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Die Invasion der Eiswesen war gelungen. Sie beherrschten den Planeten. Nur wenige Menschen hatten die Katastrophe überlebt und vegetierten jetzt wie die Tiere in den Tiefen der tropischen Dschungel. Mark Darragh war einer von ihnen. Er träumte davon, die Erde zu befreien und die Invasoren zu vernichten. Mit den primitiven Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, machte er sich auf den Weg zu den Eiswesen. Er mußte ihre schwache Stelle finden ...
Ferner liegen vor in der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories 1 (2760) Science-Fiction-Stories 2 (2773) Science-Fiction-Stories 3 (2782) Science-Fiction-Stories 4 (2791) Science-Fiction-Stories 5 (2804) Science-Fiction-Stories 6 (2818) Science-Fiction-Stories 7 (2833) Science-Fiction-Stories 8 (2845) Science-Fiction-Stories 9 (2853) Science-Fiction-Stories 10 (2860) Science-Fiction-Stories 11 (2873) Science-Fiction-Stories 12 (2877) Science-Fiction-Stories 13 (2883) Science-Fiction-Stories 14 (2889) Science-Fiction-Stories 15 (2894) Science-Fiction-Stories 16 (2899) Science-Fiction-Romane: Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888)
Ullstein Buch Nr. 2898 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Dark Destroyers« Übersetzt von Ingrid Rothmann Originalausgabe Umschlagillustration: Fawcett Publications, Inc. Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1959 by Manly Wade Wellman Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02898-5
Manly Wade Wellman
Invasion von der Eiswelt SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
»... wer nicht erkennt, was im Universum ist, bleibt dem Universum ein Fremder ... Sieh, wie sich alle Dinge unaufhörlich ändern und gewöhne dich an die Erkenntnis, daß es der Natur höchste Freude ist, Bestehendes zu ändern ...« Marcus Aurelius Antonius, An sich selbst, Buch IV.
Prolog Jeder hat schon unzählige Theorien über den Ursprung der Kalten gehört, doch mit Sicherheit konnte niemand etwas behaupten. So plötzlich hatte sich ihre Ankunft auf der Erde vollzogen, so schnell und überwältigend war der Kampf siegreich entschieden, daß den Männern und Frauen der Erde keine Zeit zum Überlegen oder zum Betrachten der Tatsachen blieb – nur Zeit, zu fliehen. Die Kalten waren große, durchscheinende, helmförmige Wesen, die sich mit Rutsch- und Krümmbewegungen auf gummiartigen Fußorganen fortbewegten, schneckengleich, aber erstaunlich schnell und wendig. Der kammartige Kopfteil eines solchen Lebewesens ragte volle eineinhalb Meter hoch. An der tiefsten und dicksten Stelle war der Körper etwas breiter als lang. Dicht am Ansatz des gezackten Kammes sproß ein Büschel von sechs bis acht Fühlern, gleich einer wehenden, wippenden Helmfelder. Diese Fühler waren von schlangenartiger Beweglichkeit und konnten sich bis auf eine Länge von beinahe zwei Metern und mehr ausstrecken. Jeder Fühler endete in einem runden, einer Handfläche ähnelndem Saugorgan, welches fassen, halten oder etwas auf der offenen Hand tragen konnte. Inmitten der trübe
schimmernden, grauen Körpermasse hing und pulste ein gewichtig aussehendes Ding von Fußballgröße, das ein schwach rötlich-blaues Licht ausstrahlte. Vielleicht war es das lebenswichtigste Organ oder das Sinneszentrum oder beides zugleich. Manchmal pulsierte es wild, und die Lichtintensität änderte sich auf seltsame Weise. Die Kalten nahmen ihre Nahrung – es handelte sich dabei um synthetische Nährstoffe, aus verschiedenen Chemikalien gemixte Flüssigkeiten – durch sofortige Absorption durch die Körperoberfläche auf. Die meisten Untersuchungen stimmten dahingehend überein, daß sie geschlechtslos waren und daß ihre Fortpflanzung wahrscheinlich auf Sprossung beruhte, wie bei den einfachen irdischen Lebensformen. Andere Körperfunktionen beruhten auf ebenso primitiven Prinzipien. Manche menschliche Wissenschaftler waren der Meinung, daß diese, auf der Erde fremden Wesen, Einzeller waren, die sich erstaunlicherweise zu höherer Intelligenz entwickelt hatten. Andere wieder behaupteten, daß sie die extreme Entwicklungsstufe eines ursprünglich komplexen Organismus zu einer gewissen Spezialisierung der rationalen und manipulativen Fähigkeiten darstellten. Wieder hatte man weder Zeit noch Gelegenheit zur Schlichtung solcher Meinungsverschiedenheiten. Sie kamen unerwartet und unvorhergesehen mitten
im Winter. Eine Regenflut schwarzer Schiffe, die sich über ganz Europa, Nordamerika und das nördliche Asien ergoß. Zu diesem Zeitpunkt herrschten anormale Witterungsverhältnisse – die nördlichen Klimazonen wurden von ausgedehnten Kältewellen heimgesucht. Die ersten Menschen, die die Kalten zu Gesicht bekamen, waren fast im gleichen Augenblick auch schon tot. Denn jedes Schiff hatte während des Näherkommens ein gräßliches weißes Licht in großen, konzentrischen Ringen ausgestrahlt, das alles Leben, mit dem es in Berührung kam, explodieren ließ. Städte, Häfen und Verteidigungsanlagen schienen buchstäblich zu schmutzigem Nebel zerstäubt zu werden. Was von Staaten und Bevölkerung übrigblieb, ergriff vor diesen ersten Schiffslandungen entsetzt die Flucht, aber nur, um auf weitere zu stoßen und in sinnlosem Fliehen unterzugehen. Wer von den Regierungsspitzen die ersten Stunden überlebte, machte zunächst heimtückische Angriffe gegnerischer Mächte für alles verantwortlich. Dann aber war man gezwungen, der Wahrheit – und war sie auch noch so seltsam – ins Auge zu sehen. Menschen und Nationen unternahmen einen Versuch zur Verteidigung. Armeen und Flotten wurden mobilisiert, Schwärme von Jagd- und Bombenflugzeugen zum Schlag gegen die schneeumgürteten Lager der
Invasoren ausgeschickt. Doch Bomben und Kugeln wurden von dunkelgrünen Strahlenschildern zurückgeworfen, während weißes Licht, gebündelt und wie aus Schläuchen entströmend, die Flugzeuge geschwaderweise fällte – wie eine von einer plötzlichen Seuche heimgesuchte Generation von Heuschrecken. Piloten, Navigatoren und Bombenwerfer schmolzen vor den feindlichen Geräten zu blasigen Massen, ihre Maschinen zerschellten am Boden, während die Kalten auf der ganzen Welt zu weiterem Angriff rüsteten. Man kam gegen sie nicht an. Gelenkte Raketen vermochten die Schilde nicht zu durchdringen. Artilleriebeschuß war ebenso fruchtlos, da die Geschütze samt der Mannschaft vernichtet wurden. Die Überlebenden waren die Flinken, die Verstohlenen, die Feiglinge. Und stündlich fielen noch mehr der schwarzen Raumschiffe vom Himmel. Die Fremden richteten Posten ein, stellten die Verbindung zwischen den einzelnen Stationen her und verbanden die verschiedenen Einheiten zu tödlichen Armeen. Kleinere Maschinen schossen zu Erkundungsflügen hinaus und in Kämpfen, die zu Lande und zur See von Alaska bis Wladiwostok ausgetragen wurden, löschten sie mühelos die letzten Reste der irdischen Armeen samt Waffen, Stützpunkten und Städten aus.
Daß es überhaupt Wesen gab, die entkommen konnten, war ein Wunder, das auf einer weiteren Laune des Wetters beruhte. In dem Augenblick, als die Überlebenden der weltumspannenden Katastrophe entflohen, setzte Tauwetter ein – überall – im verwüsteten Rußland, im zerstörten England und Deutschland, im verbrannten und gequälten südlichen Kanada und in den von der Katastrophe geschlagenen Vereinigten Staaten. So wie die große Kälte die Invasion mit sich gebracht zu haben schien, so brachte das große Tauen sie durcheinander. Die Eroberer zogen sich vor dem Tauwetter in den Norden zurück, sie wichen zurück, wie Menschen vor einem großen Feuer. Sie schlossen sich in ihren Schiffen und Unterkünften ein. Am zweiten Tag des Tauwetters – als der blaue Himmel in fast sommerlicher Hitze flimmerte und der auftauende Schnee in Rinnsalen und Bächen über die Kontinente verrann – war kein einziger helmförmiger Sieger im Freien, um die triumphale Zerstörung, die sein Kommen der Erde gebracht hatte, zu begutachten. Dieses Phänomen gab der gejagten Menschheit den ersten Hinweis auf die Natur des Feindes. Die Invasion war also von einer weit von der Sonne entfernten Welt gestartet worden, von einer Welt, deren Bewohner bei einer Temperatur gediehen, die Erdbewohner hätte erfrieren lassen und die in einem Wetter dahin-
welkten, das auf der Erde als mild gegolten hätte. Wollten die Menschen überleben, dann mußten sie in den Süden, in Regionen, die für ihre Gegner zu heiß waren. Und die Menschen zogen in den Süden. Sie verließen die unvergeßlichen Orte zivilisierter Kultur und Ordnung. New York, London, Moskau, Paris, Peking, St. Louis, San Francisco, Tokio – sie alle waren verlassen und menschenleer, wenn sie nicht schon beim ersten schrecklichen Angriff zerstört worden waren. Nicht alle flohen rechtzeitig und schnell genug. Die Kalten, die sich inzwischen auf Bewegung und Aktivität in der Hitze vorbereitet hatten, wagten sich wieder hervor. Es war klar – sie wollten einen totalen Vernichtungskrieg. Für die neue Offensive war gegen eventuell auftretende, schädigende Hitzeeinflüsse Vorsorge getroffen worden. Jedes helmförmige Wesen trug jetzt einen merkwürdig versiegelten Panzer, viele flogen in isolierten Flugschiffen. Wieder wurde die Nachhut der flüchtenden Menschheit von Gemetzel und Terror heimgesucht. Man konnte die neuen Herren der Erde weder in Schach halten, noch ihnen offen entgegentreten – nicht, ehe die Flucht in die Tropen ihr Ende gefunden hatte. Erst dann war die schmähliche Verfolgung zu Ende. Die wild verstreuten, erschöpften Reste der Menschheit biwakierten in
den Sümpfen von Florida, den Dschungeln von Yukatan, in den Oasen Indochinas und der Sahara, und entlang heißer, mangrovenbestandener Küsten. Noch lange Zeit sollte es bei diesem grausamen Versteckspiel bleiben. Die Menschheit setzte den Kalten nicht einmal die Andeutung eines Widerstandes entgegen. Kleine Geschwader blitzschneller Maschinen – isoliert, eisgekühlt und uneinnehmbar bewaffnet – jagten hier und dort sogar über Städte auf dem Äquator hinweg, um das Volk, dessen Hände zu schwach geworden waren, die Mutter Erde festzuhalten, zu bombardieren oder mit tödlichen Strahlen zu beschießen. Die wenigen Menschen, die in den gemäßigten und subarktischen Regionen noch versteckt waren, wurden unbarmherzig ausgelöscht. Die zu allem entschlossenen Überlebenden stürzten sich tief in die heißen Dschungel am Äquator, um dort ihre Wunden zu lecken, Nester zu bauen und ihre Kinder Haß und Schrecken zu lehren. Und die Kinder – sie wuchsen in vager, banger Hoffnung auf, jene Welt, die ihre Eltern einst beherrscht hatten, zurückzuerobern ... doch sollte ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe die Kinder überhaupt einen Versuch machen konnten ...
1 Fünf Häuptlinge hockten um ein Beratungsfeuer nahe dem Mittellauf des Orinoco auf einer Lichtung zwischen den üppigen, stolzen Bäumen, die vom Land wieder Besitz ergriffen hatten, seit die Angriffe der Kalten die Menschen von Ackerbau und Viehzucht abgeschreckt hatten. Ursprünglich hatten sich sechs zur Beratung zusammengesetzt, doch der sechste – der schwarzbärtige Anführer eines Clans, dessen Angehörige vom Fischfang mit dem Spieß lebten – hatte sich als starrhalsig und hitzköpfig erwiesen. Gleich zu Beginn der Verhandlungen war er mit dem selbsternannten Vorsitzenden in Streit geraten, Beschuldigungen und Beleidigungen waren aufgeflackert und hatten schließlich zu einem Duell mit hirschfängerähnlichen Macheten geführt. Die anderen hatten dem fairen Kampf mit wohlwollendem Interesse zugesehen. Jetzt war der Schwarzbart tot und lag, etwas abseits, unter einem Gestreu breiter grüner Blätter. Der Sieger in diesem Handel beendete die Reinigung seiner Klinge, indem er sie mehrmals in die feuchte dunkle Erde stieß. Dann polierte er sie an seiner zerfetzten Baumwollhose bis sie glänzte und steckte sie in die Lederschlaufe, die an seinem Gürtel hing und eigentlich für einen Säbel bestimmt war.
»Und jetzt«, verkündete er, »wird die Sitzung wieder zur Ordnung zurückkehren.« Die anderen nickten zustimmend und sahen ihn mit jener Bewunderung an, die Kämpfer für Kämpfer hegen. An den Ohren trug er Ringe, um den Kopf einen zerfetzten roten Schal, wie ein Pirat aus alter Zeit, doch seine hageren Wangen und sein Akzent verrieten Yankee-Tradition. Seine Großeltern hatten zu jenen Überlebenden gezählt, die aus Lynn, Massachusetts, in den ersten schrecklichen Tagen der KaltenInvasion hatten fliehen können. »Wie ich schon vor dieser rüden Unterbrechung ausgeführt habe«, fuhr er trocken fort, »so rechne ich damit, daß die Mehrheit von uns mit dem Bündnis einverstanden ist.« Die hellen Augen sahen kurz zur stillen Wölbung unter den Blättern hinüber. »Eigentlich müßte ich sagen, daß die Sache einmütigen Beifall gefunden hat.« »Ja«, meinten die anderen. »Das stimmt.« Wild aussehend und behaart, mit den verschiedensten Waffen ausgerüstet, wirkten sie, als wären sie Gewalttaten nicht abgeneigt. Wie ihr Vorsitzender, erinnerten sie an Figuren aus einem Piratenstück. »Gut«, sagte der Vorsitzende. Er lächelte mit harten Lippen. »Wessen Wort gilt etwas bei seinem Stamm? Seid ihr sicher, daß eure Leute mit unseren Entscheidungen einverstanden sind?«
»Ich kann für meine Gruppe und die Haufen flußaufwärts sprechen«, meldete sich ein dunkelhäutiger Kerl mit dem Namen Megan. »Drei oder vier Häuptlinge haben sich mit mir besprochen, kurz bevor ich zu dieser Versammlung kam. Sie sind in dieser Sache auf unserer Seite, Spence. Jetzt erwarten sie mich zurück, damit ich berichten kann, wie der Rat entschieden hat.« »Gut«, sagte der Vorsitzende. »Und was ist mit den anderen?« Ein zweiter Häuptling versprach Unterstützung von Nachbarstämmen und dann noch einer. Spence lächelte froh und stolz. »Mit unseren Gruppen und jenen anderen, die versprechen, daß sie mit uns zusammengehen wollen, haben wir für den Anfang ein starkes Bündnis«, sagte er. »Genügend Leute und gute, befähigte Anführer, die noch mehr anwerben können. Diese Gruppen und Grüppchen im Hinterland werden eines nach dem anderen mitmachen.« Megan wandte seinen Blick vom Feuer ab und sah zu dem Toten hinüber. »Und was ist mit seinen Leuten? Wie werden sie es aufnehmen, wenn sie erfahren, daß ihr Anführer beseitigt wurde?« »Damit habe ich gerechnet«, nickte Spence und spuckte ins Feuer. »Sie haben keinen Anführer mehr, also werden sie sich vielleicht meinem Haufen anschließen. Ich könnte mir vorstellen, daß sie froh sein
werden, einen besonnenen Anführer zu bekommen und diesen großmäuligen, streitsüchtigen Kerl los zu sein. Ist jemand dagegen, daß sie sich meiner Gruppe anschließen?« »Der Antrag liegt zur Abstimmung vor«, sagte Megan. »Antrag angenommen«, warf sein Nachbar am Feuer ein. »Ist jemand dagegen?« fragte Spence. »Die JaStimmen überwiegen, wir werden also seine Gruppe einladen, sich mir anzuschließen. Ich werde uns alle zu einem Ausschuß ernennen, der die Leute aufsucht und ihnen sagt, was geschehen ist und was jetzt das vernünftigste für sie ist. Wenn fünf Anführer sprechen, wird es wohl kaum Gegenargumente geben.« Wieder spuckte er aus. »Langsam glaube ich, daß unsere Schwierigkeiten jetzt überwunden sind.« »Nicht ganz«, sagte eine Stimme hinter ihm. Spence drehte sich blitzschnell um und erhob sich geschmeidig. Dabei glitt seine Hand wie durch einen Impuls bewegt, zum Griff seiner Machete. In dem Dickicht breiter Blätter, aus denen man dem toten Streitsucher ein provisorisches Leichentuch gepflückt hatte, bewegte es sich. Vor die Augen aller trat ein hochgewachsener, junger Mann. »He«, sagte Spence. »Ich dachte, du wärst schon weg.«
Der junge Mann trug Ledersandalen und aus Flikken zusammengesetzte Shorts von grobgewebtem Baumwollstoff. Der schlanke Körper und das glattrasierte Gesicht waren so sonnengebräunt, daß sich ihre Farbe kaum noch jener der Ledersandalen abhob. Dadurch wirkte das Blau der gutgeschnittenen weitoffenen Augen um so anziehender. Der schwarze Haarschopf, das starke Kinn, die große, gerade Nase und die markanten Backenknochen, zusammen mit der hageren Größe gemahnten an das Aussehen des jungen Abraham Lincoln. An seinen Gürtel hing keine Waffe – nur ein Beutel aus gegerbtem Katzenfell. Spence schob die Kiefer vor und sah ihn ein wenig fassungslos an. »Ich habe dich zu dieser Versammlung nur mitgenommen, damit du über deine Nordexpedition berichten kannst«, grollte er. »Du bist kein Häuptling, du hast also keine Stimme in diesem Rat! Ich dachte, du wärst nach deiner Berichterstattung schon weggegangen.« Der große junge Kerl grinste ohne eine Spur von Verlegenheit. »Ich wollte gerade aufbrechen, als sich der Kampf zusammenbraute.« »Sagen wir lieber, die kleine parlamentarische Debatte«, sagte Spence im Befehlston. »Also – dann hat sich eben diese kleine parlamentarische Debatte zusammengebraut. Ich habe da drüben in den Büschen gewartet, um zuzusehen. Dann
bin ich geblieben und konnte nicht umhin zu hören, was ihr nachher besprochen habt.« »Was meinst du mit ›nachher besprochen‹?« forderte Spence ihn heraus. »Daß es mit den Schwierigkeiten jetzt vorbei wäre.« Wieder grinste der junge Mann. »Die beginnen doch jetzt erst recht, wenn ich so sagen darf.« Alle fünf Häuptlinge machten ein finsteres Gesicht. »Du darfst es sagen, schon recht«, sagte der dunkelgesichtige Megan mit einem vernichtenden Blick. »Aber diese Behauptung führt zu nichts.« »Es führt zu nichts, wenn ihr glaubt, mit den Schwierigkeiten wäre es nun vorbei«, lautete die gutmütige Antwort. Spence runzelte die Stirn. »So habe ich es ja gar nicht gemeint. Es sollte nicht heißen, daß es mit allen Schwierigkeiten aus wäre. Nur die größte – nämlich die Bildung eines Bündnisses ...« Er machte eine vage Handbewegung. »Diesen größten Schritt auf dem Weg zum Kampf gegen die Kalten – den haben wir getan. Jetzt können wir uns auf den nächsten Schritt vorbereiten.« »Auf den Kampf mit den Kalten vorbereiten?« warf der junge Eindringling skeptisch ein. »Auf den Vormarsch ... ja in welche Richtung denn ... nach Norden oder Süden? Ich habe gehört, daß ihr Hauptstützpunkt irgendwo in der Antarktis liegen soll.«
»Wir gehen nach Norden«, sagte Megan grimmig. »Dort werden wir mit ihnen zusammentreffen.« »Und wenn ihr auf sie trefft – was dann?« Das schmale junge Gesicht hatte sein Lächeln verloren und war düster geworden. »Haltet ein und überlegt! Ihr Häuptlinge! Jeder von euch hat eine Gruppe, eine ganze Gemeinschaft, die von eurem vernünftigen Urteil abhängt.« »Und«, fuhr Spence fort und schob den Gürtel, der die Machete hielt, hoch, »du glaubst also, unser Urteil wäre nicht vernünftig?« »Ich denke daran, daß fünfzig Jahre vergangen sind, seit die Kalten auf die Erde kamen. Ich denke daran, daß sie die Nationen der Erde in fünfzig Stunden weggefegt haben. Und ich glaube, ihr habt ganz vergessen, was es heißt, geschlagen und zerschmettert zu werden.« »Hm«, brummte Megan, »wenn wir schon vom Schlagen und Treten sprechen, junger Mann, wie würde es dir wohl gefallen ...« »Wenn ihr und die anderen es vergessen habt«, fuhr der andere fort, »würden wir es dann nicht am eigenen Leibe erfahren müssen, sobald wir in die Reichweite der Kalten kommen?« »Eure Väter und Großväter wurden geschlagen«, höhnte ein bronzegetönter Mann mit feingebogener Nase. Es war Capato, ein venezolanischer Indianer, der
eine Föderation von Eingeborenendörfern regierte. »Mein Volk ist von den Kalten nie geschlagen worden!« »Weil dein Volk nie gegen sie gekämpft hat«, schleuderte der hochgewachsene Jüngling ihm entgegen. »Ihr steht jetzt kurz davor, gegen sie anzutreten und ihr werdet euren Buckel voll bekommen. Vielleicht wird niemand aus dem Kampf zurückkehren und berichten, wie arg die Schläge waren.« »Na schön, Söhnchen«, warf ein anderer ein. »Du steckst voller Kritik. Was hast du an vernünftigen Ratschlägen auf Lager?« »Ich wiederhole: haltet ein und überlegt zuerst. Wenn uns die Kalten einmal geschlagen haben, damals, als sie kaum gelandet waren und erst Atem holen mußten – wenn wir damals vom Thron stürzten, als wir glaubten, sicher darauf zu sitzen – was werden sie diesmal tun, jetzt, da sie die gut verschanzten Verteidiger sind und wir die Angreifer?« »Du bist ein verdammter Miesmacher«, schnaubte Spence. »Ich weiß dafür einen besseren Namen«, sagte Megan verächtlich. »Er ist ein Feigling.« Das gebräunte Gesicht wandte sich Megan zu, die jungen Lippen enthüllten weiße, ebenmäßige Zähne. Zwei große Hände ballten sich zu Fäusten. Megan wich einen Schritt zur Seite und zog die Machete aus der Schlaufe.
»Er ist unbewaffnet«, warf Capato rasch ein. »Einen Unbewaffneten darfst du nicht töten, Megan!« »Gib ihm einen Dolch«, grollte Megan. Capato legte die Hand an die eigene Waffe, doch der junge Mann machte eine Geste der Ablehnung. »Ich lasse diese Beleidigung durchgehen«, sagte er gedehnt. »Mag sie für den Augenblick ungerächt bleiben. Jemand hat gefragt, ob ich einen vernünftigen Rat hätte. Warum setzen wir uns nicht?« Er hockte sich auf seine in Sandalen steckenden Fersen ans Feuer. Spence starrte ihn einen Augenblick lang an und ließ sich dann auf seinen eigenen Platz fallen. Auch die anderen setzten sich und warteten ab. »Eben jetzt«, fing der junge Späher wieder an, »gibt es sehr viel anderes zu tun, als Zweikämpfe auszutragen. Zweikämpfe lösen nämlich keine Probleme. Und der getötete Häuptling ist bereits selbst zu einem Problem geworden. Ihr alle müßt jetzt hingehen und den Vorfall seinem Stamm erklären.« »Er hat mich tödlich beleidigt«, rechtfertigte sich Spence. »Was hättest du an meiner Stelle getan?« »Ihr habt gesehen, was ich getan habe, als ich beleidigt wurde. Ich habe es hingenommen und mich wichtigeren Dingen zugewandt. Denn es gibt wichtigere Dinge, als die Frage zu lösen, ob dieser Häuptling – Euer Name ist Megan, nicht wahr? – mich in
einem hart auf hart geführten Kampf mit Macheten besiegen kann. Viel wichtiger wäre es, herauszufinden, ob die menschliche Rasse die Kalten schlagen kann.« »Wir können sie schlagen«, schnappte Spence zurück, als ob eine scharfe Bejahung die Frage beantworten könnte. »Sie haben niemals echte, unüberwindliche Überlegenheit in der Kriegsführung gezeigt. Von wo sie auch hergekommen sein mögen ...« »Von wo immer sie aus hergekommen sein mögen – sie waren bloß eine, weit durch den Weltraum ausgeschickte Expedition«, beendete der junge Mann den Satz. »Sie sind mit kleinem Gepäck gereist, eine kleine Nutzlast in einem Fortbewegungsmittel, das auf große Entfernungen das All durchquert. Die mitgeführten Waffen reichen wahrscheinlich an die besten, die ihnen zur Verfügung stehen, nicht annähernd heran.« Er breitete seine großen Hände aus. »Ich sehe, wie sie gleich einem Polizeikommando in alten Zeiten ausrücken, um einem großen, unbewaffneten Pöbelhaufen entgegenzutreten. Ich habe von solchen Aktionen gehört. Es wurden Pistolen, Gummiknüppel und Tränengasbomben mitgeführt. Falls diese Waffen nicht sofort gewirkt hätten – wenn sich also der Pöbel zur Wehr gesetzt und der Polizei ernsthaft zu schaffen gemacht hätte – dann wären sie mit Maschinengewehren nachgerückt. Und im Falle einer Revoluti-
on gab es schwere Geschütze, Tanks, Flugzeuge. Gut und schön. Unsere Vorfahren wurden von den leichten Waffen der Kalten besiegt – und wir sind seither von unserem damaligen Stand beträchtlich abgesunken.« »Wir besitzen noch immer das, was im Krieg wirklich zählt«, beharrte Spence. »Wir haben jahrelang alte Ausrüstung erneuert. Wir verfügen über Gewehre und Munition. Wir haben Chemikalien, sogar ein paar Flugzeuge.« »Alles, was vor fünfzig Jahren überhaupt nicht gezählt hat!« Das war völlig richtig, doch die fünf Häuptlinge wollten nicht daran erinnert werden. Das gaben sie dem jungen Quälgeist durch ihre finsteren Mienen zu verstehen. »Ich glaube, du nimmst den Mund schön voll – wenn man bedenkt, daß du in diesem Rat keine Stimme hast«, sagte Spence. »Wir wissen nicht einmal, wie du heißt.« »Ich heiße Darragh. Mark Darragh. Um eine Stimme im Rat geht es mir nicht. Ich versuche bloß, euch die Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen. Wartet – gebt mir nur noch eine Minute, bitte. Ihr alle wiegt euch hier in den Tropen in Sicherheit.« »Wir sind hier seit einem halben Jahrhundert sicher«, entgegnete Capato.
»Weil sie uns vergessen haben. Angenommen, ihr und ein paar andere stellt eine Streitmacht auf, zieht nach Norden und werdet besiegt. Ihr habt gekämpft, ihr habt ihre Aufmerksamkeit auf euch gelenkt. Sie werden nach Süden dringen und das letzte menschliche Wesen ausrotten.« »Unsinn«, explodierte Capato. »In diese Temperaturen können sie sich nicht vorwagen. Überdies bietet uns der Dschungel gute Deckung.« »Sie können bis hinauf in die Stratosphäre über unserem Gebiet«, sagte Mark Darragh. »Dort oben ist es für sie ausreichend kalt. Und von dort aus können sie ihre Vernichtungsstrahlen auf die Dschungelgebiete richten. Sie könnten uns auslöschen, wie wir Ungeziefer auslöschen, indem wir das Gras anzünden.« Dieses Schicksalsbild, das ihnen hier kurz und drastisch gemalt wurde, veranlaßte die fünf Anführer zu einer nachdenklichen Pause. Darragh nutzte den Augenblick und bohrte weiter. »Ich möchte euch nochmals bitten, euch vor Augen zu halten, daß sich die Dinge geändert haben. Als die ersten von ihnen zur Erde kamen, waren wir gerüstet und mächtig und befanden uns in der Überzahl. Jetzt haben sie Befestigungen. Ich bin dort oben gewesen – oben im Golf von Mexiko. Ich habe ihre Vorposten gesehen ...« »Das wissen wir«, versuchte Spence ihm das Wort
abzuschneiden. »Du hast ja über deine Beobachtungen berichtet.« »Ich habe ihre Vorposten gesehen«, wiederholte Darragh hartnäckig. »Große Forts, versiegelt, kuppelförmig und vermauert. Darüber kreisende Flugzeuge. Die Reste menschlicher Behausungen liegen in Schutt und Asche. Ich weiß also, wovon ich rede. Ich bezweifle, ob jemand durch so viele Jahre und so tief in ihr Gebiet eingedrungen und lebend zurückgekommen ist.« »Ein törichtes Jugendabenteuer«, meinte einer der Häuptlinge verächtlich. »Sie haben recht, Sir – wahrscheinlich war es wirklich töricht. Ich bin als Junge in den Norden gezogen und habe dort zwei Jahre Beobachtungen gemacht. Ich spüre, daß ich als Erwachsener zurückgekommen bin, mit nützlichem Wissen über den Feind.« »Eine große Hilfe bist du nicht, wenn du verlangst, wir sollten den Kampf vergessen«, sagte Megan herausfordernd. »Das habe ich nicht verlangt. Ich habe bloß gesagt, wir sollten nicht auf ihre Weise kämpfen. Meidet die Taktik, die uns schon einmal Schläge eingebracht hat. Entwickelt eine andere Politik und andere Waffen.« »Welche Politik und welche Waffen wären das?« warf Spence ein. Darragh machte ein finsteres Gesicht. Zum ersten
Mal wirkte er ratlos. »Ich weiß es nicht – noch nicht«, mußte er nach einem Augenblick zugeben. Verbittertes Auflachen rund ums Feuer war die Reaktion. »Gut, Darragh – mir scheint, du bist jetzt mit deiner kleinen Komödie am Ende«, sagte Spence. »Ich stehe diesem Rat vor, und ich gebe dir die Erlaubnis zu gehen, damit wir unsere Angelegenheiten beenden können.« Darragh stand auf. »Gut, ich gehe«, sagte er. »Doch laßt mich als Späher gehen, meine Herren.« »Späher?« kam von Megan das Echo. »Laßt mich noch einmal hinaufziehen. Laßt mich das Land und die Kalten auskundschaften. Laßt mich das Geheimnis erforschen, das sie vernichten wird.« »Donnerwetter, ich will verdammt sein, wenn der Junge kein gutes Mundwerk hat«, kicherte Megan. »Er überzeugt mich beinahe. Das heißt, er hätte mich überzeugt, wenn ihm nicht der Schnitzer mit der neuen Politik und den neuen Waffen passiert wäre, von denen er nichts weiß.« »Ich werde das Geheimnis erforschen«, beharrte Darragh. Spence schüttelte den Kopf. »Auch wenn du dahinterkommst, dauert es zu lange«, widersprach er. »Wir haben es satt, uns zu verkriechen und zu verstecken. Du hast berichtet, daß dort oben in dem Land, in dem
wir eigentlich leben sollten, die Kalten immer zahlreicher werden.« »Das stimmt«, nickte Capato. »Wir müssen sie jetzt oder nie zusammenschlagen.« »Jetzt?« wiederholte Darragh. »Wie bald ist das? Wir haben jetzt Anfang September. Ihr plant doch wohl keinen Winterfeldzug – oder?« »Nein, das tun wir nicht«, sagte Spence. »Wir werden unsere Leute sammeln und bewaffnen. Im Herbst und Winter werden wir die Sache organisieren und mit dem Drill beginnen. Wenn die Hitze kommt, ziehen wir in den Norden. Wir müssen die Kalten in der für sie ungünstigsten Jahreszeit erwischen.« »Das heißt also von jetzt ab in einem halben Jahr?« faßte Darragh zusammen. »Dann gebt mir für die Expedition ein halbes Jahr Zeit.« Hinterhältig lächelnd zuckte Spence mit verächtlicher Zustimmung die Achseln. »Gut«, sagte er. »Komm in sechs Monaten wieder und berichte uns alles. Dann wirst du uns kampfbereit vorfinden.« »Das nenne ich einen fairen Handel«, sagte Darragh. Er sah auf Megan hinab. »Wenn ich zurück bin, wirst du vielleicht den kleinen Zwist, den du mir aufzwingen wolltest, wieder aufnehmen wollen.« Megan lachte und schüttelte gutmütig den Kopf. »Sieh mal, Söhnchen, ich schließe mit dir einen Handel. Ich nehme zurück, was ich gesagt habe. Du bist
kein Feigling – sonst würdest du nicht ins Land der Kalten ziehen. Also – nichts für ungut.« »Nett von euch«, sagte Darragh. »Junger Mann, wir haben uns über dich lustig gemacht«, warf Capato ein. »So oder so – du hast es verdient, weil du als Störenfried hereingeplatzt bist. Doch du hast Mut, und ich wünsche dir Glück! Kehre in einem halben Jahr heil wieder!« »Amen«, sagte ein anderer. »Du bist ein langer, junger Kerl. Dich und viele von deiner Sorte brauchen wir in der Armee.« »Und wenn ich das Geheimnis herausfinde, wie die Kalten am schnellsten zu schlagen sind?« beharrte Darragh. »Ach das ...«, meinte Spence nachsichtig. »Berichte es uns, dann werden wir ja sehen.« »Ich werde es euch berichten«, versprach Darragh, »und ich glaube mit Sicherheit, daß ihr dann meine Besorgnis verstehen werdet.«
2 Achtundzwanzig Stunden lang war Mark Darragh in einem Kanu den Orinoco hinuntergetrieben. Sein Ziel war die Karibische See und die Bollwerke der Kalten entlang der nördlichen Küste und im dahinterliegenden Festland. Häuptling Megan hatte recht getan, seine Behauptung, Mark wäre ein Feigling, zurückzuziehen und Häuptling Capato hatte sich geirrt, als er Darragh als Narren verlacht hatte. Die Zusammenstellung von Darraghs Ausrüstung ließ auf Mut und Verstand schließen. Sein neun Meter langer Einbaum aus rotem Gummiholz war ein Vermächtnis seines Vaters – eines guten Jägers und zeitweiligen Lehrers an der schäbigen Dorfschule. Das Holz des Einbaumes war so hart, daß es sich mit Metall messen konnte. Es war mit großem handwerklichen Können und künstlerischem Gefühl bearbeitet und geformt worden. Darraghs Vater hatte den Stamm auf Grund großer Erfahrung ausgewählt. Dann hatte er mit Hilfe des Feuers den Stamm zu einem Boot von fünf Zentimetern Wanddicke ausgehöhlt, hatte das Innere glatt und sauber geschabt und die Außenseite so lange poliert, bis sie den seidigen Glanz und die Tönung von
altem Kirschlikör angenommen hatte. An der breitesten Stelle maß der Einbaum einen Meter und war an die acht Meter lang. Die spitz zulaufenden Bug- und Heckenden waren gegen Wellen eingedeckt. An Steuer- und Backbord war es mit Auslegern versehen. Auch ein paddelähnliches Ruder war vorhanden, das in einem senkrechten, geschmiedeten Bolzen ruhte. Der einzige Mast war etwas mehr zum Bug hin angebracht, es gab eine Schaluppentakelung, wobei Hauptsegel und Klüver aus dichtgewebten Palmfasern gefertigt waren. Mit der Ladung, die Darragh mitgenommen hatte, ragte das Boot gute viereinhalb Meter aus dem Wasser heraus. Unter Deck führte Darragh seinen Proviant mit – flache Kassavafladen, Mehl, um frische Fladen zu backen, ein paar große Jamswurzeln, Brotfrüchte, getrocknetes Schweine-, Ziegen- und Gürteltierfleisch; ferner einen Beutel mit Guaven, Granatäpfeln und Avocados und einen kleinen Bund Bananen; dazu zwanzig grüne Trinkkokosnüsse. Wasser führte er in zwanzig Kürbisflaschen mit. Zur weiteren Versorgung mußte er sich auf den Regen verlassen. Sein Kocher war primitiv, aber praktisch – ein Schieferdreieck im Bootsboden befestigt, ein Behälter voll Holzkohle zum Feuermachen. Als Kochgeschirr ein Bratspieß und eine Pfanne. Darragh war kein erfahrener Navigator. Was er
von der Navigationstheorie wußte, hatte er sich selbst angeeignet – aus abgegriffenen, alten Büchern, die den lange zurückliegenden Rückzug aus Nordamerika mitgemacht hatten. Er besaß einen Kompaß, einen Quadranten und eine Kollektion zerfetzter alter Seekarten der US-Marine von der Karibischen See, die ein dreiviertel Jahrhundert alt sein mochten. An Waffen hatte er einen altertümlichen, aber gut geschärften Kavalleriesäbel, ein gutes Messer aus selbstgeschmiedetem und gehämmertem Stahl und – da sämtliche Feuerwaffen schon längst von den Häuptlingen, die den Aufstand gegen die Kalten planten, konfisziert worden waren – einen Bogen mit einem Köcher voller Pfeile. Da Darragh als Spion zu den Kalten wollte, hatte er warme Bekleidung vorbereitet und eingepackt. Die Sachen lagen unter dem Vorderdeck. Es war eine Kombination, die Rumpf, Glieder und Kopf umhüllte – außerdem zwei schwere Stulpenhandschuhe und ein Paar hoher Mokassins, die sich fest verschnüren ließen. Das Fehlen geeigneter Felle in den Tropen hatte ihn zunächst in Verlegenheit gebracht. Dann hatte er sich mit zwei Lagen aus Wildleder beholfen, die er so lange gegerbt hatte, bis sie herrlich weich geworden waren. Zwischen diese zwei Schichten hatte er eine dritte, aus Baumwollwatte bestehende Schicht geschoben und das ganze mit starken Steppstichen wie eine Daunendecke
zusammengenäht. Dazu kam noch eine uralte Brille in einer Halbmaske aus sorgfältig eingeöltem alten Leder und ein dicker Baumwollschal als Gesichtsschutz. Vervollständigt wurde die Fracht durch eine Handvoll persönlichen Krimskrams – ein paar handgeschnitzter Reifen, Tabak in einem Beutel, das scharfgeschliffene Rasiermesser seines Vaters, eine Tube aus Bambusrohr voll handgedrehter Chinintabletten und ein Exemplar von ›Robinson Crusoe‹. Zunächst hatte Darragh nichts weiter zu tun, als seinen Einbaum zu steuern, der mit der starken Strömung des Orinoco immer weiter hinunter und dem offenen Meer entgegentrieb. Dort angekommen, setzte er die Segel, um eine leichte, aus Süden kommende Brise, auszunutzen. Dank der Brise hatte er gute Fahrt. An einem schönen, heißen Nachmittag sah er nach Steuerbord zu Trinidad liegen und ließ bei Sonnenuntergang seinen Steinanker in einen sumpfigen Küstenstreifen sinken. Darragh schlief ein paar Stunden, stärkte sich noch vor Anbruch der Dämmerung mit Kassavabrot und Trockenfleisch und setzte dann wieder Segel. Als die Sonne aufging, beschien sie zu seiner Rechten die Insel Tobago. Sein Bemühen, an Tobago vorbeizusegeln und die Insel rasch in den Rücken zu bekommen, mißlang. Eine starke Strömung warf ihn zurück. Darragh
glaubte es mit derselben Strömung zu tun zu haben, die in ›Robinson Crusoe‹ erwähnt war. Er wendete also, um es andersrum zu versuchen. Und er hatte damit Erfolg. Jetzt folgten höchst angenehme Tage und Nächte. Er schlief nur wenig, doch für seinen gesunden, jungen Körper reichte es. Als er am siebten Tag, nach Verlassen der Mündung des Orinoco, im alten Hafen von St. George auf Grenada an Land ging, um Frischwasser zu holen und auf Erkundung zu gehen, gratulierte er sich zu seinen improvisierten Navigationskünsten. Er entdeckte, daß die einstige Inselhauptstadt nur aus Ruinen bestand und bereits wieder vom Dschungel überwuchert war. Es war klar, daß die Stadt schon vor sehr langer Zeit die Aufmerksamkeit der Invasoren erregt hatte. Bei seinem Versuch, die alten Straßen aufzuspüren, sah Darragh, daß sogar die alten Betonrandsteine zu Staub zerfallen waren. Er fragte sich – wie schon so oft in der Vergangenheit – wie wohl die rätselhafte Kraft des explodierenden Strahlenmechanismus beschaffen sein mochte, die seiner Rasse die Katastrophe gebracht hatte. Geschütze hätten dagegen gar nichts ausrichten können – die Anführer des Bündnisses hingegen waren nicht imstande, über Geschütze hinauszudenken oder sich etwas anderes vorzustellen.
Darragh stieß auf eine klare Quelle und füllte seine Kürbisse mit Süßwasser, erntete ein paar Saueräpfel, um sie ins Boot mitzunehmen und kehrte zum Strand zurück, wobei er nüchterne und ziemlich düstere Überlegungen anstellte. Draußen, auf dem blauen Wasser, als sich seine Segel aus Palmblattfasern im Winde blähten, faßte er wieder Mut. Bis jetzt hatte er von den Kalten nichts zu Gesicht bekommen. Offenbar mieden sie die Breiten, in denen er jetzt segelte. Sein letztes Erkundungsabenteuer hatte ihn nach Westen geführt, die Küste Südamerikas entlang, den Isthmus weit hinauf. In jenen drei Jahren hatte er nur wenige der kuppelförmigen Behausungen des Feindes gesichtet, und zwar im mexikanischen Hochland. Diesmal wollte er die Golfküste der ehemaligen Vereinigten Staaten erreichen, vielleicht sogar den Mississippi, den er flußaufwärts fahren wollte, um die tatsächliche Lebensweise der Kalten kennenzulernen. Seine Aufgabe war es zunächst, wachsam zu sein. Hatten nicht einst, in den frühen Tagen der Erdgeschichte, schwache Gegner über starke triumphiert? Auf die Grundprinzipien zurückgeführt, war es eine Sache der richtigen Geisteshaltung. Spence, Megan, Capato und die anderen hatten eigentlich die richtige Einstellung. Darragh wünschte, er hätte sich das vor Augen gehalten, als er vor ihrem Rat das Wort ergriff.
Er wünschte, er hätte ihnen den Weg zum Weiterdenken in dieser Richtung gewiesen und sie in ihrer Weigerung, die Niederlage hinzunehmen, bestärkt. Schließlich war eine Niederlage ein Ereignis, wie jedes andere auch. Man konnte sich damit abfinden oder sich dagegen auflehnen. Er erinnerte sich an eines der alten Bücher seines Vaters. In diesem wurde die Geschichte eines anderen offenen Bootes berichtet, in eben diesen Gewässern, nicht weit von der Stelle entfernt, wo er, Darragh, jetzt dahinsegelte; die Geschichte eines alten Mannes auf Fischfang, der gegen die kosmische Bosheit des Schicksals und er Natur selbst ankämpfte und beinahe gescheitert wäre. Die Moral der Geschichte hatte nach Darraghs Meinung darin bestanden, daß man erst besiegt war, wenn man flach aufs Gesicht fiel und den Fuß küßte, der einen getreten hatte. Nun war er da. Der junge Mann und das Meer. Bis zum äußersten zum Überleben und Erfolg entschlossen. Entschlossen, die aufreizende Herausforderung zur Auflehnung, die in der unheilvollen Bescherung der Niederlage steckte, anzunehmen. Es fiel ihm noch etwas ein, ein Gedicht, eine Stanze von Kipling. Ganz allein mit dem Meer, dem heißen Himmel und den steifen Segeln, sang er die Worte zu einer selbsterdachten Melodie:
Mispeln, welche Eichen töten, Ratten, welche Seile nagen, Motten, welche Löcher beißen – Sieh', wie lieben sie ihr Tun! Ja, auch wir, ein kleines Volk, Schaffen emsig so wie sie. Schaffen Werke – ungeseh'n. Merkt nur auf – ihr werdet einst sie seh'n! Wie Darragh sich erinnerte, bezog sich diese Stelle auf die besiegten Pikten im alten Britannien, die den Sturz des mächtigen Rom planten. Er wünschte, er hätte sich an den Rest von Kiplings sehr passenden boshaften Verse erinnern können. Aber da ihm nichts mehr einfiel, sang er triumphierend immer wieder diese eine Strophe. Er hegte die mystische Überzeugung, daß darin eine Lehre für ihn und die Seinen lag – wie man die Kalten bekämpfen und besiegen mußte. Und auch die Taktik, deren man sich – wie er wußte – bedient hatte und die er dem Rat der Häuptlinge nicht hatte begreiflich machen können. Er würde der Lehre noch weiter auf den Grund gehen. Es war eine einfache Sache konzentrierten, rationalen Denkens. Wenn er sie erst voll erfaßt hatte, würde er sie auch anwenden. Wieder daheim im Dschungel, würde er vielleicht
den Rest des Piktenliedes von Kipling finden, es singen und den anderen als Kampflied lehren. Eine Schlußzeile fiel ihm jetzt ein: ›... und dann wird getanzt auf ihren Gräbern!‹ Mit wildem Behagen sagte sich Darragh diese Worte vor. Sie waren ein gutes Omen ... Nahe Martinique, auf einer Strecke sanft rollender See, die schwarz von streifenden Haien war, sah er zum Himmel und bemerkte eine weit entfernte Flugmaschine der Kalten. Sofort raffte er die Segel und blieb regungslos im Einbaum sitzen. Das Flugschiff – eine silberne Torpedoform ohne Flügel, Propeller oder Düsen – wurde immer größer, während es aus der Stratosphäre herabsank. Es überflog ihn und zog Kreise über ihm, als wollte es das Antlitz der Meerestiefe erforschen. Die Haie umschwärmten ihn und stießen zu beiden Seiten an sein Boot. Dank dir, Bruder Hai, sagte Darragh insgeheim, während er reglos wie ein Steinbild dasaß. Danke, weil ihr euch um mich schart – danke, weil ihr so groß und lang und so geformt seid wie mein Boot. Die Haie halfen ihm, die Beobachtungsmaschine irrezuführen und wie einer aus der großen Haifischfamilie auszusehen. Schließlich hob das silberne Torpedo seine Nase und verschwand in den Höhen. Darragh setzte die Segel und ging auf Nordkurs.
Um seine schwindenden Lebensmittelvorräte aufzufüllen, warf er eine mit einem Haken versehene Leine mit einer daranhängenden Schwarte über Bord. Es verging kein Tag, an dem er nicht ein paar gute Fische fing. Er teilte sie und grillte sie über einer Handvoll glühender Holzkohlenstückchen auf seinem Schieferherd. Auf einem zweiten Schieferstück buk er Fladen aus Kassavamehl und Wasser. Als er an Dominica vorüberglitt, sah er, daß auch Roseau vom Feind völlig ausgelöscht worden war. Hier war der Dschungel nicht wiedergekehrt. Offenbar war die ganze Insel so gründlich versengt worden, daß alles Leben hinweggerafft worden und nichts zurückgeblieben war, als ein großer, kahler Berg in der Mitte. Falls von dort oben nicht Samen fortgeweht oder -geschwemmt worden waren, die eine neue Vegetationsschicht hätten bilden können, war die Kahlheit vielleicht ein Anzeichen dafür, daß der Explosionsstrahl hier erst vor kurzer Zeit gewütet hatte. Aber – warum wohl? Hatten die Kalten hier Zielübungen abgehalten? Und wenn ja, bereiteten sie sich auf einen neuerlichen Zusammenstoß mit der Menschheit vor? Und noch einmal – was war denn eigentlich ihre Strahlenwaffe? Sie mußte eine unvorstellbare Hitze entwickeln, um derartige Vernichtung auch an Betongebäuden und Pflastersteinen anrichten zu können. Doch, wie konnten die Kalten, die doch
jedem auch nur mildem Wetter gegenüber so empfindlich reagierten, es bei der Handhabung dieser Waffe aushalten? Diese Frage konnte Darragh nicht beantworten, er konnte sie aber auch nicht aus seinem Bewußtsein verdrängen. Das Geheimnis vermehrte noch die Bedrohung durch den Feind. Darragh stellte fest, daß er keine Angst hatte. Schließlich – ein raubtierhaftes Grinsen überflog jetzt sein Gesicht, während er die begonnene These weiterentwickelte – hatte der Mensch zu lange auf Erden geherrscht, um in einem halben Jahrhundert »Niederlage zu erlernen«. In seiner Phantasie sah er lange Reihen von Kriegern. Sie zogen an seinem geistigen Auge vorüber, einer hinter dem anderen trat aus den dahingegangenen Jahrhunderten hervor. Da waren die heftig mitgenommenen, aber triumphierenden Marinetruppen von Midway und Okinawa, die zerfetzte Infanterie, die wie eine Gezeitenwelle die Strände der Normandie überschwemmt hatte, die Sieger von Cantigny und der Argonne, in verblichenem Khaki. Lees graue Virginier, Grants hartnäckige Männer in Blau; die leichte Kavalleriebrigade, die sich bei Baklava keine Zeit zum Überlegen ließ, Cortez und seine in rostigen Rüstungen steckende Armee, die das Aztekenreich verschlang; die Kreuzfahrer, geführt von Richard und dem heiligen Ludwig, die sarazenische Ritterschaft
von Sakah-ad-Din, Cäsars zehnte Legion; assyrische Phalangen bärtiger Männer, in Schuppenpanzern steckend. Und hinter diesen – kaum sichtbar, in prähistorischer Zeit – die haarigen Männer der Feuersteinmenschen. Darraghs erste menschliche Vorfahren, die in Europa auf die Neandertalrasse gestoßen waren – auch ein Volk von Ungeheuern, dem man beibringen mußte, wer der Herr in Europa war. Das waren die Eroberer. Es gab keinen darunter, der nicht nur einmal, sondern des öfteren Niederlagen kennengelernt hatte. Nicht einer unter ihnen, der sich nicht trotzdem zum Sieg wieder erhoben hätte. Im Augenblick war die ganze Menschheit am Boden zerstört. Aber sie war noch nicht abzuschreiben. Nein, vielmehr ruhte sie aus, lag auf einem Knie, wurde mit der Zeit immer stärker und bereiter, den Kampf wieder aufzunehmen. Die Lage der menschlichen Rasse war verzweifelt, aber nicht hoffnungslos. Dann sah Darragh im Geiste jene Dörfer und Städtchen im südamerikanischen Dschungel, in denen sein Volk lebte: Häuser aus behauhenem Holz und luftziegelähnlichen Bausteinen mit strohgedeckten Dächern, mit ihren Verwaltungseinrichtungen und Marktplätzen, da und dort Felder für den Getreideanbau, Weiden für das Vieh. Er sah vor sich die Zivilisation, die sich die Menschheit wieder aufgebaut hatte – die Schmiede, wo der Schmied wie in den
Heldenzeiten sein Handwerk voller Würde und Ansehen wiedergefunden hatte; die Webereien und Töpfereien; die Dorfschulen, wie jene, in der sein Vater aus alten Büchern, die von Größe, Weisheit und Mut der Menschheit berichteten, gelehrt hatte; er sah sogar einfache Druckmaschinen, welche neue Bücher und Zeitungen produzierten, Fabriken, in denen einfache Werkzeuge hergestellt wurden, Labors, in denen Ärzte und Wissenschaftler am Werk waren. Tatsächlich hatte die besiegte Menschheit einen langen Weg seit jenem Zeitpunkt zurückgelegt, den die Kalten als völlige Zerstörung angesehen haben mochten. Die Kalten sollten lieber auf der Hut sein! An einem Spätnachmittag, mitten in der dritten Woche seiner Segelfahrt, steuerte Darragh sein Kanu an den südöstlichsten Punkt der Insel Haiti. Er brauchte Wasser und Lebensmittel. Darragh holte die Segel ein und ließ sein Boot an die Küste treiben, bis es unter ein paar schiefstehenden Palmen angelangt war. Schon als er den Ankerstein über Bord warf, erspähte er, zwischen den Blättern der Baumkronen durchblickend, ein halbes Dutzend Flugkörper der Kalten, die wie Mücken zwischen hohen Wolkenstreifen tanzten. Hatten sie ihn gesehen? Würden sie nach ihm Ausschau halten? Darragh stand im Boot auf und hielt sich mit einer Hand an einem Palmenstamm fest. Er
sah jetzt, wie eines der Schiffe, einem herabstoßenden Falken gleich, herunterstürzte – dann noch eines und noch eines. Eines nach dem anderen tauchte hinter einem Gürtel großer, hoher, zottig belaubter Bäume – ein Stück landeinwärts von seinem Ankerplatz – unter. Dort also landeten sie, gar nicht weit weg von seinem Ankerplatz. Vielleicht hatten sie ihn doch nicht gesichtet? Darragh war schließlich als Kundschafter und Spion hergekommen, also zögerte er nicht lange. Hastig umgürtete er sich mit seinem Säbel. Die scharfe Klinge war ein Vermächtnis seines Großvaters, der sie auch von einem Vorfahren geerbt hatte, der im Bürgerkrieg bei einem Kavallerieregiment aus Kentucky gedient hatte. Kniend zog Darragh die Schnüre seiner Sandalen nach, sagte ein kurzes Gebet und machte einen Schritt aus dem Kanu auf den Sandstrand. Verstohlen schlich er in jene Richtung, wo er die gelandeten Schiffe vermutete. Er drang mit äußerster Vorsicht vor – von den ersten Palmen am Saum des Wassers in den Schutz eines Busches – dann weiter, zum nächsten Gebüsch. Endlich war er zwischen Bäumen und beruhigend dichtem Unterholz, der besten Deckung. Das Laub über ihm würde ihn vor einem eventuellen, fliegenden Beobachter wirksam schützen. Aus langer weidmännischer Gewohnheit schlängelte er sich geduckt
zwischen Baumstämmen und Büschen hindurch weiter, lautlos, jedes Knacken von Zweigen vermeidend. Graues Licht schimmerte nun vor ihm durch das Grün des Dschungels. Knapp vor ihm breitete sich ein offenes Gelände aus. Darragh bewegte sich jetzt noch vorsichtiger, bis er an den Rand einer Lichtung gelangte. Tief niedergekauert, zog er zwei Farnblätter vorsichtig auseinander und spähte hinaus. Hier, inmitten des Dschungels von Haiti, war ein großer, kahler Kreis Erde – so groß, wie etwa seinerzeit ein Flugplatz – und in seiner Mitte stand eine große, künstliche Kuppel aus einer flickenartigen, grauen Substanz. Auf dem höchsten Punkt dieses Bauwerks ging eben das letzte Schiff nieder. Während Darragh hinsah, verschwand das Schiff, als würde es in einer Falltür oder Röhre landen. Darragh hatte somit jetzt, wie schon öfter auf seinen früheren Expeditionen, nahe einer Außenstation der Kalten, Beobachtungsposten bezogen. Er wünschte sich jetzt eine der kostbaren Kameras dabeizuhaben, die sein Volk herzustellen imstande war. Doch diese Dinge wurden eifersüchtig als wissenschaftliche Instrumente gehütet und nicht einmal Darraghs Mut hatte ausgereicht, um eine solche Kamera zu bitten. Aber Spence und die anderen Häuptlinge hätten ohnehin abgelehnt. Das nächstbeste war wohl eine Skizze. Darragh konnte sich auf sein zeich-
nerisches Geschick verlassen. Aus seinem Gürtelbeutel fischte er einen Notizblock aus braungetöntem Papier, das von einem geschickten Kerl im Nachbardorf Darraghs hergestellt wurde. Ein zweiter Griff in den Beutel, und er hatte einen Bleistift, der aus einem Stück Blei geformt war. Er legte ein Blatt Papier auf sein nacktes Knie, besah sich die Szene mit zusammengekniffenen Augen und fing an, alles sorgfältig festzuhalten. Die Kuppel maß sicher gute zweihundert Meter im Durchmesser und war halb so hoch. Es war besser, wenn er diese Maße notierte. Gut möglich, daß die gewölbte Oberfläche aus verschiedenen Materialien bestand. Das Grau wies verschiedene Schattierungen auf. An einer Stelle stumpfes, dunkles Metall, dann wieder Kreise und Vierecke von gläserner HalbTransparenz; unregelmäßig geformte Flecken aus feinkörnigem Stein oder eine Art von Mörtel oder Zement. An mehreren Stellen waren Luken vorhanden, durch die man die Außenwelt beobachten konnte. Rechteckige Paneele in regelmäßigen Abständen waren mit Teilen versehen, die wie Scharniere aussahen. Möglicherweise handelte es sich um Eingänge. Wieder hatte Darragh einen Wunsch. Er wünschte sich einen der wenigen Feldstecher, die den Rückzug bei der Zerstörung Amerikas mitgemacht hatten. Mit Gläsern hätte er sich über diese Eingangsfelder besser
informieren können – und außerdem über die Beschaffenheit des Bodens um den Kuppelbunker. So mußte er seine bloßen Augen anstrengen. Der Bau sah ziemlich neu aus, auch die Kahlheit der Lichtung war neueren Datums, denn auf der dunklen, fetten Erde waren keine Anzeichen frischer Vegetation zu sehen. Zweifellos war diese freie Stelle im Dschungel mit Hilfe jener geheimnisvollen Strahlen geschaffen worden, die die Bäume, Büsche und Farne zu Dampfwolken zerstäubten und verkochten. Nirgends gefällte Baumstämme, kein abgehacktes, verwelktes Laubwerk. War einmal die Lichtung geschaffen, hatte man sofort den Kuppelbau errichtet. Während des Zeichnens faßte Darragh seine Entdeckungen im Geiste zusammen. Möglicherweise handelte es sich hier um eine Gruppe oder den Teil eines neuen Systems von Außenposten in den tropischen, südlichen Regionen, beunruhigend nahe jenen Gebieten, in denen die Menschen verhältnismäßig sicher gelebt hatten. Die Kalten waren vielleicht zahlreicher geworden, durch Immigration oder erhöhten Geburtenzuwachs auf dem Planeten Erde, den sie sich so erbarmungslos zu eigen gemacht hatten. Sie schienen den Tropen immer näher zu kommen. Die Verwüstung der Insel Dominica konnte bedeuten, daß man dort einen neu-
en Vorposten errichten wollte. Weitere Eingriffe würden folgen, vielleicht würden sie sich sogar auf die heimischen Dschungel der Menschheit erstrecken. Hatten Spence und die anderen schließlich doch recht? Hatte sie ihr Instinkt gut beraten, obwohl er sie belächelt hatte? Daß jetzt oder nie die Zeit zum Kämpfen gekommen war? Wenn die Menschen den Kampf hinauszögerten, war es möglich, daß der Krieg dann einfach kam und sie in ihrem Versteck aufstöberte. Darragh war mit der Zeichnung fertig. Er versuchte jetzt eine Skizze des letzten Schiffes, das er verhältnismäßig nahe gesehen hatte, aus dem Gedächtnis anzufertigen. Dann begann er im Schutz der Bäume mit der vorsichtigen Umkreisung der Lichtung. Er studierte den Kuppelbau von verschiedenen Standorten, bemerkte jedoch nichts Neues. Eine volle Stunde verging, während der er sich im Kreis fortbewegte. Als er beinahe wieder seinen Ausgangspunkt erreicht hatte, sah er am höchsten Punkt der Kuppel schimmernde Bewegung. Die Torpedoform eines Flugschiffes wurde sichtbar und segelte langsam in die Höhe. Eine zweite erschien und erhob sich ebenfalls in die Lüfte. Es kamen noch mehr, Darragh zählte insgesamt fünf. Sie trieben über die Bäume in Richtung Küste dahin, als wären sie auf einem Beobachtungsflug. Die Sonne stand schon tief. Auf seiner früheren Ex-
pedition hatte Darragh die Überzeugung gewonnen, daß die Kalten in der Dunkelheit keine besondere Aktivität entfalteten. Er durfte sich also in Sicherheit wiegen, wenn er in der Dunkelheit von Haiti ablegte. Er ließ die Lichtung hinter sich und machte sich auf den Weg zu der Stelle, wo sein Einbaum unter den Strandpalmen wartete. Während er sich so lautlos wie vorhin vorwärtsbewegte, wurde er sich eines Geräusches bewußt, das vom Strand her zu ihm drang. Sofort ließ er sich zwischen die niedrigwachsenden Büsche fallen und blieb eine ganze Weile so liegen. Eine dünne hellgefleckte Schlange wand sich knapp neben seinem Gesicht vorbei. Beim Anblick des flachen Kopfes mit den schweren Giftsäcken bekam er Gänsehaut, doch wagte er weder einen Schlag, noch eine Flucht. Die Schlange verschwand, doch das Geräusch war weiter zu hören. Schließlich bewegte sich Darragh auf Händen und Füßen kriechend fort. Es klang, als würde sich ein ungeschlachter Körper, groß wie ein Flußpferd, am Strand wälzen. Er kam zu einer Stelle, wo er durch Blätter, die einen Zitronenduft ausstrahlten, ins Freie spähen konnte. Da waren die Palmen, da war auch sein Boot. Und dort, nahe dem Boot, bewegte sich etwas fischhell Glänzendes, beinah Pyramidenförmiges.
Einer der Kalten kroch buckelnd am Wasser entlang zwischen Darragh und seinem Boot. Darragh verharrte regungslos und starrte hinaus. Ihm blieb nichts anderes übrig. Noch nie hatte er einen der Kalten aus der Nähe gesehen. Er studierte genau die Form des Monstrums. Es schien von einem merkwürdigen, futteralähnlichen Mantel eingehüllt zu sein und war dadurch nur undeutlich sichtbar. Das Futteral war eine Art Schutzpanzer gegen die tropische Hitze. Das Material war so durchsichtig wie Fischleim und schien trotz der beträchtlichen Dicke sehr geschmeidig zu sein. Jedes der fühlerartigen Organe, die als Arme anzusehen waren, trug eine ärmelähnliche Hülle aus diesem Material. Die Aufmerksamkeit des Wesens war offenbar seewärts gerichtet. Darragh wagte daher einen Standortwechsel und kroch zwischen zwei Bäume. Jetzt konnte er das Ufer neben den Palmen sehen und sein Boot, das an der Halteleine trieb. Knapp über den Palmblättern schwebte – wie eine sechs Meter lange Zigarre – ein Luftfahrzeug aus silbrigem Metall. Auf dem Flugkörper hockte einer von den Kalten, ebenfalls in den durchsichtigen Panzer gehüllt. Zu dem am Strand Kriechenden gesellte sich ein dritter, der sich hinter einer Palmengruppe hervor in Darraghs Blickfeld schob. Die zwei auf dem Boden machten halt und betrachteten das Boot.
Nach einer Weile wandten sie ihre gepanzerten Kammspitzen einander zu. Die Fühler vibrierten rhythmisch, als würden sie sich in einer seltsamen Zeichensprache verständigen. Dann verschwand der auf dem Luftschiff Hockende wie durch eine Falltür im Inneren und kam eilig mit einem Gewirr von dünnem, dunklen Tauwerk zurück. Er warf es seinen Gefährten zu. Die zwei machten sich am Boot zu schaffen. Sie knoteten und verflochten die Seile sehr gewandt, wie es dem hilflos zusehenden Darragh schien. Dann senkte sich das Luftschiff auf den Sand herab und die zwei auf dem Strand kletterten mit linkischen, aber sehr kraftvollen Bewegungen hinauf. Alle drei stiegen ein. Einen Augenblick später erhob sich das Schiff behutsam. Ein halbes Dutzend Seile straffte sich vom Schiff zum Wasser. Dann wurde Darraghs Boot mit allen Habseligkeiten vom Ankerplatz hochgehoben und baumelte in einem Netz dunkler Linien, Verzweifelt sah Darragh zu, wie das Luftschiff mit seiner schaukelnden Last über ihm landeinwärts flog und Kurs auf den Kuppelbau nahm. Darragh ließ jede Vorsicht außer acht. Er richtete sich auf und rannte in dieselbe Richtung. Er erreichte den Rand der Lichtung gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie das Luftschiff der Kalten, das noch immer das Boot vertäut unter sich trug, sich auf die Spitze des Heimathafens senkte und verschwand.
3 Darragh fluchte leise vor sich hin. Der Einbaum samt Segel und Paddel, die Fracht, bestehend aus Lebensmitteln und Ausrüstung waren primitiv und höchst lückenhaft – Darragh hatte das von Anfang an gewußt. Doch war es alles, was er besaß. Während des Laufens hatte er keinen klaren Gedanken fassen können. Jetzt, während er regungslos und verzweifelt unter den Bäumen stand, begann er zu überlegen. Die Kalten hatten sein Boot zweifellos nur zufällig entdeckt. Doch ihre Entdeckung und das Mitnehmen des Bootes – die ihn fern der Heimat an einem fremden und wilden Fleck Erde, ohne Nahrung, zu einem Schiffbrüchigen machte – bedeutete, daß sie seine Anwesenheit in ihrer nächsten Nähe ahnten. Sie würden also sehr bald wieder herauskommen, um ihn zu jagen und auf der Stelle zu töten, wie sie einst eine ganze Generation seiner Mitmenschen getötet hatten. Er mußte an Flucht denken. Mit etwas Glück konnte er es in die wilden Dschungel im Inneren Haitis schaffen. Und wenn er es schaffte ... was dann? Er würde dort ganz allein sein, denn er kannte die Kalten gut genug, um zu wissen, daß sie ihre Kuppelfe-
stung auf Haiti erst gebaut hatten, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß auf dieser und den benachbarten Inseln keine menschliche Kolonie überlebt hatte. Auch wenn er am Leben blieb, würde er von der Heimat abgeschnitten sein, getrennt durch einen riesigen, blauen Ozean, der ihm jetzt so unüberwindlich schien wie das gestirnte All. Konnte er, nur mit Hilfe von Säbel und Messer, einen geeigneten Baum fällen, ihn zurechtschneiden und aushöhlen, mit Paddel und Auslegern versehen, ein Segel weben, Vorräte sammeln und ohne Karte und Kompaß den Weg zurück zur Mündung des Orinoco finden? Darragh hatte einige Zweifel. Die Kalten würden hinter ihm her sein. Sehr rasch würden sie entdecken, daß er an einem Boot arbeitete und dann würden sie ihm auf den Leib rücken und ihn erledigen. Selbst wenn er sich verbarg, würden sie gewiß nicht davor zurückschrecken, den Dschungel, den er als Versteck benutzte, auszubrennen. Und alle seine Bemühungen, Informationen für seine Leute zu sammeln, die in den südamerikanischen Dschungeln an ihren naiven Kriegsplänen bastelten, wären vergeblich gewesen. »Ich muß an das verdammte Boot heran«, flüsterte er wütend. Die Nacht kam, mit der für die Tropen typischen Abruptheit. Darragh lagerte am Rande der Lichtung. An seiner
Wange summte ein großer, hungriger Moskito und stach ihn schließlich. Er schlug zu – zu spät. Das Insekt entfernte sich summend und kam dann wieder, um ihn erneut zu stechen. Er verjagte es mit einer Handbewegung, während er an einen Baum gelehnt dastand und den großen kuppelförmigen Bau der Feinde studierte. Als sich die Dunkelheit vertiefte, flammten im Inneren der Kuppel hinter dem Flickwerk der Glasflächen Lichter auf. In der Dunkelheit brauchten die Kalten Licht – das wußte Darragh. Wie immer ihre Sinnesorgane beschaffen sein mochten, ohne Licht konnten sie die Gegenstände um sich herum nicht deutlich und hinreichend erkennen. Darragh würde also hier draußen in der Dunkelheit nicht so leicht auszumachen sein. Er wollte sich auf die Lichtung, in die Nähe der Kuppel schleichen. Es gehörte Mut und Verstand dazu, sich dort hinaus ins Freie zu wagen. Er wartete eine Minute, um sich zu konzentrieren. Dann huschte er geduckt über den kahlen, schwarzen Erdboden. Über ihm funkelten die Sterne. Darragh war froh, daß es keine Mondnacht war. Stunden schienen zu vergehen, ehe er den Kuppelbau erreichte. Jetzt änderte er die Richtung, weil er eine direkte Annäherung an eine der unteren Reihen der fensterartigen Felder vermeiden wollte. Schließlich stieß er auf ein undurchsichtiges Steinfundament, schmiegte sich eng
an die Mauer und kroch in seitlicher Richtung weiter, bis er bei einem durchsichtigen Paneel hineinschauen konnte. In einer kleinen viereckigen Kammer mit makellos weißen Wänden saß ein halbes Dutzend der Kalten auf einer Bank aus stumpfem Metall. Mit behutsamen Bewegungen ihrer Tastarme betätigten sie Hebel und Schalter einer schaltbrettartigen Anordnung. Ein komplizierter, schwierig zu bedienender Apparat, vermutete er ganz richtig, der offenbar zur Energiegewinnung diente – vielleicht ein Teil des aus vielen Teilen bestehenden Kühlsystems, ohne das die Kalten in ihrem Bau nicht existieren konnten. Ein Moskito startete summend einen Angriff auf Darraghs Nasenspitze – war es etwa derselbe, der ihn am Rand der Lichtung geplagt hatte? Er holte gegen seinen Quälgeist aus, der flink auswich. Verdammte Moskitos, dachte Darragh, während er tiefgebückt an der unteren Kante des durchsichtigen Feldes entlangkroch. Jetzt stieß er wieder auf ein Stück massiven Mauerwerks. Seine Hände ertasteten Unebenheiten in der Mauer, die offenbar absichtlich angebracht worden waren. In die Mauerfläche waren Linien eingeritzt, eine über der anderen. Sie waren so tief, daß er seine Finger hineinlegen konnte. Sein in die Höhe tastender Arm fühlte, daß es sich offenbar um eine Art Leiterspros-
sen handelte, die in die Wölbung der Steinwand eingegraben waren. Eine Leiter, sagte sich Darragh. Das war also der Zweck dieser Linien! Mit den zum Kriechgang bestimmten Saugnäpfen an ihrer Körperbasis, die so sehr den Fortbewegungsorganen von Schnecken glichen, konnten sich die Kalten auf diesen tiefen Furchen fortbewegen. Also ging es hier entlang zum höchsten Punkt der Kuppel! Er entschloß sich, hinaufzuklettern. Darragh streifte die Sandalen ab und steckte sie in den Gürtel. Nach einem kurzen, abwartenden Lauschen bestieg er die Wölbung des Kuppelbaus, mit Fingern und Zehen nach den tief eingegrabenen Rillen tastend. Für einen geübten Kletterer, der verzweifelt den höchsten Punkt erklimmen wollte, war das kein besonderes Bravourstück, und in diesem Augenblick gab es nichts, was Darragh auf dieser Welt sehnlicher zu erreichen wünschte. Sein Boot war im Inneren der Kuppel verschwunden – dort oben, an der Spitze. Wenn es ihm nicht gelang, an das Boot heranzukommen, es irgendwie herauszuschmuggeln, wegzuschleppen und zur Küste zu gelangen, würde er todsicher in die Gewalt der Kalten geraten. Er schlängelte sich seitwärts um zwei glasähnliche Flächen der Kuppeloberfläche herum, ebenso um einige düsenähnliche Vorsprünge, bei denen es sich
möglicherweise um Einrichtungen für den Einsatz von Strahlenwerfern handelte. Zu gern hätte er in diese Düsen hineingesehen, widerstand aber der Versuchung. Wieder umschwirrte ihn der Moskito und stach ihn genüßlich mitten auf den nackten Rücken. Mit wilden Schüttelbewegungen wurde Darragh das kleine Insekt los. »Weg hier!« flüsterte er in die Nacht. »Nimm dir einen Kalten vor, wenn du Hunger hast!« Plötzlich klammerte er sich bebend an die eingekerbten Linien – seine Säbelscheide hatte laut über den Stein gescharrt! Er hatte das Gefühl, sämtliche Kalten des Universums hätten es gehört, gleich würde eine ganze Abteilung aus dem Inneren stürzen und ihn umzingeln. Aber – konnten sie überhaupt hören? Waren sie Schallwellen gegenüber aufnahmefähig? Er hatte doch beobachtet, daß sie sich mit Zeichen verständigten. Vielleicht hatte er noch einmal Glück. Er löste den Säbel vom Gürtel und schlang die Schlaufe um die Schulter, damit ihn kein Geräusch verriet. Inzwischen hatte er eine beträchtliche Höhe erreicht. Die Wölbung der Kuppel war längst nicht mehr so steil wie an der Grundmauer. Er kam jetzt rascher vorwärts und war froh, daß ihn der Moskito in Ruhe ließ. Einen Augenblick lang wünschte er sich, ein Moskito zu sein, umbemerkbar klein und imstan-
de, hierhin und dorthin zu schwirren und die Geheimnisse des Feindes auszuspionieren. Er kletterte weiter, dem höchsten Punkt entgegen. Plötzlich sah er vor sich Schwärze, dunkler als die Nacht. Das mußte eine Öffnung sein. Vorsichtig kroch er an den Rand. Ein großes Segment der Kuppel war weggeschnitten. An seiner Stelle klaffte eine Vertiefung – als hätte man von der Rinde einer runden Melone ein Stück herausgeschnitten. Darragh bewegte sich weiter und entdeckte dabei, daß er sich am Rand einer geräumigen, viereckigen Vertiefung – zwölf Meter lang und halb so breit – befand. Vom Grunde schimmerte ihm fahles, blasses Licht entgegen, das aus einem Boden sickerte, der, wie es schien, aus einem rauchglasähnlichen dicken Material bestand. Auf diesem Boden stand eine kleine Flugmaschine der Kalten. Darragh beugte sich tiefer hinunter, um besser sehen zu können. Ja, sein Boot lag neben dem Flugschiff, noch immer in Tauschlingen verwickelt. Er holte Luft. Während er hier am Rande der Öffnung Rast machte, konnte er wieder einmal zwei und zwei zusammenzählen. Diese Einflugöffnung der Festung war gegen die ungastliche Hitze der tropischen Nacht nicht isoliert worden. Daher würde sich das Schiff da unten auf dem durchscheinenden Boden bald wieder in die Luft
erheben. Und noch immer am Schiff festgemacht war sein Kanu. Es sollte also die Reise mitmachen! Wohin? Die Antwort darauf lag auf der Hand. Man würde das Boot zu einer größeren und zentraler gelegenen Niederlassung der Kalten bringen, um es Wesen von höherer Autorität vorzuführen – vielleicht als Beweis dafür, daß menschliche Wesen es noch immer wagten, ihren schrecklichen Bezwingern nachzuspionieren. Wenn Darragh seine Habseligkeiten retten wollte, mußte er also rasch handeln. Er untersuchte die Wände der Einflugmündung. Sie waren leicht geneigt und nicht höher als sechs Meter. Außerdem sah er, daß sie bis unten mit Leiterfurchen versehen waren. Rasch schwang er die Beine über die Kante, tastete mit den Zehen nach Halt und machte sich an den Abstieg. Bald hatte er den beleuchteten, ebenen Boden erreicht und blieb einen Moment stehen. An den bloßen Füßen spürte er eisiges Frösteln, das offenbar aus dem gefrorenen Inneren des Kuppelbunkers drang. Darragh bewegte sich lautlos auf das Boot zu, das in seinem Netz neben dem Flugzeug lag. Er prüfte das Gewirr von Stricken. Sie waren stramm, aber biegsam und erwiesen sich unter seinen tastenden Fingern als ein gummiartiges Gewebe. Das Material kannte er nicht. Doch als er sein Messer zog
und es an einem der Netzstücke ansetzte, entdeckte er, daß sich die Seile zerschneiden ließen. Wieder hielt er inne und überlegte. Angenommen, er schnitt die Halteseile nicht ganz durch. Wenn sich das Luftschiff wieder erhob, würde es den Einbaum nur ein kleines Stück mittragen. Dann würden die angeschnittenen Netzstücke ganz reißen und die Last ginge verloren. Mit etwas Glück fiele der Einbaum in den Dschungel, wurde vom Geäst abgefangen und landete unversehrt am Boden. Möglich, daß sich das alles in der Nacht zutragen würde, ohne daß die Kalten es merkten. Er, Darragh, wollte im Dschungel warten und sofort zur Stelle sein, um sein kleines Boot wieder in Besitz zu nehmen und es irgendwie an den Strand zu zerren. Dann wollte er die Segel setzen, Haiti hinter sich lassen und das Wissen, das er sich durch sein Spionieren angeeignet hatte, mitnehmen. Dazu aber brauchte er eine gehörige Portion Glück. Doch das Glück hatte Darragh von Anbeginn seiner Expedition an begleitet. Trotz seines sehr praktisch und logisch orientierten Verstandes, hatte sich Darragh seinen Glauben an Glück bewahrt. Er nahm wieder ein Seilstück zur Hand und setzte das Messer an. Abermals hielt er inne. Er hatte bemerkt, daß seine Vorräte aus dem Einbaum verschwunden waren. Sogar das Palmfasersegel hatte
man entfernt. Die Schieferplatte war aus ihren Halterungen gerissen und verschwunden. Diese Dinge brauchte er unbedingt. Er sah sich um. Sein Blick blieb an dem Luftschiff der Kalten, knapp neben dem Boot, hängen. Es glich einer Metallzigarre. Eine Luke stand offen. Er richtete sich neben dem Einbaum auf, ging vorsichtig auf Zehenspitzen zum Flugschiff und spähte durch die offene Luke hinein. Im trüben roten Licht, das von irgendeinem Stück Glut auszugehen schien, sah er ein Bündel. Er glaubte den Obstbeutel zu erkennen, in dem Guaven und Pflaumen waren, die er auf den verschiedenen Inseln der Karibischen See geerntet hatte. Kühn kletterte er durch die Luke in das trübe erleuchtete Innere und machte sich auf die Suche nach seinen Sachen. Während er den Obstbeutel abtastete, ließ ihn ein Geräusch auffahren. Von draußen hatte er das gleitende Scharren von Metall gehört. Eine Tür wurde geöffnet. Darragh, dessen Herz plötzlich wild zu pochen begann, hörte schleifendes Geräusch einer Fließbewegung, als würde ein schwerer und nasser Gegenstand über den Boden gezerrt. Die Kalten kamen aus ihrem Schutzbunker in die offene Landekammer. Sie wollten zum Schiff. Panik erfaßte ihn. Eine Idee durchfuhr ihn. Er muß-
te sich schleunigst verstecken. Gehetzt sah er sich um. In einer Ecke sah er das lose zusammengerollte Palmfasersegel. Mit einem Kopfsprung hatte er die Rolle erreicht und hatte sich schon darin verkrochen wie ein Kaninchen in seinem Bau. Tief drückte er sich in die Falten, drehte sich um und hob vorsichtig ein Ende des Stoffes, um hinaussehen zu können. Durch die Luke kam eine, in einer glänzenden Hülle steckende Masse herein, die im schwach rot glühenden Licht nur undeutlich sichtbar wurde. Gekrümmt glitt die Masse über den Boden, gefolgt von einer zweiten Gestalt. Die letzte streckte einen, mit einem Ärmel bedeckten und behandschuhten Fühler aus, um die Luke zuzuschieben. Der erste bewegte sich im Schiff vorwärts und berührte ein paar Instrumente, die einen schwach vibrierenden Ton von sich gaben. Das rote Licht wurde abwechselnd heller und schwächer. Dann fing der Boden unter Darragh zu vibrieren an und neigte sich. Das Schiff hob an. Das Licht war jetzt stärker geworden. Darragh konnte sich zum erstenmal die Kabine näher ansehen. Sie nahm nur die halbe Länge des Flugschiffes ein. Es war eine Kammer mit gewölbten Wänden, wie das Innere eines Eies, etwa drei Meter lang. Den übrigen Teil des Flugschiffes nahmen wohl die Maschinen ein. Es waren sehr leise laufende Maschinen – Darragh konnte nicht einmal das leiseste Schnurren hö-
ren. Da der Körperbau der Kalten ihnen kein Sitzen oder Liegen gestattete – auch wenn sie sich in jenem bewegungslosen Zustand befanden, der nach ihren Begriffen Schlaf war – gab es hierfür auch keinerlei Einrichtungen. An den Schotten waren verglaste Luken angebracht, dazwischen merkwürdige Meßinstrumente oder Uhren, an manchen Stellen Schiebeteile, vielleicht Türen von Wandschränken. Der Antriebsmechanismus des Schiffes war zwar seltsam, aber durchaus verständlich, nachdem Darragh sich ihn eine Weile angesehen hatte. Auf einem kleinen runden Sockel aus schimmerndem Metall war ein horizontales Kreuz aus zwei drahtähnlichen Stäben befestigt, dessen Arme etwa dreißig Zentimeter lang waren. Am Kreuzungspunkt der Stäbe wuchs ein dünnes Rohr empor. Es glich dem Zeiger einer Sonnenuhr, ragte aber senkrecht in die Höhe. Alle vier Arme des Kreuzes, ebenso wie der fünfte Arm, trugen eine kleine Kugel von etwas mehr als drei Zentimeter Durchmesser und von tiefschwarzer Farbe. Die Position dieser Perlkugeln bestimmte Richtung und Geschwindigkeit des Schiffes. Im Augenblick stiegen sie in die Höhe, wie Darragh ganz richtig vermutete. Der Kalte am Antriebsmechanismus hielt mit seinem Fühler die Perle des senkrechten Armes, nahe der Spitze der Rute. Jetzt flogen sie geradeaus – ein zweiter Fühler hatte die
Perle des vorderen Kreuzarmes vorwärts bewegt, während die Kugeln der drei übrigen Arme an der Kreuzungsstelle der Stäbe verblieben. Sicher flogen sie bereits hoch über Haiti und der tropischen Hitze dahin. Darraghs nackter Körper war von einer Gänsehaut überzogen. Er bemühte sich, ein Frösteln und lautes Atmen zu unterdrücken. Er begann, sich zu verfluchen. Wie hatte er bloß so vertrauensselig an Bord des Schiffes gehen können! Aber sich jetzt Vorwürfe zu machen war glatte Zeitverschwendung, wenn man dringend einen Ausweg aus der Lebensgefahr suchte.
4 Mark Darragh war jung, abgehärtet und gesund, er war aber in den Tropen geboren und dort aufgewachsen. Er war also nicht dazu geschaffen, Kälte auszuhalten. Und hier in diesem immer höher steigenden Luftschiff wurde es mit jeder Sekunde kälter. Er zermarterte sich verzweifelt sein Gehirn nach einem Fluchtweg, während eine Erinnerung in ihm auftauchte. In weiser Voraussicht hatte er warme Bekleidung vorbereitet. Einen Schutz gegen Frost, der ihn eben erbeben ließ. Er hatte das Zeug selbst entworfen – zwei Lagen feines Wildleder, mit einer dicken Schicht Baumwollwatte dazwischen. Diesen Anzug hatte er – wie er sich gut erinnern konnte – unter dem Vorderdeck seines Einbaums versteckt, als er losfuhr, um den Orinoco hinunterzusegeln. In der Einflugöffnung des Kuppelbaues war der Anzug nicht gewesen. Er mußte also hier in der Kabine bei seinen anderen Sachen sein. Er verbreiterte den Sehschlitz zwischen den Falten des Segels. Ja, dort drüben lag tatsächlich ein Bündel – ein großer Ballen, zusammengerollt und von Streifen ungegerbten Leders zusammengehalten. Darin steckten gute Reserve-Mokassins, die Handschuhe, die Schneebrillen und ein Schal. Das alles lag aber
schreckliche, lange eineinhalb Meter außer Reichweite. Darragh preßte die Zähne zusammen, um sich nicht durch Zähneklappern zu verraten und überlegte, ob er sich nicht doch damit begnügen sollte, das Segel dichter um sich zu ziehen. Sicher würde dies jedoch von einem der kalten Lebewesen bemerkt werden, die verteufelt knapp neben ihm hockten, vielleicht sogar von beiden. Während er diese Überlegungen anstellte, sank die Temperatur Grad für Grad. Sie näherte sich gefährlich dem Gefrierpunkt, wenn er dem Instrument vertrauen durfte, das die Kalten als Thermometer benutzten. Egal – er mußte an seine Kleider heran, das stand jetzt endgültig fest. Er mußte sie unbemerkt in sein Versteck zerren und sie sich überziehen. Darragh wurde von einem Schüttelfrost gepackt, der seinen Körper wie einen Hampelmann in Zuckungen versetzte. Verzweifelt unterdrückte er das Zittern. In einer halbinstinktiven Bewegung schlang er beide Arme um sich, um die Kälte abzuwehren. Dabei berührte seine Linke den Griff des Säbels, der noch immer an seiner Schulter hing. Das gab ihm plötzlich neue Hoffnung. Er zog den Säbel nach vorne und begann die Waffe unter dem Segel Zoll für Zoll aus der Scheide zu ziehen. Dann schob er die Falten des Segels weiter auseinander. Im
rötlichen Licht der Kabine wurde sein Atem als Dampfwolke sichtbar. Die Kalten schienen es nicht zu bemerken. Der eine war mit den Instrumenten beschäftigt. Der andere lungerte vor einem Bullauge herum, als beobachte er die Nacht draußen. Darragh streckte den Arm ins Freie und berührte das Wildlederbündel mit der Säbelspitze. Behutsam schob er die Klinge unter einen der Streifen aus Rohleder, der das Paket zusammenhielt. Wie damals, als er den Einbaum zurückgelassen hatte, um die Küste von Haiti zu erkunden, sprach Darragh ein Gebet. Diesmal war es ein tiefempfundenes und demütiges Dankgebet. Vorsichtig zog er die Beute an sich heran. Genau in diesem Augenblick drehte sich der Kalte am Bullauge mit gewichtiger Behendigkeit um und sah in seine Richtung. Es war ausgeschlossen, daß dieses Wesen nicht sehen konnte. Darragh rührte sich nicht. Die Hand mit dem Säbel und der Arm vom Ellenbogen abwärts lagen im Freien. Das Lebewesen sah es und begriff noch nicht ganz. Leicht verblüfft schob es seine Masse näher heran. Darragh lag gekrümmt da, als hätte ihn die Kälte steif gefroren. Er wagte es nicht, die steifen Finger vom Säbelgriff zu lösen oder sich unter dem Palmfa-
sertuch zu rühren. Die kleinste Bewegung hätte ihn völlig verraten. Das Ungeheuer näherte sich ihm, bis es über dem zusammengefalteten Segel, dem Lederbündel und dem Säbel hockte. Seine stark empfindlichen Sinne – wie immer sie funktionieren mochten – waren ganz klar auf diese Kuriosität konzentriert. Darragh, der sich wie eine Maus unter einer Serviette zusammenduckte, konnte unter der durchsichtigen Panzerung des Kalten das Glühen und Pulsieren des Zentralorgans sehen. Jetzt studierte das Wesen die nackte Hand, die aus den Tiefen des Segels herausragte. Kein Zweifel – es wußte, welche Art Lebewesen diese Extremität besaß. Ein Fühler wurde ausgestreckt, um die Segelumhüllung wegzuziehen. Ein zweiter Fühler fiel auf einen Beutel herab, der am Panzer hing, ein Beutel, der eine Waffe enthielt. Einen Strahlenwerfer etwa? Darragh wollte nicht so sterben. Er fletschte grimmig seine Zähne, während er sich rasch auf die Knie erhob und mit seinem Säbel einen zerfleischenden Hieb vollführte. Das Ding ahnte die Bewegung voraus und versuchte seitwärts auszuweichen – zu spät. Darraghs Säbelspitze durchbohrte den Schutzmantel, gleich darauf klaffte ein großer Schnitt. Der Säbel hatte seine Aufgabe erfüllt.
Darragh starrte hin und sah, wie die Fühler des Lebewesens erschlafften und erzitterten, er sah, wie das große, dicke, pyramidenförmige Gelatinegewebe des Körpers zusammensackte. Die für Darragh eiskalte Luft, war durch den Schlitz im Panzer wie ein mörderischer Hitzestrahl eingedrungen. Schon war das Ungeheuer hilflos, bewußtlos. Der noch immer kniende Darragh, dessen Züge noch vom Kampf zu einem Grinsen verzerrt waren, sah zu, wie das innere Organ farblos und das Pulsieren schwächer wurde. Dann war es ganz dunkel und völlig reglos. Das kalte Lebewesen war tot. Darragh wußte es. Er kannte auch den Grund. Aus den spärlichen Hinweisen, die er von Menschen bekommen hatte, die sich Kenntnisse über die Invasoren angeeignet hatten, wußte er, daß die kalten Lebewesen von einem Planeten stammen mußten, der nicht nur kalt war, sondern auch eine ständig gleichbleibende Temperatur aufwies. Wie Schlangen und Schnecken nahmen die Kalten die Temperatur ihrer Umgebung an und besaßen selbst keinerlei temperaturregulierende Einrichtungen. Dabei waren sie äußerst empfindlich. Nur wenige Grade über ihrer Temperaturgrenze führten zur Bewußtlosigkeit. Setzte sich die unerträgliche Hitzeeinwirkung fort, dann bedeutete es den Tod. Der Kalte, der Darragh entdeckt hatte, war gestor-
ben, und das in weniger als einer Minute – der erste Kalte, der von menschlicher Hand den Tod empfangen hatte, seit jenen ungleichen Kämpfen vor einem halben Jahrhundert. Keine Bewegung oder Bedrohung von dem Piloten am Instrumentenbrett des Schiffes! Das Drama von Bedrohung, Angriff und plötzlichem Gegenangriff und Tod, das sich hinter ihm abgespielt hatte, war unbemerkt für ihn abgelaufen. Darragh fühlte, wie ihn eine Welle von wildem, triumphierenden Frohlocken durchflutete. Dann zog er die Kleider an sich, verkroch sich hinter der reglosen Masse des Kalten, den er getötet hatte, zog sein Messer und schnitt die Verschnürung auf. Zitternd und vollkommen geräuschlos zog er die weite Hose an, band die Gürtelschnur fest und streifte dann die gesteppte Jacke über den Kopf. Sodann zog er die Mokassins über seine steifen, bloßen Füße und steckte dankbar die Hände in die Handschuhe. Die Mütze bedeckte Ohren und Gesicht. Jetzt stieß er eine Dampfwolke der Erleichterung aus und unternahm das Wagnis, vorsichtig hinter der schützenden Masse seines besiegten Feindes hervorzuschauen. Das Schiff stieg noch immer in die Höhe. Darragh spürte die Neigung des Bodens, als er dahinkroch. Die Temperatur fiel ständig. Sicher lag sie jetzt schon unter dem Gefrierpunkt. Er hatte den raschen Sieg
und die Kleider keine Sekunde zu früh gewonnen. Das gesteppte Lederzeug wärmte genügend. Er streifte die Schneebrille über die Augen und wickelte um Nase und Ohren den Wollschal. Dann verkroch er sich sehr behutsam unter dem Segel und drapierte den Stoff so um sich, daß er den anderen Kalten – den am Instrumentenbrett – im Auge behalten konnte. Er durfte sich gratulieren, daß er einen Gegner erledigt hatte. Aber jetzt mußte er auch den zweiten töten – falls dieser ihm nicht zuvorkam. Deutlich sah er den durchsichtigen Beutel seitlich am Panzer und im Beutel den pistolenförmigen Strahlenwerfer. Bis jetzt war das Glück mit Mark Darragh gewesen, und er spürte, daß es ihn auch jetzt nicht im Stich lassen würde. Er wollte den Angriff beim nächsten verräterischen Geräusch wagen, bevor sein Gegner Maßnahmen ergreifen konnte. Er wollte also angreifen, aber nicht jetzt, nicht ehe er mehr über die Steuerung des Schiffes erfahren hatte. Wenn es ihm glückte, die zweite Kreatur zu töten, mußte er auch imstande sein, das dahinsausende Schiff vor einem Absturz zu bewahren. Seine bebrillten Augen blieben geradezu an der Steuerung kleben, an der geübte Fühlerspitzen die Kugeln vor und zurückschoben, um Geschwindigkeit und Richtung zu ändern. Das Schiff gewann immer mehr an Höhe und gelangte in die oberen Schichten der Erdatmosphäre.
Sogar durch die dicken Kleidungsstücke spürte Darragh die Kälte. Sein Atem hatte das Wollmaterial um Mund und Nase gefrieren lassen, so daß es sich wie eine starre Maske aus eiskaltem Blech anfühlte. Schließlich begann das Lebewesen, das an den Instrumenten saß, mit bloßen Fühlern an seinem Panzer zu zerren, lockerte Knöpfe und Haken und zog das ihm umgebende Material weg. In diesen Höhen war ein Temperaturbereich erreicht, in dem es sich wohlfühlte. Mit drei Fühlern faltete das Unwesen die ausgezogene Panzerhülle zu einem festen Paket zusammen und mit ihr den Beutel mit der Waffe. Jetzt war der Moment zum Zuschlagen gekommen, sagte sich Darragh. Er nahm den Säbel fest in seine behandschuhte Rechte, erhob sich vorsichtig hinter dem schützenden Kadaver des toten Kalten, um auf den anderen loszustürzen. Der Kalte hatte ihn bemerkt, als er die Deckung verließ. Er hatte sich gerade am Verschluß einer Wandschranktür zu schaffen gemacht – vielleicht wollte er seinen zusammengefalteten Schutzmantel dort verstauen. Augenblicklich fuhr nun einer seiner Fühler in den Beutel des Mantels und tastete nach der Waffe. Doch Darragh war schneller. Ein kräftiger Hieb des herabsausenden Säbels traf das zusammengefaltete Bündel und schleuderte es zu Boden. Mit einem Fußtritt schaffte er es außer Reichweite.
Fühler schossen auf ihn zu, faßten nach ihm und zerrten an ihm mit der Kraft einer Anakonda. Gleichzeitig begann sich der Boden gefährlich zu neigen, als könne sich das Schiff nicht mehr in der Waagerechten halten. Darragh holte abermals mit dem Säbel aus – der Hieb saß. Die scharfe Klinge durchschnitt den massigen, durchsichtigen Körper, so wie ein Messer Käse durchschneidet. Er faßte die Klinge kürzer und stach zu, diesmal mit voller Kraft in das glühende, pulsierende Zentralorgan. Als die Spitze auf der lebenswichtigen Stelle auftraf, vollführte Darragh mit der Waffe eine Drehung und drückte sie tief in die weichstraffe Substanz. Die Klinge schnitt das Organ in zwei Hälften. Der Griff der Fühler wurde lockerer. Er war frei. Darragh war Herr des Schiffes.
5 Das Glück, an das Mark Darragh so gern glaubte, war bei der Überwältigung des ersten Kalten dringend nötig gewesen. Beim Sieg über den zweiten, war es Darragh doppelt gewogen gewesen. Zweifellos war aber der Höhepunkt seines phänomenalen Glücks erreicht, als das Flugschiff nicht augenblicklich abstürzte und zerschellte. Der Kalte, der die Instrumente so fachmännisch bedient hatte, war mit dem Flugschiff viele tausend Kilometer hoch, fast bis hinauf in die Stratosphäre gestiegen. Als das führerlose Schiff seitlich abzusacken begann, die zwei Kadaver gegen die Schotten geworfen wurden und Darraghs in Mokassins steckende Füße fast den Halt verloren, hatte das Schiff einen langen Weg vor sich, ehe es zerschellen konnte. In den nun folgenden Augenblicken wurde Darragh zu einem Piloten. Er ließ den Säbel fallen und faßte haltsuchend nach dem Steuerungsmechanismus. Mit wildem Schütteln warf er die hinderlichen Handschuhe ab und fing an, mit den Kugeln auf den fünf Metallarmen herumzumanipulieren. Das Prinzip dieses Mechanismus hatte er bereits beim bloßen Zusehen erfaßt. Als erstes zog er alle
Kügelchen eng an den Kreuzungspunkt der fünf Arme zusammen. Sofort pendelte sich das Schiff in die Waagerechte ein, hielt aber im Abwärtssturz nicht inne. Nun zog Darragh die Kugel des senkrechten Armes hoch und nach einem vibrierenden Stillstand im dunklen All, fing das Schiff wieder zu steigen an. Ein leichtes Senken der Kugel verlangsamte die Steigegeschwindigkeit. Dann stellte Darragh vorsichtig die Vorwärts-Kugel ein. Endlich schaffte er es, das eroberte Schiff in waagerechter Vorwärtsbewegung zu halten. Er hauchte seine kalten Finger an, hob die Handschuhe auf und steckte die Hände in die wärmende Hülle. Dann stand er auf und studierte die übrige Einrichtung. Als er den Platz des Piloten einnahm, sah er in der gewölbten Wand vor sich eine durchsichtige Scheibe, die jetzt allerdings frostbeschlagen war. Er beugte sich vor und scheuerte sie mit der Manschette seines Handschuhs blank. Jetzt sah er in die Nacht hinaus. Ein Halbmond war aufgegangen und beleuchtete einen tief unten liegenden Boden weicher, glatter, weißer Wolken. Nach seinen Berechnungen mußte er sich – trotz des plötzlichen Abtrudelns während des Kampfes – noch in beträchtlicher Höhe befinden. Auf einer Seite vor sich sah er eine Vorrichtung, die an ein Thermometer erinnerte, eine senkrechte, durchsichtige Röhre, mit einem, mit Linien markierten Brettchen. Im Inneren der
Röhre bebte ein funkenartiges rotes Kügelchen. Das mußte ein Höhenmesser sein, stellte Darragh fest. Die Markierungen des Instrumentes zeigten an, daß sich das Schiff weit unter seiner Maximalhöhe bewegte. Auf der entgegengesetzten Seite waren zwei Metallplatten von zehn Meter Seitenlänge angenietet, eine über der anderen. Die obere trug ein eingraviertes Diagramm, das offenbar den Plan des Schiffes darstellte. Darauf waren alle technischen Einrichtungen eingezeichnet. Die meisten lagen danach in dem Abteil hinter der Steuerkabine. Darragh studierte sie eingehend. Sie ganz zu durchschauen, gelang ihm nicht. An jener Stelle des Diagramms, an der der Steuermechanismus hätte eingezeichnet sein müssen, flimmerten Lichtflecken in verschiedenen Farben – grün, blau, rosa und gelb – die offenbar die Positionen der einzelnen Kugeln anzeigten. Darragh änderte die Position einer Vorwärts-Kugel und sah, daß sich ein derartiger Lichtfleck bewegte. Das Diagramm sollte also anzeigen, ob alle Apparate funktionierten. Er sah sich gründlich um, konnte aber keine Verbindung zwischen dem Steuerungsmechanismus und diesem Schaubild entdecken, ebensowenig eine Batterie, die das Licht für die Flecken geliefert hätte. Angeblich waren die Kalten Meister der Strahlentechnik. Zweifellos existierten hier unsichtbare Kraftbänder, die sich seiner begrenzten Auffassungsgabe entzogen.
Ohne seine Unwissenheit zu verfluchen, registrierte er diese Dinge. Mochte sein Kopf auch nicht ganz mitmachen – seine Hände, Arme, Beine, der ganze Körper hatte gewußt, was zu tun war und hatte es getan! Das Zwiegespann von Kalten, das er erledigt hatte – welcher menschliche Krieger konnte sich solcher besiegter Feinde wohl rühmen, welcher Kämpfer im Verlauf der ganzen Geschichte? – war über alle irdischen Vorstellungen hinaus intelligent und reich an Wissen. Und jetzt waren beide tot! Er stellte die Kügelchen des Steuerungsmechanismus wieder ein und wandte seine Aufmerksamkeit der zweiten gravierten Platte zu. Hier handelte es sich ganz einfach um eine Karte von Nordamerika, äußerst gekonnt gemacht, Kontinent und Inseln in Grünbraun, die Ozeane in Blau, blaue Flecken als Flüsse und Seen. Auch auf dieser Platte war ein heller Lichtfleck zu sehen, der sofort Darraghs Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Der Lichtfleck schwebte in der Nähe der Halbinsel Florida und der nördlichen Hauptküste des Golfs von Mexiko. Nach einem Augenblick erstaunten Hinsehens erklärte sich Darragh diesen Lichtfleck als einen Positionsanzeiger des Schiffes, das er steuerte. Im weiteren Verlauf bestätigte das allmähliche Weiterwandern des Fleckes auf der Karte, in nördlicher Richtung, seine Vermutung. Da und dort zeigten sich auf der Skiz-
ze des Kontinents weitere helle, schwächere Glühpünktchen. Sie waren rot und von verschiedener Größe, von Stecknadelgröße bis zu Scheiben von acht Millimeter Durchmesser. Eine der kleineren schimmernden Lichtmarkierungen schwebte über der südöstlichen Ecke der Insel Haiti, woraus Darragh schloß, daß die rubinroten Pünktchen die Positionen von Festungen oder Niederlassungen der Kalten anzeigten. Die größten und zahlreichsten lagen im nördlichen Kanada, auf Grönland und auf den Inseln über dem arktischen Zirkel. Einige lagen auf dem Gebiet, das einst die Vereinigten Staaten eingenommen hatten. Einer der größten lag am südlichen Ende des Michigansees, nahe der Stelle, wo einst Chicago, eine der großartigsten Städte Amerikas, gestanden hatte. Darragh versuchte die Standortmarkierungen der Siedlungen der Kalten zu zählen. Es gelang ihm nicht, weil er gleichzeitig das Schiff steuern mußte. »Jedes einzelne dieser verdammten Dinger ist also eine große oder kleine Stadt oder eine Ansiedlung dieser kalten Kriechtiere«, fluchte er laut in seinen Schal, »und jede wimmelt von Kalten. Die müssen sich hier ja sehr heimisch fühlen, obwohl sie ungebeten gekommen sind. Möchte wissen, wie viele es hier auf der Erde von ihnen gibt.« Er wünschte, jener kriegslüsterne Häuptlingsrat an den Ufern des Orinoco könnte diese Landkarte sehen
und die entmutigende Information begreifen, die sie enthielt. Und dann hatte er noch Zeit sich zu wünschen, die gleichen hochnäsigen und spöttischen Herren könnten ihn sehen – ihn, den Bezwinger von zwei Feinden, den Eroberer und Piloten des Schiffes, das er mit seiner Säbelspitze erobert hatte. Spence hätte wieder einmal Grund, mit seinem langen Kinn zu wackeln. Megan wäre in ehrfürchtige Verwirrung – statt in verächtliche Geringschätzung verfallen; und der Indianer Capato würde zugeben müssen, daß sich die Weißen ebensowenig wie die Roten davor scheuten, Invasoren entgegenzutreten und zu kämpfen, wenn er, Darragh, mit seiner Beute siegreich heimkehrte. Die Wissenschaftler der Ansiedlungen am Orinoco konnten die zwei Leichen studieren. Die besten Techniker konnten die Konstruktion des Schiffes selbst begutachten, sie vielleicht nachahmen und andere Schiffe nach diesem Muster herstellen. Und Darragh selbst würde man mit offenem Mund und großen Augen bewundern. Beinahe hätte er den Handschuh abgestreift und die Kugeln an den Steuerungsarmen so verschoben, daß das Schiff Kurs auf die heimatliche Wildnis genommen hätte. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Er hatte Spence und den anderen doch verschiedene Versprechungen gemacht. Mit seiner ganzen jugendlichen Überzeugungsgabe hatte er versprochen,
entscheidende Informationen zu bringen, die den Sieg über die Kalten herbeiführen sollten. Die eben geträumte dramatische Heimkehr mit dem kleinen Aufklärungsschiff mochte ihm zwar Ehre und Lob einbringen; doch der Sieg wäre damit nicht gesichert. Er mußte seine Mission zu Ende führen! Er sah auf die Karte und auf den kleinen Strahlenfleck, der seine eigene Position markierte. Dann beugte er sich zum Fenster vor und stellte auf Grund seiner langen, weidmännischen Erfahrung seine Flugrichtung nach Stellung der Sterne fest. Und dann nahm er Kurs auf jenen großen, roten Fleck, der eine Ansiedlung der Kalten am Rande des Michigansees bezeichnete. Die Nacht ging zur Neige. Trotz der kompakten Hülle aus Leder und Baumwolle spürte er die durchdringende Kälte der oberen Atmosphäre und verschob daher die Steuerungskugeln vorsichtig, um sein Schiff in die Nähe der Wolkendecke zu senken. Versuchsweise verschob er die Kugel am Vorwärtsarm um ein ganzes Stück, um die Geschwindigkeit zu erhöhen, zog sie aber rasch wieder zurück, als das Schiff derart beschleunigte, daß ihm angst und bange wurde. Er hatte keine andere Möglichkeit zu beurteilen, wie hoch die Höchstgeschwindigkeit des Schiffes lag – im Moment wollte er es auch gar nicht wissen. Und als er es auf die Stundengeschwindigkeit
von knapp zweitausend Kilometern verlangsamt hatte, fühlte er sich wesentlich sicherer. Darragh schwebte jetzt knapp über der Wolkendecke. Er beobachtete das Lichtpünktchen, das die zurückgelegte Flugstrecke anzeigte. Es bewegte sich auf der Karte in nordwestlicher Richtung – über das ehemalige Georgia, und dann quer über das frühere Tennessee. Er befand sich irgendwo über Kentucky, als die Sonne aufging und den Wolkenboden in eine leuchtende Herrlichkeit verwandelte. In den tieferen Schichten, die er jetzt durchflog, stieg die Temperatur an, Darragh streifte die Handschuhe ab, entledigte sich der Brille und des feuchten Schals vor dem Gesicht. Dann streifte er die Kapuze seiner Jacke vom Kopf. Jetzt spürte er auch, wie sich Hunger und Durst meldeten. Er trat einen Schritt vom Steuer zurück und langte nach dem Obstsack. Er nahm eine Mangofrucht, sie war weich und breiig, sie war wohl gefroren und dann wieder aufgetaut. Er saugte das Fruchtfleisch dankbar aus und bückte sich nach dem kleinen Behälter mit Kassavafladen und Räucherfleisch. Mit großem Appetit kaute er daran. Vormittags zeigte ihm der Lichtfleck auf der Karte an, daß er sich dem großen Zentrum der Kalten am nördlichen See näherte. Unter seinem dahinsausenden Schiff waren noch immer Wolken. Da und dort begannen sie sich zu lichten.
Er fragte sich, wie die Siedlung wohl am günstigsten zu erkunden war. Am besten war es wohl, mit dem Schiff irgendwo zu landen und es zwischen Bäumen in einer Senke zu verstecken, dann konnte er sich zu Fuß heranpirschen und jede sich bietende Gelegenheit ausnützen. Sicher würden diese selbstsicheren Bezwinger der Erde in diesen Breiten keinen Späher vermuten und keine Wachen aufgestellt haben. Während er diese Überlegungen anstellte, bemerkte er ein Vibrieren im Metallboden unter seinen Mokassinsohlen. Verblüfft und erschreckt blickte er auf die Tafel, die die Kontrollichter auf dem Schiffsplan zeigte. Keines hatte Lage, Farbe oder Intensität geändert. Das Zittern verflüchtigte sich so schnell, wie es gekommen war. Dann kam es wieder. Er spürte, wie sich Muskeln und Nerven anspannten. Versagte womöglich der Steuerungsmechanismus? Nein – das Schiff hielt ruhig seinen Kurs, während es über der streifigen Wolkendecke dahinglitt. War der Treibstoff die Ursache – wie immer er beschaffen sein mochte? Das Vibrieren war zum zweitenmal verstummt. Kaum hatte Darragh einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, war es wieder da, diesmal stärker, gekoppelt mit einem tiefen, hörbaren Unterton, einem holprigen Rhythmus, der in eine Folge summenden Gezirpes überging.
Das klang wie Telegraphie. Zweifellos, es handelte sich um Telegraphie. Vor ihm war in einiger Höhe ein zweites Schiff von irgendwoher aufgetaucht, ein größeres Schiff von plumper Eiform, dessen Nase in Darraghs Richtung wies. »Das verdammte Ding gibt mir Zeichen«, stieß er hervor. Er hatte kein Verlangen nach Unterhaltung, selbst wenn er gewußt hätte, auf welche Weise er sich hätte verständigen können. Auch auf Gesellschaft hätte er verzichten können. Als das eiförmige Schiff immer näher kam, berührte er die Kugel auf dem rechten Arm der Steuerung, zog sie nach außen und erreichte damit, daß sein kleines Flugschiff plötzlich seitlich abrutschte und um das andere einen Bogen machte. Während dieser Vorgänge war das Vibrieren und rieselnde Signalgesumm stärker und dringender geworden. Es dröhnte in Darraghs Ohren. Er schüttelte den Kopf, um es loszuwerden. Jetzt durchstieß eine neue Signalfolge die Kabine und brachte die Luft in Aufruhr. Wieder suchte das Schiff mit ihm Kontakt zu bekommen. Er beugte sich über die Steuerung, um hinauszusehen. Zwei oder drei Schiffe senkten sich von oben herab. Zwei weitere kämpften sich durch die Streifen der Wolkendecke. Sie alle hatten ein gemeinsames Ziel. Sie kamen immer näher.
»Das soll wohl ein Angriff sein!« schnaubte Darragh laut. Er machte sich auf den vernichtenden Aufprall der Todesstrahlen gefaßt. Doch es kam kein Todesstrahl. Statt dessen formierten sich die anderen Schiffe an seiner Seite. Er konnte sie durch die Bullaugen steuer- und backbords sehen. Immer näher kamen sie, wie jagende Wespen, die sich auf eine saftige Spinne stürzen. Zu spät – es blieb ihm nichts übrig, als einen Ausbruchsversuch zu wagen. Einer der Verfolger war genau vor ihm, er war schneller als er und manövrierte mit großer Geschicklichkeit. In dieser Richtung gab es also keinen Ausweg, auch nach den Seiten nicht. Vielleicht konnte er sich nach unten fallen lassen und auf dem Boden Deckung suchen. Darragh schob die Kugel am senkrechten Steuerungsarm tiefer. Die anderen Schiffe machten die Flugbewegung mit. Ein ganzer Vibrationssturm ließ den Boden unter ihm, die gewölbten Wände und die Luft, die er atmete, erzittern. Von unten näherte sich in Spiralen ein neuer Peiniger, ein beinahe rundes Schiff, das viel größer als seines war. Er schob die Kugel nach oben und dann flog er geradeaus. Wieder wurde er eingeholt und im Flug umzingelt. Sie kamen ganz dicht heran und stießen fast mit ihm zusammen.
Er wurde einen bestimmten Kurs entlanggetrieben. Darragh verfluchte jeden einzelnen der Kalten, der in diesem Schwarm, der ihn umgab, mitflog. Er flog geradeaus weiter, weil er keine andere Wahl hatte. Noch einmal versuchte er nach unten abzusacken und erreichte tatsächlich die Wolkendecke. Als er sie durchstoßen hatte, sah er sich wieder von seinen Jägern und Hütern umgeben, die schneller und geübter flogen, als er. Das Vibrieren wurde noch stärker und durchdringender als zuvor. Wie eine Erbse in einem hohlen Kürbis wurde er in der Kabine hin- und hergeschleudert. Er mußte sich am obersten Arm der Steuerungsanlage festhalten. Unter ihm war die Erde – braune Flecken, abgesengt und kahl, dazwischen Waldgürtel und kleinere Wälder. Vor sich sah er eine große, blaugraue Wasserfläche, die sich weit bis an den nördlichen Horizont erstreckte. An der Küste und auf den Hügeln zu beiden Seiten standen noch Baumbüschel. Fast direkt am Wasser, genau vor ihm, ragte ein großer, plumper Kuppelbau in die Höhe. Ein künstlerisches Gebilde? Ein Bauwerk der Kalten? Es ließ Bäume und Hügel neben sich zu Zwergen schrumpfen – die Kuppel wirkte wie ein mächtiger Berg, mindestens acht Kilometer im Durchmesser und fast dreieinhalb Kilometer hoch. Während Darragh im Flug näherkam, glaubte er eine Unzahl von
Einfluglöchern wahrzunehmen, die wie Pockennarben aussahen. Tausende von Toren und Eingängen. Als er inmitten seiner ihn eskortierenden Feinde noch näher gekommen war, sah er große Schluchten, wie ein System von Adern angeordnet – vielleicht Zugänge zu offenstehenden Eingängen. Es war klar – hier handelte es sich um eine der Hauptstädte der Eroberer der Erde, ein Kuppelbau, der um so viel größer und komplexer war, als diejenigen, die er in südlichen Gegenden gesehen hatte. Sie kamen ihm dagegen wie junge Pilze neben einem Riesenparasol vor. Und die ihn umgebende Flott zwang ihn in diese Richtung. Immer, wenn ein Vibrieren sein dahinsausendes Schiff erschütterte, bedeutete es eine Zerreißprobe für seine angespannten Nerven, sein Haar sträubte sich. Er wurde halb wahnsinnig dabei. Darragh versuchte einen seitlichen Ausbruch. Das Steuer gehorchte ihm nicht. Also wurde das Schiff bereits ferngelenkt. Seine Geschwindigkeit wurde kontrolliert. Er spürte, wie er sank, spürte das schreckliche Neigen des Bodens. Aus der Kanzel hinausblikkend sah er den Kuppelbau immer größer werden, während er sich ihm in völliger Hilflosigkeit näherte. Plötzlich klaffte an der gerundeten Flanke der Kuppel eine runde, schwarze Öffnung auf, wie ein ausdrucksloses Auge in einem riesigen Gesicht, das ihn anstarrte. Nur einen Moment lang war die Öff-
nung schwarz – dann drang ein grünes Leuchten aus der Tiefe empor und schien sich ihm geradezu entgegenzuschleudern. Das wird das Ende sein, murmelte Darragh, zu Tode gehetzt. Das ist das Abschiedswinken des Glücks, das mich bis jetzt am Leben erhalten und den ganzen Weg begleitet hat. Das grüne Leuchten mußte der Explosionsstrahl sein, von dem er schon gräßliche Dinge gehört hatte. Es blieb ihm noch genügend Zeit, um sich zusammenzureißen und eine Haltung von Stolz und Verachtung anzunehmen, die eines Spence oder Capato würdig war. Mit einem Wort – er wollte wie ein Mann sterben. Doch er sollte nicht sterben. Er sollte nicht explodieren. Der Boden war noch immer geneigt, das Schiff glitt noch immer abwärts. Ja, er war also noch am Leben und fühlte sich nicht einmal sehr unbehaglich. Das Vibrieren in und um ihn hatte aufgehört. Jetzt merkte er, daß das Schiff zum Stillstand gekommen war, als wäre der grüne Lichtstrahl ein Sockel, auf den es nun aufgesetzt hatte. Um ihn herum war alles grün, das Licht drang durch alle Scheiben in die Kabine. Darragh selbst schien in seiner gefaßten, aufrechten Haltung erstarrt zu sein, unfähig, Hände oder Füße zu bewegen, kaum
imstande, Atem zu holen. Nur Seh- und Denkvermögen waren nicht beeinträchtigt. Er hatte einen neuen Sinn dazubekommen. Er hatte das Gefühl völliger Schwerelosigkeit. Ja, das war es – der Boden wollte sich von ihm lösen und nach unten absinken. Der grüne Strahl zog ihn und das Schiff zur Erde hinunter, in die große Öffnung in der Kuppel. Sekunden später hatte es mit einem letzten, leisen Zittern aufgesetzt. Sofort war das grüne Licht um ihn erloschen. Draußen war alles dunkel und die schwachen Lichter in seiner Kabine, die kleinen Punkte auf Karte und Diagramm existierten nicht mehr. Eine letzte Aufwallung von Selbsterhaltungstrieb veranlaßte ihn, Brille und Schal anzulegen, die Handschuhe anzuziehen und die Kapuze wieder über den Kopf zu streifen. Dann hechtete er nach dem Segel, das ihm schon einmal Schutz geboten hatte und verkroch sich in dessen Falten. Er hatte sein Versteck gerade noch im letzten Moment erreicht. An der seitlichen Luke ertönte ein Klirren. Ein protestierendes Ächzen, dann ein plötzliches ›Ping‹ – und die Verschlüsse gaben nach, als hätte jemand von außen daran gezogen. Die Luke glitt auf und Darragh vernahm ein schwerfälliges, schlurfendes Geräusch. Die Kalten kamen hereingekrochen.
6 Mit dem ersten Öffnen der Luke war eine Welle tödlicher Kälte hereingeströmt, die Darragh wie ein Keulenhieb traf. Sie durchdrang Darraghs dickwattierte Ledersachen und stach in seine Haut, was ein starkes Prickeln verursachte. Das war die für das Wohlbefinden der Kalten günstigste Temperatur, eine Temperatur, in der sie auflebten, während der abgehärtetste Mensch dabei erfroren wäre. Er blinzelte wieder zwischen einer offenen Falte des Segeltuchs und sah, daß in der Kabine Licht war. Entweder hatte man im Schiff selbst Licht gemacht oder es von irgendwoher hergeleitet. Jeder hielt in einem Greifer eine merkwürdige kleine Strahlenwaffe, zwar nicht größer als eine Pistole, doch offenbar komplizierter in der Handhabung. Deutlich sah Darragh die Außenhülle der kalten Kreaturen, glatt und wächsern. Bei jeder Bewegung kräuselte sie sich. In der Mitte eines jeden blasenförmigen Körpers glühte stumpf und kalt das seltsame Lebens- und Sinnesorgan. Sie schienen keine Ahnung zu haben, wo Darragh sich verbarg. Ihre Aufmerksamkeit galt zuallererst den zwei Toten. Sie nahmen vor den Toten Aufstellung. Es folgte ein Fühlergewirr, als unterhielten sie
sich oder stritten in ihrer Zeichensprache. Einer griff prüfend in die Säbelscharte an der Leiche des Piloten und wies die anderen auf sie hin. Sämtliche Fühler tasteten die Wunde ab, wurden dann weggezogen um bei einer neuerlichen Unterhaltung eingesetzt zu werden. Die Wunde schien sie in tiefe Ratlosigkeit zu stürzen. Schließlich wurden beide Körper hochgehoben, die Fühler der Kalten wurden mit erstaunlicher Kraft und Gewandtheit bewegt, auch wenn es sich um schwere Lasten handelte – und durch die Luke hinausgeschafft, wo sich andere der Toten annahmen. Dann fingen die Biester an, das Innere der Kabine zu erforschen. Darraghs verstreut herumliegende Habseligkeiten wurden zusammengetragen, untersucht und von einem Fühler zum anderen weitergereicht. Eines der Lebewesen hob Darraghs Netztasche auf und schüttelte die letzten Reste der tropischen Früchte heraus. Mit einem harten Poltern fielen sie wie Holzstücke zu Boden. Sie waren steinhart gefroren – und das in dieser kurzen Zeit, seitdem das Schiff im Kuppelbau angelangt war. Ein zweiter hob seinen Strahlenapparat auf. Aus dessen Mündung schoß ein bleistiftdünner Strahl eines schrecklichen, fahlen Lichtes auf eine Banane. Das Explodieren der Banane war laut wie Kanonendonner und hinterließ eine Dampfwolke, die au-
genblicklich verschwand, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Also war der fahle Strahl die Zerstörungswaffe und das grüne Licht, welches Darragh festgenagelt hatte, war etwas ganz anderes. Wieder wurde der Vernichtungsstrahl auf eine Frucht gerichtet und ließ sie explodieren; und dann wieder und wieder. Doch schließlich streckte der Nachbar des Schützen protestierend seine Fühler aus. Offenbar drängte er seinen Kameraden, aufzuhören. Was von den Früchten noch übrig war, sollte wohl zur Untersuchung aufbewahrt und nicht vernichtet werden. Zumindest nicht sofort. Andere Fühler lasen die Früchte auf und reichten sie ihren draußen wartenden Genossen. Dann wurde das Segel gepackt, von Darragh weggezogen und eingerollt, um an die vor der Luke wartenden weitergereicht zu werden. Das also war das Ende, sagte sich Darragh, als er jetzt vollkommen ungeschützt dalag. Er blieb still auf dem beißend kalten Boden liegen, spürte weder Angst noch Verzweiflung, nur völlige Erschöpfung, während er den Todesstrahl erwartete. Doch der Strahl ließ auf sich warten. Statt dessen spürte Darragh die Berührung der handflächenartigen Fühlerenden an Beinen und Körper. Sie packten ihn hart, elastisch und gewandt. Er wurde hochgehoben, bewegt, getragen. Vorerst er-
folgte kein Angriff. Vielleicht hielten sie ihn für tot. Komplett eingehüllt in Hose, Jacke, Mokassins und Handschuhe aus Leder, mit Mütze, Brillen und Schal zum Schutz von Gesicht und Kopf, hätte er ebensogut eine Statue oder ein Bildnis, ein Objekt sein können, das nur Neugier hervorrief. Er wurde von einem dieser Lebewesen zum anderen weitergereicht und dann wieder an den nächsten – wie ein Eimer in den Händen einer Kette von Feuerwehrleuten. Er wurde durch die Luke hinausgeschoben. Als er aufsah, konnte er außer einer fahlen Decke mit frostigem Schimmer – Eiskristalle wie es schien – nichts sehen. Hören konnte er überhaupt nichts. Wieder nahmen ihn Fühler in Empfang. Er konnte sich vorstellen, daß es im Freien, außerhalb des Schiffes, wenn überhaupt möglich – noch kälter als im Inneren war. Dann wurde er brutal hingeworfen, wie ein Stoffballen, und zwar auf das zusammengefaltete Material des Palmfasersegels. Jetzt konnte er es wagen, verstohlen Umschau zu halten. Er sah, daß das Schiff in einer großen Halle mit ebenem Boden und sanft gewölbten Wänden stand. Die Decke bestand aus zwei Teilen, die sich wie Kinnladen öffnen und schließen ließen. Boden, Seiten und Decke waren von harten, weißen Frostkristallen beschlagen. Beschirmte Lampen spendeten etwas Licht und zeigten ihm, daß sich nach allen Richtungen hin
Tunnelmündungen öffneten, die dunkler waren als die Halle selbst. Nirgends konnte er die Quelle jenes grünen Strahls entdecken, der ihn gefaßt und heruntergezogen hatte. Möglich, daß er von einem transportablen Apparat aus gesendet wurde. In der Mitte des Raumes stand das Schiff. Vor der Luke lungerte ein Dutzend Kalter herum und beobachtete aufmerksam, was im Inneren vor sich ging. Aus der Kabine wurden weitere Dinge herausgeschafft. Darraghs Säbel! Er zog mehr Aufmerksamkeit auf sich, als jede bis jetzt zutage geförderte Entdekkung. Sämtliche Beobachter scharten sich jetzt um den Kalten, der den Säbel hatte und sie humpelten dann zu jener Stelle, wo die zwei Toten lagen. Kein Zweifel, sie brachten die blitzende geschärfte Klinge mit dem tödlichen Stich im Körper der Piloten in Verbindung. Es war höchste Zeit sich davonzumachen, während alle Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt war. Darragh erhob sich unvermittelt auf die Knie, kam mit einem Sprung auf die Beine und schnellte mit einem Satz in den nächstgelegenen Gang. Hinter ihm brodelte Aufruhr – ein gewaltiges Klatschen und sich Winden behender, aber gewichtiger Körper. Etwas Glänzendes schoß an ihm vorbei – ein kalter, schmaler Streifen des farblosen Explosionsstrahls. Er verfehlte ihn, doch schien sich die Wand,
wo der Strahl auftraf, plötzlich in Dampf aufzulösen. Ein Stoß, wie von einer plötzlichen Bö, warf Darragh fast flach zu Boden. Er kämpfte um sein Gleichgewicht, machte eine Wendung und zwang sich in eine Seitenöffnung hinein. Bei der nächsten Kurve machte er wieder eine Wendung. Nur so konnte man ihren verfluchten Mordstrahlen entgehen, auch wenn man damit dem Zentrum dieses unvorstellbar gefrorenen Bienenstocks näher kam. Wenn es ihnen gelang, ihn in einem geradlinig verlaufenden Tunnel oder auf einer offenen Fläche zu erwischen, konnten sie ihre Strahlen wirksam einsetzen. Dann wäre er geliefert – wie ein zappelnder Käfer unter dem Sprühstrahl eines Insektenvertilgungsmittels. Darragh war erschöpft und total durcheinander, trotzdem vollführten seine kräftigen, langen Beine schnelle und ausholende Schritte. Der Tunnel weitete sich und führte ihn hinaus auf eine hofartige, freie Fläche mit einer leuchtenden Decke darüber. Hier schnurrte eine Reihe von Maschinen, wie eine Batterie von Webstühlen. Da und dort hantierten Kalte zwischen den rotierenden Rädern und sausenden Treibriemen. Darragh blieb nicht stehen, er verlangsamte sein Tempo nur so weit, bis er die Mündung eines Ganges auf der gegenüberliegenden Seite ausgemacht hatte. Dann querte er den
Boden hinter der Maschinenbank mit verzweifelten Sprüngen. Er erreichte den neuen Tunnel und stürzte sich geradezu hinein, bevor die Maschinisten an ihn herankonnten. Den Bruchteil eines Augenblicks lang fand er Zeit, sich zu fragen, was wohl das Ende dieses unbesonnenen Dahinstürmens sein würde. Trotz seiner Kraft und seiner Gesundheit ging ihm die Luft aus. In seinem Kopf drehte sich alles, das Blut pochte in den Ohren. Die Kälte biß und zerrte an ihm wie ein lebendiger Feind, der ihn niederzuwerfen versuchte. Während des Laufens schlug sich sein Atem, der aus dem Schal dampfte, in Form funkelnder Eiskristalle um ihn herum nieder. Er wollte stehenbleiben und wußte doch, daß Stillstand den Tod bedeutete. Die Kälte würde ihn niederwerfen und ihm den Rest geben. Er ging jetzt langsamer und kam wieder auf eine freie Fläche in einer hohen Kammer, in der mehrere Gänge zusammenliefen. Während des kurzen Augenblicks, wo er sein Tempo herabgesetzt hatte, um eine neue Route zu wählen, kam eine Patrouille Kalter in Sicht. Sie waren ihm auf der Spur. Drei hatten Strahlenwerfer und stellten die Strahlen auf ihn ein. Die Strahlen hinterließen dampfende Furchen in dem klumpigen Frost des Bodens. Darragh blieb stehen, weil er wieder einmal die Nutzlosigkeit
einsah, dem Tod entfliehen zu wollen. Doch die Strahlen berührten ihn nicht. Ein Strahl tanzte rechts hinter ihm, wie ein Wasserstrahl aus einem Schlauch, ein zweiter huschte über den Tunneleingang, aus dem er eben gekommen war und schnitt ihm damit den Rückzug in dieser Richtung ab. Notgedrungen wandte er sich dem Eingang zu seiner Linken zu. Im Tunnel angelangt, fing er wieder zu laufen an. Mit seinen überanstrengten Lungen konnte er nur mehr stoßweise atmen. Doch wurde er von keinem Strahl verbrannt und konnte, matt wie er war, den Dingern, die ihn so bedroht hatten, entkommen. Mit zitternden Beinen lief er weiter, bis er wieder einen offenen Raum erreicht hatte, diesmal mit den Dimensionen eines großen Platzes. Den Wänden entlang waren hüttenartige kleine Gebilde aus stumpfen Metall oder glattem Beton aufgereiht. Dicht vor ihm verlief in Querrichtung eine einzelne Schiene. Als er aus dem Tunnel trat, kam auf dieser Schiene ein flacher, einrädriger Wagen leise surrend in Sicht. Er hielt an, drei Kalte schlüpften herunter. Auch sie hatten Strahlenwerfer bei sich. Strahlen glühten und zuckten auf und hüllten ihn in ein ganzes Strahlenbündel ein. Er stand still und starrte nur vor sich hin. »Warum macht ihr mich nicht fertig?« schrie er ihnen heiser zu.
Die Strahlen, von denen zwei verkreuzt liefen, krochen langsam auf ihn zu. Das mußte irgendein kompliziertes Katz-undMaus-Spiel sein. Sein Leben lang hatte Darragh zu hören bekommen, daß die Kalten in ihrer Kriegsführung erbarmungslos seien, niemals hatte er aber gehört, daß sie bewußt grausam waren. Er wünschte sich ein Gewehr, Pfeile, seinen verlorenen Säbel, damit er angreifen und vielleicht wieder einen töten könnte, bevor man ihn zu Atom zerstäubte. Immer näher krochen die gekreuzten Strahlen ... immer näher und näher. Er konnte stehen bleiben und untergehen, oder er konnte weiterlaufen. Einer der Gänge stand ihm noch immer offen. Er drehte sich also blitzschnell um und lief darauf zu. Er war total erschöpft, einer Ohnmacht nahe – aber er lief weiter. Die Einzelschiene lief diesen Gang entlang. Nach einem Augenblick hörte er auch den einrädrigen Wagen hinter sich. Er warf einen Blick zurück. Seine drei Folterknechte folgten ihm, aber nicht so rasch und so knapp, daß sie ihn einholen konnten. Ein- oder zweimal huschte ein Strahl über ihn hin, so wie ein Hirte seine Peitsche über einem widerspenstigen Stück Vieh kreisen läßt. Irgendwie mußte er in Bewegung bleiben, vor ihren Wagen bleiben, vor ihren Strahlen. Endlich weitete sich auch dieser Tunnel vor ihm.
Wieder war es eine Wegkreuzung, es gab zwei Ausgänge, beide von unerbittlichen Abteilungen helmförmiger Teufel mit verderbenbringenden Strahlenwerfern bewacht. Darragh war mehr als einen Kilometer gelaufen – und das mit einer Geschwindigkeit, die ihm trotz der unaussprechlichen Kälte in seinem Leder den Schweiß aus den Poren trieb. Mehr als einmal hatte er seine letzten Minuten kommen gesehen, doch spielerisch war der letzte Augenblick immer wieder hinausgeschoben worden. Jetzt ... Jetzt gab es keinen Aufschub mehr. Darragh lief auf eine Wand am Ende des letzten Tunnels zu. Frost bedeckte die Wand. Vor ihm hingen in zackigen Bärten Eiszapfen. Hinter ihm kamen die Kalten, drei auf dem Schienenwägelchen, die anderen bewegten sich behende auf ihren Pseudo-Schalen weiter. Darragh drehte sich um, um ihnen entgegenzusehen. Er war überglücklich, endlich haltmachen zu können. »Macht doch schon Schluß«, krächzte er mit letzter Kraft und letztem Atem. »Tötet mich und seid verdammt – ihr alle! Ich habe es satt, euch als ...« Seine hängenden Schultern berührten die Mauer. Die Mauer glitt weg. Einer der Kalten stand vor einer Hebelanordnung an einer Seite des Tunnels und hatte einen Hebel niedergedrückt. Damit wurde eine Art
Schiebetür geöffnet. Hinter Darragh drang Schwärze hervor, eine fast greifbare Schwärze und eine Welle von Kälte, die alles übertraf, was er bis jetzt zu spüren bekommen hatte. Er fuhr herum und hielt den Atem an. Hinter sich hörte er das Schwappen von Flüssigkeit. Sich nach der anderen Seite umwendend sah er in einen Graben hinunter. Darin strömte reißendes, dampfendes Wasser – nein, nicht Wasser. So tief unter dem Gefrierpunkt konnte hier kein Wasser fließen. Er drehte sich zu den Kalten um. Sie hatten im Tunnel Aufstellung genommen, den er eben entlanggetaumelt war. Der Wagen hatte angehalten. Auf dem Wagen stand jetzt eine niedrige, mörserartige Vorrichtung mit einer runden Linse. Einer der Kalten berührte mit seinen Fühlern Knöpfe. Grünes Licht erstrahlte, dunkelgrünes Licht, wie es das Luftschiff im Moment seiner Gefangennahme durchströmt hatte. Darragh hatte das Gefühl, als träfe auf die Mitte seiner lederumhüllten Brust ein fliegender Klotz auf. Er verlor das Gleichgewicht, wirbelte rückwärts durch die Luft und segelte über den Boden. Unter ihm brodelte der Strom der Flüssigkeit. Dann klebte er mit gespreizten Gliedmaßen an einer senkrechten Wand. Der Strahl hielt ihn wie eine zerschmetternde
Faust fest. Einen Augenblick später gab auch diese Wand nach und kippte nach hinten. Schwer und unbeholfen fiel Darragh hinunter. Eine Röhre schnappte, wie von einer großen Feder geschlossen, zu. Er schlug auf dem Grund auf und blieb zusammengekauert liegen. Lange Zeit vermochte er nur, um Atem zu ringen. Jetzt traf ihn Helligkeit. Er schloß die Augen hinter den Brillen. Nie wieder wollte er sich bewegen. Dann spürte er eine Berührung. Er hatte nicht die Kraft, seinen erschöpften Körper wegzuziehen. An seiner Kopfbedeckung wurde gezupft. Der an Nase und Mund angefrorene Schal wurde langsam und schmerzhaft weggeschält. »Aufhören«, stöhnte er elend. »Ich erfriere.« Er erfror nicht. Er spürte Wärme auf seinem entblößten Gesicht. Ein Arm schob sich unter seine Schultern, er wurde hochgehoben. »Ruhig bleiben«, sagte eine gedämpfte, leise Stimme. »Sie sind unter Freunden.«
7 Mark Darragh lag ganz still da, als würde er nie wieder die Kraft haben aufzustehen. Ruhig sein, hatte ihm eine leise Stimme geraten. Nach all dem Kämpfen, Fliegen und Laufen schien das ein guter Rat. »Sie sind unter Freunden«, hatte eine Stimme ergänzt. Das hatte freundlich geklungen. Darragh schlug die Augen auf. Er drehte den Kopf aus der Mütze und stützte sich auf einen Arm auf. Knapp über ihm war das Gesicht einer Frau – eigentlich eines Mädchens – ein angenehmes Gesicht mit blauen Augen, das sehr besorgt aussah. Maisgelbes Haar umgab das Gesicht in dichten Strähnen. Dahinter und darüber schwebten die Gesichter anderer, die sich bückten, um ihn anzusehen. »Er ist keiner von uns«, sagte eine Männerstimme. »Wer sind Sie denn?« Darragh hatte seine Sprache wiedergewonnen. »Dasselbe wollte ich Sie eben fragen«, gab er zurück. »Er kann reden«, sagte ein anderer. »Er spricht englisch.« Da setzte sich Darragh auf und sah die Menschen um sich herum an. Sie waren adrett gekleidet – Kleider, die er auf Bildern aus den Tagen der unbesiegten
Großväter gesehen hatte. Die Männer in Jacken und Hosen, die Frauen in Kleidern aus leichtem bedruckten oder festem Material. Es war ungefähr ein Dutzend, und um diese innere Gruppe drängten sich doppelt so viele. Das blonde Mädchen, das neben ihm gekniet hatte, sah erleichtert aus, als er sich bewegte und halb aufrichtete. Er lächelte ihr zu. Sie sah energisch, intelligent und hübsch aus. Sie trug dunkle Hosen, eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln und Slipper aus einem groben, leinwandartigen Material. Die bloßen Arme und das Gesicht waren gebräunt und wirkten als Gegensatz zum hellen Haar noch dunkler. »Sie meinen, wer wir sind?« half ihm der Nächststehende aus, ein Kerl um die dreißig, mit ruhigen, nahe beisammenstehenden Augen. »Also – wir sind hier, seitdem diese Niederlassung hier besteht.« Darragh nahm diese Worte nur halb auf. Er stand auf – und konnte nun über die vielen Menschen hinweg sehen. Das war ja eine Stadt. Wenigstens sah das wie eine jener Städte aus, die Darragh auf alten, geretteten Bildern der Zivilisation gesehen hatte, aus der seine Großväter geflohen waren. Da standen etwa zehn Häuser – ihm fiel ein, daß man diese Sorte von Häusern Villen nannte – aus weißgetünchten Brettern, mit Dächern aus roten Ziegeln. Davor grüne Rasen und bunte Blumenbeete. Das alles war um einen großen
Platz, der sich in der Mitte befand, gruppiert. Rings um die Häuser erhob sich eine große, bleifarbene Mauer, die sich in geschwungener Wölbung ausdehnte. Sie schloß die Häuser samt dem Platz ein, wodurch es aussah, als läge alles auf dem Grund einer Röhre. Als Darragh hinaufsah, stellte er fest, daß sich diese Mauer zu gewaltiger Höhe erhob. Es sah tatsächlich so aus, als wären er und diese Männer und Frauen und deren Häuser auf dem Grund eines riesigen Kamins. Hoch über ihnen wurde der Schacht mit einer blendenden und warmen Strahlung erfüllt, die alles in Helligkeit tauchte. Auch das blonde Mädchen hatte sich erhoben. Sie stand aufrecht neben Darragh. Aufregung und Erschöpfung konnten nicht verhindern, daß Darragh die Kraft und Anmut ihres Körpers registrierte. Er wünschte, sie näher kennenzulernen. »Woher sind Sie gekommen?« fragte sie. »Von da draußen natürlich.« Darragh wies auf die Wand. »Von den Besitzern?« »Besitzer?« wiederholte Darragh. »Wer sind die Besitzer?« »Sie haben Sie eben mit dem Strahl hereingeschleudert«, sagte der Mann mit den eng beisammenstehenden Augen. »Ach, Sie meinen die Kalten«, sagte Darragh.
»Nein, von daher komme ich nicht. Sehe ich den aus wie ein Kalter?« Alle starrten ihn an. »Ich habe gesagt, daß ich von draußen komme«, wiederholte er. »Von weit weg. Vom Orinoco, falls Sie wissen, wo das ist.« »Südamerika«, sagte das blonde Mädchen. »Sie wollen damit sagen, daß Sie aus Südamerika kommen?« »Ich habe die Kalten bespitzelt«, führte Darragh aus. »Ich habe eines ihrer Luftschiffe in die Gewalt bekommen und wollte mir diesen Kuppelbau ansehen. Sie haben mein Schiff heruntergeholt, aber ich bin entkommen und bin endlose Tunnel entlanggelaufen. Aus irgendeinem Grund haben sie mich hier hereingeschleudert.« Er lachte. »Ich kann es Ihnen nicht übelnehmen, daß Sie mich anstarren. Ich weiß, das alles klingt phantastisch. Oder sollte ich vielmehr sagen, es klingt verrückt?« Keiner antwortete. Alle starrten ihn an. Dann runzelte der Mann, der als erster gesprochen hatte, die Stirn. »Sie müssen unser Benehmen entschuldigen. Die Vorstellung, daß es noch immer freie menschliche Wesen gibt, erscheint uns kaum glaubhaft.« »Ja, sind Sie denn nicht frei?« fragte Darragh. Jetzt ergriff ein anderer das Wort. Er war breit gebaut und hatte kurzes, graues Haar. »Wie können wir
frei sein? Sehen Sie nicht den Pferch, in dem wir leben?« Darragh sah wieder zu der bleifarbigen Wand hinüber. »Das ist also ein Gefängnis? Die Kalten halten euch gefangen?« »Die Kalten ...«, wiederholte der Jüngere. »Ein guter Name.« »Und ihr nennt sie ...«, setzte Darragh an. »Wir nennen sie Besitzer.« Ein hartes, verbittertes Zähneknirschen. »Sie besitzen uns, wie Sie sehen. Darf ich Sie fragen, wie Sie heißen?« »Mark Darragh.« »Ich heiße Orrin Lyle.« Er streckte ihm die Hand entgegen, eine Hand, die lang, aber viel schmäler war als die Hand Darraghs. »Und das ist Brenda Thompson.« »Er meint mich«, sagte das Mädchen neben Darragh. »Sind Sie nicht noch ein wenig wacklig auf den Beinen?« Darragh merkte, daß sie recht hatte und nickte. »Orrin, schaffen wir ihn doch zu mir hinein«, sagte sie. »Eine Sekunde noch«, sagte Darragh plötzlich. »Sie müssen entschuldigen, daß es bei mir mit dem Begreifen etwas länger dauert, aber ich werde es schon schaffen. Sie sind also Gefangene und wurden lebend hierher gebracht. Warum kämpfen Sie sich nicht den Weg nach außen frei?«
Schweigen und wieder Anstarren – leicht verlegene Blicke, als hätte er etwas Peinliches gesagt. »Sie sind jetzt auch nicht in der Verfassung, sich den Weg nach draußen zu erkämpfen«, sagte der Mann namens Orrin Lyle. »Kommen Sie mit zu Brenda.« Die anderen gaben Darragh den Weg frei. Orrin Lyle faßte nach Darraghs lederumhüllten Arm und führte ihn zu einer der Villen. Brenda Thompson geleitete Darragh auf der anderen Seite. Während des Gehens fühlte er die ihnen folgenden Blicke. »Hier wohne ich«, sagte Brenda Thompson und öffnete eine Tür. Darragh trat ein. Im Hausinneren war alles geschmackvoll und gemütlich. Ein handgeknüpfter Teppich bedeckte den Betonboden. Da standen Sessel – alt, aber gut erhalten, ein Sofa, ein Bücherbord. An den Wänden hingen Bilder. Darragh empfand die Bilder als fremdartig, aber voller Leben – es waren einfach Farbkompositionen. »Die habe ich gemalt«, sagte Brenda Thompson, als sie sein Interesse bemerkte. »Gefallen sie Ihnen?« »Von Kunst verstehe ich nicht viel«, gestand Darragh. »Aber Sie wissen, was Ihnen gefällt«, mischte sich Orrin Lyle ein. »Setzen Sie sich, Mr. Darragh.« Er tat so, als wäre es sein Heim. Darragh, der eine
gute Erziehung genossen hatte, blieb stehen, wo er war und lächelte das Mädchen an. Auch sie lächelte. »Los, setzen Sie sich«, wiederholte sie Lyles Einladung. »Ich mache uns Tee.« In einer Haltung, die von Selbstsicherheit zeugte, verließ sie das Zimmer. Lyle ließ sich in einen Armsessel fallen, den bequemsten des Zimmers. Darragh setzte sich ihm gegenüber. Jetzt bemerkte er, daß sich in der Zimmermitte ein Stützpfeiler von zehn Zentimetern im Quadrat befand. Er schien die Decke zu tragen. An der Rückwand des Zimmers war eine rechteckige Glasfläche angebracht, vielleicht ein Spiegel. Wieder ergriff Orrin Lyle das Wort: »Ich darf doch offen mit Ihnen reden, Mr. Darragh? Ich möchte Sie warnen, vor den Leuten hier über eine Flucht zu sprechen!« »Warum nicht?« fragte Darragh. »Möchten Sie denn nicht fliehen?« »Sagen wir so: Wir haben unsere eigenen Fluchtpläne – unsere Zeit wird noch kommen.« Lyle beugte sich vor und stützte einen Ellbogen auf die Armlehne. »Sie werden bemerkt haben – ich führe hier sozusagen das Kommando. Ich bin eine Art Bürgermeister dieser Gemeinschaft – der Vorsitzende dieses Vereins, wenn man will. Unter anderem obliegen mir die Fluchtpläne.« »Vielleicht könnte ich Ihnen dabei helfen«, sagte Darragh. »Ich bin schon zweimal in die Falle gegan-
gen – in Fallen der Kalten – und bin beide Male entkommen – das heißt, das zweite Mal bin ich hier bei Ihnen hereingeplatzt.« »Wie wär's, wenn Sie mehr über Ihren Weg vom Orinoco herauf berichteten?« »Sollten wir nicht auf Miss Thompson warten?« »Bin schon da«, rief sie und kam mit einem dunklen Holztablett ins Zimmer. Darauf standen eine Teekanne und Tassen in grüner und roter Musterung. Sie stellte das Tablett auf einen Tisch nahe dem Stützpfeiler und goß die dampfende Flüssigkeit in die Tassen. Eine Tasse reichte sie Darragh. Während er sie entgegennahm, bemerkte er, daß Orrin Lyle das Mädchen mit einem merkwürdigen Ausdruck ansah, einer Mischung aus Mißtrauen und Wohlgefallen. Die zweite Tasse reichte sie Lyle. »Also – fangen Sie an!« Sie lächelte Darragh zu. Er berichtete so knapp wie möglich, unter welchen Bedingungen sein Volk in den Tropen lebte und davon, wie eine Gruppe von Anführern einen Gegenangriff auf die Kalten plante, wie er als Spion und Späher ausgezogen war und welche Abenteuer er bis jetzt erlebt hatte. Sowohl Brenda als auch Orrin Lyle stellten immer wieder Fragen. Um seine Geschichte zu untermauern, kramte Darragh in seinem Lederanzug, zog seine Zeichnungen heraus und reichte sie ihnen. »Solche Bauten errichten die Besitzer also?« fragte
Brenda Thompson. »Ich habe das noch nie gesehen.« »Niemals gesehen?« fragte Darragh. »Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« »Ich bin hier zu Welt gekommen«, sagte sie und reichte die Zeichnungen an Lyle weiter. »Ein guter Zeichner – nicht wahr, Orrin?« »Sehr gut«, mußte Lyle zugeben. »Also – Mr. Darragh, ich habe ein paar merkwürdige Punkte in Ihrer Geschichte entdeckt.« »Merkwürdige Punkte?« wiederholte Darragh in scharfem Ton. »Ach, ich wollte damit nicht sagen, daß Sie uns Lügen aufgetischt haben.« Lyle grinste und zeigte dabei große ebenmäßige Zähne. »Das möchte ich nicht hoffen«, sagte Darragh. »Ich meine damit Ihre Haltung den Besitzern gegenüber – die Sie ›Kalte‹ nennen. Sie sagen, Sie hätten mit Ihren Häuptlingen Streit gehabt. Sie haben eine Politik des Abwartens verlangt, bis die richtige Zeit gekommen ist.« »Das habe ich«, bekräftigte Darragh. »Und doch haben Sie eben von Flucht gesprochen, obwohl auch wir alle uns darüber einig sind, die richtige Zeit abzuwarten«, fuhr Lyle, seinen Tee schlürfend, fort. »Und wie lange warten Sie bereits auf die richtige Zeit?« fragte Darragh.
»Einige Jahre. Wir möchten nichts überstürzen.« »Sieht ganz danach aus. Und wann wird Ihrer Meinung nach die richtige Zeit gekommen sein?« Lyle kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Vielleicht noch lange nicht. Vielleicht noch einige Generationen lang nicht. Wir haben einen ›Fluchtausschuß‹ der sich aus unseren besten Köpfen zusammensetzt. Er sammelt Wissen, studiert ...« »Halt!« unterbrach Darragh ihn barsch. »Zufällig kann ich jedenfalls nicht jahre- oder generationenlang warten. Ich muß zurück und dem Rat der Häuptlinge meinen Bericht vorlegen.« »Tatsächlich?« Lyles Lächeln über der Teetasse war erstarrt. »Und wie stellen Sie sich die Flucht vor?« »Genaues kann ich noch nicht sagen«, mußte Darragh zugeben. Er spürte, wie ihm der Zorn hochkam, als Lyles Grinsen immer breiter wurde. »Und doch müßte eine Flucht möglich sein.« Er zwang sich, ruhig und kühl zu sprechen. »Hier sind etwa dreißig Menschen und ...« »Darragh, diese Menschen gehorchen mir«, rief ihm Lyle frostig und unverblümt zu. »Es sind meine Leute. Mit vielen bin ich verwandt, mit allen befreundet.« »Ich möchte ebenfalls ihr Freund werden«, versuchte Darragh einzulenken. Er blickte auf das Vorderfenster. »Sie stehen da draußen und scheinen sich sehr dafür zu interessieren, was hier drinnen vor sich geht.«
»Sie halten auf Zusammenarbeit und Disziplin«, führte Lyle aus. »Sie setzen ihr ganzes Vertrauen in den Ausschuß.« »Bitte – Mr. Darragh ist unser Gast«, warf Brenda Thompson ein. »Danke«, sagte Darragh. »Ein ungebetener Gast, könnte man sagen«, erwiderte Lyle. »Ich möchte weder unhöflich noch halsstarrig sein, Darragh, aber Sie müssen sich darüber klar sein, daß wir hier Wissenschaftler sind.« »Wissenschaftler?« wiederholte Darragh. »Wie hoch ist denn der Stand der Wissenschaft da unten in Ihrem Dschungel?« »Nun – wir tun, was wir können ...«, sagte Darragh. »Und was können Sie tun? Verfügen Sie über Elektrizität oder Dampfkraft?« »Wir haben Elektrizität«, sagte Darragh. »Dampf nutzen wir für Dinge wie Mühlen und Pressen. Wir haben Funkeinrichtungen – allerdings kein Fernsehen – obwohl wir es wahrscheinlich haben könnten, wenn wir wirklich wollten.« »Und wie steht es mit Flugzeugen?« »Einige haben wir. Keine Düsenflugzeuge – nur solche mit Propellerantrieb.« »Da haben Sie ja eine ganze Menge geschafft«, meinte Brenda Thompson. »Wir sind eine kleine Gemeinschaft von Wissen-
schaftlern«, begann Lyle wieder. »Unsere Väter wurden im Moment der ersten Invasion gefangen. Sie haben Bücher und Pläne bewahrt, haben ihr Wissen niedergelegt und es weitergegeben.« Darragh starrte ihn an. »Sie leben also schon seit der ersten Landung der Kalten hier? Seit fünfzig Jahren?« »Wir haben von den Besitzern – von den Kalten – beträchtliches Wissen erworben«, fuhr Lyle fort. »Wir kennen jetzt einiges von ihrer Technik, die Strahlen zum Beispiel.« Darragh beugte sich hastig vor und verschüttete dabei fast seinen Tee. »Sie können also Strahlenwerfer konstruieren?« Lyle schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, wir verstehen, wie diese Dinge funktionieren. Eines Tages werden wir sie erzeugen können. Wir sind aber erst im Lernstadium. Das alles war ein langer, aber beständiger Prozeß.« »Mr. Darragh – bitte versuchen Sie zu verstehen«, bat Brenda Thompson leise. »Ja«, sagte Lyle. »Versuchen Sie zu verstehen! Wir arbeiten so, daß es keinen Verdacht erregt. Schließlich sind wir hier seit etwa zwei Generationen gefangen. Aber wir werden herausbekommen, wie man so ein Schiff baut und steuert ...« Er spreizte die freie Hand. »Und in diesem Schiff werden wir aus diesem Gefängnisschacht in die Freiheit fliegen ...«
»Ich habe so ein Schiff geflogen«, erinnerte Darragh ihn. »Ja, ja, das haben Sie gesagt«, nickte Lyle ungeduldig. »Aber können Sie auch eines herstellen?« »Nein, ich sehe ein, daß es Jahre dauern würde. Nun gut!« Er stellte die Tasse ab. »Tut mir leid, daß ich trotzdem nicht hierbleiben und zusehen kann, bis ihr es schafft.« »Und was haben Sie vor?« »Sehen Sie, Lyle, während unserer Unterhaltung habe ich einen Plan gefaßt«, sagte Darragh. »Warum erlauben Sie nicht, daß ich den Plan Ihren Leuten vortrage – damit sie ihn annehmen oder ablehnen können?« »Mir ist es lieber, Sie lassen die Finger davon«, sagte Lyle mit hellwachen, unfreundlichen Augen. »Überhaupt muß ich Sie bitten, keine Reden zu halten.« »Aber ich hatte gar nicht die Absicht, Reden zu halten«, entgegnete Darragh. »Vielen Dank für Ihr Versprechen.« Lyle stand auf. »Wollen Sie hier warten? Ich werde jemanden hereinbringen, mit dem Sie reden können.« »Noch etwas Tee, Orrin?« fragte das Mädchen. »Nein, danke«, lehnte Lyle brüsk ab. »Ich bin gleich zurück.« Weg war er. Auch Darragh stand auf. »Dieses Le-
derzeug wird mir langsam zu heiß«, sagte Darragh zu Brenda Thompson. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es ausziehe?« »Bitte.« Er warf die Mokassins ab und zog die Jacke über den Kopf. Ihre Augen wurden immer größer. Da merkte er, daß er bis zum Bauch nackt war. »Ach.« Er versuchte ein Lachen. »Entschuldigen Sie. Ich hatte keine Zeit zum Überlegen – unten in den Tropen tragen wir so wenig wie möglich am Leib.« »Sie haben breite Schultern!« Sie drehte sich um. »Ich bringe Ihnen etwas von den Sachen meines Vaters. Einen Bademantel.« Sie ging hinaus. Darragh kletterte aus seiner schweren Hose. Er legte die Sachen auf einen Sessel und drehte sich unvermittelt um. Er hatte gespürt, wie jemand seinen Rücken intensiv anstarrte. Doch hinter ihm war nur das spiegelähnliche Glasrechteck an der Rückwand. Er ging darauf zu. Auf der anderen Seite drückte sich ein Kalter daran platt. Er beobachtete ihn hingerissen und interessiert.
8 Darragh machte einen Satz auf das Fenster zu. Seine Hand fuhr zum Messer an seinem Gürtel. Er kam ganz nahe an die Scheibe heran und reckte sich vor, um das Gesicht da draußen zu sehen – wenn die Kalten Gesichter gehabt hätten. Es überlief ihn unangenehm, sein Haar sträubte sich. Seine plötzliche Bewegung hatte bewirkt, daß das Wesen vor der Scheibe in einen trübe erleuchteten Gang zurückzuweichen schien. Es blieb dann stehen. Seine Fühler vollführten flatternde Bewegungen, als wollte es ihm Zeichen geben. »Verdammte Puddingkugel, das wäre das Richtige für dich!« knurrte Darragh und ließ das Messer mit der Gebärde des Kopfabschneidens um seinen Kopf kreisen. Er drehte sich blitzschnell um, als er hinter sich atmen hörte. Brenda Thompson war wieder da. Über ihrem Arm lag zusammengelegt ein Morgenrock, schwarz mit rotem Gürtel, Kragen und Manschetten in Rot. »Lieber Himmel!« sagte sie und lächelte mit zitternden Lippen. Er wies mit wilden Bewegungen auf die Scheibe. »Das Wesen da draußen – es hat mich belauert.« »Sie beobachten uns sehr häufig«, sagte sie, wie um ihn zu beruhigen. »Sie tun uns aber nichts.«
»Ich möchte nicht beobachtet werden«, grollte Darragh und ging auf sie zu. Einen Augenblick lang glaubte er, auch sie würde vor ihm zurückweichen, wie der Kalte da draußen. Doch sie lächelte nur und bot ihm den Morgenrock an. »Danke«, sagte er und zog den Mantel über. Er zog seine Sandalen aus dem Gürtel und bückte sich, um sie überzustreifen. Brendas Blick ruhte noch immer auf dem Messer, das er in Händen hielt. Er legte es auf den Tisch neben das Tablett. »Es hat ausgesehen, als wollten sie den Besitzer wirklich töten«, sagte sie halb geflüstert. »Zwei habe ich getötet«, erinnerte er sie. »Das habe ich Ihnen erzählt. Haben Sie mir etwa nicht geglaubt?« Sie schürzte die Lippen, ein kleines Runzeln verschob ihre Braue. »Weil Sie mich so fragen«, sagte sie langsam, »– ich weiß nicht, ob ich Ihnen geglaubt habe. Bis zu diesem Augenblick nicht. Aber jetzt glaube ich Ihnen.« Sie setzten sich. »Hat denn noch niemand von Ihren Leuten versucht, einen Kalten zu töten?« fragte er. Sie schüttelte den blondmähnigen Kopf. »Daran hat niemand gedacht. Aber Sie – ja, Ihnen glaube ich es. Ich glaube, Sie brächten es fertig.« Plötzlich lächelte sie. »Sie sind nicht wie die Männer hier. Sie sind – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll –«
»Sie halten mich also für einen Wilderer?« fragte er, ebenfalls lächelnd. »Zahm sind Sie jedenfalls nicht«, lachte sie. In ihrem Lachen schwang Bewunderung mit. »Sie haben außer Reichweite der Besitzer gelebt. Sie haben trotzdem gelebt. Sie haben gewagt, ihnen nachzuspionieren, sich ihnen entgegenzustellen und sie niederzuschlagen.« »Und das ist für Sie etwas ganz Neues, Miss Thompson!« »Sie sind für mich neu, Mr. Darragh. Sie sind ein Fremder. Sind Sie sich klar darüber, daß Sie der erste Fremde sind, dem ich je begegnet bin? Ich bin groß geworden, ohne jemals einen Fremden gesehen zu haben.« Er lächelte und schüttelte langsam den Kopf. »Wir wollen uns nicht länger fremd sein! Fangen wir doch damit an, daß wir uns beim Vornamen nennen. Ich heiße Mark.« »Und ich Brenda. Möchtest du noch Tee?« Sie füllte beide Tassen. Langsam ihren Tee trinkend, lächelten sie einander an. »Ich habe das Gefühl, daß ich bei Orrin nicht so gut angekommen bin, wie bei dir«, versuchte er einen Vorstoß. »Orrin mag es nicht, wenn er auf Widerspruch stößt. Er ist es nicht gewöhnt.«
»Ich bin es gewöhnt, mag es aber auch nicht. Hoffentlich werden wir miteinander auskommen.« »Hoffentlich, Mark.« Er warf einen Blick zur Scheibe in der Wand. Er konnte nicht feststellen, ob da draußen der Kalte noch immer herumlungerte. »Ich mag es nicht, wenn ich beobachtet werde. Können wir uns nicht in einen anderen Raum zurückziehen, Brenda?« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt nur noch einen zweiten Raum und in den können sie auch hereinsehen. In jeden Raum, in allen Häusern.« »Das ist ja wie in einem Zoo!« explodierte er. »Genau das«, sagte sie nüchtern. »Ein Zoo. Wir werden hier lebend gefangengehalten, mit Nahrung und anderen notwendigen Dingen versorgt. Sie studieren uns, nehme ich an.« »Aber einfach so hereinzuglotzen! Gehört denn das Haus nicht dir?« »Ich fürchte nein. Es gehört ihnen. Es ist ein Schaustück. Wie die künstliche Felsenhöhle im Bärenzwinger in den Zoos, die wir Menschen einst eingerichtet hatten.« Sie machte eine erklärende Handbewegung. »Diese Wände sind bloß Attrappen. Sie sind sehr zerbrechlich, weil wir hier unten im Schacht keinen Wind haben. Das Dach aber muß fest sein, weil im Winter von oben Schnee und Regen kommen.« »Das ist also der Grund für diesen Stützpfeiler«,
sagte er. Sie sah hin. »Ja, er muß die Streben und Dachziegel halten. Sie sind wichtig – die Wände nicht.« Er stellte die Tasse ab. »Ich habe dir erzählt, wie meine Leute leben. Erzähle mir jetzt von deinen Leuten! Beginne am Anfang.« »Gut«, stimmte sie zu. »Zumindest werde ich damit beginnen, was man mir über den Anfang erzählt hat. Die Besitzer ...« »Die Kalten«, verbesserte sie Darragh. »Nenne sie nicht Besitzer. Sie besitzen mich nicht und dich auch nicht, sie halten uns nur zufällig in einem Behälter gefangen.« »Also gut, als die Kalten wie Diebe in der Nacht auf die Erde kamen, konnten deine Vorfahren fliehen, stimmt's?« »Und deine? Wie kommt es, daß sie geblieben sind und überlebt haben?« »Wir haben in einer kleinen Stadt gelebt – Vorort hat man so etwas genannt – an dem Ufer eines Sees.« »Den See habe ich gesehen«, erinnerte er sich. »Damals waren wir Professoren, Lehrer an der Universität in Ann Arbor.« »Und wahrscheinlich zu sehr in Studien vertieft, um die Gefahr richtig einzuschätzen.« Sie zuckte traurig die Schultern. »So ähnlich war es wohl, nehme ich an. Das ist eben ein Fehler der Wis-
senschaftler und Lehrer. Als erstes merkten sie, daß es bereits zu spät war. Die Kalten – ich werde sie nie wieder Besitzer nennen – löschten überall Armeen und Städte aus, aber diesen kleinen Ort riegelten sie ab.« Sie hielt inne und rief sich düster die Vorgänge ins Gedächtnis. »Natürlich spreche ich von meinem Großvater und dessen Familie und Nachbarn. Heute ist niemand mehr von ihnen am Leben, der sich daran erinnern kann. Es hat keine andere Wahl, als völlige Unterwerfung gegeben.« Darragh fuhr so unvermittelt auf, daß Brenda Thompson aufsprang. »Unterwerfung?« wiederholte er. »Wie haben sie das wohl geschafft? Mit einer weißen Fahne oder dergleichen?« »Nein. Wahrscheinlich wäre das gar nicht verstanden worden. Dr. Lyle – das war Orrins Großvater – hatte die Aktion geleitet. Er hat alle angewiesen, mit erhobenen Händen ganz still zu stehen. Es war ein halbes Dutzend Professoren mit ihren Frauen und Kindern. Die Kalten kamen herangekrochen, gepanzert und mit Strahlenwerfern bewaffnet.« »Ich interessiere mich sehr für diese Strahlenwerfer«, warf Darragh ein. »Später werde ich dir berichten, was ich darüber weiß«, versprach Brenda. »Wir haben Kommunikationsmöglichkeiten mit den Kalten entwickelt, wir können sie verstehen und haben etliche Tatsachen
über sie herausgefunden. Aber gehen wir zu den historischen Ereignissen zurück: Die kleine Schar wurde in eine Art Pferch gesteckt. Die Kalten hielten eine Beratung ab, diskutierten in ihrer Fühlersprache und dann wurde dieses Gefängnis ...« »Dieser Zoo«, korrigierte Darragh. »So hat es also angefangen.« »Und danach?« »Seit zwei Generationen leben wir nun hier als menschliche Raritätenschau«, sagte Brenda. Das klang verbittert und resigniert. »Sie haben um uns herum ihre eisgekühlte Stadt errichtet und nur diesen kleinen Fleck hier in der Mitte für uns ausgespart.« »Und sie haben euch gestattet, Häuser zu bauen«, ergänzte Darragh. »Sie haben für uns die Häuser gebaut. Sie haben uns erlaubt, Gärten anzulegen. Von oben kommt der Regen, Sonne haben wir auch. Sie wird durch Linsen und Spiegel, die am Rande der oberen Öffnung angebracht sind, zu uns herunter reflektiert. Andere Bedürfnisse werden befriedigt, indem sie uns von außen durch Rohrleitungen große Bündel zuwerfen.« »Ich selbst bin ja auch auf diesem Wege hierher befördert worden«, erinnerte sie Darragh. »Die Kalten erzeugen also Essen, Bekleidung und dergleichen?« »Richtig. Sicher haben sie die Dinge, die sie nicht vernichtet haben, genau untersucht. Sie versorgen
uns, wie Wildhüter gefangene Affen oder Kaninchen versorgen.« »Wie steht es mit der Nahrung?« fragte Darragh. »Natürlich gefroren – aber so hält sie sich länger. Wir bekommen ein fleischähnliches Zeug, Brot und Tee, alles synthetisch. In der Herstellung von chemischen Nahrungsmitteln sind sie wahre Meister. Wir haben in unseren Gärten selbst genügend frische Sachen angepflanzt, damit wir zu Vitaminen kommen.« »Und ihr lebt also in einem Zoo«, faßte Darragh zusammen. »Ja, in einem Zoo«, gab sie ihm recht. »Wir sind ungefähr vierzig – die Kinder und Enkel jener Professoren, die sich ergeben haben. Wer das alles damals als Erwachsener erlebt hat, ist längst tot. Hier hat kein Mensch eine Erinnerung an die Freiheit. Wir sind ein Zoo oder Aquarium für die Kalten, die uns anglotzen.« »Na schön – dann glotzen sie eben«, sagte Darragh. »Und wie steht es mit der Verwaltung? Sogar Ameisen in einem Ameisenstaat haben ein Verwaltungssystem.« »Wir haben ein Komitee«, sagte sie. »Orrin Lyle hat den Vorsitz sozusagen von seinem Vater und Großvater geerbt. Das ist alles an Befehlsgewalt, was wir haben.« »Und was tut das Komitee?« fragte Darragh. »Na, es hält die Verbindung mit den Kalten auf-
recht. Orrin kann das. Er gibt den Kreaturen draußen vor den Fenstern Handzeichen; sie verstehen ihn und machen Zeichen, die er versteht. Auf diese Weise verschafft er uns, was wir brauchen, sogar Medikamente. Außerdem stellt der Ausschuß Fluchtpläne für einen zukünftigen Zeitpunkt auf.« Darragh sah zum Vorderfenster. »Da kommt der Vorsitzende Lyle.« Ohne anzuklopfen trat Lyle ein. Hinter ihm der breitgebaute, grauhaarige Mann, der als einer der ersten Darragh angesprochen hatte. »Fühlen Sie sich jetzt besser, Mr. Darragh?« fragte Lyle. »Ich fühle mich schlechter«, antwortete Darragh. »Ich werde mich erst besser fühlen, wenn ich endlich aus diesem Rattenloch rauskomme.« Lyle wies mit dem Daumen auf seinen Gefährten. »Das ist Sam Criddle«, sagte er. »Stellvertretender Vorsitzender des Stadtkomitees. Er wollte sie anhören. Vielleicht kann es mir helfen, Sie zu beruhigen. Sie scheinen sich nicht im klaren darüber zu sein, daß Sie von Glück reden können, überhaupt noch am Leben zu sein.« Er setzte sich aufs Sofa. Criddle nahm neben der Tür Platz. »Das ist ein Punkt, der mir selbst rätselhaft ist«, sagte Darragh. »Wie kommt es, daß ich nicht schon
draußen getötet wurde? Der Kalte im Schiff hat sich jedenfalls genug Mühe gegeben.« »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, fing Criddle an. »Sie haben wohl geglaubt, Sie wären einer von uns, einer aus dieser Stadt, dem irgendwie die Flucht geglückt ist. Sie haben Sie zurückgelotst und durch die Röhre hinunter katapultiert – das Logischste, was sie tun konnten.« »Was Dümmeres hätten die gar nicht tun können«, sagte Darragh mit einer Stimme, die ihm rauh in den Ohren klang. »Ich bin hergekommen, um einen Weg zu finden, wie man sie überwältigen kann.« »Da haben Sie sich ja einen merkwürdigen Platz für den Start ausgesucht«, sagte Lyle. »Habe ich das?« stichelte Darragh. »Gibt es denn einen besseren Platz? Und ich könnte euch alle mitnehmen.« »Wie?« Criddle quäkte fast vor plötzlich erwachter Begierde. »Wenn wir sie dazu bringen könnten, mit einem ihrer Schiffe den Schacht herunterzukommen ...« fing Darragh an. »Sie wollen also Gewalt anwenden«, sagte Lyle anklagend. »Wenn Gewalt nötig ist, ja«, sagte Darragh. Er merkte, daß Brenda Thompsons Augen jetzt heller leuchteten als vorhin.
Lyle kicherte leise. Seine engen Augen wandten sich Criddle zu. »Ich fürchte, dieser Mann ist gefährlich, Sam. Wenn wir ihm nur eine halbe Chance geben, wird er alle unsere Fluchtpläne sabotieren.« »Ich werde nichts dergleichen versuchen«, wehrte Darragh ab. »Ich mache bloß einen Vorschlag.« »Behalten Sie Ihre Vorschläge für sich, bis wir Sie darum bitten«, sagte Lyle. »Orrin, laß das jetzt«, bat Criddle. »Schließlich sind wir hergekommen, weil wir ihn fragen wollten, was er vorhat.« Darragh zwang sich, kühl zu bleiben. Wieder warf er einen Blick aus dem Fenster. Er sah, daß die Stadtbewohner in Gruppen beisammenstanden und tuschelten. »Ich frage mich, ob meine Vorschläge da draußen nicht ebenso gefragt sind, wie hier drinnen«, sagte er. Lyle stand auf. »Sie sind jetzt hier bei uns und werden sich wie einer von uns benehmen«, sagte er kalt. »Sie werden Befehlen gehorchen ...« Auch Darragh stand auf, rasch und geschmeidig. Er überragte Lyle. »Ich nehme keine Befehle entgegen, wenn ich die Autorität nicht anerkenne. Ich bin aus einer anderen Gemeinschaft gekommen – aus einem anderen Regierungssystem, könnte man sagen. Sie benehmen sich so, als hätten Sie Angst, ich könnte Sie verdrängen.«
Lyle Orrin schüttelte den Kopf. »Darragh, ich glaube Ihre Geschichte. Ich glaube, daß Ihre Freunde wie Sie sind – tapfer, erfinderisch, intelligent und geradeheraus. Das sind lauter Tugenden – aber sie genügen nicht immer. Sie haben hier bloß ein wenig herumgeschnuppert – aber wir haben die Besitzer studiert, während sie uns studiert haben. Wir wissen über sie viel mehr als Sie. Jedenfalls genug, um zu wissen, daß Mut allein hier nicht genügt.« Er zuckte die Achseln. »Die tapfersten Soldaten greifen oft Hals über Kopf an – und dann werden sie ausgelöscht, ohne je die Chance gehabt zu haben, ihr Ziel zu erreichen.« Darragh sah ihn einen Augenblick lang an. »Vielleicht glauben Sie das wirklich – aber es ist nur die halbe Wahrheit. Ich kenne Leute von Ihrer Art. Ich kenne Ihren eigentlichen Beweggrund. Wenn Sie sich auch auf Vernunftsgründe berufen, so sind Sie in Wirklichkeit der festen Meinung, daß ich Ihnen die Schau stehlen möchte«, fuhr Darragh fort. »Sie halten mich für einen Rivalen. Das möchte ich nicht sein. Ich möchte Sie nicht herumkommandieren. Aber kommen Sie ja nicht auf die Idee, mich herumzukommandieren!« »Um Himmels willen!« rief Brenda. »Können wir das Gespräch nicht in freundschaftlichem Ton führen?« »Immer mit der Ruhe, Orrin«, ergänzte Criddle. »Mr. Darragh wollte dich sicher nicht beleidigen.« »Nicht?« kreischte Lyle. »Er hat es aber getan.« Er
drehte sich um und sah Criddle an. »Sam, du bist mir keine große Hilfe.« »Ich habe bloß vorgeschlagen ...« »Ich brauche mir deine Vorschläge nicht anzuhören«, unterbrach ihn Lyle. »Warum gehst du nicht einfach, Sam?« »Aber ...«, setzte der Ältere an. »Sam, das ist ein Befehl des Vorsitzenden!« Criddle stand stirnrunzelnd auf, verzog den Mund und ging. »Orrin, das ist mein Haus«, sagte Brenda, die sich ebenfalls erhoben hatte. »Ich sehe nicht ein, warum du hier so unfreundlich sein mußt.« »Unfreundlich«, wiederholte er unwirsch und sah Darragh mit bösen Blicken an. »Der Mann aus dem Nichts ist wahrscheinlich liebenswürdiger.« Mit affektierter Geste fuhr er fort: »Vielleicht sollte auch ich gehen und euch zwei herausfinden lassen, was am anderen so liebenswert ist?« Er trat an den Tisch und nahm Darraghs Messer. »Das gehört mir«, sagte Darragh. »Es hat Ihnen gehört«, verbesserte ihn Lyle spöttisch. »Ich konfisziere das Ding. Sämtliche Waffen werden in einem Zentraldepot aufbewahrt.« Er wollte zur Tür, doch Darragh hatte sich ihm mit zwei weitausgreifenden Schritten in den Weg gestellt. »Ich habe gesagt, das ist mein Messer, Lyle!«
»Sie bestehen darauf?« Lyle hatte das Messer in seiner Hand umgedreht und hielt es wie einen Dolch. »Ich habe es konfisziert!« Darragh packte blitzschnell den Sessel, in dem Criddle gesessen hatte, und schwang ihn wie eine Keule über dem Kopf. »Das ist mein Messer!« sagte er zum dritten Mal. »Zurücklegen!« Lyles Augen schienen aus dem Kopf zu springen. Sein Gesicht wurde fahlweiß vor Wut. Dann jedoch beruhigte er sich, grinste hämisch und warf das Messer auf den Tisch. »Wir werden uns später über diesen Punkt unterhalten. Darf ich jetzt gehen?« »Geh jetzt«, sagte Brenda, bevor Darragh etwas sagen konnte. Lyle ging forsch an Darragh vorbei und machte die Tür auf. Auf der Schwelle hielt er inne. »Ich muß mich mit einem Kollegen beraten. Und dann komme ich wieder, Darragh, und werde Ihren Drohungen ganz anders entgegentreten können!« Dann war er fort. Darragh stellte den Sessel hin und sah Brenda entschuldigend an. »Es tut mir leid«, meinte er aufrichtig. »Ich weiß nicht, was ich gesagt oder getan habe, daß Lyle sich so benommen hat. Ich habe doch nicht einmal entfernt angedeutet, wie man es anstellen soll, um hier rauszukommen.«
»Orrin benimmt sich oft so. Und jetzt habe auch ich ihn gekränkt.« »Du bist mit ihm befreundet?« »Er möchte mich heiraten«, sagte sie. Darragh starrte sie an und brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. »Dich heiraten?« rief er aus. »Dieser zausige, kleine Papagei möchte dich heiraten?« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Es scheint dir lächerlich vorzukommen, daß mich jemand heiraten möchte«, sagte sie wütend. Er hörte zu lachen auf und schüttelte langsam den Kopf. »Nein – das finde ich keinesfalls lächerlich.« Mit großen Schritten war er bei ihr, legte beide Arme um sie und küßte sie auf ihren Mund.
9 Während er sie eng umschlungen hielt, merkte er, daß sie offenbar einen schweren Schock erlitten hatte. Seine Arme hielten einen reglosen, statuenhaften Körper. Mit wilder Kraft kämpfte sie sich plötzlich frei. »Was soll das?« keuchte sie an seiner Wange. »Du weißt, was das soll«, gab er zurück und küßte sie wieder. »Nein, hör auf!« Sie hatte die Hände gegen seine mantelumhüllte Brust gestemmt und schob ihn energisch weg, wobei sie den Kopf zurückbog, um ihm auszuweichen. »Aber ...«, stammelte sie. »Ich ... niemand hat ...« »Niemand hat dich je zuvor gepackt und geküßt?« beendete er den Satz an ihrer Stelle. »Na – dann wird es höchste Zeit.« »Loslassen!« »Brenda, du hast keine Chance. Wenn Lyle dich heiraten möchte, dann werde ich auch auf diesem Gebiet seinen Unwillen erregen.« Er zog sie an sich und brauchte sie jetzt gar nicht mehr festhalten. Sie schmiegte sich an ihn, mit Gesicht und Körper. Ihre Arme lagen um seinen Nakken.
Er küßte sie. Diesmal erwiderte sie seinen Kuß ebenso stürmisch – einen endlosen Augenblick lang. »Verrückt«, murmelte sie. »Total verrückt«, widersprach er und ließ sie schließlich los. Sie blieb an ihn geschmiegt stehen und sah lächelnd zu ihm auf. Ihr Gesicht war ihm jetzt so nahe, daß es wie stark vergrößert wirkte. »Und das nach all den Vorkommnissen«, sagte sie. »Du ...« Er streckte die Hand nach ihr aus, rückte dann aber plötzlich ab, als sein Blick zufällig auf die Sichtscheibe in der Wand fiel. »Mark!« Mit einer hastigen Handbewegung hatte sie seinen Ärmel erfaßt. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Sehr viel sogar, Brenda. Sieh da hinüber. Eine dieser schnüffelnden kalten Kreaturen. Ich wünschte, ich könnte so nahe an ihn heran, daß ihm heiß wird.« Sie sah hinüber und lachte. »Die zählen doch gar nicht. Sie verstehen nicht, was wir da tun.« Sie tat, als wollte sie die Arme um ihn legen, ließ es dann aber sein. »Du weißt, was ich meine, wenn ich sage, daß ich nicht gern beobachtet werde«, sagte er. »Ich weiß.« Unvermittelt flackerten ihre Augen wild auf, während sie zu dem plumpen Beobachter blickte. »Was sollen wir tun?«
»Setz dich.« Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. »Mark«, sagte sie flehentlich. »Wirst du uns wirklich von hier wegholen? Mich und die anderen?« »Ja! Ich schaffe sogar Orrin Lyle hinaus – wenn er es zuläßt. Aber jetzt wollen wir uns unterhalten – vor den gaffenden Zoobesuchern bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Brenda – du hast von den Strahlenwaffen gesprochen und hast gesagt, du wüßtest einiges über sie. Also – schieß los!« Sie faltete die Hände. »Ich werde mein Bestes tun. Also, Mark – es gibt zwei Arten von Strahlen.« »Ja. Weiße und grüne.« »Der weiße ist explosiv, der grüne nur ein Energiestrahl. Beide stellen eine Weiterentwicklung der Elektrizität dar. Du hast ja gesagt, du wüßtest über Elektrizität Bescheid.« »Elektrizität? Ich habe aber weder einen Schock noch einen Schlag verspürt, als die mich mit den grünen Strahl getroffen haben«, fiel Darragh ein. »Nein, weil er dich nicht durchströmt hat. Er ...« »Er hat mich geschoben.« »Ganz richtig«, nickte sie. »Du siehst also, daß der grüne Strahl jeden Körper, auf den er auftrifft, in der Gewalt hat. Angefangen von Staubteilchen bis – na, bis zu dem schweren Dach dieser Schutzkuppel.«
Darragh sah nach oben. »So hält also ein Strahl dieses schwere Dach?« »Ja. Glaubst du denn, den Kalten ist es geglückt, ein Material zu finden oder zu entwickeln, daß in Quantität und Stärke so beschaffen ist, daß man damit eine solide Konstruktion bauen könnte, die so hoch ist wie diese Stadt? Das ist völlig ausgeschlossen – auch bei ihrem Stand der Technik.« Er lächelte und fuhr sich durch das schwarze Haar. Sie mußte lachen. »Du siehst aus, wie ein Junge, dem das Lernen schwerfällt.« »Das stimmt auch in gewisser Hinsicht. Neue Gedanken sind anfangs immer schwierig zu erfassen. Bei mir ist es jedenfalls so.« »Das geht allen so«, sagte Brenda. »Also, soviel haben wir über diesen Bau herausbekommen können. Die unteren Kuppelteile und Etagen sind von Betonund Metallstützen gehalten. Das geht aber nur bis zu einer gewissen Höhe – darüber, würde das große Gewicht alles erdrücken. Von hier ab, wo wir uns jetzt befinden, in der Hälfte der Röhrenhöhe – über uns erstreckt sie sich noch etwa drei Kilometer in die Höhe – werden die oberen Teile der Konstruktion bereits von einer speziellen Bündelung oder Anordnung grüner Strahlen festgehalten.« »Grüne Strahlen, die nach oben gerichtet sind«, ergänzte Darragh.
»Ja, sie fungieren als Träger und gehen von einer ringförmigen Anordnung von Generatoren aus, die um diesen Schacht herum angebracht sind.« »Ich habe auch noch etwas anderes gesehen«, unterbrach Darragh. »Es gibt da einen Wassergraben, der nicht zugefroren ist. Eine Flüssigkeit jedenfalls, farblos und durchsichtig wie Wasser. Sie fließt, obwohl die Temperatur weit unter Null liegen muß.« »Zu dieser Flüssigkeit komme ich später. Ich möchte jetzt bei den grünen Strahlen bleiben. Du verstehst das Grundprinzip?« »Ich weiß jetzt, daß sie jede Substanz in Bewegung setzen können.« »Richtig. Nun kann man verschiedene Kräfte dieser Strahlen ausnützen. Sie können einen Körper wegschieben, sei er groß oder klein, ihn an einem Fleck festnageln oder ihn zur Quelle des grünen Lichtes heranziehen.« »Und ich habe alle drei Aspekte der Kraft kennengelernt«, sagte Darragh. Sie sah ihn lächelnd an und legte ihre Hand auf die seine. Mit den Fingern seiner großen Hand umschloß er ihre Finger. »Vorsicht«, flüsterte sie, »oder ich vergesse, was ich eben sagen wollte.« »Und mir ist gerade etwas eingefallen – ich wollte sagen, daß ich dich liebe.«
»Nach einer Bekanntschaft von vierzig oder fünfzig Minuten«, neckte sie ihn. »Wunder ereignen sich in so kurzen Zeitspannen.« »Du hast gesagt, ich wäre der erste Fremde, dem du begegnet bist – aber jetzt bin ich doch kein Fremder mehr?« Sie schüttelte glücklich den Kopf. »Mark, bitte, sag mir etwas – bin ich das hübscheste Mädchen, das du je kennengelernt hast?« Er sah sie aufmerksam an und schüttelte langsam den Kopf. »Das bezweifle ich. Dort unten am Orinoco sind die Mädchen so hübsch, daß sie einfach so herumpromenieren, weil sie wissen, welchen Gefallen sie den Männern tun, wenn sie sich ansehen lassen. Du – ja, du bist hübsch, aber das ist eine ganz andere Art von Hübschsein.« »Vielleicht Schönheit?« »Nennen wir dich – köstlich. Du schmeckst gut, siehst gut aus und klingst gut ...« »Wovon haben wir doch gesprochen?« unterbrach sie ihn. »Ja, vom grünen Strahl. Er läßt sich sogar rechtwinklig leiten. Mit einer Spiegelanordnung kann man ihn in einem Winkel reflektieren.« »Das ist verständlich«, sagte Darragh. »Aber kann man den Strahl nicht irgendwie abschirmen? Mit einem Schirm oder einem Vorhang, der ihn verdunkelt? Wenn wir das fertigbrächten, könnten wir das
Kuppeldach herunterholen und es wie einen Hagel von Kokosnüssen auf das, was die Kalten an Stelle von Köpfen haben, herunterpoltern lassen.« »Ach, du Wilder aus den Tropen!« das war fast ein Aufschrei. »Du willst also ihr schönes Heim zerstören!« »Genau das. Warum auch nicht?« »Erstens wüßte ich nicht, wie man das fertigbringen sollte. Ich habe keine Ahnung, wie man den Strahl abschirmen könnte, wenn seine Kraft zu wirken begonnen hat. Das wäre so, als würde man einen Stahlstab mit einem stumpfen Messer durchschneiden wollen.« »Von diesem grünen Strahl habe ich schon aus Erzählungen über die erste Invasion gehört«, meinte Darragh. »Mit diesem Strahl haben sie Sperren geschaffen, an denen Kugeln, Bomben und Granaten abprallten. Schön und gut. Doch die Kraftquelle oder der Reflektor könnte doch durch irgend etwas funktionsuntüchtig gemacht werden. Durch eine Granate oder Bombe zum Beispiel.« »Ja, eine Bombe von beträchtlicher Sprengkraft, in der Mitte unseres Platzes gezündet, könnte die Wände des Schachtes zerreißen und den ganzen Bau zum Einsturz bringen.« »Jetzt redest du wie wir Wilden aus den Tropen«, sagte Darragh. »Du hast mich angesteckt«, lachte sie. »Aber – sol-
che Bomben haben wir nicht. Wir haben keine Chemikalien, aus denen man Sprengstoffe herstellen könnte.« »Wir Wilde haben sie!« Er drückte wieder ihre Hand. »Erzähle mir mehr von den grünen Strahlen.« »Man verwendet sie für alle möglichen Einrichtungen – als Antriebskraft für Schiffe, für Motoren, zur Hebelwirkung, als Pressen und als Stützen. Sie betreiben auch die Nahrungsherstellung mit den Strahlen.« »Wie erzeugen sie ihre Nahrung?« »Ach, aus den herkömmlichen Elementen, die auch wir bekommen. Nach allem zu schließen also Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff.« »Das bedeutet also, daß die Kalten von einem Planeten kommen, der unserem gleicht«, folgerte Darragh. »Welcher Planet ist es wohl, Brenda? Der Mars? Jupiter? Oder einer der Monde des Jupiter?« »Unser Komitee bezweifelt das. Der Mars ist zu warm und Jupiter samt seinen Monden zu kalt. Aber was die Herstellung der Nahrung betrifft – der Hauptbestandteil scheint aus einer Pflanzen Substanz destilliert zu werden, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben.« »Sie führen das also ein?« »Nein, offenbar pflanzen sie sie hier an. Natürlich in bitterkalten Zonen. Riesige Plantagen in den Polarregionen.«
»Wie habt ihr denn das erfahren?« »Von Orrin Lyle«, sagte sie. »Er versteht die Kalten und kann sich ihnen verständlich machen – sie geben sich an diesen Sichtfenstern Zeichen.« »Und er gibt unheimlich an, weil er das kann?« Diesmal war Darraghs Lächeln schief ausgefallen. »Na – ich will sein Verdienst nicht schmälern. Ich wünschte, ich wüßte, was die Kalten sprechen. Du glaubst also nicht, daß sie uns jetzt belauschen?« »Nein – weil Orrin immer den Dolmetscher spielt, wenn wir eine Frage haben. Nun – aber jetzt kommen wir zum Explosionsstrahl.« »Gut«, sagte Darragh begierig. »Wie können sie mit dem Ding umgehen? Er muß doch unvorstellbar heiß sein, so heiß, daß sie es daneben nicht aushalten. Wie groß ist denn ihr Temperaturbereich – welche Temperaturen können sie vertragen?« »Orrins Vater und Großvater haben darüber Studien gemacht und Schätzwerte aufgestellt«, berichtete Brenda. »Sie haben herausgefunden, daß die optimale Temperatur für die Kalten um sechzig Grad unter Null – nach Fahrenheit – liegt. Das wäre wie siebzig Grad über Null für uns.« »Also eine Differenz von hundertdreißig Grad«, rechnete Darragh schnell zusammen. »Null Grad wäre für sie gerade noch erträgliche Sommertemperatur«, führte Brenda aus, »und hun-
dert Grad unter Null wäre für sie nur ein erfrischender Hauch von Frost. Du siehst also, daß der Mars zu warm und der Jupiter zu kalt wären.« »Und der Explosionsstrahl wäre auch zu heiß«, wiederholte Darragh. Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Mark, der Explosionsstrahl ist gar nicht heiß. Die Explosion wird nicht durch Hitze hervorgerufen, vielmehr durch Kälte!« »Das kommt mir unsinnig vor«, widersprach er. »Laß mich ausreden. Der Strahl verändert den Wassertyp der Substanz, auf die er auftrifft. Er verwandelt gewöhnliches Wasser in H2O.« Er starrte sie an, bis sie laut auflachte. »Du siehst aus, als hättest du einen Kiesel geschluckt.« »Brenda, diesen Kiesel schlucke ich nicht. Hör mal, ich weiß, daß wir dort unten in Südamerika primitiv und unwissend sind, aber wir haben Schulen und ein paar Bücher und so weiter. Mein Vater war Lehrer. Was hat es also mit dem Verwandeln von Wasser in H2O auf sich? Ich war immer der Meinung, Wasser wäre H2O.« »Du hast die Geschichte nicht bis zu Ende gehört«, beharrte sie, noch immer lächelnd. »Ich werde dir eine kleine Lektion in Molekularwissenschaft erteilen.« Sie stand auf und ging ans Bücherregal. Sie suchte nach einem Band mit verblaßtem braunen Einband
heraus und wandte sich wieder ihm zu. »Na, warum machst du so große Augen?« »Ich habe eben deinen Gang beobachtet«, sagte er. »Brenda, als du mich gefragt hast, ob du das hübscheste Mädchen wärest, das ich je kennengelernt habe, da habe ich mich geirrt. Du bist es!« Sie lachte. »Halten wir uns lieber an die Chemie.« Sie setzte sich und schlug das Buch auf. »Und was sagt es?« »Es sagt, daß gewöhnliches Wasser, wie wir es als Regen und in Tümpeln sehen, Wasser, das wir trinken und zum Waschen benutzen, nur in einem bestimmten Verhältnis H2O ist.« »Habe ich das nicht vorhin behauptet?« fragte Darragh irritiert. »Nein, gar nicht. Du weißt doch, was Moleküle sind, oder?« »Sicher weiß ich, was Moleküle sind«, gab er ziemlich eingeschnappt zurück. »Gut. Ein normales Wassermolekül, bestehend aus Wasserstoff- und Sauerstoffatomen, gruppiert diese auf besondere Art um sich. Nicht einfach zwei Wasserstoff- und ein Sauerstoffatom, es wird vielmehr aus sechzehn Wasserstoff- und acht Sauerstoffatomen gebildet.« »Steht das im Buch?« wollte er wissen. »Dann ...« »Daher besteht das gewöhnliche Wassermolekül
also nicht bloß aus drei Atomen. Es sieht nicht wie ein Kleeblatt, sondern eher wie eine Himbeere aus. Hör endlich auf, mich mit Stielaugen anzusehen und versuch doch zu begreifen, Mark.« »Ich muß mir Notizen machen.« Er kramte unter dem Bademantel und zog Papier und seinen Bleistift aus dem Gürtel. Darragh breitete das Papier auf sein Knie. »Du sagst also, daß dieser Strahl die Atome irgendwie neu ordnet – er spaltet die komplexen Wassermoleküle in kleinere, einfachere. Doch das Verhältnis bleibt gleich – zwei Atome Wasserstoff zu einem Atom Sauerstoff. Worin liegt also der große Unterschied?« »In den Siedepunkten«, erwiderte Brenda. »Er liegt für das reine H2O viel niedriger. Die menschliche Wissenschaft hat sich darüber nie Klarheit verschafft, wohl aber die Wissenschaftler der Kalten. Und wenn wir dazu andere Tatsachen in Betracht ziehen, kommen wir ganz gut hin.« Sie blätterte in dem braunen Buch. »Schreib dir diese Zahlen auf«, wies sie ihn an. »Ganz oben das normale Wasser – H16O8, mit dem Siedepunkt bei hundert Grad Celsius.« »Siedepunkt hundert«, sprach Darragh während des Schreibens nach. »Und jetzt nehmen wir eine andere wasserstoffhal-
tige flüssige Verbindung – Wasserstofftellurit. Der Siedepunkt liegt bei Null Grad Celsius.« »Von Wasserstofftellurit habe ich keine Ahnung«, gestand Darragh, während er weiterschrieb. »Ich ja auch nicht. Ich zitiere bloß Hodgman und Lange – hast du es notiert?« »Ja. H2Te, Siedepunkt Null Grad.« »Als nächstes Hydrogenselenid – minus 42 Grad Celsius.« Er blickte über ihre Schulter und schrieb das chemische Zeichen ab. »H2Se siedet bei minus 42 Grad. Weiter!« »Und Wasserstoffsulfid«, fuhr Brenda fort und fuhr mit dem Finger die Seite herunter, »Siedepunkt minus 60 Grad. Also – was haben wir jetzt?« Darragh zeigte ihr seine Aufstellung: H16O8 H2Te H2Se H2S
Siedepunkt Siedepunkt Siedepunkt Siedepunkt
100 Grad 0 Grad 42 Grad 60 Grad
»Soweit gut«, meinte Brenda. »Und jetzt können wir zum hypothetischen H2O übergehen. Es steht darüber nichts im Buch, aber wir kommen ungefähr hin, wenn wir die Atomgewichte in ihrem Verhältnis zueinander vergleichen.«
»Das kannst du vielleicht«, lächelte er kläglich, »ich aber nicht.« »Laß mich machen!« Sie nahm den Zettel an sich, blätterte das Buch nach einer Tabelle der Atomgewichte durch und schrieb eilig einige Werte unter Darraghs Aufstellung. Tellur wiegt Selen Schwefel Sauerstoff
127,5 79,2 32,06 16,00
Darragh hatte sich an sie gelehnt und spürte, wie ihre glatte Wange seine rauhe streifte. »Mit anderen Worten«, versuchte er eine Zusammenfassung, »der Siedepunkt ändert sich umgekehrt proportional zum Atomgewicht!« »Grob gesprochen – ja. Ich erinnere mich, daß mein und Orrins Vater dieselben Berechnungen angestellt haben – aber so einfach ist es natürlich nicht.« Darragh hatte ihr den Bleistift abgenommen. Rasch führte er ein paar Divisionen durch. »Also: das Gewicht von Selen ist 1,6 mal im Gewicht von Tellur enthalten«, rechnete er. »Mit anderen Worten, diese Verminderung ist mit einem Abfallen des Siedepunktes um 42 Grad verbunden. Aber Schwefel wiegt weniger als halb soviel Selen – was
die Atomgewichte betrifft – es ergibt sich jedoch eine Verminderung des Siedepunktes um nur achtzehn Grad.« »Deswegen müssen wir in unseren Schätzungen großzügig sein. Den Siedepunkt von reinem H2O – Wasser – können wir nur schätzen. Im allgemeinen wird er auf minus 100 Grad geschätzt.« »Hui!« pfiff Darragh. »Das wären ja 212 Grad Fahrenheit – kälter als flüssige Luft!« Brenda lächelte verneinend und schüttelte den Kopf. »Nein – nicht so kalt. Du vergißt, daß Null Grad Celsius plus 32 Grad Fahrenheit entspricht! Also liegt der Siedepunkt des reinen Wassers bei 148 unter Null, in Fahrenheit ausgedrückt.« »Kälter, als es mir gefallen würde«, sagte Darragh und schauderte unwillkürlich. »Das also ist das Wasser, das vor dem Eingang zu diesem Gefängnis fließt!« Er sah ihr in die Augen. »Brenda – ich werde dich hier 'rausschaffen.« »Ja«, sagte sie eifrig und voller Vertrauen. »Wir werden nur kleines Gepäck mitnehmen ...« »Ganz kleines«, nickte er. »Nur diese Bücher, damit wir uns mehr Wissen aneignen können. Warte nur – bis sie dich da unten am Orinoco sehen und dir zuhören werden!« »Warte, bis wir unten sind, Mark. Jetzt haben wir von dem ›echten‹ Wasser da draußen gesprochen. Du
hast gesehen, daß es kocht ... also fließt es bei einer Temperatur von etwa über 148 Grad unter Null. Sie erzeugen es durch Strahleneinwirkung auf Eis und Frost in ihren Gängen. Auf diesem Weg gibt es also keine Flucht.« »Nein. Hör mal, ich möchte den Explosivstrahl mitnehmen!« Darraghs Augen leuchteten vor Eifer. »Demnach funktioniert der Strahl, indem er normales Wasser in dieses Zeug spaltet, das bei der niedrigeren Temperatur siedet.« »Richtig. Und dieses echte Wasser, mit dem niedrigen Siedepunkt verwandelt sich sofort in Dampf – und explodiert. Ein lebendiger Körper, ein Baum oder Tier, überhaupt jedes beliebige Objekt, das viel Wasser enthält ...« »... wird in eine Wolke von Partikeln zerstäubt«, schloß Darragh. »Das ist also mit dem Großteil des Menschengeschlechtes vor fünfzig Jahren geschehen!« Er stand auf, faltete die Notizen zusammen und schob sie in den Beutel an seinem Gürtel. »Danke für die Lektion, Brenda«, sagte er lächelnd. »Diese Information wird meine Chefs sehr interessieren und ihnen weiterhelfen.« Er mußte lachen, als ihm jetzt etwas einfiel. »Als ich an dieser Außenpostenkolonie an der Küste von Haiti spioniert habe und über die Lösung verschiedener Probleme nachdachte, hat mich so ein verdammter Moskito dauernd
gequält. Und da wünschte ich mir, er würde statt mich, einen Kalten stechen.« »Die Kalten haben kein Blut«, sagte sie ganz ernst. »Dazu wäre also eine besondere Art von Moskitos erforderlich.« »Eine besondere Gattung ...« wiederholte er ihre Worte. »Brenda, weißt du was? Ich habe da so eine Idee ...« »Ich habe auch eine Idee«, unterbrach sie ihn unvermittelt. »Ja?« »Der Späher da draußen – auf der anderen Seite – der uns beobachtete ...« Sie stand auf und blieb knapp vor ihm stehen. »Was ist mit ihm?« »Er sieht uns nicht mehr zu!« Er lachte glücklich, und umarmte sie. Ihr Kuß war aufrichtig, ausgiebig, zärtlich und liebevoll. »Reizend!« In der offenen Tür stand Orrin Lyle. Darragh drehte sich so schnell um, daß Brenda ins Taumeln geriet. »Vom Anklopfen scheinen Sie wohl nicht viel zu halten«, sagte Darragh voller Wut. Der Chef der Gefangenenkommune stieß die Hände in die Taschen. In kaltem Triumph sah er von Brenda zu Darragh und dann wieder zu Brenda.
»Hoffentlich wirst du lernen, ohne diesen Zeitvertreib auszukommen«, sagte er. »Wir werden das Vergnügen von Mr. Darraghs Anwesenheit hier nicht mehr lange genießen.« »Was hast du getan?« fragte sie hastig. »Ach«, sagte Lyle ganz beiläufig. »Ich habe getan, was bei einem gefährlichen und gewalttätigen Eindringling das einzig Mögliche ist. Ich habe ihn angezeigt.« »Angezeigt? Was heißt das?« fragte Darragh. »Sie stellen ein störendes und gefährliches Element dar«, sagte Lyle mit hochmütiger Ruhe. »Dieses Gefasel von einem raschen und verzweifelten Ausbruch würde unsere, auf lange Sicht geplante Flucht für immer zunichte machen.« »Auf lange Sicht geplant! Da haben Sie recht. Sie sind fünfzig Jahre nicht einen Schritt weitergekommen«, unterbrach ihn Darragh. Lyles Hand kam aus der Tasche und schnitt mit einer entsprechenden Bewegung die Unterredung ab. »Sie haben von mir keinen Rat angenommen«, fuhr Lyle fort. »Sie haben gesagt, sie wollen zu den Leuten sprechen, Sie wollen die Gemeinschaft dazubringen, Ihren Vorschlägen zu folgen.« »Das habe ich gesagt«, gab Darragh zu, »und ich habe es auch so gemeint.« »Das war mir klar«, sagte Lyle. »Während ihr euch
beim Tee gut amüsiert habt, bin ich in mein Haus gegangen, wo sich ein Fenster befindet, das zu den Besitzern hinaussieht.« »Und einer hockt immer dort und beobachtet dich«, sagte Brenda. »Zufällig ja, meine Liebe. Ich habe ihn veranlaßt, ein paar seiner Gefährten zu holen und denen habe ich eine Information zukommen lassen.« »Orrin!« rief Brenda aus. »Du bist ein Verräter ...« Er nickte lächelnd. »Ich habe ihnen in Zeichensprache über Darragh berichtet. Sie wissen jetzt, daß er ein feindlicher Spion ist. Sie werden ein Schiff herunterschicken und Darragh fortschaffen. Was dann mit ihm geschieht, kann ich nicht sagen. Das wird keiner von uns je erfahren.«
10 Darragh tat einen langen, raschen Schritt nach vorn. Seine Muskeln waren angespannt. Orrin Lyle unternahm keinen Rückzug und ging nicht einmal in Verteidigungsstellung. »Jetzt wollen Sie wieder mit Gewalt etwas erreichen«, spottete er. »Gut, Darragh, kommen Sie und schlagen Sie mich zusammen. Sie sind größer als ich. Doch ich bin hier zufällig der Boss. Meine Leute warten draußen. Wenn Sie Hand an mich legen, werden sie Sie in Stücke reißen. Dann brauchen die Besitzer nur einen zerfetzten Kadaver fortzuschaffen.« Darragh schlug nicht zu. Lyles Drohung hatte ihn ernüchtert. Er starrte ihn bloß wild an. Plötzlich hatte er eine Idee. »Orrin«, mengte sich Brenda mit zitternder Stimme ein. »Das war grausam und feige!« »Nein, Brenda, ich schlage vor, wir nennen es praktisch.« »Orrin – ich liebe Mark.« »Du wirst darüber hinwegkommen«, versicherte er ihr ohne Gemütsbewegung. »Du weißt ja – aus den Augen, aus dem Sinn. Und von jetzt ab wird er aus den Augen sein.« »Orrin, er ist von draußen zu uns gekommen ...«
»Du meinst wohl, er ist eingedrungen. Er ist ein Wilder, der mit mehr Glück, als es seine Tollkühnheit verdient hätte, überlebt hat. Ein vernünftiger und vorsichtigerer Mensch hätte es nicht geschafft.« »Das meine ich auch«, sagte Darragh. »Ich will darüber nicht streiten –«, fuhr Lyle fort. »Dieser Mensch, Brenda, erklärt ganz unverblümt, daß er den Plan umwerfen möchte, zu dessen Ausführung wir Jahre unseres und des Lebens unserer Väter gebraucht haben. Er ist gefährlich. Er muß eliminiert werden.« »Hör doch endlich damit auf und überleg einmal«, bat das Mädchen. »Hast du denn ganz den Blick dafür verloren, daß es vielleicht einen anderen Weg als den deinen gibt, Orrin? Vielleicht einen besseren?« »Da Mr. Darragh uns in seinen Alternativvorschlag nicht eingeweiht hat, kann ich diese Frage nicht beantworten.« »Du hast ihm gar nicht die Möglichkeit gegeben, zu reden. Aber er und ich – wir haben darüber gesprochen ...« »Ach ja, wirklich«, lächelte Lyle zynisch. »Ihr habt euch sehr gemütlich unterhalten – soll ich nicht eher sagen – herzlich?« »Ich liebe ihn«, wiederholte Brenda. Lyle sah sie schweigend an. Schließlich meinte er: »Brenda, ich glaube dir, daß du ihn liebst. Aber ...« Er
holte tief Luft und sah nach oben, als käme ihm von dort eine Eingebung. »... Angenommen, ich würde sagen, daß ich das billige? Daß ich zu Unrecht mit ihm über den Fluchtplan gestritten habe und auch, wer dich bekommen soll? Angenommen, ich würde euch beiden meinen Segen geben?« »Oh!« rief Brenda mit glühenden Wangen. »Wenn ...« »Ja, wenn«, unterbrach er sie. »Wenn ich diese Haltung einnähme, wäre es schon zu spät, Brenda. Weil ich ihn bereits an die Besitzer ausgeliefert habe. Sie werden ihn holen, und ich könnte sie nicht mehr davon abhalten.« »Mach' dir nichts draus, Brenda«, mischte sich Darragh wieder ein. »Lyle – ich kann Ihnen wieder nicht recht geben.« »Ich weiß, daß Sie ein Widerspruchsgeist sind«, sagte Lyle seidenweich. »Sie behaupten, Ihre Leute würden mich auf ein Wort von Ihnen hin in Stücke reißen. Das ist eine Lüge und Sie wissen es genau.« Orrins eng beisammenstehende Augen wurden für den Bruchteil einer Sekunde groß. Mehr ließ er sich nicht anmerken. »Wie kommen Sie zu diesem Schluß?« »Warum haben Sie sich nicht an Ihre Leute gewandt, wenn sie Ihnen angeblich so ergeben sind?
Warum sind Sie zu den Kalten gelaufen – die Sie Besitzer nennen? Obwohl es klar ist, daß Sie selbst ein Stück Besitz dieser Besitzer sind.« Er kam einen Schritt näher und stützte die großen Fäuste in die schlanken Hüften. »Und hier ist die Antwort: Sie wollen gar nicht fliehen. Ein Ausbruch könnte ja Ihre behagliche, selbstzufriedene Position und Ihr System der Unterordnung gefährden!« »Das sagen Sie«, höhnte Lyle. »Verdammt, ja, das sage ich, und ich werde es auch dort draußen sagen, wo es jeder hören kann. Aus dem Weg!« Er ging auf die Tür zu, bereit, Lyle mit einem Stoß aus dem Weg zu stoßen, doch der hatte sich bereits zurückgezogen. Darragh trat auf die Veranda hinaus. Der lange Morgenrock wehte um seine Beine. Auf dem Hauptplatz standen die Männer und Frauen der Gefangenensiedlung. Sie sahen ihn fragend an, einige sogar erwartungsvoll. »Meine Damen und Herren!« rief Darragh so laut, daß er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. »Mitmenschen, Mitgefangene der Kalten! Kommt näher, ich möchte euch eine Mitteilung machen!« Sie tuschelten miteinander, taten aber, wie ihnen geheißen und drängten sich auf dem Rasenfleck vor Brenda Thompsons Haus. »Meine Damen und Herren!« rief er wieder, um
das Stimmengewirr zum Schweigen zu bringen. »Sie wissen jetzt, daß ich von draußen gekommen bin. Da draußen gibt es Tausende freier Menschen, die diese gefrorenen Ungeheuer überwältigen wollen, die ihr zu meinem Leidwesen Besitzer nennt! Sie haben uns unsere Welt weggenommen. Wir aber lassen nicht länger zu, daß sie ihnen gehört. Wir holen sie uns zurück!« Beifall und Hochrufe ertönten. »Möchte jemand mitmachen?« rief Darragh. Erregte Bewegung und Gemurmel. Eine Frauenstimme stammelte: »Wie können wir denn?« »Ich übernehme das, wenn ihr mir folgen wollt«, gab Darragh mit einer Zuversicht zurück, die nicht geheuchelt war. »Ich bin hier hereingekommen und werde auch wieder herauskommen. Ich werde jeden mitnehmen, der gern mitmachen mochte. Und ich werde jetzt ausbrechen – und nicht erst in fünfzig Jahren!« »Ich gehe mit ihm!« meldete sich Brendas atemlose Stimme. Sie kam aus dem Hause gelaufen. Haar und Kleid waren in Unordnung – offenbar hatte Orrin Lyle sie zurückzuhalten versucht. In den Armen trug sie einige Bücher. »Wir reisen mit leichtestem Gepäck«, wiederholte sie Darraghs Worte von vorhin. »Ich nehme nur meine Bücher mit.«
»Gut. Brenda Thompson will also nicht im Gefängnis bleiben«, sagte Darragh. »Wer ist der nächste?« Sein Blick blieb auf dem grauen Kopf des Mannes namens Criddle haften. »Criddle – ich sehe Sie dort unten. Vorhin waren Sie der Meinung, ich hätte ein paar positive Vorschläge zu machen. Möchten Sie mitmachen?« Criddle schluckte, seine Augen quollen aus dem Kopf. »Ich halte mit, junger Mann!« rief er schließlich. »Ich habe es satt, hier ein Leben als lebende Rarität zu führen!« Mit einem Schritt trat er aus der Menge hervor. Eine Frau in mittleren Jahren folgte ihm. Er legte den Arm um sie. »Und meine Frau kommt mit!« rief er glückstrahlend. Diesmal brachen einige Stimmen in Hochrufe aus. Als Criddle mit seiner Frau an den Rand der Veranda trat, folge ihm ein Dutzend. Jetzt trat Orrin Lyle aus dem Haus. »Wartet!« rief er. Diejenigen, die gerade vortreten wollten, blieben wie angewurzelt stehen. »Ich muß euch alle, meine Freunde, Nachbarn und Gefolgsleute, bitten, vernünftig zu sein«, sagte er. »Laßt euch von diesem Menschen nicht überrennen! Er ist ein Fremder – er weilt doch erst seit einer halben Stunde in unserer Mitte – und versucht, euch alle in einen selbstmörderischen Fluchtversuch zu treiben, der zum Scheitern verurteilt ist.«
»Um was für einen Versuch soll es sich handeln?« fragte Criddle mit einem Blick auf Darragh. »Er ist ein feindlicher Spion«, beschuldigte ihn Lyle. »Orrin Lyle hat recht!« erhob Brenda ihre Stimme. Sofort wandte sich ihr die allgemeine Aufmerksamkeit zu. Darragh spürte, wie es ihm im Mund trocken wurde. »Er hat recht!« wiederholte Brenda. »Mark Darragh ist ein Spion – aber einer, der die Kalten ausspioniert. Deswegen ist er hergekommen! Er ist ein Feind – aber ein Feind unserer Feinde!« »Ich möchte euch dahingehend informieren ...« setzte Orrin Lyle an. »Halte den Mund, Orrin«, unterbrach ihn Brenda zornig. »Du hast schon genug geredet. Habt ihr gewußt, daß Orrin sich mit den Kalten per Zeichensprache verständigt und daß er Mark Darragh an sie ausgeliefert hat? Er hat sie ersucht, zu kommen und Darragh zu holen!« Alle waren starr. Lyle schien zum ersten Mal unruhig und nervös. »Stimmt das, Orrin?« fragte Criddle hastig von seinem Platz aus. »Freunde«, rief Orrin Lyle. »Ihr müßt mir die Chance geben, auch auf diese Anschuldigungen zu antworten.« Er machte eine Pause und spürte, daß er
die Aufmerksamkeit seiner Hörer wieder besaß. »Danke! Also: Ich habe diesen Fremden, Mark Darragh, angezeigt, weil er uns auf zweifache Weise ausnützen wollte. Erstens – dieser schlecht geplante Ausbruchsversuch ...« »Woher wollen Sie wissen, daß er schlecht geplant ist?« fuhr im Darragh dazwischen. »Sie haben mir zu näheren Erklärungen nie Zeit gelassen.« Lyle sah zu ihm auf. »Also muß ich etwas richtigstellen. Ich sage lieber Fluchtbluff – denn einen echten Plan haben Sie nicht!« »Aber ...« »Still, Mr. Darragh!« unterbrach ihn Sam Criddle. »Orrin soll zu Ende sprechen – oder wir gehen nirgends hin.« Darragh schwieg. Lyle wandte sich wieder an die Versammlung. »Erstens, würde er mit jedem Plan scheitern – und das würde zur Folge haben, daß die Besitzer uns doppelt aufmerksam bewachen und uns noch mehr Freiheit nähmen. Zweitens habe ich durch meine Anzeige die Besitzer überzeugt, daß wir ungefährlich und zufrieden sind. Sie werden kommen und ihn holen. Und dann werden sie uns vertrauen, wie nie zuvor.« Er breitete die Hände in einer beredten Geste aus, die einen Appell an die Vernunft darstellen sollte.
»Ich möchte euch bitten – euch alle – zu entscheiden, ob das keine ausreichende Erklärung ist, ob das nicht logisch und gut ist. Das ist alles.« Er trat zurück, als wollte er damit die Diskussion beenden. Die Menge begann sich zu zerstreuen. Da warf Darragh seine langen Arme hoch. »Halt, ihr da unten!« rief er. »Orrin Lyle scheint fertig zu sein, ich habe ihn zu Ende reden lassen. Jetzt laßt mich mein Schlußwort sprechen!« Blitzschnell ließ er seine große Hand vorschnellen und packte Lyle an der Schulter. Der Kleinere wollte sich losmachen, doch Darraghs Finger bohrten sich in sein Fleisch; er zog ihn ganz nahe an sich heran und schüttelte ihn so kräftig, daß seine Widerspenstigkeit verging. Die Zuschauer waren wieder zusammengeströmt und sahen zu. Darragh erkannte, daß er diese so gewaltsam und melodramatisch erzwungene Aufmerksamkeit nur kurze Sekunden lang für sich haben würde. Wieder schüttelte er Orrin Lyle mit Nachdruck. »Jetzt möchte ich euch die Wahrheit über diesen Schleicher sagen, der sich selbst als Haupt dieser Gemeinschaft bezeichnet!« verkündete er laut. »Er hat Beziehungen zu euren Gefängniswärtern und er gibt zu, ein Verräter zu sein!« »Ich habe meine Gründe genannt«, sprudelte Lyle.
»Er hat mich verraten«, fuhr Darragh fort, »und er wird jeden von euch verraten, der etwas tut, das seiner königlichen Selbstherrlichkeit nicht gefällt!« »Ich – ich habe nur zum Wohle aller gehandelt«, versuchte sich Lyle zu rechtfertigen, während er sich vor Verlegenheit wand. Seine Ruhe und Verachtung waren wie weggeblasen. »Hört zu!« rief er. »Wenn wir nicht Zeit gewinnen, uns Wissen aneignen und selbst ein Schiff bauen und fliegen können, werden wir hier nie ausbrechen können!« »Ein Schiff zur Flucht!« Darragh knüpfte an diese Worte an. »Dazu komme ich noch, Freunde! Wir brauchen gar keines zu bauen. Es wird ein Schiff kommen, und zwar so rasch, daß wir nicht wissen, wie uns geschieht!« »M-Mark!« stammelte Brenda. »Das einzige Schiff, das kommen wird, wird dich wegführen ...« »Es wird uns alle wegbringen«, rief Darragh. »Ich weiß, es kommt meinetwegen – wir aber werden es im Augenblick der Landung erobern!« »Wie ...«, begann Criddle. »Wie wir damit fliegen werden?« beendete Darragh für ihn die Frage. »Ich kann mit ihren Schiffen fliegen! Das habe ich Ihnen doch gesagt, Criddle. Ich werde euch alle hinausschaffen – alle, in dieser Stunde!« Sein kühner Versuch, Aufmerksamkeit und Zu-
stimmung zu gewinnen, hatte Erfolg. Criddle und noch einer oder zwei brachen in enthusiastische Zustimmung aus. Darragh dankte dem Himmel, daß er ihn kräftiger als Lyle geschaffen hatte. So hatte er seinen Ankläger physisch kleinkriegen können. Andere brachen nun ebenfalls in Zurufe zugunsten Darraghs aus, der jetzt die Situation auf die Spitze trieb, indem er Orrin von der Veranda stieß. »Bewacht diesen Verräter«, wies er die Leute an. Zwei der stärksten kamen der Aufforderung fast automatisch nach. Sie packten Lyle an den Armen und hielten ihn fest. »Jetzt aber schnell! Wir müssen den Kalten eine Falle stellen«, sagte Darragh. Brenda stand neben ihm, in den Armen die Bücher. »Mark, du bist wunderbar«, flüsterte sie. »Du hast sie alle überwältigt.« »Und daß du herausgekommen bist und für mich Partei ergriffen hast, war fabelhaft! Das war zur richtigen Zeit richtig gehandelt.« »Aber – wie willst du es nun weiter schaffen?« »Wie?« Jetzt war er wieder so laut geworden, daß ihn alle hören konnten. »Hört zu! Diese Kalten erwarten von keiner Seite Ärger, außer von mir. Brenda, sie haben mich doch in deinem Haus gesehen. Von dort werden sie mich holen wollen.« Er wandte sich an seine neuen Verbündeten. »Habt
ihr Seile zur Hand? Bringt mir die längsten und stärksten Seile, die ihr auftreiben könnt!« Etliche eilten davon, um seiner Bitte nachzukommen. Darragh vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, daß Lyle von seinen Bewachern abgeführt wurde. Er sah, daß sie ihn zu einem der Häuser führten, offenbar zu Criddles Haus, weil dieser mit von der Partie war. Dann eilte Darragh in das Zimmer zurück, wo er und Brenda vorher gesessen, von Liebe und Aufruhr gesprochen und Pläne gemacht hatten. Zuerst warf er einen Blick auf die Sichtscheibe. Kein Kalter zu sehen. Er hob seine Ledertasche vom Boden auf. »Was ist das für ein Plan, Mark?« fragte Brenda, die ihm gefolgt war. »Bring mir etwas, damit ich meine Kleider ausstopfen kann«, bat er. »Leg die Bücher auf den Tisch. Bring irgendwas. Bettzeug müßte genügen.« »Warum?« fragte sie, wartete aber keine Antwort ab. Sie flog förmlich ins Nebenzimmer und kam mit einem Kissen und einigen Laken zurück. Er nahm ihr die Sachen ab und stopfte den leeren Anzug so aus, daß er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper bekam. »Ich begreife nicht ganz«, sagte Brenda. »Die Kalten hoffentlich auch nicht«, gab er zurück und lehnte die Puppe aufrecht gegen die Mittelstütze,
die das Dach trug. »Du hast gesagt, daß das Dach sehr schwer ist – und ohne diesen Pfeiler zusammenbräche?« »Ja, aber ...« »Die Aber erkläre ich später.« Mit einer Serviette band er die Puppe an den Pfeiler und zog ihr dann die Handschuhe auf die weggestreckten Arme. Er nahm sein Messer vom Tisch und fixierte die Arme in der richtigen Position. Schließlich machte er die Kapuze so zurecht, als stecke ein Kopf darin. Er trat zurück und betrachtete sein Werk. In dieser Aufmachung wirkten die ausgestopften Kleider erstaunlich lebensecht. »Das bin ich, Brenda«, verkündete er mit ausgestrecktem Finger. »Hier stehe ich, in dieser Pose der Unterwerfung – die Kalten haben verstehen gelernt, was ›Hände hoch‹ bedeutet, als sich deine Leute vor fünfzig Jahren ergeben haben.« Er trat zurück. »Ja. Sieht mir sehr ähnlich, nicht? Was ist mit den Seilen?« Er ging auf die Veranda. Ein halbes Dutzend Männer kam gerade. Sie brachten Seile, aus denen Darragh rasch zwei der dicksten auswählte, die er noch verdoppelte. Dann lief er ins Haus zurück. »Gibt es im Haus ein Seitenfenster?« fragte er Brenda. Sie zeigte es ihm. Er ging zum Fenster. »Ihr da draußen«, rief er, »nehmt da das eine Ende des doppelten Seiles!«
Sie taten es. Das andere Ende zog er zum Stützpfeiler und knotete es sorgfältig um das Fundament. Das zweite Seil befestigte er mit einem Vierecksknoten am oberen Teil der Säule, das freie Seilende ließ er durch das Vorderfenster ins Freie hängen. Dann ging er mit Brenda auf die Veranda. Die dort stehenden Männer und Frauen erwarteten neugierig Darraghs weitere Befehle. Er wählte unter den Männern die acht kräftigsten aus. Jetzt trat Criddle aus seinem Haus und kam auf Darragh zu. »Wir haben Lyle abgesichert und ihn so untergebracht, daß man ihn vom Sichtfenster nicht sehen kann«, berichtete er. »Was haben Sie als nächstes vor?« »Ich möchte dieses Team von Seilziehern teilen«, entgegnete Darragh. »Ihr vier stellt euch an das Seitenfenster und nehmt das Seilende, das aus dem Fenster hängt. Die anderen übernehmen das Seil am Vorderfenster.« »Ich verstehe«, sagte einer der Männer. »Und was dann?« »Ich möchte, daß alle herumstehen und sich völlig ungezwungen benehmen und so für die zwei Seilmannschaften quasi die Mauer bilden. Tut so, als wärt ihr auf einen Schwatz zusammengekommen. Ja – einige an der Seite, ein paar vorne – aber der Weg zur Tür muß frei bleiben. Hindert die Kalten nicht daran, wenn sie hineinwatscheln.«
»Und wie geht der Plan weiter?« fragte Criddle wieder. »Das werde ich gleich erklären. Brenda – stell dich neben mich. Ich sehe, du hast die Bücher mit. Nun Achtung – hört alle her!« Alle Gesichter wandten sich ihm zu. »Das Schiff, das Orrin Lyle bestellt hat, wird kommen und landen. Ein Aufgebot von Kalten wird aussteigen, um mich aus Brendas Wohnzimmer zu holen. Deswegen habe ich eine Puppe dort hingestellt – wenn sie erst einmal drin sind, werde ich den Befehl zum Ziehen geben. Beide Mannschaften ziehen dann an den Seilen. Das eine Seil wird den oberen Teil der Säule in die eine Richtung ziehen, das zweite Seil das Fundament in die andere. Und das Dach wird auf die Kalten herunterpoltern. Verstanden?« »Jawohl«, sagte Criddle. »Aber sie werden beim Schiff doch sicher Posten zurücklassen.« »Mit denen werden wir fertig«, sagte Darragh. »Wir werden sie töten. Seht mich nicht so an – man kann die Kalten tatsächlich überwältigen. Ich habe es mit eigenen Händen getan!«
11 Die Leute begannen in Hochrufe auszubrechen. Mit einer Armbewegung verschaffte er sich Ruhe. »Freunde! Ich weiß eure Zustimmung zu schätzen, aber wir müssen ruhig Blut bewahren. Wenn wir erst das Schiff haben und wenn wir das hier alles hinter uns haben, dann werde ich der erste sein, der in Jubel ausbricht. Aber im Moment ...« »Da kommt es!« kreischte eine Frau. Ein Riesenschatten senkte sich auf den Platz, ein Schatten, der wuchs und dunkler wurde. Darragh sah hinauf. Ein ovales Schiff kam herunter. Es wirkte riesengroß. Er sah sich um. Die in Gefangenschaft und Knechtschaft geborenen und aufgewachsenen Menschen drängten sich wie Küken zusammen, auf die ein Falke herunterstößt. Nur Brenda blieb aufrecht stehen. Ihr Blick ruhte glücklich und voll Vertrauen auf Darragh. »Kopf hoch, ihr alle!« rief Darragh mit heiserer Stimme. »Auf die Plätze – zu den Seilen! Brenda komm mit! Wir sehen von dem Haus da drüben aus zu.« Die Seilmannschaften nahmen gehorsam die Plätze ein, Darragh faßte Brenda am Arm und zog sie über den Platz in ein Haus. Vorsichtig schauten sie von
dort hinaus, während das Schiff auf dem Mittelplatz aufsetzte. Es war ungefähr fünfzehn Meter lang und maß an der breitesten Stelle neun Meter, schätzte Darragh. Er nickte Brenda zu und klopfte ihr auf die Schulter. »Da drin werden wir alle Platz haben«, flüsterte er. »Du tust so, als hätten wir es schon erobert«, sagte sie. »So? Nun – vielleicht bin ich etwas voreilig – aber ich glaube, wir haben das Spiel gewonnen.« Eine Luke schwang auf und ein Kalter schlurfte aus dem Schiff. Dann noch einer, und wieder einer. Insgesamt sechs. Alle trugen ihre schimmernde Panzerbeschichtung, in den Fühlern schußbereit die Strahlenwaffen. Sie blieben stehen und gestikulierten, als ob sie beratschlagten. Dann begab sich einer an den Bug des Schiffes und blieb dort als Wache stehen. Die anderen formierten sich zu einer vorsorglich geordneten Patrouille und humpelten arglos auf Brendas Haus zu. Für die kurze Entfernung schienen sie eine ganze Ewigkeit zu brauchen. Die Männer und Frauen schienen bei ihrer Annäherung zurückzuweichen. Das war wohl so üblich, dachte Darragh bei sich und gerade jetzt erwies sich dieser Umstand als ein guter Schachzug. Es sah nämlich so aus, als wären die Leute unterwürfig und eingeschüchtert. Wieder trat eine
Stockung ein, als die Kalten das Hausinnere durch die offene Tür begutachteten. Es war deutlich zu erkennen, daß sie die Lederattrappe erblickt hatten, die Darragh aufgebaut hatte. Die Arme der Puppe waren zum Zeichen der Unterwerfung erhoben. Nun bewegte sich die Partie auf die Türstufen zu. Einer der Kalten trat zur Seite und blieb als Wache stehen. Die übrigen vier hievten sich zur Veranda hoch und humpelten einer nach dem anderen ins Zimmer. Als der letzte über die Schwelle gekrochen und im Inneren verschwunden war, gab es Lärm und Bewegung im Haus Criddles. Orrin Lyle lief heraus, hinter ihm die zwei Bewacher. Irgendwie war es ihm geglückt, sich zu befreien. Er lief auf den Wachposten der Kalten vor Brendas Tür zu. Dabei vollführte er mit den Händen hastige Zeichen, als wolle er seine Verbündeten warnen. »Ziehen!« brüllte Darragh mit höchster Lautstärke und rannte zu dem Wachposten, der vor dem Schiff Aufstellung genommen hatte. Mit langausholenden Schritten hatte er die Entfernung dorthin überwunden – noch ehe der Kalte ihn wahrnehmen konnte. Darragh holte von hinten zu einem raschen Schlag aus. Ehe der Wachposten seine Anwesenheit und den Angriff richtig erfaßte, hatte Darragh bereits den Strahlenwerfer mit beiden Händen gepackt und rang mit dem Kalten, um ihm die Waffe zu entwinden.
Gleichzeitig dröhnte ein Krach in seinen Ohren, laut wie ein Donnerschlag. Die beiden, aus je vier starken und großen Männern bestehenden Gruppen, die an den Seilen zogen, hatten den Stützpfeiler gelockert und das Dach war mit einem mächtigen Poltern und Krachen zusammengestürzt. Darragh, der noch um die Waffe rang, mußte laut auflachen – die vier Kalten waren sicher wie Eichhörnchen in einer Baumfalle zerquetscht worden. Mit einem kurzen Blick nahm er wahr, wie Lyle zu dem Kalten hinlief, der als Wachposten außerhalb des Hauses stand. Dieser hatte seine Strahlenwaffe erhoben. Weißes Feuer schoß Lyle entgegen. Er wurde zu einer Wolke übelriechenden Dunstes zerstäubt, der sich sofort verflüchtigte. Von allen Seiten strömten nun Männer und Frauen zusammen wie eine rächende Woge, die über einem Felsen zusammenschlägt. Jetzt war Darragh jedoch viel zu beschäftigt, um noch mehr sehen oder hören zu können. Der Kalte, mit dem er noch immer rang, war ein harter Brocken und hatte viele Fühler. Er konnte ihm die Waffe nicht entringen. Verzweifelt kroch der Kalte zu der offenen Luke des Schiffes und zerrte Darragh mit sich. Er wollte wohl Hilfe herbeirufen. »Du wirst nicht weit kommen«, schwor Darragh mit zusammengepreßten Zähnen und ließ plötzlich den Strahlenwerfer los. Mit beiden Händen faßte er
nach der Schutzhülle des Kalten und bekam zwei Fäuste voll davon zu fassen. Er zog einen Fuß hoch, stemmte ihn gegen die gummiartige Hülle und warf sich dann mit seinem ganzen Gewicht zurück, wobei er mit allen Kräften an der Hülle zerrte. Die stramme und doch elastische Substanz hielt seiner Kraft einen kurzen Moment stand. Er bezweifelte schon, ob das Zeug je reißen könnte. Dann ließ er sich ruckartig in voller Länge hinfallen, sich im Gewebe der Hülle festkrallend. Jetzt hatte er den Schutzüberzug aufgerissen. Sein Gegner war nun plötzlich der tödlichen Sommertemperatur ausgesetzt. Ein Zittern durchlief den Körper, er quoll auf – und fiel schlaff in sich zusammen. Darragh rappelte sich hoch. In seinem Kopf drehte sich alles. Seine Glieder zitterten vor Müdigkeit. Er lächelte schwach. Brenda, die halb jubelte, halb weinte, war schon an seiner Seite. Noch immer hielt sie ihre kostbaren Bücher an die Brust gepreßt. »Mark, wir haben gewonnen«, frohlockte sie. Sie hatten gewonnen! Die siegreichen, gefangenen Menschen schwärmten wie kriegerische Ameisen über den Trümmerhaufen von Brendas Haus und zertrampelten und zerschlugen die Körper der Kalten, die noch da und dort unter dem Gewicht der Ziegeln und Planken schwach zuckten. Criddle kam auf Darragh und Brenda zuge-
laufen. In seinen Händen trug er eine Menge von Strahlenwaffen, die er den besiegten Kalten abgenommen hatte. »Seht, was wir ihnen abgenommen haben!« rief er glückstrahlend. »Gut«, lobte Darragh. »Diese Dinger werden wir gut gebrauchen können. Ich möchte auch Materialproben der isolierten Panzer haben. Criddle – ist außer Lyle noch jemand getötet worden?« »Drei. Zwei Frauen und ein Mann.« »Das ist ja schrecklich«, bedauerte Brenda traurig. »Ja – es ist schrecklich«, meinte auch Darragh. »Aber wir übrigen haben es überlebt und müssen nun zusehen, wie wir hier rauskommen.« »Wann?« wollte Criddle wissen. »Jetzt gleich ...« Darragh schrie fast, um von allen gehört zu werden. »Ich bitte um eure Aufmerksamkeit! Wir fliegen in hundertzwanzig Sekunden ab! Lauft in eure Häuser und nehmt Werkzeug, Bücher, einige Nahrungsmittel – eine Tagesration genügt. Verstanden? Und jetzt – los!« Sie zerstreuten sich, stürmten in ihre Häuser und kamen mit den verschiedensten Dingen beladen wieder heraus. Sie versammelten sich beim Schiff. Auf Darraghs Anordnung bildeten sie eine Doppelreihe und marschierten dann ins Schiff wie Kinder bei einer Feuerwehrübung.
»Nichts berühren!« warnte Darragh, der ihnen ins Schiffsinnere folgte. Die Kabine war nicht allzu voll. Brenda erwartete ihn drinnen. »Mark – hat dir schon jemand erklärt, wie wunderbar du bist?« sagte sie atemlos. »Ich könnte dich tausendmal küssen!« »Du wirst mich hunderttausendmal küssen, wenn wir erst ein wenig zur Ruhe kommen«, sagte er und zog die Luken zu. Die automatischen Verschlüsse verklammerten sich lautstark. Und dann war er auf einmal nervös und mutlos. Er, der so selbstbewußt davon gesprochen hatte, das Schiff fliegen zu können, er, der sein unerschütterliches Vertrauen auf alle anderen übertragen hatte, so daß sie sich erhoben und eine Gruppe der Ungeheuer überwältigten, die sie gefangengehalten hatten – er wurde sich klar, daß ihm jetzt kein Atemzug lang Zeit blieb, daran zu denken, daß er nur dieses eine, kleine Schiff damals geflogen hatte! Und noch dazu ohne Landung und Start! Und jetzt ruhten alle Blicke auf ihm – erwartungsvoll und voller Vertrauen. Er trat an die Steuerung, faßte nach der Kugel und zog sie hoch. Ein scharfes Summen, ein Zischen. Und sie flogen hoch, hoch oben am blauen Himmel! Das Schiff, das sich wie an einer kosmischen Angelschnur hängend senkrecht erhoben hatte, brachte
den kaminartigen Schacht ohne Zwischenfall hinter sich. Glück, unglaubliches Glück, sagte sich Darragh. Das muß es wohl sein. Und sie sausten nach oben, als fielen sie direkt ins All hinein. Vorsichtig senkte er die für die Aufwärtsbewegung bestimmte Kugel und wartete, bis sich das Schiff auf die neue Geschwindigkeit eingependelt hatte. Dann schob er an der für die Vorwärtsbewegung bestimmte Kugel. Mit einem Blick aus dem Fenster orientierte er sich über die Richtung. Sie flogen hoch über einer schmutzig wirkenden Landschaft dahin. Die Kuppel unter ihnen sah aus wie ein halbiertes Ei. Durch Verschieben der Kugeln glückte Darragh eine große Kurve nach Süden. »Sie sind hinter uns her«, rief plötzlich Criddle, der aus einem anderen Fenster hinaussah. »Wir haben einen schönen Vorsprung«, brummte Darragh und verschob wieder die Vorwärts-Kugel. Er verspürte, wie der ganze Schiffskörper bebte, als die Geschwindigkeit zunahm. Er schob die Kugel so weit, bis das Schiff die obere Atmosphäre wie ein Blitz durchbrach. Schon war die Kuppel, aus der sie geflohen waren, außer Sicht. Die Schiffe, die sich zu ihrer Verfolgung auf den Weg gemacht hatten, waren bloße Punkte im All. »Sie können uns nicht mehr einholen«, sagte Dar-
ragh – zu sich und zu allen anderen. »Setzt euch und beruhigt euch! Wir fliegen heim – in den Süden! Gab es in alten, freien Tagen nicht ein Lied darüber?« »Und was ist mit den neuen freien Tagen?« fragte Criddle. »Hören Sie, Kapitän – Kommandant ... Ich weiß nicht wie wir Sie nennen sollen ...« »Versuchen Sie es mit meinem Namen«, bot Darragh ihm an. »Ich heiße Mark.« Er sah Brenda an, schnitt eine Grimasse und blinzelte. Sie zwinkerte zurück. »Jetzt fange ich an, mich frei zu fühlen«, sagte Criddle. »Ich weiß nicht, wie man Freiheit beschreiben soll, es ist – na, sie bringt so ein losgelöstes, freies Gefühl mit sich.« Da fingen alle an, durcheinanderzureden. Brenda beugte sich zu Darragh, damit er sie überhaupt verstehen konnte. »Sie werden uns nicht einholen – das stimmt«, sagte sie. »Aber wohin jetzt?« »Nach Süden, wie ich schon gesagt habe. Zu den Hauptstützpunkten der Rückeroberungsbewegung, die mich ausgesandt hat.« »Gibt es dort unten noch mehr Männer von deiner Art, Mark?« Er blinzelte ihr zu. »Warum? Möchtest du mich umtauschen? Sicher, es gibt noch mehr wie mich.
Tausende. Ich bin dort unten am Orinoco ein Allerweltstyp.« »Hier aber nicht«, meinte Criddle hinter ihnen. »Sie sind der Boss unserer Gruppe.« »Das stimmt«, nickte Brenda. »Boss der Gruppe.« Er nahm eine Hand vom Steuer und legte den Arm um sie. »Und was ist mit dir? Bin ich auch dein Boss?« »Zu Euren Diensten, König Mark«, neckte sie ihn. »Dann gib mir den ersten der hunderttausend Küsse!« Sie küßte ihn, die anderen lachten und applaudierten. »Und jetzt«, sagte er, »gib gut acht! Ich möchte dir beibringen, wie man dieses Schiff fliegt.« Sie faßte nach der Steuerung. »Kannst du dich erinnern, Brenda«, sagt Darragh plötzlich, »dort unten haben wir uns über Moskitos unterhalten. Wir haben uns gewünscht, Moskitos zu sein, damit wir die Kalten stechen und schikanieren können.« »Ja, sowas ähnliches haben wir gesprochen.« »Jetzt weiß ich über die Moskitos Bescheid!« »Welche Moskitos, Mark?« »Du bist eines und ich auch. Jedes menschliche Wesen wird zu einem Moskito. Du wirst sehen, wie wir summen werden!«
12 Megan, der dunkelhäutige Häuptling eines Dschungelstammes, hatte vor Jahren durch seine Stammesangehörigen ein Dorf errichten lassen, das den Farmern, Gärtnern, Viehzüchtern und Rohgummisammlern als Markt diente. Dort wurden Handel abgeschlossen, geklatscht und die letzten Neuigkeiten ausgetauscht. Zu Megans Maßnahmen gehörte es, daß eine Abteilung von Spähern auf den Hügeln im Norden der Siedlung stationiert war. Sie sollten nach Rauchsignalen von Nachbarorten Ausschau halten und auch sonst die Bewohner auf dem laufenden halten. An einem schönen Septembernachmittag waren diese Späher zu Tode erschrocken, als ein großes Luftschiff der Kalten am nördlichen Horizont auftauchte und sich ihnen näherte. Noch immer zu Tode erschrocken sahen sie, daß sich das Schiff in ein bewaldetes Tal in der Nähe ihres Beobachtungspostens senkte. Wie die Hasen liefen sie ins Dorf – bis auf einen Mann, der bis zum letzten Moment warten wollte, um das Herannahen der Katastrophe zu beobachten. Megan hörte sich den atemlos vorgebrachten Bericht an und befahl sofort seinen Trommlern, auf ih-
ren Instrumenten eine Versammlung einzuberufen. Dann rief er seinen Leuten zu, sie sollten ihre Kühe und Ziegen zusammentreiben – die Schweine waren für eine Flucht nicht flink genug – ihre wertvollste tragbare Habe zusammenzuraffen und ihm in eine dicht bewachsene Deckung zu folgen. Als Männer und Frauen im Laufschritt seinem Befehl nachkamen, kam der letzte Mutige vom Beobachtungspunkt gelaufen. »Es ist alles in Ordnung«, stieß er hervor. »Was gibt es?« brüllte Megan. »Ich habe mich an das Ding herangeschlichen. Es ist zwischen den Bäumen, dort unten im Tal, gelandet.« Der Späher bemerkte jetzt einen Wasserkürbis und trank durstig daraus. »Die Insassen sind ausgestiegen.« »Kalte?« »Nein, Chef, menschliche Wesen. Leute wie wir – na ja, nicht ganz so. Sie sind jedenfalls anders gekleidet. Und sie haben Zweige von Bäumen und Büschen gerissen, sie über ihr Schiff geworfen und dieses in einer kleinen Senke versteckt.« »Versteckt?« wiederholte Megan. »Das sieht aus, als wollten sie uns überrumpeln. Statt dessen werden wir sie überrumpeln!« Er ging dorthin, wo seine Leute am dichtesten beisammenstanden. »Der Rückzug ist verschoben«, bell-
te er. »Gebt den Befehl weiter! Bleibt hier, abmarschbereit für den Notfall. Wo ist der Späher, der sie gesehen hat? Auf wie viele Mann schätzt du sie?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht genau. Etwa zwei Dutzend. Männer und Frauen.« »Männer und Frauen«, sagte ein anderer der Dorfbewohner, »das klingt nicht nach Kampf.« »Das wissen wir nicht«, sagte Megan barsch. »Ich brauche jedenfalls dreißig Krieger. Du kommst mit und du, und du ...!« Rasch hatte er seine Kampftruppe zusammengestellt. »Bogen, Macheten, vielleicht ein Dutzend Gewehre! Niemand darf einen Schuß abgeben, ehe ich nicht den Befehl dazu gegeben habe! Ich möchte keine Munition verschwenden, weil es so schwierig ist, Schießpulver herzustellen und Kugeln zu gießen.« Ganz sachlich teilte Megan die Bewaffneten in eine Doppelreihe ein und schickte als Vorhut das Mitglied der Abteilung voraus, das die Neuigkeit über das Schiff gebracht hatte. Sie benutzten Pfade, die sie alle kannten und näherten sich leise der Senke, in der das Schiff aufgesetzt hatte. »Ausschwärmen!« befahl Megan leise seinen Untergebenen. »Gebt den Befehl weiter! Wir rücken zwischen den Bäumen weiter vor. Achtet auf meine Befehle!« Alle waren geübte Jäger und Fährtensucher. Nicht
ein einziges Rascheln des dicken Laubwerkes verriet ihr Näherrücken. Schließlich gab Megan mit einem Fingerschnalzen den Befehl zum Halten, seine Unterführer hielten die Schwarmlinie auf, die in Deckung ging, knapp über der Senke. Megan wartete, bis sein Kundschafter zurück war. »Den einen aus der Gruppe kenne ich von irgendwoher«, berichtete der Späher. »Auch Ihr kennt ihn – aber mir fällt sein Name nicht ein. Groß, schwarzhaarig, breit gebaut – ich habe gehört, daß er auf eigene Faust hinauf nach dem Norden ...« »Darragh«, fiel Megan ein. »Hmm. Wenn es wirklich Darragh ist ... Wartet hier, bis ich mich ganz nach vorn geschlichen habe. Zählt bis sechzig. Die anderen sollen mir nachrücken – kampfbereit!« Ganz allein schlich der Häuptling nach vorn, hügelabwärts in die Senke. Dort gingen Menschen zwischen den Bäumen hin und her. Sie schienen Laubwerk aufzuschichten. Auch Megan erkannte jetzt Darragh, der bis zur Mitte nackt war und die Leute mit Handbewegungen dirigierte. »Verdammt will ich sein«, brummte Megan vor sich hin. Dann rief er laut: »Darragh! Bist du es?« Darragh drehte sich um, während Megan aus der Deckung hervorkam. Darragh kam wie ein Sprinter auf ihn zugelaufen. Erst vor einigen Wochen hatten er und Megan von
Zweikampf gesprochen, fiel Megan ein. Er lockerte die Machete am Gürtel. Doch Darraghs Gesicht leuchtete vor Erleichterung. »Genau der Mann, dem ich als ersten zu begegnen hoffte«, sagte er, als sie sich gegenüberstanden. »Ich habe viel zu berichten.« »Kann ich mir vorstellen«, meinte Megan trocken. »Wie ich höre, bist du mit einer Luftmaschine der Kalten gekommen?« »Ja, ich konnte eine erbeuten. Eigentlich zwei. Aber die hier habe ich mitgebracht.« »Wie kommt es, daß du damit umgehen konntest?« »Ich habe es erlernt. Aber ich muß dir einige neue Freunde vorstellen.« »Warte«, knurrte Megan. »Wenn du die Kiste geklaut hast, werden sie dich verfolgen. Du hast wahrscheinlich eine ganze Flotte im Schlepptau, die uns in diesen Dschungeln ausräuchern wird.« Doch Darragh schüttelte den Kopf. Er wirkte zuversichtlich. »Sie wollten uns jagen und hätten uns auch fast eingeholt. Aber dann – es muß irgendwo über Tennessee gewesen sein – haben wir eine ihrer Kuppelanlagen verbrannt.« »Verbrannt?« wiederholte Megan. »Wie denn?« Megans Leute waren nachgerückt. Sie blieben in einer Reihe stehen und hörten begierig zu.
»Wir haben ihren Explosionsstrahl angewendet. Sieh mal, das ist er – eine ganz kleine Waffe.« Darragh hielt sie ihm entgegen. »Wir haben viele erbeutet und im Schiff selbst ist noch ein größerer Strahlenwerfer. Wir haben herausbekommen, wie das Ding funktioniert und haben die Kuppel in Stücke gerissen. Die uns verfolgenden Schiffe kurvten hinunter, um zu helfen oder nachzusehen, ob ihre Gefährten in Not sind; und ich habe die Gelegenheit genützt und bin Richtung Westen abgehauen. Auf Südkurs bin ich erst gegangen, als ich außer Sicht war. Ich denke, ich habe sie damit irregeführt. Jedenfalls verstecken wir das Schiff hier – ach, da kommt ja Miss Brenda Thompson. Brenda, ich möchte dir Häuptling Megan vorstellen.« Innerhalb einer Stunde gingen von Megans Dorf Signale aus. Die wacklige Funkanlage wurde in Betrieb genommen und alle erreichbaren Ansiedlungen verständigt. Zur Ergänzung dieses nicht immer funktionierenden Nachrichtenmittels erhoben sich Rauchsignale über dem Beobachtungshügel und die schnellsten Läufer machten sich auf den Weg in die Nachbardörfer, von denen dann wiederum Läufer die Nachricht weiterverbreiteten. Der Rat eröffnete seine Sitzungsperiode am ersten Dienstag im Oktober. Ein rundes Dutzend Häuptlin-
ge nahm daran teil. In der vordersten Reihe ragte Spences Persönlichkeit hervor, des ersten Befürworters eines Angriffs gegen die Kalten. Die anwesenden Häuptlinge vertraten etwa viertausend Personen und konnten für weitere tausend sprechen. Die Häuptlinge waren sofort von den wissenschaftlichen Kenntnissen, die die befreiten Gefangenen von ihren Vorvätern und von ihren Kerkermeistern übernommen hatten, eingenommen. Spence und alle übrigen waren außerdem vom guten Aussehen und der nicht zu übersehenden Intelligenz Brenda Thompsons begeistert. Sie stand neben Darragh, während Megan als gastgebender Häuptling seine Verbündeten willkommen hieß und dann Darragh das Wort erteilte. Der hochgewachsene Abenteurer sprach sehr zuversichtlich und wirkungsvoll. Er berichtete von seiner Reise, den Abenteuern und Beobachtungen. Mit Unterstützung Brendas erklärte er das Prinzip des Explosivstrahls und der grünen Energiestrahlen. Er führte einen kleinen Strahlenwerfer vor und demonstrierte dessen Zerstörungskraft, indem er vor den Augen der Versammelten einen Baum zerstäubte. Darragh versprach ihnen einen Flug im eroberten Schiff und eine Lektion im Manövrieren. Dann beschrieb er andere, unheimliche Geheimnisse der Kalten, ihre Festungen und ihre Lebensbedingungen. Die zuhörenden Häuptlinge waren sehr interessiert
und beeindruckt. Doch Spence, der seit langem aktivste und einflußreichste, schien besorgt. Schließlich stellte er jene Frage, auf deren Beantwortung alle warteten und die sich alle insgeheim gestellt hatten. »Darragh – ich kann mich erinnern, wie wir uns zum letztenmal unterhalten haben. Du hast damals versprochen, du würdest etwas in Erfahrung bringen, etwas, was uns hilft, diese Kalten zu besiegen. Nach deinen Berichten zu schließen, sind sie aber stärker und zahlreicher, als wir uns je vorgestellt haben. Also – wenn du einen Angriffsplan hast – wie sieht er aus?« »Mein Angriffsplan sieht gar keinen Angriff vor«, entgegnete Darragh. »Hu!« grinste der bronzene Capato, der mit drei anderen Indianerhäuptlingen beisammensaß. »Was soll das Gerede?« »Wenigstens werden wir nicht so angreifen wie ihr glaubt«, führte Darragh aus. »Ich werde versuchen, die Sache so einfach wie möglich zu erklären.« »In einem Wort«, sagte Capato halb im Scherz. »Also gut – in einem Wort: Nadelstichtaktik!« Schweigen. Die Häuptlinge starrten ihn an. Spence kicherte laut. »Nadelstich? Du warst in der Vergangenheit selbst lästig wie ein Nadelstich, junger Mann – aber worauf willst du jetzt hinaus?« »Es fing damit an, daß mich in Haiti die Moskitos piekten«, erklärte Darragh. »Damals habe ich mir
sehnlichst gewünscht, die Moskitos sollten sich statt dessen auf die Kalten stürzen. Später habe ich mich mit Brenda darüber unterhalten. Und wir sind zu einer Art Vereinfachung gekommen.« »Auf diese Vereinfachung warten wir«, warf Spence ein. »Ich werde sie euch in Form einer Parabel geben. Wie wär's, wenn ich jetzt ohne Unterbrechung weitersprechen dürfte?« »Los, Junge«, befahl Megan. »Es handelt sich um eine historische Geschichte«, fuhr Darragh fort, »als die Schweden das alte New Jersey besetzten und versuchten, es zu besiedeln. Sie waren eine schwer angeschlagene, aber dickköpfige Schar, diese Schweden. Die Indianer kämpften mit ihnen um ihre Heimat – und wurden vernichtet.« »Ich gehöre nicht zu diesen Indianern«, meldete sich Capato mit Verachtung in seiner Stimme. »Dann kamen die Holländer und griffen die Schweden an. Sie wurden zurückgetrieben. Dann kamen die Engländer nach New Jersey, die damals stärkste Macht. Sie machten es den Schweden sehr schwer, konnten sie aber auch nicht vertreiben.« »Und dann?« fragte Spence. »Dann mußten die Schweden doch weiterziehen.« »Du hast doch gesagt, sie wären nicht geschlagen worden«, erinnerte ihn Capato.
»Nicht von den Indianern, von den Holländern oder den Engländern. Aber – es gab Moskitos in New Jersey! Das war eine Armee vom Plagegeistern, die nicht kämpften. Sie wollten nur nicht zerquetscht werden. Und so summten sie bloß, stachen zu und flogen außer Reichweite – kamen wieder und stachen zu – und machten das Leben unerträglich. Schließlich taten die Schweden das einzige, was ihnen übrigblieb – sie packten ihre Sachen und zogen weiter.« Er wartete auf einen Kommentar. Wieder war es Spence, der das Wort ergriff. »Das klingt so, als möchtest du uns zu Moskitos machen.« »Genau das möchte ich.« Wieder machte Darragh eine Pause und vergewisserte sich, daß er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Häuptlinge besaß. »Meine Herren! Sie müssen die Sache so sehen: Wir wissen jetzt so viel von ihren Geheimnissen, daß wir ihnen allerhand Verdruß bereiten können.« »Verdruß«, rief Spence in abschätzigem Ton. »Diese kleinen Strahlenwerfer! Das ist so, als hättest du ihnen ein paar Pistolen geklaut und dem Feind die schwere Artillerie gelassen!« »Wir haben hier Wissenschaftler, und ich habe noch einige Gelehrte mitgebracht«, entgegnete Darragh. »Wir besitzen in den eroberten Gegenständen beide Arten von Strahlen – den weißen und den grünen. Unsere Forscher können sie studieren und grö-
ßere, stärkere Aggregate entwerfen. Wir haben ein Schiff und können damit fliegen. Wir können in unseren Werkstätten weitere Schiffe herstellen, wir können Werkstätten bauen und einrichten. Damit schaffen wir uns die Flügel und einen spitzen Stachel für unsere Moskitoangriffe.« »Ich verstehe noch immer nicht, worauf du hinauswillst«, meckerte Spence. »Sprich dich aus, Darragh. Bei diesen Versammlungen hier sind wir offene Reden gewöhnt.« »Wir bleiben im Verborgenen, bis wir bei den Kalten ein wenig in Vergessenheit geraten sind«, erklärte Darragh. »Ihre Wachsamkeit wird nachlassen. Inzwischen treffen wir unsere Vorbereitungen. Wir senden Boten zu allen freien Völkern – vielleicht sogar auf die andere Seite der Erde – dort müßte es doch auch noch Ansiedlungen geben. Wir werden keine Minute verlieren und unsere Vorbereitungen treffen. Wir werden eine Organisation aufziehen. Und dann, wenn wir ausgerüstet, trainiert und bereit sind, werden wir ausschwärmen ...« »Und am Anfang gleich die Festungen auf den Westindischen Inseln versengen!« rief Capato voll kämpferischer Begeisterung. Doch Darragh schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil – ihre südlichen Vorposten werden wir nicht mehr als nötig behelligen. Meiner Meinung nach sind diese
vorgeschobenen Verteidigungsanlagen von untergeordneter Bedeutung. Sie sind von größeren Festungen abhängig, was Proviant, Truppennachschub und Strategie betrifft. Wir werden in ihre Hauptsiedlungsgebiete eindringen und die Niederlassungen im extrem kalten Norden und Süden angreifen.« Spence hatte das Kinn in die Hand gestützt und überlegte. Jetzt sah er auf und nickte. »Keine schlechte Idee, Darragh«, gab er zu. »Vielleicht könnten wir sogar die Wälder um ihre Niederlassungen in Brand setzen und damit soviel Hitze erzeugen, daß ihnen der kalte Schweiß ausbricht.« »Brenda, mach dir eine Notiz über den Vorschlag von Häuptling Spence«, sagte Darragh. »Also, meine Herren, wir werden hunderte Wege planen und verwirklichen und die Kalten dauernd ärgern. Mit Methoden, die sie kopflos machen und die Schaden anrichten – das alles wird ihnen Mühsal, Verwirrung und schließlich Überdruß bereiten.« »Dennoch – sie sind sehr mächtig«, gab einer der Häuptlinge zu bedenken. »Ja, mächtig schon«, mußte Darragh zugeben, »aber so mächtig sie auch sind – hier sitzen sie doch ein wenig in der Klemme, in einer Welt, die für sie in klimatischer Hinsicht größtenteils unmöglich ist. Außer an den Polen unserer Erde müssen sie in isolierten, gekühlten Kuppeln leben. Wenn sie sich ins Freie
wagen, tragen sie einen isolierten Panzer. Auch davon habe ich Muster mitgebracht. Selbst wenn auf der Erde Friede herrscht, ist es für die Kalten viel zu heiß und ungemütlich. Wenn es uns gelänge, die Temperatur überall dort, wo ein Kalter lebt, auch nur um einen Grad anzuheben, würden wir sie in eine unerträgliche Situation bringen.« Er sah sich um und wiegte den Kopf. »Also, meine Herren, was sagen Sie dazu? Sollen wir die Mutter Erde anheizen, damit ihnen der Boden unter den Füßen zu heiß wird?« Megan war begeistert, die anderen auch. Capato wagte einen letzten Protest. »Mein Leben lang habe ich gesagt, daß ich von einem Volk abstamme, das von den Kalten nie geschlagen wurde«, brummte er. »Mir gefällt daher die Idee nicht, nur einen Kleinkrieg zu führen. Ich schließe mich zwar der Mehrheit an, werde mich aber nicht zufriedengeben, ehe wir es den Kalten nicht mit gleicher Münze heimzahlen. Wenn wir die Strahlen haben, warum pusten wir damit nicht eine der großen Festungen weg?« »Diese Frage kann ich nicht beantworten«, entgegnete Darragh. Er dachte an die große Kuppel am Rande des Michigansees, deren obere Etagen von Energiestrahlen gestützt wurden – und in der Mitte der Schacht, in dem einmal menschliche Wesen wie wilde Tiere in einem Zoo gefangengehalten worden waren. Wenn eine Bombe in den Schacht und bis
dorthin fiele, wo einst das Dorf der Gefangenen gestanden hatte – wenn diese Bombe explodierte und die Projektoren zerstörte, die das als Pfeiler und Stütze dienende grüne Licht ausströmen ... »Wenn Sie es wirklich versuchen wollen«, sagte er zu Capato, »kann ich Sie mit einem Bomberkommando losschicken und Ihnen sogar eine relativ große Chance für eine gesunde Rückkehr zusichern.« »Tu das«, rief Capato und sprang auf, »und ich stimme für alles, was du sonst noch vorschlägst.« Es folgten weitere Beifallsrufe. Jetzt sprang Megan auf. »Mitglieder des Rates«, sagte er, »ich möchte einen Antrag stellen. Ich beantrage, daß wir hier und jetzt die Politik der Nadelstichkriegsführung, entsprechend den Vorschlägen von Mark Darragh, annehmen und daß wir Mark Darragh in den Rat der Häuptlinge wählen!« »Ich unterstütze diesen Antrag«, heulte Capato auf. »Wartet!« Das war die Stimme von Spence, der sich ebenfalls erhoben hatte. Seine Augen und Zähne blitzten. »Ich möchte dem Antrag etwas hinzufügen«, kündete er an. »Ich habe schon genügend lange als Haupt dieses Bundes gedient und biete meinen Rücktritt an.« »Aber Spence!« widersprach Megan. »Wir wollten dich doch nicht verärgern oder über deinen Kopf hinweg entscheiden!«
»Wer ist verärgert?« fragte Spence. »Ich jedenfalls nicht. Ich sage doch nur, daß ich eine Änderung beantrage. Ich beantrage, daß wir jetzt und hier Mark Darragh zum Haupt dieses Häuptlingsrates bestellen und ihm die Vollmacht als Oberbefehlshaber aller aufgebotenen Streitkräfte erteilen.« »Aber ...« setzte Darragh an. »Halt dich heraus! Du bist noch nicht Mitglied des Rates«, sagte Megan scherzend. »Gut, Spence, ich nehme den Zusatz an. Und was ist mit dem zweiten Zusatz?« »Ich habe den ersten Antrag unterstützt und unterstütze auch den zweiten. Stimmen wir ab!« »Wer dafür ist, sagt Ja. Zum Teufel mit den Neinstimmen!« rief Megan aus. Spence faßte nach Mark Darraghs Hand, Brenda umarmte Darragh vor den Augen der ganzen Versammlung.
13 Von allen Lebensbereichen der Kalten ist ihre Gedanken- und Gefühlswelt am schwierigsten zu behandeln und zu erklären – so unfaßlich war sie für menschliches Verständnis. Daher stützt sich dieser Teil des Berichtes ihrer Abenteuer auf der Erde zumeist auf Vermutungen. Die Gelehrten nehmen an, daß die Kalten von den Ereignissen in einer ihrer größeren Festungen ziemlich beeindruckt und verwirrt waren. Es war schließlich eine Festung von einiger Bedeutung, die genau in der Mitte in einem offenen Schacht eine Gefangenenkolonie menschlicher Wesen beherbergt hatte. In diese Gefangenenkolonie war ein rätselhafter Vertreter der menschlichen Rasse hineinkatapultiert worden, den man zunächst für einen Flüchtling der Gefangenenkolonie gehalten hatte. Er hätte für immer bei seinen Mitgefangenen bleiben können – ein offenbar harmloses Wesen, einer ernsthaften Betrachtung nicht wert – wenn nicht der eine Gefangene, der die Zeichensprache verstand, an ein paar Neugierige vor den Sichtscheiben eine Meldung weitergegeben hätte. Da erkannten die Kalten, daß der Mensch, den sie vor kurzem in die Kolonie geworfen hatten, eine ernste Gefahr darstellte.
Nun wurde also ein Schiff mit Bewaffneten von außen eingeflogen, um jenes merkwürdig lästige Individuum in Gewahrsam zu nehmen und wegzuschaffen. Es sollte verhindert werden, daß es die anderen aufwiegle und Unzufriedenheit stifte. Von der Schiffsbesatzung und von jenen, die sie geschickt hatten, wurde keinerlei gefährlicher Widerstand vorausgesehen. Das war auch der Grund, warum die Abteilung überrumpelt, überwältigt und vernichtet werden konnte, bevor ihre Kameraden in den kalt gehaltenen Etagen des Kuppelbaues etwas merkten. Die menschlichen Überlebenden des Kampfes gingen dann an Bord des erbeuteten Schiffes und flüchteten damit auf unerklärliche Weise aus dem Kerker, der seit zwei Generationen ihr Heim gewesen war. Eine Flotte von Flugschiffen schwärmte aus den Kammern der großen Kuppel zur Verfolgung aus. Sie brauchten einige Zeit, um sich zu diesem Vorgehen zu entschließen, sehr wahrscheinlich deswegen, weil das Phänomen einer erfolgreichen Gewaltanwendung von seiten der menschlichen Rasse etwas war, das man nicht ohne Überlegungen und Diskussionen bewältigen konnte. Dadurch wurde ihre sofortige Vernichtung verhindert. Es folgte dann eine lange Jagd in südlicher Richtung, bis aus dem entführten Schiff der weiße Vernichtungsstrahl gegen einen kleineren Außenposten der Kalten geschleudert wurde. Das Er-
gebnis war schwere Beschädigung, wenn nicht gar Totalschaden. Die Verfolger legten eine Pause ein und kreisten über der Unglücksstätte, um herauszufinden, ob sie eventuell helfen könnten. In der Zwischenzeit war die Jagdbeute nach Westen entwischt. Als man die Verfolgung wieder aufnahm, war kein flüchtendes Schiff mehr zu sehen. Es blieb auch weiterhin verschwunden, obwohl die Forschung, die sich mit diesem besonderen weltgeschichtlichen Ereignis befaßte, der Meinung ist, daß seitens der Kalten ein Versuch gemacht wurde, die Spur wieder aufzunehmen. Und zwar zunächst bis zur Atlantikküste und noch ein ganzes Stück darüber hinaus. Spuren von Vernichtungsstrahlen in mehreren Tälern der Rocky Mountains deuten auf Vergeltungsmaßnahmen der Kalten hin. Vielleicht vermuteten sie in diesen Tälern irgendwo ein Versteck der entkommenen Gefangenen. Spätere sorgfältige Untersuchungen haben nicht den geringsten Beweis dafür erbracht, daß das Ziel dieser Strahlen tatsächlich Niederlassungen menschlicher Wesen gewesen waren. Gut möglich, daß die Strahlen überhaupt nur anläßlich eines Manövers eingesetzt worden waren. Jedenfalls machten die Kalten kehrt, ohne über die Gejagten den geringsten Aufschluß erhalten zu haben. Die ganze Angelegenheit mußte die Kalten in tiefe
Verwirrung gestürzt haben. Die Menschen – sie hatten sie immer als merkwürdig, aber keinesfalls als gefährlich eingestuft – hatten den Kalten an Leben und Besitz gewaltigen Schaden zugefügt! Manche Kommentatoren sehen in der Tötung von Kalten im Kuppelbau am See und in der darauffolgenden Zerstörung des Vorpostens die ersten Todesopfer unter den Invasoren, denn es existiert kein Beweis dafür, daß es bei Beginn der Invasion Tote unter den Kalten gegeben hat. In der Folgezeit gab es bloß Erkundungsflüge. Einige Schiffe flitzten vereinzelt über die dichten Dschungel des nördlichen Teiles von Südamerika, doch steht fest, daß keiner dieser Spähflüge Spuren menschlicher Siedlungen sichtete. Falls die Führung der Kalten den gewaltsamen Ausbruch der Gefangenen als Beweis eines bedrohlichen Charakterzuges in der Psyche der geschlagenen menschlichen Rasse ansah – was nur logisch wäre – so ebbte ihre Besorgnis und Aktivität jedenfalls wieder ab. Monate vergingen ohne Angriffe und Erkundungen. Die neuen Erdbewohner verwendeten ihre Kraft darauf, sich in dieser neuen, so leicht eroberten Welt durchzusetzen, in der es für sie so schwer war, sich zu behaupten. Sie bot Reichhaltigkeit und Vielfalt an guten Dingen – und war doch so abweisend heiß. Sicher hatten die Kommandanten ihrer Garnisonen
Wege zur Lösung dieses Problems gesucht. Konnte man nicht daran denken, den Planeten von der hellen, sengenden Sonne abzuschirmen, das grelle Licht und die Hitze durch eine Art Wolkenschicht zu dämpfen und dadurch die Temperaturen zu senken? Konnten sie nicht ihre hervorragendsten Wissenschaftler zur Erforschung dieser Möglichkeiten einsetzen? Der Erfolg wäre schließlich zum Großteil eine Sache des Erfindungsgeistes und technischen Könnens. Sicher würde es Möglichkeiten geben, die Erde abzukühlen und ein zuträgliches Klima zu schaffen. Mag das alles auch ernsthaft erforscht und geplant worden sein – in Angriff genommen wurden diese Projekte nie. Denn die Kalten wurden von weiteren Katastrophen heimgesucht. Im August – der Jahreszeit des Hochwinters auf dem Südpolkontinent – stieß ein Trupp der Kalten überraschend auf ein halbes Dutzend Menschen. Es war für sie eine Überraschung. Diese Menschen – es handelte sich um die männliche Abart dieser Gattung – steckten in vielen Schichten pelzgefütterter Lederbekleidung und machten keinen Fluchtversuch. Flucht schien ihnen zwecklos. Sie blieben also stehen, wo man sie entdeckt hatte und hielten die in Fäustlingen steckenden Hände hoch. Diese Geste war für ihre Entdecker verständlich, so wie sie ein halbes Jahrhundert vorher von den Einheiten der Kalten
oben, an den Ufern des Sees in Nordamerika, verstanden worden war. Die Männer wurden nicht getötet, sondern abgeführt und unter schwere Bewachung gestellt. Nicht weit vom Ort der Gefangennahme lag das Wrack eines Luftschiffes zwischen den kalten, weißen Eisblöcken. Es war ein Modell der Kalten. Als die Patrouillenangehörigen es untersuchten, schienen sie es sofort als jenes Schiff wiederzuerkennen, das aus der, in der nördlichen Hemisphäre gelegenen Festung entführt worden war. Man kann sich vorstellen, daß dies den Kalten große Befriedigung bereitete. Sie mußten zu der Ansicht gelangen, daß es sich bei diesen Gefangenen um die letzten Überlebenden der entflohenen Gefängnisinsassen handle. Das halbe Dutzend wurde zum nächsten Außenposten gebracht und dann in ein Hauptquartier in unmittelbarer Nähe des Südpols. Schließlich wurden sie in ein abgedichtetes Kerkerabteil gesteckt und mit Brennstoffen für die lebensnotwendige Heizung versorgt. In dem engen Loch schienen sie verzweifelt. Trotzdem zeigten sie höchstes Interesse für die Lebensbedingungen ihrer Besieger, die von den ihren so verschieden waren; besonders für die merkwürdigen, schneefressenden Gemüsepflanzen, die man draußen, vor ihrem Fenster angebaut hatte. Nach einiger Zeit wurden sie in den Norden geflo-
gen, zu einer großen Station in der südlichen Klimazone, nicht weit von der Stelle, an der die Menschen einst die Stadt Buenos Aires errichtet hatten. Wieder wurde die Unterkunft für die Gefangenen auf die Weise geschaffen, daß man in der Mitte der Kuppelkonstruktion einen offenen Schacht aushob. Die Kalten konnten durch eine Galerie von Fenstern hineinsehen. Ganz sicher gab es unter den neugierigen Beobachtern Wissenschaftler. Die sechs Menschen bauten kein typisches kleines Dorf, sondern nur ein einziges niedriges Haus, in dem sie sich die meiste Zeit zusammendrängten. Im Hausinneren waren sie mit irgendeiner Tätigkeit beschäftigt. Womit nur? Die Kalten unternahmen keinen Versuch, dahinterzukommen. Sicher rechneten sie nicht mit der Möglichkeit einer Gefahr und waren deshalb auf nähere Einzelheiten nicht sonderlich neugierig. Die Besatzung der Festung hatte auch sehr viel anderes zu tun. Es war Dezember, das bedeutete in diesen Breiten Sommeranfang. Man mußte die Kühlung intensivieren, die Kuppelwände verstärken und vieles andere, um die Einwirkung von Sonnenschein und Hitze abzuwehren. Am 21. Dezember, dem längsten Tag unter dem Erdäquator, waren die sechs menschlichen Wesen besonders geschäftig. Sie scharrten emsig im Inneren ihrer notdürftigen Behausung, kamen ab und zu heraus
und sahen nachdenklich zu den Fenstern hinauf – und zu dem Fleckchen warmen, blauen Himmels, hoch oben über ihnen, am Ende des Schachtes. Sie warteten auf das Eintreten eines gewissen Ereignisses – und sie wurden nicht enttäuscht. Später war die Kalten über das erwartungsvolle Gehabe der Gefangenen verwundert. War es denn möglich, daß sie von außen eine Art Botschaft erhalten hatten oder war es eine Abmachung mit ihren Artgenossen, die vielleicht gerade am längsten Tag des Jahres wirksam werden sollte? Dieser Gedanke war der Besatzung der Kuppel sicher nicht gekommen. Das hätte ja bedeutet, daß sich diese MenschenDinger absichtlich hatten gefangennehmen lassen! Und welches vernünftige Wesen – auch wenn es sich hier um eine Art von unterentwickelter Intelligenz handelte – würde das wohl tun? Nun – das erwartete Phänomen trat jedenfalls ein. Am Horizont tauchte ein Luftschiff auf, dann drei weitere und schließlich war das Dutzend voll. Sie kreisten und tanzten um die Kuppel und reagierten auf kein Signal. Die Kalten waren zunächst verblüfft und erschrocken. Endlich sandten sie ein eigenes Schiff aus, dann mehrere, bis schließlich alle Schiffe den Hangar verlassen hatten, um draußen in der Sommerhitze diese scheinbar aus der Reihe tanzende Gruppe von Besuchern einer anderen Niederlassung
näher zu inspizieren. Beim Auslaufen der Flotte wurden die Strahlenwaffen an den verschiedenen Öffnungen klar zum Gefecht gemacht. Die Aufmerksamkeit der Kalten war jetzt von den Vorgängen draußen völlig in Anspruch genommen. Die sechs Insassen des Mittelschachtes waren in Vergessenheit geraten. Sie blieben nicht müßig. Im Inneren ihrer dunklen Hütte waren sie damit beschäftigt gewesen, eine grüne Strahlenwaffe aus Einzelbestandteilen zusammenzustellen. Irgendwie hatten sie die notwendigen Teile hereinschmuggeln können – versteckt in ihren dicken Kleidern, den Stiefeln und Kapuzen. Zusammengesetzt und betriebsbereit war der Werfer nicht viel größer als ein AchtLiter-Eimer. Während man oben noch herumrätselte, was die Luftschiffe bedeuten mochten, mit denen sich kein Kontakt herstellen ließ, schafften die Männer das Ding hinaus ins Freie und richteten es auf eine der Fensterscheiben. Ein einziger vernichtender Lichtschwall zersplitterte die Scheibe. Durch diese Öffnung drangen vier der sechs Männer. Sie waren in warme Pelze gehüllt und trugen den Strahlenwerfer mit sich. Nach ihnen kamen die zwei anderen. Sie hatten Waffen, die den weißen Explosionsstrahl ausspien. Dieser Explosionsstrahl wurde gegen zwei oder drei Kalte eingesetzt, die ihnen in die Quere kamen,
als sie durch die Gänge liefen. Das Ziel des Überfalls war jedoch nicht Kampf, sondern völlige Zerstörung. Sie bahnten sich ihren Weg von einem Gang zum anderen, bis sie eine Außenkammer erreicht hatten, deren Fensteröffnungen ins Freie führten. Sie richteten den grünen Strahl gegen die dicken Scheiben. Als die gewünschte Wirkung nicht sofort eintrat, richteten sie den Strahl auf die Halterungen der Scheibe an den Rändern. Sie brachen unter dem Aufprall zusammen. Ein großes durchsichtiges Rechteck fiel hinunter, polterte an der Außenwölbung der Kuppel entlang und zerschellte auf den rauhen Steinen des Fundamentes in tausend Teile. Ob die Kalten einen mit den Erdtieren vergleichbaren Gehörsinn hatten, konnte man nie feststellen. Falls sie hören konnten, drangen in diesem Augenblick kräftige Freudenrufe aus sechs Kehlen an ihr Ohr. Warme Sommerluft drang ein. Die Männer richteten jetzt die Strahlen auf ein Mauerstück, diesmal gegen Zement. Das darin kristallisierte Wasser wurde getroffen und reagierte mit einem kräftigen Knall. Als in den angrenzenden Räumen die Kalten, deren Aufmerksamkeit den über der Kuppel kreisenden Schiffen gewidmet war, endlich die Zerstörungen bemerkten, war in die Außenwand bereits ein großes, zackiges Loch gebrochen.
Jetzt wäre für die sechs Abenteurer der geeignete Moment für eine Flucht gekommen gewesen. Sie hätten hinausspringen, sich an der Kuppelwölbung hinuntergleiten lassen und draußen Deckung suchen können. Doch sie taten nichts dergleichen. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren und setzten ihre Strahlen gegen die dünneren Wände auf beiden Seiten und im Inneren der Kuppel ein. Während sie durch die Löcher, die sie brannten, immer weiter ins Zentrum der Anlage vordrangen, strömte hinter ihnen die Hitze in alle Gänge und Kammern. Für die nichtsahnenden Kalten, die keinen Schutzpanzer angelegt hatten, war es eine Siedehitze, tödlich wie glühendheißer Dampf. Auch die überlebenden Kalten konnten jetzt unmöglich dem Feind entgegentreten. Die sechs hatten die Kuppel durchquert und überall große Öffnungen ausgebrannt, durch die warme Luft eindringen konnte, die sich durch die Gänge in alle Richtungen ausbreitete. Die Männer hatten nun jene Stelle erreicht, die dem ersten Durchbruch der Außenmauer direkt gegenüber lag. Sie machten sich daran, die Kuppelaußenwand an dieser zweiten Stelle aufzureißen. Überall im Kuppelbau lagen getötete Kalte. Einigen der Kalten war es jedoch gelungen, in den gekühlten, isolierten Schutzpanzer zu schlüpfen. Sie nahmen die
Verfolgung der Eindringlinge auf und setzten Explosionsstrahlen gegen sie ein. Einer, dann zwei – und schließlich waren es vier der Männer, die getötet wurden. Die Überlebenden, zwei flüchteten durch die neu geschaffene, große Öffnung, sprangen hinunter und liefen so rasch wie möglich davon. Einer der beiden wurde von einem letzten Aufblitzen des weißen Strahls getroffen, doch der andere, der sich trotz seiner schweren Kleidung als schneller Läufer erwies, erreichte hohes Gras, wich noch einem herabstoßenden Luftschiff aus und verschwand schließlich aus dem Gesichtskreis der Kalten, die sich momentan wichtigeren Dingen zuwenden mußten, als ihn zu verfolgen. Die Kuppel hatte einen Totalschaden erlitten, der für die Besatzung nahezu tödlich war. Nicht nur die schützenden Außenwände waren nämlich an zwei Stellen durchbrochen, so daß die todbringende, warme Luft in fast alle Teile des Inneren eindringen konnte, die Zerstörer hatten auch – entweder zufällig, wahrscheinlich aber absichtlich – den Mechanismus, der das Zentralkühlsystem steuerte, angegriffen und zerstört. Die wenigen, denen es gelungen war, den schützenden Panzer anzulegen und zu überleben, waren gezwungen, die Festung zu verlassen. Sie mußten kaltes Wetter abwarten, um an einen Wiederaufbau denken zu können.
Und was das Dutzend Luftschiffe betraf, das die Aufmerksamkeit der Kalten auf so unheilvolle Weise abgelenkt hatte, so waren sie weg, bevor sich ihnen die Schiffe aus der Festung auch nur nähern konnten. Die Kalten nahmen zwar die Verfolgung auf, die Gejagten stellten sich jedoch nicht ein einziges Mal zum Kampf. Offenbar waren die Schiffe in den Händen geschickter, kühner Piloten, denen viel an der eigenen Haut lag. Die Verfolgung wurde also abgeblasen. Die Kalten flogen zurück und hielten Nachschau, wie viele ihrer Gefährten in dem zerstörten Kuppelbau noch am Leben und zu retten waren. Eine nur wenige Meilen entfernte Festung wurde benachrichtigt. Schwärme von ei- und zigarrenförmigen Flugschiffen flogen aus und machten sich auf die Jagd nach menschlichen Wesen, an denen man sich rächen konnte. Beträchtliche Teile der Waldregionen im südlichen Südamerika kamen unter den Beschuß der weißen Strahlen. Die Täler und Senken der Anden wurden durchkämmt, wie die Rockies im vorhergehenden Jahr. Dennoch wußten die Kalten nach Abschluß dieser Aktionen nicht, ob überhaupt Menschen getroffen worden waren und ob dort, wo sie sie gesucht und ihre Strahlen eingesetzt hatten, überhaupt Menschen lebten. Als der Sommer auf der südlichen Halbkugel zu Ende ging, wurde ein ernster Versuch unternommen,
die so listig und brutal zerstörte Kuppelfestung aufzubauen. Der scheidende Sommer zog nach Norden. Und da traf die Kalten ein zweiter, schwerer Schicksalsschlag. Hoch oben in der Arktis, auf einer Insel im Nördlichen Eismeer – die Menschen, die es nie für möglich gehalten hatten, daß ihre Herrschaft einmal enden könnte, nannten die Insel Spitzbergen – lag eine ganze Kolonie großer Kuppelbauten. Die Bedingungen auf Spitzbergen kamen in klimatischer Hinsicht den Idealbedingungen für ein Hauptquartier der Kalten auf der Erde am nächsten. Unterhalb der massiven Fundamente der Kuppeln befanden sich noch jene großen, verlassenen Kohlengruben von Spitzbergen, die einst eine Quelle von Reichtum und Macht für die Menschheit gebildet hatten. Jetzt waren sie verlassen und die neuen Herren der Erde ließen sie ungenutzt. Die überlebenden Menschen hatten die Unmengen an Kohle, die einst Gluthitze für die Hochöfen der irdischen Zivilisation geliefert hatten, beinahe – aber doch nicht ganz – vergessen. Und diese Hitze schlummerte noch immer in den Kohlengruben Spitzbergens – und wartete auf den zündenden Funken. Welche Macht es war, die die Flamme entzündete, sollten die Kalten auf Spitzbergen nie erfahren. Die
Flamme kam und wurde immer größer und größer. Sie setzte die Kohle in Brand, immer wieder und an verschiedenen Stellen. Ein so plötzlich aufflammender, großer Brand im Herzen jener Kohlengruben konnte nur unter ungewöhnlichen Bedingungen ausbrechen – unter Bedingungen, wie sie nur von intelligenten Wesen geschaffen worden sein konnten. Das Feuer breitete sich in den Kohlenflözen aus. Es wärmte die Felswände, die die Kohlenlager auf allen Seiten umsäumten, kroch in die Risse, in denen uralte Reste gefrorenen Eises sich festgesetzt hatten. Das Eis schmolz zu Wasser, dann wurde es zu Dampf und hatte kein entsprechendes Ventil. Es kam zu Explosionen in unterirdischen Höhlen, die wieder weitere Explosionen auslösten. In den obersten Erd- und Schneeschichten zeigten sich Risse. Die Erde bebte. Eine der scheinbar uneinnehmbaren Kuppelbauten stürzte wie bei einem Erdbeben zusammen. Bei einer anderen Festung zeigten sich große Risse an den Seitenwänden, die für die Insassen unheilvolle Folgen hatten. In den ersten Stadien riefen diese Vorkommnisse bei den Kalten Furcht hervor. Und als das Ausmaß der Katastrophe voll erkennbar geworden war, wurde aus Furcht Demoralisierung. Die Kalten strömten ins Freie, um den einstürzenden, einst schützenden Mauern zu entgehen. Nicht alle nahmen sich Zeit,
Waffen mitzunehmen. Die Außentemperatur betrug gute zehn Grad über Null nach Fahrenheit, fast die Höchsttemperatur, die ein gesundes, kaltes Wesen eben noch ertragen konnte. Entkräftung, Krankheiten traten auf und in deren Folge Auflösung der Disziplin und Streitigkeiten. Inzwischen wurde es aber immer heißer. Die Feuer unten in den Kohlengruben tobten und wüteten. Sie verursachten weitere Risse in der schneebedeckten Erde. Und als sie sich Luftzufuhr verschafft hatten, loderten sie noch wilder und heißer. Ganze Brocken von Erde fielen in die darunterliegenden Höhlen und hinterließen Löcher, die wie flammende Krater wirkten. Ganz Spitzbergen schien in Flammen zu stehen. Die Kalten konnten es in dieser Hitze nicht aushalten. Ihre Festungen waren dem Untergang geweiht. Die dort stationierten Luftschiffe reichten nicht aus, um die ganze Besatzung in Sicherheit zu bringen. Ein Teil der verzweifelten Besatzer wurde an Bord genommen und in andere Niederlassungen geflogen. Dann kam eine weitere Flotte, um den Rest zu holen – in diesem düsteren Reich von Kohlenrauch und feuchter Hitze kam jedoch jede Hilfe bereits zu spät. Spitzbergen wurde von den Kalten nie wieder besetzt. Vielleicht auch deswegen, weil den Überlebenden der Katastrophe die Umstände, unter denen es
zur Flucht kam, noch zu lebhaft vor Augen standen. Möglicherweise auch deswegen, weil es den Kalten plötzlich klar geworden war, daß sie ihre Kräfte darauf verwenden mußten, um sich ihre anderen, selbst die sicheren Positionen, zu erhalten. Denn als sich der Sommer in der nördlichen Hemisphäre zu den großen Hitzen steigerte, brachen weitere Brände auf der Erdoberfläche aus. Gräßliche, bedrohliche Flammenteppiche, die die Kontinente in großen Bögen überzogen und nur mit äußerster Kraft und Entschlossenheit von den Festungen abgehalten werden konnten. Mit dem Sommer kamen auch Moskitos – und jene, die sich Moskitos zum Vorbild gemacht hatten.
14 Juli ... Spence ließ ein Flaggschiff tief über den bewaldeten Hügeln dahingleiten. Die ihm untergeordneten Schiffe waren in Staffelformation geflogen und schwärmten nun nach rechts und links aus. Sie nahmen ihre vorher bestimmten Positionen ein. Unter Spence erstreckte sich, soweit sein Blick reichte, ein Waldgebiet. Den einzigen Kontrast bildete eine Silberschleife, die ein Nebenfluß des Yukon im Dschungel zog. »Alaska«, sagte Spence zu seinem Kopiloten. »Der ehemalige neunundvierzigste Staat, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.« »Sieht wie ein reiches Land aus«, entgegnete der andere. »Das ist es und war es«, meinte Spence. »Mein betagter Großvater hat mir erzählt, daß er in den alten Tagen, bevor die Kalten alles veränderten, hierher auswandern wollte, um sein Glück zu machen – und vielleicht sogar Gouverneur oder Senator zu werden. Wenn wir die Kalten hier – und auch sonst überall – vertreiben, werde ich es vielleicht schaffen. Ich möchte hier Gold graben. Es muß hier tonnenweise Gold geben, das die Goldsucher nie gefunden haben.«
»Wird denn Gold jemals wieder Wert haben?« fragte der junge Mann. »Na und ob!« knurrte Spence. »Übernimm das Steuer!« Der junge Mann kam dem Befehl nach, Spence begab sich zur Funkanlage. Er ließ ein Signal aufsummen und sprach dann ins Mikrofon. »Kommandant Spence an alle Schiffe. Zurückmelden, zur Kontrolle, daß ihr mich hört! Ende.« Sie meldeten sich namentlich, der Rangordnung nach. Der letzte gluckste, als wollte er sich räuspern. »Eine Frage, Sir. Hier Daviscourt. Was ist, wenn wir angegriffen werden? Ende.« »Das habe ich schon einmal erklärt«, erinnerte ihn Spence. »Hören Sie diesmal gut zu, Daviscourt! Verteidigen Sie sich, wenn Sie angegriffen werden. Laufen Sie aber ja nicht weg, bevor sie die Ladung Zündstoff abgeworfen haben! Man hat Sie unter einer großen Schar Freiwilliger ausgewählt, die versprochen haben, sie würden die Mission ausführen oder sterben. Ich möchte, daß Alaska in Flammen steht, wenn wir abdrehen. Weitere Fragen? Wenn nicht, dann keine Meldung. Ende.« Er wartete. Das Radio blieb stumm. »Hier nochmals Spence«, sprach er ins Mikrofon. »Schön – ihr scheint eure Aufgabe zu kennen. Bleibt auf meiner Welle. Hört auf meine Befehle. Sobald ihr die
Ladung abgeworfen habt, macht kehrt und haut nach Süden ab! Wir sammeln uns am Point Winnipeg. Dort holt euch weitere Bomben aus dem Munitionslager, das wir gestern angelegt haben. Dann kommt zurück und bearbeitet eine andere Waldfläche. Wir werden die Kalten aus der Arktis ausräuchern. Also jetzt gebe ich euch Gelegenheit, eure Positionen einzunehmen. In drei Minuten – hundertachtzig Sekunden – werdet ihr mich wieder hören. Das wäre alles!« Wieder Stille. Spence sah hinunter auf die einsame Landschaft und dachte an seinen Kommandanten. Er selbst hatte den Häuptlingsrat gedrängt, daß Darragh ihm übergeordnet wurde. Von Spence aus gesehen, war das klug gedacht und gesprochen – Spence war nie dumm gewesen. Darragh hatte also tatsächlich eine Position bekommen, die Spence übergeordnet war. Diese Position hätte Darragh aber auch sehr bald bekommen, wenn Spence versucht hätte, es zu verhindern. Warum also nicht klug und vernünftig vorgehen? Bis jetzt hatte Darragh mit seinen Erfolgen alle beeindrucken können. Er hatte eine andere Methode angewendet, als Spence es vorgehabt hatte. Darragh hatte die Techniker und Experten den Soldaten gleichgestellt und das hatte sich bezahlt gemacht. Bis jetzt. Darragh hatte sehr rasch ein Bündnis zwischen den Siedlungen zustande gebracht, das zur Bildung einer
Nation geführt hatte. Mit den ersten Schiffen, die seine Techniker konstruieren konnten, hatte er Gesandte ausgeschickt, die in Afrika und den südlichen Teilen Asiens nach möglichen Verbündeten suchen sollten. Was man in Übersee diesbezüglich erreicht hatte, war Spence nicht völlig bekannt geworden. Soviel er wußte, hatten die Asiaten die Sache in Spitzbergen in Angriff genommen. Und ihn, Spence, hatte man zum Befehlshaber dieses Waldbrandkommandos ernannt. Jetzt lag es an ihm, so zu tun, als wäre es wichtig und ehrenvoll. Ehrenvoll würde es allerdings erst sein, wenn er es schaffte. Man würde dann dort unten in der Heimat seinen Namen bekanntmachen und ihn loben. Wer weiß – vielleicht glückte es ihm sogar, die Stelle Darraghs einzunehmen und den Oberbefehl über die Operationen zu bekommen. Wieder mußte er an etwas denken, worum er Darragh am meisten beneidete: Brenda Thompson. Na, wenn schon, sagte er sich in den Tiefen seiner Seele. Es gab da also eine Frau, die das Auge erfreute, die einem klar machte, daß man ein Mann war, der solch eine Frau begehrte. War sie denn wirklich so besonders? Was war es, daß sie von allen übrigen Frauen abhob – ihr Verstand, ihre Vitalität oder ihre Art zu zeigen, daß sie voller Lebenslust steckte? Spence hatte Frauen gehabt. Einmal war er sogar
verheiratet gewesen. In der letzten Zeit hatte er den Frauen nicht soviel Aufmerksamkeit widmen können, wie er es gewünscht hätte. Er war mit der Planung der Vergeltungsangriffe sehr beschäftigt gewesen und hatte jene hohe Häuptlingsfunktion innegehabt, aus der ihn Darragh verdrängt hatte. Schön – Darragh wurde vielleicht abgesetzt und Spence konnte seinen Platz wieder einnehmen. Vielleicht glückte ihm eine siegreiche Schlacht gegen die Kalten – dann konnte er den Preis einschließlich Brenda Thompson kassieren. Aber jetzt – jetzt würde er sie nicht erringen können. Denn – es wäre zwar möglich, Mark Darragh zu töten und seine Stelle einzunehmen. Vielleicht wäre es auch möglich, Brenda Thompson einfach zu packen und fortzuschleppen. Das würde aber noch lange nicht bedeuten, daß er sie besaß, weil niemand außer Darragh, lebendig oder tot, sie je besitzen würde. Sie liebte Darragh. Und wenn sie ihn am meisten liebte, nannte sie ihn König Mark. Niemand würde sie ihm je wegnehmen können. Häufig war Spence Zeuge gewesen, wie bescheiden Darragh von sich sprach oder zumindest sich bemühte, es zu tun. »Glück«, pflegte Darragh zu sagen, wenn man ihn wegen seiner Taten pries. »Reines Glück – das hat mir weitergeholfen, von Anfang an.« Und Darragh hatte damit ganz recht. Mit etwas
Glück konnte jedermann Häuptling und Weltenretter werden – auch Spence zum Beispiel. Doch ein Glück, dessen sich Darragh nie so recht bewußt zu sein schien, war das große Glück, Brenda Thompson gewonnen zu haben. »Mark Darragh«, sagte Spence leise vor sich hin, »du kennst dein eigentliches Glück gar nicht. Vielleicht wirst du eines Tages dahinterkommen und dich fragen müssen, wie viel oder wie wenig du von diesem Glück wirklich verdient hast.« Vergiß den Traum, Darraghs Platz einzunehmen, mahnte sich Spence. Nein – er konnte ihn nicht einnehmen. Genausowenig wie man ihm Brenda Thompson wegnehmen konnte. Mittlerweile zeigte der Chronometer an, daß hundertsiebzig Sekunden vergangen waren. Bring diesen Auftrag gut hinter dich – kehre ruhmbedeckt zurück! Schließlich gab es noch andere Mädchen – sehr hübsche sogar – die ihn umschmeicheln würden; wenn auch nicht Brenda Thompson, die bei ihrer großen Liebe zu Mark Darragh bloß einen höflichen Glückwunsch aussprechen würde. »Kommandant Spence an alle Einheiten!« knurrte er ins Mikrofon. »Klinkt sie aus!« Er trat zurück und sah aus einem Fenster. Sein Kopilot hielt die Steuerungskugeln auf den Metallarmen der Steuerung dicht beieinander, ruhig krei-
ste das Schiff jetzt hoch oben am Himmel. Spence ging von einem Fenster zum anderen und blickte hinunter. Hier ein plötzliches Aufflammen – und dann wieder an einer anderen Stelle – immer wieder. Seine Schiffe warfen ihre Brandbomben ab wie Libellen, die ihre Eier in einen Tümpel legen. Dichte Rauchsäulen schossen empor, an Dutzenden von Stellen. Die Wälder Alaskas standen in Brand. »Laß mich ans Steuer«, befahl er, nachdem er die Brandstellen auf der Karte markiert hatte. »Feind in Sicht, Sir«, mahnte der andere aufgeregt. Ja, ein ganzer Verband war über dem gezackten Kamm eines Gebirgszuges hoch im Norden aufgetaucht. Sie ließen fahle Strahlen sprühen, obwohl sie noch nicht nahe genug waren, um einen wirksamen, gezielten Schlag führen zu können. Spence sprang zum Mikrofon. »Spence an alle! Bedeckt den Boden mit Bomben – und dann rasch auseinander! Treffpunkt Point Winnipeg. Keiner darf direkt hinsteuern, sonst zieht er die Feinde wie einen Rattenschwanz hinter sich her! Schüttelt sie ab und sammelt euch nachher!« Die um ihre Bombenladung erleichterten Schiffe schwenkten seitwärts ab und gingen auf Südkurs. Spence fletschte die Zähne, als er das Steuer ergriff und sein Flaggschiff wendete. Tatsächlich, diese kleinen Himmelskäfer ließen sich
kinderleicht manövrieren. Das einzig Komplizierte war der Antrieb. Darraghs Ausschuß von Wissenschaftlern und Technikern hatte sich dieses Problems angenommen. Der Pilot brauchte nur ein wenig Übung und eine ganze Ladung von Mut und Selbstvertrauen. Und ab ging es! Wie ein Meteor durchschnitt jetzt das Schiff den Himmel. »Wie nahe sind sie schon?« fragte er den zweiten. »Scheinen gar nicht näherzukommen, Sir«, ertönte die Antwort von einem Heckenfenster. »Sie versuchen das Feuer abzutöten«, vermutete Spence. »Paßt genau, mein Junge!« »Können sie denn das Feuer löschen?« »Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Aber auch wenn es ihnen glücken sollte – es ist nicht der einzige Brand, der heute gelegt wird. In ganz Alaska, in Kanada, um die Hudson Bay und die großen Seen brennen heute die Wälder. Soviel ich weiß, brennt es auch in Europa, in Rußland und Sibirien.« »Welche Vergeudung!« »Welch ein Erfolg!« berichtigte Spence. »Die Kalten können sich Waldbrände nicht leisten. Nicht mal ihre Isolierungen könnten diese Bienenkorbfestungen, in denen sie leben, wirksam schützen, wenn das Feuer zu nahe herankommt.« »Dann wird das Feuer sie also vernichten!« »Nun – vielleicht nicht ganz. Diesmal nicht. Aber
sie bekommen Schwierigkeiten und werden sich zu Tode schuften. Und während sie sich mit diesem kleinen Löschproblem herumärgern, holen wir uns Bomben aus Winnipeg und fangen wieder an!« Es klang jetzt verbittert. Er fragte sich, ob Brenda und Darragh jetzt wohl beisammen waren und ihr Beisammensein genossen. Darragh und Brenda waren beisammen, wie Spence vermutet hatte. Doch galt ihre Aufmerksamkeit mehr einem dürren, alten Mann, der in das Hauptquartier der Organisation zur Rückeroberung der Erde gekommen war – in eine gemütliche, kühle Höhle unter einem großen Wasserfall, der seine Wasser in den Amazonas ergoß. Der Alte wirkte nicht einnehmend. Haar und Bart waren ungepflegt, der plumpe Kopf erweckte den Eindruck, als sei der Abstand zwischen den Ohren größer als die Schulterbreite des Mannes. Die Augen waren hell und traten hervor wie die Augen einer Krabbe. Doch was der Mann zu bieten hatte, fesselte – trotz Brendas Gegenwart – Darraghs Aufmerksamkeit ganz und gar. »Der einzige, über der Erdoberfläche gelegene Teil der Pflanze, ist kaum sichtbar«, erklärte der gedrungene, greise Gast gerade, »– aber sehen Sie sich mal die langen Wurzeln dieser Art an! Sie können riesige unterirdische Flächen überwuchern und sich noch
weiter ausbreiten. Sie sondern eine Säure ab und zersetzen damit Felsen bis zum Einsturz – die Säure könnte sich sogar durchs Mondgebirge fressen.« »Und Sie züchten das Zeug selbst?« fragte Darragh. »Ich dachte, Sie wären Landpfarrer.« Der breite, greise Kopf nickte. »Das stimmt. Reverend Penrose Allen mein Name – aus der Gemeinde San Miguel. Außerdem bin ich Botaniker. Diese Sorte habe ich aus einer tropischen Felskletterpflanze bis zu ihrer jetzigen Form entwickelt.« »Ich brauche eine Pflanze, die in den nördlichen Gebieten gedeiht«, sagte Darragh. »Wenn es uns gelingt, die wichtigen Stützpunkte in den kälteren Standorten zu zerstören, werden die tropischen Außenposten von selbst zerfallen.« »Ach, diese Pflanze hält kaltes Klima gut aus«, versicherte ihm der geistliche Botaniker. »Dafür wette ich mein Leben.« »Ihr Leben, Reverend Allen?« sagte Brenda. Hinter seinem Bart lächelte er hervor – ein weises, mildes, freundliches Lächeln. »Mir ist klar, daß ich mehr als nur das aufs Spiel setze, meine Liebe. Mein Leben ist ja nicht mehr viel wert – mir bleiben nur wenige Jahre. Aber ich verwette auch Ihr und Chef Darraghs Leben und das Leben aller hier, daß das, was ich sage, wahr ist. Ich bin kein Glücksspieler – aber diese Wette gewinne ich!«
Darragh blinzelte. »Reverend Allen – mein Leben liegt also schon als Einsatz auf dem Tisch.« »Würden Sie gern mit unserer neuen Flotte schneller Luftschiffe, die wir entwickelt haben, fliegen?« fragte Darragh. »Fliegen Sie hinauf in den Norden und säen Sie dort den Samen Ihrer steinfressenden Pflanze über den Kuppelfestungen aus! Wollen Sie? Und dann in den Süden ...« »Chef!« rief der Alte. »Nichts würde ich lieber tun!« »Gut«, sagte Darragh. »Dann fassen Sie soviel Samen wie möglich. Ich werde Schiffe bereitstellen, die Sie zu Ihren Plantagen bringen. Ich möchte mich mit Ihnen darüber noch weiter unterhalten – heute abend nach dem Essen.« Der alte Mann lächelte ihm und Brenda zu und ging. Als er weg war, drückte Brenda Darraghs Hand. »Ich mag Reverend Penrose Allen«, sagte sie. »Ich mag jeden, der in diesem Kampf auf unserer Seite ist. Ich liebe dich, König Mark!« »Dann gib mir den nächsten der hunderttausend Küsse.« Die Ordonnanz, die dann eintrat, war verlegen und stotterte, als sie einen neuen Besucher ankündigte. Der dunkle Capato kam herein. »Hallo!« begrüßte ihn Darragh. »Wie laufen die Dinge, Capato? Bist du zufrieden?«
»Wenn Sie mich so fragen, muß ich nein sagen«, war die offene Antwort. »Und wieso nicht?« »Chef – ich möchte Sie an ein Versprechen erinnern«, sagte der Indianer. »Sie haben einmal gesagt, es würde Bombenabwürfe geben, und ich dürfte dabei sein. Mit diesem Versprechen haben Sie damals meine Stimme bekommen – und das in einer Situation, als Sie auf meine Stimme verdammt angewiesen waren.« »Nun gut«, sagte Darragh. »Im September kannst du deine Bomben abwerfen. Jetzt setz dich und sieh dir die Karte an!«
15 September ... Capato hatte die einfache Handhabung des für ihn bestimmten Schiffes erlernt. Es war das schnellste und wendigste, das man nach den Plänen des seinerzeit erbeuteten Schiffes gebaut hatte. Schwerer fiel es ihm schon, seinen Verstand an das Denken und Handeln in Geschwindigkeitsbereichen zu gewöhnen, die jenseits seiner Fassungskraft lagen, doch half ihm dabei sein Indianerstolz. Mit großer Gelehrigkeit folgte er den von Darragh persönlich erteilten Instruktionen. Er behielt sich das Recht vor, sich seine Besatzung für die ihm übertragene Mission selbst auszusuchen. Diese vier Besatzungsmitglieder wurden nach langen, von Stirnrunzeln begleiteten Überlegungen ausgewählt. Capato hatte Hunderte der hervorragendsten jungen Krieger, die ihm, als Oberhaupt in Krieg und Frieden unterstanden, in Betracht gezogen. Nur er selbst und die vier wußten, was geplant war. Sie verpflichteten sich, ihre Mission geheimzuhalten. Capato nahm ihnen den Eid ab. Es geschah dies unter Anrufung gewisser Gottheiten, zu denen die Völker Südamerikas schon gebetet hatten, bevor Columbus an der Küste Venezuelas entlanggesegelt war und Pizarro seine gierigen Blicke auf das von
Schätzen starrende Inkareich geworfen hatte. Nachdem das Quintett ordentlich vereidigt war, bewahrte jeder der fünf tiefes Schweigen, machte aber ein entsprechend geheimnisvolles Gesicht. In einer bestimmten Nacht vollzog dann Capato in seinem Hauptdorf eine Zeremonie, zu der Scharen von Menschen aus anderen Siedlungszentren kamen. Reverend Penrose Allen hätte den frommen Kopf geschüttelt angesichts der Vorgänge, die sich dort zutrugen. Flötenmusik ertönte, manchmal quäkend, dann wieder schluchzend, zum rhythmischen Schlag großer und kleiner Trommeln. Um glühende, rote Feuer stampften und gestikulierten wogende Reihen geübter, ritueller Tänzer, maskiert, bemalt, mit Federn geschmückt, aber fast nackt. Diese Tänzer waren die Söhne von Unterhäuptlingen, dazu kamen einige der hübschesten und stolzesten, ausgesuchten Dorfschönheiten, die auf den Beschauer sonst bescheiden, zurückhaltend und unnahbar gewirkt hätten. Die Gesänge waren uralt und hatten symbolischen Charakter. Vorgetragen wurden sie von weisen Alten, deren Lebenswerk darin bestanden hatte, den unsterblichen Glauben und die Zeremonien jener Stämme zu bewahren, die sich einst für die mächtigsten und zivilisiertesten der ganzen Welt gehalten hatten. Es war ein fröhliches Fest. Einigen fiel auf, daß Capato und seine vier auser-
wählten Krieger den Speisen und Getränken nur mäßig zusprachen. Die übrigen genossen alles in vollen Zügen, lachten, sangen, tanzten und liebten sich. An diesem Abend wurden eine Reihe von Ehen geschlossen. Am nächsten Morgen schliefen alle Indianer fest, bis in den späten Morgen. Als sie erwachten, waren Capato und seine vier Gefährten bereits aufgebrochen. Niemand wußte wohin. Man wußte nur, daß die Zeichen günstig standen und daß ihre Rückkehr glückliche Lösung vieler Rätsel mit sich bringen würde. Ein einzelnes Schiff flog, während des Tages mit mäßiger Geschwindigkeit nach Norden, dann, nach Sonnenuntergang plangemäß sehr rasch. Capato und seine vier Gefährten waren die Insassen. Die Lichter am Planquadrat zeigten, daß sie sich einem bestimmten großen See im Norden der ehemaligen Vereinigten Staaten näherten. Capatos vitales braunes Gesicht legte sich in sarkastische Falten. »Genau vor einem Jahr hat Mark Darragh zu mir gesagt, wie die Kalten uns fertigmachen würden«, schwelgte er in Erinnerungen. »Ich habe genau diesen Jahrestag für unsere Mission ausgewählt. Ich möchte, daß es ein Gedenktag wird, einer, an den sich der Große Mark Darragh erinnert!« »Euch ist der Große Häuptling Mark Darragh wohl nicht sympathisch«, fragte einer seiner vier jungen Männer, ein schlanker, brauner, selbstsicherer Kerl.
Capato schüttelte heftig mit dem Kopf, so daß sein blauschwarzes Haar in Bewegung geriet. »Irrtum, junger Krieger! Ich habe nie gesagt, daß ich Mark Darragh nicht leiden kann. Tatsächlich mag ich ihn und neunzig Prozent von dem, was er sagt und getan hat. Nicht gefallen hat mir sein Gerede von ›Prügel beziehen‹ und ähnlichem. Ich habe schon damals gesagt und sage es auch jetzt, daß er solche Dinge nur von den Weißen sagen kann, die vor den ersten Invasoren flüchten mußten.« »Hai!« brummte ein zweiter junger Krieger zustimmend. »Und die Weißen, die damals nicht davongelaufen sind, sind immer noch da – aber tot.« »Irrtum«, sagte Capato wieder. »Sie sind tot, aber nicht mehr da. Sie wurden von den Explosionsstrahlen zu Dampf zerstäubt. Vom Winde verweht – was das auch heißen mag.« »Der Titel eines der alten Bücher«, ergänzte der junge Mann, der vorher gesprochen hatte. »Nicht ganz«, wandte der vierte, der Belesenste und Nachdenklichste, ein. »Es ist eine Zeile aus einem Gedicht von Ernest Dowson.« »Und was hat Ernest Dowson so bewegt«, fragte sein Nachbar. »Liebe.« Capato sah auf den Situationsplan, auf dem sich Lichter bewegten. »Bei Tagesanbruch haben wir das
Seeufer erreicht«, traf er seine Voraussage. Der Krieger, der zuerst gesprochen hatte, studierte den Plan. »In der Schule habe ich einmal gelernt, daß das ganze Land früher den Indianern gehört hat«, bemerkte er. »Hiawath war der große Häuptling und Medizinmann. Der große See, der unser Ziel ist, hieß Gitche Gumee oder so ähnlich.« »Nicht dieser See«, berichtigte ihn der Belesene. »Unser Ziel ist der Michigansee. Gitche Gumee war der Obere See. Das heißt in Chippewa-Sprache ›Großes Wasser‹.« »Hai! Ist das wahr?« »Ich lüge nicht«, lautete die Antwort nach althergebrachter Indianerart. Capato verfolgte mit dem braunen Finger ihre Route auf der Karte. »Egal, wie der See geheißen hat – wir sind bald da und die Dämmerung sitzt uns im Nacken. Das heißt, daß die Arbeit beginnt! Ihr vier – ihr kennt doch eure Aufgabe?« »Hai!« »Roger!« »Ja.« »Ja, Chef.« »Gut. Also, fangen wir an. Späher auf den Posten! Nummer zwei behält die Geschwindigkeit im Auge. Nummer drei nimmt Aufstellung beim Bomben-
schacht. Denkt daran, was ihr in dem Körbchen mitschleppt!« »Ich weiß«, lachte Nummer drei. »Ein großes, dikkes Baby liegt in der Wiege. Das wird gleich ein ordentliches Geheul anstimmen.« »Ja, aber es muß am richtigen Ort landen! Nummer vier bleibt am Heckfenster. Halte mit deinen Falkenaugen Ausschau nach Verteidigungsstrahlen oder Verfolgungsschiffen! Weitere Fragen?« Keine Fragen. »Und jetzt noch einmal unsere Aufgabe«, sagte Capato. »Hoffentlich ödet es euch nicht an, sie noch einmal vorgekaut zu bekommen. Also – an der Kuppelspitze ist eine Öffnung, die entlang der Mitte bis hinunter zum Boden reicht. Wir müssen so nahe heran, daß wir dieses Loch erwischen – wir erkennen es an der ringförmigen Anordnung von Linsen und Spiegeln, die das Sonnenlicht einfangen und hineinwerfen sollen. Wir müssen so rasch da sein, daß wir sie überrumpeln. Dann werde ich mit der Kiste einen Kreis ziehen, vielleicht zwei und mit verminderter Geschwindigkeit über dieser Stelle schweben. Wir werfen unsere Bombe mitten in das Loch – so wie der Weihnachtsmann durch den Kamin heruntersaust.« »Wir werfen das Ding exakt dort hinein. Wenn die erst einmal merken, daß wir da sind, werden sie ihre Schutzschilder aus grünen Strahlen ausfahren oder
uns sonst eine Falle stellen und hinunterziehen wollen. Falls wir entkommen, wird uns vermutlich eine Riesenflotte von Schiffen verfolgen. Insgeheim wollen wir aber hoffen, daß unsere Kiste so schnell ist, daß sie uns nicht einholen können.« »Es dämmert«, sagte der Posten am Heck. »Nur soviel, daß alles grau wirkt.« »Genug, daß ich die Kuppel sehen kann«, sagte der vordere Posten. »Aber sie sieht längst nicht so groß aus, wie es Darragh geschildert hat.« »Weil wir noch sehr weit weg sind«, sagte Capato. »Verhaltet euch ruhig, bis ich etwas sage.« Er verschob die Vorwärtskugel und spürte, wie das Schiff erbebte und dann wie mit einem Sprung an Geschwindigkeit gewann. »Wie steht es mit der Geschwindigkeit, Nummer zwei?« fragte er den Krieger an den Meßinstrumenten. »Strich drei«, lautete die Antwort. »Jetzt Strich vier, Chef, Sie holen heraus, was das Zeug hergibt ...« »Mache ich. Und wie steht es mit der Höhe?« »Sehr hoch. Die Maschine runterbringen – das ist die Schwierigkeit. Jetzt ... jetzt liegen wir richtig.« »Okay. Wir werden zuerst kreisen und dann hinunterstoßen. Nummer drei – geh an den Bombenschacht!« »Bin schon dort. Was soll das Summen?« »Ich nehme an, sie wollen mit uns Kontakt auf-
nehmen. Keine Sorge. Wir verstehen die Signale ohnehin nicht. Wir tun so, als ob wir einfliegen wollten. Los jetzt!« Das Schiff stieß hinunter. Die Mannschaft sah im Grau der Dämmerung den Boden auf sich zukommen, sah die Kuppel der Festung wachsen und anschwellen, als sie sich näherte. Capato beschrieb eine große Schleife, dann eine kleinere und flachere. Er näherte sich der Öffnung in Spiralen. »Langsam!« rief der vordere Posten. »Ja.« Capato verlangsamte das Tempo so plötzlich, daß sie ins Wanken gerieten und sich aneinanderklammerten. Immer enger zogen sie die Spiralen. »Bomben los!« rief Capato. »Hai!« rief Nummer zwei und drückte den Hebel nieder. Die Bombe fiel senkrecht wie ein Bleilot hinunter. Sie fiel mitten in die Öffnung hinein. Als Capato das Schiff nach erneuter Riesenbeschleunigung hochzog, ertönte von unten ein markerschütternder Donnerschlag. Das Schiff tanzte und schwankte, behielt aber Geschwindigkeit und Gleichgewicht bei. Weit unten schien die Kuppel zu erzittern, zu schwanken und dann zusammenzusinken. Die Explosion hatte das Zentrum des Strahlenmechanismus getroffen und außer Funktion gesetzt. Die grünen Lichtarme, die die oberen Wölbungen des
großen Daches und die Wände und Böden im Inneren gestützt hatten, waren erloschen. Im heller werdenden Schein des Sonnenaufganges sah man, daß ein gezackter Riß die Kuppel umspannte. Warme Luft strömte ein, lähmte die unvorbereitete Besatzung und brachte ihr den Hitzetod. In den unzerstörten, unteren Teilen sprangen Luken auf. Eine ganze Flotte von Luftschiffen schwärmte wie ein zorniges Bienenvolk aus. »Da kommen sie!« warnte der hintere Posten. »Die kriegen uns nie«, lachte Capato laut, während er kometenschnell davonflitzte. Er sollte recht behalten. Tatsächlich nahmen die Schiffe der Kalten die Verfolgung nur aufs Geratewohl auf. Wie Mücken tanzten sie über der zerstörten und aufgerissenen Festung und sahen, wie sie zusammensank und in Stücke zerfiel. »Etwas fällt mir nebenbei auf, Chef«, sagte Nummer drei, der es sich neben dem Bombenhebel bequem gemacht hatte. »Diese Kalten werden wirklich kalt und knarrig, wenn man ihnen das Heft aus den Händen nimmt. Wenn man so die Berichte aus den alten Tagen hört, klingt es, als ob sie unüberwindbar wären. Aber wehe, wenn man sie nervös macht. Dann sind sie total durcheinander. Wohin geht es jetzt?« »Zurück«, entgegnete Capato. »Gebt an Mark Darragh einen Funkspruch durch! Wer ist der Funker?«
»Ich«, meldete sich Nummer vier. »Sendebereit.« »Capato an Oberstes Hauptquartier«, diktierte der triumphierende Kommandant. »Große Kriegsfahrt erfolgreich. Verstanden? Gut – jetzt den Text: ›Böse Indianer erobern Lager der Kalten. Diese mit vergifteten Pfeilen erledigt. Massenhaft Skalpe erbeutet. Zu Weihnachten sind wir die Herren.‹« Lautes Indianergelächter der vier Rothäute. In seinem Hauptquartier unter dem Wasserfall unterhielt sich Darragh wieder mit Reverend Penrose Allen. Darragh wirkte verbittert und gealtert. Tiefe Furchen zeichneten sich über den Brauen und Wangen ab. Die jungen Augen waren bedächtig, aufmerksam und glühten vor Eifer. Er und der Geistliche aßen hastig ein paar Brötchen von einem Tablett, während sie über den Seiten eines Berichtes brüteten. »Sieht aus, als hätte Ihre Säurewurzelpflanze im Norden eine geeignete Heimat gefunden«, bemerkte Darragh. »Hoffentlich vernichtet sie nicht die ganze Welt, wenn wir wieder die Herrschaft übernommen haben.« »Das Feuer wird sie vernichten«, sagte Allen. Während Darragh vom Planen und Kämpfen gealtert war, schien sich Allen verjüngt zu haben. Haar und Bart sprühten vor Energie. Die vorstehenden Augen blickten klar, gesund und glücklich. Sein Lächeln war das eines tapferen und erfolgreichen Kämpfers.
»Wir haben die Samen über Dutzende von Festungen ausgestreut«, erklärte er. »Die Ziffern im Bericht geben die Reihenfolge des Abwurfes an. Aus dem, was wir ersehen können, ist jede der Festungen schon ganz bewachsen.« »Richtig. Dieser Bericht hier wurde von jemandem verfaßt, der Phantasie hat. Er schreibt: ›... sie sehen aus wie efeuüberwucherte Collegegebäude.‹« Darragh sah sich die Unterschrift auf der letzten Seite des Berichtes an. »Natürlich – das habe ich ganz vergessen. Criddle hat den Bericht verfaßt. Seine Familie bestand ja aus Collegeprofessoren. Daher also der Vergleich!« Brenda kam herein, Darragh blickte auf. Schon war der Ernst, der ihn um soviel älter erscheinen ließ, aus seinem Gesicht verschwunden. Er sprang auf und nahm sie in seine Arme. »Mark!« protestierte sie – nicht sehr überzeugend. »Doch nicht vor Gästen – jedenfalls doch nicht vor Reverend Allen.« »Nur so weiter«, lächelte der Geistliche. »Ich bin es gewöhnt und sehe es gern. Der wievielte Kuß war das übrigens?« »Irgendwo in den Dreißigtausendern«, riet Darragh. »Sie schuldet mir aber immer noch siebzigtausend. Und nachher führen wir ein neues Zählsystem ein.«
»Ich wollte nur sagen, daß ...« fing Brenda an. Ihr Mund wurde vom dreißigtausendundersten Kuß verschlossen. »Laß das, Mark! Ich wollte sagen, daß von Capato eine Nachricht gekommen ist.« »Capato? Was berichtet er?« »Laß mich los. Da kommt die Ordonnanz mit der Nachricht.« Die Nachricht wurde hereingebracht. Brenda und Allen standen neben Darragh und konnten mitlesen. »Das ist in einem Ton abgefaßt, den Capato für altindianischen Jargon hält«, sagte Darragh. »Sein altertümlicher Humor läßt durchblicken, daß sie zerstört haben, was einst dein unglückliches Zuhause war, Brenda. Die Festung am Seeufer ist nur mehr ein Trümmerhaufen, voll von toten Kalten.« »Reverend Allen, hatten Sie je das Gefühl, daß die Kalten Seelen haben?« fragte Brenda. »Ah.« Der Prediger zupfte an seinem Bart. »Das ist eine hochinteressante theologische Frage. Sie haben Verstand und Denkvermögen, aber was die Seele betrifft – da müssen Sie jemanden anderen fragen, meine Liebe.« »Ordonnanz«, sagte Darragh. »Man soll Capatos Empfang vorbereiten! Er soll so empfangen werden, wie es dem Häuptling eines siegreichen Kriegszuges gebührt, der einen feindlichen Stamm ausgelöscht hat. Holt Trommeln – und Indianer, die damit umge-
hen können. Sollte ein Medizinmann in Reichweite sein, dann überlaßt ihm die Vorbereitungen. Capato und seine Jungs verdienen es, daß sie gefeiert werden.« »Ja, Sir«, gab der Melder zurück. Er machte kehrt und marschierte forsch hinaus. »Was sagt Capato außerdem«, fragte Brenda. »Er zeigt einen Optimismus, den ich nicht ganz teilen kann. Er sagt voraus, daß wir zu Weihnachten die Oberhand gewonnen haben werden.« »Zu Weihnachten«, wiederholte Allen. »Zu Weihnachten«, flüsterte Brenda. »Ich habe Pläne für Weihnachten«, verkündete Darragh. »Und ihr zwei werdet mir bei der Ausführung helfen.«
16 Weihnachten ... Die wüsten Felsen und Ebenen der Antarktis lagen unter der Sommersonne, die die ganze Nacht über schien. Die Kälte war bitter, aber trocken. Momentan war es windstill. Mark Darragh und Brenda Thompson, in schneefarbige Parkas und Pelzhosen gehüllt, lagen am oberen Rand eines hohen Eishanges und sahen durch beschlagene Gläser in das unter ihnen liegende Tal hinunter. »Das also ist ihr Grünzeug?« fragte Brenda, in die Talsenke weisend. »Richtig. Eines ihrer größten Felder, das wir bis jetzt entdeckt haben.« Die Schneeflächen im Tal waren mit dem ruppigen Dickicht einer graugrünen Vegetationsschicht getupft. Vielfach vergrößerter Brotschimmel sah vielleicht ähnlich aus wie dieses Gestrüpp. Die Anbauflächen waren in geometrischen Mustern angelegt – Vierecke, Rechtecke, dazwischen eisige Pfade. Die Felder erstreckten sich längs des Tales etwa eine Meile weit und nahmen es der Breite nach völlig ein. Aus diesen Pflanzungen bezogen und destillierten die Kalten auf der Erde sonst nicht vorhandene Elemente,
die ihre, aus synthetischen Kohlenwasserstoffen und Eiweiß bestehende Nahrung, ergänzten und anreicherten. »Mein Appetit wird dadurch nicht im geringsten angeregt«, gestand Brenda. »Weil du kein kaltes Wesen bist«, zog Darragh sie auf. »Das weiß ich zufällig.« »Ich bin kalt – trotz dieser Pelz- und Steppschichten. Na, jedenfalls haben wir das Ziel der Operation ›Hunger‹ genau vor uns.« Sie zog die Schultern hoch. »Ein grausames Wort, Mark.« »Sag einfach gnadenlos – denke aber daran, daß sie in den vergangenen fünf Jahrzehnten gegenüber unseresgleichen auch kein Erbarmen gezeigt haben!« Megan, ebenfalls in weißen Pelz gehüllt, kam herangekrochen. »Operation Hunger«, sprach er die Worte Brendas nach. »Ich habe gehört, daß die Besatzung auf Grönland schon ziemlich ausgehungert sein soll – und in letzter Zeit sehr gereizt.« »Haben wir ihr Gemüse denn so erfolgreich vernichtet?« fragte Brenda. »Das haben wir«, versicherte Darragh gleichmütig. »Das Projekt dort oben ist im großen und ganzen erfolgreich verlaufen. Die Aufklärer berichten zwar, daß sich an manchen Stellen nach dem Strahlenbeschuß Nachwuchs zeigt, doch Reverend Allen ist der
Meinung, daß es sich dabei zum Großteil um wildwachsendes Zeug handelt.« »Ziehen sich die Kalten nicht schon da und dort aus den Festungen auf Grönland zurück?« fragte Megan. »Ja. Die Späher haben ein oder zwei Nachzügler im Freien getötet. Sie melden, daß sich die Körper in sehr schlechter Verfassung befunden haben. Die Lebensbedingungen scheinen sehr schlecht zu sein.« »Sie verhungern«, monierte Brenda düster. »Sie sind schlecht«, erinnerte Darragh sie. »Und im Augenblick sind sie verzweifelt«, fügte Megan hinzu. »Sie möchten kämpfen. Sie belegen unsere Bombenlager oben im nördlichen Kanada mit Strahlenbeschuß – auch wenn sämtliche Bomben und Leute bereits weg sind. Sie versuchen ihren Zorn auf diese Art abzureagieren.« »Obwohl sie niemanden treffen«, ergänzte Darragh. »Hin und wieder unternehmen sie auch Aufklärungsflüge über dem tropischen Dschungel. Bis jetzt haben sie keine unserer Siedlungen bombardiert – sie können sie nämlich nicht sehen. Ich habe gehört, daß schutzlos daliegende Dörfer in Sumatra und Borneo zerstört worden sind, aber die Bevölkerung war zum Glück ausgeflogen. Sie wurde vorher von unseren Aufklärern gewarnt.« »Auch wenn sie unsere Städte angreifen würden,
macht es nichts mehr aus«, sagte Megan. »Wir brauchen keine Städte oder Festungen, um uns gegen sie zu behaupten. Wir beherrschen jetzt Ihre MoskitoTaktik perfekt, Chef! Summen, stechen, Ärger machen – und dann rasch verschwinden. Aber – wo ist denn die Ordonnanz?« »Da kommt er«, sagte Brenda. Unter dem hartgefrorenen Schnee wurde ein Kratzgeräusch hörbar. Dann brach die weiße Oberfläche auf und ein, in einer Kapuze steckender Kopf schaute vorsichtig heraus. Es war der Kopf eines jungen Mannes mit flaumigem, schwarzen Bart. »Perfekte Grabungsarbeit«, lobte Darragh. »Sie haben die Stelle genau erwischt.« »Chef – glauben Sie, Sie müßten hier unbedingt persönlich anwesend sein?« fragte die Ordonnanz. »Falls Ihnen etwas zustößt ...« »Nichts wird mir zustoßen«, sagte Darragh ungeduldig. »Ich kann ja augenblicklich hineinspringen und mich im Eis verstecken, wenn mich ein Kalter suchen sollte. Schafft jetzt den Strahl heraus!« Megan half mit, eine große, düsenartige Apparatur ans Tageslicht zu ziehen. Sie war in einer breiten Metallbasis verankert, von der aus ein System von Drähten und Schlingen ausging. Sie verloren sich unten im Schneetunnel. »Ich sehe mir noch einmal den Generator da hinten
an«, erbot sich der junge Mann und verschwand. Megan stellte die Strahlendüse ein. Er stopfte Fäuste voll Schnee und Eis darunter, um die Basis zu stützen und den Apparat in die richtige Stellung zu bringen. Dann blickte er ins Tal. »Das also ist ihr kleiner Gemüsegarten«, knurrte er. »Es gibt nicht mehr viel Anbauflächen und diese da haben sie für besonders sicher gehalten. Nicht das geringste Anzeichen eines Postens oder Beobachters vom großen Fort auf der anderen Seite der Berge!« Sinnend blickte er wieder ins Tal. »Wissen Sie, Darragh, als ich vor einem Jahr so laut und zuversichtlich gesprochen habe, habe ich nie ernsthaft erwartet, ihren Siedlungen einmal so nahe zu sein.« »Nahe sind wir«, entgegnete Darragh. »Nahe an ihrer Nahrungsmittelquelle, das stimmt. Und wir sind hier auch vor allem sicher. Zwei Geschwader unserer Schiffe bombardieren gerade eine Außenpostenkuppel – ungefähr fünfhundert Kilometer von hier. Damit haben wir die Schiffe von dieser Festung hier abgelenkt. Sie haben sich zur Verfolgung aufgemacht.« »Ich wette, Capato hat das Kommando über eines dieser Geschwader«, meinte Megan. »Die Wette gehe ich nicht ein, weil Sie sie gewinnen würden. Spence hat das andere Kommando. Die Kalten haben sämtliche Schiffe von hier abgezogen, sogar die kleinen Zwei-Personen-Aufklärer.«
»Alles bereit?« fragte Brenda. »Ja. Der Strahlenwerfer hier ist der letzte, den wir eingestellt haben, die anderen – entlang dieser Linie warten auf das Zeichen zum Beginn. Ich möchte jetzt einmal den Knopf drücken.« Er visierte mit zusammengekniffenen Augen entlang der Düse, um sie genau in das dickichtbewachsene Tal zu richten, nickte befriedigt und legte den behandschuhten Daumen an den Abzughebel. Ein fahler Strahl schoß heraus. Unten erhoben sich Dampfschwaden. Darragh dirigierte spielerisch den Strahl, wie ein Feuerwehrmann den Wasserschlauch. Links und rechts, von einem Dutzend von Standpunkten am Steilabfall, warfen andere Strahlen ihre vernichtende Kraft auf die Pflanzung im Tal. Die ganz längliche Talmulde schien von trübem Dampf überzuquellen. Da und dort wirbelte ein Zweig des flechtenartigen Gestrüpps durch die Explosion hoch und schwebte wieder zurück. Dreißig Sekunden – und alles war vorbei. Die lebenswichtige Pflanze der Kalten war vernichtet. »Und jetzt sind Capato und Spence schon längst über alle Berge und die Schiffe werden kommen und sehen, was hier los ist«, sagte Megan. »Machen wir uns aus dem Staub, damit sie ein wenig herumrätseln können!« Er zog den Strahlenapparat zum Tunnel, stieg mit
den Füßen voran ein und zog den Strahlenwerfer hinter sich nach. Darragh schob Brenda in den Tunnel und stieg dann selbst hinunter. Mit Kopf und Armen noch halb draußen, scharrte er Schnee- und Eisbrokken heran und dichtete damit das Loch ab, in das er sich jetzt ganz zurückgezogen hatte. Nur ein sehr genauer Beobachter hätte die Stelle entdecken können, von der aus die Pflanzen vernichtet worden waren. Im Inneren des Ganges war es dunkel. Darragh drehte und wand sich so lange, bis er sich kriechend weiterbewegen konnte. Vorn brannten schwache Lichter. Er sah vor sich Gestalten, die sich bewegten – Brenda und Megan – während er sich, ringsum mit dem Pelz die Eiswände des Tunnels streifend, vorwärtszwängte. Ganze hundert Meter kroch er so weiter, immer tiefer hinunter. Schließlich hatte er eine tiefe Eishöhle erreicht, die von einer, an der ausgehackten Decke hängenden Glühbirne erhellt wurde. Brenda war schon da, hatte die Kapuze abgestreift und machte sich an einem kleinen Ölofen zu schaffen. Der flammte dankbar auf und sie sah sich um und lächelte, als Darragh die Höhle betrat. Megan und sein Helfer knieten hinter Brenda und zerlegten den Strahlendüsenapparat. »Wir haben die Sache erledigt«, sagte Darragh, »und verschwinden, sobald es dunkel wird.« »Meinen Glückwunsch, Sir«, sagte der junge Mann.
»Aber – Sie selbst hätten sich nicht so bemühen müssen. Es gibt genügend Leute, die diese Sache übernommen hätten. Sir, da ist jemand, der Sie sprechen möchte.« Aus einem anderen Gang kam ein Mann und warf seine schwere Kapuze ab. Es war ein glatzköpfiger Mann mit großer Nase. »Dr. Steinbaugh, Sir«, stellte er sich selbst vor. Darragh streifte den großen Handschuh ab und reichte ihm die Hand. »Ich habe schon von Ihnen gehört, Steinbaugh. Sie sind Ingenieur und Lehrer?« »Das war ich in meiner Freizeit, Sir. Ich habe mich noch vor kurzem in Alaska herumgetrieben und umgesehen.« »Haben Sie eine Ahnung von den Verteidigungsanlagen der Kalten dort oben?« »Ja, das habe ich und ich möchte darüber mit Ihnen sprechen.« »Nehmen Sie Platz«, sagte Brenda und wies auf eine rohe Bretterbank neben einem Tisch. Steinbaugh setzte sich und breitete eine Karte auf dem Tisch aus. Darragh beugte sich darüber. »Ja, das ist allerdings interessant«, sagte er und legte einen Finger auf die Karte. »Das da sind die alten Vulkangebiete, nicht? Und Sie behaupten nun, Sie könnten den Lavafluß wieder in Gang bringen. Das heiße Wasser ...«
»Und es hinunterrinnen lassen über ihre wichtigsten Festungen in diesen Breiten«, beendete Steinbaugh den Satz ohne auf Gebote der Höflichkeit Rücksicht zu nehmen. »Ihr Spence hat mich dort für einen dreitägigen Streifzug abgesetzt und mich dann wieder abgeholt. Ich habe mir den Boden angesehen und die Möglichkeiten für das Unternehmen untersucht.« »Und Sie behaupten, daß es möglich ist?« fragte Darragh. »Nicht nur möglich, sondern durchführbar. Diese zweite Karte zeigt, welche technischen Mittel ich dafür brauche.« Wieder schüttelte Darragh die Hand Steinbaughs. »Dazu kann ich nicht viel sagen, weil ich von Technik nichts verstehe. Aber ich stelle Ihnen einen Fachmann zur Verfügung, der das alles mit Ihnen besprechen wird und Ihnen in jeder Hinsicht helfen wird.« »Ich glaube, der Fachmann wird wohl bestätigen, daß Ihre Gedankengänge richtig sind. Wenn wir die Kalten aus Alaska hinausdämpfen könnten ...« Darragh brach ab und schwelgte in Gedanken. Brenda sah sich die Karten an. »Darf ich?« bat sie. »Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich möchte ihnen helfen. Ich interessiere mich für alles.« »Wieder jemand, der Sie sprechen möchte, Sir«, wurde Darragh gemeldet.
Eine flinke kleine Gestalt trat aus einem Korridor ins Licht. Es war Penrose Allen. »Als Ihr Anruf kam, bin ich so schnell als möglich gekommen«, meldete er Darragh. »Willkommen!« rief Darragh. »Ist dieser Eiskeller heilig genug?« Aliens große Augen musterten den Raum. »Heiligkeit ist dort, wo Fromme weilen«, zitierte er. »Haben Sie Ihr Gebetbuch mitgebracht?« fragte ihn Darragh. »Das habe ich immer bei mir. Da, unter meiner Jakke.« »Dann heraus damit«, sagte Darragh. »Schlagen Sie die Hochzeitsliturgie auf!« »Was?« rief Brenda. Darragh streckte blitzschnell den Arm aus und faßte nach ihrer Hand. »Und du stellst dich neben mich und gibst die richtige Antwort, wenn dich der Pfarrer etwas fragt! Megan, Steinbaugh, Sie fungieren als Trauzeugen.« Megan glotzte, bis seine Augen so groß waren, wie die Aliens. »Das soll also – eine Hochzeit sein?« Brenda war rot vor Verlegenheit. »Aber ... aber ...«, stammelte sie. »Ich ...« »Möchtest du mich nicht heiraten«, fragte Darragh fast ungehalten. »Es gibt nichts, was ich mir mehr wünschte, Mark.
Das weißt du. Aber ich dachte immer, wir müßten warten, bis die Freiheit ...« »Die Freiheit ist schon hier«, sagte er. »Der Friede ist noch nicht gekommen, aber die Freiheit haben wir schon! Wir kämpfen und werden siegen. Wir werden für den Sieg vielleicht noch Jahre brauchen. Wir werden in diesem Kampf vielleicht alt werden. Aber ich möchte, daß unsere Kinder in Frieden und Freiheit aufwachsen!« Reverend Penrose Allen hatte sein Buch aufgeschlagen. Brenda stand ihm gegenüber, ihre Hand ruhte in dem starken, warmen Griff Darraghs.
Epilog Mark Darragh der Vierte, Urenkel des berühmten Rückeroberers der Erde, hatte den Höhepunkt seines Wahlkampfes um die Wiederwahl zum Präsidenten der Weltliga erreicht. Er war von gewichtiger Statur und schon ein wenig kahl. Seine Gegner waren immer geneigt, ihre Zuhörer darauf aufmerksam zu machen, daß er den Porträts seines hageren Vorfahren nicht glich, eines Vorfahren, der durch Wundertaten an Tapferkeit und Strategie die Welt wieder zum Besitz und zur Heimat der Menschen gemacht und die Kalten vertrieben hatte. Der Wahlkampfmanager des Präsidenten befand sich mit ihm in seinem Arbeitszimmer. Er beugte sich über den Schreibtisch, um die breite dunkle Krawatte des Kandidaten zurechtzurücken. »Werde ich die Prüfung bestehen, Jerry?« fragte Mark Darragh. »Das tun Sie doch immer, Boss«, lautete die bereitwillige Antwort des Managers. »Wenn Sie heute abend sprechen, werden Sie das Fernsehpublikum geradezu magisch anziehen – ein Volk nach dem anderen. Alle Stimmen der ganzen Welt, überall, in allen Kontinenten. Wovon handelt die Rede?« Mark Darragh der Vierte nahm die getippten Seiten
vom Schreibtisch. »Wieder der alte Hut, fürchte ich«, erklärte er seinem Manager. »Die abgedroschene Geschichte von den Rückeroberern.« »Eine alte, aber keineswegs abgedroschene Geschichte«, berichtigte ihn der Manager. »Vielleicht, aber ich habe kaum je über ein anderes Thema gesprochen. Glauben Sie nicht, daß die Leute meinen berühmten Vorfahren, der sich selbst zum Moskito aufgeschwungen und die Kalten hinausgeekelt hat, bald über haben werden?« »Die Leute wissen, daß er die Welt gerettet hat«, sagte der Manager. »Und Sie wissen es auch!« »Ich weiß es. Aber wenn man bis zu den nackten Tatsachen zurückgeht, ist es keine echte Heldengeschichte«, klagte Darragh. »Es hat dabei zwar Helden gegeben, aber die sind in den ersten Tagen der Invasion getötet worden. Sie sind wie tapfere Männer gestorben und haben versucht, die Kalten in einem ehrlichen Kampf zurückzudrängen.« »Aber sie wurden getötet«, erinnerte ihn der Manager. »Sie waren Helden. Und was hat mein gescheiter Opa gemacht? Er hat sich seine Anregungen aus der Insektenwelt geholt. Dabei hat er sich nicht die emsige Biene zum Vorbild genommen, oder etwa die unermüdliche, disziplinierte Ameise. Er hat sich vielmehr den Moskito zum Vorbild genommen und hat
seine Armeen angewiesen, nicht zu kämpfen, sondern nur Stiche auszuteilen. Vom ersten bis zum letzten Kampf hat er nicht einen wirklich fairen, sauberen Schlag geführt. Es war reine Überrumpelungstaktik – immer von hinten, wenn die Feinde am wenigsten darauf gefaßt waren.« »Er hat die Kalten legionenweise umgelegt.« »Ja, er hat sie getötet – aber nicht er selbst. Er hat sie nicht im Kampf geschlagen. Sie sind verhungert, sie verbrannten oder wurden von einem herabfallenden Dach erschlagen.« Mark Darragh der Vierte mußte lachen. »Starren Sie mich doch nicht so an. Ich bin Mark Darraghs Urenkel und Namensträger. In mir fließt sein Blut. Ich habe ein Recht zu sagen, was ich von ihm halte.« »Hätten Sie denn anders gehandelt?« Der breite kluge Mund grinste. Er schüttelte den massigen Kopf. »Guter Gott, Jerry, kein Mensch hätte mich doch gewählt, um die verlorene Sache zu führen. Ich wäre nicht imstande gewesen, mir das alles auszudenken. Wahrscheinlich haben die Kalten nie richtig gemerkt, was ihnen eigentlich passierte. Die Überlebenden haben die Festungen verlassen, eine nach der anderen und sich auf die Verteidigung konzentriert. Und schließlich sind die Überlebenden geflüchtet, um es auf einem anderen Planeten zu versuchen, auf dem sie von diesen Plagen verschont blie-
ben. Es war die Nadelstichtaktik, die sie vertrieb und nicht Heldentum.« »Nadelstiche – wenn Sie wollen«, mußte der Manager zugeben, »aber Nadelstiche, die man ihnen in zwanzig Jahren harter Arbeit zugefügt hat! Ihre Vorfahren – auch meine, alle unsere Vorfahren – haben zwar keine schimmernden Schwerter geschwungen und gerufen: ›Voran, wackere Kämpfer – Sieg oder Tod!‹ – doch glaube ich, daß sie eine besondere Art Tapferkeit besaßen. Sie haben geschuftet, nur wenige Stunden geschlafen und wenn sie einen Weg sahen, den Feind zu treffen, dann waren sie tollkühn. Sie hatten einfach den längeren Atem. In meinen Schulbüchern habe ich gelesen, was Ihr Großvater im ersten Jahr der Rückeroberung gesagt haben soll: ›Wir werden im Kampf alt werden, aber unsere Kinder werden in Frieden und Freiheit jung sein!‹« Der Präsident der Weltliga gähnte. »Ich kenne das Zitat sehr gut«, sagte er, »und ich glaube nicht, daß sie ganz richtig zitiert haben, aber dem Sinn nach stimmt es. Friede und Freiheit sind gekommen, aber Friede und Freiheit können manchmal ziemlich langweilig sein.« »Dieser Gedanke wäre ihm nie gekommen.« »Nein, sicher nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Kalten etwas anzutun und dann wie ein Kaninchen davonzulaufen, wenn sie Jagd auf ihn
machten.« Der Wahlkampfmanager zuckte die Achseln. Als Berufspolitiker – als sehr erfolgreicher übrigens – verfolgte er eine Politik der Achtung für die große Vergangenheit. »Zumindest hat Ihr Urgroßvater gesiegt«, war seine letzte Mahnung an den Kandidaten. »Nach zwanzig Jahren harter und entschlossener Arbeit, durfte er erleben, wie die letzten Kontingente der Kalten ihre Luftschiffe bestiegen und zurückflogen, woher sie gekommen waren. Seither haben sie uns nie wieder belästigt.« »Aber hatten denn die Kalten wirklich Angst?« fragte Darragh. »Nein, das hatten sie nicht«, setzte er fort. »Wahrscheinlich waren sie bloß angewidert. Sie sind abgehauen, weil sie es satt hatten, dauernd geärgert, gequält und belästigt zu werden. Das erklärt alles. Vielleicht wird eine endgültige Analyse einmal feststellen, daß mein Urgroßvater der verheerendste Langweiler in der Geschichte des Universums war.« »Na, dann geben Sie nur acht, daß Sie keiner sind«, warnte der Wahlmanager. »Und wenn Sie davon sprechen, wie Ihr Großvater gewonnen hat, dann denken Sie daran, daß Sie einen eigenen, kleinen Wahlkampf zu gewinnen haben. Die Sendezeit ist da! Gehen Sie hinaus und lassen Sie Ihr Publikum auf der ganzen Welt hören, wie der Ruhm dem ersten Mark Darragh gefolgt ist ...«
»Das Glück, meinen Sie wohl«, sagte Darragh. »Ein Versager zu sein, bringt jeder fertig, aber Vorteile daraus zu ziehen, gelingt nur wenigen.«