Seewölfe 95 1
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Inmitten des schäumenden Hexenkessels, im Gischt der entfesselten See, trieben wie St...
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Seewölfe 95 1
Cliff Carpenter 1.
Inmitten des schäumenden Hexenkessels, im Gischt der entfesselten See, trieben wie Strandgut die Köpfe der Seewölfe, dunkle verlorene Punkte im Weiß der Schaumkämme. Weit aufgerissene Münder schnappten nach Luft. Salzwasser brannte in Augen, aus denen nackte Verzweiflung sprach. Kettengewichte zerrten an Armen, die unermüdlich gegen Wellen kämpften. Während Hasard und Ferris Tucker noch Grund unter den Füßen spürten, mußte der Kutscher bereits schwimmen. Wie ein junger Hund paddelte er durch das Chaos. Sein Gesicht drückte die Angst aus, die ihn beherrschte. Er war der schlechteste Schwimmer der Crew und schwamm wirklich um sein Leben. Old O’Flynn ruderte wie wild mit seinem Holzbein und klammerte sich krampfhaft an Carberry. „Das Ding muß dir doch mächtig Auftrieb geben!“ brüllte der Profos voll gallebitterem Galgenhumor und meinte damit die Prothese des alten Rauhbeins. Er stemmte sein Rammkinn wie einen Schiffsbug gegen die See. „Wozu brauchst du mich eigentlich? Du trägst doch das Rettungsfloß immer bei dir!“ Aber natürlich achtete der Profos fürsorglich darauf, daß sein Schutzbefohlener hinter ihm blieb und sich am Halseisen seines Helfers festklammerte wie an einem Rettungsring, auch wenn Carberry dabei fast erwürgt wurde und ihm die Luft ausblieb. „Wir schaffen es beide – oder überhaupt nicht“, gelobte der rauhe Profos mit aller Kraft seiner Lungen. Dabei hörte Old Donegal kein Wort. Der Sturm riß Carberry jede Silbe von den Lippen und trug sie ungehört davon. Aber der alte Donegal begriff auch so. Er wußte, daß er sich auf den Profos verlassen konnte - bis zum letzten Atemzug. Die Verbindung zwischen den einzelnen Schwimmern riß immer mehr ah. Aufs Geratewohl kämpfte sich jeder in die einmal eingeschlagene Richtung weiter
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und hoffte, irgendwann wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen: Sehen konnte niemand das Festland. Nicht einmal Dan. Und der schaute sich wirklich die Falkenaugen aus nach einem winzigen Hoffnungsschimmer an der Kimm, einem noch so undeutlichen Zeichen, daß das Festland nahe war und damit die vorläufige Rettung. Er hoffte, etwas in dieser Art zu entdecken, ehe ihn eine tückische Strömung umriß, ein Strudel verschlang oder ein Haifisch über ihn herfiel. Eine Steigerung ihrer Qualen hielten sie alle nicht mehr für möglich! Und doch trat sie ein! Denn die Dons boten alles auf, was sie hatten, um die Flucht der Männer zu stoppen. Musketen krachten in rascher Reihenfolge, aber sie wurden blindlings abgefeuert, denn niemand konnte in diesem Inferno ein Ziel erkennen. Gehacktes Blei zwitscherte Hasard und seinen Männern um die Ohren und trieb sie zu noch verzweifelteren Anstrengungen an. Sie konnten es vielleicht schaffen, wenn nicht eine Ladung durch Zufall genau in ihren Reihen einschlug. Inzwischen waren sie alle zum Schwimmen gezwungen und kämpften gegen die Wellen, die sie immer wieder zurückzuwerfen drohten, den Spaniern vor die Mündungen. Es war, als habe sich die Natur selbst mit den Gegnern verbündet! Mancher geriet in Versuchung, einfach aufzugeben, sich gehenzulassen. Ein Abgleiten ins Nichts, und die Qual hatte ein Ende. Wind und Wellen würden den Körper an Land zurücktragen. Aber da war ihre Wut auf die Folterknechte, die immer neue Kraft spendete. Sie gönnten diesen aufgeblasenen Dons nicht den Triumph, am Ufer kaltblütig die Köpfe der erledigten Feinde zu zählen und eine Strecke auszulegen wie auf einer Hasenjagd. Weiter kämpften sich die Seewölfe vorwärts, entschlossen, niemals aufzustecken. Vielleicht machten sie irgendwann schlapp. Aber kapitulieren würden sie nie, sondern Hasard folgen, wenn es sein mußte - in den Tod.
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Und der rückte schneller auf sie zu, als sie ahnten. Irgendwie hatten die Spanier inzwischen Drehbasse am Ufer in Stellung gebracht. Die erste Ladung fetzte zwischen die fliehenden Seewölfe. Zufallstreffer, aber trotzdem verheerend. Ein Schrei gellte durch die Nacht. Da war niemand, der nicht die Stimme erkannt hätte: Smoky war getroffen! * Als die Trompeten Alarm bliesen, taumelten die wachfreien Posten schlaftrunken hoch. ergriffen ihre Waffen, stürzten auf den Exerzierplatz und formierten sich mürrisch und verdrossen. Sie waren nicht nur um ihre Nachtruhe gebracht worden, es goß auch noch in Strömen. Und der Sturm, der über der Insel wütete, nahm ihnen den Atem. Was, zum Teufel, war eigentlich los? Die Wut der Spanier kannte keine Grenzen, als sie von Andrés Catalina, dem Inselkommandanten, erfuhren, daß die Seewölfe ausgebrochen seien. „Sie haben uns alle überrumpelt!“ donnerte der Inselkommandant. „Ich habe euch immer gewarnt. Diesen Burschen ist nicht zu trauen. Schlafmützen haben gegen die keine Chance. Jetzt ist die Bescherung da.“ „Mit Ihrer Erlaubnis, Capitan“, meldete sich El Verdugo zu Wort, der schlimmste Folterknecht, der je auf der Teufelsinsel sein Unwesen getrieben hatte. „Die Kerle können nicht weit gelangen. Sie tragen noch unsere schmucken Ketten. Wohin sollten sie sich auch wenden? Die Insel ist nicht groß. Ein Boot haben sie nicht. Im Laufe des Tages werden sie alle wieder eingefangen. „Ich traue den Seewölfen alles zu. Die bringen es fertig und versuchen das Unmögliche. Sie stürzen sich tollkühn ins Wasser und versuchen, das Festland zu erreichen. Egal, ob sie dabei draufgehen oder nicht. Aber wir werden ihnen die Suppe versalzen. Ich will jeden einzelnen Mann wiederhaben. tot oder lebendig!“ Der Capitan, ein schneidiger Mann aus Kastilien mit einem schwarzen Knebelbart,
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haßte den Gedanken, während eines solchen Unwetters durch den Schmutz der Teufelsinsel zu waten, um Kettensträflinge einzufangen. Aber es mußte sein. Sonst verlor er sein Gesicht und den letzten Fürsprecher am spanischen Hof. Er wollte schließlich auch irgendwann ein besseres Kommando antreten. Erging es einem hier etwa besser als den Opfern? Das Klima war für alle gleich. Diese mörderische Hitze, wütende Tropengewitter, der miserable Fraß, das schlechte Wasser. Wer wollte das ewig aushalten? In Windeseile teilte Catalina die Jagdkommandos ein. An der Spitze sollte der Hundeführer marschieren. Die Bestien zerrten bereits jaulend und kläffend an ihren Leinen. Die Spur, die diese auf Mann gedrillten Bluthunde nicht fanden, gab es überhaupt nicht. „Ich werde ein Boot ausrüsten und den Strand absuchen“, schlug El Verdugo vor. Er haßte den Gedanken, unter dem Kommando des Inselkommandanten durch die Nacht zu stolpern und womöglich noch in einen Hinterhalt der Engländer zu geraten. Die Seewölfe würden ihn mit Vergnügen in Stücke reißen, wenn sie ihn erwischten. Er hatte sie bis aufs Blut gepeinigt. Und außerdem waren ihm die eigenen Landsleute nicht grün. Wie leicht löste sich ein Bleihagel aus der Muskete in dunkler Nacht, hei diesem Gelände. Wer wollte nachher Absicht beweisen? In einem Ruderboot aber blieb die Lage immer überschaubar, auch wenn das Meer noch so bewegt war. Der Capitan nickte großzügig. „Schafft eine Drehbasse an den Strand, damit wir die Kerle unter Beschuß nehmen können, wenn sie nicht freiwillig umkehren“, befahl der Offizier. und schon stürmte er mit dem ersten Trupp los, den Seewölfen nach, die es gewagt hatten, ihm, Andrés Catalina, ein Schnippchen zu schlagen. El Verdugo bewies am Ende die bessere Spürnase. „Legt euch in die Riemen, Leute“, befahl er finster.
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Er hockte auf der Achterducht und hielt das Steuer, um wenigstens halbwegs den Kurs bestimmen zu können. Die acht unglücklichen Musketiere, die ihm zugeteilt worden waren, pullten wie wild. Aber ständig nahmen sie Wasser über. Sie mußten verteufelt aufpassen, daß sie ihr Pulver trocken hielten. Die beiden Suchtrupps trafen etwa zur selben Zeit am Schauplatz des Geschehens ein. Und El Verdugo entdeckte den ersten Flüchtling. „Da ist einer!“ schrie er heiser und deutete auf einen dunklen Punkt in der brodelnden See. „Vorwärts, Leute! Pullt, daß die Fetzen fliegen! Sonst lasse ich euch die Kehlen mit flüssigem Blei ausgießen, sobald wir zurück sind. Und ich pflege zu halten, was ich verspreche. Ihr kennt mich!“ Die Leute duckten sich. Sie alle haßten El Verdugo. Sie fürchteten ihn aber auch. Auflehnung gab es nicht. Wohin hätten sie fliehen sollen? Sie waren ebenso gefangen auf der Teufelsinsel wie die englischen Freibeuter, deren Schiff gestrandet war. Und sie hatten kein kühnes Vorbild wie diesen Seewolf, der seine Leute direkt durch die Hölle führte, um die Freiheit wiederzuerlangen, und lieber sterben würde, als sich unter die Knute der Spanier zu beugen. So haßten sie Hasard und bewunderten ihn zugleich. Das würde sie nicht hindern, ihre Musketen einzusetzen. Schließlich ruhte der mißtrauische Blick des Henkers auf ihnen. Und wehe, wenn El Verdugo wirklich jemanden aufs Korn nahm. Nur die Blitze beleuchteten unregelmäßig und für Sekunden die bewegte Szene. Es blieb kaum Zeit, um richtig zu visieren. So pufften die Schüsse meist ungezielt in die Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis sie in der tanzenden Nußschale nachgeladen hatten. So trat nach der ersten geschlossenen Salve, deren Wirkung niemand abzuschätzen vermochte, eine Pause ein. Schlimmer noch: die Schützen, die luden, konnten nicht mitpullen. Der Rest der
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Soldaten legte sich gewaltig in die Riemen. Aber das Boot trieb ab. El Verdugo schäumte vor Wut. Er beruhigte sich erst, als er beim nächsten gleißenden Blitz erkannte, daß er mitten zwischen der Schar der Seewölfe trieb. die mit dem Mut der Verzweiflung um das nackte Leben kämpften. Dann legte am Strand die Drehbasse los. Schlagartig ließen die Leute an den Riemen alles fahren. Auch El Verdugo hechtete in Sicherheit. Fluchend wartete er das Ende der Salve ab. Der Schrei, der aus dem Wasser herüberklang, erfüllte ihn mit Zufriedenheit und mahnte ihn zugleich, daß er selbst noch keinen durchschlagenden Erfolg zu melden hatte. Kaum war die größte Gefahr vorbei, da jagte El Verdugo die Soldaten wieder an die Riemen, und weiter ging die blinde Jagd_ Der Henker hielt es für geraten, aus der Notausrüstung eine Fackel zu nehmen. Er befestigte sie neben sich auf der Achterbank und hoffte, Lopez werde nicht gerade auf die eigenen Leute feuern. Tatsächlich verstummte die Drehbasse. Befriedigt stellte der Henker fest, daß selbst der Capitan es nicht wagte, ihn zu gefährden. Immer weiter entfernten sich Jäger und Gejagte von der Insel, die bald nicht mehr inmitten der Regenschauer zu erkennen war, selbst dann nicht, wenn ein Blitz über das Himmelszelt züngelte. El Verdugo hockte achtern und schaute sich unruhig nach allen Seiten um. Wenn er zu nahe an die Kerle geriet, ohne sie rechtzeitig zu sehen, zog er am Ende den kürzeren. Für ihn selbst war das Wagnis, bei diesem Wetter mit einem Boot draußen zu sein. ebenso riskant wie der Versuch, das Festland schwimmend zu erreichen, wie die Seewölfe es offenbar vorhatten. Hirnverbrannte Idioten! El Verdugo schwor ihnen blutige Rache. Aber erst mußte er sie in diesem Hexenkessel finden.
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Das Boot nahm immer mehr Wasser über. Automatisch begann El Verdugo zu schöpfen. Noch immer bestimmte er den Kurs. Er wollte die geflohenen Gefangenen überholen, ihnen den Weg versperren und sie zur Insel zurücktreiben. Töten wollte er nur ein paar. der Bastarde, als Abschreckung für die anderen und damit selbst der Seewolf begriff, daß es kein Entkommen gab. Dann würde er sie am Strand einsammeln, Mann für Mann, und unter seine Fittiche nehmen. Das grausame Gesicht des Henkers verzog sich zu einem gemeinen Grinsen. Für einen Augenblick ging die Phantasie mit ihm durch. Alle sollten seine Rache spüren. Die Hölle würde ein angenehmer Ort sein gegen die Teufelsinsel, sobald sie die Seewölfe wieder beherbergte. „Da sind sie!“ schrie El Verdugo gegen den Sturm und deutete nach Steuerbord voraus, wo die dunklen Punkte im Wasser sich mehrten. 2. Hasard warf sich entschlossen herum. Er schwamm in die Richtung, aus der er den Schrei gehört hatte. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: er mußte Smoky, dem Decksältesten, helfen. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft. Keiner der Crew, der bemerkt hatte, daß es Smoky erwischt hatte, setzte einfach seinen Weg fort, auch wenn die Kräfte noch so sehr erlahmten oder man mit dem Gefährten anschließend elend ertrank. Big Old Shane, der Schmied von Arwenack, Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, und Dan O’Flynn schwammen zurück und taten instinktiv das gleiche wie Hasard, ihr Kapitän. Selbst Edwin Carberry, der bullige Hüne, bereits mit Old Donegal im Schlepptau, wollte dem Kameraden helfen. Der alte O’Flynn hatte in diesem Moment erschöpft losgelassen. Er fing ihn wieder ein, brachte seine Hand zurück an den eisernen Halsring, den die
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Spanier den Gefangenen verpaßt hatten, und gurgelte: „Halt dich fest! Ich lege noch etwas zu. Smoky hat’s erwischt.“ Mühsam spuckte Old Donegal eingedrungenes Wasser aus, verzog schmerzlich das Gesicht und blieb brav beim Profos. Er versuchte mit lahmen Schwimmbewegungen, Carberry zu entlasten, der wie eine stolze Brigg durch das Wasser rauschte, anscheinend nicht kleinzukriegen; unverwüstlich, ein Kerl aus Eisen. Smoky hatte einen Streifschuß eingefangen. Wie gelähmt hing sein Arm herunter. Und es blieb weder. Zeit, ihn zu versorgen, noch sich von der Schwere der Verletzung zu überzeugen. Gerade hatte Big Old Shane den Decksältesten in Schlepp genommen, da zerriß ein Blitz die Dunkelheit, erhellte weithin die Gegend und zeigte den Flüchtenden, wie ernst die Lage wirklich war: El Verdugo und acht Spanier hockten in einem Boot, das zwar wild auf den Wellenkämmen ritt, aber Kurs auf sie hielt. Schon griffen die Spanier nach den Waffen. Musketen richteten sich auf die Gruppe. Hasard schrie seinen Männern zu, wegzutauchen. Er selbst versuchte, dem Boot entgegenzuschwimmen, unsichtbar, unter Wasser. Sehen konnte er nichts, aber seine suchenden Hände ertasteten nach endlosen Sekunden den Kiel des Bootes. Hasard hatte automatisch nach der Devise gehandelt, die sein Leben beherrschte: Angriff Ist die beste Verteidigung. Er wollte sich irgendwie wehren und sich nicht im Wasser abknallen lassen. Es zeigte sich, wie gut die Crew sich verstand. Nicht Hasard allein griff den Feind an. Ohne ein Wort der Verständigung hatten doch alle begriffen, die bei ihm gewesen waren. Zuerst handelte Ferris Tucker. Nur ein Mann wie er brachte es fertig, die Zimmermannsaxt mit dieser Wucht zu führen. Von unten, mit einem: verzweifelten Streich, hinter dem jedes Quäntchen Kraft steckte, schlug er zu.
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Die messerscharfe Schneide klopfte nicht nur an, sondern durchbrach den Boden des Bootes. Sie erwischte knapp noch den Fuß des Henkers. Den Schrei, den El Verdugo ausstieß, hörten nur jene, die nicht weggetaucht waren. Hasard richtete sich auf, stemmte den Rücken unter den Kiel des Bootes und wunderte sich, wie leicht er das Gewicht hochdrückte. Aber mit ihm arbeiten die anderen. Und zwei von ihnen hatten das Glück; Boden unter den Füßen zu haben, eine Sandbank, wie sie zwischen Insel und Festland nicht eben selten waren und die Schiffahrt zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden ließen. So manches spanische Versorgungsschiff, das von Cayenne aus Kurs auf die Teufelsinsel genommen hatte, war auf diesen tückischen Bänken schon aufgelaufen. Das Boot der Spanier wurde angekippt und schlug nach der Backbordseite um. Die Spanier flogen kopfüber ins Wasser. Sie landeten mitten zwischen den Engländern. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Prompt landete denn auch ein schmächtiger Spanier in Reichweite des wütenden Profos, der sich nur knapp umschaute, ob Old Donegal noch an ihm hing. Old Donegal schluckte, prustete und schnappte zwischendurch nach Luft. Auch wenn man in dieser ägyptischen Finsternis keine Einzelheiten sehen konnte: sicher war er blau wie ein Tintenfisch. angelaufen von Luftmangel. Was hatte er den gesunden Lungen des mächtigen Profos’ schon entgegenzusetzen? Immerhin verrieten die würgenden hustenden Laute. daß er noch lebte. Und schon versuchte er zwischendurch, seinen muskulösen Freund anzufeuern. Denn er hatte wohl erkannt, daß der Spanier. der da mühsam den Kopf über das Wasser reckte, vor Angst tollkühn angriff. „Komm her, du Rübenschwein!“ grollte der grimmige Profos. Carberry streckte die Pranken aus und erwischte den Spanier an der Gurgel.
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Liebevoll zog er ihn mit einem Ruck heran. Die Fäuste des Spaniers prallten wirkungslos vom Rammkinn des Profos ab. Carberry grinste gelangweilt, ließ den zappelnden Kerl frei und verpaßte ihm einen Hammerschlag mitten auf den Kopf. Der Spanier verschwand unter Wasser. Carberry schloß sich den anderen an, die wieder Kurs nahmen. Sie bewegten sich alle in die Richtung, in der sie das Festland vermuteten. Aber Gewißheit gab es hei diesem Hundewetter für keinen. Der Gedanke, daß man mit aller Kraft immer weiter ins offene Meer hinausschwamm, hatte etwas Lähmendes. Trotzdem gab niemand auf. Sie schleppten sich weiter. Lieber ein Ende mit Schrecken, als unter der Knute des Henkers, den alle in Gedanken verfluchten, qualvoll einen höllischen Tod zu erleiden. Im übrigen gab es kein Zurück mehr. Denn niemand konnte gegen den Strom anschwimmen, der an der Teufelsinsel vorbeitrieb. Das Festland schien noch fern. Stets wenn sie die müden Köpfe über die Schaumkämme reckten, um nach dem Land Ausschau zu halten, wurden sie enttäuscht. Endlos und wild bewegt dehnte sich die Wasserfläche vor ihren suchenden Blicken. Hätte es nicht hin und wieder die Sandbänke gegeben, sie alle wären ertrunken. So aber konnten sie von Zeit zu Zeit etwas Kraft sammeln und sich in der Hoffnung wiegen, vielleicht doch nicht allzu weit vom Land entfernt zu sein. Kraft zur Verständigung hatten sie längst nicht mehr. Immer wieder war es Hasard, der das Zeichen zum Aufbruch gab und losschwamm, ohne allerdings die beruhigende Gewißheit zu haben, wann sie in angemessener Entfernung wieder eine Ruhepause einlegen konnten. Was bedeutete es da, daß sie die spanischen Verfolger zunächst abgeschüttelt hatten? Am Ende schien doch der Tod auf sie zu lauern. Hasard selbst mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen. Er wußte selbst keine
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Antwort auf die Frage, ob er diese Flucht ins Ungewisse angetreten hätte, wenn ihm auch nur ein Bruchteil der Schwierigkeiten und Strapazen bekannt gewesen wären, mit denen sie jetzt konfrontiert wurden. Das Seewasser fügte den Qualen eine weitere zu. Wer offene Wunden hatte — und das war bei den meisten der Fall —, litt furchtbar. Das biß und fraß, daß man kaum die Arme beim Schwimmen zu bewegen vermochte. Smoky, der immer noch an der Schulter blutete, schnappte sich ein Stück Treibholz und schlug seine Zähne hinein, um seinen Retter nicht durch sein Stöhnen zu verunsichern. Dabei plagte ihn die gräßliche Vorstellung, seine blutende Wunde könne den mordgierigen Haien eine Fährte legen. Das würde das Aus für sie alle bedeuten. Mit den Spaniern konnten sie fertig werden, aber gegen Haie hatten sie keine Chance. Da konnten sie nur noch beten. * Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Kein Silberstreif über der Kimm flößte den Verzweifelten neue Hoffnung ein. Sie wußten nicht mehr, wie lange sie unterwegs waren. Ihr Zeitgefühl war längst erstorben. Das Leben bestand nur noch aus den zermürbenden Bewegungen der Arme und Beine, die den Körper anscheinend um keinen Inch vorwärtsbrachten. Was wollte es da schon heißen, daß der Sturm abgeflaut war und kein Regen mehr fiel? Dieses Grau um sie herum und über ihnen, diese endlose Monotonie brach auch die Widerstandskraft des Stärksten. Wozu sich noch anstrengen, wenn doch alles umsonst war? Sie hatten den Kurs verloren, kein Zweifel. Seit über einer Stunde hatten sie keine Sandbank mehr erreicht und damit keine Gelegenheit gehabt, sich ein wenig zu verschnaufen. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei. Entzündete Augen hatten es aufgegeben, nach Land zu suchen. Die Möglichkeit, daß sie sich immer weiter im Meer verloren, nahm erschreckend zu. Mancher der Seewölfe, glücklicher
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Besitzer eines Messers, spielte bereits mit dem Gedanken, sich die Klinge über beide Handgelenke zu ziehen und anschließend in den Bauch zu rammen. Das mußte eine Erlösung sein gegenüber der Qual des Schwimmens. Dann wagte sich zum ersten Male der Mond hinter Wolkenbänken hervor. Sein mildes Licht fiel auf die sanft gekräuselte Wasserfläche. Sie erkannten Nachbarn und Leidensgefährten. Sie hatten sie die ganze Zeit neben sich gewußt, aber nicht deutlich erkannt. Jetzt unterschieden sie Gesichter und sahen, daß der andere ebenso schlecht dran war und mit dem letzten Funken Kraft gegen den Untergang kämpfte. Das spornte an. Wieso schaffte der es noch? Da konnte man nicht aufgeben. Nicht eher, als bis der andere auch aufgab. Die Seewölfe kämpften sich stumm und verbissen weiter -vorwärts. Wohin? Wo in diesem elenden Meer war vorn, wo hinten? Wo offenes Meer, wo die Küstenlinie, die sie herbeisehnten? Niemand wußte es. Jeder sah Hasard da vorn und folgte ihm. So war es immer gewesen. Sie waren nicht schlecht dabei gefahren. Sie hielten sich auch jetzt an ihn. Ohne es zu ahnen, trug Hasard die Hoffnungen seiner Männer. Er wußte nur, daß er kein Recht hatte, auf - zugeben. Nicht, solange er noch Atem schöpfen konnte. Und wenn die Arme ihm abfielen — er mußte weiter schwimmen. Denn er hatte diese Flucht befohlen. Er trug keine geringe Verantwortung. Er konnte sich alles leisten, nur durfte er seine Männer nicht enttäuschen. Das war ihm klar. Das gab ihm Kraft, auch dann, als er glaubte, er habe keine mehr. Mit der Gleichmäßigkeit seiner Bewegungen flossen auch Hasards Gedanken. Immer wieder stellte er sich vor, was er auf der Teufelsinsel gelitten hatte. Das hinderte ihn daran, aufzugeben. So seltsam es klang: El Verdugo, der Henker, den hoffentlich die Haie geholt hatten, größter Feind und Peiniger der Seewölfe. wurde in diesen einsamen Stunden Hasards stummer Verbündeter.
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Der Gedanke an ihn und seine grausamen Schikanen erfüllten ihn mit einer solchen Wut, daß er davon mehr vorwärtsgetrieben wurde, als würde er ein Dutzend Hiebe mit der neunschwänzigen Katze empfangen. Schmerzen, wenn sie überhand nahmen, stumpften ab und hinderten niemanden daran, zusammenzubrechen. Ganz anders der Haß. Er weckte die Lebensgeister und fachte erlahmende Kräfte wieder an. Hasard stellte sich immer häufiger die ekelhafte Schinderfratze des spanischen Henkers vor. Er schwamm auf sie zu. um seine Faust in diese Totenfratze zu rammen und ihm die häßlichen Zähne einzeln einzuschlagen. Mit Entsetzen erkannte Hasard, schon so weit fertig zu sein, daß sich sein Geist verwirrte und seine Phantasie übermächtig wurde. Vielleicht lebte er schon gar nicht mehr? Vielleicht bildete er sich auch das nur ein? Schwamm er gar nicht mehr im Wasser? War er niemals von der Teufelsinsel aufgebrochen ins Ungewisse, das immer gewisser wurde? So gewiß wie der Tod? Hasards Lippen waren aufgeplatzt. Eine dicke Salzkruste bedeckte sie. Seine Augen, geschwollen und entzündet, sahen nichts als Wasser. Welch ein Hohn, er schwamm in einem Meer und hatte Durst. Er sehnte sich nach einem Schluck frischen Wassers und hätte seine Seele dafür verpfändet. Hinter ihm ertönte ein heiseres Krächzen. Hasard hörte den Laut, der kaum etwas Menschliches hatte, aber er brachte es nicht mehr fertig, den Kopf zu wenden. Seine Halsmuskeln waren viel zu verkrampft. Sein Schädel drohte von der Anstrengung zu zerplatzen. Nur keine überflüssige Bewegung! Hasard schwamm weiter, mit zähen, langsamen Bewegungen. Es gab keine Rettung mehr aus der Monotonie des jetzt langgedehnten Auf und Ab. Die See war nicht mehr kabbelig. Die lange Dünung lullte einen ein. Man wurde zu einem unbedeutenden Fleck auf der Weite des Ozeans. Etwas stieß Hasard an.
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Er erschrak bis ins Mark, war aber unfähig, entsprechend zu reagieren. Das Gehirn signalisierte Gefahr. Haie vielleicht? Die Augen weiteten sich reflexhaft, aber der zermürbte Körper gehorchte nicht. Unendlich langsam drehte Hasard den Kopf und starrte auf einen abgerissenen Ast, der ihn berührt hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis es bei Hasard dämmerte. Ein Ast bedeutete Landnähe. Ein Vorbote der Rettung! Hasard erwachte aus todesähnlicher Lethargie. Fast schmerzhaft empfand er Freude. Es war ein Gefühl, das ihm den Brustkorb sprenge. das er schleunigst abschütteln mußte, wollte er nicht daran ersticken. Hasard ruderte mit den Armen, versank, ging unter, kämpfte sich wieder hoch, strampelte vor Freude und trat das Wasser, daß sein Körper sich erhob. „Land!“ schrie er und wunderte ich daß die Stimme nicht mehr gehorchte. Er meinte, sein Schrei könne Tote erwecken, und doch erreichte er kaum die Ohren derer, die ihm unmittelbar¬ gefolgt waren: Carberry und Big Old Shane, beide mit Schicksalsgenossen im Schlepp, der eine Old Donegal, der andere Smoky. Verwirrt stierte Hasard auf die weit auseinandergezogene Kette seiner schwimmenden Männer. Verstand ihn denn niemand? Die Leiden hatten ein Ende! Land in Sicht! Geschafft! Da sah Hasard, wie in der Ferne Dan O’Flynn, der Scharfsichtige, verzweifelt nach vorn deutete, als habe er eine Botschaft von höchster Dringlichkeit. Er sah, wie sich der Mund Dans dauernd öffnete und schloß. Aber kein Laut drang an sein Ohr. Darin war nur das ewige Geräusch des Meeres und der Wellen wie in einer leeren Muschel. Aber Hasard tat Dan den Gefallen. Er veränderte noch einmal die Position. Und da sah er es auch: ein feiner dunkler Strich an der Kimm. Fast nicht zu erkennen im Dunst des nahenden Morgens. Sie hatten die Küste vor sich. Alle Ängste verflogen. Sie hatten sich nicht immer weiter in das offene Meer
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vorgearbeitet. Sie wurden nicht grausam genarrt durch ein unerträgliches Geschick. Sie hatten ein Glückslos gezogen. Nicht die Spanier, nicht die Haie, nicht der Sturm und nicht das Meer hatten sie bezwungen. Sie waren Sieger geblieben. Hasard mußte sich dazu zwingen, jetzt nicht durchzudrehen. Er mußte auch weiterhin seine Kräfte einteilen. Er schätzte die verbleibende Strecke, die sie noch zurücklegen mußten, auf eine gute Seemeile. Das war nicht viel gegenüber der Distanz, die sie hinter sich gebracht hatten. Aber es war nach dieser höllischen Nacht kaum zu bewältigen. Hasard bezähmte den Trieb, das letzte aus sich herauszuholen. Aber seine innere Unruhe kriegte er nicht mehr in den Griff. Jeder Schwimmzug war ihm zuviel. Die Zeit verstrich jetzt viel zu langsam. Die Entfernung wollte nicht schwinden. Mehr als zwei grausame Stunden kämpften die erschöpften Männer, zumal sich unter Land die Strömungen änderten und sie wieder zurücktrieben. Es war eine letzte furchtbare Prüfung — dann taumelte Hasard an Land. Die Ketten schienen doppelt soviel zu wiegen wie im Wasser. Arme und Beine waren wie abgestorben, als gehörten sie nicht mehr zu seinem Körper. Hasard hielt sich an den Luftwurzeln einer Mangrove fest. Er taumelte und schloß erschöpft die Augen. Dann bewegte er sich weiter, um den anderen nicht diesen guten, aber winzigen Landeplatz im Gewirr der Ufervegetation zu sperren. Dabei stolperte er und schlug der Länge nach hin. Einen Augenblick dachte er, nie wieder aufstehen zu können. Unendlich langsam kämpfte er sich hoch. Erst kniete er. Dann richtete er sich auf. Vor seinen Augen flimmerten und zerplatzten Sterne und Kreise. Alles in ihm sträubte sich gegen die geringste Anstrengung. Er wollte nur noch liegen und ausruhen. Hasard bezwang den Schwächeanfall. Er klammerte sich an einer der rissigen Baumwurzeln fest und wandte unendlich langsam den Kopf. Ihn quälte der Gedanke
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an seine Gefährten. Wie viele waren einsam gestorben auf dieser furchtbaren Strecke zwischen Insel und Festland? Hasard beobachtete das erschütternde Schauspiel der Landung. Mann für Mann kämpfte sich ans Ufer. Ketten klirrten, entzündete Augen starrten blind in das Grün der Büsche, die bis an den Strand vorgedrungen waren. Was war aus den stolzen Seewölfen geworden? Ein maroder Haufen. Die Fronarbeit für die Spanier, die Schrecken der Flucht von der Teufelsinsel, die Strapazen des langen nächtlichen Kampfes mit Wind und Wellen hatten tiefe Spuren hinterlassen. Kaum daß einer ein gequältes Grinsen fertigbrachte wie Big Old Shane, der alte Waffenmeister von Arwenack, oder Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, oder der Riese Edwin Carberry, Profos der „Isabella“. Wobei der Profos wenigstens noch einem Gefährten das Leben gerettet hatte. Treu und brav schleppte er Old Donegal. Ferris Tucker trug seine Axt wie eine Fahne an Land. „So etwas möchte ich nie wieder erleben“, stöhnte er und schlug in den Sand. Er brauchte lange, bis er wieder soviel Kraft hatte. Hasard zu helfen. Im Licht des dämmernden Morgens riefen sie Versprengte zu sich heran und halfen den Erschöpften ans sichere Ufer. Hasard beruhigte sich erst, als er alle wieder um sich versammelt hatte. Ja, sie hatten es alle geschafft, keiner war zurückgeblieben oder hatte sich aufgegeben. Da lagen sie, mit nackten Oberkörpern, in Ketten. erschöpft und zerschunden, auf dem schmalen Sandstreifen, im spärlichen Schutz der Mangrovenwurzeln, die sich wie ein Netz über ihnen spannten. Kein anderer Laut drang an ihre Ohren als das leise Plätschern der Wellen, die sich am Ufer totliefen. „Auf, Leute!“ befahl Hasard unerbittlich. Noch waren sie nicht in Sicherheit. Es war unwahrscheinlich, daß sich die Spanier darauf verließen, die Ausbrecher seien ertrunken. Sie wollten Beweise haben,
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Beweise, daß der Seewolf und seine Männer den Silberschiffen der Spanier nie mehr gefährlich werden konnten. Der Morgen dämmerte. Die Dons würden ein weiteres Boot ausrüsten und auf die Suche schicken. Entweder nach den Leichen der ertrunkenen Seewölfe oder - wenn sich die Teufelskerle wider Erwarten ans Festland gerettet hatten - um sie wieder einzufangen und auf die Teufelsinsel zurückzuschleppen. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich den nächsten Schritt der wütenden Spanier vorzustellen. Ein unwilliges Stöhnen und Murren antwortete Hasard. Der Seewolf ging von Mann zu Mann, sprach ihn mit Namen an und half ihm auf die Beine. Obgleich er keine Kraftreserven mehr hatte, schaffte er es noch einmal. Er trieb seine Männer zu einer letzten Anstrengung. „Weiter im Landesinneren sind wir sicherer. Wir brauchen Ruhe, um uns halbwegs zu erholen. Aber der Strand ist der denkbar ungeeignetste Ort dafür. Die Spanier würden uns mit Sicherheit entdecken. Und dann beginnt die Hetzjagd. Eine Jagd, der wir nicht mehr gewachsen sind. Also los, Leute.“ Inzwischen halfen Tucker und Carberry ihrem Kapitän. Einige der unsanft Wachgerüttelten waren zwar brav, wie im Unterbewußtsein, hochgetorkelt, als sie die Kommandostimme Hasards hörten, waren aber nicht recht wach geworden und wieder umgefallen. Jetzt lagen sie wieder schnarchend am Strand. Eine Dusche Wasser, ein gezielter Tritt brachte sie wieder hoch. Alle hatten begriffen, worauf es ankam. Und es war nicht ihre Art, jemanden zurückzulassen. Sie hatten die Knute der Dons zu lange gespürt, als diese Behandlung auch nur ihrem ärgsten Feind zu wünschen. Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Aufeinandergestützt, mit leeren Gesichtern, taumelnd vor Erschöpfung,
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kämpften sich die Seewölfe weiter, zogen sich an den Luftwurzeln der Mangroven hoch und schleppten sich dem Saum gezackter Palmkronen entgegen, die den nahen Urwald anzeigten. Schon einem Gesunden hätte ein Marsch durch das sumpfige unwegsame Gelände einiges abverlangt. Die Seewölfe wollten mehr als einmal aufgeben. Jedesmal trieb sie Hasard unerbittlich weiter. Die Verwundeten wurden getragen. Die Schwachen stützten sich auf die Stärken. Hasard selbst half zweien seiner Männer, die sich an ihn klammerten. Nur Bill, der schmächtige Schiffsjunge, zeigte Nehmerqualitäten. Er schlug manchen hartgesottenen Seemann um Längen, was Zähigkeit und Ausdauer betrafen. Er stromerte um die Gruppe wie ein Schäferhund um die Herde, lief auch mal voraus und erkundete den Weg, um der Crew die beste Richtung angeben zu können. Hasard wunderte sich gehörig über den Burschen. Immer wieder blieb einer der Männer stehen und blickte flehentlich auf den Kapitän, ob die Qual nicht endlich ein Ende habe. Jedesmal schüttelte Hasard stumm den Kopf. Nur in hartnäckigen Fällen fügte er hinzu: „Wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Willst du, daß alle Opfer, alle Anstrengungen umsonst waren? Die Dons könnten uns in unserem jetzigen Zustand mit nassen Handtüchern erschlagen. Wir müssen uns verstecken wie gehetztes Wild. Uns bleibt nichts anderes übrig. Erst wenn wir wieder ausgeruht sind, können wir unserer Wut freien Lauf lassen und uns den Spaniern zum Kampf stellen. An mir soll es nicht liegen. Was ist mit dir? Bist du dabei?“ Solche Appelle hatten immer Erfolg. Der an seinem Ehrgeiz Gepackte grinste zwar müde, aber doch schon kampflüstern. Einem Spanier an den Kragen zu gehen, einem der Dons, die das alles verschuldet hatten — eine solche Vorstellung belebte die Lebensgeister besser als Speise und
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Trank. Schon spürte man neue Kräfte, auch wenn es nur ein kurzes Aufflackern war. Bald aber konnte Hasard weder im Guten noch im Bösen etwas ausrichten. Sie hatten den Rand der grünen Hölle erreicht. Ein Eindringen schien unmöglich. Die Männer schreckten zurück vor der Unnahbarkeit dieses grünen Meeres. Sie waren an Land ohnehin hilflos wie die Schildkröten. Jetzt auch noch wie die Affen zwischen Lianen und Orchideen, Baumriesen und Farnkräutern herumzufegen — das ging gegen ihre Natur. Sie ließen sich fallen, wo sie standen. Da nahm auch Hasard erschöpft Platz. Lethargie befiel auch ihn. Wohin wollten sie eigentlich? Ohne Werkzeuge, ohne Proviant, weitab von ihrem stolzen Schiff? Sie waren gestrandet. Und was das gekostet hatte! Sollte das der Preis sein, hier im Dschungel elend umzukommen oder sich zu verirren? Da war es der Kutscher, der wieder Leben in das Camp der Verlorenen brachte. Er hatte sich die ganze Zeit bereits rührend um Smoky gekümmert, den Decksältesten. Jetzt störte ihn das Stöhnen des Verwundeten in seiner Ruhe. Seine Kunst wurde gebraucht. Also zwang er sich, aufzustehen. Er schimpfte und fluchte, nachdem er die Wunde Smokys mit Seewasser gereinigt hatte. Smoky lag die ganze Zeit flach auf dem Rücken und stöhnte vor Schmerzen. „Es ist nur ein Streifschuß“, tröstete ihn der Kutscher. „Du hast ‘ne Menge Blut verloren, aber an dem Kratzer geht niemand zugrunde.“‘ „Dein Wort in Gottes Ohr, Kutscher“, knurrte Smoky. „In den Tropen kann die winzigste Verletzung das große Aus bedeuten. Erzähl mir nichts. An mir soll es nämlich nicht liegen. Ich werde auch weiterhin die Zähne zusammenbeißen, solange ich noch die Kraft dazu habe. Wenn ich es aber nicht mehr schaffe. Kutscher, mußt du mir einen Gefallen tun!“ „Ich bin Medizinmann, kein Schlächter!” Der Kutscher winkte ab. Er wußte genau. auf was der Decksälteste hinauswollte. Bei
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dem bloßen Gedanken sträubten sich ihm schon die Nackenhaare. „Aber es ist deine Christenpflicht. Willst du, daß die Spanier mich fangen? Oder die Würmer mich bei lebendigem Körper auffressen, Mann? Was wäre in solchem Fall wirkliches Mitleid? Du mußt es tun. Versprich es mir, sonst stehe ich nicht mehr auf.“ „Ja, zum Teufel. Aber ehe das eintritt, kämpfe ich wie ein Löwe. Ich werde dich pflegen wie eine Mutter. Und du tust mir den Gefallen und läßt dich nicht gehen. Gemeinsam werden wir es schaffen.“ Smoky nickte und fiel wieder hintenüber. Für einen Augenblick hatte er sich aufgerichtet, den Kutscher am Arm gepackt und ihn wild angestarrt. Der Kutscher ahnte bereits, wie es weitergehen würde: das Fieber würde über den geschwächten Körper Smokys herfallen. Mit einem Blatt, das er von einer Palme abschnitt, verschloß er notdürftig die Schulterwunde. Mehr hatte er nicht. Ein paar biegsame Zweige mußten den Notverband halten. Das war besser als gar nichts. So konnte nicht jeder Schmutz ungehindert in die offene Wunde eindringen. Und der Patient hatte das Gefühl, daß etwas getan wurde. „Hol’s der Satan“, schimpfte der Kutscher. Er hinkte zu Hasard, der sich bei seinem Nahen sofort aufrichtete, als habe er nie den Schlaf des Erschöpften genossen. „Was soll jetzt werden?“ fragte der Kutscher. „Wir haben Verwundete. Willst du warten, bis hier ein englisches Schiff vorbeisegelt? Ich fürchte, solange leben wir alle nicht. Bis dahin sind wir verhungert und verdurstet. Die Nahrungsmöglichkeiten sollen im Urwald noch schlechter _sein als auf der Teufelsinsel, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst.“ „Ich gebe niemals auf, soweit solltest du mich schon kennen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich träume davon, meine .Isabella’ wieder in Besitz zu nehmen.“ „Deine Isabella’?“ erkundigte sich der Kutscher streitsüchtig. „Wenn schon, dann unsere ,Isabella’.“
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„Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Wenn es dich beruhigt: es war nicht so gemeint“, erwiderte Hasard und grinste. Der Kutscher stand mit dem Gesicht zum Meer. „Ich habe auch etwas, das dich interessieren wird“, sagte der Kutscher leise, und seine Augen weiteten ach. „Dort hinten ist eine Schaluppe aufgetaucht. Ich will verdammt sein, wenn ich nicht lauter spanische Helme sehe.“ Hasard sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Gefahr belebte ihn. Herausforderung reizte ihn. Er hätte nicht den Kampf mit den Spaniern gesucht. Jetzt noch nicht. Aber wenn es denn sein mußte ... Hasard entdeckte unschwer die Schaluppe. An Bord befand sich die halbe Wachmannschaft der Spanier. Am Bug stand, den Kieker vor dem Auge, Capitan Catalina, Kommandant der Teufelsinsel. Systematisch suchte er den Uferstreifen ab. „Woher weiß dieser Hurensohn, daß wir das Festland erreicht haben?“ fragte der Kutscher. „Es könnten uns doch auch die Haie gefressen haben.“ „Er will sichergehen. Noch einen Fehler kann er sich nicht leisten. Wenn er uns nicht findet, geht er davon aus, daß wir nicht mehr leben, und kann Madrid melden, was ihm paßt. Er braucht nicht einmal zu erwähnen, daß es vorher einen Massenausbruch gegeben hat.“ „Kann er sich so auf seine Leute verlassen?“ fragte Ferris Tucker, der sich ebenfalls erhoben hatte und zu den beiden trat. „In diesem Punkte schon, Jeder einfache Wachsoldat müßte es büßen. wenn am Hofe ruchbar wird, daß wir entwischen konnten“, erwiderte Hasard. „Also läßt er nichts unversucht. um die Wahrheit herauszufinden. Denn wehe, er behauptet, wir seien tot, und wir tauchen irgendwo wie aus dem Nichts wieder auf und jagen die Spanier, als ob wir nie aus dem Geschäft gewesen wären. Sie würden Catalina hängen.“ „Gönnen würde ich ihm das schon“, sagte der Kutscher rachsüchtig.
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„Da sind noch mehr Spanier. Sie gehen am Ufer entlang!“ rief Ferris Tucker erregt. Er hatte den Stamm einer Palme bis zur halben Höhe erklommen, um einen besseren Überblick zu haben. Jetzt rutschte er schleunigst herunter, um nicht entdeckt zu werden. „Sie suchen unsere Spuren. Und sie werden sie finden“, sagte der Kutscher erschrocken. „Wenn sie im Spurenlesen geschickt sind, stellen sie sogar fest, daß unsere Crew noch vollzählig ist. Dann kennt ihre Wut keine Grenzen.“ Wie zur Bestätigung knallte am Ufer eine Muskete. Augenblicklich steuerte die Schaluppe auf den Strand zu. „Paß auf, was sie tun!“ rief Hasard, lief mit dem Kutscher von Mann zu Mann und scheuchte seine Leute hoch, während Ferris Tucker wieder den Ausguck besetzte. Die Jagd war eröffnet. Kein Zweifel! „Sie lassen zehn Mann zurück und bringen eine Drehbasse in Stellung, zum Schutz der Schaluppe!“ rief der Schiffszimmermann. Keine andere Botschaft hätte den Rest der Crew schneller auf die Beine bringen können. Alles wimmelte durcheinander. Die drohende Gefahr verscheuchte die Müdigkeit. Keiner sah einen Ausweg. Ratlosigkeit herrschte. „Ruhig Blut, Männer“, mahnte Hasard. „Wir sind mit größeren Schwierigkeiten fertig geworden. Kein Grund, jetzt durchzudrehen!“ „Dann erzähl mal, wie’s weitergehen soll“, sagte Old Donegal. „Abhauen können wir kaum. Wir sind zu schwach. Die Spanier haben Macheten, um sich einen Pfad zu schlagen“, stöhnte Smoky. „Wir haben. die Axt von Ferris“, sagte Hasard gelassen. Er blickte sich suchend um. „Das Gelände paßt besser in unser Konzept als in das der Spanier. Die würden uns lieber auf freiem Feld hetzen, um uns schneller einholen zu können. Los, Leute! Hinein in den Dschungel. Ferris und Batuti werden euch den Weg mit seiner Axt
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bahnen. Löst sie rechtzeitig ab. Big Old Shane, Stenmark, Al Conroy, Ben Brighton und ich bleiben hier. Gebt jedem von uns ein Messer.“ Hasard hatte die besten und kräftigsten seiner Männer ausgesucht. Denn es blieb nicht viel Zeit, höchstens eine halbe Stunde. Sie mußten sich beeilen. daß sie ihr Werk vollendeten, ehe die Spanier eintrafen. „Wollt ihr damit vielleicht die Musketiere abschlachten, ihnen die Schaluppe wegnehmen und das Weite suchen?“ fragte Old Donegal. „Wie wär’s, wenn ich auch dabliebe und mein Holzbein als Keule benutzte?“ „Verschwindet“, befahl Hasard scharf. Dies war nicht der Augenblick, zu diskutieren und Kleingläubige zu überzeugen. Er wußte genau, was er tat. Er würde den Spaniern einen heißen Empfang bereiten. Ihm fehlte es an Waffen. aber nicht an Erfindungsgeist. 3. Die Seewölfe brachen auf. Sie tauchten unter im Grün der Bäume und Lianen. Die üppige Vegetation verschluckte sie, als habe es sie nie gegeben. Und doch gab es Leben im Urwald. Kreischend stiegen bunte Papageienschwärme auf und zeigten die Fluchtrichtung der Ausbrecher an. Die Spanier waren schließlich nicht blind und lebten lange genug in diesem Teil der Weit, um die Zeichen der Natur richtig zu deuten. Hasard biß die Zähne zusammen. Es mußte trotzdem klappen. In fliegender Hast erläuterte er seinen Gefährten den Plan. Big Old Shane und er hoben eine Fallgrube aus. Sie arbeiteten wie die Wilden. Die Messerklingen bohrten sich leicht in das lockere Erdreich. Sie gingen nicht zu sehr in die Tiefe, rammten aber in den Grund der Grube einen angespitzten Pfahl. Er würden den Spanier, der den Fehltritt tat, nicht gerade töten, ihn aber hindern, weiter den Ausbrechern nachzusetzen. Kaum war eine halbe Stunde vergangen, da gab es
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entlang des Pfades eine ganze Reihe teuflischer Überraschungen. Hasard und seine Begleiter folgten in mäßigem Tempo ihren Gefährten und bauten von Zeit zu Zeit eine Falle ein. Sie legten einen Verhau von harmlos erscheinenden Lianen an, die sich wie zufällig über den Pfad ringelten, in Wirklichkeit aber über einen hohen Ast liefen und einen schweren Stein in der Höhe festhielten. Wurden sie durchgehackt, fiel der Brocken senkrecht herunter. Sie bauten einen primitiven Bogen mit einem ansehnlichen Pfeil auf der Sehne aus einem tauähnlichen Schlinggewächs, spannten das ganze mit einer Liane und sorgten dafür, daß die Spanier den Auslöser nicht verfehlten. Daß ihre Methode erste Erfolge brachte, erkannten die Gehetzten sehr schnell. Schreie verkündeten, daß eine der Fallen zugeschnappt war. Das Tempo der nachrückenden Spanier wurde merklich langsamer. Vorsichtig und mißtrauisch zogen sie durch den Urwald, denn sie kämpften gegen einen unsichtbaren Feind. Zwischendurch blieb immer wieder einer der Seewölfe zurück. Der Mann lag, das Messer in der Faust, auf einem starken Ast oberhalb des Pfades. Er ließ die schwitzenden, fluchenden Spanier unter sich hindurch ziehen. Mit Vergnügen beobachtete er, wie die Verfolger immer neue Fallen witterten, sich weigerten, an der Spitze zu marschieren und das Tempo verschleppten. Sie wären am liebsten umgekehrt, hätte die Radschloßpistole ihres Offiziers sie nicht vorangezwungen. Wenn dann ein Nachzügler auftauchte, ließ der Seewolf sich einfach fallen, riß den Überraschten um und stach mit dem Messer zu. Nach einer Weile hatten die Dons die Taktik des Gegners durchschaut. Catalina selbst wunderte sich, daß er plötzlich am Ende des Zuges ging. Sie arbeiteten sich im Gänsemarsch durch das Dickicht, weil die Leute vorn genug
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damit zu tun hatten, einen schulterbreiten Pfad mit der Machete zu schlagen. Catalina, völlig verunsichert, fühlte sich als letzter Mann gar nicht mehr so wohl. Ständig drehte er sich um, die Pistole schußbereit in der Faust. Vergeblich suchte sein Auge den Feind im Gewirr der Pflanzen. Sobald der Mann, der auf Hasards Weisung an einem bestimmten Punkt zurückgeblieben war, sein blutiges Werk beendet hatte, schnappte er sich die erbeuteten Waffen, überholte den feindlichen Trupp in einem weiten Bogen und stieß wieder zu der anderen. Das kostete eine ungeheure Kraft. Dafür bereitete es aber doppelt Freude, wenn die Dons plötzlich aus ihren eigenen Musketen frontal angegriffen wurden und Zunder kriegten, daß sie kopfüber Schutz suchten, möglichst in Nesseln und anderen ekligen Pflanzen, die eine Berührung nicht gerade zu einem Quell der Freude werden ließen. Einmal wurde der Feuerüberfall so gekonnt eröffnet, daß den Spaniern entweder der Pfad blieb oder ein Satz in den Morast. Zwei Soldaten, in Helm und Harnisch, versanken kläglich. Ihr Geschrei marterte noch lange die Nerven der anderen Soldaten, die von Catalina brutal weitergetrieben wurden, obgleich sie lieber ihren unglücklichen Kameraden geholfen hätten. Aber der Capitan duldete nicht die kleinste Verzögerung. Die. trat erst ein, als es Catalina selbst erwischte. Hasard hatte kaum erkannt, daß das weitere Vordringen der Spanier allein von dem Capitan abhing, da baute er seine Falle auf. In Windeseile kappten sie einen mittelschweren Baum neben dem Pfad so, daß er noch von zwei Lianen in seiner Stellung gehalten wurde. Hasard selbst legte sich auf die Lauer. Genau im richtigen Augenblick zerstörte er die beiden Lianen. Langsam kippte der Baum und neigte sich dem Pfad zu, zu einer Zeit, als die Spanier sich bereits weiter vorgearbeitet hatten und
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annahmen, in ihrem Rücken drohe keine Gefahr. Der Baum rauschte durch Unterholz und warnte die Verfolger in letzter Sekunde. Aber es war bereits zu spät. Ein mörderisches Prasseln und Splittern von Ästen ertönte, dann folgte ein heller Schmerzensschrei. Catalina lag begraben unter der Krone. Der stürzende Baum hatte ihm übel mitgespielt, aber er war nicht tot. Seine Leute, die ihn zu befreien suchten, brüllte er an, sich zu beeilen. Er hatte große Schmerzen, wie er hinzufügte. Zum Schluß wurde er ausgesprochen umgänglich. Seine Soldaten befreiten ihn und mußten ihn tragen. Sie traten den Rückzug an und kehrten auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Jeder andere Weg hätte neue Strapazen und einen Zeitverlust bedeutet. Catalina schrie und jammerte. Offenbar waren seine Beine gebrochen. Auf dem Rückmarsch nahmen die Spanier ihre Toten und Verletzten mit und leider auch die Vorräte an Pulver und Blei, die Hasard nur zu gern erbeutet hätte. Die den Spaniern geraubten Musketen wurden damit wertlos. Es lohnte sich nicht, sie mitzuschleppen. Hasard und seine Männer zerschlugen die Schießprügel an Bäumen und zogen weiter. Die frisch abgeschlagenen Zweige und Äste, Lianen und Farne wiesen ihnen den Weg. Die Wiedervereinigung fand eine knappe Meile weiter statt. Die Tatsache. daß sie blindlings in den Urwald gestürmt waren und nicht mehr ein noch aus wußten, dämpfte die Freude über das gelungene Rückzugsgefecht. Der Trupp, der den Spaniern das Fürchten beigebracht hatte, war am meisten geschlaucht. Es dauerte lange Zeit, bis sich Hasard und seine Männer so weit erholt hatten, daß sie Bericht erstatten konnten. Sie fanden nur wenige Zuhörer. Die meisten Seewölfe lagen wie tot auf dem feuchten Urwaldboden, ungeachtet der giftigen Spinnen und Schlangen. Sie
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hatten nur den einen Wunsch: sich auszuruhen. Atem zu schöpfen und endlich einmal wieder Kräfte sammeln zu können. Die Spanier hatten sich wohl aus dem unheimlichen und ihnen so gefährlichen Urwald zurückgezogen. Aber das bedeutete nicht viel. Vielleicht hofften sie, Hunger und Durst werde die Flüchtlinge an den Strand zurücktreiben, und sie brauchten die englischen Freibeuter nur wieder einzusammeln. „Was sollen wir tun?“ fragte denn auch Old O’Flynn. Der Einbeinige sah zum Fürchten aus. Bisweilen hatten seine unermüdlichen Helfer ihn im Geschwindschritt und ziemlich rücksichtslos hinter sich hergeschleift, besonders wenn ihnen die Spanier zu dicht auf den Fersen gesessen hatten und der geringe Vorsprung beängstigend zusammengeschmolzen war. Jetzt war sein Körper von den Folgen solcher Brachialgewalt gezeichnet. „Zunächst einmal werden wir unsere Ketten ablegen“, erwiderte Hasard gelassen. Die gewonnenen Scharmützel hatten sein Selbstbewußtsein verdoppelt und seine Hoffnung nicht unbeträchtlich erhöht, daß noch lange nicht alles verloren war. „Vor allem werden wir Posten aufstellen, für den Fall, daß die Spanier immer noch nicht genug haben und einen neuen Vorstoß unternehmen“, fügte der Seewolf hinzu und teilte Wachen ein, um von den Spaniern nicht überrascht zu werden. Danach senkte sich Stille über die Männer im Dschungel. Der Rest des Tages und die Nacht verstrichen ohne weitere Zwischenfälle. Weder ließ sich ein Spanier blicken, noch störte sonst etwas die Nachtruhe der Erschöpften. Die Seewölfe schliefen auf dem blanken Boden, traumlos und schwer wie Tote. Da war keiner, dem nicht die Strapaze der wilden Flucht in den Knochen saß. Bisweilen trat die Wache leise an einen Mann heran und weckte vorsichtig die Ablösung. Der Betroffene fuhr hoch und starrte verständnislos um sich. Blitzartig
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erinnerte er sich dann aber an alles, was er während des Schlafes für ein paar Stunden begraben hatte: sie steckten mitten im Urwald von Guayana, verloren wie ein Haufen Schiffbrüchiger, mit Ketten an den Händen, die allerdings weit genug waren, um die Bewegunzen nicht allzu sehr zu behindern. Schließlich hatten sie Fronarbeit für die Spanier verrichten sollen. Der nächste Posten zog auf, während sein Vorgänger fast fiel und auf der Stelle in einen totenähnlichen Schlaf versank. Der Wachposten umrundete vorsichtig die Lagerstelle, eine winzige Lichtung in der grünen Hölle. Nur hier fiel ungehindert das Mondlicht ein, funkelten die Sterne. Ein tröstlicher Anblick. Denn nichts gab es sonst, was einem Hoffnung einflößen konnte. Die Lage war verzweifelt. Sie hatten sich weiter von der gestrandeten „Isabella“ entfernt als jemals zuvor. Die Aussichten, das. Schiff wieder in Besitz zu nehmen, waren gering. Sie hatten keine Waffen. Da blieb nur die Hoffnung auf einen Geistesblitz Hasards, der in so vielen gefährlichen Situationen bewiesen hatte, daß er nie mit seiner Weisheit am Ende war. Der Posten, der jetzt zum ersten Male seit der Flucht den Hunger spürte, lehnte sich an einen Baumstamm. Alles hier war feucht und glitschig, ein betäubender Moschusgeruch ging von dem Holz aus. Abstoßende Insekten schwirrten durch das Mondlicht und stießen einem ins Gesicht, Man sah keine Einzelheiten, und doch herrschte überall reges Leben. Viele Tiere im Dschungel erwachten erst jetzt und gingen auf Beute aus. Einmal erklang nahebei das heisere Fauchen eines gereizten Jaguars. Aber er folgte wohl einer anderen Spur. Vielleicht hatte er es auf einen Tapir abgesehen oder ein Pekari, eins jener gefährlichen, stets in Rudeln auftretenden Wildschweine, denen man eine ungeheure Angriffslust nachsagte. Pete Ballie, Rudergänger der „Isabella“, bewachte den Schlaf seiner Gefährten. Aber er konnte nicht behaupten, daß er
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sich dabei wohl fühlte. Er vermißte die Weite des Meeres und eine frische Brise. Hier gab es nur den Geruch der Fäulnis und eine Wärme wie in einem Treibhaus, die einem die Luft abschnürte und jede Bewegung zur Qual werden ließ. Noch einer fand keine Ruhe in jener Nacht: Smoky, der Decksälteste. Die Wunde, die er davongetragen hatte, war nicht lebensgefährlich. Auf dem Schiff, unter der Obhut des Kutschers, hätte er die Schramme leicht auskuriert. Aber hier im Dschungel stellten sich bedenkliche Folgen ein. Er kriegte Fieber. Unruhig wälzte er sich hin und her, vorsichtig, um ja nicht an die verletzte Schulter zu stoßen. Die Wunde puckerte und arbeitete. Sie fühlte sich glühendheiß an. Schweißnass lag Smoky am Boden, todmüde und doch nicht in der Lage, ein Auge zu schließen. Das Blut sang in seinen Ohren. Er richtete sich ein wenig auf. Stumm lauschte er in die Nacht. Es waren nicht die Tierstimmen, sondern dieses dumpfe Pochen und Dröhnen, das er hörte. Merkwürdig! Als ob jemand eine Signaltrommel mit bloßen Händen bearbeitete. Es war Smoky, als passe sich sein Herzschlag dem fremden Rhythmus an, als übernehme die Trommel die Führung. Sie bestimmte seinen Pulsschlag. Sie füllte seinen armen Kopf, der im Fieber glühte. Fast wurde er süchtig nach diesem Klang. Er legte sich wieder zurück und nahm das Geräusch in sich auf wie eine Heilsbotschaft. Langsam entspannte er sich. Ferner und ferner klangen die Trommeln, die zu unbekannten Wesen sprachen, die irgendwo hier in der grünen Hölle hausten. Nicht drohend hörte sich der Ton an, sondern sanft, einschläfernd, von hypnotischem Zwang. Smoky gelang es sogar, einzuschlafen. Sein Schlaf blieb flach und unruhig. Seine aufgewühlten Sinne tobten sich im Traum aus. Die Bilder hetzten einander. Es gab
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keinen Zusammenhang, keine Logik, nur Fieberphantasien. Er sah sich selbst gefesselt in einer Pfahlbauhütte. Unter sich, durch das schadhafte Netzwerk des Schilfrohrbodens, konnte er deutlich den Fluß sehen, der stumm und kühl dahinströmte. Dabei hatte er entsetzlichen Durst. Aber er konnte nicht an das Wasser gelangen, weil etwas seine Hände zusammenschnürte. Er kämpfte verzweifelt, denn er glaubte sich von aller Welt verlassen. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Nur von Ferne. aus der Fieberhölle des dampfenden Dschungels, ertönte ganz leise der Wirbel einer Trommel. Der Durst steigerte sich. Smoky glaubte zu ersticken. Mit einem leisen Schrei fuhr er auf. Wild blickte er sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, sein Angsttraum sei wahr geworden. Denn zuerst fiel sein Blick auf das grüne Dach der Baumkronen. Zwischen den Ästen und wild gezackten Palmblättern stahl sich bleiches Mondlicht. Ein Spinnengewebe, gegen den hellen Hintergrund, wirkte riesengroß und schien sich wie ein Fangnetz über Smoky zu legen. „Bleib ruhig, Smoky! Es ist nichts“, flüsterte eine Stimme. Pete Ballie beugte sich über den Decksältesten. Smoky stöhnte, Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht und sank ermattet zurück. „Gib mir Wasser. Pete“, bettelte er. „Wir haben keins.“ Smoky bäumte sich auf. Aus fieberglänzenden Augen starrte er auf seinen Gefährten. „Hier glänzt alles vor Nässe und du sagst, wir haben nichts zu trinken, verdammt? Willst du mich verkohlen?“ „Schon gut, Smoky. Ich versuche, etwas aufzutreiben. Und bleibe ruhig, bis ich wieder da bin. Die anderen brauchen ihren Schlaf.“ Pete Ballie ging davon. Merkwürdig, er bewegte sich völlig geräuschlos. Der weiche Waldboden
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schluckte jedes Geräusch. Nicht ein Ast brach unter seinem Fuß. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt watete Ballie durch hüfthohes Farnkraut. Das Mondlicht trug nicht gerade dazu bei, die überhitzte Phantasie Smokys abzukühlen. Er vergaß alles um sich her. Sein Blick verwirrte sich. Er führte stumme Selbstgespräche. Seine aufgesprungenen Lippen bewegten sich ständig. Die Hände zuckten durch die Luft und führten unkontrollierte Bewegungen aus. Als Pete Ballie unvermittelt wieder im Blickfeld des Kranken auftauchte, hatte er sich erschreckend verändert. Seine Haare, hell, wirkten im direkten Licht des Mondes plötzlich wie eisgrau. Er schien um Jahre gealtert. Seine Kiefer bewegten sich knackend. Plötzlich grinste der ToSmoky brüllte wie am Spieß. Überall fuhren die Schläfer hoch. Wütender Protest und ungehaltenes Gemurmel ertönten. Wer erkannte, daß es sich um Smoky handelte, der da geschrien hatte, sank sofort wieder zurück, drehte ich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen. Hatte nicht Hasard Befohlen, die Wache sei für das Wohlergehen des Verwundeten verantwortlich? „Was hat er?“ fragte Hasard matt d rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Er will Wasser.“ „Wir haben keins.“ Auch Hasard begab sich wieder zur Ruhe. Smoky hatte die vertraute Kommandostimme gehört. Dieses Urteil erschien ihm endgültig. Für ihn schien es ein Todesurteil. Er begann zu schluchzen. „Wir werden alle in dieser grünen Hölle krepieren“, jammerte er. Pete Ballie setzte sich neben ihn. Beruhigend legte er ihm die Hand auf die Schulter. Seine Kette klirrte leise bei dieser Bewegung. „Bring mir doch Wasser. Ich verbrenne“, stöhnte Smoky. „Ich kann nicht mehr hoch. Manche Pflanzen saugen sich damit voll. Man muß sie nur abschlagen. Besorge mir was, Pete.“ Seufzend gab Pete Ballie nach.
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Argwöhnisch beobachtete ihn Smoky. Er lag halb auf der Seite, den Oberkörper mit dem gesunden Arm abgestützt und hielt Blickverbindung. Er wollte nicht wieder den Anschluß an die Wirklichkeit verlieren. Sein Herz hämmerte wie rasend. Pete Ballie suchte und suchte. Plötzlich brüllte er wie am Spieß und wälzte sich am Boden. Diesmal fuhr auch der letzte Schläfer hoch und sprang auf. Sie stürzten zu Pete Ballie und halfen ihm, die Quälgeister loszuwerden. Pete Ballie hatte genau in das Kugelnest eines Volkes roter Feuerameisen gegriffen, als er zwischen zwei engstehenden Bäumen durchgeschlüpft war. Die Biester waren über ihn hergefallen und hatten sich mit ihren Kopfzangen überall im Fleisch festgebissen. Für eine ganze Anzahl von Seewölfen bedeutete das ein paar Stunden Schlaf weniger. Keiner schloß sich aus. Pete Ballie war ein beliebter Mann. Jeder wollte ihm helfen. Smoky blieb sich selbst überlassen. Er taumelte hoch, rannte vorwärts, stolperte und blieb mit seiner Handschelle im Unterholz hängen. Dabei stieß er seine verletzte Schulter. Sein Schmerzensschrei alarmierte wiederum alle Männer. „Himmel, Arsch und Zwirn!“ fluchte Ferris Tucker. „Kriegt man denn überhaupt keine Ruhe in diesem Tollhaus? Was denkt ihr, habe ich die vergangenen Stunden getan? In der Koje gelegen und mich verholt?“ „Du bist von der Teufelsinsel getürmt — wie wir alle’’, erwiderte Dan naseweis. „Bin ich das? Ist nichts Besonderes, wie? Habt ihr alle gemacht, oder? Mann, nachher, als ihr nur noch auf euren krummen Latschen durch den Urwald zu stolpern brauchtet, ihr Blindfische, habe ich einen Pfad durch den verdammten Dschungel geschlagen und mindestens zehn Pfund von den Rippen geschwitzt. Deshalb brauche ich jetzt Ruhe!“ Der rothaarige Riese stand wie ein wütender Büffel da, die riesige Axt in der Hand, die er gerettet hatte.
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„Aber gut, wenn ihr mich nicht schlafen laßt, bin ich bereit, als aufrechter Christenmensch auch die andere Wange hinzuhalten: ich werde mich nützlich beschäftigen.“ „Indem du uns die Schädel einschlägst?“ stichelte Dan. „Indem ich dir deine verdammten Fesseln abnehme“, brummte der Schiffszimmermann. „Besorg mir einen Stein.“ Ein paar Männer liefen los. Sie alle waren heilfroh, endlich diese spanischen Armbänder loszuwerden, mit denen man sich zwar bewegen konnte, deren Manschetten einem aber ständig die Handgelenke aufscheuerten. Unter dem runden Eisen sammelte sich der Schweiß und reizte die Haut noch mehr. Drei. Mann schleppten einen brauchbaren Stein heran, der hart genug war, um als Unterlage zu dienen. „Wer will noch mal, wer hat noch nicht?“ rief der Hüne und winkte einladend. Nach und nach fand sich jeder ein und legte die gefesselten Hände auf den provisorischen Amboß. „Wenn wir ein Feuer anzünden könnten, ginge alles viel schneller“, brummte Ferris Tucker. Er hieb zu. Mächtig schwang er die Axt. Die Schneide zerspellte die Kette, die beide Manschetten verband. Soweit spielte jeder noch ungerührt mit. Es war keine Kunst, das Ziel zu treffen. Aber dann folgte die Feinarbeit. Da wurde dem einen oder anderen schwummerig vor Augen. Er schloß sie lieber, als zu sehen, wie der Schiffszimmermann Maß nahm. Der Schlag mußte genau die wie ein Lippenpaar vorspringenden Schäkel treffen, an denen die Kettenreste baumelten. Selten genügte ein Hieb. Sobald sich das Eisen bog, mußte der Delinquent die Hand drehen, damit Ferris Tucker es von der anderen Seite versuchen konnte. Zweimal unsanft verbogen, gaben die Eisenlamellen meist nach. Aber es gab auch hartnäckigere Fälle. Dann stoben die Funken.
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Heller Hammerschlag klang durch den Urwald und vertrieb scheue Nachttiere aus der unmittelbaren Nachbarschaft des provisorischen Lagers. Einige Langschläfer unter den Seewölfen, die es nicht besonders eilig zu haben schienen, die Ketten der Spanier loszuwerden, verzogen sich schimpfend und grummelnd ins Dickicht. Ferris Tucker arbeitete wie ein Berserker. Später löste ihn Big Old Shane ab. Es dauerte Stunden, bis alle von den Handfesseln befreit waren. Jeder spürte die Erleichterung, die Hände wieder frei bewegen zu können und die Gewichte los zu sein. Nur an die Halseisen wagten sich Ferris Tucker und Big Old Shane nicht heran. Nicht mit einer Axt. „Dazu brauche ich eine Zange“, sagte Big Old Shane bedauernd. „Diesen Schmuck müßt ihr noch eine Weile tragen. Es sei denn, ihr wollt beides gleichzeitig verlieren: die spanische Halskrause und euren Kopf.“ Gegen Morgen hatten sie es mit vereinten Kräften geschafft. „Und jetzt?“ fragte Ferris Tucker, der bereits griesgrämig festgestellt hatte, daß die Schneide seiner geliebten Axt ruiniert war und Scharten aufwies, die selbst ein neuer Schliff nicht mehr völlig beseitigen würde. „Wollen wir etwa immer weiter durch diesen lausigen Wald laufen?“ fragte Big Old Shane erbittert. „Soviel Land, wie ich in den letzten Stunden gesehen habe, möchte ich für den Rest meines Lebens nicht mehr betreten. Ich gehöre auf See.“ „Du sprichst uns aus der Seele. Wir müssen die .Isabella’ wiederhaben. Koste es, was es wolle“, erwiderte Hasard. „Ich habe nie geplant, ziellos durch den Urwald zu stolpern. So groß ist unsere Angst vor den Spaniern nun auch wieder nicht, oder?“ Höhnisches Gelächter wurde laut. Ein sauberes Schiff unter den Füßen, unsere gewohnten Waffen, und wir können uns endlich bei den Dons gebührend bedanken!“ brüllte Luke Morgan. „In
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Gedanken wetze ich für diesen Tag bereits das Messer. Eine Mütze voller Schlaf hat Wunder bewirkt. Ich könnte sofort losziehen, wenn ich bloß wüßte, wo der richtige Kurs liegt.“ „Das ist doch nicht schwer. Wir müssen an der Küste in südlicher Richtung marschieren“, sagte Ben Brighton. Er hatte einen bewundernswerten Ortssinn. „Aber so, daß uns die Spanier nicht entdecken - falls sie uns immer noch suchen“, sagte Gary Andrews. Gary Andrews, der Fockmastgast, war sehnig und hager. Er sah aus, als habe er zeit seines Lebens bei schmaler Kost und harter Arbeit auf der Teufelsinsel verbracht, unter den Peitschen der Spanier. Sein Aussehen täuschte. Es gab niemanden, der zäher war als er. Quer über seine Brust verlief eine Narbe, die jedem Betrachter verriet, daß dieser Bursche nicht kleinzukriegen war. Manch anderer war an weniger gestorben. In Andrews Langschädel saßen helle Augen, die verrieten, daß sie nicht gewohnt waren, auf kurze Entfernungen zu beobachten, sondern die Weite der See vorzogen. „Die Spanier werden auch die ‚Isabella’ bewachen“, sagte Matt Davies und kratzte sich ausgiebig mit seiner Spezialprothese den Rücken. Ihm hatte Tucker einen Ersatz für den verlorenen Arm geschaffen. Eine Ledermanschette lief unten in einen Metallring mit spitzgeschliffenem Haken aus. „Das soll mich nicht kümmern“, erklärte Big Old Shane. „Zeige mir die Masten der ‚Isabella’, und ich lege wie der Teufel los. Ich kämpfe mit Zähnen und Klauen, bis ich wieder an Deck stehe.“ „So geht es allen. Aber es ist ein beschwerlicher Marsch dorthin“, sagte Hasard. „So schnell gelangen wir nicht an Bord. Und so leicht sicher auch nicht. Gut Ding will Weile .haben. Aber natürlich verlieren wir dieses Ziel nicht aus den Augen. Wann brechen wir auf, Leute?“ „Sofort!“ ertönte die Antwort.
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„Ehe uns hier die Moskitos fressen, wir verhungern oder verdursten“, sagte Ferris Tucker heiser. Wie zur Antwort ging ein heftiger Regenguß nieder. Ungeheure Wassermassen stürzten vom Himmel, der sich schnell mit dunklen Regenwolken überzogen hatte,- fast nicht wahrnehmbar für jemanden, der unter dem grünen Blätterdach des Urwaldes stand. Minuten später, nachdem die Sintflut vorbei war, schien unvermittelt wieder die Sonne und knallte erbarmungslos auf die Lichtung. Der Boden dampfte. „Eine Sorge wären wir los“, meinte Hasard. „In den Blütenkelchen der Pflanzen hat sich genügend Regenwasser gesammelt. Vergeßt Smoky nicht. Er braucht es am dringendsten.“ Sie mußten sich beeilen, ehe die Sonne das Wasser wieder verdunstet hatte. Aber ihre Suche wurde immer schwieriger, und sie mußten weiter ausholen, um auf natürliche Reservoirs zu stoßen. So schnell, wie der nasse Segen ihnen erteilt worden war, so schnell wurde er ihnen von der Sonne wieder genommen. Die Hitze wurde infernalisch. Wenigstens Smoky hatte seinen Durst ausgiebig stillen können. Fast alle hatten mit ihm geteilt und ihm Händeweise das kostbare Naß gebracht. Sie waren mehrfach gelaufen, um den verwundeten Kameraden zu versorgen. Jetzt bauten sie eine Trage aus dem, was sie im Urwald vorfanden. Sie besorgten sich zwei lange Holzstangen und verbanden sie mit Lianen. Dann legten sie Smoky darauf. „Tut mir leid, daß ich euch soviel Ärger bereite. Ich bin eben ein Pechvogel“, stöhnte der Verletzte. „Würde ich nicht sagen“, brummte Old Shane. „Du hast ja uns. Also vergiß es. Wir lassen dich nicht in Stich.“ Hasard brauchte keine Träger einzuteilen. Es gab genügend Freiwillige. Die Ablösung würde sich auch von selbst finden. Diese Crew brauchte niemanden, der alles bis ins einzelne regelte oder befahl. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft. Da klappte alles wie von
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selbst, weil nicht jeder nur an sich selbst dachte, sondern an das Ganze. Sie waren mehr denn je aufeinander angewiesen. Ein einzelner konnte im Dschungel mit seinen Gefahren nicht überleben. Der Kutscher untersuchte eingehend Smokys Wunde. Er zeigte ein bedenkliches Gesicht. Hasard winkte ihn beiseite. „Wie sieht es aus?“ „Schlimmer, als ich zuerst angenommen habe“, erwiderte der Kutscher. „Zuerst war ich froh, daß der Knochen nichts abbekommen hat und es nur eine Fleischwunde ist. Jetzt sehe ich, daß sich allerhand daraus entwickeln kann. Bald wird er wieder fiebern. Seine Temperatur bereitet mir am meisten Sorgen.“ „Würde es etwas bringen, wenn wir ihm zuliebe den Aufbruch verschieben?“ fragte Hasard. Der Kutscher schüttelte ernst den Kopf. „Das kann er unterwegs ebenso gut durchstehen wie hier. Fieber bleibt Fieber. Entweder der Körper packt es oder nicht. Von mir aus kann die Reise losgehen. Und Smoky wird bald nichts mehr merken, er wird alles vergessen, was um ihn ist. Ich darf ihn nicht aus den Augen lassen.“ Hasard seufzte. „Es geht weiter, Leute!“ rief er. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung — ein verlorener Haufen ohne Proviant, mit einem Schwerverwundeten, in der Fieberhölle von Guayana. 4. Sie gelangten nur langsam vorwärts. Ein umgestürzter Urwaldriese, der den Weg versperrte, nötigte sie zu weiten Umwegen. Es schien, als nehme die Vegetation noch an Üppigkeit zu. Manchmal ruderten sie durch ein Meer von Pflanzen und vergaßen unter dem dunklen Laubdach, wie der Himmel aussah. Sie legten eine Pause ein. Wer in der Nacht die vielen Tierstimmen gehört hatte, wunderte sich, daß am hellichten Tage nichts zu entdecken war. Der Dschungel schien wie ausgestorben
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und zeigte kein Leben. Und doch wimmelte es in den hohen Baumkronen von gefiederten und pelzigen Tieren, die aufmerksam die Störenfriede beobachteten. Aber hier gab es tausend Möglichkeiten, sich zu verstecken. Höchstens eine Bewegung der Zweige verriet manchmal, daß ein Lebewesen unbemerkt bei Annäherung der Menschen das Weite gesucht hatte. Oder ein Papagei protestierte mit lautem Kreischen. Es war eine höllische Gegend. Daran änderten auch die unzähligen Blütenkelche der Orchideen nichts, die wie kostbare Steine im unendlichen Grün des Dschungels prangten. Die Seewölfe waren heilfroh, dass sie die Hände frei hatten. Jetzt konnten sie wenigstens einen verzweifelten Kampf gegen die Plagegeister der Tropen führen, die Moskitos. Die Insekten blieben zwar stets Sieger und gelangten immer ans Ziel, aber wenn man sich hin und wieder klatschend auf den eigenen Körper schlagen konnte, brachte es einem wenigstens die Genugtuung, etwas getan zu haben. Auch wenn für jede getötete Stechmücke tausend neue anflogen. Ihr helles Sirren war manchmal der einzige Ton, der die Stille unterbrach. Es war ein nervenzerfetzendes Geräusch. Gegen Mittag rasteten sie. Erschöpft lagerten die Männer um Hasard im Dickicht. Langsam wurde der Hunger. unerträglich. Jetzt, da das Brechen der Zweige und der Axtschlag dessen, der der Kolonne den Weg bahnte, verstummt waren, ertönte das stete Summen der Moskitos noch aufdringlicher. Es wurde erst überlagert, als in der Ferne Trommeln erklangen - eine Spur deutlicher als in der Nacht, aber noch zu weit, als daß die Seewölfe sich ernsthaft damit befaßten. Nur Smoky reagierte wieder heftig. Er preßte die Hände auf die Ohren, um dieses Geräusch nicht mehr hören zu müssen, zumal der Schlagwirbel sein Blut mindestens ebenso in Wallung brachte wie das Fieber, das ihn quälte. Er litt am
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stärksten unter dem Mangel an Trinkwasser. Noch konnte sich niemand entschließen, aus den Schlammpfützen zu trinken, die am Fuße der Bäume sich ausdehnten, grün und eklig, mit einer Schicht Entengrütze bedeckt und von faulendem Holz verunreinigt. Der einzige, der seinen Mut hochhielt und dem der beschwerliche Marsch durch den Dschungel wie ein Spaziergang erschien, war Bill, der schmächtige Schiffsjunge. Der dunkelhaarige, schlanke Bursche legte die gleiche Strecke wie die anderen mehrmals zurück. Denn einmal fesselte ihn ein riesiger blauer Schmetterling, der im Sonnenschein über eine Wiese taumelte. Dann blieb er stehen, blieb zurück und holte die Gefährten im Laufschritt wieder ein. Oder er stromerte weit vor der Kolonne herum und fand immer wieder einen Durchschlupf; wo Erwachsene aufgesteckt hätten. Oder er begleitete die Gruppe, ein paar hundert Yards entfernt, indem er sich parallel zu den anderen bewegte und erst nach Stunden wieder auftauchte, voller neuer Eindrücke. Als die Seewölfe rasteten, war es Bill, der sich keine Ruhe gönnte. Der Zufall wollte es, daß er eine Horde Brüllaffen entdeckt hatte. Er setzte den Tieren nach, taub gegen Warnungen. Was ihm schließlich widerfuhr, bestand nicht in einer naheliegenden Gefahr, etwa dem Auftauchen eines Jaguars oder der Begegnung mit einer Anakonda. Nein, er geriet an einen Fluß und blieb verblüfft stehen: im Uferschlamm steckte ein Ruderboot fest, offenbar schwer beschädigt und manövrierunfähig. Es gab keine Ruder mehr. Dieser Anblick allein hätte Bill wohl kaum aus der Ruhe gebracht. Was ihn zu Tode erschreckte, war der Mann, der verzweifelt und stumpf in der Plicht hockte: El Verdugo, der spanische Henker. Die Strömung mußte ihn abgetrieben haben. Wahrscheinlich hatte er als einziger das Desaster in der kochenden See und die Kenterung überlebt. Der Sturm hatte ihn
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ebenso an die Küste verschlagen wie die Männer, die er verfolgt hatte. Jetzt zerbrach er sich wohl gerade den Kopf darüber, wie er ohne Riemen die Teufelsinsel wieder erreichen konnte jedenfalls bis zu dem Augenblick. da Bill auftauchte. Spätestens das Halseisen der Spanier verriet den Schiffsjungen als Sträfling, wenn sich El Verdugo nicht außerdem an dieses Gesicht erinnerte. Er vergaß aber nie jemanden, der mal unter seiner Fuchtel gestanden hatte. Und an Bill erinnerte er sich am deutlichsten, weil es ihm nicht gelungen war, trotz aller Torturen und Schikanen. dieses schmächtige Bürschlein in die Knie zu zwingen. Der war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Kapitän, dieser Philip Hasard Killigrew. Wenn er erst einmal älter war und die gleiche Menge an Erfahrungen gesammelt hatte, mußte aus ihm etwas werden, womöglich ein ebenso erbitterter Gegner der Spanier. Und das galt es zu verhindern. El Verdugo hatte sich stets darauf verstanden, seinen Trieben nachzugeben, ihnen aber gleichzeitig einen höheren Sinn zu verleihen und ein Deckmäntelchen umzuhängen. Wenn er Bill gequält hatte, dann eben nur, um zu verhindern, daß Spanien ein neuer und furchtbarer Gegner erwuchs. Und jetzt mußte er sehen, daß der Kerl keine Ketten mehr trug - von dem eisernen Halsring abgesehen -und vergnügt im Dschungel herumlief wie auf einer Schmetterlingsjagd. El Verdugo ging davon aus, daß Bill ebenso ans Festland versprengt worden war wie er selbst. Er rechnete damit, daß das Bürschchen sich hier allein herumtrieb, eine leichte Beute. Der Totenschädel mit den tief eingesunkenen Augen und dem grausamen Tatarenbart verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. El Verdugo sprang auf und kletterte aus dem Bootswrack. Er schwang eine blitzende Machete: *
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Natürlich gab Bill Fersengeld. Die bedrohliche Bewegung des anderen erlöste ihn selbst aus seiner Starre. Der Schreck pulsierte durch seinen schmächtigen Körper. Die Beine setzten sich fast automatisch in Bewegung. Bill ließ die Zweige zusammenschnellen. Er rannte in der ersten Bestürzung kopflos davon. Und prompt verfing er sich in einer tief herunterhängenden Liane, die seine Flucht für wertvolle Minuten stoppte. Da brach bereits der verhaßte Spanier durch das Buschwerk. Zwar sah El Verdugo, der Henker, den Jungen nicht, hörte ihn aber in seiner Falle zappeln. Er hackte sich durch den Dschungel. El Verdugo keuchte. Der Schweiß rann ihm in Bächen über den Körper. Wild blickte er um sich. Dann erkannte er die Zwangslage, in der Bill steckte und genoß dessen verzweifelte Bemühungen, sich aus dem Fallstrick zu lösen. „So, mein Junge“, sagte der Henker grinsend. „Dich hätten wir.“ In letzter Sekunde kam Bill frei und sprang auf. Er schoß davon, so schnell ihn seine Füße trugen. Mit einem Wutschrei folgte ihm der Spanier. Zunächst war Bill einfach davongerannt, ohne zu überlegen, wohin, nur fort aus der Nähe dieses grausamen Spaniers. Jetzt, als er sich durch das Unterholz arbeitete, spürte er zum erstenmal die tödliche Einsamkeit. Er ruderte durch das Grün und verhedderte sich immer wieder. Mit Mühe hielt er seinen geringen Vorsprung. Was sich El Verdugo an Bewegungsspielraum mit wuchtigen Machetenhieben schuf, glich Bill durch größere Wendigkeit aus. Bill war durch eine harte Schule gegangen. Man hatte ihm nichts geschenkt. Aber dies hier war etwas anderes. Der Boden war schlüpfrig. Einen Pfad oder Weg gab es nicht. Zweige und Blätter peitschten seinen halbnackten Körper. Die Luft, unerträglich schwül, stach in den Lungen. Sein Atem ging rasselnd.
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Nur mühsam orientierte er sich. Er widerstand der Versuchung, um Hilfe zu rufen. Das, hätte den Henker nur gewarnt. Sollte er doch annehmen, daß er einen einsamen Jungen verfolgte. Die Überraschung würde für ihn umso vernichtender ausfallen. Bill hatte noch immer höllische Angst vor dem Leuteschinder, aber je länger er die Jagd aushielt, desto sicherer wurde er, daß die Verfolgung für ihn nicht unangenehm enden würde. El Verdugo bewies, eine erstaunliche Kondition. Wahrscheinlich lebte er schon so lange in diesem Klima, daß er sich fast daran gewöhnt hatte. Mochte ihm der Schweiß auch die Augen verkleistern, die Luft wie tausend Nadeln in seinen Lungen stechen und der Wunsch, sich auszuruhen, übermächtig werden - er gab nicht auf. Nach enttäuschender Jagd auf die entflohenen Kettensträflinge endlich ein erster Silberstreif am Horizont! Es war sehr wohl ein Unterschied, ob man mit leeren Händen vor den Kommandanten trat oder wenigstens einen Gefangenen vorweisen konnte. Es war ein Zeichen, daß man sich nicht geschont hatte, ein winziger Erfolg aber immerhin. El Verdugo verdoppelte seine Anstrengungen. Er hatte noch etwas zuzusetzen und holte auf. „Bleib stehen, oder ich spalte dir den Schädel!“ keuchte der Henker und holte mit der blitzenden Machete aus. „Meinst du mich?“ fragte Big Old Shane grollend, trat aus dem Hinterhalt, fing blitzschnell die Messerhand des verhaßten Spaniers ab und hielt eisern fest. Vergeblich stemmte sich El Verdugo gegen die Kraft des früheren Waffenmeisters von Arwenack. Old Shane verzog keine Miene. Aus den Verstecken ringsum tauchten weitere Seewölfe auf. Sie bildeten einen Kreis. Höhnische Zurufe wurden laut, aber auch Verwünschungen. Beim Anblick dieses Mannes kochte jedem das Blut, der einmal unter seiner Peitsche Fronarbeit geleistet hatte.
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Schlimme Erinnerungen wurden wach. Kaum verheilte Wunden rissen wieder auf. Ausgerechnet der Henker mußte sie aufspüren! War er allein, oder leitete er eine neue Suchexpedition der Spanier? Fragen wurden laut. Bill, der seine Flucht jäh beendet hatte, kehrte um und konnte seine Gefährten beruhigen. „Er saß in einem Boot am Fluß“, berichtete er. „Was soll das heißen? Muß ich dir erst die Würmer einzeln aus der Nase ziehen?“ grollte der Profos und hob bereits die Pranke, um dem Benjamin eine Kopfnuß zu verpassen, ganz so, als hätten sie bereits die Planken der „Isabella“ wieder unter den Füßen und befänden sich auf offener See. „Laß ihn!“ rief Hasard und trat zu den beiden. Er nahm Bill ins Verhör. Bill mußte ihm sogar den kürzesten Weg zum Fluß beschreiben. Indes bezwang Old Shane mit Leichtigkeit den Spanier. Die Machete entglitt seiner Hand, die sich, völlig verdreht und unter ungeheurem Druck. zitternd öffnete. Das Buschmesser fiel senkrecht nach unten und blieb vibrierend im Morastboden stecken. Aus angstgeweiteten Augen starrte El Verdugo auf seinen Bezwinger, dessen Gesicht ihm nichts verriet. El Verdugo ging automatisch davon aus, daß die Seewölfe so mit ihm umsprangen, wie er es zuvor mit ihnen getrieben hatte. Er zitterte vor dem Gedanken an die Rache seiner Opfer. Er befand sich in ihrer Gewalt, keine Rettung weit und breit. Tatsächlich bestätigten die nächsten Szenen die finstere Ahnung des Scheusals. Old Shane trieb ein rauhes Spielchen mit dem Spanier. „Was krebst du eigentlich hier herum?“ fragte er. Gleichzeitig schlug er ihm die Faust dröhnend vor den Brustkorb. El Verdugo taumelte zurück.
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Die Seewölfe, die sich blitzschnell zu einem Kreis formiert hatten, fingen ihn auf. Er empfing den nächsten Schlag. So flog er ständig in dem Kreis herum. Der erste Schlag warf ihn gegen die lebende Mauer, die ihn mit gleicher Härte zurückkatapultierte. Das Spiel ging weiter. Dabei tobten und schrien die Seewölfe. Sonst wären sie an dem Haß erstickt, der sie beseelte, seit der Anblick des Henkers all die Leiden wieder heraufbeschworen hatte, die ihnen in den vergangenen Tagen widerfahren waren. Ihre ganze elende Lage zwang sie dazu, sich an dem Henker abzureagieren. Nun wäre Hasard der letzte gewesen, der seinen Männern den Spaß verdorben hätte. Denn sie kannten ihre Grenzen. Eine Tracht Prügel, erzogen von rauhen Seemannsfäusten, konnten den Henker nicht eich ins Jenseits befördern. Mochte er doch einmal am eigenen Leib spüren, was Schmerzen bedeuteten. Aber da war Luke Morgan. Von El Verdugo bis aufs Blut gepeinigt, schoß ihm nur ein Gedanke durch den Schädel: Tod dem verdammten Hund! Er beteiligte sich nicht an dem Spielchen, das er für kindisch hielt. Er wollte mehr: das Leben El Verdugos. Mechanisch fuhr seine Hand zu dem Messer, das in seinem Gürtel steckte. Kaum hatte er das Heft in der Hand, da setzte er sich auch schon in Bewegung. Er schlüpfte zwischen dem Profos und Big Old Shane durch und wollte sich auf den Spanier stürzen. Verdugo ging zitternd in die Knie. Abwehrend hob er die Hände. Seine Lippen zitterten. Er war nicht mehr fähig, sich selbst zu verteidigen. Andererseits standen die übrigen Seewölfe wie erstarrt. Mit dieser Wendung hatten sie nicht gerechnet. Es war ihnen nicht in den Sinn gekommen, den Henker etwa zu erstechen oder zu erwürgen. Sie waren keine Mörder. Wenn ihm einer der mächtigen Old Shanes oder des Profos’ das Genick gebrochen hätte - niemand hätte es ernstlich bedauert. Aber das hier war nackter Mord.
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Wenn sich trotzdem niemand rührte, dann erstens aus Überraschung, daß der rauhe Zeitvertreib plötzlich in bitteren Ernst umgeschlagen war, und zweitens, weil keiner sich berufen fühlte, den Henker zu verteidigen. Wenn Luke Morgan sich nicht mehr beherrschen konnte, wen ging das etwas an? Ausgenommen natürlich Luke. Aber er mußte die Verantwortung tragen. Hasard war es, der reagierte. Er sprang in den Kreis, in dessen Mitte Luke Morgan gerade mit der Linken den Haarschopf des Henkers gepackt hatte und ihm den Kopf nach hinten riß, um ihm das Messer durch die Kehle zu ziehen. „Genug!“ donnerte Hasard. Luke Morgan hielt inne, als er die gewohnte Kommandostimme hörte. Er zögerte. Doch sein ungeheurer Haß auf den Schinder siegte. Der untersetzte Engländer mit der Narbe im Gesicht nahm einen neuen Anlauf. Er war weiß um die Nase und zitterte vor Wut. Nicht mehr Herr seiner Sinne, wollte er El Verdugo erledigen. Hasard kannte seine Pappenheimer. Morgan war ein Pfundskerl, bisweilen sogar ausgesprochen pfiffig und hatte jenen trockenen britischen Humor, der so beneidenswert war. Aber er hatte auch einen schwerwiegenden Fehler, nämlich ein heißes und jähzorniges Temperament. Bisweilen ließ er sich von den Gefühlen hinreißen. Und diesmal beherrschte ihn unbändige Wut. Hasard kannte für solche Fälle ein gutes Rezept. Das war ein wuchtiger Tritt gegen die Messerhand des unbeherrschten Mannes. Morgan starrte auf seine leere Faust, während seine Waffe durch die Luft segelte und irgendwo im Grün des Dschungels niederging. Ein beruhigender Klaps auf die Schulter folgte, und Luke Morgan senkte beschämt den Kopf. Er war wieder zur Vernunft gelangt. Dafür drehte in diesem Augenblick der Henker durch. Er jagte hoch und durchbrach die Mauer der Seewölfe. Sofort wollten sie ihn verfolgen. Aber Hasard pfiff seine Männer zurück.
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„Was soll’s?“ beruhigte er sie. „Wohin kann er sich schon wenden? Er wird sich im Urwald verlaufen und wie wir Hitze, Hunger und Durst genießen. Wir brauchen ihn nicht. An dem beschmutzen wir uns nicht die Hände.“ „Das brauchen wir auch nicht“, stimmte Big Old Shane zu. „Seht doch!“ Er zeigte auf den Spanier, der einen gestürzten Baumriesen benutzte. um schneller vorwärtsgelangen. El Verdugo balancierte über den Baumstamm hin und her getrippelt Stamm bis zum Ende. Dann zögerte er. Denn vor ihm lag ein ausgedehnter Tümpel. Der Gestank brackigen Wassers schlug ihm entgegen - und ein merkwürdiges Fauchen und Zischen. Ein scheußliches, furchteinflößendes Geräusch. So gebärdeten sich hungrige Kaimane, wenn sie auf Beute aus waren. * Die Seewölfe setzten sich schweigend in Bewegung. Niemand lief, niemand sprach ein Wort. Verzweifelt wandte sich der Henker um. Er stand vor einer schrecklichen Wahl: entweder in das Wasser zu springen und Gefahr zu laufen, von einem Kaiman angefallen zu werden oder umzukehren und den Seewölfen erneut in die Finger zu geraten. Er saß in der Klemme. El Verdugo hatte allerlei blaue Flecken und Schrammen davongetragen. Die Seewölfe hatten ihn nicht gerade geschont, als sie ihre Wut an ihm ausließen. Sein rechtes Auge war geschlossen, der Mund verquollen. Es sah aus, als zeige das hagere Gesicht ein ständiges schiefes Grinsen - kein angenehmer Anblick bei einem Totenschädel wie ihn der Henker hatte. Seine Kleidung hing in Fetzen von seinem hageren Leib. Er sah zum Fürchten aus oder zum Erbarmen, je nachdem. Selbst in Big Old Shane stieg die kalte Wut hoch, als er diesem brutalen Folterknecht entgegenging. Unwillkürlich ballte er die Hände. Vielleicht gab das den Ausschlag.
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El Verdugos Angst vor dem Anblick der Männer, die drohend auf ihn zurückten, gab ihm den nötigen Antrieb, das kleinere Übel zu wählen. Nachdem er auf dem glatten war, wandte er sich endgültig dem Tümpel zu. Ein Fehltritt enthob ihn der Notwendigkeit, einen beherzten Kopfsprung zu wagen. Der Spanier glitt aus und stürzte mit einem halberstickten Aufschrei kopfüber in die grüne Brühe, die über ihm zusammenschlug, als habe er nie existiert. Der Tümpel schluckte ihn mühelos, wie er vorher ganze Baumstämme aufgenommen hatte, Aber er gab ihn wieder frei. Nach Luft schnappend, mit den Armen rudernd, tauchte El Verdugo auf und wandte sich entschlossen dem jenseitigen Ufer zu. Wenn er die Strecke schaffte, ohne von einem Kaiman angefallen zu werden, befand er sich in Sicherheit. Der Tümpel, keineswegs breit, sondern eher langgestreckt, schützte ihn vor jeder Verfolgung. Ehe die Seewölfe ihn umrundet hatten, konnte er auf Nimmerwiedersehen in der grünen Hölle untertauchen. Dann würde er an die Küste zurückkehren und die Besatzung der Teufelsinsel auf sich aufmerksam machen, vielleicht durch ein Feuer. Sie würden ein Boot schicken und ihn holen. El Verdugo schwelgte in den schönsten Träumen, während er um sein Leben schwamm. Er wirkte wie ein Quirl in dem stehenden Gewässer. Der schlammige Grund bewegte sich, wallte hoch, trieb stinkend und undurchsichtig an die Oberfläche. Gasblasen zerplatzten dort. El Verdugo visierte ein Zwischenziel auf seiner unheimlichen Reise an, einen Baumstamm, der vor ihm im Wasser trieb. Als er näher heran war, hob sich das bewegungslos dahintreibende Eau as. Mit Entsetzen starrte der Henker in ein Paar bernsteingelbe Augen, geschlitzt und tückisch. Das Zischen und Fauchen am Ufer war noch nicht abgerissen. Dort hatte El Verdugo die Gefahr vermutet. Jetzt
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begegnete sie ihm mitten im Tümpel, als Baumstamm getarnt! Dann geriet urplötzlich Leben in das langgestreckte grünbemooste Wesen. Eine mächtige Schwanzflosse peitschte das Wasser. Ein Rachen öffnete sich. Zwei Reihen furchtbarer Zähne blitzten auf. Mit einem Schrei warf sich El Verdugo herum. Das war sein Ende. Pfeilschnell schoß der Kaiman, der im Wasser zu Hause war, heran. Scharfe Zähne packten El Verdugo erst am Bein, dann an der Schulter. Kiefer, die gewohnt waren, etwas festzuhalten, schlossen sich wie eiserne Zwingen. Der Todesschrei des Henkers endete in einem halberstickten Gurgeln. Kurz noch ruderten seine Arme wie wild. Der Kaiman tauchte weg. El Verdugo verschwand spurlos. Keiner der Seewölfe hatte eingegriffen. Schweigend hatten sie das Drama beobachtet. Hasard, der für jeden seiner Männer bedenkenlos das Leben in die Schanze geschlagen hätte, stand regungslos am Ufer. Ben Brighton sprach aus, was alle empfanden. „Es ist schrecklich“, brummte er erschüttert. „Aber ganz unverdient ist dieses Ende nicht. Er hat jeden von uns bluten lassen. Jetzt ist er selbst dran.“ Die tobende Bestie .behielt ihre Beute eisern unter Wasser. Erst sehr viel später würden die Echsen über El Verdugo herfallen. Aber schon entbrannte der Kampf um das Futter. Überall tauchten Kaimane auf. Sie hatten irgendwo am Ufer gelauert, zahlreich, beutelüstern, unbeweglich. Jetzt gerieten sie schier aus dem Häuschen, warfen die gepanzerten Leiber ins Wasser, daß es aufspritzte, tauchten mit wuchtigen Schwanzschlägen ab und versanken spurlos in der Brühe. Es schien, als nehme die Invasion kein Ende. Das Wasser schien zu kochen und zu brodeln. Der Gestank an dem Tümpel wurde unerträglich. Zu viele Gliedmaßen rührten
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den Modder auf. Bisweilen tauchte eine der Bestien auf, warf sich herum und verschwand wieder. Unter der Oberfläche, in dem trüben und nicht zu durchschauenden Wasser spielte sich ein erbitterter Kampf ab, von dem El Verdugo nichts mehr spürte. Er war nur noch ein lebloser Gegenstand, ein Objekt, ein Jagdopfer. Einmal tauchte ein riesiger Kaiman auf, der einen Fetzen von El Verdugos Kleidung im Maul hielt und das erbeutete Stück gierig ver-. schlang, bevor er wieder tauchte, um sich mehr zu holen. „Kommt, Leute“, sagte Hasard müde. „Wir haben noch ein ganzes Stück bis zum Fluß. Und Smoky liegt allein auf seiner Trage. Er kann uns nicht sehen. Er wird sich sorgen.“ 5. Sie kehrten zum Lagerplatz zurück. Der Hunger wühlte mindestens ebenso stark in ihren Mägen wie das bei den Panzerechsen der Fall gewesen war. Und es bestand keine Aussicht, den Hunger irgendwie zu stillen. Ihre Augen, denen auf See nichts entging, waren nicht geschult. Sie konnten in dem grünen Allerlei der Millionen von Blättern kaum Einzelheiten erkennen, geschweige denn Früchte entdecken. Und wenn, unerreichbar hoch, doch welche waren, wußten sie nicht einmal, ob man sie genießen konnte. Allein der Gedanke, im Brackwasser des Flusses wenigstens den Durst löschen zu können, trieb sie vorwärts. Langsam meldete sich Erschöpfung. Allen war klar, daß die Tagesleistung nicht berauschend ausfallen würde. Ihnen bangte vor dem nächsten und dem übernächsten Tag. Sie erinnerten sich schauriger Geschichten über Schiffbrüchige auf treibenden Wracks oder unbewohnten Inseln, die schließlich übereinander hergefallen waren. Kannibalismus hieß das unaussprechliche Wort, Reizschwelle für jeden, der erst am Anfang einer unabsehbaren Fastenperiode stand. Noch
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ging der Hunger nicht an die Substanz. Noch wies jeder den Gedanken weit von sich; auch wenn er mit offenen Augen von saftigen Fleischstücken träumte. Smokys Zustand verschlechterte sich zusehends. Aus seinem Bartgestrüpp ragte eine spitze Nase. Die Augen waren eingesunken und glühten im Fieber. Er phantasierte. Sein wildes schreckliches Leben unter dem Kommando Philip Hasard Killigrews zog an ihm vorüber. Alle Schrecken der vergangenen Jahre standen wieder auf. Er wälzte sich hin und her und schrie, wenn er die verletzte Schulter stieß. Sein Gesicht glühte. Die ihn trugen, hatten es nicht leicht. Sie wurden ständig abgelöst, aber die eigene Kraft schmolz auch dahin. Manche konnten sich gerade noch aus eigener Anstrengung in Bewegung halten und mechanisch ein Bein vor das andere setzen. Die Zahl derjenigen, die an der Spitze marschieren konnten, wurde zusehends kleiner. Denn dort galt es, den anderen erst einmal einen Weg zu bahnen und die schlimmsten Hindernisse zu beseitigen. Schon ein Baumstamm, ein sterbender faulender Holzklotz, bedeutete einen Umweg. Niemand mochte hinüberklettern. Er zog ein paar Yards Umweg durch das Unterholz vor. Hasard, der Profos, Big Old Shane, Ferris Tucker und Batuti, der riesige GambiaNeger, lösten sich schließlich gegenseitig ab. Und jeder hoffte, den Fluß zu erreichen, ehe er wieder -an der Reihe war. Schon der einfache Fußmarsch durch den Dschungel schlauchte jeden. Noch dazu die Axt zu schwingen bedeutete, daß man dampfte und keuchte, als befände man sich in einem riesigen Treibhaus unter der Dunstglocke geschlossener Baumkronen. Als sie den nicht sehr breiten und flachen Fluß erreicht hatten, kam noch einmal Leben in die taumelnden Gestalten. Die Männer liefen um die Wette, warfen sich kopfüber ins Wasser, tranken im Liegen wie die Tiere und schütteten sich das Wasser mit vollen Händen über den Kopf. Smoky wurde von Hasard versorgt.
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Zunächst mußte ihm die Flüssigkeit tropfenweise auf die Lippen geträufelt werden, ehe er begriff und gierig zu schlucken begann. Denn ansprechbar war er kaum noch. Er bewegte krampfhaft und gierig die Lippen. Seine Zunge suchte nach jedem einzelnen Tropfen. Dann erst wurde er klarer im Kopf. „Laßt mich liegen“, stöhnte er. „Ich schaff’s doch nicht.“ „Wie wär’s, wenn du erst einmal ein Bad nimmst?“ antwortete Hasard und nahm den Decksältesten auf die Arme. Er trug ihn behutsam zum Fluß und setzte ihn vorsichtig an das seichte Wasser. Smoky erfrischte sich. Aber bald wurde das Bad zur Qual. Denn hier knallte die Sonne ungehindert aus wolkenlosem Himmel herunter. Die Männer mußten sich gegen die sengende Glut schützen. flochten sich Hüte aus Palmblättern. Es war Hasard, der zum Aufbruch drängte. Zum erstenmal, seit er das Kommando führte, wurde Widerspruch laut. Die meisten weigerten sich einfach, weiter durch den Urwald zu stolpern, durch eine regennasse Hölle ohne die Möglichkeit, sauberes, klares Wasser zu trinken. Sie wollten in der Nähe des Flusses bleiben. Nie mehr weg. Nie mehr diesen schrecklichen Wassermangel. „Wo sind wir eigentlich?“ fragte der Kutscher. „Niemand weiß, wo das endet. Wir hätten ebenso gut auf der Teufelsinsel bleiben können. Ob dort krepiert oder hier. Was ist da schon für ein Unterschied, oder?“ Die Männer stritten sich. Hasard mußte eingreifen. Er hatte unterwegs bereits mit Sorge beobachtet, daß sich alte Freunde beschimpften und sich gegenseitige Vorwürfe erhoben — ein Zeichen, daß die Nerven überreizt waren. Jeden Augenblick konnte es zur Explosion kommen. „Wir folgen dem Fluß“, entschied Hasard. „Er führt zum Meer. Danach können wir uns neu orientieren und den nächsten Schritt beraten. Auf keinen Fall dürfen wir
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hierbleiben. Das hat keine Zukunft, wie jeder wohl einsieht.“ „Und wenn wir den Spaniern in die Arme laufen?“ fragte Ferris Tucker. „Sie werden niemals aufgeben, uns zu suchen, bis sie wirklich sicher sind, daß es uns wirklich erwischt hat. Also müssen wir überall und jederzeit damit rechnen, daß uns die Dons einen Hinterhalt legen.“ „Natürlich“, erwiderte Hasard. „Deshalb sind wir ja auch in einem Riesenbogen marschiert. Sie sollen erst einmal unsere Fährte verlieren und annehmen, daß wir immer tiefer in den Dschungel eindringen und uns entweder verirren oder von Indianern erledigt werden. Dann tauchen wir wieder auf, wie aus dem Nichts, und erobern unsere ‚Isabella’ zurück.“ „Schön wär’s“, seufzte der Kutscher. „Seit wir von der Teufelsinsel weg sind, träume ich nichts anderes. Nur noch einmal die Planken eines Schiffes unter den Füßen, den Wind in den Segeln und bis zur Kimm nichts als Wasser.“ „Das hört sich an, als glaubst du selbst nicht, daß wir es schaffen“, sagte Hasard. „Warum so kleinmütig?“ Der Kutscher antwortete mit einer hilflosen Geste, die seinen Abscheu gegenüber der tückischen Landschaft mit ihrer üppigen Vegetation andeutete, diesem engen Nebeneinander von Werden und Vergehen. Einige dachten genauso. Aber die meisten waren zu diszipliniert, um in den Jammerchor mit einzustimmen. Sie vertrauten aus gutem Grund auf Hasard. Dabei hätte keiner einen Vorwurf erheben können, wenn er selbst aufgegeben und erklärt hätte, daß er auch nicht genau wisse, wo sie sich jetzt befanden. „Einerlei“, entschied Hasard. „Wir haben keine Wahl. Wir folgen dem Fluß bis zum Meer.“ Er stand auf. Entschlossen nahm er die Axt und begann, einen Pfad zu schlagen. Im Nu war er im Grün des Waldes verschwunden. Nur seine wütenden Axthiebe schallten noch herüber. Da rafften sich alle noch einmal auf. Smoky wurde nicht vergessen.
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Der Decksälteste war wieder im Fieberdelirium versunken. Er hörte, ganz fern, hektisch wie das Pochen seines fiebrigen Blutes, diese unheimlichen Trommeln. Und sie ertönten aus der Richtung, in die sie marschierten. „Indios“, flüsterte Smoky mit heiserer Stimme. Niemand antwortete ihm. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun. Selbst die beiden Träger, die den Verwundeten aufgenommen hatten und schleppten, beachteten Smokys Worte nicht. Dabei spürte er, daß Gefahr drohte. Er hatte von diesen halbnackten Wilden gehört, die scheu wie das Wild umherhuschten und mit vergifteten Blasrohrpfeilen schossen. Wie konnte man gegen Schemen kämpfen? Wenn die Burschen sich entschieden, sie hätten es mit feindseligen Eindringlingen zu tun, gab es für die Crew keine Chance. Einer nach dem anderen würde auf der Strecke bleiben, nur etwas angeritzt von den leichten, aber tödlichen Pfeilen, über deren Wirkung sogar die Spanier Fürchterliches berichteten. Die Spanier selbst hatten mit kriegerischen Vorstößen dafür gesorgt, daß sich die Eingeborenen gegen alle Weißen wehrten, gegen die spanischen Soldaten ebenso wie die Missionare, die fremde Altäre verbrannt und die eigenen an ihre Stelle gesetzt hatten, gegen die Jagdkommandos, die hier im Urwald billige Arbeitskräfte für Minen und Plantagen aufgestöbert und eingefangen hatten. Jetzt war nicht nur der Urwald abweisend und feindselig, auch seine Bewohner waren es. Sie meldeten -sich gegenseitig mit der Trommel, was in ihren Gebieten geschah. Der Klang dieser Trommeln übte einen merkwürdig hypnotischen Zwang aus und beschleunigte den Herzschlag auf eine Art, daß man Angst spürte und zu ersticken drohte. Smoky richtete sich auf und röchelte. Seine Hand fuhr zum Herzen. Er wälzte sich von der Trage und stürmte wie blind in den Wald. Die Männer mußten ihn wieder einfangen.
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„Bindet ihn fest. Er hat Fieber“, sagte Hasard erschöpft. Er hielt die Axt in der Hand. Seine Handflächen waren aufgescheuert und von Blasen übersät. Seine Muskeln schmerzten. Die Arme waren schwer wie Blei nach der langen Führungsarbeit. Aber der Zug stand wieder. Die Männer bewegten sich. Sie resignierten nicht einfach und blieben am Fluß hocken wie Klageweiber. Und wenn sie wütend waren auf Hasard, weil er sie nicht in Ruhe sterben ließ, so konnte das ihre Rettung sein. Wer nicht mehr kämpfte, sondern aufgab, war mit Sicherheit erledigt. Hasard war hart gegen sich selbst. Er ging voran. Das sicherte ihm den Respekt und die Loyalität seiner Männer. „Ich übernehme jetzt“, sagte der eiserne Carberry. Er empfing die Axt und setzte sich an die Spitze. Dann ließ er seine Wut an den Schlingpflanzen und den abgestorbenen Bäumen aus, die den Weg versperrten. * Edwin Carberry, der bullige Profos, führte Selbstgespräche. Jedem Hieb mit der Axt folgte ein kerniger Fluch, begleitet von finsteren Drohungen gegen die Dons. „Laßt mich erst mal aus dieser grünen Erbsensuppe heraus sein“, knurrte der Klotz mit den gewaltigen Kräften. „Dann mache ich euch Feuer unter dem Achterschiff. Da und da und da! „Jedesmal teilte er einen Streich aus, der einen Ochsen gefällt hätte. Dabei aber verschliß er seine Kräfte. Sehr bald wurde er ruhiger, ein Zeichen, daß es auch mit ihm bergab ging. Sobald sein Schandmaul verstummte, wurde es ernst. Das wußte jeder, der den Profos kannte. Mann hinter Mann, im Gänsemarsch, zog der Haufen der Verlorenen durch den Dschungel. Moskitos in hellen Scharen begleiteten die Opfer. Fliegen umsummten schweißgebadete Körper, setzten sich in die Augen, krochen in die Nase oder gerieten einem in den Mund, wenn man nicht aufpaßte.
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Sie litten unter den Halseisen, die sie alle hoch trugen. Um die zu entfernen, bedurfte es mehr als nur der Axt Tuckers. Jetzt sammelte sich unter dem Eisenring der Schweiß. Er biß in die wunde Haut, und die Schmerzen waren genauso qualvoll wie die ständigen Stiche der Moskitos, die sich wie toll gebärdeten. Sie hatten ihre fette Zeit und stachen überall hin. Die Gesichter der Männer waren entstellt, ihre Lippen und Augen verquollen. Die Verzweiflung nahm zu, die Hoffnung ab. Die Trommeln, näher und drohender, untermalten das Geschehen und warnten vor dem unausweichlichen Ende. Edwin Carberry, schweigsam und mürrisch geworden, schnupperte nervös. Er konnte es fast spüren: Wasser war in der Nähe, mehr als dieses armselige Rinnsal von Fluß, aber kein Meerwasser. Er vermißte den Salzgeruch. Das hier war das übliche Gemisch aus verwesenden Pflanzenresten und faulendem Holz. Wie zur Bestätigung tauchte der erste Kaiman auf. Carberry bemerkte ihn fast zu spät. Plötzlich schoß die Echse aus dem Versteck. Ein stinkender Rachen öffnete sich, zwei Reihen schrecklicher Zähne drohten. Der riesige Rachen schnappte nach Carberry. In letzter Sekunde warf sich der Profos zurück und holte mit der Axt aus, aber er stolperte. Ein mörderischer Kampf entbrannte. Es gab kein Zurück mehr für den Profos. Er mußte sich stellen. Den Pfad verstopften die nachdrängenden Gefährten. Rechts und links war der Dschungel undurchdringlich, er bestand aus einer Mauer himmelhoher Baumriesen, die mit Lianen und Schlinggewächsen verbunden waren. An der Erde, dort, wo der verdammte Kaiman auf der Lauer gelegen hatte, wucherten Farnkräuter. Die Echse setzte energisch nach und entwickelte auch hier an Land eine beängstigende Geschwindigkeit. Carberry hatte nicht gewußt, daß die Bestien so flink sein konnten. Er hatte auf
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den Schädel gezielt, ihn aber verfehlt. Die Schneide der Axt, nicht mehr die schärfste, seit damit die Ketten durchtrennt worden waren, fuhr der Echse in den Rücken und schlug eine mörderische Wunde. Der Kaiman geriet außer Rand und Band. Der Schwanz peitschte durch die Luft und zerfetzte das armdicke Geflecht der Lianen, als sei es Spinnengewebe. Der Profos kämpfte ums nackte Leben. Der Kaiman erneuerte seinen Angriff. Wieder konnte Carberry nur knapp ausweichen. Das zähnestarrende Maul verfehlte ihn um Haaresbreite. Mit einem krachenden Geräusch klappten die riesigen Kiefer zusammen. Sie waren es gewohnt, einmal gepackte Beute nie wieder loszulassen. Der Profos wußte genau, was ihm blühte, wenn das Biest ihn erwischte, wobei die Gefahr nicht nur allein von dem fürchterlichen Rachen ausging. Wenn die Echse Schwanzschläge austeilte und ihn traf, dann würde sie ihm die Knochen zerschmettern. So hielt er sich wohlweislich außerhalb der Reichweite des Kaimans, der sich hartnäckig weigerte, den Rückzug anzutreten. Er grunzte und fauchte. Vom hinteren Ende der Kolonne wurden ungeduldige Fragen laut. Jemand wollte wissen, warum es nicht weiterginge. „Ihr habt gut reden!“ brüllte der Profos. Langsam setzte er sich in Bewegung. Sofort sperrte der Kaiman wieder. Er hatte nach dem fehlgeschlagenen Angriff nur verschnaufen wollen. Jetzt fühlte er sich wieder bedroht und reagierte sofort. Unter höckerigen Wülsten saßen geschlitzte tückische Augen, die den Angreifer fixierten. Tier und Mensch wurden zur selben Sekunde aktiv. Carberry hatte die Axt hoch über den Kopf geschwungen. Jetzt sprang er mit zwei schnellen Schritten vor, um mit aller Kraft zuzuschlagen. Die Bestie glitt ihm entgegen. Carberry legte seine ganze Kraft in einen einzigen vernichtenden Schlag. Diesmal zielte er genau. Einen zweiten Patzer
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konnte er sich nicht leisten, nicht auf diese Entfernung. Tatsächlich grub sich die Axt in den Schädel des Kaimans. „Das ist selbst für dich zu harte Medizin, wie?“ stieß Carberry hervor, löste mit Mühe die Schneide aus dem Körper des blutenden Reptils und ließ den zweiten Hieb sofort folgen. Mehr als ein Dutzend vernichtender Schläge ließ der Profos auf den Schädel der Echse niedergehen, die sich zuckend am Boden wand. Dann war der Weg frei. Der Profos war reif für die Ablösung. Er konnte nicht mehr. Ausgepumpt lehnte er an einem Baum und keuchte. Das Haar lag ihm klatschnaß am Kopf. Seine mächtige Brust pumpte wie verrückt. Wortlos übernahm Batuti die Führung. 6. Der Rest des Tages verlief ohne weitere Zwischenfälle. Er war nur eine Folge erbitterter Abwehr von Fliegen und Mücken, ein nie endender Kampf gegen Land und Klima. Als die Sonne immer tiefer sank, machte sich Enttäuschung breit. Sie hatten das Meer nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreicht. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Und doch hätten sie lieber noch ein paar Meilen zurückgelegt, als wieder im Dschungel zu rasten. Die Trommeln der Indios klangen Jetzt deutlich und warnend. Die Seewölfe begannen, nach allen Seiten zu sichern. Diese Nacht würde keiner der Posten wagen, auch nur ein Auge zu schließen. Kurz vor Einbruch der Dämmerung, der sofort in den Tropen die Nacht folgte, befahl Hasard an einem halbwegs geeigneten Platz Halt. Sie litten keinen Mangel mehr an Wasser. Der nahe Fluß versorgte sie. Es war besser, ein paar Hände Wasser zu schöpfen und den Magen damit zu füllen, als nach Früchten zu suchen und von der Dunkelheit im unzugänglichen Urwald überrascht zu werden.
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Die Männer fielen hin, wo sie standen, und schliefen augenblicklich ein, überwältigt von der Müdigkeit, ausgelaugt von den Anstrengungen des ungewohnten Dschungelmarsches, zermürbt von der Hitze und der feuchten Luft, die sich wie ein Schwamm auf die Lunge legte und das Atmen zur Qual werden ließ. Der Dschungel dampfte vor Feuchtigkeit. Sie hatten nicht einmal die Möglichkeit, ein Feuer anzuzünden. Der Qualm hätte vielleicht die Insekten ferngehalten, die sich nur zum Teil mit dem scheidenden Tag verabschiedeten. Die Fliegen verschwanden, und die Moskitos besorgten das Geschäft allein. Immer wieder wurde die Stille von dem Klatschen einer flachen Hand unterbrochen, die versuchte, den Quälgeist zu töten. Dann hatte man kurz Ruhe, bis wieder das feine, metallische Sirren ertönte: Es war ein nervenzerfetzendes Geräusch. Schwer und traumlos schliefen die Seewölfe. Mit einer Ausnahme. Smoky wälzte sich rastlos herum. Er phantasierte ärger als zuvor, wiederholte irgendwelche Segelkommandos und brüllte: „Aye, aye, Sir!“ Die Wachen sahen ständig nach ihm. Gegen Morgen zog Blacky auf, ein kräftiger Kerl mit Eisenfäusten, der einst sogar versucht hatte, sich mit Hasard anzulegen. Jetzt war er ein Wrack, ein Schatten seiner selbst in zerlumpter Kleidung, von Beulen und Moskitostichen übersät, hungrig und verzweifelt. Er umrundete die Schlafstellen seiner Gefährten und folgte den ausgetretenen Pfaden seiner Vorgänger. Viel Bewegungsfreiheit hatte niemand im Dschungel. Langsam wurde es hell über den Wipfeln. Immer mehr Einzelheiten schälten sich aus dem Dunkel der Nacht. Blacky spürte den gleichen Juckreiz an der Wange wie schon so oft. Mechanisch langte er ins Gesicht und kratzte sich. Dabei öffnete er die Beule auf seiner Wange.
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Er wischte die austretende Flüssigkeit weg und betrachtete seine Hand. Sein Schrei ließ die Schläfer hochfahren. Fassungslos starrte Blacky auf seine Hand. Die Fingerspitzen wimmelten von feinen beweglichen Maden, die sich in seinem Fleisch eingenistet hatten. Wie wahnsinnig fegte Blacky herum, suchte angstschlotternd nach dem Kutscher und war nicht in der Lage, eine klare Frage zu beantworten. Sehr schnell erübrigte sich das. Die Panik kannte keine Grenzen. Würmer, wohin man schaute. Sie hatten nachts ihr Zerstörungswerk begonnen. Jede offene Wunde wimmelte von ihnen. Sie hatten sich überall ausgebreitet. Insekten hatten in den zerschundenen Leibern der Seewölfe ihre Eier abgelegt. Kaum einer war verschont geblieben. Die Maden, gereift in der schwülen Tropenhitze, fraßen die Männer bei lebendigem Leibe auf, wenn sie sich nicht schleunigst gegenseitig halfen. Ein großer Teil des Morgens ging mit der Säuberungsaktion verloren. Jeder half jedem. Das Grauen packte die Männer. Niemand wußte, was nächste Nacht werden sollte. „Wir verfaulen bei lebendigem Leibe!“ schrie Luke Morgan entsetzt. „Wir sind hilfloser Fraß für die Maden.“ „Reißt euch zusammen, Männer“, mahnte Hasard unerschüttert. „Wir erreichen das offene Meer. Dafür verbürge ich mich. Das Salzwasser wird mit dieser Plage schnell aufräumen.“ „Außerdem haben wir die gröbsten Schäden beseitigt“, tröstete der Kutscher die Verzweifelten. Sie brachen auf. Es war eher eine überstürzte Flucht. Niemand brauchte mehr angetrieben zu werden. Niemand verlangte nach einer zusätzlichen Rast. Sie flohen wie von Sinnen vor der Gefahr, bei lebendigem Leibe ein Fraß der Maden zu werden. Ihr Heil lag am Meer.
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Aber wo war die offene See? Keine frische Brise kündigte sie an, kein Brandungsgeräusch. Verloren wankten sie durch die Fieberhölle. Kaum, daß jemand etwas Eßbares suchte, um den grimmigen Hunger zu stillen. Nur der unverwüstliche Pete Ballie erlaubte sich einen makaberen Scherz. „Kehren wir doch den Spieß einfach um“, schlug er vor. „Würmer kann man essen, oder? Wir züchten uns den eigenen Proviant.“ Niemand reagierte auf die Bemerkung. Die Männer waren viel zu abgestumpft. Die Katastrophe drohte. Sie gingen nicht mehr, sie taumelten und torkelten wie Betrunkene auf Landgang. Immer mehr zog sich die Kolonne auseinander. Hasard hatte alle Mühe, die Männer zusammenzuhalten. Denn war erst einmal die Verbindung abgerissen, würde man sich in dieser Endlosigkeit nie wieder finden. Und was den Versprengten drohte, das schienen die Trommeln anzukündigen. Es war, als habe sich ein Kreis geschlossen. Überall lärmten die Indios. Sie selbst sah niemand. Aber sie waren da, unüberhörbar. Das monotone Wummern der Signaltrommeln wurde zu einer zusätzlichen Folter auf dem Todesmarsch der Seewölfe. Den Spaniern waren sie entwischt — um hier bei lebendigem Leibe zu verfaulen oder im Kochtopf der Indios zu landen? „Die warten nur, bis die Würmer in uns schön fett und rund sind“, sagte Fete Ballie mit Galgenhumor. Aber er war der einzige, der über diese Bemerkung lachte. Apathisch setzten die anderen ihren Weg fort. Das geringste Hindernis schon ließ sie stolpern. Ihre Gesichter waren unförmig, die Augen gerötet und geschwollen. Fast jeder spielte mit dem Gedanken, aufzugeben, sich fallen zu lassen, eins zu werden mit der modernden grünen Hölle, die alles verschlang, alles überlebte, alles überwucherte.
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Hasard hatte wirklich alle Hände voll zu tun, um seine Männer in Trab zu halten. Wo Ermahnungen nichts nutzten, wandte er Gewalt an. Ein paar Backenstreiche brachten mehr als einen, der bereits versinken und untergehen wollte, wieder zur Besinnung und zwangen ihn, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Zwischendurch prasselte ein Tropengewitter nieder. Der Regen brachte keine Erfrischung. Der Wald verwandelte sich in eine Waschküche. Sie rutschten und stolperten durch Pfützen, Morast und schleimiges Grün, bis die Kräfte versagten. Die Männer warfen sich hin. Nichts konnte sie mehr auf die Beine treiben. Hasard, Ferris Tucker, Carberry und Ben Brighton liefen auf und ab wie die Wachhunde, packten diesen oder jenen am Kragen, schleppten ihn ein paar Schritte weiter und brüllten ihn an. Aber sobald sie den armen Kerl losließen, um sich dem nächsten zu widmen, kippte er um und blieb regungslos liegen, erschöpft, fix und fertig, am Ende. Die meisten vermochten den Sturz nicht einmal mehr mit den Händen abzufangen. Sie landeten auf dem Gesicht. Trübe Regenbrühe spritzte hoch. Mit einem wohligen Stöhnen wälzte sich der Mann zurecht und war nicht mehr aufzuwecken. Selbst wenn ihnen Musketenfeuer gedroht hätte, sie wären lieber gestorben, als noch einen Schritt zu laufen. Hier und da waren sie im Fluß an Egel geraten. Die Tiere hingen vollgesogen und fett bis zum Platzen an ihren Waden. Niemand bereitete sich die Mühe, sie zu entfernen, zumal der Kutscher davor warnte. „Laßt das, Leute“, sagte er. „Ihr reißt die Viecher nur durch. Die Köpfe bleiben im Fleisch und rufen bösartige Entzündungen hervor.“ Er hatte das ernst gemeint. Aber was konnte ihnen noch schaden, was konnte sie überhaupt noch schrecken? Sie waren durch alle Höllen gegangen. Vor wie vielen Tagen hatten sie eigentlich die letzte Nahrung zu sich genommen?
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Sie lagen am Boden. Verzweifelt hockte sich Hasard nieder. Er wußte auch nicht mehr weiter und fühlte sich am Ende. Das Dröhnen der Trommeln rückte näher. Der Klang schien an Stärke und Intensität zuzunehmen. Er füllte die Nacht aus, übertönte die Tierstimmen und verscheuchte das Wild. Die Indios mußten ganz nahe sein. Hasard schaute sich um. Er erwartete jede Sekunde einen Angriff. Aber wie sollte er sich wehren? Sie hatten keine ernstzunehmenden Waffen. * Kein Fluchen und Toben der Besonnenen brachte die Erschöpften wieder auf die Beine, nicht einmal der Hinweis, daß die Küste nicht mehr fern sei. Hasard beschwor die Vision einer „Isabella“, die nur darauf wartete, sie wieder an Bord zu nehmen. Die Seewölfe seufzten nur. Sie träumten von nichts anderem. Aber was nutzte es? Die Tatsachen redeten eine andere Sprache. Sie hockten hier im Dschungel, weit ab von ihrem stolzen Schiff, von Beulen und Stichen übersät, in der Gefahr, bei lebendigem Leib zu verfaulen oder von Maden gefressen zu werden, ohne Nahrungsmittel, umzingelt von Eingeborenen. Keiner konnte voraussagen, was wirklich geschah, wenn sie ihnen begegneten. Und an der Küste warteten die Spanier. Das war die Wirklichkeit. Die „Isabella“ war nur ein schöner Traum und würde es wohl auch bleiben. „Wenn ich nicht bald was zwischen die Zähne kriege, drehe ich durch“, brummte selbst der Profos. „Ich könnte mich nicht einmal vor den Indios verstecken“, pflichtete ihm Big Old Shane bei. „Die müßten mich bei meinem knurrenden Magen sofort entdecken.“ Ben Brighton, Hasards Stellvertreter und erster Offizier, ein zuverlässiger ruhiger Mann, biß die Zähne zusammen. Er war
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ein hervorragender Seemann, aber ein weniger guter Marschierer, ein mutiger Kämpfer, aber nicht immun gegen die Strapazen dieses Todesmarsches durch die Fieberhölle von Guayana. Er fürchtete weder Entermesser noch Belegnägel noch Degenspitzen, aber dieser Urwald mit seinen tückischen Gefahren konnte den besten Mann zermürben. Matt Davies mit seiner Hakenhand benutzte die Prothese auf abenteuerliche Weise. Er wanderte mit unsicheren Schritten von Baum zu Baum. Der Eisenhaken fetzte die Rinde herunter. Was auch immer Matt suchte - manchmal führte er die gesunde Hand zum Mund und kaute, spuckte aber gleich darauf angewidert aus. Die Kerbtiere, die er entdeckt hatte, waren ungenießbar oder sogar giftig. Hasard rief Davies zur Ordnung. „Wir haben bereits genug mit Smoky zu tun. Einen zweiten Kranken können wir uns nicht leisten.“ Matt Davies kehrte um. „Ich weiß nur eins: wenn ich nicht bald was zwischen die Kiemen kriege, geh ich ein“, sagte er. „Möglich, daß ein Mensch sieben Tage und mehr nichts zu essen braucht - wenn er bequem in seiner Koje liegt. Aber wir verbrauchen dauernd Kraft, um uns durch diesen verdammten Dschungel zu quälen. Und die Tortur nimmt kein Ende.“ „Morgen ist so oder so alles zu Ende“, antwortete Al Conroy. „Wenn wir morgen die Küste nicht erreichen, schaffen wir es nie.“ Die Männer schliefen während der Rast nicht mehr. Sie litten an nervöser Erschöpfung. Sie fanden keine Ruhe mehr — wie Tiere, die den Tod instinktiv spüren. Jeder suchte nach Eßbarem, nach Wildfrüchten vielleicht oder nach Taubeneiern oder besser: nach fetten Nestlingen. So etwas mußte es hier doch auch geben. Aber man entdeckte nichts. Die Unergründlichkeit dieser Urwaldlandschaft erdrückte einen. Man ging darin unter wie die Fliege im Milchtopf. Man konnte den Kopf
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verdrehen wie man wollte, in diesem Gewirr von regennassen Blättern, Farnen und moosigen Baumstämmen konnte man keine Einzelheiten erkennen. Das verschmolz alles zu einer Sinfonie aus Grün, hier und da bereichert von einer bunten Blüte. Die Seewölfe wären sogar einverstanden gewesen, einem Rudel der gefürchteten Pekaris zu begegnen, jenen Wildschweinen, die beim geringsten Zeichen von Gefahr nicht etwa flohen, sondern, auf die Macht der größeren Zahl vertrauend, sich augenblicklich formierten und dann angriffen. Aber die Seewölfe erhielten keine Chance, die wirkliche Gefährlichkeit dieser Tiere auf die Probe zu stellen. Sie ließen sich nicht blicken. Stenmark, der große blonde Schwede, entfernte sich weiter vom Rastplatz als alle seine Gefährten. Er schlich durch die Wildnis und hatte die Augen überall. Er hätte selbst Papageiennisthöhlen geplündert —wenn er nur welche gesehen hätte. Überall war lautes, huschendes Leben, aber es gab nichts zu sehen. Ein Seemann war in dieser unbändigen Natur verloren, nicht gerüstet, hier zu überleben. Sein Revier war die weite See, nicht die dampfende Fieberhölle von Guayana. Stenmark arbeitete sich durch das Unterholz. Er achtete nicht mehr auf die wütenden Attacken der Moskitos. Myriaden von Quälgeistern erhoben sich aus schlammigen Pfützen, verließen ihre Verstecke unter den Farnblättern und stürzten sich auf ihr Opfer, um sich vollzusaugen. In einem weiten Halbkreis bewegte sich Stenmark. Er drang bis zum Fluß vor. Dies war die letzte Möglichkeit, auf etwas Nahrhaftes zu stoßen. Ihn trieb der Gedanke, es könnte eßbare Fische geben. Also näherte er sich dem Ufer und wanderte stromaufwärts. Er wußte, daß er Geduld haben mußte. Der Boden war feucht und modrig. Bisweilen schwankte er unter den Füßen.
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Überall entdeckte Stenmark Tierspuren. Sie mochten daher rühren, daß alle Lebewesen des Dschungels, selbst der scheue Tapir, irgendwann am Fluß tranken. Der Leguan wurde Stenmark zum Verhängnis. Die grüne Echse lag regungslos auf einem starken Ast und lauerte auf Beute — Fressen und Gefressenwerden, das Gesetz des Dschungels. Stenmark lief das Wasser im Mund zusammen. Er wußte, daß Leguane wegen ihres schmackhaften Fleisches mit Vorliebe von den Indios gejagt wurden. Dieser hier war ein Prachtexemplar, groß genug, um jedem der Seewölfe eine Handvoll Nahrung zu liefern und die Mägen aller; wenn schon nicht zu sättigen, so doch wenigstens zu beschäftigen. Stenmark bewegte sich langsam weiter. Er fror trotz der Hitze bei dem Gedanken, daß die Echse ihn rechtzeitig bemerken könnte. Wie schnell diese Tiere waren, konnte er sich vorstellen. Dabei stellten ihre Klauen Waffen dar, die sie zwar nicht bewußt zum Kämpfen benutzten, sondern eher zum Ersteigen der Bäume, aber wehe dem, der mit ihnen in Berührung geriet. Selbst Lederkleidung würde diesen Krallen kaum widerstehen, geschweige denn nackte Haut. Stenmark wußte, daß ihm ein mörderischer Kampf bevorstand. Er hatte keine Waffe, dicht einmal ein Messer. Er mußte mit bloßen Händen zupacken, das Tier festhalten und versuchen, es zu töten. Aber er mußte aufpassen, daß es ihm nicht in letzter Sekunde entwischte, sonst wurde nichts aus dem Festmahl. Der Leguan beobachtete den Fluß. Die schwärzliche Zunge fuhr unruhig hin und her, aber der grüne grobgeschuppte Leib bewegte sich nicht. Stenmark konnte seinen Blick nicht von der Beute reißen. Er achtete nicht auf den Weg, sondern setzte nur behutsam einen Fuß vor den anderen, ängstlich darauf bedacht, nicht zu stürzen oder ein Geräusch zu verursachen.
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Er achtete kaum darauf, daß er manchmal bis zu den Knöcheln im Schlamm des Ufers versank. Und dann passierte es. Ein Fehltritt! Stenmark ruderte mit den Armen, weil er plötzlich den Halt verlor. Dabei starrte er noch immer auf den schönen fetten Leguan. Die Echse nahm gar keine Notiz von ihm, das brauchte sie auch nicht, weil der Angreifer in ganzer Länge hinschlug und sofort begann, im Schlamm zu versinken. Jahrelang hatte der Fluß hier seinen Unrat abgeladen. So war eine Uferausbuchtung entstanden, die sich mit einem schwärzlichen, stinkenden Schlick gefüllt hatte. Stenmark kämpfte um sein Leben. Weder konnte er auf allen vieren zurückkriechen, noch fand er überhaupt Halt. Arme und Knie versanken. Der Grund gab nach. Erschreckt flogen bunte Schmetterlinge davon, die auf diesem feuchten Uferstreifen, der nur bei Flut unter Wasser geriet, ihren Durst gestillt hatten. Siedendheiß durchzuckte Stenmark der Gedanke, wie weit er sich bereits von seinen Gefährten entfernt haben mußte. Er war allein. Und er konnte sich nicht helfen. Stenmark begann zu schreien. Seine Stimme wurde von dem grünen Meer geschluckt. Es hatte keinen Sinn. Und doch mußte er brüllen. Es brachte nichts, aber seelenruhig dem eigenen Ende zuzuschauen, brachte der Schwede nicht fertig. Er stellte fest, daß er schneller versank, wenn er sich bewegte. Also rührte er sich nicht mehr. Er lag nur zwei Schritte vom Rand dieser tödlichen Falle entfernt und konnte doch nichts unternehmen. Er stützte sich mit den Armen ab und beobachtete fassungslos, wie sein Gesicht sich immer mehr dem schwarzen Brei näherte, der ihn spurlos schlucken würde. Schon reichte ihm der Morast bis zu den Ellenbogen. Er hockte auf der tückischen
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Fläche und versank wie ein vor Schreck erstarrter Frosch. Die ganze Zeit schrie Stenmark. Niemand antwortete ihm. Aber irgendwann wurde es dem Leguan zu dumm. Er lief den Ast entlang, stürzte kopf über ins aufspritzende Wasser und verschwand aus dem Gesichtskreis Stenmarks. Noch ein paar Minuten zuvor hätte Stenmark bei einem solchen Zwischenfall hemmungslos geflucht. Jetzt dachte er nicht mehr daran, sich den Magen vollzuschlagen. Er hatte andere Sorgen. Es ging ums Überleben, wobei er sehr wohl ahnte, daß sein Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Hierher würde niemand versuchen, sich durchzuschlagen. Warum auch? Die anderen brachen ihre Jagd nach Nahrungsmitteln sicher wesentlich früher ab und kehrten zurück ins Camp, um nicht unnötig Kräfte zu verschwenden. Nur er, Stenmark, mit seiner verdammten schwedischen Zähigkeit, hatte sich soweit verirren müssen. Jetzt erhielt er die Quittung. Er verzweifelte, als ihm der Morast bis zum Kinn reichte. Er legte den Kopf in den Nacken, um das Ende herauszuzögern. Sein Gebrüll wurde noch dringlicher. Todesangst verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Aber was nutzte das? Dieser Schlick war nicht durch Kraft zu besiegen. Er arbeitete still und geduldig am Untergang seiner Opfer. Da bewegten sich Zweige. Stenmark wurde aufmerksam. „Hier bin ich!“ schrie er, fast wahnsinnig vor Angst. „Hier.“ Niemand antwortete ihm. Seine Enttäuschung war grenzenlos. Hatte ihn ein Tier genarrt? Hatte ein Jaguar mit feinem Instinkt gemerkt, daß hier eine leichte Beute wartete? Sollte er sich nur anpirschen und springen. Dann konnte er gleich mitversacken. Schadenfreude erfüllte Stenmark. Der Gedanke, seinen Mörder mit in das feuchte Grab zu reißen, erfüllte ihn mit einer unglaublichen Befriedigung.
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Vielleicht kürzte der Jaguar auch das Verfahren ab. Alles schien besser als dieser langsame qualvolle Tod durch Ersticken. In seiner Not bewegte sich Stenmark und beschleunigte prompt seinen Untergang. Da klatschte etwas vor ihn in den Sumpf — eine lange Liane. Stenmark begriff seine Chance. Er riß die Arme hoch, um sie aus dem Schlamm zu befreien. Schmatzend gab die saugende zähe Masse nach. Stenmark erwischte den Rettungsstrick, geriet dafür aber mit seinem Hinterteil in Bedrängnis und verschwand bis zu den Oberschenkeln im Morast. Er kümmerte sich nicht darum. Er begann, sich an Land zu ziehen. Niemand half ihm, niemand erwartete ihn. Stenmark stand vor einem Rätsel. Die Liane war doch nicht vom Himmel gefallen! Er verschob die Lösung dieses Rätsels auf später. Ihn erfüllte eine tiefe Genugtuung. Er war dem Tod von der Schippe gesprungen. Auch wenn es eine unerhörte Anstrengung bedeutete, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf auf das feste Land zu retten, so wußte er doch, daß er nicht aufgeben würde. Er spielte nicht einmal mit diesem Gedanken. Ihm saß die kalte Todesangst im Nacken. Mit einem kräftigen Ruck brachte er sich endgültig in Sicherheit. Erst jetzt, ausgepumpt, atemlos, mit flimmernden Sternen vor Augen, konnte er sich gehen lassen. Aber nicht lange. Schon warnte ihn das Gehirn vor einer noch größeren Gefahr als der, der er soeben mit fremder Hilfe entronnen war. Was, wenn jetzt die Indios angriffen, weil er völlig erschöpft war? Er fuhr hoch und drang in das Gewirr von Zweigen und Blättern ein. Der Dschungel mit seinem Treibhausklima hatte ihn wieder. Am Fluß hatte er, wohl weil das Meer nahe war, besser und freier atmen können. Jetzt rang er wieder nach Luft. Stenmark bemerkte, keine Menschenseele.
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Er suchte nach Spuren und fand die Abdrücke nackter Füße. Kein Zweifel: er hatte Kontakt mit den Wilden gehabt. Aber sie hatten ihn keineswegs umgebracht, sondern diskret gerettet und sich dann überstürzt zurückgezogen. Weil sie Angst hatten? Stenmark mußte lachen. Nach den Fährten zu urteilen, hatte sich mindestens eine Horde von zwölf Wilden an ihn herangeschlichen. Womöglich hatten sie ihn auf seinem einsamen Marsch durch die Wildnis heimlich begleitet, ohne ihm einen Hinterhalt zu stellen oder nur einen einzigen Giftpfeil abzuschießen. Also waren sie friedlich, es drohte von ihnen keine Gefahr. Vielleicht konnte man bei ihnen Nahrungsmittel eintauschen? Der Gedanke brachte Stenmark in Trab. Er reinigte sich flüchtig von dem gröbsten Schmutz. Der Schlamm bedeckte in einer grauen, schnell erstarrenden Masse seinen Körper wie ein spanischer Harnisch. Jetzt brach die Kruste und bröckelte ab. Stenmark setzte sich in Bewegung. Er versuchte, den eigenen Spuren zu folgen. Das war keine leichte Aufgabe in diesem grünen Einerlei, das sich hinter jedem Lebewesen wie eine Mauer schloß. Stenmark fing bald an, nach seinen Gefährten zu rufen. Erkennen konnte er nichts. Er war nicht einmal mehr ganz sicher, ob er den richtigen Kurs hatte. Aber da erklang, ganz dünn und fern, Antwort. Die Verbindung war wieder hergestellt. Stenmark war den Tränen nahe vor Glück. Er hatte zweimal an diesem Tag Glück gehabt. Da war ihm vor der Zukunft nicht mehr bange: 7. Hasard hörte sich den Bericht Stenmarks schweigend an. Dann beriet er sich mit seinen Gefährten. Die Mehrheit stimmte dafür, die Indios zu suchen, um sich erst einmal wieder satt essen zu können. Einige hatten Bedenken.
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„Wenn sie uns gar nicht empfangen, sondern sich verfolgt fühlen und dann doch zu den Waffen greifen?“ „Oder wenn sie sich zurückziehen und wir immer weiter in den Dschungel geraten, bis wir uns endgültig verlaufen haben und nie mehr zur Küste zurückfinden?“ Hasard hielt dagegen, wie wichtig es sei, endlich etwas zwischen die Zähne zu kriegen. „Wir müssen essen, um unsere Schwäche überwinden und dann den Spaniern die ‚Isabella’ wieder entreißen zu können. In unserem jetzigen Zustand schaffen wir das nicht“, sagte er. Man gelangte zu einem Kompromiß. Der Kutscher, drei Männer und der verwundete Smoky sollten zurückbleiben. Der Verwundete war eine zu große Belastung. Der Rest der Mannschaft unter Hasards Führung sollte versuchen, von den Ureinwohnern Nahrungsmittel zu holen, sollte dafür aber nicht mehr als einen Tag opfern und im Falle von Schwierigkeiten unverzüglich zum Lager zurückkehren. „Werdet ihr denn zurückfinden?“ fragte der Kutscher. „Ferris wird mit seiner Axt Zeichen in die Baumstämme schlagen. So können wir uns bei der Rückkehr orientieren und ohne Zeitverlust das Lager wieder erreichen“, sagte Hasard nach einigem Nachdenken. „Auf was warten wir dann noch?“ brummte Big Old Shane. „Unser Hunger wird nicht kleiner, wenn wir warten.“ Sie brachen auf. Hoffnung verlieh ihnen. neue Kraft. Die Aussicht, Proviant zu beschaffen, ermunterte sie noch einmal, sich wieder in Marsch zu setzen, auch wenn es ein merkwürdiges Gefühl war, in die Fieberhölle zurückzukehren, statt sie auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Sie fanden die Stelle am Fluß, an der Stenmark sein lebensgefährliches Abenteuer bestanden hatte, suchten nach Spuren und entdeckten genügend. Die Indios waren nicht kopflos geflohen, als sie merkten, daß Stenmark es schaffen
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würde, sondern sie waren im Gänsemarsch abgezogen. Einmal fanden sie bunte Federn, wohl von einem Kopfputz der Indios. Sie legten ein ziemliches Tempo vor, so daß die Kolonne wieder einmal auseinanderriß. Das konnte sich böse auswirken, wenn sie Ärger kriegten. Aber sie dachten nicht an Kampf, sondern nur noch an volle Fleischtöpfe. „Diese Kerle sollen ja teuflisch geschickt sein“, sagte Matt Davies. „Die fangen die größten Tiere in Fallen und schmoren sie über dem offenen Feuer.“ „Sie sind Jäger und Sammler“, bestätigte Brighton, „und außerdem darauf ausgerichtet, in dieser Hölle zu überleben. Wenn wir sie finden, hat die Not ein Ende.“ Es war schwer, das Alter der Spuren festzustellen oder zu bestimmen, wie schnell die Wilden marschiert waren. Die Burschen verletzten nicht einmal eine Pflanze, wenn sie sich geschmeidig wie die Tiere des Waldes vorwärtsbewegten. Die Seewölfe dagegen brachen wie die Büffel durch das Unterholz. Monoton erklang das Hacken der Axt, mit der Ferris Tucker die Bäume kerbte, um ihnen später den Rückweg zu erleichtern. Sie mochten eine Stunde unterwegs gewesen sein, da stießen sie auf eine riesige Lichtung. Sie war keineswegs natürlich entstanden, sondern durch Feuer gerodet worden. Natürlich versuchte der Urwald, unermeßlich fruchtbar, das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Lianen kreuzten den Weg, Farne wucherten üppiger als anderswo. Aber alles wurde überragt von der schiefergrauen Ruine einer Tempelanlage. Zwischen bröckelnden Mauern wuchs Gestrüpp. Aasblumen, von überirdischer Schönheit, aber gräßlich riechend, überwucherten eigenartige Götzenbilder. Staunend und mit der gebotenen Vorsicht näherten sich die Seewölfe der Tempelanlage. Einigen schoß wohl der Gedanke an Tempelschätze und die phantastischen Geschichten von Eldorado
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durch die Köpfe, wie sie in den Hafenstädten der Alten Welt kursierten. Die meisten aber dachten wohl eher daran, daß irgendwo in der Nähe Menschen sein mußten. Denn die Anlage sah auf den zweiten Blick keineswegs so verlassen und verloren aus. Da gab es Reste von Feuerstellen und gewundene Blumengirlanden. In der Mitte des Tempelbezirkes, der weitläufiger war, als es zunächst ausgesehen hatte, erhob sich ein sogenanntes Regenhaus. Dort stand eine mehr als drei Yards hohe Statue, auf deren Kopf eine riesige Schüssel stand. Der Regengott hielt sie mit beiden Händen. Eine bequeme Treppe führte zum Heiligtum hinauf. Als Hasard sie benutzte, um einen Blick in den Behälter zu werfen, alarmierte er seine Gefährten mit dem Schrei: „Wasser. Erstklassiges Wasser!“ Dort wurde das Regenwasser aufgefangen, an dem in diesem Gebiet niemals Mangel herrschte, das aber für gewöhnlich nur nutzlos irgendwo im Boden versickerte, die Baumwurzeln speiste und dort, wo es sich in schlammigen Pfützen sammelte, sehr schnell durch Insekten, Schlamm und Unrat ungenießbar wurde. Das Becken hier war randvoll mit klarem Wasser, das unvergleichlich besser aussah als die trübe, mit Fäulnisstoffen durchsetzte Brühe am Fluß. Wie die Wilden stürzten sich die Männer auf das Reservoir. Sie tranken erst und badeten dann im Überfluß. Dabei achtete niemand auf die Umgebung. Erst als Pete Ballie prustend auftauchte, sich auf den Rand zog und lässig die Beine baumeln ließ, be- merkte er die stummen Gestalten, die ihnen zuschauten. Sein Alarmschrei brachte alle auf die Beine. Rings um die Lichtung standen IndioKrieger, braunhäutige Eingeborene, bewaffnet mit langen Speeren aus Eisenholz und federgeschmückten Blasrohren, die oft länger waren als die Träger.
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Eigentlich sahen die Burschen eher sanft und unverdorben aus — wenn nicht diese weißgefärbten Hände gewesen wären. Eine barbarische Sitte. Breitflächige Gesichter wandten sich den Weißen zu. Die Ureinwohner hatten kurze lackschwarze Haare, sorgfältig gestutzt, vermutlich mit Hilfe scharfer Steine. Eisen kannten die Wilden nicht. Bis auf spärliche Lendenschurze waren die Indios nackt. Sie zeigten Schmucknarben auf Brust, Schulter und Gesicht. Stumm starrten sie auf die Seewölfe. Die rauhen Gesellen kriegten einen gehörigen Schreck. Hatten sie etwa unbedacht ein Tabu gebrochen? Hatten sie durch ihre Badeorgie ein Heiligtum entweiht? Die Antwort der Wilden konnte nur eins heißen: Krieg. Wieder einmal wurden sich die Männer um Hasard der schmerzlichen Tatsache bewußt, daß sie mit leeren Händen dastanden. Einer Wolke von Pfeilen, einem Hagel dieser mit Widerhaken versehenen Speere hatten sie nichts entgegenzusetzen. „Laßt mich machen“, befahl Hasard unerschrocken. „Was hast du vor?“ fragte Big Old Shane. „Bleib stehen. Sobald du auf sie zugehst, fühlen sie sich bedroht!“ „Dann spicken sie dich mit ihren verdammten Wurfspeeren, und du siehst ja wohl die sorgfältig geschnitzten Widerhaken“, warnte auch Edwin Carberry, der Profos der „Isabella“. Hasard trat langsam vor. Unverwandt musterten ihn die Wilden. Die Seewölfe hielten den Atem an. „Hör auf, die Kerle zu reizen“, brummte Ferris Tucker, Er trug inzwischen die Axt wieder auf der Schulter und sah, abgerissen und unrasiert, wie ein Waldschrat aus. Hasard versuchte, erst auf Englisch und dann auf Spanisch, zu einer Verständigung zu gelangen. Was er auch sagte, die Indios blieben stumm. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Hasard hob die Hände und zeigte seine leeren Handflächen.
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Langsam bewegte er sich vorwärts, jeden Augenblick darauf gefaßt, durch sein Verhalten ein Inferno zu entfesseln. Niemand konnte voraussagen, wie diese Eingeborenen reagierten. Hasard stieg die Stufen hinunter, langsam und bedächtig. Seine Männer standen unbeweglich wie die Regengottstatue. Sie warteten das Ende des ungewissen Abenteuers ab. Niemand zweifelte daran, daß es Ärger geben würde. Eine Verständigung schien ausgeschlossen. Was Hasard auch anfing, die Wilden blieben starr und stumm. Die Distanz schmolz. Er hatte die letzte Stufe verlassen und zögerte, den Weg fortzusetzen. Wenn die Herren des Dschungels ungnädig reagierten, gab es für ihn keinen Ausweg mehr. Nirgends würde er vor einem plötzlichen Hagel aus Blasrohren Zuflucht finden. Hasard durfte nicht umkehren. Das wußte er. Das geringste Zeichen von Schwäche mußte verhängnisvolle Folgen haben. Vorsichtig ging Hasard weiter. Er deutete noch einmal mit Gesten an, daß er und seine Gefährten Hunger hätten. Er bewegte die Hand, als stopfe er etwas in den Mund und rieb sich den Magen. Keine Reaktion seiner stummen Zuschauer. Hasard hatte sie fast erreicht. Die Mauer nackter Leiber wankte und wich nicht. Wer war ihr Häuptling? Das konnte er nicht erkennen. Waren sie etwa alle gleichberechtigt? Brauchten sie keinen Anführer, der ihnen sagte, was zu tun war und was nicht? Der sie nicht nur führte, sondern auch beherrschte? Wie auf Kommando jedenfalls warfen sich die Indios vor ihm hin. Sie legten ihre Waffen ab. Ihre Stirnen berührten den Boden. Dann sprangen sie auf und verschwanden im Dschungel. *
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Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Seewölfe. Wenn die Wilden auch Hasards Bitte nach Lebensmitteln nicht befolgt hatten, so war es doch bereits ein Fortschritt, daß sie nicht angegriffen, sondern mit allen Zeichen der Unterwerfung das Feld geräumt hatten. Sie durchstöberten die Tempel, stießen aber weder auf Schätze noch auf genießbare Opfergaben. Hier gab es nichts weiter als klares Wasser. Und das konnte selbst den inzwischen bescheiden gewordenen Seewölfen nicht genügen. Sie traten den Rückmarsch an, der Weg war ja nicht zu verfehlen, und hatten die Lichtung fast hinter sich, als Dan, der am Ende des Zuges ging, sein „Halt“ brüllte und die Kolonne stoppte. „Was gibt es?“ fragte Hasard und lief zurück. „Da!“ erwiderte Dan und zeigte auf den Tempel. „Was ist?“ fragte Hasard unwirsch. Denn er konnte nichts entdecken. „Da waren viele Indios. Sie sind die Stufen zum Becken hinaufgelaufen, haben etwas abgestellt und sind wieder abgehauen“, berichtete Dan atemlos. Er war erregt. Die Aussicht, etwas Nahrung zu ergattern, brachte ihn um die Ruhe. Als er glaubhaft versicherte, er sehe viele geflochtene Körbe, gab es kein Halten mehr. Der Wettlauf begann. Wie ein Rudel Wölfe stürzten sie los. Selbst Old Donegal bewältigte mir nichts dir nichts die Stufen, die zum Wasserbecken hinaufführten. Die Nachzügler kamen fast zu spät. Körbe mit allerlei Früchten hatten sich in Windeseile geleert. Erst auf Hasards Befehl hin wurde an die gedacht, die zurückgeblieben waren, vor allem an Smoky. Aber es blieben drei Behältnisse übrig, die durch Deckel verschlossen waren. Niemand mochte sie öffnen. „Eine Kriegslist“, meinte Pete Ballie. „Mit den Früchten haben sie uns angefüttert, aber da drin stecken ein paar nette appetitliche Giftschlangen. Wer die Körbe öffnet, ist erledigt.“
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Seine Worte hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Niemand wagte es, die Sachen zu berühren. „Unsinn“, sagte Hasard zwar, aber der Gedanke, daß sich Giftzähne in seine Hand graben könnten, sobald er die Verschnürungen löste, ließ ihn keineswegs kalt. Die schmackhaften Früchte, die er gegessen hatte und die seinen Magen auf das angenehmste füllten, ließen ihn wieder hoffen, daß alles gut enden würde. Seine Gedanken weilten bereits bei der „Isabella“ und den Wachen, die die Spanier auf dem gestrandeten Schiff sicher zurückgelassen hatten - ein letztes Hindernis zwischen den Seewölfen und der ersehnten Freiheit der Meere. Matt Davies opferte sich. „Wenn die Viecher an meinem Haken knabbern, verbiegen sie sich glatt die Zähne“, sagte er, ging aber mit der gebotenen Vorsicht zu Werke. Es dauerte einige Zeit, bis er die Bastschnüre entwirrt hatte. Der Deckel klappte zurück. Die Meute brach in Gelächter aus. Wovor Matt Davies ängstlich zurückgesprungen war, entpuppte sich nicht als Giftschlangen, sondern als eine ungeordnete kribbelnde und krabbelnde Masse weißer fetter Würmer, die auf einem sauberen Palmblatt lagen. „Wollen die uns verschaukeln?“ schnaufte der Profos. „Wer frißt denn so etwas? Pfui Teufel!“ „Nahrhaft sehen die Tierchen schon aus“, meinte Hasard zögernd. Mit weitaufgerissenen Augen schauten die Männer zu, wie ihr Kapitän zweimal die Hand zurückzog, bevor er wagte, in die krabbelnde Masse zu fassen. Vorsichtig zog er die Beute heraus. Er legte die Tierchen auf die Handfläche und stopfte sie sich einzeln in den Mund. Er wagte nicht zu beißen, sondern schluckte einfach. Nachdem auch der Profos und der Stückmeister dem Beispiel Hasards gefolgt waren, griffen alle nach der
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ungewöhnlichen Nahrung. Der Hunger trieb’s rein. Erst Dan wagte es, die Zähne zu gebrauchen, weil er niemals etwas unzerkaut herunterbrachte. Es knackte verdächtig. Hier und da verzogen sich angeekelt ein paar Gesichter. Nur Dan schnitt eine Grimasse des Entzückens. „Schmeckt nicht einmal schlecht“, sagte er und griff danach ungeniert zu, ein Zeichen, daß er es ernst meinte und niemanden verkohlen wollte. Die Palmblätter leerten sich schnell. „Hätte nicht gedacht, daß ich jemals Würmer fressen würde“, sagte Ferris Tucker. „Ausgenommen jene, die sich im Schiffszwieback tummeln. Aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ „Wenn wir an der Küste sind, versuchen wir es mit Fischfang“, sagte Hasard. „Ganz wohl ist mir bei diesem Zeug auch nicht.“ Nachdem sie alles vertilgt hatten, was die freundlichen Wilden ihnen gebracht hatten, wollten sie sich gebührend bedanken, erhielten aber keine Gelegenheit. „Wir lassen ihnen zwei Messer hier. Vielleicht wissen sie etwas mit den Dingern anzufangen“, brummte Big Old Shane. Merkwürdig, so winzig diese weißen krabbelnden Lebewesen gewesen waren, sie hatten ungeheuer gesättigt und eine ganze Mahlzeit ersetzt. Natürlich stellten sie nicht gerade die denkbar beste Speise dar, und mancher schauderte bei dem Gedanken, über längere Zeit von so etwas leben zu müssen. Sie brachen auf, um zurückzukehren. 8. Im Lager war nach dem Abmarsch von Hasards Gruppe Smokys Fieber wieder gestiegen. Der Decksälteste sah zum Fürchten aus. Schmutzig, zerstochen und abgezehrt lag er auf seinem Lager aus Palmblättern und Farnkraut. Die verletzte Schulter war bis zur Unkenntlichkeit geschwollen. Smoky
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konnte sie nicht mehr bewegen. Er lag apathisch da und ließ sich immer wieder Wasser einflößen. Sein Durst war grenzenlos. Flüssigkeit war das einzige, was ihn noch interessierte. Der Kutscher lief sich die Hacken ab, um den Verwundeten zu versorgen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit drang niemals ein Fluch über seine Lippen. Besorgt tastete er die Wunde ah. Smoky brüllte wie am Spieß. Als der Kutscher ihm riet, auf ein Stück Holz zu beißen, tat er es. Der Kutscher schüttelte den Kopf. „Sieht böse aus”, murmelte er. „Wenn wir nicht schneiden, gehst du drauf. Dann stirbst du in den nächsten drei Tagen.“ „Weiß ich selbst“, keuchte Smoky. „Tu, was du willst. Meine Erlaubnis hast du. Alles ist besser, als hier zu liegen und bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Denn darauf läuft es doch hinaus. Mann, muß da Eiter drin sein. In der Wunde klopft es wie verrückt.“ Der Kutscher nickte nur. Die Wundränder, gezackt und verformt, und die Wunde selbst glühten. „Ich tu mein bestes, Smoky“, versprach der Kutscher. „Aber ob du es überlebst, weiß ich nicht. Sicher bin ich nur; daß du tot bist, wenn ich nicht schneide.“ „Beeil dich, damit ich es hinter mir habe“, stieß Smoky hervor. „Wie konnte ich auch nur so’n Pech haben. Alle kommen durch, nur mir verpassen die Dons ein Ding, das sich gewaschen hat.“ Der Kutscher schaute Smoky ernst an. „Ich vermute, da steckt noch ein Stück Blei drin. Wenn wir das herausgeholt haben, geht es dir gleich besser. Dann bist du in einer Woche wieder munter.“ „Hoffentlich.“ Der Schmerz der Untersuchung hatte Smoky bereits die Tränen in die Augen getrieben. Wenn jetzt geschnitten wurde, konnte er sich ausmalen, was geschah. Er würde vielleicht vor Schmerzen ohnmächtig werden. „Besser, du fesselst mir die Hände“, forderte Smoky. „Sonst knall ich dir noch eine, wenn ich überschnappe.“
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„Du hast recht“, sagte der Kutscher und winkte den drei Männern, die zurückgeblieben waren. Er wies seine Hilfskräfte ein. Will Thorne, der alte Segelmacher, nahm Smokys Beine und setzte sich darauf. Jeff Bowie, der links eine Hakenprothese hatte, stützte sich auf die gesunde Schulter des Decksältesten und hielt ihm zugleich den Kopf fest. Der dritte Mann, Bob Grey, setzte sich auf den Bauch Smokys, während der Kutscher sich neben ihn kniete. Vorsichtig setzte er das Messer an. Die Klinge drang leicht ein. Als Smoky aufbrüllte, war sie schon fast einen Inch eingedrungen. Blut und Eiter schossen aus der Wunde. Smoky brüllte wie am Spieß und bäumte sich auf. Die drei Männer hielten ihn mit Gewalt fest. Ein paarmal mußte der Kutscher aufhören, in der Wunde zu sondieren, weil Smoky sich zu stark bewegte. Aber dann fischte er doch aus der Wunde ein gezacktes Stück Blei heraus. Er betastete noch einmal die Wunde und konnte nur hoffen, daß Smoky nicht noch mehr Blei kassiert hatte. Aber es sah nicht so aus. Sie erneuerten den Verband, so gut es ging. Jeder opferte ein Stück von seinem Hosenbein, zuunterst wurde eine Lage sauberer Blätter platziert. Geschmeidige Lianen hielten das Ganze. Smoky wollte nicht mehr leben. Er wimmerte nur noch. Aber dann fing er sich wieder. „Deine stärksten Augenblicke waren die, in denen du ohnmächtig warst“, sagte der Kutscher grinsend und wischte die blutige Klinge sauber. „Ich bin zwar kein richtiger Arzt, aber ich möchte behaupten, daß du es schaffst.“ „Wenn alles umsonst gewesen ist, verfluche ich dich bis in alle Ewigkeit“, drohte Smoky. Daß der Decksälteste schon wieder aggressiv wurde, schien eigentlich ein gutes Zeichen. Smoky lag jetzt ganz ruhig. Noch tobte das Fieber, aber sicher klang es
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mit der Zeit ab. Die Krise mußte gegen Abend eintreten. Wenn er am Morgen noch lebte und sein Zustand sich nicht entscheidend verschlimmert hatte, war er über den Berg. „Nach der Aufregung könnte ich einen Rum gebrauchen“, stöhnte der Kutscher, „Aber wir haben ja nichts. Nicht mal was zu essen.“ „Wenn das so weiter geht; fange ich an, Gras zu fressen“, meinte Bob Grey. „Ob Hasard etwas aufgestöbert hat?“ Sie machten sich gegenseitig den Mund wässerig, indem sie sich ausmalten, welche Köstlichkeiten Hasard erbeuten würde. In ihrer Vorstellung marschierte eine lange Reihe zerlumpter Seewölfe durch den Dschungel, beladen mit frischem Fleisch und riesigen wohlschmeckenden Früchten. Die Wirklichkeit sah grau aus. Als Hasard und seine Männer tatsächlich zum Lager zurückkehrten, hatten sie nur wenig zu bieten. Gelbe und grüne Früchte, einige groß wie Papayas, andere wie Melonen. Und eine Handvoll merkwürdiger Maden, eingewickelt in ein Palmblatt und überreicht wie eine Köstlichkeit. Hasard sah sofort nach Smoky. Er stellte fest, daß das Fieber nicht mehr so wütete. „Du hast die Zeit gut genutzt, Kutscher“, lobte Hasard. „Du nicht. Du rennst Meile um Meile durch den verdammten Urwald und findest nur ein paar scheußliche Maden, die kein Christenmensch essen kann“, jammerte der Kutscher, „Warum bist du überhaupt so weit gelaufen? Diese Dinger hättest du hier auch finden können. In diesem verfaulten Baumstamm. Da leben Millionen. Aber ich wäre nie darauf verfallen, die auch zu essen.“ Die Mitteilung des Kutschers löste eine lebhafte Jagd aus. Wer seinen Abscheu und seinen ersten Ekel überwunden und die Maden gekostet hatte, wollte sich gern eine Extraration beschaffen. So beschäftigten sich die rauhen Seewölfe den Rest des Tages damit, die Würmer zu finden, die sie bei den Indios kennengelernt hatten. Wer
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einen fand, stopfte ihn schleunigst in den Mund. * Dann gingen sie zur Ruhe über. „Morgen sind wir an der Küste, Leute“, gelobte der Seewolf. Der Hunger trieb sie zeitig wieder hoch. Sie marschierten jetzt, so schnell ihre Kräfte es erlaubten, der Küste entgegen. Eine weitere Berührung mit den Indios hatten sie nicht. Aber sie hatten gelernt, wie man sich aus dem Lande ernähren konnte. So geschah es immer wieder, daß Männer zurückblieben, um morsche Baumstämme nach Nahrung abzuklopfen. Matt Davies und Jeff Bowie mit ihren stählernen Armprothesen brachten es zu einer Meisterschaft im Schälen von Holz und dem Aufbrechen gewinnträchtiger Gänge und Bohrlöcher. Sie gaben von ihrem Überfluß ab. Einer, der sich gar nicht mit dieser Kost anfreunden mochte, grub in seiner Verzweiflung Wurzeln aus und probierte sie. Sie schmeckten bitter. Er versuchte erst wenig und wartete die Wirkung ab. Als er sicher sein durfte, sich nicht vergiftet zu haben und auch andere unangenehme Reaktionen des Körpers ausblieben, verriet er sein Rezept und fand Nachahmer. Das einzig Erfreuliche war, daß Smoky sich wesentlich besser fühlte. Bei richtiger Ernährung wäre er schnell wieder auf den Beinen gewesen. So aber, doppelt entkräftet, blieb er auf seine Gefährten angewiesen, denen es immer schwerer fiel, ihn mitzuschleppen. Das Tempo der Kolonne blieb bescheiden. Noch immer schien das Ende der grünen Hölle nicht erreicht. Jeder Schritt im Dschungel mußte erkämpft werden. Die Axt Ferris Tuckers war mittlerweile fast unbrauchbar. Stumpf geworden, schnitt sie nicht mehr, sondern zerschmetterte - eine Methode, die wesentlich mehr Kraft erforderte. Und genau die hatten die Seewölfe nicht mehr. Die Schnelligkeit der Gruppe aber hing
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davon ab, wie gut der Mann an der Spitze vorwärtskam. Hasard fiel eine geniale Lösung des Transportproblems ein. Er ließ für Smoky ein Floß bauen. Eine Schicht dürrer Äste wurde auf zwei parallele Baumstämme geschichtet. Lianentaue verbanden die beiden Querhölzer. Sogar ein Haltetau flocht Will Thorne. Smoky wurde auf das primitive Wasserfahrzeug gelegt und von da an geflößt. Er erhielt sogar einen wichtigen Auftrag. Er mußte von Zeit zu Zeit das Wasser prüfen, das ihn trug: Aber nie konnte er melden, daß der Salzgehalt zunahm und damit die Küste näher gerückt war. Die Sicht im Urwald war so beengt, daß niemand voraussagen konnte, ob sie wirklich auf direktem Kurs die Küste ansteuerten. Die Hitze setzte ihnen zu. Selbst der eiserne Carberry zeigte erste Anzeichen beginnender Demoralisierung. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und knurrte: „Es wird Zeit, daß wir die Küste erreichen. Sonst lege ich mich hin und sterbe.“ „Reiß dich zusammen“, befahl Hasard. „Wir müssen immer daran denken, den anderen ein Vorbild zu sein. Aufgeben möchte jeder. Solange wir uns aber weiterschleppen, wagt es niemand. Verstehst du? Einer stützt den anderen. Aber wehe, der erste gibt auf. Das wäre wirklich das Ende. Du brächtest keinen mehr auf die Füße. Die Kerle lassen sich zu Boden sinken und erheben sich niemals mehr. Kaputt- -genug sind wir schließlich alle. Ich möchte auch lieber sterben, als weiter durch diese Wildnis zu ziehen. Die Farbe Grün kann ich für den Rest meines Lebens nicht mehr sehen.“ Sie stolperten weiter. Und dann ertönte ein Schrei von Dan. Er war den Stamm einer schiefen Palme hochgestiegen, um einen besseren Überblick zu gewinnen und einmal weiter sehen zu können als bis zum nächsten Busch, zum nächsten Baumstamm oder gar
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bis zum roten verschwitzten Genick des Vordermannes. „Was siehst du, Dan?“ fragte Hasard erregt. Er konnte eine gute Nachricht gebrauchen, er und jeder Mann. Dieser Tag mußte sie an die Küste bringen, oder sie konnten morgen vor Erschöpfung nicht einmal mehr kriechen. Ihre Füße waren von Geschwüren übersät. Eiternde Wunden bedeckten ihre Beine. „Ich sehe Wasser! Eine Riesenmenge Wasser! Das Meer!“ schrie Dan. Die Männer brüllten: „Hurra!“ „Keine Luftspiegelung?“ forschte Hasard mißtrauisch. „Bestimmt nicht. Wenn ihr wüßtet, wie frisch die Brise hier oben geht. Nur unter dem Blätterdach ist es so schwül. Hier finde ich es richtig angenehm.“ Dan geriet förmlich aus dem Häuschen. „Siehst du die Teufelsinsel?“ Dan schaute sich gründlich um. „Ob sie es ist, weiß ich nicht, Hasard“, erwiderte er entsetzt. „Aber ich kann da links, ein paar Meilen voraus, ein dunkles Gebilde mitten im Wasser erkennen. Das wird sie wohl sein.“ „Sicher“, bestätigte Hasard voll dunkler Ahnung. „Es gibt nur eine Insel hier vor der Küste, die in Frage kommt. Aber bedeutet das etwa, daß wir uns auf der falschen Seite des Flusses befinden?“ Augenblicklich trat Ruhe ein, eisiges erschrecktes Schweigen. Alle warteten auf die Antwort Dan O’Flynns wie auf das Urteil eines Richters. Denn jeder wußte: irgendwelche Extratouren konnten sie sich nicht mehr leisten. Das bißchen Kraft, das ihnen geblieben war, brauchten sie, um überhaupt noch die Küste zu erreichen. Wenn sie die auf einer Flußüberquerung verplemperten, waren sie erledigt. Ganz abgesehen davon, daß sie nicht wußten, was sich alles im Strom tummelte, wie viele unbekannte Gefahren dort drohten. Denn aus dem Rinnsal tief im Urwald war inzwischen ein respektabler Strom geworden.
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„Mach’s Maul auf, du Rübenschwein!“ forderte der Profos grimmig. Seine schmutzigen Hände spielten mit dem verfilzten Bart. Nervös kämmte er pausenlos mit den Fingern das Haar. Dan senkte den Kopf. Bedrückt schaute er auf Hasard. „Sag’s ihnen. Sie werden es wie Männer tragen“, befahl der Seewolf und zitterte selbst vor der Antwort. „Wir befinden uns auf der falschen Seite“, sagte Dan in einem Ton, als trage er für dieses Unglück die alleinige Schuld. „Verdammte Scheiße!“ brüllte Ferris Tucker. Er hieb die Axt bis zum Anschlag in einen Baumstamm. Die Männer kippten um wie die Fliegen. Sie ließen sich einfach zu Boden fallen, als habe diese Nachricht ihnen die Beine weggerissen. „Das schaffen wir nie. Nicht in unserem Zustand“, stöhnte Pete Ballie. „Und Flöße können wir nicht bauen. Das dauert zu lange. Bis dahin sind wir alle verhungert.“ „Keine Müdigkeit vorschützen“, sagte Hasard scharf. „Seit wann kneift ihr angesichts kleinerer Schwierigkeiten? Vom Jammern kriegen wir die ,Isabella’ nicht wieder. Die will erobert sein. Ist doch klar. Also hoch, Leute, Jeder sucht sich ein tragfähiges Stück Holz. Das spart viel Kraft, wenn wir übersetzen.“ Er scheuchte die Männer erbarmungslos hoch. „Ihr werdet doch so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben, Kerls! Gebraucht mal euren Grips! Die ‚Isabella’ ist in greifbare Nähe gerückt! Nur dieser Fluß trennt uns noch von ihr!“ spornte Hasard die Crew an. „Und die See. Bist du kräftig genug, um diesmal in die umgekehrte Richtung zu schwimmen?“ fragte Matt Davies bitter. „Mich kriegst du nicht mehr hinein.“ „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte Hasard. „Wahrscheinlich bewachen die Spanier sowieso die ‚Isabella’. Da könnte ich euch alle gar nicht gebrauchen. Das erledige ich allein mit einer Handvoll zuverlässiger, mutiger Leute. Mit denen, die in dieser
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Lage auch noch nicht aufgegeben haben. Also, wer ist mit von der Partie?“ Hasard wollte seine Leute mit dieser Frage provozieren und sie zwingen, sich noch einmal aufzuraffen. Er erreichte das Ziel. Nach und nach reckten sich Hände in die Luft. Kaum einer schloß sich aus. Sie hatten alle begriffen, daß ihr weiteres Schicksal davon abhing, ob sie die „Isabella“ wieder in ihren Besitz brachten. Sonst blieben sie in der Fieberhölle von Guayana hängen und verfaulten in diesem sumpfigen Küstenstreifen. Hasard konnte den nächsten Schritt wagen. „Dazu müssen wir erst einmal über den Fluß“, sagte er trocken. „Na los, Leute! Auf was wartet ihr noch? Eben wolltet ihr mit mir zur ‚Isabella’ hinüberschwimmen und jetzt kapituliert ihr angesichts dieses jämmerlichen Baches.“ Hasard untertrieb absichtlich. Er kannte wohl die Gefahren, so dicht an der Mündung des Flusses, nahe des offenen Meeres, überzusetzen. Wer hier abtrieb, war rettungslos verloren. Und die Flüsse in diesem Land hatten so ihre Tücken. Sie wurden von yardhohen Flutwellen heimgesucht, wenn das Wasser stieg. Oder es entstand ein unwiderstehlicher Sog bei Ebbe, wenn schlammige Küstenstreifen aus den Fluten stiegen und bis zur nächsten Flut das Anlegen von Schiffen verhinderten. Man konnte nicht immer auf den Augenblick warten, da sich Kräfte des ablaufenden und des auflaufenden Wassers gegenseitig fast neutralisierten. Die Seewölfe schon gar nicht. Sie mußten hinüber, egal wie. Sie mußten ihren Plan zur Rückeroberung des gestrandeten Schiffes schleunigst in die Tat umsetzen. Dies war ihr vierter Tag in der Fieberhölle von Guayana. Mehr konnte keiner ertragen. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Hasard gelang es noch einmal, seine Männer zur letzten Anstrengung zu treiben. Sie besorgten sich alle irgendwelche Schwimmhilfen. Treibholz gab es genügend. Der Strom brachte
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entwurzelte Bäume mit, die noch schwimmfähig waren und zwei, drei Männern Halt und Unterstützung boten. Nur lagen die Behelfsflöße nicht gebrauchsfertig herum. Oft mußten die Stämme erst mühsam aus dem Uferschlick geborgen werden. Es war eine mörderische Plackerei. „Mehr habe ich unter der Peitsche der Dons auch nicht geleistet“, stöhnte Pete Ballie. Er und Luke Morgan wuchteten einen drei Yards langen Stamm aus dem Dschungel zum Fluß. Sie mußten immer wieder Pausen einlegen. Hasard und der Kutscher hatten ein Floß gebaut, das auch noch für den verletzten Smoky reichte. Er befand’ sich sichtlich auf dem Wege der Besserung. Das Fieber war verschwunden. Aber natürlich konnte er mit seinem verletzten Arm nicht schwimmen. Noch tat jede Bewegung entsetzlich weh. Die Haut spannte. Die Wunde verheilte schlecht. Smoky scheuchte Fliegen. Er wußte. was passierte, wenn sie ihre Eier ablegten. Ihm steckte noch die Madengeschichte in den Knochen. Sie warfen sich einer nach dem anderen in den Fluß. Dicht beieinander versuchten sie, so schnell wie möglich das andere Ufer zu erreichen. .Jeder spürte sofort die Kraft des Stromes, der ständig versuchte, sie abzudrängen und ins offene Meer zu treiben. Selbst Hasard hatte sich die Sache leichter vorgestellt. In der Mitte des Flusses merkte jeder, daß es um Sein oder Nichtsein ging. Selbst die Überquerung der See, mitten im Unwetter, war ein Kinderspiel gegen die Bewältigung dieses Hindernisses gewesen. Zweimal mußte Hasard eingreifen, als ein Erschöpfter auf seinem Rettungsbalken vorbeitrieb und offensichtlich den zermürbenden Kampf aufgegeben hatte. Er schnappte sich den Schiffbrüchigen und band ihn an das eigene Floß — mit dem Ergebnis, daß er selbst kaum noch vorwärtskam.
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Erst, als die Geretteten sich einigermaßen erholt hatten, konnten sie ihn wieder unterstützen. Sie arbeiteten wie wild. Besonders die letzten zehn Yards vor dem jenseitigen Ufer kosteten Kraft. Hier gab es eine noch stärkere Strömung, die verhinderte, den anvisierten Punkt zu erreichen, der gegenüber der Ablegestelle lag. Sie verloren gute zweihundert Yards, ehe sie völlig erschöpft an Land krochen. Hasard konnte Smoky gerade noch mitschleppen. Dann verließen ihn endgültig die Kräfte. Er torkelte genau zwei Schritte an Land. Dann kippte er zu Boden und blieb völlig ausgepumpt liegen. Er hätte sterben können vor Erschöpfung. Aber der Gedanke an seine Männer ließ ihm keine Ruhe. Er rappelte sich auf, hockte am Ufer und beobachtete die Schwimmer, die noch im Wasser waren. Sie paddelten wie wild. Langsam erhob sich Hasard. Er brüllte Befehle, gab Hinweise auf Männer, die nicht mehr konnten, und sorgte dafür, daß sie von ihren Gefährten aufgefangen wurden. Er selbst hätte nicht mehr eingreifen können, wenn einer der Männer aufs offene Meer getrieben worden wäre. Aber es ging alles klar. Nach und nach trafen die Nachzügler ein. Manche hatten es erst beim sechsten Anlauf geschafft, das rettende Ufer zu erreichen. Hasard griff ihnen unter die Arme, schleppte sie in den Schatten der Palmen und sprach ihnen gut zu. Die Ermattung der Männer war total. Niemand hatte mehr etwas zuzusetzen. Auch Hasard fühlte Sich hundeelend. Die Strapazen des Dschungelmarsches, die Entbehrungen machten sich deutlich bemerkbar. Dennoch erstieg Hasard eine Palme, um die ,,Isabella“ in Augenschein zu nehmen. Während seine Gefährten apathisch am Boden lagen, hielt Hasard Ausschau. Er stand auf einem Knick des schlanken Palmenstammes, lehnte sich an und beschattete seine Augen.
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Er brauchte nicht zu fürchten, von einem Ausguck der Spanier entdeckt zu werden. Die üppigen Palmwedel erlaubten ihm gute Sicht, schützten ihn aber gleichzeitig vor neugierigen Blicken der anderen Seite. Hasard erkannte die Umrisse der spanischen Zwingburg, an der sie hatten mitarbeiten müssen. Er dachte an El Verdugo, den Henker, der sie so unmenschlich angetrieben hatte. Er war seiner gerechten Strafe nicht entgangen. Es mußte dort drüben von Soldaten wimmeln, aber Einzelheiten konnte Hasard nicht erkennen. Was Hasard wirklich entsetzte, war der Anblick zweier spanischer Galeonen, die auf Reede lagen und bewiesen, wie ernst die Spanier noch immer die Seewölfe nahmen. Von ihrem Tod waren sie offenbar nicht restlos überzeugt, sie wußten genau, daß es für die Männer um Hasard nur eine Rettung gab, wenn sie am Leben waren: die Rückkehr zur Teufelsinsel, um zu versuchen, ein Schiff, möglichst das eigene, in Besitz zu nehmen und unter vollen Segeln davonzurauschen. Daher lag die „Isabella“ noch immer leicht gekrängt auf der Sandbank, auf der sie aufgelaufen war. Damit hatte das Dilemma begonnen. Natürlich hatten sich die Spanier gehütet, das Schiff flottzumachen. Sie wollten dem Seewolf doch nicht die Arbeit abnehmen. Sie rechneten damit, daß der Anblick seines stolzen Schiffes ihn blenden mußte. Er würde sein Schiff holen wollen — und dann konnten sie über ihn herfallen. Der Köder war ausgelegt. Eine teuflische Falle, wie Hasard gestehen mußte. Die Zeit arbeitete für die Spanier. Sicher hatten sie Posten auf der „Isabella“, aber er konnte nichts erkennen. Er wußte, was ihn erwartete. Die kommende Nacht würde die Entscheidung bringen. 9. Die Seewölfe verdösten den Tag an der Küste. Sie litten unter der Hitze, dem Durst und dem nagenden Hunger.
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Hasard schickte Trupps los, um im Dschungel nach Nahrung suchen zu lassen. Aber er achtete auch sorgsam darauf, daß niemand den Strand betrat. Die Spanier durften nicht gewarnt werden. Wenn sie entdeckten, was sich zusammenbraute, schickten sie ein paar Boote herüber und trieben die Seewölfe mit Musketensalven in den Dschungel zurück. Oder sie hetzten die Erschöpften, bis sie aufgeben mußten und wieder in Eisen gelegt werden konnten. Der Rest lag auf der Hand: Deportation zur Teufelsinsel, Fronarbeit. Nach all den Strapazen schauderte es den Männern bei dem bloßen Gedanken, noch einmal unter die Fuchtel der Dons zu geraten. Lieber wollten sie sterben. Wenn nicht bald etwas geschah, würde sich ihr Herzenswunsch sogar auf die denkbar einfachste Weise erfüllen: Bald würden sie nicht einmal mehr die Kraft haben, sich zu erheben. Schon jetzt kostete jede Bewegung ungeheure Anstrengung. Das Fasten ging an die Substanz. Die große Wende erfolgte, als Blacky aufgeregt ins Camp stürzte und Kokosnüsse brachte. Er hatte eine Gruppe Palmen entdeckt, weitab von der Teufelsinsel, fast direkt am Strand. „Und .wir haben nichts davon geahnt“, stöhnte Pete Ballie. Blacky behauptete, es gebe genügend Nüsse für alle. Sofort brach noch ein Trupp auf, von Hasard zur Wachsamkeit ermahnt. Die Tatsache, daß sie jetzt die Milch der Nüsse trinken und das feste weiße Fleisch essen konnten, ließ die Lebensgeister wieder tanzen. Smoky heulte vor Rührung, als Ferris Tucker neben ihm niederkniete, mit einem Messer Streifen des Fruchtfleisches abtrennte und ihn wie ein Baby fütterte. Sie holten an Kokosnüssen, was sie erwischen konnten, und sammelten nicht nur die reifen, die bereits am Boden lagen, sondern pflückten auch alles, was noch an den Bäumen hing. „Wie kommen die Palmen eigentlich hierher?“ fragte Gary Andrews, der Fockmastgast. Er kratzte sich unentwegt an
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der Brust. Die Narbe, die quer darüberlief, juckte wie toll. „Ganz einfach“, erwiderte Hasard. „Irgendein Segler hat sie verloren und die Nüsse sind hier angeschwemmt worden. Manchmal entwurzelt der Sturm ganze Bäume, treibt sie auf einer Insel an Land. und schon wachsen auch dort Kokospalmen. So geht das.“ „Mann, wenn ich daran denke, dass wir die ganze Zeit genügend Nahrung vor der Nase hatten, aber stattdessen Maden gefressen haben“, sagte Al Conroy, der Stückmeister. „Ein Zufall, daß wir die Bäume überhaupt in diesem Durcheinander entdeckt haben“, erklärte Pete Ballie. „Wir? Ich höre. dauernd wir“, empörte sich Blacky. „Ich war der Finder. Ich muß sagen: Ich bin fast darüber gestolpert.“ Alle lachten. Sie aßen, soviel sie konnten und behielten noch eine Menge übrig. Zu aller Erstaunen sammelte Hasard die leeren Schalen. Er hatte sorgfältig darauf geachtet, daß sie nur angebohrt. nicht aber mit einem wuchtigen Axthieb zertrümmert wurden. Jetzt drehte er mit Hilfe seiner Männer aus Kokosfasern Taue und verband Dutzende von hohlen Nüssen miteinander. Die Öffnungen verschloß er mit lehmigem Brei. „Und was hat das alles zu bedeuten?“ fragte Ben Brighton erstaunt. „Soll das ein Floß werden?“ „So etwas Ähnliches“, erwiderte Hasard. „Jedenfalls eine Schwimmhilfe. Die See zwischen Insel und Festland hat es in sich. Wenn wir heute nacht übersetzen, ist es zweckmäßig, wenn wir unsere Kräfte schonen.“ „Wer geht eigentlich mit?“ fragte der Erste Offizier. „Nur Dan“, entschied Hasard. Protest wurde laut. Die einfache Mahlzeit hatte den Männern Mut gemacht. Der erste Durst war gelöscht. Sie fühlten sich besser. Und schon waren sie wild darauf, den Dons an die Gurgel zu gehen.
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„Sachte, sachte“, sagte Hasard. „Gegen die Garnison plus die Besatzung zweier Galeonen haben wir mit ein paar Messern und einer stumpfen Axt nichts zu melden. Also kann uns nur eine Kriegslist wieder zu unserem Schiff verhelfen. Wenn ich scheitere, könnt ihr immer noch angreifen. Aber erst probieren wir es auf meine Art.“ Sie warteten den Einbruch der Dunkelheit ab. Dann schulterte Hasard sein Bündel aus Kokosnüssen, die alle miteinander verbunden waren — Hohlkörper so groß wie Kinderköpfe, sorgfältig abgedichtet. Teer und Pech wären besser gewesen, aber so etwas hatten sie nicht. Wenn das Ganze sich nicht bewährte, konnten sie sich jederzeit der Kokosnüsse entledigen und die Teufelsinsel aus eigener Kraft erreichen. Hasard fühlte wieder Zuversicht und eine tiefe Zufriedenheit. Wie eine einzige ausgiebige Mahlzeit doch den Lebensmut anfachte! Seine Männer verabschiedeten ihn und Dan mit dem gewohnten Humor. Da war keiner, der schwarz sah. Jeder wäre gern dabei gewesen. Aber sie sahen ein, daß Hasard recht hatte. An einer günstigen Stelle watete Hasard ins Meer, gefolgt von Dan. Beide hatten ein Messer bei sich. sonst keine Waffen. „Wirklich eine Invasionsarmee, vor der die spanische Inselbesatzung türmen muß“, sagte Carberry spöttisch. „So ist es“, pflichtete ihm Hasard bei, als habe er den Spott gar nicht bemerkt. „Es kommt nämlich nicht so sehr darauf an, daß ich Massen von Soldaten habe, sondern daß ich in jeder Lage das beste Rezept finde, um den Feind zu schlagen. Das haben wir gefunden.“ „Ihr zwei Figuren kriegt doch die ‚Isabella’ niemals flott“, sagte der Kutscher. „Ist auch nicht unsere Absicht. Wir versorgen uns an Bord mit dem Notwendigsten und peilen erst einmal die Lage. Dann sehen wir weiter“, erwiderte Hasard. Entschlossen watete er ins Wasser.
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Glatt Und ruhig lag die See vor ihm. Die Dünung war lang und gleichmäßig, ein stetig wiederkehrender Rhythmus. Das alles wirkte ausgesprochen friedlich, ganz anders als in jener bewegten Nacht, als sie ausgebrochen waren und sich nur unter größter Anstrengung, von den Spaniern gehetzt, ans Festland gerettet hatten. Hasard überließ sich der Strömung, soweit sie günstig verlief. Nachdem er erst einmal der Brandung entkommen war, die ihn immer wieder zurückgeschoben hatte, ging alles wie von selbst. Hasard hoffte nur, daß die Haie schliefen. Er wußte nicht, ob Fische so etwas taten. Er hatte nur gehört, daß diese Raubfische nach Sonnenuntergang abtauchten und den Meeresgrund aufsuchten. Trotzdem äugte er umher, ob nicht ein Kräuseln der Wasseroberfläche oder eine pfeilschnell heranschießende Dreiecksflosse einen der gierigen Mörder anmeldete. Es war ein eigenartiges Gefühl, auf der Ladung Kokosnüsse zu liegen, die Arme lässig aufgestützt. Die Beine hingen ungeschützt über der Tiefe, die tausend Gefahren barg. Die Vorstellung, ein unbemerkter Angriff eines Haies, von unten angesetzt, könne urplötzlich erfolgen, zu schnell für jede Abwehrreaktion, ließ einem das Blut in den Adern erstarren. Aber sie schafften es ohne Zwischenfall. Die Spanier schienen zu feiern. Ihr Gebrüll und das Klappern der Trinkgefäße drangen deutlich herüber, während Hasard und Dan im Schutze des Inselufers weiterzogen, nachdem sie unbemerkt die beiden Galeonen der Spanier passiert hatten. Wahrscheinlich interessierten sich die Deckswachen mehr für das Gelage als für die Wasserseite. Jedenfalls konnte Hasard zu keiner Zeit einen spanischen Helm über dem Schanzkleid entdecken, obwohl er die beiden Schiffe ständig im Auge behielt. Sie hatten ihre provisorischen Flöße aufgegeben, um schneller vorwärtszukommen und teilten mit ruhigen gleichmäßigen Schwimmbewegungen das
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Wasser, sorgsam darauf bedacht, nicht zu plätschern: . Capitan Catalina, Inselkommandant mit gebrochenen Beinen, hatte eigentlich keinen Grund zum Feiern. Trotzdem führte er das große Wort. „Diese Kerle kommen, so wahr ich Capitan Catalina bin“, prahlte er. „Sie sind an Land verloren, ohne Nahrung, ohne Waffen. Außerdem sind diese britischen Galgenvögel verliebt in ihr Schiff. Sie werden versuchen, es zurückzuholen.’ Und dann schnappen wir sie uns. Sie werden dieses Fort zu Ende bauen. Ich hasse Menschen, die- ihre Arbeit nicht vollenden.“ Die Offiziere lachten. Hasard unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Vor sich sah er die „Isabella“. Sie wurde bewacht. Hasard bemerkte an der Steuerbordseite ein Beiboot der Spanier. Lautlos enterte er am Achterkastell auf, gefolgt von Dan. Sie hatten die Messer in den Mund genommen, um die Hände freizuhaben. Vorsichtig schauten sie sich um. Tatsächlich entdeckten sie zwei Spanier, die an Bord Wache gingen, Soldaten, die lieber an Land gefeiert hätten und sich jetzt miteinander unterhielten. Sie beklagten ihr Schicksal und waren nicht sonderlich wachsam. Sie rechneten wohl nicht mit einem Angriff, nicht bei Nacht und nicht bei diesen Kräfteverhältnissen. Die Seewölfe galten als kühn, aber nicht als verrückt. Und eine Tollheit wäre es gewesen, die verstärkte Garnison der Teufelsinsel anzugreifen. Da Hasard nicht wußte, wann die beiden Posten abgelöst wurden, mußte er sich beeilen. Er wechselte einen Blick mit Dan. Schweigend verständigten sie sich, wer welchen Soldaten übernahm. Sie wußten, daß sie die beiden lautlos ausschalten mußten, wollten sie nicht die ganze Inselbesatzung auf die Beine bringen. Wie ein Panther schwang sich Hasard über das Schanzkleid. Barfuß huschte er über das Deck der leicht gekrängten „Isabella“. Das Messer hielt er in der Faust.
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Dan hielt mühelos mit. Schon standen sie hinter den ahnungslosen Spaniern, die sich angeregt unterhielten. Hasard war froh, daß er die Männer nicht töten mußte. Er betäubte seinen Spanier durch einen Faustschlag. Auch Dan handelte so. Beide Spanier kippten um und wurden aufgefangen. *
Einer spielte verrückt an Bord der „Isabella“. Bis jetzt hatte er gewartet, aber nun hielt ihn nichts mehr. Arwenack, der Schimpanse. Er sprang Dan an, riß ihm beinahe die Ohren ab, zerrte an seinen Haaren, keckerte erregt, wechselte zu Hasard über, umarmte ihn, stöhnte, knarzte, fauchte, turnte über seine Schulter, fegte wieder an Deck, schlug Purzelbaum, trommelte auf seinem Bauch, biß die beiden bewußtlosen Dons und führte sich auf, als sei er übergeschnappt. „Arwenack“, sagte Dan leise, „mein guter, alter Arwenack.“ „Nun heul mal nicht gleich“, sagte Hasard und mußte selbst schlucken. Arwenack tanzte weiter seinen Affentanz der Freude. Seine Menschen waren wieder da. Vergessen waren die Einsamkeit, die Trauer, Hunger und Durst. Alles war wieder gut. „Er sieht arg zerrupft aus“, sagte Dan. „Völlig verhungert. Wir hätten Kokosnüsse für ihn mitnehmen sollen.“ „Du hast vielleicht Sorgen.“ Hasard spähte zu den beiden Galeonen hinüber. Aber da rührte sich nichts. „Möchte wissen, wie er das alles hier überstanden hat“, sagte Dan O’Flynn. „Er muß sich versteckt haben, die ganze Zeit. Wenn die Dons ihn gefunden hätten – nicht auszudenken. Die hätten ihn geröstet, die Bastarde. Nehmen wir ihn mit hinüber an Land?“ „Klar, Dan, ist doch selbstverständlich. Aber Schluß mit dem Palaver. Laß uns die beiden Kerle unter Deck bringen, bevor wir hier gesehen werden.“
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Sie brachten die beiden überrumpelten Spanier in Hasards Kammer und fesselten sie. Arwenack blieb bei ihnen. Die Dons erwachten inzwischen aus ihrer Ohnmacht und rissen die Augen auf, als sie die beiden Männer und den Affen sahen. „Wir haben nichts gegen Sie, Senor“, stammelte der eine, ein Milchgesicht. „Wir wurden zum Militärdienst gepreßt und würden lieber zu Hause unsere Äcker bestellen, als hier auf der Teufelsinsel den Moskitos als Quelle zu dienen. Bitte, verschonen Sie uns, Senor.“ „Geschenkt“, sagte Hasard großzügig. „Wenn wir euch hätten umbringen wollen, hätten wir es bereits an Deck tun können, ihr Schlafmützen. Also hört auf zu jammern.“ Der zweite Spanier verzog angewidert das Gesicht. Ihn störte das Gejammer seines Gefährten, und er verachtete ihn dafür. Er war ein stolzer Don, der jeden Feind Spaniens haßte. Das stellte er sofort unter Beweis. „Warum geben Sie nicht auf. Senor?“ zischte er. „Sie kriegen Ihr Schiff niemals flott. lind an Land leben Sie auch nicht mehr lange. Es gibt nichts zu essen. Wir kennen die Fieberhölle von Guayana zur Genüge. Dort überlebt selbst ein Kaiman nur mit Mühe. Wir haben das Land durchstreift auf der Suche nach El Dorado, dem Goldland. Wir haben nichts gefunden. Nur Schlangen und Moskitos und feindliche Indios.“ „Wir haben uns mit den Eingeborenen gut verstanden. Das hängt eben davon ab, wie man sie behandelt“, sagte Hasard trocken. „Die Spanier genießen einen schlechten Ruf. Sie sind grausam und zu raffgierig. Sie wollen alle Welt ausplündern. Habt ihr eigentlich nie daran gedacht, daß es auch umgekehrt kommen könnte?“ Der Spanier zuckte zusammen. „Niemals!“ fauchte er. Dann spuckte er wütend vor Hasard aus. „Die Engländer sind Bettler gegen uns.“ „Soll ich ihm eine knallen?“ fragte Dan unternehmungslustig. Hasard schüttelte lächelnd den Kopf.
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„Wir vergreifen uns nicht an wehrlosen Gefangenen. Wir beuten niemanden aus“, erklärte er. „Wir töten niemanden ohne Not. Ihr bleibt am Leben.“ „Dann hoffe ich nur, daß wir uns noch einmal begegnen. Senor. Dann bringe ich Sie um“, sagte der wortgewaltige Don. Sein Gefährte schwieg erschrocken. Er hätte es nie gewagt, den Seewolf zu reizen. Natürlich kannte er Hasard. Wer unter den Spaniern kannte nicht die genaue Beschreibung von Philip Hasard Killigrew. Über sechs Fuß groß, breitschultrig, schmale Hüften, schwarze Haare und eisblaue Augen. Die Dons aller spanischen Kolonien schauten sich nach dem Mann die Augen aus. Und ausgerechnet der Kommandant der Teufelsinsel ließ diesen Burschen wieder entwischen, nachdem er ihn bereits in Ketten gelegt hatte. Eine Schmach und Schande! Eigentlich gab es nichts, was dieser Capitan Catalina zu feiern hatte. Und sie selbst hatten auch versagt. Mit Bestürzung dachte der Spanier den Gedanken zu Ende. Catalina würde sie in Ketten legen lassen, weil sie überrumpelt worden waren. Sie hatten auf Posten nicht achtgegeben. Catalina hatte kein Erbarmen mit fremden Fehlern, während er eigene sich selbst großmütig verzieh. Fast hätte der milchgesichtige Spanier den Seewolf um Asyl gebeten. Aber die Gegenwart seines fanatischen Gefährten hinderte ihn daran. Er kriegte einfach den Mund nicht auf. Der andere dafür umso mehr. Er wollte um Hilfe schreien und die Garnison alarmieren. Hasard erstickte den Versuch im Keim und schmetterte dem Schreihals die Faust an die Schläfe. Der Spanier sackte in den Fesseln. zusammen. „Beeilen wir uns“, sagte Hasard. Dan und er rüsteten sich gehörig mit Pistolen, Pulver und Blei aus. Sie vergaßen auch Lunten und Flintstein nicht. Außerdem nahm Hasard aus einem Geheimversteck Perlen mit, sowie aus der Waffenkammer einen Werkzeugkasten, um
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den ihn Big Old Shane gebeten hatte. Denn sie mußten sich ja noch von den Halseisen befreien. Vorsichtig schafften sie alles von Bord und verstauten es in dem spanischen Beiboot, das auf dem Wasser dümpelte. Sie verließen ungern die „Isabella“. Aber es mußte sein. Es war kein Abschied für immer. Dan nahm Arwenack mit, der wie ein Baby an seinem Hals hing. In letzter Sekunde fiel Hasard noch ein, daß er in seiner Kammer ein paar Brandsätze verborgen hatte, die ihnen vielleicht im Kampf gegen die Dons noch nützlich sein konnten. Er kehrte noch einmal zurück und kam gerade zurecht, um die Flucht der beiden Spanier zu verhindern. Der Teufel mochte wissen, wie die beiden es geschafft hatten, sich so schnell zu befreien. Jedenfalls mußte Hasard zeigen, was er zu bieten hatte. Während Dan ahnungslos im Beiboot auf Hasard wartete, entspann sich unter Deck ein Kampf auf Leben und Tod. Der enge Raum in der Kapitänskammer behinderte mehr die Spanier als Hasard, der außerdem Heimvorteil genoß. Er mußte in der Notwehr sein Messer einsetzen. Zu hart gingen die Dons an ihn heran. Einer versuchte ihm mit einem Messingleuchter den Schädel zu spalten, der andere zielte mit einem Degen nach seinen Augen. Da sah Hasard rot. Die Klinge in seiner Faust zuckte hin und her wie der Kopf einer Giftschlange. Zwei Stiche, zwei unter drückte Schreie. Ehe die Spanier noch mehr Unheil anrichten konnten, lagen sie tot in der Kammer. Hasard bedauerte das. Aber er konnte es nicht ändern. Er hatte die Auseinandersetzung nicht herausgefordert. Jetzt hatten sie ihren heimtückischen Angriff mit dem Leben bezahlt. Hasard übergab die toten Spanier der See. Dann versorgte er sich mit den Brandsätzen, die er im „Meer der toten Seelen“ auf dem chinesischen Geisterschiff gefunden hatte. Es waren bunte Stangen, so lang wie ein Arm. An der Seite waren dünne Holzstäbe befestigt. Aus dem
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unteren verschlossenen Ende ragte ein luntenähnlicher Docht hervor. Hasard nahm eine Ladung auf den Arm -und trug sie von Bord. Dan zeigte, daß er nervös war. Er schaute ständig hinüber zu den Spaniern, die immer noch feierten. Aber unbemerkt pullten sie an Land zurück und stießen wieder zu ihren Gefährten, wo Hasard erst einmal Bericht erstattete. Arwenack, der zum zweiten Male verrückt spielte, wurde reihum gereicht und mit Kokosnüssen gefüttert. „Denen möchte ich Feuer unter dem Arsch machen“, wetterte der Profos. „Hauen sich die Bäuche voll und saufen, während wir Kokosmilch schlürfen müssen.“ Al Conroy, der Stückmeister, schlug vor, unverzüglich anzugreifen. „Wir haben Pistolen und Munition“, sagte er. „Ich brauche wieder Decksplanken unter den Sohlen, sonst schnappe ich über.“ Sein Vorschlag wurde abgelehnt. „Aber ein bißchen sollten wir das Fest schon stören“, sagte Sam Roskill. Er war ein schlanker frecher Draufgänger. Seine dunklen Augen blitzten unternehmungslustig. „Und zwar hiermit!“ Er zeigte auf die chinesischen Brandsätze. „Was sagt unser Experte dazu?“ forschte Hasard und schaute Al Conroy an, der prüfend eine der Stangen der Hand hielt. „Keine schlechte Idee“, sagte Al Conroy grinsend. „Ein bißchen Feuerzauber hebt die Stimmung kolossal.“ „Und wenn dir die Dinger in der Hand losgehen?“ „Das muß ich riskieren“, erwiderte Al Conroy lakonisch. Sie standen am Strand, unter dem sternenfunkelnden Himmel. Deutlich sahen sie die Lichter der beiden spanischen Galeonen und hörten das trunkene Geschrei der feiernden Spanier. Da war niemand unter ihnen, der den Dons nicht gerne das Fest verdorben hätte. Schon schlug Sam Roskill Feuer. Er führte den Zündschwamm an den Docht des Brandsatzes, den Al Conroy an dem langen Stock festhielt. Dazu bot sich der Stock
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auch an. Er ließ erst dann los, als die Pulverlunte sprühte, eine enorme Hitze entwickelte und ihm fast die Finger verbrannte. Genau in der Sekunde zündete der Brandsatz. Er zischte pfeilschnell ab und schwirrte durch.. die Nacht in Richtung Teufelsinsel. Dort zerplatzte er mit einem fürchterlichen Krach über den Köpfen der Spanier. Damit nicht genug, schleuderte er rote feurige Kugeln nach allen Seiten. Panik brach unter den Dons aus. Hasard begriff am schnellsten und schnappte sich den nächsten Brandsatz. „Feuer!“ verlangte er scharf. Er visierte eine der beiden spanischen Galeonen an, während Sam Roskill den Docht anzündete. Hasard ließ los, als er einen leichten Zug verspürte. Der Brandsatz flog einen bildschönen Bogen und zerplatzte an Deck der Galeone. Feuer schien direkt vom Himmel zu fallen. Wie eine Sternschnuppe verglühte der Brandsatz und schleuderte
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blutrote Prachtblüten in alle Himmelsrichtungen. Die waren nicht nur schön, sondern auch gefährlich. Denn Feuer brach an vielen Stellen gleichzeitig aus. Das Durcheinander auf der Teufelsinsel ließ sich kaum noch steigern. Kopflos rannten die Dons durcheinander. Da feuerte Hasard den nächsten Brandsatz ab. Der Schuß traf. Die zweite Galeone ging in Flammen auf. Funken stoben bis zu den Mastspitzen hoch. Ungerührt schauten die Seewölfe zu, als die stolzen spanischen Galeonen ausbrannten und sich in schwelende Trümmer verwandelten. Die Wut der Dons kannte keine Grenzen. „Der Klügere gibt nach“, sagte Hasard ironisch. „Die haben erst mal genug. Also ziehen wir uns zurück. Das war erst eine Niederlage für die Spanier. Ein Teilsieg. Aber die zweite Schlappe für die Dons wird nicht lange auf sich warten lassen. Wir werden siegen!“
ENDE