Gruselspannung pur!
Inferno über Weimar
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann In der Stadt liefen die Vorbereitun...
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Gruselspannung pur!
Inferno über Weimar
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann In der Stadt liefen die Vorbereitungen für die wichtigste Geburtstagsfeier des Jahres auf Hochtouren - Goethe wurde 250! Bis es soweit war, würden noch einige Monate vergehen. Die Stadt fieberte dem für sie wichtigsten Tag des Jahres entgegen. Man war bemüht, die letzten großen Baustellen aufzulösen. Überall wurde mit Feuereifer gearbeitet, um Weimars Stadtbild für den großen Tag auf Hochglanz zu polieren. Doch die Hölle hatte andere Pläne. Die Mächte der Finsternis arbeiteten ebenfalls fieberhaft - um Weimar in einem Alptraum aus Angst und Schrecken ersticken zu lassen… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Das Grauen war da. Plötzlich. Und ohne Vorankündigung. Doch noch ahnte niemand etwas davon. Weimar am Montagmorgen. Menschen waren unterwegs zur Arbeit an diesem scheinbar ganz normalen Tag. Hilmar Goldgräber, der Mittvierziger, arbeitete beim Tiefbauamt der Kreisstadt Apolda, nur wenige Kilometer von Weimar entfernt. Wie jeden Morgen trat er um halb acht seinen Dienst an. »Liegt was an?« fragte er seinen Kollegen Willi Sachs, der gerade die Zimmerpflanzen in dem Büro goß. »Außer den Ohren nichts«, brummte Sachs. Goldgräber verzog das Gesicht. Er war ein Morgenmuffel und konnte so früh noch nicht, lachen. »Na, hast du dich am Wochenende wieder ausgetobt?« Sachs grinste geschmeichelt. »Ich schweige und genieße.« Goldgräber zuckte die Achseln und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Das Telefon schrillte. Willi Sachs hob ab, lauschte und brummte hin und wieder. »Und wann brauchen Sie den Bericht?« Aus dem Telefon hörte Hilmar Goldgräber eine quakende Stimme. Der Teilnehmer sprach ziemlich laut. Willi Sachs verzog das Gesicht und hielt den Hörer von seinem Ohr weg. »Alles klar«, sagte er dann. »Normalerweise ist das Sache der Weimarer Kollegen, aber wir sind ja nicht so.« »Was gibt's?« fragte Goldgräber, ohne sich umzudrehen. »Haben uns gerade einen Spaziergang eingehandelt. Drüben in Weimar.« »Klar. Warum auch nicht? Ist genau das Richtige für einen Montag. Andere sitzen im warmen Büro, und wir frieren uns dort draußen den Arsch ab.« Als die beiden Männer den Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen hatten, schritten sie über den Hof zu den Dienstfahrzeugen des Baudezernats. Ein dunkelhäutiger Mann kam ihnen entgegen, dessen Alter nur schwer zu schätzen war. Goldgräber blieb stehen. »He, Rhawad, willst du uns auf einem kleinen Ausflug begleiten?« fragte er. Der Dunkelhäutige schaute Goldgräber erstaunt an. »Ein Ausflug?« fragte er mit starkem Akzent. »Ja, nach Weimar. Tief unten, in der Kanalisation. Ist wie ein Irrgarten, aber mächtig interessant.« Rhawad Kashuge grinste. »Ich gehen gerne mit, Kollega. 3
Vielleicht ich kann helfen…« Goldgräber nickte, winkte dem Pakistani und führte seine beiden Begleiter zu einem VW-Bus. Eine knappe halbe Stunde später parkte Goldgräber den Bus am Frölich-Platz in Weimar. Er stieg aus, verteilte Schutzkleidung und -helme, an denen Lampen angebracht waren. Willi Sachs hatte als erster die Schutzkleidung angelegt und die hohen Gummistiefel angezogen. Er klemmte den in durchsichtige Folie eingeschweißten Plan der Kanalisation auf ein Brett und steckte einen Markierungsstift ein. »Wir können«, gab er kurz bekannt. »Wir wissen, daß du immer kannst«, erwiderte Hilmar. »Hoffentlich kriegst du den Gestank hinterher wieder ab, sonst läßt dich deine Holde die nächsten Tage nicht ran.« Goldgräber verdrehte die Augen und schritt zu einem Kanaldeckel. Zusammen mit dem Pakistani hob er den Deckel auf, schob ihn zur Seite und sicherte erst mal die Schachtöffnung. Dann knipste er die Helmlampe an und stieg als erster in die Tiefe. Rhawad Kashuge und Willi Sachs folgten. »Was sollen wir eigentlich hier unten?« fragte Goldgräber mürrisch, als die drei Männer den Boden erreicht hatten. »Beschwerde von der Musikhochschule wegen sonderbarer Geräusche und Schwefelgestank. Die hiesigen Kollegen haben nichts gefunden. Jetzt liegt es an uns.« Goldgräber rümpfte die Nase. »Weil es den Studenten stinkt, kriechen wir hier unten in der Scheiße rum. Die sollten mal fragen, wie es mir stinkt!« Dumpf hallten die Schritte der drei Männer auf dem Boden. Die Lichtstrahlen der Helmlampen glitten über nackte Betonwände. Vereinzelt sah man feuchte Rinnsale an den Wänden. Leitungen und Rohre liefen unter der Decke entlang. Die Männer erreichten die erste Abzweigung und wandten sich nach rechts. »Steubenstraße«, sagte Willi Sachs. Hier trafen die Männer auf die ersten unangenehmen Anzeichen der Kanalisation. Ihre Stiefel platschten durch eine stinkende Brühe. »Hier mußt du aufpassen, Rhawad«, sagte Goldgräber. »Man verirrt sich schneller, als man glaubt. Und man weiß nie, was einen in der Kanalisation erwartet. Die Leute werfen allerlei Mist ins Klo!« »Ich weiß«, erwiderte der Pakistani. 4
»Ach, die ersten Ratten«, brummte Goldgräber. »Vielleicht finden wir auch irgendeinen armen Teufel, der nicht mehr rausgefunden hat. Oder ein Ungeheuer?« »Glaub ihm kein Wort, Rhawad. Hilmar macht nur Spaß. Er erzählt den Kollegen, die noch nie hier unten waren, immer solche Ammenmärchen.« Sachs schüttelte den Kopf. »Sein keine Märchen von Kindermädchen. Du kennen die Geschichte von großes Krokodil in Kanal? War erst ganz klein Krokodil. Hat gefressen Ratten und Katzen und Hund. Und auf einmal war Krokodil groß wie Haus und hat gefressen Menschen.« Sachs blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ja, den Film hab ich auch gesehen. Lief vor zwei Wochen im Fernsehen.« Goldgräber lachte. »Der viele Reis, den der in sich reinstopft, beflügelt wohl die Phantasie.« Goldgräber kicherte. »Frag ihn mal, ob Reis auch gut für die Potenz ist.« »Schwätzer.« »Ist kein Film«, kam der Pakistani auf das Thema zurück. »Krokodil ist echt. In meiner Heimatstadt Rawalpindi. Hat gefressen fünf Männer!« Rhawad spreizte die Finger seiner rechten Hand. »Guten Appetit!« meldete sich Goldgräber. »Die Echse wird wohl inzwischen dick und fett geworden sein und in der Kanalisation feststecken. Deswegen gibt es bei euch so viele Überschwemmungen.« »Krokodil nicht feststecken«, widersprach Rhawad Kashuge. »Krokodil tot.« »Wie habt ihr das Vieh erledigt? Salz auf den Schwanz gestreut?« »Mit große Knall. Bumm!« »Und aus den Fetzen habt ihr dann Handtaschen gemacht und noch mal kräftig abgesahnt.« Goldgräber drehte sich zu Sachs um. »Siehste, Willi, die wissen, wie man zu Geld kommt.« Dumpfes Grollen ertönte. »Was war denn das?« fragte Sachs. »Wird ein Laster gewesen sein. Geh endlich weiter.« *
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Die drei Männer kamen an schmalen Seitenkanälen vorüber und leuchteten hinein. Nichts Ungewöhnliches war zu erkennen. Je weiter sie der Steubenstraße folgten, desto tiefer wurde das Abwasser. Vereinzelte Brocken von Unrat schwammen in der dunklen Brühe. Das Wasser reichte den Männern nun bis über die Knöchel. Ein Glucksen und Schmatzen sowie das Fiepen der Ratten begleitete sie. An der Abzweigung zur Schützenstraße waren die Berge von Unrat und der Gestank besonders groß. »Riecht wirklich nach Schwefel«, meinte Hilmar. »Ja, kommt aus dem Seitenkanal hier«, gab Willi Sachs seinen Kommentar ab. »Sehen wir mal nach.« Die drei Männer schlurften durch den Seitenkanal, von dem wiederum kleinere Kanäle abzweigten. »Hier unten haben angeblich die Nazis ihre Schätze verborgen«, meinte Sachs. »Wer's glaubt…« zweifelte Goldgräber. »Kannst ja mal deinem Namen Ehre machen«, schlug Sachs vor. »Vielleicht stößt du auf Gold.« »Eher auf einen riesigen Haufen Scheiße, so, wie das hier stinkt.« Sie erreichten eine Kreuzweg mit einer rechteckigen Aussparung, in der fünf Männer bequem Platz hatten. Goldgräber stieg auf einen Sims, um endlich aus der stinkenden Brühe herauszukommen. Ein unheimliches Grollen erfüllte wieder die Kanalisation. »Was, zum Teufel, ist hier los?« fragte Goldgräber und ahnte nicht, wie nahe er mit seinen Worten der Wahrheit kam. Goldgräber platschte ins stinkende Wasser zurück und schaute in den dunklen Seitenstollen. »Willi!« brüllte er. »Komm endlich zurück! Hörst du mich, Willi?« Wieder hörte er nur das ohrenbetäubende Grollen. Ein gewaltiger Donnerschlag ließ den Stollen erbeben. Ein zweiter Schlag folgte. »Hat Willi irgendwas von Bohrungen gesagt, die hier stattfinden?« fragte Goldgräber, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ich nicht wissen«, erwiderte Rhawad. »Kollega mir nichts sagen.« Vorsichtig tastete sich Goldgräber in den dunklen Kanal. Sein Lampenstrahl riß feuchte Steinwände aus der Dunkelheit. Grünlich schimmernde Ablagerungen waren an den Wänden zu 6
erkennen. Goldgräber platschte weiter in dem Stollen entlang. Hinter sich hörte er die Schritte des Pakistani. Goldgräber drehte sich um. »Du bleibst hinten, Rhawad! Warte auf mich. Ich komme zurück. Rühr dich nicht vom Fleck, kapiert?« Der Pakistani nickte und begab sich in den Vorraum. Das Grollen und Stampfen wurde immer lauter, je weiter sich Goldgräber in dem dunklen Stollen vorschob. Es schien hm sogar zu antworten, wenn er seinen Kollegen rief. Goldgräber glitt an einem Seitenstollen vorbei und schaute nur kurz in die pechschwarze Öffnung. Er hatte bereits drei, vier weitere Schritte gemacht, als er stutzte. Nun zog er den Schutzhelm tiefer in die Stirn und drehte sich um. Langsam näherte er sich wieder der dunklen Öffnung des Seitenkanals. Und er sah die beiden glühend roten Lichtpunkte. Wie unheimliche Augen starrten sie hm aus der Dunkelheit entgegen. »Was, zum Donnerwetter, geht hier eigentlich ab?« raunte Goldgräber und nachte einen Schritt in den Seitenkanal. Die beiden Lichtpunkte verharrten auf er Stelle. Zaghaft setzte Hilmar weitere Schritte, näherte sich den Lichtpunkten. »Willi? Bist du hier drin?« rief er. Seine Stimme war heiser. Das Grollen ertönte direkt vor ihm. Gleichzeitig ließ ein gewaltiges Stampfen den Boden erzittern. Hilmar Goldgräber verlor das Gleichgewicht und prallte gegen die Stollenwand, wo er sich schwer atmend abstützte. »Verdammt! So was mußte ja passieren! Man sollte montags zuhause bleiben können!« Der Beamte stieß sich von der Wand ab und richtete sich mühsam auf. Vergeblich bemühte er sich, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Willi! Melde dich!« versuchte er noch mal sein Glück. Und Willi Sachs meldete sich. Aber anders, als Hilmar Goldgräber es sich gewünscht hätte. Aus der Dunkelheit raste ein undeutliches Gebilde auf Goldgräber zu. Der Beamte zuckte zurück und schrie unwillkürlich auf, als er die groben Umrisse einer Gestalt erkannte. Reflexartig duckte er sich. Und doch erwischte ihn der schwere Körper. Goldgräber wurde herumgerissen und von den Beinen gefegt. 7
Mit einem lauten Platschen landete er in der stinkenden Brühe, die kniehoch den Boden bedeckte. Der Körper rollte über ihn hinweg und klatschte hinter ihm ins Wasser. Die Kloake übergoß Goldgräber komplett. Spuckend und prustend kam er wieder hoch. Ihm war speiübel. Goldgräber kauerte gerade auf allen vieren im Abwasser, als er im Schein seiner Helmlampe eine grauenvolle Entdeckung machte. Er starrte direkt in die weit aufgerissenen, leblosen Augen von Willi Sachs! Goldgräber prallte zurück. Er sah die Blutspritzer, die das Gesicht bedeckten. Den weit geöffneten Mund, über dessen Lippen Blut sprudelte. Sein Blick glitt über die Brust des Kollegen, hinab zum Gürtel und… Und wohin? Da war nichts mehr, was das Auge hätte erfassen können! Goldgräber hatte eine Leiche ohne Unterleib vor sich. Er starrte auf die schreckliche Wunde. Der Beamte fühlte die aufsteigende Übelkeit und konnte sie nicht mehr im Zaum halten. Er erbrach sich unter heftigen Krämpfen in die stinkenden Fluten. Das Stampfen hinter ihm riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Goldgräber wandte sich um und bemerkte, daß die rotglühenden Lichtpunkte näher gekommen waren. Panische Angst erfüllte ihn. Was immer es war, das Willi Sachs auf dem Gewissen hatte, er war direkt vor ihm. Und es mußte groß sein. Verdammt groß. Goldgräber ergriff die Flucht. Dabei lösten sich keuchende Schreie aus seiner Kehle, mischten sich mit schweren Atemzügen. Das Grollen, das Goldgräber hinter sich hörte, trieb ihn an. Dieses - Ding folgte ihm! Er wollte weg. Nur weg aus der Reichweite des Ungeheuers, das ihn sicherlich ebenfalls zerreißen wollte. Ein letzter Adrenalinstoß pumpte durch Goldgräbers Körper. Der Beamte sprang durch die Luft, sauste in den Vorraum an der Kanalkreuzung und fiel dem überraschten Pakistani direkt vor die Füße. Kashuge beugte sich nieder und richtete den Deutschen auf. »Was geschehen, Kollega? Und wo sein andere Kollega?« »Du mußt hier - weg, Rhawad!« stieß Goldgräber keuchend 8
hervor. »Wir beide müssen abhauen. Das Ungeheuer - es kommt!« Der Pakistani runzelte die Stirn. »Ungeheuer?« wiederholte er. »Wie Krokodil in Rawalpindi?« »Ja!« Goldgräber ergriff Kashuges Arm und zog sich hoch. »Laß uns abhauen!« »Was sein mit Kollega?« »Umgebracht!« Kashuge starrte ihn verständnislos an. »Er ist tot! Verstehst du? Tot!« schrie Goldgräber und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle. Diese Geste verstand der Pakistani. Man verstand sie überall auf der Welt. Goldgräber versetzte Kashuge einen Stoß und trieb ihn zum Hauptstollen. Als sie ihn erreicht hatten, schaute sich der Mann vom Tiefbauamt suchend um. »Wohin wir gehen?« fragte Rhawad Kashuge. »Das Ding folgt uns. Wenn wir zum Einstieg zurücklaufen, holt es uns ein, bevor wir den Schacht erreichen.« Der Beamte faßte einen raschen Entschluß. »Wir gehen zum Frauenplan. Das ist kürzer. Dort suchen wir uns einen Ausgang! Los, Beeilung!« Keuchend hasteten die beiden Männer den Hauptstollen entlang. Die Angst beflügelte sie. Weit hinter sich hörten die Männer ein gellendes Gebrüll und das Stampfen, das ihnen durch Mark und Bein ging. Aber sie gaben die Hoffnung nicht auf, dem grauenhaften Wesen noch zu entrinnen. Goldgräber hätte die Abzweigung zum Frauenplan beinahe verpaßt. Im letzten Augenblick blieb er keuchend stehen und deutete nach links. »Hier geht's rein. Dort gibt es einen Aufstieg.« Der schwefelartige Gestank war inzwischen noch stärker geworden und kaum zu ertragen. Hustenreiz schüttelte die beiden Männer, während sie um ihr Leben rannten. Die Lichtkegel der Lampen huschten über die Wände und den Boden. Der Schlag kam so plötzlich, daß beide Männer davon total überrascht wurden. Er wurde von einem lauten Stampfen begleitet, das den Stollen beben ließ. Etwas schoß aus der Dunkelheit und rasierte den Männern die Beine unter dem Körper weg. 9
Mit lautem Platschen setzten sich die beiden auf den Hosenboden. Verdutzt blieben sie sitzen. Sie schauten sich um, konnten jedoch nicht erkennen, was ihnen die Füße weggeschlagen hatte. Der Hieb schmerzte. Stöhnend rappelte sich Goldgräber hoch, stützte sich an der Stollen wand ab. »Weiter!« stieß er hervor. »Nicht schlappmachen.« Der drahtige Pakistani war wie der Blitz auf den Beinen und überholte seinen deutschen Kollegen. Goldgräber wurde dadurch angespornt. Das Atmen fiel den beiden Männern immer schwerer. »Wir hätten - Sauerstoffgeräte mitnehmen sollen!« Die beiden Männer erreichten einen weiten Raum, von dem wiederum Stollen abzweigten. Goldgräber lehnte sich an die Wand. »Das ist hier wie in einem Irrgarten.« »Wo ist Ausgang?« fragte Rhawad Kashuge. Goldgräber deutete mit dem Daumen geradeaus. »Zwanzig Meter in diesen Stollen. Dann müßte eine Nische kommen…« Der Beamte fummelte eine Zigarette aus dem Päckchen und schob sie sich zwischen die Lippen. Da sein Einwegfeuerzeug streikte, rief er: »He, Rhawad, ich brauche Feuer!« Einen Sekundenbruchteil später raste eine gewaltige Flammenzunge auf Goldgräber zu. Dem Mann blieb noch die Zeit für einen gellenden Schrei. Im Schein der Flammen sah er eine Ausgeburt des Schreckens. Ein Wesen, von dem er nie geglaubt hatte, daß es existieren könnte. Und auf dem Rücken des Ungeheuers kauerte eine kleine, nackte Gestalt mit roter Haut und einer furchterregenden Fratze, die ihn hämisch angrinste. Goldgräbers Todesschrei ging im Fauchen der Flammen unter. Sein Körper wurde von der Feuerlanze eingehüllt. Wild schlug der Mann um sich, hatte aber keine Chancen mehr. Noch nie war es jemandem gelungen, sich gegen das alles verzehrende Höllenfeuer zur Wehr zu setzen… Kashuge saß in dem Stollen und verfolgte die Szene mit ungläubigem Blick. Er sah die verkohlten Überreste seines Kollegen, und er sah vor allem das Höllenmonster, daß direkt einem Alptraum entsprungen zu sein schien und zum Hauptstollen unter der Steubenstraße stampfte. Es dauerte lange, bis der Pakistani wagte, sein Versteck zu 10
verlassen. Zaghaft schob er sich an der verkohlten Leiche vorbei und folgte der Schreckensgestalt. Als er den Hauptstollen erreichte, erwischte ihn der Hieb. Kashuge wurde an der Brust getroffen und zurückgeschleudert. Jetzt verlor der drahtige Mann die Kontrolle. Er schrie gellend und jagte den Weg zurück, den er gekommen war. Aber er lief am Aufstieg zum Frauenplan vorbei. In seiner Panik rannte er, um möglichst weit von dem Höllenwesen wegzukommen. Kashuge spürte, daß ihm das Ungeheuer folgte. Er schlotterte vor Angst. So rasch ihn seine kurzen Beine trugen, hetzte er durch die Kanäle. Bald hatte er jegliche Orientierung verloren. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Das stinkende Labyrinth der Abwasserkanäle hatte Kashuge verschluckt. Er drückte sich ängstlich an eine Wand. »Achdaha«, murmelte er in seiner Muttersprache. Tränen liefen dem Pakistani über die Wangen. Und wieder rief er »Achdaha!« Rhawad Kashuge war allein. Allein in den verschachtelten, stinkenden Abwasserkanälen dieser Stadt. Allein mit sich, seiner Angst und einer Ausgeburt der Hölle, die sich wie ein drohender Schatten auf ihr Opfer zuschob… * »Es ist herrlich hier draußen, nicht?« sagte Cornelia Wedekind und setzte sich neben mich auf die Bank. Ich hatte mich zurückgelehnt und einen Moment die Augen geschlossen. Die wärmenden Sonnenstrahlen strichen über mein Gesicht. In der Mittagssonne wurde mir die winterliche Kälte kaum bewußt. Ich öffnete blinzelnd die Augen. Ein hübsches, mit Sommersprossen übersätes Gesicht lächelte mich an. Cornelia war Redaktionsvolontärin bei der Weimarer Rundschau. Ich war ihr vorgestellt worden, als ich der Zeitung einen Besuch abgestattet hatte. »Machen Sie das öfter? Ich meine, hier sitzen und abschalten.« »Ab und zu«, antwortete ich ausweichend. »Wenn ich meine Depri-Phase habe.« Die junge Frau neben mir schwieg. Kurz darauf spürte ich eine 11
sanfte Hand an meiner Schulter. Sie kroch langsam aufwärts. Kalte, zärtliche Finger glitten über meine Wange. »Ist es wirklich so schlimm?« »Jetzt nicht mehr.« Ich grinste. »Sie können aber ruhig weitermachen.« »Hätten Sie wohl gerne«, sagte die Blondine und nahm ihre Hand weg. »Sie machen es sich verdammt einfach, mein Freund. Hier einfach rumhängen. Raffen Sie sich auf, Mann! Sehen Sie sich um! Hinter jedem dieser Gesichter steckt eine Story.« »Tut mir leid. Ich sehe nichts.« »Weil Sie nichts sehen wollen!« »Ich will schon«, sagte ich und ließ meine Blicke über die attraktiven Rundungen der Blondine gleiten, »doch ich habe schon eine - Braut…« Mit diesen Worten lehnte ich mich wieder zurück, genoß die Sonne und hing meinen Gedanken nach. »Einen tollen Ring haben Sie da«, unterbrach Cornelias Stimme meine Gedanken. »Darf ich mal sehen?« Die Volontärin ergriff meine rechte Hand und betrachtete den Siegelring aus massivem Silber, der im Sonnenlicht blitzte. Auf der Siegelfläche waren die Initialen M und N zu erkennen, um die sich ein stilisierter Drache wand. Nach diesen Anfangsbuchstaben hatte ich die Vornamen Markus Nikolaus erhalten. (Mehr Infos über den Ring in MH 31!) »Das ist reines Silber, nicht wahr?« wollte die Blondine neben mir wissen. Ich nickte. »Er gefällt mir. Irgendwie paßt er zu Ihnen.« Wenn du wüßtest, Süße, dachte ich. »Wenn sie Geld brauchen, dann versetzen Sie doch den Ring.« »Ich trenne mich ungern davon. Eher arbeite ich bei der Stadtreinigung.« Die hübsche Volontärin schlug mir auf die Schulter. »Sehen Sie, so gefallen Sie mir. Es gibt doch immer eine Perspektive. Man muß nur lange genug nachdenken!« »Was bringt Sie eigentlich dazu, ein Volontariat bei der Rundschau zu absolvieren?« erkundigte ich mich. »Der Chef ist unberechenbar wie das Wetter in den Bergen, und wenn Sie Glück haben, dürfen Sie Berichte über Konzerte der hiesigen Musikvereine, den Kaninchenzuchtverein und vielleicht über die 12
Festivitäten des Kulturstadtjahres schreiben.« Die Blondine zuckte mit den Schultern. »Wie Sie hoffe ich auf die große Story«, sagte sie und beobachtete nachdenklich die Passanten. Ein Seniorenpärchen starrte wie gebannt in den Stadtplan von Weimar. »Hier muß es doch irgendwo sein«, murmelte er. Die Frau deutete auf einen Fleck im Zentrum. »Wir sind hier…« »Das stimmt nicht, Hildegard. Wir sind…« Er stockte, drehte sich um und kam zu uns herüber. »Verzeihen Sie, junger Mann. Würden Sie uns behilflich zu sein?« »Aber gerne. Wo möchten Sie denn hin?« »Wir suchen das Schloß und die Bibliothek.« Ich wußte sofort, was er meinte. Er sprach von der HerzoginAnna-Amalia-Bibliothek. Dort war ich sozusagen Stammleser, fand bei meinen Ermittlungen oft nützliche Hinweise. Ich nahm den Faltplan, hob ihn hoch und zeigte dem Seniorenpaar unseren Standort. »Zur Bibliothek gehen Sie am besten…« In diesem Augenblick zuckte ein greller Sonnenstrahl auf die Faltkarte und brannte genau an der Stelle der Herzogin-AnnaAmalia-Bibliothek ein Loch ins Papier. Noch wunderte ich mich über dieses Phänomen, als es eine Fortsetzung fand. Die Ränder des Brandloches wurden schwarz, und eine kleine Flamme entstand. Ich ließ sie erschrocken fallen und taumelte zurück. Die ältere Frau stieß einen Schrei aus. Fassungslos beobachteten wir, wie sich das Feuer durch den aufgezeichneten Stadtkern von Weimar fraß. Ich faßte mich als erster und trat die Flammen aus. War es Zufall oder ein Wink des Schicksals, daß ausgerechnet die Innenstadt von Weimar aus dem Faltplan herausgebrannt war? »Was war denn das?« fragte der Alte verdutzt. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist Ihr Stadtplan Asche. Ist Ihnen was passiert?« Die beiden Touristen waren nicht verletzt worden. Sie hatten nur einen gehörigen Schrecken davongetragen. »Da haben Sie doch Ihre Story, Mark«, meldete sich die Volontärin zu Wort. »Journalist von Sonnenstrahl angegriffen! Das klingt doch super!« 13
»Klingt eher nach Sommerloch«, gab ich zurück. »Vergessen wir die Sache lieber.« Ich überquerte mit den beiden Touristen den Platz, betrat eine Buchhandlung und kaufte einen neuen Faltplan. Diesmal zeigte ich den beiden Leutchen im Laden den Weg zur Bibliothek, um nicht eine Wiederholung des seltsamen Vorfalls zu riskieren. Ich fragte mich, ob es sich bei dem Zwischenfall um eine Warnung gehandelt haben konnte. Schon oft hatte ich Alpträume oder Visionen gehabt, in denen mir ein Angriff der Dämonen angekündigt worden war. Wieso sollte es diesmal nicht ein von einem Sonnenstrahl verbrannter Stadtplan sein? Ich spann den Faden weiter. Ich fragte mich, ob ein Anschlag auf die Weimarer Innenstadt geplant war. Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Aber ich verwarf ihn rasch wieder. Es war einfach zu abwegig, an eine derartige Aktion zu glauben. Bislang hatten die Mächte der Finsternis davor zurückgeschreckt, eine ganze Stadt niederzumachen, wenn man einmal von jenem teuflischen Mönch absah, der Erfurt hatte einäschern wollen. (Siehe MH 26.) Ich kehrte zu Cornelia Wedekind zurück und lud sie auf einen Kaffee ein. Im Vorbeigehen schauten wir auf die Asche. * Nachdem sich Cornelia mit einem Kuß auf die Wange von mir verabschiedet hatte und im Redaktionsgebäude der Rundschau verschwunden war, ging ich zu meinem Wagen und fuhr durch die Innenstadt nach Norden. Immer wieder kehrte der geheimnisvolle Vorfall mit dem Stadtplan in mein Gedächtnis zurück. Es war schon komisch, daß ausgerechnet meine Stammbibliothek, wo ich mich relativ häufig aufhielt, das Ziel des Sonnenstrahls gewesen war. Ich lenkte den stahlblauen BMW durch die stillen Straßen der Siedlung Landfried. Vereinzelt sah man Hausfrauen einkaufen gehen. Eine Kindergartengruppe machte einen Ausflug zum Sportplatz. Zwei junge Mütter schoben Kinderwägen nebeneinander her und unterhielten sich. Hier oben, wo die meisten Reihenhäuser und Bungalows noch aus der Zeit vor der Wende stammen, ist die Welt noch in 14
Ordnung. Hier hatte ich meine Kindheit verbracht. Die Gegend war mir ans Herz gewachsen. Am Straßenrand vor dem Haus meiner Eltern ließ ich den BMW ausrollen. Ich stieg aus und ging mit raschen Schritten zur Haustür. Mutter war natürlich entzückt, mich zu sehen. »Na, lockt dich der Hunger her?« Ich drückte meiner Mutter einen Kuß auf die Stirn und schob sie ins Haus. »Wie ich dich kenne, willst du mir sofort was kochen«, vermutete ich. Mutter lächelte. »Richtig geraten, mein Junge. Nur schade, daß du Tessa nicht mitgebracht hast.« Damit hatte Mutter, nach meiner Ernährung, ihr zweites Lieblingsthema angeschnitten. Lydia hatte Tessa ins Herz geschlossen und wartete sehnsüchtig auf den Tag, an dem wir vor den Traualtar traten. Aber das konnte noch dauern. »Im Gegensatz zu mir geht Tessa einer geregelten Arbeit nach, Mutter«, erinnerte ich. Lydia Hellmann schlüpfte gerade in die Stiefel. »Ich weiß schon, was ich dir koche, aber ich verrate es nicht.« Wenig später verließ sie das Haus. Vater fand ich in seinem Arbeitszimmer. Er saß am Schreibtisch, blätterte in einigen Büchern und machte sich Notizen. »Immer fleißig bei der Arbeit?« fragte ich und klopfte an den Türrahmen. Ulrich Hellmann ließ den Federhalter sinken. »Mark, Junge! Wo brennt's?« Ich schüttelte den Kopf, drückte ihm die Hand und ließ mich in einen Sessel fallen. »Nirgends. Die Hölle macht wohl einen Betriebsausflug. Und die Zeitung hat auch nichts für mich. Die Langeweile bringt mich noch um!« »Immer noch besser, als wenn es die Dämonen tun.« »Oder deine Scherze«, gab ich knapp zurück. »An was arbeitest du gerade?« Vater stützte seine linke Hand auf einen Gehstock. »Karl Holtzner aus München hat mich gebeten, einige Daten über Hünengräber und keltische Kultstätten in den neuen Bundesländern für ihn zusammenzustellen. Willst du mir dabei helfen?« »O nein. Das ist mir viel zu trocken.« 15
»Bevor du hier rumsitzt und Trübsal bläst…« Ulrich Hellmann konnte gar nicht so schnell schreiben, wie ich ihm die einzelnen Informationen heraussuchte. Bald hatte er mehrere Blätter voller Notizen vor sich liegen und lehnte sich aufatmend zurück. »Legen wir eine Pause ein, mein Junge. Du sprühst ja richtig vor Energie.« »Mir wäre es lieber, wenn ich meine Kräfte für die Rundschau einsetzen könnte. Mein Bankkonto könnte allmählich eine Frischzellenkur vertragen.« »Brauchst du Geld, mein Junge?« fragte Ulrich besorgt. »Du weißt, du kannst jederzeit…« »Danke, aber noch verhungere ich nicht«, unterbrach ich ihn und grinste. »Dafür sorgt Mutter schon.« Vater schaute auf seine Taschenuhr. »Wo bleibt sie denn?« fragte er. »Sie ist bestimmt schon eine Stunde weg. So lange kann doch das Einkaufen nicht dauern.« »Mach dir keine Sorgen. Sie wird eine Nachbarin getroffen haben. Du kennst doch die Hausfrauen.« »Du weißt aber auch, daß deine Mutter nicht gut zu Fuß ist. Es gefällt mir gar nicht, wenn sie so lange auf den Beinen ist.« »Sag mal, hast du schon mal gehört, daß ein Sonnenstrahl ein Stück Papier in Brand gesetzt hat?« fragte ich, um meinen Vater auf andere Gedanken zu bringen. »Wenn er durch ein Brennglas geführt wird. Wieso fragst du?« »Weil mir das heute morgen passiert ist«, antwortete ich und erzählte ihm von dem Vorfall mit dem verbrannten Stadtplan. »Seltsam, nicht?« »Könnte dein Freund Mephisto dahinterstecken?« »Glaube ich nicht. Er hätte sich nicht damit begnügt, den Stadtplan abzufackeln, sondern hätte gleich versucht, auch mich zu erwischen.« »Hm. Also, mich stört der Gedanke, daß es sich um einen Zufall handeln soll. Solche Zufälle gibt es nicht.« »Und wie soll ich es deuten?« Mein Vater hob die Schultern. »Es könnte ein Unglück bevorstehen. Vielleicht eine Feuersbrunst.« »Ich könnte mal bei Pit nachhören, ob er was weiß«, überlegte ich laut. Peter »Pit« Langenbach war Hauptkommissar bei der Weimarer Kripo und mein bester Freund. Wie auch Tessa Hayden, war Pit durch unsere Freundschaft bereits mit den Mächten der 16
Finsternis konfrontiert worden und hatte sich bisher tapfer geschlagen. Ulrich Hellmann klappte erneut seine Taschenuhr auf. »Jetzt könnte sie aber wirklich kommen«, murmelte er. »Ich mache mir langsam Sorgen.« »Beruhige dich, Vater. Ich bin sicher, daß sie jeden Moment zur Tür hereinspaziert.« Das Telefon auf Vaters Schreibtisch klingelte. Mein Vater hob ab. »Für dich«, sagte er zwei Sekunden später. Ich hörte heftige Atemzüge. »Ja, bitte?« fragte ich. Das Atmen verstummte schlagartig. »Mächtig kalt heute, wie?« fragte eine Männerstimme. Ich war sofort hellhörig. Dies war kein normales Telefonat. »Wollen Sie mir hier den Wetterbericht vorbeten - oder was?« fragte ich barsch. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« »Ich hasse es, wenn meine Mitmenschen frieren, Hellmann!« Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, ich konnte sie aber nicht einordnen. »Dir soll warm werden. So heiß, wie es mir geworden ist!« »Wovon reden Sie denn, zum Teufel?« Der Anrufer kicherte. Es war ein häßliches, gemeines Kichern. »Deine Wortwahl trifft den Nagel auf den Kopf, Hellmann.« Der Mann legte eine Pause ein und atmete laut. »Ist dir kalt, Hellmann? Dir wird gleich mächtig heiß werden. Die Feuer der Hölle werden dir die Haut vom Leib brennen!« In mir schrillten sämtliche Alarmglocken. Das geschah immer, wenn jemand die Hölle erwähnte. »Mit Ihren Drohungen schüchtern Sie mich nicht ein, mein Freund. Da müssen Sie sich einen anderen suchen. Und tschüs!« sagte ich und wollte auflegen. »Warte!« schrie es aus dem Hörer. Ich stockte. »Sieh in deinem Wagen nach, Hellmann!« Klick. Nur noch ein dumpfes Summen tönte mir entgegen. Ich legte auf und schilderte meinem Vater den Anruf. »Eine Bombe?« fragte er sofort. Während seiner Zeit als Kripobeamter hatte er allerhand erlebt. Auch mit Bombenlegern war er aneinandergeraten. »Wenn ich nicht nachsehe, werden wir es nie wissen«, sagte ich 17
und war schon auf dem Weg. Vater folgte mir, so rasch er konnte. »Paß auf, mein Junge! Riskiere nichts! Soll ich Pit verständigen?« Ich winkte ab, lief zur Straße und stand bereits neben meinem Wagen. Ich schaute die Straße entlang. Nicht weit entfernt bemerkte ich die beiden Mütter mit ihren Kinderwägen, die sich auf uns zubewegten. »Halte die Frauen auf, Vater!« sagte ich ernst und beobachtete, wie Ulrich die Straße überquerte. Ich ging langsam um den BMW herum, untersuchte die Reifen und das Achsgestänge, schob mich unter den Wagen und suchte nach einem Sprengsatz. Nichts. Ich schaute an der Motorhaube entlang, ob irgendwo verdächtige Drähte zu entdecken waren, aber es war nichts zu sehen. Mir blieb keine Wahl. Ich mußte die Haube öffnen, um in den Motorraum schauen zu können. Vorsichtig zog ich die Fahrertür auf. Mein Mund war trocken. Als ich die Motorhaube entriegelte, befürchtete ich, daß mir der Wagen um die Ohren flog. Nichts geschah. Vorsichtig öffnete ich die Haube. Im Motorraum war keine Spur von einem Sprengsatz zu entdecken. Ich atmete auf und winkte meinem Vater zu. Er sprach mit den beiden Frauen und kam langsam über die Straße gehinkt. Sieh im Wagen nach! Das waren die Worte des Anrufers gewesen. Der kalte Finger der Angst kroch an meinem Rücken entlang. Ich schloß die Motorhaube, beugte mich in den Wagen und suchte alles ab. Nichts. Ich entdeckte das kleine, rechteckige Kästchen unter der Lenksäule. An der Vorderfront des Kästchens befand sich das dunkle Sichtfeld einer LCD-Anzeige. Meine Fingerspitzen strichen über den Kasten, fühlten ein Lautsprechergehäuse und einen kleinen Schalter. Es juckte mich in den Fingern. Es konnte gut möglich sein, daß ich eine Bombe vor mir hatte, die mich in Fetzen riß, wenn ich den Schalter umlegte. Wieso war dann aber ein Lautsprecher an dem Kästchen 18
angebracht worden? Sprengsätze sprachen nicht. Ich kniff die Lippen zusammen und legte entschlossen den Schalter um. Die Sekunden verstrichen. Nichts geschah. Eben wollte ich mich aus dem Fahrzeug hieven, als die Stimme des Anrufers erklang. »Ist dir kalt, Hellmann? Nicht mehr lange, dann wirst du das Feuer der Hölle spüren. Bumm!« Er lachte. Es war ein kaltes, herzloses Lachen. Die Stimme wurde von einem langen Piepton abgelöst. Auf der Anzeige blinkte ein rotes Licht. Ziffern wurden sichtbar. 6.6.6. Dreimal die Sechs. Das Zeichen des Antichristen. Mephistos Lieblingszahl! Die Ziffer verwandelte sich. 0.6 0.5 Ein Countdown! Als 0.4 aufblinkte, warf ich mich aus dem Wagen. »Shit!« schrie ich und rannte los. Hinter mir hörte ich das leise Piepsen. In meinem Kopf zuckte ein Gedanke auf. Wie weit kann ein Zehnkämpfer in zwei Sekunden laufen? »Weg!« brüllte ich. »In Deckung!« Mein Vater reagierte sofort und drehte sich zu den beiden jungen Müttern um. Er würde sie nicht mehr rechtzeitig erreichen. Das war mir klar. Ich spannte die Beinmuskeln an und warf mich nach vorn, mitten auf die Straße, faltete die Arme über den Kopf. Und wartete. Wartete auf die Detonation und die umherwirbelnden Trümmer. Doch alles blieb ruhig. Ich konnte es nicht fassen. Zögernd richtete ich mich auf. Die beiden Frauen starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Für sie hatte ich wohl nicht alle Maschen in der Socke. Der dumpfe Knall kam so plötzlich, daß ich nicht darauf gefaßt war! Ich wirbelte herum und traute meinen Augen nicht. Ein Kanaldeckel flog in die Luft. Eine gewaltige Feuersäule raste in den Himmel. Die Detonation schien eine Kettenreaktion auszulösen. Nacheinander wirbelten alle Kanaldeckel der Straße nach oben, 19
gefolgt von einer Feuerlanze. Die Explosionen jagten auf mich zu. Ich erkannte die Gefahr sofort. Ulrich Hellmann und die beiden Frauen befanden sich dicht bei einem Schacht. Wenn ich nicht sofort etwas unternahm, würden sie voll erwischt werden. Ich befand mich bereits in Bewegung, als der Schachtdeckel hinter meinem Wagen in die Luft ging. Die Druckwelle riß mich von den Beinen und trieb mich voran. Mein gestreckter Körper prallte gegen Ulrich und die beiden Frauen. Ich riß sie von den Beinen und in einen Vorgarten. Sofort raffte ich mich auf und zog die beiden Kinderwagen aus der Gefahrenzone. Keinen Augenblick zu spät! Mit einem dumpfen Wummpf! lupfte sich der Kanaldeckel. Die Feuersäule verfehlte die beiden Kinderwagen nur um Haaresbreite. Ich schaffte die Babys auf den Gehsteig und rannte auf die Straße. Ich hatte eine weitere Person bemerkt, die sich im unmittelbaren Explosionsbereich aufhielt. Lydia Hellmann! Sie war bei einer Nachbarin gewesen und kam eben aus deren Haus, um sich auf den Heimweg zu machen. Dabei würde meine Mutter genau in die nächste Detonation hineinlaufen, denn ihr Weg führte sie dicht am übernächsten Abwasserschacht vorbei. Ich hetzte los. Erschrocken blieb meine Mutter stehen, als sie sah, wie vor mir eine Feuersäule hochschoß. Ich hatte keine Zeit mehr, den Flammen auszuweichen, kreuzte die Arme vor dem Gesicht und warf mich durch die Feuerlanze. Der Anrufer hatte recht gehabt. Mir wurde heiß. Verdammt heiß! Sekundenbruchteile vor der nächsten Explosion erreichte ich Lydia Hellmann, hob ihre zierliche Gestalt hoch und warf sie mir über die Schulter. Ich kam mir wie in einer Zeitlupenaufnahme vor, als ich den Rückzug antrat und die Wucht der Detonation hinter mir ließ. Ich spürte die Hitze in meinem Rücken, fühlte mich von der Druckwelle vorangetrieben und hörte Lydia Hellmann schreien. Dann war es vorbei. Neben meinem Vater setzte ich Lydia Hellmann ab und sah zu, wie sich die beiden in die Arme fielen. »Bist du in Ordnung, mein Junge?« fragte Ulrich Hellmann mit 20
zitternder Stimme. Ich nickte. Außer ein paar versengten Haaren und ein paar Brandblasen an den Händen hatte ich nichts abbekommen. Schweigend schaute ich mir das Chaos in der Straße an. Auf einer Länge von gut einem halben Kilometer brannte die Kanalisation. Autos, die in die Straße eingebogen waren, legten angesichts der Feuersäulen eine Vollbremsung hin und stellten sich quer. Die beiden jungen Mütter hielten ihre Babys im Arm und weinten. Eine von ihnen nickte mir mit tränenüberströmtem Gesicht dankbar zu. »Ich alarmiere Pit und seine Mannschaft«, erklärte ich ruhig und wandte mich ab. Mehr konnte ich jetzt nicht tun. * »Und du hast keine Ahnung, wem du das Feuerwerk zu verdanken hast?« fragte Pit. Wir saßen im Arbeitszimmer meines Vaters. Draußen war die Feuerwehr damit beschäftigt, die Kanalisationsbrände unter Kontrolle zu bringen. Nur noch zwei Feuerlanzen jagten in den Himmel. Aus den übrigen Schächten stieg Rauch auf. Ich schüttelte stumm den Kopf. »Jemand hat sich verdammt viel Mühe gemacht, nicht nur mich zu rösten, sondern auch soviel Schaden wie möglich anzurichten. Aber eines ist sicher - Mephisto mischt bei diesem Spiel die Karten.« »Mark, hier war ein irrer Bombenleger am Werk und kein Dämon aus der Hölle!« ereiferte sich der Hauptkommissar. »Glaubst du nicht, daß wir jetzt deine Einzelteile einsammeln könnten, wenn du es mit einem Höllenwesen zu tun gehabt hättest? Nein, Alter, du bist nur noch am Leben, weil du einem menschlichen Gegner ein Dorn im Auge bist. Und Menschen machen nun mal Fehler!« »Dämonen auch«, gab ich zu bedenken. »In ihrer maßlosen Überheblichkeit verlieren sie oft die Kontrolle. Aber gut, gehen wir mal von deiner Theorie aus. Könnte es nicht sein, daß der Bombenleger in Mephistos Auftrag gehandelt hat?« »Unsinn! Wieso sollte das der Fall sein?« »Weil vor dem Countdown auf dem Display des Zündkastens die 21
Ziffer Sechshundertsechsundsechzig erschien. Dreimal die Sechs, Pit. Das Zeichen des Teufels.« »Ein dummer Zufall«, meinte Pit. »Vielleicht hat das Display verrückt gespielt.« Ich schüttelte den Kopf. »Da steckt mehr dahinter, Pit. Viel mehr.« Der Brandinspektor klopfte an die Tür. »Das Feuer ist unter Kontrolle«, verkündete er. »Wir haben Spuren verschiedener Brandsätze gefunden. Unsere Spezialisten können euch wahrscheinlich heute nachmittag Einzelheiten berichten.« Pit bedankte sich und verabschiedete den Mann. »Na, siehst du? Von wegen Teufel! Dich hat ein Irrer auf dem Kieker. Ab sofort stehst du unter Polizeischutz, bis wir den Kerl haben!« »Kommt überhaupt nicht in Frage!« brauste ich auf. »Ich laß mich doch von deinen Sheriffs nicht auf Schritt und Tritt bewachen! Am Ende kommt's noch soweit, daß ihr mich aufs Klo begleitet und eine Kamera in meinem Schlafzimmer installiert!« Pit baute sich vor mir auf und lief dunkelrot an. »Willst du als Zielscheibe für diesen Verrückten durch die Gegend laufen? Und was ist, wenn bei seinem nächsten Anschlag Unbeteiligte getötet werden? Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht? Ich bin für deine Sicherheit verantwortlich, verdammt noch mal! Und deshalb wirst du dich meinen Anweisungen beugen.« Er drehte sich abrupt um. »Oder ich nehme dich in Schutzhaft«, fügte er ruhig hinzu. Ich starrte wütend auf die Rückenpartie meines Freundes und wandte mich dann hilfesuchend an meinen Vater. »Kannst du nicht auch mal was dazu sagen?« bat ich. »Bring diesen Oberbullen um Himmels Willen zu Vernunft!« Pit wirbelte herum und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Werde jetzt nur nicht beleidigend! Paß auf, daß dich der Oberbulle nicht gleich abführen läßt!« »Beruhige dich, Pit«, sagte mein Vater. »Die Fürsorge in allen Ehren, aber ich bin sicher, daß Mark ganz gut selbst auf sich aufpassen kann.« »Das haben wir ja vorhin gesehen. Um ein Haar wäre ihm die ganze Straße um die Ohren geflogen, und du gleich mit!« »Ich habe schon schlimmere Situationen überstanden, Pit! Hör endlich auf, hier das besorgte Kindermädchen zu spielen! Wenn der Kerl erneut zuschlägt, riskierst du, daß deine Männer dabei 22
drauf gehen! Und er wird es noch mal versuchen. Verlaß dich drauf!« Ulrich Hellmann bestätigte meine Worte mit einem Kopfnicken. Pit konnte noch so viele Männer zu meinem Schutz abstellen - es würde nichts nützen. Sobald der unbekannte Attentäter erfuhr, daß sein Anschlag mißlungen war, würde er einen neuen Versuch starten. »Was gedenkst du, zu deinem Schutz zu unternehmen?« fragte Pit resigniert. »Nichts«, antwortete ich kurz. »Sehr einfallsreich, das muß man dir zugestehen.« »Ich werde ganz normal weiterleben«, erklärte ich. »So, als ob nichts geschehen wäre. Das wird den Bombenleger verunsichern und ihn gleichzeitig provozieren. Er wird Fehler machen und sich vielleicht selbst ans Messer liefern.« »Oder auch nicht.« »Das Risiko gehe ich ein. Immer noch besser, als unter ständiger Bewachung zu leben und am Ende trotzdem in die Luft gesprengt zu werden.« »Dein Vertrauen in meine Leute ist wirklich bemerkenswert.« »Es hat nichts mit den Fähigkeiten deiner Kollegen zu tun, Pit. Es ist nur so, daß ich mich frei bewegen können muß, um reagieren zu können.« Der Hauptkommissar sah ein, daß er gegen meine Argumente nicht ankam. Er wußte, daß ich meine Beschatter abschütteln würde. Und er konnte mich nicht gegen meinen ausdrücklichen Willen in Schutzhaft nehmen. »Hoffentlich weißt du, was du tust«, sagte er leise, hob beide Arme und ließ sie in einer ohnmächtigen Geste fallen. Ich lächelte und legte Pit die Hand auf die Schulter. »Danke, Alter. Und vergiß den Oberbullen.« »Ich bin froh, wenn das hier vorbei ist und du mir immer noch solche Ausdrücke an den Kopf werfen kannst.« Meine Mutter hatte ihren Schrecken rasch überwunden und darauf bestanden, für den Pit mitzukochen. Bei Schweinebraten, Klößen und einem knackigen Salat verflog Pits getrübte Stimmung. Doch selbst während des Essens kehrten meine Gedanken immer wieder zu dem Sprengstoffanschlag und dem verkohlten Stadtplan zurück. Es war zu weit hergeholt, zwischen den beiden 23
Vorfällen einen Zusammenhang zu vermuten, aber mich ließ ein besorgniserregendes Gefühl nicht los. Mir war, als stünde uns gewaltiges Unheil bevor… * Die Ereignisse dieses Vormittages ließen mir keine Ruhe. Ich hatte mich nach dem Essen in meine Wohnung in der FlorianGeyer-Straße zurückgezogen, lag auf dem breiten Futonbett und dachte nach. Dabei nickte ich ein und wurde erst gegen Abend wieder wach. Verschlafen rieb ich mir die Augen. Draußen wurde es bereits dunkel. Ich schaute mich in meinem Schlafzimmer um, als wäre mir die Umgebung völlig fremd, schwang mich vom Bett und ging ins Wohnzimmer. Plötzlich hielt mich nichts mehr in der Wohnung. Ich mußte raus, mußte etwas tun, bevor mir die Decke auf den Kopf fiel. Wenig später saß ich in meinem BMW und fuhr zur Weimarer Polizeidirektion. Ich wollte mich erkundigen, was die Untersuchung der Brandexperten ergeben hatte. Pit Langenbach saß hinter seinem Schreibtisch und kaute auf einem seiner stinkenden Zigarillos herum. »Streß?« fragte ich, als ich das Büro meines Freundes betrat. Pit schaute kurz auf, brummte etwas Unverständliches und vertiefte sich wieder in einen Bericht. Ich trat zur Kaffeemaschine, die auf einem Aktenschrank stand, und bediente mich. Wortlos hielt mir Pit seinen leeren Kaffeepot hin. Ich füllte ihn auf. »Wir haben noch keine Spur von dem Bombenleger«, brummte Pit entschuldigend. »Deswegen bin ich gar nicht hier. Ich wollte mich nur erkundigen, was die Untersuchung ergeben hat.« Pit legte den Bericht aus der Hand und schlürfte seinen Kaffee. »Da war ein ganz Gescheiter am Werk, Mark. Das war absolute Profiarbeit. Plastiksprengstoff. Der Abstand zwischen den einzelnen Detonationen war exakt durchkalkuliert. Wenn du nicht so wahnsinnig schnell reagiert hättest, würdest du jetzt auf einer Wolke sitzen und Harfe spielen.« »Von wo aus wurde dieser Wahnsinn gesteuert?« Pit hob die Schultern. »Der Kerl mußte nur die Zündeinheit in 24
deinem Wagen anbringen, und dazu hatte er ja reichlich Zeit. Anschließend konnte er an einem x-beliebigen Punkt in der Stadt in Seelenruhe auf einen Knopf drücken und auf den großen Knall warten.« »Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, wer dahinterstecken könnte?« Pit schüttelte den Kopf. »Nichts. Unser Freund hat nicht die geringste Spur hinterlassen. Hätte mich auch gewundert. Wer sich ein derart kompliziertes Sprengsystem ausdenkt, ist nicht so blöd, sich einen Stolperdraht mit einzubauen.« Hinter mir wurde die Bürotür geöffnet. Rasche Schritte näherten sich. Zwei schlanke Frauenarme legten sich auf meine Brust, und sanfte Lippen suchten meinen Mund. »Bin ich froh, daß dir nichts passiert ist, Mark!« sagte Tessa Hayden und küßte mich erneut, bevor sie sich auf den Stuhl neben mich setzte. »Glückspilz«, murmelte Pit. »Wenn mich nur auch jemand auf die Art begrüßen würde…« »Mußt eben deine Susanne öfter hierher einladen.« »Besser nicht.« »Brauchst du Tessa noch, oder kann ich sie mitnehmen?« »Raus mit euch!« befahl Pit. »Damit wenigstens einer noch was schafft.« Tessa und ich gingen über den Theaterplatz und betraten ein Schnellrestaurant. Tessa entschied sich für ein Gyros-Tellergericht mit Zazicki und Fritten, während ich mich auf eine doppelte Currywurst mit Pommes rot-weiß freute. Wir kämpften uns gerade durch unsere opulenten Mahlzeiten, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legte. »Na, so ein Zufall!« hörte ich hinter mir eine angenehme Frauenstimme. »Ich hätte nicht gedacht, Ihnen heute noch mal zu begegnen, Mark. Nach allem, was Sie mitgemacht haben!« Ich verschluckte mich beinahe an meiner Currywurst. Ein rascher Blick auf Tessas Gesicht sagte mir, daß sich ein ziemliches Donnerwetter zusammenbraute. Denn hinter mir stand eine Frau. »Ah, Cornelia«, begrüßte ich sie mit einem Lächeln. »Darf ich Sie mit meiner Freundin Tessa bekanntmachen? Tessa, das ist Cornelia Wedekind von der Rundschau.« Tessas Gesicht war inzwischen dunkel angelaufen. Sie schenkte 25
der Volontärin ein süßsaures Lächeln und konzentrierte sich auf das Essen. Cornelia pflanzte sich auf den Stuhl neben mir. »Heute morgen haben Sie sich noch über einen Mangel an Aufträgen beschwert, Mark. Und jetzt können Sie sozusagen aus erster Hand über den Sprengstoffanschlag in der Siedlung Landfried berichten. Wenn das kein Glücksfall ist…« »Als Glücksfall würde ich das nicht eben bezeichnen. Ich möchte nicht unbedingt über Unglücksfälle schreiben, in die ich selbst verwickelt bin.« »Ja, das verstehe ich. Aber keiner kennt die Details besser als Sie selbst, Mark. Wenn Sie einen Exklusivbericht über die Landfried-Sache liefern, fällt der Chef vom Hocker. Dann können Sie sich bestimmt nicht mehr über fehlende Aufträge beschweren.« Cornelias Hand strich an meiner Wange entlang. Tessa stand kurz vor einem Zornausbruch. »Ist Ihnen auch wirklich nichts geschehen, Mark? Keine angeknacksten Knochen? Keine Prellungen? Ich fände es wirklich schade, wenn Ihnen etwas zustoßen würde.« »Ich hatte Glück.« »Sie müssen mir alles haargenau erzählen«, flötete die Blondine weiter. »Jede klitzekleine Einzelheit. Wenn Sie nicht darüber schreiben wollen, könnte ich mir ja ein paar Lorbeeren mit dieser Bombenstory verdienen.« »Es gibt nicht viel zu erzählen, Cornelia.« »Hat das nicht Zeit bis morgen?« fragte Tessa dazwischen. »Ich hatte mir unseren Abend eigentlich etwas anders vorgestellt.« Die Blondine verstand sofort. »Aber natürlich, wie dumm von mir!« rief sie. »Sie müssen vielmals entschuldigen, Tessa, aber die Geschichte klingt so aufregend. Und zudem ist ein Kollege darin verwickelt. Da kam einfach das Reporterblut in mir durch. Ich werde Sie natürlich nicht weiter belästigen. Wir können uns ja morgen früh treffen und darüber sprechen, Mark.« Cornelia Wedekind stand auf, lächelte Tessa zu, hauchte mir einen Kuß auf die Wange und rauschte von dannen. Ich räusperte mich und stocherte in meiner Currywurst herum. »Sag jetzt bloß nichts«, ließ sich Tessa vernehmen. »Kein Wort!« Aus ihrer Stimme hörte ich die unterdrückte Wut heraus. Heute schien nicht mein Tag zu sein. Irgendwie ging alles schief. Ich schob ein Stück Wurst in den Mund, aber mir war der 26
Appetit vergangen. Und die Wurst war inzwischen ohnehin kalt geworden. Tessa machte sich mit wahrem Heißhunger über den Rest ihrer Gyrosportion her. Ihre Wut war nicht zu übersehen. Als sie die Mahlzeit beendet hatte, stand sie wortlos auf und eilte zum Ausgang. Ich folgte ihr gemächlich. »Was ist zwischen dir und der Blonden?« fragte Tessa, als wir nebeneinander durch die stillen Straßen gingen. Offenbar wollte sie noch einen Spaziergang machen, obwohl es ziemlich kalt war. »Was soll zwischen uns sein?« antwortete ich mit einer Gegenfrage. »Ich habe sie erst heute morgen in der Redaktion kennengelernt. Sie ist Volontärin.« »Und hast ihr gleich den Kopf verdreht, was? Ich weiß ja, wie schnell das bei dir geht. Kaum lächelt dich eine halbwegs gutaussehende Frau an, bist du nicht mehr du selbst.« »So? Und wer bin ich dann?« »Mach keine Witze darüber, Mark! Ich hab die Nase gestrichen voll von deinen ewigen Weibergeschichten! Ich bin kein Kätzchen, das dir hin und wieder die Matratze wärmt, wenn gerade keine andere da ist, mein Lieber! Das solltest du inzwischen gemerkt haben.« »Aber - ich habe nichts mit dieser Frau!« versicherte ich meiner Freundin. »Und wenn wir schon beim Thema sind es gibt schon lange keine anderen Frauen mehr für mich!« »Ich glaube dir kein Wort!« rief Tessa. »Und brüll mich nicht an!« »Die einzige, die hier schreit, bist du!« sagte ich. »Du hast nicht den geringsten Grund für deine lächerliche Eifersucht. Zwischen Cornelia und mir ist nichts.« »Meine Eifersucht ist also lächerlich, wie? Lächerlich!« Tessa war stehengeblieben und ballte die Hände zu Fäusten. »Sie müssen mir jede klitzekleine Kleinigkeit erzählen«, äffte Tessa die Blondine nach. »Komm wieder auf den Teppich, Tess.« »Sag mir nicht, was ich zu tun habe, Mark Hellmann!« »Ich hab keine Lust, mich mit dir zu streiten. Wo es nicht mal einen Grund zum Streiten gibt.« Ich wandte mich ab und ließ sie stehen. Sofort eilte sie mir nach und riß mich herum. »Es gibt sehr wohl einen Grund! Er ist einssiebzig groß, hat eine Modelfigur und 27
lange, blonde Haare und hört auf den Namen Cornelia. Ein blöder Name. Gib endlich zu, daß du was mit ihr hast!« »Das kann ich nicht.« Tessa bebte vor Wut. »Manchmal frage ich mich wirklich, wieso wir noch zusammen sind, Mark! Ich hätte unsere Beziehung schon längst beenden sollen! Ich hab genug von deiner Vielweiberei! Sie steht mir bis hier!« Tessa fuhr sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang. Einen Augenblick standen wir regungslos da und starrten uns an. Dann mußte ich lachen. »Du bist echt süß, wenn du dich so aufregst, Tess«, sagte ich. »Komm, gehen wir nach Hause.« »Ich gehe, du Scheusal!« rief Tessa. »Du kannst zu deiner Cornelia zurückgehen und sie flachlegen!« Abrupt drehte sich Tessa um und eilte davon. Ich zog den Kragen meiner Jacke hoch, schob die Hände in die Jackentaschen und überlegte, ob ich Tessa folgen sollte. Tat ich es, lief ich Gefahr, mich zum Narren zu machen. Folgte ich ihr nicht, konnte ich sie für immer verlieren. Es war eine vertrackte Situation. Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Ein gellender Schrei zerriß die Nacht. Und er kam aus der Richtung, in der Tessa verschwunden war! * Ich rannte sofort los. Tessa konnte noch nicht weit entfernt sein. Ich erwartete, sie jeden Moment vor mir zu sehen. Die kalte Nachtluft füllte meine Lungen. Mein Atem stand in kleinen Wölkchen vor meinen Lippen. In Rekordzeit legte ich einen kurzen Sprint hin und sah Tessa vor mir aus der Dunkelheit auftauchen. Sie war kreidebleich, stand einfach nur am Straßenrand und starrte vor sich auf den Boden. »Tessa!« rief ich und blieb neben ihr stehen. »Was ist denn los? Warum hast du so geschrien?« Wortlos deutete sie vor sich zu Boden. Jetzt erst wurde ich auf das dumpfe Gluckern aufmerksam, das leise zu meinen Füßen erklang. Auch ich senkte meinen Blick. 28
Ich starrte direkt in einen offenen Kanalisationsschacht. Der Deckel war angehoben und auf die Seite geschoben worden. Aus der dunklen Öffnung quoll unter Gluckern und Schmatzen eine schmutzigbraune, stinkende Flüssigkeit. Und inmitten der Brühe schwamm ein menschlicher Torso! Ich unterdrückte die aufsteigende Übelkeit, beugte mich vor und betrachtete ihn genauer. Er steckte in einer orangefarbenen, verschmutzten Schutzjacke. Die untere Körperhälfte war dicht über der Gürtellinie abgetrennt worden. Die riesige Wunde blutete nicht mehr, sondern troff von stinkendem Abwasser. Ich verzog das Gesicht, drehte den Kopf zur Seite und atmete aus. Dieser furchtbare Anblick ging mir durch und durch. Aber es kam noch schlimmer! Ein Schwall Abwasser drückte nach oben. Der Torso geriet in Bewegung, drehte sich herum. Die leblosen Arme wurden hochgerissen. Eine eiskalte Hand rammte gegen meine Kehle und hielt mich fest. Ich las die Todesangst in dem bleichen, aufgedunsenen Gesicht, das mir entgegenstarrte. Der Mund war leicht geöffnet. Eine blauschwarze Zunge war zwischen den Lippen zu erkennen. Die glasigen Augen schienen meinen Blick zu suchen. Ich hörte Tessa erschrocken aufschreien, als der Arm des Toten auf mich zuschnellte. Meine Finger schlossen sich um das kalte Handgelenk und versuchten, den Klammergriff des Toten zu lockern. Trotz der Kälte fühlte ich, wie Schweißtropfen auf meiner Stirn perlten. Ich mußte alle Kraft aufwenden, um mich gegen die toten Finger zu stemmen. Ich spannte meine Muskeln an, bog langsam die starren Totenfinger auseinander. Das leise Knacken der Fingerglieder war über das Gurgeln und Rauschen der Kloake kaum zu hören. Endlich war meine Kehle frei. Ich spürte zwar noch die kalte Hand des Toten an meiner Haut, aber ich konnte durchatmen. In langen Zügen pumpte ich die Nachtluft in meine Lungen. Aber noch kam ich nicht zur Ruhe. Kaum hatte ich die Totenhand nach unten gedrückt und wollte aufstehen, als ein dumpfes Rumpeln ertönte. Gleichzeitig begann der Boden zu schwanken! »Was - ist das, Mark?« rief Tessa und suchte an einer Hauswand Halt. 29
Ich wußte keine Antwort auf diese Frage. Ein Erdbeben war so gut wie ausgeschlossen. Der Boden bebte jedoch immer stärker. Ich taumelte und erwischte einen Laternenmast, an dem ich mich festklammerte. Seltsamerweise brach der Asphalt nicht auf. Auch das Pflaster des Bürgersteigs war unbeschädigt. Das tiefe Grollen und Rumpeln schien aus dem Innern der Erde zu kommen, weit entfernt und nah zugleich. Es wurde lauter und erfüllte die Luft. Schlagartig beruhigte sich der Boden. Das Beben hörte auf. Ich stieß mich vom Laternenpfahl ab, um an Tessas Seite zu gelangen. Ich schaffte genau drei Schritte, ehe das Pflaster erneut Wellen schlug. Wie ein Volltrunkener taumelte ich über den Gehsteig und versuchte mit ausgebreiteten Armen, mein Gleichgewicht zu halten. Diesmal brach das Pflaster vor mir auf, und das Grollen wurde zu einem ohrenbetäubenden, schrillen Gebrüll. Die Steinplatten gerieten aus ihrem Verbund. Etwas drückte mit Brachialgewalt von unten dagegen. Ich wich den Platten nur mit Mühe aus und verhinderte, daß sie mir die Zehen zerquetschten. Mühsam kämpfte ich mich vorwärts. Die Luft war nicht mehr kalt und klar, sondern von einem furchtbaren Schwefelgestank erfüllt, der das Atmen erschwerte. Rings um uns herum erhob sich ein Sturm, der an unseren Kleidern zerrte und uns durch die Haare pfiff. »Paß auf, Mark! Hinter dir!« Meine Reflexe wurden in regelmäßigem Training in der Polizeisporthalle geschärft. Tessas Warnung war noch nicht richtig verklungen, als ich bereits reagierte und mich zur Seite wegkippen ließ. Ein kreischender Schrei gellte auf, und ein kleiner, dunkler Körper sauste an mir vorbei. Er verfehlte mich nur knapp, rollte über aufgeworfene Pflastersteine und landete klatschend in der Kanalisationsbrühe. Fast im selben Augenblick begann mein Siegelring zu vibrieren und sich zu erwärmen. Ein eindeutiges Zeichen, daß ich es mit einem schwarzmagischen Wesen zu tun hatte. Sofort fuhr mein neuer Gegner herum. Im Licht der Straßenbeleuchtung erkannte ich ein zerfurchtes, bärtiges Gesicht mit flacher Stirn, breiten, bebenden Nasenflügeln und 30
gefletschten Zähnen. Ich kniff die Augen zusammen. Das Wesen, das ich da vor mir hatte, war knapp über einen Meter groß, trug dunkelbraune Hosen, knöchelhohe Stiefel, ein grünes Wams und eine rostrote, kapuzenähnliche Mütze. Kleine Hände umklammerten den Schaft eines Morgensterns. Mein Gegner war - ein Zwerg! * Bevor ich mich auf die neue Situation einstellen konnte, zuckte die mit Metalldornen gespickte Eisenkugel auf mich zu. Ich rollte herum. Die gefährliche Waffe verfehlte mein Gesicht um Haaresbreite. Ich trat zu. Mein Stiefel traf den Zwerg in der Körpermitte. Der Tritt mußte den gesamten Brustkorb des kleinen Kerls erwischt haben. Jedenfalls war die Wucht meines Trittes so groß, daß der Zwerg auf die andere Straßenseite befördert wurde. Behende kam das Kerlchen auf die Beine und schwang wild kreischend den Morgenstern. »Wo kommt denn dieser Zwerg auf einmal her?« fragte Tessa. Ich war nicht in der Lage, ihr zu antworten, denn der Zwerg erforderte meine gesamte Konzentration. Die Waffe, mit der er hektisch herumfuchtelte, war ungemein gefährlich. Sie riß schmerzhafte, tiefe Wunden. Ein gezielt geführter Schlag konnte einem den Schädel zertrümmern. Das Männchen kicherte gehässig, drehte mir eine lange Nase und wich wieselflink vor mir zurück. Mit dem Morgenstern hielt mich der Zwerg auf Distanz. Aber ich war nicht gewillt, mich von einem mittelalterlichen Gnom ins Bockshorn jagen zu lassen. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf und wollte mit zwei, drei Sprüngen die Fahrbahn überqueren, um dem Gnom die Beine langzuziehen, als ich mit Schrecken feststellte, daß der Zwerg nicht allein gekommen war. Er hatte einen Helfer mitgebracht, der einem Alptraum entsprungen zu sein schien. Vor mit brach die Bordsteinkante weg. Der Straßenbelag platzte auf, wölbte sich nach oben. Ich sah ein dunkles, unförmiges Gebilde und etwas, das ich für ein gewaltiges Auge mit einer 31
riesigen, rotglühenden Pupille hielt. Das Wesen, das sich vor mir aus den Tiefen der Erde emportürmte, erkannte ich nicht genau, denn eine grelle Feuerlohe schoß auf mich zu, blendete mich und zwang mich, hastig zur Seite zu springen. Nur knapp entging ich den heißen, lodernden Flammen. Ein lautes Zischen war zu vernehmen. Stinkende Schwefelwolken hüllten mich ein und raubten mir den Atem. Undeutlich sah ich, wie der Zwerg auf der anderen Straßenseite herumhüpfte, in die Hände klatschte und sich freute wie ein Schneekönig. Mich packte die Wut. »Na warte, du Wicht! Ich zieh dir den Hosenboden stramm!« brüllte ich und setzte zu einem erneuten Sprung über die Straße an, aber dagegen hatte der Zwerg etwas. Oder sein ungestümer Helfer - oder beide. Ein gewaltiger Hieb traf mich in den Rücken. Die Füße wurden mir unter dem Leib weggerissen. Ich schlug einen halben Salto und landete unsanft auf den aufgeworfenen Pflastersteinen. Unter Schmerzen rollte ich mich herum und sah ein gewaltiges Schuppengebilde von der Dicke eines ausgewachsenen Eichenstammes auf mich zurasen. Ich vergaß buchstäblich zu atmen. Mir blieb gerade noch Zeit genug, den Kopf zwischen meine Arme zu senken und mich flach auf den Boden zu drücken, bevor die schwarzgrün schillernde Schuppenwand über mich hinwegrollte. Hätte mich der Hieb erwischt, wäre von meinem Kopf wohl nicht mehr viel übriggeblieben. Ich hörte Tessa schreien, dann peitschten Schüsse auf. Meine Freundin feuerte aus ihrer Dienstwaffe auf das Ungetüm, das mich bedrängte. »Spar dir die Kugeln!« brüllte ich über das laute Zischen und Grollen und durch den schwefligen Nebel. »Damit richtest du nichts aus!« Meine Worte wurden durch die Querschläger bestätigt, die nach allen Seiten davonpfiffen. Ich duckte mich wieder, um nicht von einer verirrten Kugel getroffen zu werden. Dafür hatte der Zwerg auf der anderen Straßenseite weniger Glück. Während das Ungetüm aus dem Erdinnern ein infernalisches Wutgebrüll anstimmte, unterbrach der Gnom urplötzlich seinen Freudentanz, wurde hochgehoben und gegen 32
einen Laternenmast geschleudert, an dem er leblos herunterrutschte. Ungläubiges Erstaunen malte sich in seinen Gesichtszügen ab. Tessa hatte ihr gesamtes Magazin verschossen. Acht Kugeln von Kaliber neun Millimeter waren nicht stark genug gewesen, meinen unheimlichen Angreifer aufzuhalten. Im Gegenteil, sie hatten seine Wut nur noch angestachelt. Der Zorn der dunklen Kreatur richtete sich nun gegen Tessa. Auch sie wurde mit einer Feuerlohe bedacht. Tessa wich schreiend zurück, um sofort einen brutalen Schlag zu kassieren, der sie von den Beinen riß und ihr die Pistole aus der Hand prellte. Ich warf mich herum, krabbelte auf allen vieren über die Gesteinstrümmer auf Tessa zu, um sie aus dem Gefahrenbereich zu zerren. Aber ich würde sie nicht mehr rechtzeitig erreichen, das war mir sofort klar. Ein dunkles, drohendes Gebilde wuchs wie ein Haus vor mir aus dem Boden. Oben, auf dem höchsten Punkt des Höllenwesens, das ich immer noch nicht deutlich erkannte, saß ein kleiner, feuerroter, schmalbrüstiger Wicht, der mit haßverzerrtem Gesicht einen Dreizack schwenkte. In dem nackten, roten Zwerg glaubte ich einen kleinen Teufel zu erkennen. Bevor ich mich zwischen Tessa und die Kreatur werfen konnte, erhielt ich Unterstützung von unerwarteter Seite. Neben Tessas zusammengekauerter Gestalt flirrte die Luft. Ein Schemen entstand und verdichtete sich zu der muskulösen, schlanken Gestalt eines jungen Mannes. Auch er war mittelalterlich gekleidet, trug Schaftstiefel, Leinenhosen und ein grünes Wams. Ein ebenfalls grüner Hut mit Fasanenfeder zierte sein blondgelocktes Haupt. Zarter, blonder Flaum bedeckte Oberlippe und Kinn des recht jungen Mannes. Der Knabe war mit einem Langbogen und einem reich verzierten Schwert bewaffnet und trug einen Köcher an der Seite, aus dem mehrere Pfeile ragten. In seiner Aufmachung erinnerte er mich an Robin Hood. Die Augen des jungen Recken funkelten wütend. Er hatte die gefährliche Situation sofort erfaßt, zog einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne und ließ ihn nach oben schwirren. 33
Der Pfeil prallte an der schuppenbewehrten Höllenkreatur ab. Der kleine rote Teufel kicherte kreischend und schwang seinen Dreizack. »Fahr zur Hölle!« brüllte der Bogenschütze mit klarer Stimme. »Niemand lacht über Veit aus Apolda!« Bedächtig legte er einen neuen Pfeil auf die Sehne und ließ ihn schwirren. Das Geschoß sirrte nur kurz und drang der Teufelsgestalt mitten in die Hühnerbrust. Das schrille Gekicher des Teufels verstummte. Einen Augenblick lang saß er stocksteif da, breitete dann die Arme aus, verlor den Dreizack und kugelte Hals über Kopf von der schuppigen Höllenkreatur herab. Er landete in der Kloakenpfütze neben dem leblosen Torso. Es zischte, als der feuerrote Körper des Teufels mit der stinkenden Brühe in Berührung kam und sich auflöste. Der Gestank, der in einer dunklen Wolke nach oben stieg, war kaum zu ertragen. Die riesige Kreatur brüllte laut, wand sich, hieb um sich und stieß lodernde Feuerlanzen aus. Der Recke warf den Langbogen weg, stellte sich schützend vor Tessa und zog sein Schwert. Die Klinge gleißte im Licht der Flammen und der Straßenbeleuchtung. Wild fuchtelte der Recke vor seinem höllischen Gegner herum und versetzte ihm mehrere Streiche, die der Kreatur wütende Schreie entlockten. Behende entging der blonde Knabe den Feuerlohen, wurde dann aber von einem Schlag der Kreatur erwischt und mehrere Meter weit durch die Luft geschleudert. Ich hatte die Gelegenheit benutzt, war unter der Höllenkreatur hindurchgelaufen, hatte Tessa gepackt und mich mit ihr außer Reichweite der Flammen gebracht. Schwer atmend kauerten wir in der Nähe unseres tapferen Helfers auf dem Boden und beobachteten, wie sich die dunkle Schuppenkreatur zurückzog. Sie brach einfach mit dem winzigen Teil des massigen Körpers, den wir zu sehen bekamen, den Boden auf und verschwand in der Tiefe. Das Stadtbauamt von Weimar wird sich freuen, dachte ich beim Anblick des aufgerissenen Straßenbelags. Blieb noch der Zwerg auf der anderen Straßenseite. Er hatte sich von dem Blei bereits erholt. Da auch er ein schwarzmagisches Wesen war, konnte ihm herkömmliche Munition kaum etwas anhaben. 34
Die Kette des Morgensterns rasselte, als er die gefährliche Waffe zornentbrannt schwang. »So, und nun zu dir, Freundchen. Wollen wir doch mal sehen, was du mir erzählen kannst«, sagte ich und stand auf. »Ich verrate dir nichts, Großer! Aus mir kriegst du nichts heraus!« zeterte der Zwerg. »Und du wirst es nie erhalten! Ich werde dafür sorgen, daß du deine schmierigen Finger von meinem Eigentum läßt!« Ich war verblüfft. Offenbar war der Zwerg davon überzeugt, daß ich ihn berauben wollte. Aber ich hatte bislang nicht die geringste Ahnung von seiner Existenz gehabt. »Kannst du mir verraten, wovon du sprichst?« fragte ich. Die Augen des Zwergs funkelten zornig. »Pah, spiel hier nicht die Unschuld! Ich werde verhindern, daß du deine gierigen Hände nach dem ausstreckst, was mein ist!« Der Gnom mit dem Morgenstern griff wieder an. Wieselflink rannte er auf seinen kurzen Beinchen auf mich zu, schlug mehrere Haken und brachte einen gemeinen Hieb mit der Eisenkugel an, der mich genau zwischen den Beinen hätte treffen sollen. Und das wäre dem Männchen auch gelungen, wenn ich stehengeblieben wäre. Ich tat ihm den Gefallen nicht, sondern sprang hoch, kam auf seinen schmalen Schultern zum Stehen, drückte den Kleinen in die Knie, sprang hinter ihm zu Boden und versetzte ihm einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten. »O, diese Schmach!« gellte der Schrei des Zwerges auf. »Man tritt einen König nicht in den Hintern! Dafür haue ich dich in Stücke!« Ich hatte allmählich genug von dem Spiel. Der Zwerg war gefährlich und hatte Tessa und mir einen schier unbezwingbaren Gegner auf den Hals gehetzt. Ich war stocksauer. Die Kette des Morgensterns rasselte wieder drohend. Ich ballte die Fäuste. Diesmal mußte ich den Wicht entwaffnen und dieser Komödie ein Ende bereiten. Der Morgenstern sauste heran. Ich unterlief den Schlag, packte den Schaft der Waffe und rang mit dem Zwerg, der eisern am Griff des Morgensterns festhielt und mich mit Faustschlägen traktierte. Ich riß meinen kleinen Gegner zur Seite, packte seine Kehle, 35
hob den zappelnden Gnom hoch und schleuderte ihn gegen eine Hauswand. Die Luft wich pfeifend aus seinen Lungen. Sein Griff lockerte sich, und ich konnte ihm den Morgenstern abnehmen. Angewidert warf ich die Waffe von mir. »So, jetzt werden wir uns ein wenig unterhalten, du Zwerg!« sagte ich. Doch der Angesprochene beachtete meine Worte kaum. Wie gebannt hing sein Blick auf der anderen Straßenseite. Täuschte ich mich, oder war ein Hauch von Angst in seinen Augen zu lesen? Ich schaute über die Schulter zurück und erkannte den blonden Recken, der mit gezücktem Schwert und grimmigem Blick neben Tessa stand. Er mußte einen mächtigen Eindruck auf den Zwerg machen. »Du bist einen Schritt zu weit gegangen, Cyrillis!« rief der junge Recke. »Diesmal entkommst du mir nicht!« Der Recke hetzte mit weiten Sprüngen zu uns herüber und schwang die Klinge. Mich interessierte, mit wem ich es hier überhaupt zu tun hatte. »Halte ein!« rief ich und schob mich vor den Zwerg. »Es ist genug Blut geflossen! Ich bin dir zwar für deine Hilfe dankbar, doch ich will diesen Zwerg lebend haben. Ich möchte ihm einige Fragen stellen!« »Aus dem Weg, Herr Hellemann! Der teuflische Gnom gehört mir!« Der Knabe kennt mich! wunderte ich mich. »Nicht, bevor ich ihn befragt habe!« erwiderte ich bestimmt und hielt den anstürmenden Recken auf. Ich bekam keine Gelegenheit mehr, den Gnom auszuquetschen. Er versetzte mir einen kräftigen Tritt unter das Kinn, daß mir die Zähne klapperten, befreite sich aus meinem Griff, wieselte einige Schritte von mir weg, riß wilde Possen und schob sich die Kapuze vom Kopf. Seine Hände verschwanden unter dem Wams und kamen gleich darauf mit einer kleinen, leuchtend roten Mütze zum Vorschein. Der Zwerg winkte uns grinsend zu, zog die Mütze über das Haar und war im nächsten Augenblick spurlos verschwunden. »Verflucht, Herr Hellemann, Ihr habt ihm die Gelegenheit gegeben, zu entfliehen. Er hat seine Tarnkappe benutzt! Dieser verdammte Zwerg! Ihr hättet ihn mir überlassen sollen. Wenn Ihr nicht auserwählt wäret, würde ich Euch den Fehdehandschuh 36
zuwerfen!« Mein Ring hatte sich wieder beruhigt und zeigte keinerlei dämonische Ausstrahlung an, obwohl ein Mann aus der Vergangenheit vor mir stand. »Wer bist du?« fragte ich, ohne auf die wütenden Worte des Recken einzugehen. »Ich werde Veit genannt. Ich bin ein Edelknabe am Hofe des Grafen zu Apolda! Und der, den Ihr entkommen ließet, war Cyrillis, der König der Zwerge!« »Bedaure, aber ich habe weder von ihm noch von dir jemals etwas gehört.« Veit neigte den Kopf. »Ich komme aus einer längst vergangenen Zeit, als Cyrillis und seine Zwerge das ganze Thüringerland heimsuchten. Die Kraft meines geweihten Schwertes führte mich hierher, um Euch zu warnen. Ihr schwebt in großer Gefahr, Herr Markus. Die Hölle hat sich Cyrillis zu Diensten gemacht und ihn auf Euch angesetzt! Ihr müßt rasch handeln, oder Eure und auch meine Heimat wird für immer verloren sein.« »Dann droht mir also von dem Gnom und seinen Gefolgsleuten Gefahr?« Veit schüttelte den Kopf, daß die Locken wirbelten. »Nicht nur von den Zwergen, Herr Markus. Cyrillis verfügt über mächtige Helfer. Einen von ihnen habt Ihr vorhin erlebt. Wenn Ihr nicht rasch handelt, wird in dieser Stadt kein Stein auf dem anderen bleiben. Und auch meine Heimatstadt wird in Schutt und Asche versinken!« »Wer oder was war diese Kreatur? Wie kann ich ihr beikommen?« Der Edelknabe drehte sich um, ging zu seinem Bogen und hob ihn auf. »Ich kann Euch nicht mehr sagen, Herr Markus! Ich bin nur gewiß, daß die Hölle zu einem gewaltigen Schlag ausgeholt hat. Ihr seid ein Auserwählter und könnt das drohende Unheil abwenden. Doch es wird viel Kraft und Schmerzen kosten, Herr Markus. Hütet Euch vor dem verzehrenden Feuer der Hölle!« Die Gestalt des Recken wurde durchscheinend. Ich lief auf ihn zu. »Warte, Veit! Geh noch nicht! Sag mir, was mich erwartet!« Veit hob die Hand zum Abschiedsgruß. »Mehr vermag ich Euch nicht zu sagen, Herr Markus. Gebt auf Euch acht! Doch es mag sein, daß Ihr wieder von mir hört!« Veits Worte hallten mir aus der Dunkelheit entgegen. Der junge Recke war in seine Zeit 37
zurückgekehrt. »Bist du in Ordnung?« fragte ich und näherte mich Tessa, um ihr den Arm um die Schultern zu legen. »Rühr mich nicht an!« zischte sie und wich zurück. »Du denkst wohl, du kannst diesen komischen Zwerg und den Toten als Vorwand nehmen, um wieder einen auf heile Welt zu machen, was?« »Tessa, ich wollte doch nur…« »Ich kann mir denken, was du wolltest! Vom Thema ablenken, das wolltest du! Aber ich hab die kleine Cornelia noch nicht vergessen. Geh doch zu ihr und wärm ihr den Hintern!« Abrupt drehte sich Tessa um und ließ mich stehen, während ich das Handy aus der Tasche zog, um Pit zu benachrichtigen. * Der Mann mit der Narbe grinste. Es war ein häßliches Grinsen, das sein Gesicht zu einer Fratze verzerrte. Er kauerte über dem schmalen Tisch und hatte eine Uhrmacherlupe vor das Auge geklemmt. Neben sich hatte er ein Foto liegen, das einen jungen, langhaarigen Mann zeigte. »Du hast es also tatsächlich geschafft«, murmelte er. »Ich hab gewußt, daß du gut bist. Aber du hattest auch verdammtes Glück. Das nächste Mal, mein Freund, wirst du noch viel mehr Glück brauchen. Ich sorge dafür, daß du bald vor Schmerzen brüllst. So, wie ich gebrüllt habe!« Der Mann fuhr sich mit den Fingerspitzen über die tiefrote Narbe, die sich von der rechten Augenbraue über die Wange bis zum Mundwinkel zog. Ein fanatischer Glanz lag in seinen dunklen Augen. Langsam schaute er über den Tisch. Im Aschenbecher lag eine halb gerauchte Zigarette. Weiße Kerzen spendeten flackerndes Licht. Nur schwach wurde das dunkle Gewölbe erhellt. Es war spartanisch eingerichtet. Ein Feldbett, der Tisch und ein schäbiger Sessel bildeten das einzige Mobiliar. Der Tisch war mit Kleinteilen übersät. Pinzetten, Präzisionswerkzeuge, ein Lötkolben, eine Plastiktüte mit einer grauen Knetmasse, Zündkapseln, Sender, Empfangsteile. Der Mann schob den schwarzen Filzhut in den 38
Nacken und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Erst als er sich über die Kleinteile beugte, wurde sein Gesicht vom Kerzenlicht beschienen. Die Gesichtsnarbe war jetzt in ihrer ganzen schrecklichen Länge zu sehen. Aber sie war nicht das einzige Manko in dem markanten Gesicht. Auf der Stirn, der Kopfseite und der linken Gesichtshälfte waren häßliche Brandnarben zu erkennen. Sie waren der Grund, warum der Mann immer einen Hut oder eine Mütze trug und sich nicht gern zeigte. Er schämte sich für seine Entstellungen. Er traute sich nicht mehr unter die Menschen. Aber auch wenn er nicht von gräßlichen Narben gezeichnet gewesen wäre, hätte er sich am liebsten verborgen gehalten. Er lebte nur noch für seine Rache und wollte nicht entdeckt werden, bevor er am Ziel war. Aber er hatte auch noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Sein mächtiger Partner aus dem Reich der Finsternis hatte vor Wut getobt, als er ihm vom Scheitern seines ersten großen Auftrages vor einigen Wochen erzählt hatte. Der Mann mit der Narbe hatte Mephisto beschwichtigen können. Irgendwie schien der Teufel einen Narren an ihm gefressen zu haben, denn er hatte ihn in seinem Zorn nicht vernichtet. Im Gegenteil, er hatte ihm einen neuen Auftrag erteilt. Eine Mission, die es ihm ermöglichte, Marks Heimatstadt ins Verderben zu stürzen und ihn dabei zu töten. Und gleichzeitig würde ein Gelingen des Plans die Gegend um Weimar zu einem Hort des Bösen machen. Von hier aus würde der Teufel seine Dämonenscharen über das ganze Land verbreiten können. Der Mann mit der Narbe kicherte bei dem Gedanken. Er hätte nie gedacht, daß es ihm soviel Vergnügen bereiten würde, dem Teufel zu dienen. Er hatte sämtliche Freiheiten, stand unter besonderem Schutz und konnte sich immer neue Scheußlichkeiten ausdenken. In einem dunklen Teil des Raumes flirrte die Luft. Der Mann mit der Narbe bemerkte es nicht. Konzentriert arbeitete er mit den Gegenständen auf dem Tisch. Auch diese Fähigkeit und das technische Verständnis hatte er Mephisto zu verdanken. Der Höllenfürst hatte die teuflische Intelligenz des Mannes genährt, gefördert und ihn zu einem wahren Genie des Bösen gemacht. »Es ist uns leider nicht gelungen, die Frau in unsere Gewalt zu bringen«, sagte eine piepsige Stimme aus dem dunklen Bereich 39
des Raumes. Der Mann mit der Narbe ließ sich nicht unterbrechen. In keinster Weise zeigte er, ob er über das plötzliche Auftauchen seines Besuchers erschrocken war. Er brachte verschiedene Drähte innerhalb eines kleinen Mechanismus an und lötete sie fest. Dann erst drehte er sich um und musterte seinen Besucher. Der Zwerg breitete die Arme aus. »Sie erhielt Hilfe! Der große Mann war unheimlich stark, und dann kam dieser Bogenschütze dazu!« »Ich weiß!« sagte der Mann mit der Narbe und zog den breitrandigen Filzhut tiefer. »Nichts ist mir entgangen! Ihr habt euch benommen wie Anfänger. Mephisto wird nicht sehr erfreut sein, wenn ich Ihm von deinem Versagen berichte.« »Es ist nicht unsere Schuld! Ich hatte den Träger des Rings abgelenkt. Ich hatte einige Männer bereitstehen. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Frau zu entführen. Aber gegen den Bogenschützen hätten sie nicht ankommen können. Und der Gedanke, daß der Träger des Rings meinen Schatz an sich reißen könnte, ließ mich leider die Beherrschung verlieren.« Der Mann mit der Narbe hob eine versengte Augenbraue. »Du hast ihm von dem Schatz erzählt?« »Es ist mir in der Aufregung herausgerutscht.« »Cyrillis, du bist ein Narr!« zischte das Narbengesicht. Der Zwergenkönig senkte beschämt den Kopf. Der Mann mit dem Hut schloß die Augen und dachte nach. »Hellmann wird deine Worte zum Anlaß nehmen, Nachforschungen über dich anzustellen, Cyrillis. Er wird auch versuchen, etwas über den Bogenschützen herauszufinden. Nun, ich werde eben dafür sorgen müssen, daß er nicht allzu viel Zeit dafür hat. Ich will nicht, daß Hellmann dein Eigentum an sich bringt.« »Ich allein kenne das Versteck meiner Schätze. Mach dir keine Sorgen, sie sind gut behütet und im ganzen Land verteilt.« »Das hoffe ich für dich, Zwerg. Du hast deine Reichtümer uneingeschränkt der Hölle zur Verfügung gestellt, vergiß das nicht. Dafür hast du von Mephisto die Erlaubnis erhalten, wieder auf Erden zu wandeln. Mephisto ist in diesen Dingen sehr heikel. Er legt großen Wert darauf, daß seine Verträge eingehalten werden.« »Willst du etwa behaupten, ich würde den Teufel betrügen?« 40
brüllte Cyrillis. »Du wärst nicht der erste, der es versucht. Und du wirst nicht der letzte sein«, meinte der Narbenmann lakonisch und wandte sich wieder dem Tisch zu. »Was wirst du jetzt unternehmen?« fragte der Zwerg schüchtern. »Es ist zu dumm, daß diese Leiche an die Oberfläche gespült wurde. Das hätte nicht passieren dürfen, aber es ist nun mal nicht zu ändern.« Er überschaute das Durcheinander auf dem Tisch und lächelte. »Jetzt werde ich mein kleines Spiel mit Hellmann weitertreiben. Ich werde ihn mit ein paar netten Überraschungen auf Trab halten, bevor er mitten im Inferno steht! Und du wirst mir dabei helfen, Zwerg.« Der Mann mit der Narbe legte seinen Kopf zurück und lachte heiser. * »Mußte das sein?« fragte Pit verärgert. »Kurz vor Feierabend noch eine Leiche!« Der Hauptkommissar war mit etlichen Beamten von der Kriminaltechnik und dem Polizeiarzt angerückt. Man hatte die Fundstelle der Leiche inzwischen abgesperrt und war dabei, Spuren zu sichern. »Können Sie schon etwas sagen, Doktor?« fragte Pit den Mediziner. Der Polizeiarzt schaute auf. »Der Tod trat vor etwa zehn bis zwölf Stunden ein.« »Also gegen zehn heute früh. Todesursache?« »Wäre er am Strand gefunden worden, hätte ich auf einen Haiangriff getippt. Aber so… Trotzdem, die Wundränder lassen auf eine Bißwunde schließen. Genaueres erfahren Sie nach der Obduktion.« Pit dankte und ging zum Kollegen des Erkennungsdienstes. »Hast du was für mich, Walter?« »Fehlanzeige. Hier oben ist absolut nichts zu finden. Wir werden wohl oder übel auf Tauchstation gehen müssen.« Der Beamte deutete nach unten. »Seid vorsichtig. Nach dem Knall in der Siedlung Landfried heute morgen krieg ich eine Gänsehaut, wenn ich das Wort Kanalisation höre.« Er blickte sich um. »Und wieso sieht es hier 41
aus wie auf einem Schlachtfeld?« »Die Frage beantworte ich dir nicht«, sagte ich. »Du würdest mir sowieso nicht glauben.« »Sag bloß, dafür ist auch die Hölle verantwortlich.« »So könnte man es ausdrücken. Brauchst du mich noch?« fragte ich. Pit hob ergeben die Schultern. »Nein, du kannst nach Hause fahren. Wo hast du Tessa gelassen?« Ich hob die Schultern. »Sie war eingeschnappt. Grundlos eifersüchtig.« »So sind die Frauen eben. Mach dir nichts draus. Eifersucht belebt jede Beziehung.« »Aus dir spricht der Fachmann, wie? Du hast deinen Beruf verfehlt, Pit. Als Eheberater wärst du besser aufgehoben. Und besser verdienen würdest du wohl auch.« Ich duckte mich unter dem Absperrungsband hindurch. Soeben trafen die ersten Kollegen von der Presse ein. Jemand klopfte mir auf die Schulter. »Sie sind aber auch überall dort anzutreffen, wo etwas los ist«, sagte eine wohlbekannte Stimme hinter mir. Ich wandte mich um und lächelte Cornelia Wedekind zu. »Ihr Nachrichtendienst funktioniert auch ganz gut.« Die Volontärin zwinkerte verschmitzt. »Kann mich nicht beklagen. Wo haben Sie denn Ihre Freundin gelassen?« »Fragen Sie lieber nicht.« »Sie können mir aber was über den Leichenfund erzählen. Schließlich waren Sie ja vor Ort.« »Wie kommen Sie denn darauf?« fragte ich. »Es könnte doch sein, daß ich erst kurz vor Ihnen dort eintraf.« Die Blondine lehnte sich an mich. »Sie sind ein schlechter Schwindler, Mark. Ich gebe nicht eher Ruhe, bis Sie mir alles haarklein erzählt haben!« Ich gab nach, versorgte sie mit ein paar Einzelheiten zum Sprengstoffanschlag und dem Leichenfund. Und als sie noch mehr wissen wollte, über Mark Hellmann privat und so, da machte ich mich aus dem Staub. Ärger mit der eifersüchtigen Freundin und diesen ganzen Fall am Hals, das war schon mehr, als einer allein verkraften kann. Es war eine Ahnung, ein inneres Gefühl, das mich warnte, als ich es mir daheim auf dem Bett bequem gemacht hatte. Etwas stimmte nicht, aber ich hätte nicht mit Bestimmtheit sagen 42
können, was es war. »Nervös?« Die Stimme war plötzlich da. Ich zuckte zusammen und wirbelte herum, sah jedoch niemanden. »Es ist schon komisch, wenn man eine Stimme hört und nicht sieht, wem sie gehört, was?« Ich wußte, wer hier zu mir sprach. Es war die Stimme des Mannes, der mich am Morgen in der Siedlung Landfried angerufen hatte. Die Stimme des Bombenlegers! »Vergeude deine Zeit nicht mit Nachdenken, Hellmann! Du kommst sowieso nicht dahinter, wer ich bin. Heute morgen hast du verdammten Dusel gehabt, aber das wird nicht immer so sein. Du wirst leiden, Hellmann. Furchtbar leiden!« Ein häßliches Kichern folgte den Worten des Unbekannten. Ich näherte mich der Stereoanlage. Kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn. Wenn hier in der Wohnung ein Sprengsatz versteckt war, konnte sich die Bude jederzeit in ihre Einzelteile auflösen. In fieberhafter Eile untersuchte ich die Anlage, fand jedoch kein schwarzes Kästchen, wie es im Wagen angebracht worden war. »Suchst du den Zünder?« Die Stimme machte sich über mich lustig und stachelte gleichzeitig meine Wut an. »Dann such mal schön, Hellmann! Ein blinder Hahn findet auch mal einen Wurm!« Ich knirschte mit den Zähnen. Der Kerl trieb mich zur Raserei. Hastig suchte ich das Wohnzimmer ab, schaute unter und hinter den Möbeln nach. Nichts. Das kreischende Lachen des Irren fraß sich in meinen Kopf, als ich ins Schlafzimmer stürmte. Ich beugte mich über den Radiowecker. Atemlos verfolgte ich, wie die Uhrzeit der LCD-Anzeige erlosch und andere Ziffern im Sichtfeld erschienen. »Bist du schon dort, Hellmann?« hörte ich die Stimme des Irren. »Paß auf: Drei, zwei, eins - Feuer!« Auf dem Anzeigefeld des Weckers erschienen die Ziffern 0.3. Dann 0.2. Ich wirbelte herum und hechtete in den Wohnraum. Nichts geschah. Keine Explosion. Kein Knall. Keine Druckwelle. Aus der Stereoanlage hörte ich das piepsende Geräusch eines Herzschlagmessers. Piep - piep - piep - piiiieeepp! Der nervenzerfetzende Ton schmerzte in meinen Ohren. Ich hastete zur Anlage und zog den Stecker. Stille trat ein. Aber nur 43
für einen Augenblick. Mit einem dumpfen Whummpf! schoß eine Stichflamme aus der Mitte des Bettes! Mein Futonbett stand in hellen Flammen! Ich sprang ins Schlafzimmer, zerrte einen Bettvorleger hoch und warf ihn auf die Flammen. Mit hastigen Bewegungen erstickte ich den Brand. Beißender Rauch stieg mir in die Nase. Hustend und niesend stand ich vor den schwelenden Trümmern meines Bettes. Sicherheitshalber holte ich einen Eimer Wasser aus dem Badezimmer und schüttete ihn über die Brandstelle. Ohnmächtige Wut packte mich. Wenn ich den Kerl in die Finger bekam, konnte er sein Testament machen! Zum dritten Mal innerhalb weniger Stunden griff ich zum Telefon und alarmierte Pit Langenbach. *
»Also doch Polizeischutz!« rief Pit. »Zuerst fliegt die halbe Siedlung Landfried in die Luft, und dann fackelt dir jemand das Bett unterm Hintern ab. Jetzt ist Schluß, Mark. Ich kann nicht verantworten, daß du als lebende Zielscheibe durch die Gegend rennst und Kopf und Kragen riskierst. Hast du einen Anhaltspunkt, wer hinter den beiden Anschlägen stecken könnte?« »Nicht den geringsten«, gab ich zu. »Mir drängt sich der Verdacht auf, daß der freundliche Zeitgenosse mit mir Katz und Maus spielt. Ich glaube, er hat noch ein paar Spielchen in petto.« »Wenn du dich nur nicht irrst. Am Ende verliert unser Freund die Lust am Spielen und macht kurzen Prozeß. Was dann?« »Hast du schon mal von einem Täter gehört, der zweimal hintereinander am selben Ort zuschlägt?« Pit rümpfte die Nase. »Selten, aber das gibt's, deshalb werde ich Kollegen auf der Straße Streife gehen lassen.« Der Rest der Nacht verlief zum Glück ohne weitere Zwischenfälle. Ich schlief ein paar Stunden. Der Morgen begrüßte mich mit einem trüben Himmel. Obwohl wir noch weit vom Sommer entfernt waren, hatte ich das Gefühl, 44
als brauten sich dunkle Gewitterwolken über mir zusammen. Ich genehmigte mir eine Tasse Kaffee und beschloß, in die Siedlung Landfried zu fahren. Es gab da einige Punkte, die ich mit meinem Vater abklären wollte. Aber diesmal rüstete ich mich für einen erneuten Angriff der höllischen Heerscharen. Mit Pistole und Einsatzkoffer verließ ich meine Bude. Als ich zuversichtlich die Treppe nach unten stieg, öffnete sich die Wohnungstür meines Vermieters. Der Mann hatte mir gerade noch gefehlt. Er holte tief Luft und streckte mir seine schmale Brust unter dem Feinripp-Unterhemd entgegen. Seine Daumen hatte er hinter die breiten Hosenträger geklemmt, die seine Beinkleider an Ort und Stelle hielten. »So früh schon auf den Beinen, Herr Hellmann?« fragte er freundlich und rieb sich über die Gesichtshälfte, die er schon rasiert hatte. In mir schrillten die Alarmglocken. Der Mann war zu seinen Mietern so freundlich wie die Schlange zur Maus. »Sie kennen doch das Sprichwort von der Morgenstund'«, gab ich zurück und wollte an ihm vorbei zur Haustür. »Es wundert mich aber, daß Sie heute nicht ausschlafen, Herr Hellmann. Wo Sie doch so eine anstrengende Nacht hinter sich haben.« »Woher wollen Sie das wissen, Wertester? Sie waren doch nicht dabei.« »Das kann man so nicht sagen«, druckste der Hauswirt herum. »Lauschen ist interessanter als Fernsehen, was?« »Also, hören Sie mal! Sie tun ja gerade so, als beobachte ich jeden Ihrer Schritte.« »Tun Sie das etwa nicht? Dann frage ich mich, woher sie die roten Ränder um ihre Stielaugen haben. Und die Ohren liegen auch schon ganz eng am Kopf an, vom vielen Lauschen.« Erschrocken starrte mich der Hauswirt an. Seine Hände zuckten zum Gesicht, befühlten Augen und Ohren. »Meinen Sie? Ich habe doch kaum… Aber mit den Augen habe ich tatsächlich Probleme. Das brennt so…« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Ich hab da jemanden im Bekanntenkreis, dem ging es genauso. Fing ganz harmlos an. Juckende Ohren, brennende Augen, und jetzt?« Ich schüttelte den Kopf. »Der Ärmste.« »Was meinen Sie damit?« 45
»Er ist unheilbar krank«, sagte ich leise. »Was hat er denn? Krebs?« Die Stimme klang ängstlich. »Akute Akkustooptikalozose. Das ist eine Schädigung der Hörund Sehnerven, sie frißt sich über die Nervenstränge bis ins Gehirn.« Mein Vermieter war leichenblaß geworden. »Und woher kommt das?« »Im Vertrauen - mein Bekannter hat seinen Mitbewohnern hinterherspioniert. Das hat er nun davon.« Der schmächtige Mann schreckte zurück. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. »So was sollte man wirklich nicht tun! Sie müssen mich entschuldigen, Herr Hellmann. Ich fühle mich auf einmal nicht wohl. Einen schönen Tag noch«, wünschte er mir. Grinsend huschte ich nach draußen in die kalte Morgenluft und schob mich hinter das Steuer meines BMW. Meine Eltern hatten sich einigermaßen von dem Schrecken über den Sprengstoffanschlag erholt. Lydia brühte ihren Spezialkaffee auf, während ich mich zu meinem Vater ins Arbeitszimmer begab. »Er hat es wieder versucht«, begann ich ohne Umschweife, aber so leise, daß meine Mutter nichts hörte. Ulrich nahm die Brille ab und hob fragend die Augenbrauen. »Gestern nacht«, fügte ich hinzu. »Mein Bett ist in Flammen aufgegangen.« »Mit dir ist alles in Ordnung?« Ich nickte. »Er hat mich kurz zuvor gewarnt. Wie beim ersten Mal.« »Hast du immer noch keine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?« »Nein.« »Hattest du eine Begegnung mit Dämonen?« Ich nickte. »Ja, bevor mein Bett eingeäschert wurde. Ich habe einen Toten gefunden und wurde gleich darauf von einem Zwerg und einem Ungeheuer aus der Kanalisation angegriffen. Ein junger Edelmann aus dem Mittelalter stand Tessa und mir bei.« Ulrich Hellmann runzelte die Stirn. »Und wo können wir nachhaken?« »Ich habe zwei Namen für dich. Der Zwerg heißt angeblich Cyrillis, und der Edelmann nennt sich Veit und stammt aus Apolda. Mehr weiß ich auch nicht.« Mein Vater stemmte sich langsam aus seinem Sessel, humpelte 46
zum PC und lächelte ein paar Augenblicke später. »Mach's nicht so spannend, Vater.« »Über Veit ist nichts drin, aber über Cyrillis, er ist ein entfernter Verwandter des Zwergenkönigs Albarich, den du aus der Nibelungensage kennst. Albarich hat damals angeblich ein riesiges Zwergenreich beherrscht und ungeheure Reichtümer angehäuft. Bei Cyrillis war es ähnlich. Er befehligte die Zwerge und Kobolde, die sogenannten Unterirdischen, im Raum Thüringen und Sachsen. Auch Cyrillis hat angeblich Schätze gesammelt und sie an verschiedenen Stellen verborgen. Es gibt mehrere Sagen über Schatzgräber, die in alten Zeiten nach den Reichtümern gesucht, sie aber nie gefunden haben.« »Und wie Albarich hatte Cyrillis die Gabe, sich mittels einer Tarnkappe unsichtbar zu machen«, vollendete ich. »Richtig, mein Junge. Woher weißt du das?« »Er hat es mir vorgemacht.« Ich stellte die Tasse ab und ging zum Fenster. »Der Zwerg hatte Angst, daß ich es auf seine Schätze abgesehen haben könnte. Er hat immer wieder davon gesprochen, daß ich die Finger von etwas lassen soll, das ihm gehört.« »Der Zwergenkönig war unvorsichtig und vorlaut. Er hätte den Mund halten sollen. So aber hat er dich direkt auf seine Reichtümer gestoßen.« »Ich frage mich nur, wie das Auftauchen des Zwergs mit dem Toten aus der Kanalisation und diesem Edelknaben zusammenhängt.« Ulrich suchte weiter und überlegte angestrengt. Ich ließ ihm Zeit, obwohl ich vor Ungeduld schier platzte. »Dieses Ungeheuer, das du erwähnt hast. Wie hat es ausgesehen?« Ich konnte ihm das Wesen nur vage beschreiben. »Das Licht war schlecht, und es ging alles viel zu schnell. Ich weiß nur, daß es eine schwarz-grün schillernde Schuppenhaut hatte und einen unförmigen, schwarzen Körper.« »Könnte es ein Drache gewesen sein?« »Schon möglich. Das würde die Schuppenhaut und die Flammen erklären.« »Nicht so schnell mit den jungen Pferden. Du hast noch nicht genügend Beweise, um dich auf die Drachentheorie zu versteifen. Aber ein Drache ist das einzige monsterartige Wesen, das ich mit 47
Zwergen in Verbindung bringen kann. Der Sage nach hatte Cyrillis selbst die Macht über einige Drachen und hat sie sozusagen als Haustiere gehalten.« »Dieser Zwerg wird mir immer unsympathischer«, brummte ich. »Er umgibt sich mit unfreundlichen kleinen Teufeln, will mir den Schädel einschlagen, hat keine Manieren und eine Vorliebe für feuerspeiende Ungeheuer.« »Solange er die Tarnkappe besitzt, bist du gegenüber ihm eindeutig im Nachteil. Was hast du jetzt vor?« »Zumindest kenne ich jetzt einen meiner Gegner. Ich werde Pit besuchen und mich dann in der Bibliothek umsehen, ob ich etwas über Veit entdecke.« Als ich den BMW anrollen ließ, wußte ich noch nicht, daß ich auf direktem Weg in die Hölle war. * »Der Tote, über den du gestern nacht gestolpert bist, ist identifiziert«, sagte Pit, als Tessa an diesem Morgen das Büro betrat. »Morgen, Chef«, brummte die Fahnderin und ließ sich auf einen Drehstuhl fallen. »Im Augenblick interessieren mich Tote herzlich wenig.« »Du siehst blaß aus.« »Vielen Dank für die Blumen. Ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir.« »Alpträume?« Tessa schüttelte stumm den Kopf. »Gibt's wenigstens schon Kaffee?« »Ja, nimm erst mal einen Schluck, dann sieht die Welt schon anders aus.« »Glaube ich kaum«, gab Tessa zurück. »Nicht nach dieser Nacht.« »Streß mit Mark?« »Kann man wohl sagen. - Ich bin so was von blöd. Mark rettet mir das Leben, und ich lasse ihn wegen einer Blondine im Regen stehen, mit der er wahrscheinlich nicht mal was hat. Verfluchte Eifersucht!« Pit atmete tief durch, verkniff sich jedoch irgendwelche 48
Ratschläge. »Hier, das bringt dich auf andere Gedanken«, sagte er und schob Tessa eine Akte zu. »Willi Sachs«, sagte der Hauptkommissar halblaut, um Tessas Lektüre abzukürzen. »Mitarbeiter des Tiefbauamtes in Apolda. Brach gestern früh mit zwei Kollegen zu einer routinemäßige Inspektion der Kanalisation auf. Von seinen Begleitern fehlt jede Spur.« »Was haben Beamte aus Apolda in unserer Kanalisation zu suchen?« »Kollegiale Unterstützung. Unsere eigenen Leute arbeiten rund um die Uhr, um die Stadt zu Goethes zweihundertfünfzigstem Geburtstag auf Vordermann zu bringen. - Wenn sich die Musikhochschule nicht über Geruchsbelästigungen beschwert hätte, wäre Willi Sachs vermutlich noch am Leben.« »Todesursache?« »Man hat seinen Körper in zwei Hälften getrennt«, antwortete Pit knapp. »Das allein hätte unweigerlich zum Tod geführt, aber er hat nichts mehr gespürt. Sachs erlitt kurz zuvor einen Herzschlag. Der Arzt meint, plötzlicher Streß hätte den Herzstillstand herbeigeführt.« »Oder Todesangst«, murmelte Tessa und betrachtete die Schwarzweißaufnahmen des Opfers. Sie sah das vor Angst grausam verzerrte Gesicht des Toten und die schreckliche Bauchwunde. »Weiß man, wer ihn so zugerichtet hat?« »Die Medizinmänner gehen von einem Biß aus. Wenn sie recht haben, muß er von einem riesigen Tier angefallen worden sein. Aber ich kann mir das nicht vorstellen.« »Mark hat mich gestern vor einem Monster gerettet. Ob es dasselbe war?« »Davon hat er mir überhaupt nichts erzählt.« Tessa schloß die Akte und schob sie von sich. »Das Vieh spuckte Feuer und wollte mich bei lebendigem Leib grillen.« Pit erhob sich, vergrub die Hände in den Hosentaschen und marschierte auf und ab. »Ein feuerspeiendes Ungeheuer unter den Straßen der Stadt! Ich habe schon viel erlebt, aber das schlägt dem Faß den Boden aus. Und wie hat das Wesen ausgesehen?« »Genau kann ich es dir nicht beschreiben, Pit. Das Feuer blendete mich, und die Straßenbeleuchtung ließ keinen klaren Blick zu. Aber es war riesig. Ich konnte nur einen Teil des Körpers 49
erkennen. Das Monster war mit Schuppen übersät.« Der Kripo-Mann unterbrach seinen Marsch und starrte vor sich zu Boden. »Wenn da unten wirklich so ein mutiertes Viech existiert, dann Prost Mahlzeit«, kommentierte er leise. Hastig schaute er auf die Armbanduhr. Sein Kopf ruckte herum. »Fahr rüber zur Schützenstraße, Tessa. Die Spurensicherung und das Tiefbauamt haben ein Team zusammengestellt, das die Kanalisation überprüfen soll. Man befürchtet, daß weitere Leichenteile dort unten rumschwimmen. Du mußt die Leute aufhalten. Sie dürfen ohne Begleitschutz nicht da runter.« »Also glaubst du mir?« »Fast, jedenfalls will ich nicht noch mehr Menschenleben riskieren!« Die Fahnderin eilte aus dem Büro und ließ einen nachdenklichen Vorgesetzten zurück. Tessa nahm ihre Suzuki, um schneller voranzukommen. Und doch verfehlte sie das Team knapp. Hilfskräfte des Tiefbauamtes standen um den Einstiegsschacht herum, als Tessa eintraf. »Wie lange sind sie schon unten?« erkundigte sich die Fahnderin. »Knapp fünf Minuten«, bekam sie zur Antwort. »Wer leitet das Team?« »Eine Frau Kollberg.« Tessa kannte die Kommissarin. Rita Kollberg war bei der Spurensicherung. Kurzentschlossen streifte Tessa eine orangefarbene Schutzjacke über, erhielt einen Schutzhelm mit Lampe und ließ sich auf einem Kanalisationsplan den Weg einzeichnen, den das Untersuchungsteam nehmen wollte. Tessa kletterte in den Schacht und wurde sofort auf den starken Schwefelgeruch aufmerksam. Sie erinnerte sich an die Schwefelwolke, die das Ungeheuer letzte Nacht ausgestoßen hatte. Im Schein ihrer Helmlampe studierte Tessa den Plan und wandte sich nach links. So schnell sie konnte, rannte sie den Hauptschacht entlang. Sie wollte das Team um Kommissarin Kollberg warnen. Tessa kam zur Abzweigung Steubenstraße und wandte sich nach rechts. Ihre Stiefel platschten durch das dünne Rinnsal der 50
Kloake, das am Boden entlanglief. Ihr Atem ging schwer. Ein dünner Schweißfilm lag auf ihrer Stirn. Als sie das dumpfe Dröhnen vernahm, das von einem lauten Stampfen begleitet wurde, hielt Tessa inne und lauschte. Die Geräusche schienen weit vor ihr aufgeklungen zu sein und wiederholten sich noch zweimal. Die Fahnderin beschloß, vorsichtiger zu sein. Sie leuchtete in jeden Seitenstollen und bewegte sich nun mit ausgreifenden Schritten vorwärts, aber sie rannte nicht. Das Grollen und Stampfen hatte bei ihr eine Gänsehaut verursacht. Tessa erreichte einen Punkt, an dem sie nach ihrer Berechnung das Team hätte einholen müssen, aber sie fand niemanden vor. Es war eine Stelle, von der mehrere Seitenstollen abzweigten. Hier war die Kloake knöcheltief und tropfte von den Wänden. Es stank erbärmlich. Unschlüssig schaute sich Tessa um, leuchtete in jeden abzweigenden Stollengang und überlegte, ob sie nicht doch lieber dem Hauptkanal folgen oder wenigstens Pit informieren sollte. Aus einem der Seitenstollen gellte ein schriller Schrei. Tessa steckte das Handy wieder ein und wirbelte herum, ging einige Schritte weit in den Seitenkanal und lauschte. Außer dem monotonen Tropfen des Abwassers war nichts zu hören. »Hallo?« rief sie laut. »Hören Sie mich? Antworten Sie!« Alles blieb ruhig. Vorsichtig schlich Tessa weiter, setzte leise einen Fuß vor den anderen. Sie ging gebückt, um nicht irgendwo gegenzustoßen. Unvermittelt erklang abermals ein gellender Schrei. Er ging in dem Grollen und Stampfen unter, das jetzt viel lauter als zuvor klang. »Hallo! Frau Kollberg, können Sie mich hören?« Nur das Echo ihrer Worte antwortete der Fahnderin. Tessa hielt nichts mehr. So, wie sich der Schrei angehört hatte, war ein Mensch in höchster Not! Im Laufen zog sie die Pistole. Ihre Schritte und die keuchenden Atemzüge hallten von den Wänden wider. Ein neuerliches Stampfen ließ den Stollen erzittern. Tessa wurde hin und her geschleudert, prallte mit den Schultern gegen die schmierigen Wände und fluchte laut. Der Boden schien zu beben. Es war das gleiche Phänomen, das sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte. 51
Tessa war auf alles vorbereitet. Sie näherte sich einer Abzweigung. Die Waffe schußbereit, holte sie tief Luft und warf sich in den neuen Stollen. Der Schein der Helmlampe durchdrang die Dunkelheit. Aber der Stollen war leer. Die Fahnderin schloß für einen Moment die Augen, atmete tief durch und setzte ihren Weg fort. Der Schwefelgeruch vermischte sich mit dem Gestank der Kloake. Dieses Gemisch war kaum zu ertragen. Ein ohrenbetäubendes, schrilles Gebrüll brandete der Fahnderin entgegen. Gleich darauf erfolgte wieder das Stampfen, das den Boden unter ihren Füßen zittern und das Abwasser Wellen schlagen ließ. Tessa packte die Pistole fester. Wieder erbebte der Stollen. Tessa hielt sich an den nassen Wänden fest, um das Gleichgewicht zu behalten. Die Kommissarin bewegte den Kopf hin und her, um den Stollen auszuleuchten. Außer triefenden Wänden war jedoch nichts zu erkennen. Ein weiteres Mal erbebte der Stollen, und diesmal erfaßte Tessas Lampe etwas, das ihr den Atem raubte. Zwischen den Rohren und Stromleitungen, die sich über die Stollendecke zogen, bewegte sich ein unförmiger Schemen, rollte zur Seite, zwischen den Verstrebungen hervor und raste auf die Kommissarin zu. Kurz bevor er sie erreichte, verhakte sich der Schemen und blieb wippend in der Luft hängen. Tessa stieß einen gellenden Schrei aus und wich zurück. Im Kunstlicht starrte sie auf das blutverschmierte, verzerrte Gesicht eines Toten! * Es war die Gelegenheit, mit einer sensationellen Story auf sich aufmerksam zu machen. Und Cornelia Wedekind war fest entschlossen, sich diese Chance nicht entgehen zu lassen. Sie hatte von dem Vorhaben der Polizei erfahren, die Abwasserkanäle nach weiteren Leichenteilen abzusuchen. Die blonde Volontärin schnappte sich eine Kamera und ein tragbares Diktiergerät und machte sich auf den Weg zur Schützenstraße, 52
wo man vergangene Nacht den Toten gefunden hatte. Daß dieser Mark sie abgehängt hatte, fand sie nicht nett, ihn dafür um so mehr. Als die angehende Reporterin in der Schützenstraße eintraf, wurde sie aufgehalten. »Was suchen Sie denn hier?« fragte eine Frau mit kastanienrotem Haar. »Eine Exklusiv-Story«, antwortete die Blondine. »Cornelia Wedekind von der Rundschau.« »Da muß ich Sie aber enttäuschen, Schätzchen. Sie werden auf Ihre Story verzichten müssen.« »Ich denke etwas anders darüber.« »Hören Sie, wir wollen hier keine Presse haben. Es kommt nicht in Frage, daß Sie hier rumschnüffeln und die Leute in Panik versetzen. Außerdem wissen wir nicht, was uns dort unten erwartet, und ich will nicht riskieren, daß Unbeteiligten etwas geschieht.« »Ich kann ganz gut selbst auf mich aufpassen«, gab die blonde Volontärin kalt zurück. »Ich werde diese Story schreiben, ob Sie nun damit einverstanden sind oder nicht!« »Kollege!« rief Kommissarin Kollberg. »Schaff mir die Pressemieze vom Hals!« »Das wird er nicht tun! Entweder Sie akzeptieren, daß ich Sie begleite und die Wahrheit schreibe, oder die Leute lesen morgen früh, was ich vermute. Und dann werden Sie mächtig viele Fragen zu beantworten haben.« »Sie bluffen!« Die Volontärin lächelte süffisant. »Wie Sie meinen, Frau Kommissarin!« Die beiden Frauen starrten einander an, und Frau Kollberg trommelte ihre Leute zusammen. Das Team bestand aus sechs Personen, inklusive der Kommissarin. Zwei Männer gehörten dem Tiefbauamt an. Die Kommissarin und drei Kollegen von der Spurensicherung nahmen ihre Alukoffer auf. Vorsichtig stiegen die Teammitglieder in die Tiefe. Die Volontärin bildete das Schlußlicht. »Sie bleiben dicht bei mir«, bestimmte die Kommissarin, die mit diesem Satz nachgegeben hatte. »Damit Sie nicht verlorengehen.« »Das käme Ihnen doch gerade recht«, meinte Cornelia. »Keine lästige Reporterin, keine schlechte Presse.« »Ihre Unterstellungen können Sie sich sparen.« 53
Die kleine Gruppe machte sich unter Führung der beiden städtischen Beamten auf den Weg. Cornelia Wedekind gab höllisch acht, daß ihr nichts entging. Sie hielt die Kamera bereit, um notfalls sofort losknipsen zu können. Der Weg führte an mehreren Seitenkanälen vorbei. Die Teammitglieder husteten und niesten. Der Schwefelgestank machte ihnen zu schaffen. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie zum ersten Mal das gräßliche Dröhnen und Stampfen zu hören bekamen. »Was ist das?« fragte die Kommissarin einen der Führer. Der Mann hob die Achseln. »Keine Ahnung. Solche Geräusche habe ich hier unten noch nie gehört.« Die Beamten der Spurensicherung waren mit leistungsstarken Hallogenstrahlern ausgerüstet, deren Licht die Dunkelheit zerriß. Ratten flohen erschrocken vor der ungewohnten Helligkeit. Immer weiter drang das Team den sonderbaren Geräuschen entgegen, die wie eine Warnung klangen, nicht näher zu kommen. Sie passierten die Abzweigung Steubenstraße. Kommissarin Kollberg beschloß, dem Hauptstollen bis zum Einstieg Frölichplatz zu folgen. Das Team sollte sein Ziel nie erreichen. Schon am nächsten Seitenkanal wurde das Dröhnen und Stampfen so laut, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Kurzerhand schwenkte Ruth Kollberg herum und betrat den Seitenkanal. Die beiden Führer drängten sich zu ihr vor. »Hier wird es immer enger. Man kann steckenbleiben oder sich verirren.« »Ich habe Sie dabei, meine Herren, damit das nicht geschieht. Sie kennen sich hier unten aus und werden dafür sorgen, daß wir in den Hauptstollen zurückfinden. Aber ich will wissen, woher diese komischen Geräusche stammen. Und das sollte Sie auch interessieren, meine Herren.« Die Angestellten ergaben sich in ihr Schicksal, obwohl sie viel lieber den Rückzug angetreten hätten. Aber die Kommissarin hatte nun mal hier das Sagen. Die siebenköpfige Gruppe drang tiefer in das Labyrinth ein und näherte sich dem unheimlichen Stampfen. Stickiger und übelriechender wurde die Luft. Bald hatte Cornelia Wedekind ihren Entschluß bereut, der Kommissarin in die Tiefe zu folgen. 54
Sie hatte sich das Vorhaben viel einfacher vorgestellt. Der Boden erbebte unter den stampfenden Schlägen. Als die Gruppe eine rechteckige Verbindungskammer erreichte, von der mehrere Seitenkanäle ausgingen, ließ Kommissarin Kollberg ihre Leute die Instrumentenkoffer öffnen. Messungen wurden durchgeführt, Proben vom Abwasser entnommen. Geräusche und Lautstärken wurden überprüft. Es wurden Notizen gemacht und Bemerkungen auf Band gesprochen. Cornelia Wedekind fotografierte die Stollenwände, die Eingänge zu den Seitenstollen und vereinzelte Ratten, die durch die Kloake huschten. Rasch wechselte sie den Film in ihrer Kamera, um stets einsatzbereit zu sein. Jetzt schien das Dröhnen und Stampfen zu locken. Die Kommissarin kniff die Lippen zusammen. Sie war fest entschlossen, dem Geheimnis dieser Geräusche auf den Grund zu gehen. Vorsichtig schob sich die kleine Gruppe in den Seitenstollen, in dem die Geräusche offenbar ihren Ursprung hatten. Die Lichtstrahlen der Hallogenlampen erhellten den schmalen Stollen völlig, rissen bizarre Steinmauern aus der Dunkelheit. Über ihnen, an der Stollendecke, verliefen von Spinnweben verklebte Rohre und Stromkabel. Das Team gelangte in einen Anschlußkanal, der sich ständig zu verbreitern schien. Die Verständigung untereinander erfolgte meist durch Handzeichen, da es so laut geworden war. Ein Vorwärtskommen wurde durch kniehohe Abwässer und andauernde Erschütterungen erschwert. Außerdem herrschte in diesem Teil der Kanalisation eine enorme Strömung, gegen die man ankämpfen mußte. Die beiden Angestellten stapften direkt vor Ruth Kollberg durch die Kloake und waren vollauf damit beschäftigt, auf ihren Weg zu achten. Der merkwürdige süßliche Geruch, der sich in den Schwefel- und Abwassergestank mischte, entging ihnen. Einer der Männer vom Tiefbauamt drehte sich um und winkte den nachfolgenden Teammitgliedern zu. »Wir müßten bald einen weiteren Knotenpunkt erreichen. Von dort aus können wir dann zum Hauptstollen zurück!« brüllte er Ruth Kollberg zu. Die Kommissarin nickte. Der Mann wandte sich von ihr ab - und stolperte. 55
Nur mit Mühe gelang es ihm, in der Strömung und an den glitschigen Wänden Halt zu finden. Verärgert schaute er nach unten - und zuckte zurück. Der angenagte Schädel einer halbverwesten Katze starrte ihm aus den Fluten entgegen. Der Mann war über den Kadaver gestolpert, der sich am Boden verfangen hatte und der Strömung trotzte. Im Scheinwerferlicht war der Anblick der toten Katze so abscheulich und ekelerregend, daß der Mann vom Tiefbauamt zur Seite taumelte und sich erbrach. Cornelia Wedekind nutzte die Gelegenheit und schoß zwei Aufnahmen von dem Kadaver. »Weiter!« rief Ruth Kollberg, rümpfte die Nase und stapfte vorwärts. Sie war es auch, die als erste auf den Schädel stieß. Diesmal wurde auch die Kommissarin blaß und fühlte die Übelkeit in sich aufsteigen. Sie hatte eine Art Kammer erreicht. In der Mitte des Raumes rauschte das Abwasser. Zu beiden Seiten des Stromes und auf dem Sims, der sich etwa einen halben Meter über der Wasserlinie befand, lagen bleiche Knochen zwischen halbverwesten Kadavern. Die Gruppe unterschied Tier- und Menschenknochen. Ein Totenschädel lag für sich. Eine Ratte knabberte an einem Hundekopf und ließ sich auch durch die grellen Lampen nicht bei ihrer Mahlzeit stören. Die blonde Volontärin ignorierte den Kloß in ihrem Hals und knipste in rasender Folge ihre Bilder. Sie schob sich an Frau Kollberg und ihren Leuten vorbei, um möglichst nah an diesen makabren Friedhof zu gelangen. Cornelia Wedekind stieß mit dem Fuß gegen ein paar Knochen. Der Haufen, der vor ihr aufragte, geriet in Bewegung. Cornelia beugte sich weit vor, um möglichst viele Nahaufnahmen zu erhalten. Aus dem Meer von Knochen und verwesten Leichenteilen hob sich ein menschlicher Arm. Die bleichen Totenfinger schimmerten im Scheinwerferlicht bläulich. Die Blondine stieß einen spitzen Schrei aus. Der Arm schien ihr zuzuwinken. Cornelia zuckte zurück und prallte gegen die Kommissarin. Die Volontärin schrie erneut, drehte sich um und starrte in die 56
rotgeäderten Augen einer Ratte, die ihr im Dämmerlicht des Stollens riesig erschien. Erneut löste sich ein gellender Schrei aus der Kehle der Reporterin. Der Nager hatte fast ebensoviel Angst wie sie und wußte in seiner Not keinen anderen Ausweg, als zu springen. Der fiepende Rattenkörper landete quer vor der Brust der Blondine. Die Pfoten der Ratte kratzten über die Schutzjacke, fanden Halt und hievten den Körper hoch, bis er auf Cornelias Schulter saß. Der lange Rattenschwanz strich der Blondine über das Gesicht. »Aaaah! Nein!« brüllte Cornelia. »Nehmt dieses Mistvieh von mir weg! Warum hilft mir denn keiner?« Die Ratte hatte offenbar genug von Cornelias Geschrei und setzte mit einem weiten Sprung über die Strömung, bis sie auf der anderen Stollenseite zwischen den dort aufgehäuften Gerippeteilen landete. Die Reporterin gab nun ebenfalls ihr Frühstück von sich. Ihr Körper zuckte unter Krämpfen. Sie preßte ihren Arm gegen den Leib, beugte sich vor und taumelte an der Knochenansammlung vorbei. Sie war erst ein paar Schritte weit gegangen, als sie im Licht ihrer Helmlampe zwei Beine vor sich baumeln sah. Langsam hob sie den Kopf. An einem Deckenkabel hatte sich der Unterleib von Willi Sachs verfangen. Die Reporterin knirschte mit den Zähnen. »Verdammt, ich laß mir diese Story nicht entgehen. Kommt gar nicht in die Tüte!« murmelte sie und riß die Kamera hoch, aber im Sucher der Kamera entdeckte Cornelia Wedekind noch etwas anderes. Etwas Großes. Etwas Grauenhaftes. Und es schob sich direkt auf sie zu! * Zwischen den Beinen des Toten erkannte Cornelia ein unförmiges, schwarz-grünes Gebilde, das sich wie eine Wand nach vorn bewegte. Etwas, das wie ein riesiges, rotglühendes Auge aussah, blinzelte der Reporterin zu. Im Dämmerlicht blitzten gräßliche, lange Zähne. Eine grau57
gelbe, stinkende Schwefelwolke umgab das unheimliche Wesen. Cornelia bewegte die Lippen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Vorsichtig setzte sie einen Fuß zurück. Sie richtete sich auf und ließ die Kamera sinken. »Da kommt was«, sagte sie leise. »Vorsicht, da kommt etwas auf uns zu.« »Haben Sie was gesagt, Blondie?« fragte Frau Kollberg, die ihre Leute angewiesen hatte, die Knochen näher zu untersuchen und menschliche Gebeine einzusammeln. »Da!« antwortete Cornelia und streckte einen Arm aus. »Da kommt was! Paßt aaauuuff!!« Ein pechschwarzes, wurmähnliches Ding schoß aus der Dunkelheit auf Cornelia zu. Die Reporterin kreischte spitz, wirbelte herum und fiel in ihrer Hast bäuchlings über den Knochenhaufen. Ihre Hände ertasteten klebriges, verwestes Fleisch und Teile eines Fells. Der schwarze Wurm sauste heran und wickelte sich um Cornelias Fußgelenk, als sie aufstehen wollte. Sie fühlte sich von unwiderstehlicher Kraft nach hinten gezerrt. Ihre Kamera schleifte in der stinkenden Brühe, und auch ihr Gesicht tauchte in die Kloake ein. Prustend und hustend kam Cornelia hoch und warf sich auf den Rücken. In dem Augenblick, bevor ihr Kopf wieder unter Wasser tauchte, erkannte sie, was sich um ihren Fuß gewickelt hatte. Es war kein Wurm. Es war eine riesige, gespaltene Zunge! Cornelia durchbrach erneut die Fluten und starrte in ein gewaltiges Maul voller rasiermesserscharfer, dolchartiger Zähne. Und plötzlich wußte die blonde Volontärin, wer für den Torso in der Kanalisation verantwortlich war… Schüsse peitschten auf, hallten durch das Gewölbe. Ruth Kollberg stand breitbeinig hinter der Reporterin und feuerte in den Rächen der Bestie, die Cornelia gepackt hielt. Infernalisches Gebrüll erfüllte den Stollen. Die Frauen hatten das Gefühl, als würde jeden Moment ihr Trommelfell platzen. Die schwarze Zunge gab Cornelias Fuß frei und zog sich in das gewaltige Maul zurück. Die Kiefer mit dem gefährlichen Reißzähnen klappten zu. Ruth Kollberg packte die Reporterin an Arm und zerrte sie zu sich heran: »Kommen Sie! Nichts wie raus hier!« Aber damit war das Ungeheuer, das so plötzlich erschienen war, 58
überhaupt nicht einverstanden. Zwei stampfende Schritte katapultierten den massigen Körper nach vorn. Das Untier schnaubte und stieß Schwefelwolken aus seinen Nüstern, bevor sich das Maul öffnete und eine breite Flammenzunge auf die beiden Frauen zuraste. Die Kommissarin ließ sich rücklings über den Knochenhaufen fallen und entging der Flammensäule nur um Haaresbreite. Cornelia Wedekind holte beim ersten Aufglimmen des höllischen Feuers tief Luft und tauchte in die Fluten. Ihren Helm hatte sie längst verloren. Die schmutzige Kloakenbrühe spülte durch ihr Haar. Das Wasser war eiskalt und brannte auf ihrem Gesicht. Als ihr schier die Lungen platzten, hob die Reporterin den Kopf aus den Fluten, stemmte sich mit einem Aufschrei hoch und hechtete nach vorn. Sie landete auf dem Körper der Kommissarin, die rückwärts von dem Knochenhaufen krabbelte, ohne das feuerspeiende Monster aus den Augen zu lassen. Hastig lösten sich die beiden Frauen voneinander. Die Ausgeburt der Hölle wälzte sich nach vorn. Ein gebogener, schuppengepanzerter Schweif schlängelte sich heran, füllte den gesamten Stollen aus und schlug mit einem peitschenden Knall zu. Zwei Beamte der Spurensicherung wurden voll erwischt, hatten der zermalmenden Kraft des Untiers nichts entgegenzusetzen. Einer wurde mit Brachialgewalt gegen die Stollenwand gedrückt. Sein Gesicht war nur noch eine unkenntliche Masse. Der andere Beamte wurde im Rücken erwischt. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper, als sein Rückgrat an mindestens drei Stellen gleichzeitig brach. Leblos sank er auf die Knie und fiel vornüber zwischen die Knochenansammlung. »Verschwindet!« brüllte Ruth Kollberg. »Macht, daß ihr rauskommt!« Die beiden Angestellten und Ruths Kollege ließen sich nicht zweimal bitten. In panischer Angst rannten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Das Untier erhob nun ebenfalls seine furchtbare Stimme und brüllte seinen Unmut hinaus. Mit stampfenden Schritten folgte das massige Wesen den fliehenden Männern. Die dicken Krallenfüße des Höllenwesens verfehlten die beiden Frauen nur knapp. 59
Ruth Kollberg zog die Reporterin hoch und schaute sich um. Mit fliegenden Fingern wechselte sie das Magazin ihrer Pistole. Wenige Blicke genügten, um zu erkennen, daß es nur einen Ausweg gab: die Flucht nach vorn. Die Kripobeamtin zog Cornelia mit sich in den Stollen hinein, an der Stelle vorbei, an der das Ungeheuer auf sie gewartet hatte. Die beiden Frauen rannten keuchend durch die Dunkelheit. Nur die Helmlampe der Kommissarin spendete noch Licht. Hinter ihnen vernahmen sie das Zischen, das ihnen eine neue Flammenlanze ankündigte, und gellende Männerschreie. Die Lungen der beiden Frauen brannten, doch reine Luft war ihnen nicht vergönnt. Mit raschen Schritten entfernten sie sich von der Bestie, die ihre Wut an den drei Männern ausließ. Die beiden Frauen hetzten um Ecken, durch enge Kanäle, kamen an Abfallhaufen vorbei, auf denen es von Ratten wimmelte, und taumelten endlich keuchend in ein riesiges Gewölbe, das von blakenden Kerzen erhellt wurde. An einer Wand stand ein aus Abfallteilen zusammengebastelter Tisch, der mit Präzisionswerkzeugen übersät war. Der Mann, der auf einem altgedienten Drehsessel am Tisch saß, ließ seinen Stuhl langsam herumkreisen. »Herzlich willkommen, meine Damen!« sagte er in wohlmodulierter Stimme und lächelte. Das Lächeln erreichte jedoch nicht die Augen des Mannes, die im Schatten des schwarzen Filzhutes lagen. »Ich nehme an, Sie haben bereits die Bekanntschaft meines feuerspeienden Freundes gemacht?« Der Mann lachte. Er warf den Kopf zurück und lachte Tränen. Die Narbe auf seiner rechten Gesichtshälfte glühte im Schein der Kerzen. »Was ist daran so lustig?« knirschte Ruth Kollberg und hob die Pistole. Das Lachen verstummte schlagartig. »Es ist die Sinnlosigkeit Ihrer Flucht«, erklärte der Mann mit der Narbe. »Sie sind zwar meinem geschuppten Freund entkommen, aber Sie haben mein kleines Geheimnis entdeckt, meine Damen. Bedauerlicherweise werden Sie diesen Tag nicht überleben.« *
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Tessa wich zurück und preßte sich an die Wand. Tief holte sie Luft. Der Tote vor ihr glotzte sie aus starren Augen an. Es mußte ein schreckliches Ende gewesen sein. Nach der orangefarbenen Schutzkleidung zu urteilen, die der Tote trug, hatte Tessa einen Kollegen von Willi Sachs vor sich. Die Fahnderin unterdrückte die aufkommende Übelkeit, die sie beim Anblick der schlimm zugerichteten Leiche befallen hatte, und schaute auf den Kanalisationsplan. Mit einem Kugelschreiber markierte sie die Stelle auf dem Plan, an der sie den Leichnam gefunden hatte. Vorsichtig drückte sich Tessa unter dem Toten hindurch, um nicht mit ihm in Berührung zu kommen, und lief weiter. Die gellenden Schreie vor ihr wurden lauter - und das Stampfen. Tessa erreichte eine Abzweigung. Das Gebrüll zeigte ihr, welchen Stollengang sie nehmen mußte. Fiepende Ratten flüchteten vor der anstürmenden Kommissarin. Einmal fegte Tessa mit der Stiefelspitze einen Nager zur Seite, der nicht schnell genug war. Die Fahnderin schüttelte sich. Sie hatte erst ein paar Meter in dem abzweigenden Kanal zurückgelegt, als ihre Angst vor den Ratten von einem neuen Schrecken verdrängt wurde. Eine schmale Gestalt schoß aus der Dunkelheit, warf sich Tessa in den Weg und klammerte sich an ihren Arm. Tessa schrie, wirbelte herum, schlug um sich und fegte den Angreifer mit einem Tritt gegen die Stollenwand. Im zuckenden Licht ihrer Helmlampe erkannte sie ein dunkles Gesicht mit weit aufgerissenen, rollenden Augen und gebleckten Zähnen. »Achdaha!« Die Stimme des Unheimlichen war heiser, fast ein Flüstern. »Du verstecken! Achdaha kommt!« Tessa hob die Pistole und zielte auf den zitternden Mann, der an der Stollenwand lehnte. Der Dunkelhäutige zitterte und reckte ihr beide Arme entgegen. »Nicht schießen! Bitte, nicht! Achdaha hören!« »Wer sind Sie?« fragte Tessa ruhig, obwohl sie innerlich aufgewühlt war. »Ich bin Rhawad Kashuge. Ich arbeiten bei Stadt Apolda. War mit zwei Kollega hier unten, als Achdaha kommen.« »Und wer bitte ist Achdaha?« Das Gebrüll und Stampfen ließ die Stollenwände zittern. Der 61
kleine Pakistani hob einen Zeigefinger. »Hören? Das ist Achdaha! Ist groß. Und böse. Sehr böse.« Die Fahnderin starrte den Pakistani verständnislos an. Rhawad Kashuge schüttelte bedauernd den Kopf. »Du nix verstehen.« Der Pakistani überlegte. »Du wissen, was ein Echse ist? Gut, dann du mußt an große Echse denken.« »Ein Krokodil?« Der Pakistani verdrehte die Augen. »Alle immer denken an Krokodil. Ist Blödsinn. Alle sehen großes Krokodil im Fernsehen, und jetzt glauben daran. Achdaha ist kein Krokodil. Ist viel, viel größer. Und viel gefährlicher. Kommen von Naraka. Ist Kind von Yama!« »Ich verstehe nur Bahnhof«, meinte Tessa. Das Gebrüll näherte sich. Der Pakistani zuckte zusammen. »Naraka ist dort unten. Ganz tief.« »Die Hölle?« Kashuge nickte eifrig. »Und Yama ist König von - Hölle!« Tessa verstand. Er meinte den Teufel. Der Achdaha stammte also aus der Hölle und war ein Kind des Teufels. Mist! dachte sie. Mark müßte jetzt hier sein! »Achdaha ist groß, stark, haben viel Macht. Spucken Feuer!« Tessa erinnerte sich an Märchen aus ihrer Kinderzeit. »Ist Achdaha ein Drache?« Kashuge lächelte breit. »Ich glauben, das ist deutsches Wort für Achdaha«, sagte er leise. Tessa schüttelte den Kopf. »So ein Quatsch. Drachen gibt es nur im Märchen.« Doch während sie das sagte, fiel ihr glühend heiß ein, daß Mark ja vor ein paar Monaten schon mal gegen einen Drachen in Weimar gekämpft hatte. (Siehe MH 25!) »Kommen direkt von…« Rhawad Kashuge deutete nach unten. »Aus der Hölle. Ich bin ja nicht schwer von Begriff, mein Lieber.« Tessa hatte das feuerspeiende Ungetüm, dem sie vergangene Nacht beinahe zum Opfer gefallen war, vor Augen. Sie hatte es zwar nicht deutlich erkannt, aber wenn es sich wirklich um einen Höllendrachen handelte und er sich hier unten in den verschachtelten Gängen herumtrieb, konnte sie sich auch gleich die Kugel geben. »Ich muß es wissen«, erklärte Tessa. »Ich werde jetzt dorthin gehen, wo das Geschrei herkommt. Was ist mit Ihnen?« »Ich kommen mit«, entschied der Pakistani nach einer kurzen 62
Pause. »Aber erste Leiter, wo wir kommen vorbei, Rhawad gehen nach oben.« Die Fahnderin war einverstanden und rannte los. Rhawad folgte ihr wieselflink. Das Dröhnen und Stampfen wurde lauter, ohrenbetäubend. Dazwischen ertönte das Geschrei von Menschen. Angst schwang in den Männerstimmen mit. Todesangst. Die Fahnderin jagte um eine weitere Ecke und prallte fast mit drei Männern in Schutzkleidung zusammen, die sich gegen die Stollenwand preßten. »Tessa Hayden, Kripo Weimar!« rief sie! »Was ist los?« Einer der Männer deutete nach vorn. »Das Mistvieh hat schon zwei von uns erledigt!« stieß er hervor. »Es spuckt Feuer und zerquetscht alles, was ihm in die Quere kommt. Ich hab so was noch nie gesehen. Höchstens im Kino.« Die Männer waren fix und fertig. Tessa schaute in die angegebenen Richtung, erkannte jedoch nichts. »Wir müssen hier raus. Wo geht es zum Hauptstollen?« Ein Mann deutete nach links. »Wenn wir hier entlanggehen, kommen wir an zwei Abzweigungen. Die zweite führt unter die Steubenstraße«, erklärte er keuchend. »Verlieren wir keine Zeit«, schlug Tessa vor und lief los. Die Männer folgten ihr. »Wo ist Ruth Kollberg?« fragte sie unterwegs. »Sie und diese verrückte Reporterin sind noch da hinten«, kam die Antwort. »Sie hat uns weggeschickt. Ich glaube nicht, daß wir noch was für sie tun können. Und selbst wenn, kämen wir nicht an sie ran, denn diese Bestie blockiert den Weg!« Der Fluchtweg war richtig bezeichnet worden. Tessa und die Männer erreichten den Hauptstollen. »So, dann sofort zum Ausgang«, sagte Tessa. Hinter ihnen erzitterten Wände und Boden. Der Höllendrache näherte sich. Der gewaltige Körper glitt mühelos zwischen den Stollenwänden dahin. Tessa und die Männer beschleunigten ihre Schritte. Bald liefen sie an einer Nische vorbei. Einer der Männer schrie auf. »Hier entlang. Noch zwanzig Meter, und wir sind draußen!« Sie erreichten die Stelle, an der die eisernen Rungen in die Stollenwand eingelassen worden waren und ins Freie führten. 63
Tessa wählte einen muskulösen Beamten aus, der nach oben klettern und den Kanaldeckel wegdrücken sollte. Der Mann kam nicht weit. Die schwarze, armdicke Zunge des Untiers schoß nach vorne, wickelte sich blitzschnell um die Beine des Mannes und zog ihn nach unten. Rhawad schrie gellend und wich an die gegenüberliegende Stollenwand aus. Tessa wirbelte herum und feuerte auf den massigen Körper des Drachen. Die Kugeln prallten wirkungslos am Schuppenpanzer der Bestie ab. Die Drachenzunge zog den schreienden Mann nach vorn, ließ ihn urplötzlich los, rollte sich ein und verschwand in dem riesigen, reißzahnbewehrten Maul. Als sich der stöhnende Mann aufrichten wollte, ertönte das Zischen. »Runter!« brüllte Tessa. Aber es war zu spät. Die Flammenlanze erfaßte den Beamten, hüllte ihn vollständig ein und fraß sich in seinen Körper. Als lebende Fackel taumelte er herum, stieß gegen die Stollen wände und schwankte dem Untier vor die Füße. Der Höllendrache beäugte den brennenden Mann, hob gemächlich einen Fuß und ließ ihn niedersausen. Er löschte das von ihm entfachte Feuer auf seine Art. Tessa rammte ein neues Magazin in ihre Pistole, atmete durch und zielte sorgfältig. Die Kugel fetzte mitten in ein rotes Drachenauge. Das Untier stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus und bäumte sich auf. Es mußte furchtbare Schmerzen verspüren. Die Fahnderin wartete nicht, bis das Ungeheuer in seinem Schmerz reagierte. Sie scheuchte die verängstigten Männer auf und rannte vor ihnen her an dem Untier vorbei in den Hauptstollen. »Zum nächsten Ausstieg!« rief sie. Sie sollten ihn nie erreichen, denn vor ihnen versperrte ein gewaltiger, schwarzgrün schillernder Körper den Stollengang. Und auf dem Rücken des Ungeheuers saß ein feuerroter kleiner Teufel, schwang einen Dreizack und lachte meckernd. »Es sind zwei!« stieß Tessa heraus. »Mein Gott, es sind zwei Drachen!« Keuchend lehnte sie sich an die Stollenwand und ließ die Pistole sinken. 64
Aus der entgegengesetzten Richtung erklang wieder donnernde Stampfen, als sich der Höllendrache näherte. Tessa und ihre Schützlinge waren dem Tode geweiht!
das
* Ich traf einen aufgeregten Hauptkommissar Langenbach an, als ich die Polizeidirektion aufsuchte. Er marschierte in seinem Büro auf und ab, raufte sich die Haare und schob einen Zigarillos von einem Mundwinkel in den anderen. »Falls du deine Flamme suchst - sie ist nicht da«, brummte Pit zur Begrüßung. »Ich komme ausnahmsweise mal nicht wegen Tessa«, erklärte ich ihm. »Mich interessieren deine Erkenntnisse im Fall Kanalisationsmord.« »Ich weiß ja, daß du Zoff mit Tessa hast, aber du hättest zumindest nach ihr fragen können.« »Hat sie sich bei dir ausgeheult?« »Versuch jetzt nur nicht, zynisch zu sein. Es paßt nicht zu dir. Menschenskind, du kennst doch Tessas Eifersucht. Sie verraucht fast genauso schnell, wie sie auftritt.« »Wenn ich eine Partnerschaftsberatung haben will, komme ich bestimmt nicht zu dir, Alter. Darf ich jetzt bitte erfahren, was du über den Toten in Erfahrung gebracht hast?« Pit teilte mir in Kurzform mit, was über den Toten bekannt war. »Fest steht, daß er in zwei Hälften zerbissen wurde. Es muß da unten also eine Kreatur geben, deren Kiefer stark genug sind, einen menschlichen Körper zu zerteilen.« Er ließ die Spitze des Zigarillos aufglühen und stieß eine Rauchwolke aus, der ich blitzschnell auswich. »Tessa und ich dachten da an ein mutiertes Tier. Man hat ja vereinzelte Fälle aus Übersee gehört, in denen riesige Echsen oder Ratten die Kanalisation unsicher machten.« »Es könnte aber auch ein Drache sein«, sagte ich ruhig. Der Hauptkommissar unterbrach seinen Spaziergang, nahm den Schmauchbalken aus dem Mund und starrte mich an. »Wie bitte? Ich hab wohl nicht richtig gehört! Sag das noch mal!« »Ein Drache«, wiederholte ich. »Ich gehe davon aus, daß ein Drache oder drachenähnliches Wesen unter den Straßen der Stadt sein Unwesen treibt.« 65
Mein Freund und Kampfgefährte verzog den Mund zu einem gehässigen Grinsen. »Onkel Marks Märchenstunde, wie? Ein Drache! Ich glaub's nicht! Und am Ende willst du mir noch erzählen, er kommt direkt aus der Hölle! Woher auch sonst?« »Kennst du ein anderes feuerspeiendes Ungeheuer?« Pit überlegte und schüttelte den Kopf. »Na also. Außerdem spricht für die Theorie mit dem Drachen, daß das Vieh eine Schuppenhaut hatte, ein kleiner Teufel auf ihm ritt und ich eine Auseinandersetzung mit einem Zwerg hatte.« Pit ließ sich in seinen Sessel fallen und lockerte seinen Krawattenknoten. »Erzähl mir die ganze Geschichte«, forderte er mich auf. Pit wußte, daß ich als Auserwählter, als Träger des Rings, jederzeit mit scheinbar unerklärlichen Phänomenen konfrontiert werden konnte. Auch er hatte schon gegen die Mächte der Finsternis antreten und gewaltig umdenken müssen und wußte, daß für die Hölle nichts unmöglich war. Gespannt lauschte er meinen Worten. Als ich meine Auseinandersetzung mit dem Zwerg und die Begegnung mit Veit von Apolda geschildert hatte, fragte Pit: »Wenn sich deine Annahme bestätigt und wir es tatsächlich mit einem Höllendrachen zu tun haben, was können wir dann gegen ihn unternehmen?« »Ich weiß es nicht. Die Frage ist, wie wir an ihn herankommen. Das Vieh kann uns mit seiner Feuerspuckerei auf Distanz halten.« »Einfach großartig. Du kennst dich doch mit der Hölle und ihren Kreaturen aus, aber gegen den Drachen weißt du auch kein Mittel. Ich kann ja nicht die gesamte Bundeswehr in die Kanalisation schicken, um dem Biest den Garaus zu machen, Mark. Und wir wissen nicht, wie der Drache reagiert, wenn er Hunger hat und keinen Nachschub bekommt.« Pit klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und spritzte aus dem Sessel hoch. »Verdammt, und ich habe Tessa direkt in die Drachenhöhle geschickt!« fluchte er. »Was heißt das?« »Daß sie ein Team des Erkennungsdienstes aufhalten sollte, das heute morgen in die Schächte einsteigen wollte. Ich habe seither nichts mehr von ihr gehört. Wie ich sie kenne, ist sie dem Team auf eigene Faust gefolgt, sonst hätte sie sich längst gemeldet!« Auch in mir regte sich Besorgnis. Das Höllenmonster war 66
unberechenbar. Wenn es sich in die Enge getrieben fühlte, würde es jegliche Kontrolle über sich verlieren. »Du mußt sofort versuchen, die Leute da rauszuholen«, verlangte ich. Pit kämpfte mit einer gefütterten Lederjacke. »Was, glaubst du wohl, habe ich gerade vor? Kommst du mit?« Ich lehnte ab. »Fahr du schon vor. Ich muß noch was über diesen Veit rauskriegen. Er hat mich übrigens vor dem Feuer der Hölle gewarnt. Es könnte sein, daß er damit den feuerspeienden Drachen gemeint hat.« Widerwillig mußte Pit einsehen, daß er vorerst nicht auf meine Hilfe zählen konnte. Während er zu einem Dienstwagen hastete, um in die Schützenstraße zu fahren, lenkte ich meinen BMW in Richtung ILm, wo die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek auf mich wartete. Ich suchte mir die ältesten Bücher über Apolda heraus und verzog mich an einen Lesetisch. Bereits im dritten Band stieß ich auf den Namen Veit. Er wurde im Zusammenhang mit den Apoldaer Vitzthumen erwähnt, die vom dreizehnten Jahrhundert bis zum Jahre 1631 im gräflichen Schloß zu Apolda residierten. Nach einer weiteren knappen Stunde wußte ich, wer Veit von Apolda gewesen war. Ein dickes Heimatbuch aus dem letzten Jahrhundert enthielt eine umfangreiche Abhandlung über Veit. Er hatte der Sage nach um das Jahr 1200 in Apolda, dem damaligen »Appolde«, gelebt. Veit war ein Edelknabe am Hofe des Grafen zu Apolda. Er durchlief dort eine Ausbildung, zunächst als Knappe, später als Waffengänger und Recke, und wurde in allen höfischen Verhaltensweisen unterrichtet. Die Wende in seinem Leben kam erst, als das Land von einer furchtbaren Plage heimgesucht wurde. Ich las gespannt den Text einer alten Chronik aus dem dreizehnten Jahrhundert: »Allso dann thaten zwey gewalltige Lindwürmer bös Unfug threyben in Stadt und Land. Der Graf zu Appolde that bitten und flehen und rief Streytter und Recken von überall, item aus Angelsachsen, zum Kampffe gegen das Teuffelsgewürm. Doch sind alle des Todes gewest. Hatt ein Edelknabe, Veyt geheißen, sich erboten, den Kampff gegen das Gewürm zu führen. Hatt sich ein Schwerth genehmt, das den Segen des Herrn gehabt, und ist damit in den Kampff gezogen. Hatt das Gewürm in seinem eygnen Drachenblute sich winden lassen, bis es seine schwarze Seel ausgehaucht. 67
Allsodann ist viell Jubel und Frohsynn im Lande gewest. Hatt Veyt des Graffen Töchterlein zum Weybe erhalten und lange und gerecht Herrschafft geübt.« Veit war also ein Held, noch dazu ein Drachentöter! Wenn das kein Zufall war… Ich überlegte, ob ich durch eine Zeitreise versuchen sollte, Veit wiederzutreffen und ihn um Hilfe gegen den Drachen zu bitten, verwarf den Gedanken aber rasch wieder. Dazu war keine Zeit. Eine Gruppe Menschen befand sich in unmittelbarer Gefahr, und Tessa war unter ihnen. Ich mußte versuchen, vor Ort etwas gegen den Höllendrachen zu unternehmen. Meine Gedanken schweiften ab und gingen zurück zu meinem Kampf gegen die vom Teufel Besessenen in Berlin, den ich vor einigen Monaten geführt hatte und bei dem mir ein Scharfrichter aus der Vergangenheit zu Hilfe gekommen war. Mit meinem Siegelring hatte ich den Helfer aus dem Mittelalter herbeirufen können. (Siehe MH 21!) Vielleicht gelang es mir diesmal, Veit herbeizuzitieren. Das Summen meines Handys riß mich aus meinen Überlegungen. Ich zog mich zwischen zwei Regale zurück. »Wo bist du, Hellmann?« Ich kannte die Stimme. Sie gehörte dem Bombenbastler. »Du bist in der Bibliothek, nicht wahr? Wie du siehst, bin ich über jeden deiner Schritte informiert. Du entgehst mir nicht!« »Was wollen Sie?« »Kannst du dir das nicht denken, Hellmann?« Der Anrufer kicherte. »Ich will dich! Ich will, daß du um Gnade winselst, bevor es dich erwischt. Und du wirst flehen und betteln. Nicht für dich, sondern für die Menschen dieser Stadt.« »Was haben Sie vor?« fragte ich leise, um im Lesesaal nicht aufzufallen. »Wollen Sie Angst und Schrecken in Weimar verbreiten?« Ein gehässiges Lachen antwortete mir. »So ungefähr. Der Tag ist gekommen, an dem ich das Herz deiner Heimatstadt bluten lasse. Und auch dein Herz wird bluten beim Anblick von Tod und Zerstörung, von Schrecken und Not, Hellmann! Diese Stadt, deine Heimat, ist stolz darauf, Kulturstadt zu sein. Und du, Hellmann, bist stolz auf diese Stadt. Aber heute wird dein Stolz gebrochen. Beim Anblick einer mit Blut getränkten Steinwüste wirst du auf die Knie sinken und weinen, Träger des Rings! Und niemand, nur 68
ich, wird dir den Schmerz nehmen können.« »Sie wollen nicht diese Stadt, sondern mich. Wo soll ich Sie also treffen?« Das Gelächter troff vor Hohn. »Der große, edelmütige Mark Hellmann! Ich habe gewußt, daß Du dich für deine Heimatstadt opfern würdest. Aber ich will dich leiden sehen, wie ich gelitten habe! Bleib, wo du bist, du wirst ein einmaliges Schauspiel erleben!« Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich schob das Handy in die Jackentasche und räumte die Bücher weg. Der Bombenleger hatte mich ausdrücklich ermahnt, in der Bibliothek zu bleiben. Warum? In Gedanken versunken schritt ich über den Parkettboden und blieb vor einem Bogenfenster stehen. Von hier oben hatte man einen herrlichen Blick über die Altstadt mit ihren niedrigen Häusern. Auf der anderen Seite des Saales gewährten die Fenster einen Blick auf die Ilm und ihre träge dahinziehenden Fluten. Der Knall erfolgte im nächsten Augenblick! Eine Rauchwolke stieg am Rande der Altstadt auf, dicht gefolgt von einer Feuersäule. In rasender Folge zerrissen weitere Detonationen die morgendliche Stille. Überall auf den Hauptverkehrsstraßen flogen Kanaldeckel in die Luft, tanzten Feuerlanzen in den Himmel. Autos bremsten und versuchten, den Flammensäulen auszuweichen. Sie krachten ineinander, verkeilten sich. Einige Wagen explodierten und machten das Chaos perfekt. Ich verfluchte den wahnsinnigen Bombenleger. Wenn ihm nicht bald das Handwerk gelegt wurde, verwandelte er Weimar in einen Trümmerhaufen. Von der Flußseite her ertönten ebenfalls Explosionen. Ich lief an ein gegenüberliegendes Fenster und kam zurecht, um zu beobachten, wie eine kleine Bootswerft an der Ilm von einer Detonation erschüttert wurde und in Flammen aufging. Nacheinander detonierten Boote und kleine Jachten, die zur Überholung angedockt hatten, und verwandelten das Flußufer in ein Inferno. Mein Handy meldete sich wieder. Ich riß es förmlich aus der Tasche. »Gefällt Dir das Feuerwerk, Hellmann? Der Teufel persönlich hat es dir geschickt! Du solltest dich jetzt langsam auf die Strümpfe machen, mein Freund. Der größte Schlag kommt noch, und ich möchte nicht, daß du zur Hölle fährst, bevor ich den 69
Zeitpunkt dafür bestimmt habe. Weine, Hellmann. Weine bittere Tränen!« Ich unterbrach die Verbindung und tippte Pits Nummer. »Der Bombenleger macht ernst, Pit. Er will Weimar zerstören, um mich fertigzumachen. Hast du das Einsatzteam und Tessa gefunden?« »Nein. Sie sind in der Kanalisation verschwunden und nicht über Handy zu erreichen. Ich habe die Explosionen mitbekommen. Was genau hat der Kerl vor?« »Er läßt seine Wut an der Stadt aus. Den ganz großen Knall hat er mir bereits angekündigt. Wenn ich recht verstanden habe, will er die Bibliothek in die Luft jagen.« »Ich komme sofort mit den Bombenspezialisten. Laß die Bibliothek räumen!« Der Bibliothekar war sofort von der Maßnahme überzeugt. »Aber wir müssen auch die Bücher retten, Herr Hellmann. Hier stehen Bände und Dokumente von unschätzbarem Wert.« Ich ging nicht auf seine Frage ein. »Die Bücher werden wir nicht in Sicherheit bringen können. Dazu haben wir keine Zeit«, sagte ich. »O mein Gott, das ist ja furchtbar!« jammerte der Bibliothekar. »Ich bin untröstlich!« »Fragen Sie mich mal. Aber jetzt gehen Sie am besten auch.« »Und was ist mit Ihnen?« »Ich warte auf Hauptkommissar Langenbach. Er muß jeden Moment hier eintreffen.« Pit war wenig später mit einem Sondereinsatzkommando und dem Bombenräumkommando an Ort und Stelle. Sofort schwärmten die Männer aus und suchten das Bibliotheksgebäude nach Sprengsätzen ab. Die Suche nach den Bomben verlief ergebnislos. Das Gebäude war sauber. »Wir haben alles abgesucht, vom Dach bis zum Keller«, deklamierte Pit. »Wie kann der Kerl also die Bibliothek hochjagen, wenn es keine Sprengladung gibt?« »Es gibt sie, verlaß dich drauf.« »Und hat der große Meister auch eine Ahnung, wo wir suchen sollen?« Ich antwortete nicht, sondern ging zwischen den Regalreihen dahin, betrachtete den Parkettboden, ließ meinen Blick über die Buchrücken gleiten. Ich stieg die Stufen hoch, schaute aus den 70
Fenstern auf die Flammensäulen, die überall in der Altstadt den tristen Morgen unterbrachen. Ich drehte mich um, schaute über eine Brüstung nach unten, sah die Regale, die in Reih und Glied standen und an aufgestellte Dominosteine erinnerten. Wenn man einen anschubste, fielen nacheinander alle um. Wenn einer einen Stoß bekam… Wenn eine Bombe hochging… Eine Kettenreaktion! Und der Höhepunkt war - die Bibliothek! »Pit!« rief ich nach unten und war schon auf dem Weg zur Treppe. »Wir sind Idioten!« »Wenn du schon solche Komplimente machst, sprich bitte in der Einzahl.« Ich überging seinen Einwand und nahm die letzten Treppenstufen im Sprung. »Überleg mal - wenn du Weimar in ein Trümmerfeld verwandeln wolltest, wie würdest du die Sprengladungen plazieren?« Der Hauptkommissar zuckte die Achseln. »An wichtigen Gebäuden, und zwar so, daß sie den meisten Schaden anrichten.« »Dann hast du aber den Nachteil, daß nur das jeweilige Gebäude hochgeht. Du willst aber alles - sagen wir mal, den Stadtkern - in Schutt und Asche legen.« Pit schaute mich einen Augenblick lang verständnislos an, dann dämmerte es ihm. »Du meinst, die Bomben sind da unten?« fragte er und deutete zu Boden. Ich nickte. »Er hat uns mit seinen Vorführungen in der Siedlung Landfried und der Altstadt einen Vorgeschmack gegeben, Pit. Wenn du die ganze Stadt gleichzeitig erwischen willst, mußt du die Sprengladungen unter den Straßen und Gebäuden anbringen. Durch die Wucht der Detonationen fällt alles in sich zusammen. Der Kerl hat eine Bombenkette unter der Stadt gelegt und wird die Sprengsätze nacheinander zünden. Und als Höhepunkt jagt er am Ende der Kette die Bibliothek in die Luft.« »Wir schaffen es unmöglich, die einzelnen Sprengsätze ausfindig zu machen und zu entschärfen, bevor dieser Irre den roten Knopf drückt. Verdammter Mist!« Der Bombenleger war über jeden meiner Schritte informiert. Er würde die Bomben sofort zünden, wenn er vermutete, daß wir seinem System auf die Schliche gekommen waren. Noch spielte 71
er mit mir, aber damit konnte bald Schluß sein. Wir hatten auf keinen Fall die Möglichkeit, die Bombenkette zu unterbrechen. Aber wenn ich meinen unbekannten Gegner richtig einschätzte, hatte er eine Sicherung eingebaut. Eine Zentralstelle, von der man alle Bomben gleichzeitig zünden konnte. Einen Mittelpunkt, von dem eine Unterbrechung oder Aktivierung der Kette möglich war. »Komm mit!« rief ich und strebte dem Ausgang zu. »Ich glaube, ich weiß, wie wir das Schlimmste verhindern!« »Wo willst du denn hin, Mark? Und was hast du vor?« »Erkläre ich dir unterwegs!« Ich ließ den BMW stehen und warf mich in Pits Dienstwagen. Mit kreischenden Pneus raste Pit durch die Stadt - unserem Ziel entgegen. * Tessa setzte alles auf eine Karte. Mit einem wilden Aufschrei feuerte sie auf den kleinen, roten Teufel, der auf dem Rücken des Höllendrachen ritt. Ihre Kugeln fegten den kleinen Kerl von seinem erhöhten Sitz, konnten ihn aber nicht töten. »Duckt euch!« brüllte Tessa, um das Geschrei und Stampfen der Drachenbestien zu übertönen. Sie schoß abwechselnd auf beide Drachen, obwohl sie wußte, daß sie Munition vergeudete. Ihre Kugeln prallten harmlos an dem Schuppenpanzer der Bestien ab. Sie gefährdete höchstens ihre Schutzbefohlenen und sich selbst durch die Querschläger. Die letzten Kugeln rasten in den Rachen einer Bestie. Vor Schmerzen bäumte sich die gewaltige Kreatur auf, stieß gegen die Stollendecke und drückte sie nach oben. Steine und Mörtel rieselten auf Tessa und ihre Begleiter herunter. Tessa schob ihr letztes Ersatzmagazin in die Pistole und kniff die Lippen zusammen. Sie mußten an dem Höllendrachen vorbei, mußten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Es war ihre einzige Chance, Distanz zwischen sich und die Drachen zu bringen. Die Fahnderin winkte ihren Begleitern und huschte auf die baumstammdicken Beine des Drachen zu. Das Tier hatte die Zerstörung eines seiner Augen noch nicht überwunden und 72
schüttelte immer noch den mächtigen Schädel. Es beachtete die Menschenwesen kaum, die zwischen seinen Beinen herumliefen. Vorsichtig drückte sich Tessa an den mächtigen Beinen vorbei, huschte unter dem schlangenähnlichen Leib hindurch und rannte an dem riesigen Schuppenberg entlang. Der Pakistani und sein Weimarer Kollege folgten ihr, ohne zu zögern. Sie setzten ihre ganze Hoffnung in die Kommissarin, die ihnen wie ein rettender Engel erschien. Tessas größte Sorge war nun, daß sich der Schwanz des Untiers bewegen und sie an der Wand zerschmettern könnte, aber es geschah nicht. Tessa und ihre beiden Begleiter hatten unwahrscheinliches Glück. Sie rannten keuchend an dem Drachen vorbei und legten sich mächtig ins Zeug. Hinter ihnen erscholl ein unmenschliches Gebrüll. Der Drache hatte bemerkt, daß seine Opfer geflohen waren. Boden und Wände zitterten, als sich das Untier in dem engen Stollen umdrehte. Tessa ließ die beiden Männer überholen und warf einen Blick zurück. Der Drachenschädel schoß nach vorn, auf sie zu. Jeden Moment würde die Flammenzunge aus dem Maul des Drachen sausen und Tessa in einen Klumpen verkohlten Fleisches verwandeln. Die Kommissarin blieb keuchend stehen und schloß die Augen. Wenn die Feuerzunge auf sie zuraste, hatte sie vielleicht noch einen Sekundenbruchteil Zeit, sich mit einer Kugel aus ihrer Pistole einen furchtbaren Flammentod zu ersparen. Sie wartete auf das Zischen, das dem Feuerstoß voranging, aber es kam nicht. Dafür war ein sirenenartiger Laut zu hören, der das Kanalisationsgewölbe durchdrang. Die Höllendrachen spielten verrückt, als sie den Ton hörten. Sie stampften, brüllten und warfen sich gegen die starken Mauern. Ihre Köpfe stießen nach oben und durchbrachen die Stollendecke. Gesteinsbrocken und Teile des Straßenbelages rieselten in den Stollen. Durch die aufgebrochene Decke sah Tessa, wie die Drachen Feuer spuckten und Autos in Brand setzten. Tessa wartete nicht, bis die Drachen zur Besinnung kamen. Sie wirbelte herum und hetzte den beiden Männern nach, die soeben einen Ausstieg erreicht hatten. »Du kommen!« rief Rhawad Kashuge. »Das ist Ausgang!« 73
Tessa hatte ihre Hand bereits auf die unterste Runge gelegt, als sie zögerte. Ihre Kollegin Ruth Kollberg befand sich zusammen mit einer Journalistin noch in diesem Labyrinth. Und Tessa konnte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. »Informieren Sie Hauptkommissar Langenbach!« rief sie. »Er soll Posten an den Einstiegsschächten entlang der Steubenstraße bis hin zum Frauenplan und der Bibliothek aufstellen und die Rettung alarmieren. Ich versuche, Kommissarin Kollberg und die andere Frau zu finden.« »Das ist doch Selbstmord, Frau Hayden!« rief Rhawads Kollege. »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!« gab Tessa zurück, winkte kurz und wandte sich ab. »Viel Glück!« murmelte der Pakistans »Rhawad beten für dich!« Die Fahnderin rannte durch den Hauptstollen und bog an einer Stelle zwischen der Schützenstraße und dem Frauenplan nach links in einen Seitenstollen. Diesmal achtete sie nicht sehr auf ihre Umgebung. Sogar die Ratten, die erschreckt vor ihr flüchteten und fiepend ihrem Unmut Luft machten, kümmerten sie nicht. Das Schicksal von Ruth Kollberg und der Journalistin war wichtiger. Tessa mußte notgedrungen ihr Tempo verringern. Die Stollen wurden enger. Zeitweise mußte sie sich sogar bücken, um nicht mit dem Kopf gegen die Decke zu stoßen. Der Sirenenton wurde lauter, schriller. Er schmerzte Tessa in den Ohren. Sie versuchte, den Ton aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen und sich auf ihre selbstgestellte Aufgabe zu konzentrieren. Irgendwo, weit entfernt, erscholl dumpfes Stampfen, Krachen und Bersten. Ein Zeichen, daß die beiden Höllendrachen immer noch wüteten. Tessa tauchte aus einem extrem niedrigen Stollen auf, schaute sich kurz um und wandte sich dann in einen Seitenkanal, der nach rechts führte. Er war so gut wie jeder Stollen, denn längst hatte Tessa die Orientierung verloren. Absolute Dunkelheit umgab sie. Die Helmlampe vermochte kaum, die Finsternis zu durchdringen. Vorsichtig tastete sich Tessa weiter, zuckte zusammen, als ihre Finger das Fell einer Ratte oder eine glitschige Stelle an der Wand berührten. Und dann stolperte die Fahnderin unvermittelt um eine Ecke 74
und in einen gewaltigen Gewölberaum, von dem mehrere Seitenstollen abzweigten. Sie sah die Kerzen, die den Raum unzureichend erhellten und flackernde Schatten auf die Wände warfen. Sie sah den Tisch, auf dem verschiedene Instrumente lagen. Und sie sah noch etwas anderes. Etwas, das sie mit ihren schlimmsten Alpträumen und Erinnerungen konfrontierte. Tessa sah den ausgedienten Behandlungsstuhl eines Zahnarztes, an dessen Lehnen, Nacken- und Fußstützen breite Lederriemen angebracht waren. Die Fahnderin kannte diesen Stuhl. Sie selbst hatte vor zwei Wochen darin gesessen. Mark hatte sie damals aus den Händen eines Teufels in Menschengestalt befreit. (Siehe MH 36!) Tessa riß ihre Pistole aus der Halfter und stürzte zu dem Behandlungsstuhl. Auch hier zweigte ein Stollen ab. Sie versetzte dem Stuhl einen Tritt, stieß ihn zur Seite und tauchte in den Stollen. Der Körper war plötzlich da, kam aus der Dunkelheit und prallte gegen Tessa. Arme umschlangen sie, klammerten sich an ihr fest. Eine schrille Stimme weinte und schrie zugleich, stammelte unverständliches Zeug. Tessa drehte sich halb um. Der Strahl ihrer Helmlampe beleuchtete ein verschmutztes, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Die Fahnderin sah die verfilzten blonden Locken und erkannte die Frau, die sich verzweifelt an sie klammerte und hysterisch schluchzte. Es war Cornelia Wedekind. Tessa versetzte der Volontärin ein paar Ohrfeigen, um sie zur Vernunft zu bringen. An Eifersucht dachte die Fahnderin in diesem Augenblick nicht. »Helfen - Sie mir! Bitte…!« rief die Blondine. Ihre Stimme war leise und kaum verständlich. »Nun helfen Sie ihr doch schon, Frau Kommissarin!« forderte die zynische Stimme eines Mannes, die durch den Stollen hallte. Tessas Kopf fuhr herum. Die Helmlampe beleuchtete einen schwarzgekleideten Mann, dessen Gesicht von einem breitrandigen Filzhut weitgehend verdeckt wurde. Seine behandschuhte Linke preßte sich auf Ruth Kollbergs Gesicht, 75
deren schreckgeweitete Augen zu Tessa herüberstarrten. Die Fahnderin stieß einen Wutschrei aus, befreite sich aus dem Griff der Reporterin und hetzte auf den Mann und seine Gefangene zu. Sie lief direkt in eine Falle. Nach wenigen Schritten verlor Tessa den Boden unter den Füßen, spürte, wie sie fiel. Die Finsternis schien sie zu verschlucken. Hart kam Tessa auf dem Boden auf. Stinkendes Schmutzwasser spritzte nach allen Seiten davon. Ein Wasserschwall ergoß sich über Tessas Gesicht. Aber der Ekel vor der stinkenden Brühe war nichts im Vergleich zu dem Schrecken, der Tessa erwartete. Mühsam rollte sie sich herum und schaute sich um. Sie befand sich in einer Art Kammer. Weit über ihr lief ein Sims an der Wand entlang. Der Boden schien sich zu bewegen. Und dann erkannte Tessa, was den Sims und den Boden bedeckte. In der Kammer wimmelte es von Ratten! Und wie auf Kommando schienen sie alle zu verharren, um sich für einen Massenansturm vorzubereiten. Ihr Ziel war die Fahnderin, die so unvermittelt in ihre Welt eingedrungen war. Dutzende von funkelnden Augen schauten haßerfüllt zu Tessa herüber. Und Tessa Hayden schrie. * Ich hatte Pit auf der Fahrt zur Schützenstraße meinen Plan auseinandergesetzt. Er informierte sofort seine Kollegen. Während sich das SEK am Zielort sammelte und auf Pits Befehle wartete, fuhren wir durch ein Chaos. Überall auf den Hauptverkehrsstraßen standen zertrümmerte, brennende Autos. Feuersäulen schossen in den Himmel. Direkt vor uns brach die Asphaltdecke auf, und der grauenvolle Kopf eines Höllendrachen erschien. Eine Flammenzunge raste aus seinem weit aufgerissenen Maul. Pit drückte entschlossen das Gaspedal durch. Die Flammen 76
sausten an den Seitenfenstern vorbei und verpufften wirkungslos. Der Drache kreischte wütend. Die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun. Vereinzelt hatten die Explosionen kleinere Brände entfacht, die aber rasch unter Kontrolle gebracht wurden. Wir aber hatten nur ein Ziel - wir mußten den Drachen vorerst ignorieren und dem irren Bombenleger einen Strich durch die Rechnung machen. Und nach Möglichkeit so, daß er nichts davon bemerkte und uns zuvorkommen konnte. Am Einsatzort Schützenstraße blieb ich im Wagen und duckte mich tief in die Sitze. Ein großer, langhaariger Mann, der in etwa meine Statur hatte und dessen Kleidung der meinen glich, wartete, bis Pit den Wagen gestoppt hatte, und tauchte dann an der Beifahrerseite auf. Ein Beobachter mußte den Eindruck gewinnen, daß ich zusammen mit dem Hauptkommissar an der Schützenstraße Maßnahmen gegen den Attentäter durchführte. Pit ließ das SEK in die Kanalisation steigen, von wo aus sich die Männer nach Osten zum Frauenplan und weiter zur Bibliothek vorarbeiten sollten. Unterwegs war auf Sprengsätze zu achten. Auch Mitglieder des Bombenräumkommandos kletterten in die Tiefe. Man konnte Pit ansehen, daß er sich um die Männer sorgte. Wiederholt hatte er sie vor der Gefährlichkeit des Höllendrachen gewarnt. Geduldig wartete ich, bis Pit den restlichen Männern vom Sprengkommando seine Anweisungen erteilt hatte. Ich richtete mich erst im Sitz auf, als Pit den Wagen wieder zurück Richtung Bibliothek lenkte. »Das hat hoffentlich geklappt. Wenn der Irre den Eindruck hat, daß wir mitten in der Stadt in der Kanalisation herumkriechen, wird er bestimmt über unsere Blödheit Tränen lachen«, sagte Pit. »Und genau darauf baue ich meinen Plan auf, Pit. Während sich der Kerl ins Fäustchen lacht, gehen wir beide ebenfalls auf Tauchstation. Aber an einer anderen Stelle.« Wir stellten den Wagen in der Nähe des Marktplatzes ab und arbeiteten uns durch Seitenstraßen zum Platz der Demokratie vor. Hier hoben wir mit vereinten Kräften einen Kanaldeckel an und kletterten nach unten. Eine bereitstehende Polizeistreife verschloß über uns den Schacht wieder. Pit hatte die Sprengmeister vom Bombenkommando zur Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek beordert, wo sie sich 77
bereithalten sollten. Wir hatten Werkzeug und starke Hallogenstrahler mitgenommen, um uns hier unten zurechtzufinden. Eilig schaute sich Pit den Kanalisationsplan an und bestimmte die Richtung, in die wir gehen sollten. Wir hasteten durch die verwinkelten Stollen und erreichten irgendwann einen Hauptkanal, der laut Plan eine Verlängerung des Stollens von der Steubenstraße war, in dem sich offenbar Tessa und das Team der Spurensicherung befanden. Ich leuchtete die Wände und Decken ab, während Pit seinen Lampenstrahl in die Dunkelheit vor uns richtete. Unendlich weit entfernt hörten wir Stampfen und Gebrüll. Pit warf mir einen fragenden Blick zu. »Das dürfte der Drache sein«, sagte ich. »Hoffen wir, daß er uns genügend Zeit läßt, die Bomben zu entschärfen.« Aber noch war es nicht soweit. Zunächst hieß es, die Sprengsätze zu finden! Wir eilten weiter. Bald würden wir die Bibliothek erreicht haben. Ich konnte nur hoffen, daß ich mich in meiner Annahme nicht irrte. Wenig später entdeckte ich den ersten Sprengsatz. Er war zwischen einigen Leitungsrohren an der Stollendecke angebracht. Ich verschränkte meine Hände zu einer Räuberleiter und ließ Pit hochsteigen. Er untersuchte den Sprengsatz. »Kannst du ihn entfernen?« fragte ich. »Ja. Aber entschärfen ist nicht drin. Die Bombe ist mit einem hochempfindlichen Zündgehäuse versehen. Wenn wir das Gehäuse abnehmen, kracht der ganze Kanal zusammen.« Ich bat Pit, den Sprengsatz nach unten zu holen. Gemeinsam betrachteten wir die Bombe, die in ihrer Einfachheit erschreckend wirkte. Ein Paket Plastiksprengstoff war mit einem kleinen Plexiglasgehäuse versehen, in dem die röte Lampe eines Funkpeilsenders blinkte. Wenn der Irre auf einen Knopf drückte, ging die Bombe hoch. Aber zusätzlich hatte der Zünder auch noch einen Zeitmechanismus aufzuweisen, an dem man manuell den Explosionszeitpunkt einstellen konnte. »Wenn wir den Sprengzeitpunkt auf morgen früh einstellen, müßten wir genügend Zeit haben, die Bomben zu entschärfen«, überlegte ich laut. »Vergiß es«, erwiderte Pit kurz. »Wenn der Irre auf seinen 78
Sender drückt, geht das Ding trotzdem hoch. Die Funkzündung hat Vorrang.« Wir legten den Sprengsatz vorsichtig auf den Boden und setzten unseren Weg fort. Auf diese Art fanden wir noch zwei weitere Sprengpakete, die zwischen den Deckenrohren angebracht waren. Auch diese Bomben legten wir in schmalen Nischen ab. Auf dem restlichen Weg zur Bibliothek stießen wir auf keine weiteren Kracher. Der Attentäter hatte sie vermutlich in diversen Seitenstollen versteckt. Wir gelangten in einen schmalen Vorraum, von dem mehrere dunkle, enge Stollen abgingen, blieben aber auf dem Hauptweg, bis wir eine Art Kammer erreichten. Pit schaute sich sorgfältig um, markierte einige Punkte auf seiner Karte und schielte nach oben. »Direkt über uns müßte die Bibliothek sein«, murmelte er. Wir untersuchten die Kammer Zentimeter für Zentimeter. Aber wir fanden keinen Sprengsatz. Pit ließ sich zu Boden sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist zum Verzweifeln. Die einzige Möglichkeit, die wir hatten, um ein Inferno zu verhindern, ist futsch. Wir schaffen es nicht, Mark. Eins zu null für die Hölle. Falls sie überhaupt dahintersteckt.« »Noch ist nicht aller Tage Abend«, meinte ich poetisch. Ich ließ mir noch mal alles durch den Kopf gehen, studierte den Kanalisationsplan und folgte in Gedanken dem Weg, den wir bis hierher gegangen waren. Ich näherte mich einer schmalen, dunklen Öffnung, die aus der Kammer führte, und schaute nach oben. In diesem Stollen war es total still, während über der Kammer dumpfes Grollen und Rauschen zu hören war. »Wir sind falsch, Pit«, erklärte ich. »Müssen wir wieder zurück?« »Nein. Über uns ist zwar die Bibliothek, aber nicht das eigentliche Gebäude, sondern der Platz davor. Ich höre den Straßenverkehr. In dem Stollen dort ist es totenstill. Das könnte bedeuten, daß die Bombe in einem der Seitenkanäle versteckt ist. Wenn er die Bibliothek erwischen will, muß er die Bombe direkt unter dem Gebäude plaziert haben.« Wir nahmen uns den erstbesten Stollen vor. Er war äußerst schmal. In der Röhre stießen wir auf eine große Anzahl Ratten, die uns aber aus dem Weg gingen. 79
Nach einer halben Ewigkeit erreichten wir einen Knotenpunkt, an dem sich mehrere Kanäle vereinigten. Hier stank es abartig! Ich studierte unsere Kanalisationskarte, als Pit mich am Arm packte und heftig zog. Ich schaute zu ihm hin und folgte seinem Blick. Der Strahl seiner Hallogenlampe riß einen rechteckigen Kasten von einem halben Meter Länge aus der Finsternis. Das Gehäuse war aus Plexiglas. Man konnte einen komplizierten Mechanismus erkennen, der mich an ein riesiges Uhrwerk erinnerte. Im Innern des Gehäuses sahen wir eine schmutziggraue Knetmasse. Wir hatten die Zentraleinheit der Bombenkette vor uns. Und sie enthielt genügend Plastiksprengstoff, um ganz Weimar mit einem Schlag dem Erdboden gleichzumachen! * »Dann hole ich mal die Experten«, meinte Pit. »Dafür ist keine Zeit. Bis du die Leute hierhergeführt hast und sie beraten haben, wie sie vorgehen wollen, kann es schon zu spät sein.« »Wenn du damit andeuten willst, daß wir beide die Bombe entschärfen sollen, kannst du es dir gleich aus dem Kopf schlagen. Ich bin nicht lebensmüde.« »Du bist hier unten und stehst bereits vor dem Knaller!« »Ich rühr das Ding nicht an, Mark. Auf keinen Fall!« beharrte Pit. »Sollst du auch nicht. Aber du wirst mit deinen Kollegen über Funk Kontakt aufnehmen und dir Anweisungen holen.« Ich näherte mich dem Plexiglaskasten und inspizierte ihn von allen Seiten. Auf dem Kasten turnte eine fette Ratte herum, die von unserer Anwesenheit überhaupt nicht begeistert war. Mit einem schrillen Fiepton sprang sie von der Mega-Bombe herunter und verschwand in der Dunkelheit. In diesen Augenblicken erinnerte ich mich an die Straßenkarte von Weimar, die ein Sonnenstrahl getroffen hatte. Das Ereignis war wohl doch ein Vorzeichen auf drohendes Unheil gewesen, denn der Sonnenstrahl hatte die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek zuerst verbrannt und sich dann auf ganz Weimar ausgedehnt. 80
Wenn diese Bombe hochging, erzielte sie ungefähr den gleichen Effekt. Pit funkte die Sprengmeister an. »Wir haben die Zentraleinheit gefunden«, hörte ich ihn sagen. »Wir werden selbst versuchen, sie zu entschärfen. Alles andere würde zu lange dauern. Sie müssen uns instruieren.« Ich hatte links und rechts des Gehäuses zwei Klemmen ertastet. Pit beschrieb die Bombe in allen Einzelheiten. »Sie sagen, du kannst die Klemmen lösen und die Haube abnehmen«, erklärte der Hauptkommissar. Ich tat, wie mir befohlen. Der Zündmechanismus mit seinen unübersichtlichen Wirrwarr aus Drähten, Zahnrädchen, Röhren, Sicherungen und Schrauben lag nun offen vor mir. Den Schweiß auf meiner Stirn ignorierte ich. »Du bist wieder dran«, teilte ich meinem Freund leise mit. Pit hatte Schwierigkeiten mit dem Funkgerät. Der Empfang war äußerst schwach. Immer wieder wurde die Stimme des Sprengmeisters von Statikgeräuschen unterbrochen. Auch Pits Mitteilungen konnten oben nicht vollständig empfangen werden. Pit mußte sich mehrmals wiederholen. Endlich hatte Pit die Anweisung von oben verstanden. »Ganz rechts unten ist eine kleine Schraube. Die mußt du lösen. Aber vorsichtig. Jede Erschütterung des Mechanismus könnte die Detonation auslösen.« Ich suchte einen Schraubenzieher aus der Werkzeugtasche, fand die Schraube, drehte sie unendlich langsam aus dem Gewinde und ließ sie zu Boden fallen. »Schraube ist los«, sagte Pit ins Funkgerät. »Und weiter?« Während ich auf Pits Anweisungen wartete, spürte ich, wie mir der Schweiß in die Augen tropfte. Die Anspannung war kaum zu ertragen. »Du kannst jetzt eine schmale Halterung unterhalb des Mechanismus lösen«, gab Pit an mich weiter. »Von dort müßte ein Messingdraht zu einem Gestänge führen, das von dem Zahnrad in Gang gehalten wird. Diesen Draht schneidest du durch.« Ich brauchte nicht lange, bis ich den Messingdraht gefunden und durchtrennt hatte. Das Gestänge blieb stehen. Das Zahnrad hörte auf, sich zu drehen. Wieder gab Pit den Stand unserer Arbeit noch oben durch und 81
mußte zweimal wiederholen. »Du mußt jetzt das Gestänge entfernen. Dazu gibt es zwei Halterungsschrauben«, sagte er. Ich löste die Schrauben, nahm das Gestänge heraus und warf es weg. Im selben Augenblick setzte sich das Zahnrad in Gang! Ich zuckte zurück. Beinahe setzte mein Herzschlag aus. Ich erwartete den grellen Blitz der Detonation! Aber außer dem Zahnrad rührte sich nichts. »Schluß! Wir hören auf! Das Ding geht hoch! Ich sag oben Bescheid!« Pit kriegte schier einen Koller. »Wir bleiben«, erklärte ich entschieden. »Das ist doch bloß ein kleines Zahnrad. Sonst ist weiter nichts passiert.« »Du hast gut reden! Und wer garantiert dir, daß dieses kleine Rädchen nicht den großen Knall in Gang setzt?« »Mein Gefühl.« Pit tobte und rannte in der Kammer herum wie Rumpelstilzchen um sein Lagerfeuer. »Weißt du, was ich auf dein Gefühl gebe, Mark? Willst du es wissen?« »Spar's dir. Laß uns weitermachen.« »O Mann, warum muß ich mich immer auf solche Himmelfahrtskommandos einlassen?« Pit verdrehte die Augen. »Die Zeitreisen mit dir sind schon schlimm genug. Warum willst du jetzt mit Gewalt in die Hölle fahren und mich mitnehmen?« Ich grinste. »Sag bloß, es hat dir bisher keinen Spaß gemacht.« »Hier hört der Spaß für mich auf, Mark! Verdammt noch mal, ich will noch was von meiner Pension haben!« »Nur die Besten sterben jung«, sagte ich ruhig. »Wir sind nur gut. Was ist der nächste Schritt?« Wir arbeiteten uns Stück für Stück zum Mittelpunkt des Mechanismus vor. Es war eine Heidenarbeit, aber wir schafften es. Zwischendurch wurden wir unterbrochen, als von oben die Nachricht kam, daß zwei Mann aus Kollbergs Team aufgetaucht waren. Sie hatten Anweisungen von Tessa dabei. Pit veranlaßte sofort alles Notwendige. Mit einer Bildröhre, wie man sie in Fernsehgeräten findet, ging es weiter. Ich legte gemäß Anweisung von oben die Röhre frei, sondierte sie und klemmte sie ab. 82
Wieder ein Stück weiter. Der leise Piepton ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Ein Display erschien. Auf ihm waren zwei Worte zu erkennen. Herzlichen Glückwunsch! Pit kriegte beinahe einen Herzinfarkt. »Was soll denn die Scheiße jetzt?« fragte er gequält. »Unser Freund kommuniziert mit uns«, antwortete ich. Aus dem Innern des Mechanismus ertönte eine metallisch klingende Stimme. »Sie sind sehr weit gekommen, aber hier haben Sie das Ende Ihres Weges erreicht. Leben Sie wohl!« Pit wirbelte herum und ergriff die Flucht, obwohl er damit rechnen mußte, daß er im Falle einer Detonation niemals den Ausstieg erreichen würde. Anstatt des erwarteten Knalls geschah etwas anderes: Mein Handy klingelte. Es war sonderbar, daß ich hier unten, abgeschieden von der Außenwelt, ein Gespräch empfangen sollte. »Du hast sie also gefunden, Hellmann!« dröhnte mir die Stimme des Bombenlegers entgegen. »Und du hast an ihr herumgespielt! Das war dumm von dir. Sehr dumm. Du läßt mir keine andere Wahl. Wenn ich deine kleine Freundin, die Kommissarin, erledigt habe, bumst es!« »Du verrechnest dich, du Schwein!« zischte ich und warf wütend das Handy in die Ecke. In fieberhafter Eile entfernte ich die Röhre und sah mich vier dünnen Kabeln gegenüber. Einem weißen, einem roten, einem gelben und einem braunweiß gestreiften. Vier Drähte, die unser Schicksal bestimmten. Ich nahm den Drahtschneider zur Hand. »Welchen soll ich zuerst kappen?« fragte ich. Pit gab die Frage nach oben weiter. Statikgeräusch! Mein Freund wiederholte die Frage. Und wieder erhielt er nur statisches Rauschen zur Antwort. Pit wechselte die Frequenzen und versuchte verzweifelt, Kontakt mit den Sprengmeistern zu bekommen. Es war vergebens. »O verdammt! Auf die Dinger ist eben kein Verlaß!« fluchte Pit und schleuderte das Walkie-talkie gegen die Wand. Wir waren auf uns allein gestellt. Jetzt kam es darauf an. Ich setzte den Drahtschneider am weißen Kabel an. 83
Aus einem Seitenstollen erklangen Schritte. Pit warf mir einen alarmierten Blick zu. War es der mysteriöse Bombenleger, der uns beim Entschärfen seiner Höllenmaschine hindern wollte? Ich deutete mit dem Kopf zum Stollen. Der Hauptkommissar zog die SIG Sauer und zielte in die Dunkelheit, während er mit der Linken die Stollenöffnung ausleuchtete. Die Schritte kamen immer näher. Ich konzentrierte mich auf das weiße Kabel und schloß die Backen des Drahtschneiders. »Aaaah!« In dem Schrei schwang wilde Entschlossenheit und Wut mit, als die dunkle Gestalt mit dem bleichen Gesicht aus dem Seitenstollen in die Kammer sprang. Pits Waffe ruckte hoch. Der Schuß zerriß die Stille in der Kammer und brach sich an den Wänden. Und ich kappte den Draht! * Tessa kreischte und schlug wild um sich. Die Nager wichen zunächst vor der hysterischen Frau zurück, aber lange würde sie das sonderbare Benehmen des Menschenwesens nicht abhalten. Weit über Tessa, am Rande des Schachts, tauchte die schwarzgekleidete Gestalt des Mannes auf, der für das ganze Chaos und Tessas bedrohliche Situation verantwortlich war. »Meine liebe Kommissarin, fühlen Sie sich wohl?« fragte er höhnisch. »Gehen Sie zum Teufel!« gab Tessa zurück, nachdem sie sich einigermaßen unter Kontrolle hatte. »Sicher. Aber noch ist es nicht soweit. Zuerst muß ich ein Versprechen einlösen, das ich Ihrem Freund Hellmann gegeben habe!« Tessa lief es bei der Erwähnung von Marks Namen eiskalt über den Rücken. »Wo ist er?« fragte sie. »Was haben Sie mit ihm gemacht?« »Beruhigen Sie sich. Noch ist ihm nichts geschehen. Aber das dürfte sich bald ändern, wie ich zu meinem Bedauern feststellen muß. Er wird den Untergang seiner geliebten Heimatstadt noch miterleben, bevor er das Zeitliche segnet. 84
Der Ärmste verschwendet gerade seine Zeit. Meine Helfer haben mir berichtet, daß er mit einer Polizeieinheit recht weit von hier nach versteckten Bomben sucht.« Der Schwarzgekleidete lachte schrill. »Ich kann nur hoffen, daß Hellmann nicht meinen Drachen begegnet, bevor ich meinen Triumph ausgekostet habe.« Ein lauter Piepton ließ den Mann mit dem Schlapphut herumfahren. Er warf seinen schwarzen Umhang zur Seite, riß einen Clip vom Gürtel, auf dem ein grünes Lämpchen hektisch blinkte. »Dieser verdammte Mistkerl hat mich reingelegt!« brüllte der Unheimliche. »Irgendwie hat er es geschafft, an die Zentraleinheit zu gelangen, und jetzt bastelt er daran herum. Aber es wird ihm nicht gelingen! Niemals!« Er warf noch einen Blick nach unten. »Ich muß Sie nun leider verlassen, Teuerste. Dringende Geschäfte, Sie verstehen? Ich hätte mich viel lieber ein wenig mit Ihnen befaßt, aber es soll wohl nicht sein. Damit Sie nicht einsam und allein sterben müssen, wird Ihnen die junge Dame hier Gesellschaft leisten!« Tessa schaffte es gerade noch, sich herumzurollen, bevor die blonde Reporterin mit einem ängstlichen Aufschrei in den Schacht stürzte. Tessa stemmte sich hoch und richtete die Pistole nach oben, aber der Unheimliche war nicht mehr da. Nur sein Gelächter hallte durch die Stollengänge der Kanalisation. Sein Verschwinden schien gleichzeitig das Startzeichen für die Rattenschar zu sein. Mit wildem Fiepen stürzten sich die Nager auf die beiden Frauen! »Shit, verdammter!« brüllte Tessa und hieb verzweifelt um sich, wandte den Ratten dabei den Rücken zu. Cornelias Schrei ging im Kreischen der Ratten unter. Wie eine Sturzflut ergoß sich der Strom der Nager über die beiden Frauen. Die pelzigen Gesellen waren überall gleichzeitig. Die langen Schwänze peitschten den Frauen über Kopf und Gesicht. Dichtes Fell strich an ihren Wangen entlang. Einige der Tiere versuchten, in die Kleidung der Frauen zu kriechen und sich zu Brust und Bauch vorzuarbeiten, um dort ihr grausiges Werk zu beginnen. In Tessa erwachte der Kampfwille. Obwohl das Gefühl, von den Ratten überrannt zu werden und ihnen als Futter zu dienen, ihr beinahe den Magen umdrehte, gab sie nicht auf. Sie biß die 85
Zähne zusammen, bahnte sich mit Hieben einen Weg zum Rand der Kammer und krabbelte daran entlang. Dutzende Ratten hingen an ihrem Körper, hatten sich in ihre Kleidung verbissen. Tessa suchte die Wände des Schachtes ab. Ihre Überlegungen waren dahingehend, daß auch die Ratten hier unten nicht ewig existieren konnten, falls sie sich nicht gegenseitig auffressen wollten. Also mußte es einen Zugang zu der Kammer geben. Und Tessa fand ihn! Sie hatte gerade eine Ratte aus ihren Haaren entfernt und gegen die Wand geschleudert, als ihre rechte Hand, die an der Wand entlangtastete, ins Leere griff. Hoffnung stieg in Tessa auf. Sofort wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Stollenwand zu, strich mit den Fingern über die glitschigen Steinquader und ertastete eine Art Durchbruch. Es war eine schmale, niedrige Öffnung. Gerade breit genug, daß Tessa hindurchkriechen konnte. »Helfen Sie mir!« hörte sie hinter sich den verzweifelten Schrei der Reporterin. »Bitte, lassen Sie mich nicht allein!« Offenbar hatte die Blondine bemerkt, daß Tessa einen Ausweg gefunden hatte. Die Fahnderin schaute zurück. In der Dunkelheit zeichnete sich schwach die mit Ratten behangene Gestalt ihrer Leidensgenossin ab. Die Ratten befanden sich in ständiger Bewegung und verwandelten die Frauengestalt in ein bizarres, undefinierbares Gebilde. Tessa warf sich nach vorn, griff in das Meer von Ratten und kriegte eine Hand zu fassen. Die Fahnderin zerrte heftig daran. »Kommen Sie!« stieß sie hervor. »Wir müssen es versuchen!« Cornelia Wedekind wußte nicht, was die Kommissarin mit ihren Worten meinte, aber sie wußte, jeder noch so aussichtslose Fluchtversuch war besser, als sich hier den Ratten zu ergeben. »Es wird ziemlich eng werden«, erklärte Tessa und keuchte. »Aber Sie müssen durch, hören Sie? Auch wenn es noch so schmerzt - Sie müssen es versuchen! Eine zweite Chance gibt es nicht!« Die Blondine sah Tessa in der schmalen Öffnung verschwinden. Da der Durchlaß gerade mal breit genug war, um den Körper der Kommissarin aufzunehmen, streifte sie beim Hineinkriechen die meisten Ratten ab. Die Tiere gaben unter Protest ihren Halt an Tessas Kleidung auf, um nicht an der Wand zerquetscht zu 86
werden. Ähnlich erging es Cornelia. Sie war üppiger gebaut als Tessa, aber sie preßte die Lippen aufeinander und schob sich in die Öffnung. Sie konnte nur flach atmen, und der Schweiß lief ihr über das verschmutzte, von mehreren Biß- und Kratzwunden bedeckte Gesicht. Aber sie mußte weiter, wenn sie den verdammten Rattenbiestern entgehen wollte. Der niedrige Gang machte einen scharfen Knick nach rechts. Cornelia stöhnte auf. Jetzt mußte sie sich auch noch um eine Ecke schlängeln. Ihr blieb auch wirklich nichts erspart. Unter lautem Ächzen und Stöhnen und mit Tessas Hilfe gelang es Cornelia, die Stollenecke hinter sich zu bringen. Die beiden Frauen beschleunigten ihre Bewegungen, schoben sich mit Ellbogen und Knien weiter. Ihr Keuchen erfüllte den Gang. Und dann war der Weg zu Ende. Eine Mauer ragte vor Tessa empor. Die Fahnderin ließ ihre Hände über das kalte Gestein gleiten, suchte mit fahrigen Bewegungen nach einem Ausweg. Panik erfaßte sie. Sollte ihr wirklich vom Schicksal bestimmt worden sein, hier in einem niedrigen Stollen zu vermodern oder von Ratten gefressen zu werden? Die Blondine stieß einen gellenden Schrei aus, der Tessa in den Ohren schmerzte. »Was haben Sie denn, verdammt?« »Die Ratten!« keuchte Cornelia. »Sie folgen uns!« Jetzt hörte auch Tessa die fiependen Schreie der Nager, die immer näher kamen. Die Ratten wollten sich ihr Festtagsmahl nicht entgehen lassen. In ohnmächtiger Wut hämmerte Tessa mit beiden Fäusten gegen die Wand, die ihnen den Weg versperrte. Ihr war zum Heulen zumute. Immer wieder prallten ihre Fäuste an dem rauhen Gestein ab bis sie plötzlich in der Mauer zu versinken schienen! Ein befreiendes Schluchzen löste sich aus Tessas Kehle. Mit zitternden Fingern ertastete sie eine schmale Öffnung. »Hier geht's weiter!« flüsterte sie rauh und schob sich nach vorn. Wieder bedurfte es ihrer vereinten Kräfte, um Cornelia Wedekind durch die Maueröffnung zu bekommen. Aber schließlich war es geschafft. Die beiden Frauen fielen erschöpft nebeneinander zu Boden. In ihrem Glückstaumel fiel ihnen nicht 87
auf, daß sie in einem breiten Raum angelangt waren, der ihnen Bewegungsfreiheit ließ. Aber da waren noch die Ratten. Und die Nager strömten mit unverminderter Wut und Gier nach vorn. Schon hatten die ersten Ratten die Mauer überwunden und stürzten sich auf die beiden erschöpften Frauen. Tessa und Cornelia kreischten ihre Angst gleichzeitig hinaus. Sie rollten herum, kamen auf die Knie, dann auf die Beine und taumelten vorwärts. Die blonde Reporterin überholte Tessa in ihrer Panik. Schreiend stürzte sie an der Kommissarin vorbei. Tessa sah die Ratten, die sich im Nacken ihrer Gefährtin festgebissen hatten und auf der blonden Frau herumturnten. Die Fahnderin wandte sich um und erstarrte. Wie eine breite Lawine übereinanderhastender Leiber schoben sich die Ratten auf sie zu. Selten hatte Tessa einen schrecklicheren Anblick erlebt. Die vordersten Nager hievten sich hoch und sprangen Tessa an. Kleine Klauen hakten sich an ihrer Kleidung fest. Die Nagezähne hieben in das dicke Leder ihrer Jacke und verfehlten die Haut nur um Haaresbreite: Tessa war dem Ansturm der Ratten nicht gewachsen, taumelte rückwärts und versuchte, möglichst viele Nager von sich wegzuschleudern. Aber wo sie sich von einer Bestie befreite, nahmen gleich drei neue deren Platz ein. Tessa war viel zu sehr mit sich und dem wuselnden Alptraum beschäftigt, daß sie den gellenden Angstschrei der Reporterin nur im Unterbewußtsein wahrnahm. Wenige Schritte später wußte Tessa, warum die Reporterin geschrien hatte. Sie verlor den Boden unter den Füßen! Es kam der Kommissarin wie eine halbe Ewigkeit vor, in der sie durch die Finsternis fiel, bis sie in die stinkende Kloake klatschte und die Brühe über ihr zusammenschlug. Ein Gutes hatte das unfreiwillige Bad in dem eisigen Abwasser: Es hatte Tessa und die Reporterin von den Ratten befreit. Die beiden Frauen standen zitternd auf und folgten der Strömung, die sie vorwärtstrieb. Das Wasser reichte ihnen bis über die Knie. Sie hasteten keuchend durch die Dunkelheit. Nur die Fluten glitzerten matt, sonst war nichts zu erkennen. Allmählich nahm die Strömung ab, versiegte irgendwann bis auf 88
ein kleines Rinnsal, das sich vor den Frauen teilte. Tessa blieb keine Zeit, die Richtung zu bestimmen, in die sie gehen sollten. Die Volontärin war, von Panik getrieben, an ihr vorbeigerannt und hatte sich nach links gewandt. Ihre Atemzüge gingen stoßweise und erfüllten die Luft. Tessa blieb nichts übrig, als Cornelia Wedekind zu folgen. »Warten Sie!« versuchte sie, die Blondine zu bremsen. »Sie wissen ja überhaupt nicht, wohin dieser Gang führt!« Augenblicke später bekam Tessa eine Antwort, aber anders, als sie es erwartet hatte. Vor der Blondine zeichnete sich eine helle Stollenöffnung in der Dunkelheit ab. Mit einem Laut, der halb Stöhnen, halb Schreien war, stürzte sich Cornelia Wedekind in die willkommene Helligkeit. Ein lauter Knall brach sich an den Stollen wänden. Tessa riß ihre Pistole heraus und warf sich ebenfalls durch die Öffnung. Verwirrt schaute sie sich um. Ihre Verwirrung verwandelte sich in ohnmächtige Wut, als sie die blonde Reporterin erkannte, die einen Mann umarmte und sein Gesicht mit wilden Küssen bedeckte. Und dieser Mann war - Mark Hellmann! * Ich hatte kaum Zeit, auf die Beine zu kommen, als mir auch schon eine völlig verdreckte, aus zahlreichen Wunden blutende Cornelia Wedekind um den Hals fiel und mich abküßte. Vergeblich versuchte ich mich aus ihrer Umarmung zu befreien. Pit hatte beim Erscheinen der Blondine die Pistole ruckartig hochgerissen. Die Kugel war an der Stollendecke abgeprallt und als Querschläger davongejault. Zwischen Cornelias Schluchzen und den andauernden Küssen hörte ich erneut Schritte aus dem Seitenstollen. Und dann erschien Tessa in der Öffnung! Ich verdrehte die Augen. Auch das noch! zuckte es durch mein Hirn. Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte. Jetzt muß ich wieder eine Szene über mich ergehen lassen! Mußte ich nicht. Tessas Augen funkelten zwar vor unterdrückter Wut, als sie mich in den Armen der Blondine sah, aber sie ignorierte mich. 89
Meine Freundin warf den Kopf zurück und begrüßte ihren Chef überschwenglich. »Wo kommt ihr beiden denn her?« fragte der Hauptkommissar. »Das ist eine lange Geschichte«, gab Tessa zurück. »Ich erzähl sie dir, wenn wir im Büro sind. Wenn die beiden mit Knutschen fertig sind, können wir gehen.« Ich schob Cornelia sanft von mir. »Leider nicht«, erwiderte ich. Tessa fuhr herum und blitzte mich an. »Was soll das heißen?« Wortlos deutete ich auf die Zentraleinheit der Bombenkette. Pit kam zu mir herüber. »Ich dachte, du hast das Kabel durchgeschnitten!« rief er. »Hab ich auch. Aber der Mechanismus ist noch nicht zum Stillstand gekommen.« »Dann tu endlich was dagegen!« Ich wandte mich wieder der Bombe zu. Jetzt erst wurde Tessa auf den Sprengsatz aufmerksam. Sie kam an meine Seite. »O mein Gott!« hauchte sie. »Hoffentlich hört er dich.« Ich hatte noch die Auswahl unter drei Kabeln. Die Backen des Drahtschneiders näherten sich dem gelben Strang. »Warte!« rief Tessa. »Er hat bestimmt eine Falle eingebaut!« »Wie kommst du denn darauf?« »Weil ich weiß, wer sich das ausgedacht hat. Ligusta steckt dahinter!« Ich fühlte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich. Endlich wußte ich, wer für das Inferno von Weimar verantwortlich war. Waldemar Ligusta! Jener Mann, der unter dem Beinamen ‚Der Schnitzer' mehrere Frauen auf bestialische Weise ermordet hatte. Ich war ihm begegnet, als er im Auftrag der Hölle einen Werwolf beschworen und in der Nähe von Magdeburg ein schreckliches Blutbad angerichtet hatte. Nur zu deutlich erinnerte ich mich an die Narbe, die ich ihm mit dem Silberdolch beigebracht hatte, und an meinen Zweikampf mit dem Teufelsdiener. (Siehe MH 36!) »Bist du sicher?« fragte ich vorsichtshalber. »Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat Ruth Kollberg in seiner Gewalt. Und er hat dich erwähnt. Dein Trick hat nur zeitweise funktioniert. Ligusta weiß, daß du an seiner Bombe herumbastelst, und wird jeden Augenblick zünden!« Ich näherte den Drahtschneider wieder dem gelben Kabel. 90
»Glaube ich nicht. Er will seinen Triumph auskosten. Ligusta ist sadistisch genug, um unseren Tod so lange wie möglich hinauszuzögern.« Rasch faßte ich einen Entschluß und kappte den gelben Draht. Die Sekunden tickten vorbei. Plötzlich erschien auf dem LCD-Display ein dreieckiges Gesicht, das ich nur zu gut kannte. »Wieder daneben, Hellmann!« hörte ich eine metallische Stimme. »Aber mein Kompliment, daß du es bis hierhin geschafft hast. Ich freue mich schon auf dich! Bis gleich!« Wütend kniff ich die Augen zusammen! Ich hatte die Wahl zwischen zwei Kabeln. Ein rotes und ein braun-weiß gestreiftes. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Bomben. Aber ich wußte, daß das Zündkabel meistens rot war. Langsam ergriff ich den roten Draht, zog ihn zurecht und schob den Drahtschneider nach vorn. »Bist du verrückt?« rief Pit. »Nimm den anderen Draht! Dem Kerl traue ich zu, daß er dich mit dem roten Kabel in die Irre führen will!« »Möglich. Aber wenn nicht, haben wir nicht mal mehr Zeit zum Beten!« »Verflucht, ich weiß doch auch nicht, was im Kopf dieses Irren vorgeht!« schrie Pit verzweifelt. »Also bleibt die Entscheidung bei mir. Ich nehme den roten Draht!« Die Backen der Zange näherten sich dem Kabel. »Halt! Warte!« rief Tessa. Ich verdrehte die Augen. Diese ewigen Unterbrechungen nervten. »Pit hat vielleicht recht«, meinte Tessa. »Nimm den gestreiften Draht!« Ich holte tief Luft und schwenkte zu dem braun-weißen Kabel um. »Hellmann!« Ligustas wohlmodulierte Stimme hallte durch das Stollensystem. »Du hast einen Fehler gemacht! Hast du geglaubt, ich merke nicht, daß du an der Zentraleinheit herumbastelst? Zu schade, daß du die Zerstörung Weimars nicht mehr miterlebst, Hellmann. Aber ein Trost bleibt mir. Wenn ich gleich auf den Knopf drücke, fliegst du zusammen mit deiner Lieblingsbibliothek und im Kreis deiner Freunde in die Luft! Alles auf einen Streich! Ein herrliches Gefühl. Und was die Bombe nicht schafft, erledigen 91
meine Drachenfreunde! Leb wohl, Hellmann!« Ich schwankte immer noch zwischen den beiden Kabeln, als Ligusta mich zu einer Entscheidung zwang. Er aktivierte die Bombenkette! Ein heller Summton leitete die Prozedur ein. Auf dem Display erschien die mir bereits bekannte Zahl 6.6.6. Dann verwandelten sich die Ziffern. 0.6. Der Countdown hatte begonnen. In wenigen Sekunden würden sämtliche Sprengsätze gleichzeitig detonieren. Weimar würde buchstäblich im Erdboden versinken. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Die Uhr war weitergelaufen. Null Punkt Drei. Ich schluckte. Meine Finger waren klamm. Null Punkt Zwei. Ich holte tief Luft. Eine Entscheidung war fällig. Der Drahtschneider berührte ein Kabel, schwenkte dann blitzschnell zum nächsten. Null Punkt Eins. Ich schloß die Augen und durchtrennte das Kabel… * Das Display erlosch. Das Zahnrad bewegte sich nicht mehr. Die Detonation blieb aus. Auch die anderen Sprengsätze waren nicht explodiert. Ein Alptraum war zu Ende. Stumm schmiegte sich Tessa an mich. Pit drückte mir wortlos die Schulter. Ich hörte gedämpft das Gebrüll und Gestampfe des Höllendrachen und wußte, daß uns noch ein schwerer Kampf bevorstand. »Holen wir uns diesen Mistkerl!« brummte ich, schob Tessa von mir, nahm den Hallogenstrahler und verließ die Kammer. Mit raschen Schritten jagte ich in die Richtung, aus der die Geräusche zu hören waren. Dort mußte auch Waldemar Ligusta zu finden sein. Wir rannten durch den Hauptstollen. Unser Weg führte uns von 92
der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek weg. Ich rechnete damit, jeden Augenblick auf den Höllendrachen oder seine Verbündeten, die Zwerge, zu treffen. Der Boden erzitterte und erbebte. Die Wände schwankten. Mörtel rieselte auf uns herunter. Der Drache konnte nicht mehr allzu weit entfernt sein. »Vorsichtig!« rief ich und gab meinen Begleitern ein Zeichen. Pit und Tessa hielten ihre Pistolen schußbereit, obwohl sie damit gegen den Drachen kaum etwas ausrichten konnten. Sie würden die Bestie höchstens irritieren. Der Siegelring an meiner rechten Hand reagierte auf die dämonische Ausstrahlung der Kreatur. Er vibrierte, erwärmte sich und sandte ein schwaches Glimmen aus. Ich wußte, daß es bald noch intensiver würde, je näher wir dem Drachen kamen. Mein Ring zeigte jedoch nicht die Anwesenheit des Drachen an, sondern reagierte auf die teuflischen Zwerge! Urplötzlich sahen wir uns einer Armee kleinwüchsiger, mittelalterlich gekleideter Gesellen gegenüber, die mit Dolchen, Morgensternen, Wurfspießen und Keulen bewaffnet waren. An ihrer Spitze aber erkannte ich ihren Anführer, der sich mit hämischem Grinsen verneigte. Cyrillis, der Zwergenkönig. »Du hast auch mich getäuscht, Träger des Rings!« rief der Gnom. »Es war eine großartige Idee von dir, jemanden, der dir gleichsah, an deiner Stelle hier runterzuschicken. Leider habe ich meinem Freund die falschen Nachrichten überbracht. Er wiegte sich in Sicherheit und verlor Zeit. Nun wirst du dafür bezahlen, Träger des Rings! Ein schreckliches Schicksal wartet auf dich und deine Freunde. Die Frauen werden uns in mein Reich folgen und mir dienen. Doch du, Mark Hellmann, wirst zusammen mit deinem Kampfgefährten meinen Brüdern, den Lindwürmern, geopfert.« Der Gnom winkte. Es war das Signal zum Angriff! »Schießt nicht auf den Anführer!« rief ich nach hinten. »Cyrillis gehört mir!« Ich zog die Pistole und den Silberdolch und warf mich der Zwergenschar entgegen. Hinter mir belferten Schüsse durch den Stollen. Cornelia Wedekind schrie. Mit Karatetritten fegte ich die kleinwüchsigen Kämpfer von den Beinen. Auch ich feuerte in die Reihen der Angreifer. Meine 93
Silberkugeln schlugen verheerende Breschen in die Zwergenarmee. Auch der armenische Silberdolch fügte den Zwergen furchtbare Wunden zu. Cyrillis wich vor mir zurück. Behende sauste er zwischen seinen Männern dahin. Er hatte erkannt, daß er meinen Silberkugeln und dem Dolch nicht gewachsen war. Auch die Zwerge sahen ein, daß ein Rückzug sinnvoller war, als unter meinen Kugeln zu sterben. Sie wirbelten herum, ließen von Tessa und Pit ab und hetzten an mir vorbei, in der Hoffnung, daß ich nicht auf sie schießen würde. Ich dachte nicht im entferntesten daran. Erstens ist es mir zuwider, einen Gegner von hinten zu erledigen. Zweitens interessierte mich im Augenblick nur Cyrillis. Der kleine Zwergenkönig kannte Waldemar Ligustas Versteck. Ich wollte ihn ausquetschen, bis ich alles erfahren hatte. Der Zwergenkönig stolperte und fiel der Länge nach hin. Mit raschen Schritten war ich über ihm, packte ihn und schleuderte ihn gegen die Stollenwand. »Gnade, Herr! Ihr werdet doch einem Zwerg keine Schmerzen zufügen wollen? Seht Euch an, Herr! Ihr seid groß und stark, während ich Euch an Statur und Kraft weit unterlegen bin. Habt ein Einsehen!« flehte der kleine Kerl unterwürfig. »Du hast mir genug Scherereien bereitet, Zwerg, daß ich dich am liebsten gleich in die Hölle schicken würde«, schimpfte ich und packte den Gnom am Kragen. »Aber ich will wissen, wo sich dein Kumpel verkrochen hat! Also, spuck's aus!« Cyrillis klammerte seine Finger um meine Hand und wand sich in meinem Griff. »Laßt mich los!« röchelte er. Ich tat ihm den Gefallen. »Wo ist Ligusta?« fragte ich eindringlich. Der Zwergenkönig rieb sich die schmerzende Kehle. »Verschont mein Leben, und ich verrate es Euch, Herr! Cyrillis wird auf ewige Zeiten Euer getreuer Diener sein!« »Kein Kuhhandel, Zwerg. Raus mit der Sprache!« »Ich verneige mich vor Euch, Herr, und ziehe in Demut meine Mütze«, piepste der Zwerg und beugte sich vor. Ich wußte, was kam. Er zog sich die Mütze vom Kopf und hatte im nächsten Augenblick seine Tarnkappe in der Hand. Mein Fuß schoß vor. Der Stiefel krachte gegen den Arm des Zwergenkönigs und klatschte seine Hand gegen die Stollenwand. 94
Mit einem Aufschrei ließ Cyrillis die Tarnkappe fallen. Sie flatterte sanft zu Boden. »Du wirst hier keinen Abgang machen, bevor ich es dir erlaube!« zischte ich, packte den Kleinen und hob ihn hoch. Mit der Linken zückte ich den Silberdolch und fuhr damit vor dem Zwergengesicht herum. »Hoffentlich verrätst du mir jetzt, was ich wissen will. Noch ein falsches Wort, und ich gebe dir die Klinge zu schmecken!« Ich sollte meine Drohung nicht wahrmachen. Aus dem dunklen Stollen, in den sich die Zwerge geflüchtet hatten, schoß ein armdicker, pechschwarzer Wurm und wickelte sich um mein Handgelenk. Der Druck an meinem Arm war so groß, daß ich den Dolch fallen ließ. Im nächsten Augenblick ertönte ein infernalisches Gebrüll. Ich riß den Kopf herum und starrte in ein weit aufgerissenes Maul, in dem die scharfen, schleimtriefenden Reißzähne blitzten. Als ich erkannte, daß mich die gespaltene Zunge des Lindwurms gepackt hielt, zog sie sich auch schon in den Rachen des Untiers zurück. Wie von einem Katapult geschossen, schnellte ich auf das gewaltige, reißzahnbewehrte Maul zu… * Ich hatte den Zwergenkönig losgelassen. Mit der freien Hand zog ich meine Pistole und feuerte das gesamte Magazin in den Rachen des Lindwurms, während ich nach vorn sauste. Die Silberkugeln schmeckten dem Höllenbiest überhaupt nicht. Es brüllte gequält auf, hob den Kopf und schleuderte mich gegen die Stollenwand. Stöhnend rutschte ich zu Boden. Vor den beiden gewaltigen Beinen des Untiers kauerte ich und wechselte das Magazin meiner Pistole aus. Pit hatte den Hallogenstrahler direkt auf den Lindwurm gerichtet. Zum ersten Mal sah ich das ganze Ausmaß des gewaltigen Ungeheuers. Ein riesiger, schuppenbesetzter Schlangenleib bäumte sich vor mir auf. Der Leib ging in eine breite Brust über, aus der zwei dicke, krallenbewehrte Beine ragten. Das Scheußlichste an dem Vieh war allerdings der Drachenkopf, dessen breite Nüstern 95
unablässig Schwefelwolken ausstießen. Bei meiner Betrachtung des Höllentiers entging mir nicht, daß es nur ein Auge hatte. Ich sah, wie sich die Brust des Lindwurms in einem breiten Atemzug hob. »In Deckung!« brüllte ich. »Er spuckt Feuer!« Pit und Tessa warfen sich nach vorn und flach zu Boden. Cornelia drückte sich in eine Nische. Nur der Zwerg tanzte noch herum und suchte seine Tarnkappe. Der feurige Atem des Lindwurms erfüllte den Stollen. Die Flammenzunge sauste über Pit und Tessa hinweg, verfehlte auch Cornelia, die in ihrer Nische relativ sicher war. Aber sie traf den Zwergenkönig. Ich sah, wie sein Hosenboden und das Wams am Rücken Feuer fingen. Wild sprang Cyrillis auf und ab. Er zeterte und versuchte, die Flammen auszuschlagen. »Du verdammtes Mistvieh!« brüllte der Zwergenkönig mit seiner Fistelstimme. »Du wagst es, den königlichen Hosenboden deines Herrn in Brand zu setzen? Tausend Qualen der Hölle sollen dich treffen, du nichtsnutziges Gewürm!« Die Antwort des Lindwurms war eine zweite Flammensäule, die den Zwerg um Haaresbreite verfehlte. Cyrillis schüttelte wütend die Faust nach dem Höllenwurm, schnappte seine Tarnkappe und pflanzte sie auf seinen Kopf. »Du wirst auf meine Anwesenheit verzichten müssen, Träger des Rings! Doch vielleicht kreuzen sich unsere Wege eines Tages wieder!« Die letzten Worte des Zwergenkönigs kamen aus dem Nichts, denn Cyrillis war spurlos verschwunden. Ich fluchte leise vor mich hin. Ligusta würde mir wieder entkommen. Es war zum Mäusemelken! Ich mußte diesen verdammten Lindwurm loswerden. Zunächst wollte ich ihn vollends blenden und dann mit meinem Ring Veit, den Drachentöter aus Apolda, zu Hilfe rufen. Ich pirschte mich nach vorn, drehte mich um und feuerte auf das verbliebene Auge des Lindwurms. Es zerplatzte unter den Silberkugeln. Das Untier bäumte sich auf, schrie markerschütternd und wütete furchtbar. Ein Teil des Stollens brach ein. Es erforderte meine ganze Geschicklichkeit, mich vor den trampelnden Füßen und dem peitschenden Schwanz des Ungeheuers zu retten. Aber bevor ich mit den Lichtstrahl des Rings die Runenformel 96
zur Beschwörung von Veit auf den Boden malen konnte, erbebte der Boden erneut. Von der anderen Seite des Stollens näherte sich ein zweiter Lindwurm! Und ihm würde nichts entgehen, denn er hatte zwei gesunde Augen. Ich sah, wie der geblendete Höllenwurm erneut tief Luft holte. Seine Schnauze senkte sich. Wenn er jetzt ausatmete, konnten mich die Flammen unmöglich verfehlen. Blitzschnell hechtete ich nach vorn, verwandelte den Sprung in eine Rolle vorwärts und landete zwischen den Beinen des Untiers. Dafür konnte es aber die Feuersäule nicht mehr aufhalten. Die Flammen schossen nach vorn, liefen über den Boden und trafen mit voller Wucht das zweite Ungeheuer! Der kleine rote Teufel auf dem Rücken des Lindwurms wurde von den Flammen eingehüllt und verging kreischend. Der Gefährte des geblendeten Wurms bäumte sich unter Schmerzen auf und wich einige Schritte zurück. Tessa und Pit preßten sich an die Wand und beobachteten das Spektakel, das zwischen den beiden furchtbaren Drachenwesen ablief. Sie versuchten sich gegenseitig niederzubrüllen und stampften mit den Füßen auf. Teile der Stollenwand brachen ein. Wenn wir nicht bald an die Oberfläche gelangten, liefen wir Gefahr, von dem einstürzenden Stollen verschüttet zu werden. Den Lindwürmern würde das wenig ausmachen. Sie würden dann eben an der Oberfläche weiterwüten. »Haltet ein, Herr Markus! Rettung naht!« Die Stimme war nur leise über das ohrenbetäubende Gebrüll der Lindwürmer zu vernehmen. Zwischen den beiden Ungeheuern flirrte die Luft und manifestierte sich. Vor mir stand der blonde Recke, der mir schon einmal gegen die Höllendrachen beigestanden hatte. Veit, der Drachentöter von Apolda, war gekommen! * Diesmal trug er keinen Langbogen, sondern eine Armbrust. Sofort schoß er einen Bolzen auf den geblendeten Lindwurm ab. Das Geschoß drang tief in den Rachen des Tiers. Veit legte einen 97
weiteren Bolzen auf, doch dieser prallte an der gepanzerten Brust des Untiers ab. »Zurück zur Hölle, Ungeheuer!« brüllte Veit, zog sein Schwert und drang auf den Lindwurm ein. Und das Unwahrscheinliche geschah. Veits Klinge vermochte tatsächlich, den Schuppenpanzer zu durchdringen und dem Lindwurm tiefe Wunden beizufügen. Aber Veits Kraft reichte nicht aus, gegen die beiden Höllenwürmer zu bestehen. Während er dem Wurm die Klinge tief in die Brust stieß, peitschte der mächtige Schwanz des Untiers heran und wischte Veit von den Beinen. Dem Recken gelang es zwar noch, das Schwert aus dem Drachenleib zu ziehen, aber er klatschte gegen die Stollenwand und sackte zusammen. Mir kam eine Idee. Ich sprang vor, hetzte auf Veit zu, warf ihn mir über die Schulter und brachte ihn außer Reichweite des geblendeten Lindwurms. Hastig durchsuchte ich meine Taschen, fand die Phiolen mit Weihwasser und fischte sie hervor. Ich trennte einen Ärmel meines Hemds ab, riß ihn in Streifen und band die Weihwasserphiolen an die Armbrustbolzen. Vielleicht konnte ich den geblendeten Drachen mit einer gehörigen Portion Weihwasser so sehr schwächen, daß Veit eine Chance für den Todesstoß bekam. Langsam legte ich den Bolzen auf, zielte sorgfältig und drückte ab. Ich verfolgte des Flug des Pfeils nicht, sondern spannte die Armbrust sofort wieder und legte den zweiten Pfeil auf. Der Lindwurm schüttelte den Kopf. Das Weihwasser, das mit dem Pfeil in sein Maul gedrungen war und sich dort ergossen hatte, zeigte Wirkung. Dampf stieg aus Maul, Ohren und Nüstern des Ungeheuers. Der zweite Bolzen verschwand in einer breiten Nüster des Drachen und drang direkt in die Mundhöhle. Das Haupt des Lindwurms war von einer Dampfwolke umhüllt. Das Tier mußte irrsinnige Schmerzen verspüren. Steil und kreischend richtete es sich auf. Veit, der Edelknabe, kam auf die Beine! »Gut so, Herr Markus! Wir werden dieses Gewürm in die Hölle zurückschicken, auf daß sie dem Teufel etwas vorjammern können!« Mit einem wilden Kampfschrei stürzte Veit nach vorn und 98
rammte seine Schwertklinge bis zum Handschutz in die Brust des Höllenwurms. Genau in Höhe des Drachenherzes! Veit kannte sich aus. Er hatte in seiner Zeit bereits mit Lindwürmern gekämpft. Wußte, wie er sie treffen mußte. Die geweihte Klinge seines Schwertes versetzte dem Untier den Todesstoß. Ein gewaltiger Schwall schwarzen Drachenblutes ergoß sich aus dem Maul des Lindwurms, troff aus den Nüstern und überschüttete den Edelknaben. Aber Veit schien sich nicht daran zu stören. Er lächelte siegessicher. Doch es gab noch einen zweiten Höllenwurm, der die Todesschreie seines Gefährten gehört haben mußte. Gegen ihm würden wir kaum eine Chance haben, denn er würde uns gar nicht erst nahe genug an sich heranlassen, um ihm den Todeshieb zu erteilen. Fieberhaft suchte ich nach einer Möglichkeit, dem Ungeheuer beizukommen. Mein Blick fiel auf einen Sprengsatz aus der Bombenkette, der an einem Rohr baumelte. Durch den Todeskampf des geblendeten Lindwurms hatten sich die Rohrverstrebungen an der Stollendecke gelöst. Der Sprengsatz war mit einem Sprung leicht zu erreichen. »Lenke den Lindwurm ab, Veit. Ich weiß, wie wir ihn erwischen!« Veit zückte sein Schwert und drang auf den zweiten Wurm ein. Doch wie erwartet schickte ihm das Höllentier eine Flammenzunge entgegen, die Veit auf Distanz hielt. Auch Pit und Tessa beteiligten sich wieder an dem Kampf und feuerten auf den Lindwurm, was das Zeug hielt, um ihn zu beschäftigen. Ich warf mich nach oben, erwischte die Sprengladung und legte sie auf den Boden. Mit dem Lichtstrahl aus meinem Siegelring schrieb ich das keltische Wort für Waffe auf den Plastiksprengstoff. Sofort sprangen kleine, bläulichgelbe Flammen auf der Bombe herum und zuckten wie elektrische Blitze über die Oberfläche. Die Bombe war nun weißmagisch geladen. Ich befestigte die letzte Weihwasserphiole an dem Sprengsatz, band die Bombe an einen Armbrustbolzen und legte ihn auf die Sehne. Mit leichtem Druck meiner Finger aktivierte ich den Zeitzünder und stellte den Mechanismus auf eine Minute ein. In dieser Zeit mußte ich das Untier treffen, sonst gingen wir alle drauf. »Weg von ihm!« brüllte ich. »Geht in Deckung. Gleich kracht's!« 99
Ich stellte mich dem Lindwurm in den Weg, hüpfte vor ihm herum. Versuchte, ihn zum Öffnen seines Mauls zu bewegen. Er tat mir den Gefallen nicht. Schweiß lief in Bächen über meinen Körper. Die Sekunden tickten dahin. Ich warf einen Blick auf die LCD-Anzeige. Noch achtundzwanzig Sekunden. Der Lindwurm schien kein großes Interesse an mir zu haben. Er ignorierte mich! Dreizehn Sekunden. Ich hob die Armbrust. Der Lindwurm bewegte sich nicht. Er blinzelte nicht mal. Acht Sekunden: Veit warf sich nach vorn und drosch auf den Lindwurm ein. Dabei hieb er ihm eine Kralle ab. Der Höllenwurm schien an seiner Tatze empfindlich zu sein. Er verdrehte die Augen und schrie wie am Spieß. Zwei Sekunden! Ich drückte ab. Der Bolzen sauste durch die Luft. Absichtlich hatte ich etwas höher gezielt, um das Gewicht des Sprengkörpers zu kompensieren. Ich beobachtete, wie der Bolzen im Rachen des Untiers verschwand, wandte mich ab und warf mich nach vorn. Die Explosion war gewaltig. Die weißmagische Ausstrahlung der Bombe, gepaart mit der Wirkung des Weihwassers, genügte, um den Lindwurm zu vernichten. Der Kopf des Untiers wurde in Fetzen gerissen. Der wuchtige Schuppenleib bäumte sich ein letztes Mal auf und krachte gegen die Stollenwand, brachte sie auf einer Länge von fast zwanzig Metern zum Einsturz. Dann senkten sich der Staub und Rauch. Reglos lagen die beiden Höllenwürmer vor uns und begannen, sich aufzulösen. Weimar war eine schreckliche Heimsuchung erspart geblieben. * »Ich bin froh, daß es mir beschieden war, Euch beim Kampfe zu begleiten, Herr Markus«, sagte Veit und reichte mir die Hand. 100
»Ihr seid ein großer Kämpfer. Solange Ihr das Gute verteidigt, kann das Böse nicht bestehen.« »Und ich danke dir, Veit, für deine Hilfe. Ohne dich hätten wir diese Lindwürmer nie besiegt.« »Es war die Vorsehung des alten Einsiedlers, der mir einst dieses Schwert zum Kampf gegen das Böse gab. Er prophezeite mir, daß ich in fernen Zeiten Seite an Seite mit dem Träger des Rings kämpfen würde. Er hat recht behalten.« Veits Blick fiel auf den Siegelring, der immer noch schwach glomm. »Ihr seid seiner würdig, Herr Markus. Hütet ihn gut.« Ich nickte stumm. »Ligusta!« brüllte Tessa plötzlich. »Bleiben Sie stehen!« Ich wirbelte herum. Tessa hatte sich von der Wand abgestoßen und die Waffe hochgerissen. Sie rannte in die Dunkelheit des Stollens. Pit hob den Hallogenstrahler und richtete den Strahl hinter Tessa her. Und dann sahen wir ihn. Waldemar Ligusta, den Schnitzer! Er stand am Rande des Lichtstrahls. Vor sich hielt er Kommissarin Kollberg, die wie erstarrt in seinem Griff hing. Ich hätte Ligusta kaum wiedererkannt. Der dunkle, umhangartige Mantel, die schwarzen Handschuhe, der Schlapphut veränderten den Mann. Nur undeutlich waren die Brandwunden und die Messernarbe in seinem Gesicht zu erkennen. Tessa jagte auf den wahnsinnigen Killer zu, der seine Dienste dem Teufel verschrieben hatte. Sie hielt die Pistole in Augenhöhe. »Sie sind verhaftet, Ligusta!« rief sie. »Sie beschämen mich, Teuerste!« Ligusta lachte. »Glauben Sie im Ernst, ich würde es Ihnen so leicht machen?« Er bewegte eine Hand. Tessa sah die Pistole, die sich ihr entgegen hob. Es war Ruth Kollbergs Waffe. Tessa drückte ab. Klick! Mit Schrecken stellte ich fest, daß sich Tessa verschossen hatte. Ligusta grinste breit. »Zu schade, Teuerste, daß Sie nun so kurz vor dem Ziel doch noch verlieren«, zischte er und feuerte. Tessa schrie. Sie hatte keine Möglichkeit, den Kugeln auszuweichen. Und auf diese Distanz konnte sie der Wahnsinnige unmöglich verfehlen. Die Kugeln hieben in Tessas Körper. Wie eine Marionette wurde 101
sie ruckartig hin und her gestoßen, bevor sie gegen die Stollenwand fiel und zu Boden sank. Ich stieß einen gellenden Schrei aus, riß meine Pistole hervor und rannte los. Ligusta preßte die Mündung seiner Waffe gegen Ruth Kollbergs Kopf. »Bleib, wo du bist, Hellmann. Du kannst ihr sowieso nicht mehr helfen. Du kommst zu spät!« »Ich - muß - zu Tessa!« stieß ich hervor und spürte, wie mir Tränen der Wut in die Augen schossen. »Wenn du wenigstens diese Frau hier retten willst, bleibst du stehen!« zischte Ligusta. »Sie wollen mich, Ligusta. Wieso mußten Sie Tessa erschießen?« »Ich will, daß du leidest, Hellmann. Und jetzt leidest du sehr. Ich spüre es!« Der Irre grinste. »Ich kann bedauerlicherweise nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Aber vielleicht schicke ich ihr einen Kranz.« »Ich werde dich kriegen, Ligusta. Wo du dich auch verkriechst, ich werde dich finden. Und dann hilft dir nicht mal mehr der Teufel!« schwor ich. »Mein lieber Hellmann, wir wollen uns doch nicht in banalen Drohungen ergehen«, sagte der Schnitzer. »Du stehst doch über solchen Dingen. Ich muß wirklich sagen, du bist verdammt gut. Auch diesmal hast du meinen Plan durchkreuzt. Aber du wirst nicht immer Glück haben. Nach und nach wirst du deine Freunde verlieren, Hellmann. Und dann bist du selbst an der Reihe.« »Warum machen Sie nicht gleich Schluß?« »Dann wäre das Spiel viel zu schnell vorbei. Nein, Hellmann, es wird langsam und schmerzhaft für dich sein. Sehr schmerzhaft. Hier hast du schon mal einen kleinen Vorgeschmack!« Durch Ruth Kollbergs Körper ging ein Ruck. Ihr ohnehin schon blasses Gesicht wurde noch bleicher. Sie bewegte die Lippen, brachte aber keinen Laut heraus. Ein dünner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel. Ein schmatzendes Geräusch entstand. Ruth Kollberg machte einige taumelnde Schritte nach vorn. Ich ging ihr entgegen. Undeutlich sah ich, wie Ligusta eine Hand hob. Ich hatte erwartet, Ruth Kollbergs pulsierendes Herz zwischen seinen Fingern zu erblicken, aber er hatte es nicht herausgerissen. Früher hatte er auf diese Art gemordet. Warum 102
er es diesmal nicht getan hatte, war mir schleierhaft. »Du wolltest sie doch lebend haben«, erklärte Ligusta, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. »Aber sie wird nie mehr so sein wie früher.« Waldemar Ligusta lachte gellend und verschwand in der Dunkelheit, während ich Ruth Kollberg auffing und die riesige Wunde in ihrem Rücken betrachtete. »Paß auf dich auf, Hellmann! Ich will nicht, daß dir was passiert, bevor ich meine Rache an dir auskosten kann!« Ligustas Stimme war nur noch leise zu verstehen. Dann war der Wahnsinnige im undurchdringlichen Gewirr der Kanalisation verschwunden. Ich ließ Ruth Kollberg zu Boden gleiten und kniete neben Tessa nieder. Ihre Brust und der Bauch waren blutüberströmt. Ihr bleiches Gesicht sah so friedlich aus. Kein Schmerz malte sich darauf ab. Ich sah Tessas stille Form nur verschleiert. Tränen rollten mir über die Wangen. Es tat verdammt weh. Tessa wandte langsam den Kopf, als ich sie sanft an der Wange“ berührte. »Mark«, hauchte sie kaum verständlich. »Mark, mir ist so - kalt…« Ich warf den Kopf zurück und schrie. Ich schrie, bis meine Stimme versagte. Jemand legte mir die Hand auf die Schulter. Ich schaute auf. Es war Veit, der Edelknabe. »Es ist ein schwerer Verlust für Euch, Herr Markus. Ihr werdet es hinnehmen müssen. Das Böse ist gnadenlos.« Ich schaute wieder auf Tessa. Veits Worte hämmerten in meinem Gehirn. Hinnehmen. Ihr werdet es hinnehmen müssen. Das Böse. Gnadenlos. Das Böse… »Nein! Niemals! Ich muß gar nichts akzeptieren!« schrie ich. »Mark! Nimm Vernunft an!« mischte sich Pit ein. »Das Böse, Pit! Waldemar Ligusta ist ein Diener des Bösen. Er hat Tessa niedergeschossen. Und ich kenne nur ein Mittel gegen Wunden, die das Böse schlägt!« »Es hat keinen Sinn, Mark! Sieh es ein, du hast schon zuviel Zeit verloren. Es ist zu spät!« »Ich muß es versuchen, Pit. Laßt mich allein!« Ich riß Tessas T-Shirt über den blutenden Schußwunden auf. Dann fetzte ich mein Hemd auseinander und preßte den 103
Siegelring gegen das siebenzackige Mal auf meiner Brust. Ein rasender Schmerz durchzuckte mich, als der Siegelring, aktiviert wurde. Ein grelles Gleißen ging von ihm aus. Ich malte mit dem Lichtstrahl die Runen für das keltische Wort Heilung quer über Tessas Körper. Wäre Ligusta ein herkömmlicher Verbrecher gewesen, hätte ich in einer Aktivierung des Siegelrings keinen Sinn gesehen. Aber Ligusta war von Mephisto persönlich aus der Psychiatrie befreit worden und stand unter dem Schutz des Bösen. Es bestand also ein winzige Chance, daß mein Ring den tödlichen Einfluß des Bösen besiegen konnte. Minuten verrannen. Die Schrift auf Tessas Körper war verblaßt. Still und bleich lag Tessa vor mir, regte sich nicht. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, als es geschah. Ein Lichtstrahl schien aus Tessas Bauch zu kommen, hüllte den gesamten Körper ein. Tessa zitterte unkontrolliert, wie bei einem Schüttelfrost. Der Körper bäumte sich auf. Ich nahm ihre kalte Hand und hielt sie fest. Das Beben dauerte nur wenige Sekunden. Die Lichthülle erlosch. Und mit ihr schlossen sich die Einschußlöcher. Das Blut auf Tessas Haut schien durch die sich schließenden Wunden in den Körper gesaugt zu werden, denn es verschwand ebenfalls. Tessa schlug die Augen auf. Sie strich mit der Hand über ihren nackten Bauch. »Wieso hast du mein T-Shirt zerrissen, Mark?« fragte sie leise. »Hier ist es doch verdammt kalt.« Pit und ich brachen in ein befreiendes Lachen aus. Ich umarmte Tessa und warf einen Dankesblick zum Himmel. * Mit Ruth Kollberg verfuhr ich ebenso wie mit Tessa. Auch bei ihr gelang es mir, mit Hilfe des Rings ihre Wunde zu schließen. Irgendwann fand uns das Team des Sondereinsatzkommandos. Wir erklärten den Sprengmeistern, wo sie nach den Sprengsätzen suchen mußten. Cornelia Wedekind streichelte sanft meine Wange und ließ mich mit Tessa allein. Pit folgte ihr nach oben. Er würde die bereitstehenden Notärzte instruieren, daß sie bei Tessa und Frau Kollberg eine eingehende 104
Untersuchung vornahmen. Veit, der edle Drachentöter, verabschiedete sich herzlich von mir. »Ich gönne Euch Euer Glück, Herr Markus. Solltet Ihr wieder einmal gegen Lindwürmer zu kämpfen haben, scheut Euch nicht, mich zu rufen.« Ich bedankte mich und winkte ihm zu, bis seine Gestalt verblaßt und schließlich völlig verschwunden war. Ich hatte einen weiteren Freund aus längst vergangenen Tagen gewonnen. Ob und wann wir uns wiedersehen würden, stand in den Sternen. Wenn das Schicksal es wollte, würde es uns zusammenführen. »Herr Hellmann, kommen Sie bitte mal?« rief ein Polizeibeamter. Ich übergab Tessa in die Obhut der Sanitäter und ging zu dem Beamten. »Das haben wir in einer kleinen Aushöhlung unter der Stollenwand gefunden. Es muß durch die Erschütterungen zutage getreten sein«, erklärte der Beamte. Ich sah ein kleines, schmales Holzkästchen, nicht viel größer als eine Zigarrenkiste. Als ich es öffnete, strahlten mir Edelsteine, Schmuckstücke und Goldmünzen entgegen. Rasch schloß ich den Kasten wieder. In ihm lag ein kleines Vermögen. Und ich wußte, wem es gehörte. Cyrillis, dem Zwergenkönig. Dies mußte ein winziger Teil seiner unbeschreiblichen Reichtümer sein, die er in allen Teilen des Landes versteckt hatte. Für mich bedeutete der Besitz des Kästchens, daß ich eine Zeitlang nicht unbedingt von Aufträgen der Rundschau abhängig war, auch wenn der staatliche Finderlohn nur einen Bruchteil des Wertes ausmachen würde. Das Schicksal hatte es gut mit mir gemeint. Tessa konnte ich schon am Abend wieder aus der Klinik abholen. Sie war vollkommen in Ordnung. Wieso sie die tödlichen Schüsse überstanden hatte, würde ich ihr später erklären. »Wo bringst du mich hin?« fragte sie, als wir in meinem BMW saßen. »Nach Hause.« »Warum?« »Mein Bett ist verbrannt.« Ich trug Tessa die Treppen hoch bis vor ihre Wohnungstür und sperrte auf. Als ich sie wieder hochheben wollte, trat sie rasch zur Seite. »Noch sind wir nicht verheiratet, mein Lieber, daß du mich 105
über die Schwelle tragen kannst.« Ich folgte Tessa ins Wohnzimmer. Sie ließ sich in die Sofapolster sinken. Ich massierte ihr den Nacken, und sie schloß die Augen und schnurrte wohlig. »Sieh mal nach, ob du eine Flasche Wein findest«, sagte sie leise. Ich kannte mich aus und hatte im Handumdrehen Rotwein gefunden und zwei Gläser gefüllt. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Tessa in einem Polstersessel. Aber sie hatte ihre verschmutzten Klamotten ausgezogen und trug nur noch BH und Slip. Ich trat hinter sie, reichte ihr das Glas und knabberte sanft an ihrem Ohr. »Das tut gut«, sagte sie. »Mach weiter, ja?« Ich griff in die Brusttasche meines Hemdes und zog ein einfaches Goldkettchen mit einem edelsteinbesetzten Anhänger hervor, das ich in der Schatulle des Zwergenkönigs gefunden hatte. Die Einfachheit der Kette verlieh ihr eine besondere Schönheit. Sanft legte ich Tessa die Kette um. Sie richtete sich auf, ging ins Schlafzimmer und betrachtete das Schmuckstück, das auf ihrer braunen Haut wunderbar zur Geltung kam. »Ein kostbares Schmuckstück für eine kostbare Frau«, sagte ich leise und küßte Tessa im Nacken. Doch das war noch nicht das…
ENDE Erst vor kurzem hatte ich in Weimar gegen den feuerspeiend Drachen Fafnir antreten müssen, den Mephisto als Reittier benutzte. Letzte Woche jagte ich zwei Lindwürmer durch Weimars Kanalisation und jetzt sollte ich mich dem chinesischen Drachendämon stellen. Drohte uns eine Drachenepidemie oder was war los? Jedenfalls vermehrten sich die Hinweise, daß ich gegen den chinesischen Drachendämon nur etwas in Tsingtau ausrichten konnte der ehemaligen deutschen Kolonie in China. Mir stand also eine Reise in die Vergangenheit bevor…
Ich jagte den Drachendämon heißt C.W. Bachs 39. Hellmann-Roman. Holt ihn Euch!
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