LLOYD B I G G L E
Invasion der Supermenschen
THE ANGRY ESPERS
Utopisch -technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN...
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LLOYD B I G G L E
Invasion der Supermenschen
THE ANGRY ESPERS
Utopisch -technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Made m Germany • II • 11122 ©1961BYLLOYDBIGGLE. AUSDEMENGLISCHENÜBERTRAGENVON TONYWESTERMAYR. UNGEKÜRZTEAUSGABE.ALLERECHTE, AUCHDIEDER FOTOMECHANISCHENWIEDERGABE, VORBEHALTEN. JEDERNACHDRUCKBEDARFDER GENEHMIGUNGDES VERLAGES. UMSCHLAG: F, JÜRGENROGNER. GESETZTAUSDER- LINOTYPE-GARAMOND-ANTIQUA,DRUCK: PRESSE-DRUCKAUGSBURG. SF 0109 • ZE/HUISBN3-442-23109-4
ERSTER TEIL
Er ruhte schwerelos in einer herrlichen Leere völliger Emp findungslosigkeit, und sein langsam wiederkehrendes Bewußt sein entpuppte sich als rücksichtsloser Störenfried. Er leistete Widerstand und wies die ankräuselnden, dünnen Gedanken fetzen ab, bis sein Gehirn kühn eine Frage stellte: Wo bin ich? Sein Verstand antwortete: In einem Krankenhaus. Er hatte beim Absturz genug von dem Planeten gesehen, um zu wissen, daß er eine hochentwickelte Zivilisation beher bergte. Die medizinische Wissenschaft mußte in hoher Blüte stehen, und sie ließ all ihre Künste bei ihm spielen. Im ande ren Fall wäre sein Erwachen ein peinigendes Inferno gewesen, statt dieser wunderbaren Abwesenheit jeglicher Empfindung. Oder es hätte vielleicht gar kein Erwachen gegeben. Für diese Möglichkeit hatte alles gesprochen, als er festen Boden auf sich zurasen sah. Er öffnete die Augen. Der Raum schimmerte in milchig-blauem Licht. Blaßblaue Kittel beugten sich über ihn. Zwei Männer mit feierlichen Gesichtern betrachteten Ihn ernsthaft, in der geheimnisvollen Art aller Ärzte. Eine Aura des Mitgefühls, der Macht zu hei len, umgab sie. Er lag da mit bewegungsunfähigen Gliedern und sah zu ih nen auf. Sein Denken floß träge dahin, gelöst von seinem regungslosen Körper. Ich muß mich ganz schön zugerichtet haben, dachte er. Plötzlich zeichnete Erregung die Gesichter über ihm. Die Veränderung war so drastisch, so überraschend, daß ihn Panik überfiel. Verzweifelt versuchte er, einen Arm zu heben oder den Kopf zu bewegen. Er wußte, daß sie seine Sprache nicht verstehen konnten, aber in seiner Verzweiflung begann er zu sprechen. »Ich heiße Paul Corban. Ich bin Offizier in der WeltraumMarine der Galaktischen Föderation. Mein Stützpunkt -«
Sie waren verschwunden. Zwischen ihrer Gegenwart und der entmutigenden Leere der schimmernd blauen Decke, die sich über ihm wölbte, lag nicht mehr als ein Wimpernschlag. Er schrie gellend auf. Als Antwort kam nichts. Nicht einmal ein dumpfes Echo, das ihn verspottet hätte. Er schrie wieder, während sein Verstand mit dem Entsetzen des völligen Allein- und Verlassenseins rang. Niemand er schien, und nach einiger Zeit beruhigte er sich und schlief wieder ein. Das Fehlen jeder Empfindung bot kein Vergnügen mehr, und sein Schlaf wurde heimgesucht von den Blicken, die ihm die beiden Ärzte beim Abschied zugeworfen hatten Aus druck unaussprechlichen, unbarmherzigen Abscheus. Als er erwachte, schwebte ein neues Gesicht über ihm. Es gehörte einer Frau jung, nicht unattraktiv, wenn man von ihrer Frisur absah, kahlgeschoren um die Ohren, das Haar über dem Kopf aufgetürmt, so daß ihr Gesicht ein traurig verlängertes Aussehen bekam. Ihr Kittel war dunkelblau. Sie schob ihm einen Saughalm in den Mund. Er führte zu einem Gegenstand, den sie außerhalb seines Sehbereichs hielt. Er hatte Hunger und trank gierig die dicke, gewürzte Suppe. Die Haltung der Frau gab ihm Rätsel auf. Er lag hilflos auf dem Rücken, vermochte nur über Augen und Lippen zu verfügen. Er konnte kaum eine bedrohliche Erscheinung darstellen. Aber ihr Gesicht verriet Besorgnis, Mißtrauen, beinahe Angst. Und Abscheu. Unverwechselbar Abscheu. Es war, als sei sie dazu verurteilt worden, für ein gräßliches Reptil unbekannten Ursprungs zu sorgen. Er sprach mit dem Saughalm im Mund. »Warum hassen Sie mich?« Sie zuckte zusammen, und die schmale Linie ihrer zusammen gepreßten Lippen unterstrich ihr Schweigen. Er beobachtete sie, während er die Suppe trank. War ihr Gesicht plötzlich blaß geworden, als er sie angesprochen hatte, oder täuschte er sich? Sie konnte ihn nicht verstehen. Sie war fremdartig für
ihn, fremdartiger vielleicht, als er sich vorstellen konnte, und es war vermutlich dumm von ihm, die Empfindungen eines fremden Lebewesens am Mienenspiel ablesen zu wollen. Er schlürfte den Rest der Suppe und gab den Saughalm frei. Die Frau verschwand. Sie entfernte sich nicht; sie bewegte sich überhaupt nicht. Im selben Augenblick beugte sich ihr Gesicht über ihn und beugte sich nicht über ihn. Er starrte blinzelnd an die Decke. »Vielleicht bin ich im Delirium«, sagte er. »Vielleicht sind sie im Delirium. Oder vielleicht machen sie das mit Spiegeln.« Er schlief und wurde wach. Man kümmerte sich um die Be dürfnisse seines Körpers. Geduldig unterwarf er sich der Untersuchung durch eine Vielzahl von Gestalten in unter schiedlichem Blau, die plötzlich über ihm auftauchten und ebenso plötzlich wieder verschwanden. Während der wachen Augenblicke hing er Tagträumen nach. Kurz vor seinem Abflug war ein aus Zivilisten bestehender Untersuchungsausschuß im Stützpunkt Qualo eingetroffen, um eine Häufung von Unfällen beim >11 C<, dem militäri schen Kurierschiff, unter die Lupe zu nehmen. Der Ausschuß behauptete, das Raumschiff sei unwirtschaftlich und gefähr lich. Es fehle ihm an den zuverlässigen Navigationsinstrumen ten. Die einköpfige Mannschaft müsse zugleich als Pilot, Bord ingenieur und Navigator dienen, was an junge Offiziere zu hohe Anforderungen stelle. Das Raumschiff verfüge über zu geringe Treibstoffreserven. Die verantwortlichen Militärs bestritten natürlich alles. Corban war bereit, die Anklage in allen Punkten zu unter schreiben. Er hatte sich verirrt so gründlich, daß er nicht einmal wußte, wo er gelandet war. Dieser Planet mochte ein unentdeckter Teil der bekannten Galaxis sein oder sich auch irgendwo im Unbekannten befinden. Raum gab es in der Galaxis genug, wie ihm nachdrücklich ins. Gedächtnis zu rückgerufen worden war, als sein Treibstoff zur Neige ging und er einen passenden Planeten suchte, um dort notzulan den.
Er fragte sich, wie lange man im Stützpunkt sein Ver schwinden geheimhalten konnte, bevor der Untersuchungs ausschuß dahinterkam. Wenn sein eigenes Mißgeschick ent scheidend dazu beitrug, daß die >11 C< aus dem Dienst gezogen wurde, hatte er wenigstens etwas erreicht. Kein Kurierpilot hing an seinem Job. Es machte nicht viel Spaß, allein im Weltraum unterwegs zu sein, auch wenn die Vorge setzten große Lobgesänge über die ausgezeichnete Ausbildung und Erfahrung anstimmten. Aber was der Untersuchungsausschuß auch vorschlagen wür de, Paul Corban konnte damit nicht mehr geholfen werden. Er war zu schnell abgestürzt, um Anzeichen für Raumfahrt erkennen zu können. Vielleicht wurde sie von dieser unbe kannten Zivilisation betrieben, vielleicht auch nicht. Wenn nicht, dann saß er hier fest. Man wußte, daß fremde Zivilisa tionen davor zurückscheuten, sich mit potentiellen Gegnern in Verbindung zu setzen, und zwar auch im Rahmen einer Rettungsaktion. Er fragte sich, wie seine Familie die Nachricht aufnehmen würde. Seine Eltern würden zuversichtlich darauf warten, daß er wieder auftauchte irgendwo, irgendwann. Sein Bruder Bill, der gegen alle Grundsätze der Vernunft verstoßen hatte und zum Heer gegangen war, würde überall seinen längst überhol ten Unsinn verzapfen, daß man wenigstens mit einem Bein auf dem Boden bleiben solle als könnte das Heer jemals etwas erreichen, wenn es am Boden blieb! Was seine Schwester Sue anging, die inzwischen das Datum für ihre Hochzeit festgelegt haben würde, so hoffte er, daß die Nachricht von seinem Verschwinden erst danach eintreffen würde. Sues Hochzeit sollte durch nichts getrübt werden. Er belustigte sich eine Weile damit, sich die kleine Sue in einem Hochzeitskleid vorzustellen, dann schlief er wieder ein. Langsam kehrten die Empfindungen zurück. Er vermochte einen Kopf zu bewegen und zu erkennen, daß er dick einge bunden war. Eine Seite seines Gesichts war bandagiert. Stu fenweise stellte sich Gefühl in seinem rechten Arm ein. Er
begann seine Beine zu spüren, schwer und kaum beweglich. Die beiden Ärzte, die in regelmäßigen Abständen vor ihm auftauchten, untersuchten ihn weiterhin mit großer Gründ lichkeit, aber er spürte sogar in der geschickten Sicherheit ihrer Bewegungen ein Widerstreben, ein Zögern. Er beobachtete sie und begriff, daß es sie Überwindung kostete, ihn zu berühren. Sie sprachen kein Wort, weder zu ihm noch untereinander, und sie verschwanden stets gleichzeitig. Sobald er den Kopf bewegen konnte, richtete er seine Auf merksamkeit auf das Zimmer, in dem er lag. Es gab wenig zu sehen. Es war mehr eine Kammer als ein Zimmer, klein, sechseckig, ohne Türen und Fenster. Eine Ecke war abgeteilt, und durch eine halbgeöffnete Schiebetür konnte man seltsame Gegenstände erkennen. Seltsam, aber unverwechselbar. Es war ein Badezimmer. Knapp unter der hohen Decke erstreck te sich ein Gitter durch den ganzen Raum. Es schien die Quelle für das Licht und auch für die Ventilation oder Wärme zu sein. Statt flüssiger bekam er bald feste Nahrung. Die weibliche Pflegerin fütterte ihn vorsichtig und tapfer, ohne einen Laut von sich zu geben. Keiner seiner Besucher gab einen Laut von sich, und das Schweigen begann ihn zu quälen. Er verlor den Sinn für die Zeit. Zwischen Tag und Nacht konnte er nicht mehr unterscheiden, selbst wenn es auf diesem Planeten Tag und Nacht gab, weil der trübe Schimmer des blauen Lichts im Zimmer stets gleich blieb. Es kam der triumphale Augenblick, als er sich erstmals aufset zen konnte, aber das erhebende Gefühl verlor sich rasch im Staunen, das ihm sein Bett abnötigte. Als er sich hochschob, richtete sich das Bett hinter ihm auf, um sich seiner neuen Lage anzupassen. Das wirkte zunächst nur erfinderisch, bis er hinunterschaute und dahinterkam, daß sein von Verbänden umwickelter Körper auf gar nichts ruhte. Am Boden unter ihm befand sich ein kastenähnliches Ob jekt, zwei Meter lang, einen Meter breit, vielleicht zehn Zen timeter dick. Darüber nichts! Trotzdem ruhte er bequem
einen Meter über dem Boden. Er probierte das Bett mit den Händen, mit dem Körper aus. Es paßte sich seinen Konturen, seinen Bewegungen an, von fester Weichheit, völlig nachgiebig, ohne nachzugeben. Das einzige andere Möbelstück im Zimmer war ein kleiner Tisch. Eine hochentwickelte Zivilisation, dachte er. Großarti ge mechanische Geräte, die ideale Raumausnutzung erlaubten, weil so irdische Dinge wie Licht und Belüftung keine Bedeu tung mehr hatten. Es gab eine hochstehende Medizin. Das blaue Licht tötete vermutlich Bakterien ab. Der Schmerz war gebannt. Und wenn ich jetzt noch wüßte, dachte er, wie sie ins Zimmer herein- und wieder hinauskommen ... Die beiden Ärzte standen neben dem Bett, als er sich um drehte. Sie waren inzwischen vertraute Erscheinungen gewor den - ihre Gesichter, ihre Haltung, sogar ihre Stimmungen, fand er, obgleich er nie genau wußte, was ihre Stimmung anzeigen mochte. Ein Arzt war hochgewachsen, mit langem, schmalem Gesicht, das seinen trauernden Ausdruck nie verlor. Der andere war kleiner und hatte ein rundes Gesicht, das gewöhnlich ausdruckslos blieb. Gehorsam legte er sich zurück, und das Bett folgte seiner Bewegung. Sie beugten sich über ihn und begannen, die Verbände von seiner Brust zu entfernen. Wie immer schienen sie sich von den Pflichten, die ihre Hände zu erfüllen hatten, fernzuhalten, und auf ihren Gesichtern spiegelte sich Ekel. Der letzte Verband löste sich. Sie untersuchten seinen Brustkorb, und während er sie noch beobachtete, verschwan den sie. Er richtete sich auf und starrte lange Zeit sitzend die Stelle an, wo sie gestanden hatten. Wenn sie nur etwas sagen würden, dachte er, dann wäre alles nicht so schlimm. Vielleicht könnte ich ein paar Brocken ihrer Sprache lernen und endlich erfahren, was eigentlich gespielt wird was ich an mir habe, das sie so verabscheuen. Es würde mir nicht einmal etwas ausmachen, wenn sie nicht mit mir sprächen, solange sie sich ab und zu miteinander unterhiel ten. Wenn er in dieser Gesellschaft bleiben mußte, würde er ein
Ausgestoßener sein. So viel schien festzustehen. Und der Grund dafür mochte ihm für immer verborgen bleiben. Als die Ärzte wiederkamen, schlief er. Sie weckten ihn, und er setzte sich hastig auf. Die Kraft kehrte pulsierend in seinen Körper zurück, und er wartete ungeduldig auf den Augen blick, sein Bett verlassen zu können. Er hätte sie gerne ge fragt, wie lange es dauern würde, bis er seine Beine wieder gebrauchen konnte. Sie entfernten einen Verband von seinem Kopf, und plötz lich stand ein dritter Mann neben ihnen, ein jungenhaft aus sehender Arzt, der eine Maschine bei sich hatte. Das Gerät war schmal, von Mannesgröße, und blendete mit einer Viel zahl von farbigen Skalen, Knöpfen und unerforschlichen Vorrichtungen. Der junge Arzt rollte die Maschine ans Bett und stülpte ein schimmerndes, helmartiges Gebilde über Corbans Kopf. Er spannte erschrocken die Muskeln an, zwang sich aber sofort zur Ruhe. Sie hatten ihm das Leben gerettet. Was immer sie von ihm denken mochten, sie hatten ihn mit Hin gabe gepflegt. Er hatte keinen Anlaß zum Argwohn. Die Maschine summte und setzte sich glitzernd in Tätigkeit. Die älteren Ärzte zogen sich in eine Ecke des Zimmers zu rück. Die Finger des jungen Arztes spielten geschickt mit den Knöpfen und Skalen. Schmerz vibrierte in Corbans Schädel, steigerte sich zu hämmernder Qual und schleuderte ihn ex plodierend in Bewußtlosigkeit. Als er die Augen aufschlug, war die Maschine verschwun den. Die Ärzte waren noch da und warteten, als sei nichts Besonderes geschehen. Der junge Arzt legte zwei schwarz weiß gestreifte Kugeln neben ihm auf das Bett. Sie sahen aus wie kleine Ballons. Corban berührte einen davon und stellte fest, daß es tatsächlich Luftballons waren. Der Gesichtsausdruck des jungen Arztes beschäftigte Cor ban. Er war eifrig, beinahe kindlich erwartungsvoll. Er zog die Brauen zusammen, als Corban ihn anstarrte, und verschob die beiden Ballons. Corban begriff und beobachtete die Bal
lons. Einer von ihnen schwebte langsam in die Höhe. Er verharr te vor Corbans Gesicht. Verwirrt hob er die Hand und ließ sie darübergleiten. Der Ballon schwebte weiterhin vor ihm und sank schließlich langsam auf das Bett zurück. Die Ärzte beobachteten Corban. Er sah sie an, betrachtete die Ballons und zuckte die Achseln. Er sagte nichts. Daß der Klang seiner Stimme sie irritierte, wußte er längst. Ein Ballon stieg wieder empor, schwebte langsam hinauf, bis an die Decke. Als er nach unten schwebte, stieg der zweite Ballon empor. Beide kamen vor Corbans Gesicht zum Stehen. Impulsiv streckte er die Hand aus und stieß einen der Ballons an. Zu seiner Verblüffung ließ er sich nicht bewegen. Er schien in der Luft fest verankert zu sein. Er zog die Hand zurück und wartete. Ein Ballon glitt langsam auf das Bett hinunter. Der andere schwebte zur Decke hinauf. Auf und ab. Sie kreisten durch das Zimmer und kehrten zum Bett zurück. Corban streckte die Hand aus und schlug nach einem Ballon. Er erhob sich in die Luft, schwebte davon und sank langsam her unter. Er hüpfte auf dem Boden auf. Die Ärzte waren vorgetre ten. Ganz offensichtlich wünschten sie, daß er etwas machte, aber sie konnten ihm nicht sagen, was es war. Zu zeigen vermochten sie es ihm offenbar auch nicht. Er sank auf sein Bett zurück, starrte an die Decke und fragte sich, was das Ganze zu bedeuten hatte. Als er wieder aufsah, stand der junge Arzt mit der Maschine neben ihm. Corban schob den Helm von sich. Er war bereit, notfalls zur Gewalt zu greifen, um diese Miniatur-Folterkammer von seinem Kopf fernzuhalten. Der junge Arzt versuchte es noch einmal, trat aber dann zurück. Er streckte eine Hand aus, vor Corbans Augen blitzte Licht auf, und er verlor das Bewußtsein. Er erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen. Die Maschine war verschwunden. Die Ballons lagen neben ihm auf dem Bett, und die Ärzte warteten. Die unsinnige Prozedur wurde noch dreimal wiederholt. Die Ballons vollführten phantastische Manöver. Corban beobachtete
sie verwirrt, und die Ärzte warteten aufmerksam. Dann holten sie die Maschine wieder. Schließlich ließen sie ihn allein. Er lag lange wach und überlegte, wie bald er entfliehen konnte, und wie er es anstellen sollte. Er wußte, daß sie wiederkommen würden die Ärzte, die Bal lons und die Maschine und der Gedanke erschreckte ihn. Als sie wiederkamen, entfernten sie die letzten Verbände. Er betrachtete seinen nackten Körper von oben bis unten, suchte nach Anzeichen für eine Beschädigung, nach Narben, und fand sich wie durch ein Wunder völlig unversehrt. Freudig bewegte er die Beine. Wenn man bedachte, was er durchge macht hatte, erschien seine körperliche Verfassung ausge zeichnet. Während die Ärzte zusahen, stand er zögernd auf und tat den ersten, stockenden Schritt. Er bezweifelte nicht, daß sie ein Wunder der Heilung an ihm vollbracht hatten. Wenige Menschen überstanden einen Absturz, wie er ihn erlebt hatte. Sein Körper mußte völlig zerschmettert gewesen sein. Er spürte Schuldbewußtsein, weil er sich gewehrt hatte, nachdem sie so lange und so mühsam daran gearbeitet hatten, seine Gesundheit wiederherzustellen. Dann brachten sie die Maschine und die Ballons. Als sie ihn endlich allein ließen, stieg er von seinem Bett und begann das Zimmer abzugehen. Er suchte die Wände nach einer Schiebetür ähnlich jener ab, die zu seinem Bade zimmer führte. Er fand nichts als eine glatte, metallische Oberfläche. Das Gitter an der Decke befand sich außerhalb seiner Reichweite, selbst wenn es eine Fluchtmöglichkeit bieten sollte. Er würde warten müssen; aber während er wartete, mußte er zu Kräften kommen. Er begann an den Wänden entlang durch das Zimmer zu traben. Seine ungenutzten Muskeln protestierten schnell, aber es befriedigte ihn, wenigstens einen Anfang gemacht zu haben. Er besaß keine Kleidung und scheute sich vor dem Auftau chen einer weiblichen Pflegerin. Es hatte ihn nicht gestört, betrachtet zu werden, solange er bandagiert und hilflos war,
aber nun, da er wieder für sich selbst sorgen konnte, kam er sich unnötig entblößt vor. Je näher die Essenszeit rückte, desto nervöser wurde er, aber niemand trat in Erscheinung. Statt dessen tauchte plötzlich auf dem Tisch ein Tablett auf. Er aß und stellte das Tablett wieder auf den Tisch. Es ver schwand. Sein nächster Besucher war der junge Arzt. Er brachte zwei glänzende Scheiben mit, die er an gegenüberliegenden Wän den des Zimmers auf den Boden legte. Sie hatten einen Durchmesser von einem ganzen Meter und waren etwa acht bis zehn Zentimeter dick. Als der Arzt sah, daß Corbans Auf merksamkeit auf ihn gerichtet war, trat er auf eine der Schei ben. Corban sah mit offenem Mund zu, als der Arzt langsam in die Höhe schwebte. Er legte die Hand an die Wand, stieß sich ab und sank wieder herunter. Mit Gesten lud er Corban ein, es auch zu versuchen. Corban zuckte die Achseln und trat auf die Scheibe. Schlagartig ver spürte er eine sonderbare Gewichtslosigkeit. Der Boden sank langsam unter ihm davon. Er stieß sich ab und schwebte wieder hinunter. Der Arzt strahlte zufrieden. Seit er zum erstenmal wieder zu sich gekommen war, schien das die erste Reaktion zu sein, die einem Lächeln nahekam, dachte Corban. Unter der eifrigen Überwachung des Arztes wiederholte er das Experiment. Beim dritten Versuch ließ er sich kühn bis zur Decke hinauftragen. Als er neugierig das Gitter anstarrte, hastete der Arzt heran und stellte am Rand der Scheibe etwas ein. Corban schwebte langsam herunter. Wenigstens war der Versuch nicht umsonst gewesen. Er wußte jetzt, daß es oben keinen Fluchtweg gab. »Hübscher Trick, Freund«, sagte Corban. »Aber sind wir nicht schon ein bißchen zu alt für so etwas?« Der Arzt machte ein finsteres Gesicht. Stirnrunzelnd trat er auf die Scheibe, schwebte aufwärts und verschwand. Corban riß die Augen auf, fuhr herum und sah ihn langsam auf der zweiten Scheibe herabsinken. Der Arzt wiederholte das Manöver zwei mal. Scheibe Nummer eins, eine kurze Fahrt aufwärts, ver
schwunden. Auf rätselhafte Weise über die Scheibe zwei auftau chen, herabsinken. Mit ihrer Wissenschaft können sie sich sehen lassen, dachte Corban. Jetzt verstehe ich, wie sie verschwinden. Vermutlich tragen sie in ihren merkwürdigen Sandalen ein atomares An triebsgerät. In diesem Augenblick entwarf er einen Fluchtplan. Wenn ihm der Arzt das Umsteigen von einer Scheibe auf die andere beibrachte, vermochte er sich vielleicht in einem günstigen Augenblick außerhalb des Krankenhauses zu versetzen. Zu verlieren hatte er ja nichts, wenn er es versuchte. Der Arzt deutete auf die erste Scheibe. Corban wies auf sei ne Füße. Der Arzt begriff schließlich und zog widerwillig seine Sandalen aus. Corban zog sie an und trat erwartungsvoll auf die Scheibe. Er hielt den Atem an und wartete darauf, durch das Zimmer versetzt zu werden. Nichts geschah, außer daß er aufwärts schwebte und mit dem Kopf sanft an der Decke anstieß. Der Arzt holte ihn auf den Boden herunter und bewegte die zweite Scheibe näher zur ersten. Corban versuchte es noch einmal. Er schwebte hinauf, und als sich nichts tat, legte er die Hand an die Wand und stieß sich ab. Er hatte die Entfernung genau abgeschätzt. Sein Abstoß trug ihn über die zweite Schei be, wodurch er sanft zu Boden sank. Der Arzt schien verwirrt zu sein. Während Corban wartete, stand er einige Minuten gedankenverloren da, ließ sich schließ lich die Sandalen zurückgeben, ergriff die Scheiben und ver schwand. Corban setzte seine Übungen fort. Er trieb anstrengende Gymnastik und zermarterte sich das Gehirn nach muskelkräf tigenden Methoden. Es machte ihm großen Spaß, auf sein seltsames, nicht vorhandenes Bett zu hechten, das selbst die verwegensten Sprünge nicht übelnahm. Seine Kräfte kehrten rasch zurück. Der junge Arzt besuchte ihn weiterhin in regelmäßigen Ab ständen. Er brachte seine Ballons, die Scheiben oder irgend etwas anderes Idiotisches mit. Es gab ein kleines Spiel, das sich
von selbst zu spielen schien, mit Figuren, die sich nach einem verwickelten Schema verschoben. Als Corban nach dem Spielbrett griff, blieben die Figuren bewegungslos. Es gab eine Anordnung von Stufen, und der Arzt bewegte sich von einer zur anderen mit blendender Technik, die darin zu bestehen schien, daß man auf einer Stufe verschwand und im selben Augenblick auf der nächsten auftauchte. Als Corban an die Reihe kam, ging er lässig hinauf und hinab. Der Arzt war offensichtlich enttäuscht. Schließlich begann sich Corban über den Arzt und sein Spielzeug zu ärgern. Er fühlte sich körperlich fit, seine Ge sundheit war wiederhergestellt, und der fortgesetzte Aufent halt im Krankenhaus nur zu dem Zweck, die Spielereien eines jugendlichen Arztes mitzumachen, kam ihm sinnlos vor. Er beschloß, den Sitzungen ein Ende zu machen, indem er sie ins Lächerliche zog. Nach einer Weile hatte er Erfolg damit. Der Arzt spielte mit seinen Scheiben, war eben von einer auf die andere umgestiegen und schwebte selbstzufrieden auf den Boden herunter. Corban sagte laut: »Nicht übel, Freundchen, aber ich kann auch ein paar Tricks. Paß auf.« Er machte einen Kopfstand. Er schlug Rad. Er ging ein Stück auf den Händen spazieren. Er sprang elegant auf das Bett, schlug einen Purzelbaum und landete mit höflicher Verbeugung vor dem Arzt. Der Arzt sammelte seine Ausrüstung ein und verschwand. Corban sah ihn nie wieder. Für einen Zeitraum, der ihm endlos vorkam, ließ man ihn völlig allein. Seine Mahlzeiten trafen ein, und er aß sie. Das Tablett verschwand, sobald er es auf den Tisch zurückstellte. Die Besuche des jungen Arztes begannen ihm zu fehlen, und er bedauerte sein voreiliges Handeln. Die nächsten Besucher waren keine Ärzte, sondern stämmi ge Gestalten in gelben Kitteln und Hosen, und sie brachten keine Spiele mit. Sie ergriffen ihn, jeder auf einer Seite, und bevor er sich einer Veränderung gewahr wurde, befand er sich
nicht mehr in seinem Zimmer. Der neue Raum war sechseckig, wie sein erstes Zimmer, aber viel größer. Eine eindrucksvolle Zahl von blaubekittelten Ärzten war zur Stelle, Männer und Frauen. Es gab auch Frau en in dunklerem Blau, das er mit Krankenschwestern in Ver bindung brachte. In der Mitte des Raumes befand sich eines der seltsamen, unsichtbaren Betten, erkennbar nur durch die Bodenplatte. Die Beleuchtung des Raumes konzentrierte sich mit erstaunlicher, blendungsfreier Helligkeit auf das Bett. Die anderen Geräte waren fremdartig, aber Corban brauchte keine Erläuterungen, um zu wissen, wozu sie dienten. In jedem Krankenhaus auf der Erde oder am fernsten Ende der Galaxis konnte derlei nur eines bedeuten Chirurgie. Und der Patient war Paul Corban. Er riß sich los. »Was soll das heißen? Mir fehlt überhaupt nichts.« Ein Arzt trat vor. Corban rannte davon und preßte sich mit dem Rücken an eine Wand. Alle Gesichter im Raum waren auf seine Blöße gerichtet. Die gelbgekleideten Männer gingen ruhig auf ihn zu. »Laßt mich in Ruhe!« schrie Corban. »Ich lasse mich nicht auf eine Operation ein. Ich brauche keine.« Seine Worte tropften hohl in den schalldichten Raum. Sonst hörte man nur seine eigenen schnellen Atemzüge. Der schwa che Geruch einer Droge oder Medizin verwandelte seine Angst in Panik. Er schlug einen Mann zu Boden, und der andere wich langsam zurück. Die Ärzte traten auf ihn zu. Corban duckte sich. Ein Arzt hob die Hand, Licht blitzte auf, und Corban verlor das Be wußtsein. Er erwachte in seinem eigenen Zimmer, oder in einem Raum, der genauso aussah. Er spürte überhaupt nichts, ob wohl er Arme und Beine frei bewegen konnte. Er stand auf und suchte angstvoll seinen Körper ab. Was hatten sie ge macht? Ihn verkrüppelt? Ihn entmannt? Er hob die Hand und entdeckte den Verband. Man hatte ihn am Kopf operiert.
Er fühlte sich völlig entnervt und mutlos. Sein Tablett mit der Mahlzeit erschien auf dem Tisch, blieb dort und verschwand schließlich unberührt. Er wollte nichts mehr essen. Er wollte nichts als dieses verdammte Krankenhaus verlassen, menschli che Stimmen hören, im Gras liegen und die Sonne untergehen sehen. Nachdem er die dritte Mahlzeit nicht angerührt hatte, erschienen seine zwei Ärzte, um ihn zu untersuchen. Sie überprüften seinen ganzen Körper, mit Ausnahme des ver bundenen Kopfes. Er beachtete sie nicht. Eine Pflegerin erschien und versuchte ihn zu füttern. Er drehte sich auf den Bauch, und als er sich wieder umsah, war. sie verschwunden. Die Nahrung traf weiterhin pünktlich ein, und der Hunger zwang ihn schließlich dazu, wieder zu essen. Eine ganze Delegation erschien, um ihm den Verband ab zunehmen. Es waren fünf Ärzte, alles Unbekannte, bis auf einen, an den er sich aus dem Operationssaal erinnerte. Sie brachten alle Utensilien mit die Ballons, die Scheiben, die Spiele. Die Ärzte untersuchten der Reihe nach seinen Kopf, dann traten sie zurück, während einer von ihnen seine Vor führung gab. Corban sah mürrisch zu. Die Ballons schwebten auf und ab. Corban ignorierte sie. Der Arzt vollführte fachmännisch den Trick mit den Scheiben. Corban weigerte sich mitzutun. So ging es weiter. Die Ärzte beobachteten ihn aufmerksam. Ihre Mienen waren ihm ein Rätsel. Interesse spiegelte sich dort, gewiß. Eifer - vielleicht. Aber darunter zeigte sich ein Ab scheu, vor dem er sich am liebsten verkrochen hätte. Aber es gab kein Versteck. Stumm sahen sie zu. Stumm sammelten sie ihre Geräte ein. Jeder Arzt trat nah an ihn heran und wieder zurück. Dann wandten sie ihm den Rücken zu und verschwanden. Es wirkte symbolisch. Sie gaben ihn auf. Er war ein hoffnungsloser Fall. Zehn Minuten später verließ er das Krankenhaus. Zwei männliche Pfleger brachten Kleidung, und Corban schlüpfte gehorsam in Hose und Kittel, beide schwarz. Die Pfleger ergriffen seine Arme, und das Krankenzimmer verschwand. Sie standen in einem riesigen, hell erleuchteten, runden
Raum. Die hohe Kuppel der Decke wölbte sich weit über ihnen. Im Raum befand sich eine Anzahl von Personen. Einige verschwanden, während Corban zusah, andere tauch ten vor seinem verblüfften Blick auf. Diejenigen, die Corban sahen, betrachteten ihn haßerfüllt oder wandten sich ab. Die Pfleger packten ihn wieder an den Armen. Sie kamen durch eine Reihe solcher Räume, die alle einander ähnlich und doch nicht ganz gleich waren. Corban konnte nur vage raten, welche Entfernung sie zurücklegten. Die Zahl der Zwischen aufenthalte vermochte er bald nicht mehr zu zählen. Schließlich wurde er aus einem runden Raum in einen Kor ridor geführt. Die Pfleger übergaben ihn einem muskulösen jungen Mann, der Hose und Kittel in Dunkelblau trug. Worte wurden nicht gewechselt. Sie verließen das Gebäude, Corban sah kurz Sonnenschein und bläulich-grünes Gras, dann befand er sich in einem Fahr zeug. Die Fahrt dauerte lange eine halbe Stunde, schätzte er, auf einer völlig ebenen Straße. Im fensterlosen Inneren des Fahrzeugs konnte er nicht erkennen, wie schnell sie fuhren. Ihr Ziel war ein ausgedehntes, einstöckiges Gebäude mit metallisch-grauer Fassade. Corban wurde Nahrung angebo ten, die er ablehnte. Man führte ihn durch einen langen Kor ridor und bedeutete ihm, er solle ein Zimmer betreten. Die Tür schloß sich hinter ihm. Er versuchte sofort, sie zu öffnen, aber es war unmöglich. Immerhin etwas anders, sagte er sich. Und Fenster gibt es auch! Er sah auf einen herrlichen, bewaldeten Park hinaus. Es gab Plätze, auf denen irgendein Spiel getrieben wurde. Männer und Frauen, die wie er gekleidet waren, spazierten umher oder saßen da. Zwischen den Bäumen konnte er ausgedehnte Felder erkennen. Ein Bach schlängelte sich durch den Park. Muß eine Art Erholungsheim sein, dachte er. Hätte schlimmer kommen können. Es hätte wesentlich schlimmer kommen können. Er grinste zufrieden und begann sein Zimmer zu besichtigen. Er erkannte das unsichtbare Bett sofort. Es gab auch einen
unsichtbaren Stuhl und einen kleinen Tisch ähnlich dem im Krankenhaus. In die Wände waren sogar Bilder eingelassen dreidimensionale, bewegte Naturszenen, wo Bäche plätscher ten, Wasserfälle rauschten und Vögel um Bäume flogen, die realistisch vom Wind bewegt wurden. Es gab ein Badezimmer und einen kleinen Wandschrank mit Schubladen. Corban probierte sie aus und stellte fest, daß sie herauszufallen, nicht herauszuziehen waren. »Wie zu Hause«, sagte er. Jemand hatte sich viel Mühe ge macht, das Zimmer wohnlich zu gestalten. Er fragte sich, wie lange er hier zu Hause sein würde. Eine Tafel der grauen Tür begann plötzlich rosig zu glühen. Corban probierte sie aus, und sie öffnete sich. Ein Ärztetrio stand mit ernsten Mienen vor ihm. Sie bewegten sich nicht, bis er zurücktrat und mit einer Geste zum Eintreten auffor derte. Wenigstens hier schien man seine Privatsphäre zu respektieren. Das gefiel ihm. Mit Gesten baten sie ihn, sich auszuziehen. Er wurde unter sucht. Mit Gesten forderte man ihn auf, sich wieder anzuklei den. Sie sagten nichts und verließen das Zimmer mit einer Bewegung, die halb Verbeugung, halb Salut war. Er probierte die Tür, nachdem sie sich hinter ihnen geschlossen hatte, und fand sie verschlossen. Ein junger Mann im Dunkelblau der Pfleger brachte zusätz liche Kleidung, alles im trüben Schwarz, das er trug. Die Tür blieb verschlossen. Er trat wieder an das Fenster und schaute in den Park hinaus. Das Fenster widerstand allen Bemühun gen, bis ihm an der Wand daneben ein Hebel auffiel. Ein Druck, und das ganze Fenster bewegte sich etwa zehn Zenti meter nach außen. Er sog erregt die Brise ein, die ins Zimmer drang. Irgendwo in der Nähe spielte jemand ungeschickt ein Saiteninstrument. Plötzlich begann eine Stimme zu singen. Er fühlte sich seltsam bewegt. Es war die erste menschliche Stimme, seit er Qualo vor langen Monaten verlassen hatte. Und sie be wies, daß diese Wesen eine Sprache hatten auch wenn sie nicht geneigt waren, sie Fremden gegenüber zu gebrauchen. Als die ersten Schatten der Dämmerung den Park erreichten,
tauchte auf seinem Tisch ein Tablett mit Nahrung auf. Er aß und sah zum Fenster hinaus. Das Zimmer wurde dunkel, und er wußte nicht, wie die Beleuchtung einzuschalten war. Es küm merte ihn auch nicht. Er blieb am Fenster und lauschte, um den Klang von Schritten oder das ferne Murmeln einer unverständli chen Unterhaltung zu erhaschen. Am nächsten Morgen badete er, zog sich an und aß, was auf dem Tisch erschien. Er wunderte sich darüber, daß man ihn immer noch einsperrte. Es war nicht unverständlich, daß man einen Fremden einige Zeit isolierte, bis man über seinen Gesund heitszustand Aufschluß erlangt hatte, aber das konnte doch wohl nicht für eine Person gelten, die eben erst nach langem Aufent halt aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Eine Reihe musikalischer Töne wurde hörbar. Er schaute sich um und sah, daß die Tafel an der Tür rosig schimmerte. Eifrig hastete er hin. Seine Besucherin war ein junges Mädchen. Sie trug den hell blauen Kittel und die hellblaue Hose eines Arztes, was merk würdig erschien, weil sie so jung aussah. Sie trat ein, als er sie mit einer Geste dazu einlud, schloß die Tür hinter sich und lächelte ihn an. Mit ausholender Handbewegung bot er ihr seinen Stuhl an. Sie drehte sich um, ging zum Schrank und holte die Bodenplatte für einen zweiten Stuhl heraus. Sie legte sie auf den Boden, stellte etwas ein und ließ sich auf dem unsichtbaren Polster nie der. Sie war ausgesprochen hübsch. Die Frisur mit den kahlen Stellen über den Ohren kam ihm immer noch merkwürdig vor, aber das Mädchen hätte überall attraktiv gewirkt, ohne Rück sicht auf modische Fragen. Sein Kontakt mit anderen Frauen dieses Planeten war kurz und flüchtig gewesen, aber er spürte sofort, daß sie auf irgendeine Weise anders war. Er betrachtete ihr Lächeln und begriff. Sie akzeptierte ihn als Mitmenschen, ganz beiläufig. Ihr Ausdruck verriet eine reizende, unschuldige Begeisterung. Er nahm gehorsam ihre unausgesprochene Einladung an, sich neben sie zu setzen, und starrte sie immer noch verwundert an.
Aus einem Beutel schüttelte sie eine Anzahl glänzender Wür fel auf den Tisch vor ihm. Sie schob sie auseinander, wählte vier davon aus und brachte sie in eine Reihe. »Alir«, sagte sie. Ihre Stimme klang weich und melodisch, und er ließ den Laut lange in sich nachwirken. Die Würfel ja, auf den Seiten waren seltsame Symbole eingeritzt. Das mußten Buchstaben sein. Sie lehrte ihn ihre Sprache. »Alir«, widerholte er. Sie deutete auf sich. »Alir.« Er nickte. Sie hieß also Alir. Ein wunderschöner Name, bis ihm einfiel, daß es eine vorher oder nachher anzubringende Bezeichnung für >Arzt< geben mußte. Sie wies auf ihn. »Paul«, sagte er. Sie wählte vier Würfel, stellte sie nebeneinander und wie derholte: »Paul.« Nachdem die Vorstellung zustande gebracht war, begann sie mit der ersten Lektion. Sie verbrachte mehrere Vormittage bei ihm, und als er über einen kleinen Wortschatz verfügte, führte sie ihn durch das Gebäude. Es wirkte endlos, obwohl er sich fragte, ob das nicht eine natürliche Reaktion darauf sein mochte, daß er so lange eingesperrt gewesen war. Sie zeigte ihm den Speisesaal, ein rundes Hallenschwimmbad, und eine Vielzahl von Unter haltungseinrichtungen, von denen ihm die meisten unver ständlich blieben. Er wurde zu einem Spaziergang durch den Park mitgenommen und einer Reihe von Personen vorgestellt, die wie er Schwarz trugen. Impulsiv probierte er die Tür, nach dem sie ihn in sein Zimmer zurückgebracht hatte. Sie war unverschlossen. Er schloß sie wieder und streckte sich auf dem Bett aus. Er war schon so lange Gefangener, daß ihn ein gewisses Maß an Freiheit unsicher machte. Er fürchtete, die unverschlossene Tür könnte das Ende sei ner Sprachlektionen bedeuten, aber Doktor Alir kam wie gewohnt auch am nächsten Morgen. Sie gab sich große Mühe,
ihm den Tagesablauf klarzumachen. Er konnte zu den Mahl zeiten in einen der Speisesäle gehen oder sie sich ins Zimmer bringen lassen. Im Gebäude und im Park durfte er sich frei bewegen, abgesehen von den Räumen oder Gebieten, die, deutlich gekennzeichnet, dem Personal vorbehalten waren. Die Frauen lebten in den Flügeln auf der anderen Seite, und es stand ihm frei, dort Bekanntschaften zu schließen, falls ihm danach zumute war. Einige Patienten beschäftigten sich in Berufen, die sie inter essierten. Manche hatten Steckenpferde, die sie Zerstreuun gen nannte. Wenn er sich mit dem einen oder anderen be schäftigen wollte, brauchte er es nur zu sagen. Sie werde jeden Vormittag erscheinen, um den Sprachunterricht fortzusetzen, bis er sich fließend verständigen könne. Außerdem habe er nur die Pflicht, sich, wenn es verlangt wurde, einer ärztlichen Untersuchung zu stellen. Er stellte eine Frage, die er mit seinem beschränkten Wort schatz formulierte, so gut es ging. Wie lange würde er bleiben müssen? War es Einbildung, daß ihr Lächeln unsicher wurde? »Bis Sie sich erholt haben«, sagte sie, was in diesem Augen blick ganz vernünftig klang. Erst später brachte er das mit seinem anscheinend perfek ten Gesundheitszustand in Zusammenhang und machte sich Gedanken. Als sie gegangen war, verließ er sein Zimmer und eilte durch den langen Korridor. Er verließ das Gebäude durch einen Nebenausgang, eilte um den Park herum und lief durch die Felder. Im hellen Sonnenschein reifte Getreide. Es wuchs in weit voneinander getrennten, runden Stellen. Die braunen Körner schwankten an hüfthohen Halmen. In der Ferne betrieben zwei schwarzgekleidete Männer eine niedrige, längli che Maschine. Corban lief leichtfüßig durch das Feld, parallel zur Straße, die rechts von ihm einen Bogen beschrieb. Die unbehinderte Aussicht begeisterte ihn. Es gab keine Zäune, keine Hindernisse. Ein niedriger Erdwall lief an der Straße entlang, die Grenze des Besitzes anzeigend, wie er
vermutete. Jenseits der Straße erstreckte sich eine sanft ge schwungene, blau-grüne Landschaft, und in der Ferne sah man Gebäude. Der Boden stieg leicht an. Als er der Kurve folgte, konnte er sich umdrehen, und das Bogentor sehen, das den Haupt eingang - soviel er wußte, den einzigen Eingang - bezeichnete. Über dem Tor hing ein Schild, aber er konnte es nicht entzif fern. Auf der linken Seite befand sich ein bewaldeter Hügel. Von dort kam der Bach, der in der Nähe seines Zimmers durch den Park floß. Rechts war die Straße, deren dunkle Oberflä che sich in die Ferne erstreckte, soweit sein Auge reichte. Verkehr gab es keinen. Er drehte sich impulsiv um und ging zur Straße. Als er den Erdwall erreichte, prallte er ohne vorherige War nung gegen etwas Massives. Er tastete vorsichtig mit den Händen und erkannte die Substanz. Sie war von derselben unsichtbaren, schwammigen Festigkeit, die von seiner Bett platte ausging. Er trat zurück, versetzte der Barriere wütend einen Tritt, sprang plötzlich in einer zornigen Aufwallung vor und begann hinaufzuklettern. Es ging überraschend leicht. Füße und Hände bohrten sich in die schwammige Substanz und fanden Halt. Er stieg hinauf, zwei Meter, drei Meter das Hindernis schien nicht aufzuhören. Er sah unsicher auf den Boden hinunter und hielt sich an der unsichtbaren Mauer fest. Er schaute wieder in die verlockende, grenzenlose Ferne. Zu seiner Überraschung entdeckte er einen Mann, der auf der anderen Seite der Straße stand und ihn beobachtete. Er trug blaugrüne Kleidung, offensichtlich eine Uniform. Er trug eine Waffe, die er aber nicht in Anschlag brachte. Als Corban zögerte, nahm plötzlich neben dem einsamen Wächter eine ganze Einheit bewaffneter Männer Gestalt an. Sie wirkten aufmerksam, aber nicht angriffslustig. Sie beobachteten ihn und warteten. Corban kletterte wieder herunter. Als er sich umdrehte, war die Einheit verschwunden. Der Wächter behielt ihn im Auge.
Corban trat hastig den Rückzug an und suchte Zuflucht zwi schen den Bäumen auf dem Hügel. Es war ein herrlicher, fried licher Ort. Aus dem Boden perlte Wasser und floß gluckernd über mehrere kleine Wasserfälle den Hügel hinab. Schöne, exotisch gefärbte Vögel flatterten durch das großblättrige Laub. Corban verbarg sich darin und betrachtete die Landschaft auf der anderen Seite der Straße. Nach und nach konnte er die Wäch ter ausmachen. Sie waren an verschiedenen Stellen versteckt und durch ihre Uniformen schwer zu erkennen. Aber sie waren da, in regelmäßigen Abständen, so weit er in beide Richtungen sehen konnte. Er zuckte die Achseln und verbannte diese Gedanken. Seit zu langer Zeit häufte sich Rätsel auf Rätsel, und sein Verstand weigerte sich, darüber weiter nachzudenken. Er streckte sich auf dem weichen Gras aus und beobachtete die Vögel, bis er einschlief. Am Abend ging er, als Musik zum Fenster hereindrang, hinaus und setzte sich zu dem Musiker. Es war ein älterer Mann, der ungeschickt an einem primitiven Instrument mit drei Saiten zupfte. Er ließ die Hände sinken, als er Corban sah. »Sie sind neu, was?« sagte er. »Ja.« Ein Zuschauer in der Nähe begann aufgeregt zu sprechen. Corban verstand ihn nur mit Mühe. Soviel er heraushörte, hatte jemand, der im Büro arbeitete, Corbans Unterlagen gesehen. Er hatte einen Unfall hinter sich. Der alte Mann wandte sich an Corban. »Was für ein Unfall?« Die Frage überforderte Corbans Wortschatz. »Ein schwerer Unfall«, erwiderte er lahm. Der alte Mann schien zufrieden zu sein. Er begann wieder die Saiten zu zupfen. Corban stellte eine Frage. »Wie lange sind Sie schon hier?« Der alte Mann hob überrascht den Kopf. Unter den zehn oder zwölf Zuschauern herrschte ein merkwürdiges Schweigen. »Immer«, sagte der alte Mann.
Corban ging langsam davon, von einem neuen Rätsel ge plagt. Gab es denn nirgends Aufschlüsse? Über dem Haupteingang befand sich ein Schild. Vielleicht konnte es ihm etwas erklären, vielleicht auch nicht, er mußte es lesen. Bei der nächsten Sprachlektion begann er von dem kleinen Hain auf dem Hügel zu erzählen. »Die Vögel sind hübsch«, sagte er, verärgert über die Gren zen seiner Sprachkenntnisse. Doktor Alir lächelte. »Ja. Sie sind sehr hübsch.« »Ich möchte sie beobachten«, sagte er. »Ich möchte etwas haben, das mir dabei hilft.« Sie zog die Brauen zusammen. »Ich verstehe nicht.« Mit stockenden Worten und Gesten machte er ihr klar, daß er ein Fernglas meinte. Seine Bemühungen brachten ihm ein kleines Rohr mit verblüffender Vergrößerung ein, aber seine Bitte um eine Art Handbuch über Vogelarten blieb unerfüllt. Doktor Alir erklärte ihm widerstrebend, daß es so etwas nicht gebe. Er schlug den Weg vom Vortag ein, ging durch das Kornfeld und hielt sich parallel zur Straße. Als er so weit gekommen war, daß er das Tor sehen konnte, setzte er sich auf den Bo den und rastete. Einen Wärter hatte er schon entdeckt. Er stand regungslos in einem Gebüsch jenseits der Straße. Cor ban gab sich Mühe, seine Bewegungen natürlich erscheinen zu lassen. Er verbarg das kleine Teleskop in der Hand und fuhr sich damit übers Gesicht. Das Schild über dem Tor rückte heran. Einen Teil der Worte erkannte er er hatte sie oft genug an anderen Stellen gelesen: >Zutritt nur für Personals Darüber, mit größeren Buchstaben, stand nur ein einziges Wort. Er ließ die Hand sinken, reckte sich und sah wieder durch das Fernrohr. Seine Lippen formten das Wort nach: >Raxti nu<. Er hatte es noch nie gesehen oder gehört.
Er stand auf und ging langsam den Hügel hinauf. Es war möglich, sagte er sich, daß es etwas so Harmloses wie der Name am Altenheim >Seeblick< auf Porina bedeuten konnte, wohin eine alte Tante von ihm gebracht worden war. Möglich, aber er bezweifelte es. Das Sanatorium hatte sich nicht mit Kraftfeldern und bewaffneten Aufpassern umgeben. Er lag auf dem Rücken im Gras, beobachtete die herrlichen Vögel und fragte sich nach einer Erklärung - nach irgendeiner beliebigen Erklärung. Der alte, singende Mann, die anderen, die er kennengelernt hatte konnten sie Verbrecher sein. Sie wirkten in keiner Beziehung gefährlich. Er hatte nicht einen Angehörigen des Personals bewaffnet gesehen, und Doktor Alir kam in sein Zimmer, ohne irgendwelche Befürchtungen erkennen zu lassen. Die Patienten er konnte sich selbst als Patienten sehen hatten innerhalb des Bereiches jede Freiheit und wurden überaus fürsorglich behandelt. Waren sie etwa politische Gefangene? Und wenn ja, warum war er dann hier? Immer, hatte der alte Mann gesagt. Bis Sie sich erholt haben, hatte Doktor Alir gesagt. Erholt wovon? Als er es müde wurde, die Vögel zu beobachten, wanderte er durch die Felder. Von einer niedrigen Erhebung aus sah er in der Ferne ein Dorf. Er betrachtete es durch sein Fernglas. Es schien ein normales Dorf zu sein. Die Frauen gingen ihren Tätigkeiten nach, Kinder spielten, Männer kamen von der Arbeit nach Hause. Aber alle trugen Schwarz. Im Gebäude gab es eine Bibliothek, einen kleinen Raum mit einer rührend kleinen Sammlung von Büchern. Die Bücher waren schlecht gedruckt und ungeschickt gebunden, und ohne die haltbaren Seiten aus Kunststoff hätte Corban sie für Im porte aus einer kaum entwickelten Zivilisation gehalten. Sie waren alle einfach geschrieben und befaßten sich mit so un schuldigen Themen wie Landwirtschaft oder der Herstellung einfacher Dinge, an der sich manche Patienten beteiligten, oder auch mit den verschiedenen Möglichkeiten der Zerstreu
ung. Auf seine Bitte hin fand Doktor Alir einen schmalen Band, der seiner ungeschickten Beschreibung eines Wörter buchs entsprach. Er verwirrte ihn sofort, weil die Anordnung nicht alphabe tisch war. Statt dessen schien sie sich nach einem unklaren Schema zu richten, das sich, wenn auch nicht ausschließlich, am Sinn orientierte. Es glich einer Wortaufstellung, die einem Verfasser von Büchern für Analphabeten nützlich sein konnte. Weil das Buch dünn war, hatte er es schnell durchgelesen. Das Wort >Raxtinu< kam nicht darin vor. Die Barriere umschloß ein riesiges Gebiet. Corban machte sich eines Vormittags nach seinem Unterricht bei Doktor Alir auf den Weg und versuchte, den ganzen Umkreis abzuschrei ten. Als er am Spätnachmittag umkehrte, hatte er noch nicht das Ende der Seite erreicht, die an der Straße verlief. Auf dem ganzen Weg sah er Wachtposten, und der letzte Teil seines Ausflugs war von diffusem Licht erhellt, das bei Anbruch der Dunkelheit von der Barriere ausgestrahlt wurde. >Raxtinu< zu verlassen würde nicht einfach sein. Abends machte er es sich zur Gewohnheit, im Park zu sit zen und dem Gesang des alten Mannes zuzuhören. Seine brüchige Stimme hatte etwas Rührendes an sich, und er kann te nur sehr wenige Lieder. Es waren kindliche Fabeln über fremdartige Tiere, die Corban hübsch fand. Er verglich sie mit Liedern, an die er sich aus seiner eigenen Jugendzeit erinnerte. Andere Patienten blieben stehen, um zuzuhören, langweilten sich und spazierten weiter. Corban zeigte wenig Interesse an ihnen, aber eine Zeitlang schienen sich alle für ihn zu interessieren. Er war ein neues Gesicht, und aus ir gendeinem Grund, den er nicht kannte, waren neue Gesichter ganz offensichtlich eine Seltenheit. Die hübschen, jüngeren Frauen bekundeten ein ganz be sonderes Interesse an ihm und wurden sehr direkt. Er reagier te verlegen. Als Offizier der Weltraum-Marine war er vor einer Ehe zurückgescheut. Monate und Jahre der Trennung schienen nicht die geeignete Grundlage für eine glückliche
Ehe zu sein. Sein Vorgesetzter, Fregattenkapitän Winslow, vertrat eine andere Meinung. Aus irgendwelchen Gründen betrachtete er Corban als klugen, jungen Offizier mit Zu kunft, und nach seiner Ansicht gab es für einen klugen, jun gen Offizier nichts Nützlicheres als eine verständnisvolle Ehefrau. »Ich lade meine Schwester auf ein paar Monate zu Besuch ein«, hatte er zu Corban gesagt, »sie sieht gut aus und ist tüchtig. Wir haben uns immer gut verstanden. Sie wäre für einen jungen Offizier die ideale Frau, und ich möchte, daß Sie sie kennenlernen.« So war Fregattenkapitän Winslow; Heimlichkeiten gab es bei ihm nicht. Corban hatte Sylvia Winslows Foto betrachtet und zugeben müssen, daß sie sogar außerordentlich hübsch war. Offenkundig war ihr der Fregattenkapitän sehr zugetan. Sie zu heiraten mochte Corbans Laufbahn in mehr als einer Hinsicht fördern, aber eine Ehe auf dieser Grundlage behagte ihm nicht. Natürlich konnte ihn eine Begegnung mit ihr zu nichts verpflichten, schließlich konnte er dem Fregattenkapitän nicht sagen, daß er keine Lust hatte, seine Schwester kennenzu lernen. Das war kurz vor seinem Abflug von Qualo gewesen. Er hat te seinen letzten Auftrag mit dem Wissen angetreten, daß Sylvia Winslow bei seiner Rückkehr da sein würde, und sich auf die Begegnung beinahe gefreut. Aber inzwischen würde der Fregattenkapitän sicher einen anderen jungen Offizier für sie gefunden haben. Corban hatte trotzdem keine Lust, eine dieser Patientinnen zur Frau zu nehmen und sich in einem der kleinen Dörfer niederzulassen, die er gesehen hatte. Die Bemerkung des alten Mannes ließ ihm keine Ruhe. >Immer<. Er hatte nicht vor, immer in >Raxtinu< zu bleiben. Zwei männliche Patienten kamen aus der Dunkelheit heran und setzten sich neben ihn. Corban hatte sie noch nie gesehen und vermutete, daß sie in einem anderen Gebäude wohnten. Bei seinen Wanderungen hatte er mehrere geräumige Unter künfte wie die seine gesehen. Während der alte Mann sang,
betrachteten sie Corban, und er starrte sie ebenfalls an. Einer von ihnen, dunkel, mittleren Alters, hatte das übliche Äußere der Bewohner dieses Planeten. Der andere, jünger, fast kindlich aussehend, besaß flammend rotes Haar, was Corban bei diesen Leuten zum erstenmal sah. Der alte Mann beendete sein Lied und zupfte verträumt an seinem Instrument. »Sie sind neu, was?« fragte der Rothaarige. Corban gab es zu. Es war eine gängige Frage ein Patient, der ihn zum erstenmal hier sah, wußte sehr wohl, daß er neu war, aber die Frage wurde immer wieder gestellt. »Name?« »Paul«, sagte Corban. Der Rothaarige schien verblüfft zu sein. Er öffnete den Mund, als wolle er noch etwas fragen, zögerte und sah seinen Begleiter an. Der alte Mann mischte sich in das Gespräch. »Er hat einen Unfall gehabt. Einen schweren Unfall.« »Aha«, sagte der Rothaarige. »Kopfverletzungen?« »Alle möglichen Verletzungen«, sagte Corban. »Verstehe.« Die beiden Männer zogen sich zurück. Sie unterhielten sich leise in einiger Entfernung und beobachteten ihn den ganzen Abend mit unverhüllter Neugier. Mehrere Tage hintereinander erschienen sie regelmäßig jeden Abend, setzten sich in Corbans Nähe, beobachteten ihn und hörten zu. Dann sah er sie nicht mehr. Das Wort hieß >Raxtinu<, und er mußte erfahren, was es bedeu tete. Sorgfältig plante er seinen Feldzug. »In manchen Büchern finde ich Worte, die ich nicht kenne«, sagte er zu Doktor Alir. »Und im Wörterbuch stehen sie auch nicht. Gibt es irgendwo ein größeres?« »Das ist seltsam«, meinte sie. »Was sind das für Wörter? Viel leicht kann ich Ihnen sagen, was sie bedeuten.« »Ich habe sie nicht aufgeschrieben«, sagte er. »Das werde ich tun. Aber ich will Sie nicht jedesmal belästigen, wenn ich ein
unbekanntes Wort finde. Gibt es kein Buch, wo ich nachschla gen könnte?« »Im Büro des Direktors steht eine Hauptmaschine. Sie wird vom Personal verwendet, aber vielleicht bekomme ich die E r laubnis, daß Sie sie gelegentlich benützen dürfen.« »Dafür wäre ich dankbar«, sagte Corban. »Ich dachte mir, wenn es kein Buch über Vögel gibt, könnte ich eines schreiben. Hier gibt es enorm viele Arten, und es könnte auch anderen Leuten Spaß machen, sie zu beobachten und zu unterscheiden.« »Ausgezeichnete Idee. Ich spreche mit dem Direktor.« Man rollte die Maschine für ihn heraus und stellte sie in eine Ecke des Verwaltungsbüros. Er ließ sich davor nieder, und einige Leute vom Personal beobachteten ihn neugierig, als Doktor Alir ihn im Gebrauch des Geräts unterwies. Er blies den Staub von den Bedienungsknöpfen. Offenbar wurde die Maschine kaum benutzt. Er drehte an den Knöpfen und stellte das Wort >Vögel< ein Die Erläuterung war ellenlang, und er begann Namen und Be schreibungen von Vögeln zu notieren. Doktor Alir ließ ihn allein. Nach einiger Zeit beachtete ihn das Personal nicht mehr, mit Ausnahme einer jungen Frau, die offenkundig den Auftrag hatte, ihn im Auge zu behalten. Von Zeit zu Zeit kam sie herüber und fragte ihn, ob er zurechtkom me. Corban schrieb geduldig mit und wartete auf seine Chance. Schließlich verließ die junge Frau das Zimmer. Die anderen schienen nicht auf ihn zu achten. Hastig wählte er das Wort >Raxtinu<, und der Bildschirm flammte auf. >Raxtinu<, las er, über Worte stolpernd, die ihm fremd waren, >für die Geisteskranken. Das Wort Raxtinu wird für Personen gebraucht, die an Geisteskrankheiten leiden, und umfaßt Störun gen von schlichter Geistesschwäche bis zu Arruclam, Cilloclam...< Er kritzelte die unbekannten Worte hin, stellte das Gerät wieder auf >Vögel< ein und starrte blind auf den Bildschirm. Er war in einem Irrenhaus. Man hielt ihn für geisteskrank. An einem warmen, sonnigen Nachmittag, der auf eine Regenwo che folgte, wurde Corban klar, daß er sich in Doktor Alir
verliebt hatte. Er war zu dem Entschluß gekommen, daß endgültig geklärt werden mußte, wie es weitergehen sollte, aber statt direkt zur Sache zu kommen, lud er sie ein, mit ihm die Vogelarten zu beobachten. Zu seiner grenzenlosen Über raschung nahm sie an. Nun, da er mit ihr unter den Bäumen saß und ihrem Ge plauder über die Vögel zuhörte, wußte er, daß er sie liebte. Er sehnte sich danach, ihr hochaufgetürmtes Haar aufzulösen und sein Gesicht in der schimmernden Weichheit zu verber gen, ihre feingeformte Nase mit den Lippen zu berühren, sie in passender weiblicher Kleidung zu sehen, statt in Kittel und Hose, die von der Figur nichts ahnen ließen. Nicht, daß ihre Schönheit durch den Mangel an weiblicher Kleidung oder durch die seltsame Frisur gelitten hätte. Sie wäre immer schön gewesen, gleichgültig, welche Frevel an ihrem Haar verübt wurden, und ihre sicheren, graziösen Bewegungen verliehen dem Ärztekittel ein Aussehen, an das man beim Entwurf dieses Kleidungsstücks bestimmt nicht gedacht hatte. Corban hätte sich nicht als das Opfer einer unglücklichen Liebe denken können. Selbst auf seiner eigenen Welt war er nicht gerade eine ideale Partie, hatte aber doch dort wenig stens eine gewisse Position. In ihrer Welt war er weniger als nichts. Er war ein entsetzliches Minus. Er war geisteskrank. Bedrückt hob er den Kopf, als sie mit ihrer leisen, melodi schen Stimme die Namen der Vögel nannte und ihre Ge wohnheiten schilderte. Sie kannte sie alle. Sie wußte alles über sie. Und es gab kein Buch über das Thema! »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie. Nichts war in Ordnung. Aber dieser Augenblick schien so geeignet wie jeder andere, dagegen aufzubegehren. »Was heißt >Arruclam« Sie ließ das Fernrohr sinken und starrte ihn an. »Das wissen Sie nicht?« »Nein«, sagte er. »Wirklich nicht?« »Nein. Und >Cilloclam<. Was bedeutet das?« Sie stand plötzlich auf und ging bis zum Rand des Hains,
wo sie mit dem Rücken zu ihm stehenblieb und in die Land schaft hinausstarrte. Er beobachtete sie unsicher. Nach geraumer Zeit drehte sie sich um. »Es ist besser, wenn wir zurückgehen.« »Na schön«, sagte er. Sie gingen nebeneinander den Hügel hinunter und durch das Getreidefeld. Mehrmals warf er ihr von der Seite einen Blick zu. Ihre Augen waren ernst auf den fernen Horizont gerichtet, und zwischen den Brauen zeigten sich zwei steile Falten. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich verstehe eben nichts.« Sie schüttelte wortlos den Kopf. Als sie das Gebäude erreichten, gingen sie sofort zu den Verwaltungsbüros. »Warten Sie hier«, sagte sie und verschwand in den inneren Räumen, zu denen nur bestimmte Angehörige des Personals Zutritt hatten. Corban ließ sich schwerfällig auf einem un sichtbaren Stuhl nieder. An der gegenüberliegenden Wand registrierte eine Uhr die verfließende Zeit. Das Büropersonal verlor das Interesse an ihm und ging stumm seiner Arbeit nach. Er vergrub das Gesicht in den Händen und wartete. Plötzlich war sie zurück. »Kommen Sie, bitte, herein«, sagte sie. Er folge ihr. Ein schmaler Korridor, eine Biegung, ein weite rer Flur, ein Eingang. Sie öffnete die Tür für ihn und folgte ihm in das Privatbüro. Der Direktor erhob sich von seinem Platz an einem langen Tisch und lächelte. Er war einer der Ärzte, die Corban bei seinem Eintreffen untersucht hatten ein großer, schlanker, freundlich aussehender Mann mit klugen, forschenden blauen Augen. Corban hatte ihn seither mehrmals gesehen, ohne genau zu wissen, wer er war. »Sie kennen Direktor Wiln, nicht wahr?« sagte Doktor Alir. »Ich glaube«, sagte Corban. Der Direktor nickte. »Setzen Sie sich, bitte.«
Corban ließ sich nieder und beobachtete den Direktor, der in einem Stapel von Papieren blätterte. »Die Unterlagen über Sie sind vollständig, außer dort, wo es wichtig ist«, erklärte der Direktor. »Den Berichten des Kran kenhauses zufolge hat man Sie den vollständigen Buror-Tests und ausgedehnter Therapie unterzogen. Trifft das zu?« Corban schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles einfach nicht.« »Die Buror-Tests«, sagte der Direktor. »Ah ja, mit dem Namen können Sie natürlich nichts anfangen. Aber zweifellos -« Er verstummte und wechselte Blicke mit Doktor Alir. Sie verließ das Zimmer und kam Augenblicke später mit einem gestreiften Ballon zurück. »Ach, das«, sagte Corban und verzog das Gesicht, als er an die trostlosen Tage im Krankenhaus dachte. »Ist Ihnen das vertraut?« »Ja. Es waren zwei Stück.« »Und wie haben Sie auf diese Phase der Tests reagiert?« »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt reagiert habe. Ich begriff einfach nichts.« »Ja. Doktor Alir hat das Gefühl, daß Ihr Fall völlig falsch angepackt worden ist, und ich neige dazu, ihr recht zu geben. Auf jeden Fall sind die Buror-Tests wertlos, wenn der Patient keinerlei Ahnung von ihrem Zweck hat. Ja.« Er blätterte wieder in den Papieren. Corban warf einen heimlichen Blick auf Doktor Alir, die den Direktor erwar tungsvoll ansah. Corban konnte sich nicht vorstellen, was sie erwartete. »Die Medizin macht immer wieder große Fortschritte«, sag te der Direktor, »aber das menschliche Gehirn bleibt bis zu einem gewissen Grade ein Rätsel. Sie haben schwere Kopfver letzungen erlitten. Es ist überhaupt ein Wunder, daß Sie am Leben geblieben sind, und im Krankenhaus scheint man die mögliche Schädigung Ihres Erinnerungsvermögens nicht richtig beurteilt zu haben. Wir dürfen aber mit den Leuten nicht zu streng ins Gericht gehen. Ihr Fall ist in einem Be
reich, wo selbst heute unser Wissen größtenteils theoretischer Natur ist, eine Seltenheit, und außerdem waren sie nicht dazu ausgerüstet, sich auf die angemessene Art mit Ihnen zu ver ständigen. Wir selbst sind auch nicht ganz schuldlos, weil wir die Berichte für bare Münze genommen haben. Nun gut, Doktor Alir schlägt vor, daß wir die Therapie fortsetzen, und ich stimme ihr von ganzem Herzen zu. Da inzwischen die Verständigungsschwierigkeiten beseitigt sind, könnten die Ergebnisse ganz anders ausfallen. Ich verspreche Ihnen, daß meine sämtlichen Mitarbeiter angestrengt für Ihre Gesundung tätig sein werden. Ich vertraue darauf, daß wir auf Ihre unein geschränkte Mithilfe zählen dürfen.« Corban schüttelte verwirrt den Kopf und nickte schließlich. »Ja, natürlich -« »Sehr gut. Die Therapie wird unter der Leitung von Doktor Alir stehen. Wie Sie wissen, ist sie überaus tüchtig. Das wäre alles.« Corban murmelte Dankesworte, und Doktor Alir begleitete ihn hinaus. Sie lächelte strahlend. »Morgen fangen wir an«, sagte sie. Sie saßen sich in Corbans Zimmer an den Wänden gegenüber, zwischen ihnen am Boden der gestreifte Ballon. »Sehen Sie ihn an«, sagte Doktor Alir. »Konzentrieren Sie sich darauf.« Der Ballon schwebte langsam zur Decke hinauf und sank ebenso langsam wieder herunter. Corban hob die Schultern. »Das habe ich schon gesehen, allerdings mit zwei Ballons. Und ich verstehe immer noch nichts. Wo ist der Sinn?« »Passen Sie auf!« befahl sie. Der Ballon stieg wieder hoch, schwebte auf ihn zu, entfern te sich, kehrte auf den Boden zurück. »Und jetzt Sie«, sagte sie. »Was soll ich tun?« »Bewegen Sie ihn aufwärts.« Corban starrte sie verständnislos an.
»Bewegen Sie ihn aufwärts«, wiederholte sie. »Mit Ihrer Wil lenskraft.« »Sie meinen du lieber Himmel!« Das. Begreifen erschütterte ihn bis ins Innerste. Er erinnerte sich dunkel an das Gerede von Leuten, die nicht wußten, wie sie die Zeit totschlagen sollten. Die verrückten Theorien von Sonderlingen. Seltsame, unvorstellbare Verstandeskräfte. Tele kinese! Bewegung von Gegenständen durch übersinnliche Kräfte ohne Berührung! Er entdeckte plötzlich, daß er auf den Beinen war, ohne sich erinnern zu können, daß er den Stuhl verlassen hatte. Er setzte sich schlaff. »Sie machen das mit Ihrem Verstand?«
»Natürlich. Ich bewege den Ballon mit meiner Willenskraft.«
Der Ballon stieg und fiel.
»Versuchen Sie es«, sagte sie.
Er zuckte verzweifelt die Achseln und konzentrierte sich auf
den Ballon. Fünfzehn Zentimeter Durchmesser. Schwarz weiß gestreift. Hämisch vor ihm auf dem Boden liegend. Hinauf... hinauf... hinauf. Die Anstrengung wurde schmerzhaft. »Konzentrieren Sie sich!« befahl sie.
»Es rührt sich nichts«, sagte er lahm.
»Versuchen Sie es noch einmal.«
Er versuchte es. Er zielte mit seinem ganzen gequälten Ich auf
die verdammte Trägheit des Ballons. Seine Nägel gruben sich in die Handflächen, als er die Fäuste zusammenkrampfte, die Zähne zusammenbiß, die Muskeln anspannte. Schließlich sank er zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie lächelte noch immer aufmunternd. »Sie dürfen sich nicht entmutigen lassen. Wir können nicht erwarten, daß es gleich beim ersten Versuch klappt. Schließlich haben Sie einen sehr schweren Unfall hinter sich.« »So?« sagte er bitter.
»Natürlich. Aber vielleicht erinnern Sie sich nicht einmal dar
an. Ihr Gedächtnis -«
»Was gibt es noch?« fragte er.
»Wie meinen Sie das?«
»Diese anderen Dinge die Tests, die man im Krankenhaus mit mir unternommen hat. Was sollte ich tun?« »Arruclam genügt für den Anfang vollkommen. Nun versu chen wir vielleicht einmal -« . »Ich möchte es aber wissen.« »Also gut. Ein paar Experimente -« Sie sah ihn unverwandt an, bis er rot wurde und verlegen mit den Füßen scharrte. »Haben Sie etwas gehört?« fragte sie schließlich. »Etwas gehört?« »Ich habe etwas zu Ihnen gesagt.« »Ich Sie haben etwas gesagt?« »Ja. Ich sprach von den Vögeln.« »Mit Ihrem Gehirn?« »Gewiß. Das ist die normale Art, sich zu unterhalten. Die ge sprochene Sprache ist nur für diejenigen, die irgendeine Beein trächtigung haben oder -« »Oder die nicht normal sind!« Sie stand auf. »Wollen wir uns die Vögel noch einmal ansehen? Kommen Sie her.« Verwundert trat er zu ihr. »Denken Sie nach«, sagte sie. »An die kleine Lichtung neben dem Bach. Erinnern Sie sich daran?« Er nickte. »Gut. Denken Sie daran. Konzentrieren Sie sich darauf. Also los!« Sie war verschwunden. Er wich langsam zurück und sank auf seinen Stuhl. Einen Augenblick später stand sie wieder vor ihm und sah ihn fragend an. »Das tun Sie mit Ihrem Verstand?« fragte er. »Ja.« »Sie sind jetzt dahin versetzt gewesen, wo wir gestern wa ren?« »Ja.« Telekinese, Telepathie, Teleportation. »Gibt es noch etwas?«
»Das sind die wichtigsten Dinge«, sagte sie. »Wir werden uns damit beschäftigen. Sobald sie sich bei Ihnen wieder einstellen, dürften die anderen kein Problem mehr sein.« Sobald sie sich wieder einstellen. »Ich verstehe«, sagte er. »Jetzt beginne ich zu begreifen. Eine ganze Menge.« Sie hob den Ballon auf. »Wollen Sie es noch einmal versuchen?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich lieber eine Weile darüber nachdenken.« Sie bewies sofort Verständnis. »Gewiß. Ich komme morgen wieder. Soll ich ihn hierlassen?« »Was? Oh, ja. Lassen Sie ihn hier.« Sie ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich. Aus einem dunklen Winkel der Erinnerung denn es kam ihm so vor, als habe er auf diesem Planeten lange, bittere Jahre verbracht tauchte ein Gesicht auf. Es war das Gesicht eines älteren Arztes, gütig, mitfühlend, erfüllt von Mitleid für die Schwachen und Leidenden, und es beugte sich über den jungen Patienten, um den der Arzt lange und mühsam mit dem Tod gerungen hatte. Und die Götter welche Götter dieser Planet auch für sich beanspruchen mochte seien gepriesen und geehrt, denn der junge Mann lebte und bewegte sich ruhelos im leben digen Tod eines anhaltenden Komas, und plötzlich schlug er die Augen auf. Der Arzt beugte sich erregt vor und sagte auf unhörbare Art mit der jovialen Barschheit, die in solchen Augenblicken Vor recht des Arztes ist: »Na, junger Mann, wir erholen uns ja glän zend.« Im nächsten Augenblick verhärtete sich sein Gesicht, und er wich entsetzt zurück. Denn dieser frische, junge Mann, um den er sich so lange bemüht hatte, dieser gutaussehende, wohlge baute junge Mann war ein Idiot. So mußte es gewesen sein mit den beiden Ärzten, als Corban ins Bewußtsein zurückgekehrt war. Sie hatten freudig gratuliert telepathisch gratuliert und entdecken müssen, daß Corbans verständnisloser Blick völlige Geistlosigkeit enthüllte. Aber sie
hatten Geduld bewiesen. Sie führten Tests durch, sie behandel ten ihn, und als letzten Ausweg wählten sie einen chirurgischen Eingriff, alles in dem vergeblichen Bemühen, ihm Kräfte wieder zugeben, die er nie besessen hatte. Dann schickten sie ihn betrübt in ein Irrenhaus, wo er den Rest seines Lebens bei seinen Mit-Idioten verbringen sollte. >Immer<, hatte der alte Mann gesagt. Es war nicht verwunderlich, daß es selbst bei Leuten von erstaunlichen Geisteskräften Fälle von Geistesschwäche gab, und wie es sich bei hochzivilisierten Wesen gebührte, wurde für diese Fälle, die unheilbaren Fälle, ein Ort geschaffen, wo sie ihr Leben, geschützt vor den Belastungen des Daseins unter den ihnen geistig Überlegenen, zubringen konnten. Die meisten von ihnen würden von der Geburt an abnormal sein und von frühester Kindheit an in einem Irrenhaus untergebracht wer den, um dort aufzuwachsen, zu heiraten, das Leben zu verbringen hinter Mauern. Kinder? Nein, man würde ihnen nicht erlauben, Kinder zu zeugen, aber es würde Kinder von draußen geben, die geistig zurückgebliebenen Kinder, für Paare, die sich eine Familie wünschten. Unfälle, die jene übersinnlichen Kräfte völlig zerstörten, muß ten bei diesen Wesen selten sein, und ein Erwachsener, der plötzlich in eine Irrenanstalt gesteckt wurde, war natürlich Anlaß zur Verwunderung, zum Gespräch. So, wie sich seine Mitpatienten über Corban gewundert hat ten. Was konnte er tun, um ein Leben hinter Mauern zu vermei den? Wie Doktor Alir gesagt hatte, würde er gesunden. So einfach war das. Er konnte die Fähigkeiten der Telekinese, der Telepathie, der Teleportation und was von einer normalen Person auf dieser Welt noch erwartet werden mochte, erwer ben, seine Entlassung aus der Anstalt erreichen, eine berufliche Laufbahn einschlagen, Doktor Alir heiraten und mir ihr in alle Ewigkeit glücklich leben. Man konnte genausogut von ihm verlangen, er möge unedle Metalle durch Anhauchen in Gold verwandeln oder sein Geschlecht wechseln und den Direktor heiraten was beides
nicht schwieriger sein konnte, als Telekinese, Telepathie oder Teleportation zu meistern. Der verdammte, Hohn ausstrahlende Ballon lag vor ihm auf dem Boden. Er versetzte ihm einen wütenden Tritt und ging zu dem friedlichen Hain hinauf, um den Vögeln zuzusehen. Doktor Alir erschien am nächsten Morgen, bezaubernd schön, lächelnd, zuversichtlich. »Haben Sie geübt?« fragte sie. »Nein.« »Kommen Sie, so schnell dürfen Sie nicht aufgeben. Wir müssen uns vielleicht lange damit beschäftigen.« »Es ist besser, wenn ich Ihnen Bescheid sage«, erklärte Cor ban. »Ich bin nie in der Lage gewesen, diese Dinge zu tun, also werde ich sie auch nie lernen können. Sie würden nur Ihre Zeit verschwenden.« Sie stand vor ihm, stirnrunzelnd, überaus ernst. Nie war sie ihm schöner, nie unerreichbarer vorgekommen. Er war stun denlang hin und her gegangen und hatte versucht, sich zu entscheiden. Die Entscheidung war für ein volles Geständnis gefallen. »Natürlich konnten Sie diese Dinge tun«, meinte sie. »Jede normale Person ist dazu in der Lage. Ihr Gedächtnis -« »Meinem Gedächtnis fehlt nichts. Ich kann Ihnen nicht ge nau sagen, woher ich komme, weil ich es nicht weiß. Ich habe mich verirrt. Aber irgendwo draußen unter den Sternen sind meine Leute, und unter ihnen bin ich völlig normal, weil keiner von ihnen diese Dinge tun kann.« »Im Bericht stand, daß Sie mit einem Raumschiff abge stürzt sind«, murmelte sie. »Mit einem Militärschiff. Ich bin Offizier der WeltraumMarine. Ich verirrte mich, mein Treibstoff ging zur Neige, und dies war der nächsterreichbare Planet.« »In dem Bericht stand, daß das Raumschiff von seltsamer Konstruktion gewesen ist, aber daß es so schwer beschädigt wurde, daß die Fachleute nicht viel damit anfangen konnten«, sagte sie leise. »Man nahm an, daß es sich um eine Art Ver
suchsmodell handle, und die Regierung versucht immer noch, den Ursprung zurückzuverfolgen.« »Es hatte nichts Besonders an sich«, sagte Corban. »Ich ha be solche Schiffe jahrelang geflogen.« Sie wirkte verblüfft, nicht skeptisch. »Ihre Leute fliegen von Stern zu Stern und können trotz dem nicht - sie sind nicht in der Lage -« »Meine Leute bewohnen Hunderte von Welten. Wir sind eine mächtige, fortgeschrittene Rasse und haben eine großarti ge Zivilisation, aber unter meinen Mitmenschen wären Sie ebenso ein Monstrum, ebenso abnormal, wie ich es hier bin.« Würde sie ihm glauben? Er starrte sie besorgt an. Sie zog wieder die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Sie sind Ihrer Sache sicher, nicht währ? Es gab keinen Hinweis - ich meine, Sie würden so etwas nicht erfinden und dann meinen, Sie erinnerten sich daran. Eine interplanetari sche Zivilisation?« Er beantwortete ihre Fragen knapp. Telekinese und Tele portation waren Themen für theoretische Überlegungen bei seinen Mitmenschen, unbekannt in der Praxis. Telepathie war seit tausend Jahren oder noch länger ein Objekt für Experi mente gewesen. Zwar wies manches darauf hin, daß einige Menschen telepathische Kräfte besaßen, aber niemand in solchem Umfang, daß Telepathie zu Zwecken der Verständi gung eingesetzt werden konnte. »Das ist ja entsetzlich!« sagte sie schließlich. »Nicht wahr?« »Ich meine, wenn Sie bei uns bleiben, werden Sie hier ein gesperrt leben müssen. Im Volk herrscht grobes Unverständ nis für solche Dinge. Die Leute sind gegen jeden, der geistig behindert ist, furchtbar voreingenommen. Das Leben draußen wäre für Sie nicht erträglich, außerdem würde es gegen das Gesetz verstoßen, Sie freizulassen. Aber wenn Sie bei Ihren eigenen Leuten ganz normal sind, warum haben Sie mir das nicht längst gesagt?« »Ich wagte nicht, mich jemandem anzuvertrauen. Ich dach te, es würde nur alles verschlimmern. Vielleicht hätte ich es
auch Ihnen nicht sagen sollen. Was kann es für eine Rolle spielen?« »Eine ganz entscheidende sogar. Meine Leute mögen ihre Vorurteile haben, aber sie sind Fremden gegenüber gast freundlich. Wenn Ihnen die Behörden glauben, bin ich über zeugt davon, daß man alle Anstrengungen unternehmen wird, Sie zu Ihren eigenen Leuten zurückzubringen.« Er sah sie zweifelnd an. »Wollen Sie denn das nicht?« fragte sie. Die einzige Frau zu verlassen, die er je geliebt hatte, sie nie mehr wiederzusehen? Aber sie waren ja durch eine Entfer nung getrennt, die sich nicht in Lichtjahren messen ließ. »Doch«, sagte er. »Das ist es, was ich will.« »Dann spreche ich mit dem Direktor.« Corban wurde zu einer neuerlichen Besprechung geholt. Der Direktor war fassungslos. Wo befand sich diese interplanetari sche Zivilisation? Corban konnte es nicht sagen. Er hatte Stunden damit zugebracht, die Sternbilder zu studieren, hatte versucht, die Position dieses Planeten auszumachen, aber der Nachthimmel erschien ihm völlig fremd. Wenn sie vielleicht eine Sternkarte der Galaxis besaßen »Unsere Astronomie steckt nicht gerade in den Kinderschuhen«, sagte der Direktor trocken. Aber Sternkarten waren in einer Irrenanstalt nicht ohne wei teres greifbar. Der Direktor mußte sich eine kommen lassen. Er ließ Corban später wieder zu sich rufen, und Corban brei tete mit einem freudigen Ausruf die riesige Karte auf dem Boden aus. Der Direktor und Doktor Alir sahen erstaunt zu, als er die Galaktische Föderation bezeichnete und beschrieb: die Grenzen, wo Welten entdeckt, erforscht und von mutigen Pionieren besiedelt wurden; die grandiosen, dicht bevölkerten Regionalzentren; den ehrwürdigen alten Planeten Erde, wo sich der Regierungssitz der Föderation befand. Der Direktor sagte schwach: »Diese Milliarden Menschen Sie sagen, sie seien alle abnormal?« Corban lächelte kühl.
»Von Ihrem Standpunkt aus gesehen, sicher. Aber unter schätzen Sie sie nicht. Für Abnormale halten sie sich recht gut.« »Man hat den Eindruck«, gab der Direktor zu. »Wo befindet sich dieser Planet?« fragte Corban. Der Direktor zeigte es ihm und wies auf die Positionen von etwa hundert Planeten, aus denen die Donirische Zivilisation bestand, weit jenseits der Grenzen der Föderation. Corban war entsetzt darüber, wie weit er abgeirrt war, amüsierte sich aber auch über die begrenzten Gebiete des Weltraums, die diese überlegenen Wesen beherrschten. »Ihre Zivilisation kann nicht sehr ehrgeizig sein«, meinte er grinsend. Der Direktor hob die Schultern. »Wachstum ist nicht eine Sache der Größe«, sagte er. »Es deutet nur auf mangelnde Zurückhaltung.« Corban lehnte sich betroffen zurück und beantwortete Fra gen über die Galaktische Föderation. Der Direktor legte ihm tiefschürfende Fragen vor, schüttelte bei den Antworten den Kopf und machte sich Notizen. Corban erkundigte sich am Schluß der Sitzung, ob man ihn zu seinen eigenen Leuten zurückschicken werde. Der Direktor konnte nichts verspre chen. Er erklärte, er könne lediglich die Informationen an die höheren Behörden weitergeben und Corbans Ersuchen er wähnen. Er hielt die Bitte jedoch für völlig vernünftig und meinte, man werde sich bestimmt damit befassen. »Ich bin sicher, daß sehr bald etwas geschehen wird«, sagte Doktor Alir. »Wir werden Sie vermissen.« In der ersten Aufregung über die Aussicht auf eine Heimkehr versuchte er, einigen Mitpatienten von seiner Herkunft zu erzählen. Sie hörten stumm zu und wandten sich achselzuk kend ab. Was jenseits der Barriere geschah, die das Irrenhaus umgab, betraf sie nicht. Die Tage schleppten sich mühsam dahin. Es gab keine Ge heimnisse mehr zu enträtseln. Doktor Alir hielt keine Lehr stunden mehr ab. Er sah sie oft. Er wußte genug über ihr tägliches Pensum und konnte es so einrichten, daß sich ihre
Wege oft kreuzten. Aber sie hatte viele Pflichten, und er besaß keinen Anspruch mehr darauf, ihre Zeit mit Beschlag zu belegen. Oft bedauerte er, von seiner Herkunft gesprochen zu haben. Er hätte warten und so tun können, als plage er sich mit der Therapie ab, um so zu erreichen, daß sie sich ihm praktisch ständig widmete. Sein Geständnis hätte hinausgeschoben werden können, bis man seinen Fall erneut amtlich für hoffnungslos erklärte. Aber das wäre unehrlich gewesen, und ein anständiger Mann, so sagte er sich, ist zu der Frau, die er liebt, nicht unehrlich. Die Tage vergingen. Er verbrachte die meiste Zeit im Hain auf dem Hügel, und er lag wieder einmal in der Nähe eines klei nen Wasserfalls und lauschte verträumt dem Rauschen des Was sers, als er zwei Patienten durch das Feld auf sich zukommen sah. Als sie näher kamen, sah er bei einem flammend rotes Haar. Er erkannte die beiden. Es waren die Patienten, die er bald nach seiner Ankunft mehrmals im Park gesehen hatte. Sie blieben stehen, als sie ihn sahen, besprachen sich kurz und traten vor. Er stand auf und wartete. Sie gingen langsam auf ihn zu. Er entbot den donirischen Gruß, aber sie reagierten nicht. Das Gesicht des Rothaarigen war blaß und verzerrt, als sei er schwer krank. Der ältere Mann wich Corbans Blick aus, zupfte nervös an einem Ärmel und trat von einem Fuß auf den anderen. »Suchen Sie etwas?« fragte Corban. Der Rothaarige sprang vor. »Dich!« brüllte er. »Du Verräter!« Seine Faust traf Corbans Gesicht und schleuderte ihn nach hinten. Corban stolperte über eine Wurzel und stürzte zu Boden. Er blieb halb betäubt liegen, nicht von der Wirkung des Schlages, sondern von den Worten. Die Worte waren in Galaktisch, der offiziellen Sprache der Galaktischen Föderation, herausgestoßen worden. Halb erstickt vor Wut sprang ihm der Rothaarige nach. Er stieß mit dem Fuß nach Corban und hätte sich auf ihn gestürzt, wenn sein Begleiter nicht nachgeeilt wäre und ihn zurückgerissen
hätte. Der Rothaarige vergrub das Gesicht in den Händen und be gann zu schluchzen. »Wir sollten ihn umbringen«, stieß er hervor. »Wir sollten ihn umbringen.« »Das würde nichts nützen«, meinte der andere müde. »Er kann nichts dafür.« Corban stand langsam auf. »Sie sind von der Föderation?« fragte er. Der ältere Mann nickte bedrückt. »Wenn wir das gewußt, wenn wir das nur geahnt hätten, wäre es nicht soweit gekommen. Der Name Paul er allein hätte genügen müssen. Aber die Geschichte mit dem Unfall wirkte so plausibel, daß wir uns täuschen ließen. Eigentlich sind wir selbst schuld. Wir hätten es riskieren müssen. Ein paar Worte Galaktisch hätten nichts geschadet. Wenn Sie nichts verstanden hätten, wäre die Sache erledigt gewesen. Wir hätten es versu chen sollen. Jetzt ist es zu spät.« »Ich verstehe leider nicht. Würden Sie mir vielleicht erklären.« »Klar«, sagte der Rothaarige. »Können wir. Sie sind ein Verrä ter.« »Das hat doch keinen Sinn«, murmelte der andere. »Wie ist Ihr Nachname, Paul?« »Corban.« »Paul Corban. Das ist Miles Fletcher, und ich heiße Roger Froin. Ich bin seit etwa vierundzwanzig Jahren galaktischer Zeit in dieser Anstalt. Fletcher befindet sich seit zwei Jahren hier. Wir sind insgesamt zehn Leute. Zehn von der Föderation, die aus diesem oder jenem Grunde so weit verschlagen wurden. Man stufte uns als Schwachsinnige ein und brachte uns hier unter. Die meisten Patienten werden als Kinder eingeliefert, so daß es selten vorkommt, daß ein Erwachsener auftaucht. Nur etwa einmal im Jahr, und die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, daß der Erwachsene von der Föderation stammt. Ich habe mich seit Jahren mit allen neuen Erwachsenen in Verbindung gesetzt. Wenn sie von der Föderation sind, werden sie in unsere Gruppe aufgenommen. In Ihrem Fall hätten wir es auch
versuchen sollen. Aber dieser Unfall -« »Wenn Sie es nur getan hätten«, sagte Corban. »Hier ist es sehr einsam, wie Sie wissen. Ich verstehe aber nicht, wieso das eine so große Rolle spielen soll.« »Warum haben Sie das getan?« fuhr ihn der Rothaarige an. »Was getan?« »Den Leuten vom Krankenhaus erzählt, woher Sie kom men?« »Das ist doch bestimmt nicht schädlich«, meinte Corban. »Doktor Alir und der Direktor nehmen an, daß die Regierung für meine Rückführung sorgen wird. Wollen Sie denn nicht nach Hause?« »Sie verstehen diese Leute nicht«, sagte Froin. »Sie haben nur im Krankenhaus Erfahrungen mit ihnen gemacht, wo man vermutlich versucht hat, Sie zu heilen, und hier in einer Anstalt für Geisteskranke, wo das Personal ein besonderes Interesse für Schwachsinnige hat und sehr human und mitfüh lend ist. Die Leute vom Personal tragen ihre Überlegenheit nicht zur Schau, wissen Sie. Man ertappt sie nie dabei, daß sie Psi-Kräfte einsetzen, obwohl sie vermutlich die ganze Zeit über telepathisch miteinander in Verbindung stehen. Aber die Masse der Bevölkerung verabscheut uns. Wir besit zen keine übersinnlichen Kräfte wie sie. Wir sind etwas Un reines. Etwas Verrottetes. Ich wurde dreimal zusammenge schlagen, bevor ich jemandem in die Hände fiel, der gütig genug war, mich hierher zu schicken, und einmal hätte es mich beinahe das Leben gekostet. Haben Sie sich nie überlegt, warum Leute, die abgesehen vom Mangel an Psi-Fähigkeiten geistig völlig normal sind, hier eingesperrt und von einer ganzen Armee bewacht werden? Doch nur deshalb, weil man sie für Kriminelle hält, die kein Recht darauf haben, mit den anderen zusammenzuleben. Für die Donirier ist ein Gehirn, das telepathisch nicht reagiert, etwas Erschreckendes. Ein wahnsinniges Gehirn, ein gefährliches Gehirn, etwas, das man sich nicht vorstellen kann. Dasselbe gilt für die anderen PsiKräfte. Deshalb haben wir unsere Herkunft so sorgsam ver schwiegen und widerstandslos hingenommen, daß man uns
einsperrt.« »Mir kamen sie aber sehr freundlich vor«, wandte Corban ein. »Die Ärzte -« »Mann kann doch erwarten, daß wenigstens die Ärzte eine Spur von Verständnis für geistige Erkrankungen aufbringen, oder? Sie kennen aber die Masse der Bevölkerung nicht. In dieser Hinsicht hatten Sie Glück. Wir wissen von einigen unserer Leute, die es nicht bis zu dieser Anstalt geschafft haben. Sie wurden getötet gelyncht nennt man das, nicht wahr, und zwar von den ersten Doniriern, denen sie begegne ten. Das ist die Humanität dieser Leute.« »Sie haben ihnen alles über die Föderation erzählt?« fragte der Rotschopf. »Ja«, gab Corban zu. »Sie haben ihnen gesagt, wo sie ist?« »Ich ja.« »Sehen Sie denn nicht, was Sie getan haben? Wenn Ihnen die Behörden glauben, werden sie entsetzt sein. Außer sich vor Schrecken, weil Sie eine ganze interplanetarische Zivilisati on beschrieben haben, die ausschließlich von gefährlichen Geisteskranken bevölkert ist. Sie werden sich nicht in der Lage sehen, eine derartige Bedrohung hinzunehmen. Sie werden zu ihrer überlegenen Wissenschaft greifen und einen Krieg beginnen. Und sie werden nicht aufhören, bis sie die Föderation ausgelöscht haben. Das bedeutet das Ende der Menschheit.« Corban trat zurück und lehnte sich an einen Baum. »Ist es wirklich so schlimm?« »Leider ja«, sagte Froin. »Sie werden unsere Leute in Käfige wie diesen sperren und die Fortpflanzung verhindern, oder sie werden sie töten. So oder so, sie werden die Galaxis von gewöhnlichen Menschen säubern.« »Das habe ich nicht gewußt.« »Sie können nichts dafür. Wir hätten uns an Sie wenden müssen. Früher oder später mußte das sowieso passieren, so, wie sich die Föderation ausbreitet, aber wir wollten es verhin dern, solange es ging. Je mehr Zeit wir der Föderation ver
schaffen konnten, desto größer wurde die Aussicht, daß sie neue Waffen entwickeln würde. Sie wird, weiß Gott, alles brauchen können, was sie kriegen kann.« »Jetzt können wir wohl nichts mehr tun?« »Ich weiß es nicht«, meinte Froin. »Glauben Sie, Sie könn ten ihnen einreden, daß Sie gelogen haben? Eine interplaneta rische Zivilisation aus Geistesschwachen mag ihnen doch recht phantastisch vorkommen. Vielleicht glaubt man Ihnen, wenn Sie sagen, daß Sie das erfunden haben.« »Ich versuche es.« Froin umklammerte Corbans Schulter. »Tun Sie, was Sie können. Es ist schwer, ein Held oder Märtyrer zu sein, wenn niemals jemand etwas davon erfahren wird. Glauben Sie mir, ich weiß das, weil ich mich schon lange damit beschäftige. Aber es könnte die letzte Gelegenheit für Sie sein, etwas für Ihre Mitmenschen zu tun. Und denken Sie daran, gleichgültig, welche Version sie glauben, sie werden «Sie nicht zurückschicken. Sie nähern sich unserer geisteskran ken Zivilisation nicht, bis sie ihr ein Ende bereiten wollen.« Sie trennten sich am Fuß des Hügels, und Corban eilte zu seiner Unterkunft zurück. Er ging sofort zu den Verwal tungsbüros. Der Direktor war nicht erreichbar. Doktor Alir war nicht erreichbar. Er hinterließ, daß er Doktor Alir zu sprechen wünsche, und kehrte in sein Zimmer zurück. Er lag auf dem Bett und starrte düster an die Decke, als sie vor ihm erschien. Als er aufstand, warf sie sich in seine Arme und begann hemmungslos zu weinen, den Kopf auf seiner Schulter. Einen Augenblick lang vergaß er die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe für sie, vergaß alles bis auf ihre Gegenwart in seinen Ar men. Aber sein Verstand weigerte sich, ein Wunder unbesehen zu akzeptieren, selbst ein Wunder, das die Entfernung zwischen ihnen überbrückt hatte. »Was ist?« flüsterte er. »Was ist los?« Schluchzend berichtete sie. Corbans Bitte hatte die höchsten Regierungsstellen erreicht. Man hatte sorgfältig überlegt, die Glaubwürdigkeit geprüft und erneut geprüft, bis man zu der
Überzeugung gelangt war, daß alles auf Wahrheit beruhte. Jetzt war man entschlossen, danach zu handeln. Das bedeutete Krieg.
ZWEITER TEIL
Die >Silver Flash< war ein Kurierschiff vom Typ >11 C<, unterwegs zu einem Routineflug. Die Besatzung bestand aus zwei Personen. Der zweite Mann stellte das Zugeständnis an die Ergebnisse der kürzlich abgeschlossenen und überaus peinlichen Untersuchung dar, bewies aber auch die Besorgnis der Militärs über das geheimnisvolle und unerklärliche Ver schwinden einer Anzahl der kleinen Raumschiffe. Die >Silver Flash< befand sich auf einem Kurs parallel zu und beträchtlich innerhalb der >Kluft<, wie man die Grenze des amtlich vermessenen und kartographierten Weltraums bei der Marine nannte. Fähnrich Carter an der Steuerung lauschte mürrisch den Schnarchgeräuschen, die Fähnrich Devine in der einzigen Koje des Raumschiffes von sich gab, und murrte Grimmiges vor sich hin. Die Weltraum-Marine mußte unter dem Befehl von Idioten stehen, dachte er. Die Bonzen unternahmen nichts, bis genug Leute verschwunden waren, und räumten dann ein, daß ein Ein-Mann-Kurierschiff nicht genügend Sicherheit bot. Was tat man also? Baute man ein Raumschiff für zwei Mann Be satzung? Nein. Man packte zwei Mann in ein Ein-MannSchiff. Ein Mann, der mit höchstem Einsatz arbeitete, kam mit dem Ding nicht zurecht, also mußten zwei Mann, die mit vielleicht halbem Einsatz arbeiteten, ein feines Leben haben. Er hieb wütend auf die Instrumententafel und sah besorgt zu Devine hinüber. Devine schnarchte weiter. »Ich hätte zur Post gehen sollen«, murmelte Carter. »Bei der Post erlaubt man sich solche Sachen nicht.« Er war so verbittert, so in seine Gedanken versunken, daß es eines warnenden Zurufs von Devine bedurfte, um ihn darauf aufmerksam zu machen, daß die Steuerkonsole Alarmzeichen gab. »Was ist los?« fragte Devine. Carter starrte seine Instrumente an, ließ die Drehantenne
rotieren und fluchte. »Hast du etwas davon gehört, daß die Flotte hier draußen Manöver abhält?« »Nein.« »Das tut sie aber.« »Unsinn! Das Geschwader 1105 ist immer noch auf Qualo. 1392 ist unterwegs nach Gurnoy. Die halten doch hier keine Manöver ab, ohne die beiden Geschwader einzuschalten.« »Doch«, sagte Carter. »Das heißt -« Devine kroch aus der Koje, rammte dabei Carters Kopf und stieß sich auch noch den eigenen Schädel am Kartenrah men an, als er ausweichen wollte. >»Das heißt< was?« fragte er scharf. »Das heißt, irgendeine Flotte ist es jedenfalls«, erwiderte Carter betroffen. »Stimmt«, sagte Devine nach einem Blick auf die Ortungsgerä te. »Irgendeine, aber nicht die unsrige. Die Schiffe sind flach, wie du siehst, und die großen haben Höcker. Schau, sie drehen ab, um uns den Weg abzuschneiden! Kehr um! Kehr sofort um! Drück auf die Tube, Mensch, während ich mich melde.« Carter befaßte sich schwitzend und erregt mit seiner Steue rung, während Devine eine Nachricht durchgab. >»Silver Flash< 11 C 964 B 46 ruft Stützpunkt Qualo und alle Abhörstationen. Aufzeichnen und weitergeben. Dringend. Unbekannte Schlachtflotte gesichtet. Position... Auf Kurs... Schätzungsweise fünfzig Schiffe, Größe Schlachtkreuzer und größer, mit Hilfsfahrzeugen. Schiffe von flacher Form, größere Schiffe besitzen oben Waffenoder Beobachtungstürme. Wir werden jetzt verfolgt. Wiederhole. Wir werden verfolgt. Die großen Schiffe sind wirklich groß. Ende.« Er sah Carter an. »Wie geht es?« »Fang an zu beten, wenn du ein wirksames Stoßgebet kennst.« »Wir waren in Schußweite. Verdammt, wir waren in Schuß weite, als wir sie entdeckten. Warum haben sie nicht geschos sen?« »Wir wissen ja nicht, welche Reichweite ihre Waffen haben.«
»Das ist ein Gedanke«, sagte Devine. »Könnte wichtig sein. Das gebe ich weiter. Sonst noch etwas?« »Vielleicht wollen sie gar nicht schießen. Vielleicht wollen sie uns gefangennehmen.« »Wenn das Krieg bedeutet«, sagte Devine, »und das ist be stimmt der Fall, wenn eine fremde Schlachtflotte im Gebiet der Föderation kreuzt, werden sie Gefangene machen wollen. Im Augenblick müßte aber das Überraschungselement wichtiger sein. Sie werden verhindern wollen, daß wir plaudern. An ihrer Stelle hätte ich sofort bei Kontakt gefeuert. Rücken sie näher?« »Ja.« »Sie haben zu lange gewartet. Jemand wird uns hören. Aber für alle Fälle >Silver Flash< 11 C 964 B 46 ruft Stützpunkt Qualo und alle Abhörstationen. Aufzeichnen und weiterge ben...« Grünes Feuer brodelte vor ihnen auf. Carter schrie auf und änderte den Kurs. Devine beschrieb grimmig, was sich ereig net hatte, und beendete den Funkspruch. »Das war eine Warnung«, sagte Carter. »Wir sollten uns er geben. Was meinst du dazu?« »Ich kann nicht sagen, daß ich begeistert bin. Der Himmel weiß, wie lange ein Krieg dauern wird, und vielleicht weiß nicht einmal er, was für Wesen das sein mögen. Jahrelange Sklaverei in ihrem Gefangenenlager würde mir nicht behagen.« »Nur schade, daß die Marine diese Flitzer nicht bewaffnet hat.« »Stimmt«, sagte Devine. »Ich hätte nichts dagegen, kämpfend unterzugehen, wenn wir etwas hätten, womit wir kämpfen könnten.« »Haben wir.« »Was?« »Die >Silver Flash<.« »Mhm, nicht schlecht. Wenn wir eines dieser Schiffe in der Nähe des Antriebs rammen könnten, wäre es sicher aktionsun fähig. Mit Glück können wir sogar -« Das grüne Feuer brodelte wieder vor ihnen. »Umkehren?« sagte Carter. »Gut. Kein schlechter Tausch. Wir
zwei und eine >11 C< gegen einen dieser aufgeblähten Schlacht kreuzer nebst Besatzung. Gar nicht zu reden von möglichen Schäden an benachbarten Schiffen. Gar nicht schlecht.« Devine gab eine weitere Meldung durch. Er beschrieb die Schiffe und die Zusammensetzung der Flotte im einzelnen und schätzte die maximale Geschwindigkeit der Verfolger. »Letzte Meldung«, sagte er ruhig. »Gefangennahme unver meidlich. Werden Kollisionskurs mit größtem Schlachtschiff, das hoffentlich auch Kommandoschiff ist, versuchen. Grüße an unsere Verwandten. Ende.« »Wozu das?« fragte Carter. »Damit meine alte Mutter einen Orden bekommt«, meinte Devine nüchtern. »Jetzt müssen wir uns aber gründlich vorbe reiten. Mehr als eine Chance bekommen wir nicht.« Einige Minuten später, nachdem die >Silver Flash< die Ge schwindigkeit verringert hatte, wie um ein Enterkommando an Bord zu lassen, schoß sie plötzlich los, wendete in irrem Bogen, fegte durch den feindlichen Verband und raste in das größte Schlachtschiff. Die sengende, vernichtende Explosion durchbebte die benachbarten Schiffe und durchlöcherte ihre Rümpfe mit todbringenden, geschoßartigen Überresten. Aus einem Raumschiff weit hinter der Flotte sandte der VizeBefehlshaber der Flotte einen dringenden Gedanken an seinen Vorgesetzten, ohne Antwort zu bekommen. Sein nächster Gedanke verständigte die Kommandeure der einzelnen Ein heiten davon, daß er den Oberbefehl übernommen hatte. »Man hat uns mitgeteilt«, erklärte er mit stoischer Ruhe, »daß diese Wesen geistig entartet sind. In Zukunft muß mit derartigen Wahnsinnstaten gerechnet werden.« Irgendwo mochte es noch Schöneres geben die Feuerinseln von Wrannis, zum Beispiel, oder das Farn-See-Gebiet auf einem der kleinen Planeten der Hinlin-Gruppe, aber wenn die Sonne voll auf den Riesenpla neten Orn schien und seine wirbelnden, strudelnden Gase ein wildes Kaleidoskop von Farben boten, sahen die Besucher auf dem kleinen Satelliten mit dem Namen >Regenbogen< dem Schauspiel mit angehaltenem Atem zu und erklärten, ohne den Blick abzuwenden, daß sie noch nie etwas so Schönes
gesehen hätten. Die Aktionäre der >Regenbogen GmbH< versicherten ein ander hoffnungsfroh, daß der kleine Mond eines Tages alle anderen Erholungsorte übertreffen werde. Zur Zeit war er noch ein preiswerter Zwischenaufenthalt am Ende eines langen Weltraumflugs. Flitterwöchner und Ehepaare im Ruhestand begannen ihn jedoch schon zu entdecken, und die Zukunft sah rosig aus. Für Sue Lyle, geborene Corban, die sich wohlig in den Arm ihres Ehemannes kuschelte und von der durchsichtigen Beob achtungskuppel ihrer Flitterwochensuite aus die Wunder von Orn betrachtete, sah die Zukunft mehr als rosig aus. Auch die Gegenwart wäre vollkommen gewesen, wenn nicht... »Glaubst du, das geht?« fragte sie. Jim Lyle streichelte ihre Schulter und erklärte sich bereit, für das Glück seiner jungen Frau alles zu besiegen. »Es wird zwar nicht einfach sein, aber wenn du hinwillst, fliegen wir hin.« »Ich möchte so gern. Paul und ich hingen aneinander. Ich wußte, daß er zur Hochzeit nicht kommen konnte, aber es ist so merkwürdig, daß er nicht wenigstens schreibt oder Glück wünsche schickt. Ich dachte, vielleicht überrascht er uns und besucht uns hier, weil die Entfernung von Qualo gar nicht so groß ist und ich ihm natürlich gesagt habe, daß wir hierher kommen.« »Wir haben Zeit genug«, meinte Jim Lyle. »Warum warten wir nicht noch eine Woche? Wenn du dann immer noch nichts gehört hast, können wir uns noch entscheiden. Ein Marineoffizier kann nicht ohne weiteres weg, wann er möch te.« »Danke, Liebling«, flüsterte sie und küßte ihn. Jim Lyle streichelte beruhigend seine junge Frau und brach te es fertig, seine innere Unruhe zu verbergen. Er war der Meinung gewesen, daß sich sein frischgebackener Schwager seiner Lieblingsschwester gegenüber sehr ruppig benahm, und hatte deshalb gleich nach ihrem Eintreffen auf dem kleinen Mond eine Nachricht abgesandt. Als die Antwort ausblieb,
hatte er sich an den kommandierenden Offizier vom Stütz punkt Qualo gewandt. An diesem Morgen war die Antwort eingetroffen. Paul Corban war als vermißt gemeldet, und zwar schon seit Mona ten. Die Galaxis war zwar riesengroß, und Vermißte tauchten auch nach langer Abwesenheit oft unversehrt wieder auf, aber man mußte ihn für tot halten, und seine Familie war entspre chend unterrichtet worden. Lyle wußte daher, daß Sues Eltern ihr die traurige Nachricht vorenthalten hatten, damit ihre Hochzeit nicht unter dem Schatten dieser Tragödie stand. Er wußte auch, daß man es ihr sagen mußte, bevor sie >Regenbogen< verließen, weil sie sonst darauf bestehen würde, auf dem Heimweg Qualo aufzu suchen. Aber er wollte es hinausschieben, solange es nur irgend möglich war. »Jim!« rief Sue. »Schau!« Lyle hob den Kopf. Der Himmel war voller Raumschiffe. General Thaddeus O’Conner war in Sorge. Entlang der Grenze war der Teufel los. Innerhalb der nächsten drei Tage sollte sich ein Angriff von drei Seiten auf diesen Planeten Willar richten. Die Invaso ren schluckten Planeten mit unglaublicher Leichtigkeit. Den Berichten zufolge wurde jeglicher Widerstand auf Zernik in nicht einmal zehn Stunden gebrochen. Jeglicher Widerstand. Lächerlich! Noch Wochen nach der Kapitulation eines Planeten mußten sich Widerstandsnester hart verteidigen und den Feind stören können. Aber das war nicht der Fall. Nicht auf Zernik, und auch nirgends sonst, wo die Invasoren landeten. Und nun hatten sie ein beachtliches Stück Föderationsge biet herausgeschnitten und sollten sich auf Willar stürzen. O’Conners 392. Korps war verstärkt worden. Irgendwo drau ßen wartete das 1105. Marinegeschwader, um den Feind entweder abzufangen oder in einer peinlichen Situation zu überraschen, wenn er anrückte. Aber O’Conner ließ sich nicht täuschen. Man stellt nicht ein Korps, und mochte es noch so verstärkt
sein, und ein Geschwader der Flotte gegen drei zusammenlau fende Feindflotten mit einer Armee von unsagbarer Schlag kraft und großer zahlenmäßiger Übermacht. Jedenfalls nicht dann, wenn man siegen wollte. O’Conners Korps und das 1105. Geschwader galten als verlorener Haufen. Man erwarte te von ihnen, daß sie die Invasoren einer scharfen Kampfes probe unterzogen, Informationen über feindliche Waffen und Taktik sammelten und für diesen unglücklicherweise wichtigen Planeten einen schrecklichen Preis forderten. Inzwischen versammelte sich, irgendwo in ihrem Rücken, die Flotte, die Armee errichtete Befestigungen, und das Oberkommando entwarf Pläne für einen Überlebenskrieg. O’Conners Korps war für diese Aufgabe eigens ausgesucht worden, was vermutlich als Ehre gelten sollte, wenn man ein Todesurteil als Ehre ansehen konnte. »Captain William Corban ist hier«, tönte es aus dem Laut sprecher. »Schicken Sie ihn herein«, sagte O’Conner. Der Captain trat ein und salutierte. Sein junges Gesicht wirkte völlig erschöpft; den linken Arm trug er in einer Schlinge. O’Conner wies auf einen Stuhl, und Corban sank hinein, straffte aber sofort die Schultern. »Ruhen Sie sich aus, Captain«, sagte O’Conner. »Sie haben sich eine Ruhepause verdient, aber leider müssen wir arbeiten. Ich habe auf Sie gewartet. Unsere Mission hier ist Ihnen klar?« »Ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen, Sir«, erwiderte Cor ban. »Dann war es tapfer von Ihnen, sich freiwillig zu melden«, sagte O’Conner trocken. »Wie viele von Ihnen konnten von Zernik entfliehen?« »Etwa vierzig Mann, Sir. Ein Schiff. Es mag noch andere ge geben haben, aber ich weiß nichts davon.« »Ich auch nicht«, sagte O’Conner. »Das Hauptquartier hätte uns aber mehr als einen Mann schicken können. Ich nehme an, daß die anderen ausgefragt werden. Corban, wogegen kämpfen wir eigentlich?« »Gegen Gespenster«, erwiderte Corban sofort. »Wir hatten
auf Zernik eine Verteidigungslinie aufgebaut. Wir sollten ihren Brückenkopf umzingeln. Als der Kampf begann, wurden wir von vorne und im Rücken angegriffen.« »Dann trifft es also zu, daß sie etwas mehr als Menschen sind. Oder weniger.« »Ja. Sie haben keinen Funkverkehr, aber ihre Verständigung klappt reibungslos. Telepathie. Sie tauchen plötzlich aus dem Nichts auf. Kaum blinzelt man, schon stürmt eine ganze Kompanie heran, wo einen Augenblick zuvor kein Gegner stand. Teleportation. Sie haben eines unserer Geschütze der Mannschaft buchstäblich aus den Händen gerissen und vierzig Meter versetzt, ohne es zu berühren oder auch nur in seine Nähe zu kommen. Dann schössen sie damit auf uns. Telekinese. Es mag noch mehr solcher Dinge geben, aber das waren die auffälligsten.« »Und ihre Waffen?« »Durchaus mittelmäßig, Sir. Aber bei solchen Soldaten braucht man keine überlegenen Waffen.« »Wenn unsere Waffen besser sind, werden sie sie wohl auch benützen«, meinte O’Conner nachdenklich. »Erbeutet haben sie ja genug. Tja, wie bekämpfen wir sie?« »Ich weiß, wie ich sie bekämpfen würde, Sir.« Corban sah dem General ins Gesicht. »Ich würde den ganzen verdamm ten Planeten mit kleinen Verteidigungsnestern übersäen. Man kann keine Front gegen sie aufbauen. Eine Minute nach Kampfbeginn muß man sich nach allen Richtungen verteidi gen. Ein kleines Widerstandsnest, in konzentrischen Kreisen aufgebaut, könnte sich jedoch halten, solange die Vorräte reichen. Der äußerste Kreis wäre die Frontlinie. Die inneren Kreise würden sich nur mit den >Gespenstern< befassen, die innerhalb des Umkreises auftauchen. Die Artillerie gehört in den Mittelpunkt, wo die >Gespenster< sie nicht so schnell stehlen werden. Sie scheinen Geschütze nicht an sich bringen zu können, bis ein Trupp von ihnen fünfzig Meter oder so herankommt.« O’Conner hob hilflos die Hände. »Ich habe zehn Divisionen. Der Planet ist zwar klein, aber
mit zehn Divisionen kann ich nicht viel anfangen.« »Sie brauchen für jedes Zentrum nicht viele Leute, Sir. Ein Bataillon könnte schon zu groß sein. Wenn die Stellung zuviel Platz einnimmt, verteilt sich die innere Verteidigung auf eine zu große Fläche, und die >Gespenster< können eindringen. Ein, zwei Kompanien, das wäre ideal. Man könnte die Stel lungen so anlegen, daß sich die Schußfelder ihrer Geschütze überschneiden.« O’Conner kippte seinen Sessel nach hinten und zerrte ver zweifelt an den Resten seiner Haare. »Immerhin ein Gedanke. Bisher der einzige, den wir gehört haben. Mein Stab tritt eben zusammen. Er kann sich damit befassen. Wahrscheinlich werden wir die Stellungen beziehen müssen, so gut es geht, und den Rest des Planeten aufgeben.« »Wenn ich eine persönliche Frage stellen darf, Sir gibt es Nachrichten von Qualo?« »Nicht, daß ich wüßte. Qualo lag etwas außerhalb der Hauptstoßrichtung des Angriffs. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal gehört, daß es angegriffen worden wäre. Diese >Ge spenster< mögen übernatürliche Kräfte besitzen, aber sie führen auf sehr konservative Weise Krieg. Warum fragen Sie?« »Mein jüngerer Bruder ist auf Qualo stationiert. Offizier. Da Qualo direkt an der >Kluft< liegt, habe ich mir Sorgen um ihn gemacht.« »Bisher ist dort alles ruhig geblieben. Ich erkundige mich aber gerne. Name?« »Fähnrich Paul Corban. Aber lassen Sie nur, Sir. Wenn Qualo nicht angegriffen worden ist, kann ihm ja nichts passiert sein.« Sue Lyle stützte sich auf ihre Harke und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Gesicht und Arme waren sonnenverbrannt, die Haut löste sich, ihre Hände waren verarbeitet und schmutzig, ihre Füße nackt. Sie trug ein dünnes, sackähnliches Kleid, sonst nichts. Das Gemüsefeld, dem sie zugeteilt worden war, erstreckte sich in ein kleines Tal hinunter, wo sie jetzt stand, neben einem kleinen Bach. Sie versuchte ihre Arbeit so einzuteilen, daß sie während der Mittagshitze im Tal sein konnte. Dort
war es kühler, und sie freute sich über die Einsamkeit so sehr wie über die Kühle. Dadurch entkam sie dem leeren Ge schwätz der Frauen, die in der Nähe arbeiteten, und war auch außer Sichtweite der seltsamen, nichtmenschlichen Soldaten, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten und lüstern den Körper anstarrten, der durch das dünne Kleid nur unzuläng lich verhüllt war. Hier konnte sie also mit ihren Gedanken allein sein und sich auch ein wenig ausruhen. Jim. Sie fragte sich, wo Jim jetzt sein mochte, was er tat. Sie war überzeugt davon, daß es ihm gut ging, wo er auch sein mochte. Es mußte ihm gut gehen! Keiner der Frauen hatte man etwas getan. Die Soldaten hatten sie aus Jims Armen gerissen, er war in ein Raumschiff, sie in ein anderes getrieben worden, und dann hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sues Raumschiff hatte die Frauen auf diesen Planeten ge bracht, der nicht unerfreulich war, aber die Soldaten hatten ihnen auf brutale Weise klargemacht, daß sie nicht hier waren, um sich zu amüsieren. Man teilte ihnen in großen Schlafräu men Betten zu und zwang sie zur Feldarbeit. Und während die Tage vergingen, traf eine endlose Reihe von Schiffen ein, stets mit Frauen beladen. Sie mußten hart arbeiten, wurden aber nicht unfreundlich behandelt und hatten genug zu essen. Wenn sie nur gewußt hätte, wo Jim war, wie es ihm ging ... Sie drehte sich hastig um. Einer der seltsamen Soldaten stand in der Nähe und feixte sie an. Sie wich entsetzt zurück. Sie hatte hier noch nie einen der Soldaten gesehen und war beim Faulenzen ertappt worden. Vielleicht würde sie jetzt einen Tag lang nichts zu essen bekommen, wie einige der anderen Frauen, wenn sie nicht genug gearbeitet hatten. Er ging ihr langsam nach. »Was wollen Sie?« stieß sie hervor, obwohl sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, mit ihnen zu reden, weil sie nie sprachen. Er schaute sich vorsichtig um und stürzte sich plötzlich auf sie. Sie kreischte und wehrte sich verzweifelt, aber er stieß sie zu Boden und riß ihr das Kleid vom Leib. Und plötzlich war er verschwunden, so schnell, wie er aufgetaucht war.
Sie setzte sich auf. Ihr Gegner stand einige Meter entfernt und wand sich vor Angst. Ein zweiter Soldat stand neben ihm, ein Offizier, und während Sue zusah, zog der Offizier gelassen eine Waffe und erschoß den Soldaten. Er ver schwand, ohne Sue anzublicken. »Denk nicht mehr daran, Kleines«, sagte eine alte Frau später, als Sue schluchzend berichtete. »Er hat dir nichts getan, und darüber kannst du froh sein. Sonst wärst du auch erschossen worden.« »Aber warum denn nur?« ächzte Sue. »Verstehst du denn nicht? Ist doch ganz klar. Außerdem arbeitet meine Dot in ihrem Hauptquartier, und sie lernt ihre Sprache und kennt sich genau aus. Jeder Soldat, der eine von uns anrührt, wird erschossen, vielleicht auch die Frau. Sie halten sich für weit überlegene Wesen und wollen nicht, daß eine Blutvermischung eintritt. Sobald sie können, holen sie Frauen her, die uns bewachen können, damit kein Risiko mehr besteht. Und es ist auch kein Zufall, daß sie alle weiblichen Gefan genen hierherbringen und alle männlichen Gefangenen nach Frains schaffen«, fuhr die Frau fort. »Wehe dem Mann, der hier, wehe der Frau, die dort gefunden wird. Es ist nämlich so, daß wir keine Nachkommen mehr haben dürfen.« »Der Major ist ein komischer Kauz«, sagte Schütze Ma neski. »Vielleicht, weil er noch nicht lange Major ist«, meinte Schütze Cushman. Schütze Maneski starrte in die Zielvorrichtung seines Gewehrs. Der Boden fiel vom Graben aus sanft ab. Ein Bach schlängel te sich durch die Felder vor ihm. Die Landschaft war bei Tag versengt und trostlos, aber das künstliche Mondlicht verlieh ihr elegische Schönheit. Sie erinnerte ihn auf irgendeine Weise an sein Zuhause: Er seufzte und starrte wieder durch die Zielvorrichtung. Er hatte alle Merkmale in seinem Schußbereich im Gedächtnis. Sonst gab es nichts zu sehen und auch nichts zu beschießen.
»Wenn nur die Ziegen wiederkämen«, meinte Cushman. »Dann hätten wir frisches Fleisch.« »Du bekommst jeden Tag frisches Fleisch.« »Aber nicht mehr lange. Ich habe das dumpfe Gefühl, daß der Krieg noch lange dauern wird.« »Der Major ist ein komischer Kauz, weil er nach dem Gemet zel von Zernik entkommen ist und sich sofort freiwillig hierher gemeldet hat.« »Da ist er aber nicht nur komisch, sondern verrückt«, sagte Cushman. »Kein vernünftiger Mensch -« Er verstummte, weil Major William Corban auf seinem nächt lichen Rundgang durch den Graben kam. Er blieb bei jedem Team stehen, um ein paar Worte zu sagen, und Maneski und Cushman warteten aufgerichtet, bis die Reihe an sie kam. In Maneskis Augen war der Major in Ordnung. Er war ge recht und schien zu wissen, was er tat. Den Gerüchten zufolge war das merkwürdige Verteidigungssystem, das man mit den verfügbaren Truppen eingerichtet hatte, seine Idee gewesen, und General O’Conner hatte ihm einen Stabsposten angeboten, wo ihm nicht viel passieren konnte, aber er hatte abgelehnt. Es war tröstlich, unter dem Befehl des einzigen Mannes auf Willar zu stehen, der über diese unheimlichen Eindringlinge überhaupt etwas wußte. Andererseits hatte Maneski die nächtlichen Lehr stunden des Majors langsam satt. Nachdem er sie ein paar dut zendmal gehört hatte, glaubte er, sie auswendig zu kennen. »Vergeßt nicht, Leute -« Maneski fröstelte. Wie konnte er das vergessen? »- der Feind schlägt ohne Vorwarnung zu. Ihr habt nichts vor euch, und plötzlich greift er an. Beim erstenmal wirken sie noch ein bißchen unsicher, was ihre Stoßrichtung angeht. Bei späteren Angriffen ändert sich das. Wenn ihr wachsam seid und das euch zugeteilte Terrain scharf beobachtet, seht ihr ein schwaches Flimmern, wie bei Hitzewel len, die das Licht brechen. Wenn ihr das seht, dürft ihr nicht zögern. Zielt und feuert. Bis ihr abdrückt, taucht der Feind dort auf. Sorgt euch nicht um die Gegner, die hinter euch auf tauchen. Die Verteidigung ist so organisiert, daß sie gebührend empfangen werden. Die Männer hinter euch halten den Kreis
rein, und viele Gegner werden nie dort erscheinen, wenn ihr nicht zu langsam schießt. Wenn ihr den Gespenstern vor euch Gelegenheit gebt, sich einzurichten, verschwinden sie, setzen zum nächsten Sprung an und verfehlen bei diesen kurzen Sprüngen selten ihr Ziel. Wir haben dann mehr von ihnen im Inneren, als wir verkraften können.« Nach der ersten Ansprache des Majors hatte man überall die ses Flimmern gesehen und sofort geschossen. Nirgends waren jedoch Gespenster aufgetaucht. Inzwischen herrschte in den Gräben skeptische Anspannung. Major Corban blieb neben Maneski stehen, stieg die Stufe hinauf und schaute auf die stille Landschaft hinaus. »Ruhig heute«, sagte er. »Jawohl, Sir«, erwiderte Maneski und machte sich auf den Vortrag gefaßt. »Paßt gut auf. Sie haben überall um uns her angegriffen.« »Jawohl, Sir«, sagte Maneski pflichtgemäß. Der Major zuckte plötzlich zusammen und griff nach der Waffe an seinem Gürtel. Bevor der verblüffte Maneski noch ganz begriff, was sich abspielte, hatte er gezielt auf nichts gezielt und abgedrückt. Und während er schoß, erschien eine Gestalt auf dem Grabenrand, griff ins Leere und fiel auf den feuchten Sand am Boden. »Hier kommen sie!« schrie der Major. »Los, Leute!« Maneski hob verwirrt das Gewehr. Eine Gestalt tauchte plötzlich vor ihm auf, weit entfernt. Als sie sich duckte und eine merkwürdige, glitzernde Waffe hochschleuderte, drückte Maneski ab. Die Gestalt brach zusammen, und Maneski schrie erregt auf. Die Überraschung war überwunden, und die Män ner beugten sich vor und schössen grimmig. Hinter ihnen begann es dumpf zu krachen, als die Artillerie Sperrfeuer legte, verstummte aber bald, weil keine Konzentration des Gegners lange genug bestehen blieb, um das Feuer zu recht fertigen. Die Gespenster wurden beschossen, sobald sie auf tauchten. Maneski feuerte auf den nächsten Feind und sah ihn fallen. »Zehn«, murmelte er zufrieden. Es schien etwas ruhiger ge
worden zu sein. Er schaute sich zufällig um und starrte in die gähnende Mündung eines Gespenstergewehrs. Er sprang verzweifelt zur Seite, die Ladung pfiff über ihn hinweg, und der Gegner brach tot zusammen. Maneski sah die Toten im Inneren des Abwehrkreises und grinste zufrieden. Es erschien ihm unglaublich, aber der Kampf war vorbei. Das Gewehrfeuer verstummte. Major Corbans scharfe Stimme tönte durch den Graben. »Gut gemacht, Leute. Aber vergeßt nicht, das ist erst der Anfang. Sie kommen wieder.« General O’Conner lehnte sich in seinem Sessel zurück, griff nach einem Stapel Berichten und legte die Beine auf den Schreibtisch. »Wenn ich der Feind wäre, würde ich auf diesen schäbigen Planeten verzichten und mir etwas Ungefährlicheres suchen«, erklärte er. »Jawohl, Sir«, sagte der Adjutant. Der General knallte die Unterlagen auf den Schreibtisch und begann zu fluchen. »Ich hätte nie einen Psychologen in meinen Stab lassen sol len. Was haben Sie denn jetzt wieder?« »Es sind Superwesen, Sir. Überlegene Wesen. Sie wissen es, und wir wissen es auch. Daran kommt man nicht vorbei.« »So, wie es jetzt zugeht, können sie sich mit ihrer Überlegen heit eingraben lassen. Wir machen das jetzt seit über einem Monat, und für jeden Mann von uns haben sie fünfhundert verloren und da zähle ich nur die Toten. Von ihren Verwun deten wissen wir nichts, weil sie verschwinden, sobald sie getroffen sind. Vermutlich versetzen sie sich in ein Lazarett oder welche Einrichtungen der Gegner dafür eben hat, und lassen sich zusammenflicken. Aber sie haben fünfhundert Tote für jeden Toten oder Verwundeten von uns. Unsere Nachschubschiffe kommen durch, und wir sind jetzt in besse rer Verfassung als am Anfang. Glauben Sie, daß sie bei einem Preis von fünfhundert zu eins mit uns bis zum Ende kämpfen werden?« »Was sie tun werden, weiß ich nicht, aber sie können nicht aufgeben. Ihre Überlegenheit läßt das nicht zu. Sie wagen es
nicht, in diesem Stadium einen Mißerfolg zu haben. Es wäre für sie eine schreckliche Enttäuschung und für uns ein gewal tiger Antrieb. Mit ihren Waffen ist es genauso. Unsere sind besser, und sie haben genug erbeutet, aber sie verwenden sie nicht. Sie müssen ihren Soldaten befehlen, sie nicht zu benüt zen, weil es sehr selten vorkommt, daß beim Kampf einer ihrer Leute nach einer Waffe von uns greift und damit schießt. Sie haben praktisch keine Artillerie und brauchen sie, aber sie verwenden erbeutete Geschütze nicht. Sie müssen an einem Komplexleiden. Sie wollen nicht glauben, daß bei uns etwas besser sein könnte als bei ihnen, und sie wollen auch nicht, daß wir das meinen.« O’Conner lachte in sich hinein und griff wieder nach den Meldungen. »Im Augenblick dürfte es ihnen schwerfallen, mich an dieser Meinung zu hindern. Fünfhundert zu eins es ist unglaublich. Das Sektor-Kommando hält mich für einen Witzbold.« Vor der Tür entstand Unruhe, gefolgt von unflätigem Flu chen. Die Tür ging auf, und ein Oberst kam mit breitem Grinsen herein. »Was gibt’s, Leblanc?« fragte O’Conner. »Der Geheimdienst hat Probleme.« »Ist das etwas Neues?« »Seit diese Geschichte angefangen hat, schreit er nach einem Gefangenen, den man verhören könnte. Na, schließlich hat er einen bekommen.« »Tatsächlich? Wie?« »Major Corban hat einen geschickt. Der Geheimdienst bat ihn flehentlich darum, er sagte, er werde sich persönlich darum küm mern, und das tat er auch.« O’Conner grinste. »Typisch Corban. Wie hat er es gemacht?« »Eines der Gespenster tauchte in der Nähe seines Gefechts standes auf. Corban stürzte sich darauf und schlug den Kerl k. o. Man pumpte ihn voll Schlafmittel und lieferte ihn hier ab.« »Da wird sich der Geheimdienst freuen. Warum dann der Ärger?«
»Na ja, als der Kerl zu sich kam, schaute er sich im Zimmer um und verschwand. Er tauchte draußen auf, direkt vor einem Wachtposten, wie es das Glück haben wollte, und der Posten war zufällig ein Infanterist, der genug mit diesen Gespenstern zu tun gehabt hat. Er hieb ihm den Gewehrkolben auf den Schä del und lieferte ihn wieder beim Geheimdienst ab. Danach ließ man sich auf nichts mehr ein. Man schaffte ihn in eine Sonder zelle, fesselte ihn, legte ihn in Ketten und ließ ihn von drei Mann bewachen. Als er die Augen aufschlug, verschwand er wieder.« »Verdammt!« schrie O’Conner. »Soll das heißen, daß er in meinem Hauptquartier frei herumläuft?« »Nein. Der Posten entdeckte ihn draußen, als er wieder auf tauchte. Er war zu weit weg, um ihn niederschlagen zu können, also drückte er ab. Ein Gespenst weniger, aber der Geheimdienst ist außer sich.« »Ich sehe aber nicht ein, was das für eine Rolle spielt.« »Es wäre angenehm, wenn wir wüßten, gegen wen wir kämp fen«, sagte der Oberst. »Woher sie kommen, wie viele es sind, und dergleichen mehr.« »Ich will Ihnen eines sagen. Es sind längst nicht mehr so viele wie vor einem Monat.« »Wir brauchen lange, um auszugleichen. Beim ersten Ansturm haben sie viele von unseren Leuten erwischt. Auch Zivilisten.« O’Conner klopfte zufrieden auf die Meldungen. »Bei diesem Tempo wird es nicht so arg lange dauern.« Der General erledigte seine Schreibtischarbeit und machte sich auf den Weg, um Fronttruppen zu besuchen. Sein Stab war, wie immer, dagegen. Natürlich schien es gefährlich zu sein, in kleinen Flugzeugen herumzuschwirren, während der Gegner überall war und jede der Stellungen in regelmäßigen Abständen belagert wurde. Bisher war jedoch noch keine Maschine verlorengegan gen, nicht einmal eines der überbeanspruchten Nachschubflug zeuge. Und O’Conner war Realist. Er betrieb eine erfolgreiche Hinhaltetaktik. Heute kam Corbans Stellung an die Reihe, und O’Conner erschien gerade noch rechtzeitig, um das Ende eines Scharmützels
mitzuerleben. Seine Maschine setzte sicher auf, und er stieg zu Corbans Beobachtungsposten hinauf. »Nichts Besonderes«, sagte der junge Major. »Wir haben unge fähr fünfzig erwischt. Ich glaube nicht, daß es Überlebende gege ben hat.« »Ist Ihnen in letzter Zeit eine geänderte Taktik aufgefallen?« »Oh, sie wechseln sie dauernd. Diesmal war der ganze Angriff auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Das haben sie zum ersten mal versucht, und es war das erstemal, daß wir automatische Warfen mit Nutzeffekt verwenden konnten. Wir haben sie einfach niedergemäht. Das werden sie -wahrscheinlich nicht mehr versuchen.« O’Conner suchte den Horizont mit dem Feldstecher ab und drehte sich stirnrunzelnd um. »Wo sind sie?« »Wer? Ach, Sie meinen na ja, es wurde hier ziemlich ungemüt lich, mit den vielen Toten. Der Geruch, wissen Sie. Es ist ziemlich warm gewesen. Ich lasse die Gefallenen jetzt immer nach Süden schleppen. Es gibt da ein tiefes, enges Tal, das gut geschützt ist. Außer mit Mörsern kann man es mit keinem Geschütz bestreichen. Da stapeln wir die toten Gespenster.« »Alle haben dasselbe Problem«, meinte O’Conner. »Man hat schon versucht, die Leichen zu verbrennen. Wenn Sie es probie ren wollen ... « »Nein, danke, Sir. Wir kippen sie lieber dort hinein.« »Riskant für die Träger, nicht wahr?« Corban grinste. »Wir haben uns einiges einfallen lassen. Ich gebe zu, daß es immer noch ziemlich unangenehm ist, wenn der Wind die entsprechende Richtung hat, aber das Tal ist für uns wichtig. Die Gespenster haben schnell bemerkt, daß man sie dort nicht beobachten kann und benützen es als Sammelort. Sie treffen dort ein und greifen uns dann an. Einmal rückten sie fast mit einer ganzen Division an, und wir hatten ziemliche Mühe. Dabei kamen wir dahinter, was sie dort trieben. Wir schleppten also ihre Toten hin, weil es für sie sicher nicht angenehm ist, von einem Platz aus anzugreifen, wo ihre eigenen Toten liegen. Wir haben auch sonst noch ein paar Ideen gehabt. Zum Beispiel
haben wir Mikrofone dort vergraben und Kabel hierher verlegt.« »Gespenster reden nicht«, sagte der General. »Nein, aber wenn sie herumlaufen, machen sie genausoviel Lärm wie alle anderen Leute. Und wenn nicht, haben wir ein paar Geräte aufgestellt, die dazu beitragen. Wenn wir wissen, daß sie da sind, lassen wir die Artillerie hineinballern. Je mehr wir drüben in dem Tal töten, desto weniger Leichen brauchen wir hinzuschleppen. Dreckig, wie?« »Wie der Krieg überhaupt«, knurrte O’Conner. »Sehen wir uns Ihre Leute an.« Die Stellung hatte sich seit den ersten Tagen erheblich ver ändert. Die Gräben waren überdacht und vor Beschuß aus den inneren Kreisen durch einen Erdwall geschützt. Die Gespenster waren noch in keinem Graben oder Tunnel aufgetaucht, aber Corban hatte trotzdem Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die Soldaten hatten sich bequeme Wohnungen ausgehoben und Möbel aus verlassenen Gebäuden in der Umgebung besorgt. O’Conner überraschte einen Soldaten in einem Polstersessel, der bei künstlichem Licht in einem Buch las. Als der General mit offenem Mund die Vorhänge und Bilder an den Wänden anstarrte, erklärte der Soldat: »Wir dachten, das wird ein langer Krieg, Sir.« O’Conner verließ Corbans Stellung in zufriedener Stim mung. Er mußte Corban fördern, sagte er sich. Der Mann war zu schade dafür, ein paar Infanteriekompanien zu befehligen. Das Sektor-Kommando mochte sich darüber ärgern, wenn er einen so jungen Mann zum General machte, aber er glaubte nicht an Widerspruch. Schließlich ging der Erfolg auf Willar auf Corbans Konto. Als er ins Hauptquartier zurückkam, wartete Captain Dor meyer, sein junger Adjutant, auf ihn. »Könnten Sie in den Nachrichtenraum kommen, Sir?« sagte Dormeyer. O’Conner nickte. Damit hatte er beinahe gerechnet. Der Krieg im Weltraum war Anlaß zur Sorge gewesen. Er trug zwar nicht die Verantwortung dafür, aber Admiral Ruckers Einstel lung ...
Man übergab ihm eine Nachricht des Kommandeurs des 1105. Geschwaders: >Zahlenmäßig unterlegen, strategischer Rückzug im Gange.< »Aha«, sagte O’Conner. »Wir sind entbehrlich, die Marine nicht.« Dormeyer hatte Tränen in den Augen. »Das ist Dummheit verbrecherische Dummheit. Er hätte uns bis in alle Ewigkeit abschirmen können. Er besaß nicht genug Schiffe, um ihre kleinen Transport- und Nachschubein heiten aufzuhalten, aber er hätte die Hauptflotte fernhalten können. Unsere Waffen besitzen die größere Reichweite, und gleichgültig, wie sehr sie in der Überzahl sind, es gibt eine Grenze dafür, wie viele Schiffe wirksam in irgendeinem Raumgebiet eingesetzt werden können.« O’Conner klopfte ihm tröstend auf die Schulter. »Es ist nun einmal geschehen. Zurückkommen kann er nicht. Die Gespenster können ihn fernhalten, weil sie fünfmal so viele Schiffe haben wie er. Wir beschweren uns scharf beim Sektor-Kommando und vergessen das Ganze. Wahr scheinlich haben wir unser letztes Nachschub-Schiff gesehen. Wie steht es mit dem Boden-Weltraum-Arsenal?« »Nicht sehr gut.« »Wir dachten ja nicht, daß wir viel brauchen würden. Na gut, tun wir, was wir können. Halten wir uns, solange es geht. Das müßte ziemlich lange sein.« O’Conner wurde in der Nacht von einem zitternden Adjutan ten aus dem Bett geholt. »Sehen Sie, Sir«, flüsterte er. O’Conner starrte in die Schwärze eines nahenden Sturms und sah grünes Feuer den Himmel zerteilen. »Zuerst dachten wir an Blitze«, sagte der Adjutant. »Als dann die Meldungen eintrafen -« »Die Gespensterflotte, die ihre Truppen unterstützt. Natür lich. Wir haben täglich Dankgebete gesprochen, weil sie keine Artillerie hatten, und schließlich ist ihnen klargeworden, daß sie doch eine brauchen. Sie verwenden also die Batterien der
Raumflotte. Das ist zwar so wirksam, als würde man auf zehn Meilen Entfernung einen Kegel treffen wollen, aber wenn sie weitermachen, gibt es auch mal Glückstreffer.« »Die hat es schon gegeben, Sir.«
»Wo?«
»Sektion 282 D.«
O’Conner setzte sich schwerfällig.
»Das ist -«
»Ja, Sir. Major Corbans Stellung.«
»Überlebende?«
»Die muß es gegeben haben, Sir. Die Gespensterinfanterie
rückte an, und es wird noch gekämpft.« »Wir müssen sie unterstützen.« »Colonel Leblanc hat das schon veranlaßt, Sir.« »Gut. Ich möchte die sofortige Beförderung von Major Corban zum General beantragen notfalls posthum. Erledigen Sie das.« »Jawohl, Sir.« »Sagen Sie Dormeyer, er soll die Boden-Weltraum-Waffen einsetzen und so weit wie möglich schießen. Wir müssen unsere Verteidigungspläne sofort ändern. Jede Stellung braucht Schutz gegen Beschuß durch Weltraumartillerie, mit Verbindungstunnels, damit sie schnell herauskönnen, um sich gegen Bodenangriffe zu verteidigen. Telepathie erlaubt den Gespenstern ideale Verständigung, und sie haben sich wahr scheinlich eine schnelle Methode zur Feuerpeilung ausge dacht. Das ist wohl der Anfang vom Ende, aber wir wollen es ihnen schwermachen.« Der Stützpunkt Qualo lag im sengenden Sonnenlicht der Mittagszeit. Das riesige Landefeld war verlassen. Die Flotte befand sich im Weltraum, schirmte den Stützpunkt ab und versuchte den feindlichen Ansturm auszumanövrieren. Am fernen Ende des Feldes, in der Nähe der Reparaturhallen, lagen drei schwer beschädigte Schüfe, die sich wie durch ein Wunder zum Stützpunkt hatten zurückschleppen und landen können. Die Ernte des Krieges. Fregattenkapitän Walter Forge stieg müde aus seinem
Schlepper und hinkte auf das Offizierskasino zu. Er hatte eben eine holpernde Inspektion der um das Feld verteilten Batterien beendet und alle Mannschaften wach und einiger maßen aufmerksam gefunden. Es war ihm ein Greuel, in einem schlingernden Schlepper über das staubige Terrain rattern zu müssen. Er hätte es beinahe vorgezogen, zu Fuß zu gehen aber wehe dem Offizier, der dabei ertappt wurde, daß er die Runde zu Fuß machte und Zeit verschwendete, wenn es einen Krieg zu führen galt. Das Kasino war schwach besetzt. Die meisten Offiziere aßen an ihren Schreibtischen. Forge hatte keinen Schreibtisch und ließ sich deshalb auf einem Stuhl neben Captain Pinky Durren nieder, um sich guten Gewissens eine Tasse Kaffee einzugießen. »Genießen Sie ihn, solange wir noch welchen haben«, mein te Durren. »Noch eine Woche, dann gibt es nur noch Ersatz.« »Steht es so schlecht?« fragte Forge. »Ich dachte, die Nach schubflotte kommt durch.« »Sicher. Sie kommt durch. Irgendein Schlaukopf weit vom Schuß rechnete sich aber aus, daß wir den Feind nicht mit Kaffee bekämpfen können und strich den Kaffee. Munition, Treibstoff, Ersatzteile, in Ordnung. Kaffee nein. Binnen eines Monats gibt es nur noch Notrationen, auch wenn von Not keine Rede sein kann. Sie sind leicht zu verpacken und zu transportieren.« »Und binnen zwei Monaten rösten wir Heuschrecken zum Frühstück, wenn wir noch da sind und essen können«, meinte Forge. Durren schauderte. Die Tür am Ende des Raumes öffnete sich. Admiral Winslow schaute herein, nickte und ging mit schnellen Schritten auf den für ihn reservierten Tisch zu. Durren beugte sich zu Forge hinüber und flüsterte: »Was hat denn der Alte? Er ist furcht bar nervös, und früher hat er nie allein gegessen. Er sollte doch mit sich zufrieden sein, nachdem er Admiral geworden ist und das Kommando über den ganzen Laden hier bekommen hat.« »Es handelt sich um seine Schwester«, flüsterte Forge. »Sie war auf Zernik.«
»So? Ich wußte gar nicht, daß er eine Schwester hat.« »Sylvia Winslow. Sein Augapfel. Vor einiger Zeit war sie hier. Kurz bevor Sie zu uns versetzt wurden, reiste sie ab. Ein nettes Mädchen, und wunderschön dazu. Sie hätte sich von den Ledigen praktisch jeden und von den Verheirateten die meisten aussuchen können.« »Schön, aber kalt und distanziert, wie?«
Forge schüttelte den Kopf.
»Das möchte ich nicht sagen. Es war einfach seltsam. Der Alte
schickte ihr ein paar Bilder, um ihr zu zeigen, was für ein herrli ches Leben wir hier führen. Auf den Fotos waren natürlich viele Leute von uns zu sehen, und sie verliebte sich in einen der Männer. In das Bild von ihm. In einen Fähnrich namens Paul Corban.« »Nie. gehört.« »Nein. Das war ja das Tragische. Sie verliebte sich in sein Bild, und es ging nicht anders, sie mußte herkommen und ihn kennenlernen. Der Alte gab schließlich nach. Corban war aber Kurierpilot und unternahm einen Routineflug, bevor sie eintraf. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Eine Mel dung wurde aufgefangen, aber sie war stark gestört, und die Nachrichtenzentrale konnte nichts damit anfangen. Na ja, wir verloren damals ziemlich viele >11 C< und sind jetzt überzeugt davon, daß sie von den Gespenstern abgeschossen worden sind. Für Corban natürlich kein Trost. Das Mädchen war völlig niedergeschmettert. Ein paar tausend Mann hätten sich lie bend gerne bemüht, ihn bei ihr vergessen zu machen, aber sie wollte keinen Ersatz. Sie litt hier einige Zeit, dann kehrte sie nach Zernik zurück. Sie war dort, als die Gespenster zuschlu gen. Der Himmel weiß, wo sie jetzt ist.« »Aha«, sagte Durren. »Kein Wunder, daß der Alte erschüt tert ist.« »Er hing sehr an dem Mädchen. Man kann es verstehen, wenn man sie gesehen hat.« »So ist es im Krieg. Aber vielleicht hat das auch sein Gutes. Vielleicht trifft sie ihren Traum-Mann im Jenseits. Oder in einem Gefangenenlager der Gespenster das wäre ein Witz, was?«
Der Admiral schob seinen Teller weg und ging zur Tür. An ihrem Tisch blieb er stehen und sagte säuerlich: »Haben Sie beide nichts zu tun?« »Jawohl, Sir«, sagte Durren und folgte ihm, während Forge hastig seine Mahlzeit hinunterschlang. Einen Augenblick danach wurde Alarm gegeben. Das schrille, markerschütternde Pfeifen ließ die Teller auf dem Tisch klirren. Forge warf einen Stuhl um, als er zum Ausgang eilte. Er sprang in seinen Schlepper, überholte Admiral Winslow und Durren und hielt, damit sie einsteigen konnten. Im Hauptquartier liefen sie zum Gefechtsraum. Dort ortete ein junger Fähnrich den Kurs eines einzelnen Raumschiffs. »Oh«, sagte der Admiral. »Ist das alles?« »Durch die Abschirmung gedrungen, Sir. Das Problem ist, daß wir nichts haben, was wir hinauf schicken könnten.« »Wir empfangen es schon richtig, wenn es näher kommt.« Admiral Winslow wandte sich gleichgültig ab. Forge sah Durren an. »Gefällt mir nicht. Wir sitzen doch auf dem Präsentierteller.« »War ja nicht die Idee vom Alten«, meinte Durren. »Er kom mandiert nur den Stützpunkt, nicht die Flotte. Er verlangte, daß man ihm etwas hier ließ, aber es hieß, man brauche alles an anderer Stelle.« Durren sah mißbilligend zum Fenster hinaus, über den Rasen zu dem riesigen Gebäude, in dem das Flotten kommando untergebracht war. »Es wäre ein Witz, wenn sie ihr Hauptquartier verlieren würden. Das heißt, wenn sie es verlieren könnten, ohne daß wir auch an der Reihe sind.« »Ein Schiff kann keine große Gefahr sein. Immerhin, man weiß nie. Diese Gespenster haben den Überraschungseffekt immer für sich. Sie sind noch nicht richtig auf die Probe gestellt worden. Wir wissen nach wie vor nicht, womit sie im Ernstfall aufwarten können.« »Auf Willar sind sie ganz schön auf die Probe gestellt wor den«, sagte Durren. »General O’Conner pflasterte buchstäblich den ganzen Planeten mit toten Gespenstern. Er könnte sich heute noch halten, wenn Ruckers Geschwader nicht abgezogen worden wäre. Die Armee selbst konnte sich gegen Raumschif
fe nicht durchsetzen. Aber man lernt nie aus. Solange man am Leben ist, jedenfalls nicht. Ich möchte wissen, ob man noch jemanden evakuieren konnte?« »Sehr wenige, wenn überhaupt jemanden. Das Problem ist ja, daß die Gespenster auch lernen. Was auf Willar Erfolg hatte, muß anderswo durchaus nicht klappen. Was haben wir denn hier? Ein Raumschiff von Zerstörergröße, irres Tempo. Sind Raketen da?« »Schon gestartet«, erwiderte der Fähnrich. »Dann müssen wir eben abwarten.« Sie warteten. Der Fähnrich überflog Meldungen, verfolgte den Kurs und zeigte eine düstere Miene. »Kollisionskurs«, meldete er. »Sieht so aus«, sagte Forge. »Ob sie etwas haben, das den Plane ten hier zerschmelzen kann? Theoretisch soll das möglich sein, wie ich höre. Den Planeten in eine Sonne verwandeln. Vielleicht wollen sich die Gespenster auf keine Willars mehr einlassen. Ein Schiff und peng! Kostet nicht soviel.« Das Gesicht des Fähnrichs nahm einen verzerrten Ausdruck an. »Weiter Annäherung«, sagte er. »Unsinn!« fauchte eine Stimme hinter ihnen. Admiral Wins low starrte mürrisch die Karte an. »Unsinn«, wiederholte er. »Das ist doch nur eine Aufklärungsmission.« »Sollen wir Sperrfeuer legen, Sir?« fragte Forge. »Bei dem Tempo stürzt es entweder unberührt ab oder zischt an uns vorbei, wenn wir warten, bis es in Reichweite ist.« Winslow nickte ernst. »Ja.« Forge griff nach einem Telefon. Augenblicke später hörte man die Explosionen kleinerer Ra keten. »Es ändert den Kurs«, sagte der Fähnrich hoffnungsvoll. Die Offiziere schauten verwirrt zu, und der Fähnrich verfolg te weiter den Kurs. Minuten danach hatte sich die Anspannung gelöst. Das feindliche Raumschiff war auf den Planeten zuge rast, hatte ihn in einem engen Umlauf umkreist und raste jetzt
auf die >Kluft< zu. Die Flotte unternahm ein Abfangmanöver. Admiral Winslow hob die Schultern. »Aufklärung«, sagte er. »Wir können davon ausgehen, daß wir gründlich fotografiert worden sind.« Der Fähnrich zeigte eine Meldung. »Das war nicht alles, Sir. Beim Durchstoßen der Atmosphäre ist etwas abgeworfen worden.« Winslow riß sie ihm aus der Hand. »Interessant«, sagte er und griff nach einem Telefon. Er sprach einige Worte und legte nachdenklich auf. »Eine Art Landekapsel ist gestartet worden«, sagte er. Er trat an die Wandkarte. »In diesem Gebiet etwa.« »Beschädigen können sie dort jedenfalls nichts«, sagte Forge mit hohlem Lachen. Die Offiziere starrten Winslow nervös an. »Sir?« sagte Durren. »Ja.« »Die Gespenster sind Telepathen.« »Ich weiß. Ich hatte nicht das Gefühl, daß das ein Geheimnis ist.« »Ich weiß nicht, welche Reichweite sie haben«, fuhr Durren fort. »Niemand weiß es. Wir können aber keinen telepathischen Agenten des Feindes auf diesem Planeten dulden. Nicht bei einem so wichtigen Stützpunkt. Die Gespenster werden mehr über unsere Maßnahmen wissen als wir selbst.« »Warum haben sie ihn ausgerechnet in der Wildnis abgesetzt?« fragte Forge. »Es wird Wochen brauchen, um hierherzukom men.« »Wochen nicht«, sagte Admiral Winslow. »Er wird sich einein fach ein passendes Versteck suchen und sich hierher teleportie ren, wenn er etwas beobachten will. Die Gespenster besitzen offensichtlich einen fähigen Geheimdienst. Sie haben genug Gefangene und konnten sie verhören. Sie kannten diesen Planeten und wußten, daß ihr Agent während und unmittelbar nach seiner Landung am verwundbarsten sein würde, also setz ten sie ihn dort ab, wo er auch bestimmt landen und sich orien tieren konnte, ohne belästigt zu werden. Forge, Leutnant Brown hat schon ein paar Atmosphärenflugzeuge auf den Weg geschickt.
Vielleicht finden sie den Landeplatz. Holen Sie alle Leute zusammen, die entbehrlich sind, und finden Sie den Agenten. Oder die Agenten, es sind vielleicht mehrere. Sie haben freie Hand.« Forge sprang auf. »Jawohl, Sir.« »Und Forge.« Winslow lächelte. »Sonderbefehl vom Ober kommando: Der Geheimdienst braucht einen Gefangenen zum Verhör, und bis jetzt ist noch keiner lebend gefangen worden. Versuchen Sie alles, um ihn oder sie lebend zu fassen.« »Darf ich die Hunde einsetzen, Sir?« »Lebend«, wiederholte Winslow steif. »Ein Toter, den uns die Hunde hinterlassen würde, hätte für den Geheimdienst wenig Zweck. Sonst noch Fragen?« »Ja, Sir. Wie fängt man jemanden, der sich teleportieren kann?« »Und wie sollen die Hunde so einem Wesen auf der Spur bleiben?« erkundigte sich Durren. Admiral Winslow hob die Schultern. Er lächelte immer noch, als er den Raum verließ. Forge ließ ein Flugzeug bereitstellen und hastete hinaus. Wie durch ein Wunder hatten Browns Maschinen die Lande kapsel gefunden, als Forge auf dem Schauplatz erschien. Er trat aus seinem Flugzeug in die triste Nacht, die Qualos Wildnis mit Schwärze bedeckte. Die Kapsel war auf einem der vielen Hügel gelandet, die ihre felsigen Umrisse über die wuchernde Vegetati on erhoben. Sie waren durchzogen von Höhlen und Vertiefun gen. Das tiefer gelegene Gelände war schwammig und würde zu einem brodelnden Sumpf werden, sobald die Regenzeit kam, was erst in einigen Monaten der Fall sein würde, wie Forge dankbar vermerkte. Forge ließ einen künstlichen Mond anbringen und organisier te die Suche. Als die Truppen eintrafen, schickte er sie in einem immer größer werdenden Kreis hinaus und sah sie im nebelverhangenen Dschungel verschwinden. Leutnant Brown untersuchte die Kapsel. »Es ist nur einer, wenn Ihnen das etwas nützt«, sagte er.
»Diese Kapsel reicht nur für eine Person, außer die Gespen ster verwenden Zwerge.« »Einer genügt vollauf«, meinte Forge. »Ist das nicht scheuß lich hier? Er könnte sich direkt unter uns versteckt halten, ohne daß wir ihn jemals finden.« »Ich wette, daß er schon fünfhundert Meilen weit weg ist«, sagte Brown. Forge wischte sich nervös die Stirn. Eine Anzahl von Offi zieren drängte sich um die Kapsel, und entgegen aller militäri schen Erfahrung hatte niemand einen Vorschlag zu machen, weder Vorgesetzte noch Untergebene. »Ist jemand von der Abwehr hier?« fragte Forge plötzlich. Ein überraschter junger Fähnrich trat mit rotem Kopf vor. »Wie groß ist die Reichweite dieser Leute?« erkundigte sich Forge. »Meinen Sie, wie weit in einer bestimmten Zeit, oder wie weit mit einem Sprung?« »Beides.« »Tja, das wissen wir nicht genau«, sagte der Fähnrich. »Es gibt verschiedene Anschauungen, aber nach allem, was unsere Bodentruppen beobachtet haben, scheint die Reichweite gerin ger zu sein, wenn die Gespenster in unbekanntem Gelände sind. Es ist so, als müßten sie vorsichtig sein, solange sie nicht wissen, wohin sie gelangen. Sobald sie sich aber auskennen, können sie größere Sprünge machen. Das ist natürlich alles Theorie.« »Wie lange braucht so einer, um sich zu einem Sprung fertig zumachen?« »Wenn er weiß, wohin er will, geht das so.« Der Fähnrich schnippte mit den Fingern. »Er denkt es sich einfach, und schon ist er dort.« »Und wenn er nicht weiß, wohin er will?« »Macht er es auch so, aber nicht ganz so weit. Doch das ist hauptsächlich -« »Ich weiß«, sagte Forge grimmig. »Theorie. Tatsachen kennt wohl niemand?« »Nur die Gespenster, Sir. Und wir haben noch keinen gefan
gen.« »Fein, geradezu großartig.« »Wir haben sogar einige gefaßt, Sir. Wir konnten sie nur nicht festhalten. Man kann sie nur überwältigen, wenn sie bewußtlos sind, und sobald sie zu sich kommen peng!« Forge stakte davon. Eine heiße Sonne stieg herauf und sengte den Nebel weg. Neue Truppen wurden herangeflogen, um die Lücken aufzufül len, die durch den sich immer mehr ausweitenden Kreis ent standen. Forge marschierte auf und ab und quittierte eine lange Reihe negativer Meldungen, während der Vormittag verging. Mittags erschien Admiral Winslow während es über dem Stützpunkt Nacht geworden war. Man flog die beiden an den Rand des langsam aufquellenden Kreises. Sie standen zu sammen mit dem Offizier, der die durch den Dschungel stol pernden Männer befehligte, auf einem Hügel. »Es ist so, Sir«, sagte der Fähnrich. »Hundert Mann brauchen eine gute Stunde, um einen einzigen Hügel abzusuchen, und das geschieht nur oberflächlich. Manche Gänge führen tief hinein, manchmal gibt es Biegungen, die man nicht erkennen kann, wenn man nicht hineingeht. Und unten im Dschungel könnte man an einem Menschen vorbeigehen, ohne ihn zu bemerken.« Der Admiral gab einen Brummlaut von sich. »So, wie ich es sehe, besteht unsere einzige Hoffnung darin, möglichst viele Luftpatrouillen zwischen hier und dem Stütz punkt durchzuführen«, meinte Forge. »Wenn wir Glück haben, entdeckt ein Pilot den Agenten und kann auf ihn schießen, bevor er verschwindet. Diese Art von Suche ist sinnlos. Sogar eine normale Person könnte uns hier entwischen.« Der Admiral sdrwieg. Er ließ den Feldstecher sinken und ging den Abhang hinunter zu einem Dornbusch am Rand des Dschungels. Er beugte sich vor und berührte einen winzigen dunkelgrünen Stoffetzen. »Das stammt nicht von einer unserer Uniformen«, stellte er fest. Sie starrten den Stoff an, und der Fähnrich versprach dem Trupp, der das übersehen hatte, fluchend eine Woche Extra
dienst. »Lassen Sie«, sagte Admiral Winslow. »Ich habe zufällig das Fernglas genau darauf gerichtet, und das Licht war günstig.« Forge rief seinem Piloten zu: »Wie weit sind wir vom Lande platz der Kapsel entfernt?« »Ungefähr zehn Meilen«, sagte der Pilot. »Bis hierher dürfte er also mit seinem ersten Sprung gekom men sein. Oder vielleicht hat er mehrere Sprünge von Hügel zu Hügel gemacht und, als er hierherkam, beschlossen, sich im Dschungel unten einen sicheren Platz zu suchen.« »Wenn er also noch .dort ist -«, begann der Fähnrich. »Oh, da ist er nicht mehr. Er wird aber einige sichere Plätze sich eingeprägt haben, möchte ich sagen und wenn wir näher kommen, versetzt er sich von einem zum anderen. Die Ge spenster machen es so, wie ich höre.« »Luftpatrouillen, sagen Sie«, meinte Admiral Winslow nach denklich. »Sie glauben also, daß diese Suchaktion sinnlos ist?« »So wie wir sie jetzt durchführen, bestimmt. Entweder ist er uns hundert Meilen voraus, oder er hat sich irgendwo in den Kreis zurückversetzt, der schon abgesucht wurde.« »Also gut. Rufen Sie die Leute zurück und veranlassen Sie die Flugpatrouillen. Dann fangen Sie von vorne an, aber mit den Hunden.« »Mit den Hunden, Sir?« fragte Forge erstaunt. »Die Hunde werden nicht mehr Glück haben als wir.« »Mag sein. Wir erfahren aber vielleicht etwas über diesen Agenten. Wenn wir seine Spur an einigen Stellen aufnehmen können, wissen wir wenigstens, wie weit er springen kann. Lassen Sie die Hunde auf die Fährte setzen. Alle!« »Jawohl, Sir«, sagte Forge und ging zum Flugzeug, um die Meldung durchzugeben. Eine Transportmaschine landete mit den Hunden drei Dut zend, in Käfigen, mit Beißkörben versehen. Tatsächlich waren es katzenähnliche Tiere, häßliche, unersättliche Bestien mit Säbel zähnen und langen Krallen, und wenn ein Hund Zuneigung empfinden konnte, dann nur für seinen eigenen Wärter, der ihn
ausbildete, sein geflecktes Fell bürstete und ihm das Fressen brachte. Und der Wärter trug eine Pistole, wenn er mit seinem Hund arbeitete, stellte Forge fest. Captain Durren war mitgekommen, um die Hunde bei der Arbeit zu beobachten. Er stand neben Forge und sah den Wärtern zu. »Mir tut jeder leid, den sie erwischen«, sagte Durren. »Sogar ein Gespenst.« »Ja«, sagte Forge. Er erinnerte sich an einen Vorfall, bei dem ein betrunkener Offizier in ein Lager geraten war, das die Hunde bewachten. Die Wärter waren sofort zur Stelle gewesen, hatten aber nur noch einen Toten vorgefunden. »Warum es sich der Alte wohl anders überlegt hat?« »Sie meinen, weil er den Agenten lebend fassen wollte? Das ist nur ein Witz, wissen Sie. Der Geheimdienst verlangt unabläs sig nach einem Gefangenen, aber jeder weiß, daß man ihn nicht festhalten könnte. Der Alte wußte, daß Sie keine Chance hatten, den Agenten zu Gesicht zu bekommen. Sonst hätte er sich diesen Spaß gar nicht erlaubt.« »Jetzt sagt er mir das«, stöhnte Forge und rieb sich schläfrig die Augen. »Die Lage ist ernst«, sagte Durren. »Der Alte hat gestern fast den ganzen Tag beim Geheimdienst verbracht, um sich darüber klarzuwerden, was man mit diesem Gespenst anfangen sollte, und was geschehen würde, wenn wir ihn nicht finden. Man kam zu der Ansicht, daß wir ihn schleunigst beseitigen müssen. Der Alte wird es mit Hunden und allem anderen versuchen, und Sie könnten sich am schnellsten eine Beförderung verdienen, wenn Sie ihm ein totes Gespenst bringen.« »Hoffentlich hängt meine nächste Beförderung nicht davon ab. Ein Gespenst könnte diese Hunde zum Wahnsinn treiben.« Der Sergeant, der die Hundeabteilung befehligte, salutierte. »Wir sind soweit, Sir.« Forge starrte die Hunde an, die kaum zu bändigen waren, und fröstelte. »Wäre es nicht besser, die Maulkörbe zu lassen?« »Sie folgen keiner Fährte, wenn sie Maulkörbe tragen. Man
kann sie dabei auch nicht an der Leine halten.« Admiral Winslow trat vor. »Ich übernehme das Kommando, Forge. Wir fangen mit ei nem Team an der Kapsel an.« »Jawohl, Sir«, sagte der Sergeant. Sie blieben zurück und sahen zu, wie die Hunde den Boden rings um die Kapsel beschnupperten. Die Pfleger entfernten die Leinen, und die Hunde rasten jaulend los, mit glühenden Augen und speicheltriefenden Lefzen, den Abhang hinunter und in den Dschungel. »Donnerwetter!« sagte Forge. »Er ist zu Fuß weggegangen!« Durren hob die Schultern. Admiral Winslow hastete den Hunden nach, und sie folgten ihm. Das Tempo verringerte sich bald. Die Hunde tobten her um, schnupperten und knurrten und drangen tiefer in den Dschungel ein. »Haben sie ihn verloren?« fragte Forge. »Nein, nein«, erwiderte der Sergeant. »Die Fährte ist schon ein bißchen alt, und vermutlich werden sie durch andere Gerüche gestört. Der Boden hier ist ziemlich nachgiebig, nicht wahr? Man könnte mit einem Schlepper fahren, ohne Spuren zu hinterlas sen.« Eine Stunde lang kamen sie langsam voran und erreichten schließlich einen weiteren Hügel. Die Hunde wirkten unsicher, entfernten sich in verschiedene Richtungen und kamen wieder zurück. »Ist er von hier aus gesprungen?« erkundigte sich Durren. »Nein«, sagte der Sergeant. »Es gibt mehr als eine Fährte. Sie verzweigt sich.« Sie starrten einander betroffen an. »Unmöglich«, sagte Admiral Winslow. »Es müssen demnach mehrere gewesen sein, die sich hier getrennt haben. Sie sind vielleicht übermenschlich, aber ich bezweifele, daß sie sich durch Teilung fortpflanzen.« »Ich rufe die Ersatzgruppen«, sagte der Sergeant. Ein Flugzeug landete mit den anderen Hunden. Der Sergeant
brauchte einige Zeit, bis alles geordnet war, aber schließlich fragte er: »Soll ich für jede Spur ein Team nehmen? Sie verläuft in drei verschiedene Richtungen.« »Drei!« murmelte Forge. »In dieser Kapsel?« Admiral Winslow gab dem Sergeanten ein Zeichen. Forge und Durren blieben bei der Gruppe des Admirals und folgten einer Fährte, die sich um den Hügel herumwand. An einer Stelle verharrten die Hunde auffällig am Eingang einer Höhle, und einer schlich schnuppernd hinein, kam aber wieder heraus. Die Hunde trabten weiter, bis sie Minuten später mit den Hunden einer anderen Gruppe zusammentrafen. Es wurde geknurrt und geschnappt, aber die Wärter stürzten sich in das Getüm mel und legten die Tiere wieder an die Leinen. »Das erklärt alles«, sagte Admiral Winslow. »Er lief um den Hügel herum, versteckte sich einige Zeit in einer Höhle, ging dann weiter und kehrte in den Dschungel zurück. Wo er seine eigene Fährte schnitt, gab es für die Hunde drei Spuren zu verfolgen. Halten Sie diese Tiere hier zurück, wir holen die anderen ein.« Winslow hastete davon, und Forge und Durren mußten sich beeilen, um Schritt zu halten. »Es erklärt aber nicht alles«, murmelte Forge. »Es erklärt nicht, warum er zu Fuß geht.« »Er wußte, daß wir ihn verfolgen würden«, meinte Durren. »Also hinterließ er uns eine Fährte. Raffinierte Sorte von Humor, was? Wenn er die Kapsel verlassen und einen Sprung von fünfzig Meilen gemacht hätte, würden wir aufgeben müssen, sehen Sie sich an, was die Männer heute alles hätten leisten können. Er sabotiert unsere Arbeit, indem er zu Fuß geht.« »Aber wenn ihm die Hunde auf den Fersen sind, wird er den Fünfzig-Meilen-Sprung machen.« »Natürlich«, sagte Durren. »Ich kann mich nicht teleportie ren, aber wenn ich die Hunde hinter mir hörte, würde ich einen Sprung schaffen, der nicht viel kürzer wäre, glaube ich.« Sie holten die Hunde ein und kämpften sich durch den Dschungel vorwärts. Der Nachmittag verging, und die Däm
merung sank schnell herab. Insektenschwärme überfielen sie und quälten die Hunde, die oft stehenblieben, um sich zu kratzen. Sie drängten aber immer wieder weiter. »Ich habe mir überlegt, ob einem dieser Gespenster etwas zustoßen könnte, das es daran hindern würde, sich zu telepor tieren. Wie uns ein verrenkter Knöchel am Gehen hindern würde.« »Eine geistige Verrenkung? Ich habe nicht die leiseste Ah nung. Wir werden es aber bald wissen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Ist es Ihnen nicht aufgefallen? Wir werden schneller. Die Fährte ist frischer. Wir holen auf.« Sie beschleunigten das Tempo, und die Hunde achteten nicht mehr auf die Insekten. Sie rempelten einander, um an die Spitze des Rudels zu gelangen, und ihr Heulen verwandel te sich in ein volltönendes Brüllen, das durch den Dschungel hallte. Plötzlich veränderten sich die Laute wieder, wurden zu heiserem Gebell, und sie begannen schneller zu laufen. Die Männer rannten hinterher, konnten aber nicht Schritt halten. Admiral Winslow stolperte dahin, keuchend, mit glänzenden Augen. »Wir erschrecken ihn wenigstens«, schrie er. »Wir jagen ihm gehörig Angst ein. Auf diesem Planeten wird er nicht mehr ruhig schlafen können.« Die Hunde waren verschwunden. Sie hatten sich verteilt und hinterließen eine breite Spur abgerissener Zweige und umgebogener Bäume. Sie brachen durch den Dschungel, in wildem Chor bellend. Plötzlich drang ein Schrei durch den Dschungel, ein zweiter, und dann hörte man nur das trium phierende Knurren der Tiere, die einen Körper zerfetzten. »Sie haben ihn!« schrie Admiral Winslow. Die Müdigkeit fiel von ihnen ab, und sie begannen zu laufen. Die Wärter trafen als erste ein. Sie rissen die Hunde zurück, legten sie an die Leinen und zerrten sie weg, damit sie ihr Opfer nicht mehr sehen konnten. Winslow erreichte keuchend die Überreste des Opfers und blieb triumphierend stehen. Aber nur eine Sekunde lang. Plötzlich begann er zu schwan
ken. Er brüllte auf. Seine Fäuste zuckten hoch, und er brach zusammen. Am Boden liegend, stieß er unablässig hervor: »Nein, nein, nein -« Forge und Durren rannten hin, starrten Winslow an und rich teten dann den Blick auf die Leiche. Das Gesicht war, wie durch ein Wunder, unberührt geblieben. Es war das junge, frische Gesicht eines Mädchens, eines schönen Mädchens, mit einer Locke in der Stirn, Grübchen in den Wangen und einer klei nen, etwas nach oben gebogenen Nase. Aber selbst im Tod waren ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Um Gottes Willen!« ächzte Forge. »Das ist seine Schwester!« »Sylvia Winslow?« fragte Durren. »Ja. Wahrscheinlich wußte sie nicht, wo sie war oder was sie verfolgte. Es ist ein Wunder, daß sie nicht schon vor Angst gestorben ist.« »Es wäre besser für sie gewesen.« Forge blieb mit gesenktem Kopf stehen, das Gesicht mit den Händen bedeckt. Durren wankte davon, um sich im Dschungel zu übergeben. Die anderen Männer hatten sich zurückgezogen, bis auf einen Arzt, der sich über den Admiral beugte und unsi cher in seiner Tasche kramte. Man hörte nur die Blätter rascheln, Winslows Schluchzen, und irgendwo in der Nähe zufriedenes Malmen, als die Hunde gefüttert wurden. »Diese Teufel!« flüsterte Forge. »Diese Bestien!« Durren kam zurück, trat neben Forge und sah auf den Admi ral hinunter. »Ein kleiner Spaß, den sie sich für uns ausgedacht haben«, sagte er leise. »Sie kamen dahinter, wer sie war, sie wußten, daß ihr Bruder hier das Kommando führte. Sie beschlossen, sie in einer großzügigen Geste zurückzugeben. Aber so, daß wir denken mußten, sie sei eine von ihnen. Sie gaben ihr sogar eine ihrer Uniformen.« Er starrte Forge wild an. »Sie sehen doch, was sie uns sagen wollen, nicht wahr? Sie sagen: >Ihr armen, armen Tiere. Unter Menschen könnte so etwas nie vorkommen. Mit uns könntet ihr das nicht machen. Sobald das Mädchen gelandet wäre, oder sogar noch vorher, wüßten wir, wer sie ist und wo sie sich befindet. Sie würde es uns telepathisch sagen,
wir würden jemanden hinausschicken, und damit wäre der Fall erledigt. Nur vernunftlose Tiere wie ihr spüren eines ihrer eigenen Wesen auf und ermorden es. Wir haben sie euch zu rückgebracht. Es ist nicht unsere Schuld, wenn ihr keine Men schen seid.<« Admiral Winslow erhob sich langsam und schob den Arzt weg. Er starrte nach oben. Sein tränenüberstömtes Gesicht leuchtete weiß in der zunehmenden Dunkelheit, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck so unbändigen Hasses, daß Forge fröstelte und sich abwandte. »Gut«, sagte Winslow heiser. »Machen wir uns wieder an die Arbeit.« Licht drang trüb durch eine gähnende Öffnung und zeichnete gezackte Umrisse auf den Boden des schuttbedeckten Kellers. Scharfe Augen warteten in der Düsternis; junge, kräfti ge Muskeln spannten sich. Eine Ratte kroch ins Freie, schob sich vorwärts. Die Augen zielten. Die Muskeln reagierten, und eine Schleuder schwirrte. Die Ratte fiel um und blieb zuckend liegen. Ein Junge sprang vor und packte sie. Er löste einen Sack an seinem Gürtel und schob die Ratte hinein. »So.« Er lachte, als er den Sack sorgfältig zuknotete. »So. Vier Stück. Heute abend gibt es genug zu essen.« Ein Geräusch drang an sein Ohr, ein kaum wahrnehmbarer Laut, aber erstarrt blickte er hastig zur Öffnung und wich dann in die Schatten zurück. Lautlos formten seine Lippen ein Wort: »Gespenst!« Seine Hand zuckte zum Gürtel, riß eine Waffe heraus. Er nannte sie ein Messer, aber in Wirklichkeit war es ein Stück starker Draht, eingelassen in einem primitiven Holzgriff. Die Spitze war mit Geduld zugeschliffen worden. Er glitt hinter einen demolierten Schrank und wartete. Eine Gestalt erschien in der Öffnung, schaute sich vorsichtig um und trat ein. Das Gespenst spürte die Gefahr. Der Mann trat ein paar Schritte vor und drehte sich langsam im Kreis, die Waffe im Anschlag. Der Junge preßte sich tiefer in sein Ver steck und beobachtete ihn haßerfüllt. Plötzlich glitt er heraus, schlich lautlos auf nackten Füßen
durch den Raum. Er sprang vor, das Messer zuckte hoch, traf und grub sich bis zum Heft in den Rücken des Mannes im grü nen Kittel. Als das Gespenst umfiel, riß er das Messer heraus. Mit einem Sprung war er an der Öffnung, mit einem zweiten im grauen Licht des Abends, und rannte los, rannte um sein Leben. Augenblicklich würden andere Gespenster dort auftauchen. So geschah es immer. Er hatte noch kein Gespenst einen Laut von sich geben hören, aber sein Vater hatte ihm erklärt, daß die Gespenster einander auf große Entfernung Gedanken zu schicken konnten, und er glaubte es. Sooft er ein Gespenst erstach, verfolgte ihn ein ganzer Trupp, bevor er sich noch auf die Beine gemacht hatte. Er stürmte über geborstenes Pflaster und sprang in die Ruine eines zerstörten Gebäudes. Feuer knisterte und prasselte über seinem Kopf, als er hineinhechtete, und bohrte ein rundes Loch in das Betonfundament auf der anderen Seite. Er rollte hinunter, sprang auf und lief weiter. Er grub sich durch Schutt und schlüpfte durch den schmalen, verborgenen Eingang eines Tunnels. Er zwängte sich auf Händen und Knien hindurch, tauchte im benachbarten Gebäude auf und wagte es, über eine freie, unkrautbedeckte Fläche zu laufen. Hinter sich hörte er dumpfes Knallen, gefolgt von Zischen. »Gasgeschosse«, murmelte er. Er war in Sicherheit beinahe. Ein Keller, wieder ein Tunnel, und er kam unter einem Gebäude heraus, das so plattgewalzt war, daß es sogar die Ratten mieden. Er hatte sich ein Ver steck ausgegraben und nahm aus einem Metallspind, der halb unter dem Schutt lag, ein großes Blatt Papier. Es war eine Karte, sorgfältig gezeichnet und mit kleinen No tizen bedeckt. Er malte ein >X< an die Stelle, wo er das Ge spenst erstochen hatte, und kreiste es ein. Neben den Keller gegenüber schrieb er: >Gas<, und notierte das Datum. Er seufzte. »Wird Wochen dauern, bis ich da wieder Ratten fangen kann.« Er verwahrte die Karte wieder und nahm sich das Messer vor. Mit einem scharfrandigen Stein grub er eine Kerbe in den Griff. »Zwölf«, sagte er und strich liebevoll darüber. Wenn er eine
Schußwaffe in die Hände bekommen könnte, würde er sie niedermähen. Aber es ging nicht. Es war zu riskant. So hatte es Willie Ulstead erwischt. Er hatte versucht, die Schußwaffe eines Gespenstes an sich zu reißen, nachdem er fes niederge stochen hatte, aber das Gespenst ließ nicht los, und die ande ren waren aufgetaucht, bevor Willie entkommen war. Nein, die einzige Möglichkeit war, zuzustechen und davonzurennen. Aber mit einer Schußwaffe würde es wirklich Spaß machen ... In dem feuchten, halb eingestürzten Tiefkeller, wo seine E l tern lebten, brannte kein Licht. Er schlüpfte aus der Nacht in noch tiefere Dunkelheit und pfiff leise, als er näher kam, um sie nicht zu erschrecken. »Mach Feuer, Ma«, sagte er. Als ein kleines Feuer brannte, gab er ihr den Sack mit den Ratten und setzte sich zu seinem Vater. »Da ist etwas für dich, Paps«, sagte er und zog unter seinem zerlumpten Rock eine Flasche hervor. Sein Vater starrte blind an die andere Wand. Unter einem schmutzig-verkrusteten Bart war sein Gesicht teigig-weiß. Seine zitternden Finger schlössen sich um die Flasche. Sie glitt ihm aus der Hand. Der Junge fing sie auf und legte sie ihm in den Schoß. »Schau, Paps. Etwas Besonderes.« Sein Vater hob die Flasche und kniff die Augen zusammen. »Whisky!« flüsterte er ergriffen. »Whisky! Wo -« »Ausgegraben«, sagte der Junge. »Ich dachte, du magst ihn.« »Wir heben ihn für besondere Gelegenheiten auf«, murmelte der Vater. »Sie muß lange reichen. Wir haben nicht mehr viele Gelegenheiten. Aber jetzt ist eine, weil du den Whisky gefunden hast. Mutter?« »Nein«, sagte sie. »Trink du.« »Es ist keine besondere Gelegenheit, wenn man allein trinkt.« Er öffnete die Flasche und roch daran. Er hob sie hoch, setzte sie an, trank und schmatzte. »Mutter?« »Nur einen Schluck.« Er goß ein wenig in einen flachen Teller und sah ihr zu, wie sie die Flüssigkeit schlürfte. Dann starrte er zögernd den Jungen an.
»Jerry?« Der Junge nahm die Flasche, trank einen Schluck und schnitt eine Grimasse. Er gab die Flasche seinem Vater zurück, der sorg fältig den Verschluß aufschraubte. »Hm«, sagte er und rieb sich die Hände. »Hm.« Er strahlte. »Wie viele Ratten hast du erwischt, Jerry?« »Vier«, sagte der Junge. »Und wieder ein Gespenst.« Seine Mutter wurde blaß und drehte sich um. »Oh, Jerry. Sei vorsichtig. Was sollen dein Vater und ich tun, wenn dir etwas zustößt?« »Ein bißchen früher sterben«, murmelte der Vater. »Ein biß chen früher sterben. Spielt das eine Rolle?« Der Junge griff nach einem zerlesenen Buch und rückte ans Feuer, um im trüben Widerschein lesen zu können. Die Rat ten brutzelten, und sooft er umblätterte, hob er den Kopf und schnupperte hungrig. Er ignorierte die Blicke, die ihm seine Eltern zuwarfen. Es machte ihn unsicher, wie sie ihn ansahen, als sei er ein Fremder für sie. Es machte ihn unsicher, wie fremd sie ihm vorkamen. Die volle Gestalt seiner Mutter war zu einer erschreckenden, krankhaften Magerkeit zusammengeschrumpft. Ihr dunkles Haar war plötzlich weiß geworden. Sein Vater hatte alle Haare verloren, während sein Bart gewachsen war, und er erhob sich selten von seinem Lager aus Lumpen. Aus einem jovialen, furchtlosen Mann war er ein Wesen geworden, das bei jedem Geräusch zusammenzuckte, das im Schlaf hilflos stammelte. »Jerry?« »Ja, Mutter.« »Ich möchte, daß du dich von den Gespenstern fernhältst.« »Sie haben es nicht anders verdient«, erwiderte der Junge grimmig. »Sie haben Paul und Bill auf dem Gewissen, nicht wahr? Und Sue. Ich erledige so viele wie nur möglich, bis ich sterbe.« »Du solltest mit ihm reden, John.« »Nein.« Der Vater schüttelte den Kopf. Der Whisky hatte ihn aufgemuntert, er hatte die Flasche in der Hand und las immer wieder den Text des Etiketts. »Nein. Es gibt nichts, wofür man
leben kann. Er kann genausogut kämpfend zugrunde gehen, statt sich wie eine Ratte zu verstecken, bis man ihn aufspürt. Wenn ich aus diesem Loch herauskönnte, würde ich selbst ein paar mitnehmen.« Die Mutter hob hilflos die Hände und wandte sich wieder den Ratten zu. »Ohne mich hättet ihr beide entkommen können«, sagte der Vater leise. »Beide. Ihr hättet nicht bleiben sollen. Ihr hättet entkommen können, Jerry wäre aufgewachsen und hätte sich den Gespenstern gegenüber gut geschlagen. Die Menschheit braucht junge Leute wie ihn, die mit den Raumschiffen umge hen und die Waffen gebrauchen müssen. Aber wenn er nichts tun kann, als ein paar von hinten zu erstechen, sage ich laß ihn das tun.« »Wir essen jetzt besser«, sagte die Mutter nervös. Sie fielen über die Ratten her. Als ihr Hunger ein wenig gestillt war, wurde Jerry gesprä chig. »Mondhell heute, Paps«, sagte er. »So?« »Paps, warum kommen die Soldaten nicht herüber und kämpfen mit den Gespenstern?« »Sie können nicht, Jerry. Die Gespenster bleiben nicht lange genug an einer Stelle, selbst wenn die Soldaten über die Barrie re könnten.« »Warum gehen dann die Gespenster nicht hinüber und kämpfen gegen die Soldaten?« »Sie haben Angst. Sooft sie es versuchen, unterliegen sie.« Jerry kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Wie kann dann irgendeiner den Krieg gewinnen, wenn niemand kämpft?« »Sie kämpfen die ganze Zeit, aber keine großen Schlachten, glaube ich. Außer vielleicht die Schiffe im Weltraum, aber es ist so lange her, daß wir etwas gehört haben... Ich weiß es wirk lich nicht. Es ist ein merkwürdiger Krieg, und diese Gespen ster sind merkwürdige Wesen.« »Wilde!« schluchzte die Mutter.
»Vielleicht«, sagte der Vater müde. »Vielleicht wollen sie uns aushungern, weil sie uns nicht besiegen können. Uns in die Ecke treiben und aushungern. Überall.« Das Feuer brannte nieder. Jerry betrachtete es traurig. Es wäre schön gewesen, ein großes Feuer anzünden und es die ganze Nacht warm haben zu können. Brennholz gab es genug, aber Feuer konnte man sehen, und Feuer erzeugte Rauch, der gesehen und gerochen werden konnte. Es war einfach zu gefähr lich. Geräusche wurden über ihnen hörbar ein Regen dumpfer Explosionen und ein unheimliches Zischen. Jerry sprang auf. »Gasgeschosse! Schnell! Durch diesen Tunnel.« Er kratzte Steine und Erde von der Öffnung. »Du zuerst, Mutter. Schnell, Paps.« »Nein!« John Corban winkte ab. »Beeilt euch, ihr zwei. Ich war euch lange genug eine Last.« Jerry sprang zur Ecke und ergriff den Arm seines Vaters. »Keine Zeit«, keuchte er und zerrte verzweifelt an ihm. Sein Vater wehrte sich und schob ihn weg. Seine Mutter half ihm, und gemeinsam schleppten sie den sich wehrenden Mann zu der Öffnung. »Da. Hinein schnell!« »Ich komme nicht mit«, sagte John Corban entschieden. »Gut.« Seine Frau strich das weiße Haar aus dem Gesicht und lächelte. »Wenn du bleibst, bleibe ich auch.« Er funkelte sie einen Augenblick lang wütend an, aber nur einen Augenblick. Dann drehte er sich um und schob sich in den Tunnel, zog sich mit den Armen vorwärts, die nutzlosen Beinstümpfe hinter sich herschleppend. Seine Frau folgte ihm, versuchte ihm zu helfen, und Jerry zwängte sich als letzter hinein und stopfte die Öffnung wieder zu, damit das tödliche Gas sie nicht erreichen konnte, bevor sie den Tunnel verließen. Sie kamen nur langsam voran. Die Luft im Tunnel war schlecht, und der Raum war so beengt, daß Jerry bald bedau erte, den Tunnel nicht vergrößert zu haben. Plötzlich blieb John Carbon still liegen, seine Frau plagte sich noch kurze Zeit, und Jerry zischte: »Weiter, Paps.«
Die dumpfe Stimme seines Vaters drang zu ihm.
»Scheint eingestürzt zu sein.«
Jerry schwieg einen Augenblick.
»Du mußt dich durchgraben«, sagte er schließlich. »Schieb
die Erde zu Mutter, sie schiebt sie zu mir.« Sie arbeiteten, keuchend und schwitzend in der ersticken den Dunkelheit. »Scheint kein Ende zu nehmen«, ächzte John Corban. »Mach weiter, Paps«, rief Jerry tapfer. Die Luft verschlechterte sich zusehends. »Es lohnt nicht«, sagte John Corban plötzlich. »Wir hätten es sowieso nicht mehr lange ausgehalten. Lieber soll es hier sein. Wenigstens erreichen uns die Ratten hier nicht.« »Grab weiter, Paps«, flehte Jerry. »Kann nicht. Mir wird schwindlig.« »Sag ihm, er soll graben, Mutter!« Seine Mutter antwortete nicht. Jerry packte sie am Bein und schüttelte sie. »Paps, Mutter ist ohnmächtig!« Er hörte, wie sich sein Vater verzweifelt nach vorne warf, dann rief er: »Meine Hand ist durch.« »Schieb die Erde in die andere Richtung«, keuchte Jerry. Plötzlich konnten sie frei atmen. Jerry massierte die Beine sei ner Mutter. Sie kam zu sich und blieb bewegungslos liegen. Nur ihr Schluchzen war zu hören. Sein Vater begann sich vorwärts zu schieben, und Jerry drängte seine Mutter voran. Der Tunnel schien kein Ende zu nehmen. Sie wurden immer langsamer. Für ihn war es keine Strapaze, weil er beinahe nichts anderes kannte, als Tunnels zu graben oder hindurchzukriechen. Er hatte aber Angst um seine Eltern, die ihren Keller seit Wochen nicht mehr verlassen hatten. »Noch ein Einsturz«, sagte John Corban. Jerrys Mutter sprach das erste Wort, seit sie in den Tunnel ge krochen war, ein verzweifeltes, gequältes: »Nein!« »Vielleicht ist es das Ende«, sagte Jerry. »Das Ende vom Tunnel, meine ich. Es kann nicht weit verstopft sein. Wenn aber der Keller vergast ist, Paps, sind wir erledigt.«
»Versuchen müssen wir es«, sagte sein Vater. »Wenn wir noch lange hierbleiben, haben wir keine Chance mehr.« »Vorsichtig, Paps.« Wenige Minuten danach waren sie im Keller und sogen die kühle, feuchte Luft in sich hinein. Sie ruhten sich aus, ohne zu sprechen. Gespenster mochten noch in der Nähe sein, und dieser Keller war kein gutes Versteck. Sterne funkelten durch eine Vielzahl von Öffnungen, aber zum Glück sah man kein Mondlicht, außer dem Schimmer von künstlichen Monden. Jerrys Gedanken überstürzten sich. Hier konnten sie nicht bleiben. Sie mußten einen neuen Unterschlupf finden, und das sofort. Er hatte mehrere geeignete Plätze ausfindig gemacht. Er hätte seine Eltern längst anderswo untergebracht, wenn sein Vater nicht dagegen gewesen wäre. Aber jetzt waren beide von der Mühsal im Tunnel erschöpft, und sie hatten noch einen weiten, anstrengenden Weg vor sich, wenn sie vor der Morgen dämmerung in Sicherheit sein wollten. »Ich sehe lieber mal nach, ob Gespenster in der Nähe sind«, sagte er. Plötzlich begann sein Vater zu weinen. Er schluchzte wild auf, und Jerry sprang entsetzt hoch, weil er jeden Augenblick damit rechnete, daß die Umrisse eines Gespenstes auftauchen würden. Dann wurden die Schluchzer leiser, aber sein Vater weinte weiter, bis Jerrys Mutter zu ihm kroch, seinen Kopf streichelte und immer wieder stöhnte: »John, John, John.« Aber er hörte nicht auf. Jerry bückte sich, fand seine Hand und schüttelte sie unge lenk. »Paps? Was ist denn, Paps?« »Der Whisky«, schluchzte John Corban. »Ich habe den Whisky vergessen.« An dem Tag, als sich Leutnant Willis Perrin zum Dienst auf dem Schlachtschiff >Castor< meldete, begleitete ihn der Admi ral persönlich zur Offiziersmesse, klopfte auf den Tisch, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, und erklärte gewichtig: »Ich habe die Ehre, Ihnen unseren neuen Stabsoffizier, Leut nant Willis Perrin, vorzustellen. Er war in Ferrano.«
Einen Augenblick lang blieb es still, dann standen die Män ner auf, und es erhob sich Beifall und Jubel. Die >Castor< verlieh Perrin augenblicklich einen Rang, wie er sonst nur Politikern zustand, die auf ihr einen Besuch machten, und ließ ihm eine Verehrung zuteil werden, die selten jemand ohne allerhöchsten Status erhielt. Perrin hatte kurz vor seiner Versetzung den erstaunlichen Sprung vom einfachen Raumsoldaten zum Leutnant gemacht, und nie mand neidete es ihm. Er kam begleitet von höchstem Lob aus berufenem Munde, und niemand strengte sich an, es zu wider legen. Wenn der neue Leutnant sprach, was selten vorkam, lauschten alle Ränge vom untersten Raumsoldaten bis zum Admiral aufmerksam, ohne Widerspruch zu erheben. Denn Leutnant Willis Perrin war bei Ferrano dabeigewesen. Ferrano! In den langen Annalen heroischer Leistung hatte die Weltraum-Marine der Föderation keinen Tag erlebt, der sich mit Ferrano vergleichen ließ. In wenigen Stunden vernich tete sie eine Gespensterflotte und dezimierte eine zweite so gewaltig, daß sie abdrehte und die Flucht ergriff, hoffnungslos unterlegen. Die brutale Invasion der Gespenster war abgewehrt wor den. Ihre Raumschiffe waren über die >Kluft< in den unver messenen Weltraum gejagt worden. Ihre Landstreitkräfte blieben isoliert und ohne Unterstützung auf der Vielzahl von Planeten zurück, die von den Gespenstern erobert worden waren und wo man sie in Ruhe überwältigen konnte, sobald die Föderations-Armee eine Technik dafür entwickelt hatte. Sobald die Grenzgebiete gesichert waren, würde die Födera tionsflotte weit hinaus vorstoßen und die Heimatplaneten der Gespenster suchen. Das war Ferrano die wichtigste Schlacht in der Menschheitsgeschichte. Der Wendepunkt des Krieges. »Nach meiner Meinung schätzen Sie die Bedeutung von Ferrano falsch ein«, sagte Leutnant Perrin knapp. Die Bemerkung wurde mit respektvollem Schweigen aufge nommen. Man befand sich im Nachrichtenzentrum des Schiffes, und die diensthabenden Offiziere und Techniker waren in
gesprächiger Stimmung. Das Geschwader, dem die >Castor< angehörte, flog langsam an der >Kluft< entlang, unbelästigt. Da es sonst wenig zu tun gab, unterhielten sich die Nachrichten techniker angeregt darüber, wie der Krieg am schnellsten zu beenden war. Leutnant Perrin war nicht hereingekommen, um sich an träger Unterhaltung zu beteiligen. Die Instrumente des Raumschiffs hatten ein einzelnes Gespensterschiff entdeckt, weit außer Reich weite in unvermessenem Gebiet, das auf Parallelkurs zum Ge schwader lief. Es war offensichtlich ein Aufklärungsschiff, das den Auftrag hatte, das Geschwader zu beobachten, aber Leut nant Perrin fand seine Anwesenheit störend. Er war theoretisch nicht im Dienst, befand sich aber schon seit einigen Stunden in der Nachrichtenzentrale und überflog die Meldungen über die Bewegungen des Gespensterschiffs. Er stand an einem Beobachtungsfenster, schaute in die Schwär ze des Weltraums hinaus und sprach über die Schulter. Er war alt für einen Leutnant, und er war lange im Weltraum und in der Marine gewesen. Er ärgerte sich über die frivole Unterhaltung. »Sie haben völlig recht, wenn Sie Ferrano als Wendepunkt betrachten«, sagte er, »aber es war nicht die entscheidende Wende. Vielleicht nicht einmal ein Wendepunkt zu unseren Gunsten.« Ein blutjunger O ffizier erhob wütend Prote^: und verstummte verlegen, als Perrin ihn strafend ansah. »Es war keine Wende im Kriegsverlauf«, sagte Perrin. »Es war ein Wendepunkt in der Art des Krieges. Das ist ein Unter schied.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte ein Korvettenkapitän höf lich. »Es ist ein Wendepunkt im Raumkrieg, wie Willar ein Wen depunkt im Landkrieg war. Die Gespenster haben auf Willar fast drei Armeen verloren, soweit wir das berechnen können. Ihre Verluste könnten durchaus dreimal so hoch gewesen sein. Seither haben sie nie mehr Landstreitkräfte der Födera tion in Abwehrstellung angegriffen. Ihre Invasion wurde aber fortgesetzt, und sie besetzten weiterhin erfolgreich Planeten. Sie änderten einfach ihre Taktik.
Ferrano ist eine ähnliche Wendemarke. Ich glaube, wir kön nen davon ausgehen, daß nie mehr eine Gespensterflotte eine unserer Flotten angreifen wird. Unsere Schiffe manövrierten die ihren aus, unsere Waffen besitzen größere Reichweite, und unsere Taktik ist der ihren weit überlegen. Unsere Soldaten sind auch bessere Kämpfer für diese Art von Schlachten. Wenn die Gespenster nicht völlig schwachsinnig sind, was ich bezweifle, werden sie sich nicht mehr auf eine solche Schlacht einlassen. Ferrano wird eine Wendemarke in der Taktik der Gespenster sein.« Der Korvettenkapitän hegte respektvoll Zweifel. »In welcher Beziehung?« »Wer weiß, wie die Gespenster denken? Wir haben noch nicht einen einzigen Gefangenen gemacht, und wenn wir einen hätten, könnten wir ihn vermutlich nicht verhören. Wie soll man das bei einem Mann tun, der sich telepathisch ver ständigt? Wenn ich ein Gespenst wäre -« Perrins Stimme verstummte. Er wandte sich wieder zum Beobachtungsfenster. Irgendwo in der Dunkelheit, zu weit entfernt, um geortet zu werden, außer von den allerempfind lichsten Geräten, befand sich das Gespensterschiff. Was würde er tun, wenn er zur Gegenseite gehörte? Er zuckte zusammen. Ein grauer Schatten glitt graziös aus der Leere, näherte sich der >Castor< und verschwand aus seinem Sichtbereich. Perrin sprang vor. Seine Hand drückte den Alarmknopf. Er stieß den diensthabenden Offizier weg und gab knappe Befehle. Ein, zwei schreckliche Minuten lang geschah gar nichts. Die anderen Offiziere flüsterten nervös miteinander, und zwei oder drei tippten sich verstohlen an die Stirn. Dann meldete sich der Admiral über den Lautsprecher und verlangte weitere Informationen. Die erste Meldung traf ein. Perrins Befehle waren befolgt worden. »Ich habe ihn oder es gesehen«, meldete eine Stimme. »Als ich mich auf ihn stürzte, verschwand er einfach.« »Sie haben ihn abgeschreckt, wie?« unterbrach der Admiral. »Gut gemacht, Perrin. Sie haben schnell reagiert.« »Admiral«, sagte Perrin, »ich schlage vor, daß wir das Schiff
aufgeben.« »Was?« »Daß wir das Schiff aufgeben.« Der Admiral vergaß für Augenblicke, daß Perrin bei Ferrano dabeigewesen war. Seine Antwort war eines Gentlemans nicht würdig und bezog sich in unverschämter Weise auf Perrins Herkunft. Der Admiral entwickelte gerade die Beziehungen des Leutnants zu den feigen Eidechsen im Dschungel Liroys, als die >Castor< durch eine Explosion auseinandergerissen wurde. Die Nachrichtenzentrale leerte sich, als alles nach Rauman zügen rannte, aber Perrin blieb auf seinem Posten, schaltete ruhig auf Notstrom und begann dem entsetzten Hauptquar tier das weitere Schicksal der >Castor< zu beschreiben. »Ein Gespenst mit Antriebs-Anzug teleportierte sich in die unmittelbare Nähe des Schiffes, kam mit dem Antrieb schnell heran, brachte die Sprengladung an und verschwand. Ein Suchkommando sah ihn verschwinden, fand aber die Spreng ladung nicht. Vermutlich hätte man sie auch gar nicht mehr rechtzeitig entfernen können. Meine Signale werden von den anderen Schiffen des Geschwaders nicht beachtet, und ich habe in den letzten dreißig Sekunden von meinem Beobach tungsstand aus sechs Explosionen gesehen. Das ganze Ge schwader könnte betroffen sein. Alle Überlebenden haben die Schiffe verlassen. Leutnant Willis Perrin spricht. Erbitte sofortige Unterstützung für Überlebende des Geschwaders durch alle Schiffe im Sektor.« Perrin wiederholte die Meldung fünfmal, bevor er aufgab. Er suchte in dem abgedichteten Bug des Raumschiffs nach einem Raumanzug, fand keinen und setzte sich mit einem Buch nieder, um zu warten, bis die Sauerstoffzufuhr zu Ende ging. In der nach seinem Tod veröffentlichten Belobigung hieß es, nur sein heldenhaftes Verhalten habe ermöglicht, daß die Flotte erfuhr, was sich in den schicksalhaften Sekunden in der Nähe der >Kluft< zugetragen hatte. Das Geschwader wurde dezimiert. Die Weltraum-Marine der Föderation verlor auf einen Schlag siebenundneunzig Schiffe, und es gab keine
Schiffe, die den Überlebenden helfen konnten. Als der Schlachtkreuzer >Altair< den Schauplatz erreichte, trieben überall erstickte Körper umher, und in den Überresten der >Castor< fand man Leutnant Perrin tot in einem Sessel, ein Buch auf seinen Knien. »Äh Colonel -« »Ja, Mike?« Der Colonel blätterte um und legte den zerlese nen Band auf den Tisch, bevor er fragend den Kopf hob. »Wann wird es ein Ende haben?« Der Colonel sah dem Captain in das jung-alte, ernste Gesicht und zwang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß es nicht, Mike.« »Diese Untätigkeit ist nicht gut für die Leute, Sir.« »Für mich auch nicht. Aber wir können es nicht ändern. Je denfalls nicht, solange wir nicht eine Art umgekehrten CorbanPlan finden, mit dem sich etwas ausrichten läßt. Haben Sie eine Idee?« Der Captain senkte den Blick. »Nein, Sir.« »Ich auch nicht. Also sitzen wir hier fest. Wir wagen nicht, sie anzugreifen, und sie wagen nicht, uns anzugreifen. Sie sind aber im Vorteil, weil wir zwar sicher in den Kreisen sitzen, sie sich aber frei bewegen und eine Welt nach der anderen besetzen, Städte vernichten, die Zivilisten ermorden und uns unbeach tet lassen können.« »Wissen Sie, wie es enden wird?« sagte der Captain. »Ich glaube schon. Wir können hier sitzen, bis wir nichts mehr zu essen haben, und dann können wir entweder einen Angriff starten, der uns allen das Leben kostet, oder uns ergeben, worauf wir dann verhungern müssen. Ich hoffe aber immer noch, daß sich jemand etwas einfallen läßt.« »Vielleicht kommt es dazu.« Der Captain schien wenig Hoff nung zu haben. »Es läuft darauf hinaus«, sagte der Colonel. »Die Gespenster konnten keine Schlacht im Weltraum gewinnen, ohne weit über legen zu sein, und keine Schlacht am Boden, egal, wie stark sie
waren, als sie uns angreifen mußten. Sie haben also einen Krieg der Tricks und der Sabotage daraus gemacht. Lange Zeit gab es überhaupt keine Möglichkeit, einen Saboteur zu fassen. Sie sprengten unsere Raumschiffe, zerstörten Boden- und Nach schubanlagen und dezimierten die Flotte, bis sie kaum mehr handlungsfähig war. Die Marine ist mit dem Problem fertig geworden, aber wenn man sieht, wie die Gespenster durch die Reste der Flotte hindurchstoßen, dürfte klar sein, daß es zu spät ist.« »Gelöst wird das Problem sicher nicht«, meinte der Captain. »Die Gespenster lassen sich immer neue Methoden einfallen.« »Man muß es ihnen lassen. Sie lernen allerhand. Sie hielten sich für maßlos überlegen und brauchten einige Zeit, bis sie dahinterkamen, daß sie von der Militärwissenschaft nicht viel verstanden. Als sie aber aufhörten, unsere Art von Krieg zu führen, und sich auf ihre besonderen Talente spezialisierten, waren wir hilflos. Denken Sie daran, wie sie diesen Planeten erobert haben. Sie schmuggelten ein paar Leute herein, sprengten alle Versorgungsanlagen und militärischen Einrich tungen von einiger Bedeutung, terrorisierten die Zivilbevölke rung, trieben die Armee in Abwehrstellungen und zwangen die Marine, sich zurückzuziehen. All das mit nicht mehr als einem Bataillon und ohne eine einzige richtige Schlacht. Dann rück ten sie an und besetzten den Planeten. Genauso machen sie es jetzt auf den anderen Planeten, während unsere Marine immer weiter zurückgedrängt wird. Ja, ich weiß, wie es enden wird.« Der Captain hob die Hände. »Es muß doch einen Ausweg geben.« »Das sage ich mir auch immer wieder. In letzter Zeit klingt es aber nicht mehr sehr überzeugend. Oh, es wird nicht plötz lich enden. Da haben sich die Gespenster getäuscht. Sie ver wandelten ihre Invasion in einen Zermürbungskrieg, verloren den Kopf und schlugen zu, wo sie konnten, wodurch die Zivilisten am meisten litten. Man ergibt sich keinem Angrei fer, der Frauen und Kinder umbringt nicht, wenn man es vermeiden kann. Viele Menschen werden bis zum Tod kämp fen und sich auf jede mögliche Weise gegen die Gespenster
wehren, und das kann noch eine ganze Generation dauern. Vielleicht wird es nie ganz aufhören. Ich glaube nicht, daß die Gespenster die Menschheit ausrotten können, selbst wenn sie es wollten. Wir sind zu viele, auf zu vielen Welten, und die Föderation nahm einen riesigen Raum ein. Aber unsere menschliche Zivilisation wird zerstört werden, wenn sie es nicht schon ist. So wird es enden.« »Warum sitzen wir dann hier, Sir? Warum gehen wir nicht hinaus und kämpfen? Selbst wenn wir restlos ausgelöscht werden, haben wir wenigstens unsere Pflicht erfüllt.« »Das sind gute Truppen, Mike, und wir dürfen sie nicht einfach wegwerfen. Wir halten sie für den Fall bereit, daß jemand auf eine Idee kommt. Es wäre schade, wenn man einen Plan entwickeln würde und dann niemand mehr da wäre, der ihn ausführen könnte. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten, solange wir können.« »Mag sein.« Der Colonel wandte sich müde ab und griff nach seinem Buch. Draußen wurde gebrüllt. Schritte stapften durch den Tun nel. Aufgeregte Stimmen tönten durcheinander. Der Colonel legte sein Buch weg, der Captain stand auf. »Sehen Sie mal nach«, sagte der Colonel. Es klopfte, als der Captain die Tür erreichte. Er riß sie auf und trat zurück. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ein Sergeant. »Aber komm her, du!« Er schob einen Jungen in den Raum. Es war ein wild aussehender Junge, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht älter oder jünger. Sein Haar war zerrauft, seine Kleidung schmutzig und zerlumpt. Die Füße waren nackt. Sein verschmiertes Gesicht sah eingefallen aus. Die bewaffne ten Soldaten um ihn herum schienen ihn nicht im geringsten einzuschüchtern. Er schaute sich neugierig um, blickte ein zweites Mal auf Essensreste auf einem Tablett und sah schließ lich den Colonel an. »Er hat sich durch die Linien geschlichen«, sagte der Sergeant.
»Er kam bis zum Tunnel drei, bevor ihn jemand bemerkte. Er sagt, er käme aus dem Gespensterland.« »Bewaffnet?« fragte der Colonel lächelnd. »Nur damit.« Der Colonel nahm die Waffe, betrachtete sie kurz und zuck te zusammen, als er zerstreut den Daumen auf die Spitze drückte. »Tödlich«, sagte er. »Und was haben diese Kerben zu bedeu ten?« »Die sind für Gespenster«, sagte der Junge. »Gespenster? Soll das heißen, du hast -« Er zählte. »Du hast zwölf Gespenster umgebracht?« »Ob sie tot sind, weiß ich nicht, Sir. Ich steche nur zu und renne weg. Warten darf man nicht, weil sie Gedanken aussen den, wenn sie niedergestochen werden, und bis man sich um sieht, steht ein ganzer Haufen da.« »Du hast also zwölf Gespenster niedergestochen?« »In den Rücken«, erklärte der Junge. »Sie haben immer Waf fen, also überfalle ich sie von hinten.« »Ein passendes Schicksal für ein Gespenst von hinten nie dergestochen zu werden.« Er beugte sich vor. »Du schwindelst uns doch nicht an, oder?« »Was? Nein, Sir. Ich habe zwölf erwischt, und andere Jungen schafften noch mehr. Willie Ulstead erwischte dreiundzwanzig, bevor sie ihn umbrachten.« »Sehr interessant«, sagte der Colonel. »Sergeant, ich möchte mich mit dem jungen Mann unterhalten. Er sieht hungrig aus. Lassen Sie etwas bringen.« »Jawohl, Sir.« Der Sergeant salutierte, und die Tür schloß sich hinter ihm. »Nun gut. Setz dich doch, äh -« »Corban, Sir. Jerry Corban.« Der Colonel wechselte mit dem Captain Blicke. »Corban? In deiner Familie gibt es wohl keinen William Cor ban?« »Das ist mein Bruder Bill. Er war bei der Armee.« »War?«
»Klar. Er ist Major gewesen. Er ist wohl tot, weil wir nichts mehr von ihm gehört haben.« Der Colonel atmete tief ein. »Und wer gehört noch zu deiner Familie?« »Tja, Mutter und Paps, sie sind drüben in der Stadt was Sie Gespensterland nennen. Ich habe einen ganz guten Keller für sie gefunden. Mein Bruder Paul war bei der Marine, ist aber vermißt, sicher also auch tot. Und meine Schwester Sue war in den Flitterwochen auf >Regenbogen<, als die Gespenster ka men. Wir haben von ihr auch nichts mehr gehört, und Mutter macht sich schwere Sorgen, aber es ist schon so lange her, und vielleicht macht sie sich jetzt keine Sorgen mehr.« »Deine Eltern sind drüben im Gespensterland und leben in einem Keller?« fragte der Captain ungläubig. »Klar.« »Guter Gott! Wie leben sie? Was eßt ihr?« »Hauptsächlich Ratten. Ratten gibt es viele.« »Sind viele Menschen drüben, Jerry?« fragte der Colonel. »Ziemlich viele. Wir bleiben aber jeder für sich, weil die Ge spenster es sonst merken, wenn viele zusammenkommen.« »Man hat uns erzählt, daß alle entkommen seien, Sir«, sagte der Captain. »Die meisten sicher«, meinte der Junge. »Aber mein Vater es riß ihm die Beine weg, als die Gespenster das Kraftwerk sprengten, und alle hatten es so eilig, daß ihn niemand mit nehmen wollte. Deshalb sind wir dageblieben.« Sie wurden von dem Sergeanten unterbrochen, der ein Ta blett hereinbrachte. Der Junge riß die Augen auf und befeuch tete die Lippen, als man es auf seine Knie stellte. »Mensch! Ist das für mich?«
»Gewiß«, sagte der Colonel.
Der Junge zögerte. »Ich möchte es lieber meinen Eltern brin
gen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir.« »Wir sorgen dafür, daß du deinen Eltern auch etwas bringen kannst. Iß nur zuerst. Du kannst es dann leichter schleppen.« »Das stimmt, Sir.«
Sie sahen ihm zu, wie er das Essen verschlang. Als er das Ta blett seufzend wegschob und sich auf den Magen klopfte, war alles verschwunden. »Mehr?« fragte der Captain. »Lieber nicht«, meinte der Colonel. »Sonst wird ihm übel. Und jetzt erzähle, Jerry. Wie bist du aus dem Gespensterland herausgekommen? « »Ich habe eine Röhre gefunden«, erwiderte der Junge. »Un terirdisch. Sie verläuft unter ihrer Barriere hindurch. Ich grub mich heraus, als ich ans Ende kam.« »Warum bist du hierhergekommen? Du hättest dabei das Leben verlieren können, verstehst du. Nachts schießen wir auf alles, was sich bewegt.« Der Junge grinste. »Ich glaube nicht, daß Sie mich gesehen hätten. Die Gespen ster finden mich auch nicht. Und ich bin hier, weil ich eine Schußwaffe haben will. Damit könnte ich viele Gespenster erledigen.« »Diese Röhre«, sagte der Colonel. »Könnten meine Solda ten hindurchkriechen?« »Nein. Für mich ist sie schon beinahe zu eng.« »Wir könnten einen Tunnel graben und hinüberkriechen«, sagte der Captain. Der Colonel nickte. »Vielleicht.« »Und wenn ein Junge mit diesem Ding zwölf Gespenster töten kann, müßten ein paar Soldaten innerhalb der Barriere geradezu ein Gemetzel veranstalten.« »Sie wären umzingelt, bevor sie etwas unternehmen könn ten.« »Der Junge schärft es doch auch«, meinte der Captain. »Man muß sich Gedanken darüber machen«, sagte der Colo nel nachdenklich. »Wir müßten nicht viele Leute aufs Spiel setzen, , und wenn wir vorsichtig planen und zuerst ihre Gewohnheiten studieren, könnten wir einen Hinterhalt legen. Gut. Lassen Sie sich alles sagen, was der Junge weiß, und sehen Sie, was Sie damit anfangen können. Aber zuerst soll er
baden und von den Ärzten untersucht werden. Stellen Sie fest, ob Sie für ihn etwas anzuziehen finden.« »Bitte, Sir«, sagte der Junge. »Ich muß heute nacht zurück. Meine Eltern würden sich Sorgen machen.« »Gewiß. Du kannst zurück, und wir geben dir mit, soviel du tragen kannst. Komm morgen nacht wieder und bleib dann ein paar Tage hier. Wir möchten, daß du uns hilfst. Wir bereiten den Gespenstern eine hübsche Überraschung.« »Kann ich eine Schußwaffe haben, Sir?« »Das läßt sich vielleicht machen. Paß auf, Jerry. Dein Bru der Bill war ein großartiger Soldat. Die ganze Armee kennt seinen Namen. Wir sind stolz auf ihn. Und er war nicht Ma jor, sondern General. Das kannst du deinen Eltern sagen. General William Corban. Wir wissen nicht einmal mit Sicher heit, ob er ums Leben gekommen ist. Auf Willar sind viele Soldaten gefallen, aber soviel wir wissen, wird dort immer noch gekämpft. Und wenn er noch lebt, ist er sicher dabei. Das kannst du ihnen sagen.« Die Augen des Jungen glänzten. »Sicher. Das sage ich ihnen. Wissen Sie etwas über meinen Bruder Paul?« »Nein, Jerry. Aber was auch aus ihm geworden ist, ich bin sicher, daß er seiner Familie und der Marine Ehre gemacht hat. Und ich will dir noch etwas sagen. Dein Bruder Bill war ein großer Soldat, aber ich glaube, du bist ein noch größerer. Jetzt lauf und wasch dich.« Der Sergeant nahm ihn mit. Der Colonel schwieg lange Zeit, öffnete schließlich eine Schublade, zog eine Fotografie heraus und stellte sie auf den Tisch. »Er ist so alt wie mein Junge«, sagte er. »Ich möchte wissen, ob Jim auf Birror das gleiche tut. Ich hoffe es. Aber genau das meinte ich vorhin, Mike. Wir werden besiegt Unsinn, wir sind besiegt. Aber nicht geschlagen. Selbst die Kinder kämpfen, und sie halten sich nicht einmal schlecht. Ich wette, daß Jerry und seine Freunde die Gespenster zur Verzweiflung treiben. Was hat er gesagt, als er hinausging?« »Er wollte wissen, ob wir Gasmasken haben.«
»Sie versuchen also, sie mit Gas auszuräuchern. Sie machen den Gespenstern also schwere Sorgen. Gut. Wir sehen, wie er es anstellt, dann fällt uns vielleicht etwas ein. Vielleicht der Plan, den wir brauchen, vielleicht machen wir ein paar Ges penstern auch nur Scherereien, aber wir können nicht den ganzen Kampf hier den Kindern überlassen.« Das Telefon läutete. Der Colonel nahm den Hörer ab, lauschte und legte wieder auf. »Mitteilung vom Flotten-Hauptquartier. Die Gespenster sind wieder durchgebrochen.« »Wie weit sind sie diesmal gekommen?« »Bis zur Erde.«
DRITTER TEIL
Über Wochen und Monate hinweg verlief Paul Corbans Leben im >Raxtinu< unverändert. Doktor Alir sah er nur noch selten. Er glaubte, daß er es war, der ihr auswich, aber dann wurde ihm klar, daß sie es vermied, mit ihm zusammenzutreffen, als mache die Erinnerung an den einen zauberischen und rührenden Augen blick in seinen Armen sie befangen. Seine Liebe zu ihr wandelte sich nicht, aber er isolierte sie von sich und schloß sie ab wie eine empfindliche Blume, die man nicht berühren durfte. Unabsichtlich hatte sie ihn verraten, wie er seine Mitmenschen verraten hatte. Er maß ihr keine Schuld zu, aber er wünschte auch nicht, daß ihn ihre Schönheit unablässig mit der Erinne rung an seinen unbewußten Verrat quälte, denn er glaubte fest, daß nur seine Liebe zu ihr ihn dazu bewegen hatte, ihr zu vertrauen. Miles Fletcher und Roger Froin, die beiden menschlichen Märty rer, erschienen nicht mehr, und Corban fehlte der Mut, sie zu suchen. Er wußte, daß es noch mehr Menschen aus der Födera tion unter den Insassen der Anstalt gab, wenn er auch nicht sagen konnte, wer sie waren oder wo sie wohnten, und sooft ihm ein Patient mehr als einen beiläufigen Blick schenkte, bildete er sich ein, es sei ein Mitmensch, der ihn mit brennendem Haß betrachtete. Früher oder später verliere ich den Verstand, sagte er sich, Und dann wird es vielleicht besser zu ertragen sein. Mehrere Tage lang konzentrierte er sich darauf, den Verstand zu verlieren, und die Tatsache seiner geistigen Gesundheit wurde ihm zur Qual. Mehr und mehr blieb Corban für sich und mied sogar bei läufige Kontakte mit den anderen Insassen. Er verließ tage lang nicht einmal sein Zimmer. Bücher hätten seine Qualen vielleicht gelindert, aber es gab keine Bücher, abgesehen von den langweiligen Bänden, die man bei den Doniriern für die Anstaltsinsassen als geeignet empfand. Seine Mahlzeiten er schienen und verschwanden oft unberührt. Er nahm ab und
wurde von einer lähmenden Lethargie überfallen. Stundenlang lag er auf seinem unsichtbaren Bett und starrte wie in Trance an die Decke. Abends wurde er, sobald die brüchige Stimme des alten Mannes ihre Lieder anstimmte, in die Wirklichkeit zurückge rufen. Die Lieder störten ihn von Tag zu Tag mehr. Er schloß das Fenster fest, aber die Musik erreichte ihn immer noch, als schwach pulsierender Hauch von Schönheit. Er ging wütend im Zimmer auf und ab, stieß Verwünschungen aus und ver setzte dem weichen, unnachgiebigen Material seines Bettes Fußtritte. Eines Abends, als er es nicht mehr ertragen zu kön nen glaubte, stürmte er in den Park, ergriff das Instrument des alten Mannes und zerbrach es über dem Knie. Der alte Mann war zuerst erstaunt und dann tief betrübt. Er preßte die Überreste des Instruments an sich und schluchzte: »Warum haben Sie das getan?« Corban drehte sich mit steinerner Miene um und marschier te davon. Nachher fragte er sich, ob der alte Mann sich ein neues Instrument bauen und ein weniger feindseliges Publi kum für seine Lieder finden würde. Vielleicht war es so, aber Corban hörte ihn nie mehr singen. Es war paradox, aber die Lieder fehlten ihm. In der Dunkelheit pflegte er am Fenster zu stehen und zu den Sternen hinaufzustarren. Er fand sich nicht ganz zurecht, hatte aber das Gefühl, daß einige davon zur Föderation gehö ren mußten, Sterne, in deren Nähe Menschen wohnten, und er wußte, daß der hallende Donner des Krieges sie einhüllte und durch ihre friedlichen Himmel stob, und daß er, Paul Corban, dafür verantwortlich war. Sein Bruder Bill würde dabeisein, das stand für Corban fest. Bill war Soldat, ein guter sogar, und nicht der Typ, der vor dem Kampf zurückscheute, ob es sich nun um die kindischen Schlägereien handelte, in die er sich als Junge so gern gestürzt hatte, oder um einen Krieg, der die ganze Galaxis umspannte. Er würde von Anfang an dabeisein, wenn er Gelegenheit dazu erhielt. Und seine Schwester Sue inzwischen würde sie verheiratet
sein. Er betete dafür, daß sie glücklich war und daß ihr Mann sie weit weg in Sicherheit gebracht hatte: zurück auf die alte Erde oder in den entlegensten Winkel der Föderation, wo sie vom Krieg nicht behelligt werden konnte. Zu Hause war der kleine Jerry mit seinen Eltern. Jerry war längst kein Baby mehr, wie damals, als Corban ihn zum letz tenmal gesehen hatte. Aber er und die Eltern waren gewiß ungefährdet. Die donirischen Ungeheuer konnten niemals so weit vordringen. Oder doch? Corban wußte, daß sie es konnten, und er wußte, daß die Menschheit vernichtend geschlagen werden würde. Gewiß, man würde sich wehren. Man würde tapfer kämpfen, und die Donirier würden trotz ihrer übermenschlichen Kräfte schnell merken, daß der Krieg kein Spaziergang für sie war. Aber was hatte das für einen Sinn? Die Menschheit würde das Schicksal erleiden, das die Donirier für sie vorgesehen hatten. Paul Corban war verantwortlich, und es gab nichts, was er tun konnte. Nichts. Früher oder später, sagte er sich immer wieder, während er zu den Sternen hinaufsah und sich fragte, welche Schlachten in diesem Augenblick stattfinden mochten, früher oder später verliere ich den Verstand. Aber er verlor ihn nicht. Das langsame Verrinnen der Zeit kam ihm kaum zum Be wußtsein. Jeder Nacht folgte unerbittlich ein neuer Tag, und die monotone Folge von Tagen und Nächten begann ihm nichts mehr zu bedeuten. Er schlief nur, wenn Erschöpfung seinen geschwächten Körper überwältigte, wenn die ätzende Reue seiner Gedanken sich allzutief einbrannte. Er schlief, bis er erwachte, und er blieb wach, bis er von selbst einschlief. Wie lange war er schon Gefangener? Monate? Jahre? Es spielte keine Rolle mehr, und er hörte auf, sich damit zu befassen. Einmal erwachte er mitten in der Nacht aus einem fiebrigen Erschöp fungsschlaf und sah Doktor Alir neben seinem Bett stehen. Er schaute verwundert zu ihr hinauf, schloß die Augen, öffnete sie wieder. Er träumte nicht. Sie war wirklich da. Sie hatte sich verändert. Ihr eingefallenes Gesicht war von unnatürlicher Blässe. Sie sah auf ihn herunter und trat einen Schritt näher,
als er sich aufsetzte. »Sie bringen Sie fort«, sagte sie. »So?« sagte Corban. »Na ja spielt das eine Rolle?« Lange Zeit erinnerte er sich an den Schmerz, der ihr Ge sicht verzerrte, daran, wie sie zusammenzuckte und zurück taumelte. Er erinnerte sich und fragte sich, ob es vielleicht doch eine Rolle spielte. »Sie bringen Sie fort«, wiederholte sie. »Sie bringen Sie nach « Er sah sie an und wartete, aber sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie wandte sich ab, preßte die Hände auf das Gesicht, so daß die nächsten Worte kaum zu verstehen waren. »Leben Sie wohl«, sagte sie. »Es tut mir leid. Das müssen Sie mir glauben. Und leben Sie wohl.« Sie war verschwunden. Es war noch dunkel, als sie ihn holten. Irgendwie wirkte es geheimnisvoll, daß sie ihn nachts fortführten. Im übrigen glich sein Abgang der Ankunft, abgesehen davon, daß die beiden Männer scharlachrote Kittel trugen. Es kam die Fahrt mit dem Bodenfahrzeug, das unmerkliche Teleportieren durch die lange Reihe kreisrunder Stationen mit ihren hohen Kuppeln, von trister, nächtlicher Leere, und schließlich standen sie vor einem Tor. Corban nahm an, daß es ein Tor in einer Mauer war, wenngleich er beides nicht sehen konnte. Ein uniformierter Aufseher ließ sie eintreten, und Corban wurde von seinen Begleitern sofort in sein Zimmer teleportiert. Es erinnerte Corban an das Zimmer im Krankenhaus, nur war es größer und von rötlichem Licht erfüllt. Aber er befand sich wieder in einer sechseckigen Zelle mit Badezimmer, und an der Decke war ein Gitter angebracht. In Wandnähe lag die Bodenplatte eines unsichtbaren Bettes. Einer der Pfleger be rührte seinen Arm und gestikulierte. Verwirrt starrte ihn Cor ban an, bis er begriff. Sie wollten seine Kleidung. Er zog sich aus, sie nahmen die Sachen mit und verschwanden. Corban fühlte nur eines: unermeßliche Müdigkeit. Er sank auf das Bett und schlief ein. in Er wurde aus dem Schlaf geschreckt, als ihm jemand ins
Ohr brüllte. Er sprang erschrocken aus dem Bett und sah sich einer Frau gegenüber. Sie war nackt wie er. Sie starrte ihn leer an. Ihr Haar war strähnig und zerrauft, ihre Augen wirkten blind, ihr Gesicht war von seltsamer Ausdruckslosigkeit. Corban war zu verblüfft, um sich bewegen oder auch nur sprechen zu können, und die Frau starrte ihn unverwandt an, ohne einen Laut von sich zu geben. Ein Mann erschien im Zimmer, ein nackter Mann, der un geschickt umherstolperte, gutturale Laute a usstieß und auf die Frau zusprang. Sie schrie auf und verschwand. Der Mann verschwand ebenfalls, ohne einen Blick auf Corban zu werfen. Corban setzte sich schwerfällig. Sekunden später waren sie wieder da, der Mann immer noch als Verfolger, die Frau allein daran interessiert, Corban anzustarren. Sie huschten mehrmals durchs Zimmer, und als sie schließlich fortblieben, stand Corban fröstelnd auf. Er untersuchte das Zimmer. Die Wände waren massiv, und es gab keinen Ausgang. Nur ein Wesen mit der Gabe der Teleportation kann hinaus, dachte er. Aber der Mann und die Frau Mitpatienten oder Insassen, oder was sie sonst waren, weil sie nackt herumliefen wie Corban konnten sich telepor tieren. Dann hatte diese Anstalt also keine Ähnlichkeit mit dem >Raxtinu<, wo nur das Personal über Psi-Kräfte verfüg te. Die Frau tauchte wieder auf. Sie stand ohne Verlegenheit in der Mitte des Zimmers und starrte Corban mit derart unver hüllter Bewunderung an, daß er seinen Abscheu überwand und sich zu amüsieren begann. Er setzte sich wieder auf das Bett und erwiderte ihre Blicke. Sie zeigte keine Befangenheit, und Corban blickte sie unverwandt an, während er sich fragte, wie lange das so weitergehen konnte. Dann erschien der Mann wieder. Er landete lautlos hinter der Frau, packte sie grob und riß sie um. Corban war sofort auf den Beinen. Er stürzte sich auf den Mann und schlug ihn nieder. Als jener zusammenbrach, stieß die Frau einen gellenden Schrei aus und ging auf Corban los. Corban wich erschrocken zurück, was sie zu verwirren
schien. Sie blieb stehen und beobachtete ihn, als er sich in eine Ecke zurückzog. Der Mann kam wieder zu sich, stand schwankend auf und verschwand. Er kam im nächsten Au genblick wieder, gefolgt von einer Frau und einem zweiten Mann. Andere erschienen, einzeln oder paarweise, nackte Erwachsene beiderlei Geschlechts, bis das Zimmer überfüllt war und Corban an die Wand gepreßt wurde, einen angriffslu stigen Pöbelhaufen vor sich. Einige gaben unverständliche Schrei- und Knurrlaute von sich, andere funkelten ihn zornig an, schnitten kindische Grimassen oder bedrohten ihn. Plötzlich stürmten sie auf ihn zu. Corban stieß sich von der Wand ab. Er schlug blindlings auf die haßerfüllten Gesichter ein, sah einen Mann zu Boden gehen, einen zweiten stürzen. Ein Arm legte sich um seine Kehle. Er packte ihn, hörte, wie der Knochen brach. Sie waren hinter ihm aufgetaucht und warfen sich auf seinen Rücken. Er duckte sich, schleuderte einen Angreifer über seinen Kopf und bemerkte gleichgültig, daß es eine Frau war. Ein Mann führte einen brutalen, tödlichen Hieb nach seinem Kopf. Corban duckte ab und riß sein Knie hoch. Er kämpfte jedoch einen aussichtslosen Kampf. Von hinten schlössen sich Hände um seinen Hals. Er packte sie, bekam einen Finger zu fassen und brach ihn, aber die Hände lösten sich nicht. Eine Faust krachte an seine Stirn. Hände krallten nach ihm, kratzten, schlugen, bis er zu Boden ging. Plötzlich war er frei. Im Zimmer standen zahlreiche rotge kleidete Pfleger, und bei ihrem Eintreffen flüchteten die Angreifer, die bei Bewußtsein waren. Die Pfleger teleportier ten die anderen ungerührt hinaus. Ein Mann im hellblauen Arztkittel erschien und untersuchte Corbans Verletzungen. Dann war er allein, bis auf die Frau, die als erste aufgetaucht war. Sie kauerte in einer Ecke, und ihr dumpf bewundernder Blick verließ ihn nicht. Corban warf sich auf das Bett. Er war ein Narr gewesen, weil er sich gewehrt hatte, sagte er sich. Wenn sie ihn nun getötet hätten? Dem Wahnsinn war sogar der Tod vorzuzie
hen. Wahnsinn. Diese lallenden, Gesichter schneidenden Nack ten waren eindeutig wahnsinnig, und doch waren sie Über menschen. Sie teleportierten sich, sie verständigten sich ver mutlich, wenn überhaupt, telepathisch, da ihre gesprochenen Äußerungen unverständlich gewesen waren. Telekinese? Wahr scheinlich, aber darauf kam es gar nicht an. In dem Raum gab es nichts, was man bewegen konnte, ob mit den Händen oder mit dem Gehirn. Er verlor sich in Gedanken, auf der Suche nach einer Erklä rung. Im >Raxtinu< waren seine Mitpatienten in jeder Beziehung normal gewesen, bis auf das Fehlen der übernatürlichen Kräf te, wie sie sonst allen Doniriern eigen waren. Hier Besaßen die Insassen diese Kräfte, waren aber völlig irrational. Er hatte das >Raxtinu< für ein Irrenhaus gehalten und hatte sich getäuscht. Dort waren die Insassen normale Wesen in einer übernormalen Welt gewesen. Das machte sie zu subnormalen Wesen, aber sie waren nicht verrückt. In jeder großen Zivilisation sprach jedoch das Gesetz der Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung geistig krank sein mußte. Wahrhaft verrückt. Intelligente Wesen würden ihre Geisteskrankheit als solche erkennen und für die davon Befallenen sorgen. Das war ihr Irrenhaus. Corban war mit Donirs irren Über menschen zusammengesperrt worden. Die Frau beobachtete ihn unablässig. Corban sah sie zer streut an. Plötzlich fiel ihm ein, daß er lange Zeit nichts geges sen hatte. Ein erschreckender Gedanke stellte sich ein. Die Insassen dieser Anstalt konnten nach Wunsch kommen und gehen. Vielleicht wurde das Essen nicht in die Räume gelie fert. Vielleicht mußte man es sich selbst holen. Wenn das zutraf, würde Corban verhungern müssen. Nur jemand, der sich teleportieren konnte, vermochte diesen Raum zu betreten oder zu verlassen. Und obgleich der Gedanke an den Tod nichts Schreckhaftes hatte, wünschte er ihn sich, wenn er kommen sollte, schneller und schmerzloser als durch Verhun
gern. Er ging auf die Frau zu. Als sie erwartungsvoll zu ihm auf sah, deutete er auf seinen Mund. Er hegte wenig Hoffnung, ihr etwas begreiflich machen zu können, aber einen Augenblick später erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. Sie tanzte wild um ihn herum, verrenkte die Glieder und strahlte ihn an. Dann ver schwand sie. Sie kam mit einem Mann in der Uniform eines Arztes zu rück. Er öffnete eine Instrumententasche und begann zu Cor bans Verblüffung sein Gebiß zu untersuchen. Corban erklärte geduldig, er habe Hunger. Der Arzt brachte ihn mit einem Instrument, das er an den Gaumen drückte, zum Schweigen und setzte seine Untersuchung fort. Von Corbans Zahnbefund befriedigt, wehrte er verächtlich seine Fragen nach Nahrung ab und verschwand. Corban versuchte es erneut bei der Frau, deutete auf seinen Mund und führte Kaubewegungen vor. Diesmal begriff die Frau. Sie brachte Essen, verpackt in eine dünne, durchsichtige Serviette. »Natürlich«, murmelte Corban, während er darüber herfiel. »Kein Geschirr, keine Tabletts, kein Besteck, nichts, womit die Insassen sich oder andere verletzen könnten. Nicht einmal Kleidung.« Sein Gedankengang wurde unterbrochen. Die Frau kam wie der und brachte zu essen. Sie holte immer mehr, obwohl er mit Gesten und Worten protestierte, bis der ganze Fußboden mit den kleinen Päckchen bedeckt war. Als er gegessen hatte und ihr schließlich begreiflich machen konnte, daß er nichts mehr wollte, entfernte sie die Päckchen gelassen eines nach dem anderen und kam zurück, um sich wieder in die Ecke zu kauern. Dort blieb sie. Sie war da, als er einschlief, und sie war da, als er wach wurde. Tag und Nacht waren im ewig gleichen, trüben roten Licht des Zimmers bedeutungslos, aber Corban schätzte, daß mehrere Tage vergingen, bevor einige der anderen Insassen auftauchten. Dann trafen sie einzeln ein, standen im Zimmer, starrten ihn neugierig an und verschwanden wieder. Wenn sie verweilen
wollten, genügte ein Blick von ihm, um sie davonzuscheuchen. Der Kampf hat mir einen gewissen Ruf verliehen, sagte sich Corban. Aber mit der Zeit gewannen sie Selbstvertrauen. Sie erschienen in größerer Anzahl, bis sie wie Heuschreckenschwärme ein zufallen schienen. Ihre Haltung verwandelte sich von zögern der Neugier in kühnen Hohn. Sie verspotteten ihn. Sie zwick ten und rempelten ihn, wenn er aß. Sobald er eine drohende Geste machte, verschwanden sie einfach oder teleportierten sich außer Reichweite durch das Zimmer. Während der gan zen Zeit saß die Frau, die sich als seine Hüterin etabliert hatte, auf dem Boden und sah zu. Seine Hilflosigkeit versetzte ihn in Wut. Er konnte ihnen nicht ausweichen. Sein Zimmer war sein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab, und doch kamen und gingen sie, wie es ihnen beliebte. Er begann sich auf die Quälgeister zu stürzen und Schläge auszuteilen, die selten trafen. Mit verschlagenem Blick saß er stundenlang auf dem Bett, beobachtete, in wel chem Rhythmus sie auftauchten, und entwarf einen Plan, um sie zu fassen, bevor sie sich zurechtfanden. Während er je doch einen der unerwünschten Besucher vorübergehend festhalten konnte, tauchten fünf oder sechs weitere auf, schnitten Grimassen, lallten Unverständliches oder schlugen von hinten auf ihn ein. Schlaf war nicht mehr möglich. Corban begann zu toben wie ein eingesperrtes Tier. Als es ihm gelang, einen Mann vorübergehend zu betäuben, stürzte er sich auf ihn und schlug ihn zusammen, bis die Pfleger kamen und ihn wegrissen. »Raus hier!« brüllte Corban. »Raus, oder ich bringe euch um!« Die Pfleger beachteten sein Toben nicht. Die Insassen ver hielten sich eine Weile vorsichtig, aber ihre Bösartigkeit stei gerte sich. Corban begann zu begreifen, daß seine treue Die nerin kaum mehr Nahrung herbeischaffen konnte. Man nahm ihr alles weg, bevor sie sein Zimmer erreichte. Es hat keinen Zweck, sagte sich Corban schließlich. Ich ha be es von Anfang an falsch gemacht. Ich hätte sie einfach
ignorieren müssen. Er war völlig erschöpft. Er aß nur noch wenig, da ihm die Nahrung, die von der Frau noch ins Zimmer geschmuggelt werden konnte, oft aus der Hand gerissen wurde. Er saß auf dem Bettrand, vergrub das Gesicht in den Händen und be schloß, von nun an alles über sich ergehen zu lassen. Nach kurzer Zeit tobte ein Pöbelhaufen um ihn, stieß ihn an, zerrte an ihm, versuchte ihn vom Bett zu ziehen, zwickte, kratzte schlug zu. Er erduldete alles schweigend, den Blick auf den Boden gerichtet, damit sie die Verzweiflung in seinen Augen nicht sehen konnten. Plötzlich tauchte der hellblaue Kittel eines Arztes im Zim mer auf. Die Insassen flüchteten sofort. Corban war zu er schöpft, um den Kopf zu heben, als der Arzt auf ihn zutrat. Sein Arm wurde gepackt, und das Zimmer verschwand. Als letztes sah er die nackte Frau an der Wand sitzen, das schmol lende, kindliche, beinahe hübsche Gesicht über ihren schlaf fen, ältlichen Körper gebeugt. Er befand sich an einem dunklen Ort, wo er nichts sehen konnte. Es roch nach Erde, nach fremden Kräutern, nach Blumen. Jemand drückte ihm Kleidung in die Hände. Eine melodische Stimme sagte leise: »Ziehen Sie das an. Schnell!« »Doktor Alir!« entfuhr es ihm. »Ich konnte Sie dort nicht zugrunde gehen lassen«, sagte sie schlicht. Sie öffnete die Tür einen Spalt, damit er ein wenig Licht hatte und sich richtig anziehen konnte. Er zögerte, als er sah, daß die Kleidungsstücke vom amtlichen Hellblau der Ärzte waren. Aber sie sagte nichts, also zog er sie an. Sie waren in einem kleinen Schuppen, wo Gartengeräte aufbewahrt wurden. Draußen herrschte Dämmerung. In der Ferne konnte Corban ein riesiges Gebäude sehen, umgeben von einem Park mit Spazierwegen und vielen Blumen, die der untergehenden Sonne blasse Blüten zuwandten. Der grazile Bau wirkte im verglühenden Licht beinahe feenhaft. Es war ein schönes Irrenhaus, dachte Corban. Als er angekleidet war, öffnete sie die Tür weiter, sah ihn
prüfend an und nickte befriedigt. »Es gibt nur eine Möglichkeit, durch die Barriere zu gelangen«, flüsterte sie. »Der Aufseher muß uns durchlassen. Er muß uns für zwei Ärzte halten. Tun Sie einfach, was ich tue. Wenn ich vortrete, gehen Sie neben mir. Sobald wir draußen sind, be steht keine Gefahr mehr. Verstehen Sie?« »Ja«, sagte er. Er verstand genau. Die Gefahr bestand nur für sie. Wenn man sie faßte, würde man ihn wieder in die Anstalt zurückbringen, und es ginge ihm jedenfalls nicht schlechter als vorher. Sie dagegen riskierte alles. Sie nahm seinen Arm. Er spürte keine Bewegung, aber nun standen sie vor dem unsichtbaren Tor, durch das er bei seiner Ankunft getreten war. Neugier beschlich ihn. Die Barriere war natürlich notwendig, um die der Teleportation fähigen Insassen an der Flucht zu hindern, aber eine Barriere, die sie zurückhalten konnte, mußte ein Wunderding sein. Er fragte sich, wie sie funktionierte. Der Aufseher warf ihnen einen arglosen Blick zu und betä tigte einen Hebel. Als Doktor Alir vortrat, ging er neben ihr her. Dann hatten sie die Barriere durchschritten, und die friedliche Landschaft erstreckte sich einladend vor ihren Augen. »Jetzt«, flüsterte sie, packte seinen Arm fester, und sie mach ten den ersten Sprung. Mit zunehmender Dunkelheit vollführ ten sie Sprung um Sprung, und jeder von Dunkelheit umhüllte Landeplatz erschien Corban gleich. Er wußte nicht, ob diese teleportierten Ortsveränderungen Meter oder Meilen umfaß ten, aber er wußte, daß sie sich von der Tortur der Anstalt entfernten. Er wußte, daß er schlafen durfte, wenn sie ihr Ziel erreichten, und im Augenblick wünschte er sich nichts anderes. Die ersten Sprünge gingen glatt, aber dann fiel auf, daß Dok tor Alir ermüdete. Corban erinnerte sich an die beiden breit schultrigen Pfleger, die ihn zum >Raxtinu< geschafft und von dort wieder weggebracht hatten, und es gab für ihn keinen Zwei fel, daß die Fortbewegung seines Körpers eine junge Frau, die kaum dem Mädchenalter entwachsen war, geistig unglaublich anstrengen mußte. Als die Pausen zwischen den Sprüngen länger
wurden, hatte Corban Zeit, sich umzusehen und Vermutungen darüber anzustellen, wo sie sich befinden mochten. Ohne Ausnahme landeten sie auf freiem Feld oder in Waldungen. Gelegentlich funkelten in der Ferne Lichter, aber nie in unmit telbarer Nähe. Dann schloß sich ihre Hand wieder fester um seinen Arm, sie sagte: »Fertig?«, und wieder ging es weiter. Sie mußte alles genau geplant haben, sagte er sich. Sie muß diesen Weg schon einmal zurückgelegt haben, sonst wüßte sie nicht so gut Bescheid. Der Himmel färbte sich in der ersten Dämmerung grau, als sie eine schöne Lichtung im Wald erreichten, wo ein kleines Land haus stand. Im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden, die Corban bisher gesehen hatte, war es aus Holz gebaut. Er wandte sich Doktor Alir zu. »Hier sind Sie in Sicherheit«, sagte sie. »Nahrung ist vorhan den. Ich muß sofort umkehren. Wenn ich morgens nicht im Krankenhaus bin, schöpft man vielleicht Verdacht.« Er sah hastig zum Himmel hinauf. Sie lächelte müde und meinte: »Allein geht es viel schneller. Ich komme nächste Nacht zurück, dann setzen wir den Weg fort. Hierher kommen fast nie Leute, aber es ist vielleicht besser, wenn Sie im Haus bleiben.« Sie war verschwunden. Corban betrat müde das Haus, fand ein Bett und schlief zum erstenmal seit Monaten ruhig und tief. Es war wieder dunkel, als er erwachte. Er starrte lange Zeit zum Fenster, bevor ihm klar wurde, daß er den ganzen Tag durchgeschlafen hatte. Er suchte sich etwas zu essen und schlang alles hungrig hinunter. Dann machte er es sich be quem und wartete auf sie. Aber sie kam nicht. Er ging während der langen Stunden der Dunkelheit auf und ab, und aus seiner Ungeduld wurde Angst. Der Himmel färbte sich hell, die Dämmerung ließ den Wald aufleuchten, und seine Hoffnungen zerstoben. Er wuß te, daß das Schlimmste geschehen war. Man hatte entdeckt, daß sie ihm zur Flucht verhelfen hatte. Er fragte sich, wie es überhaupt hätte anders kommen können, da sie ihn doch kühn durch die Barriere geleitet hatte. Der Aufseher brauchte sich
nur daran zu erinnern, daß Doktor Alir mit einem unbekann ten Arzt vorbeigekommen war, dann würde keine Person, die auch nur einen Funken Intelligenz besaß, noch Zweifel dar über hegen können, was in Wirklichkeit geschehen war. Sie hatte sich geopfert, um ihm die Freiheit zurückzugeben, und als er sich bedrückt in dem kleinen Haus umsah, fragte er sich, was er gewonnen hatte. Die Nahrung würde nur noch einige Tage reichen. Er wußte nicht, wo er war oder wie nah eine Siedlung sein mochte. Die ersten Donirier, denen er begegnete, würden ihn der Telepathie unfähig finden und ihn als abnormales Wesen erkennen. Wenn er die gewalttätigen Vorurteile der Bevölkerung überlebte, würde er bestenfalls im >Raxtinu< oder in einer ähnlichen Anstalt landen. Vieles sprach dafür, daß überall Alarm gegeben worden war und daß man ihn sofort in das Irrenhaus zurückschaffen würde. Dok tor Alirs edle Hilfe war umsonst gewesen. Aber er konnte sich wehren. Wenn sie verdächtigt wird, dachte er, und wenn ihr dieses Haus gehört oder mit ihr in Verbindung gebracht werden kann, darf ich keine Spuren hinterlassen. Andererseits muß ich in der Nähe bleiben, weil sie früher oder später vielleicht zurückkommt oder jemanden schickt, und das ist meine einzige Hoffnung. Kurze Zeit später zog er sich in den Wald zurück, wobei er an Nahrungsmitteln und Wasser mitnahm, soviel er tragen konnte. Er suchte einen Baum, der Bequem lichkeit, Unterschlupf und Blick auf das Haus bot, und er fand ihn schließlich. Er richtete sich im Geäst einen Platz ein, ruhte sich untertags friedlich aus und fühlte sich weder ein sam noch gelangweilt. Das Chaos im Irrenhaus war ihm noch so nachhaltig im Gedächtnis, daß ihn die Einsamkeit nicht störte. Nachts stieg er herunter und fand in der Nähe des Hauses ein geschütztes Versteck. Am dritten Tag tauchte eine Kompanie Soldaten auf. Ihr plötzliches Erscheinen in der Lichtung überraschte ihn, aber er beobachtete sie ungesehen von seinem Baum aus. Sie durchsuchten eilig das Haus und verschwanden wieder, ohne Interesse für die Umgebung zu bekunden.
In der siebenten Nacht, als er nichts mehr zu essen hatte und verzweifelt versuchte, Pläne für die Zukunft zu machen, erschien Doktor Alir wieder. Er erkannte sie zunächst nicht. Sie war nur ein dunkler Schatten, der aus dem Nichts auf tauchte und auf das Haus zulief. Licht flammte auf, und sie rannte von Zimmer zu Zimmer und rief: »Paul! Paul!« Er hastete ins Haus, und sie fiel schluchzend in seine Arme. Sie erholte sich aber bald und begrüßte ihn mit einem Lächeln. »Ich habe Angst um Sie gehabt«, sagte sie. »Ich auch um Sie«, erwiderte er. Er beschrieb, wie er die Zeit des Wartens verbracht hatte, berichtete vom Auftauchen der Soldaten und sah sie an. Sie nickte und bestätigte ihm, daß er klug gehandelt hatte. »Wir können jetzt weiter«, sagte sie. »Können wir zuerst miteinander reden?« fragte er. »Nur kurz. Wir haben einen weiten Weg vor uns.« »Was ist mit Ihnen passiert?« »Man vermutete, daß ich Ihnen zur Flucht verhelfen hatte«, erklärte sie. »Ich wußte, daß sie mich verdächtigen würden, aber sie sperrten mich sofort ein und verhörten mich. Damit hatte ich nicht gerechnet.« »Der Aufseher hat sich erinnert«, sagte Corban. »Sie hätten sich maskieren sollen.« »Die Zeit war ja so knapp«, meinte sie. »Ich wußte nicht, wann man Sie vermissen würde, und bis dahin mußten wir auf jeden Fall durch die Barriere sein. Und ich dachte, der Aufseher würde nichts merken. Ich war schon vorher wegge gangen, mit einer Freundin, als ein anderer Aufseher Dienst hatte. Dann kam ich mit einem Versorgungswagen zurück, so daß mich niemand bemerkte.« »Ich verstehe«, sagte Corban. »Der andere Aufseher hatte Sie weggehen sehen, und bei der Rückkehr bemerkte man Sie nicht, so daß Sie es nicht gewesen sein konnten, die ein zwei tesmal wegging.« »Die Fahrzeuge werden nicht genau durchsucht, wenn sie hineinfahren. Obwohl es dunkel war, glaubte mich der Aufse her aber erkannt zu haben. Man sperrte mich ein, verhörte
mich und durchsuchte alles, wohin ich Sie gebracht haben könnte. Dieses Haus gehört meinem Bruder, aber ich komme manchmal her, um zu lernen. Deshalb schickte man Soldaten her. Als sie nichts fanden, wurde ich mit einer Entschuldigung entlassen. Man gab schließlich zu, daß ich es nicht gewesen sein könne, weil ich schon vorher weggegangen sei. Und es gibt dort viele Ärzte, die praktizieren oder Patienten beobach ten. Im Augenblick geht man davon aus, daß Sie tot sind.« »Hoffentlich macht ihnen das Vergnügen!« »Erst dann, wenn man Ihre Leiche finden würde. Aber die anderen Patienten haben Sie gehaßt. Es lag daran, daß man Sie für etwas anders hielt, glaube ich, und die Behörden glau ben jetzt, daß die anderen Patienten Sie umgebracht und Ihre Leiche irgendwo versteckt haben.« »Doktor Alir«, sagte er, »warum bin ich dort hingebracht worden?« Sie setzte sich und winkte ihn heran. »Es wird einige Zeit dauern, Ihnen das zu erzählen«, begann sie. »Mein Volk ist im Krieg.« »Ich weiß.« »Zu Beginn hatte mein Volk edle Motive. Man wollte schnell siegen, ohne den Menschen weh zu tun. Und man wollte sie heilen.« »Heilen? Sie meinen -« »Ja. So, wie wir versucht haben, Sie zu heilen.« »Sie wissen, was sie in Wirklichkeit vorhatten«, sagte Corban verbittert. »Man wußte, daß der Versuch, mich zu heilen, gescheitert war. Man muß gewußt haben, daß bei den anderen Menschen keine Aussicht bestand, bessere Erfolge zu erzielen. In Wirklichkeit wollte man sie alle einsperren, so wie man mich eingesperrt hatte.« Doktor Alir schlug die Hände vors Gesicht. »Es war unrecht. Es war und ist unrecht. Aber unsere Führer sagten, es sei unsere Pflicht, den Versuch zu unternehmen, Ihre Mitmenschen zu normalen Wesen zu machen. Zunächst schien auch alles nach Plan zu verlaufen. Ihre Rasse wurde überrascht,
und es gab kaum Kämpfe. Alle Ärzte, die man entbehren konnte, wurden zu den Gefangenen geschickt, um mit der Arbeit zu beginnen. Dann begannen sich Ihre Leute zu wehren, und es war furchtbar.« Sie fröstelte. »Kennen Sie einen Planeten, den Ihre Leute Willar nennen?« »Ich habe davon gehört, ja.« »Dort begann der Widerstand. Eine unserer Armeen nach der anderen wurde vernichtet. Mein Vater, der General war, fiel dort. Auch mein jüngerer Bruder.« Er ergriff ihre Hand und streichelte sie. »Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist. Ich habe mich auch gefragt, was aus meiner Familie geworden ist.« »Ihre Rasse hatte nur eine kleine Armee auf Willar, und ob wohl wir schließlich siegten, war der Preis dafür entsetzlich hoch. Nicht lange danach wurde die Hälfte unserer Flotte bei einer Schlacht vernichtet. Unsere Bevölkerung weiß noch nicht einmal davon. Der Rat hat nicht gewagt, es zu verbreiten. Man glaubt, daß wir leichte, ruhmvolle Siege erringen. Mein älterer Bruder ist jedoch assistierender Minister, und er hat es mir erzählt. « Corban war fassungslos. »Sie meinen, meine Seite gewinnt?« »Nein«, sagte sie traurig. »Niemand gewinnt einen solchen Krieg. Aber Ihre Rasse wird besiegt. Überall. Der Krieg hat sich gewandelt. Nach den entsetzlichen Siegen, die Ihre Seite errungen hat, entschied man, daß das keine Menschen sind, daß sie es niemals werden können. Man dachte nicht mehr daran, sie zu heilen. Sie müssen eingesperrt oder ausgerottet werden. Unsere Soldaten töten Ihre Leute, wo sie können, auch Frauen und Kinder. Sie versuchen nicht mehr, gegen Ihre Soldaten zu kämpfen. Sie haben Angst davor. Sie versu chen nur, sie auszuhungern, und sie bringen sie um, sobald sie sich ergeben wollen. Es ist Wahnsinn. Unser Volk ist irrsin nig, nicht das Ihre. Und mein Bruder, der assistierende Mini ster, ist der Meinung, daß eine so erfinderische Rasse wie die Ihrige nie ganz besiegt werden kann. Einige werden überleben, und sie werden nie vergessen, was unser Volk getan hat. Eines
Tages werden sie unsere Welten finden und schreckliche Ver geltung üben.« »Aber die anderen Minister schließen sich seiner Meinung nicht an?« fragte Corban. »Sie denken nur an den Haß, an das Töten.« Sie begann zu schluchzen. »Ich bin schuld. Wenn ich Sie nicht dazu gebracht hätte, alles zu erzählen, hätte es keinen Krieg gegeben.« »Nein«, sagte Corban leise. »Die Schuld liegt bei mir.« »Als man entschied, daß Ihre Leute keine Menschen sind, daß es bösartige Tiere sind, ließ man Sie ins Irrenhaus schaf fen.« Sie schwiegen lange Zeit. Er legte den Arm um sie, und sie ließ für einen Augenblick den Kopf an seine Schulter sinken. Dann riß sie sich los und stand auf. »Wenn wir den Krieg gemeinsam verursacht haben, müssen wir ihn gemeinsam beenden«, sagte sie. Corban lachte auf. »Ganz einfach so? Gut. Sie sagen mir, was ich tun soll, und ich gehe hin und beende ihn.« Sie starrte ihn verwundert an. »Aber begreifen Sie denn nicht? Sie sind der einzige, der ihn beenden kann.« »Was soll ich tun? Zu meinen Leuten gehen und sie bitten, den Kampf einzustellen und sich zu ergeben? Sie würden mich als Verräter erschießen und weiterkämpfen.« »Haben Sie vergessen, warum der Krieg begonnen hat? Wir wollten Ihre Mitmenschen heilen. Unsere Führer haben dieses Ziel aus den Augen verloren. Wir müssen sie wieder daran erinnern. Wir müssen zeigen, daß wir, wenn wir gegen Ihre Seite kämpfen, in Wirklichkeit gegen uns selbst kämpfen.« »Aber wie?« »Wir müssen beweisen, daß Ihre Leute geheilt werden kön nen indem wir Sie heilen.« »Sie meinen Arruclam und Cilloclam und -« »Sie müssen sie meistern«, sagte sie ernsthaft. »Sie müssen. Und wenn Sie es können, werden wir den Krieg beenden.« In der linken Hand hielt Corban einen Ballon, in der rechten
ein Gerät, das etwa die Funktion einer Stoppuhr hatte. Er beugte sich über das Geländer des Balkons, ließ den Ballon los und drückte gleichzeitig auf das Gerät. Der Ballon schwebte langsam hinunter. Corban beobachtete ihn beinahe gleichgültig. Wie stellte man es an, geistig auf ein Objekt einzuwirken? Dachte man Worte: Langsam, du, verdammt noch mal! Bleib stehen. Komm wieder herauf. Oder ging man davon aus, daß das Objekt eine Art geistiger Angelschnur war, die auf die kleinste Bewegung der Rute reagiert? Oder war es eine Identifizierung des Ichs mit dem Objekt ein Einfühlungsvermögen so daß ... Er wußte es nicht. Nicht einmal Doktor Alir konnte es ihm erklären. Bei ihr war es instinktiv. Sie wurde sich der Anwen dung geistiger Kraft gar nicht bewußt. Sie wünschte, daß sich etwas bewegte, und es bewegte sich. Der Ballon landete unten. Corban drückte auf das Gerät. »Sieben, vierzehn«, sagte er. »Kontrolle.« »Kontrolle«, wiederholte eine Stimme unter ihm. Die Frau notierte die Werte und hob lächelnd den Kopf. Es war Dok tor Alirs Mutter, Alira, silberhaarig, aber ebenso schön wie ihre Tochter, und selbst Ärztin mit großer Erfahrung in gei stigen Problemen. Corbans Rasse hatte ihren Mann und ihren jüngeren Sohn getötet, aber sie hatte ihn wie einen lang ver mißten, heißgeliebten Familienangehörigen begrüßt, ihn >ihren lieben Jungen< genannt und seine Ausbildung mit einem Einfallsreichtum und einer Energie in die Hand ge nommen, die Corban buchstäblich betäubten. Corban lehnte sich zurück und starrte den Tisch neben sich an. Ein kleines, bleistiftgroßes Röhrchen lag auf der glatten Oberfläche. Es rollte so leicht und schwerelos, daß Corban es nur ein wenig anzuhauchen brauchte, um es über die ganze Platte rollen zu lassen. Aber mit seinem Gehirn konnte er die verdammte Trägheit des Gegenstandes nicht überwinden. Er erinnerte sich an ein Spiel aus seiner Kindheit, mit Metallzy lindern und einem Magneten. Ein Magnetpol hatte die Zylin der über eine glatte Fläche getrieben, der andere hatte sie angezogen. Er hatte sich gefragt, ob die Kraft der Telekinese
sich irgendwie mit dem Magnetismus vergleichen ließ, und Doktor Alir und ihre Mutter hatten diese Überlegung mit Bestürzung quittiert. Alira erschien neben ihm auf dem Balkon. »Vielleicht versuchen Sie es eine Weile mit Stufe zwei«, meinte sie. »Im Garten ist es angenehmer für Sie.« Sie ließ ihn im Garten allein. Er blieb einen Augenblick ste hen und starrte das schöne Haus an, in dem Doktor Alir daheim war. Für einen Architekten mußte Teleportation geradezu ein Geschenk des Himmels sein, sagte er sich. Man konnte Zimmer ohne Türen entwerfen, Stockwerke aufsetzen, ohne an Treppen denken zu müssen, und die Entfernung zwischen Küche und Eßzimmer spielte nicht die geringste Rolle. Corban glaubte, daß er sich in dieser donirischen Zivili sation hätte wohl fühlen können, wenn er an ihr teilgehabt hätte. Aber er mußte sich schnell ins Gedächtnis rufen, daß weni ge Bewohner hier so gütig und großzügig sein würden wie Doktor Alir und ihre Mutter. Stufe zwei: Teleportation. Die enttäuschende Erinnerung an die Tage im Krankenhaus meldete sich wieder, als er auf einem niedrigen Sims stand und sich bemühte, durch Teleportation auf den Boden zu gelangen. Es war eine einfache Aufgabe: ein kleines Stück vorwärts, ein kleines Stück tiefer. Er schloß die Augen, und sein Verstand flehte vergeblich seinen unbewegli chen Körper an. Als er die Augen öffnete, stand Doktor Alir neben ihm und betrachtete ihn mit sachlichem Ausdruck. Sie war nach seiner Flucht ins >Raxtinu< zurückgekehrt, und bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er sie sah, zeigte sie sich von kühler Distanz. »Versuchen Sie es noch einmal«, sagte sie. »Es scheint einfach sinnlos zu sein. Ich versuche alles nur Mögliche, aber nichts geschieht.« »Sie dürfen nicht so feige sein!« Er hob erstaunt den Kopf. Ihr Gesicht war weiß, ihre Au gen blitzten, ihre Hände zitterten.
»Sie ruhen sich hier aus, wie?« sagte sie bitter. »Den Krieg haben Sie vergessen, sonst würden Sie nicht darüber nach denken, wie schwer es ist. Sie wären entschlossen, Erfolg zu haben.« Er trat zornig auf sie zu. »Sie können leicht von Erfolg re den, weil Sie es immer gekonnt haben.« »Sie brauchen mich nicht anzuschreien. Wenn Sie sich nur mit dumpfen Lauten ausdrücken können, sollten Sie wenig stens leise sprechen.« »Dumpfe Laute!« brüllte er. »Hören Sie mal zu! Ich habe diesen Krieg verschuldet. Das Blut aller Toten auf beiden Seiten klebt an meinen Händen. Glauben Sie, ich kann jeden Augenblick daran denken und bei Verstand bleiben?« Während seines Ausbruchs tauchte Alira auf. Er verstumm te, während Mutter und Tochter einander ansahen und sich telepathisch miteinander unterhielten. Ihren Mienen zufolge schien es ziemlich hitzig zuzugehen. Doktor Alir verschwand. »Arme Alir«, murmelte Alira. »Und armer Paul.« Sie legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Sie liebt Sie, wissen Sie. Genauso, wie Sie sie lieben. Ich weiß genau Be scheid. Es ist ganz offensichtlich. Sie liebt Sie und weiß, daß Sie auf dieser Welt nie in Sicherheit leben können, und als genügte das allein noch nicht, tobt auch noch ein Krieg, an dem ihr beide euch schuldig glaubt. Das arme Mädchen treibt sich zur Verzweiflung. Das Allerschlimmste ist, daß Ihre Flucht immer noch untersucht wird. Alir ist vorgeladen wor den. Sie muß vor dem Rat erscheinen. Alir fürchtet, daß Gerüchte über Ihr Hiersein umlaufen. Sie hält es für möglich, daß das Personal indiskret war.« »Man sucht mich wohl noch immer«, meinte Corban. »Die gesamte Heimatmiliz sucht Sie. Ich hätte nicht ge dacht, daß Sie so wichtig sind, aber der Rat scheint Sie unbe dingt finden zu wollen.« »Vielleicht wäre es am besten, wenn ich mich stellte. Die ganzen Bemühungen hier bringen nichts ein, und ich könnte Ihnen Schwierigkeiten bereiten.« »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Die Hauptsache
ist, daß Sie es weiter versuchen. Geben Sie sich Mühe. Wir müssen diesem Krieg wirklich ein Ende machen.« »Ich weiß. Es ist aber nicht angenehm, denken zu müssen, daß alles davon abhängt, daß daß -« Er wollte sagen, daß >Unmögliches< erreicht wird, aber die Erinnerung an Doktor Alirs heftige Reaktion brachte ihn zum Schweigen. »Sie müssen es weiter versuchen, und wir geben uns auch Mühe, uns eine neue Methode auszudenken.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Manchmal wirkt ein plötzlicher Schock.« »Nicht bei mir«, erwiderte Corban trocken. »Ich hatte einen beträchtlichen Schock, als ich hier landete.« »Ich dachte nicht unbedingt an einen körperlichen Schock. Ich persönlich glaube, daß unsere Medizin in dieser Bezie hung irrt. Ein seelischer Schock könnte auf die geistigen Pro zesse viel direkter wirken.« »Daran hat es bei mir auch nicht gefehlt.« »Ja«, sagte sie leise. »Das glaube ich Ihnen. Es ist nämlich nicht einfach, einen seelischen Schock zu erzeugen. Ich muß darüber nachdenken.« Corban trat wieder auf den Sims. »Soll ich bei Stufe zwei bleiben?« »Ja. Bitte.« Sie verschwand und tauchte wieder auf. »Alir kommt nicht mehr hierher, nachdem sie vor dem Rat gewe sen ist. Ihre Gegenwart hier scheint euch beide zu beunruhi gen.« Corban nickte. Der Rat. Das war die geheimnisvolle We senheit, die ihn finden wollte. Er wollte Alira fragen, ob ihn der Rat tot oder lebendig haben wollte, aber sie war fort. Er seufzte und schloß die Augen. Doktor Alir liebte ihn. Ihre Mutter glaubte daran, und sie mußte es eigentlich wissen. Aber irgendwie machte das keinen Unterschied - nicht den geringsten. Stufe zwei: Teleportation. Als es schien, als wolle sein Gehirn vor Anstrengung explo dieren, verließ er den Garten und schlenderte durch das um liegende Gelände. Früher war das eine Farm gewesen, aber Doktor Alirs Familie hatte schon vor langer Zeit jedes Interes
se an der Landwirtschaft verloren. Deshalb sah man jetzt weite Wiesen und Wälder. Es gab einen trag dahinfließenden Bach, den Corban auf ein paar Trittsteinen überquerte Steine, die er selbst dorthin geschafft hatte, weil die anderen Bewohner ihrer ja nicht bedurften. Er ging über die Wiese und stieg auf eine kleine Anhöhe, die man eigentlich keinen Hügel nennen konnte, von der aus Cor ban aber die flache Landschaft ziemlich weit überblicken konnte. Das runde Wohnhaus und die drei Nebengebäude lagen fried lich und schläfrig in der warmen Morgensonne. Nicht weit entfernt sah man auf dem Boden Umrisse, wo früher ein weiteres Gebäude gestanden hatte - eine Scheune wohl, als man hier noch die Felder bestellt hatte. In gewisser Beziehung sind die Donirier Menschen wie wir, dachte er. Sie können freundlich und großzügig sein, aber auch grausam und egoistisch. Sie können gut sein oder schlecht, stark oder schwach, und es gibt Dinge, die sie lieben, und Dinge, die sie hassen. Seine Gedanken beschäftigten sich mit sich selbst. Er konnte nicht ewig hierbleiben und versuchen, geistige Kräfte in sich wachzurufen, die er nicht besaß. Es war, als wolle man einen Farbenblinden lehren, Farben zu sehen. Er konnte arbeiten und sich abmühen, und man mochte sich alle möglichen Übungen ausdenken, die ihm helfen sollten, aber gleichgültig, wie oft und auf welche Weise man ihm die Farben zeigte, er würde sie nie richtig bestimmen und auseinanderhalten können. Und die Medizin besaß nicht die Macht, ihm zu helfen. Corban war ebenso unfähig, sich zu teleportieren oder irgend eine der anderen außersinnlichen Kräfte zu erwerben. Die Kräfte lagen nicht unerweckt ihn ihm, wie Doktor Alir und ihre Mut ter annahmen. Sie fehlten ganz. Wenn das Schicksal der Menschheit davon abhing, daß er diese Kräfte meisterte, war sie zum Untergang verurteilt. Seine eigene Zukunft sah ebenso düster aus. Selbst wenn er sich der Fahndung entziehen konnte, selbst wenn ihm Doktor Alir für den Rest seines Lebens Zuflucht gewährte, würde er stets ein Gefangener sein der Gefangene seines eigenen Kör
pers unter Übermenschen, die über ihre Körper hinausgewach sen waren. Wenn Doktor Alir ihn liebte, wie er sie liebte - aber unter solchen Umständen konnte Liebe nicht gedeihen. Wenn ich fliehen könnte, dachte er, wenn ich dorthin zurückkönnte, wo sich der Krieg abspielt.. . Er hätte die Gelegenheit, für ein Ziel zu sterben, in einem Krieg umzukommen, den er verschuldet hatte, nur begrüßt. Das war er seinen Mitmenschen schuldig, aber sogar ein ehrenhafter Tod blieb ihm versagt. Er seufzte, sah wieder zum Haus und zu den endlosen Wie sen hinüber. Straßen gab es in dieser donirischen Zivilisation nicht. Die einzige, die er je gesehen hatte, war die zum >Rax tinu< führende, und über ihre Bedeutung hatte er sich lange den Kopf zerbrochen. Er war zu der Ansicht gelangt, daß man für das Kommen und Gehen dort nur Fahrzeuge ver wendete, um die Insassen nicht zu Überlegungen über ihre geistige Minderwertigkeit zu veranlassen. Während er das Haus beobachtete, erschien Alira im Gar ten, an der Stelle, wo er Stufe zwei geübt hatte. Im Gegensatz zu Doktor Alir trug sie oft verschiedenfarbige Kleidung, jetzt ein schimmerndes Gelb. Sie war eine auffallende Erschei nung, als sie einen Augenblick regungslos im Garten stand und dann kurz hintereinander vor jedem der drei Nebenge bäude auftauchte. Sie sucht mich, dachte Corban. Dort, wo er unter den Bäumen saß, war er für sie unsichtbar. Es war wohl besser, wenn er zurückging. Sie verschwand, und er hatte sich eben erhoben, als die er sten Soldaten erschienen. Vor dem Haus tauchte mindestens eine Kompanie auf, und als er zusammenzuckte und instink tiv unter die Bäume zurückwich, waren sie überall, umzingel ten das Haus, durchsuchten die Nebengebäude. Corban drehte sich um und ergriff blindlings die Flucht. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu wissen, daß sie hinter ihm her waren. Er wußte es und rannte um sein Leben, rannte durch den Wald, den Hang hinunter über eine Wiese auf einen größeren Wald zu.
Unterwegs wurde ihm klar, daß ihn schnelle Beine nicht retten konnten. In Sekunden würden sie in der ganzen Land schaft auftauchen. Vielleicht warteten sie schon im Wald auf ihn, wenn er dort ankam, warteten und lachten, während er sich verzweifelt vorwärtspeitschte. Seine einzige Hoffnung bestand darin, sich zu verstecken. Er erreichte die Bäume und warf sich keuchend auf den Boden. Er schaute sich um und sah die grünen Uniformen zwischen den Bäumen, die er eben verlassen hatte. Sie suchten dort, und im nächsten Augenblick würden sie hier suchen. Er hob den Kopf. Schon einmal hatte er sich retten können, als er auf einen Baum gestiegen war. Vielleicht konnte sich der donirische Verstand nicht vorstellen, daß ein geistiger Krüppel auf Bäume stieg. Er raffte sich auf und rannte weiter, tiefer in den Wald hinein. Er war halb auf einem hohen Baum, als die" ersten grünen Uniformen unter ihm auftauchten. Das Laub um ihn herum war dünn, und er sah verlangend zu dem dichten Laub hinauf, das drei Meter über ihm begann. Er wagte aber nicht, weiter zuklettern. Er setzte sich auf einen Ast und wartete. Die Soldaten brachen durch das Unterholz und bildeten schließlich eine Linie, die sich in systematischer, unbarmherzi ger Suche vorwärts bewegte. Corbans Puls beruhigte sich ein wenig, als sie aus seinem Blickfeld verschwanden, aber kurze Zeit später hörte er die Soldaten zurückkommen. Hatten sie ihn gesehen, als er in den Wald gelaufen war, oder suchten sie überall so gründlich? Sie kamen wieder unter seinem Baum vorbei, und Corban preßte sich an den Stamm. Er glaubte sich schon gerettet, als sich einer der Soldaten umdrehte und herauf schaute. Verblüffung spiegelte sich auf seinem Gesicht. Im selben Au genblick drehten sich auch die anderen um und sahen herauf. Ihre Anzahl verdoppelte und verdreifachte sich im Nu, und man richtete die Schußwaffen auf ihn. Was für ein scheußliches Ende, dachte Corban dumpf. Etwas zerrte an ihm, störte sein Gleichgewicht, versuchte ihn vom Baum zu holen. Er klammerte sich fest, bis seine
weißen, schwitzenden Hände zu bluten begannen. Die un sichtbare Kraft ließ ihn nicht los. »Telekinese«, ächzte er. »Sie wollen mich abstürzen lassen.« Ein Soldat trat vor, erreichte den Baumstamm und hob sei ne Waffe. Corban starrte in die Mündung. Der Soldat zielte langsam und überlegt. Vielleicht ist es so am besten, dachte Corban. Ich hätte ja doch nicht lange genug leben können, um gutzumachen, was ich verschuldet habe. Er konnte sich nur fragen, warum er überhaupt gelebt hatte. Er hatte nichts geleistet, nichts von Wert geschaffen. Das kleine Glück, das er genossen hatte, lag Lichtjahre zurück, war fast aus seiner Erinnerung verschwunden. Seine Erinnerung verzeichnete nur Qualen. Hatte sein Verstand unter diesen Übermenschen je Frieden gefunden? Ja, dachte er. Es hatte auch friedliche Augenblicke gegeben. Der kleine Hain beim >Raxtinu<, Doktor Alir neben ihm, die Vögel mit dem kleinen Fernglas beobachtend. Er hatte sich für unglücklich, für tragisch verstrickt gehalten, und als Opfer einer unerfüllbaren Liebe hatte er ja auch kaum Grund zum Jubel gehabt. Aber es hatte keinen Krieg gegeben, der ihn seelisch foltern konnte, kein verzehrendes Schuldgefühl, das seine Nächte in qualvolle Höllenvisionen verwandelte. Er hatte Frieden gefunden, wenn auch nicht Zufriedenheit, und wenn er eine Seele besaß, die er verkaufen konnte, dann hätte er sie gerne für eine Gelegenheit hingegeben, noch einmal in diese Tage leerer Hoffnungslosigkeit zurückzukehren. Die imposanten Bäume mit dem großblättrigen Laub, die flattern den, farbenfrohen Vögel, der murmelnde Bach ... Der Soldat schien mit seinem Ziel zufrieden zu sein. Corban, dessen Gedanken weit weg im Hain von >Raxtinu< waren, sah geistesabwesend hinunter, als es bläulich aufblitzte. Sein erster Gedanke sagte ihm, daß er abgestürzt war. Er lag am Boden und sah zu den Ästen hinauf, die sich hoch über ihm hinausschwangen. Das Laub schwankte im milden Wind. Er fühlte sich schwindlig, ein Schwindelgefühl, das beinahe Übel keit verursachte, und er blieb einen Augenblick liegen und
spannte die Muskeln an, um festzustellen, ob er sich verletzt hatte. Ein Vogel flog durch sein Sichtfeld, ein winziger Farb fleck. In der Nähe hörte er ein Geräusch, das ihm merkwürdig vorkam. Die Soldaten! dachte er plötzlich. Er krallte die Finger in die duftende Erde und setzte sich erschöpft auf. Er war ganz allein. Es dauerte ein paar Minu ten, bevor er aufstehen konnte. Er wandte sich dem verwir renden Geräusch zu und entdeckte einen kleinen, murmelnden Bach. Corban hielt sich an einem Baum fest. »Ich war in einem Baum«, sagte er langsam, »und ein Soldat hat auf mich geschossen. Ich war da oben -« Er schaute hinauf, riß die Augen auf und erkannte stufen weise, daß er nicht auf einen dieser Bäume gestiegen war. Sie waren größer und höher, das Laub dichter und großblättriger. Und hier gab es kein Unterholz. Er wankte davon, erreichte den Rand des Hains und blieb stehen. Der Hang führte zu einem großen Kornfeld hinunter. In der Ferne sah er ein ausgedehntes Gebäude, zur Linken verlief entlang einer Straße ein Erdwall. »>Raxtinu!<« stöhnte er auf. Er zog sich hastig in den Hain zurück und setzte sich unsicher an den Bach. Ich war in einem Baum, dachte er, und ein Soldat hat mich erschossen. Er suchte nach einer Wunde, fand aber keine. Ich muß abgestürzt sein, aber ich habe mich nicht verletzt. Und sie haben mich hierhergebracht. Er schaute sich staunend um. Aber warum sollten sie mich hierherbringen? Er lauschte eine Weile dem Rauschen des Wassers. »Nie! Das würden sie nie tun!« sagte er laut. »Der Rat wollte mich vorführen lassen. Hierher hätten sie mich nie gebracht.« Aber er war hier. Dann ... Er sprang auf, überwältigt, fassungslos, begeistert. Er war von selbst hierhergekommen! Er hatte genau an diese Stelle gedacht, als der Schuß gefallen war, und er hatte sich hierher versetzt. Er war hier. »Ich muß es noch einmal versuchen«, jubelte er. »Und das so
fort.« Aber er war zu schwach und zu verwirrt, um sich konzen trieren zu können. Er versuchte, sich wieder hinzusetzen, verlor das Gleichgewicht, verlor das Bewußtsein. Der Tag neigte sich dem Ende zu, als er wach wurde. Im Hain war das Licht verblaßt, und als er den Rand erreichte, sah er lange Schatten. Im Park bei dem Gebäude entdeckte er ferne, schwarzgekleidete Gestalten. Er fragte sich, ob der alte Mann dabeisein und seine Lieder singen würde. Ich muß es wieder tun, dachte er. Ich muß. Er schloß die Au gen und ballte die Fäuste, bis sich die Nägel schmerzhaft in sein Fleisch gruben. Mit einem Aufbäumen seiner ganzen Energie wünschte er sich an den Bach zurück. Er öffnete die Augen und sah das Kornfeld vor sich, das >Raxtinu<, die fernen, schwarzen Gestalten. Der murmelnde Bach befand sich hinter ihm, zwischen den Bäumen. Er versuchte es wieder und wieder, während es langsam dunkel wurde und das diffuse Licht entlang der Barriere neben der Straße aufleuchtete. Als er keine Kraft mehr hatte, ließ er sich zu Boden fallen und schlief ein. Er erwachte in der dunstigen Dämmerung. Seine Muskeln waren steif, aber er fühlte sich trotzdem erfrischt und ausgeruht. Er beachtete den Hunger nicht, setzte sich auf und sah zum >Raxtinu< hinüber. Die aufgehende Sonne sengte den Dunst weg, und schwarzgekleidete Gestalten tauchten auf und gingen im Park spazieren. Corban beobachtete sie und dachte nach. Als die Sonne hoch am Himmel stand, hatte er einen Entschluß gefaßt. Er stand auf und marschierte entschlossen den Hang hinunter. Ein fremder Arzt war im >Raxtinu< keine Seltenheit, und die Patienten beachteten ihn nicht, nachdem sie einen Blick auf seine blaue Kleidung geworfen hatten. Er betraf kühn das Haus, bewegte sich aber im Inneren nur mit größter Vorsicht. Eine te lepathische Begegnung mit einem Angehörigen des Personals konnte er nicht riskieren. Es gelang ihm, einer Ärztin auszu weichen, indem er hastig um eine Ecke lief, und die Vor sichtsmaßnahme, um die nächste Ecke zu blicken, bevor er in einen anderen Flur einbog, rettete ihn vor einem Zusammen
treffen mit dem Direktor. Sein Ziel war eine Tür mit der Aufschrift: >Zutritt nur für Personals Was dahinterlag, konnte er nur raten und hoffen. Er erreichte sie ungefährdet und glitt hinein. Er war in einem langen Korridor. Ein schwarzgekleideter Patient schob einen leeren Wagen vor sich her. Er nickte Corban zu, als er an ihm vorbeiging. Corban schlich vorsich tig weiter. Von irgendwoher drang Essensgeruch und erinner te Corban an seinen Hunger. Er öffnete eine Tür, sah kurz hinein und schloß sie wieder. Er probierte eine Tür nach der anderen, bis er die gesuchte entdeckte. In dem Zimmer standen Regale, und in den Regalen lagen die für Patienten bestimmten schwarzen Kleidungsstücke. Corban suchte, bis er seine Größe fand. Mit dem Rücken zur Tür entledigte er sich hastig der blauen Arztkleidung und legte Schwarz an. Nach einem verstohlenen Blick verließ er den Raum und hastete davon. Er eilte direkt zu den Verwaltungsbüros. Eine Ärztin be grüßte ihn mit einem knappen Nicken. Sie schien ihn nicht zu kennen. »Kann ich mit Doktor Alir sprechen?« fragte Corban. »Doktor Alir ist nicht hier.« »Wann wird sie zurückerwartet?« »Sie kommt nicht wieder«, sagte die Ärztin. »Sie ist versetzt worden.« »Sie ist versetzt worden?« wiederholte Corban verständnis los. Das kaum merkliche Zögern der Ärztin erschütterte ihn. Zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß das Auftauchen der Soldaten vor Doktor Alirs Haus kein Zufall gewesen sein mochte und daß die Tatsache, daß man ihn dort entdeckt hatte, trotz seiner Flucht für Doktor Alir und ihre Mutter überaus belastend gewesen sein mußte. >Das Personal könnte indiskret gewesen sein<, hatte Alira gesagt. Und jetzt war Doktor Alir was hatte man mit ihr gemacht? »Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Ärztin. »Möchten Sie sonst mit jemandem sprechen?« Corban drehte sich um.
»Nein, danke«, murmelte er und floh. Im Park war es kühl und friedlich. Jemand hatte an einem schattigen Platz einen unsichtbaren Sessel zurückgelassen. Corban machte es sich bequem und sah zum Bach hinunter, wo ein Mann und eine Frau durch das Wasser wateten und sich mit kindlicher Freude bespritzten. Corban beobachtete sie und spürte Neid. Spazierengehende Patienten nickten ihm freundlich zu. Eine hübsche, junge Frau, die in einiger Ent fernung vorbeiging, lächelte und winkte ihm zu. Er war wie der unter seinesgleichen, und der Gedanke verursachte ihm beinahe körperliche Schmerzen. Sich unter den Tausenden schwarzgekleideter Patienten verlieren, den Krieg, Doktor Alir, das Irrenhaus und die an den Nerven zerrende Therapie vergessen; alles vergessen und das Leben hier in friedlicher, unkomplizierter Sicherheit verbringen . . . Aber wie konnte er vergessen? Müde stand er auf. Die Ärztin wunderte sich ein wenig, als er schon wieder auftauchte, und sah ihn fragend an. »Ich möchte den Direktor sprechen«, sagte Corban. Die Ärztin sagte nichts, aber einen Augenblick später trat der Direktor ein. Er betrachtete Corban nachdenklich, nickte der Ärztin zu und gab Corban einen Wink. »Kommen Sie mit«, sagte er. Sein Benehmen war so sach lich, daß Corban sich fragte, ob er erkannt worden war. Als sie aber das Büro betraten, drehte sich der Direktor um und zielte mit dem Finger auf Corban. »Sie«, sagte er langsam und mit großem Nachdruck, »wer den auf dem ganzen Planeten fieberhaft gesucht, nur hier nicht. Wie sind Sie hierhergekommen?« »Wo ist Doktor Alir?« sagte Corban scharf. »Ja«, sagte der Direktor. »Das ist es also.« Er setzte sich an seinen Tisch und wies auf einen Sessel. Corban blieb stehen. »Doktor Alir ist im Gefängnis«, sagte der Direktor. »Sie hat gestanden, Ihnen zur Flucht verhelfen zu haben. Ich fürchte, daß man ziemlich rauh mit ihr umgegangen ist. Illegal, aber sehr wirksam. Also, wie sind Sie hierhergekommen?« Corban berichtete. Der Direktor hörte sich die Geschichte
zweimal an und begann Fragen zu stellen. Was hatte Corban nach seiner ersten Erfahrung mit Fortbewegung durch geisti ge Kräfte empfunden? Welche Art von Übelkeit hatte er gespürt? Warum hatte er so lange gewartet, bevor er es noch einmal versuchte? Und schließlich warum war er zum Direk tor gekommen? »Sie hätten sich ewig in einem der Dörfer verstecken kön nen«, sagte der Direktor. »Wir lassen unsere Patienten in Ruhe, solange sie sich ordentlich benehmen.« »Ich möchte weiter behandelt werden«, erklärte Corban. »Ich will völlig geheilt werden. Ich meine, ich will geheilt werden, so, wie Sie und Ihre Leute meinen Zustand sehen. Dann möchte ich vor Ihre Führer treten und versuchen, den Krieg zu beenden. Und Doktor Alirs Freilassung erwirken, wenn das möglich ist.« »Sie sind schon einmal behandelt worden«, meinte der Di rektor, »ohne Erfolg.« »Ich weiß. Ich weiß aber auch, daß ich nie mit einem Erfolg gerechnet habe. Das muß zu meinem Versagen beigetragen haben.« Der Direktor beugte sich vor, stützte das Kinn mit einer Hand und trommelte nachdenklich mit den Fingern der anderen auf die Tischplatte. Corban trat vor, erbost über diese scheinbare Gleichgültigkeit. »Ich weiß, daß es meine Mitmenschen sind, die ermordet werden«, schrie er. »Aber gerade Sie müßten doch human denken. Jeder Arzt müßte bestrebt sein, einen Krieg zu been den.« Der Direktor blinzelte und sah ihn vorwurfsvoll an. »Gewiß will ich das. Ich möchte Sie daran erinnern, daß nicht nur Ihre Leute umgebracht werden. Und der Krieg hat Schlimmes angerichtet. Er hat uns geändert. Er hat uns in einer Weise geändert, die Sie nicht verstehen würden. Aber es geht nicht allein darum, ihn beenden zu wollen. Sie drücken das als medizinisches Problem aus, also müssen wir es auf medizinischer Grundlage angehen. Der Soldat drückte genau in dem Augenblick ab, als Ihr Gemütszustand das entschei
dende Stadium erreicht hatte, so daß der Schock der entschei dende Faktor gewesen sein muß. Aber was für ein Schock war das? Würden Sie die Waffe wiedererkennen, wenn man sie Ihnen zeigte?« »Ganz bestimmt.« »Gut. Haben Sie seit Ihrer Rückkehr schon etwas gegessen? Nein? Ich teile Ihnen ein Zimmer zu, dann essen Sie und ruhen sich etwas aus. Ich lasse Sie rufen, wenn ich soweit bin.« Er wehrte Corbans Fragen ab und schickte ihn fort. Corban verbrachte zwei, qualvolle Stunden und fragte sich, ob ihn der Arzt verraten würde, bevor er überhaupt Gelegenheit hatte, den Plan auszuführen, für den Doktor Alir soviel geopfert hatte. Dann holte ihn der Direktor persönlich und führte ihn in sein Büro. Auf dem Tisch lag eine kleine Waffensammlung. Corban ging um den Tisch herum und deutete auf eine Pistole. »Das war sie«, sagte er. »Es blitzte bläulich auf, als sie abge feuert wurde.« Der Direktor blätterte in seinen Unterlagen. »Dann war sie es«, sagte er. Er schob die anderen Waffen zur Seite, griff nach der Pistole, die Corban bezeichnet hatte, und richtete sie auf ihn. »Gut. Ich wünsche, daß Sie sich in den Hain zurückversetzen. Sie können anders aus diesem Raum nicht entkommen. Die Tür ist abgesperrt. Ich drücke ab« er riß ein Buch vom Tisch und schleuderte es in die Höhe, »sobald es am Boden auf trifft. Entweder Sie teleportieren sich, oder ... « Corban starrte das Buch an, das langsam zu Boden schweb te. »Mord!« stieß er hervor, aber der Arzt lächelte nur. Wenn es möglich ist ... dachte Corban. Der Hain. Die Bäume. Die Vögel. Der Bach. Das Buch fiel auf den Boden, und die Mündung der Pistole spuckte bläuliches Feuer. Corban war im Hain. Er hielt sich an einem Baum fest und versuchte seine Übelkeit zu bekämpfen, als der Direktor erschien. Er klopfte ihm auf die Schulter, prüfte Herz und Puls und trat mit breitem Lächeln zurück. »Sie hätten mich umbringen können«, sagte Corban.
»Mein lieber Patient, mit dieser Pistole kann man nieman den töten. Sie betäubt nur. Sie verursacht eine geistige Läh mung. Die Wirkung ist bei Ihren Leuten vielleicht unbekannt. Die Soldaten wollten Sie lahmen und herunterholen, ohne Sie zu verletzen. Aber Ihre Gemütsverfassung und eine Besonder heit dieses Schocks vereitelten ihre Absicht. Wollen wir in mein Büro zurückkehren?« »Sie meinen -« »Aber natürlich. So, wie Sie es verlassen haben.« Corban mühte sich verzweifelt ab, während der Direktor zusah, sich das Kinn rieb und den Kopf schüttelte. »Wenn wir zu Fuß gehen müssen, müssen wir eben gehen«, meinte er schließlich. Corban ging verwirrt und stumm neben ihm her, weil er sehr gut wußte, daß der Direktor ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, ihn mit ins Büro zu befördern. Aber als Schwindelgefühl und Übelkeit verschwanden, begriff er, daß ihm der Spaziergang guttat, daß er genau das war, was er brauchte. Bis sie das Gebäude erreichten, hatte er sich völlig erholt. Im Büro setzte sich der Direktor und griff nach der Waffe. »Das ist überaus interessant«, meinte er. »Meines Wissens ist bisher noch nie der Versuch unternommen worden, diese Art von Schock therapeutisch einzusetzen. Und bei normalem Gebrauch ist diese Waffe noch nie auf eine Person mit Ihren äh Mangelerscheinungen abgefeuert worden. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, daß der Schock nur einen Anstoß darstellt, wenn Sie in normaler Gemütsverfassung sind. Über die dauernde Wirkung wissen wir noch nichts. Deshalb ent schuldigen Sie, bitte, aber es ist notwendig.« Er hob die Pisto le und drückte ab. Bewußtlosigkeit stürzte auf Corban mit der zermalmenden Wirkung einer herabsausenden Last nieder. Dann spürte er nichts mehr. Nichts, und dann ein langsames, schläfriges Bewußtwerden eines schmerzhaften Prickelns in Händen und Füßen. Betäubt öffnete er die Augen und sah, daß er auf einem unsichtbaren Bett lag. Er befand sich nicht mehr im
Büro, aber der Direktor saß in der Nähe und beobachtete ihn scharf. Er wurde sich einer neuen Empfindung bewußt, eines Gefühls, das ihn verwirrte. Bilder drangen stürmisch auf ihn zu, aber es waren seltsame, formlose Bilder. Der Direktor legte einen der gestreiften Ballons zwischen ihnen auf den Boden. Corbans Gehirn befaßte sich damit, griff danach, stieß ihn versuchsweise an. Der Ballon rollte davon. Corban hob ihn zehn Zentimeter, verlor ihn wieder, und sah, wie er lang sam auf- und abhüpfte. »Noch eine Dosis, und Sie müßten völlig geheilt sein«, sagte der Direktor. »Glauben Sie, daß Sie sie ertragen können?« »Ja«, sagte Corban. »Es eilt nicht. Morgen haben wir auch noch Zeit.« »Heute. Sofort. Und Doktor Alir muß es erfahren. Auf der Stelle. Verständigen Sie sie?« »Ich glaube, ich kann sie unterrichten. Passen Sie auf, junger Mann. Das ist ein erhebender Augenblick in der Geschichte der Medizin. Wir haben bei einem völlig negativen Fall noch nie eine Heilung erzielen können. Niemals. Gleichgültig, was geschieht, Sie haben etwas Großartiges, etwas Einmaliges geleistet. Das sollen Sie wissen, weil es selbst nach Ihrer Hei lung nicht leicht sein wird, den Krieg zu beenden. Der Rat steht unter dem Einfluß einiger bösartiger alter Männer, und Sie werden es ja erleben, wenn Sie vor dem Rat erscheinen. Ich möchte noch hinzufügen, daß Sie das auf eigenes Risiko tun. Und das ist beträchtlich. Wollen Sie dem Krieg immer noch ein Ende machen?« Corban wies auf die Pistole. »Jetzt gleich«, sagte er. »Jetzt gleich«, bestätigte der Direktor. Er hob die Pistole, zögerte. »Ich bin froh, daß Sie so empfinden. Doktor Alir ist monatelang unter der Last der Verantwortung für diesen Krieg herumgeschlichen, und ich nehme an, daß Sie ähnlich gedacht haben. Tatsache ist aber, daß ich ihn verursacht habe. Ich war es, der die Regierung informierte. Wenn ich auch nur einen Funken Verstand besessen hätte, hätte ich Sie beide dazu gebracht, diese Dinge für sich zu behalten. Ich dachte aber nur an die wissenschaftliche Bedeutung Ihres Aufenthal
tes hier und überhaupt nicht an die politischen Folgen. Ich bin aber alt genug, um es besser zu wissen. Natürlich gibt es auch noch eine andere Überlegung ... « Er drückte bei den letzten Worten ab. Links von Corban stiegen die Ränge in schwin delnder Höhe dem klaren Nachthimmel entgegen, und jeder Rang war ein lückenloser Streifen wartender Gesichter. Zur Rechten erhoben sich die Sitze der tausend Ratsmitglieder, die über die donirischen Welten herrschten, steil in schmalen, gebogenen Reihen übereinander. Eine Kuppel aus getöntem Kunststoff wölbte sich über das riesige Amphitheater, und die freundlichen Sterne funkelten darüber in strahlenden Farben. Die Ratsmitglieder trafen ein. Ganze Reihen füllten sich während eines Augenblicks, während man den Blick in die blendfreien Lichter auf dem Zentralpodium richtete. Der Raxtinu-Direktor legte Corban die Hand auf die Schulter. »Also, junger Mann. Von jetzt an sind Sie auf sich selbst ge stellt.« Corban ergriff die Hand des Direktors und drückte sie herzlich. Für einen Donirier, der an geistige Kontakte ge wöhnt war, mußte sich das als eigenartiges Manöver darstel len, aber der Direktor schien zu verstehen. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, erklärte sein Verstand. »Gehen Sie?« »Ich darf nur unter den Zuschauern Platz nehmen, solange ich nicht als Zeuge aufgerufen werde. Und heute gibt es viele Zuschauer.« Er verschwand. Der Rat hatte sich inzwischen vollzählig versammelt, und auf dem Podium stand der Ratsvorsitzende, groß, hager, weißhaarig. Er trug das Grün der donirischen Armee. Das angespannte Lächeln, das über sein grotesk verrunzeltes Ge sicht huschte, trug nur dazu bei, seine Strenge zu betonen. Für Corbans Ohren war die Stille unheimlich. In seinem Gehirn schwoll das Gewirr der telepathischen Unterhaltun gen orkanhaft an. Plötzlich verstummten auch sie. »Treten Sie vor, Paul Corban.« Die Worte wurden gesprochen. Corban sah den Abscheu auf den Gesichtern der Ratsmitglieder in seiner unmittelbaren
Nähe und unterdrückte ein Lächeln. Das Meer von Gesich tern wandte sich ihm zu, als er langsam zwei Schritte vortrat. Dann projizierte er sich geistig zum Zeugenstuhl unter dem Podium. Das Aufstöhnen der Verwunderung kam wie ein Donner schlag. Im nächsten Augenblick wurde Corban von einer Ge dankenlawine überwältigt, die auf ihn herabstürzte, Gedanken, tobend, beleidigt, anklagend, drohend. Er stand auf und hob trotzig den Kopf, aber innerlich wuchs seine Unsicherheit. Er hatte mit Staunen gerechnet, aber nicht mit diesem Aufwallen des Hasses. Der Ratsvorsitzende hob beide Hände, und der Tumult legte sich. Der alte Mann hatte seine Verblüffung noch nicht über wunden. Sein Verstand fragte zweifelnd: »Paul Corban?« Corban sah ihn an und zelebrierte die steife Verbeugung, die er eingeübt hatte. »Paul Corban«, erwiderte sein Gehirn. Der Ratsvorsitzende zuckte zusammen. Er wandte sich pein lich berührt ab und besprach sich telepathisch mit den Männern am Tisch hinter sich. Er drehte sich wieder um und ragte über Corban empor, mit blutleeren Lippen und funkelnden Augen. Seine Gedanken zuckten wie Blitze. »Paul Corban. Ihre Falschheit hat zwei Zivilisationen miteinan der in den Krieg gestürzt und unvorstellbare Leiden verursacht. Was haben Sie vorzubringen?« »Ich habe niemanden getäuscht«, erwiderte Corban. »Sie haben unsere besten Mediziner zu der Annahme verleitet, daß Sie geistig minderwertig wären. Dabei haben wir jetzt alle gesehen, wie Sie Ihren Platz eingenommen haben und wie Ihr Gehirn antwortet. Wenn Sie das nicht Täuschung nennen, erklären Sie uns vielleicht, was Sie unter Aufrichtigkeit verstehen.« Telepathisches Gelächter rollte von den Rängen. Zorniges Ge lächter. Corban wartete unsicher, bis es aufhörte. Der Direktor hatte ihn gewarnt: »Vielleicht glaubt man, einen Sündenbock zu benötigen. Passen Sie auf, daß man nicht Ihnen diese Rolle zudik tierte Wieder beendete eine Geste des Ratsvorsitzenden den Auf
ruhr. »Wir warten auf Ihre Antwort, Paul Corban.« »Ich bin zu Ihnen als Fremder gekommen«, erklärte Corban telepathisch. »Ich kam nur, weil ich mich verirrt hatte. Mein Raumschiff stürzte ab, und ich wurde schwer verletzt, aber Ihre Ärzte retteten mein Leben und waren gut zu mir. Sie betrach teten mich als Ausgestoßenen und behandelten mich so, aber das begriff ich nicht. Weil sie gütig waren, erzählte ich ihnen von mir und meiner Rasse. Ich sagte die Wahrheit, und sie gaben die Wahrheit an den Rat weiter. Und dieser Rat machte mich zum Verräter an meinem Volk, indem er diese Wahrheit in einem hinterlistig vom Zaun gebrochenen Krieg verwende te. Meine Rasse hatte Ihnen nichts getan. Sie wußte nicht einmal von Ihrer Existenz, aber Sie griffen sie an, verwüsteten ihre Planeten und ermordeten ihre Frauen und Kinder. Was haben Sie dazu zu sagen?« Die Gedanken rollten wieder herab, einige drohend und höh nend, andere protestierend, aber es gab auch Worte der Ermu tigung und scharfe Kritik für den Ratsvorsitzenden. Es war der erste Hinweis darauf, daß der Rat gespalten war. Zorn verzerrte das Gesicht des Ratsvorsitzenden, und seine Gedanken durchschnitten scharf den telepathischen Wirrwarr. »Die Donirier unternehmen keine Kriege, außer zu ihrer eige nen Verteidigung. Wir haben einen ruhmvollen medizinischen Kreuzzug begonnen, um Ihre Leute von sich selbst zu befreien, und unsere Güte stieß auf die gemeine Barbarei unvernünftiger Tiere. Natürlich haben wir uns verteidigt. Natürlich!« Der Gedankenwirrwarr dauerte an. In den Reihen des Rats trug man scharfe Debatten aus. Der Ratsvorsitzende hob die Arme und gebot Ruhe. »Genug«, sagte er. »Ich möchte die Zeugen hören.« Zeugen wurden als Gruppe aufgerufen: Ärzte aus dem Kran kenhaus, wo Carbon nach seinem Absturz behandelt worden war, Doktor Alir und ihre Mutter, der Direktor des >Raxti nu< und eine Anzahl von Personen, die vorübergehend mit Corban in Berührung gekommen waren. Die Aussagen wurden monoton vorgebracht. Corban nahm kaum etwas auf. Sein
Blick haftete auf Doktor Alir. Sie war dünner geworden. Ihr Gesicht war blaß und ausdruckslos. Eine ihrer Hände war eingebunden. Sie wirkte apathisch, schwankte mehrmals und schien sich kaum aufrechthalten zu können. Alira stützte sie mit fester Hand und flüsterte ihr von Zeit zu Zeit telepathisch etwas zu, das die scharfen Gehirne der Ratsmitglieder nicht verstehen konnten. »Diese Teufel!« murmelte Corban vor sich hin. Sie leistete ihre Aussage gleichgültig, beinahe mechanisch, als habe sie die Angaben schon oft machen müssen. Die Aussage lief auf ein volles Geständnis hinaus, als sie beschrieb, wie sie Corban aus dem Irrenhaus hinausgeschmuggelt hatte und wie sie und ihre Mutter bestrebt gewesen waren, ihn zu heilen. Der Rat lauschte mit stoischer Ruhe, ohne sich zu äußern. Man stellte nicht einmal Fragen. Der Direktor trat als letzter Zeuge auf und schilderte die Schritte, die zu Corbans Heilung geführt hatten. Der Ratsvorsitzende stellte eine Frage. Sei der Direktor der Meinung, daß Paul Corban seine Behinderung geschickt vorge spiegelt und danach auch seine Heilung zum passenden Augen blick vorgetäuscht habe? Nein, erwiderte der Direktor. Das sei völlig ausgeschlossen. Corban habe die Kräfte wirklich nicht besessen. Die Heilung halte er für ein medizinisches Wunder. »Der Rat nimmt die verabscheuenswerte Verschlagenheit des Angeklagten zur Kenntnis«, erklärte der Ratsvorsitzende. Die Zeugen wurden entlassen. Corban fragte man, ob er noch etwas zu sagen habe. Er erwiderte verächtlich den hochmütigen Blick des Vorsitzenden. »Wie viele von meinen Leuten sind in diesem Krieg gefangen genommen worden?« fragte er. Die Antwort blieb aus. »Tausende? Millionen?« Keine Antwort. »Der Ratsvorsitzende weiß es«, sagte Corban. »Er weiß auch, daß alle diese Gefangenen dieselben Mängel aufweisen wie ich, als ich auf diesen Planeten kam. Er weiß es und benützt sein hohes Amt trotzdem weiter dazu, die Wahrheit zu seinen
eigenen bösen Absichten zu entstellen.« Corban machte eine Pause. Kein einziger Gedanke brach das Schweigen. Der Ratsvorsitzende stand wie angewurzelt, sichtlich bestrebt, seinen Zorn zu bändigen. »Es war eine geistig unterlegene Rasse, die Ihre Flotten ver nichtet und auf Willar Ihren Armeen unermeßliche Verluste zugefügt hat«, fuhr Corban fort. »Sie wird es nicht immer sein. Was mit mir geschehen ist, kann auch mit meinen Mitmen schen geschehen, und dann wird ihre Vergeltung schnell und schrecklich sein. Ich weiß nichts von Ihrem Glauben, aber unter manchen meiner Mitmenschen gibt es einen Spruch, wonach sich jede Ungerechtigkeit rächt. Das Böse, das Sie in die Welt gesetzt haben, wird sich umkehren und auf Sie zu rückschlagen. Ich würde das verhindern, nicht, um eine Regie rung zu retten, die mich und meine Rasse mit unvorstellbarer Brutalität behandelt hat, sondern, um zwei große Zivilisatio nen davor zu bewahren, daß sie einander vernichten.« Der Ratsvorsitzende wandte sich ab. Er besprach sich mit seinen Ministern und zögerte einen langen, gewichtigen Au genblick, als versuche er die Stimmung des Rats abzuschätzen. Dann faßte er seinen Entschluß. Er hob beide Hände, als nehme er eine Weihehandlung vor. »Der Ratsvorsitzende fordert die Todesstrafe«, verkündete er. Corban trat einen Schritt zurück. Er wollte protestieren, fand sich aber unfähig, die schwer lastende Stille, die geistige Stille, zu durchbrechen, die so drohend über ihm hing. Er setzte sich resigniert. Er sagte sich, daß er damit hätte rechnen müssen, daß er es hätte wissen müssen, als man ihn als Angeklagten bezeichnete. Wenn sie einen Sündenbock brauchten, war er die logische Figur dafür. Und wenn sie den Krieg guten Gewissens beenden konnten, indem sie ihm die Schuld dafür zuschoben, würde er nichts einwenden. Hatte er sich nicht oft genug selbst die Schuld daran gegeben? Wenn er nur gewiß sein könnte, daß sein Tod den Krieg beenden würde ... Der Ratsvorsitzende meldete sich wieder zu Wort.
»Gibt es Widerspruch?« »Widerspruch!« ertönte es sofort aus den Reihen des Rates. Das Gewirr von Gedanken, das um ihn herum aufzuckte, betäubte Corban. Die Ratsmitglieder begannen die Plätze zu tauschen und komplizierte Manöver zu vollführen, als betrie ben sie ein albernes Spiel für Kinder. Langsam ging Corban auf, daß er einen Wahlvorgang verfolgte eine Wahl, die über die Todesstrafe für Paul Corban entscheiden sollte. Schließlich endeten die Manöver. Das Meer von Gesichtern hing regungslos über ihm. Die zustoßenden und herausfor dernden Gedanken verblaßten. Ein Urteil war gefällt, und alle Anwesenden kannten es, nur Corban nicht. Der Ratsvorsitzende erhob sich wieder. Er stand einen Au genblick mit gesenktem Kopf auf dem Podium, verbeugte sich plötzlich nach links und rechts und verschwand. Die Regierung war gestürzt. Die Clique der Kriegsherrscher war abgesetzt. Und jetzt hing alles von den Männern ab, die ihre Nachfolge antraten. Auf dem Podium erschien ein anderer Mann, ein jüngerer Mann, groß und breitschultrig, mit blitzenden Augen und schwachem Lächeln. »Wir haben die Absicht, den Krieg sofort zu beenden«, ver kündete er. »Gibt es Widerspruch?« Widerspruch flutete heran. Die komplizierten Manöver be gannen von neuem, als die gestürzte Regierung versuchte, wieder an die Macht zu gelangen, aber Corban kam es so vor, als sei die Zeremonie nicht mehr so verwickelt, als nehme sie nicht mehr so viel Zeit in Anspruch. Als alles vorbei war, verbeugte sich der neue Ratsvorsitzende, blieb aber an seinem Platz. Er wandte sich an den Rat. »Wir haben versucht, unsere Sitten einer unschuldigen Rasse aufzuzwingen, und das geschah nicht aus Güte, sondern aus unserer eigenen Überheblichkeit heraus. Wir haben die feierliche Pflicht, diesem Wahnsinn ein Ende zu machen und mit unseren Brüdern, den Menschen der Galaktischen Föde ration, zusammenzuarbeiten, aufzubauen, was zerstört wurde, und, wo es möglich ist, zu sühnen, was wir getan haben. Paul
Corban, wir erbitten Ihre Hilfe zur Beendigung dieses Krie ges. Wir geben Ihnen ein Raumschiff, das wir von Ihren Leuten erbeutet haben, damit Sie als unser Botschafter zu ihnen zurückkehren können.« »Es bedarf a usreichender Garantien für Ihre ernsten Absich ten«, erwiderte Corban. »Sie werden sie bekommen.« »Ich nehme an.« »Unsere militärischen Führer werden angewiesen, den Kampf sofort einzustellen, soweit sie nicht angegriffen werden, aber sie können sich mit Ihren Leuten nicht in Verbindung setzen. Zeitvergeudung kann weitere Menschenleben kosten.« »Ich bin bereit, sofort abzufliegen.« »Reisen Sie allein, oder« das Lächeln des Ratsvorsitzenden verstärkte sich »oder ziehen Sie es vor, daß Sie einer von uns begleitet?« Corban dachte an den Empfang, den er von einem bedräng ten Vorposten zu erwarten hatte, an die Skepsis, mit der man seinen Bericht aufnehmen würde. »Ich brauche eine Beglaubigung dafür, daß ich Sie vertrete, um bei Ihren wie bei unseren militärischen Befehlshabern auftreten zu können. Wahrscheinlich wäre es auch nützlich, wenn jemand von Ihnen im passenden Rang mich begleiten könnte.« »Gut. Doktor Alir?« Augenblicklich stand sie neben Cor ban. »Paul Corban wird sich sofort auf die Reise machen, und Doktor Alir begleitet ihn als Sonderbotschafter für den Rat.« Alir reagierte sofort. »Ich weigere mich!« »Ich bin sicher, daß es sich Doktor Alir überlegen wird«, meinte der Ratsvorsitzende. »Erhebt jemand Widerspruch gegen ihre Bestallung?« Niemand meldete sich. Der Ratsvorsitzende verließ das Podium und legte die Hand auf Alirs Schulter. Sie schüttelte sie unwillig ab. »Der Rat ist bereit, den Krieg zu beenden«, erklärte sie. »Soll ich Ihnen sagen, warum? Weil Sie endlich davon überzeugt sind, daß
es falsch war, den Krieg zu beginnen? Nein. Es liegt daran, daß Sie Angst haben. Sie wissen, daß Raumschiffe der Föderation durch unsere Abwehr gebrochen sind und in diesem Augenblick die Heimatplaneten suchen. Sie wissen, daß, wenn Sie diese Schiffe vernichten, andere kommen werden. Paul Corban hat Ihnen gezeigt, daß die Menschen der Föderation uns eines Tages überlegen sein werden. Die Gedanken, die er geäußert hat, sind prophetisch. Jede Ungerechtigkeit rächt sich. Ich sage im Namen der Gerechtigkeit: Lassen wir es über uns kommen. Ich werde nichts tun, um es zu verhindern.« »Du irrst dich, Alir«, sagte Corban ruhig, begeistert über die telepathische Verbindung zwischen ihnen. »Du irrst dich. Deine Leute können nur bestraft werden, wenn meine Mitmen schen noch mehr leiden müssen. Das Wichtigste ist, den Krieg zu beenden. Es spielt wirklich keine Rolle, warum sie Schluß machen wollen.« Der Ratsvorsitzende kehrte auf sein Podium zurück. Er wiederholte: »Ich bin sicher, daß es sich Doktor Alir überlegen wird.« »Ich möchte aber nicht, daß sie mich nicht freiwillig begleitet«, erklärte Corban. »Sie wird ihre Pflicht ihrem Volk gegenüber nicht vernachläs sigen.« Plötzlich stand der Direktor des >Raxtinu< neben ihnen. Er legte eine Hand auf die Schulter Corbans, die andere auf Alirs Schulter und zog sie zu sich heran. »Passen Sie auf, alle beide«, sagte er. »Wir haben uns darüber Gedanken gemacht, wer diesen Krieg verschuldet hat. Alir meint, ihre Leute sollten bestraft werden, aber in Wirklichkeit möchte sie sich selbst strafen. Paul zögerte keinen Augenblick, hier sein Leben in die Waagschale zu werfen. Auch er suchte Bestrafung. Begreifen Sie denn nicht, daß dieser Krieg un vermeidlich war? Die Galaktische Föderation hat sich so schnell ausgebreitet, daß wir früher oder später zusammenprallen mußten. Es hätte auch geschehen können, ohne daß ein Paul Corban im >Raxtinu< saß und sich eine Doktor Alir für ihn interessierte und ihn zu heilen versuchte.
Und wer kann sagen, welchen Verlauf der Krieg genommen hätte, wenn es keinen geheilten Paul Corban gegeben hätte? Es sind nicht diese paar Raumschiffe der Föderation, die dem Rat Sorgen machen. Der Krieg war beendet, als Corban hier erschien. Er riß die Stützpfeiler unter dem medizinischen Kreuzzug der alten Männer weg und fegte fast den ganzen Rat von seinen Sitzen. Das haben Sie gesehen, Alir. Und, Paul, Sie brauchen nicht zu befürchten, daß Alir unfreiwillig mit kommt. Der neue Ratsvorsitzende ist ihr Bruder. Er weiß Bescheid über Sie zwei.« »Willst du mit mir kommen?« fragte Corban, Sie antwortete nicht. »Bei meinen Leuten«, sagte Corban verlegen, »hält man es für unpassend, daß Mann und Frau miteinander eine Reise unter nehmen, wenn sie nicht verheiratet sind.« »Bei uns ist es auch so«, erwiderte sie. »Dann -« Corban verstummte, als sich der Rat erhob. Ein fremder Mann erschien auf dem Podium, ein großer Mann, mit erho benen Armen, dessen ruhiges Gesicht Aufmerksamkeit und Achtung beanspruchte. Seine wallende Kleidung war von reinem, schimmerndem Weiß die erste weiße Kleidung, die Corban bei den Doniriern gesehen hatte. Seine Gedanken erreichten Corban. »Möge das höchste Wesen diesen Tag segnen -« Ein Priester. Alir sah mit den anderen hinauf, und Corbans Bewunde rung für sie war so grenzenlos; daß ihm ein Teil des Gebetes entging. Dann hörte er seinen Namen. » - Paul Corban, der Sohn seiner Rasse, der Leiden ertragen und dadurch den Weg zur Freiheit von den körperlichen Fesseln seines Wesens gefunden hat, der wie sie durchs Feuer gegangen ist, der gereinigt wurde, wie sie jetzt gereinigt wer den sollen; und Alir, Tochter ihres Volks. Segne sie, wenn sie gemeinsam hinaustreten, um unseren bedrängten Welten den Frieden zu bringen -« Corban wandte sich zu Alir und sah, daß sie ihn anblickte.
»Gemeinsam?« fragte er.
Ihre Antwort war nur ein zärtliches Ahnen.
»Ja.«
ENDE