also zusammen ausgehen?«
Seine mangelnde Begeisterung demütigte mich sehr. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß man mir eine Abfuhr geben könnte, ich drohte, ich stampf te mit den Füßen. Ich wollte , daß er mi t kam, und schließlich ließ er sich breitschlagen. Damals wider stand mir niemand lange. Wir verbrachten einen herrlichen Abend in einem eleganten Kreis. Die Mädchen schienen nach ihrer zerbrechlichen Schö n heit ausgewählt zu sein, nach Ausstrahlung, die von zahll osen, in den weitläufigen Salons verteilten Kerzen auf seltsame Weise betont wurde. Einige waren erst am Abend aus Paris eingetro f fen. Von den Marmortreppen stieg perlendes Lache n zu den goldenen Decken auf, aus den Ecken drangen geflüsterte Worte. Schwere Düfte wallten aus dem Gewächshaus, in dem Tausende von Rose n und Orchideen sc hlummerten. Die bebe nden Fla m men der Kandelaber erweckten das Gold der Bilde rrahmen und Wandbespannungen zum Leben. Juwelen blitzten, und der kühle Wein Heß die Blicke erglänzen. Es war schöner als ein Traum. In der unvergleichlichen Süße dieser Sommernach t beschworen die Samtanzüge und Spitzenkleider eine längst vergangene Ep o che herauf. Ich versank im Strudel der Musik und des Lachens und hoffte, bei den Walzerklängen plötzlich die durchscheinende Gestalt der Gabrielle d’Estráes zu erblicken, die Heinrich IV. huldvoll den Arm reichte. Eric folgte mir stumm überall hin, und wenn ich mich von ihm entfernen wollte, ergriff er meine Hand. »Geh bitte nicht weg, ich kenne hier keinen Menschen.« In einem in gedämpftes Lila getauchten Salon stand eine au f merksame Gruppe um einen grauhaarigen Herrn herum, der an einem der Beistelltische saß. Wir näherten uns. Der Herr beugte sich über eine Hand, die ein junges, blasses Mädchen ihm la chend hinhielt. Die Gesichter hinter ihr glichen wächsernen Masken, und jemand gebot Schweigen. »Er muß sich konzentrieren. Ihr dürft ihn nicht ablenken!« Das junge Mädchen, das die Hand ausgestreckt hielt, lachte nervös auf. Der Mann hob den Blick zu ihr und sagte unfreun d
lich: »Lachen Sie nicht! Ich sehe dunkle Wolken, die sich über Ihnen zusammenziehen. Die Flammen schlagen bereits hoch. Ich kann nichts dagegen machen…« Mit verstörtem Gesicht erhob sich der Unbekannte brüsk und stieß die Hände fort, die sich ihm entgegenstreckten. »Nein. Ich kann nicht mehr. Es nimmt mich zu sehr mit.« Er entfernte sich, während die jungen Leute das Mädchen um ringten, das seine Hand betrachtete, um die düsteren Vorauss a gen zu entziffern. »Mein Gott, Muriel, du wirst doch jetzt keine Angst haben! Du glaubst diese schrecklichen Dinge doch nicht…« »Nein«, antwortete Muriel mit unsicherer Stimme, »ich habe keine Angst. Ich habe nie an solchen Unsinn geglaubt.« Ich hatte plötzlich eine Idee. Ich wandte mich zu ihm, der seine Unruhe nicht verbergen konnte. »Warte bitte hier auf mich. Ich bin gleich wieder da.« Ich lief den langen Korridor hinunter, der zum Garten führte. Der grauhaarige Herr ging schnellen Schrittes zu dem Lustwäl d chen, das den Ehrenhof umgab. »Bitte, Monsieur!« Der Herr in Schwarz drehte sich um. Ich konnte im Halbdu n kel seine zerquälten Züge sehen. »Was wollen Sie? Ich muß weg, ich habe mich schon verspätet.« Ich näherte mich ihm und hielt ihm die Hand hin. »Ich flehe Sie an, Monsieur, sagen Sie mir…« Der Mann sah mich lange an; seine Züge entspannten sich, und er nahm meine Hand in die seine, die sehr kalt war. Er sprach sehr langsam, mit belegter Stimme. »Das Licht, das dich jetzt leitet… du mußt nämlich wissen, daß wir alle vom Licht geleitet werden! Nun, das Licht ist günstig. Aber du wirst den Preis deiner Gabe n und deiner Tage zahlen müssen. Du wirst deine Kräft e auf der Suche nach einem Man n vergeuden, das wi ld dein Fehler sein, denn alle Männer werden dich lieben. Du weilst nu r auf dieser Erde, um zu leiden und zu lieben. Du wirst nur einmal lieben, und es wird zu spä t sein, es ist
immer zu spät, die Verspätung ist unser Fluch, und je schneller wir gehen, um so größer wird sie.« Ich sah ihn erschrocken an. Seine Augen wirkten verschleiert und angstvoll. Er drückte mir die Hand. »Man stellt mir immerzu Fragen, aber ich kann nicht in die Zu kunft blicken, ich gehöre nicht zu den Eingeweihten, ich habe nur verschwommene Visionen. Du wirst eines Tages zu einer furchtbaren Reise aufbrechen, du wirst dem Unbekannten entg e genfahren. Und an jenem Tag wird dein Leben erst anfangen… Laß mich jetzt geh en, du weißt nun das Wesentliche. Ich habe mich schon verspätet.« Er schritt in die Nacht, ohne sich umzusehen. Ich kehrte zum Fest zurück, ich mischte mich in das Lachen und die Musik, und ich fand Eric wieder, der traurig auf mich wartete. »Ich muß etwas trinken«, sagte ich ihm. Er ging eilends los und suchte nach einer Flasche Champagner und kam mit einem überschäumenden Glas zurück. Ich trank es in einem Zug aus. Ich trank ein Glas nach dem andern und leerte die ganze Flasche, ohne den Durst zu stillen, der in meiner Kehle brannte. Eine schweigende Farandole zog an den Taxushecken entlang zum Lustwäldchen, die Freude schien geschwunden zu sein, eine unnatürliche Spannung lastete auf den jäh ernüchterten Paaren. »Komm«, sagte Eric, »wir müssen nach Hause, dir wird be stimmt gleich übel.« Ich setzte mich in sein Auto, und wir fuhren durch die Nacht, ohne daß ich die Zeit gehabt hätte, Heinrich VI. zu begegnen. Ich machte die Augen zu und schlief ein. Schreie rissen mich brutal aus meiner Betäubung. Ich fuhr hoch. Eric hatte auf der Straßenböschung gehalten. Vor uns standen entsetzte Gestalten und sahen ohnmächtig zu, wie ein Auto im Graben neben der Straße ausbrannte. Ich stand auf wie ein Automat, ich wußte, was ich gleich entdecken würde: ein flammenzerfres senes Spitze nkleid in dem eingedrückten Wrack . Ehe er von den Flamme n erfaßt wurde, sah ich den blutenden Körper Muriels, die im
Sterben ihre geöffnete Hand ausstreckte. Seit jenem Moment konnte ich den verschleierten Blick des grauhaarigen Herrn nicht vergessen. Seine Worte zermartern mir oft das Hirn – der nicht endende Weg, der mich auszehren würde, die furchtbare Reise dem Unbekannten entgegen, das Schicksal ist vorherbestimmt, meine Spur vorgezeichnet, ich bin ohnmächtig , stumm und dazu verurteilt, bis zum Äußersten zu gehen, bis ans Ende. Diese Szenen, die mit der Zeit an Farbe eingebüßt hatten, sah ich jetzt wieder, unvergeßliche Bilder, die grünlichen Augen des grauhaarigen Herrn und den Körper Muriels, der in dem eing e drückten Auto verbrannte. War um ausgerechnet an jenem Abend? Die warme, beruhigende Gegenwart Alains ließ mich den Alptraum jedoch vergessen, er drückte mich an sich und sagte, er habe schon geglaubt, er würde mich nie wiedersehen. »Jetzt bist du da, Joy, mein Liebes, du bist zurückge kommen.« Er biß mir in die Ohrläppchen, ich wußte nicht, wie mir geschah, ich war es nicht mehr gewohnt, ich hatte seit Jahrhunderten ohne Zärtlichkeit gedarbt. Ich erzählte ihm die letzten Episoden me i nes Abenteuers, er schüttelte entgeistert den Kopf. »Das ist doch nicht möglich. Aber ich bin ja da, ich. Du mußt zu mir kommen, aber… aber… aber…« Ich wußte, daß er es ehrlich meinte, aber hinter seine r Großzü gigkeit lauerte die Drohung seine r Leidenschaft Ich las seine Gedanken, die nichts Gutes verhießen: Joy, er ist kein Mann für dich, wann wirst du das endlich einsehen? In seinen Augen fu n kelte Zorn, vielleicht war es auch Eif ersucht. Er schlug mir vor, bei ihm zu schlaf en, das hieß, mit ihm, und ich lehnte ab, ich weiß wirklich nicht, warum, wo ich doch das Bedürfnis hatte, geliebt zu werden, egal von wem, damit ich wieder Hoffnung schöpfte, aber ich schüttelte meine blonden Locken. »Nein, nicht heute abend.« Er reagierte sehr gut. »Dann vielleicht morgen?«
»Ja, wenn du möchtest.« Er brachte mich zum Boul evard de Port -Royal, und ehe ich ausstieg, küßte ich ihn lange auf den Mund, und um ein Haar hätte ich gesagt, komm doch mit rauf. Ich wartete, bis die Ampel an der Ecke des Boulevard Saint -Michel auf Grün gesprungen war, und lief dann die staubige Treppe hoch. Die Wohnung war düster und abweisend. Ich ging durch den langen Flur und sto l perte über das Telefon. Unter der Tür zu der grauen Kammer drang ein Lichtstreifen, um mich zu warnen, daß jemand drinnen war. Ich verstand. Marc lag mit offenem Hemd auf dem Bett. Als er mich sah, richtete er sich wütend auf. »Wo bist du gewesen?« Böse. Hart. Gereizt. »Du hast es nötig, mich das zu fragen!« antwortete ich bissig. Er schüttelte den Kopf. »Mein armes Kleines, du wirst nie etwas begreifen.« Er zog mich an sich, knöpfte mein Kleid auf streifte es bis zu den Schenkeln hinunter, schob auch meinen Slip hinunter und nahm mich im Stehen an der Wand, ich stand ein bißchen sei t lich, ich war trocken, geschlossen, gleichgültig. Er versetzte mir heftige, grausame, unnütze Stöße. »Ich brauche dich, verstehst du? Ich muß dauernd an dich de n ken. Und auch DARAN.« Er hielt sich nicht zurück und überschwemmte meinen Bauch. Ich blieb gefühllos und feindselig, doch als ich ihn in mir ko m men spürte, wallte Hitze in meinen Lenden auf , ich war gewärmt und fühlte mich siegreich, ich arme Närrin. Er stieß meinen Mund an sein nasses Glied, und ich empfing es. Ich vermischte meinen Speichel mit seinem Samen und fühlte, wie das Blut in sein Geschlecht zurückströmte. Ich hielt inne und wagte es, mich zu widersetzen. »Ich mach’ nicht bis zu Ende.« Er lehnte sich an die Wand. »Halt den Mund und hol mir einen runter.«
Er war rot und verschwitzt, er zeigte sich endlich so, wie er im Grunde war. Er senkte als erster den Blick. »Na gut, dann wichs ich dich eben, dafür bist du ja gekommen.« Ich nahm ihn in die Hand, drückte sehr stark und massierte verzweifelt, mit heftigen Bewegungen, die ihm weh tun mußten. Ich fühlte, wie sein Geschlecht größer wurde und sich spannte, die bläulichen Adern zeichnet en sich unter der glänzenden Haut ab, als würden sie gleich platzen, eine weiße Flut bespritzte mein Kleid und meine nackten Fesseln, tödliche Tropfen, die meine Seele vergifteten. Besudelt, beschämt, krank wandte ich mich ab. Lange danach brachte er seine Sachen in Ordnung und packte mich an der Schulter. »Warum stellst du dich so blöd an? Ich lasse sie allein, SIE, um dich zu sehen, und du verstehst nicht!« Ich öffnete den Mund, um zu antworten, daß es mir nicht ge nüge, aber dann wurde mir klar, daß ich im Begriff war zu lügen, denn es genügte mir . Ich warf mich zitternd in seine Arme. Beinahe hätte ich ihn aus Gedankenlosigkeit verloren. »Entschuldige, Liebling, aber ich fühle mich hier schrecklich, es ist wie ein Stundenhotel…« Er lächelte und flüsterte: »Du bist meine kleine Nutte.« Mir traten Tränen in die Augen, und ich weinte an seiner Schu l ter. Ehe er ging, schwor er mir, er werde sie in dieser Nacht nicht anrühren. »Ich verspreche es dir, Joy.« Ich fand es ungerecht, schließlich brauchte sie es ebenfalls. Sie war unschuldig. Am nächsten Morgen kam er wieder. Er weckte mich, als es noch nicht ganz hell war, er legte sich auf mich und nahm mich, bevor er ei n Wort sagte. Er liebte mich langsam, meisterhaft. Am Abend kam er wieder, wir aßen in einer Knei pe am Boulevard de Port-Royal, wir gingen in meine graue Kammer, er legte sich neben mich und schlief ein. Ich weckte ihn eine Ewigkeit danach.
»Marc, es ist spät, du mußt nach Hause. Sie wartet.« Er sah mich ernst an und nickte. »Ja, du hast recht, ich muß nach Hause.« Die nächsten Tage rief er mich ein paarmal an. »Alles in Ordnung?« »Ja, danke. Ich lebe mich ein. Kommst du?« »Nein. Heute abend geht’s nicht. Aber wir könnten vielleicht für ein paar Tage verreisen…« Ich sagte ja, flüsterte ihm zärtliche Wo rte zu und legte auf. Ich schreckte aus dem Schlaf, mein Bett war nicht zerwühlt. Ich glaubte geträumt zu haben, und ich irrt e mich nicht, denn ich kam von einem windumtosten irischen Strand zurück. »Hallo, Joy, mein Liebes, es ist schrecklich, ich hatte total ver gessen, es di r zu sagen, hoffentlich bist du mir nicht böse , aber ich hatte keine Ahnung, daß du zurückkommen würdest. Du sitzt auf der Straße! Ich schäme mich furchtbar, Joy, aber mir blieb nichts anderes übrig, Albert hat nicht lockergelassen. Er konnte es seinen Freunden nicht abschlagen, es ist beruflich sehr wichtig für ihn. Mein armer Liebling, erzähl mir, wo du jetzt wohnst!« Ich erzählte von dem grauen Zimmer und dem quietschenden Schrank, sie wiederholte: »Mein Gott, wie schrecklich, und de ine Arbeit? Joy, du mußt allein da rauskommen, du bist jetzt erwac h sen.« Ich sagte: »Ja, sicher, du hast recht«, und legte auf. Dieser Bruch gab mir den Rest. Ich brühte Jean -Claude-Kaffee, ich bestrich Hunderte von Sandwiches mit Butter, ich schminkte mich, mach te mir die Haare, machte mich sch ön, ich war euphorisch, siege s sicher. Ich würde mein Überleben regeln, etwas unternehmen, Erfolg haben. Eine Woche lang belagerte ich die Büros der Fotografen und Agenten, ich ging sogar zu Goraguine, der mich sehr kühl be grüßte. Ich überraschte Margopierre im Tiefschlaf. Sie schlief mit einer großen Deutschen, deren Busen negroid geformt war. »Kind, du bist verrückt, es ist mitten in der Nacht«, gähnte sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.
Ich bat Alain, mir für zwei oder drei Tage 200 oder 300 Francs zu pumpen. »Aber natürlich, du Dummchen.« Ich machte mein Fenster weit auf. Aus dem Hof stiegen Kü chengerüche, aber ganz oben erblickte ich zwischen Dächern und den verrenkten Schornsteinen einen Fetzen blauen Himmels . Ich ordnete meine Sachen, meine New Yorker Erinnerungen, die Streichholzhefte mit der Adresse von Steves Restaurant, die Visitenkarte des Mannes aus dem Flugzeug, der Henri hieß und sehr viel für etwas zahlen wollte, das keinen Preis hatte. Ich konnte nicht mehr schlafen und wälzte mich nächtelang auf dem Holzbett hin und her, maß meine Gebete und Illusionen an den unendlich träge da hintropfenden Stunden ab. Eines Nachts stand ich auf, weil ich es nicht mehr aushielt und Lust hatte, durch die verlassenen Straßen zu laufen. Heute weiß ich, daß ich eine Empfindung suchte, von der ich seit der Szene mit Marc heimgesucht wurde, seit der Szene in der grauen Kammer mit der Atmosphäre eines anonymen Pariser Stundenhotels. Meine Gedanken drehten sich oft um Onkel Gaspard, doch ich würde nie den süßen Überdruß der Freudenhäuser in der Provinz ke n nen. Ich ging den Boulevard Saint -Michel entlang und wartete auf das Ereignis, das eintreten mußte. Die Neonreklamen blitzten auf dem nassen Pflaster. Böen peitschten mir de n Regen in s Gesicht. Neben mir stoppte ein Auto. Ich ging weiter, verklemmt und verkrampft, ich spürte den elektrischen Blick, der sich auf mich geheftet hatte. Endlich wandte ich ganz langsam den Kopf zur Seite. Grauer Citroen. Gestalt zum bereits hinunte rgekurbel ten Fenster gebeugt. »Guten Abend.« Die Stimme bebte ein wenig. Ich verlangsamte unmerklich me i ne Schritte und sagte mir, du bist ja nicht richtig im Kopf, Kle i nes, du bist total plemplem, dabei kommt nichts Gutes raus, aber du willst es ja nicht anders. »Kann ich Sie irgendwo absetzen?«
Ich sah ihn noch einmal an und ging auf den Rand des Bü r gersteigs zu. Er lächelte nervös. »Steigen Sie ein?« Ich blieb stehen und sah ihm in die Augen. Mein Herz pochte so heftig, daß meine Brüste bestimmt zitterten. »Was wollen Sie?« Ich hatte einen rauhen, wissenden Tonfall gefunden, der mir den Umständen angemessen schien. »Was kostet es?« Ich zuckte zusammen. Das Scheppern eines Lastwagens brachte mich um eine n wich tigen Teil seiner Antwort. »… Auto…« Ich machte ein verächtliches Gesicht. »Hundert Francs, einverstanden?« Ich antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern und ging weiter. »He, bleib stehen, sag mir, wieviel, warte…« Ich blickte ihn von der Seite an. »Zweihundert.« Er bremste scharf. »Gut, steig ein.« Er machte von innen die Tür auf, und ich stieg zu Tode veräng stigt ein. Ich hatte wieder einmal Angst, ich würde nicht den Mut haben, bis zum Äußersten zu gehen. Beruhigt und siegesgewiß schlug mein Freier einen vertraul i chen Ton an. »Hör mal, bescheiden bist du nicht gerade, zweihundert Francs… Ich hoffe, für diesen Preis wirst du bis zum Äußersten gehen?« Mit zitternden Händen steckte ich mir eine Zigarette an. »Halt den Mund und beeil dich, ich hab’ nicht viel Zeit…« Ich zeigte ihm den Weg. Ich ließ ihn unter den Fenstern der Wohnung halten, wo Marc mich vergiftet hatte. Der Mann schob den Sitz zurück und griff nach seinem Gürtel. »Zuerst das Geld.« Fieberhaft holte er eine dicke Brieftasche heraus und reichte mir zwei Hundert-Francs-Scheine.
»Kann ich deine Brüste anfassen?« »Das macht hundert Francs extra.« Aufgeregt hielt er mir noch einen Schein hin. »So, jetzt zeig sie mir.« Ich knöpf te meine Bluse auf und nahm die Schultern zurück, damit meine großen Brüste vorsprangen. Er legte eine Han d darauf, eine traurige, kalte Hand, eine Hand ohne Liebe und ohne Traum, eine arme, ungeschickte und schuldbewußte Hand, aber er stand darauf und fing an zu stöhnen. »Du hast schöne Brüste, ah! Was für Titten…« Er nahm die Hand weg und hielt mir ein bläuliches Glied hin. »Da, faß an.« Ich massierte ihn leidenschaftlich und wartete auf die Empfi n dungen, die in mir entstehen würden, aber das Glied pochte, ohne daß ich die kleinste Woge spürte. »Jetzt«, stöhnte er. Ich beugte mich über ihn und nah m es in den Mund, dieses harte, stolze, tote, aseptische Geschlecht, dem weder Wollust noch Laster vergönnt waren, das sicher nur habgierige Finger und flüchtige Münde r kannte. Ich tat mein Bestes, um Leide n schaft vorzutäuschen, der Mann wand sich und fuchtelte mit de n Armen und stöhnte. »Hure, Hure, das gefällt dir, ja? Hure, du wirst alles nehmen, ihr seid alle gleich, Huren, nichts als Huren…« Ich arbeitete schneller, und er löste sich plötzlich aus meinem Mund, um sich heftig selbst zu masturbieren. Seine Augen tra ten hervor, er hatte Schaum in den Mundwinkeln. »Da, Hure, guck zu, wie ich komme.« Ich wandte angewidert den Kopf ab und fühlte, wie lauwarme Tropfen auf mein Handgelenk fielen, aber ich sah sie nicht. Etwas später, als er wieder zu sich gekommen war und seine Sachen in Ordnung gebracht hatte, sah er mich verlegen an. »Sie sind nicht wie die anderen, nicht wahr? Sie sind schön, sogar danach.«
Ich floh, ohne auf Wiedersehen zu sagen, ich winkte kurz, ehe ich im Dunkeln verschwand, und sein mitleiderregender, flehen der, verletzter Blick folgte mir in der Hoffnung, mich zurückz u halten. »Kommen Sie wieder zum Boul-Mich?« rief er von weitem. Bitteres Schluchzen schüttelte mich. Ich schämte mich meiner, und ich hatte Erbarmen mit ihm, ich verfluchte die Regung, die diese schreckliche Probe vermasselt hatte, ich war nicht bis zum Äußersten gegangen. Ich kehrte zurück in die graue Kammer, als die Sonne gerade hinter den verrenkten Schornsteinen hervorkam. Ich flehte den Himmel an, mir zu vergeben, aber ich spürte ei ne Gef ahr und fand keine Ruhe, bis das Klingeln des Telefons mir sagte, woher die Gefahr kommen würde. »Alles in Ordnung?« Marc. Besorgt. »Ja, danke. Das Leben ist herrlich – « meine Stimme war angs t belegt – »ich habe tausend Projekte. Weißt du, du fehlst mir.« »Ich bin froh, daß du das sagst, Joy. Ich glaube, du hast ve r standen. Stimmt’s?« »Was soll ich verstanden haben?« fragte ich mit versagender Stimme. »Zwischen uns wird es immer anders sein, aber es wird großa r tig sein…« »Marc, du verschweigst mir etwas.« »Ich wollte es dir eigentlich nicht am Telef on sagen, aber vie l leicht ist es doch besser. Also, Joy. Ich werde heiraten.«
D
as Wichtigste an einer Liebesgeschichte ist das Ende. Eine Stunde zuviel, ein Tag weniger, und alles ist auf den Kopf gestellt. Der Rest sind Füllsel, Schlacken, gebrannt von den Launen der Leidenschaft, die wiederum dem Rhythmus des Lebens selbst folgt, dem Entstehen, Heranreifen, Altern und Verblassen des Gefühls, das zwei Wesen zuei nander zieht, anein ander bindet und dann oft wieder trennt. Die verhängnisvolle Entscheidung ließ mich kalt. Seit ich Marc kannte, fürchtet e ich mich unbewußt vor dem Dr ama, das mir nun durch die gewu n dene Schnur eines Tel efons mitten au f einem Flur angekündigt worden war. Ich war erleichtert wie de r Wachtposten, der mit unerträglicher Spannung auf den Feind wartet und ihn endlich erblickt. Ich stelle mir vor, daß der Posten seine Waffe mit un endlicher Erleichterung hebt, der Feind steht ihm gegenüber, die Furcht wird durch den Willen zu überleben ko mpensiert. Die metallische Schnur, die mich mit Marc verband, war zu straff gespannt, sie schnitt mir so tief ins Fleisch, daß ich den Schmerz ohnehin nicht mehr lange ausgehalten hätte. Ich liebe Marc. Ich werde ihn lieben, bis meine Vernunft, meine Erinnerung und meine Kräfte schwinden. Nach ihm wird alles zweitrangig sein, ein Behelf. Daß mir jetzt bloß niemand sagt, meine Liebe sei ungerechtfertigt, maßlos, unnütz ! Meine Liebe entspricht meinen emotionalen Bedürfnissen, Marc ist leben s wichtig. Er ist me in Opfer, weil ich akzeptiert habe, daß er mein Leben umgekehrt hat. Letztlich macht sich jeder sein Schicksal selbst. Danach rollte ich mich auf dem harten Lager in der grauen Kammer zusammen und liebkoste mich stundenlang selbst. Ich ordnete die vergilbt en Fotos, die mein Gedächtnis noch nicht endgültig abgelegt hatte, die Begegnung auf dem Friedhof, unsere erste Liebesnacht, unsere letzte. Ich stellte mich vor den Spiegel, um zu sehen, ob ich weinte, aber ich weinte nicht. Du dumme Gans, sagte ich mir im mer wieder, es ist doch kein endgültiger Bruch, du wirst ihn so oft sehen können, wie du willst. Ich hatte
eine lange manisch-depressive Phase. Ich säte rings um mich her Verwirrung, verursachte jähe Stürze und löste unerwartete Ex plosionen aus. Ich entwic kelte abstoßende Gewohnheiten, kaute an den Fingernägeln und hatte schlimme sexuelle Wunschbilder, Träume einer frustrierten grünen Witwe. Ich lernte neue Ge schäftsleute kennen, den Weinhändler und den Zigarettenhän d ler. Glimmstengel und Whisky. Frauen, di e nach Herzensenttä u schungen oder, was oft das gleiche ist, nach großen Dummheiten dem Alkohol verfallen, fangen oft beim Bier an. Ein Helles in der Kneipe oder bei Freunden, das fällt nicht weiter auf, sie sagen sich: Sieh da, sie mag Bier. Sie assoziiere n Bier mit Dickwerden, nicht mit Alkoholismus. Ich betrank mich mit Bier, dann mit Bourbon und dann mit beide m. Ein Kater ist noch unangene h mer als Liebeskummer. Wenn es dunkel wurde, kehrte ich mit meinem Dreierpack aus München in die graue Kammer zurück und trank das lauwarme Bier, während ich einen Apfel knabberte und ein paar Joghurts löffelte und mir einbildete, eine richtige Diätkur zu machen. Einmal in der Woche aß ich abends mit Alain, der zuvorkommend und nostalgisch war. Wenn wir vor fremden Blick en geschützt waren, drückte er mit seiner großen männlichen Hand schnell meine warme Musch i. Er hatte sich eine neue Taktik zurechtgelegt. Er schlug mir nicht mehr vor, bei ihm zu schlaf en, sondern bemühte sich, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und stieß dabei kleine Seufzer aus, die sagen sollten: O Joy, wenn du nur wolltest! Eigentlich hätte ich gewollt. Ich hatte ihn erotisch in bester Erinnerung, doch was mich abschreckte, waren die Komplikati o nen. Unsere Beziehung war zu produktiv, unsere klein en, reinen Diners zu zärtlich, um dieses Gleichgewicht durch ein paar Stu n den der Hingabe zu gefährden. Ich fühlte mich nicht in der Lage, zu erklären und zu rechtfertigen, was mich veranlaßte, bestimmte Dinge zu tun und nicht jeden Tag wieder von vorn anz ufangen. Es war diffizil, delikat, es ging im Grunde über meine Kräfte. Ich war unschlüssig und nervös, ich hatte oft ein undefinierbares Verlangen nach ihm, doch aus Trägheit und bourgeoiser Angst
vor Verwicklungen tat ich so, als spüre ich die brennenden Blicke nicht, die mich verschlangen, sobald ich den Kopf abwandte. Trotzdem hätte ich nachgegeben, wenn er sich daz u durchgerun gen hätte, einfach meinen Rock hochzuheben und zu sagen: Jetzt hast du mich lange genug angemacht, Joy -mein-Liebes. Jetzt mußt du dran glauben, ich will dich vögeln, steh auf, damit ich dich ausziehen kann! Mein Gott wie furchtbar, nie würde Alain das tun. Er würde vielleicht flüstern: Joy -mein-Liebes, vergiß deinen Kummer und deine Macken, leg den Kopf an meine Schulter, mach die Augen zu und sei glücklich . Seine große, scheinheilige Hand würde meinen Hals tätscheln, dann meine Brüste und meinen Bauch , ich würde nichts einwenden, und es würde mir gef allen. Wie viele verzehrende Leidenschaften, un sterbliche Lieben oder unerhörte Fre uden werden auf dies e Weise im Ei der Schüchternheit erstickt. Marc rief mich immer zur selben Zeit an, gegen sechs Uhr abends, zu der Stunde, wenn der Wolf im Hund erwacht, wie Mama oft sagte, sehr treffend, finde ich. »Alles in Ordnung?« Ich erzählte ihm, was ich den Tag über gemacht hatte, er sagte, sehr gut oder laß dich nicht so gehen, je nachdem, ob ich gearbeitet oder in der grauen Kammer herumgetrödelt und geschlafen hatte. Er wiederholte oft den gleichen Satz: »Ich kann jetzt nicht reden.« Er fügte hinzu: »Acht Uhr, einverstanden?« Ich sagte nie nein. Ehe er auflegte, brummte er jedesmal: »Bis nac h her.« Ich begann sof ort mit meinen Vorbereitungen. Ich wollt e so schön sein, daß es weh tat, göttliche Augen und sündhafter Mund, durchsichtige perlmuttfa rbene Schleier auf weicher einl a dender Haut. Ich hatte die Phase der Satinschlüpfer und Strumpfhalter, de r schwarzen Strumpfhosen, und im Frühling war ich nackt. Man sieht, wie lange das Ganze gedauert hat. Sobald wir uns gegenüberstanden, fing der Kampf wieder an. Marc versuchte ver zweifelt, mich vergessen zu machen, daß Joelle existierte. Damals wohnten sie schon zusammen, und ich wußte aus eigener Erfahrung, daß Joelle alle Wesen und Dinge
vereinnahmte, die in ihre Reichweite kamen. Marc tat so, als habe er für nichts mehr Zeit, als arbeite er Tag und Nacht, als habe er oft nicht mal die fünf Minuten, um nach Hause zu fahren… Der Ärmste, sein Leben wurde zur Hölle, doch Gott sei Dank hatte er eine Oase, ein Paradies, einen kleinen Winkel der Walhall: mich. Der Rest des Abends war Warten auf das, was kommen würde, Spannung und Unbehagen, auch Ungeduld. Er wußte, wenn wir die graue Kammer betraten, würde ich ihn langsam ausziehen, ohne seinen Blick loszulassen, köstliche Rache einer kurzen Unterjochung. Er schöpfte für mich das Reservoir der Phantasie aus und versuchte, die bekannten Grenzen der Lust zu erweitern, aber ich wurde immer anspruchsvoller und wachs a mer, sobald er sich einen Zoll von der Perfektion entf ernte, machte ich ihn zärtlich darauf aufmerks am. In der grauen Ka m mer hing oft eine Bitterkeit, die ich auf den türkischen Tabak zurückführte, den ich seit einiger Zeit nach der Liebe rauchte. Bei Sonnenaufgang verschwand Marc; das Licht hätte ihn in Asche verwandelt, er war der Vampir meiner Sinne, er stand unter dem ewigen Fluch der Nacht, vielleicht suchte er auch nur Ruhe in Joelles Armen. Ich werde es nie erfahren. Silvester. Champagner, Prosit Neujahr. Nach dem Elend der einsamen Festtage, nach Tränenströmen und schwarzer Mela n cholie teilten sic h die dunklen Wolken und ließen die Sonne wieder durch. Ein lakonisches Fernschreiben hatte Alexandre Goraguine an meine Existenz erinnert. Mein amerikanischer BFilm brach alle Kassenrekorde. Meine gebräunten Pobacken hatten eingeschlagen, the new erotic French style, Tausende von Dollars und am anderen Ende der Welt tranken Männer in dunk len Kinos mein aufreizendes Bild in sich ein, das hundertfach vergrößert über die Leinwand flimmerte, die zum Spiegel ihrer kühnsten erotischen Phantasien wurde. Laut kni rschend kam das stehengebliebene Karussell wieder in Gang. Die Händler in Angst und Illusionen stürzten sich wieder auf mich. Das Telefon klingelte wieder ununterbrochen, ein opportunistischer, eif er süchtiger Samariter nach dem anderen. Die Freunde verviel fach
ten sich. Ich blieb teilnahmslos und gleichgültig. Ich amüsierte mich königlich über Marcs zunehmende Eif ersucht, er konnte das Interesse, das ich erregte, einf ach nicht ertragen, und ich begriff, daß er Angst hatte, ich würde ihm entgleiten. Die Klein e war hellsichtig genug, um zu wissen, daß ihre Verfügbarkeit, ihre bedingungslose Willf ährigkeit, ihre nicht nachlassende Leide n schaft und ihr uneingeschränkt dargebrachter Körper sie einzi g artig und unersetzlich machten. Das lustgemästete Männchen sah mit scheelen Blicken, wie sich di e Tür des dunklen Käfigs öffn e te, in den ich mich hatte sperren lassen. Seine Niedergeschlage n heit äußerte sich darin, daß er Geschäfte vernachlässigte, die ganz oben auf seiner Liste standen. Marc war plötzlich nicht mehr de r dreiste Eroberer, dem alles gelang. Er trauerte seinen verlorenen Illusionen nach und klammerte sich mit herzzerreißender We h mut an unsere Zweisamkeit. Ich gab mir alle Mühe, seinen Kummer zu schüren. Ich wurde mütterlich und verständnisvoll. Es wa r die Zeit der einf achen, auf Jean -Claudes Herd improv i sierten Abendessen, der flackernden Kerzen auf dem wackeligen Tisch in der grauen Kammer. Ich überraschte ihn mit kleinen, schleifengeschmückten Geschenken, mit spontanen, unverbindl i chen Streicheleinheiten. »Ich bin da, Marc, mach die Augen zu.« Hinter seinen geschlossenen Lidern sah ich immer die häßliche Flamme des Mißtrauens. Der Zweif el blendete ihn und vergällte seinen inneren Frieden. Ich empfand jedoch nie das Mitleid, das er so sehr fürchtete. Durch widrige Umstände zu einem Mann wie alle anderen reduziert, wurde er durchschnittlich, banal, begrenzt, feige, aber zugänglich, und deshalb liebte ich ihn vie l leicht mehr als in der Zeit, als er der Stoff meiner Träume gew e sen war. Eines Tages packte ich me ine Koff er. Ich faltete meine neuen Kleider mit der linken Seite nach außen zusammen, ordnete meine Fotos, schrieb mit rosa Filzstift einen Abschiedsgruß an Jean-Claude und stieß zum letztenmal in meinem Leben die Tür der grauen Kammer auf. Adieu!
Von mein em eigenen Geld mietete ich mir ein großes weißes Appartement im obersten Stock eines modernen Mietshauses. Ich hatte von morgens bis abends Sonne, sie zog jeden Tag einen weiten Halbkreis über mir. Ich war von Licht überflutet, und auf meiner winzigen Ter rasse blies mir der Wind ins Gesicht. Die weißen Wände begeisterten mich, ich schnupperte die neuen Düfte wie ein Hund, der sein Revier in Besitz nimmt. Ich hatte nur ein Bett, ein Laken, eine Decke, einen Kochtopf, eine Frite u se und ein Badetuch, aber ich war frei und reich. Marc besuchte mich täglich, aber er fühlte sich in meiner neuen Umgebung nicht wohl. »Ich kann den Boulevard Exelmans nicht ausstehen.« »Wir suchen uns was anderes, wenn wir zusammenziehen, Lieb ling.« »Ich kann Betonklötze nicht ausstehen.« »Ich baue dir später ein Schloß aus Granitsteinen, in der Bret a gne, und dort können wir uns verstecken.« Er hätte gern gestanden, daß er all das vermißte, was unmitte l bar hinter uns lag, die graue Kammer, meine Not und die Angst, die mich an ihn gekettet hatte. Meine Unabhängigkeit frustrierte ihn, meine Erf olge nahmen ihm seine Sicherheit. Ich registrierte seine Verfassung, sein Zaudern, seine Liebesausbrüche ohne Hoffnung und Groll. Marc fürchtete, mich zu verlieren, aber nichts hätte ihn dazu bewegen können, sein Leben zu ändern, um mich zu retten. Unsere Begegnungen färbten sich mit Monot o nie, die süße Gewohnheit stumpft e die Lust manchmal ab, doch die Fesseln, die uns aneinander banden, schnitten jeden Tag in unser Fleisch. Ich bemühte mich, die lange, zerebrale Keusc h heitsperiode zu verlängern, die in der grauen Kammer begonnen hatte. Ich reservierte mich für die eheliche Liebe, verjagte die gewagten Wunschbilder, die meine Einsamkeit mir eingab, aus meinen lasziven Träumen. Ich widerstand der Ver suchung zu masturbieren. Ich wurde wieder Jungfrau. Ich war von einer bayerischen Produktionsgesellschaft für eine stumme, relativ unbewegliche Rolle engagiert worden. Es war eine sechsstündige
Fernsehserie, historisch, endlos, sterbenslangweilig und unve r daulich. Der Pressemann, der blond und schüchtern war, hegte eine platonische Leidenschaft zu mir. Er präsentierte mich als den eigentlichen Star der Serie, was den eingebildeten teuton i schen Schauspielern sichtlich mißfiel. Um das Ende der Dreha r beiten zu feiern, hatte er in einem Schickeriarestaurant ein gr oßes Essen organisiert. Wir waren eine lärmende Gruppe von etwa zehn Personen, und als wir de n juwelenfunkelnden Schauplatz betraten, wo ein langer Tisch auf uns wartete, sah ich natürlich als erstes, daß Marc und Joelle am Nebentisch saßen. Sie war so schön, daß meine sehnsüchtigen Erinnerungen mich mehr quä l ten als meine Eif ersucht. Es schien Spannungen zwischen ihnen zu geben, ganz anders als an dem Abend, als ich sie, in einem ähnlichen Restaurant un d zur gleichen Stunde, das erste Mal zusammen gesehen hatte. Joelle lächelte mir schon von weitem zu und sah mich ernst, aber auch zärtlich an. Dann stand sie auf und kam auf mich zu, um mich zu umarmen. Ihr Mund streifte meine Wange, ich atmete ihren herb en Duft, einen Duft, den ich so gut kannte und nicht vergessen hatte. Unsere Hände fanden sich, und ich merkte, daß meine Augen am liebsten geweint hätten. Sie ging zu ihm zurück, und si e warfen mir immer wieder, unabhängig voneinander, intensive Blicke zu, bis eine laute Fami lie kam, die sich uns gegenübersetzte, so daß ich sie nicht mehr sehen konnte. Als die Familie ein Jahrhundert später aufbrach, waren die beiden fort, und auf dem lisch lagen nur noch eine leere Zigarettenschachtel und eine Serviette mit blutroten Li p penstiftflecken. Marc kam sehr spät zu mir, in seinem Gesicht standen Qualen. Er liebte mich sehr einfallsreich, ehe er wie üblich ging. Es ist fünf Uhr morgens, Paris erwacht… Zum Geburtstag schenkte er mir ein Armband von Cartier, eines, das man sieht, umbindet und bis zum Tode nicht mehr ablegt. Wir gingen den ganzen Tag nicht aus dem Haus. Um Mitternacht rief Mama an.
»Joy, mein Liebes, du hast Geburtstag, Liebling, tausend Küsse. Ich habe dir etwas Wun-der-ba-res gekauft, ich gebe es di r, wenn ich dich in Paris besuche…« Ich sagte ja, ja, ohne wirklich erfreut zu sein. »Joy, was ist denn? Ich habe deine letzten Aufnahmen gesehen, du bist noch schöner geworden… Ich bin stolz auf dich, ve r stehst du? Ich sage allen Leuten, daß du meine Toch ter bist, hallo, Joy, Albert gibt dir einen Kuß, Joy, ich höre dich nicht mehr…« Ich habe nackt für Lui posiert. Vielleicht hatte ich das Bedür f nis, mich allen zu zeigen, allen zu ge fallen, Verlangen zu wecken – ein letztes Mal. Ich stellte mir den einsame n Mann vor, den meine Nacktheit, meine zu festen Brüste und meine goldene Scham erregt hatten. Niemand wird es je verstehen, der Drang, sich zu entblößen und zu zeigen, ist unwiderstehlich, erhaben und rührend zugleich, vor allem, wenn man jung und schön ist, oder wenn andere einem das sagen. Als das Magazin erschienen war, besorgten sich viele unbekannt e Leute meine Telef onnum mer und rief en mich Tag und Nacht an, um zu erfahren, wieviel ich koste und wann ich frei sei. Ich war halbtot vor Angst und verzweifelte, weil ich meine Rolle nicht bis zum Ende durchst e hen konnte. Marc kam eines Abends um sechs von einer Reise zurück, ich telef onierte gerade mit Margopierre. Er klingelte zweimal, einmal lang und einmal kurz, wie immer, und ich öffn e te. Er hatte den Lui in der Hand. Er warf ihn aufs Bett und gab mir eine Ohrfeige. Es tat nicht weh. Ich schämte mich nicht, ich empfand keinen Zorn, ich war nur überrascht. In seinen Augen las ich, daß er den Schlag bereute. Er taxierte seinen Irrtum. Ich küßte ihn zerstre ut und fragte, während ich mir mit der Hand über die brennende Wange fuhr: »Alles in Ordnung?«
E
s ist falsch, zu glauben, man könne die Uhr zurückstellen. Wenn der Zug abgef ahren ist, kann ihn nichts aufhalten, und wer sich umdreht, wird in eine Salzsäu le verwandelt. Ich bereue nichts. Meine Geschichte ist banal. Ich wollte sie erzählen, weil sie ewig ist. Ich wollte der Liebe huldigen, die mich inspiriert hat. Ich stieg auf einen hohen freien Hügel, von dem aus ich alle Wege der Leidenschaft überblicken konnte. Ich wählte den schönsten Weg, aber er führte ins Nichts. Die Tage, die verstre i chen, bringen mir keine Übe rraschungen mehr. Ich rechne mit allem, doch ich erlebe nichts, weil es nur von mir abhängt, mich zu verweigern und zu brechen. Ich akzeptiere alles, das Beste und das Schlimmste. Das Gute und das Böse. Das Wahre und das Falsche. Das Glück und das Leid. Die Liebe und das Verlangen. Sie sind eins. Der Versuch, sie voneinander zu trennen, ist mü ßig, wenn man das eine hat, berührt man zwangslä ufig das ande re. Ich habe die übermenschliche Kraft, die die Schönheit ve r leiht, ich teile meine Jugend umsichtig aus, ich fülle meinen Kopf mit herrlichen Erinn erungen, die mich bis ans Ende begleiten werden. Ich war um acht mit Marc verabredet. Er hatte am Nachmittag angerufen und gesagt, er sei frei und wolle mich besuchen. »Wenn du dir was anderes vorgenommen hast, sag es nur ab.« Ich habe alles abgesagt. Ich schlage mich mit meinen eigenen Waffen, mit meiner Verfügbarkeit und den Trugbildern, die nur ich imstande bin zu erschaff en. Marc ist in meiner Macht. Ich ziehe ihn mit in unseren Untergang. Man kann die Uhr nicht zurückstellen. Der Weg endet an einem Horizont, den ich allein kenne. Er klingelte an meiner Tür. Einmal lang, einmal kurz. Ich hatte ihm ke inen Schlüssel zu dem Appartement gegeben. Er hatte nie gewagt, mich darum zu bitten. Er war sehr elegant, beiger Kaschmir und blaues Hemd. Ich sagte: »Du gefällst mir, und ich liebe dich.« Ich fiel ihm um den Hals und berauschte mich an den Vetiver düften, die wie unheilvolle Wellen von ihm ausgingen. Ehe wir
gingen, begegneten sich unsere Blicke. Ich bot mich ihm in einem Kleid aus schwarzem Voile dar, das die Brüste modelliert. Er zögerte. Ich kannte inzwischen die Worte, auf die er reagierte: »Wovor hast du Angst?« Im Fahrstuhl hob er mein Kleid bis zur Taille hoch, um meinen nackten Bauch zu betrachten und mein Schamhaar, das ich zu einem Herzen rasiert hatte. »Dreh dich um.« Ich drehte mich um, und er streichelte den blonden Flaum, der wie eine umgedreh te Pfeilspitze über meinem Gesäß sprießt, das weiß ich, weil ich mir oft den Hals verrenke, um ihn im Spiegel zu betrachten. Ich glitt in das Auto, das in zweiter Reihe parkte. Das Leder der Sitze war kalt und ließ mich erschauern. Er hatte einen Tisch in einem steifen Restaurant für uns reservieren lassen. Er wählte das Menü aus, ohne mich um meine Wünsche zu fragen, und bestel l te die Weine mit der Sicherheit der Leute, die sich nie irren* »Es wäre sch ön, wenn du mich in euer Haus mitnähmst«, fl ü sterte er unvermittelt. Ich stellte ihn mir in dem Obstgarten an der Dordogne vor, offenes weißes Hemd und helle Hose mit Grasflecken an den Knien. »Es würde dich nicht wieder gehen lassen «, antwortete ich voll Unbehagen. Der Weißwein machte meine Zunge schwer und umnebelte meine Gedanken. Ich ließ eine Hand unter das Tisc h tuch gleiten und streichelte seinen Schenkel. Er sah mich mit großen Augen an. »Nicht hier.« Später. Das Auto rollte einen verlassenen Boulevard entlang, der Scheibenwischer summte, Regenschwaden verflüssigten die Scheinwerferkegel. Im blutigen Schein einer roten Ampel sah ich, wie er den Gürtel seiner Hose löste. Ich beugte mich zu dem Glücksbringer, der bei jeder Bewegung meiner Lippen erzitterte. Er hob die Lenden, um tiefer in meine Kehle zu dringen, und ich erstickte mich mit unendlichem Genuß an ihm.
»Hör auf.« Langsam, mit feuchtglänzendem Mund richtete ich mich auf, während er sich zwischen zwei Taxis zwängte, die nach Beute spähten. »Wohin willst du?« fragte ich, plötzlich alarmiert. Er stre ichelte meine Schenkel, die sich öffneten, ohne daß ich es wirklich wollte. Er bog links in den Boulevard Lannes ein und hielt ein Stück weiter hinten, im Dunkeln, zwischen den gestut z ten Sträuchern eines schmuddeligen kleinen Platzes. Er schob seinen Sitz zurück, schaltete das Standlicht aus, ließ das Fenster etwas herunter. »Jetzt mach weiter.« Ich sah ihn stolz an und beugte mich wieder über ihn. Ich begehrte nichts weiter als seine Lust. Sie mußte heftig sein, schmerzhaft. Ich schloß die Augen. Was ich tat, gehört zu den Dingen, die ic h gern tue. Es war wesentlich, daß es mir Spaß machte. Ich leckte ihn wie eine verliebte Hündin. »Da!« flüsterte er. Ich öffnete die Augen und bemerkte, daß die Innenbeleuchtung eingeschaltet war. Langsam gab ich das Geschl echt frei, und ein Stromschlag durchzuckte mich. Dunkle Gestalten drängten sich um das Auto. Mit tränenverschleiertem Blick sah ich, daß alle diese Phantome die gleiche regelmäßige, schamlose Bewegung ausführten: Die Unbekannten masturbierten, während sie mir zusahen. Als sie mein verblüfftes Gesicht sahen, drängten sie sich noch näher an die Karosserie, und der Wagen begann unter dem Ansturm der Voyeure, die – mit der freien Hand – handgreiflich wurden, um einen Fensterplatz zu ergattern, hin und her zu schaukeln. Marc hatte den Kopf nach hinten geworf en und streckte sein Glied in den Lichtschein der Kartenlampe. »Mach weiter«, keuchte er. »Mach mich fertig.« Ich sah, daß seine Stirn schweißbedeckt war, seine Lippen be b ten, ich hätte ihm gern zärtliche Wort e gesagt, aber ich wagte es nicht, langsam, durchbohrt von den anonymen Blicken, die den Bewegungen meines Nackens folgten, nahm ich sein Geschlecht
wieder in den Mund. Lichtpfeile erfaßten meine Lippen. Die Zuschauer hatten Taschenlampen dabei, deren Sche inwerfer sie so klein gestellt hatten, daß ihr dünner Strahl mit der Präzision eines Skalpells die eine Stelle er faßte, die ihre Lust weckte. Die unsichtbaren Voyeure beleuchteten meinen geweiteten Mund. Einige kratzten wie Raubtiere an den Wagentüren. Ich beschleu nigte meinen Rhythmus. Marc bäumte sich noch mehr auf. »Ja, Joy, ja.« Er drückte auf einen Knopf, und das Fenster an meiner Seite glitt weiter hinunter. Die kalte Luft strich über mein Gesicht, ich begriff voll Schrecken, daß das Fenster nun völli g geöffnet war, und in dem Augenblick, als Marc sich in meinen heißen Mund ergoß, tasteten fahrige Hände nach meinen Brüsten. Überrascht von der Flut, die mich zu ertränken drohte, rutschte ich zu den hektischen Schatten hin, die sich neben mir zu schaffen machten, und warme, dicke Tropfen benetzten mein Kleid. Marc riß brutal mein Kleid hoch und schrie : »Seht sie euch an, seht sie euch an, sie ist das schönste Mädchen der Welt…« Die Schatten preßten sich an die Tür, als wollten sie sie ei n drücken, die Taschenlampen beleuchteten mein besudeltes Kleid, meine nackten, leuchtende n Schenkel. Einem Zuschauer gelang es, sein Glied durch das geöffnete Fenster zu stecken und mir hinzuhalten. Marc stieß mich am Nacken darauf zu und murmelte: »Nimm ihn in den Mund, tu es für mich.« Ich machte mich entsetzt frei und begann aus Leibeskräf ten zu schreien. Mein Geheul erschreckte die Schatten, die sich davo n machten und augenblicklich verschwunden waren. Nur ein Mann blieb stehen, ein großer Kerl, der sich etwas vorbeugte, zu Ende masturbierte und seinen Samen an die Wagentür schoß. Marc ließ den Motor an, und wir sausten mit quietschenden Reif en los. Mein Herz klopf te zum Zerspringen, ich war trunken und krank und aufgewühlt von diesem Wald aus Phalli, der aus der Nacht gewachsen war. Gespanntes Schweigen, wir warteten beide, daß der andere zuerst etwas sagte. Ich hätte gern eine Rechtf ertigung
gehört, und zweif ellos erwartete er das gleiche von mir. Jenseits des Schweigens erhob sich langsam eine Mauer aus Geheimni s sen und Erinnerungen und trennte uns auf immer von all denen, die nie imstande sein wer den, die Kraft zu verstehen, die unsere Leidenschaft und unsere Traumbilder nährte. Eines Tages, wenn wir am Punkt ohne Rückkehr angelangt sind, wird sie auch uns voneinander tr ennen. Ich hatte jedesmal Angst, die Grenze unserer Möglichkeiten zu erreichen und unwissentlich die letzten Meter zwischen uns und dem Sturz ins Bodenlose zu überschre i ten. Ich nahm seine Hand und küßte sie zärtlich. »Man muß bis zum Äußersten gehen, nich t wahr? Bis zum En de.« Eines Abends hatte ich den ersten Liebhaber, der mich zum Orgasmus gebracht hatte, inständig gebeten, mir alles zu zeigen, ich sei zu allem bereit: »Setze mich in Erstaunen, Beno it«, sagte ich. »Wir werden nicht genug Zeit haben«, ha tte er geantwortet. »Andere werden vollenden, was ich begonnen habe.« Er war verderbt und negativ, und er hatte recht, denn so weit er mich auch führte, so tief er mich erniedrigte, wir legten zusa m men nicht mal ein Viertel des Weges zurück, weil das Herz schneller ermüdet als der Kopf. Eisige Luft durchströmte das Auto, das durch die Nacht raste. Der Fahrtwind berauschte mich und zerzauste meine Haare. »Wohin bringst du mich?« fragte ich. Er antwortete nicht, und ich träumte, er würde mich ans Ende der We lt bringen, weit von ihm entfernt, weit von mir selbst entfernt. Er hielt am Straßenrand, in Vie d’Avry, Departement Seine-et-Oise, vor einer geschlossenen Tankstelle. Das Ende der Welt ist nicht so weit, wie man meint. Ein elektrisches Tor öffne te sich vor einem Mann, der kurz den Kopf senkte. »Guten Abend, Madame, guten Abend, Monsieur Marc.« Wir betraten eine verräucherte Kaschemme, in der Musik plär r te. An der Theke redeten Männer und Frauen aufeinander ein,
ungezwungene Atmosphäre einer Provinzkneipe, ersticktes Lachen und leises Gläserklirren. Marc schob mich zum hinteren Ende des Raums, Gesichter tauchten aus dem Dunkel und musterten mich neugierig. Hinter mir murmelte eine dumpfe Stimme : »Eine Neue, sie ist noch nie hier gewesen.« Hände befühlten mein e Beine und meine Brüste. Marc bestellte etwas zu trinken, der Mann hinter der Theke reichte ihm mit einem bewundernden Zwinkern eine Rasche Bourbon. Auf die Flasche war ein Etikett geklebt »Monsieur Marc.« Ich trank die eiskalte Flüssigkeit, die den Brand in meiner mißhandelten Kehle löschte. »Das hier ist der Tempel der Frau. Die Männer sind nur dazu da, deine Träume wahr zu machen. Nutze es aus.« Eine große Brasilianerin ging an uns vorbei und schenkte mir ein aufreizendes Lächeln. Sie trug ein Hemd und einen Strumpf gürtel, aus dem buschiges schwarzes Schamhaar quoll. Zwei Männer traten aus dem Schatten und f olgten ihr in die dunkelr o ten liefen eines Hinterzimmers, wo sogleich Bewegung entstand. »Komm, laß uns zusehen«, flüsterte Marc und zog mich mit. Wir gingen durch einen Verbindungsraum in ein dunkles Zi m mer. Die Brasilianerin streckte sich langsam auf einem in der Mitte stehenden Tisch aus, der von etwa zwanzig Leuten umringt wurde, es waren meist Männer, aber ich bemerkte auc h einige jüngere Frauen, die sehr gut auszusehen schienen. Die Brasiliane rin redete mit einem weißhaarigen Herrn, Er streichelte ihre braunen Locken und half ihr, es sich bequem zu machen, um sie dann auf den Mund zu küssen und behutsam ihre langen braunen Beine zu spreizen. Hände machten sich an dem ausgestreckten Körper zu schaffen, bemächtigten sich der vollen Brüste, deren dunkle Knospen erigierten . Ein Mann machte seine Jacke auf, entblößte sein Glied, das er schon vorher aus der Hose geholt hatte, und baute sich vor der darge botenen Frau auf. Die Bras i lianerin öffnete sich mit den Fingern so weit, wie es ging. Sie sah dem Weißhaarigen, der ihre Wange liebkoste, um sie zu beruh i gen, unverwandt in die Augen. Der Mann bohrte sich roh hinein.
Sie stöhnte. Der Kreis der Zuschauer geriet in Bewegung, und ich sah, wie ein paar Männer ihr Glied herausholten und es an dem nackten Körper der Brasilianerin rieben. Die Zeremonie vollzog sich in beunruhigendem Schweigen, das nur durch das Geräusch stoßweiser Atemzüge, raschelnden Stoffs und schmatzender Liebkosungen unterbrochen wurde. Die um den Tisch versammelten Gestalten hatten keine Gesichter. Alles spielte sich in Höhe der Geschlechter ab, hinter halb geöf f neten Kleidungsstücken, helle Hände huschten hin und her, blasse Frauenschenkel glänzten au f. Die Gesichter verschwa m men. Das Häßliche war irrelevant. Marc, der hinter mir stand, griff unter mein Kleid, um sich meiner Erregung zu vergewi s sern. Als seine Hand mich penetriert hatte, bückte ich mich langsam, damit er weiter eindringen konnte. »Warte noch ein bißchen«, sagte er. Meine Schläfen schienen wie von einem Schraubstock zusa m mengepreßt, meine Augen brannten, ich berauschte mich an den schweren Gerüchen der ineinander verschlungenen Leiber. Ich hatte das schmerzhafte Bedürfnis, mic h anfassen zu lassen, ein primärer und kindlicher Drang, ich wußte, daß Marc sich weigern würde, mich zu erlösen, weil er mich zwingen wollte, bis zum Äußersten zu gehen, und ich stand wieder vor dem ewigen Di lemma, das mich zerreißt. Auf dem Opfertisch sc hrie die Brasilianerin bei jedem Lende nstoß, der sie aufwühlte. Ihre Hände streiften die über sie gebeu g ten Gestalten. Frauen bissen sich vor Neid auf ihre bewundern s werte Lust in den Finger. Ein blondes blasses Mädchen flüsterte mir ins Ohr: »Sie kommt gleich nochmal…« Ich drehte mich abrupt zu Marc um. »Das reicht. Ich will gehen. Ich kann nicht mehr.« Marc sah mich verächtlich an. »Du bleibst. Ich will zusehen, wie diese Typen dich bumsen, verstehst du?« Ich ließ ihn einfach stehen. Ich ging zum Ausgang und wich den flehenden Händen aus, die nach mir griffen . Ich prallte
gegen umschlungene Schatten, streifte nackte Körper, die für Sekundenbruchteile von einer Feuerzeugflamme beleuchtet wurden. Ich erreichte ein niedriges Podium, das von faszinierten Zuschauern umringt wurde. Ein blondes Mädchen stützte sich mit beiden Händen au f die goldf arbene Brüstung. Ihr magerer Körper bäumte sich auf, und bei dieser Bewegung glänzten die Nägel, mit denen ihr Ledergeschirr beschlagen war. Ein Mann nahm sie langsam. Stö hnend warf sie de n Kopf von einer Seite zur andern. Ihre Augen hatten malvenfarbene Schatten, ihre Stirn war schweißbedeckt. Ich war sprachlos. Ich hatte nie gedacht, daß die Lust so erh a ben-häßliche Formen annehmen könnte. Ich achtete nicht auf die Hände, die unter mein Kleid griffen und meinen Bauch massierten. Ich war nie mit einer solchen Wahrheit konfrontiert worden. Ich glaubte, alles zu kennen und alles mitgemacht zu haben, aber ich hatte nicht mal die Hälfte des Weges zurückg e legt, der zum Absoluten führt. Ich war ein Kind, eine eingebild e te und phantasielose kleine Bürgerstochter, Alice im Land der Perversionen. Voll Schrecken entdeckte ich die grundlegende Motivation des Lasters. Erst jetzt hatte ich die LUST verstanden, die erst dann das Sublime erreicht, wenn sie von allen emotion a len Zutaten, allen ästhetischen Zwängen, allen Äußerungen des Willens, der Scham und der Moral befreit ist. Nun wußte ich, daß ich sie nie erleben würde, weil ich unweigerlich das Bedürfnis habe, einen Mann an mich zu zi ehen, ehe er mich nimmt, weil ich zärtliche Worte und besänf tigende Gesten liebe, Schwüre, die nicht eingehalten werden, Notlügen mit blauer Tinte auf weißem Büttenpapier. Meine sexuelle Freiheit ist bedingt, überwacht, scheinheilig, immer wieder in Frage gestellt. Marc knöp fte mein Kleid auf, und es fiel zu Boden wie ein Grablinnen. Die Schatten stürzten sich auf mich. Klebrige Hände fuhren über meine Haut. Marc drückte mich nach unten, und ich kniete mich hin. Ich wurde von einer Phalanx erigierter, auf m ich zielender Glieder umdrängt, ich verlor das Bewußtsein. Dicke, bebende Insekten drückten sich an mein Gesicht, fanden meinen
Mund, legten sich auf meine Haare, glitten in meine Kehle. Dr o hende Gerüche benebelten mich, die Ruten, die von ver zweifel ten Händen manipuliert wurden, ohrf eigten mich, das rote Licht eines Punktstrahlers tanzte vor meinen Augen, Marc riß an mei nen Haaren, wie man den Kopf einer Stute an der Mähne hoc h zieht. Ich war stumm, gelähmt, ertränkt. Die Schatten entf ernten sich verstohlen und ließen mich allein zurück, auf Knien, in dem leeren Raum. Marc faßte mich an den Schultern. »Joy, es ist doch nichts passiert, ja? Alles in Ordnung?« Er führte mich in ein weißes Zimmer, wo er meine Wunden wusch. Ich hatte einen Schritt in die Hölle getan, oder ins Paradies, ich werde es nie erfahren.
I
rgendwann in jener aberwitzigen Nacht, in der er mir einen kurzen Blick in schwindelerregende Abgründe gewährte, hatte Marc die Sanduhr umgedreht. In dem düsteren Lokal war die Zeit stehengeblieben, wie ein Film, der plötzlich mitten in einem Bild erstarrt, ohne daß auf der Leinwand das Wort ENDE er scheint. Der Schock dieses Ereignisses zerstörte das empfindliche Gleichgewicht, das ich zwischen mir und meiner Umwelt herg e stellt hatte. Die Dualität, die mein Sein bedro hte, trat wieder unerbittlich in den Vordergrund. Besessen von einer hedonist i schen Moral, die mic h nie wirklich betroff en hatte, drehte ich mich in mir selbst im Kreis. Widersprüchliche Impulse veranlaß ten mich, die lederne Leine um meinen Hals zu legen und das andere Ende hoffnungsvoll um Marcs Faust zu wickeln, doch als die passive Phase meines Wahns einsetzte, lehnte ich diese banale Erfüllung empört ab. Ich wehrte mich gegen die Wahrheit, die Säure des Zweifels verzehrt e mich. Ich wußte , daß ich Marc verlieren würde, wenn ich verfügbar bliebe, und daß ich ihn durch meine Flucht auf immer gewinnen würde. Die abstoßende Gewißheit, in dieser verhängnisvollen Nacht den Gipf el der Lust und den Zenit einer verlorenen Liebe erreicht zu haben, betäubte mich. Halb gegen unseren Willen überschritten wir den Grenzpunkt, und Marc preßte mich bewußt an die Mauer, die den Weg aus der Sackgasse versperrte. Ich wehrte mich gegen den Abstieg, die Fäulnis, den langsamen Tod, der nur eine Frage der Zeit ist . Ich sehnte mich danach, die rotglühenden Tief en jener Hölle wieder zufinden, aber es überwog meine Angst. Denn würde ich nicht enttäuscht werden, würde sie mir nicht weniger erhaben vo r kommen als das Bild, das sich meinem Gedächtnis eingeprägt hatte? Seit jener höchsten Nacht lebte ich parallel zu meiner wahren Existenz. Ich ging an meiner Seite, eine unerträgliche, deprimi e rende Spaltung. Ich flüchtete in Einsamkeit, um zu büßen. Marc ließ nichts mehr von sich hören. Er wußte, daß er mich verloren
hatte, indem er mir bewies, daß meine Liebe ein Refugium war, in das ich mich kauerte, um den Phantasien zu entgehen, die mich verfolgten. Ich konnte die Augen nicht mehr vor der logischen Folgerung verschließen. Ehe ich verschwand, machte ich eine mystische Pilgerfahrt zu den Stätten meiner Kindheit. Ein Nachtzug brac h te mich zu dem Haus an einer Windung der Dordogne. Der Garten war so gepflegt, als hätte ich ihn erst gestern verlassen. Meine Schritte hallten auf den Fliesen wider, ich fand die Bücher, die ich an dem hohen Kamin gelesen hatte, eine zweimal gef alte te Zeitung, die fünf Jahre alt war, die Kartenspiele und die ve r gilbten Zettel mit den Punkten der letzten Partie. Das Messin g bett in meinem Zimmer leuchtete im Halbdunkel, und als ich die Laden so schwungvoll aufstieß, daß sie gegen die Mauer prallten, wurde mir klar, daß die Dinge, wenn man fort ist, genauso we i terleben wie die Menschen. Das unvermeidliche Altern ändert das Innere und verwandelt das Äußere. Ich stellte mir vor, Marc würde Joelle ein Kind machen und damit den letzten Stachel ent fernen, der in meinem Herzen verblieben war. Ich werde die großzügigen Geschenke gehei m halten, die er mir gab, ohne es zu wissen, und die kein Mensch mir nehmen kann. Die Straßen, die ich an seiner Hand überque r te. Das Kino, wo ich an seiner Schulter einschlief. Die Boutique, wo er mir ein Herz aus Golddouble kaufte. Der Eingang eines Mietshauses, der uns vor einem Regenguß schützte. Der Taba kladen, wo er meine Zigaretten kaufte. Die Bäckerei, wo ich die warmen Crois sants zum Frühstück holte, all die Orte, die uns zusammen sahen, werden künftig mir gehören, ich werde sie nicht wiedersehen können, ohne an ihn zu denken, das macht mich reich. Orte haben ein Gedächtnis, und mir ist, als würden wir uns dort eines Tages wi ederfinden, ein paar Falten mehr, das erste graue Haar an der Schläfe, doch sonst die alten. Mein Leben regelte sich von selbst. Ich teilte es zwischen me i ner Arbeit, die mich nicht interessierte, und Leuten, die mir gleichgültig waren. Ich fuhr ein paarma l zu Alain, damit er mich
auf seine Art liebte, kraf tvoll und ausdauernd. Margopierre störte mein einsames Umherschweifen. Fremde schienen mich kenne n lernen zu wollen. Eines Tages erfuhr ich, daß Marc für immer aus Paris fortgezogen war. Ich hoffte auf einen Brief, einen Anruf am frühen Morgen eines grauen Tages. Einige Monate später teilte Alain mir mit, er werde für lange Zeit auf Reisen sein, um für einen Kaufhauskonzern in verschiedenen Ländern Niederlassu n gen zu bauen. Bruce rief mehrmals aus New York an. Seine sanfte Stimme nahm mir den Atem. Mir wurde bewußt, daß er mich niemals berührt, nicht einmal geküßt hatte. Ich brauche keine irrelevanten Leute. Ich hatte das Bedürfnis, meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ich erinnerte mich an meine Gro ßmutter, die ich kaum gekannt hatte, sie hatte ständig den geheimnisvollen Inhalt eines kleinen, verschrammten roten Lederkoffers umgeräumt, selts a me, in Seidenpapier gewickelte Päckchen, eine Brieftasche aus grünem Maroquin, eine Halskette aus Muscheln, eine kleine, ziselierte Kupferdose, aus der ein schwacher Duft von Orange n blüten gedrungen war, als es mir einmal gelang, sie heimlich zu öffnen. Ich überraschte Großmutter gern in ihrem Zimmer, dessen Läden im Sommer wie im Winter halb geschlossen waren. Die Sonne fürchtete, die alte Dame mit dem gebeugten Rücken, die sich im Sessel mit einer Quaste aus Schwanenflaum puderte, noch mehr auszubleichen . Sie sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an, ihre blauen Augen funkelten maliziös, und sagte mit einem rätselhaften Unterton , der mich träumen ließ, mit erhobenem Zeigefinger: »Man muß immer seine Erinnerungen ordnen, Joy. Merk dir das gut…« An einem Julimorgen brachte ich ih r einen Strauß Mohn, den ich auf dem großen Feld hinter dem Dorf gepflückt hatte. Sie saß in ihrem Sessel, den Koffer auf den Knien, die Augen geschlo s sen. Ich blieb lange stehen und sah zu, wie sie schlief. Ich wußte, daß sie friedlich dahingegangen war. Im letzten Moment hatte sie die Brieftasche aus grünem Maroquin in die Hand nehmen kö n nen.
Seitdem habe ich meine Erinnerungen immer geordnet. Ich schreibe dieses Buch ein wenig in der Hoffnung , daß es eines Tages ebenso bedeutsam werden möge wie die verzauberte Brieftasche. Wenn ich mich jeden Abend an den runden Tisch vor dem Fenster setze und mit der Feder über das rauhe Papier kratze, schaffe ich Ordnung. Wahrend ich diese Seiten wieder lese, stelle ich fest, daß die Dinge, die ich geschrieben habe, nur selten alle Nuancen meiner Gedanken wiedergeben. In gewissen Augenblicken ent fernen die Orte sich von mir wie eine Landschaft, die man aus dem fahre n den Zug sieht. Objektivität ist angesichts der weißen Seite eine Kraftprobe, ich habe gemogelt. Die Menschen, die Empfindu n gen, die Ereignisse treten in einen Zusammenhang, den man zu erklären versucht, in einem Buch will man alles erklären, und im Rückblick scheint es sehr leicht zu sein, Dinge zu analysieren, die man seinerzeit nicht begriffen hat. Es geschah eines Abends, als ich nicht mehr damit gerechnet hatte. Ein gelber Umschlag im Briefkasten. Die seit Jahrhunde r ten ersehnte Botschaft, die letzte Prüfung, die Konfrontation mit dem Schicksal. Dieser Umschlag war unvermeidlich, wie eines Tages der Tod. Ich betrachtete ihn ernst, mit mystischer Angst im Herzen. Ich würde wiedergeboren werden. Mein Verschwi n den würde niemanden beunruhigen. Ich würde schnell ersetzt werden, und diejenigen, die mich liebten, würden glauben, ich sei einem Ruf gefolgt. Der Umschlag enthielt nur ein Flugticket. Ein längliches Blatt, das vor meinen Augen tanz te. Nur Hinflug. Abflug 8 Uhr 20 Or ly-Süd. Zielort: Wellington. Ankunf tszeit: unleserlich. Ich drückte das Ticket an meinen Busen und fiel auf die Knie. Ich danke dir, mein Gott, den ich zu of t vergessen habe, ich wußte, daß es eines Tages geschehen würde. Es stand geschri e ben. Ich eilte zu meinem Lexikon. Wellington. Warwick, Wa shington, Weimar, Wellington. Wellington. Hauptstadt von
Neuseeland, o Gott, Neuseeland, auf der Nordinsel, o Gott, es ist eine Insel, 143 000 Einwohner, das ist ja ganz klein. Hafe nstadt an der Cook -Straße, vielfältige Industrie , Maschinenbau und Textilverarbeitung… Ich stellte mir einen sonnendurchglühten Hafen vor, mit Pa l men, die im Meereswind schwanken, zerlumpte Kinder strecken eleganten Reisenden, die von Bord eines Überseedam pfers ge hen, bettelnd die Hand hin . Ich blätterte fieberhaft in dem Lex i kon, das ich kaum je gebraucht hatte, Seeland, Dänemark… Seeland, Niederlande… verdammt, es heißt ja Neuseeland. Ne u seeland, Staat im südwestlichen Stillen Ozean , umfaßt die No rdund Südinsel… Nordinsel… stark gegliedert… Vulkane… Ge y sire… Seufzend klappte ich das Lexikon zu. Ich reiste auf einen Vulkan! Jetzt betrachtete ich das Ticket voll Angst. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber ich hatte mich noch nicht gefragt, WER es mir geschickt hatte. Ich drehte es hin und her, um irgendeinen winzigen Anhaltspunkt zu finden. Es war nichts weiter als ein Flugzeugticket nach Neuseeland und sah genauso aus wie alle Flugzeugtickets der Welt. Es gab nur drei Menschen, die mich auf einen Vulkan einladen konnten. Alain. Bruce. Marc. Es gab nur drei Menschen, die mich gut genug kannten, um zu wissen, daß ich ins Unbekannte fahren würde. Marc. Alain. Bruce. Es gab nur drei Männer, für die ich um den Globus reisen würde. Bruce. Marc. Alain. Ich wollte mogeln und rief Alains Büro an: Seine Sekretärin war nicht im Haus, und man wußte nicht, wo er zu erreichen war. Man gab mir höflich zu verstehen, daß er Anweisungen gegeben habe. Ich rief Marcs Wohnung an: Bestimmt würde jemand da sein, der mir sagen konnte, wo er zu finden sei. Die Antwort war monoton: »Der von Ihnen gewählte Anschluß ist abgemeldet, der von Ihnen…« Ich rief in New York an. Bruce war verreist. Er würde erst in einem Monat zurückkehren. In ohnmächtiger Frustration rang ich die Hände. Ich konnte doch nicht alles auf geben, Frankreich, meine Heimat, mein Leben, um einem Unbekannten entgegenzu
reisen, ans andere Ende der Welt, auf eine vulkanbedeckte Insel? Ich würde doch nicht um den Globus fliegen, ohne zu wissen, wer auf mich wartet? So verrückt war ich doch nicht. So verzwe i felt war ich doch nicht. Ich war nicht unglücklich. Ich war nicht allein. Ich würde mich nicht noch einmal herumkriegen lassen.
I
ch klappe den letzten Koffer zu und setze mich auf ihn, weil er sonst nicht zu schließ en gewesen wäre. Er quillt über von Geheimnissen und unnützen Souvenirs. Das Telefon schrillt, Margopierre ruft an. »Du bist nicht bei Sinnen, Joy -mein-Liebes, du machst eine schreckliche Dummheit. Man wird dir deine Flucht nie verzeihen, du kannst nicht so mit allem Schluß ma chen.« Ich antworte, ich müsse fahren, es stehe geschrieben, ich könne nichts daran ändern, ich wolle nicht gegen mein Schicksal käm p fen, das Tuut der unterbrochenen Leitung verurteilt mich ohne Bewährung. Ich verstecke meine Fahrkarte zu den Vulkanen ganz unten in meiner Handtasche, in dem kleinen Fach, neben Onkel Gaspards Schlüssel . Was er mir wohl raten würde? Keine Antwort. Ich schreibe Mama einen Brief, ich habe Angst, am Telefon ihre Stimme zu hören, die mich von meinem Vorhaben abbringen könnte. Ich weiß, daß ich überstürzt handle, daß ich mich dem Zufall an den Hals werfe, ohne mich zu vergewissern, was für einen Kopf er hat, na und, ich will die Vulkane sehen, die Palmen und das Wasser, das sich an einem Deich bricht, wie in Crotoy, als Mama mich mitnahm, damit ich im Winter rote Backen kriegt e Ich beanspruche Toleranz und das Recht auf einen Irrtum, ich hoffe, mein Gott, mein Vater, Puddingsuppe und Abende am Kamin gibt es für mich vielleicht nur noch in Wellington, Neuseeland. Bis zum letzten Augenblick warte ich auf das Klingeln des Telefons, der Glocke an meiner Wohnung s tür, auf ein e Brieftaube, ein Wort, das mir den Schlü ssel des Geheimnisses gibt und mich beruhigt. Es ist soweit. Ich mache die Tür zu, ich schließe das Haus ab. In dem schmalbrüstigen Fahrstuhl schwöre ich mir, wiederz u kommen. Ich gehe an meinem Briefkasten vorbei, in dem Um schläge stecken, die ich nie öffnen werde. Vielleicht hat Marc mir geschrieben: »Joy-mein-Liebes«, na und, tut mir leid für ihn, es ist zu spät, ich gehöre mir nicht mehr. Ein lila Taxi bespritzt verla s sene Straßen mit schmutzigem Regenwasser, all e Ampeln spri n
gen auf Grün, nichts und niemand will mich zurückhalten. Die Passanten wenden den Blick ab: Gleichgültigkeit erleichtert große Entschlüsse. Keine Staus, kein Unfall auf der Autoroute, kein Sicherheitspolizist hält das Taxi an und bittet um meine Papiere, ich muß fort. Flughaf en Or ly, trüber Morgen . Der Fahrer trägt meine Koff er bis zum Trottoir und fragt mit dem Akzent des Südwestens: »Was haben Sie da bloß alles drin, daß sie so schwer sind?« Ich sehe ihn an und schniefe, meine Stimme versagt, und ich stammle: »Alles. Es ist alles drin.« Eine blaue Hostess führt mich durch den grauen Nebel der Halle. Ich habe meine Brille aus Versehen i n den Koffer gepackt, ich bin hilflos, ich sehe nichts mehr. Ich habe Angst. Vor der Flugsteigabfertigung weiche ich zurück, drehe den Vulkanen den Rücken und entferne mich. »Mademoiselle, bitte!« Die schneidende Stimme richtet sich natürlich an mich. »Ihr Gepäck ist bereits abgefertigt. Würden Sie bitte Ihre Bor d karte nehmen.« Ich klammere mich an die Hostess. »Ich will nicht mehr fliegen.« Sie sieht mich mit der frechen Verachtung an, die man für Greise und Impotente empfindet, wenn sie andere aufhalten. »Wie bitte?« »Ich will nicht mehr fliegen, es ist ein Irrtum, ich will woanders hin.« Die Hostess sieht mich langsam mißtrauisch von oben bis un ten an, fixiert mich, schüttelt den Kopf. »Bedauere, aber es ist zu spät. Ihre Koffer sind schon in der Maschine.« Ich ersticke mein Schluchzen mit dem Ärmel und wanke in den Fluggastschlauch. Willkommen an Bord. Ein Mann in Unif orm zeigt mir einen Sitz. Ich will nicht mehr fort, vielleicht bin ich verrückt, aber ich möchte in Paris bleiben.
»Ich muß raus«, flüstere ich ohne Überzeugung dem Steward zu, »ich habe etwas vergessen.« Der Steward beugt sich nach unten und streift meine Stirn. »Zu spät, Mademoiselle, wir starten bereits.« Joy-mein-Liebes, gegen Vulkane kann man nicht kämpfen. Du gehst fort, und du stirbst, aber du hast schon immer gewußt, daß es geschehen mußte. Es stand geschrieben. Ich kaufe Zigaretten und Kaugummi, kleine vergoldete Löffel, Rasierschaum, ich habe kein Geld mehr, keinen Sou , ich bin dem, der mich erwartet, völlig ausgeliefert. Die Stewardeß besteht darauf, mir 10 Francs zurückzuge ben, ich lehne ab, sie beharrt, ich nehme aufs Geratewohl einen Eiffelturm aus Kupfer, Souvenir of Paris, noch eins. Alle zehn Minuten wühle ich im gähnenden Schlund meiner Tasche, wo sich meine kostbarsten Schätz e häufen, ein Polaroid -Foto von Marc, Streichholzschac hteln aus New York, ein Langustenauge, das bringt Glück, und das Man u skript meines Buches, das nicht dick ist, aber eine Tonne wiegt; ich werde das letzte Wort, das einzige noch fehlende Wort unter den Vulkanen schreiben, und ich werde es mit der Post an den Verleger an der Place Saint -Sulpice, Paris, Frankreich, schi cken, wo ich immer auf Marc gewartet habe, dessen Büro in der Rue Bonaparte war, ich habe mir die Nase an den Schaufenstern mit den Büchern plattgedrückt, deren Titel so vieles heraufbeschw o ren, ich sehe bereits das meine, nachtblauer Umschlag , darauf in großen, schwungvollen Buchstaben Joy. Die Sonne ging ununterbrochen auf, ic h durchquerte den Himmel, flog über Ozeane hinweg , ließ ganze Kon tinente hinter mir. Ich erreichte eine neue Galaxis. Luftlöcher, bitte anschna l len, wir durchfliegen Turbulenzen… Und wenn ich Paris, die Dordogne, Meudon , Margopierre, Marc, Alain, Bruce, Goragu i ne, mein Appartement, den Bus, Crotoy und das Haus Onkel Gaspards nie wieder sehe? Und wenn ich in einer letzten Turb u lenz stürbe? Und wenn mich in Wellington niemand erwartete? Aus den Lautsprechern flüstert eine Stimme Worte, die ich nicht verstehe. Die kleinen Lampen blitzen auf. Das Flugzeug
senkt den Bug. Ich will zurück nach Paris. Das Flugzeug rollt über die endlose Piste. Ich drücke meine Nase am Bullauge platt. Beton saust vorbei, graue Hangars, ich will zurück nach Paris. Ich hole mein Taschentuch heraus und weine. Wenn ich einen Vater hätte, wäre ich nie gefahren. Das Flugzeug leert sich langsam, die von der Hitze gedörrten Passagiere betrachten mitleidig die kleine Waise, die in ihr Taschentuch weint, das kleine Mädchen mit den Zündhölzern allein in Neuseeland. Ich zittere, mir ist so elend, die Stewardeß schiebt mich freundlich zur Fluggasttreppe. Ich wische mir die Stirn und die Augen trocken, ich balle die Hände zu Fäusten, los, Joy, du schaffet es, und ich gehe hinaus in den warmen Wind. Unten an der Fluggasttreppe dehnt sich die verlassene Halle ins Unendliche. Keine Vulkane, auch keine Palmen, sondern grauer Beton, verhangener Himmel, jetzt riech t es nur noch nach Ker o sin. Ich gehe langsam zum Ankunftsgebäude, schniefe tap fer, Schultern zurück, Brust raus und alles. Ich starte auf die gläserne Hügeltür zu, die sich automatisch teilt und nach links und rechts ausweicht, eine Gestalt erscheint, meine Brille ist im Koffer, arme blinde Närrin, ich kann nichts erkennen, aber gleich werde ich es wissen. Wenn es Marc ist, sterbe ich vor Stolz. Wenn es Alain ist, sterbe ich vor Lust. Wenn es Bruce ist, sterbe ich vor Glück. Sterben muß ich ja sowieso, nicht wahr? Ich gehe schneller. De r Schatten nähert sich, weiß, un beweg lich, beruhigend. Ich hätte es tun können. Ich hätte es tun sollen. Ich sehe ihn. Bruce. Januar-Mai 1980