Nr. 111
Jagd auf Plophos Ein USO-Team im Einsatz - und auf der Spur der Organverbrecher von Hans Kneifel
Auf den Stüt...
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Nr. 111
Jagd auf Plophos Ein USO-Team im Einsatz - und auf der Spur der Organverbrecher von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, auf den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Mitte August des Jahres 2842 – eines Jahres, dessen erste Hälfte recht turbulent verlief, wie die vorangegangenen Ereignisse eindeutig bewiesen. Jetzt herrscht in der Galaxis relative Ruhe. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. Es gibt im Augenblick weder im Bereich des Inneren noch im Bereich des Äußeren Schwierigkeiten von Bedeutung, und demzufolge haben sich die Verantwortlichen der Großadministration, der Solaren Abwehr und der USO nur mit kleineren Zwischenfällen zu beschäftigen. Kein Wunder daher, daß Perry Rhodan, der Großadministrator, Staatsgeschäfte Staatsgeschäfte sein läßt und zusammen mit seiner Frau Mory Abro, der Regierungschefin von Plophos, zu einer Expedition in ein weit entferntes Sonnensystem aufgebrochen ist. Dabei wäre, wie es sich plötzlich herausstellt, die Anwesenheit von Perry Rhodans Frau auf Plophos gerade jetzt dringend erforderlich! Denn Plophos wird von einer solchen Welle von Terrorakten heimgesucht, daß dem Stellvertretenden Obmann des Planeten nichts anderes übrigbleibt, als die USO zu alarmieren. Ein seltsames Spezialisten-Team erscheint, und damit beginnt die JAGD AUF PLOPHOS …
Jagd auf Plophos
3
Die Hautpersonen des Romans: Stuckey Folus, Nancy Chessare und Thow Tanza - Ein seltsames USO-Team. Erymir Coiffi - Leiter einer Abteilung von Quinto-Center. Jalzaar Awrusch - Stellvertretender Obmann von Plophos. Alvmut Terlahe - Leiter einer Untersuchungskommission. Kerima Prosnerim - Eine Patientin wird interviewt. Dr. Agasamu - Spezialist für Hautverpflanzungen.
1. Die Klänge und Rhythmen waren überall. Die Musik überschwemmte den kleinen Raum mit der Wildheit einer anstürmenden Brandung. Die Laute kamen aus einem System von mindestens einem Dutzend versteckter Lautsprecher in allen Ecken und in der Decke des Raumes. Das Zimmer selbst lag in fast völliger Dunkelheit. Nur ein großer Schreibtisch wurde von dem kreisförmigen Licht eines Tiefstrahlers erhellt. Ein leerer, hochlehniger Sessel befand sich, von einem hydraulischen Ausleger gehalten, vor der Tischplatte. Die weiße Platte war mit Papieren und Akten, Bandspulen und Kassetten, mit kleinen Farbmonitoren und anderen technischen Gegenständen übersät. Erymir Coiffi hatte sich hierher, in die eigentümliche Ruhe und Abgeschiedenheit seines internen Büros zurückgezogen. Er hatte schwere Entscheidungen zu treffen und mußte nachdenken, denn von seiner richtigen Reaktion hing sehr viel ab. Unter anderem die Aufdeckung eines riesigen Verbrechens. Und nachdenken, richtig intensiv und mit vermutlich guten Ergebnissen, konnte Coiffi nur hier. Und unter besonderen Umständen. Er stieß sich von der Kante des Schreibtisches ab, schnippte mit den Fingern und ging hinüber zu der Säule aus weißen Bausteinen und hochglänzendem Metall, die in Wirklichkeit eine kleine Robotküche war. Der hagere Mann in dem hellgrauen Anzug tippte einige Tasten und orderte eine große Tasse Kaffee. Dann nahm er ein Cognacglas aus der Halterung und füllte es vier Finger hoch mit dem wertvollen Getränk,
das ihm einer der Männer von Quinto-Center mitgebracht hatte; ein exotisches Erzeugnis einer nicht minder exotischen Welt. Schließlich, nachdem der Robot den Kaffee auf dem überfüllten Tisch abgesetzt hatte, setzte sich Coiffi. Er schob sein langes Haar, das stark an den Schläfen zurückwich und im Nacken durch eine Terkonitspange zusammengehalten wurde, achtlos zurück. Ein Schluck Kaffee, ein Schluck Cognac und eine neue Zigarette. Und dazu die wilden Takte einer Musik, deren Charakter erfolgreich mit dem Getränk konkurrieren konnte. Schließlich heftete Erymir seine hellgrauen Augen auf einen Bildschirm und sagte leise zu sich: »Das ist eine Entwicklung, die mir gar nicht gefällt. Und sehr bedauerlich ist auch, daß Mory Abro nicht auf Plophos ist. Ihr Stellvertreter … ich habe ein ungutes Gefühl dabei.« Erymir drehte die Asche seiner Zigarette ab und berührte mit dem Zeigefinger eine weitere Taste. Augenblicklich erhellte sich ein dreidimensional arbeitender Bildschirm direkt vor ihm, über der Tischplatte schwebend. Auf dem Bildschirm leuchtete ein Begriff: Archiv-Anforderung. »Sämtliche Daten über die Akte Plophos.« Ein bestätigender Summton mischte sich in die Klänge der Musik. Erymir Coiffi lehnte sich bequem zurück und drehte das Cognacglas zwischen den Fingern. Er wartete, bis auf dem Schirm Schriftreihen auftauchten und sich untereinander summierten. Langsam und methodisch las Coiffi die einzelnen Berichte. Zum größten Teil kannte er sie bereits, aber die Maschine hatte die
4 Abfolge in chronologische Zusammenhänge gebracht und alles Unwesentliche weggekürzt. Bilder der betreffenden Personen tauchten auf und wurden von kurzen Filmen ergänzt. »Wenigstens ein kluger Entschluß! Vermutlich wieder zu spät!« kommentierte der Mann und nickte. Er meinte den Umstand, daß sich die Regierung von Plophos, vertreten von Jalzaar Awrusch, dazu entschlossen hätte, sämtliche Organbanken und die assoziierten Kliniken und Regenerationsstationen zu schließen, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, da die unerklärlichen Zwischenfälle geklärt waren. »Und jetzt schreien sie natürlich nach einem USO-Spezialisten, der alles in Minutenschnelle auflöst und den oder die Täter auf der flachen Hand präsentiert!« knurrte Coiffi und grinste humorlos. Er drückte die Zigarette aus, trank die Tasse leer und nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas. Langsam kristallisierten sich Möglichkeiten für Zusammenhänge heraus. Jedenfalls wäre ein einziger Spezialist hoffnungslos überfordert, versuchte er, die Verbrechen zu klären. Schließlich hatte nicht jeder die Möglichkeiten Tekeners und Kennons. Atlan war nicht da. Perry Rhodan und Mory Abro waren in anderen Gegenden des Kosmos – und auch noch nicht benachrichtigt worden. Awrusch schien entschlossen, die Sache in eigener Regie durchzupauken. »Soll er!« An diesem Tag, dem zwölften August des Jahres 2842, bot die geheime USO-Station Quinto-Center ein durchaus normales Bild. Die Aufregung war noch immer Dauerherrscher in dieser gigantischen Anlage, aber sie wechselte von Abteilung zu Abteilung über und galt inzwischen als gewöhnlicher Umstand. Auch für den Leiter der Abteilung, die sich mit den Vorfällen auf Plophos beschäftigte, war dieser Tag einer wie viele andere. Abgesehen davon, daß in wenigen Minuten für noch unbekannte Spezialisten der
Hans Kneifel United Stars Organisation ein Startzeichen gegeben werden würde. Was war noch zu berücksichtigen? überlegte Erymir Coiffi. Der ehrgeizige Stellvertreter von Mory Abro hatte einen Untersuchungsausschuß eingesetzt, der unter der Leitung von Alvmut Terlahe stand. »Auf alle Fälle weitet sich der Skandal aus!« stellte Erymir betroffen fest, als er die letzten Zeilen las. Es bestand völlige Unklarheit darüber, ob die Betroffenen nicht etwa schon zu anderen Welten unterwegs oder sogar dort bereits gelandet waren. Plophos als Zentrale »ferngesteuerter« Amokläufer … in diesem Fall würde sich das Unheil in großer Schnelligkeit über die Galaxis oder auch nur einen Teil der Galaxis ausbreiten. Völlig unklar waren jedoch alle, die sich mit dem Fall beschäftigten, über den Hintergrund dieser rätselhaften Ereignisse. Wer war der Drahtzieher? Welche Macht oder Machtgruppe hatte diese Verbrechen in die Wege geleitet? Wer war verantwortlich? Inzwischen staute sich auf Plophos der Ärger. Mit einem grimmigen Lächeln las Coiffi die letzten Mitteilungen auf dem Bildschirm. Ein Handgriff stellte die dröhnende Musik einige Dezibel leiser. Die Wissenschaftler und Ärzte, die Geschäftsleute und die Verwaltungen der galaxisweit bekannten Organbanken und die Kliniken bestürmten die Untersuchungskommission, die Sperre aufzuheben oder wenigstens teilweise zu widerrufen. Nicht nur, daß man finanzielle Einbußen in größerem Rahmen befürchtete, sondern weitaus wichtiger war, daß der Vorsprung dieses Planeten auf dem Gebiet der Organverpflanzungen schwand. Und schließlich gab es todkranke Menschen in großer Zahl, die auf die rettenden Operationen warteten. Sie alle waren Opfer der Entwicklung. Unruhe und Ärger breiteten sich aus. In Kürze würde der Zustand explosiv geworden sein. »So weit darf es nicht kommen!« sagte
Jagd auf Plophos sich Coiffi und schaltete den Bildschirm ab. Dann leerte er sein Glas und begann intensiv zwanzig Minuten lang zu arbeiten. Er diktierte einer Maschine die Eigenschaften, die ein Spezialist oder eine Gruppe benötigte, um auf Plophos mit höchster Effizienz arbeiten zu können. Dann sagte er in ein Mikrophon: »Datenkartei der Positronik! Auswahlschaltung.« Als die Verbindung stand, lief das Band an. Die Daten wurden an die Großpositronik übermittelt. In rasender Geschwindigkeit wurden die Anforderungen mit den gespeicherten »Karteikarten« verglichen. Diese Charakterisierung enthielt den genauen Steckbrief des Spezialisten. Er umfaßte sämtliche körperlichen Daten von der Retina-Aufnahme bis zur Schuhgröße. Und dieser Charakterisierung waren ebenfalls alle Wissensgebiete und Kenntnisse, die Eignung für besondere Einsätze, die Mentalität und die Hobbys beigefügt. Es war ein komplettes, in Bytes umgesetztes Bild des betreffenden Spezialisten. Jetzt wurde die Maschine so geschaltet, daß sie die Anforderungen mit dem Vorhandenen verglich. Falls die Spezialisten, die fast immer optimal ausgesucht worden waren, zur Zeit nicht verfügbar waren, suchte die Maschine die nächsten heraus, die dieser Charakterisierung am besten entsprachen. Natürlich war es jederzeit möglich, den Vorschlag der Positronik umzuwerfen und eine persönliche Auswahl vorzunehmen. Der positronisch ermittelte Vorschlag war nicht bindend, aber erstaunlicherweise hatten meistens die menschlichen Vorgesetzten keine bessere Wahl treffen können als die Positronik. Nachdem Coiffi der Großpositronik seine Wünsche übermittelt hatte, arbeitete das Gerät. Dann schrieb es drei Namen auf den Bildschirm. Als der Einsatzleiter diese Namen las, grinste er breit. »Ausgerechnet!« sagte er. »Ausgerechnet ›die Familie‹!« Nancy Chessare … Stuckey Folus …
5 Thow Tanza. Wieder grinste Coiffi und murmelte: »Ich vermute, daß weder Awrusch noch Terlahe rechte Freude an ihnen haben werden!« sagte sich der Einsatzleiter und verlangte nacheinander die einzelnen Anschlüsse. Die Positronik hatte bestätigt, daß sich alle drei Spezialisten innerhalb von QuintoCenter aufhielten und kurzfristig einsatzbereit waren.
* Nancy Chessare betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. Sie hatte vor einer Stunde ihre Arbeit beendet; wenn sie sich nicht im Einsatz befand, dann arbeitete sie im Hospital von Quinto-Center. Schließlich gab es hier für nahezu jede Disziplin der Weltraummedizin genügend Arbeit, und die medizinischen Erkenntnisse, die hier angewandt wurden, konnten mit den besten medizinischen Universitäten in der halben Galaxis konkurrieren. Also blieb jeder Spezialist, der hier arbeitete, immer auf dem letzten Stand der ärztlichen Wissenschaft. »Zweiunddreißig Jahre!« sagte sie. »Und noch immer nicht berühmt!« Allgemein wurde Nancy »Ma« genannt; ein Umstand, der sie weder ärgerte noch freute, weil diese aus gutmütigem Spott geprägte Bezeichnung keineswegs zutreffend war. Sie war die weibliche Komponente in einem Team, das sich mehrmals unter schwierigsten Bedingungen qualifiziert hatte. Deswegen der Spitzname. Sie griff nach einer Bürste und fuhr mit dem Gerät, das sich leise summend einschaltete, durch ihr schulterlanges Haar. Es war von auffallend roter Farbe; je nach Einfallswinkel des Lichts sah es dunkel kastanienbraun bis feuerrot aus. Manchmal sagte Stuckey ihr auch, daß sich die Haarfarbe nach einer ihrer wechselnden Launen richtete. »Und offensichtlich liegt etwas in der Luft. Ich spüre es. Selbst in der gefilterten
6 Luft dieses ausgehöhlten Mondes!« Nancy war etwas nervös. Zwar hatte sie genügend geschlafen und fühlte sich ausgeruht und voller Schwung, aber irgendwie spürte sie, daß etwas auf sie zukam, das größer war, als sie ahnte. Nicht nur auf sie, sondern auch auf die anderen beiden ihrer Gruppe. Langsam stand sie auf und ging mehrmals unruhig in ihrem Appartment hin und her. Schließlich zündete sie sich eine Zigarette an und blieb neben dem Tisch stehen. Nancy Chessare war eine zweiunddreißigjährige Frau, die nur in wenigen Momenten wie zweiunddreißig wirkte. Sie besaß das Talent, ihren schlanken, durchaus wohlproportionierten Körper allein durch Haltung und Gestik so zu manipulieren, daß sie jünger oder älter wirkte. Das galt ebenso für ihr Gesicht, wobei sie ihr langes Haar mit allen Raffinessen ebenfalls zur Tarnung verwendete. So kam es, daß in vielen Fällen bei ihren Gegnern große Verblüffung geherrscht hatte – man vermutete hinter einem gut aussehenden, schüchternen Mädchen weder die körperliche noch die geistige Ausbildung einer Spezialistin. Sie hatte sogar erfahrene Raumfahrer durch Leistungen verblüfft und demoralisiert, schließlich war sie qualifizierte Pilotin mit allen möglichen Scheinen und bestätigten Bestleistungen. Stuckey bezeichnete sie als Schönheit, was subjektiv durchaus richtig war, objektiv aber nicht zutraf, wie Nancy sich selbst gegenüber zugeben mußte. »Ich sollte mich ablenken«, überlegte sie laut und drehte den wohlgeformten Oberkörper in die Richtung des Visiphons, »und ›Pa‹ Stuckey anrufen.« Als sie seine Nummer wählen wollte, summte der Interkom auf. Statt der Nummerntasten drückte sie also die rote Bestätigungstaste und sah eine Sekunde später den Oberkörper Erymir Coiffis vor sich. »Schönste Freundin«, sagte er mit einem diabolischen Grinsen, »bringen Sie sich und Ihr kleines Notizbuch mit. In drei Minuten in meinem Besprechungsraum.«
Hans Kneifel Als sie fragen wollte, ob auch Pa und Opa dabei sein würden, winkte Coiffi ab. »Lassen Sie sich überraschen. Ich sehe eine weite Reise auf Ihrem Weg und zwei dunkle Männer.« »Dunkelmänner?« erkundigte sie sich ironisch. Coiffi betrachtete sie mit sichtlichem Wohlgefallen. »Mit Sicherheit!« brummte er. »Bis gleich, Schönste!«
* Hinter der langen Theke bewegte sich ein anderer USO-Spezialist hin und her; es war wirklich ein Vorteil Vergnügen, Hobby und Ausbildung zu vereinen. Dieser Mann würde in wenigen Wochen auf einem Posten eingesetzt werden, wo er als Barmann zu arbeiten hatte. Hier und jetzt lernte er. Allerdings überforderte die Bestellung, die der kleine gedrungene Mann aufgab, ihn keineswegs. »Etwas gegen das Altern: Fruchtsaft. Und etwas gegen den Durst: Eis nämlich. Dazu etwas für die Gemütlichkeit, also einen guten Schuß Alkohol. Es sollte sehr gemütlich werden, Partner!« sagte der Gast, der mindestens neunzig Jahre alt war. Aus dem runden Gesicht mit harten Kerben, das von schwarzgrauen Locken umrahmt war, blitzten unternehmungslustige Augen den Barmann an. Als dieser nach einem riesigen Glas griff, sah er Thow Tanza nicken. Daraufhin mußte er erkennen, daß er sich getäuscht hatte; das Gesicht war in Wirklichkeit kantig, hart und strahlte eine sorgfältig kontrollierte Angriffslust aus. Langsam und so, daß Thow seine Finger beobachten konnte, mischte der Barmann das Gewünschte. In dieser Stunde war ein Gast in der Bar eine Seltenheit. Nur eine Gruppe Techniker mit schmutzigen Overalls saß in der Ecke und trank Espresso. »Richtig so, Opa?« fragte der Barmann halblaut. »Nenne mich nicht Opa, du junger Witzbold!« knurrte der Mann, der sich mit dem Schwung eines Zwanzigjährigen auf den
Jagd auf Plophos Hocker gesetzt hatte. »Sonst kann es sein, daß bei der nächsten Abrechnung ein paar Flaschen fehlen.« Der Barmann grinste kurz. Sie alle kannten Tanza, den sie »Opa« nannten. Er war kratzbürstig und unhöflich, aber das vermochte hier niemanden zu beeindrucken. Kauzige Burschen und ungewöhnliche Verhaltensweisen waren in Quinto-Center nichts Außergewöhnliches. »Ich wagte die Frage, Sir, ob der Inhalt Ihren Vorstellungen entspricht!« wiederholte der Mann hinter der Theke. »Riecht ganz gut!« murmelte Opa. »Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind es naseweise junge Spezialisten.« »Ist recht!« erwiderte der Barmann. Er betrachtete ruhig den Mann, der für eine ganze Generation von Spezialisten Vorbild war. Thow Tanza, nicht ganz einundneunzig Jahre alt, war, was man am besten als »Bär von einem Kerl« bezeichnete. Bei einer Größe, die knapp unter hundertsechzig Zentimetern lag, besaß er breite Schultern und mächtige Muskelstränge. Sein Kinn sprang angriffslustig vor; eine Art Signal für wachsame Augen. Das Kinn und die funkelnden hellblauen Augen waren eine Art Markenzeichen dieses Mannes. Er war chronisch schlecht gelaunt und wortkarg, und hin und wieder sagte er Wahrheiten in einer sehr direkten Form. Er erzielte mitunter erstaunliche Wirkungen, besonders Menschen gegenüber, die nicht gewarnt waren. Als Fachmann für galaktisches Recht und als Astrophysiker waren seine Leistungen berühmt, aber davon sprach Opa selbst niemals. »Ich glaube, ich habe Sehstörungen!« flüsterte der Barmann entgeistert. Er sah fasziniert zu, wie Opa mit einem Schluck das halbe Glas leertrank. »Was starren Sie?« Der Barmann erwiderte in gemessenem Tonfall: »Ich habe noch nie gesehen, daß ein einzelner Mann mit einem Schluck …« Gleichzeitig mit dem Knacken des Lautsprechers erwiderte Opa:
7 »Ich bin kein einzelner Mann. Ich bin zwei Männer, du junger Spund. Mach den Mund wieder zu.« Aus den Lautsprechern kam halblaut, aber unüberhörbar eine Durchsage. »Spezialist Thow Tanza bitte in den Einsatzraum seiner Abteilung. Ich wiederhole …« Nachdem Thow den Rest des Glases heruntergestürzt hatte, nickte er dem jungen Mann zu und verließ die Bar. Er war sicher, daß er in den nächsten Minuten die beiden anderen Mitglieder jener bemerkenswerten Gruppierung treffen würde, die man hier »Familie« nannte, obwohl keiner mit dem anderen auch nur entfernt verwandt war.
2. Die schlechte Laune Alvmut Terlahes war kaum noch zu unterbieten. Er saß da, wippte nervös mit dem Bein und trommelte mit den Fingerkuppen auf die Schreibtischplatte. Einige Mitglieder des Krisenstabs befanden sich in diesem Raum des Regierungsgebäudes, die meisten anderen nahmen in Konferenzschaltungen an dieser Besprechung teil. Der Ärger gärte in Terlahe – und er wußte genau, aus welchen Gründen er sich ärgerte. »Meine Herren«, sagte er in scharfem Tonfall, »so geht es nicht weiter! Ich weiß genau, daß wir zu langsam und zu wenig schlagkräftig reagiert haben. Das hat dazu geführt, daß wir jetzt bei der United Stars Organisation um Hilfe winseln müssen. Plophos ist in akuter Gefahr!« »Das wissen wir, Terlahe. Ihr Vorwurf ist nur zum Teil zutreffend!« Terlahe beuge sich angriffslustig vor. Er wußte, was auf dem Spiel stand. Awrusch und er waren dafür verantwortlich, daß diese rätselhaften Zwischenfälle und Verbrechen restlos aufgeklärt waren, noch ehe Mory Abro davon verständigt werden konnte. Schnelligkeit war das Zeichen der Stunde. »Jalzaar Awrusch hat eine Kommission eingesetzt. Die meisten Mitglieder sind hier versammelt!« sagte Terlahe laut. »Zu wel-
8 chen Erkenntnissen sind die Damen und Herren inzwischen gekommen?« Eine Frau mit auffallend schwarzem Haar hob die Hand. »Darf ich zusammenfassen?« »Wir bitten darum!« schnarrte Terlahe. Der dritte Planet einer gelben Sonne, Bestandteil des Eugaul-Systems, war nur etwas mehr als achttausend Lichtjahre von Terra entfernt. Niemand konnte sagen, ob das Verhängnis nicht schon in dieser Richtung unterwegs war. Die Frau brauchte keine Notizen zu Rate ziehen; sie sprach fließend und behandelte die einzelnen Punkte kurz, aber sorgfältig. »Bisher ist es zu keinen neuen Zwischenfällen gekommen«, berichtete sie. »Jedenfalls nicht zu solchen, die uns bekannt wurden. Jeder von uns und auch unsere zahlreichen Agenten sind angewiesen, auf die geringsten Einzelheiten zu achten. Wir sitzen auf einer Bombe, die in jeder Sekunde detonieren kann.« »Diese Vergleiche«, knurrt Terlahe wütend, »sagen genau das aus, was ich denke. Inzwischen werden Sie gemerkt haben, daß ich schnell reagiert habe.« »Sie meinen die zentralen Untersuchungsstellen?« »Diese meine ich!« Die Frau lächelte etwas schmerzlich und führte aus: »Ich habe zu diesem Thema einige Filme vorbereitet und die Stellungnahmen der dort Beschäftigten notiert. Es hat den Anschein, Mister Terlahe, daß diese Maßnahme nicht ganz den gewünschten Erfolg hat.« Das Konzept, das wußten alle, war an sich gut gewesen. Überall auf dem Planeten waren öffentlich gekennzeichnete Büros eingerichtet worden, die rund um die Uhr besetzt waren. Man konnte sie persönlich aufsuchen oder die Dienststellen über das kommunale Netz anrufen. Über die Radio und Fernsehstationen wurden stündlich Aufforderungen ausgestrahlt. Jedermann, der die Organbanken auf Plophos jemals in Anspruch genommen hatte,
Hans Kneifel sollte sich melden. Aber die Sicherheitsorgane besuchten auch anhand der Listen, die noch vorhanden waren, einzelne ehemalige Patienten. Eine andere Frage wurde an Terlahe gerichtet: »Was wollen Sie eigentlich durch diese groß angelegte Aktion erreichen?« »Wenn wir eine große Menge Daten haben, dann können wir auf einer besseren Basis arbeiten! Niemand wird mehr operiert. Alles ist geschlossen. Vermutlich sind eine große Menge Unglücksfälle von uns nicht erkannt worden. Wir brauchen Daten, verstehen Sie? Erst dann können wir etwas unternehmen. Außerdem ist Awrusch bereits mehr als ungeduldig. Er sieht keine Fortschritte.« »Das ist begreiflich!« warf die schwarzhaarige Frau ein. Sie hatte die Koordinationsarbeiten der Kommission fertiggestellt. »Wie meinen Sie das?« dröhnte Terlahe. »Es gibt keine Fortschritte!« erwiderte die Frau. Betretenes Schweigen breitete sich aus, aber niemand konnte bessere Vorschläge machen. Es fehlte die Erfahrung, um ein solches Vorhaben schnell und richtig einleiten zu können. Tatsache war: Es liefen eine Menge Menschen umher, die in der letzten Zeit operiert wurden. Gleichgültig, ob sie neue Organe eingesetzt bekommen hatten oder neue Gliedmaßen – sie waren, wenigstens zu einem gewissen Prozentsatz, gefährdet. Und sie gefährdeten durch ihre AmokAktionen andere Menschen. Dies rief Kettenreaktionen von Gewalt und Furcht hervor, die inzwischen auch auf andere Planeten übergreifen konnten oder dies schon getan hatten. Die Lage wurde von Stunde zu Stunde undurchsichtiger. Niemand hatte bisher über auch nur einen Punkt der gesamten Affäre Gewißheit. Dies zerrte an den Nerven der Eingeweihten und Beteiligten an dieser verschwommenen Suchaktion. »Vermutlich haben Sie recht«, gab Terlahe nach einer Weile zu. Es war sinnlos, sich über Tatsachen aufzuregen, die man nicht
Jagd auf Plophos ändern konnte. Und Schreien half auch nur dabei, die Atmosphäre weiter aufzuheizen. »Ich weiß, daß ich recht habe. Wollen Sie die Filme sehen? Ich habe sie in meinem Abspielgerät.« »In Ordnung. Zeigen Sie uns, was Sie herausfanden!« meinte Terlahe. »Sofort! Schalten Sie bitte um!« Ein großer Projektorschirm erhellte sich und zeigte sofort das Bild. Der fremde Begleitton erfüllte den kleinen Sitzungssaal. Mit mäßigem Interesse betrachteten sowohl die Anwesenden als auch die Konferenzteilnehmer den Streifen, der in einem Untersuchungsbüro aufgenommen worden war. Eine eingeblendete Uhr zeigte jeweils die Zeitsprünge an. Ein sichtlich gelangweilter Beamter saß hinter seinem Schreibtisch und las in einem Lesewürfel. Zwei Stunden vergingen in entnervender Eintönigkeit. Nichts geschah, niemand rief an, niemand trat ein. Gegen elf Uhr am Morgen öffnete sich die Tür, und in das Gesicht des Mannes trat ein Ausdruck des Erstaunens. »Guten Morgen!« sagte er. »Kann ich Ihnen helfen?« Die Kamera schwenkte auf den Besucher um. Ein etwa hundertjähriger Mann war hereingekommen. Er sah sich prüfend um, als erwarte er einen Hinterhalt. Dann lehnte er sich über den Tisch und murmelte mit Verschwörermiene: »Ich habe den Aufruf gehört. Hier bin ich. Was wollen Sie?« Der Beamte war noch immer verblüfft. Er runzelte die Stirn und sagte: »Sie wissen vielleicht, was geschehen ist.« »Nein!« Der Mann schüttelte den Kopf. Dem Beamten fiel die provozierend gesunde Gesichtsfarbe auf. Er schob nervös seine Unterlagen hin und her, sah dann auf und sprach weiter. »Unter den Patienten unserer Kliniken und hauptsächlich unter den Empfängern von Organen oder Körperteilen aus unseren
9 Organbanken sind einige Fälle bekannt geworden, in denen die Operationen … nun, sagen wir, nicht den gewünschten Erfolg erzielten.« »Ich verstehe. Sie haben vor, von den Opfern der Pannen die Organe wieder zurückzufordern!« sagte der Mann aufgebracht. Der Beamte wurde blaß und schüttelte verwirrt den Kopf. »Niemand hat das vor!« sagte er schroff. »Wir versuchen lediglich, Informationen zu bekommen. Wir müssen Häufigkeit und Art der Pannen feststellen können, denn nach unseren bisherigen Erfahrungen haben alle Patienten die Kliniken in vorbildlichem Befinden verlassen.« Der Mann winkte ab. Er war ärgerlich und starrsinnig. Vielleicht wollte er auch nicht begreifen. »Ich habe mit einigen Kameraden aus der Raumfahrerzeit gesprochen. Sie sind alle einmal operiert worden. Wir sind sicher, daß unsere neuen Organe wieder ausgetauscht werden sollen. Aber sie sind alle hervorragend! Wir fühlen uns ausgezeichnet! Niemand wird kommen! Niemand wird sich die Organe wieder herausschneiden lassen!« Der Beamte stand auf und wedelte aufgeregt mit den Händen. »Hören Sie zu!« sagte er verzweifelt. »Von tausend Patienten sind vielleicht zwei oder drei, oder meinetwegen zehn mit einem nicht richtig funktionierenden Organ versorgt worden. Wenn Sie keinerlei Beschwerden haben, dann wird Ihnen niemand etwas antun! Wir sind nur daran interessiert, die Ausnahmen, die Pannen festzustellen, ehe es zu spät ist. Halten Sie die Mediziner von Plophos für Menschenfresser?« Der alte Mann erwiderte zornig: »Ich bin nur hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß mir nichts fehlt. Ich fühle mich ausgezeichnet. Seit der Operation habe ich ein ganz neues Leben angefangen. Ich bin kerngesund, wie alle meine Kameraden auch. Ich bin keines Ihrer Opfer. Ich sage es immer: Die Ärzte sind auch nicht mehr das, was sie früher waren! Versuchen Sie nicht,
10 mich aufzuhalten!« Er stand auf und hielt dem Beamten die geballte Faust unter das Kinn. »Ich werde verrückt!« keuchte der Untersuchungsbeamte, ein junger Polizeidienstanwärter. »Begreifen Sie denn nicht, daß uns jede Information wichtig ist? Wir wollen nur diejenigen herausfinden, bei denen ein Versehen unterlaufen ist. Wir wollen helfen, nicht um jeden Preis operieren!« Der Veteran schlug mit der Faust mehrmals krachend auf den Tisch und brüllte: »Wir alle sind gesund! Niemand von uns will wieder zurück in die Klinik! Suchen Sie sich Ihre Fehler selbst! Vielleicht finden Sie einige Unglückliche, die noch leben, dank der Kunst der Organ-Mediziner! Das wollte ich nur gesagt haben!« Er drehte sich um und ging mit der steifen Würde eines zu Tode Beleidigten aus der Station hinaus. Krachend schloß sich hinter ihm die Tür. Der junge Beamte sank ächzend in seinem Sessel zurück und warf dann einen hilflosen Blick in die Richtung der Kameralinse. »Ich kann nichts dafür!« murmelte er. Die nächsten vier Stunden blieb er allein. Es erfolgte nicht ein einziger Anruf. Der Film lief aus, und die schwarzhaarige Frau sagte: »Das ist eine Art ›Stimmungsbild‹ gewesen. So oder ähnlich verliefen die ersten Tage der Untersuchungsbüros. Es kamen ausnahmslos nur Patienten, die mit ihren Organen sehr zufrieden waren. Die wirklichen Opfer zeigten sich nicht. Aber inzwischen haben wir Zahlen.« Sie nannte einige Zahlen. Insgesamt dreitausend solcher Büros waren schnellstens eingerichtet worden. In den letzten Tagen waren nicht mehr als etwa zehntausend ehemalige Patienten dort erschienen und hatten versichert, es ginge ihnen gut, und sie hätten keine Schwierigkeiten. Wortlos starrte Terlahe die Frau an. »Verdammt!« sagte er schließlich. »Eine niederschmetternde Bilanz.« Eine weitere Variante des Mißerfolges
Hans Kneifel zeigte der zweite Film. Er war nachweisbar vor zwei Stunden aufgenommen worden. »Das ist ebenfalls ein Zeichen für einen Fehlschlag«, kommentierte Terlahe. »Wir haben mit ganz anderen Ergebnissen gerechnet!« Der Film lief an. Er zeigte einen Platz der Hauptstadt New Taylor in der Nähe des Raumhafens. Die Fläche des Platzes war schwarz von Menschen. Langsam schoben sich Polizeigleiter mit eingeschalteten Schutzschirmen durch die Menge. Aus den Lautsprechern brodelte der Lärm von Zehntausenden. Die Kamera vergrößerte einzelne Ausschnitte dieser riesigen Demonstration. Sie richtete sich eindeutig gegen das Gebäude rechts im Bild. »Das ist eine der Depotstationen!« flüsterte Alvmut Terlahe aufgeregt. »Richtig. Und um Sie zu beruhigen – die Polizei konnte in letzter Sekunde einen Sturm auf die Station verhindern.« Die Menschen waren offensichtlich entweder ehemalige Patienten oder solche, die auf eine Operation warteten. Das Warten kostete Geld, denn teilweise waren die Patienten aus weit entfernten Gegenden der Galaxis angereist. Dazu kam die Lebensangst derer, die ein Leiden hatten, das schnell zum Tod führen konnte, falls nicht eine schnelle Operation durchgeführt wurde. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß sich die Demonstranten in eine Art Panik hineingesteigert hatten. Transparente wurden hochgehalten. Sprechchöre schrien über den Platz. Die Lautsprecher der Polizeifahrzeuge dröhnten zwischen den Bäumen und Hausfronten. »Öffnet die Organbanken! Freie Fahrt für Operationen! Laßt uns nicht sterben!« Das war einer der Sprechchöre, die ständig wiederholt wurden. Dazwischen schrie ein Polizeisprecher: »Bewahren Sie Ruhe! Die Regierungskommissionen beraten ununterbrochen. Vermeiden Sie jede Panik! Ihr Nachbar kann das erste Opfer der Panik sein! Bewahren Sie bitte Ruhe!«
Jagd auf Plophos Auf den Transparenten stand zu lesen: Sucht die Schuldigen! oder: Wer ist an den medizinischen Irrtümern schuld? Wir warten nicht länger! »Öffnet die Organbanken! Unschuldige müssen sterben!« schrie ein Teil der Demonstranten. Warum reagiert die Regierung so schleppend? Ruft Mory Abro zurück! Endlich wieder Operationen! Die Polizei ging ausgesprochen behutsam vor. Sie sonderte kleine Teile der Demonstranten am Rand des Platzes von der Menge ab und versuchte, mit den Leuten zu diskutieren. Ganz langsam wanderten kleine Gruppen ab und zerstreuten sich. Immer wieder versuchte man, mit inhaltlich richtigen Argumenten die Demonstranten zu überzeugen. »Ich kann das nicht mehr sehen!« rief Terlahe und kniff die Lippen zusammen. Sein Gesicht war weiß geworden. Er mußte einsehen, daß die bisher entwickelten Verfahren keinerlei Erfolg zeigten. »Abschalten!« Der Bildschirm wurde dunkel. Terlahe wandte sich an die Koordinatorin. »Miß Storaro Hoi«, sagte er. »Sie besitzen sämtliche Daten über die bisherigen Erfolge?« Miß Hoi lächelte zurückhaltend. »Es sind nicht viele Daten. Aber wir haben inzwischen eine Menge Reaktionen. Und es stehen auch sehr viele Hilfskräfte zur Verfügung, falls uns ein gangbarer Weg einfällt.« »Ich habe verstanden. Vor Beginn der Sitzung erhielt ich eine Benachrichtigung, daß drei Spezialisten der United Stars Organisation im Anflug auf Plophos sind. Inzwischen ist es Zeit, sie am Raumhafen zu begrüßen. Darf ich Sie bitten, mit Ihren Unterlagen mitzukommen? Ich muß natürlich dort sein und ihnen die Legitimationen übergeben.« Miß Hoi nickte und entgegnete: »Soll ich mit Ihnen zusammenarbeiten?« »Selbstverständlich. Allerdings werde ich
11 den Spezialisten unsere Auffassung von der Lösung der Probleme nahebringen.« Sie verwendeten noch eine Viertelstunde darauf, Maßnahmen zu diskutieren, dann löste sich die kleine Versammlung auf. Inzwischen war es auch den Sicherheitskräften gelungen, die Demonstration aufzulösen, so daß für den Augenblick die relative Ruhe wiederhergestellt war. Terlahe schnallte sich seine Waffe um und begleitete Miß Hoi hinunter in den Transmitterraum des Regierungsgebäudes. In einem leeren Korridor wandte sich die Frau an Terlahe. »Hören Sie zu, Chef! Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß die Lage alarmierend schlecht ist. Wir haben im Augenblick keinen neuen dramatischen Fall. Aber ohne daß wir etwas sehen oder merken: Das Verhängnis scheint sich unsichtbar auszubreiten.« Terlahe zuckte die Schultern. »Ich kann mich nicht über Awrusch hinwegsetzen und die Streitkräfte alarmieren oder sonst etwas in dieser Größenordnung tun. Es war schon schwierig genug, von Awrusch die Genehmigung für das Anfordern von USO-Leuten zu erhalten. Oder haben Sie bessere Vorschläge, Miß Hoi?« Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein. Hätte ich etwas gewußt, hätte ich dies eben laut geäußert. Die Spezialisten arbeiten mit uns zusammen?« »So hat man es gesagt. Jedenfalls kann ich nicht dulden, daß sie noch mehr Aufregungen hervorrufen.« »Ich dachte, auf Plophos betrachte man Aufregungen als Gewürz in der Suppe des Lebens?« fragte die Koordinatorin spöttisch. Terlahe bedachte sie mit einem gereizten Blick. »Es gibt auch erheblich versalzene Suppen.« »Wir werden sie zweifellos auslöffeln müssen!« bestätigte sie. Im Transmitterraum machte man für sie eine Leitung frei und strahlte sie zum Raumhafen ab. Als sie dort in dem Trakt, der für Angehörige der Regierung eingerichtet war, angekommen waren, erfuhren sie, daß die
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Hans Kneifel
drei Spezialisten bereits seit zehn Minuten auf Terlahe und seinen Begleiter warteten.
3. »Wenn wir unsere Verpflichtungen ebenso pünktlich abwickeln wie Sie Ihre, Mister, dann sieht es böse aus für Plophos!« Ein kleiner Mann, der wie eine bösartige Bulldogge dreinblickte, kam auf Terlahe zu und streckte seine Pranke aus. »Danke, daß Sie gekommen sind. Und dazu in solch überaus charmanter Begleitung!« Er blickte den Mann aus blauen Augen an, die von innen heraus zu leuchten schienen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Alvmut Terlahe hätte sich entschuldigt. Er ergriff kopfschüttelnd die Hand und bemerkte säuerlich: »Wenn Ihr Erfolg Ihrem Auftreten entspricht, werden wir alle sehr froh sein!« Der Händedruck des kleinen Mannes war mörderisch hart. Als er sich bewegte und zur Seite trat, sah Terlahe deutlich die wuchtigen Muskelpakete. »Sie sind Thow Tanza, nicht wahr?« fragte Terlahe und blicke die rothaarige junge Frau und den Mann bei ihr an. »Richtig. Und Sie? Alvmut Terlahe?« »So ist es.« Stuckey Folus begrüßte den Chef der Untersuchungskommission und bemerkte wie beiläufig: »Man nennt uns die Familie. Das hier ist Nancy Chessare, Opa Tanza haben Sie bereits kennengelernt, und ich bin Folus. Stuckey Folus, auch Pa genannt.« »Sehr angenehm!« bemerkte Miß Hoi. »Wollen wir uns nicht in eine stille Ecke setzen und die Angelegenheit durchsprechen?« »Mit Vergnügen«, sagte die rothaarige Frau. Jetzt wirkte sie unschlüssig und etwas unbeholfen wie ein junges Mädchen. Miß Hoi erkannte, was der Mann neben ihr niemals sehen würde. Dieses Mädchen war eine Schauspielerin, mit allen Wassern gewaschen. Sie tat unschuldig und war raffiniert. Mit einem Schlag wurde Miß Hoi klar, daß
»die Familie« offensichtlich genau das Team war, das dort Erfolge haben würde, wo alle anderen auf Plophos versagt hatten. »Willkommen in New Taylor!« sagte Miß Hoi begeistert und begrüßte die Mitglieder der USO-Familie. Folus warf ihr ein breites, liebenswürdiges Lächeln zu. »Wir haben umfangreiches Gepäck bei uns. Außerdem sollten wir die Frage der Unterbringung klären. Und drittens brauchen wir natürlich die volle Unterstützung und das restlose Vertrauen der Regierung – aber hier wenden wir uns am besten an Mister Terlahe, nicht wahr?« »Vermutlich!« entgegnete Alvmut. Irgendwie war er fasziniert von der Entschlossenheit dieser drei Spezialisten. Er begann zu ahnen, daß er und das Team durchaus unterschiedliche Auffassungen hatten. »Sie sind hervorragend untergebracht!« sagte er. »In einem Hotel, das von uns betrieben wird. Abhörsicher und so weiter. Allerdings werden wir uns noch detailliert darüber verständigen müssen, wie Sie vorgehen werden.« Opa Tanza musterte Terlahe mit grenzenlosem Erstaunen. Dann sagte er deutlich: »Wohl kaum, Chef!« »Wie darf ich das verstehen?« erkundigte sich Alvmut erschrocken. »Was wollen Sie damit sagen?« Thow deutete mit dem Daumen über die Schulter. Diese Geste war von großer Lässigkeit. »Er wird es Ihnen erklären. Rede Pa!« Miß Hoi und Alvmut Terlahe sahen sich verblüfft an. Alvmut störte das Lächeln im Gesicht seiner Mitarbeiterin. Sie schien sich über das Team, diese ersten Kontakte und die Situation überhaupt zu amüsieren. »Es ist so, Mister Terlahe, daß wir ausgebildete Fachleute sind. Wir brauchen nicht viel mehr als ein Kissen unter dem Kopf und sämtliche Unterstützung aller Regierungsstellen. Wie wir vorgehen, was wir tun … das entscheiden wir selbst. Wir sind es so gewohnt. Außerdem gibt es genügend Erfah-
Jagd auf Plophos rungswerte und Schemata für ein solches Vorgehen. Ich bitte Sie, das keineswegs persönlich aufzufassen. Aber wir haben einen genau umrissenen Auftrag und werden ihn erfüllen. Wir sind die Fachleute. Verglichen mit uns scheint Ihre Untersuchungskommission aus NichtFachleuten zu bestehen. Aus diesem Grund bitten wir Sie, uns in unser Quartier zu bringen, uns ferner die nötigen Legitimationen auszustellen und alles andere zu regeln. Waffen, Kenntnisse und Erfahrung in der Lösung solcher Probleme haben wir mitgebracht.« Er musterte Terlahe nicht unfreundlich, aber mit kritischer Distanziertheit. Sie alle waren von Erymir Coiffi in die kleinsten Details der Affäre eingeweiht worden. Natürlich hatten sie auch Aufnahmen von Terlahe gesehen. Jetzt stand der Mann selbst vor ihnen. Einundfünfzig bis vierundfünfzig, schätzte Stuckey. Ein Mann, nicht viel größer als Opa, also rund einhundertsechzig Zentimeter groß. Ein hagerer fast dürrer Mann mit schütterem blonden Haar und graublauen Augen. Sein Gesicht wirkte spitz und verkniffen. Terlahe schien ein zuverlässiger gründlicher und hochintelligenter Arbeiter zu sein, aber ihm fehlte wohl die leichte Hand. Er war fähig, in exakten, vorgegebenen Bahnen zu denken und zu arbeiten, aber der Ausdruck Improvisation war ihm fremder als ein weit entfernter Pulsar. Ein Pedant also, dachte Stuckey. Er war sicher, daß im gleichen Augenblick auch seine beiden Partner dieselben Überlegungen anstellten. »In Ordnung. Kommen Sie!« sagte Terlahe. Ein Robot schleppte sechs umfangreiche Gepäckstücke auf seiner kleinen Ladefläche mit sich. Sie verließen nacheinander den Raum und verstauten das Gepäck in einem Gleiter von unauffälliger Farbe. Schließlich setzte sich Pa ans Steuer und drehte sich halb herum. »Wohin, Chef?« fragte er und sah Terlahe
13 in die Augen. »Auf die Piste hinaus, und dann fünfzehn Kilometer geradeaus!« Nach einigen Sekunden Schweigen, in denen der Gleiter mit steigender Geschwindigkeit das Raumhafengelände verließ, sprach zum erstenmal die junge Frau. Sie legte Miß Hoi kurz die Hand auf die Schulter und sagte leise: »Warum hat Jalzaar Awrusch die Informationen nicht an Mory Abro weitergegeben?« »Weil er es als persönliche Herausforderung betrachtet, die Zwischenfälle in eigener Regie zu klären!« »Aha!« machte Opa. Irgendwie begriff Terlahe nicht, warum sich die drei Spezialisten mit Miß Hoi so schnell und so gut verständigten. Er fühlte nur den Ärger darüber, daß seine Regie ihm zu entgleiten drohte. »Hören Sie zu, meine Freunde«, sagte er mit deutlichem Ärger in der Stimme. Er sah nicht, wie Thow Tanza am Steuer zu grinsen begann. Es war ein kaltes, freudloses Grinsen. Während offensichtlich sowohl die Chefs als auch die Behörden auf Plophos annahmen, alles wäre wenig dramatisch und bald aufzuklären, dachten die Spezialisten an die schlimmste und folgenschwerste Ausweitung des Geschehens. Auch dies war eine Lebensregel, die sie hatten lernen müssen. »Wir hören!« meinte Ma alias Nancy. »Wir hören immer!« »Ich glaube, Sie sehen das alles zu dramatisch!« begann Terlahe. Einige Sekunden lang überlegte Stuckey noch, ob er schroff werden sollte oder ob seine Geduld noch für einige solche Bemerkungen reichte. Er entschied sich für letzteres. »Wir sehen lediglich die Gefahren, die in einer solchen Entwicklung stecken können. Wir kalkulieren immer alle Möglichkeiten ein. Und leider ist die wahrscheinlichste der Möglichkeiten sehr häufig das organisierte Verbrechen. Sonst wären wir drei, die man die Familie nennt, keine USO-Spezialisten.«
14 »Richtig!« kommentierte Thow am Steuer. Niemand konnte sich darüber hinwegtäuschen, daß in dem Gleiter eine gespannte Stimmung herrschte. Terlahe war zu intelligent, um nicht zu wissen, was das Ziel aller Bemühungen war. Aber er ärgerte sich, daß drei Leute kamen und ihm alles aus der Hand nahmen. Er arbeitete mit Awrusch zusammen, und wenn die Familie bewies, daß sie besser war, dann hatten sie beide bewiesen, daß sie keine Ahnung hatten oder zumindest nicht in der Lage waren, ihren Posten auszufüllen. Und genau das war zu vermeiden. Aber gleichzeitig mit der Anforderung der USO-Spezialisten hatten sowohl Awrusch wie auch er ihre Kompetenzen an diese drei Personen hier abgetreten. Ihn störte ihre kühle Zuversicht. Er war nicht in der Lage zu begreifen, daß sie ebenso Probleme hatten wie er. Er erkannte nicht, daß sie in jeder Sekunde, die sie auf dem Planeten Plophos verbrachten, ihr Leben riskierten, und dies im Dienst der Allgemeinheit und ohne daß sie dafür horrend bezahlt worden wären. Aus welchem Grund konnten die drei Spezialisten derart selbstsicher auftreten? Er blickte hinaus und sagte leise: »Folgen Sie bitte den gelben Richtungsanzeigen, oder schalten Sie die Automatik auf Ziffer einundneunzig.« »Geht in Ordnung!« erwiderte Opa. Summend bewegte sich der Gleiter auf der Piste dahin. Andere Fahrzeuge überholten oder wurden überholt. Ein herrlicher Wolkenhimmel leuchtete über der Stadt und schuf die Illusion ruhigen Friedens. Nach einigen Minuten erkundigte sich Nancy: »Sie scheinen mit der angeblich lässigen Methode von uns Spezialisten nicht ganz einverstanden zu sein, Sir?« »Nicht ganz!« gab Terlahe zu. »Aber ich werde Sie keineswegs sabotieren. Das verspreche ich Ihnen.« Natürlich hatten sie sich Stadtpläne ebenso eingeprägt wie die wichtigsten statistischen Daten über den Bereich, in dem sie
Hans Kneifel vermutlich operieren würden. Der unauffällige Regierungsgleiter schwebte jetzt einer Parkzone zu, die sich einem Gelände angliederte, in dessen Zentrum die meisten Regierungsgebäude standen. »Wir scheinen sehr gut untergebracht zu sein?« fragte Stuckey. »Das ist doch selbstverständlich!« erwiderte Miß Hoi. »Sind wir auch so untergebracht, daß wir erstens schnell an alle Einsatzplätze kommen und zweitens genügend geschützt und ruhig arbeiten können?« »Auch das ist selbstverständlich!« meinte Terlahe. Er mußte sich eingestehen, daß ihn die Familie beeindruckte. Das Mädchen war jung und hübsch, und hinter ihrer atemberaubenden Fassade verbarg sich mehr an Tüchtigkeit, Können und Wissen, als er ahnte. Der wuchtige Mann in seiner Größe an den Hebeln der Steuerung war viel älter, aber auch er wirkte schon auf den ersten Blick hart, schnell und gefährlich. Ein Teil der Antworten ließ erkennen, daß die »Familie« nahezu gleich viel über den Fall wußte wie er selbst, und darüber hinaus waren sie kriminalistisch außerordentlich geschult. Der jüngere Mann, der Pa genannt wurde, schien etwas zurückhaltender. Terlahe drehte sich halb herum und betrachtete den Mann. Etwa dreiundvierzigjährig und groß und hager. Mindestens hundertachtzig Zentimeter groß, mit einem unkleidsamen Bürstenhaarschnitt und auffallend großen Ohren, die vom Kopf abstanden. Zweifellos war er in das rothaarige Mädchen verliebt, aber ob seine Liebe erwidert wurde … Alvmut Terlahe wollte sich keinen müßigen Spekulationen hingeben. Auffallend waren die tiefliegenden dunklen Augen. Sie strahlten ebenso menschliche Wärme aus wie auch hohe Intelligenz. Terlahe glaubte, diesen Menschentyp zu kennen: schüchtern, nervös und in bestimmten Fällen, in denen er herausgefordert wurde, mutig wie ein Raubtier.
Jagd auf Plophos
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»Warum sehen Sie mich so analytisch an?« fragte Stuckey. »Ich versuche mir vorzustellen, in welchen wissenschaftlichen Disziplinen Sie ausgebildet sind. Quinto-Center wird uns nicht Unausgebildete geschickt haben.« »Sicher nicht. Ich bin Anthropologe und Kosmopsychologe.« »Ich verstehe. Also werden Sie auch wissen, welche medizinischen oder biologischen Probleme in diesem Fall auftauchen.« Stuckey nickte. »Wir werden es begreifen können!« sagte er. »Noch heute werden wir mit den Erhebungen beginnen. Und zwar auf unsere Art. Versuchen Sie bitte nicht, uns zu erklären, was wir zu tun haben. Wir sind ziemlich gut vorbereitet.« Terlahe schwieg bestürzt. Er konnte wohl nichts anderes tun, als diese Leute arbeiten zu lassen. Sonst war der Erfolg noch mehr in Frage gestellt als schon jetzt. Er drehte den Kopf wieder nach vorn und sah zu, wie der Gleiter von der zentralen Fernsteuerung von der breiten Piste geschaltet und auf Handsteuerung umgestellt wurde. Opa schien genau zu wissen, wohin er zu steuern hatte. Er hielt auf ein niedriges, hinter Bäumen verstecktes Gebäude zu, vor dem sich ein halbmondförmiger flacher See ausbreitete.
* Ein Robotmechaniker in orangefarbener Uniform hob den Kopf. Er hörte das Summen der schweren Gleitermaschine und sah hoch über sich den Luftgleiter der Polizei. »Das also sind sie!« murmelte er. Er war nur ein unbedeutender Zuträger. Er wußte auch nicht viel von allem und war weit davon entfernt, das Problem zu erkennen. Aber er wurde für exakte Auskünfte bezahlt. Als der Polizeigleiter Kurven zu ziehen begann, wußte er genau, daß die neuen Gäste der Regierung angekommen waren. Zwischen den Büschen tauchte die breite Schnauze des Gleiters auf. Die Maschine
bog über den Kiesweg in die Spur ein, die hierher unter den vorspringenden Eingang des großen, flachen Bauwerks führte. Der Mechaniker beugte sich wieder über seine Werkzeugtasche und schaltete die hochempfindliche Kamera ein. Die Linse deutete genau auf den Eingang. Der Gleiter bremste langsam und hielt. Die Tür neben dem Fahrersitz wurde zurückgeschoben. Blitzartig bewegte sich ein stämmiger Mann hinaus ins Freie. Der Fahrer hielt eine kurze, kleine Waffe in der rechten Hand und drehte sich langsam, so daß er mit der Waffe einen vollkommenen Halbkreis bestreichen konnte. Die anderen Insassen blieben im Gleiter sitzen. Langsam ging der breitschultrige Mann um den Gleiter herum, während aus dem Eingang einige mittelschwere Kampfroboter schwebten. Vier Wächter oder Betreuer kamen hinterher. Mit einem kaum hörbaren Summen arbeitete die eingebaute Kamera. Der Mechaniker schien sich nicht sonderlich für die Vorgänge, zwanzig Meter von ihm entfernt, zu interessieren, denn er tauschte mit bedächtigen Bewegungen einen Baustein des elektronischen Innenlebens der Gartenpflege-Maschine aus. »In Ordnung!« murmelte der Breitschultrige mit dem schwarzgrauen, gelockten Haar und riß die Tür auf. Eine schlanke junge Frau mit flammend rotem Haar stieg aus. Zwei Roboter wurden herandirigiert und bemächtigten sich der Gepäckstücke. Dann stieg Terlahe aus, gefolgt von einem unauffälligen Mann und einer schwarzhaarigen, gutaussehenden Frau. Leise miteinander sprechend, bewegte sich die Gruppe unter dem weit vorspringenden Dach des Eingangs den gläsernen Türen zu. Die Roboter kontrollierten die Umgebung. Schnell verschwanden die Gepäckstücke, die ebenfalls von unauffälliger Form und Farbe waren, im Innern des Hauses. Als sich die Türen wieder geschlossen hatten, griff
16 der Mechaniker in seine Tasche und schaltete die Kamera wieder aus. Dies war sein Beitrag; an anderen Stellen würden andere Männer oder Geräte diese Ankömmlinge kontrollieren und beobachten. Der Polizeigleiter war verschwunden und ging wohl auf einem der nahen Landeplätze nieder. Der Robotmechaniker hatte alle anderen Einzelheiten bereits notiert; er war dank seiner Aufgabe ohne weiteres dazu in der Lage. Das Gebäude sah harmlos und ein wenig verträumt aus, aber dieser Eindruck trog. Die einzelnen Räume waren abhörsicher und nicht einsehbar, wenn Sonderschaltungen der Panoramafenster vorgenommen wurden. Um das Gebäude selbst zog sich ein sechsfacher Gürtel aus Warn und Schutzeinrichtungen. Und schließlich badeten Infrarotscheinwerfer die gesamte Nacht über die Umgebung in helles Licht, allerdings unsichtbar für menschliche Augen. Roboter kontrollierten jeden Ankömmling und zogen ihre Runden. Außerdem stand das gesamte Gebiet unter dem verstärkten Schutz der Einheiten, die sämtliche Regierungsgebäude bewachten. »Ich habe, was ich brauche!« sagte sich der Mechaniker und verschraubte die Platte der Maschine. Nach einem kurzen Test begann der Roboter wieder zu arbeiten und summte auf die Kanten des Rasens zu, die er sorgfältig zu beschneiden begann. Der Mann im hellorangen Overall schloß seine Tasche und ging um das Gebäude herum zu dem Gleiter seiner Firma. Der Mann startete den Gleiter und verließ das Gelände des Regierungsviertels. Da seine Betreuungsfirma den Service für fast sämtliche Kleinmaschinen übernommen hatte, wurde er beim Verlassen nicht mehr kontrolliert. Zehn Minuten später sprach der Monteur alle seine Beobachtungen auf ein Band, fügte die Kassette aus der winzigen Kamera hinzu und schickte beides an eine ihm unbekannte Adresse. »Das wär's!« meinte er zufrieden. Es gab keine Beweise für seine Tätigkeit. Und er hatte auch keine Ahnung, daß es um
Hans Kneifel die rätselhaften Vorfälle im Zusammenhang mit den Organbanken ging.
4. Nancy Chessare war in der Menge der Menschen aufgegangen und praktisch verschwunden; ihr zu folgen wäre blanker Unsinn gewesen. Sie schien alles andere im Sinn zu haben als die Ermittlungen – im Augenblick bummelte sie einen breiten Boulevard entlang und kaufte eine Anzahl nützlicher und unnützer Kleinigkeiten. Der Zufall wollte es, daß nur einige Querstraßen abseits dieses breiten Fußgängerzentrums eine kleine, bestausgerüstete Klinik stand. Drei Stunden hatten genügt, um auch die letzte Einzelheit zu erfahren. Filmberichte und sämtliche Erkenntnisse der verschiedenen Mitglieder und Gruppen der Untersuchungskommission. Die Berichte der pathologischen Untersuchungen. Die Namen der toten Opfer. Zuerst hatte Opa eine radikale Maßnahme vorgeschlagen: Man sollte eine kleinere Organstation heraussuchen und sämtliche Präparate untersuchen. Terlahe hatte sich Bedenkzeit erbeten und wollte sich die Bewilligung von Awrusch einholen. Leicht würde es nicht werden, hatte er gesagt, aber er wollte auch nicht in Gegenwart der Spezialisten mit dem jungen Stellvertreter des plophosischen Obmannes sprechen. Nancy ging weiter. Sie trug jetzt einen hellen Hosenanzug und hatte ihr auffallendes Haar unter einem fast unauffälligen Ding verborgen, das eine Kreuzung zwischen Kopftuch, Hut und Mütze war. Obwohl Nancy wie eine etwas gelangweilte Passantin wirkte, waren alle Sinne auf das äußerste gespannt. Sie nahm jede Einzelheit der Umgebung in sich auf und ging langsam in die Richtung der kleinen Klinik. Niemand schien ihr zu folgen, auch sah sie nichts, was sie argwöhnisch hätte machen können.
Jagd auf Plophos »Offensichtlich befindet sich die Entwicklung noch an ihrem Anfang!« sagte sie sich und blieb vor einem Schaufenster stehen, hinter dem moderne Grafik ausgestellt war. Es würde einen harten Kampf geben zwischen Awrusch und Terlahe einerseits und der Familie auf der anderen Seite. Offensichtlich wollten beide Männer vermeiden, daß Rhodan, Abro oder Atlan etwas von dem Debakel erfuhren, ehe das Problem restlos gelöst war. Ein verständlicher, wenn auch sehr gefährlicher Standpunkt. Aber die Familie hatte, was die USO betraf sämtliche Vollmachten – sie waren gewohnt, sich durchzusetzen. Auch in den nächsten Minuten, die Nancy dazu brauchte, um auf Umwegen in den Empfangsraum der Klinik zu kommen, folgte ihre niemand. Die winzigen Warngeräte in ihrer Tasche schlugen nicht an. »Immerhin. Es scheint doch noch nicht zu spät zu sein!« sagte sich die junge Frau. Stuckey und Thow waren ebenso wie sie unterwegs, um Ermittlungen anzustellen. Viel würden sie heute nicht mehr herausbekommen, aber sie konnten vielleicht einige nützliche Hinweise erbeuten, die das Suchgebiet gewissermaßen einengten. Ärzte, Patienten und Organbanken würden besucht werden; die betreffenden Institute waren bereits verständigt. »Was kann ich für Sie tun?« fragte der junge Mann, der sie aufhielt. »Ich bin angemeldet. Ich werde von Kerima Prosnerim und ihrem Ärzteteam erwartet.« »Ihr Name?« »Nancy Chessare von der ›Familie‹!« gab Ma zur Antwort und sah sich um. Neben dem Eingang standen zwei Wachroboter, auf einem Treppenabsatz saß ein bewaffneter Wächter, der ihrer kurzen Unterhaltung interessiert folgte. »Sie sind angemeldet. Bitte, kommen Sie mit.« Wenige Minuten später stand Ma neben dem Krankenbett Kerima Prosnerims. Sie blickte in das Gesicht des Opfers und sah ei-
17 ne braunhaarige Schönheit von breiten, aber ebenmäßigen Zügen. Der lange Aufenthalt in der Klinik und unter strengster Bewachung schien sie leicht angegriffen zu haben, der rechte Unterarm war bis über das Ellenbogengelenk unter dicken Verbänden verborgen, in denen dünne Kabel und Leitungen für Nährflüssigkeit verschwanden. »Ich bin bereits angekündigt worden, Miß Prosnerim!« sagte Ma und zog sich einen Sessel heran. »Ich habe nicht vor, Sie zu erschöpfen oder mir von Ihnen Dinge erzählen zu lassen, die Sie bereits einmal sagten.« Kerima nickte. Ihre großen Augen verrieten, daß sie eine Art Hölle durchgemacht hatte. Sie warf einen kurzen Blick auf die in der Schwebe gehaltene Konstruktion um ihren Arm und sagte mit leiser Stimme: »Ich helfe Ihnen gern, wenn ich kann.« »Wie schön!« bemerkte Nancy ehrlich erfreut und wandte sich an den Wächter, der am Fenster lehnte, und an den jungen Mann, der sie hereingebracht hatte. »Würden Sie uns bitte allein lassen?« fragte sie und schlug den Saum ihrer Jacke zurück. Verblüfft sahen die Männer die flache, gefährliche Kombiwaffe im Spezialgürtel der Spezialistin. Nancy sagte in fast fröhlichem Ton: »Ich kann für kurze Zeit auf uns beide aufpassen, meine Herren. Es dauert nicht lange!« Sie wechselten einen schweigenden Blick des Einverständnisses, dann verließen sie den Raum. »Sie … Sie sind von der United Stars Organisation?« flüsterte das Mädchen vor Nancy. »Ja. Und ich werde Ihnen jetzt eine Reihe von Fragen stellen. Sie beziehen sich hauptsächlich auf Ihre Empfindungen. Was Sie erlebten, weiß ich, darüber brauchen wir uns allerdings nicht im geringsten zu unterhalten. Können Sie mir helfen?« Die Antwort ließ Nancy stutzen. »Ich weiß nicht, Miß Chessare, ob ich Ihnen helfen kann. Aber ich will Ihnen helfen. Wenn ich dadurch verhindere, daß auch nur
18 ein einziger Mensch dasselbe durchmacht wie ich.« »War es sehr schlimm?« »Es war die Hölle. Es war so, als ob man merkt, wie man wahnsinnig wird, ohne es verhindern zu können. Stellen Sie Ihre Fragen.« Es war vor einigen Tagen gelungen, das Mädchen, das sinnlose Terroranschläge verübt hatte, zu überwältigen und in diese Klinik einzuliefern. Sie stand unter einem schweren Schock, der auch jetzt noch nicht ganz abgeklungen war. Bei ihrer Festnahme, oder besser bei dem Versuch, sie vor sich selbst zu beschützen, hatte sie einen Selbstmordversuch unternommen. Und jetzt wurde sie behandelt, um nicht den Verstand zu verlieren. Der Unterarm aber war schwer verletzt, und man versuchte, das Gewebe wieder zu retten. Das alles wußte Nancy sehr genau; sie hatte sämtliche Daten bereits intensiv studiert. Sie begann mit ihren Fragen. Sie erkundigte sich nicht nach dem, was vorgefallen war. Sie versuchte, die Erinnerungen und die Empfindungen dieses Opfers zu erfahren. Zweifellos hing das Erlebte mit einer bestimmten Eigenschaft des verpflanzten Organs beziehungsweise des Unterarms zusammen; darüber brauchten keine Untersuchungen mehr angestellt zu werden. Nancy erfuhr einiges über die peinigenden Träume, die Kerima heimgesucht hatten. Das Mädchen sprach auch über geheimnisvolle Befehle, die sie angeblich gehört hatte. Dieser neue Teil des Körpers und der Verstand des Mädchens waren eine verderbliche Synthese eingegangen. Sämtliche Opfer dieses unbekannten Schreckens, ob sie nun Bolvo Querdain hießen oder Trogfynn Kranmurt, der unglückliche Junge aus Ervmert, waren ehemalige Patienten verschiedener Kliniken gewesen. Fast jede Klinik auf Plophos hatte »ihren« Fall oder deren mehrere. »Hatten Sie jemals das Gefühl, dieser neue Körperteil besäße ein Eigenleben?« er-
Hans Kneifel kundigte sich Ma nach etwa dreißig anderen Fragen, auf die sie zum Teil erstaunliche und verblüffend aussagekräftige Antworten bekommen hatte. Wieder überlegte Kerima lange. Schließlich sagte sie erschöpft: »Es ist nicht genau zu sagen. Manchmal hatte ich dieses Gefühl. Aber der Unterarm war fremd, und er kitzelte. Ich habe geträumt, daß aus seinen Zellen über den Blutkreislauf Gifte in meinen Verstand sickerten. Ich hatte auch einen anderen Traum …«, sie stockte, schloß die Augen und versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Atemlos beugte sich Nancy vor. In ihrer Tasche lief ein winziger Recorder und nahm jedes Wort auf, »… einen schlimmen Traum. Die Zellen des Armes lösten sich auf und bekamen ein eigenes Leben. Der Arm wurde selbständig, er wurde zum Mörder und tat Dinge, die ich nicht wollte …« »Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Und seit der Stunde, in der Sie wieder klar denken konnten – ist irgend etwas geschehen, das Sie nachdenklich gemacht hätte?« Nach einem längeren Schweigen erwiderte Kerima: »Nein, nichts.« »Danke.« Sie tasteten sich langsam an den Kern der Geschehnisse heran. Außerdem war es durchaus denkbar, daß ihre Aktivitäten beobachtet wurden. Dies war eine Art Test. Aus diesem Grund waren sie auch wieder aufgebrochen, kaum, daß sie angekommen waren. Für die Mitglieder der Familie schien es klar, daß hinter all dem eine geheimnisvolle Machtgruppe steckte, die etwas ganz Bestimmtes vorhatte … alle Fälle hatten ihre eigene Gesetzmäßigkeit und gehörten zusammen. Natürlich war ihr Besuch bei Kerima nur ein einziges, winziges Mosaiksteinchen. Langsam stand Nancy auf und schaltete dabei ihren Recorder aus. »Wenn es irgend etwas gibt, wobei ich Ihnen helfen kann, Kerima«, sagte sie halblaut, »dann lassen Sie diese Nummer anwählen. Entweder bin ich dort zu sprechen, oder die Meldung wird an mich weitergereicht.
Jagd auf Plophos Versprechen Sie es mir?« »Ja, gern. Ich hoffe, daß ich bald gesund werde. Was meinen Sie, wird mit dem Unterarm geschehen?« Nancy zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber es wird sich alles aufklären. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie wahnsinnig werden – dieses Austauschglied ist die Gefahr. Schlimmstenfalls wird es ausgetauscht, und das geht ohne Schmerzen und Aufregungen vor sich.« Nancy »Ma« Chessare schenkte der erschöpften Patientin ihr nettestes Lächeln und öffnete die Tür. Sie erklärte dem Wächter, daß alles in bester Ordnung sei und ging zum Liftschacht. Angeborene Vorsicht und viele einschlägige Erfahrungen ließen sie stehenbleiben, bevor sie den Strahl durchbrach, der den Türmechanismus in Tätigkeit setzte. Nancy bewegte die Augen von rechts nach links und kontrollierte die gegenüberliegende Straßenseite, beobachtete die fahrenden oder geparkten Gleiter und ging dann weiter. Fast lautlos fuhren die schweren Glassitplatten zur Seite, ließen die junge Frau passieren und schlossen sich wieder. Nancy hatte noch einen Besuch bei einer Organbank auf dem Programm. Auch dort war sie angemeldet. Sie trat an den Straßenrand und hob die Hand, als ein Taxi sich näherte. Als der Gleiter noch zwanzig Meter von ihr entfernt war, sah sie auf der anderen Seite der schmalen Straße einen Lichtreflex. Ihr Unterbewußtsein war auf solche verräterischen Spuren trainiert worden. Nancy machte eine schnelle Bewegung mit der Hand, fixierte gleichzeitig das Ziel mit ihren Augen und sah, wie hinter einer blinden Scheibe in einem anruckenden Gleiter ein Mann eine Waffe hob. Die Bewegung, mit der er den Lauf ins Freie schob, hatte ihn verraten. Einige Bewegungsabläufe geschahen gleichzeitig. Ma Chessare warf sich zur Seite und ging in die Knie. Gleichzeitig zog sie ihre Waffe, die sich automatisch entsicherte. Die Ein-
19 stellung des Strahlers war im Bereich mittlerer Leistung arretiert, und zwei Feuerstrahlen, begleitet von dem Donner der Abschüsse und der Einschlagenergie, zuckten blendend quer über die Straße. Sie trafen genau die Scheibe und verwandelten sie in glühende und schmelzende Trümmer. Nancy ließ sich nach hinten abrollen und spürte dicht über ihrem Gesicht die Glutbahn eines Schusses, der eine der schmalen Stahlsäulen des Klinikeingangs traf und halb zerfetzte. Nancy überschlug sich, kam wieder auf die Beine und hechtete auf das Gleitertaxi zu, das sie soeben erreichte. Auf der anderen Straßenseite startete der Gleiterpilot mit aller Maschinenkraft. Der Gleiter fegte im Zickzack zwischen aufkreischenden Passanten, anderen Fahrzeugen und den wuchtigen Stämmen der Alleebäume dahin und floh in die Richtung, die der Hauptstraße abgewandt war. Der Taxigleiter bremste hart, um einen Zusammenstoß mit einem sich querstellenden Gleiter zu vermeiden. Ma hob die Tasche auf, kontrollierte abermals die Umgebung und konnte erkennen, daß die Gefahr verschwunden war. Nur ein Geruch nach verbranntem Lack und verschmortem Kunststoff lag noch in der Luft. Die ersten Neugierigen versammelten sich. »Schnell weg hier!« murmelte Nancy und riß die Tür des Gleiters auf. »Hallo! Unruhige Gegend hier? Wohin, junge Frau?« sagte der Fahrer. Er sah wie aus wie jemand, der sich auf Abenteuer freute. »Erst einmal weg. Und kommen Sie nicht auf den Einfall, ich wäre nicht von der Geheimpolizei.« Die Tür glitt zu, als der Gleiter beschleunigte und schräg auf die Straße hinausraste, einem entgegenkommenden Lastengleiter auswich und auf der rechten Spur in den starken Verkehr auf der Hauptstraße einbog. Fünfzig Meter weiter versank die Piste unterhalb der Fußgängerplattform, die sich als riesiges Konglomerat von Büros, Cafes und Läden, Wohnungen und Dienstleistungsbe-
20 trieben über diesem Teil der Stadt New Taylor erhob. Der Gleiter raste mit dröhnender Maschine in den lichterfüllten Tunnel hinein. »Ein eifersüchtiger Liebhaber?« fragte der Taxifahrer. »Entschuldigen Sie meine Neugierde, aber man erlebt hier so selten …« »Nein. Jemand, der es nicht mag, wenn sich Leute darum kümmern, was in den Organbanken geschieht.« Der Taxifahrer kannte natürlich sämtliche Sensationsmeldungen. Da er sicherlich wußte, daß alle Organkliniken und Depots geschlossen worden waren, konnte er dies für eine richtige Erklärung halten. Außerdem waren die Wege von Gerüchten seltsam. Gerüchte verbreiteten sich meistens schneller und gründlicher als jede exakte Information. Dies war ebenfalls ein Mittel, mit dem die USO selten erfolglos arbeitete: Der Gegner wurde provoziert und zu unvorsichtigen Vorstößen aus seiner Deckung gebracht. »Offiziell?« »Ich bin von der United Stars Organisation. Es wimmelt auf Plophos von meinen Kollegen. In Kürze werden wir herausgefunden haben, wer für die Präparate des Wahnsinns verantwortlich ist.« »Ich verstehe!« murmelte der Taxifahrer. »Und wohin wollen Sie?« Nancy nannte die Adresse einer kleinen, halb staatlichen Organbank. Sie lag etwa zehn Minuten Fahrzeit entfernt. Der Pilot des Gleiters betrachtete sie immer wieder verwundert in seinem Rückspiegel und fragte sich vermutlich, ob sie irre war oder die Wahrheit gesagt hatte. Aber immerhin hatte er ihre Abwehrreaktion mit angesehen. Durch eine bestimmte Abart des autogenen Trainings beruhigte Ma ihre aufgeregten Nerven und lächelte kurz. Der Gegner war also bereits tätig. Das bedeutete, daß es einen Gegner gab. Das wiederum rief eine lange Assoziationskette hervor. Alle negativen Annahmen, die sie und einige andere Menschen hatten, stimmten! Die Zwischenfälle, die man auch als
Hans Kneifel schwerwiegende, aber im innenpolitischen Rahmen bedeutungslose Pannen hätte deuten können, waren die Vorboten eines geplanten Verbrechens! Jemand verwendete die Patienten als Werkzeuge. Wer und wofür – das war unbekannt. Ich sehe nicht einmal die Spitze eines Eisberges, der zu neun Zehnteln unter der Wasserlinie schwimmt. Ich sehe höchstens ein paar Eiskristalle! dachte Nancy und fragte den Piloten: »Wohin bringen Sie mich eigentlich? Zum Nachbarplaneten?« Sie rasten eine schmale Straße entlang, die zwischen weißen, bewachsenen Mauern verlief und jetzt im abendlichen Schatten riesiger Bäume lag. Nur wenige Gleiter kamen ihnen entgegen. »Zu Ihrem Ziel, junge Frau«, erwiderte der Pilot. »Es liegt etwas abseits, aber der Anblick wird Sie voll entschädigen.« Die Straße machte eine leichte Kurve, senkte sich und hob sich wieder. Dann öffnete sich das Gelände. Die Bäume wichen zurück und bildeten, unterbrochen von einem dünnen Zaun, eine Kulisse. Die abendliche Sonne fiel voll auf ein erstaunliches Bauwerk und modellierte in rotem Licht die Vorsprünge, Erker und Verzierungen hervor. Nancy stöhnte auf. »Habe ich Ihnen zuviel versprochen? Das ist die Griegh-Rebinsoon-Klinik. Eine der exklusivsten, wenn Sie etwas Neues, Unabgenütztes brauchen. Merkwürdig – Sie sehen noch recht unbenutzt aus. Außerdem sind sämtliche Kliniken geschlossen.« Nancy grinste und erwiderte: »Mac, noch so eine Bemerkung, und du hast dich um das Trinkgeld geredet, klar? Zum Haupteingang, aber schnell!« Anerkennend pfiff der Pilot durch die Zähne und setzte sie zwischen zwei Säulenstümpfen ab, auf denen weiße Figuren standen, die ihrerseits ein Dach trugen, das eines Tempels würdig war. Das ganze Gebäude war ein unglaublich kitschiger Anachronismus. Neben dem Eingang las Nancy, nachdem
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sie gezahlt und ein Trinkgeld gegeben hatte, auf einer grünfleckigen Kupfertafel folgenden Text: IM ANDENKEN AN EBENEZAAR REBINSOON, DEN BEGRÜNDER DIESES HAUSES, DEM SCHÖPFER GALAKTISCHEN RUHMES, DEM STAMMVATER EINER GENERATION DERER, DIE IM DIENST DER GESUNDHEIT UND SCHÖNHEIT WIRKTEN »Fabelhaft!« sagte Nancy und betätigte einen Summer, der die blankpolierte Nase eines heraldischen Löwenkopfes war, der, eingebettet in Zweige, Ritterhelme, Injektionsspritzen und Pillendosen das Zentrum eines prunkvollen Wappenschildes bildete. Hinter einer getäfelten Tür ertönte ein Glockenspiel. »Ausgesprochen verblüffend!« kommentierte Nancy und wartete geduldig. Hinter der Tür näherten sich leichte Schritte.
5. Das Haus hatte als Grundform kubische Züge. Es war von einem Rasen in aufdringlichem Grün umgeben. Der Sockel des Gebäudes bestand aus sorgfältig bearbeitetem Granit-Rustiko. Darüber erhoben sich zerklüftete Mauern aus weißem Stein mit buntschillerndem Fugenmaterial. Etwa dreißig hohe, sich über vier Stockwerke nach oben hinziehende Erker befanden sich allein an der Vorderfront Sie alle liefen ausnahmslos in schlanke Spitzkegel aus, die wie verchromtes Metall wirkten und in eine lange Spitze ausliefen. Kleine und große rechteckige Fenster befanden sich in langen Reihen an der Front. Sie wirkten wie Spielzeugöffnungen in einem aufgeblasenen Puppenhaus. Sie wucherten förmlich an den Erkern und den Zinnen. Und zu allem Überfluß wuchs aus eingebauten Kästen voller Humus eine grüne Flut kleinblättriger Gewächse über die Vorderfront und verschwand um die Ecken und in einer Dachrinne aus gehämmerten, stumpfen Messing. Ma wunderte sich überhaupt nicht, als die Tür knarrend aufging. Sie hatte
dieses Geräusch förmlich herbeigesehnt und wäre enttäuscht gewesen, wenn sich das schwere Holzportal lautlos geöffnet hätte. Ein junges Mädchen in einem strengen, bis zum schlanken Hals geschlossenen bodenlangen Kleid sah ihr entgegen und fragte mit kindlichleiser Stimme: »Miß Chessare?« »So ist es. Übrigens: Nett haben Sie's hier.« Das Mädchen lächelte zögernd und erklärte: »Es ist seit dem Tod von Sir Ebenezaar nichts verändert worden.« Die Tür schloß sich. Das Knarren wirkte in der großen Halle wie eine Fanfare. Erstaunt sah sich Ma um, das Innere der Klinik war erstens ruhig und zweitens mit Geschmack, Können und großem Aufwand eingerichtet. In einem echten alten Kamin loderte ein echtes Feuer aus echtem Holz. »Sie wissen, daß wir geschlossen haben. Trotzdem werden Sie von den Herren Griegh und Rebinsoon erwartet. Kann ich Sie zu ihnen bringen?« »Nancy Chessare ist mein Name. Ich werde Sie alle nicht lange aufhalten. Darf ich zuerst einmal ein Gespräch führen? Nur innerhalb der Stadt.« »Natürlich. Bitte in mein Büro!« Nancy wählte die Nummer, die sie auch Kerima gegeben hatte. Sie erhielt augenblicklich Verbindung. Folus sah sie aus großen, erstaunten Augen an. »Opa ist beinahe umgekommen!« sagte er anstelle einer Begrüßung. »Eine Baumaschine raste auf ihn zu und wollte ihn an einer Wand zermalmen.« »Ist ihm etwas passiert?« war die bange Frage. Stuckey schüttelte den Kopf. Er lächelte ein wenig, als er weitersprach: »Opa hat eine erstaunliche BeinaheEntdeckung gemacht, aber er kam nicht weiter. Noch fehlen Beweise. Wo bist du?« »Adresse sieben, Pa! Holt mich ab, ja? In einer Stunde könnt ihr hier sein, wenn ihr nicht allzu schnell fahrt!« »Wird gemacht. Bis gleich.«
22 »In Ordnung.« Der Schirm wurde dunkel, und das junge Mädchen betrachtete Nancy jetzt fast ehrfürchtig. Sie sagte: »Darf ich Sie jetzt zu den Herren Griegh und Rebinsoon bringen?« »Mit Vergnügen!« erwiderte Nancy. Unbegreiflicherweise schienen ihr die Mitteilungen keinen Schrecken eingejagt zu haben. Was vorhin noch ein starker Verdacht gewesen war, wurde jetzt zur Gewißheit. Eine Gruppe von Verbrechern fühlte sich gestört und versuchte, die Störenfriede zu töten. Der zweite Anschlag hatte Opa gegolten, und der dritte und andere würden folgen. Langsam folgte Ma Chessare dem Mädchen eine teppichbelegte Wendeltreppe aufwärts und gelangte in einen Raum, an dessen Seite sich eine auffallende runde Ausbuchtung zeigte; es war das Innere eines der vorspringenden Erker. Zwei Männer warteten bereits. Ihre Gesichter waren ernst und angespannt. Sie stellten sich vors und dann setzten sie sich in eine runde Anordnung aus Sesseln, Bänken, Polsterteilen und Tischen, die den Alkoven ausfüllte. Das Mädchen brachte Getränke, Zigaretten, Eis und Gläser und entfernte sich diskret. »Ich nehme an, Sie wissen genau, worum es sich handelt«, eröffnete derjenige Mann, den sie als Griegh kannte, das Gespräch. Er war mittelgroß und hatte das Gesicht eines Mannes, der ununterbrochen im Freien arbeitete. Nancy nickte kurz und erklärte: »Ich bin bei Ihnen, um Ihnen einige Denkanstöße zu vermitteln.« »Das erstaunt mich. Die Besuche von Mitgliedern der Untersuchungskommission waren sehr zahlreich. Es wurde sehr viel gefragt und sehr viel geantwortet. Die Denkanstöße waren nicht wesentlich.« Nancy korrigierte mit einem sarkastischen Lächeln: »Ich sprach von meinen Denkanstößen. Fassen wir zusammen: Nach Bekanntwerden der ersten tragischen Todesfälle und Unglücke wurden sämtliche einschlägigen Kli-
Hans Kneifel niken geschlossen. Es ist derzeit auf Plophos nicht möglich, ein Ersatzorgan zu erhalten oder eine Austauschoperation durchführen zu lassen. Richtig?« »Richtig!« bemerkte Rebinsoon verärgert. »Kamen Sie, um uns das zu sagen?« Nancy verneinte und fuhr fort: »Die Untersuchungen haben auch ergeben, daß aus keiner einzigen Organbank auch nur ein einziges Teil gestohlen wurde. Ist bei Ihnen eingebrochen wurden?« »Ja«, sagten Rebinsoon und Griegh wie aus einem Mund. »Während wir abwesend waren, schienen sich Neugierige in dem kleinen Depot gründlich umgesehen zu haben. Es wurde nichts gestohlen. Nicht einmal eine tiefgekühlte Fingerkuppe.« Er lachte herzlich. Nancy wartete, bis sich seine Heiterkeit gelegt hatte, dann meinte sie wie nebenbei: »Sie sind ein kleines, aber feines Institut. Sie arbeiten mit der exquisiten Kundschaft zusammen, verlangen hohe Preise und bieten Vorzügliches. Dabei werden Sie von der Regierung unterstützt, aber auch kontrolliert. Haben Sie eine Ahnung, warum jemand bei Ihnen einbricht? Nur um sich Ihr Depot anzusehen?« Die Männer warfen sich unsichere Blicke zu. Nancy trank mit einem heiteren Lächeln ihr exotisches Getränk aus und fragte sich verzweifelt, ob diese Menschen, einschließlich der Mitglieder des Untersuchungsausschusses, noch niemals etwas mit Verbrechen oder ähnlich schwierigen Problemen zu tun gehabt hatten – sie waren von einer Ahnungslosigkeit, die sie bestürzte. »Zu welcher Vermutung sind Sie gekommen?« erkundigte sie sich vorsichtig. »Wir haben keine Ahnung. Es ist rätselhaft!« »Es ist alles andere als rätselhaft. Aber offensichtlich kommt man nur als Mensch mit gesundem Mißtrauen auf folgende Überlegungen. In keiner einzigen Klinik oder Organstation wurde etwas gestohlen. Weder ein Organ noch ein Körperteil. Nicht einmal chirurgische Instrumente oder
Jagd auf Plophos sterile Handschuhe. Wenn jemand die Kliniken besichtigen wollte, hätte er einen Termin ohne Schwierigkeiten bekommen und sich alles genau ansehen können; schließlich führt jede Klinik im Rahmen der Eigenwerbung Besichtigungen durch. Diebstahl, Werkspionage oder Neugierde schließen wir aus. Außerdem macht uns stutzig, daß ausnahmslos alle einschlägigen Institute heimgesucht wurden.« Griegh flüsterte verblüfft, indem er sich über den niedrigen Tisch beugte: »Und was meinen Sie?« »Wir meinen«, sagte Nancy seelenruhig, »daß die Wahrscheinlichkeit besteht, daß Organe, Hautteile, Extremitäten oder andere Teile der Banken ausgetauscht worden sind.« »Ausgetauscht?« Rebinsoon sprang erregt auf und fuchtelte mit den Armen. »Sie sagten: ausgetauscht?« »Sie haben sich keineswegs verhört!« versicherte sie. »Ich kann Ihnen keine Befehle oder Anordnungen erteilen. Aber versuchen wir es einmal mit einem Denkmodell: Sie ersuchen eine größere Menge der zur Zeit arbeitslosen Pathologen und gehen mit ihnen jedes der vorhandenen Präparate durch. Lassen Sie es durch die Norm-Testreihe gehen! Ich bin sicher, daß Sie erstaunliche Ergebnisse finden werden. Und jetzt sehe ich einen Gleiter dort unten; ich werde abgeholt.« Sie stand auf und klappte ihre Handtasche zu, nachdem sie eine Karte hervorgezogen und etwas daraufgeschrieben hatte. »Am Ergebnis wären wir sehr interessiert. Nicht nur wir, sondern auch Awrusch und Terlahe.« Sie legte die Karte auf den Tisch und wandte sich zur Tür. In die beiden Mediziner kam Bewegung. Sie sprangen wieder auf und brachten sie hinunter vor das Portal des Hauses. Sie versicherten immer wieder, daß sie überrascht wären und versuchen würden, den Ratschlag in die Tat umzusetzen. »Wohlgemerkt!« sagte Nancy, als sich der Gleiter näherte und sie zu ihrer Erleichte-
23 rung Opa und Stuckey erkannte, »ich habe Ihnen eine Empfehlung gegeben, keine Anordnung erteilt. Ich vertrete keinesfalls die Regierung von Plophos oder gar Mory Abro. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Wir sind nicht begriffsstutzig!« sagte Griegh und schüttelte ihre Hand, als würde er versuchen, auf diese Weise seinen Dank für die Erkenntnisse abzustatten. Rebinsoon begnügte sich damit, schweigend ihre Hand zu ergreifen und an seine Lippen zu heben. Der Gleiter bremste, und die beiden Männer stiegen aus. Stuckey blickte Griegh und Rebinsoon an, als wären sie persönliche Gegner, dann knurrte er: »Ich sehe, du hattest deinen Auftritt. Dürfen wir dich mitnehmen?« Sie ergriff seinen Arm, lehnte sich an ihn und sagte: »Ich habe die Stunden, die ich ohne dich war, ununterbrochen gezittert, Pa!« Er half ihr in den Gleiter und schien erst jetzt das bemerkenswerte Gebäude richtig zu sehen. Irritiert schüttelte er den Kopf und winkte den beiden Ärzten zu und dem Mädchen, das in der offenen Tür stand und augenblicklich die Szene voller Unverständnis betrachtete. »Rede nicht solchen Unsinn! Bedaure mich lieber!« knurrte Opa, grüßte majestätisch und lenkte den Gleiter in einer Kurve vom Portal weg. »Verdammt!« sagte Stuckey wütend. »Sie hätten Thow beinahe umgebracht. Sie haben uns im Fadenkreuz.« »Den Eindruck hatte ich heute auch schon – auf überzeugende Art!« bestätigte Nancy. »Du, Stuckey, scheinst noch einmal davongekommen zu sein?« »Noch!« knurrte er. Opa schien, wie meist in ihren Einsätzen, eine teuflische Freude zu haben, den Gleiter zu steuern. Er raste die schmale Straße entlang, als gelte es, ein Rennen zu gewinnen. »Was ist passiert, Opa?« fragte Nancy mitfühlend. Sie liebte diesen Mann, als sei es ihr Vater. »Ich muß fahren! Er soll erzählen!«
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brummte Thow und schob den Unterkiefer vor. »Schon wieder ich!« stöhnte Stuckey und begann zu sprechen: »Opa nahm die größte Organbank, von der Regierung des Planeten selbst betrieben, aufs Korn. Zuerst hatte er einige Schwierigkeiten, den Direktor zu sprechen, aber du kennst ja seine Art. Er war in Kürze dort, wo er hinwollte.« Nancy murmelte: »Vor der Tür?« »Hinter der Tür des Büros des obersten Chefs!« sagte Opa und zog den Gleiter in die unübersichtliche Kurve.
* Opa Thow Tanza war kein Mann der großen Umwege, wenn er auch nur die geringste Möglichkeit sah, den schnellen und geraden Weg zu gehen. Im besonderen haßte er die zahlreichen Barrieren zwischen dem Eingang eines Gebäudes und dem Schreibtisch des obersten Verantwortlichen. In diesem Fall ging er mit der Gewalt einer Erdbewegungsmaschine und der Geschwindigkeit eines rasenden Gleiters vor. Er schob also Sekretärinnen zur Seite, öffnete Türen und hielt dem Direktor seine Legitimation unter die Nase. Gleichzeitig ließ er diskret seine Waffe sehen. »Ich bin befremdet, aber mir bleibt zweifellos kaum wohl anderes übrig, als mir Ihre aufdringliche Art bieten zu lassen!« Thow setzte sich auf die Rückenlehne eines schweren Sessels, steckte die Hände in die Taschen und knurrte bissig: »Sie sind ein Stümper!« Der Direktor war alles andere als ein Stümper. Er koordinierte die Arbeiten und gab die Direktiven für diese riesige Anlage. Dutzende von Operationen wurden in normalen Tagen hier durchgeführt, Hunderte von Patienten lagen normalerweise in dem hochmodernen Kliniktrakt. Aber Opa erkannte mit der untrüglichen Erfahrung seines Berufes, daß der Mann vor ihm aufge-
rüttelt werden mußte. »Ich darf wohl annehmen, daß Sie sich versprochen haben, Sir!« meinte der Direktor. »Nein. Ich habe mich nicht versprochen. Ich bin hier, um bestimmte Dinge aufzuklären. Ich bin auf der Spur eines Verbrechens, das größere Kreise ziehen wird, als Sie sich vorstellen können. Und das Verbrechen wird Sie an Ihrer empfindlichsten Stelle treffen!« Der Direktor zwinkerte überrascht. Er schwieg und wartete. »Werden Sie deutlicher!« brachte er schließlich hervor. »Gern!« Thow musterte den Direktor. Ein großer, schlanker Mann, vertrauenswürdig und gescheit. Er war ruhig und blickte Thow aus blauen Augen an. Diese Augen waren im Augenblick verwirrt. Er wußte nicht, was er von diesem kleinen, gedrungenen Mann halten sollte, der hier saß wie ein grob behauener Felsen. »Sie wissen, daß in Ihrer Organbank eingebrochen wurde. Als Sie nachsehen ließen, stellten Sie fest, daß nichts fehlte. Ich halte Sie für einen hochintelligenten Menschen, aber Sie kennen die dunklen Seiten dieses schmutzigen Gewerbes nicht. Was zum Teufel dachten Sie eigentlich? Warum drangen unbekannte Täter bei Ihnen ein?« Der Direktor flüsterte: »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es! Die Untersuchungskommission …« Tanza erwiderte angriffslustig: »Es sind noch größere Stümper. Sie kamen nicht einmal auf die nächstliegende Idee.« »Sie meinen …« »Ich meine, daß derjenige oder diejenigen, die hier und andernorts eingedrungen sind, dafür einen Grund hatten. Haben Sie vielleicht schon einmal an eine Bestandsaufnahme Ihrer Präparate gedacht?« »Sie wurde durchgeführt und ergab, daß nichts gestohlen wurde.« Thow nickte zufrieden. »Dachten Sie und Ihre Kollegen vielleicht
Jagd auf Plophos daran, daß der Zweck eines Einbruchs nicht unbedingt das Entwenden von Gegenständen sein muß?« Zögernd mußte der Direktor zugeben: »Ich dachte nicht daran. Meine Kollegen, soviel ich weiß, auch nicht.« »Die Unglücksfälle bewiesen bisher eindeutig, daß Patienten der Kliniken auf Plophos die Opfer sind. Keine anderen Menschen. Jeder der angeblich Wahnsinnigen war Kunde eines Instituts.« »Richtig.« »Richtig! Das ist alles, was Sie antworten können!« sagte Opa wegwerfend. »Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Nehmen Sie einen bestimmten Sektor und untersuchen Sie jedes einzelne Präparat. Sie werden zu bestürzenden Ergebnissen kommen. Noch sicherer wäre eine Untersuchung aller Präparate. Das Ergebnis dürfte geradezu aufsehenerregend sein.« »Ich muß Sie abermals fragen: Wie meinen Sie das?« »Ich meine, daß diese Einbrüche einem bestimmten Ziel dienten. Die Herren Einbrecher, deren Anzahl und Schlagkräftigkeit bereits auf ein gigantisches Verbrechen hindeutet, wollten nichts stehlen. Sie wollten auch nicht Werkspionage treiben. Auch hatten sie keine Veranlassung, Ihre Kühlzellen, Maschinen und Roboteinrichtungen zu kontrollieren.« »Sondern …?« wisperte der Direktor. »Sondern sie tauschten einige der Präparate um. Und genau die Ersatzteile, die sie gegen gleichwertige umtauschten, waren jene, die bei bestimmten Patienten zu den planetenweit bekannten Reaktionen führten.« Der Direktor schüttelte den Kopf. Seine nächste Reaktion war bezeichnend. Er stand auf und ging unschlüssig hinter seinem prunkvollen Schreibtisch hin und her. Schließlich blieb sein Blick auf dem Kästchen kleben, das die privaten Zigaretten enthielt. Er griff danach, ließ den Deckel aufspringen und kam um den Schreibtisch herum. »Bitte, rauchen Sie?« sagte er.
25 Opa rauchte alle anderen Marken, aber nicht diese. Trotzdem nahm er eine Zigarette und gestattete dem Direktor, ihm Feuer zu geben. »Möglicherweise haben Sie recht, Spezialist!« sagte niedergeschlagen der Direktor. Er machte plötzlich einen gealterten Eindruck; die Erkenntnis suchte ihn heim und brachte sein geordnetes Weltbild in starke Unordnung. Aber je länger er über die Erklärung des USO-Spezialisten nachdachte, desto plausibler klangen die eben geäußerten Gedanken. »Bestimmt habe ich recht. Ich riskiere es, eine Wette einzugehen!« sagte Opa und streifte die Asche der Zigarette ab. »Was kann ich tun, um Gewißheit zu haben?« Thow stand auf und reckte kampflustig seinen Unterkiefer vor. »Ich stehe in einem gewissen delikaten Verhältnis zu dem Stellvertreter des Obmannes. Außerdem scheint Mister Alvmut Terlahe die Art unseres Vorgehens nicht recht zu schätzen. Ich kann Ihnen deshalb bestenfalls eine Empfehlung geben oder einen Rat.« »Ich bitte Sie darum!« Das kam tonlos und resignierend. Der Direktor hatte endlich begriffen, daß er Teil einer Auseinandersetzung war, die galaxisweit werden konnte. Endlich wußte er, daß sich das straff organisierte Verbrechen auch in seinen ruhigen Lebenskreis geschoben hatte. »Lassen Sie möglichst viele Präparate sehr genau untersuchen. Nach Möglichkeit nach dem statistischen Muster des chronologischen Querschnitts. Sie werden mit größter Sicherheit feststellen müssen, daß ein bestimmter Prozentsatz Veränderungen zeigt.« Mit bebenden Fingern brannte sich auch der Direktor eine Zigarette an. »Veränderung welcher Art?« Opa hob seine Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber für Sie und Ihre Leute dürfte dies die geringste Schwierigkeit sein. Und da ich nun gesagt habe, was zu sagen war, werde ich mich verabschieden. Guten Abend.«
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Opa stand auf und zerdrückte den Zigarettenrest. Er wandte sich zur Tür. Der Direktor machte einige lange Schritte, überholte ihn und legte die Hand auf den Öffnungskontakt. »Warten Sie!« sagte er laut und schwer atmend. »Worauf?« Thow Tanza genoß seinen Triumph nur kurze Zeit. Er schüttelte die Hand des Direktors und drehte sich halb herum. »Auf meinen Dank. Wie oder wo kann ich Sie erreichen?« Opa grinste breit und erwiderte: »Fragen Sie Awrusch oder Terlahe nach uns. Sie werden sich ärgern, aber sie werden die Ergebnisse an uns weiterleiten.« Noch einmal schüttelten sich die Männer die Hände, dann bewegte sich Opa, kommentiert von den verblüfften Sekretärinnen, Wachbeamten und all denen, die ihm vorher den Eintritt verboten hatten, hinunter in die Halle.
* »Weiter?« fragte Nancy. »Ich erzähle gleich weiter«, bemerkte Opa und deutete nach vorn, »wenn wir dieses Hindernis genommen haben. Es ist doch immer die alte Masche! Fiele ihnen nur einmal etwas Neues ein!« Ma und Pa hoben die Köpfe und spähten durch die Frontscheibe. Die Kegel der Scheinwerfer beleuchteten die Fahrzeuge, die vor ihnen die Straße blockierten. Sperrschilder und uniformierte Beamte bevölkerten die einsame Straße, direkt zwischen den weißen Mauern – dort, wo sie am engsten aufeinandertrafen. »Eine Falle!« sagte Nancy entgeistert! »Seit eintausend Jahren immer wieder derselbe Trick!« knurrte Opa. Dann handelte er mit gewohnter Schnelligkeit. Alle drei USO-Spezialisten hielten die entsicherten Strahlwaffen in den Händen. Denn dies war eine tödliche Falle. »Festhalten, Kinder!« rief Opa rauh.
6. Innerhalb von drei Sekunden erreichte der schwere Regierungsgleiter seine Höchstgeschwindigkeit. Sie lag bei etwa zweihundertfünfzig Stundenkilometern. Opa schaltete die Scheinwerfer aus, hielt sich scharf links und steuerte geradewegs auf die Straßensperre zu. Nancy und Stuckey zogen ihre Köpfe zwischen die Schultern und rutschten tief in ihre Sitze. Der Fahrtwind heulte durch die offenen Fenster des Gleiters. Brummend und mit höchsten Touren arbeiteten die Maschinen. »Achtung!« Ma und Pa zielten kurz und feuerten rechts und links aus den Fenstern. Vor ihnen flogen die Barrieren nach allen Richtungen auseinander. Sperrschilder wurden von der Wucht der Detonationen meterweit weggeschleudert und krachten gegen die Mauern. Dann riß Thow an einem Hebel. Der Gleiter hob die Schnauze, dann das Heck. Er raste auf die Männer und die Fahrzeuge zu. Er entfernte sich mehr und mehr vom Boden, aber das Limit lag bei drei Metern. Wie ein dahinrasendes antikes Geschoß steuerte der Gleiter geradeaus. »Feuert schneller, Freunde!« Die Engstelle der Straße war von flammenden Blitzen und aufleuchtenden Feuerbällen in grellrotes Licht getaucht. Donnernd krachten die Entladungen. Das Echo rollte zwischen den Mauern hin und her. Zehn Meter vor der Sperre schaltete Opa sämtliche Scheinwerfer ein. Die Gegner wurden geblendet. In dieser Beleuchtung erkannten die Spezialisten im Bruchteil einer Sekunde, daß die Tarnung fast perfekt war. »Es geht gleich vorbei!« schrie Thow. Der Gleiter machte einen Satz, sprang über die Sperren und die Dächer der Fahrzeuge und raste weiter. Die Gruppe zwischen den Mauern blieb zurück. Einige Schüsse, die dem Gleiter nachgeschickt wurden, verfehlten ihr Ziel. Opa verringerte die Geschwindigkeit und
Jagd auf Plophos senkte den Gleiter wieder auf das normale Niveau über dem Boden ab. »Sie schießen sich auf uns ein!« stellte er fest. »Und vor allem so schnell!« Nancy ordnete ihr Haar, das während der rasenden Fahrt in Unordnung geraten war. Thow hatte bereits das Funkgerät eingeschaltet und verständigte die Polizei von dem Zwischenfall und schilderte den Standort der verkleideten Polizisten. Endlich konnte Stuckey sprechen. »Sie scheinen genau über alle unsere Schritte Bescheid zu wissen, unsere geheimnisvollen Gegner. Das ist einerseits gut, weil die Dinge unaufhaltsam in Bewegung geraten. Andererseits ist es schlecht, weil wir dabei gefährdet werden. Aber auch Terlahe wird gezwungen, sein Konzept neu zu überdenken.« Das war der letzte Beweis, den sie noch brauchten. Der Gegner war aufmerksam geworden und handelte. Er schickte einen Trupp verkleideter Verkehrspolizisten an die unübersichtlichste und engste Stelle der Straße. Hätten sie angehalten, um sich der scheinbaren Verkehrskontrolle zu unterziehen, wären sie gestorben. Nur ihre in Gefahren geschärften Sinne und das dauernde Mißtrauen gegenüber jedem Unregelmäßigen hatten sie gerettet. Opa beendete sein Gespräch und sagte die Route durch, die sie bis zum Regierungshotel benutzen wollten. Nancy gelang es, sich eine Zigarette anzuzünden. Sie lehnte sich entspannt in die Polster zurück, betrachtete die Finger und stellte erleichtert fest, daß ihre Hand nicht zitterte. »Wie ging dein Abenteuer aus, Opa?« wollte sie wissen. »Erzähl's ihr!« forderte Thow Tanza Stuckey auf. »Muß das ein?« »Man sollte die Pointen einer Geschichte nicht verschweigen!« belehrte ihn Opa. »Los!« Es blieb Pa nichts anderes übrig, als die Geschichte, die ihm Opa erzählt hatte, wie-
27 derzugeben. Beziehungsweise deren Schluß.
* Thow Tanza verließ das Gebäude der riesigen Organbank. Er trat hinaus in das Licht des Nachmittags. Eine riesige Konstruktion, die er bereits interessiert betrachtet hatte, als er seinen Gleiter geparkt hatte, lenkte seine Aufmerksamkeit abermals auf sich. »Was die Technik alles hervorgebracht hat …«, murmelte er. Ein Gerüst, das sich fast vollrobotisch selbst ausfaltete, versehen mit mechanischen Lifts für den Materialtransport und dem Ballast, der aus Gebäudeplatten bestand. Roboter, von Technikern in hellen Overalls überwacht, arbeiteten an der Fassade eines Nebengebäudes. Langsam schlenderte Opa in die Richtung des Gleiterparkplatzes, der in schwarzen Schatten von Bäumen und einem kühn geschwungenen Zeltdach lag. Summend und knackend arbeiteten die Maschinen. Sie holten die puzzleartig zugeschnittenen Platten von dem Materialstapel, transportierten sie mit einem der Lifts nach oben und schleppten sie dann auf die Arbeitsbühne, die an einem riesigen Ausleger bewegt wurde. Dicke Energiekabel liefen von einer fahrbaren Meilerstation zu dem Gerüst und ringelten sich wie gelbe Schlangen durch das Gras. Opa blieb unweit der Absperrung stehen und legte seinen Kopf in den Nacken. Die Roboter verfuhren nach einem genauen Plan. Sie hielten die Platten an die betreffenden Stellen, und andere Maschinen mit hydraulischen Armen preßten sie fest und kontrollierten den Sitz. Dann wurden große Ziernieten in den Hintergrund der Platten geschossen. Die gedämpften Explosionen waren bis hier auf den Parkplatz zu hören. »Sehr beeindruckend!« Thow sah sich um. Er wollte den eigenartigen Charakter einer Organbank feststellen. Aber alles was er sah, war wenig beeindruckend – in diesem Sinn. Die Gebäude ähnelten ausnahmslos einem riesigen Klinik-
28 viertel, wenn auch einem der modernsten, das er jemals gesehen hatte. Alles schien sehr neu zu sein und war mit einem gewaltigen Aufwand an Geld in die Landschaft integriert worden. Nichts von den Geheimnissen, an die man unzweifelhaft dachte, wenn man an den Austausch von Organen und Gliedmaßen dachte, vor Jahrhunderten noch eine kühne Idee, ähnlich derjenigen, die dem Menschen ein weitaus höheres Lebensalter zuweisen wollte. Es war alltäglich geworden, wenigstens für Plophos. Dieser Planet besaß, im größeren Rahmen, das Monopol für derartige Operationen und die dazu notwendige Technologie. Opa sah auf die Uhr und ging weiter. Als er etwa ein Dutzend Schritte hinter sich hatte, machte ihn eine deutliche Unregelmäßigkeit der Explosionen stutzig. Er blieb stehen und sah wieder nach oben. Im selben Augenblick ertönte eine harte, sehr laute Detonation. Einer der schweren Hydraulikarme war herumgeschwenkt und richtete das röhrenförmige Werkzeug mit dem großen Magazin und den energetischen Zuführungen auf ihn. »Verdammt!« schrie Opa. Er warf sich vorwärts und versuchte, einige Baumaschinen zwischen sich und die verrückt gewordene Automatik zu bringen. Ein fingerdicker, halb glühender Bolzen heulte an ihm vorbei und drehte sich in der Luft. Als er in den Rasen einschlug, riß er ein kopfgroßes Stück davon auseinander. Wieder eine Detonation, dann eine dritte – sie folgten einander schneller und schneller. Im Rasen zeichnete sich dort, wo eben noch Opa gestanden war, eine Spur aus lauter kleinen Kratern ab. Sie bewegten sich deutlich auf ihn zu. Er rannte hakenschlagend auf die Baumaschinen zu. Die Maschine verfolgte ihn! Zwischen die schnellen Explosionen, die wie die Abschüsse einer schweren automatischen Waffe klangen, mischten sich andere Geräusche. Aufgeregte Schreie des Kontrollpersonals, eine Warnsirene, dann eine Serie glockenähnlicher Töne. Zwischen dem
Hans Kneifel robotischen Schützen und Opa hatten sich die Röhren und Platten des Gerüstes geschoben. Die Bolzen hämmerten gegen die stählernen Verstrebungen, lösten dort ein tiefes, donnerndes Geräusch aus und wurden abgelenkt. Sie fielen mit geringer Energie rund um den Fuß des Gerüstes. Endlich hatte Thow die Maschinen erreicht. Er hechtete rücksichtslos zwischen einem Stapel Meßlatten hindurch, die klappernd nach allen Seiten auseinanderfielen. Dann robbte er unter den öltriefenden Bauch einer schwefelgelben Kompressoranlage, die auf den Abtransport wartete. Die Sirene wimmerte noch immer. Die Explosionen wurden langsamer und hörten schließlich auf. Jemand hatte die Energiezufuhr unterbrochen. Wieder schrien Männer auf. Schließlich senkte sich einer der Ausleger von seinem Platz an der Fassade in einem halben Kreis herum und landete mit einem ungeheuren Krachen auf dem Kompressor. Dann herrschte eine Ruhe, die Opa in den Ohren rauschte. Er schob sich vorsichtig wieder rückwärts und kroch zwischen zerknitterten Blechen verbogenen Trägern und funkensprühenden elektrischen Kontakten heraus und hütete sich, einen metallenen Gegenstand zu berühren. Das Gras unter seinen Knien und Fingern prickelte und war elektrisch aufgeladen. Mit einer Reihe von Sprüngen brachte sich Opa in Sicherheit und blieb erst stehen, als er sich neben seinem Gleiter an die Bordwand eines anderen Gerätes lehnte. »Sie scheinen verdammt gute Möglichkeiten zu haben! Geradezu artistisch, wie sie die Robots manipulierten!« Er brauchte eine halbe Stunde, um den Männern und den Polizisten zu erklären, daß ihm nichts fehlte und wer er war. Das Verfahren selbst, wußte er, war dramatisch, aber grundsätzlich technisch einfach. Jemand brauchte sich »nur« zwischen die Steuerung der Robotmaschinen oder teile zu schalten. Dann konnte er mit einer Reihe
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einfacher Befehle ein harmloses Werkzeug in eine tödliche Waffe verwandeln. Ein oder zwei Sekunden Zögern hätten Opa umgebracht. Er freute sich, daß er trotz seiner Jahre noch so reaktionsschnell gehandelt hatte. Also machte sich das Training der USO doch bezahlt! »Und dann«, schloß Opa Stuckeys Bericht ab, »fuhr ich zu Stuckey, der in einer Nährtank-Abteilung versuchte, die Wissenschaftler auf naheliegende Gedankengänge zu bringen. Den Rest kennst du – hier sind wir!« Stuckey Folus schwieg. Er war bestürzt. Das nächste Ziel des unbekannten Gegners würde er selbst sein. Das Gute war nur, daß jetzt Awrusch und Terlahe reagieren mußten. Und zwar so, wie es die Familie wünschte.
7. Ihn störte nur das Summen der unsichtbaren Projektoren, von denen das Abwehrfeld aufgebaut wurde. Stuckey Folus saß inmitten einer ordentlich gestapelten und ausgebreiteten Menge von Berichten und RecorderKassetten. Es war das zusammengetragene Material von einigen Tagen und vielen Besuchen, die zum Teil sogar in anderen Teilen des Planeten stattgefunden hatten. Die Familie hatte gründlich recherchiert und überall Zweifel und Unglauben verbreitet. Es gab niemanden innerhalb der angegriffenen Institutionen mehr, der nicht ständig daran dachte, was Folus, Tanza oder Chessare gesagt hatten. Inzwischen stand es fest: »In keiner betroffenen Organbank wurde jemals ein Organ oder ein Körperteil gestohlen. Aber es wurde in achtzig Prozent aller Organbanken eingebrochen; diese Zahlen stammen aus den Unterlagen der Untersuchungskommission. Überall dieselben Ergebnisse. Man hatte nach den Einbrüchen die Soll-Listen mit den Ist-Listen verglichen und immer festgestellt, daß die Zahlen der
vorhandenen Präparate gleich geblieben waren.« »Völlig klar. Niemand mit einem Funken Hirn und Vorstellungskraft würde etwas anderes vermuten!« Folus hatte von allem Anfang an nichts anderes gemeint; aber seine Arbeit verlangte, daß er sich an die Tatsachen hielt. Hier hatte er die Tatsachen. Und wenn es Doktor Agasamu riskierte, seinen Vorschlag richtig umzusetzen, dann hatte er einen Beweis dafür. Opa und Ma waren nicht hier; sie stellten Ermittlungen an und versuchten, zu Jalzaar Awrusch vorzudringen. »Und ich werde Agasamu besuchen.« Folus war allein in diesem als Hotel getarnten Regierungsgebäude. Seit Tagen hatten sie alles wieder überprüft. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel daran, wie die Sache verlief. Nur hatte er nicht die geringste Ahnung, was das alles sollte. Er schichtete die Berichte und Akten sauber auf einen Haufen. Dann stapelte er die Kassetten aufeinander und stand auf. Er warf einen langen Blick hinunter auf die glatte Oberfläche des Teiches. Exotische Gewächse und farbenfrohe Wasservögel unterbrachen den Wasserspiegel. Die Bäume spiegelten sich im See. »Sehr idyllisch!« murmelte Folus. Ein bestimmter Prozentsatz der Patienten wurde mit präparierten Organen versehen. Daraufhin wurden sie wahnsinnig und liefen Amok. Das stand fest. Aber warum sollten sie unhörbaren Befehlen gehorchen und um sich schlagen? »Ich weiß es auch nicht. Nur eine Frage der Zeit!« sagte sich Stuckey. Der Gegner, der für den Austausch der Organe verantwortlich war, existierte. Er hatte sie mehrmals angegriffen. Er würde noch mehrmals zuschlagen, und wenn sie dieses Haus verließen, waren sie gefährdet. »In Ordnung«, sagte Folus leise und wandte sich vom Fenster ab. »Der nächste Akt kann beginnen.« Er würde zu Doktor Agasamu fahren.
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Hans Kneifel
* Folus haßte unkontrollierte Risiken. Er war keineswegs feige, aber er sagte sich, daß Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit sei. Er steckte ein, was er brauchte und kontrollierte dann seine Waffe sorgfältig. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Waffe ebenso einsatzbereit war wie er selbst, ging er zurück und stellte sich vor den großen Interkombildschirm. Er brauchte den Anschluß nicht zu suchen; er kannte die Nummern auswendig. Der Bildschirm erhellte sich. Er sah in ein Büro der Administration von Plophos und erkannte eine Sekretärin, mit der er schon mehrmals gesprochen hatte. »Ich bin Stuckey Folus. Kann ich Jalzaar Awrusch sprechen?« Sie nickte. »Mehr oder weniger haben wir bereits auf einen Anruf gewartet. Ihre Aktivitäten waren beträchtlich!« »Dazu sind wir hier«, bestätigte Folus und dachte an die pausenlosen Vorstöße seiner Partner bei Awrusch und Terlahe. »Verbinden Sie mich?« »Gern. Einen Augenblick.« Das Bild wechselte. Jalzaar Awrusch, ein erstaunlich junger und gut aussehender Mann, der Stellvertreter von Mory Abro, blickte auf. »Sie sind es!« stellte er fest. »Wie weit sind Sie mit Ihren Nachforschungen …« Folus hielt wenig von Floskeln und unterbrach. »Wir sind auf der Spur. Sir, wir baten Sie, entgegen Ihrer Überzeugung der Organbank von Doktor Agasamu den Auftrag zu erteilen, sämtliche Präparate zu testen. Darf ich fragen, ob dies geschehen ist? Haben Sie dem Mediziner gestattet, mit Hilfe seiner Kollegen seine Vorräte durchzusehen?« Bisher waren sie mit ihren Behauptungen bei den Fachleuten auf Bestürzung, aber nicht auf Unglauben gestoßen. Die offiziellen Stellen aber weigerten sich trotz gegen-
teiliger Erfahrungen, Massenuntersuchungen anzuordnen. »Ich habe mit Agasamu gesprochen. Er hat sich bereiterklärt und erwartet Ihren Besuch!« Folus nickte zufrieden und stellte die nächste Frage, die Awrusch nicht gern hören würde. »Haben Sie inzwischen den Obmann Abro verständigt?« Awrusch starrte ihn an, als sei er beleidigt worden. Dann schluckte er und bekam einen roten Kopf. Schließlich beugte er sich im Sessel vor, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und sagte leise: »Hören Sie, Mister Folus. Was ich Ihnen sage, ist ganz privat. So privat, daß ich gegebenenfalls alles widerrufe! Ich bin noch jung und vermutlich nicht so erfahren wie andere und ältere Männer, die sich um den Posten des Stellvertreters beworben haben. Für mich steht eine ganze Menge auf dem Spiel. Wenn ich jetzt hilflos nach meiner Chefin schreie, dann disqualifiziere ich mich selbst. Ich muß die Sache allein durchstehen und brauche deshalb Ihre Hilfe. Zuerst war ich skeptisch; eine Eigenschaft, die auch Terlahe mit mir teilte. Inzwischen haben wir eingesehen, daß etwas geschehen muß …« »… und zwar schnell!« half Pa aus. »Richtig. Fahren Sie zu Doktor Agasamu. Fragen Sie ihn und helfen Sie ihm, falls nötig. Ich habe niemanden davon verständigt außer Terlahe. Bitte, verbreiten Sie die Ergebnisse nicht. Wir wollen alles so lange geheimhalten, wie es geht. Und rufen Sie mich und Terlahe an, wenn etwas gefunden wird, das die Sache ändert. Ich betone nochmals: Dies war eine private Unterhaltung.« »Irgendwie«, meinte Folus nachdenklich, »kann ich Sie verstehen. Vermutlich ginge es mir an Ihrer Stelle nicht anders. Ich fahre jetzt zu Agasamu. Dort treffe ich mich mit meinen beiden Freunden.« Awrusch nickte. »Haben Sie Polizeischutz angefordert?« »Der Gegner, mit dem wir es zu tun ha-
Jagd auf Plophos
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ben, hat vorläufig nur sein Fußvolk nach vorn geschickt. Falls etwas von den Ergebnissen durchsickern sollte, dann wird es richtig gefährlich. Dann werden wir Polizeischutz anfordern. In Ordnung, Sir. Wir verständigen Sie heute abend von dem Ergebnis unserer Ermittlungen!« Folus hob grüßend die Hand, und die Verbindung wurde getrennt. Einen Augenblick lang blieb Stuckey nachdenklich stehen und überdachte die Änderung der allgemeinen Situation. Jetzt hatten sie wenigstens die inoffizielle Unterstützung der Regierung. Inzwischen gab es erneute Unruhen und haufenweise lautstarke Beschwerden und Hilferufe aus dem Kreis der wartenden Patienten. Es mußte also auch etwas geschehen, um diesen Menschen endlich helfen zu können. Der Spezialist verließ sein Zimmer, schloß es ab und aktivierte die beiden Kampfroboter vor der Tür. Der Rest der Anlage war durch Schutzschirme gesichert, indes: Was dort in den Unterlagen zu finden war, wußte der Gegner ebenfalls. Er hatte es ja in die Wege geleitet. Folus hinterließ Nachricht, wo er zu finden sei, und ging aus dem Hotel hinüber zum bewachten Parkplatz der Gleiter. Sein Fahrzeug war mehrfach gesichert, und er stellte keinerlei Unregelmäßigkeiten fest. Er startete und bog aus dem Park hinaus auf die Gleiterpiste.
* Ein seltener Glücksfall, dachte Pa. Der Chef dieser mittelgroßen Organbank war gleichzeitig Mediziner und Verwaltungsfachmann. Irgendwann gab es in seinen Ahnen Japaner; ein mittelgroßer und breitschultriger Mann mit glattem Gesicht und langem blauschwarzen Haar. Er verbeugte sich kurz, schüttelte Folus' Hand und kam ohne Umschweife auf das Thema zu sprechen. »Leider«, sagte er, »hatten Sie recht!« Pa verkniff sich ein zufriedenes Lächeln.
Das Ergebnis war gar nicht lustig für alle Beteiligten. »Was haben Sie herausgefunden?« Der Mediziner ergriff ihn beim Arm und zog ihn zu einem Liftschacht, der in die Magazine führte. Langsam sanken sie abwärts. Überall auf dem Gelände der Klinik und der Organbank patrouillierten Wachleute und Roboter. »Wir sind noch lange nicht fertig. Wir haben eben sämtliche Hautpräparate untersucht. Wie Sie sicherlich wissen, sind wir die Spezialisten auf dem Gebiet der Hautverpflanzungen, was nicht heißen soll, daß wir nicht auch alle anderen Operationen durchführen können. Aber wir haben uns zu diesem Schritt entschlossen, weil die Administration auf diese Weise leichter und schneller die Übersicht hat.« »Und was ergab die Überprüfung der Nährtanks und der Kühlanlagen?« fragte Folus, obwohl er die Antwort mit Sicherheit ahnte. »Ausgetauschte Präparate!« »Ich hatte also recht«, meinte Folus. Sie erreichten den tiefsten Punkt der Anlage, und er korrigierte sich: »Wir hatten recht. Die USO und die Familie.« »So ist es.« Hier, einige fünfzig Meter unter der Planetenoberfläche, war es sehr ruhig und ziemlich kühl. Überall an den weißen Wänden verliefen die dicken Leitungen der Kühlflüssigkeit. Notaggregate unterbrachen die Flächen von Wänden und Böden. Ein schwerer, isolierender Belag federte unter den Schritten der beiden Männer. Sie folgten den vielfarbigen Pfeilen an den Wänden. Ein mildes Licht brannte von der Decke. Doktor Agasamus Stimme war voller Wut und Ärger. Er sagte leise: »Wir riefen eine Menge Kollegen zu Hilfe. Dann gingen wir in Klausur und untersuchten nacheinander sämtliche Hautpräparate. Es war eine höllische Arbeit, und wir arbeiteten in vier Schichten ununterbrochen. Als wir die ersten Hinweise auf Manipulationen fanden, waren wir wie elektrisiert.«
32 »Verständlich!« sagte Folus. Sie saßen auf einer kleinen Schwebeplattform und bewegten sich den zentralen Korridor entlang. Rechts und links befanden sich breite, dick isolierte Portale mit Computerkennziffern. »Und was haben Sie gefunden?« Der Mediziner warf ihm einen bitteren Blick zu. »Ich werde es Ihnen nicht erzählen, sondern zeigen. Das ist vielsagender!« Die Anlage schien menschenleer. Folus kam ein Frösteln an, als er daran dachte, daß hier Hunderte oder Tausende von Menschen lagen, allerdings in einer Form, die schwer zu definieren war: Knochen und Gewebestücke, Organe und Herzen, ganze Arme und Beine, gezüchtete und von Unfallopfern stammende Teile. Sinnesorgane fehlten ebensowenig wie Zehen oder Finger, wie Knochenmark und Nervenstränge. Ein Bild, das schaudern machen konnte. Die Plattform bremste behutsam und blieb vor einer großen Glaswand stehen. »Wir sind hier!« sagte der Mediziner und deutete nach rechts. »Mitten in der Aufregung!« stellte Folus fest. Es war richtig. Ein riesiger, flacher Saal, abgeteilt in eine Unzahl von Sektoren, öffnete sich hier hinter dem dicken Isolierglas. Dort drinnen gab es Roboter und Menschen, die sich allesamt in beträchtlicher Unruhe befanden. »Mit Recht!« Doktor Agasamu und Stuckey Folus stiegen ab, nachdem sie die aufgeregten Menschen einige Sekunden lang beobachtet hatten. Der Spezialist hatte das drohende Gefühl kommenden Unheils. Er wußte, daß ihm eine Überraschung bevorstand. Er hatte mit einer Entdeckung gerechnet, aber er wußte nicht, welcher Art sie sein würde. Wenn er daran dachte, daß diese Entdeckung die Motive des Gegners enthüllen konnte, dann packte ihn das Jagdfieber. Eine Schleuse aus Glas wurde passiert. Einige der beschäftigten Pathologen erkannten Agasamu und winkten ihm aufgeregt zu. Langsam gingen Folus und der Arzt
Hans Kneifel durch die aufgeregte Menge, die sie mit Fragen bestürmte und ihnen immer neue Daten zurief. Endlich kamen sie in eine ruhigere Zone. »Setzen wir uns!« schlug Agasamu vor. Folus nickte und blieb ruhig. Er war Anthropologe und kein Fachmann für das, was diese Männer hier entdeckt hatten. Ein paar andere Weißgekleidete kamen und ließen sich um einen runden, niedrigen Tisch nieder. »Meine Herren!« sagte der schwarzhaarige Mediziner plötzlich mit dem unüberhörbaren Ton der Autorität, »das hier ist Spezialist der United Stars Organisation Folus. Stuckey Folus. Er und seine beiden Partner haben innerhalb kürzester Zeit den Verdacht auf die Umstände gelenkt, die wie hier erkannt haben. Wenn wir einen Weg aus dem Dilemma finden, dann ist es der Familie zu verdanken. So nennen sich die drei Spezialisten.« Die Männer schlugen mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Eine akademische Form des Beifalls. »Gehen wir analytisch vor. Ich habe Folus bereits erklärt, was wir unternahmen. Zu Ihnen, Carter. Bitte, berichten Sie.« Carter, offensichtlich ein Verantwortlicher einiger Teams, nickte und begann übergangslos zu sprechen. »Wir haben laut Computerlisten hier dreißigtausend verschiedene Cutan-Präparate. Dreißigtausend Stücke Haut, von der einzelnen Fingerkuppe bis zu Bauchdecken, Armhäuten oder ganzen Rückenflächen. Für nahezu alle Typen von Menschen haben wir hier Präparate. Als der Verdacht geäußert wurde, begannen wir eine Untersuchung. Wir ließen die Präparate eine ausgeklügelte Testreihe durchlaufen, die wir erst entwickeln mußten. Inzwischen ist dieses Verfahren über unsere Organisation an alle anderen Organbanken dieses Planeten weitergegeben worden. Jedenfalls sind wir vor elf Minuten fertig geworden. Das erklärt auch die Unruhe hier. Wir sind verblüfft, bestürzt, erschrocken. Von diesen dreißigtausend Präparaten haben
Jagd auf Plophos wir alle untersucht. Vom kleinsten Gewebestück bis zum gezüchteten Großpräparat. Neunzig Prozent aller Teile waren in jeder nur denkbaren Richtung einwandfrei. Mit ihnen können wir ruhig weiterarbeiten. Aber zehn Prozent – in diesem Fall genau dreitausend verschiedene Präparate – waren befallen.« Stuckey hob die Hand und stellte die unvermeidliche Frage. »In welchem Sinn befallen?« Carter erklärte, während er über die Schulter nach hinten deutete: »Ich werde es Ihnen anschließend vorführen. Genau zehn Prozent der Teile waren nicht mehr die Originale. Sie sind, wie Sie, Folus, richtig vermuteten, ausgetauscht worden. Von wem, und wie dies in einer solchen Perfektion geschehen konnte, das können wir nicht einmal ahnen.« »Ich verstehe.« Der Gegner verfügte über sehr viele Helfer. Das ließ den unweigerlichen Schluß zu, daß die Organisation erstens groß und ausgezeichnet gesteuert war und zweitens einen gewaltigen Schlag plante. Sie holte sehr weit aus. Addierte Folus die verschiedenen Arten der Teile, die inzwischen wieder in Nährtanks und Kühlanlagen ruhten, multiplizierte er diese Zahl mit derjenigen der auf Plophos existierenden Organbanken und Kliniken, dann kamen erstaunliche Massen von potentiellen Amokläufern zum Vorschein. Ein wahres Wunder, daß sich die Zahl der bisher aktenkundig gewordenen Vorfälle in geringen Grenzen hielt. Folus hörte zu, wie der Mann weiterredete. »Die Originale sind verschwunden. Sie wurden gegen Ersatzteile ausgetauscht. Wir haben die falschen Teile untersucht. Wir sind der Meinung, daß es den Einbrechern nicht um den Besitz der Originale ging, sondern darum, hier die Duplikate einzuschmuggeln.« Jetzt gestattete sich Folus ein breites Grinsen. »Genau das haben wir gewußt!« »Darf ich Sie bitten, dort hinüberzukom-
33 men? Wir werden Ihnen die Unterschiede vorführen. Wir haben eine Reihe entsetzlicher Feststellungen machen müssen.« Sie standen auf, aber Folus legte Doktor Agasamu die Hand auf die Schulter. »Darf ich fragen, was mit den Duplikaten geschehen ist?« »Ja«, sagte der Mediziner. »Sie dürfen fragen. Wir haben jeweils neun Zehntel davon vernichtet und ein Zehntel zum Zweck der Demonstration zurückbehalten. Die Präparate befinden sich in streng bewachten Tanks und Kühlkammern und sind unverwechselbar gezeichnet.« »Gut. Vermutlich wird unter diesen Umständen die Sperre der Organbanken bald wieder aufgehoben werden.« Die Gruppe bewegte sich durch die Batterien von Untersuchungsgeräten und riesigen Mikroskopen quer durch den Saal und befand sich kurz darauf in einer Art Vorführraum. Die Schau konnte beginnen …
8. Folus schloß die Augen und lehnte sich in dem schweren Sessel zurück. Die Unterhaltung der Männer rund um ihn wurde leiser, als sich der Raum verdunkelte und eine riesige Bildwand an der Stirnseite aufleuchtete. Carter würde die Bilder kommentieren. Nervös und abgespannt waren sie alle, die hier saßen. Das sah der Spezialist auf einen Blick. »Bitte die Bilder!« Auf dem Schirm wechselten in etwa zehn Bildfolgen die Vergrößerungen. Zuerst sah man ein Hautpräparat. Es war ein Teil einer Gesichtshaut, wie man sie den Opfern von Verbrennungen übertrug. »Das ist die Gesamtansicht eines Präparats«, kam die Stimme Carters. Ruckweise vergrößerte sich das Gewebe, indem der dokumentierte Ausschnitt immer kleiner wurde. Schließlich lag eine Aufnahme vor, die gerade die Grenze optischer Mikroskope darstellte.
34 »Sie sehen hier das subkutane Gewebe. Deutlich sind die Zellen zu erkennen und die verschiedenen Versorgungsgänge. Das Gewebe ist völlig normal und würde bei jeder Operation ansprechen und vorbildliche Resultate erbringen. Bis auf eine Ausnahme. Bitte Bildwechsel.« Jetzt kamen die Aufnahmen von positronischen Mikroskopen. Deutlich sah man in einem winzigen Stück Zellverband, das gefärbt war, ein rundes Ding. »Was ist das?« flüsterte Folus laut. »Einen Moment. Sie sehen im Zentrum des Bildes eine kreisförmige Struktur. So fanden wir die ersten Anzeichen einer Manipulation. Als nächstes kommt ein spezielles dreidimensionales Bild.« Wieder wechselte die Aufnahme. Selbst unter den Männern, die diese Beobachtungen dreitausendmal gemacht hatten, breitete sich abermals die Spannung aus. Auch Folus wurde angesteckt und beugte sich überflüssigerweise nach vorn. Auf dem Bildschirm schwebte jetzt vor einem dunklen Untergrund, ähnlich der stereoskopischen Aufnahme eines Planeten, eine Kugel. Die Stimme erklärte: »Dies ist eine Kugel aus Plasma. Den Durchmesser erkennen Sie, wenn wir die Maßeinheit einblenden. Sie sehen also, daß die Plasmakugel außerordentlich winzig und nur in der Vergrößerung eines Positronenmikroskops sichtbar wird. Wir haben diese Kugel sofort einer Analyse unterzogen. Dabei stellten wir erstaunliche Dinge fest. Sie machten alle Vorgänge der letzten Zeit undurchsichtiger und rätselhafter. Diese Kugel und Millionen oder Milliarden anderer sind auf biochemischem Weg künstlich erzeugt, also gezüchtet. Es sind kugelförmige Körper aus Gallert, wie man sie auch in der positronischen Speichertechnik verwendet. Bei vielen biochemisch unterstützten Positroniken dienen diese Kügelchen, man nennt sie Speichererbsen oder Kaschkarits, als Datenspeicher, weil sie in der Lage sind, unglaublich viele Informationen zu spei-
Hans Kneifel chern. Dies entspricht ihrer atomaren Struktur … aber ich möchte Sie nicht langweilen, Mister Folus.« Wahrheitsgemäß versicherte Stuckey: »Davon kann keine Rede sein, Doktor Carter. Sprechen Sie bitte weiter!« »Augenblick. Bildwechsel … hier sehen Sie einen Schnitt durch die Kugel. Diese Plasmastücke, die sich durch Farblosigkeit auszeichnen und dadurch, daß sie sich außerordentlich schlecht einfärben lassen, scheinen die wahren Schuldigen für das rätselhafte Verhalten der befallenen Patienten zu sein.« »Haben Sie eine positronische Analyse anfertigen können?« erkundigte sich Folus aufmerksam. Jetzt war er direkt auf der Spur. Auf der heißen Spur der unbekannten Verbrecher. Er ahnte die wahre Größe dieser sorgfältig angelegten Aktionen, und die Werte machten ihn schwindlig. Die Vision einer schwarzen Gefahr, die auf viele der bewohnten Planeten dieser Galaxis zukroch wie eine Dunkelwolke aus kosmischem Staub, machte ihn betroffen. Für einige Zeit fiel seine lässige Art von ihm ab. »Ja, natürlich. Wir dachten sofort daran.« Mitten in den folgenden Erklärungen begann Folus zu zittern. Er unterdrückte den Impuls, aus dem Raum zu rennen und irgendwohin zu fliehen, wo ihn niemand sehen und erreichen konnte. Er war, das wußte er, weder todesmutig noch feige, aber es gab Dinge, vor denen er die Angst der gehetzten Kreatur schon dann spürte, wenn nur der Gedanke daran auftauchte. Keiner von ihnen dreien war mentalstabilisiert. Er holte tief Luft, schloß die Augen und zwang sich in einer übermenschlichen Kraftanstrengung mühsam zur Ruhe. Wie aus weiter Ferne hörte er die Antwort auf seine Fragen. »Diese Plasmakügelchen sind in bestimmter Weise vorprogrammiert. Wir schlossen sie an und riefen die Programmierung ab. Dabei stellten wir fest, daß zumindest einige der Kügelchen über das Nervennetz der Haut miteinander in Verbindung stehen oder stehen müssen, denn die Informationen wa-
Jagd auf Plophos ren nicht zu entschlüsseln. Sie waren lückenhaft. Was ich jetzt sage, sind die Vermutungen von Fachwissenschaftlern, bislang unbewiesen: Die Kügelchen sind dergestalt vorprogrammiert, daß sie über die Nervenleitungen des Körpers Suggestiv oder Kommandoimpulse an den Verstand des Patienten weitergeben können. Unter Umständen erfolgt die Programmierung dieser Speicher auch erst nach der Heilung durch eine bestimmte Art von Funkwellen. Aber das haben wir nicht testen können. Wir wissen nur folgendes: Jeder Patient, der einen Knochen, eine Leber oder eine Netzhaut neu eingepflanzt bekommt, die zu den ausgetauschten Organen oder Präparaten gehört, ist der Kandidat einer unbekannten Macht. Nachdem der Körper das Implantat angenommen und die Heilung stattgefunden hat, kann dieser Träger der Plasmakügelchen manipuliert und beeinflußt werden. Das wirft ein grelles Licht auf die beobachteten Vorfälle. Wir trauen uns zu, die Patienten wieder von diesen unerwünschten und tödlichen Anhängseln zu befreien, aber wir haben noch nicht die Erlaubnis der Regierung für generelle Operationen. Was sollen wir tun, Mister Folus?« Folus bemerkte, daß sich die Raumbeleuchtung wieder eingeschaltet hatte. Wie ein Planet, der auf den Betrachter zuschwebte, hing das Plasmakügelchen in seiner mehrfachen Vergrößerung auf dem Bildschirm. Einige Reflexe huschten darüber hin, als Folus aufstand und sich auf die Lehne des Vordersitzes setzte. Er fühlte sich so elend wie selten zuvor in seinem Leben. »Noch ein wenig warten«, sagte er und blickte auf die Uhr. »Worauf?« »Daß meine Partner hier eintreffen.« »Was hilft uns das?« erkundigte sich Doktor Agasamu. »Viel. Sie sind ebenfalls Fachleute. Wir werden zu einem Schluß kommen und die Administration anrufen.«
35 Carter machte eine wegwerfende Bewegung. Dann sagte er in kalter Wut: »Glauben Sie, daß Awrusch deswegen die Solare Flotte alarmiert?« »Sicher nicht, aber …« Carter unterbrach ihn mit schneidender Stimme. »Aber rechnen Sie zusammen, was das alles bedeutet! Innerhalb der Organkliniken kann ein Heer von Marionetten gezüchtet werden!« Ein anderer Arzt rief: »Ein Heer von Amokläufern!« Stuckey hob beide Hände und beschwichtigte: »Sie haben im Prinzip recht. Aber erstens sind sämtliche weiteren Operationen gestoppt worden …« »… was Hunderten oder Tausenden das Leben kosten wird, weil sie auf Organe warten, die nicht mehr funktionieren. Wir können operieren, aber wir müssen die Implantate vorher ebenso testen, wie wir es hier getan haben!« Jetzt schrie Folus: »Das ist nicht meine Sache! Das muß die Administration genehmigen! Beruhigen Sie sich, verdammt!« Schließlich fuhr er ruhiger fort: »Sie verkennen die Gefährlichkeit der Situation nicht, was die Anwendungsmöglichkeiten dieser verdammten Technik betrifft. Hätte man weiterhin operiert, wären mehr amoklaufende Marionetten herangebildet worden. Dadurch, daß die Organbanken geschlossen wurden, ist eine Wiederholung dieser Fälle vorläufig ausgeschlossen. Sie dramatisieren die Situation aber unter einem bestimmten Blickwinkel. Vorausgesetzt, es gelingt uns, Awrusch zum Aufheben des Verbots zu bewegen. Dann kann das Leben und das Glück von Tausenden gerettet werden, wenn die behandelnden Chirurgen und Ärzte anderer Disziplinen nur einwandfreie Implantate verwenden. Jedenfalls kann eines vermieden werden: Es werden keine fernsteuerbaren Amok-
36 läufer mehr die Kliniken verlassen! Und nun hören Sie auf, sich selbst verrückt zu machen. Werden wir hier unten verständigt, wenn meine Kollegen kommen?« Doktor Agasamu nickte. »Selbstverständlich.« »Ausgezeichnet. Wir werden anschließend eine Konferenz mit Terlahe und Awrusch verlangen und auch bekommen. Beweise liegen genügend vor, so daß wir zwar auf Unglauben stoßen werden, schließlich dürfte sich aber das bessere Argument durchsetzen.« »Unter Umständen!« Stuckey Folus, dreiundvierzigjähriger Anthropologe, durchforschte sein Gedächtnis nach Daten und nach hilfreichen Überlegungen. Er sah ziemlich klar, aber noch immer besaßen sie zu wenig Informationen. Ohne sich anzustrengen, verwandelten jene Gangster mit Hilfe der Organkliniken von Plophos Menschen in Marionetten. Menschen, die voller Hoffnung auf ein besseres Leben mit neuen Organen oder neuen Knochen, neuer Haut und neuer Lebensfreude hierhergekommen waren. Was die Kommandos, die hier und andernorts eingebrochen waren, geschafft hatten, ließ sich wiederholen. Umtausch von Organen und anderen Präparaten. Die Befallenen gehörten nicht nur nach Plophos, sondern waren Angehörige von vielen anderen Welten. Der Krebserreger dieser verbrecherischen Entwicklung durchsetzte die Bevölkerung. Der Nachschub – so war es geplant – kam von Plophos. Lauter Menschen, die angeblich gesundet waren und sich in willige Helfer des Schreckens verwandeln ließen. »Wenn es richtig ist, daß diese Speichererbsen sich durch Funk oder ein anderes Mittel programmieren lassen, dann gibt es bald ein Geschlecht von menschlichen Robotern. Die Mörderandroiden!« Doktor Agasamu starrte Folus an und nickte schwer. »Sie sprechen es aus, Spezialist. Was jetzt?« Folus brauchte hier nicht mehr zu provo-
Hans Kneifel zieren. Er deutete auf die Gruppen der ermüdeten Wissenschaftler und Untersuchungsgeräte und erklärte: »Sie sollten die Zeit, die bis zur Aufhebung des Operationsverbotes vergehen wird, nützen.« »Eben das haben wir vor.« »Untersuchen Sie alle Ihre Präparate. Nehmen Sie keine neuen mehr an. Und verbrennen Sie alles, was befallen ist. Abgesehen von einigen Demonstrationsobjekten. Das ist ein Rat, den Sie sich selbst sicher schon gegeben haben.« »Ja. Ich warte aber noch auf den Beschluß der Administration!« Sie schüttelten einigen Ärzten die Hände und gingen langsam hinaus und zurück zu der Transportplattform. Langsam schwebten sie durch die Gänge in den Hauptkorridor. »Meine beiden Partner werden in Kürze eintreffen«, sagte Folus, der sich plötzlich müde und ausgelaugt fühlte. »Bitte, bleiben Sie bei uns, wenn wir beratschlagen, was zu tun ist.« »Mit Vergnügen.« Im großen Chefbüro warteten sie, nachdem der Pförtner Anordnung erhalten hatte, Nancy und Thow sofort zu ihnen zu bringen. Gierig trank Folus einige Tassen Kaffee und einige Gläser terranischen Cognacs, dann fühlte er sich wieder voll in der Lage, über den Ernst der Entwicklung nachzudenken. Er zog in seine Überlegungen das rein private Gespräch mit dem Stellvertreter des Obmanns mit ein und kam zu vorwiegend optimistischen Ergebnissen. Sie warteten mehr als eine halbe Stunde, dann führte die Chefsekretärin Nancy und Opa herein. »Wir schuften, und er säuft!« sagte Thow und deutete anklagend auf die leeren Gläser. »Ich saufe, nachdem ich schuftete!« erklärte Folus und stellte die Freunde vor. Sie nahmen Platz, ließen sich auch etwas zum Trinken bringen und diskutierten das Problem. Sie erzielten völlige Einigkeit. Unterstützt von Doktor Agasamu, der wie kaum ein anderer Bescheid über die Gebräuchlichkeiten der Organverpflanzungen
Jagd auf Plophos wußte, kamen sie zu folgendem Entschluß: Sie würden der Regierung einige ineinandergreifende Maßnahmen empfehlen, die geeignet waren, einen Teil der angestauten Probleme zu lösen. »Nacheinander sollen die Testteams die Organbanken besuchen. Sie sollen nur getestete und hundertprozentig sichere Banken hinterlassen. Darüber hinaus muß vor jeder Operation und Transplantation das Präparat positronenmikroskopisch untersucht werden.« Das würde ihnen allen die nötige Sicherheit zurückgeben. Nachdem eine Klinik durchgetestet worden war, konnte sie ihren Betrieb wieder aufnehmen und die Wartenden zufriedenstellen. »Diesen Plan werden wir Awrusch und Terlahe unterbreiten. Es gibt keinen triftigen Grund, warum die Sperre dann nicht aufgehoben wird. Außerdem wiegen wir den Gegner in Sicherheit, wenn er davon hört. Das allerdings ist unser Problem!« sagte Nancy Chessare. »Ganz richtig. Auf diese Weise haben wir innerhalb von zwei Monaten sämtliche befallenen Präparate ausgesondert!« sagte der Arzt voller Begeisterung. »Falls nicht wieder eingebrochen und umgetauscht wird«, schränkte Opa ein. »Könnten Sie jetzt eine Operation durchführen, Doktor?« »Eine Operation? Selbstverständlich. Noch niemals waren so viele Spezialisten für einschlägige Operationen in diesen Mauern!« sagte der Mediziner verwundert. »Warum erkundigen Sie sich?« »Nur eine kleine Operation!« brummte Opa verdrossen. Er kratzte sich am Handgelenk, dann grinste er. »Eine kleine Operation bedeutet nicht die geringsten Schwierigkeiten. Haben Sie etwas an Ihrer Haut?« »Ja«, sagte Opa. »Ein Problem.« Nancy zwinkerte, schüttelte den Kopf und stellte ihre halbvolle Tasse mit hartem Geräusch zurück auf den Tisch. »Du bist verrückt, Opa. Du wirst dieses
37 Risiko nicht eingehen, solange ich das verhindern kann.« Opa grinste sie noch immer an. »Was meinen Sie, gnädiges Fräulein?« fragte Doktor Agasamu verlegen. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir ein winziges Stück der befallenen Haut einpflanzen können. Gerade soviel, daß ich beeinflußt werde, und gerade sowenig, daß es nicht zuviel Plasmakügelchen sind, daß also die Kapazität dieser mysteriösen Fremdkörper gering gehalten wird.« Stuckey sprang auf. »Du bist verrückt, Opa!« rief er. »Das gestatten wir nicht!« »Ich muß mit allem Nachdruck ebenfalls davon abraten!« warf Doktor Agasamu entgeistert ein. »Und wenn ihr noch so laut brüllt, das beeindruckt mich nicht. Sie operieren mich, Doc, und zwar in den nächsten Tagen. Auf meine eigene Verantwortung!« Er war offensichtlich fest entschlossen. Nancy und Stuckey sahen sich betreten an, dann schüttelten sie gleichzeitig die Köpfe. »Das ist das Letzte«, sagte Folus. »Jetzt werden auch schon die Spezialisten während der Einsätze verrückt und nicht nachher!«
9. Wie eine Perlenkette zogen sich die Lichter der Gleiterpiste in einem geschwungenen Bogen den leichten Abhang hinunter bis zu der dunklen Oase im Lichtermeer der Stadt New Taylor. Die drei Spezialisten der Familie standen neben ihren Gleitern und schwiegen. Hinter ihnen lag die Organbank. In nur wenigen Fenstern und hinter den Glasplatten war es hell, keine Patienten, nur die Reinigungsroboter waren am Werk. Die riesige oberirdische Anlage war ausgestorben. Aber unter der Erde, in den Kühlhallen, Nährtankbatterien und den anderen Räumen herrschte rege Beschäftigung. Dort arbeiteten die Pathologen und untersuchten die Präparate. Sie würden noch Wochen zu tun haben. Dies
38 waren zumeist Arbeiten, die sich weder robotisieren noch sonderlich rationalisieren ließen. Langsam drehte Nancy Chessare den Kopf und sah wieder über den niedrigen Gleiter hinweg das Panorama der Stadt. Quer durch den violetten Abendhimmel schwebte die gleißende Kugel eines startenden Raumschiffes. »Deprimierend, diese Stille. Und in den Hotels warten die sterbenden oder gequälten Menschen!« murmelte sie. »Wir sind hier, um diesen Zustand zu ändern!« erinnerte Stuckey leise und legte seinen Arm in einer kameradschaftlichen Geste um ihre Schultern. Nancy lehnte sich leicht gegen ihn. »Nichts können wir ändern, wenn Awrusch nicht mitmacht!« grollte Opa. »Los, gehen wir!« »Awrusch wird mitmachen!« prophezeite Folus. »Ich sprach heute mit ihm. Er wies mich darauf hin, daß er zwei Standpunkte vertreten müsse. Einen amtlichen und einen privaten.« »Privat ist er einsichtig?« erkundigte sich Ma sarkastisch. »Ja!« »Und du hast natürlich ›privat‹ mit ihm gesprochen, Stuckey?« fragte sie weiter. Stuckey lachte ironisch auf. »Natürlich. Er wies mich zweimal darauf hin. In einer Stunde haben wir mit ihm und Terlahe eine Konferenz. Bei uns im Hotel. Und ich hätte gern vorher noch geduscht, Freunde.« »Genehmigt!« Opa ging zu dem Gleiter, mit dem er hergekommen war. Bevor er sich hinter die Steuerung schwang, sagte er noch: »Wir haben es geschafft, die Plasmakugeln zu entdecken. Ab jetzt ist das Geheimnis unseres Gegners keines mehr. Er wird sich dafür rächen wollen. Gebt bitte verdammt acht!« »Verstanden!« sagte Nancy. »Ich fahre hinter euch her!« versprach Stuckey. Immer dann, wenn der kratzbürstige,
Hans Kneifel wortkarge Thow Tanza längere Sätze formulierte, meinte er es unverhüllt ernst. Er hatte zweifellos recht mit seiner Warnung. Die nächsten Anschläge würden wie die vorhergehenden ebenso verhüllt und überraschend kommen, aber sie waren abzuwarten. Ab jetzt mußten sie doppelt vorsichtig und doppelt mißtrauisch sein. Sie durften den potentiellen Mördern keine Chance geben. Stuckey sagte so laut, daß es auch Opa hinter der heruntergekurbelten Scheibe hören konnte: »Schalten wir den Sprechfunk ein, unsere Minikome, und außerdem können wir noch Scheinwerfersignale geben, um uns zu verständigen.« »Klug!« kommentierte Opa. »Verstanden.« Sie starteten die Maschinen und fuhren in Abständen von fünfzig Metern aus dem bewachten Areal der Organbank hinaus. Der Wächter ließ sie passieren, da er sie bereits beobachtet hatte. Die Gleiter, bewußt in unauffälligen Farben gehalten, waren Regierungsfahrzeuge. Sie verfügten keineswegs über besonders umfangreiche Ausrüstung, aber sie besaßen einen Spezialschalter, mit dessen Aktivierung man die Polizei direkt herbeirufen konnte, waren mit wesentlich stärkeren Maschinen ausgerüstet und verfügten über eine Einrichtung, die es ihnen gestattete, gewisse Eigenschaften eines Luftgleiters zu zeigen; ein Umstand, der den Spezialisten bereits einmal das Leben gerettet hatte. Langsam fädelten sich die Fahrzeuge, von Hand und nicht der Zentralen Schaltstelle gesteuert, in die Hochgeschwindigkeitsspur ein. Noch fuhren sie rechts, aber langsam wechselten sie auf die weiter links liegenden Fahrbahnen über. Ununterbrochen beobachteten die Mitglieder der Familie die anderen Verkehrsteilnehmer; es konnte sein, daß die Fallen schon hier aufgebaut wurden. Wer es fertigbrachte, eine positronische Baumaschine als Mörder zu verwenden, konnte auch einen Unfall auf einer Schnellstraße programmieren.
Jagd auf Plophos Es herrschte der übliche Abendverkehr. Kleine Gleiter, in denen Familien in Richtung auf die Stadt fuhren. Größere, die als Robottaxis fungierten. Kleine Lastengleiter, die in verwegenem Tempo auf der äußersten Überholspur dahinrasten, von Berufspiloten gelenkt. Der Gleiter, den Opa steuerte, schob sich hinter einen der mittelgroßen Transporter. Pa sah dies, und er unterdrückte den Impuls, Opa zu warnen. Der Freund war ein ausgezeichneter Gleiterpilot. Von hinten näherten sich große, abgeblendete Scheinwerfer. Ein Schwertransporter raste auf der mittleren Spur dahin und überholte Folus. Der Spezialist drehte blitzschnell den Kopf nach links und wieder zurück. Neben sich ragte über der Grundplatte die riesige Bordwand des schweren Containers auf, mit dem Werbetext einer Transportfirma bemalt. »Es wird eng hier!« murmelte er. Der Containertransporter rauschte vorbei. Der Sog der Luft brachte den Gleiter vorübergehend ins Schwanken. Hinter sich sah Pa die Maschine, hinter deren Steuer Nancy saß. Auch sie benutzte die mittlere Spur. Opa befand sich jetzt auf der am weitesten links liegenden Überholspur und wich soeben aus, um den Transporter vorbeizulassen. Alle drei Gleiter wurden von Hand gesteuert, nicht von der Überwachungsautomatik. Einige Minuten vergingen. Die Lichter der Stadt kamen näher. Der Verkehr wurde dichter, weil er sich langsam aufstaute. Hier begannen die meisten Abzweigungen in alle Richtungen der Vororte. Andere Transporter kamen, wurden überholt und überholten selbst. Opas Stimme kam kurz und hart aus den Lautsprechern. Er brüllte fast. »Vorsicht! Ich habe Beweise! Sie wollen uns einkesseln! Schert nach rechts aus!« »Verstanden!« Das war die helle Stimme Nancys. »Geht in Ordnung, Opa!« erwiderte Stuckey.
39 Weit voraus fuhren mehrere schwere Transporter nebeneinander. Es konnte Zufall sein oder nicht, das Risiko wollte die Familie nicht eingehen. Auch hinten flammten starke Scheinwerfer auf, obwohl die Gleiterpiste von seitlichen Lampenketten erhellt wurde. Nancy verringerte die Geschwindigkeit ihrer Maschine und wechselte, nachdem sie einige andere Fahrzeuge vorbeigelassen hatte, auf die äußerste rechte Spur. Abermals wurde der Gleiter langsamer. Aber ein Blick in den Bildschirm des Rückwärtsperiskops zeigte ihr, daß auch sie sich in der Klemme befand. Zwischen ihr und einem dichten Block von schweren Containerfahrzeugen fuhren keinen anderen Gleiter mehr. Dreißig Meter vor ihr waren sämtliche Spuren frei. Neben ihr fuhr niemand. Hinter ihr schob sich eine fahrende Mauer heran. Sie bestand aus Metall, Energiezellen und schweren Maschinen. Ein schneller Blick nach vorn … wo waren Pa und Opa? »Opa! Ich bin eingekesselt!« sagte Nancy kurz. »Was soll ich tun?« Opa schien genau zu wissen, was er tat. Er sagte mit unerschütterlicher Ruhe: »Warten, bis sie nahe genug heran sind. Dann Geschwindigkeit heraufsetzen und nach rechts in Steigflug übergehen.« »Verstanden!« »Ich richte mich ebenfalls danach!« sagte Stuckey laut. Jetzt schienen sich einige der Lastengleiterpiloten verständigt zu haben. Die vier schweren Maschinen, die weit vor den Gleitern der Familie schwebten, verringerten ihre Geschwindigkeit, ohne Signale zu geben. Da sie sich mit Handsteuerung bewegten, griff die Überwachungsautomatik nicht ein. Gleichzeitig rückten die Riesen von hinten auf. Der Zwischenraum verringerte sich. »Es wird knapp!« sagte Opa. »Du wirst zuerst handeln!« sagte Stuckey. »Dann ich, dann Nancy. Klar?« »Klar!« Sie hatten also mindestens acht Leute eingesetzt, um die Familie auszuschalten. Nur
40 noch fünfundzwanzig Meter trennten die Scheinwerfer der nachrückenden von den Rücklichtern der vorausfahrenden Lastengleiter. Fünfzehn Meter … Wie auf ein Kommando blendeten die nachfolgenden Gleiter sämtliche Scheinwerfer auf. Eine gleißende Helligkeit breitete sich aus und strahlte durch die Heckscheiben der Gleiter. Opa handelte jetzt und kündigte dies durch einen harten Zuruf an. Dann heulte die Maschine des Gleiters auf. Das Fahrzeug wurde scharf nach rechts herumgerissen, stieg höher und flog dann, schlingernd und schleudernd, wie ein Geschoß über den Randstreifen und zwischen zwei Bäumen hindurch. »Pa! Los!« ächzte Nancy. Stuckey wählte eine leicht abgeänderte Methode. Auch er beschleunigte, fuhr fast waagrecht an die rechte Rampe heran und hob dann seinen Gleiter an. Er raste wie ein Seiltänzer über die Abweisblende und schrammte, als er die Piste verließ, an die Äste von Büschen und niedrigen Bäumen. »Jetzt du, Nancy! Schnell!« Nur noch zehn Meter Abstand. Nancy hob den Gleiter hoch, riß das Steuer nach rechts und raste schräg auf das Heck eines Lastengleiters zu. Es gab einen Funkenregen, als die beiden Maschinen aufeinanderprallten. Der Gleiter der jungen Frau kippte bedrohlich, drehte sich um seine Längsachse und kam frei. Im Schrägflug raste Nancy durch die Krone eines Baumes, ruinierte das Blech und das Plastik ihres Gleiters. Heulend und mit beträchtlicher Rauchentwicklung schwebte der Gleiter geradeaus und schlug schwer auf. Der Kiel schrammte durch den Rasen und hinterließ eine tiefe Furche, dann gelang es Nancy zu bremsen. Die Lastengleiter rasten weiter und waren binnen Sekunden verschwunden. Aus beiden Fahrzeugen stürzten Opa und Pa heraus und rannten von zwei Seiten auf Nancy zu. »Sie ist verletzt!« schrie Folus und riß die Seitentür mit einer Kraftanstrengung auf, die
Hans Kneifel ihn selbst erstaunte. Folus beugte sich in das Innere, aber er sah im Licht der Armaturen, wie sich Nancy aus dem Fußraum befreite. Thow hatte die Tür auf seiner Seite längst offen und half Pa, Nancy Chessare herauszuziehen. »Mach schnell, Junge! Das Ding kann explodieren!« Nancy schien benommen zu sein. Sie bewegte sich schwach, aber Stuckey schob seine Arme unter ihrem Körper hindurch und hob sie ins Freie. Er rannte mit schweren Schritten hinüber zu seinem Gleiter, der zwischen den Büschen stand, ebenfalls am Ende einer tiefen Furche. Opa spurtete zu seinem Gleiter und aktivierte das Funkgerät. Undeutlich hörte Folus die Worte seines Freundes. Er legte Nancys Körper quer über die Vordersitze, aber sie wehrte ihn ab und richtete sich auf. »Ich bin in Ordnung, Pa!« sagte sie leise. »Verdammt! Das war hart!« Thow Tanza alarmierte die Polizei. Er zog seine Waffe und kam langsam näher. Er grinste breit, als er sah, wie sich Nancy aus dem Gleiter schob. Opas Pranke verschwand in einer Tasche und kam mit einer flachen Flasche wieder hervor. »Hier, ein Schluck, Tochter!« sagte er. »Es hilft immer!« »Danke, Opa!« flüsterte sie und nahm einen Schluck. Wachsam sah sich der älteste von ihnen um und suchte nach einem weiteren Gegner. »Alles in Ordnung?« erkundigte sich Folus besorgt. Er liebte dieses Mädchen, aber sie schien es weder zu sehen noch zu merken. Wahrscheinlich liebte sie ihn nicht. »Ja. Ich habe mir schlimmstenfalls den Ellenbogen verstaucht oder etwas in dieser Art!« sagte sie. »Das war der richtige Auftakt zu unserer Konferenz.« Zwei der Gleiter waren schwer beschädigt. Nur das Fahrzeug von Thow Tanza schien unbeschädigt. In rasender Eile kam jetzt aus der Richtung des Regierungsviertels eine kleine Staffel von schweren Poli-
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zeigleitern heran. Ihre Drehlichter warfen funkelnde Reflexe. Opa schwang sich in den Gleiter und blinkte mehrmals auf. Die Bestätigung kam über Funk. »Wir werden abgeholt!« rief Opa. »Vielleicht sind auch dies getarnte Schauspieler!« schrie Nancy zwischen den Maschinen hindurch. »Vermutlich nicht!« schränkte Folus ein. Mit gerunzelter Stirn musterte er die näher kommenden Maschinen, die jetzt tiefer gingen und genau auf das Feld zukamen, auf dem die drei Gleiter standen. Opa und Pa entfernten sich von den Fahrzeugen und gingen hinter einigen Bäumen in Deckung. Nancy spurtete auf einen Wink Stuckeys hin zwischen die Büsche und versteckte sich. Die Polizeigleiter bildeten ein Dreieck, blieben in der Luft stehen und senkten sich dann so auf den Boden, daß die Fahrzeuge der Familie zwischen ihnen waren. Scheinwerfer wurden angeschaltet und ausgerichtet. Aus den Gleitern sprangen uniformierte Männer und gingen auf die Wracks zu. Lautsprecherstimmen waren zu hören. Die Vorgesetzten dirigierten ihre Männer und sprachen in ihre Armbandgeräte. Folus beobachtete die Gesichter und die Gebärden der Männer, sobald sie in das Licht ihrer eigenen Scheinwerfer kamen. Nach einigen Sekunden erkannte er, daß es sich nicht um Schauspieler handelte, sondern um echte Polizisten. Er steckte die Waffe ein und ging langsam in den Lichtkreis hinein. »Wir sind hier!« sagte er laut. »Danke, daß Sie so schnell gekommen sind!« Auch Nancy und Opa näherten sich. Einige Minuten später war alles vorbei, und die Familie befand sich in Sicherheit. Über Funk erfuhren sie, daß sie erwartet wurden.
* Nancy brauchte, um ihr inneres Gleichgewicht wiederherzustellen, einige bestimmte
Handgriffe. Sie erledigte innerhalb von dreißig Minuten ein kompliziertes Ritual, das aus Umziehen und Dusche, aus der Behandlung ihrer Prellungen und aus einigen Minuten innerer Ruhe und Entspanntheit bestand, praktiziert beim Rauch einer Zigarette. Sie sammelte sich und kam zur Ruhe. Als eine halbe Stunde nach der Landung der Polizeigleiter die kleine Eskorte an ihre Tür klopfte, war sie bereit. Sie trug einen weißen Hosenanzug mit einem Ausschnitt derjenigen Größe, die zweifellos sowohl Terlahe als auch Awrusch beeindrucken würde. Sie hatte darin genügend Erfahrung und würde alle ihre Mittel einsetzen, um die Forderungen der Familie durchzudrücken. »Fertig, Ma?« knurrte Opa. Er hatte sein inneres Gleichgewicht ebenfalls wiedergefunden, was bedeutete, daß er seine Wortkargheit und Kratzbürstigkeit hervorkehrte. »Fertig. Hoffentlich hast du deinen verrückten Vorsatz inzwischen fallengelassen!« erwiderte sie, nahm die Handtasche und verließ ihr Zimmer, das noch immer nach ihrem Parfüm roch. Von dem Hotelbau bis zu dem kleinen Sitzungssaal verlief ein gesicherter, unterirdischer Gang. Etwa ein Dutzend Polizisten begleiteten Nancy Chessare, Thow Tanza und Stuckey Folus und bauten sich vor der Tür des Saales auf. Terlahe und Awrusch erwarteten sie bereits. Sonst war niemand anwesend. Nach der Begrüßung sagte Awrusch: »Wir haben keine Zeugen. Dies wird ein inoffizielles Treffen. Vielleicht kommen wir der Aufklärung etwas näher.« »Auf alle Fälle werden wir einige Probleme lösen können!« erwiderte Stuckey. »Der Einsatz von USO-Spezialisten hat sich noch immer gelohnt, Sir.« Die Diskussion dauerte bis Mitternacht – und darüber hinaus. Es gelang den drei Spezialisten, Awrusch und Terlahe zu überzeugen. Fast zu überzeugen. Jedenfalls stimmten die Politiker der vorgeschlagenen Regelung zu. Die Organbanken sollten erstens von den ausgetausch-
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ten und gefährlichen Präparaten befreit werden. Zweitens sollte jeder Versuch, erneut einzubrechen und Teile auszutauschen, durch einen perfekten Wachdienst verhindert werden. Schließlich sollte ein Katalog der Dringlichkeit aufgestellt und nach ihm die schwersten Fälle operiert werden. So vermied man eine offizielle Öffnung der Banken und half den wartenden, oft todgeweihten Menschen. Diese Zugeständnisse kosteten ein schönes Stück Arbeit. Unnachgiebig aber blieb Terlahe und erst recht Awrusch, als es um die Benachrichtigung der Administration auf Terra und des Obmannes Mory Abro ging. Er selbst würde alles berichten, aber er würde mit allen Mitteln und unter allen Umständen versuchen, die Krise zu lösen, solange Mory Abro ihn mit ihrer Vertretung betreut hatte. Was die Natur der ausgetauschten Präparate betraf, so stießen sie auf Unglauben. Auch die absolut perfekte und beweisbare Schilderung der Ermittlungen und der phantastischen Ergebnisse der Untersuchungen vermochte die Politiker nicht zu überzeugen. Schließlich beendete Opa die Diskussion. Er stand auf und sagte: »Ich werde dies alles noch einmal durchspielen. Und falls Sie dann noch immer nicht glauben können, daß eine ungeheure Gefahr auf die Galaxis zukommt, dann werden wir über die USO tun, was zu tun ist.« Spätestens ab diesem Augenblick wußten Nancy und Folus, daß sie Thow Tanza nicht mehr umstimmen konnten.
10. Sie saßen beim Frühstück. Ein Tag ohne viel Arbeit lag vor ihnen; der Druck auf sie hatte nachgegeben. Innerhalb der überwachten Organisation dieses Zweiges der plophosischen Medizin verlief alles – inoffiziell! – so, wie es beschlossen worden war. Die Wogen der Unruhe hatten sich geglättet. Es gab keine Aufläufe mehr und keine Kundgebungen. Viele der Patienten hatten bindende Termine genannt bekommen, und Stück für
Stück wurden die Kühltanks und die Behälter mit Nährflüssigkeit gesäubert. Vor zwei Tagen hatte die kleine Operation stattgefunden; mit einer Rekorddauer von weniger als einer Stunde war sie von Doktor Agasamu schnell und fachgerecht durchgeführt worden. Opa streifte den Ärmel hoch und deutete auf ein rundes Stück Haut, das leicht gerötet war. Eine dünne, rote Narbe, die fast gänzlich verheilt war, kennzeichnete die Stelle, an der man mit Plasmakugeln infiziertes Hautgewebe eingesetzt hatte. Fast träumerisch bemerkte Opa: »Fünf Quadratzentimeter, und bis heute keinerlei Anzeichen dafür, daß ich zu den potentiellen Opfern gehöre. Es kitzelt nur ein bißchen.« Vor zwei Tagen hatte die Operation stattgefunden. Der Umstand, daß niemand etwas von einer Veränderung im Charakter des Mannes gemerkt hatte, enttäuschte sie etwas, gleichzeitig freuten sie sich darüber, weil sie hatten verhindern wollen, daß Thow Tanza die Kontrolle über seinen Verstand und seine Handlungen verlor. Dieser Fehlschlag seiner eigenen Theorie bedeutete mit einiger Sicherheit, daß die unbekannten Drahtzieher mißtrauisch geworden waren und nichts mehr riskierten. »Keine Träume?« fragte Nancy und schnitt ein fingerdickes Stück Schinken ab. Opas Grinsen war impertinent. »Genügend Träume. Aber sie sind nichts für die Ohren von jungen, unverdorbenen Menschen wie euch!« Nancy wiederholte mit Engelsgeduld: »Keine einschlägigen Träume? Nichts von dem, was mir Kerima berichten konnte? Kein besonderes Verhältnis zu diesem Stückchen Haut?« »Nein. Es tut mir leid.« Folus hob die Tasse und nickte mißbilligend. »Ich glaube es dir sogar, Opa, daß es dir leid tut. Bis heute hat unser Überwachungsdienst hervorragend funktioniert. Aber wir können dich nicht die nächsten Monate pausenlos beobachten.«
Jagd auf Plophos Sie hatten ein Abkommen getroffen, das ein bißchen makaber war. Nur noch im Einsatz bewaffneten sie sich mit tödlichen Waffen. Jetzt trugen sie ständig schwere Paralysatoren. Opa hatte jedoch keine Waffe. Falls er begann, die bekannten Amokreaktionen zu zeigen, würden sie ihn ohne Zögern lähmen und dann in eine Klinik bringen, um ihn unter Kontrolle zu haben. Das brachte mit sich, daß selbst während des Frühstücks die Waffen griffbereit neben ihnen lagen und sie ständig unter der Nervenanspannung lebten. Sie warteten jede Sekunde darauf, daß Opa »durchdrehte«. Das kostete Schlaf und verlangte gute Nerven. Außerdem ließ, je länger nichts geschah, die Wachsamkeit nach, selbst bei USO-Leuten ein Umstand, der nicht zu verhindern war. »Das erwartet auch niemand, am wenigsten ich«, gab Opa zurück und bestrich seinen Toast mit Käse. »Wenn in einer Woche nichts passiert ist, dann lasse ich mir wieder meine eigene Haut einpflanzen.« Also noch sieben Tage. »Deine Ideen soll der Teufel holen, Opa!« sagte Nancy erbittert. »Mir schmeckt nicht einmal mehr der Orangensaft, wenn ich damit rechne, daß du plötzlich mit Messern und Frühstückseiern um dich zu werfen beginnst. Weißt du eigentlich, daß du sogar unser Leben bedrohst?« »Ich rechne damit«, erwiderte Thow ohne jede Ironie, »daß ich die Kontrolle über mich nicht schlagartig verliere.« »Damit rechneten schon viele vor dir!« warf Folus ein. Er sah die Gefahren vielleicht deutlicher als Nancy und Thow, denn er wußte als Anthropologe, daß sich ein Mensch unter bestimmten Voraussetzungen innerhalb eines Sekundenbruchteiles verändern konnte. Aus einem ruhigen Mann, der zeit seines Lebens nichts anderes getan hatte, als Rosen zu schneiden, wurde ein Berserker, der seine Verwandtschaft abschlachtete. Aus harmlosen Hundezüchtern wurden Rasende, die mit Zähnen und Fingernägeln andere Menschen umbrachten. Und das, wohlgemerkt, innerhalb von Sekunden-
43 bruchteilen. Ohne jede Warnung, ohne ein Zeichen der Entwicklung bis zu diesem Punkt des offenen Irrsinns. »Ich bin nicht viel anders!« gab Opa zur Antwort und hob den Zeigefinger. »Ich rechne damit, daß sich die Anfälle steigern, und daß es euch beiden und vielleicht einigen anderen klugen und einsichtigen Menschen gelingt, über mich auf die Spur der Verbrecher zu kommen.« »Ich sehe, wir haben einen Vertreter einer aussterbenden Gattung bei uns am Tisch!« konterte Folus mürrisch. Ihm paßte dieses Arrangement nicht, und er war von Anfang an dagegen gewesen. »Stirbt die USO aus?« brummte Opa. »Mit der aussterbenden Gattung meinte er die der Optimisten!« erklärte Nancy. »Wie dem auch sei. Wir werden versuchen, dich die nächste Woche jeweils vierundzwanzig Stunden im Auge zu behalten.« »Ich danke euch!« Sie aßen ruhig weiter und teilten dann die einzelnen Arbeiten auf. Schließlich kamen sie zum übereinstimmenden Entschluß, einer der letzten Spuren nachzugehen. Man hatte in einer Organbank einen Einbruch registriert. Das war inzwischen fast eine Selbstverständlichkeit. Aber dort hatten die Einbrecher deutliche Spuren hinterlassen, die man auswerten konnte. Opa bemerkte mit einem listigen Kichern: »Ihr wollt mich nur im Auge behalten. Darum der Dreier-Einsatz.« »Daran ist etwas Wahres, Thow!« erwiderte Nancy. »Aber hauptsächlich deswegen, weil wir deine Erfahrung brauchen. Ich verlasse euch kurz – Stuckey übernimmt die Wache.« Hinter ihr rollte die Tür zu. Folus stützte die Ellbogen auf den Tisch, stierte eine Weile lang sinnend in die halbleere Kaffeetasse und sagte schließlich: »Ich glaube, Opa, die Sache geht böse aus. Böse für uns alle!« Opa zuckte die Schultern und widmete sich dem knusprigen Frühstücksspeck.
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* Während er den Beamten der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zusah, fühlte Thow Tanza die Enttäuschung darüber, daß sein Plan fehlgeschlagen war. Der Entschluß, sich mit der voraussichtlichen Wirkung jener Speichererbsen aus Plasma infizieren zu lassen, war keineswegs spontan gewesen. Der selbstmörderisch anmutende Versuch war in Wirklichkeit das Ergebnis langen Nachdenkens. Der Beamte wandte sich an Pa und Opa erklärte: »Es ist bewiesen, daß die Einbrecher sämtliche Wächter zum gleichen Zeitpunkt einer Tiefenhypnose unterzogen haben. Die Folge davon war, daß die Leute nichts mehr wußten. Dann fuhren sie dort drüben, am Materiallift, mit einem VierzigtonnerKühllastengleiter vor.« Opa nickte; dies war der bekannte offizielle Weg, auf dem die Untergeschosse der Organbank mit frischen Präparaten versorgt wurden. Die Einbrecher hatten nach den winzigen Spuren die Teile in Spezialbehältern heruntergeschafft und ausgetauscht. Mit den »normalen« Präparaten waren sie wieder geflüchtet. »Also im größten Stil geplant!« murmelte Stuckey, die Hand immer in der Nähe des Paralysators. »So ist es. Sie haben aber außer Schleifspuren, Kratzern und Spuren an den Schlössern kein Material zurückgelassen. Also nichts, wodurch wir sie einkesseln konnten. Auch unsere Infrarotspürer waren wirkungslos.« Opa schwieg und sah sich um. Er hatte geglaubt, die Unbekannten überlisten zu können. Er plante, sich nach den ersten Anzeichen der Verwirrung lähmen oder fesseln zu lassen und dann zu versuchen, den Freunden Hinweise auf die unsichtbaren Marionettenspieler zu geben. Das alles war hinfällig geworden. Und er, Tanza, hatte nicht die geringste
Lust, sich und seine Freunde mit einem weiteren Stück Gewebe an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Er würde keine zweite Operation durchführen lassen, die eventuell die Anzahl der Speichererbsen vergrößerte und damit ihre Wirkung potenzierte. Sie mußten einen anderen Weg … PLÖTZLICH: Opa verwandelte sich. Er spürte nichts mehr von dem Eingriff einer fremden Steuerung. Er war nicht mehr er selbst. Er tat, was ein Unsichtbarer befahl, aber das wußte er nicht. Sein Verstand war wie ausgeschaltet, und er sah auch nicht die Folgen seines Handelns. Er ging die drei Schritte auf Folus zu, zuckte die Schultern und sagte: »Ich werde jetzt zu Doktor Agasamu fahren, um mir dieses nutzlose Stück Haut herausschneiden zu lassen. Willst du mitkommen?« Folus wußte, daß sie hier nichts mehr erfahren konnten. Die Spuren verliefen im Sand; sie deuteten auf einen Einbruch hin, der sich in nichts von anderen unterschied. Kein Hinweis auf die Verbrecher. »In Ordnung«, sagte er. »Ich komme mit. Bleibst du hier, Nancy?« Nancy nickte. Langsam gingen Opa und Stuckey in die Richtung des Ausgangs dieser Ebene. Um sie herum flüsterten die riesigen Kühlmaschinen. Durch ein verwirrendes Netzwerk von Leitungen pulsierten verschiedene Nährflüssigkeiten. Es war angenehm kühl. Die Aufschriften und die Computer-Kennzahlen an den zahlreichen Fächern und den Vorderseiten der Tanks leuchteten. Der weiche Bodenbelag dämpfte den Hall ihrer Schritte. Nachdem sie sich außer Sichtweite der arbeitenden Beamten begeben hatten und deren Stimmen und das Klirren der Werkzeuge leiser geworden waren, griff Opa an. Er handelte ebenso blitzschnell wie in seinem bisherigen Leben. Ein Handkantenschlag, aus einer Körperdrehung heraus geführt, lähmte den rechten
Jagd auf Plophos Arm des Jüngeren. Opa warf sich auf Folus und blockierte dessen linke Hand ab. Dann hielt er die Waffe in der Hand und spürte, wie sich Folus mit Händen und Knien wehrte. Opa wurde gegen die Wand eines Geräts geschleudert, hob kurz die Waffe und feuerte auf Folus. »Nancy! Opa läuft Amok!« Dann gurgelte er auf, zuckte und brach zusammen. Opa begann zu rennen und spurtete im Zickzack zwischen den Tanks und den Organbänken entlang. Hinter ihm ertönte lautes Geschrei. Ein Schuß, in die Decke gezielt, donnerte auf. »Hinter ihm her!« »Achtung, er ist bewaffnet!« »Folus! Was ist passiert?« Die Beamten, von Nancy blitzschnell informiert, hatten begriffen. Sie rannten auf den Ausgang zu. Jemand sprach aufgeregt in ein Funkgerät und warnte alle besetzten Stellen innerhalb des Kliniktraktes. Andere Gruppen kamen von links und rechts und versuchten dem Fliehenden den Weg abzuschneiden. Thow Tanza war ein williges Werkzeug. Er merkte, wie sich die Sperre um seinen Verstand lichtete. Bisher hatte er nur blind reagiert. Jetzt konnte er seine Erfahrungen als Spezialist einsetzen. Er erhöhte sein Tempo und raste weiter dem Ausgang entgegen. Mit riesigen Sprüngen schnellte er sich durch den Korridor und erreichte die Temperaturschleuse. Knöpfe wurden gedrückt, und in derselben Bewegung drehte sich Opa um und feuerte schonungslos auf seine Verfolger. Der schwere Paralysator in seiner Hand donnerte auf. Opa war ein hervorragender Schütze, und während die Türen nacheinander aufglitten und sich wieder schlossen, taumelten und stürzten die Männer vor ihm. Er drehte sich um und sprang durch den immer kleiner werdenden Spalt der Schleuse hinaus in den breiten, hell erleuchteten Gang. Die beiden ehemaligen Freunde waren seine größten Feinde. Er mußte sie töten, denn erst dann war der
45 Weg für ihn frei. Er rannte auf eine der wartenden Antigravplattformen zu und startete das Gerät. Es setzte sich brummend in Bewegung und trug ihn bis zum nächsten Knotenpunkt. Hier sprang er ab, überschlug sich und schickte dem davonschwirrenden Transportmittel einen kurzen Blick nach. Schritte von rechts! Thow Tanza warf sich herum, hob die Waffe und zielte auf die beiden Polizisten, die soeben aus dem Antigravschacht kletterten. Zwei donnernde Schläge verwandelten den stillen Korridor in ein Inferno von Lärm und Schall. Die Männer warfen die Arme in die Luft und sackten zusammen. Opa blickte sich kalt und unbeteiligt um und rannte dann in rasender Geschwindigkeit zurück zum Liftschacht. Sekunden später hielt er zwei kleine Strahlwaffen in den Händen, und der Paralysator lag neben den zusammengebrochenen Männern. »Ich brauche ein Versteck! Von dort werden sie kommen!« sagte Opa leise. Er entdeckte in der glatten Wand des Korridors, der sich jetzt hell und leer nach beiden Seiten erstreckte, eine Anzahl Türen. Schnell studierte er die Aufschriften. Schließlich riß er eine Platte auf, hinter der sich Ersatzteile und Ausrüstungsgegenstände für die Säuberungsroboter befanden. Er sprang in die Dunkelheit hinein, ließ die Tür einen Fingerbreit offen und spähte mit angehaltenem Atem durch den Schlitz. In vierzig Metern Entfernung sah er, wie sich die Schleuse erneut öffnete. »Sie werden nicht blind herausstürmen!« murmelte er fast unhörbar. Er wartete, den Lauf des Strahlers auf die Öffnung gerichtet, die immer größer wurde. Dann steckte Pa seinen Kopf hindurch; entweder hatte er ihn nicht richtig getroffen, oder die Spezialisten hatten eines der Mittel angewendet, mit dessen Hilfe man eine schwere Lähmung schnell beheben konnte. Pa schien zu überlegen, wo sich Thow befinden konnte. Stimmen waren zu hören, dann das Quäken eines kleinen Lautsprechers. Sicher ver-
46 ständigten sich die Wachtruppen miteinander. Somit stand für den erfahrenen Spezialisten fest, daß sich Opa hier irgendwo im unterirdischen Gewirr von Korridoren, Sälen und Lagerhallen befand. An der Oberfläche hatte ihn niemand gesehen. Zuerst spurtete Stuckey aus der Schleuse. Er lief etwas unsicher, aber keineswegs kraftlos. Hinter ihm folgten Nancy und einige Polizisten. Sie rannten im Zickzack langsam den Korridor entlang und verteilten sich auf die einzelnen Schleusen und Türen. Plötzlich schrie Stuckey auf: »Halt! Dort, am Antigravschacht!« Drei Plattformen segelten vom anderen Ende heran. Die Polizisten, die sie herandirigiert hatten, sprangen ab. Stuckey und Nancy und ein kleiner, wendiger Polizist verbargen sich hinter den kleinen Aufbauten und schoben die Plattformen vor sich her. Auf diese Weise näherten sie sich den beiden bewegungslosen Gestalten neben der Liftschacht-Öffnung. Deutlich hörte Opa, wie Folus sagte: »Verdammt! Mein Paralysator! Und er hat die beiden tödlichen Waffen der Polizisten!« Sie waren nahe genug heran. Nancy und Folus mußten sterben. Erst dann war die Gefahr, entdeckt zu werden, auf einen kontrollierbaren Wert heruntergedrückt. Thow richtete den Strahler aus und zielte sorgfältig. Zuerst Folus. Er feuerte einmal, zweimal … Der erste Schuß fauchte an Folus' Kopf vorbei und verbrannte ein Stück seines Haares. Er traf die Plattform und wirbelte sie wie ein Stück Karton durch den Gang nach hinten. Folus machte einen gewaltigen Satz und verschwand im Antigravschacht. Nancy hob den Oberkörper und schoß zurück. Ihre Waffe spuckte lange Feuerstrahlen. Sie arbeitete mit der ihr eigenen Methodik. Sie setzte Treffer nach Treffer in den Türrahmen. Von oben nach unten erschienen drüben an der Wand des Korridors die Blitze und Feuerkugeln. Als sich ein breiter Strei-
Hans Kneifel fen brennender, glühender und rauchender Materie abzeichnete, hörte die junge Frau auf. Sie wandte sich um und sagte: »Er ist dort drinnen gefangen. Holt einen schweren Paralysator und feuert in die Kammer. Und hütet euch, ihn zu verletzen!« Sie bückte sich und wog nachdenklich den Paralysator Stuckeys in der Hand. Würden sie Opa bekommen, ehe er zum Selbstmord getrieben wurde?
11. Nachdem das Geräusch der Schüsse aufgehört hatte, ging in Thow abermals eine lautlose Wandlung vor. Er hatte versagt. Er hatte in zweifacher Hinsicht versagt. Zunächst darin, daß er versuchte, den Gegner der USO durch Tricks lahmzulegen, und zum zweitenmal als Werkzeug dieses Gegners. Er wollte sich einen Weg durch die Tür schießen, die Waffe wegwerfen und mit erhobenen Händen vor die Polizisten hingehen, aber eine fremde Kraft nagelte ihn an die Stelle. Er war schweißgebadet, denn er sah völlig klar. Die Konsequenzen für ihn waren furchtbar. Es boten sich abgesehen vom Freitod nur wenige Alternativen an. Töte die Freunde und werde getötet. Versuche sie zu töten und fliehe, um in Ruhe nachdenken zu können. Bringe eine möglichst große Distanz zwischen dich und alle Verfolger. Mit deinem Wissen und deinen Kenntnissen kannst du ein wertvolles Werkzeug sein. Vernunft und versklavter Wille fochten einen lautlosen, aber verzweifelten Kampf aus. Und dann handelte Opa abermals mit der Entschlossenheit eines Selbstmörders. Sein vergewaltigter Verstand hatte suggeriert, daß dies die beste Lösung war. »Los!« Opa spannte seine Muskeln und behielt beide entsicherten Waffen in den Händen. In der Kammer war es dunkel, heiß und stickig.
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Durch feine Ritzen sickerte Rauch ins Innere. Der Anprall des schweren Körpers sprengte die Tür aus den Lagern und warf sie flach auf den Boden. Opa stürzte mit der Wucht eines dahinrasenden Panzers aus dem Rechteck. Er feuerte ununterbrochen nach allen Seiten und rannte im Zickzack und in geradezu unglaublicher Geschwindigkeit auf den Liftschacht zu. Rund um ihn breitete sich für wenige Sekunden ein Inferno aus. Überall, wo die Strahlen seiner Waffen auftrafen, entstanden Zentren aus Flammen und Rauch. Die Polizisten warfen sich aus der Schußlinie. Opa selbst schlug um sich und schmetterte einen Mann, der sich ihm entgegenwarf, zu Boden. Ein anderer, der seitlich heransprang und sich gegen seine Kniekehlen warf, wurde von einem Fußtritt kampfunfähig geschlagen. Nancy, die hinter einem ausgeschalteten Transportschild kauerte und mit dem Paralysator feuerte, traf nicht, denn Thow war zu schnell. Er bewegte sich im Zickzack und hechtete, nachdem er abermals wild um sich geschossen hatte, in den Aufwärtsschacht. Und verschwand. Das alles hatte nicht ganz vier Sekunden gedauert.
* Er konnte zurückkommen und Nancy töten. Aber vor ihm war Folus, der ihn sicherlich an der Oberfläche erwartete. Dort breitete sich ein riesiger Park aus, unterbrochen von einzelnen Gebäuden. Zunächst eine Ansammlung idealer Versteckmöglichkeiten und Fallen, in denen sich Folus und Chessare fingen. Langsam schwebte Opa im Schacht nach oben. Er blickte abwechselnd nach unten und hinauf. Sobald sich unten ein Kopf zeigte, feuerte Thow mit einer der beiden Waffen. Augenblicklich zuckte der Polizist zurück und verschwand. Dort oben aber, hinter der Öffnung, die drohend näher kam, schien noch
Ruhe zu herrschen. Vermutlich hatten sie sich zurückgezogen. Nicht die Strahler waren gefährlich, wußte Thow, sondern die Paralysatoren und Schockstrahler waren es. Denn sie wollten ihn lebend. »Ich muß also verhindern, daß sie mich lebend erwischen!« sagte er sich und machte sich auf einen Feuerüberfall gefaßt. Gleichzeitig aber bedauerte er, daß er unter dem Befehl einer fremden Macht stand. Er wollte wieder ausbrechen, aber sein Wille war gelähmt. Das, wovor er sein Leben lang Angst gehabt hatte, war jetzt eingetreten. Er konnte nicht mehr über seinen eigenen Verstand verfügen und verhielt sich unkontrolliert. Jedenfalls besaß er keinerlei Selbstkontrolle mehr und keine Möglichkeiten, sie wieder zu erreichen. Seine Überlegungen wurden abgeschnitten, als er sich unmittelbar neben dem Ausstieg befand. »Hinaus und weg!« flüsterte er sich zu. Er hakte ein Bein um den Griff, versetzte seinen Körper in eine halbe Drehung und sprang mit einem weiten Satz hinaus in den Bereich normaler Schwerkraft. Zu seinem Erstaunen wurde er nicht beschossen. Noch immer funktionierte seine Erinnerung; er erkannte die Umgebung wieder und hetzte von dem abgerundeten Ausgang der Liftröhre hinüber zu einer abgetrennten Sitzgruppe. In diesen Raum mündeten eine Anzahl Treppen und Korridore. Draußen, vor den raumhohen Fenstern, sah Tanza den Park. Niemand erwartete ihn. »Ich werde entkommen!« sagte er sich. Dann rannte er zum Ausgang, sprang hinaus und rannte mit hastigen Schritten, die auf dem weißen Kies knirschten, hinüber zu einer Baumgruppe. Dann sah er sich um. Über dem Park kreisten mindestens zehn Polizeigleiter. Die Maschinen bildeten einen annähernd runden Kreis. Sie hatten sich über das gesamte Areal verteilt, und sämtliche Augen und eine Anzahl von Antennen, Linsen und Projektoren richtete sich auf ihn. Sie würden ihn sehen, aber …
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Aber sehen und erwischen waren zweierlei Dinge. Zweifellos war auch der Park umstellt. Aber das Gelände war so groß, daß er jede Chance hatte, zu entkommen. Zuerst aber war es wichtig, Nancy und Folus zu beseitigen. Was konnte er tun? Er wartete, in den Schatten eines Baumstamms gedrückt. Langsam wurde sein Verstand wieder klarer, aber noch immer tobte der Kampf zwischen dem Fremden und ihm selbst, zwischen der Bereitschaft zum Verbrechen und der Einsicht. Aber immer dann, wenn Thow einen gedanklichen Vorstoß machte, spürte er, wie alle seine Widerstandskraft dahinschmolz. Würde ihn jemand gefragt haben, konnte er sich ihm mit Sicherheit nicht mitteilen. In den nächsten Sekunden würde Nancy, gefolgt von einigen Polizisten, dort aus dem Eingang kommen. Das war logisch, denn sie suchte ihn, um ihn mit dem Paralysator zu lähmen. In dem Augenblick, da sie schoß, würde er sie töten. Das war sicher. Um seine Lippen spiegelte ein böses Lächeln, als er wartete. Dann sah er Stuckey Folus … Er stand, durch die Weite einer Rasenfläche von ihm getrennt, neben einem schweren Einsatzgleiter der Stadtpolizei von New Taylor.
* Nancy ahnte, daß sie bei diesem Versuch sterben konnte. Sie schwebte im Antigravschacht nach oben und wartete darauf, daß Opa auftauchte und zu feuern begann. Ihr Minikom summte. »Nancy hier!« sagte sie und winkelte den linken Arm an. »Folus. Seid ihr in Ordnung?« »Einige Leichtverletzte und eine Menge Feuerschaden unten im Korridor, wie zu erwarten. Habt ihr Opa?« fragte sie besorgt. »Noch nicht. Er versteckt sich im Park.« Nancy nickte den Männern zu, die eben
die Röhre verließen. »Wir brauchen also keine Angst zu haben, daß er auf uns schießt?« »Nein. Bleibt im Liftgebäude. Dort seid ihr sicher. Ich bin hier draußen im Park.« »Verstanden.« Sie schwangen sich aus dem Lift und bildeten eine kleine, im Augenblick ratlose Gruppe im Innern des Gebäudes. Schließlich, als feststand, daß Thow innerhalb der ausgedehnten Grünzone mit einiger Sicherheit eingekesselt war, wandte sich der Chef der kleinen Gruppe an Nancy. »Was schlagen Sie vor?« Nancy erwiderte langsam und nachdenklich: »Mit größter Sicherheit ist Tanza als Marionette der Unsichtbaren unser potentieller Mörder. Er wird versuchen, uns umzubringen. Falls ihm das nicht gelingt, wird er nutzlos. Da er vielleicht in der Lage ist, uns gewisse Erinnerungen mitzuteilen, werden die Verbrecher ihn beseitigen. Er wird also Selbstmord begehen.« Der Polizist biß sich auf die Unterlippe und knurrte: »Oder es wenigstens versuchen. Das ist bitter. Sie kennen Ihren Freund besser als wir. Was schlagen Sie vor?« »Wir müssen ihm einen Köder vorwerfen. Und jemand muß ihn beschleichen und mit einem Paralysator außer Gefecht setzen.« »Sehr gewagt!« »Ich weiß. Einen Augenblick.« Nancy schaltete den Minikom ein und sagte leise: »Nancy hier. Folus, wie weit bist du von Opa entfernt?« »Dreihundert Meter, etwas weniger vielleicht.« »Du weißt, wo er ist?« Er beschrieb ihr das Versteck des Mannes, das sich in einer Zone aus Gebüsch und Bäumen befand. Diese Gruppe aus Grün umfaßte etwa fünfzig Quadratmeter. Einige Bänke zum Ausruhen und ein pseudonatürlicher Wasserfall bildeten die Ausstattung. »Hör zu. Ich werde gesehen, wenn ich
Jagd auf Plophos den Liftpavillon verlasse. Ich bilde den Köder. Und du versuchst, dich im Bogen anzuschleichen. Vielleicht könnte dich jemand aus der Luft unterstützen.« »Geht in Ordnung, Ma! Gib auf dich acht, ja?« »Versteht sich. Start sofort?« Folus fluchte undeutlich und erwiderte: »Ja. Los!« Die Polizisten hatten mitgehört. Sie verteilten sich innerhalb der beiden Verbindungsgänge, wo sie durch die Scheiben hindurch ebenso zu sehen waren. Dann, auf ein leises Kommando, brachen sie aus. Nancy nahm einen Anlauf und stürzte aus dem Gebäude, wandte sich nach links und rannte auf den entfernt stehenden Gleiter zu. Sie hinkte sehr wirkungsvoll, und als die ersten Schüsse aufpeitschten, wußte sie, daß Opa sie gesehen hatte. Der nächste Treffer zerfetzte eine Handbreit über ihrem Kopf und einen Meter weit entfernt einen schenkeldicken Ast und ließ brennende Holzsplitter und rauchende Blätter um sie herum auf den Rasen regnen. Opa war entschlossen, sie zu töten. Er sah sie wie eine Scheibe auf dem Schießstand. »Verdammt!« ächzte er auf. Er wollte sie nicht töten, denn er liebte sie wie eine Tochter. Aber er wurde gezwungen, so gut zu zielen, wie er es vermochte. Opa jagte Schuß um Schuß in die Richtung der Polizisten, die sich anschlichen, und in die Richtung, in der Nancy vor ihm quer durch das Gelände jagte, dem rettenden Gleiter zu. Sie reagierte so, wie sie es gelernt hatten. Sie gab demjenigen, der auf sie feuerte, durch die Art ihrer unkontrollierbaren, ruckweisen Fortbewegung wenig Chancen. Die meisten Schüsse würden auf alle Fälle nicht treffen – ein tödlicher Treffer war ein Zufall. Opa war den befehlenden Impulsen erlegen. Das wußte er. Aber er würde handeln, bis er nicht mehr dazu in der Lage war. Er jagte etwa sechzig Schüsse in die Richtung des Mädchens, die hinkend und trotzdem in großer Schnelligkeit von Deckung zu
49 Deckung sprang. Jetzt erreichte sie den Gleiter, und die Entfernung war für einen guten Schuß einfach zu groß. Opa hörte auf zu feuern und zog sich in die Richtung des plätschernden Wassers zurück. »Ich habe versagt!« murmelte er und warf den Strahler, dessen Magazin fast leer war, achtlos zu Boden. Die Waffe mit dem vollen Energiemagazin wechselte hinüber in seine rechte Hand. Die Handflächen waren schweißnaß. Opa fühlte sich müde und ausgelaugt. Er machte eine erneute Anstrengung, um seine geistige Freiheit wiederzuerlangen. Und wieder verlor er. Dann blieb er stehen, als sei er gegen einen Baumstamm geprallt. »Folus!« stöhnte er auf. Als er gesehen hatte, wie Nancy den Gleiter erreicht hatte und dort in den Schutz eines Energieschildes gelaufen war, hatte Folus gefehlt. Wo war er? »Ich habe restlos versagt!« murmelte Opa. Seine geistige Freiheit war dahin. Und wenn einer der Gleiterpiloten über ihm richtig zielte, war auch seine körperliche Freiheit dahin. Noch hatten die Gleiter seinen Standort nicht erreicht, aber dies war nur eine Frage von Sekunden, höchstens von Minuten. Opa fiel schwer auf eine Steinbank. Der Befehl lautete, daß er sich bei seinem Versagen selbst zu töten hatte. Auch dagegen wehrte er sich, aber langsam hob sich sein Arm. Opa blickte geradeaus. Nachdem ihn die unbekannten Herrscher nicht mehr als Instrument und Werkzeug benutzen konnten, war er wertlos geworden. Das sah er ein, aber seine Muskeln zitterten, als er versuchte, sich gegen den selbstmörderischen Impuls zu stemmen. Der Arm hob sich, die Hand drehte sich. Die Nadel im Zentrum des Projektors deutete genau auf seine Schläfe. Als Opa vor sich den Schatten sah, der sich blitzschnell bewegte, schien es zu spät zu sein.
50
Hans Kneifel
Der Augenblick des Zögerns entschied. Sollte er auf die Gestalt in seinem Rücken feuern, oder sollte er einfach abdrücken? Noch mitten in diesem Zögern traf ein mächtiger Schlag sein Handgelenk. Dann krachte der Paralysator auf. Die Entladung traf Thow Tanza und machte ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils bewußtlos. Folus schlug sich das Schienbein blutig, als er über die steinerne Bank sprang. »Das war knapp!« sagte er leise und rieb sich das Bein. Er ließ den Paralysator fallen, fing den umkippenden Mann auf und legte ihn ausgestreckt auf die Bank. Der Gleiter senkte sich direkt neben den Rand des Bassins. Männer sprangen heraus und zogen eine Bahre hinter sich her. »Mann!« sagte der Pilot aus seinem Sitz, während er Kopfhörer und Mikrophon abstreifte. »Das war höllisch knapp!« Folus schwieg und kümmerte sich mit den anderen Männern darum, daß Opa auf die Bahre gelegt und angeschnallt wurde. Das Gefühl, das der Spezialist hatte, war unbeschreiblich; Opas Experiment war fehlgeschlagen, und es hatte allen geschadet. »Sie wissen Bescheid«, sagte Stuckey Folus dann. »Thow Tanza kommt auf dem schnellsten Weg zu Doktor Agasamu. Ich
unterhalte mich selbst mit dem Arzt, denn die Operation ist wichtig.« »Geht in Ordnung!« Sekunden später erhob sich der schwere Gleiter vom Boden und entfernte sich, schneller werdend, in die Richtung jener Organbank. Folus sah ihm lange nach, ehe er sich um einen Anruf an Agasamu kümmerte. Das nächstemal, dachte er bitter, mußten sie Spezialisten einsetzen, die mentalstabilisiert waren. Wenn erst einmal die gefährliche Haut abgelöst und durch Opas eigenes Gewebe ersetzt worden war, konnte er aufatmen. Rund acht Tage und einige Stunden waren sie auf Plophos, und der Erfolg war mager. Eines war jedoch klar: Eine mächtige und sehr einflußreiche Organisation steuerte diese Folge von Verbrechen. Wieder einmal waren große Teile der Galaxis gefährdet. Und auch die drei Mitglieder der Familie konnten dagegen kaum etwas ausrichten. Folus begann lautlos zu fluchen und ging zurück zum Polizeigleiter. ENDE
ENDE