Dorothy Cook
Insel ohne Wiederkehr Irrlicht Band 402
Nehmen Sie eine andere Route, Ladies and Gentlemen! Die Gegend ...
10 downloads
690 Views
381KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Dorothy Cook
Insel ohne Wiederkehr Irrlicht Band 402
Nehmen Sie eine andere Route, Ladies and Gentlemen! Die Gegend um die Lord Howe-Inseln ist nicht geheuer. Es gibt da viele kleine Inseln, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Mal tauchen sie auf, mal verschwinden sie wieder. Auch sind die Stürme berüchtigt. Die großen Frachtschiffe meiden diese Route. Das könnte für Sie verhängnisvoll werden. Sollten Sie einmal fremde Hilfe brauchen, dann gibt es keine Hilfe in der Nähe. Nehmen Sie lieber eine der vielbefahrenen Routen!
Es war ein wunderschöner Junitag an der Ostsee. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab, das Meer lag spiegelblank da, so, als hätte es niemals Winterstürme und rauhe See gegeben. Die Sonne wärmte schon, aber eine leichte Brise gab Kühlung, so daß die Hitze niemals lästig wurde. Die großen Sommerferien hatten noch nicht angefangen, so daß sich ein junges Paar fast allein auf dem breiten Strand tummelte. Die beiden nutzten die Gelegenheit zu einem Federballspiel. Offenbar hatten sie Übung, denn sie hielten den Ball lange im Spiel, bis er schließlich doch im Sand landete. Noch eine Woche, dann war solch ein Match nicht mehr möglich. Denn dann hatten die Ferien angefangen, und gleich mit dem ersten Ferientag war der Strand bevölkert von Familien mit Kindern. Sie alle waren erleichtert, dem Schulalltag und der Großstadt entflohen zu sein. Für andere Gäste gab es da kaum noch eine Möglichkeit mehr, auf dem Strand zu spielen. Die konnten sich dann nur noch in die Ostsee stürzen oder sich an den Rand der Dünen zu einem Sonnenbad zurückziehen. »Uff!« seufzte Corinna Barkhausen. »Mir reicht’s. Ich bin schon ganz außer Atem.« »Ja, die Sonne meint’s schon gut«, lachte ihr Freund, Florian Heydemann. »Warte, ich hole uns am Kiosk eine Limo, damit wir nicht verdursten!« Corinna warf sich längelangs in den sonnengewärmten Sand und schaute ihm nach, wie er in großen Sätzen durch den Sand lief. Florian war braungebrannt und hochgewachsen, dabei ein vollkommen athletischer Typ, schlank und sehnig. Zudem war er meist gutgelaunt und sparte nicht mit einem fröhlichen Lächeln und einem aufmunternden Wort. War es da erstaunlich, wenn ihm viele junge Frauen bewundernd nachschauten? Corinna zog die Stirn kraus, wenn sie daran
dachte. Sie würde froh sein, wenn sie bald zu ihrem Segeltörn auf der Ostsee aufbrechen konnten. Dann hatte sie ihren Herzensschatz für sich und brauchte keine Zufallsbekanntschaften mehr zu fürchten. Corinna war nicht ganz frei von Eifersucht, obwohl Florian ihr bisher keinen Anlaß dazu gegeben hatte. Aber da kam er ja schon zurück! In jeder Hand hielt er eine Dose mit einem Erfrischungsgetränk und winkte ihr schon von weitem zu. »Danke, Florian«, sagte sie erleichtert und saugte durstig an ihrem Strohhalm. »Oben auf dem Deich konnte ich unseren Campingplatz überblicken«, erzählte Florian. »Ich glaube, die Schreibers sind eben angekommen. Ich schätze, daß sie in einer Stunde fertig mit dem Ausräumen des Autos und mit dem Einräumen des Zeltes sind. Mit unserer Einsamkeit zu zweit ist es dann vorbei.« »Das war doch so abgemacht«, sagte sie fast ein wenig vorwurfsvoll. »Schließlich wollen wir doch gemeinsam über die Ostsee segeln.« »Klar!« sagte Florian. »Das ändert nichts daran, daß ich am liebsten mit dir allein bin.« Die Freunde hatten sie bald entdeckt. Rita und Wolfgang Schreiber waren beide 38 Jahre alt und somit 10 Jahre älter als Florian und sogar 12 Jahre älter als Corinna. Sie winkten den Freunden schon von weitem zu und beeilten sich, schnell bei ihnen zu sein. Weil sie gleich ein erstes Bad in der See nehmen wollten, trugen sie schon Badeanzüge, die leider ihre blasse Haut verrieten. »Was seid ihr schon braungebrannt!« meinte Rita. »Man könnte meinen, daß ihr dauernd schönes Wetter hattet.« »Hatten wir auch!« lachte Corinna.
»Wir sind jeden Tag von früh bis spät am Strand«, berichtete Florian. »Jetzt haben wir einen kleinen Vorsprung vor euch, jedenfalls, was die Hautfarbe angeht.« »Wahrscheinlich seid ihr nicht nur braungebrannt, sondern habt euch auch schon ein wenig erholt«, meinte Wolfgang Schreiber. »Wir haben ja bis zuletzt im Streß gesteckt.« »Wir sind inzwischen frisch und ausgeruht«, versicherte Florian. »Wir sind jetzt voller Tatendrang und können es gar nicht erwarten, bis wir mit euch in See stechen. Habt ihr auch von den anderen gehört?« »Sie sind unterwegs«, berichtete Wolfgang Schreiber. »Sie wollten alle noch vor dem Abend bei uns auf dem Weißenhäuser Zeltplatz sein.« »Wir haben hier schon alles erkundet«, erzählte Corinna. »Wir kennen sämtliche Einkaufsmöglichkeiten, wir wissen, wo es Tageszeitungen gibt und wo die nächste Tankstelle ist. Wir können euch helfen.« Die anderen… das waren noch drei Paare unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Die ältesten waren Elli und Heiner Koch, beide 46 Jahre alt. Florian und Corinna am nächsten im Alter waren die beiden anderen Singles, Richard Goldmann und Beatrice Baum, beide Mitte dreißig. Diesen folgte das Ehepaar Hubert und Ulrike Sandvoss, die gerade Anfang 40 waren. Diese so verschiedenartigen Menschen verband eine große Leidenschaft: Das Segeln. Irgendwann einmal hatten sie sich an einer europäischen Küste kennengelernt und hatten sich künftig immer wieder zu einem gemeinsamen Urlaub getroffen. Da gab es die Fahrten durch das östliche und westliche Mittelmeer, eine Tour an die niederländische Küste und eine andere nach Schottland. Ein Höhepunkt war ihre Reise durch die Norwegischen Fjorde gewesen. Damals hatten sie sogar das Nordkap erreicht. Wenn sie nicht viel Zeit für
eine große Fahrt hatten, dann genügte ihnen auch ein Wochenendausflug über das Steinhuder Meer oder über den Bodensee. Sie alle liebten es, unter den Schiffsplanken das rauschende Wasser zu spüren und über sich die Segel zu hören, wie sie im Wind knatterten. Sie waren glücklich, wenn sie ihre Kräfte mit dem Sturm und dem Meer messen konnten. Für sie alle war es der schönste Augenblick, wenn es hieß: »Leinen los!« und wenn sie sich dann vom Festland lösten. Im Laufe der Zeit hatten sich gewisse Gewohnheiten eingespielt, auch waren die Aufgaben aufgeteilt worden. Heiner Koch kümmerte sich um die Fahrtrouten und erledigte die Formalitäten, denn sie brauchten ja Liegeplätze in den Häfen, die sie anlaufen wollten. In manchen Ländern waren Einreisevisen erforderlich, auch darum kümmerte er sich persönlich. Wolfgang Schreiber und Hubert Sandvoss besorgten die erforderliche Ausrüstung, während die Frauen den Küchenzettel und die dafür nötige Proviantliste aufstellten. Auf See wanderten dann die Küchenpflichten reihum. Jeweils ein Paar mußte die gesamte Crew für zwei Tage versorgen und mußte sich dabei auch um den dafür erforderlichen Proviant sorgen. Für die großen Reisen wurde ein Segelschiff gechartert, auf dem sie alle unterkamen. Auf den Binnenseen benutzten sie die eigenen kleinen Jollen. Auch das machte ihnen Spaß, wenn sie hintereinander in fünf Booten fuhren. Hochseetüchtig waren diese Fahrzeuge allerdings nicht. In diesen Ferien war eine Ostseefahrt von der Kieler Bucht bis zur Insel Bornholm auf dem Programm. Am Abend, als auch die übrigen drei Paare angekommen waren, trafen sie sich alle vor dem Zelt, das Florian und Corinna bewohnten. Florian hatte ein Fäßchen Bier besorgt, und Corinna stand am Grill und brutzelte Bratwürste. Die Stimmung war wunderbar, sie stieg noch an, als der Vollmond über der Ostsee aufging.
»Weißt du noch…«, so fing jedes Gespräch an. »Weißt du noch, wie der Hubert in den Fjord fiel?« hieß es da, oder »Erinnert ihr euch an den Tintenfisch, den Richard bei Korsika aus dem Meer fischte, und keiner wollte ihn zubereiten?« »Zum Glück kam ein Fischer aus Ajaccio und hat den Tintenfisch und unsere Mahlzeit gerettet«, lachte Ulrike. »Was wir wohl diesmal erleben?« meinte Beatrice nachdenklich. »Es wird nicht so aufregend sein«, sagte Heiner. »Die Ostsee ist nicht so wild. Wir fangen höchstens mal ein paar Flundern oder Ostseeheringe. Wenn’s hochkommt, finden wir am Strand ein bißchen Bernstein. Das ist zwar auch nicht verkehrt, denn den können wir zu einem Anhänger verarbeiten lassen. Zusammen mit einer Kette haben wir dann schon das nächste Weihnachtsgeschenk für unsere bessere Hälfte.« »Wir sollten mal einen richtig großen Törn machen«, sagte Rita. »Jetzt sind wir noch jung genug dazu. Später haben wir keinen Mut mehr für eine große Fahrt.« »Was ist für dich eine große Fahrt?« fragte Hubert Sandvoss. »Denkst du vielleicht an die Antarktis oder Feuerland?« »Eher an die Südsee, Hawaii, Neuseeland, Polynesien, Osterinseln, ach, ich weiß nicht, was. Die heimischen Gewässer verlieren allmählich ihren Reiz.« Das Fäßchen Bier war fast geleert, darum war der Mut der zehn Seefahrer erheblich gestiegen. Schwierigkeiten sahen sie nicht mehr. Natürlich konnten sie nicht von einem Tag zum anderen in die Südsee starten. So etwas mußte wirklich ganz gründlich geplant werden. Auch Columbus war erst nach reiflichen Überlegungen über den Atlantik gesegelt. »Für diesen Sommer bleibt es also bei Bornholm?« fragte Elli Koch.
»Na klar«, beruhigte sie ihr Mann. »Das ist alles vorbereitet. In die Südsee können wir frühestens im nächsten Sommer fahren.« Im nächsten Sommer also. Langsam breitete sich eine freudige Erwartung aus. Die Südsee? Warum nicht? Richard Goldmann meldete Bedenken an. »Wenn hier Sommer ist, dann ist in Neuseeland Winter. Vielleicht sollten wir besser im September/Oktober fahren. Dann ist dort Frühling.« »Das wird sich alles klären«, meinte Wolfgang Schreiber. »Wir sollten uns aber spätestens schon in diesem Spätherbst auf den genauen Termin einigen. Wir müssen ja alle irgendwo Urlaub anmelden. Unter vier Wochen geht das Ganze nicht.« Das Fäßchen Bier war geleert, aber die gute Stimmung litt nicht darunter. Am Ende war alles abgemacht. Im nächsten Jahr war die Südsee an der Reihe, und die Bornholmfahrt in der kommenden Woche konnte schon mal als Generalprobe dienen. Hochzufrieden krochen sie bald darauf paarweise in ihre Zelte und träumten von Seefahrern und fernen Ländern.
*
Nur Corinna konnte nicht schlafen. Lag es am Sonnenbrand, den sie sich am Strand geholt hatte oder gar an der Zukunftsaussicht, im nächsten Jahr in der Südsee zu segeln? Als sie sich wohl zum zehnten Male in ihrem engen Schlafsack gewälzt hatte, fragte Florian verschlafen: »Was ist los mir dir? Warum gibst du keine Ruhe?« »Mir spukt die Südsee im Kopf herum. Florian, ich weiß nicht recht. Ich habe Angst. Ich habe mich noch nie vor einer
Segelfahrt gefürchtet. Aber der Gedanke an die Südsee ist mir unheimlich.« »Unsinn!« knurrte er. »Wir sind ein erfahrenes Team. Alle sind ausgezeichnete Segler. Die Südsee? Sie heißt auch Stiller Ozean. Das klingt nicht gerade nach Stürmen und Unwettern. Aber wenn du wirklich nicht willst, dann gondeln wir beide eben auf dem Dümmer See herum und lassen die anderen mit Krokodilen kämpfen. Du brauchst es nur zu sagen, was dir lieber ist. Und zu dieser Erklärung hast du rund vierhundert Tage Zeit. Das muß nicht jetzt in dieser Nacht entschieden werden. Jetzt sollten wir schlafen.« Sprach’s und rollte sich auf die Seite. Kurz darauf kündeten seine regelmäßigen Atemzüge an, daß er wieder fest schlief. Corinna war enttäuscht. Konnte Florian denn nicht verstehen, daß sie sich ängstigte? Sie hatte ihn bisher noch nie von abenteuerlichen Fahrten zurückgehalten, aber die Südseefahrt ging über alles weit hinaus, was sie bisher unternommen hatten. Ihr war beklommen zumute, wenn sie nur daran dachte. Aber warum fürchtete sie sich eigentlich so sehr? Sie hatte schon manche stürmische Fahrt überstanden. Die Segelkameraden waren absolut vertrauenswürdig, da hatte Florian recht. Wenn auch das Schiff gut war, dann gab es doch überhaupt keinen Grund zur Sorge. Und doch! Corinna fühlte ein leises Grauen, wenn sie nur an die neuen Pläne dachte. Als am anderen Morgen eine strahlende Sonne Meer und Strand erhellte, wußte sie selbst nicht mehr, was sie in der zurückliegenden Nacht so sehr gequält hatte. Corinna schlich sich aus dem Zelt, um die anderen nicht zu wecken und machte am Strand ihren Morgenlauf. Sie lief direkt an der Wasserlinie entlang und nahm es in Kauf, daß ihre Füße immer wieder von einer vorwitzigen Welle überspült wurden. Das war erfrischend und machte ihr Spaß. Hungrige Möwen kreisten um sie herum und erinnerten sie an ihre Pflichten. Mußte sie
nicht heute das Frühstück für die ganze Segelgruppe zubereiten? Weil die anderen erst gestern abend angekommen waren, hatte sie sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet. Sie sollten ausschlafen und sich von der langen Anreise erholen. Mit Bedauern kehrte sie zum Zelt zurück. Sie machte einen Umweg und lief am Kiosk vorbei, wo es schon die ersten frischen Brötchen des Tages gab. Vor dem Zelt hantierte Florian bereits am Hartspirituskocher, um Kaffee und Tee zu kochen. »Fein!« sagte Florian. »Ich dachte mir doch, daß du frische Brötchen besorgst. Aber das hat ziemlich lange gedauert. Waren die Brötchen noch nicht da?« »Keine Ahnung. Ich habe erst einen Morgenlauf gemacht. Danach war mir besser zumute. Als ich dann zum Kiosk kam, war das Frühstücksgebäck schon da. Wartet ihr etwa schon auf mich?« Prüfend sah Florian die Freundin an. Er sah ihr Gesicht, das unter der Bräune blaß war und er sah die Schatten unter ihren Augen. »Hast du noch immer Angst, Corinna?« fragte er leise. Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein. Ich muß mich wohl erst an den Gedanken gewöhnen. Natürlich reise ich mit, ich bin doch nicht albern. Aber in der Nacht… ich weiß nicht, was mich da bedrückt hat. Ich glaubte, meine Mutter zu sehen, ehe sie starb. Sie beschwor mich geradezu. ›Tu es nicht, Corinna‹ sagte sie mehrmals. Vor anderen Reisen hat sie mich niemals gewarnt.« »Übermorgen starten wir zu unserem Ostseetörn, Corinna. Bornholm ist eine sehr schöne Insel. Ich glaube, du wirst bei diesem Erlebnis alle deine Bedenken verlieren. Und wenn du dann immer noch nicht mitmachen willst, gut, dann bleiben wir eben zu Hause.« »Versprochen, Florian?« fragte sie mit zitternden Lippen.
»Versprochen, Corinna. Ich will dich doch nicht unglücklich sehen.« »Aber dann sag es bitte nicht den anderen, Florian. Sonst halten sie mich für einen Angsthasen. Wir müssen irgendeine Ausrede finden, falls ich am Ende doch zu Hause bleiben will.« »Gut, auch das verspreche ich dir. Dann wollen wir jetzt aber nicht mehr über deine Ängste sprechen. Es genügt ja, wenn wir einige Monate vor der Fahrt absagen. Ein Grund wird sich finden. Zufrieden?« »Ja!« sagte sie und küßte ihn dankbar mitten auf den Mund. Gleich darauf kamen die Freunde erwartungsvoll herbei. Sie behaupteten, einen gewaltigen Hunger zu haben und waren daher angenehm überrascht, als die Köche des heutigen Tages das Frühstück schon fertig hatten. Eine private Unterredung zwischen Florian und Corinna war nicht mehr möglich. Es schien, als hätte die Südseereise der kleinen Gruppe einen gewaltigen Auftrieb gegeben. Es hieß nicht mehr »weißt du noch, als… oder: damals auf Sardinien.« Nein, jetzt spielten die Erinnerungen keine so große Rolle mehr. Jetzt waren alle Gedanken und Erwartungen auf die Zukunft gerichtet, aber nicht auf die unmittelbare Zukunft. Jetzt blieben Bornholm und die Ostsee ganz nette Ziele, sie waren aber nicht das große, das einmalige Abenteuer. Vorschläge für die Südseefahrt kamen von allen Seiten. Schließlich wurde Heiner Koch beauftragt, die nötigen Informationen zu beschaffen. »Wie kommen wir denn in die Südsee?« fragte Rita Schreiber naiv. »Die Fahrt dorthin dauert ja mindestens sechs Wochen. Es folgen unsere vierzehn Tage Südsee und anschließend noch einmal sechs Wochen zurück. Wer von uns kann denn ein Vierteljahr Urlaub machen?«
»Niemand«, erklärte Heiner Koch. »Darum werden wir natürlich fliegen. Ich erkundige mich, ob man in Australien eine Segeljacht chartern kann. Hin- und Rückflug erfolgen im Flugzeug. Segeln werden wir nur im Pazifik.« »Und der Preis dafür?« fragte Ulrike Sandvoss. »Es wird nicht billig sein. Aber es ist ja eine einmalige Fahrt, wir werden unser ganzes Leben davon zehren. Bis dahin müssen wir sehr, sehr sparsam mit unserem Geld umgehen. Falls wir es nicht ganz schaffen, wird uns sicher unsere Sparkasse mit einem Kredit aushelfen«, meinte Heiner Koch. »Wer ist dafür, wer dagegen?« fragte Goldmann und schaute erwartungsvoll in die Runde. Alle waren dafür, wenn auch Corinna als letzte nur zögernd ihre Hand erhob. Es wurde noch ein außerplanmäßiges Treffen für den Herbst vereinbart, bei dem alle Teilnehmer eingehend über sämtliche Einzelheiten informiert werden sollten. Die bevorstehende Fahrt nach Bornholm sollte als eine Art Prüfung für größere Aufgaben dienen. Mit diesem Beschluß waren alle zufrieden. Jetzt lagen noch zwei schöne Tage am Weißenhäuser Strand vor ihnen, die sie in vollen Zügen genießen wollten.
*
Nach diesen zwei Tagen nahmen die fünf Paare. Besitz von ihrer Segelbark, die im Kieler Jachthafen lag und auf die neue Besatzung wartete. Sie hieß »Betty« und war eine schmucke Dreimastbark, die ausreichend Platz und Komfort für alle bot. Natürlich war es trotzdem enger als in jedem Ferienhaus, aber das kannten sie ja und erwarteten sie nicht anders. Schließlich ist eine Bark kein Luxusschiff, aber so etwas wollten sie ja alle
nicht. Sie wollten Meer und Wind hautnah erfahren und das konnten sie nur auf einem solchen Segelschiff. Zunächst wurden die Kajüten verteilt, wobei das Los entschied. Dann wurde ein Arbeitsplan aufgestellt. Jeweils zwei Personen übernahmen tageweise Steuer und Navigation, die Reinigung, das Setzen oder Reffen der Segel, die Küche mit den Vorräten, und die Wache. Sie waren ein eingespieltes Team, jeder konnte jede Aufgabe übernehmen, jeder einen anderen ersetzen. Natürlich kamen alle einem überforderten Freund zu Hilfe, wenn es notwendig war. Wenn ein Gewitter drohte, dann halfen alle, die Segel zu reffen. Dann kam es auf schnelles Handeln an. Darüber verloren sie nicht viel Worte. Sie saßen alle im selben Boot. Daneben blieb allen Teilnehmern noch genügend Zeit für Bordspiele und für ausgedehnte Sonnenbäder. Gelegentlich waren Hechtsprünge ins Meer der Auftakt zu einem langen Wettschwimmen. Hin und wieder sorgten Landgänge für Abwechslung. Die ersten Inseln, die sie anliefen, waren die dänischen Inseln Lolland und Falster. Die Nordspitze Rügens mit ihren imposanten Kreidefelsen bewunderten sie nur vom Meer aus, ehe sie Kurs auf Bornholm nahmen. Sie machten gute Fahrt. Ein gleichbleibender Wind aus Westen trieb sie voran. Dazu strahlte die Sommersonne vom tiefblauen Himmel herab. »Ist es nicht herrlich?« fragte Florian seine Corinna, als sie beide sich zur Siesta auf den warmen Bootsplanken räkelten. »Ja«, murmelte Corinna schläfrig. »Schöner kann es in der Südsee auch nicht sein«, meinte Florian. Südsee! Corinna hatte seit Tagen den Gedanken daran verdrängt. Jetzt richtete sie sich auf. »Wahrscheinlich hast du recht, Florian«, sagte sie. »Aber dann können wir doch auch gleich hierbleiben. Wozu der lange
Flug, das unbekannte Schiff, der Riesenozean mit Krokodilen und Haien, wenn es hier genau so schön ist?« Erstaunt betrachtete Florian die Freundin. In den letzten Tagen hatten sie nicht mehr über die Südsee gesprochen. Die Stimmung an Bord war heiter und gelassen gewesen, und auch zwischen ihm und Corinna hatte es keine Spannungen gegeben. Aber offenbar gab es da doch noch Ängste, von denen er nichts ahnte. »Ich dachte, du hättest dich inzwischen mit der Südsee abgefunden«, sagte er verwundert. »Jedenfalls hast du keine Bedenken mehr geäußert.« Noch ehe Corinna irgend etwas dazu sagen konnte, war Beatrice Baum bereits auf dem Deck erschienen, Beatrice, die schönste unter den Teilnehmerinnen. Sie trug eine Winzigkeit von Bikini und stelzte mit langen schlanken Beinen über die Bootsplanken. Corinna wurde von ihr nicht weiter beachtet, Florian jedoch bekam einen verführerischen Blick aus ihren grünen Augen zugeworfen. »Hi, du Faulpelz!« sagte sie. »Ich möchte schwimmen. Komm mit ins Wasser.« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie mit einen kühnen Kopfsprung über die Reling. Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen entfernte sie sich von der »Betty«. »Komm zurück!« rief Florian. »Komm sofort zurück! Hier ist eine Strömung, die dich forttreibt. Komm sofort zurück!« Hörte Beatrice nicht, oder wollte sie nicht hören? Die Entfernung zwischen ihr und der Bark wurde immer größer. Plötzlich verschwand ihr Kopf in den Wellen. Als sie wieder auftauchte, rief sie: »Hilfe! Hilfe! Ich ertrinke!« »Sag den anderen Bescheid!« rief Florian Corinna zu. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz in die bewegte Ostsee. Corinna informierte Richard Goldmann und Wolfgang
Schreiber, nach Florian waren das die beiden jüngsten Männer in dem Team. Sie selbst beobachtete von der Bark aus das Rettungsmanöver. Mit geballten Händen und finsterem Gesicht sah sie, wie sich Beatrice an Florian klammerte. Florian hatte einen Rettungsring mit in die See genommen. Reichte dieser etwa nicht aus, um Beatrice vorm Untergehen zu bewahren? Da brauchte sie sich wahrhaftig nicht auch noch an Florians Schultern zu hängen. Inzwischen waren Richard und Wolfgang mit dem kleinen Beiboot an die Unglücksstelle gefahren. Dieses Boot hatte einen Außenbordmotor, so daß es schnell vorankam. Die beiden Männer zogen Beatrice und Florian ins Boot und tuckerten zurück zur Segelbark. Das Ganze hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, doch Corinna schien es, als seien Stunden vergangen. Mit zusammengeballten Fäusten stand sie da und mußte mitansehen, wie Beatrice sich bei ihrem Retter Florian mit einen heißen Kuß bedankte. Diese Schlange! Als Florian zu ihr zurückkam, um die Siesta fortzusetzen, sagte Corinna spitz: »Na, wie fühlt man sich so als großer Held?« »Sei nicht albern!« knurrte Florian. »Hätte ich sie ertrinken lassen sollen?« »Natürlich nicht. Aber vielleicht hätte sie ruhig noch ein bißchen zappeln können. Komisch, vor ein paar Tagen konnte sie noch ganz ausgezeichnet schwimmen. Wie schnell man so etwas verlernt, wenn man eine Heldenbrust zum Anlehnen findet!« »Du bist eifersüchtig, das ist es. Dabei weißt du ganz genau, daß Beatrice mich nicht interessiert.« Eifersüchtig? War sie das? Corinna fand vielmehr, daß Beatrice leichtsinnig gewesen war und Florian viel zu leichtgläubig. Er hätte ohne Mühe erkennen können, daß das alles eine Falle war, die Beatrice ihm gestellt hatte. Statt gleich
hinter ihr herzuspringen, hätte er vielmehr Richard herbeiholen müssen, der war zuständig für die Rettung seiner Freundin. Aber so ging es zu im Leben: Die anderen machten die Fehler, und sie, Corinna, die doch ganz unschuldig an allem war, sie wurde getadelt. Corinna haderte mit ihrem Schicksal. Am Abend begann ihr Küchendienst. Er war für sie eine höchst willkommene Gelegenheit, Florian zu bestrafen. Als Vorspeise bereitete sie eine Riesenportion Miesmuscheln zu, die Hubert Sandvoss und seine Frau bei ihrem letzten Landgang gesammelt hatten. Florian verabscheute Muscheln. Mißmutig betrachtete er die Vorspeise. Da er ziemlich hungrig war, hoffte er auf den Hauptgang. Als er sich an diesem schadlos halten wollte, machte er ein langes Gesicht. Es gab Kartoffelbrei aus der Tüte, Spinat und Rührei. Auch das mochte er nicht sonderlich gern. »Du hast dich ja mal wieder selbst übertroffen«, knurrte er, als er an Corinna vorbeiging, um auf das Vorschiff zu gelangen. »Denk an Beatrice! Als sie kochen mußte, gab es herrliche Pfannkuchen, die sämtlich angebrannt waren. Ist dir so etwas lieber? Ich fand die Muscheln köstlich. Die anderen mochten sie auch.« Corinna ging früh in ihre Kajüte. Aber sie fand keinen Schlaf. Eifersucht plagte sie. Ob Florian wohl den Abend mit Beatrice verbrachte? Florian kam erst lange nach Mitternacht. Er warf sich auf sein Bett und war bald eingeschlafen. In Corinna erwachte der Trotz. Sie wollte den Freund keiner anderen überlassen. Beatrice sollte ihn nicht haben, auch nicht für einen kurzen Flirt. Im nächsten Jahr stand die Reise in die Südsee bevor. Wenn sie verzichtete, wenn sie Angst vor der Ferne hatte, dann würde Florian wahrscheinlich allein mit den Segelfreunden
fahren. Dann hatte Beatrice leichtes Spiel. Und Florian? Vielleicht war er sogar froh, wenn sie nicht mitkam? Nach einer qualvoll durchwachten Nacht stand Corinnas Entschluß fest: Sie würde mitfahren. Angst? Wovor eigentlich? Was unterschied schließlich die Südsee von der Ostsee? Hier auf den heimischen Gewässern hatte sie keinen Augenblick Angst verspürt. Warum sollte es in der Ferne anders sein? Auch dort lief das Leben auf einem Segelschiff genau so ab wie hier im Norden. Vielleicht war der Sternenhimmel anders mit den Gestirnen der Südhalbkugel oder die Tierwelt mit unbekannten Fischen und Vögeln… aber sonst? Auch dort gab es die Freude, wenn man ins ungewisse Meer startete, auch dort spürte man Seegang und Flaute unter den Planken des Schiffes. Die Segel flatterten im Wind wie anderswo auch. Was also versetzte sie jedesmal in Angst und Schrecken, wenn sie an die nächste große Segelfahrt dachte? Corinna war schon als kleines Mädchen sehr mutig gewesen. Kaum sieben Jahre alt, hatte sie ihren größeren Bruder im Freibad überrascht, als sie ihm entwischte und auf den 10Meter-Turm kletterte. Auf seine wütenden Rufe reagierte sie nicht. Als er dann selbst nach oben stieg, sprang sie kurzerhand in die Tiefe. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch nicht einmal schwimmen. Nicht einmal dieser Umstand hatte sie aufhalten können. Irgendwie paddelte sie mit allen vieren zurück ans rettende Ufer, während ihr Bruder Zeit brauchte, ihr zu folgen. Als er sie schließlich erreichte, stand sie schon triumphierend auf festem Grund. »Sag bloß nichts den Eltern!« beschwor er sie. »Ich sollte doch auf dich aufpassen!« »Warum hast du’s dann nicht getan?« fragte sie etwas keß. »Aber keine Angst, ich verrate dich nicht.«
Später war sie eine tollkühne Reiterin und Bergsteigerin gewesen, bis sie durch ihren Freund Florian zum Segeln kam. Das hatte ihr immer große Freude gemacht, aber bisher hatte noch niemand von einem Törn in die Südsee gesprochen. Schon der Gedanke daran bereitete ihr Beklemmungen. Sie war sich ganz sicher, daß sie sich nicht vor der Seereise fürchtete. Es war etwas anderes, was sie bedrückte. Sie fühlte, daß etwas Unheimliches auf sie zukam, etwas, was sie nicht zu deuten wußte. Aber was nur? Was?
*
Die Reise nach Bornholm verlief von nun an reibungslos. Beatrice verzichtete auf weitere Seebäder während der Fahrt. Sie schwamm erst wieder am Badestrand von Bornholm, nachdem sie ein paar Mal hin- und herstolziert war und natürlich viele Männerblicke auf sich gezogen hatte. Corinna und Florian machten einen Bummel durch den reizvollen Ort Rönne. Sie kauften ein paar Andenken für Verwandte und Bekannte und ließen sich dann in einem Cafe mit gutem dänischen Plundergebäck verwöhnen. Hier trafen sie auch das Ehepaar Koch, das sich zu ihnen setzte. »Es ist hübsch hier, nicht wahr?« sagte Elli Koch. »Hier möchte ich gern einmal länger Ferien machen.« »Vielleicht im übernächsten Jahr«, meinte Heiner Koch. »Im nächsten Jahr steht ja der Pazifik auf unserem Programm.« Corinna zuckte zusammen. Da war sie wieder, diese schreckliche Angst, die sie sich nicht erklären konnte. Diesmal fiel es sogar ihren Begleitern auf. »Geht es dir nicht gut, Corinna?« fragte Elli Koch. »Du bist ja ganz blaß geworden.«
»Corinna hat die empfindliche Haut der Blondinen«, versuchte Florian eine Erklärung. »Der ständige Aufenthalt in der Sonne bekommt ihr nicht. Du solltest auch an Bord immer einen Sonnenhut mit breiter Krempe tragen, Corinna.« »Ich werde es mit merken!« antwortete Corinna leichthin und lenkte das Gespräch auf andere Themen. Die Betty mitsamt ihrer Besatzung blieb zwei Tage auf Bornholm, dann ergänzten sie ihren Proviant und starteten am dritten Tag wieder heimwärts. Ehe sie sich endgültig wieder nach Westen wandten, umrundeten sie die Insel, die ihnen prächtige Fotomotive lieferte. Da waren im Norden die steilen Klippen und im Süden die ausgedehnten Dünen. Inmitten der Insel lag die höchste Erhebung mit immerhin 162 Metern, die von Wäldern umgeben war. Die malerischen Ortschaften lagen ausnahmslos am Ufer der Ostsee oder doch nahe daran. Der Himmel wölbte sich strahlend blau und wolkenlos über dem ebenso blauen Wasser. Es wurde pausenlos geknipst, Videokameras schnurrten. »Im Herbst treffen wir uns in Wuppertal«, sagte Hubert Sandvoss, der aus dem Ruhrtal stammte. »Dann tauschten wir Fotos aus und sehen uns die Filme an.« »Und ich erstatte Bericht über meine Recherchen zum Thema Südsee!« sagte Heiner Koch gutgelaunt. »Gleich, wenn wir wieder zu Haus sind, fange ich damit an. Im nächsten Herbst ist es so weit. Das soll der Höhepunkt in unserer Seglerlaufbahn werden!« Alle klatschten begeistert Beifall. Nur Corinna wandte sich ab und schaute angestrengt über die Reling in Richtung Bornholm, wo mit wachsender Entfernung die Insel langsam im Meer versank. Die Rückfahrt verlief reibungslos. Allerdings wurde das Segeln schwieriger als auf der Hinfahrt, denn jetzt schlug ihnen der Westwind direkt gegen den Bug. Jetzt mußte man
kreuzen, um trotzdem im richtigen Kurs zu bleiben. Aber gerade das bereitete den erfahrenen Seglern mächtig Spaß. Jetzt war ihr ganzes Können gefragt, sie mußten ihre Kräfte mit der See messen. Auch wurde das Meer unruhig, so richtig »kabbelig«, wie der Seemann sagt. Dennoch erreichten sie – wenn auch mit etwas Verspätung – unbeschadet ihr Ziel. »Das war mal wieder eine herrliche Fahrt!« meinte Rita Schreiber, als sie im Kieler Hafen mit einigem Bedauern die »Betty« verließ. Die anderen stimmten zu. Es war wie immer. Es gab die lange Vorfreude und die vielen Vorbereitungen, denen dann vierzehn herrliche Tage folgten, und schließlich die Nacharbeit. Sie bestand darin, einen Bericht zu schreiben, die Bilder in ein Fotoalbum zu kleben, briefliche Erinnerungen auszutauschen, und schließlich in jedem Spätherbst in einem Treffen, bei dem der Abschlußbericht fällig war. Normalerweise wurde dann ein neues Ziel für die nächste Segelfahrt im kommenden Sommer verabredet. In diesem Jahr war darüber schon entschieden worden: Es sollte eine Fahrt in die Südsee unternommen werden, die zu einem Glanzpunkt in ihrem Seglerleben werden sollte. Heiner Koch versprach, schon beim Herbsttreffen konkrete Vorschläge zu machen. Er hielt Wort. Eigentlich hätte man sogleich aufbrechen können, so genau hatte der alte Fahrensmann sich vorbereitet. Alle Teilnehmer bekamen eine Liste mit, was sie zu tun hätten. Es fehlte nichts. Die wünschenswerte Ausrüstung war aufgelistet, die nötigen Behördenformalitäten, die Bestellungen der Flugtickets, Literaturangaben über die Reiseziele, und, und, und. »Bringst du uns auch das nötige Geld dafür mit?« spottete Hubert Sandvoss. »Dafür müßt ihr schon selber sorgen«, lachte Heiner. »Ihr müßt sparen, sparen, sparen… Das sagte ich euch ja schon am Weißenhäuser Zeltplatz. Übrigens, ich habe auch schon
Verbindung aufgenommen zu einem Schiffseigner in Sidney. Ich habe uns für Anfang Oktober für zwei oder drei Wochen vormerken lassen. Er hat für uns eine Dreimastbark, die Victory heißt. Ich lasse mal Fotos herumgehen, damit ihr euch ein Bild machen könnt.« Die Victory war ein schmuckes Schiff, das sehr bewundert wurde. Auch die Inneneinrichtung schien sehr komfortabel zu sein. Die Pantry war eine moderne Küche, die kaum Wünsche offenließ. Aber wahrhaft majestätisch wirkte die Bark auf einem Foto, das sie mit geblähten Segeln auf dem Meer zeigte. »Ist die nicht ein bißchen groß für uns?« zweifelte Ulrike Sandvoss. »Kann ich nicht finden«, meinte Beatrice Baum. »Da haben wir doch endlich mal den richtigen Rahmen für uns. Ich freue mich schon jetzt, wenn ich die Urlaubsfotos mit diesem Schiff im Büro herumgehen lasse.« »Ich fürchte eher, daß sie zu teuer ist für uns«, meinte Rita Schreiber. Doch in diesem Punkt konnte Heiner Koch die ganze Gruppe beruhigen. Die Kosten waren nicht teurer als diejenigen für die Bark Betty, die sie nach Bornholm gebracht hatte. »Was die Südsee für uns teuer macht, ist vor allem die weite Anreise«, erklärte Heiner Koch. »Wir müssen ja nach Australien fliegen und wieder zurück nach Deutschland. Aber da habe ich einen günstigen Touristenflug gefunden.« Die Stimmung schlug hoch bei diesem Treffen in Wuppertal. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten und sich zu Nachbesinnungen trafen, stand nicht die Fahrt des vergangenen Sommers im Mittelpunkt, sondern der neue Törn im kommenden Jahr. Ihnen allen war klar: Sie konnten und wollten nicht mehr zurück. Sie suchten jetzt das einmalige, das großartige Abenteuer, koste es, was es wolle. Keine Anstrengung, kein Opfer war ihnen zu groß dafür.
*
An einem ersten Oktober war es endlich so weit. Die fünf Paare trafen sich im Rhein-Main-Flughafen mit einer Menge Gepäck und mit hochgestimmten Erwartungen. Sogar Corinna hatte sich von der Vorfreude anstecken lassen. Sie hatte im Laufe des Jahres ihre Ängste weitgehend verdrängen können. Schließlich wollte sie ja den Freund nicht allein reisen lassen und mochte auch die Gruppe nicht enttäuschen. Im Düsenjet einer ausländischen Fluggesellschaft saßen sie in mehreren Reihen hintereinander, so daß eine Unterhaltung zwischen ihnen möglich war. Auch tauschten sie gelegentlich die Fensterplätze aus, so daß jeder einmal den Blick nach unten werfen konnte. Die Stewardessen waren liebenswürdig und hilfsbereit, das servierte Essen zwar fremdartig, aber delikat und wohlschmeckend. »Das Abenteuer hat für uns schon in Frankfurt am Main angefangen«, meinte Hubert Sandvoss. »Wo wird es enden?« »Wieder in Frankfurt. Wo sonst?« lachte Richard Goldmann. Warum bekam Corinna Barkhausen eine Gänsehaut bei diesen Worten? Warum überfielen sie wieder diese Zweifel, diese lähmenden Angstgefühle? Sie wehrte sich mit aller Kraft dagegen. Es gelang ihr sogar ein krampfhaftes Lächeln, das sie Beatrice Baum zuwarf. Zum Glück wurde sie von der Stewardeß abgelenkt, die allen Fluggästen ein Glas Sekt servierte. »Wir sind jetzt über Saudi-Arabien«, sagte sie. »Hier wird es schon dunkel. In Deutschland ist es erst Nachmittag. Wenn wir Indien erreichen, dann haben wir dort dunkle Nacht und weiter im Osten erleben wir bereits den neuen Tag.«
Ermattet lehnten sich die Segler in ihre Sessel und versuchten, ein wenig zu schlafen. Hin und wieder gab es mal den Ausblick auf eine lichterfunkelnde Stadt oder auf das geheimnisvolle dunkle Meer, das nur dann zu erkennen war, wenn gerade ein erleuchtetes Boot dort unten fuhr. Sie hatten bereits Indien hinter sich gelassen, als der Jet Bangkok erreichte. Die Zwischenlandung hier in Thailand war eine angenehme Unterbrechung des Fluges. Man hatte einmal wieder festen Boden unter den Füßen, man konnte ein wenig hin- und herlaufen und dabei frische Luft einatmen, auch wenn diese Luft für sie ungewohnt heiß war. Ein wenig bedauerten sie es, so bald weiterfliegen zu müssen. Bangkok, das klang nach orientalischen Märchen und lockte zu mehr als einem zweistündigen Stopp. Thailand war gewiß auch einmal eine Reise wert. Aber man kann nicht alles auf einmal haben. Seufzend nahmen sie wieder Platz in ihrem Jet, als der Weiterflug aufgerufen wurde. Ihr nächster Halt war in Singapur. Ihre müden Gesichter belebten sich wieder, denn nun war der größte Teil des Anfluges geschafft, die nächste Landung würde schon in Australien sein. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung bis Sydney, so dachten sie, aber das war natürlich ein Irrtum. Eine gewaltige Strecke Wüstenland mußte überquert werden. Es dauerte viele Stunden, bis sie endlich, endlich Sydney am Horizont entdeckten. Erschöpft, müde und ausgelaugt kletterten sie die Gangway hinunter. In der Flughafenhalle wartete schon Mr. Williams auf sie, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann, der sie mit breitem Lächeln empfing. »Willkommen in Australien!« sagte er fröhlich. Der Dank der Seglergruppe fiel etwas matt aus. Sie konnten sich nicht einmal mehr zu einem freundlichen Lächeln
aufraffen. Aber das machte Mr. Williams absolut nichts aus. Seine Laune blieb gut. »Ich habe einen Kleinbus auf dem Parkplatz stehen«, sagte er. »Damit bringe ich Sie zum Yachthafen und zeige Ihnen die ›Victory‹. Sie werden Freude an dem Schiff haben. Es ist ein gutes Schiff. Gewiß werden Sie gleich an Bord schlafen wollen. In Australien sind die Hotels nämlich sehr teuer. Mir ist es egal, ob Sie morgen oder übermorgen zu Ihrer Kreuzfahrt starten wollen. Ich habe das Schiff für die nächsten drei Wochen für Sie schon reserviert.« Je mehr er redete, um so schweigsamer wurde die deutsche Seglergruppe. Sie konnten sich nicht einmal mehr zu einer Antwort aufraffen. Wahrscheinlich hatte Herr Williams recht, wenn er die Hotelpreise in Sydney zu hoch fand. Nur Herr Koch wagte einen kleinen Einwand: »Aber wir haben ja noch keine Lebensmittelvorräte an Bord. Die wollen wir erst morgen besorgen. Heute sind wir zu müde dazu.« Mr. Williams lachte fröhlich. »Ich habe Ihnen reichlich Proviant aufs Schiff bringen lassen«, sagte er. »Für zehn Personen und für drei Wochen! Was Sie nicht gebrauchen können, nehme ich zurück.« Er hatte wirklich an alles gedacht. In der Messe der Victory breitete er eine gewaltige Seekarte aus und ließ sich die geplante Route zeigen. »Wir wollen vor allem Neuseeland umrunden und dachten, über die Lord Howe-Insel dorthin zu segeln«, erklärte Heiner Koch, der einigermaßen Englisch sprach. Jetzt lächelte Mr. Williams nicht mehr. Nachdenklich wiegte er seinen Kopf hin und her. »Nehmen Sie eine andere Route, Ladies and Gentlemen!« beschwor er die Segler. »Die Gegend um die Lord HoweInseln gilt nicht als geheuer. Es gibt da viele kleine Inseln, die
auf keiner Karte verzeichnet sind. Mal tauchen sie auf, mal verschwinden sie wieder. Auch sind die Stürme berüchtigt. Die großen Frachtschiffe meiden diese Route. Das könnte für Sie verhängnisvoll werden. Sollten Sie einmal fremde Hilfe brauchen, dann gibt es keine Schiffe in der Nähe. Nehmen Sie lieber eine der vielbefahrenen Routen.« Die zehn deutschen Segler waren nicht mehr in der Lage, den besorgten Unterton in Mr. Williams’ Worten herauszuhören. Sie waren begeistert von ihrem Schiff, sie bewunderten die Funkanlage und die aufblasbaren Rettungsboote und sie staunten über die vollen Vorratskammern. Was konnte Ihnen schon in diesem Schiff passieren? »Geben Sie bitte jeden Abend einmal Ihre genaue Position durch!« legte Ihnen Mr. Williams zum Abschied ans Herz. »Ich habe noch mehr Schiffe ausgeliehen. Ich muß ja wissen, wo sich meine Flotte gerade befindet und wie der Zustand des Schiffes ist. Notfalls kann ich Hilfe schicken.« Sie versprachen es feierlich. Auch Abenteurer sind nicht böse, wenn sie eine rettende Funkverbindung zum nächsten Festland haben. Dann ging Herr Williams und überließ ihnen die »Victory« zur freien Verfügung. Am Abend hielt Hubert Sandvoss seinen Freunden einen kleinen Vortrag über Australien und den südlichen Pazifik. Auch die Geschichte kam nicht zu kurz. Staunend vernahmen die Teilnehmer, daß Neuseeland ungefähr im 14. Jh. von den Maori besiedelt wurde, die den weiten Weg von den CookInseln bis hierher in kleinen Booten zurücklegten. Sie hatten natürlich keine Funkgeräte und konnten nur wenig Proviant mitnehmen. Ihre einzige Navigationshilfe war der nächtliche Sternenhimmel. »Ihr Weg nach Neuseeland war viel weiter als unserer, ihre technischen Möglichkeiten waren viel schlechter. Wir stehen heute viel besser da. Meint ihr nicht auch, daß wir es schaffen
werden?« Damit schloß er seinen Vortrag. Begeisterter Beifall lohnte ihn für seine letzten Worte. Sie alle wollten keine Ermahnungen, sie brauchten Ermunterung und Ansporn. Aber dann wünschten sie sich nur noch eins: Schlafen, schlafen, schlafen…
*
Am anderen Morgen erwachten sie alle sehr spät. Es war ein vertrautes Geräusch, das sie aus dem Schlaf riß: Draußen klatschte die Brandung an die Schiffswand, und das hörte sich genau so an wie in Kiel oder in Rotterdam oder in Bergen. Es war längst Zeit zum Aufstehen, aber es steckte ihnen noch der lange Flug mit der Zeitverschiebung in den Gliedern. Gähnend beschlossen sie, Frühstück und Mittagessen in einer Mahlzeit zusammenzufassen und sich dann zu weiteren Plänen aufzuraffen. Diese Pläne fielen recht bescheiden aus. Aber warum sollten sie sich abhetzen? Spätestens in drei Wochen waren sie wieder in Sydney, dann war wirklich noch genug Gelegenheit, die Stadt zu erkunden und Einkäufe zu machen. Ein wirklich erhebender Augenblick war es, als sie am anderen Morgen starteten. Wer nicht unbedingt an den Segeln gebraucht wurde, stand am Bug und schaute fasziniert aufs Meer und auf den fernen Horizont. Sie alle waren stolz auf ihr Schiff und bewunderten die Victory, wie sie die blauen Wogen durchschnitt. Knatternd blähten sich die Segel im Wind. Er kam von achtern und sorgte für eine gute Fahrt. Es dauerte nicht lange, und sie hatten den australischen Kontinent und die Stadt Sydney weit hinter sich gelassen. Jetzt gab es nur noch Wasser und Wellen, so weit das Auge blickte.
Die Stimmung an Bord war ausgezeichnet, fast übermütig. Was konnte schöner sein als solch eine Fahrt durch unbekannte Meere, fernab von der Heimat? Sie waren stolz auf ihr prächtiges Schiff und stolz auch auf den eigenen Mut und die Ausdauer, mit der sie ihr großes Ziel verfolgt hatten. Allen Warnungen zum Trotz hatten sie sich durchgesetzt. Jetzt galt es nur noch, den Segeltörn wie geplant zum Erfolg zu bringen, aber das schien ihnen von allen Schwierigkeiten noch die geringste zu sein. Sie waren doch alle begeisterte und erfahrene Segler und außerdem ein eingespieltes Team. Was sollte ihnen hier schon passieren? Die Hauptmahlzeit des Tages gab es erst am späten Nachmittag. Die beiden ersten Köche, das Ehepaar Rita und Wolfgang Schreiber, mußten sich mit der Küche und den Vorräten vertraut machen. Dann aber wurde es zur Eröffnung ihrer Traumreise ein wahres Festmenü. Sogar ein paar Flaschen Sekt mußten daran glauben, so daß die Stimmung recht ausgelassen wurde. Irgendwann im Laufe des Abends sagte Florian zu Corinna: »Laß uns aufs Deck gehen, Corinna! Ich brauche ein wenig Ruhe und frische Luft.« Schweigend folgte sie ihm. Man hätte sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen können. Unten in der Messe herrschten Jubel, Trubel, Heiterkeit. Hier oben jedoch war die feierliche Stille des nächtlichen Meeres. Man hörte nur das leise Rauschen des Wassers. Im Mondlicht glitzerten die Schaumkronen der Wellen, die vom Bug der Victory durchschnitten wurden. Florian und Corinna standen dicht nebeneinander an der Reling. Schützend legte Florian seinen Arm um Corinnas Schulter. Er spürte, wie sie zitterte. »Frierst du?« fragte er sie. »Nein«, sagte sie leise und schüttelte ihren Kopf.
»Du zitterst doch!« stellte er kopfschüttelnd fest. »Hast du etwa noch immer Angst? Ich dachte doch, daß du deine Furcht überwunden hättest.« »Meine Gefühle sind so zwiespältig«, gab sie zu. »Ich finde diese Reise wirklich großartig. Kann man sich auch etwas Schöneres denken als dieses nächtliche Meer? Dafür lohnt sich doch jede Anstrengung und jedes Opfer. Aber…« »Aber?« fragte er. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Da ist eine Kraft, die mich zurückhält und die mich immer wieder auffordert, zurückzukehren, so lange noch Zeit ist.« »Aber jetzt kannst du nicht mehr zurück.« »Nein. Seit wir Sydney verlassen haben, schweigt die Stimme.« »Aber du zitterst noch immer, Corinna. Glaubst du wirklich, daß jemand dich vor einem Unfall warnen wollte? Soll unsere Segelfahrt ein böses Ende nehmen?« »Ach, Florian. Ich fürchte mich doch nicht vor diesem Segeltörn. Ich habe nur Angst, daß diese Stimme mir irgend etwas Schreckliches ankündigt. Aber was? Sie hat gesehen, daß alle ihre Warnungen mich nicht zurückhalten konnten, darum schweigt sie jetzt.« »Ich glaube nicht an solche Unglücksboten, Corinna. Natürlich wäre ich mit dir in Deutschland geblieben, wenn du es gewollt hättest. Aber ich bin dir dankbar, daß du trotz deiner Bedenken mitgekommen bist. Du wirst sehen, daß wir eine unvergeßliche Reise erleben werden. Wenn wir am Ende wieder daheim in Deutschland sind, wirst du glücklich über diese drei Wochen sein.« »Hoffentlich hast du recht, Florian.« Da nahm er sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich.
Sie sollte wissen, daß sie nicht allein war mit ihren Nöten. Er liebte sie und würde sie nie verlassen in ihrer Angst. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. Langsam wurde sie ruhiger. »Schau mal!« sagte er plötzlich. »Dort am Sternenhimmel: Das Kreuz des Südens!« »Das habe ich noch nie gesehen!« sagte sie erstaunt. Florian lachte. »Natürlich nicht. Du warst ja auch noch nie auf der Südhalbkugel unserer Erde. Ich sehe es jetzt auch zum ersten Mal. Hier gibt es andere Sterne als bei uns im Norden.« »Der Sternenhimmel ist gewaltig«, stellte Corinna fest. »Bei uns zu Haus ist der Blick nach oben eingeengt von Häusern, Türmen, Bäumen.« »Auf hoher See gibt es keine Hindernisse, die den Blick zum Himmel stören. Das ist überall über den Meeren so, im Norden und im Süden. Das ist ein weiterer Grund für mich, das Meer zu lieben.« Sie herzten und küßten sich und waren sich nah, wie seit langem nicht mehr. Aus der Messe drangen Gelächter und Gesang nach oben. Es schien sehr lustig dort unten zuzugehen. Doch es berührte die beiden auf dem Deck nicht. Corinna und Florian waren glücklich in der Stille der Nacht, auf einem Meer, das unendlich schien und unter dem Sternenzelt, das so verheißungsvoll funkelte. »Ich liebe dich, Corinna«, sagte er leise. »Ich glaube, meine Liebe zu dir war noch nie so groß wie heute.« »Ich liebe dich auch«, antwortete sie. »Ich wußte noch nicht, wie sehr ich dich liebe. Hier ist alles größer, gewaltiger und bewegter als im Alltag.« »So geht es mir auch, Liebste. Schon deswegen ist es gut, daß wir diese Reise gewagt haben. Wir sind dabei, unsere Gefühle füreinander neu zu entdecken.«
Wieder und wieder küßten sie sich. Als Florian spürte, daß sie wieder zitterte, versprach er ihr: »Ich will alles von dir fernhalten, was dich bedrückt und was dich bedroht, Corinna. Gemeinsam sind wir stark.« »Danke, Florian. Ich bin so froh, daß du bei mir bist. Ohne dich käme ich um vor Angst.« Als sie sich endlich in ihre Kajüte begaben, konnten sie nicht ahnen, wie bald sich sein Versprechen schon bewähren mußte.
*
Die ersten Tage verliefen planmäßig, so daß sich an Bord eine fast übermütige Stimmung ausbreitete. Alles klappte wunderbar. Die »Victory« war ein großartiges Schiff, das sich herrlich steuern ließ. Die Funkanlage arbeitete vorzüglich, die Segel waren leicht zu setzen und zu reffen. Die Kajüten waren nicht groß, aber bequemer und besser ausgestattet als alles, was sie bisher erlebt hatten. Die Vorräte erschienen ihnen unerschöpflich zu sein, auch waren sie sorgfältig ausgewählt, so daß der Speiseplan außerordentlich vielseitig war. Daneben bot der Ozean reiche Beute für die Angler. Ihr täglicher Fischfang trug zur Abwechslung bei Tisch bei. »Wir sollten öfter mal in den Pazifik zum Segeln fahren«, meinte Hubert Sandvoss einmal. »Sag lieber ›Südsee‹, das klingt viel romantischer«, sagte seine bessere Hälfte, die gerade den Kaffee servierte. »Ich könnte mir solch einen Törn höchstens einmal in fünf Jahren leisten«, gab Beatrice Baum zu bedenken. »Ganz egal, ob ihr das Meer draußen nun Südsee oder Pazifik nennt.« »Jedenfalls hat sich die Reise schon jetzt gelohnt«, entgegnete ihr Begleiter Richard Goldmann.
Gegen Mittag zogen die ersten Wolken am Horizont auf. Heiner Koch, der heute für die Navigation verantwortlich war, zog die Stirn kraus. Irgend etwas stimmte nicht mit dem Kompaß. Oder waren die Seekarten nicht in Ordnung? Er konnte den Stand des Schiffes nicht orten und fragte in seiner Not sogar Wolfgang Schreiber um Rat. Aber auch dieser fand sich nicht zurecht. Hubert Sandvoss riet, Funkverbindung mit der Landstation in Sydney aufzunehmen. Vielleicht könnte man dort den Standpunkt des Schiffes bestimmen. Der Rat war zwar gut, aber im Falle der Victory führte er nicht zum Erfolg. Der Äther schien voller widersprüchlicher Meldungen zu sein, so daß man nach dem Abhören verwirrter war als zuvor. Corinna hatte kurz darauf ein Erlebnis, das sie völlig verstörte. Auf der Wasseroberfläche sah sie ein bleigraues Dreieck, das sich schnell auf die Victory zubewegte. »Was ist das?« fragte sie Hubert Sandvoss, der gerade vorbeikam. Er zuckte die Achseln. »Vermutlich ein Hai. Er wittert das Schiff und die Menschen, die auf ihm sind. Wir sollten auch die ganzen Abfälle nicht länger ins Meer schütten. Dadurch werden die Haie angezogen.« Corinna wurde blaß vor Schrecken. Haie! Nie hatte sie damit gerechnet. Noch gestern hatte sie darüber nachgedacht, einmal im Meer zu schwimmen. Als sie beim Mittagessen die anderen warnte, wurde sie ausgelacht. »Aber, Corinna!« sagte Rita vorwurfsvoll. »Seit wann bist du so ängstlich? Schau dir unser Schiff an und schau dir den Hai an. Selbst, wenn er uns fressen wollte, dann müßte er erst einmal unser Schiff zum Kentern bringen.«
»EIN Hai schafft es vielleicht nicht, aber wenn nun HUNDERT kommen? Vielleicht hat Mr. Williams an die Haie gedacht, als er uns vor dieser Route warnte.« »Verdirb uns die Laune nicht!« bat Elli Koch die junge Reisegefährtin. »Gefahren gibt es überall. Aber wir werden schon damit fertig.« Nicht einmal Florian stand seiner Freundin bei. »Sag so etwas nicht wieder, Corinna!« bat er sie. »Du weißt, daß auf einem Schiff nichts schlimmer ist, als ein allgemeiner Aufruhr. War es denn wirklich ein Hai, den du gesehen hast?« »Wenn ich es dir doch sage! Aber es ist schon schlimm, wenn nicht einmal du mir glaubst!« »Ich glaube dir ja!« sagte Florian gequält. »Aber mußt du wirklich alles erzählen, was du gesehen hast? Sag es mir, wenn wir allein sind. Dann können wir noch immer überlegen, ob es die anderen wissen sollten oder nicht. Innerhalb unserer Mannschaft können wir keine Panik gebrauchen.« Der Hai war bald vergessen, denn an Bord gab es viel zu tun. Jede Hand wurde gebraucht, um die Dreimastbark auf Kurs zu halten. Der Lohn für alle Mühe war das stetige Weiterkommen auf dem Weg zu ihrem Ziel. Jeden Abend zeigte Heiner Koch seinen Freunden stolz auf der Seekarte, wie weit sie schon gekommen waren. Jeweils zwei Männer wurden zur Nachtwache abgeordnet, damit die anderen ruhig schlafen konnte. Eines Nachts wurden sie alle von der Alarmglocke geweckt. Sie dachten zunächst an eine routinemäßige Übung und kletterten gehorsam nach oben, wo ein heftiger Wind blies. Immer wieder schlugen schwere Brecher über das Deck. Heiner Koch, der heute Kapitän war, ordnete an, daß jeder seine Schwimmweste anlegte und sich vorsichtshalber unter Deck aufhielt, damit er nicht vom Sturm ins Meer gefegt wurde.
Schlafen konnte wohl keiner in dieser Schreckensnacht, aber an eine ernsthafte Gefahr glaubten sie im Grunde noch nicht. Als sie am anderen Morgen wieder nach oben kamen, stellten sie fest, daß das Schiff sank. Schon lag es erheblich tiefer als gewöhnlich im Wasser. Irgendwo mußte ein Leck sein, das sie aber im Sturm nicht finden konnten. An ein Abdichten war überhaupt nicht zu denken. Schon hatte die stolze Victory eine deutliche Schlagseite. Es sah so aus, als sänke sie immer schneller in die Tiefe, so, als würde sie von unsichtbaren Kräften hinuntergezogen. Niemand konnte das Unheil aufhalten. Wie lange konnte sie sich noch halten? »Wir müssen das Schiff verlassen«, sagte Wolfgang Schreiber und sprach damit aus, was sie alle befürchteten. Das Schiff aufgeben? Das bedeutete das Ende ihrer Träume und Erwartungen. Es war ein Eingeständnis ihres Scheiterns. Durften sie denn diesen Entschluß noch länger hinauszögern? Jedes Warten würde die Lebensgefahr vergrößern. Aber warum dieses schmähliche Ende? Sie hatten doch alles getan, um die Reise sicher zum Erfolg zu bringen. »Wir dürfen keine Panik aufkommen lassen! Jeder tut das, was wir schon hundertmal für einen solchen Fall geübt haben!« mahnte Heiner Koch ruhig, denn er spürte die Unruhe bei seinen Freunden. »Wir lassen jetzt die Rettungsboote ins Wasser und verteilen soviel Proviant wie möglich auf die beiden Boote. Funkgerät, Kompaß und Seekarten müssen auf alle Fälle mitgenommen werden, Lebensmittel und Trinkwasser auch. Aber Vorrang haben natürlich die Menschen.« Heiner Koch war der älteste Teilnehmer unter ihnen. Er war ein erfahrener Segler. Es war selbstverständlich, daß er in einer solchen Notlage die Führung übernahm und die Kommandos gab. Sie alle gehorchten seinen Anweisungen.
Beatrice Baum lehnte sich an die Reling und suchte das Meer bis zum Horizont mit einem Fernglas ab. Irgendwo mußte es doch eine Rettungsmöglichkeit geben. Schließlich entdeckte sie etwas, das sich ein wenig aus dem Wasser erhob. Es war nur ein schmaler Schatten am Horizont. Aber vielleicht doch eine Hoffnung? »Ich glaube, da ist etwas! Das muß ein Schiff sein!« schrie sie plötzlich auf. Alle Segler wandten sich ihr zu. Sollte wirklich so schnell Rettung in Sicht sein? Zuerst reichte sie das Glas ihrem Freund Richard Goldmann. »Siehst du es nicht auch?« fragte sie in beschwörendem Ton. »Es ist noch zu weit«, sagte er bedauernd. »Vielleicht ist es ein Schiff. Aber es verändert seine Stellung nicht. Dann ist es wohl doch eher eine kleine Insel.« Ob Insel oder Schiff, es war ihnen egal. Es bedeutete auf jeden Fall Hilfe in höchster Not. Dabei wäre ihnen ein Schiff am liebsten gewesen, denn man konnte damit eher die Außenwelt erreichen. Auch gab es dort vermutlich eine Funkverbindung. Auf einer abgeschiedenen Insel war das alles äußerst fraglich. Vielleicht gab es dort ganz unbekannte Gefahren, wilde Tiere zum Beispiel oder feindselige Bewohner. Nun, sie hatten keine Wahl. Jeder Strohhalm, an den sie sich klammern konnten, mußte ihnen willkommen sein. Die »Victory« neigte sich jetzt bedenklich, so daß sie sich kaum noch auf Deck halten konnten. Die Besatzung wartete bis zum allerletzten Augenblick und verließ die »Victory« gerade noch rechtzeitig, ehe das stolze Schiff in den Fluten versank. Nur wenig später hätte es sie alle mit in die Tiefe gerissen. Gurgelnd schlossen sich die Wellen über dem Wrack. Mit Zorn und Wehmut nahmen die Segler Abschied von ihrer Bark; mit ihrem Untergang fand der Traum vom großen Abenteuer ein vorzeitiges Ende.
Aber sie hatten keine Zeit zum Träumen und auch nicht zum Nachdenken, sie kämpften ums Überleben. Zwei kleine Gummiboote dümpelten auf einem riesigen Ozean dahin, getrieben vom Wind und den Wellen. Mit einiger Mühe gelang es ihnen die Außenbordmotore anzuwerfen, aber diese waren recht schwach. Vermutlich dienten die Rettungsboote normalerweise nur als Kurierboote, wenn die »Victory« weit draußen vor dem Hafen ankern mußte und wenn man im Hafenort Post abholen und Lebensmittel kaufen wollte. Die zehn Segler fanden kaum Platz in den kleinen Booten. Dicht gedrängt saßen sie nebeneinander und schauten zum Horizont, wo sie die Insel vermuteten. Für die verängstigte und übermüdete Besatzung der Dreimastbark fuhren, die Boote viel zu langsam. Sie hatten alle das Gefühl, als näherten sie sich der Insel überhaupt nicht. Ihr Leben hing ab von diesen winzigen Nußschalen, sie wußten es wohl. Immer wieder schauten sie über die unendliche Wasserwüste, ob es nicht irgendwo einen weiteren Hoffnungsschimmer gab. Aber da war nichts, das ihnen hätte helfen können. »Wir müssen schon froh sein, daß wir keinen Sturm haben«, sagte Beatrice verzweifelt. Sturm? Nur das nicht. Die anderen seufzten im Gedanken an diese Möglichkeit. »Und daß keine Haie uns entdeckt haben«, fügte Corinna hinzu. »Ein starker Hai kann unsere beiden Boote leicht zum Kentern bringen. Dagegen haben wir keine Chance.« »Solche Gespräche führen doch zu nichts«, tadelte Florian Heydemann die beiden Frauen. »Wir müssen nur immer an unsere Rettung denken und an sonst gar nichts.« Corinna dachte daran, wie schwer es ihr gefallen war, sich zu dieser Reise zu entschließen. Immer wieder hatte sie Alpträume gehabt, die sie gewarnt hatten. Warum hatte sie alle Warnungen in den Wind geschlagen, warum? Um hier in der
Weite des Pazifik einen frühen Tod zu finden? Alle ihre Ängste und Alpträume wurden wieder lebendig in ihr, jetzt, wo ihre Reise sich so dramatisch verändert hatte. Sie hatten am frühen Morgen die Victory verlassen, da war es noch kühl gewesen. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel und strahlte erbarmungslos auf die Schiffbrüchigen ein. Mit Decken und Mützen versuchten sie, ihre Köpfe zu schützen. Ihre Kehlen waren ausgedörrt von der Hitze, dabei war ihr Trinkwasser längst verbraucht. Es mochte schon später Nachmittag sein, als sich eine frische Brise bemerkbar machte. Dankbar atmeten sie alle die kühle Luft ein. Und noch etwas geschah: Die Gummiboote fuhren plötzlich viel schneller. Es war, als zöge sie eine unsichtbare Leine oder Kette auf die Insel zu, der sie sich rasch näherten. Schon konnte man Bäume erkennen, die dort wuchsen. Corinna fragte ihren Freund Florian: »Wie kommt es nur, daß wir plötzlich so schnelle Fahrt machen?« »Keine Ahnung«, meinte er achselzuckend. »Wahrscheinlich gibt es hier im Meer eine Strömung, die uns hilft. Wenn es weiter so geht, dann verbringen wir den Abend und die kommende Nacht in Sicherheit. Morgen werden wir weitersehen.« Die Insel war ein winziges kreisrundes Eiland, ein Atoll, wie man es im Stillen Ozean häufig findet. Umgeben war es von einem Korallenriff, das nur eine einzige enge Öffnung hatte, durch die man zur Lagune und zur Insel gelangen konnte. Für ihre kleinen Boote war das keine Schwierigkeit. Kaum hatten sie die schmale Öffnung durchfahren, als sie in ruhige Gewässer kamen. Hier gab es keinen Seegang mehr und keine gewaltigen Wellen, hier war das Wasser ruhig und spiegelglatt. Sie alle atmeten auf. Die Insel war schnell erreicht. Als sie dort einen Landeplatz fanden und beide Boote aufs Trockene
zogen, waren sie unendlich erleichtert. Sie hatten wieder festen Boden unter den Füßen, sie waren gerettet! Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie finden würde. Hubert Sandvoss war sicher, daß er bald Funkverbindung mit einem Schiff in der Nähe oder mit der australischen Küste aufnehmen konnte. »Wenn erst die Funkanlage funktioniert, dann holt man uns notfalls mit Hubschraubern hier weg. Aber das muß nicht mehr heute abend sein. Jetzt haben wir unseren Schlaf verdient.« »Vorher gibt es noch ein Festmenü!« versprach Elli Koch. »Wir haben schließlich Grund zu feiern.« »Ich habe eher Durst«, meinte Wolfgang Schreiber. »Sollten wir nicht mit unseren Vorräten sparsam umgehen?« fragte Ulrike Sandvoss vorwurfsvoll. »Wir wissen schließlich nicht, wie lange wir damit auskommen müssen.« »Ich schlage vor, daß meine Frau Elli das Festmenü vorbereitet«, erklärte Heiner Koch. »Ich gehe inzwischen mit Wolfgang Schreiber und erkunde die Insel. Beim Abendessen berichten wir euch, was wir gesehen haben.« Das Abendessen war schnell zubereitet. Es bestand aus ein paar Dosen mit Thunfisch, Ölsardinen und Kochschinken, dazu gab es Dauerbrot und Dosenbier. Elli Koch erntete viel Lob dafür, obwohl sie doch nur die Büchsen mit der Fertigkost geöffnet hatte. »Ich meine, heute hätten wir es eigentlich verdient, noch einmal fast wie gewohnt zu essen«, antwortete sie auf die Komplimente. »Die Bananen-Diät kommt noch früh genug.« Heiner und Wolfgang waren schnell wieder zurück, denn die Insel war ja nur klein. In kaum einer Viertelstunde hatte man sie durchquert und für eine Umrundung brauchte man nicht viel mehr als eine dreiviertel Stunde. Dabei war Zeit ja das Einzige, was sie hier im Überfluß hatten. »Menschen leben hier nicht«, erzählte Heiner.
»Auch Tiere haben wir nicht entdeckt«, fügte Wolfgang hinzu. »Aber es gibt eine Grotte am anderen Ende der Insel, vielleicht fünfhundert Meter von hier entfernt«, berichtete Heiner. »Dort entspringt eine Quelle mit klarem, kühlem Wasser. Trinkwasser ist also genug da. Wir haben viele wilde Bananen gefunden, verhungern werden wir auch nicht. Außerdem gibt es bestimmt reichlich Fische im Meer oder in der Lagune. Wir müssen uns nur noch überlegen, wie wir sie fangen. Ich glaube, das schaffen wir auch noch.« »Aber jetzt wollen wir die letzten Vorräte aus der »Victory« genießen«, sagte Hubert. »Bitte, Platz nehmen, meine Herrschaften! Der Sand ist warm und weich.« Lachend setzten sie sich auf den Sandstrand. Die Stimmung war ausgezeichnet. Sie glaubten sich alle in Sicherheit. Es schadete auch gar nichts, wenn sie noch zwei oder drei Tage hier verbringen mußten, ehe Rettung kam. Die Zeit würde ihnen nicht lang werden. Was würden die Freunde in der Heimat sagen, wenn sie von ihrem Robinson-Leben auf einer Südsee-Insel erzählten?
*
In der Nacht schliefen die meisten traumlos und fest. Sie waren so erschöpft von den Ereignissen des gestrigen Tages, daß sie gleich auf dem Sandboden einschliefen, als sie sich dort ausgestreckt hatten. Die Einzige, die sich schlaflos im Sand herumwälzte, war Corinna. Sie quälte sich mit ihren Sorgen. Auf schreckliche Weise war wahr geworden, was sie bisher nur befürchtet hatte. Sie teilte auch nicht den Optimismus der anderen, die sich schon in Sicherheit sahen. Sie wußte mit
Gewißheit, daß ihnen das Schlimmste noch bevorstand. Wie es aussah, dieses Schlimme, das wußte sie allerdings nicht. Sie hätte wirklich viel darum gegeben, es auch noch zu erfahren, denn nichts drückt mehr als die Ungewißheit über ein böses Geschick. Als einer nach dem anderen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. »Gibt es eigentlich Kaffee?« fragte Ulrike Sandvoss. Sie war durstig und erschöpft. Da hätte ihr eine Tasse Kaffee gerade gutgetan. »Wir sind kein Grand-Hotel«, antwortete Elli Koch. »ExtraWünsche können wir nicht erfüllen. Aber ich habe zufällig eine Dose schwarzen Tee gerettet, als wir in die Boote gingen. Auch ein Kochtopf ist da. Zwei Leute müßten mit dem Topf etwa zwei Liter Wasser aus der Quelle holen und zwei weitere könnten Reisig und Laub suchen für das Feuer.« Beatrice Baum und Richard Goldmann meldete sich zum Wasserholen, während Corinna Barkhausen und Florian Heydemann sich auf den Weg machten, um Brennholz zu suchen. Diese beiden waren auch schnell wieder zurück, jeder mit einem Bündel dürrem Reisig in den Armen. Aber wo blieben Beatrice und Richard? Das Feuer war schnell entfacht mit Hilfe eines noch funktionierenden Zigarettenanzünders. Die Flamme schlug hoch auf. Man mußte sie nutzen, noch ehe das Holz heruntergebrannt war. Aber wo blieb das Teewasser? »Wo stecken die beiden nur?« murrte Ulrike Sandvoss. Schon machten sich Corinna und Florian wieder auf den Weg, um neues Brennmaterial zu suchen. »Findest du nicht, daß es hier unheimlich ist?« fragte Corinna ihren Freund. »Ich habe das Gefühl, als lauerte hinter jedem Baum eine Gefahr, die uns alle umbringen will.« »Unsinn«, beruhigte Florian sie. »Du siehst Gespenster, weil deine Nerven überreizt sind. Du warst ja schon immer gegen
diese Reise. Jetzt glaubst du, daß die Ereignisse deine Ängste bestätigt haben. Denk einfach nur an die nächstliegende Aufgabe. Wir suchen Holz, weil wir Tee kochen wollen.« Sie kehrten bald zum Lager zurück und stapelten die dürren Äste zu einem Scheiterhaufen auf. Als auch dieser wieder nutzlos heruntergebrannt war, wurde ein Suchtrupp zur Quelle geschickt. Die beiden Boten kamen schnell zurück. Aber sie kamen allein, ohne die beiden Wasserträger. Ihre Gesichter waren bleich vor Entsetzen. »Was ist passiert?« fragte Heiner Koch. »Wir waren an der Grotte und haben sie gefunden. Beatrice und Richard lagen am Ufer der Quelle. Sie waren beide tot. Wie es passiert ist, wissen wir nicht. Sie lagen auf dem Rücken in einer seltsam verkrampften, starren Haltung. Ihre Lippen waren blau, die Augen starrten leblos in den Himmel. Wir haben sie ihnen geschlossen. Wie es geschehen konnte? Es bleibt uns ein Rätsel«, berichtete einer der beiden Kundschafter kopfschüttelnd. Zwei Tote in ihrer Gruppe, die ausgezogen war, eine Abenteuerreise zu machen! Corinna dachte an ihre bösen Ahnungen, und das Herz war ihr schwer. Sie war gewarnt worden, warum hatte sie die anderen nicht zurückgehalten von dieser Reise? Warum war sie selbst nicht daheimgeblieben, wenn keiner ihr glauben wollte? Sie schaute Florian an, aber er wich ihrem Blick aus. Wußte er, woran sie dachte? Machte er sich Vorwürfe, daß er ihre Bedenken nicht ernst genommen hatte? Ach, es war müßig, jetzt solche Überlegungen anzustellen. Schweigend machten sich die vier Paare auf den Weg zur Grotte. Sie fanden alles so vor, wie man es ihnen berichtet hatte. Die beiden Toten lagen in verzerrter Stellung da. Jetzt hatten sich auch noch ihre Gesichter blau verfärbt. Heiner
Koch liefen die Tränen über das Gesicht. Die Frauen zitterten vor Angst und Schrecken. Sie lehnten sich hilfesuchend an die Brust ihres Partners, als könnte dieser sie vor einem ähnlichen Schicksal bewahren. Weil sie weder Schaufeln noch Spaten hatten, scharrten sie mit den Händen flache Mulden aus dem Waldboden und legten die beiden Toten hinein. Anschließend deckten sie sie mit Palmenblättern zu, auf die sie reichlich Sand streuten, damit die Blätter nicht vom Wind weggetrieben wurden. Sogar ein paar Blumen fanden sich, mit denen sie diese primitiven Gräber schmücken konnten. Dann erst traten sie den Heimweg zu ihrem Lagerplatz an. Sie gingen schweigend mit gesenkten Köpfen. Die Reaktion auf diesen Schicksalsschlag war unterschiedlich. Einige weinten hemmungslos, während andere wie versteinert wirkten. Sie alle waren sich aber in einem einig: Sie wollten so schnell wie möglich dieses Atoll verlassen und in die Heimat zurückkehren. Aber wie sollten sie das nur anstellen? Welche Möglichkeiten hatten sie? Sie untersuchten die Schlauchboote, mit denen sie sich von der sinkenden Victory aufs offene Meer gerettet hatten. Das Ergebnis war niederschmetternd. Die Boote waren an ihrer Bodenfläche erheblich beschädigt worden. Vermutlich hatte das Korallenriff auf dem Weg zur Insel wie ein scharfes Messer gewirkt. Auch waren die Benzintanks fast leer. Sie würden mit dem kläglichen Rest nicht weit kommen. Die Frage war nur, ob das Benzin schneller verbraucht war oder ob die Boote schon vorher voll Wasser gelaufen waren. Auf die Rettungsboote konnten sie jedenfalls nicht zählen. Ihre letzte Hoffnung war nun das Funkgerät. Hubert Sandvoss arbeitete verzweifelt daran herum. Gelegentlich schien es, als hörte er ein paar Worte die durch den Äther
schwirrten. Aber sie fügten sich noch zu keiner verständlichen Botschaft zusammen. »Laß das, Hubert. Niemand vermißt uns, und darum schickt man uns weder eine Botschaft noch Hilfe. Selbst Mr. Williams in Sydney wird glauben, daß wir noch wohlgeborgen auf seiner Dreimastbark über den Pazifik schippern«, sagte Wolfgang Schreiber mit finsterem Gesicht. »Darum müssen wir uns selber melden mit einem kurzen Bericht und unserem Standort.« Ihr Standort? Dafür war Heiner Koch zuständig. Er saß grübelnd vor seiner Seekarte, die er im Sand ausgebreitet hatte. Daneben hatte er seinen Kompaß gelegt. »Wie ist unsere geographische Länge und Breite?« fragte Hubert. »Ich weiß es nicht«, stöhnte Heiner. »Der Kompaß spielt verrückt. Vielleicht gibt es hier irgendwo im Untergrund eine magnetische Erdschicht, die uns den Streich spielt. Die Seekarte ist auch nicht zu gebrauchen. Mr. Williams hatte recht. Diese Insel ist nicht darauf verzeichnet. Offiziell gibt es sie nicht.« Hubert gab nicht auf. Er war sicher, daß sein Gerät endlich funktionierte. Bald würde er bestimmt Funkkontakt mit Australien oder Neuseeland haben, die ersten Morsezeichen waren zu hören und manchmal auch menschliche Stimmen. »S.O.S.« funkte er. Immer wieder: »S.O.S.« Irgendwann drang eine ferne Stimme durch den Äther: »Ihre Position bitte! Geben Sie Ihre genaue Position an!« Wie sollte man eine genaue Position angeben, wenn man sie selbst nicht wußte? Hubert versuchte es trotzdem. »Vier Tagesreisen mit einem Segelschiff von Sydney aus nach Osten. S.O.S. Das Schiff ist gekentert und wir sind auf einem menschenleeren Atoll gelandet. Wir haben keinen Proviant mehr, haben aber zwei Tote unter der Besatzung.«
Die Stimme im fernen Australien war nicht mehr zu vernehmen. Niemand wußte, ob sie überhaupt gehört worden waren. Eine stille Verzweiflung ergriff die Gruppe. Was war aus ihnen geworden? Von der hochgemuten Stimmung bei ihrer Abreise war nichts mehr zu spüren. Gedrückt hockten sie im Sand. Manche hielten noch Ausschau, ob irgendwoher Rettung in Sicht war. Andere saßen matt und teilnahmslos herum. Corinna war froh, als Florian sie zu einem Spaziergang aufforderte. »Hast du ein bestimmtes Ziel?« fragte sie. »Ich suche etwas Eßbares. Wir können schließlich nicht nur von Bananen leben.« »Du rechnest also damit, daß wir hier noch länger bleiben müssen.« »Wie es aussieht, ja«, sagte Florian achselzuckend. »Mir ist, als könnte ich es schon jetzt nicht mehr ertragen«, klagte Corinna. »Der Mensch kann viel ertragen«, entgegnete Florian. »Man kann lange hungern, der Durst ist allerdings schon schlimmer. Bist du nun böse auf mich, Corinna?« »Warum sollte ich dir böse sein?« »Weil ich dich zu dieser Reise überredet habe und nie auf deine Bedenken gehört habe. Hast du diese Katastrophe vorhergesehen?« »Nein, Florian. Ich wurde nur vor dieser Reise gewarnt, ohne daß ich Genaues erfahren habe. Ja, ich habe mich gefürchtet, ich wäre am liebsten zu Hause geblieben. Ich weiß nicht, wer oder was mich gewarnt hat. Eine innere Stimme? Ein Traum? Oder war es meine verstorbene Mutter?« »Ich hätte auf dich hören müssen, Corinna. Oder ich hätte dich nicht überreden dürfen. Dann wärest du jetzt wenigstens in Sicherheit und ich müßte mir keine Vorwürfe machen.«
»Und alle meine Freunde wären in Lebensgefahr. Nein, Florian, dann hätte ich nie wieder glücklich sein können. Laß uns nie mehr darüber sprechen. Wir sind jetzt hier und wir müssen versuchen, diese Lage zu überstehen. Ohne dich würde ich es vermutlich nicht schaffen. Jetzt sind wir noch acht Personen. Mit vereinten Kräften gelingt uns vielleicht die Rettung.« »Du bist sehr tapfer, Corinna!« sagte Florian dankbar und nahm sie in seine Arme. Er hatte mit schweren Vorwürfen gerechnet und war sichtlich erleichtert, daß sie es so gefaßt aufnahm. Von jetzt an, das nahm er sich vor, würde er ihre Ängste und Ahnungen ernst nehmen. Aber auch dieser gute Vorsatz half ihnen jetzt nichts mehr. Vielleicht gab es gar keine Zukunft für sie. Sie hatten die Insel am Strand umrundet und kehrten nun zu den anderen zurück, indem sie durch den Palmenwald gingen, der in der Mitte der Insel wuchs. Plötzlich gab es ein Geräusch, irgend etwas polterte dicht vor ihren Füßen zu Boden. »Eine Kokosnuß!« rief Corinna begeistert aus. »Wahrhaftig!« lachte Florian. »Sie ist hier von der Palme heruntergefallen.« Er hob die Nuß auf und schüttelte sie, wobei man ein glucksendes Geräusch vernahm. »Die Milch!« jubelte Corinna. »Hast du noch nie etwas von Kokosmilch gehört? Jede Kokosnuß enthält im Innern Kokosmilch. Wir haben zu trinken… wir werden nicht verdursten.« »Das ist ein Geschenk zur rechten Zeit«, sagte Florian. »Aber versprich dir keine Wunder davon. Wir sind noch acht, da bekommt jeder nur ein paar Schluck.« »Wir werden eben weiter suchen. Wo eine Nuß liegt, muß es auch eine Kokospalme geben. Wo es eine Kokospalme gibt, gibt es weitere Nüsse… das ist doch sonnenklar.«
Sie suchten weiter und fanden schließlich ein paar junge Bäume, die sie zu zweit schütteln konnten. Beladen mit ein paar Kokosnüssen kehrten sie schließlich an den Strand zurück, wo sie mit viel Hallo empfangen wurden. »Platznehmen zu einer Extra-Mahlzeit«, verkündete Ulrike Sandvoss. »Wird was rechtes sein«, knurrte ihr Ehemann. »Wieder mal Bananen? Ich kriege sie nicht mehr runter ohne Getränk!« »Es gibt auch etwas Trinkbares dazu!« lockte Ulrike weiter. »Whisky oder Champagner?« spottete Wolfgang Schreiber mißmutig. »Weder noch. Es gibt… Milch!« »Habt ihr Seekühe gemolken?« »Nein, aber Kokospalmen geschüttelt«, erklärte Corinna. »Wir haben vier Kokosnüsse geerntet, wir verteilen sie jetzt! Drinnen ist eine Menge Milch.« Begierig saßen sie rings um die Kokosnüsse und schauten zu, wie Hubert und Wolfgang sie zu öffnen versuchten. Dazu nahmen sie einen Stein und die wenigen Werkzeuge, die sie in den Rettungsbooten mitgebracht hatten. Die anschließende Mahlzeit war köstlich. »Ich wußte gar nicht, wie gut Kokosmilch schmeckt«, sagte Ulrike zufrieden. »Unser Speisezettel wird immer abwechslungsreicher. Vielleicht versuchen es die Herren mal, uns mit einem selbstgefangenen Fisch zu überraschen.« Alle lachten. Corinna und Florian wurden bestürmt, weitere Kokosnüsse zu besorgen oder aber die Fundstelle zu verraten. Sie versprachen es bereitwillig. Gleich morgen würden sie eine große Suchaktion mit allen Teilnehmern veranstalten. Dann könnte man vielleicht einen kleinen Vorrat an Kokosnüssen anlegen. Zusammen mit den Bananen und vielleicht mal einem Fisch war der Speisezettel nicht mehr ganz so trostlos.
Aber der nächste Tag brachte ein neues Unglück, so daß niemand mehr daran dachte, im Wald nach weiteren Kokosnüssen zu suchen.
*
Der andere Morgen brachte unruhiges Wetter. Die Sonne schien zwar wie immer, aber es herrschte ein heftiger Wind, der das Meer aufwühlte und zu meterhohen Wellen auftürmte. Innerhalb des Korallenriffs war die Lagune zwar ruhig, aber man wußte nie, ob die See nicht bald das Riff überspülen würde und dann zur Gefahr für die Schiffbrüchigen werden könnte. Heiner Koch und Hubert Sandvoss überlegten schon, ob man das Lager nicht weiter in der Mitte der Insel verlegen sollte. Dort lag man zwar auch nur geringfügig über dem normalen Meeresspiegel, aber doch etwas höher als unmittelbar am Strand. Zur Not gab es dort Bäume, auf die man sich retten konnte. Doch noch war es nicht so weit. Erst einmal wollten sie an ihrem gewohnten Platz frühstücken. Elli Koch hatte schwarzen Tee und Bananen vorgesehen. Wie schon am Tag zuvor meldeten sich Florian und Corinna zur Brennholzsuche. Hubert und Ulrike Sandvoss erklärten sich bereit, Teewasser aus der Quelle zu holen. Aber auch diese beiden kehrten nicht zurück. Diesmal begab sich die ganze restliche Gruppe – es waren noch drei Paare – auf die Suche nach ihren vermißten Freunden. Sie kamen zu spät. Auch Hubert und Ulrike wurden tot aufgefunden, wie schon Beatrice und Richard am Tag zuvor. Offensichtlich hatten diese beiden noch versucht zu fliehen, denn sie
befanden sich etwa zwanzig Meter entfernt von der Quelle und hatten dieser den Rücken zugewandt. Irgendein Unheil hatte die Fliehenden eingeholt und sie getötet. Wie sich die Bilder glichen! Auch die heutigen Toten lagen in einer seltsamen, starren Haltung, ihre Gesichter waren schon blau angelaufen. Die Augen waren noch weit geöffnet, als könnten sie nicht glauben, was ihnen passierte. Kaltes Entsetzen erfaßte die letzten sechs Schiffbrüchigen. Mit der Quelle oder der Grotte mußte ein unbekanntes Verhängnis verbunden sein, etwas, was jedem zur tödlichen Gefahr wurde, wenn er sich ihr näherte. Vielleicht gab es auch deshalb keine menschliche Besiedlung hier. Nicht einmal Tiere konnten hier leben. Die restlichen drei Paare machten sich in stiller Übereinkunft daran, auch diese beiden Freunde so zu bestatten, wie sie es am Tag zuvor mit Beatrice und Rita getan hatten. Sie alle waren von der bangen Sorge erfüllt, wer von ihnen als nächster vom Geist der Quelle getötet werden würde. Aber kampflos wollten sie sich nicht aufgeben. Gemeinsam machten sich darum die sechs Überlebenden daran, die Umgebung der Quelle gründlich zu untersuchen. Es mußte doch einen Hinweis auf die Todesursache geben. Im dichten Gestrüpp fand man schließlich ein hölzernes Denkmal oder Mahnmal, das einen grimmigen Dämonen darstellte. War er die Ursache ihres Unglücks? Das Bildnis war kunstvoll geschnitzt und bunt bemalt, wenn auch schon stark verwittert. »Eine Art Totem ist das«, meinte Wolfgang Schreiber. »Es muß hier also doch einmal Menschen gegeben haben. Vielleicht gibt es sie sogar noch, aber sie haben sich gut versteckt.« »Das glaube ich nicht«, sagte Heiner Koch. »Wir hätten sie längst gesehen, wenn es sie noch gäbe. Diese Schnitzerei erinnert stark an die Kunst der Maori, die vor mehr als
sechshundert Jahren Neuseeland besiedelt haben. Sie pflegen solche Holztafeln aufzustellen, um Feinde abzuschrecken.« »Ist damit ein Zauber verbunden?« fragte seine Frau Elli. »Müssen wir nun alle sterben?« »Unsinn!« wehrte ihr Mann diesen Verdacht ab. Aber er konnte es nicht vermeiden, daß die Angst umging in der Gruppe der letzten sechs. Keiner traute noch den Freunden. Wo früher jeder dem anderen glaubte, da herrschte jetzt Mißtrauen. Kaum einer wagte es noch, das Lager zu verlassen. Sogar innerhalb des Lagers wurde jeder Schritt von den übrigen Teilnehmern kritisch beobachtet. Die einzigen, die noch gelegentlich den Strand aufsuchten, waren Florian und Corinna. Sie taten es, weil sie die Gegenwart der anderen nicht mehr ertrugen und weil sie hofften, in der vertrauten Zweisamkeit ein wenig Zuspruch und Aufmunterung zu finden. Sie stapften eng umschlungen durch den Sand, wobei Florian versuchte, der Freundin ein wenig Mut und Hoffnung zu geben. Insgeheim fühlte er sich noch immer verantwortlich für sie. Ohne ihn säße Corinna jetzt gewiß behaglich in ihrer Wohnung in Deutschland, ungefährdet von rätselhaften Geistern und mörderischen Quellen. »Es wäre alles leichter, wenn man wüßte, woher der Tod kommt«, sagte Corinna. »Dann könnte man dagegen angehen, könnte kämpfen oder sogar fliehen. Aber so…« »Es scheint mit der Quelle zusammenzuhängen«, meinte Florian. »Wir müssen die Grotte und die Quelle meiden und dürfen auf gar keinen Fall daraus trinken. Sonst geht es uns wie den vier Toten aus unserer Gruppe.« »Wir werden sterben«, sagte Corinna mutlos. »Wir werden bald sterben. Entweder tötet uns der Geist aus der Quelle oder wir sterben vor Durst.«
»Wir müssen wieder Kokosnüsse finden, Corinna. Warum soll uns das nicht noch einmal gelingen? Kokosmilch ist das einzige, was wir hier trinken dürfen.« »Du hast doch schon danach gesucht, Florian. Es scheint so, als hätten wir gestern die letzten paar Nüsse gefunden. Offenbar gibt es keine mehr.« »Wir müssen trotzdem suchen«, beharrte Florian. »Auch wenn der Erfolg unwahrscheinlich ist. Sei nicht so pessimistisch!« »Ich habe in der Nacht geträumt, daß ein Schiff uns retten wollte«, sagte Corinna nachdenklich. »Aber es konnte die enge Einfahrt durch das Riff zur Lagune nicht finden. Wir haben gerufen und gewunken, aber es drehte ab und ließ uns mit unserer Verzweiflung zurück.« »Das war ein gräßlicher Alptraum, Corinna. Darauf darfst du nichts geben. Im Traum verarbeitet man die Erlebnisse und die Ängste des Tages. Du fürchtest, daß eine Rettungsmannschaft uns übersehen könnte und hast diese Sorge mit in den Schlaf genommen. Solch ein Traum hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.« »Auch die Wirklichkeit sieht schlimm genug aus«, gab sie zu bedenken. »Sicher, wir sind in einer schwierigen Lage. Aber wir sind jung und können uns gegen eine scheinbar unvermeidliche Gefahr auch dann noch wehren, wenn alle Welt das für unmöglich hält. Wir sind zusammen, wir haben uns und können uns gegenseitig Mut machen. Wir lieben uns doch, Corinna. Wir wollen nicht gemeinsam sterben, sondern gemeinsam leben.« »Nicht einmal unsere Funksprüche sind angekommen«, sagte Corinna mutlos. »Weißt du das so genau? Heiner Koch hatte einen kurzen Funkkontakt mit der australischen Küstenwacht. Wir haben
zwar ihre Antwort nicht gehört, aber sie wissen, wo wir sind und daß wir Hilfe brauchen. Vielleicht sind sie schon morgen hier, wer weiß?« Corinna wollte es gern glauben, obwohl alles gegen eine Rettung sprach. Sie lehnte sich an Florians Schulter. So lange er ihr zur Seite stand, so lange war sie nicht ohne Schutz. »Laß uns durch den Wald zum Lager zurückgehen«, schlug Florian vor. »Am Strand haben wir keinen Schutz vor der Sonne, wir werden unnötig durstig. Auch gibt es am Strand keine Kokosnüsse. Im Wald besteht immerhin die Möglichkeit…« Corinna lachte. Sie drückte ihrem Herzensschatz dankbar die Hand. Wie gut, daß sie ihn hatte. Sie allein würde hier verzweifeln. Das Wunder geschah. Sie stolperten über die Baumwurzeln durch den Wald und trafen auf mehrere Dutzend frischer Kokosnüsse, die der Wind abgeschlagen hatte. »Was habe ich gesagt!« rief Florian triumphierend aus. »Der Wind hat uns die Arbeit abgenommen. Wir werden nicht verhungern und nicht verdursten. Jedenfalls heute noch nicht.« »Ich freue mich schon auf die großen Augen, die die anderen machen, wenn sie uns sehen«, sagte Corinna glücklich. Übermütig schüttelten sie die schlanken Stämme der nächsten Kokospalmen und freuten sich, wenn ein paar Nüsse herunterpolterten. »Das ist hier unsere Vorratskammer«, sagte Florian vergnügt und deutete auf die Palmen. »Auch wenn die Kost ein wenig eintönig ist, sie wird uns mit Sicherheit vor dem Hungertod bewahren.« »Außerdem ist sie kostenlos. Man braucht sich auch keine Gedanken um die Zubereitung zu machen«, meinte Corinna und lachte wieder. Verflogen waren ihre Ängste und Sorgen.
Sie trugen so viele Nüsse, wie sie nur tragen konnten und machten sich auf den Heimweg zum Lager. Noch lebten außer ihnen die Ehepaare Koch und Schreiber. Sie würden sich freuen über die unerwarteten Kokosnüsse, litten sie doch besonders unter dem ständigen Durst. Doch als sie den Strand erreichten, fanden sie den gewohnten Lagerplatz leer vor. »Schade!« sagte Corinna. »Ich war schon auf ihre erfreuten Gesichter gespannt. Wo mögen sie nur stecken?« Florian zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich machen sie einen kleinen Spaziergang. Etwas Bewegung in der Abendluft… das kann ihnen nur guttun. Vielleicht sind sie aber auch auf der Suche nach einem anderen Lagerplatz. Heiner schlug ja die Möglichkeit vor, damit wir nicht eines Tages von einer Flutwelle überrascht werden.« »Aber so lange?« fragte Corinna beunruhigt. »Die Insel ist schließlich ziemlich klein. Außerdem wird es bald Abend.« »Wir wissen ja nicht, wann sie aufgebrochen sind. Vielleicht sind sie erst kurz vor unserer Rückkehr losgegangen«, gab Florian zur Antwort. »Aber keine Sorge! Sie wissen ja, daß sie nicht von der Quelle trinken dürfen. Ich sehe höchstens in der Grotte Gefahren für Menschen, sonst ist die Insel harmlos. Elli, Heiner, Rita und Wolfgang werden sich auch noch morgen früh über die Kokosnüsse freuen.« Am anderen Morgen waren die Freunde immer noch nicht zurück. Gemeinsam machten sich Corinna und Florian dann auf die Suche. Was sie beide befürchteten und nicht auszusprechen wagten, wurde bittere Wahrheit: Auch die beiden Ehepaare Koch und Schreiber waren tot. Auch sie waren dem Geist der Quelle zum Opfer gefallen. Starr und stumm lagen sie am Rand der Grotte. »Sie kannten doch die Gefahr!« klagte Corinna. »Warum haben sie sich trotzdem hierhergewagt?«
»Vielleicht hat der Durst sie hierher getrieben«, vermutete Florian. »Oder sie haben geglaubt, daß sie als Vierergruppe stark genug sind, um sich mit dem Geist auseinanderzusetzen. Ich glaube, daß der Geist der Quelle erst in Aktion tritt, wenn man beginnt, Wasser zu schöpfen. Vielleicht gibt es deswegen keine Menschen und Tiere hier auf der Insel. Zwangsläufig müssen alle von dieser einzigen Quelle trinken und müssen dabei sterben. So wurde jedes Lebewesen auf diesem Atoll ausgerottet.« Corinna klammerte sich an Florian. »Laß uns gehen, Florian, laß uns gehen!« jammerte sie. Wie gehetzt liefen sie wieder zum Strand auf ihren Lagerplatz. Wurden sie vom Geist der Quelle gejagt? Hatten sie Angst, der Tod könnte ihnen folgen?
*
Sie waren nun allein auf der Insel, allein mit ihren Sorgen und Ängsten. Am nächsten Morgen wurde es Corinna bewußt, daß sie nicht einmal versucht hatten, die letzten Toten in ein notdürftiges Grab zu legen. Kopflos waren sie davongelaufen. Beschämt machten sie sich im Schein der Morgensonne auf den Weg, um die Ehepaare Koch und Schreiber zu bestatten, so gut sie es vermochten. Aber der Platz an der Grotte war leer. Es gab keine Spur mehr von den vier Toten, so sehr sie auch danach suchten. Nur die Bäume rauschten im Wind, sonst herrschte hier Grabesstille. Entsetzt drehte Corinna sich um und lief schreiend davon. Florian folgte ihr besorgt. Erst an ihrem Lagerplatz am Strand der Lagune hatte er sie eingeholt. Schluchzend warf sie sich an seine Brust.
»Es ist so schrecklich hier, so unheimlich, Florian«, jammerte sie. »Ich will hier nicht bleiben, keine Minute mehr. Laß uns fliehen, so lange wir es noch können. Worauf wartest du denn noch? Ich schwimme auch, wenn es sein muß. Ich war schon immer eine ausdauernde Schwimmerin. Wenn wir die Schwimmwesten anlegen, dann können wir auch fortschwimmen!« »Setz dich erstmal hin!« sagte er ruhig und führte die Zitternde an ihren gewohnten Platz im Sand. Dort setzten sie sich. Tröstend strich er ihr übers Haar. »Du bist ja ganz außer Atem!« fuhr er fort. »Liebling, glaub mir, auch ich würde lieber heute als morgen fortgehen von hier. Aber wir sollten bei allen Fluchtgedanken die Vernunft nicht außer acht lassen. Was passiert denn, wenn du dich wirklich schwimmend auf den Weg machst? Mitten im Meer würdest du verdursten, denn das Salzwasser ist ungenießbar. Möglicherweise triffst du auch einen hungrigen Hai.« »Und was ist mit unseren Rettungsbooten?« »Sie verdienen diesen Namen nicht mehr, aber das weißt du ja. Es ist schon ein Wunder, daß sie uns bis hierher gebracht haben. Ich setze noch immer auf Hilfe von außen. Unsere Angehörigen in Deutschland werden anfangen, sich um uns zu sorgen. Auch auf unseren Arbeitsplätzen wird man uns vermissen und schließlich Suchaktionen starten. So lange müssen wir hier aushalten, auch wenn es uns schwerfällt.« »Versprich mir eins, Florian…« »Und was?« »Geh nie allein zur Quelle, versprichst du mir das?« »Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen. Bitte, Corinna, geh nie allein zur Quelle. Versprochen?« »Versprochen. Ich gehe nur mit dir zusammen, Florian. Dann sterben wir gemeinsam.«
»Das Sterben hat noch Zeit, Corinna. Ich will noch mit dir leben… viele Jahre lang. Wir werden alle diese Schrecken vergessen und werden sehr glücklich miteinander sein.« »Verstehst du, warum Kochs und Schreibers an der Quelle umgekommen sind?« klagte Corinna ohne auf seine Worte einzugehen. »Sie wußten doch schon, wie gefährlich es dort ist.« »Der Durst kann so quälend sein, daß er die Vernunft ausschaltet. Vielleicht war er so schrecklich, daß sie nur noch eins suchten: Wasser! Sie wollten trinken und ließen darum alle Bedenken außer acht.« »Aber wer hat die Leichen fortgeschafft?« »Ich weiß es auch nicht, Liebling. Ich gebe zu, daß ich genauso entsetzt darüber bin wie du. Wer ist hier auf dieser Insel außer uns, und wer versetzt uns immer wieder in Angst und Schrecken?« Während sie so sprachen, hörten sie aus der Ferne ein leises Motorengeräusch. Es näherte sich und wurde lauter und lauter. Sie sprangen auf, voller Hoffnung und Erwartung. Sollten ihre Leiden jetzt endlich vorüber sein? Gespannt lauschten sie dem sanften Brummen. »Ein Flugzeug!« sagte Florian ungläubig. »Man sucht uns!« jubelte Corinna. Sofort versuchten sie mit allen Mitteln, sich bemerkbar zu machen. Florian nahm seine Windjacke und schwenkte sie wie eine Fahne. Corinna legte eine rote Wolldecke in den weißen Sand. Dann zündete sie ein Feuer an, das bald hell aufloderte und eine weiße Rauchfahne zum Himmel schickte. Täuschten sie sich, oder verlor das Flugzeug wirklich an Höhe? Man konnte es jetzt deutlich erkennen. Es handelte sich um eine Sportmaschine. Die großen Düsenjets der Luftfahrtgesellschaften hätten sich sicher nicht hierher verirrt. Mit ein wenig Glück würde man sie jetzt oben hören können.
Sie legten darum die Hände wie einen Trichter an den Mund und riefen so laut sie konnten: »Hilfe! Hiiiilfe! Hiiiiiilfeee!« Das Motorengeräusch setzte für einen Augenblick aus. Der Pilot flog eine Schleife. Vermutlich suchte er nach einer Landemöglichkeit. Aber nein. Er startete durch und flog pfeilgerade nach Westen. Vom Osten her war er gekommen, hatte über der Insel eine Runde gedreht und hatte dann seinen Flug nach Westen fortgesetzt. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, daß er die beiden verzweifelten Menschen dort unten überhaupt bemerkt hatte. »Vielleicht hat er gedacht, wir hätten ihn freundlich begrüßt und wollten gar nichts von ihm«, sagte Florian bitter. »Wahrscheinlich will er heute pünktlich zum Abendessen irgendwo in Australien sein«, meinte Corinna. »Da konnte er sich unseretwegen natürlich nicht aufhalten.« Dann brach sie in Tränen aus. Die Rettung war so nah gewesen, so zum Greifen nah. Da war die Enttäuschung um so größer. An diesem Abend fielen ihnen keine tröstlichen Worte mehr ein. Ihre Hoffnung auf Rettung war auf einem Tiefpunkt angelangt. Vielleicht war die Quelle wirklich ihr letzter Ausweg. Mit diesem Gedanken schlief Corinna ein.
*
Sie sprachen nicht mehr über das Flugzeug, das doch ihre Rettung hätte sein können. Sie sprachen überhaupt nicht mehr viel zusammen. Alles, was sie zu ihrer Lage hätten sagen können, war schon gesagt worden. Die Trauer um den
sinnlosen Tod der Freunde nagte an ihnen. Aber würde es ihnen denn besser ergehen? Vielleicht war ihnen noch ein viel schlimmeres Schicksal beschieden. Florian fing an, alles noch vorhandene Werkzeug aus den Rettungsbooten an Land zu bringen. Manches davon rostete schon, anderes war für seine Zwecke nicht brauchbar, aber er war nicht wählerisch. Er holte alles an Land und versuchte, die Geräte auszubessern, die Klingen zu schleifen und die Scharniere zu ölen. Florian sprach mit Corinna nicht über seine Pläne, aber sie ahnte doch, daß er an eine Flucht dachte. Sie selbst war zuständig für die Ernährung, die noch genau so eintönig war wie zu Anfang ihres Robinson-Daseins. Es gab wilde Bananen, Kokosnüsse, dazu Kokosmilch als einziges Getränk. Ein Festessen war es, wenn Florian einmal einen Fisch gefangen hatte. Corinna briet ihn an einem Fischstecken über dem offenen Feuer. Früher hätte sie das sehr romantisch gefunden, heute verwünschte sie alle Bananen und Kokosnüsse. Für die Fische hätte sie gern mehr Gewürze gehabt. Es blieb ihr nur das salzige Meerwasser dafür. Nun, das waren alles kleine Sorgen, die unwichtig waren vor der einen großen Angst: Würden sie jemals wieder die Heimat sehen, sollten sie immer auf dieser Insel bleiben oder gab es einmal eine Rückkehr? Florian ließ sie immer häufiger allein am Lagerplatz. Es war ein Umstand, der Corinna zusätzlich ängstigte. Sie wollte nicht allein sein, sie wollte sich nicht um Florian sorgen. Immer wieder stellte sie sich vor, daß sie ihn dann starr und leblos an der Quelle finden würde, so, wie sie schon die Freunde gefunden hatten. Dann war sie allein als letzte Überlebende auf diesem Atoll. Sie zitterte vor Angst, wenn sie nur daran dachte. Warum nahm er sie denn nicht mit? Warum verschwieg er ihr seine Ziele? Wollte er etwa an der anderen Küste der Insel
jagen oder fischen? Aber warum konnte er ihr das denn nicht sagen? Eines Tages war er wieder fortgegangen. Freundlich und liebevoll hatte er sich wie immer von ihr mit einer Umarmung verabschiedet. Sie war durstig, hatte aber keine Kokosnüsse mehr am Strand. Sie machte sich also auf, um irgendwo eine Kokospalme zu schütteln. Mitten im Wald sah sie Florian bei der Arbeit. Er prüfte die Bäume und klopfte an ihre Rinde. »Warum tust du das?« fragte sie ihn, als sie dicht hinter ihm stand. Er schreckte zusammen und wandte sich um. »Spionierst du mir etwa nach?« fragte er böse. »Nein. Ich hatte keine Kokosnuß mehr und war durstig. Ich suchte hier im Wald nach einer Kokospalme und fand dich. Das ist alles.« »Ich will ein Boot bauen, ein Boot oder ein Floß. Aber ich wollte es dir nicht sagen, ehe es fertig ist. Du könntest dir vielleicht falsche Hoffnungen machen. Wenn ich von meinen Träumen gesprochen hätte und hätte es anschließend nicht geschafft, dann wäre deine Enttäuschung groß gewesen.« »Du solltest mich doch besser kennen«, sagte sie lächelnd und legte ihre Arme auf seine Schultern. Dann küßte sie ihn mitten auf den Mund, was inzwischen schon ein wenig schwierig geworden war, denn er hatte einen kräftigen Bart bekommen, seit sie auf der Insel lebten. »Wir werden gemeinsam an dem Boot bauen«, erklärte sie. »Ich helfe dir dabei. Du sagst mir, was ich tun soll, ich bin sowieso nicht voll beschäftigt hier. Kochen brauche ich nicht, die Mahlzeiten wachsen uns in den Mund. Nicht einmal Geschirr gibt es, das ich spülen müßte.« Sie lachten beide, und fortan gab es nur noch ein Thema: Das Boot! Als Seglerin kannte sich Corinna mit Booten ziemlich gut aus, allerdings hatte sie es immer mit solchen zu tun gehabt, die von echten Schiffsbauern konstruiert worden
waren. Dasselbe galt auch für Florian. Jetzt aber waren sie beide nur auf sich selbst gestellt. Ihre Rettung hing von diesem Boot ab, ihm mußten sie ihr Leben anvertrauen. Wieviel Seemeilen lagen vor ihnen, die sie ohne Hilfe bewältigen mußten? War Neuseeland näher oder doch Australien? Welche Meeresströmungen konnten sie für ihre Fahrt nutzen? Und schließlich: In welcher Richtung würden sie vermutlich eher auf Handelsschiffe treffen? Aber vor allen diesen Fragen stand der Bau des Bootes. Benötigt wurde vor allem Holz, das Florian verzweifelt suchte. Die Bäume im Wald hatten sämtlich schlanke Stämme. Er suchte jedoch einen kräftigen Baum mit einem dicken Stamm. »Wie willst du den überhaupt bearbeiten?« wunderte sich Corinna. »Du hast keine Sägen, keinen Hobel. Wir können doch den Baum nicht mit einem Taschenmesser zerschneiden.« »Die Polynesier haben ausgehöhlte Baumstämme benutzt. Damit sind sie mehr als 1000 km ins Unbekannte gefahren. Sie wußten nicht, ob sie jemals an ein Ziel kommen würden. Und doch erreichten sie Neuseeland und besiedelten es. Im Gegensatz zu ihnen kennen wir die Weltkarten, wir wissen ungefähr, wo wir sind und wohin wir wollen. Wir haben sogar ein Funkgerät, das wir vielleicht wieder in Gang setzen können. Einzige Bedingung für uns ist das Boot. Wir müssen uns ein Boot bauen. So ähnlich wie die Boote der Polynesier stelle ich mir unser Schiff vor. Der Baum muß so dick sein, daß wir beide uns dareinsetzen können. Alles andere findet sich.« »Und wenn wir keinen finden?« fragte Corinna verzagt. »Dann müssen wir die dünnen Baumstämme zu einem Floß zusammenbinden. Aber das ist nicht so sicher. Eine große Welle könnte es leichter zum Kentern bringen als den Einbaum.« »Und wer treibt unser Boot voran?« fragte Corinna.
»Wir sind Segler. Hast du das schon vergessen? Wir werden einen dünnen Baum als Mast nehmen und daran eine Wolldecke als Segel aufspannen. Du wirst sehen, das geht. Für die ersten Seemeilen nehmen wir einen der Außenbordmotore. Etwas Benzin ist ja noch drin. Das bringt uns auf die offene See hinaus.« »Du denkst ja wirklich schon an alles«, sagte Corinna erstaunt. »Ich will, daß unsere Flucht gelingt, weil ich noch lange mit dir leben will. Und darum muß alles gut vorbereitet sein. Vertraust du mir?« »Ja, Florian«, sagte sie. In ihren Augen standen Tränen. In der Nacht herrschte ein gewaltiger Sturm im Pazifik. Die Brandung rollte gegen das Korallenriff und drohte es zu zertrümmern. Was wurde dann aus ihrem Atoll? Bisher waren sie wenigstens vor dem Meer sicher gewesen. Das schien vorbei zu sein. Die Kräfte waren so unterschiedlich verteilt: Draußen tobte das riesige Meer und schickte immer wieder hohe Wogen gegen ein Inselchen, das wehrlos war. »Vielleicht sollten wir unser Lager doch in den Wald verlegen«, schlug Florian vor. »Ein, zwei Meter höher als unser Strand ist es dort allemal. Wir wären dort etwas sicherer.« Corinna schüttelte ihren Kopf. »Die zwei Meter bringen uns auch nicht viel, wenn die ganze Insel versinkt«, widersprach Corinna. »Aber im Wald gäbe es eine neue Gefahr, die stürzenden Bäume. Hörst du nicht, wie es dort kracht und poltert? Wir haben hier viele Möglichkeiten, das Zeitliche zu segnen: Ertrinken, Verdursten, vom Geist der Quelle getötet, oder von fallenden Bäumen erschlagen zu werden. Nur das Weiterleben, das wird allmählich zum Problem.« »Wir werden es schaffen, Corinna. Ganz bestimmt.«
Ein Blitz schlug ganz in ihrer Nähe ein. Für einen Augenblick war die ganze Umgebung erhellt. Man sah die aufragenden Wellen, die sich auf das Inselchen stürzen wollten, man sah die Schaumkronen, und man hörte den Donner. Schutzsuchend warf sich Corinna in Florians Arme. Sie zitterte vor Angst und Kälte. Auch er triefte vor Nässe, die schäumende Gischt hatte ihn mehrfach überspült. Aber dennoch fühlte sie sich geborgen an seiner Brust. Das Gewitter dauerte bis in die Morgenstunden, dann nahm die Tageshelle ihm viel von seinen Schrecken. Als endlich der Regen nachließ, konnten sie die Schäden sehen, die das Unwetter angerichtet hatte. Am schlimmsten hatte es den Wald getroffen, dort lagen die gestürzten Bäume kreuz und quer durcheinander. »Für ein Floß hätten wir jetzt also genügend Material«, stellte Florian fest. »Ein Einbaum wäre mir lieber«, sagte Corinna. »Aber wir haben jetzt ein großes Materiallager. Ganz ohne unser Zutun hat der Sturm viele junge Bäume gefällt. Wir hätten Wochen dazu gebraucht. Wenn es mit dem Einbaum nicht klappt, dann werden wir es mit dem Floß versuchen.« Florian lachte. »Warum haben wir uns so vor dem Sturm gefürchtet?« fragte er. »Er hat uns viel Arbeit abgenommen. Vielleicht hat er uns ja auch einen Baum für das Boot geliefert.« Ihre intensive Suche hatte Erfolg. Sie fanden einen Riesenbaum, der vom Sturm entwurzelt worden war. Er lag unter einer dicken Decke von Buschwerk und Baumwurzeln, Ästen und Laubhaufen. »Darf ich dir vorstellen, Corinna? Unser Boot! Du darfst es taufen, ehe es auf Jungfernfahrt geht. Wie soll es denn heißen?«
»Vielleicht Robinson, oder Heimfahrt. Oder noch besser: Heimweh. Aber vielleicht warten wir noch mit der Namenssuche, bis das Boot fertig ist. Dann fällt uns vielleicht noch etwas Besseres ein.« »Gut, gehen wir an die Arbeit. Erst einmal müssen wir dies Ungetüm von Baum an unseren Lagerplatz schaffen. Dort liegt es unmittelbar am Wasser und kann nach dem Bau leicht vom Stapel laufen.« Den Baum fortschaffen? Es schien unmöglich zu sein. Aber Florian fand auch dafür eine Lösung. Eine ganze Anzahl kleiner Stämme wurde unter den dicken Baumstamm geschoben, was in dem sandigen Grund möglich war. So lag er wie auf Rollen und konnte vorwärts gezogen werden. Dumm war nur, daß immer weitere Stämme als Rollen gebraucht wurden. Kurzerhand benutzte Florian eine abschüssige Fläche, die zum nächsten Strand hinabführte und ließ den Baum auf diesen Sandstrand rollen. »Unser Lager ist doch auf der anderen Seite der Insel«, sagte Corinna verwundert. »Dann ziehen wir eben hierher«, erklärte Florian fröhlich. »Unser Hausrat ist nicht so großartig. Wir nehmen ihn in die Hand und bringen ihn nach hier O.K.? Das ist leichter, als unser künftiges Boot dorthin zu schaffen.« Kritisch betrachtete Corinna den Baum. »Wie soll daraus ein Boot werden?« fragte sie zweifelnd. »Wir müssen ihn aushöhlen. Wenn dann der Innenraum fertig ist, bekommt das Boot die äußere Gestalt. Es muß stromlinienförmig geformt sein, damit es den Wellen keinen Widerstand bietet.« »Sag mir nur, womit wir den Stamm aushöhlen sollen?« fragte Corinna verzagt. »So, wie es die Steinzeitmenschen taten: Mit steinernem Werkzeug. Wir werden die nächsten Tage damit verbringen,
scharfkantige Steine zu suchen. Wir haben ja jede Menge Zeit. Wir dürfen nichts überhasten. Alles muß sehr gut überlegt und erprobt sein. Unser Leben hängt schließlich von unserem Boot ab.« »Unser Leben…«, sagte Corinna nachdenklich. »Was ist es noch wert?« Florian nahm sie in seine Arme und küßte sie. »Einen Luxus können wir uns allerdings nicht erlauben«, sagte er ruhig. »Luxus? Wir?« fragte Corinna erstaunt. »Den Luxus, unser Leben in Frage zu stellen. Es darf nur einen Gedanken für uns geben, nämlich an unsere Rettung zu glauben und dafür zu arbeiten. Wenn wir anfangen, daran zu zweifeln, dann sind wir ernstlich in Gefahr.«
*
Die nächsten Tage verbrachten Florian und Corinna damit, an den Liegeplatz ihres künftigen Boots »umzuziehen«. Zunächst schleppten sie die leckgeschlagenen Gummiboote dorthin. Das war nicht so schwer, wie sie geglaubt hatten. Sie zogen einfach die Boote durch das flache Wasser am Uferrand um die halbe Insel herum, bis sie den neuen Lagerplatz erreicht hatten. Bei dieser Aktion entdeckten sie allerhand Brauchbares in den beiden Gummibooten. Es waren vor allem Kleidungsstücke, die die Freunde aus der Victory mitgenommen hatten. Dann gab es weiterhin ein paar Kanister Treibstoff, einen Kasten mit Werkzeugen aller Art, dazu von jedem Boot ein Segel. Ob die Außenbordmotore und das Funkgerät noch brauchbar waren, würde sich bei einer genaueren Untersuchung herausstellen. Bislang war Hubert Sandvoss der Funker ihrer Gruppe
gewesen, aber Hubert lebte nicht mehr. Jetzt mußte sich Florian damit befassen. »Hoffentlich gibt es eine vernünftige Gebrauchsanweisung«, seufzte er. »Dann könnte ich es vielleicht irgendwie schaffen.« Die beiden Überlebenden taten alles gemeinsam, sie trennten sich nie. Florian hatte große Bedenken, die Freundin allein zu lassen. Konnte man denn wissen, wozu der böse Geist der Insel fähig war? Corinna war froh über Florians Rücksicht, denn sie fürchtete sich vor dem Alleinsein. Dann wurden all ihre Ängste wieder lebendig, die sich bis zur Panik steigern konnten. Wenn Florian bei ihr war, dann war sie ruhiger. Sie wollte wenigstens in seinen Armen sterben. So kam es, daß sie nur zu zweit Kokosnüsse suchten, daß sie immer gemeinsam das Regenwasser in einem Topf auffingen oder Steine sammelten. Gelegentlich machten sie sogar einen Spaziergang, der keinem bestimmten Zweck diente, sondern nur zum Ausspannen und Luftholen unternommen wurde. Dabei entdeckten sie die Schönheit der Insel, den blutroten Abendhimmel, wenn die Sonne im Meer versank, und das Spiel der Wolken, wenn sie vom Wind zerzaust wurden. »Wie schön könnte es hier sein, wenn…«, sagte er einmal. »Wenn was?« fragte sie neugierig. »Wenn wir nur zur Erholung hier wären. Wenn wir hier unseren Jahresurlaub verbrächten und unsere Insel als Zuflucht vor der lauten Welt entdeckt hätten. Wenn wir wüßten, daß uns unser Postschiff wieder abholte und uns ebenso termingerecht wieder zum Flughafen brächte, wo unser Linienflugzeug uns schon erwartete.« »Nicht schlecht. Diese Insel könnte ohne ihre Schrecken wirklich schön sein. Wie wär’s, wenn wir sie als das letzte Paradies dieser Erde für den Tourismus entdeckten?« lachte sie.
»Dann wäre es eben kein Paradies mehr«, sagte Florian nachdenklich. »Die einzige Attraktion wäre vermutlich dann die Todesquelle oder die Todesgrotte.« »Warum sie uns bisher verschont hat, wird mir ewig ein Rätsel bleiben«, wunderte sich Corinna. »Wir kennen ihre Gesetze nicht«, sagte Florian nachdenklich. »Vielleicht sind wir ihr nie zu nahe gekommen, so daß sie keine Macht über uns hatte. Vielleicht wollte sie aber auch, daß wir am Leben bleiben, damit wir von unseren Erfahrungen berichten können. Sie hofft wohl, daß nach unserer Rückkehr in die Heimat ganze Scharen von Neugierigen angereist kommen, um die Quelle auszuprobieren. Dann fände sie leicht neue Opfer.« Spaziergänge und Gespräche dieser Art waren selten. Meist arbeiteten Florian und Corinna verbissen an ihrem Boot, das sie inzwischen »Odysseus« genannt hatten. War Odysseus nicht auch nach vielen Abenteuern glücklich wieder in der Heimat gelandet? Er sollte ihr Vorbild sein. Neben dem Boot hatten sie eine Menge flacher Steine aufgestapelt, die sie zum Aushöhlen des Stammes benutzen konnten. Zunächst mußte ein Teil der Rinde entfernt werden. Dabei stellte sich heraus, daß der Baum im Innern angefault war. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ihn der Sturm umreißen konnte. »Können wir ihn trotzdem noch gebrauchen?« fragte Corinna ängstlich. »Ich denke schon«, sagte Florian zuversichtlich. »Wir schaben jetzt das Innere heraus. Notfalls brennen wir dann den Hohlraum des Bootes ab. So etwas haben die Polynesier auch getan. Das geht schnell und dichtet das Holz ab.« Sie sprachen nicht viel von den acht Toten ihrer Gruppe. Es hatte keinen Sinn, sich mit ihrem schrecklichen Schicksal zu
belasten, brauchten sie doch ihre ganze Kraft, um die eigene Rettung voranzutreiben. Aber in den Nächten kehrten die Erinnerungen an die Freunde zurück und quälten sie. Besonders Corinna litt unter ihren Alpträumen. Einmal erschien ihr die schöne Beatrice. »Du hast mich in den Tod gejagt, gib es doch zu!« fauchte sie. »Du hast gewollt, daß ich mit Richard zusammen das Wasser hole. Warum hast du es nicht selbst einmal probiert? Dann wüßtest du, wie leicht man stirbt. Es ist merkwürdig, daß alle Welt sich vor dem Tod fürchtet. Dabei löst er alle Probleme und befreit von allen Sorgen. Wenn ich daran denke, was dir noch alles bevorsteht, meine Liebe! Dann bin ich froh, daß mir die Quelle zum Schicksal wurde. Wärest du nicht erleichtert über meinen Tod? Nicht mehr lange, und dein Florian hätte mir gehört. Hast du nicht die begehrlichen Blicke gesehen, die er mir zuwarf?« Die Stimme verstummte erst, als Corinna laut aufschrie und sich aufsetzte. »Was hast du denn?« fragte Florian schlaftrunken. »Ich muß wohl geträumt haben!« jammerte Corinna. »Mir war, als hörte ich Beatrice sprechen.« »Unsinn«, brummte Florian. »Beatrice ist tot. Wir haben ihr gemeinsam ein Grab gescharrt. Sie kann nicht mehr sprechen, beruhige dich doch!« »Sag mir die Wahrheit, Florian!« beschwor Corinna ihren Freund. »Hast du dich jemals für Beatrice interessiert?« »Wir haben wahrhaft andere Sorgen als diese dumme Eifersucht auf eine Tote!« knurrte Florian und warf sich in seiner Sandmulde auf die andere Seite. Er hatte ja so recht, Corinna sah es ein. Aber sie hatte doch Beatrices Stimme gehört, hatte ihr höhnisches Lachen vernommen. War sie etwa dabei, den Verstand zu verlieren?
Hörte sie im Traum schon Gespenster, wo es gar keine gab? Nur das nicht! Bei allen Schwierigkeiten, die sie bewältigen mußten, war das die größte Gefahr. In der nächsten Nacht wurde Florian das Opfer einer Geisterstimme, aber er bewahrte die Beherrschung, so sehr er auch betroffen war. Hatte er nicht bisher immer Corinna deswegen gescholten? Jetzt ging es ihm genauso wie ihr. Am nächsten Morgen saß er mißmutig beim üblichen KokosnußFrühstück und brütete vor sich hin. »Ist dir nicht gut, Florian?« fragte Corinna besorgt. »Wieso fragst du?« »Nun, du bist so anders als gewöhnlich, irgendwie bedrückt.« »Allmählich glaube ich auch an übersinnliche Erscheinungen, an Geister oder Gespenster. Sie schwirren hier herum, sie beherrschen diese Insel und quälen oder töten alle Besucher, die sich hierher verirren.« »Hattest du etwa auch einen Traum?« fragte Corinna. »Jedenfalls kann ich mich nicht mehr genau daran erinnern, es war alles wirres Zeug. Wir sollten uns möglichst bald auf den Weg machen, riet mir eine Stimme. Denn sonst wären wir verloren…« »Hast du die Stimme erkannt, Florian?« fragte Corinna ängstlich. »War es einer von unserer Gruppe?« »Ich glaubte, Hubert Sandvoss zu hören«, gab Florian zu. »Aber ich muß mich getäuscht haben. Es ist doch ganz unsinnig. Hubert und ich, wir hatten nie Probleme miteinander…« »Er war dein Freund, Florian. Er betrachtet es als einen Freundschaftsdienst, wenn er dich vor einer Gefahr warnt. Wir sollten ihn ernst nehmen.« »Wir wollen doch selbst unbedingt fort von hier. Das braucht uns kein toter Freund zu sagen. Was tun wir denn die ganze Zeit? Wir bauen uns ein Boot für die Flucht. Wir können nur
vom Sonnenaufgang bis zum Untergang arbeiten, und das tun wir schon. Ich weiß nicht, wie wir mehr schaffen sollten.« Sie beendeten das Gespräch, weil die Arbeit drängte. Sie war sogar ein Segen für die beiden Schiffbrüchigen, denn sie ließ keine unnützen Gedanken und Sorgen aufkommen. Als das Innere der »Odysseus« fertig ausgehöhlt war, feierten sie ein Freudenfest und leisteten sich eine ganze Kokosnuß für jeden. Normalerweise teilten sie sich eine Nuß. Der schwierigere Teil der Arbeit lag noch vor ihnen. Sie mußten dem Boot die schnittige äußere Form geben, auch mußten beide Außenwände vollkommen symmetrisch sein. Gelang ihnen das nicht, so würde sich die »Odysseus« schlecht steuern lassen. »Glaubst du wirklich, Florian, daß unser Boot seetüchtig ist?« seufzte Corinna einmal. »Wenn ich das nicht glaubte, würde ich diese Arbeit gar nicht erst angefangen haben«, knurrte Florian. »Am besten wäre natürlich, wenn wir einen Katamaran bauen könnten. Die sinken nicht so leicht.« Corinna wußte, was er meinte. Ein Katamaran hat zwei Bootskörper, die miteinander verbunden sind. Er kentert darum nicht so schnell. Aber solch ein Boot konnten sie nicht bauen. Wie sollten sie hier auf der Insel einen zweiten Baum finden, der groß genug für ein Boot war? Auch hätte ein Katamaran die doppelte Bauzeit erfordert, und dafür reichten weder ihre Kraft noch ihre Geduld. Sie sprach nicht mehr von den Gefahren, die ihnen auf hoher See begegnen könnten, aber ihr Herz war voller Angst. Auch Florian wurde von Tag zu Tag schweigsamer. Hatte er die gleichen Bedenken wie die Freundin? Fürchtete er sich davor, auch Corinna mit in den Tod zu nehmen, wenn er die Seereise mit dem primitiven Boot wagte?
In der Nacht erschien ihm Heiner Koch, der ihm dringend riet, die Insel bald zu verlassen. »Auf dieser Insel hat noch kein Schiffbrüchiger länger als ein halbes Jahr überlebt. Euer Tod ist schon geplant. Macht euch rasch auf den Weg, solange ihr noch Zeit habt, und berichtet allen, die es hören wollen, daß es hier im Pazifik eine Todesinsel gibt.« »Kannst du mir denn wenigstens sagen, in welche Richtung wir fahren sollen?« fragte Florian den Freund. Aber Heiner Koch war verstummt. Nur ein Säuseln in der Luft verriet, daß er dagewesen war. »Was ist los mit dir?« murmelte Corinna im Halbschlaf. »Mir war doch so, als hörte ich dich sprechen?« »Du mußt dich geirrt haben«, antwortete Florian. »Vielleicht habe ich auch im Traum geredet.« »Wovon hast du denn geträumt?« »Ich kann mich nicht erinnern. Es war ein einziges Durcheinander. Aber es handelte von unserer bevorstehenden Seefahrt. Ich wußte nicht, in welche Richtung wir reisen sollten.« »Egal wohin. Nur fort von dieser Insel mit ihrer Todesquelle«, sagte Corinna. »Irgendwo werden wir vielleicht auf Land stoßen oder doch wenigstens eine Schiffahrtsroute kreuzen.«
*
Sie wußten schon lange nicht mehr, wie viele Tage sie auf der Insel verbracht hatten. Das einzige, was zählte, war das Boot und die Fortschritte, die sie bei seinem Bau gemacht hatten.
»Als Robinson als Schiffbrüchiger auf einer Insel gelandet war, hat er sich eine Art Kalender angefertigt. Jedenfalls wußte er, wie viele Tage er dort verbracht hatte«, sagte Florian einmal. »Soll das ein Vorwurf sein?« entgegnete Corinna spitz. »Warum hast du nicht selbst daran gedacht? Mir ist es egal. Jeder Tag ist so wie der vorherige und genauso, wie der kommende: Die gleiche Sonne, das gleiche Wetter und dieselbe mühselige Arbeit.« »Vielleicht sollten wir wenigstens die Tage zählen, die wir demnächst auf See verbringen. An jedem Tag, wenn die Sonne aufgeht, ritzen wir eine Kerbe in den Bootsrand ein.« Corinna lachte höhnisch. »Wir werden nicht viele Tage zu zählen haben«, sagte sie. »Irgendein Sturm wird das Boot kentern lassen, und die Haie werden uns verzehren. Hast du nicht eine Flasche, in der man eine Nachricht für unsere Familien hinterlassen könnte?« Aber Florian hatte keine solche Flasche; an Flaschenpost hatten sie bei ihrer Abreise nicht gedacht. Wie sollten sie auch! Der Pazifik war so gewaltig, daß eine solch primitiv übermittelte Botschaft kaum an ihr Ziel gelangen würde. »Ich sollte mich besser um das Funkgerät kümmern«, meinte er. »Damit haben wir die besseren Chancen, in der Welt gehört zu werden.« Aber trotz aller Schwierigkeiten und gegen ihre eigenen heimlichen Befürchtungen war es schließlich doch soweit. Das Boot war fertig geworden, sie konnten die Insel verlassen. Am letzten Tag fing Florian in der Lagune einen großen Fisch, der zu einem prächtigen Abschiedsessen wurde. An einem Holzspieß briet Corinna ihn im offenen Lagerfeuer. Ihre Stimmung hob sich wieder, nachdem sie wochenlang von Kokosnüssen und Bananen gelebt hatten. Auch die kleinen Reibereien und Streitigkeiten waren vorüber. Sie hatten jetzt
Hoffnung, sie sahen einen neuen Anfang vor sich. Auch die Frage, wo sie die Rettung suchen sollten, war entschieden worden. Sie wollten es dem Wind und den Meeresströmungen überlassen, wohin sie getrieben würden. Ihre Kräfte reichten sowieso nicht aus, sich gegen die Naturgewalten zu stemmen. Schon am Abend vor der Abreise hatten sie das Boot vollgepackt: Bananen und Kokosnüsse vor allem, dann Kompaß und Seekarte, warme Pullover für die Nächte auf See. Von den Rettungsbooten der Victory hatten sie die Außenbordmotore übernommen und die Segel, sowie zwei Paddel. Sehr wertvoll waren auch die Schwimmwesten, die die Freunde in den Gummibooten gelagert hatten. Sie konnten nicht alle mitnehmen, soviel Platz war in der Odysseus nicht. Florian entschied, daß jeder eine davon anlegen sollte und eine weitere als Reserve mitnahm. »Dann können wir überhaupt nicht ertrinken«, freute sich Corinna. »Es ist eine zusätzliche Sicherheit, mehr nicht«, dämpfte Florian ihren Optimismus. »Ich weiß nicht, ob die Westen unter der Tropenhitze gelitten haben, und ob sich die Haie von den Westen zurückhalten lassen. Schaden kann es nichts, wenn wir sie anlegen.« Am anderen Morgen wollten sie starten, aber da weigerte sich Corinna plötzlich, sich dem Boot anzuvertrauen. »Ich habe Angst«, klagte sie, als Florian sie zum Einsteigen drängte. »In diesem winzigen Boot sollen wir uns auf den Ozean wagen? Laß uns hierbleiben, Florian. Auf der Insel haben wir wenigstens festen Boden unter den Füßen. Wir könnten uns eine Hütte bauen.« »Und würden schließlich verdursten oder verhungern oder fielen den schrecklichen Mordplänen des Quellengeistes zum Opfer«, sagte Florian mit finsterem Gesicht. »Dann doch lieber im Meer kentern und versinken. Das ist ein schneller Tod.
Bisher hast du selbst immer gedrängt, daß wir die Insel verlassen.« »Ja, aber ich träumte diese Nacht einen schrecklichen Traum. Wir werden niemals wieder in die Heimat zurückkommen.« »Kümmere dich nicht um diese Träume. Du weißt doch, daß der Geist der Quelle uns vernichten will. Gerade weil er dir rät hierzubleiben, sollten wir schnell das Weite suchen!« Endlich fügte sich Corinna. Zitternd bestieg sie das schwankende Boot. Bedeutete die Odysseus ihre Rettung oder ihren Tod? Sie war aufgeregt, als sie den sicheren Grund verließ. Natürlich schied sie ohne Bedauern von dieser Insel, auf der sie soviel Schreckliches erlebt hatten. Aber was erwartete sie draußen auf dem Meer? Sie sprachen wenig. Alle Handgriffe waren ihnen vertraut, wenngleich sie niemals bisher solch ein primitives Boot benutzt hatten. Aber sie kannten das Meer, sie wußten, welche Gefahren es bot und wie man ihnen begegnen konnte. So lange sie noch in der Lagune waren, verlief die Fahrt reibungslos. Die Motore tuckerten einwandfrei und beförderten die »Odysseus« schnell zu der schmalen Durchfahrt zum offenen Ozean. Dort wurden sie sofort von einer heftigen Brise erfaßt, die das Boot fast kentern ließ. Hohe Wellen stürzten über den Bug der »Odysseus« und füllten das Innere mit Wasser. Corinna schöpfte es mit den Schalen einer Kokosnuß heraus, was ziemlich mühsam war, während Florian sich mit den Segeln und dem Steuern des Bootes beschäftigte. Plötzlich gerieten sie in eine günstige Strömung. Die harte Brandung legte sich, sie machten schnelle Fahrt. Schon war die Insel nur noch wie ein blauer Schatten zu erkennen, unendlich weit dehnte sich der Ozean vor ihnen. »Ich habe das Gefühl, daß der Geist der Quelle hier keine Macht mehr über uns hat«, sagte Corinna erleichtert. »Sein
Reich endet wohl am Korallenriff. Seit wir es hinter uns gelassen haben, geht alles irgendwie besser.« Es gelang ihr, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen, wobei Sonne und Wind beim Trocknen behilflich waren. Florian versuchte inzwischen, mit dem Funkgerät Notrufe in die Welt zu senden. Ob sie gehört wurden? Sie wußten es nicht, denn sie empfingen keine Antwort. Das mochte aber auch an ihrem Gerät liegen, so trösteten sie sich gegenseitig. In der Nacht durfte immer nur einer von ihnen schlafen, während der andere Wache hielt. Sie wechselten sich darum miteinander ab. Die Odysseus schaukelte sanft und friedlich wie eine Wiege und schläferte die beiden übermüdeten Schiffbrüchigen zusätzlich ein. Am anderen Morgen waren sie ausgeruht und erfrischt wie schon lange nicht mehr. Auch neue Hoffnung kam auf, obwohl es keinen eigentlichen Grund dafür gab. Noch immer blieb ihr Funkgerät stumm. Weit und breit war kein Land in Sicht, auch ließ sich kein Schiff mit dem Fernglas ausmachen. Im Grunde waren sie noch immer schutzlos einer feindlichen Umwelt ausgeliefert. Aber sie hatten abwechselnd ruhig und fest geschlafen, ihnen war die Flucht aus dem Atoll gelungen, der Mördergeist der Quelle hatte jetzt keine Macht mehr über sie. Das alles stimmte sie zuversichtlich. Florian schnitzte sogar eine Kerbe in den Bootsrand. Das bedeutete, daß sie schon einen Tag und eine Nacht auf dem Pazifik unterwegs waren. Die Nacht war kühl gewesen, aber der zweite Tag wurde heiß. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die »Odysseus« hernieder, sie verursachte Kopfschmerzen und Schwindel, zumal sie sich kaum davor retten konnten. Dazu kam der quälende Durst, denn die kostbaren Kokosnüsse waren streng eingeteilt. Sie durften nicht schon zu Beginn ihrer Reise verbraucht werden, nur, weil sie die Milch trinken wollten.
Sie begrüßten darum den Abend mit Erleichterung. Als die Sonne im Meer versank, brachte eine frische Brise endlich Abkühlung. Auch am nächsten Morgen schnitzte Florian eine Kerbe in das Boot. »Das ist unser Kalender, sozusagen unser Logbuch«, sagte er zu Corinna. Aber sie lächelte nicht einmal. Der Sinn für Scherze war ihr vergangen. Auch den dritten Tag vermerkte er auf die gleiche Weise. Doch dann ließ sein Eifer nach. Für wen tat er das eigentlich? Wem wollte er damit imponieren? Was konnte er damit beweisen? Wahrscheinlicher war es doch, daß sie niemals an ihr Ziel kommen würden. Also stellte er diese Buchführung schon am vierten Tage ihrer Flucht ein. Sie sprachen nicht mehr viel miteinander. Die anfängliche Hoffnung war längst erloschen. Dafür wurden sie von einer Apathie befallen, die sie vollends lähmte. Sie konnten keine Pläne mehr fassen. Alle Handgriffe, die nötig waren, wurden routinemäßig erledigt. Doch ihr Glaube an eine Rettung schwand immer mehr dahin. Manchmal dachten sie an ihren Aufenthalt auf der Insel. Dort hatten sie unermüdlich an diesem Boot gearbeitet. Sie verstanden sich selbst nicht mehr. Wieso hatten sie diese Anstrengungen auf sich genommen, die doch zu nichts führten? Wäre es nicht vernünftiger gewesen, den schnellen Tod an der Quelle zu suchen, als hier inmitten des Ozeans zu verdursten oder gar zu kentern? Wie lange sie schon so gefahren waren? Sie wußten es nicht. Sie konnten die Tage nicht mehr voneinander unterscheiden, so gleichförmig verliefen sie. Doch eines Morgens wurde Corinna lebendig. Ihr blasses Gesicht färbte sich rosig. Ihre Augen funkelten. »Schau doch, Florian! Dort ist ein Schiff!«
Sie deutete irgendwohin, wo sie am Horizont einen dunklen Punkt bemerkt hatte. Ungläubig drehte sich Florian um und konnte nichts entdecken. »Hast du schon Halluzinationen?« fragte er. »Nein, es ist wirklich ein Schiff. Es wird größer und größer. Wir müssen uns bemerkbar machen.« Jetzt endlich sah er es auch. Seine müden Lebensgeister belebten sich wieder. »Wirf den Motor an, Florian!« bettelte Corinna. »Du wolltest den letzten Rest Treibstoff schonen… für den Notfall. Jetzt ist Zeit dafür. Ich winke inzwischen mit dem Segel!« Größer und größer wurde das Schiff. Es näherte sich in schneller Fahrt, während die »Odysseus« gemächlich dahintuckerte. Ständig verkleinerte sich der Abstand zwischen beiden Fahrzeugen. Schon konnte man die hin- und herlaufenden Seemänner auf Deck des Schiffes erkenne, die ihnen mit Fahnen zuwinkten. »Man hat uns tatsächlich gesehen, Corinna. Wir sind gerettet!« rief Florian der Freundin zu. »Ich habe nicht mehr daran geglaubt!« schluchzte Corinna und weinte hemmungslos. Waren es Freudentränen? Tränen der Erleichterung? Oder entlud sich die starke Spannung der vergangenen Zeit in einem endlosen Tränenstrom? Sie kamen ihren Rettern immer näher und sahen, daß es sich um ein Frachtschiff handelte. Schon konnte man seinen Namen erkennen, es hieß »Liberty« und führte eine australische Flagge. Aber wichtiger war den beiden Schiffbrüchigen, daß man drüben alle Vorbereitungen zu ihrer Rettung traf. Schon wurden zwei Boote zu Wasser gelassen, vier Matrosen kletterten auf einer Strickleiter hinunter. Aufgeregt winkten Corinna und Florian ihnen zu. Schon konnte man die Gesichter der Retter erkennen.
Waren ihre Bewegungen zu heftig gewesen? Oder war ihre primitive »Odysseus« allmählich brüchig geworden? Jedenfalls brach das Boot auseinander und warf Corinna und Florian in die bewegte See. Corinna schrie laut auf und reckte dann hilfesuchend ihre Arme in die Höhe. Dann kämpften sie und Florian verzweifelt gegen die Wellen an. Die Rettung war so nah, so nah, und doch kamen sie weder der »Liberty« näher, noch den Rettungsbooten. Auch für die Bergungsmannschaft gestaltete sich die Rettung schwieriger, als sie anfänglich vermutet hatten. Hin und wieder tauchten die Köpfe der beiden Schiffbrüchigen aus dem Wasser heraus, so daß sie sofort darauf zusteuerten. Aber dann waren die beiden zwischen den Wellenbergen verschwunden oder von den Wogen in die liefe gedrückt worden, so daß sie für die Matrosen nicht mehr sichtbar waren. Als die beiden Ertrinkenden für lange Minuten untergetaucht waren, wollten sie sogar schon aufgeben. Kein Mensch konnte so lange ohne Atemluft überleben, so meinten sie. Immer wieder wurden sie von der Mannschaft ihres Schiffes durch Zurufe ermuntert weiterzumachen. Von oben hatte man mehr Übersicht. Hier und da wurde ein Kopf gesichtet oder eine Hand entdeckt, die aus dem Wasser ragte. Als niemand mehr Hoffnung hatte, geschah das Wunder: Eine Hand griff aus der Tiefe nach dem Ruder, mit dem einer der Matrosen das Rettungsboot bewegte. Vorsichtig faßten zwei Matrosen nach dieser Hand und zogen den leblosen Florian ins Boot. Sofort wurden Wiederbelebungsversuche unternommen. Als er für einen kurzen Augenblick aus der Ohnmacht erwachte, sagte er nur: »Corinna? Wo ist Corinna?« Ja, wo war Corinna? Auf dem Wasser konnte niemand sie entdecken. Doch oben lehnten mehrere Besatzungsmitglieder an der Reling, die das Meer mit ihren Ferngläsern absuchten.
Sie entdeckten ein paar Wrackteile der Odysseus, die schon weit abgetrieben waren. Und an eines dieser Teile klammerte sich eine Frau: Corinna. Alles Weitere ging schnell. Während das Boot mit dem ohnmächtigen Florian an Bord der »Liberty« gehievt wurde, holte das andere Boot Corinna aus dem Meer. »Wo ist Florian?« schluchzte sie. »Keine Sorge, ma’am«, sagte einer ihrer Retter. »Er ist schon auf der Liberty. Der Schiffssanitäter kümmert sich um ihn. Notfalls fordern wir per Funk einen Arzt oder einen Rettungshubschrauber an. Aber jetzt wollen wir Sie endlich in Sicherheit bringen. Sie brauchen ärztliche Hilfe.«
*
Als Corinna aus langer Ohnmacht erwachte, fand sie sich in einem kleinen Raum wieder, in dem drei weißgestrichene Metallbetten standen. Schränke für Medikamente und für Verbandsmaterial vervollständigte die spartanische Einrichtung. Sie befand sich wohl in der Krankenstube eines Schiffes, denn irgendwo draußen rauschte das Meer. Wie war sie hierhergekommen? Was tat sie hier? Schwäche überfiel sie wieder. Sie schloß die Augen und gab sich ganz dem Gefühl der Erschöpfung hin. Es tat so gut, dahinzudämmern und sich fallen zu lassen. Als sie wieder einmal erwachte, ließ sie ihren Blick herumwandern und sah, wer im Nebenbett schlummerte: Florian. Wie ein Blitz überfiel sie jetzt die Erinnerung: Die Wochen oder Monate, die sie auf der Insel verbracht hatten. Die Mörderquelle, die es dort gab und die alle ihre Freunde
umgebracht hatte. Nur Florian nicht… und sie selbst auch nicht. In diesen Augenblicken spürte sie, wie sehr sie ihn liebte. Er sah so bleich und hilfebedürftig aus, aber er lebte. Seine regelmäßigen Atemzüge verrieten es ja. Sie erlebte wieder die schrecklichen Stunden ihres zweiten Schiffsbruchs, als sie mit der »Odysseus« kenterten. Die Rettung war so nah gewesen und doch schien sie noch im letzten Augenblick zu scheitern. Und nun waren sie hier, Florian und sie. Wie man sie an Bord der Liberty gebracht hatte? Corinna wußte es nicht. Sie hatte Florian nicht mehr gesehen, seit die Wellen sie getrennt hatten. Aber jetzt waren sie in Sicherheit. Corinna fühlte sich so wohl, wie seit langem nicht mehr. Sie strich mit den Händen über die saubere Bettwäsche. Wie lange hatte sie kein sauber bezogenes Bett mehr erlebt? Sie verspürte sogar etwas Hunger und vor allem Durst. Als sich die Tür öffnete, lächelte sie den eintretenden Matrosen freundlich an. »Sie sind ja wach, Madam«, sagte er verwundert. Natürlich sprach er Englisch mit ihnen, das Corinna und Florian zum Glück verstanden. »Seien Sie bitte leise«, sagte sie und deutete auf Florian. »Er schläft noch.« »Ich sollte nach Ihnen sehen, Madam, und Sie nach Ihren Wünschen fragen.« »Ich habe Durst und Hunger, vor allem Durst.« Der Matrose verschwand und kehrte nach einiger Zeit zurück. Er brachte eine Kanne Tee und zwei Scheiben Toast mit Butter bestrichen. »Der Sanitäter hat mit der Neuseeländischen Küstenwache per Funk gesprochen. Der dortige Arzt rät zur Vorsicht. Wenn Sie vielleicht lange Zeit nicht richtig gegessen haben, müssen Sie leider erst einmal Diät halten. Aber wenn es Ihnen gutgeht,
können Sie schon morgen selbst zu den Mahlzeiten kommen, auch wenn Sie nicht alles essen dürfen. Tut mir leid, daß das Abendessen heute noch ein wenig kläglich ist.« »Unsinn, mir schmeckt es wunderbar!« sagte sie strahlend. »Ich habe sehr lange nur von Kokosnüssen und Bananen gelebt. Dies Abendessen hier ist für mich wirklich die reine Schlemmermahlzeit.« Sie trank in langen Zügen und spürte förmlich, wie begierig ihr ausgetrockneter Körper den Tee aufnahm. Das Brot bereitete ihr mehr Schwierigkeiten. Sie war normale Kost einfach nicht mehr gewohnt. Nach der Mahlzeit sank sie müde in ihre Kissen zurück und verfiel in einen unruhigen Halbschlaf. Sie wurde erst wach, als Florian sie ansprach. »Bist du’s wirklich, Corinna?« kam seine Stimme. »Ja!« gähnte sie. »Ich habe sogar schon etwas gegessen. Gibt es hier irgendwo eine Klingel? Sie sollen dir nämlich auch etwas bringen.« »Ich weiß nicht, wie es geschah. Auf einmal wärest du nicht mehr bei mir, Corinna. Ich sah dich nicht mehr und hörte dich nicht. Ich hatte furchtbare Angst um dich. Ich wollte nicht wach werden, weil ich mich vor der Wahrheit fürchtete. Aber nun bist du ja da. Du lebst, und alles ist gut. Mehr Wünsche habe ich nicht mehr.« Am anderen Morgen konnten Corinna und Florian schon mit dem Kapitän zusammen frühstücken. Man hatte ihnen Trainingsanzüge gegeben, weil ihre eigene Kleidung zum Teil zerrissen oder noch naß war. Das Frühstück war einfache Seemannskost, aber für die beiden Passagiere der Liberty war es der reine Luxus. Mit Vergnügen sah der Kapitän, wie es seinen Gästen schmeckte. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte mit Bedauern:
»Mein Dienst ruft. Ich muß den ersten Steuermann auf der Brücke ablösen. Ich erwarte Sie um 11 Uhr in meinem Büro. Es sind ja eine Menge Fragen zu klären, die mit Ihrem Schiffbruch und mit dem Schicksal ihrer Reisegenossen zusammenhängen.« Auch er sprach Englisch mit ihnen. Fragend schaute Corinna ihren Freund Florian an. »Was meinte er mit den Fragen, die er klären will?« fragte sie auf Deutsch, was das Mißtrauen des Kapitäns noch verstärkte. Nun, sie würden ihm in seiner Sprache Rede und Antwort stehen müssen… »Nun, er will wohl wissen, ob irgendein Verbrechen passiert ist«, erklärte Florian der Freundin. »Ein Kapitän hat auf seinem Schiff viele Vorrechte und Pflichten. Er ist hier Polizeichef und manchmal sogar Standesbeamter, er muß Geburten an Bord, Heiraten und auch Sterbefälle dokumentieren. Seine Reederei und die staatlichen Schiffahrtsbehörden fordern Rechenschaft von ihm über alle Vorfälle, die sich während seiner Seefahrt ereignet haben.« »Oje!« seufzte Corinna und verdrehte ihre Augen. »Er ist also ein wichtiger Mann. Ich merke es schon, die Zivilisation hat uns wieder…« »Dafür gibt es hier keine bösen Geister und keine mörderischen Quellen«, wandte Florian ein. »Auch ein richtiges Bett und ein gutes Frühstück sind nicht zu verachten.« In diesem Augenblick betrat der Kapitän den Raum. Er begrüßte seine Gäste und kam gleich zu Sache: »Geben Sie mir bitte einen genauen Bericht, wie es zu Ihrer Havarie kam!« wandte er sich an Florian. »Wir waren fünf befreundete Paare, die sich im Sommer zum Segeln trafen. Manchmal nahmen wir unsere eigenen Jollen, und manchmal charterten wir eine Dreimastbark, auf der wir
alle zusammen Platz hatten. Damit machten wir Hochseetouren, in der Nord- und Ostsee und im Mittelmeer.« »Sie WAREN fünf Paare, sagen Sie. Wo sind die anderen jetzt?« »Sie sind tot.« »Starben sie eines natürlichen Todes?« fragte der Kapitän Corinna, die bisher mit blassem Gesicht das Verhör verfolgt hatte. Sie zuckte die Achseln. »Wir hatten keinen Arzt bei uns, der uns das bestätigen konnte«, sagte sie. »Wir hatten in Sydney einen Dreimastsegler gechartert, der nach vier Tagen aus unbekannten Gründen versank. Mit Müh und Not erreichten wir ein Atoll, das unbewohnt war. Das Inselchen war unheimlich. Schon in den ersten Tagen starben die anderen vier Paare, sie hatten Wasser an einer verhexten Quelle holen wollen.« »Hmm«, sagte der Kapitän. »Das klingt alles reichlich abenteuerlich, finden Sie nicht selbst? Wo gibt es denn verhexte Quellen? Könnte es nicht sein, daß Sie beiden den Tod der anderen herbeigeführt haben, um größere Chancen zum Überleben zu haben?« »Das trauen Sie uns zu?« sagte Corinna entrüstet. »Ach, wissen Sie, ma’am, ich habe in meinem langen Seemannsleben schon so manches erlebt, was normalerweise gar nicht möglich ist, was aber doch passiert sein muß. Nun gut, wir werden eine Untersuchungskommission zu Ihrem Atoll schicken. Das wird die Leichen auf die Todesursache untersuchen…« »Das ist nicht möglich«, entfuhr es Florian. »Die Leichen sind verschwunden, sie sind nicht mehr da.« Mit strengem Blick musterte der Kapitän seine Besucher. Jede Freundlichkeit war aus seinen Mienen gewichen.
»Es gibt also acht Tote, aber keine Spur mehr von ihnen. Es gibt keine Menschen dort. Wer aber hat sie beseitigt? Haben Sie etwa wilde Tiere dort gesehen, Geier?« »Nein«, schluchzte Corinna. »Haben Sie die Toten beseitigt?« »Nein. Wir haben sie in eine flache Sandmulde gelegt und mit Laub zugedeckt. Als wir am anderen Morgen nach ihnen schauen wollten, fanden wir keine Spur mehr von ihnen. Das ist die Wahrheit«, antwortete Florian, dem es schwer fiel, sich zu beherrschen. »Und wie erklären Sie sich das?« fragte der Kapitän mit schneidender Stimme. Ratlos schauten Florian und Corinna einander an. Sie zuckten beide mit ihren Achseln. »Wir wissen es nicht«, sagte Florian mutlos. »Ähnliches wiederholte sich in den kommenden Tagen. Daraufhin beschlossen wir, meine Freundin und ich, niemals wieder die unheimliche Quelle aufzusuchen. Dort waren alle anderen gestorben, dort waren die Toten verschwunden. Wir wollten leben, verstehen Sie das nicht? Wir wollten weiterleben.« »Eine andere Frage: Wann sind Sie in Deutschland gestartet?« »Anfang Oktober. Wir sind mit einem Düsenjet von Frankfurt am Main bis Sydney geflogen.« »Das war vor vier Monaten. Was haben Sie in dieser Zeit getan?« »Wir haben versucht, zu überleben«, sagte Corinna schüchtern. »Wir haben uns ein Boot gebaut, einen Einbaum, wie ihn die Polynesier für ihre Seefahrten benutzten.« »Sie sagten, daß Sie aus der verdächtigen Quelle nicht getrunken haben. Wie konnten Sie eigentlich vier Monate ohne Trinkwasser überleben?«
»Wir haben Kokosnüsse gesammelt und haben die Kokosmilch getrunken«, berichtete Corinna. »Wir haben nur von Kokosnüssen und wilden Bananen gelebt.« »Haben Sie nicht per Funk Hilfe herbeigerufen?« »Ich bin kein Funker«, bekannte Florian. »So lange er noch lebte, hat unser Funker Signale ausgesendet, aber nie eine Antwort darauf bekommen. Vielleicht war unser Sender zu schwach, oder er war beim Untergang der Victory beschädigt worden.« »Oder Ihre Ortsangaben stimmten nicht«, meinte der Kapitän trocken. »Die Navigation ist in diesen Breiten nicht leicht für Laien. Es gibt nur das Meer und sonst nichts, an dem man sich orientieren könnte. Es gibt kaum einmal eine Insel und selten ein Schiff, mit dem ein Funkkontakt möglich wäre. Und wie haben Sie die Insel verlassen?« »Mit der Odysseus, so haben wir unseren Einbaum genannt«, sagte Corinna stolz. »Und hatten damit den zweiten Schiffbruch auf Ihrer Reise. Hat denn niemand Sie vor diesem Abenteuer gewarnt?« fragte der Kapitän kopfschüttelnd. »Doch!« sagte Florian. »Meine Freundin hatte Alpträume und Spukgesichter, die ihr von dieser Reise abrieten. Ich habe nicht auf sie gehört und hatte Gewissensbisse, weil ich sie in Gefahr gebracht habe. Aber jetzt sind wir wohl in Sicherheit.« »Auf meinem Schiff bestimmt«, lächelte der Kapitän. »Bis wir Neuseeland erreichen, wird sich herausstellen, welcher Staat für Sie zuständig ist. Dann werden Sie entweder ein neuseeländisches oder ein australisches Gefängnis kennenlernen.« »Ins Gefängnis?« sagte Corinna ganz entsetzt. »Wir haben doch gar nichts Böses getan. Man kann uns doch nicht einfach einsperren?«
»Doch, Madam, man kann. Jedenfalls so lange, bis sich Ihre Unschuld herausstellt. Seien Sie unbesorgt, Sie werden ein gerechtes Verfahren und ein angemessenes Urteil bekommen. Bis wir Land anlaufen, sind Sie natürlich meine Gäste. Selbstverständlich erwartet meine Reederei, daß Sie für die Unkosten aufkommen, die wir bei Ihrer Bergung und durch Ihren Aufenthalt an Bord hatten.« Sie waren entlassen. Weinend lehnte sich Corinna an den Freund. »So hatte ich mir meine Ferien wahrhaftig nicht vorgestellt«, klagte sie ihm. »Erst der Aufenthalt auf der mörderischen Insel, dann der Tod unserer Freunde, unsere Flucht auf der Odysseus, und dann die unerwartete Rettung mitten im Ozean. Wir hatten kaum Zeit, uns darüber zu freuen, da droht uns ein Prozeß wegen Mordes an unseren acht Freunden. Florian, ist es zu fassen? Wir sollen sie alle ermordet haben!« »Laß dich nicht einschüchtern, Liebling«, sagte er sanft. »Hier wie überall in der zivilisierten Welt gilt der Grundsatz: ›Im Zweifelsfalle für den Angeklagten‹. Man kann uns eine Schuld nicht nachweisen, also muß man uns freisprechen. Auch wenn man uns in verschiedene Gefängnisse sperrt: Wir werden uns in Deutschland wiedersehen, ganz bestimmt.« »Dort hat man inzwischen unsere Arbeitsplätze neu besetzt.« »Oder auch nicht. Im Moment haben wir andere Sorgen. Bisher ging es für uns ums Überleben. Jetzt geht es um unsere Freiheit. Aber da wir ein gutes Gewissen haben, werden wir auch das schaffen.« »Bist du da so sicher, Florian?« zweifelte Corinna. »Hast du noch nie etwas von Justizirrtümern gehört?« »Wir sollten unseren Aufenthalt auf der Liberty genießen, Corinna«, schlug Florian vor. »Wir haben eine passable Unterkunft, wir werden gut verpflegt. Wir können ausschlafen
und uns von allen Strapazen erholen. Diese angenehmen Tage sollten wir uns nicht mit Zukunftssorgen verderben.« Corinna legte ihren Kopf an Florians Brust. Sie schloß ihre Augen und gab sich ganz dem Gefühl von Geborgenheit hin, das sie in seiner Nähe empfand. Aber sie teilte seine Zuversicht nicht. Immer wieder stieg diese quälende Angst in ihr auf. Sollte sie ein Leben lang hinter Kerkermauern büßen für etwas, das sie nicht getan hatte?
*
Eines Tages teilte ihnen der Kapitän mit, daß offenbar die neuseeländische Justiz für ihren Fall zuständig sei. In etwa 18 Stunden würde die Liberty die Cook-Straße erreichen und ein paar Stunden später dann Wellington. Dort würde die Polizei Florian und Corinna in Empfang nehmen und dem Untersuchungsrichter vorführen. Mit unbewegten Mienen nahmen sie die Botschaft entgegen. Erst als sie allein waren, brach Corinna in Tränen aus. Sie klammerte sich an Florian und flehte ihn an, mit ihr gemeinsam zu fliehen. »Wie stellst du dir das vor?« fragte er sie. »Wir fahren nachts durch die Cook-Straße«, sagte sie. »Wir könnten einfach über Bord springen und an Land schwimmen.« Florian schüttelte seinen Kopf. »Die Cook-Straße ist ungefähr 35 km breit. Wenn unsere ›Liberty‹ in der Mitte fährt, hätten wir gut 17 km zu schwimmen. Selbst wenn wir das schaffen, dann wären wir ohne Papiere und ohne Geld in einem fremden Land, in dem
wir keinen Menschen kennen. Nein, Corinna, wir müssen das durchstehen.« Die Polizei verhielt sich höflich, aber bestimmt. Auf Wunsch erlaubte man den beiden, sich mit dem Deutschen Konsulat in Verbindung zu setzen. Dort würde man ihnen einen Rechtsbeistand benennen, der sie vor Gericht unterstützen könnte. Sie wurden in getrennten Zellen untergebracht und auch einzeln vernommen. Der Anwalt unterhielt sich besonders intensiv mit Corinna. Als er ihren Bericht von dem Geisteratoll und der Mörderquelle gehört hatte, schüttelte er nachdenklich seinen Kopf. »Noch vor ein paar Tagen hätte ich das alles als Hirngespinst abgetan. Aber inzwischen bin ich mir nicht so sicher. Ich habe den Bericht vom Kapitän der ›Liberty‹ gelesen. Er hat mit dem Bootsverleiher in Sydney telegrafiert, der ihre Angaben bestätigte. Dieser ist sehr in Sorge um sein Schiff, denn man hat Wrackteile im Meer gefunden. Er sucht nun dringend nach Zeugen für den Schiffbruch, weil er den Nachweis für seine Versicherung braucht.« »Aber das beweist doch unsere Unschuld nicht«, sagte Corinna unglücklich. »Das nicht, aber es beweist immerhin Ihre Glaubwürdigkeit. Diese Einzelheiten können Sie ja nicht erfunden haben. Auch vom Flughafen in Frankfurt wurde bescheinigt, daß Sie und neun weitere Personen am fraglichen Tag von Frankfurt nach Sydney gestartet seien. Können Sie mir die Namen dieser Personen nennen und möglichst auch noch weitere Angaben machen?« »Wenn es weiter nichts ist!« lachte Corinna und zählte alle Freunde mit Vor- und Nachnamen, mit ihren Geburtstagen und ihrem Wohnort auf. »Möchten Sie auch noch meinen Arbeitsplatz wissen?«
»Ja, bitte. Und dann erzählen Sie mir doch auch noch von den Vorfällen auf dem Atoll. Niemand kennt diese Insel, und keine Seekarte verzeichnet sie.« Gehorsam berichtete Corinna von den schrecklichsten Monaten ihres Lebens. Sie ließ nichts aus, sie sprach auch von ihren Ängsten und Träumen. Besonders ausgiebig sprach sie über die Umstände, die zum Tod der Freunde geführt hatten. »Am Ende konnten wir das alles nicht mehr ertragen«, schloß sie. »Wir fürchteten ein ähnliches Schicksal wie unsere Kameraden. Wir bauten uns ein primitives Boot, einen Einbaum und wagten damit die Flucht. Wir erlitten Schiffbruch und wurden von der ›Liberty‹ gerettet. Aber Sie werden mir das Ganze ja doch nicht glauben.« »Doch!« sagte der Anwalt. »Ich glaube Ihnen. Gerade gestern las ich in einer alten Chronik von Geisterinseln, die hin und wieder im Meer verschwinden und dann wieder auftauchen. Auch von mysteriösen Todesfällen wurde berichtet. Ihre Flucht hat sie vor einem solchen Schicksal bewahrt. Niemand kann Ihnen einen Vorwurf daraus machen, daß Sie den Tod der anderen nicht verhindern konnten und daß Sie sich anschließend retten wollten.« Nach diesem Gespräch suchte der Anwalt Florian auf. Er stellte ihm dieselben Fragen und forderte auch ihn zu einem zusammenhängenden Bericht auf. »Hat niemand Sie vor diesem Segeltörn gewarnt?« fragte er Florian. »Doch. Schon in Deutschland riet man uns davon ab. Aber wir waren alle ganz versessen auf dieses Abenteuer. Nur eine nicht: Corinna. Sie hatte schwere Angstzustände und Alpträume, aber dann kam sie doch mit. Das setzte sich auf der Insel fort. Sie träumte sehr lebhaft und fürchtete sich vor vielen Dingen. Aber auch der Schiffseigner in Sydney hat uns vor unseren Kurs gewarnt. Es gäbe dort keine Inseln und es wären
auch kaum Schiffe zu erwarten, die in diesen Gewässern kreuzten. Seiner Meinung nach sei es nicht geheuer in diesem Winkel der Erde.« »Und Sie selbst? Waren Sie frei von jeder Furcht?« fragte der Anwalt weiter. »Ich glaube, Corinna hat mich angesteckt. Je länger wir auf der Insel waren, umso größer wurde meine eigene Angst.« »Danke, das genügt mir vorerst.« Mit diesen Worten verabschiedete sich der Jurist von Florian, der in seine Zelle zurückgeführt wurde.
*
Nach einigen Tagen wurden Corinna und Florian aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Anklage auf Mord sei nicht zu beweisen, hieß es in der Begründung des Gerichtes, so daß kein Verfahren eröffnet werden konnte. Auch hätte sich die Glaubwürdigkeit der Angeklagten in allen Punkten gezeigt, so daß man ihren Unschuldsbeteuerungen in der Mordsache Glauben schenken wolle, zumal weder die Insel, noch die Ermordeten gefunden worden seien. Corinna und Florian wurde die Auflage erteilt, das Land zu verlassen und die erste mögliche Maschine für den Rückflug zu benutzen. Gleichzeitig erhielten sie vom Konsulat die Flugtickets nach Deutschland und einen Ersatzpaß. Daneben wurde ihnen ein kleiner Geldbetrag geliehen, mit dem sie die notwendigsten Kleidungsstücke kaufen konnten. Corinna atmete wie befreit auf, als die Maschine in Wellington startete. Bis zuletzt hatte sie noch Schwierigkeiten befürchtet.
»Endlich!« seufzte sie. »Wie sehr habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt. Weißt du noch, wie fröhlich wir alle beim Hinflug waren?« »Wie könnte ich das vergessen! Ich gäbe viel darum, wenn unsere Freunde jetzt mit uns zurückflögen«, sagte Florian und legte seinen Arm um Corinnas Schulter. Unendlich dehnte sich der Pazifik unter ihnen. Aus der Höhe wirkte er wie ein spiegelglatter, blauer See. Der Flugkapitän machte die Fluggäste auf eine Gruppe kleiner Inseln aufmerksam, die sie gleich überfliegen würden. »Es sind sogenannte Atolle, die von ringförmigen Korallenriffen umgeben sind«, erklärte er. »Viele von ihnen sind unbewohnt, auch Tiere sind dort selten.« Corinna zitterte bei ihrem Anblick, obwohl ihre Insel, die sogenannte Geisterinsel, nicht zu entdecken war. »Ich werde nie wieder hierherkommen«, sagte sie leise. »Und ich werde auch nie wieder segeln.« »Mir geht es ähnlich«, antwortete Florian. »Aber man soll nie nie sagen. Vielleicht kreuzen wir mal wieder auf dem Bodensee.« »Ich weiß überhaupt nicht, wie unsere Zukunft aussehen wird«, klagte Corinna. »Ist unser Job überhaupt noch frei? Wie sieht unsere Freizeit aus, so ganz ohne unsere Freunde? Wie verkraften wir die schlimmen Erlebnisse, den Kampf ums Überleben, den Schiffbruch und die Mordvorwürfe?« »Wir schaffen das nur gemeinsam, Corinna. Laß uns heiraten, bitte, laß uns bald heiraten.« »Wir haben oft davon gesprochen«, antwortete sie. »Aber wir waren uns doch einig, noch zu warten.« »Das war in unserem früheren Leben, das hat keine Gültigkeit mehr für unser zweites Dasein. Wir haben erfahren, daß wir uns brauchen, daß wir uns immer nah sein müssen.
Erlebnisse, wie wir sie hatten, binden zwei Menschen für immer. Sag, Corinna, willst du mich heiraten?« »Ja«, sagte sie und weinte ein paar Tränen der Rührung. Ohne sich um die anderen Fluggäste zu kümmern, zog Florian seine Corinna an sich und küßte sie heiß und innig. »Wir haben gemeinsam um unser Leben gekämpft«, sagte Florian, »jetzt wollen wir um unser Glück kämpfen. Ich werde in Gefahren immer an deiner Seite sein, und ich will dir glauben, wenn dich Träume ängstigen.« »Danke, Florian! Aber du hast mir eines noch nicht gesagt…« »Und was?« fragte er verständnislos. »Warum willst du mich eigentlich heiraten?« »Das ist doch keine Frage. Weil ich dich liebe und weil ich mir keine andere Frau an meiner Seite vorstellen kann als dich.« »Siehst du, das wollte ich hören. Ich liebe dich auch, Florian. Ich habe dich immer geliebt. Wann soll die Hochzeit sein?« »Sobald das Standesamt einen freien Termin hat«, lachte er. »In unserem früheren Leben hatte ich schon einmal angefragt. Aber da hatten sie Wartezeiten von drei Monaten.« In der Ferne tauchte der australische Kontinent auf. Die Südsee war überwunden und mit ihr alle Schrecken. Sie hielten sich an den Händen und waren froh über das glückliche Ende ihrer Reise. Nur noch Stunden, dann würden sie endlich wieder daheim sein. Die Heimat hatte einige Überraschungen für sie. Auf dem Rhein-Main-Flughafen wurden sie von einer Gruppe von Arbeitskollegen empfangen, die sie mit einer Musikkapelle und vielen Blumen begrüßten. Sie hatten vom Konsulat in Wellington erfahren, mit welchem Flugzeug die beiden Weltreisenden zurückkämen.
Natürlich würden sie ihren Job behalten, erklärten die Kollegen. Sie hätten sich alle dagegen gewehrt, als die Behördenleitung die beiden Vermißten einfach aus den Gehaltslisten streichen wollte. In vielen Überstunden hätten sie reihum die Arbeit der beiden Fehlenden miterledigt. Die beiden Heimgekehrten waren überwältigt. »Wie können wir das nur wiedergutmachen?« fragten sie. »Indem ihr keine Abenteuerreisen mehr macht!« sagte eine Kollegin. »Die Sorge um euer Wohlergehen war schlimmer als alle Überstunden.« »Keine Angst!« sagte Corinna. »Das ist vorbei. Wir segeln nicht mehr in der Südsee. Ja, und da ist noch etwas. Wir laden euch alle zu unserer Hochzeit ein.« Ein gewaltiger Tusch übertönte alle Glückwünsche. Später mußten sie erzählen, immer wieder wurden sie dazu aufgefordert. Doch sie stießen mehr und mehr auf Unverständnis, ja, auf Unglauben, je länger die Reise zurücklag. Sie hatten ja keine Beweise, keine Fotos, keine Erinnerungsstücke. So schwiegen sie bald, wenn sie nach ihrer Mörderinsel gefragt wurden. Aber auch sie selbst gewannen mit der Zeit immer mehr Abstand zu den Ereignissen ihrer Südsee-Reise. Sie vergaßen die Einzelheiten. Oder wollten sie sie vergessen? Der Alltag mit seinen Anforderungen ließ die Erinnerungen verblassen. Auch hatten sie geheiratet, ein glücklicher Umstand bescherte ihnen einen freien Termin beim Standesamt. Die Ehe brachte neue Aufgaben. Eine Wohnung mußte gefunden und eingerichtet werden, das Leben neu organisiert werden. Sie waren glücklich miteinander, ihre Beziehung hatte sich ja bereits in Schwierigkeiten bewährt. Aber es schien, als seien auch in ihren Köpfen und Herzen alle Erinnerungen daran ausgelöscht. Es war, als hätte es sie nie gegeben.