IN DEN FÄNGEN DER ZAUBERIN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
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IN DEN FÄNGEN DER ZAUBERIN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
ISBN 3-7855-4649-1 – 1. Auflage 2003 © 1996 Parachute Press, Inc. Titel der Originalausgabe: The Boy Who Ate Fear Street Erzählt von Stephen Roos Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweisen Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. © für die deutsche Ausgabe 2003 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke Umschlagillustration: Jan Birck Gesamtherstellung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany www.Ioewe-verlag.de
KAPITEL l „Sam, du musst unbedingt sofort rüberkommen!", rief mein bester Freund Kevin aufgeregt in den Hörer. „Zum zehnten Mal, Kevin – ich komme nicht rüber, wenn du mir nicht sagst, warum." „Das habe ich dir doch schon gesagt", antwortete Kevin. „Ich kann es dir nicht verraten. Dann wäre es ja keine Überraschung mehr." Ich heiße Sam Kinny, und was ihr auf jeden Fall über mich wissen solltet, ist: Ich hasse Überraschungen. Warum? Keine Ahnung. Ich finde sie eben völlig bescheuert. Aber ich hasse es mindestens genauso sehr, wenn man mich in die Wange kneift. Die Freunde von Mum und Dad tun das ständig. Und einige von meinen Lehrern auch. Vielleicht liegt es daran, dass ich so ein nettes rundes Gesicht, blonde Haare, große blaue Augen und lange gebogene Wimpern habe. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, sind meine Wangen richtig rosig. Alle sagen immer, ich sei ja sooo süß. Und dann kneifen sie mich in die Wange. Kevin passiert so was nie. Er sieht nämlich aus wie ein richtiger Junge – genauso, wie ich auch gerne ausschauen würde. Er hat braune Haare, die immer strubbelig und zerzaust sind, und eine kleine Narbe auf der rechten Wange, wo seine Schwester Lisa ihn beim Karatetraining mal aus Versehen gekratzt hat. „Sam, du musst einfach rüberkommen", versuchte Kevin es noch einmal. „Meine Mutter fängt gerade mit dem Kochen an. Es gibt heute Abend deine Lieblingsgerichte." „Wirklich?", fragte ich. „Es gibt Käsemakkaroni? Und zum Nachtisch Milchreis mit weißen Schokostreuseln und Marshmallows?" „Bingo", antwortete Kevin. „Nur weißes Essen. Wie üblich." „Was soll das heißen, wie üblich?", protestierte ich. „Das klingt ja so, als würde ich nur Sachen essen, die weiß sind."
„Tust du ja auch", sagte Kevin herausfordernd. „Nenn mir mal irgendwas, das du zu dir nimmst, was nicht weiß ist. Na los, da bin ich gespannt." „Cola", antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. „Ich liebe Cola, und die ist eindeutig braun." „Du trinkst doch niemals Cola", schnaubte Kevin. „Du trinkst Sprite. Und das ist ja wohl weiß, oder?" Okay. Was sollte ich dagegen sagen? Kevin hatte Recht. Ich esse tatsächlich nur weiße Sachen. Warum? Die Antwort darauf ist einfach. Weil es mir schmeckt. Einige von meinen Freunden finden das komisch, aber Lisa nicht. Wahrscheinlich weil sie jeden Tag dasselbe zum Mittagessen verdrückt. Ein Erdnussbutter-Sandwich mit Marmelade drauf. Sie isst nie etwas anderes in der Schule – niemals. „Dann kommst du also rüber, ja?", fragte Kevin erwartungsvoll. „Na gut", gab ich nach. Käsemakkaroni sind nämlich mein absolutes Lieblingsessen. Das konnte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Auch wenn das hieß, dass ich deswegen zu Kevin rüberlaufen musste, wo irgendeine doofe Überraschung auf mich wartete. Ich flitzte die Treppe runter und schnappte mir meine Jacke von der Garderobe im Flur. Dann ging ich in die Küche, um meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass ich zu Kevin wollte. Mum saß am Küchentisch und kämmte das blonde Haar einer großen Puppe. Fred, mein Collie, lag zu ihren Füßen und gab leise Schnarchgeräusche von sich. Meine Mutter macht eine Menge Puppen. Und sie ist ziemlich gut darin. Sie stellt sie in allen Größen her – manche sind winzig, manche sind sogar so groß wie ich. Sie werden überall in unserer Gegend verkauft, und manchmal kommt Mum mit den Bestellungen kaum hinterher. Die Leute sind nämlich ganz wild auf ihre Puppen, weil sie so niedlich und echt aussehen. „Mum, ich gehe zum Abendessen rüber zu den Sullivans, okay? Es gibt Käsemakkaroni." Meine Mutter weiß, wie sehr ich Käsemakkaroni liebe. „Ja klar. Viel Spaß." Sie blickte auf und lächelte mich an.
„Ist es schon Zeit zum Abendessen?", fragte Dad, der in diesem Moment mit einem Schraubenzieher in der Hand in die Küche kam. „Fast", antwortete Mum. „Sobald du meinen linken Unterarm befestigt hast, fange ich an zu kochen." „Kein Problem!", antwortete Dad. Er trat näher und schraubte den Unterarm der Puppe an – natürlich nicht den von Mum. Mein Vater ist sehr geschickt und ein begeisterter Heimwerker. Er kann einfach alles reparieren. „Bis nachher!", rief ich den beiden zu und stürmte aus der Hintertür. Beim Gedanken an die Käsemakkaroni legte ich noch einen Zahn zu und sprintete die vier Blocks bis zu Kevin in Rekordzeit. Als ich ankam, machten er und Lisa gerade Karateübungen auf dem Rasen vor dem Haus. „Kung! Dar! Fing!", brüllte Lisa aus voller Kehle. „Kwon! Fo! Tau!", brüllte Kevin zurück. Sie umkreisten sich lauernd und beschrieben dabei mit den Händen Kreise in der Luft. Plötzlich stürzte sich Lisa mit einer schnellen, fließenden Bewegung auf ihren Bruder und warf ihn mühelos auf den Rücken. Lisa ist elf, also ein Jahr jünger als Kevin und ich. Aber sie ist trotzdem eine ganze Ecke stärker als wir beide. Sie hat lange dunkle Haare, große braune Augen und jede Menge Sommersprossen, die ihre Nase sprenkeln. Lisa hasst ihre Sommersprossen mindestens genauso sehr wie ich meine rosigen Wangen. „Hey! Wo hast du denn den Griff gelernt?", murmelte Kevin verblüfft. Er setzte sich auf und rieb sich stöhnend den Rücken. „Von Tante Sylvie", antwortete Lisa mit einem zufriedenen Grinsen. „Wer ist Tante Sylvie?", fragte ich. „Vielen Dank, Lisa", knurrte Kevin. „Jetzt hast du mir die Überraschung verdorben." „Wieso? Da kann ich doch nichts dafür." Lisa pustete sich ihre langen Ponyfransen aus dem Gesicht. „Wer hat mich denn nach diesem neuen Griff gefragt?"
„Hey, Leute. Wer ist diese Tante Sylvie?", fragte ich noch einmal. „Unsere Großtante", erklärte Kevin. „Sie wohnt für ein paar Monate bei uns. Das ist die Überraschung." „Deine Großtante ist die Überraschung?", stieß ich ungläubig hervor. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?" „Du wirst schon sehen, Tante Sylvie ist einfach unglaublich", prahlte Lisa. „Jemanden wie sie hast du garantiert noch nie getroffen", fügte Kevin hinzu. „Als sie uns das letzte Mal besucht hat, waren wir noch Babys. Deswegen wussten wir auch nicht, was wir für eine tolle Tante haben – bis jetzt!" „Komm." Kevin sprang auf. „Du musst sie unbedingt kennen lernen!" Eifrig lief er voran ins Haus. „Was ist denn das für ein Geruch?", fragte ich und schnüffelte misstrauisch, als wir durch den Flur auf die Küche zugingen. „Wahrscheinlich braut Tante Sylvie mal wieder was Besonderes fürs Abendessen zusammen", antwortete Kevin und zuckte mit den Achseln. Etwas Besonderes war die eine Möglichkeit, den Geruch von Tante Sylvies Kocherei zu beschreiben. Ekelhafter Gestank die andere. „Da ist sie", flüsterte Lisa mir zu, als wir an der Küchentür stehen blieben. Als ich Tante Sylvie dort am Herd herumhantieren sah, wurde mir schlagartig klar, dass sie völlig anders war als jede Tante, die ich bis jetzt in meinem Leben kennen gelernt hatte. Sie sah aus wie eine Oma – schon ziemlich alt, mit weißem Haar und vielen Falten im Gesicht. Aber sie trug pinkfarbene Leggins, dazu ein neon-orange leuchtendes Sweatshirt und schwarze Turnschuhe mit dicken Sohlen. Außerdem hatte sie eine blaue Baseballkappe mit dem Schirm nach hinten aufgesetzt, genauso wie ich meine auch immer trage. Sie stand vor einem großen Topf und rührte mit einem langen Holzlöffel darin. Neben dem Herd türmten sich haufenweise Kräuter, Gewürze und knubbelige, seltsam geformte Gegenstände, die aussahen wie Wurzeln von irgendwelchen Pflanzen.
Tante Sylvie griff nach einer dieser Knollen und wollte sie gerade in den Topf werfen. Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. „Keine Veilchenwurzel?", fragte sie und neigte den Kopf, als würde sie aufmerksam zuhören. „Oh. Natürlich nicht! Du hast völlig Recht. Veilchenwurzel benutzt man zur Herstellung von Duftwässerchen, aber nicht fürs Kochen." Tante Sylvie klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Ich bin ja so vergesslich!" Ich reckte den Hals und sah mich in der Küche um. Aber bis auf Tante Sylvie war dort niemand zu sehen. „Mit wem redet sie denn da?", flüsterte ich Kevin und Lisa zu. „Tante Sylvie unterhält sich gerne mit den Toten", antwortete Kevin. „Sie sagt immer, die hätten jede Menge gute Ratschläge auf Lager." „Sie tut was?", rief ich entgeistert. In diesem Moment drehte sich die seltsame alte Frau um. „Hallo, Leute! Das Essen ist fast fertig." „Tante Sylvie, das ist unser Freund Sam", stellte Lisa mich vor. „Er wird heute Abend mit uns essen." Ich wich langsam zurück. Auf keinen Fall würde ich auch nur einen Löffel von dem Zeug probieren, das sie da zusammengebraut hatte. Auf gar keinen Fall! Kevin packte mich am Arm und schob mich vorwärts. „Na, komm schon. Stell dich nicht so an! Du verpasst was, wenn du jetzt einen Rückzieher machst und nicht ein bisschen mit ihr sprichst." „Vielleicht würde sie sich ja lieber mit meinem Urgroßvater unterhalten", zischte ich ihm zu und versuchte, mich loszureißen. „Der ist nämlich tot. Ich könnte ihn ihr vorstellen. Aber ich müsste erst nochmal schnell nach Hause laufen, um seinen Namen rauszukriegen." „Sam, sei doch nicht so schüchtern." Tante Sylvie kam zu mir herüber, musterte mich von oben bis unten und lächelte mich strahlend an. Dann streckte sie langsam ihre runzeligen Finger nach meinem Gesicht aus und kniff mich in die Wange. „Du bist ja sooo süß!", flötete sie. Kevin und Lisa kicherten.
Auch Tante Sylvie lachte glucksend, als sie mich an der Hand nahm und zum Herd zog. Sie griff nach dem Holzlöffel und rührte wieder im Topf herum. „Na, möchtest du vielleicht mal probieren?", fragte sie freundlich. „Nein!", schrie ich entsetzt auf. „Äh, ich meine, das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Aber nein, danke. Ich habe keinen Hunger", verbesserte ich mich hastig und wich gleichzeitig ein Stück zurück, damit mir von dem widerlichen Geruch nicht übel wurde. Doch Tante Sylvie zerrte mich energisch an den Herd zurück. „Na, komm schon! Nur ein winziges bisschen", drängte sie und hob den Löffel aus dem Topf. Ich schnappte vor Schreck nach Luft. Ein schleimiges Wesen mit vielen dünnen Ärmchen und Beinen starrte von dem Löffel zu mir hinauf. Voller Abscheu und Entsetzen sah ich zu, wie es versuchte, sich mit schlängelnden Bewegungen von dem Holzlöffel herunterzuwinden. „Also, was ist jetzt? Nur ein Häppchen", säuselte Tante Sylvie. Unerbittlich presste sie den Löffel gegen meine Lippen. Ich kniff sie fest zusammen und schüttelte abwehrend den Kopf. Tante Sylvie verstärkte den Griff um mein Handgelenk. „Ich bestehe darauf!", krächzte sie. „Schön weit auf den Mund – na, wird's bald!"
KAPITEL 2 „Neiiin!", kreischte ich, so laut ich konnte. Mit einem kräftigen Ruck befreite ich mich aus Tante Sylvies Klammergriff und stürmte in Richtung Flur, als wären tausend Teufel hinter mir her. Aber Kevin und Lisa stellten sich Seite an Seite in die Tür und versperrten mir den Weg. „Hey, Sani!" Kevin packte mich an den Schultern, „fetzt krieg dich mal wieder ein. Du musst ja nicht probieren, wenn du nicht willst." Ich warf einen gehetzten Blick über meine Schulter. Tante Sylvie stand am Herd und lächelte mich an. „So ist es, Sam", versicherte sie mir. „Ich dachte nur, du würdest es vielleicht mögen. Es ist ein Spezialrezept, das ich von einer kleinen Insel im Südpazifik mitgebracht habe. Tintenfischeintopf. Sehr lecker." „Sam testet nicht so gerne neue Gerichte", erklärte Lisa ihr. „Er isst immer nur dieses olle, langweilige weiße Zeug." Tante Sylvie sah mich mit forschend zusammengekniffenen Augen an. „Du musst doch auch noch etwas anderes essen", sagte sie streng. „Nein. Nein, tu ich aber nicht", gab ich zu. „Du hast mich nicht richtig verstanden, Sam." Ihr Lächeln wirkte plötzlich kalt und bedrohlich. „Das war keine Frage, mein Kleiner. Ich meinte, du musst mehr essen als das." Und damit drehte Tante Sylvie mir den Rücken zu und rührte weiter in ihrem Topf. „Komm mit." Kevin zog mich hinter sich her in den Flur. „Ich möchte dir oben etwas zeigen." Kevin und Lisa fanden ihre Tante also klasse. Ich fand sie eher unheimlich. „Was willst du mir denn zeigen?", fragte ich, während wir die Treppe hinaufgingen. „Tante Sylvies Zimmer", erwiderte Kevin. „Es ist voll mit dem
unglaublichsten Zeug. Wetten, so was hast du noch nicht gesehen?" Wir huschten durch die Tür, und Kevin knipste das Licht an. Noch vor ein paar Tagen war es ein ganz normales Gästezimmer gewesen – mit Bildern an den Wänden, einem breiten Bett und einem bunten Teppich auf dem Boden. Nun war alles verschwunden. Sogar das Bett. „Wo schläft sie denn?", fragte ich verwundert. Kevin zeigte auf eine dünne Strohmatte, die auf dem Fußboden lag. „Da drauf. Tante Sylvie mag keine voll gestopften Räume. Sie sagt, wenn man sich mit zu vielen überflüssigen Dingen umgibt, haben die Geister Schwierigkeiten, mit einem Kontakt aufzunehmen." Ich beschloss auf der Stelle, mein Zimmer mit allem möglichen Kram voll zu rumpeln. „Sieh dir das mal an, Sam", rief mir Kevin quer durch den Raum zu und deutete auf eine bunt bemalte Holzmaske, die an der Wand hing. Ihr Mund war zu einem hässlichen Grinsen verzogen. „Ganz schön unheimlich", murmelte ich und wandte den Blick von den dunklen Augenhöhlen ab, die durch mich hindurchzustarren schienen. „Die ist doch nicht unheimlich", schnaubte Lisa abfällig. „Es ist die Maske eines Medizinmanns von einem uralten Eingeborenenstamm. Tante Sylvie sagt, man muss sie aufsetzen, wenn man krank ist, und dann scheucht sie in kürzester Zeit sämtliche Bazillen aus dem Körper und macht einen wieder gesund." „Glaubt eure Tante wirklich an solche Sachen?", fragte ich erstaunt und drehte der unheimlichen Maske schaudernd den Rücken zu. „Sie ist sich nicht ganz sicher", antwortete Kevin. „Aber sie meint, dass man allem gegenüber offen sein soll." „Genau", fügte Lisa hinzu. „Sie sagt, sogar das Unmögliche sei möglich – was auch immer das bedeutet." Ich schlenderte im Zimmer umher und betrachtete Tante Sylvies Habseligkeiten. Über ihrer Schlafmatte hing ein indianischer Traumfänger von der Decke herab. So einen hatte ich letztes Jahr im Sommercamp selbst gebastelt. Er besteht aus einem Holzreifen
mit einem Netz aus Schnüren darin, das mit Perlen und Federn verziert ist. Es soll die schlechten Träume abfangen und nur die guten hindurchlassen. „Sam, guck dir das mal an!" Lisa hielt mir einen silbernen Spiegel vors Gesicht. In dem Moment, als ich mich darin sehen konnte, drehte Lisa ihn um. Erschrocken keuchte ich auf. Ein Dutzend schwarzer Augen starrten mich mit wildem Blick an. „Sie sind in das Holz eingeschnitzt", erklärte Lisa kichernd. „Im ersten Augenblick denkt man, die Augen sind echt, nicht wahr?" Für mich sahen sie nicht nur im ersten Augenblick echt aus, aber ich nickte zustimmend, um mich vor der kleinen Schwester meines Freunds nicht zu blamieren. Dann sah ich mich weiter im Zimmer um und betrachtete Tante Sylvies Sammlung ausgefallener Gegenstände. Auf der Kommode standen ein Döschen Gesichtscreme und dutzende von Kristallen, die im warmen Licht der Deckenlampe rosa, violett, grün und rot schimmerten. Auf der anderen Seite des Zimmers erspähte ich ein altes Aquarium. Ich ging hinüber und warf neugierig einen Blick hinein. Es war leer. „Kinder, das Essen ist fertig!", rief Mrs Sullivan von unten. „Na, dann mal los!", jubelte Lisa. „Ich sterbe vor Hunger." Sie und Kevin flitzten aus dem Zimmer und machten auf dem Weg nach draußen das Licht aus. „Danke. Echt nett von euch", rief ich ihnen hinterher, als ich plötzlich in völliger Dunkelheit dastand, weil die Jalousien heruntergelassen waren. Ich ging auf die Tür zu – und trat dabei mitten auf die Strohmatte. Oh, nein! Ich stand mit Schuhen auf Tante Sylvies Bett. Das würde ihr bestimmt nicht gefallen, schoss es mir schuldbewusst durch den Kopf. „Sam, beeil dich gefälligst!", rief Kevin von unten. „Wir haben Kohldampf!" „Klar, Kevin", knurrte ich. „Null problemo." Auf Zehenspitzen schlich ich über die Matte. Und dann spürte ich es. Etwas Großes, Glattes, das sich um mein Bein ringelte.
Es kroch höher und höher. In diesem Moment flitzte ich los. Stürzte in den hell erleuchteten Flur. Dort schaute ich an meinem Bein hinunter – und schrie vor Entsetzen auf. „Eine Schlaaange!"
KAPITEL 3 „Eine Schlange! Da ist eine Schlange!", schrie ich aus voller Kehle. „Hiiilfe!" Die gesamte Familie Sullivan kam die Treppe hinauf gestürmt. „Nehmt sie weg!", kreischte ich und schüttelte mein Bein wie wild, aber die Schlange wand sich immer fester darum. „Mein Bein – es wird ganz taub!", wimmerte ich angstvoll. „Nehmt sie doch endlich weg!" „Oh, Schätzchen", murmelte Tante Sylvie, die inzwischen ihre Baseballkappe abgesetzt hatte. Stattdessen ragten aus dem Knoten, zu dem sie ihre Haare auf dem Hinterkopf geschlungen hatte, zwei lange pinkfarbene Federn hervor, die munter wippten, als sie nun vorwurfsvoll den Kopf schüttelte. „Shirley, meine Süße, wie bist du denn nur wieder ausgebüchst?" Tante Sylvie drohte der Schlange mit dem Finger. Dann beugte sie sich vor und löste das Biest vorsichtig von meinem Bein. „Jetzt aber husch, husch zurück ins Terrarium mit dir", sagte sie mit zärtlicher Stimme und küsste den Ausreißer auf den Kopf. „Ist Shirley nicht ein cooles Haustier?", rief Kevin begeistert. „Äh, klar ... echt cool", sagte ich und hoffte, dass meine Stimme dabei nicht allzu sehr zitterte. „Ich glaube, Shirley hat Sam ein bisschen erschreckt." Mrs Sullivan legte beschützend den Arm um meine Schulter. „Wir werden dafür sorgen, dass Shirley nicht noch einmal entwischen kann. Und jetzt lasst uns endlich nach unten gehen. Das Essen wird kalt." Ich fragte mich, ob Shirley wohl eine Giftschlange war, beschloss dann aber, dass ich es lieber gar nicht so genau wissen wollte. In der Küche nahmen alle ihre Plätze am Tisch ein. „Komm, setz dich zu mir, Sam." Tante Sylvie klopfte auf den Stuhl zu ihrer Rechten. „Es tut mir Leid, wenn Shirley dir einen Schrecken eingejagt hat."
„Ach, was. Hat sie nicht", schwindelte ich. „Ich war bloß ein bisschen überrascht. Das ist alles." „Und – hat dir meine kleine Sammlung gefallen?", wechselte sie plötzlich das Thema. „Besonders stolz bin ich auf die Kristalle. Einige Menschen glauben, dass sie heilende Kräfte haben. Aber mir gefallen sie vor allem wegen ihrer wunderschönen Farben." „Tante Sylvie weiß einfach alles über Dinge, die ungewöhnliche Heilkräfte besitzen", erklärte Lisa. „Und sie kennt sich aus in der Welt der Geister", fügte Kevin hinzu. „Sie reist durch fremde Länder und sammelt Zaubersprüche und Geschichten über uralte Dämonen." Ich konnte verstehen, dass Kevin und Lisa ihre Tante Sylvie cool fanden. Es war bestimmt toll, eine Großtante zu haben, die sich mit all diesen seltsamen Dingen auskannte. Aber ich fand, dass sie irgendetwas Unheimliches an sich hatte, und fühlte mich in ihrer Gegenwart nicht wohl in meiner Haut. „Und morgen", Tante Sylvie machte eine bedeutungsvolle Pause, „beginne ich mein allerneuestes Forschungsprojekt – hier in Shadyside. Es ist so aufregend, ich kann es kaum noch erwarten." Sie klatschte begeistert in die Hände. „Was wollen Sie denn erforschen?", fragte ich höflich. „Die Fear Street." Ihre Augen leuchteten auf. „Ich habe schon so viele Geschichten darüber gehört. Über die Geister im Fear-StreetWald. Über Baumhäuser, in denen es spukt. Und über eine geheimnisvolle Höhle, in der angeblich Schattenmenschen leben." Sie fuchtelte aufgeregt mit den Händen durch die Luft. „Ich habe leider noch nie einen echten Geist gesehen", fuhr Tante Sylvie fort, „aber offenbar schon viele Leute hier in Shadyside, wie ich gehört habe." „Hoffentlich wirst du nicht allzu sehr enttäuscht werden", sagte Mr Sullivan glucksend. „Wir leben immerhin hier – und wir sind noch nie einem Geist begegnet. Dabei wohnt Sam sogar in der Fear Street." „Wirklich, Sam?" Tante Sylvie richtete ihren Blick interessiert auf mich. „Du wohnst in der Fear Street?" Ich nickte. „Und?" Tante Sylvie schaute mir unverwandt in die Augen.
„Und, was?", fragte ich und rutschte voller unbehagen auf meinem Stuhl hin und her. „Na, hast du wirklich noch nie einen Geist gesehen?", wollte sie wissen. „Äh ... nein", antwortete ich. „Alle behaupten, dass man merkwürdige Dinge erleben müsste, wenn man in der Fear Street wohnt. Aber ich habe dort schon mein ganzes Leben verbracht, und mir ist bis jetzt noch nie irgendwas Merkwürdiges passiert." „Sam hat Recht", sagte Mrs Sullivan. „Ich fürchte, das sind alles nur Gerüchte. Nichts als dumme Gerüchte." „Ich verhungere gleich!", rief Lisa ungeduldig. „Können wir nicht endlich anfangen?" Mrs Sullivan hob den Deckel von einer großen, dampfenden Schüssel voller Tintenfischeintopf. „Ich ... ich habe eigentlich gar keinen Hunger", stammelte ich und schob meinen Stuhl zurück. „Würden Sie mich bitte entschuldigen?" „Natürlich hast du Hunger!", rief Tante Sylvie in einem Ton, der keine Widerrede duldete. „Aber keine Angst, Schätzchen, der Eintopf ist nicht für dich. Dein Essen ist das hier." Langsam nahm sie den Deckel von einem kleineren Topf ab, der vor ihr stand. Ich hielt den Atem an und traute mich nicht hinzusehen. „Käsemakkaroni", trompetete Kevin nach einem Blick in den Topf. „Siehst du – ich hab dir doch gesagt, dass meine Mutter extra welche für dich macht." „Wir haben Tante Sylvie schonend darauf vorbereitet, dass du ihren Tintenfischeintopf bestimmt verschmähen wirst", fügte Lisa hinzu. Wir haben ihr erklärt, dass du sehr eigen bist, wenn's ums Essen geht." Während ich die leckeren Käsemakkaroni in mich reinschaufelte, spürte ich Tante Sylvies forschenden Blick auf mir ruhen. „Manchmal ist es gar nicht so schlecht, eigen zu sein", sagte sie nachdenklich. „Wie meinst du das, Tante Sylvie?", fragte Lisa neugierig. „Ich habe einmal ein altes orientalisches Volksmärchen gehört. Es handelte von einem Jungen, der zu allen Mahlzeiten das
Gleiche aß – Reis und weiße Rüben. Etwas anderes rührte er nicht an. Eines Tages gingen er und zwei Jungen aus seinem Dorf im Wald spazieren, wo sie einen Busch mit höchst ungewöhnlichen Beeren entdeckten. Er hatte feuerrote Blätter, und an jedem dieser Blätter hing eine winzige schwarze Beere. Kleiner als eine Erbse. Die Freunde des Jungen schlangen hastig eine Hand voll der kleinen Beeren hinunter. In ihrem ganzen Leben hatten sie noch nie etwas so Süßes und Köstliches gekostet. Sie aßen und aßen, bis der ganze Busch leer und keine einzige Beere mehr übrig war. Dann gingen sie nach Hause und futterten alles auf, was sich in den Küchenschränken befand. Tag um Tag zogen sie auf der Suche nach etwas Essbarem durchs Dorf. Sie wurden fetter und fetter, aber sie konnten einfach nicht aufhören, sich voll zu stopfen. Der Junge, der nur Reis und Rüben aß, konnte nicht glauben, was da mit seinen Freunden passierte. Voller Entsetzen sah er zu, wie sie auch das allerletzte Krümelchen in seinem Dorf verschlangen. Die Jungen wurden so unglaublich fett, dass ihre Haut die Spannung kaum noch aushielt und sich keinen einzigen Zentimeter weiter dehnen konnte. Aber das hielt die beiden nicht vom Essen ab. Sie machten sich auf ins nächste Dorf und verschlangen auch dort alle Lebensmittel. Und dann geschah es." „Was denn?" Lisas Augenbrauen schössen gespannt in die Höhe. „Die beiden armen Jungen sind explodiert." Tante Sylvie nickte viel sagend. „Und ihre Einzelteile lagen überall in der Gegend verstreut." Mir blieb ein Stückchen Makkaroni in der Kehle stecken, und ich musste würgen. Mrs Sullivan klopfte mir auf den Rücken. „Was für eine schreckliche Geschichte!", rief sie angewidert. „Ja, das finde ich auch", stimmte Tante Sylvie ihr zu. „Also, wer möchte Nachtisch? Ich wette, du kannst es kaum noch erwarten, Sam. Stimmt's?" „Nein! Äh, ich meine natürlich ... nein, danke", platzte ich heraus. „Ich bin pappsatt." „Unsinn!", schnaubte Tante Sylvie. „Ich habe ihn extra für dich gekocht. Milchreis, dein Lieblingsnachtisch!"
Tante Sylvie löffelte etwas davon in ein Schüsselchen und stellte es vor mich hin. Sie schaute mich erwartungsvoll an und wartete darauf, dass ich probierte. Auch die anderen beobachteten mich gespannt. Mir blieb nichts anderes übrig, als ein winziges bisschen auf den Löffel zu nehmen und ihn mir in den Mund zu schieben. Es schmeckte köstlich! Der beste Milchreis, den ich je gegessen hatte. „Wow, das ist ja oberlecker!", sagte ich begeistert und schluckte den Bissen hinunter. Dann nahm ich noch einen Löffel, diesmal einen richtig großen. Ich kaute genüsslich darauf herum – und schrie dann entsetzt auf. Mein Gesicht lief knallrot an. Meine Zunge begann zu brennen. Mein ganzer Mund stand in Flammen!
KAPITEL 4 „Hilfe!", schrie ich und sprang von meinem Stuhl auf. „Mein Mund brennt!" Mrs Sullivan reichte mir geistesgegenwärtig ein Glas Milch, das ich hastig austrank. Dann beugte ich mich über den Tisch, nahm mir Lisas Milchglas und kippte auch das hinunter. Das Brennen breitete sich über meine Lippen aus und züngelte meine Kehle entlang. Und ich merkte, wie meine Zunge langsam anschwoll. Nacheinander griff ich mir alle Milchgläser auf dem Tisch und trank sie aus. Dann schnappte ich mir die Milchtüte, die auf dem Küchentisch stand, und leerte auch diese mit ruckartigen, hastigen Zügen. „Alles in Ordnung, Schätzchen?", fragte Tante Sylvie besorgt und klopfte mir auf den Rücken. „Was ... haben ... Sie ... in ... meinen ... Milchreis ... getan?", stieß ich röchelnd hervor und wich vor ihrer Hand zurück. „Sie hat dir überhaupt nichts reingetan", verteidigte Lisa ihre Tante. „Du hast dich wahrscheinlich nur verschluckt." Die Sullivans und Kevin nickten zustimmend, aber Tante Sylvie klopfte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich an die Schläfe. „Hmmm, lass mich mal überlegen. Lass mich mal gut überlegen", wiederholte sie immer wieder. Während Tante Sylvie versuchte, sich zu erinnern, kratzte ich mit dem Löffel an der obersten Schicht des Nachtischs herum. Ich fand aufgequollenen Milchreis. Sonst nichts. Ich stocherte noch ein bisschen weiter. Aha! Ganz unten in der Schüssel entdeckte ich, wonach ich gesucht hatte. Kleine dunkle Flöckchen in dem weißen Brei. So winzig, dass ich sie im ersten Moment für Zimtkrümelchen hielt. „Und was ist das?", fragte ich vorwurfsvoll und deutete mit zitterndem Finger darauf.
„Großonkel Henry!", rief Tante Sylvie aus. „Was?" „Jetzt erinnere ich mich wieder! Während ich den Milchreis kochte, ist Großonkel Henry auf ein Schwätzchen vorbeigekommen", erklärte sie. „Und er schlug vor, ich solle doch mal das neue Gewürz verwenden, das ich aus dem Orient mitgebracht habe." Tante Sylvie hielt ein Fläschchen mit einer Art dunkler Flocken darin hoch. „Es war wirklich schön, mal wieder mit Onkel Henry zu reden." Sie seufzte tief auf. „Wir haben uns so selten unterhalten, seit er gestorben ist." „Sylvie, du wirst noch die Kinder erschrecken", schimpfte Mrs Sullivan. „Ach, was", winkte Tante Sylvie glucksend ab. „Die wissen doch genau, was ich für ein komischer Vogel bin!" Alle am Tisch lachten. Alle, bis auf mich. „Es tut mir Leid, dass dir das Gewürz die Zunge verbrannt hat", wandte Tante Sylvie sich nun an mich. „Es sollte nur ein bisschen würziger schmecken, aber nicht scharf." „Vielleicht ist das Zeug schlecht geworden", murmelte ich. Tante Sylvie reichte über den Tisch und griff nach meinem Schüsselchen mit Milchreis. Sie hob es an die Nase und schnüffelte daran. „Riecht so weit ganz normal, aber ich wette, du hast Recht. Die Flocken sind wahrscheinlich verdorben. Ich werde sie am besten wegschütten – jetzt sofort." „Wollen Sie sie denn nicht vorher probieren?", fragte ich erstaunt. „Vielleicht ist das Gewürz gar nicht schlecht. Vielleicht war es nur zu scharf für mich." „Es probieren?" Tante Sylvie schnappte nach Luft. „Oh, nein! Das kommt überhaupt nicht infrage!"
KAPITEL 5 „ Was?", rief ich empört. „Und warum wollen Sie das Gewürz nicht probieren?" Tante Sylvie antwortete mir nicht. Wortlos ging sie zur Spüle und kippte das Fläschchen mit den seltsamen Flocken in den Ausguss. „Also, warum wollen Sie das Zeug nicht probieren?", wiederholte ich hartnäckig. „Diese Flocken sind vom Geschmack her viel zu kräftig für mich", erwiderte Tante Sylvie lächelnd. „Ich persönlich mache mir nichts aus stark gewürztem Essen. Na, wer von euch möchte jetzt noch ein bisschen Vanilleeis? Du doch bestimmt, Sam. Nicht wahr?" Alle außer mir aßen Vanilleeis. Die dunklen Punkte darin stammten wahrscheinlich von den Vanilleschoten, aber nach meiner Erfahrung mit dem Milchreis wollte ich kein Risiko mehr eingehen. Nach dem Essen setzten wir uns vor den Computer und spielten zu dritt Kevins neuestes Computerspiel. Normalerweise gewinne ich immer – aber heute nicht. Mein Magen rumorte, und ich fühlte mich irgendwie komisch. Mein ganzer Körper schien zu glühen. „Wir sehen uns dann in der Schule, Leute", verabschiedete ich mich von Kevin und Lisa, als es Zeit war zu gehen. „Komm doch morgen wieder her!", sagte Kevin, als er mich zur Haustür brachte. „Tante Sylvie hat noch ein paar andere coole Sachen, die du dir unbedingt angucken musst!" „Und vielleicht lässt sie uns sogar mit Shirley spielen!", rief Lisa uns hinterher. Das klang nicht sehr verlockend. Ich hatte genug von Tante Sylvies seltsamem Kram – und mit Shirley wollte ich ganz bestimmt nicht spielen. Außerdem war ich überhaupt nicht scharf auf eine weitere Kostprobe von Tantchens Kochkünsten.
Als ich zu Hause ankam, hatte ich immer noch ein komisches Gefühl im Magen und ging lieber gleich ins Bett. Ich kuschelte mich in meine Decke, zog sie mir bis unters Kinn und schlief sofort ein. Ich wusste nicht, wie spät es war, als ich nach einer Weile wieder aufwachte. Aber nirgendwo brannte mehr Licht, und Mum und Dad waren schon im Bett. Ich schlich den dunklen Flur entlang, die Treppe hinunter und in die Küche. Mein Magen fühlte sich schon viel besser an – fast wieder normal. Ich hatte richtig Hunger und wusste genau, was ich jetzt essen wollte. Mir war nach einem Sandwich – Majonäse auf Weißbrot. Ein dicker Vollmond hing am Himmel und tauchte die Küche in seinen kalten Schein. „Ich mache besser kein Licht, damit ich Mum und Dad nicht aufwecke", überlegte ich mir, während ich im Küchenschrank nach dem Brot suchte. Nachdem ich es gefunden hatte, machte ich mich in der Speisekammer auf die Jagd nach einem neuen Glas Majonäse. Das letzte hatte ich vorgestern beim Abendessen alle gemacht. Ich esse viel Majonäse, ungefähr ein Glas pro Woche. Ehrlich gesagt, ich bin ganz wild nach dem Zeug. Ich unterdrückte ein Gähnen und schmierte mir im Halbschlaf das Sandwich. Als es fertig war, biss ich kräftig davon ab. Köstlich. Gutes, altes Weißbrot – ohne eins von Tante Sylvies komischen, exotischen Gewürzen. Genüsslich biss ich noch einmal ab. Und noch einmal. Hmmm, lecker! Jetzt brauchte ich nur noch etwas zu trinken. Ich machte den Kühlschrank auf und griff nach einer Flasche Sprite. Dabei fiel das Licht des Kühlschranks auf den Küchentresen. Und auf mein halb aufgegessenes Sandwich. Ungläubig starrte ich es an. Irgendetwas stimmte damit nicht. Irgendetwas stimmte damit ganz und gar nicht.
Ich rieb mir die Augen und schaute genauer hin. Starrte es so eindringlich an, als wollte ich es hypnotisieren. Das konnte doch nicht sein! Ich beugte mich hinunter. Blinzelte es aus nächster Nähe an. Und schrie los.
KAPITEL 6 Das war ja gar kein Brot! Ich hatte mir ein Sandwich aus zwei alten grünen Schwämmen gemacht und es halb aufgegessen! Und es hatte auch noch gut geschmeckt. Ich konnte es einfach nicht fassen. Wie gelähmt starrte ich die Bescherung an. Der Raum begann, sich um mich zu drehen, und ich hielt mich am Küchentresen fest, um nicht den Halt zu verlieren. In diesem Moment entdeckte ich das gelbliche Zeug, das aus dem Schwamm-Sandwich hervorquoll. „Oh, nein", stöhnte ich. „Was habe ich denn da bloß drauf geschmiert?" Eigentlich wollte ich lieber nicht nachschauen, aber ich musste es wissen. Mit zitternder Hand hob ich den oberen Schwamm ab. Als ich sah, wie der gelbe Glibber über die Arbeitsplatte rann, wurde mir ganz anders. Ich stippte meinen Zeigefinger hinein und schnüffelte dann vorsichtig daran. Es roch nach Zitrone. Und nach Seife. Zitronenfrisch Geschirrspülmittel! Ich hatte gerade ein Geschirrspülmittel-Schwamm-Sandwich gegessen, und es hatte mir geschmeckt. Was war los mit mir? Wie hatte ich das bloß runtergekriegt? Die Gedanken wirbelten wie verrückt durch meinen Kopf. Hastig warf ich die Schwämme in den Müll, rannte hinauf in mein Zimmer und verkroch mich unter der Bettdecke. Wieder und wieder fragte ich mich, wie ich etwas so Ekelhaftes hatte essen können. Und dann fiel mir plötzlich die Antwort ein. Ich war geschlafwandelt. Genau, so musste es gewesen sein. Bestimmt hatte ich nur geträumt, ich wäre hungrig, war im Schlaf in die Küche gegangen und hatte mir ein Sandwich gemacht. Das
Kühlschranklicht hatte mich aufgeweckt – und dann war mir klar geworden, was ich getan hatte. Das klang logisch. Außerdem behauptet Mum, dass Dad ständig schlafwandelt. Ich fühlte mich schon viel besser. Erleichtert schloss ich die Augen und schlief ein. „Sam! Aufstehen!", rief Mum die Treppe herauf. „Frühstück ist fertig!" Ich zog ein dunkelblaues T-Shirt an und meine Jeans mit dem Riss am Knie. Dann schlüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte die Treppe hinunter, ohne mir die Schnürsenkel zuzubinden. Mum schimpft deswegen immer mit mir. Sie meint, ich würde eines Tages noch darüber stolpern und mir das Genick brechen. Ich glaube, Mütter sagen ständig so was zu ihren Kindern. Ich setzte mich an den Küchentisch und trank einen großen Schluck Milch. „Bäh!", rief ich lauthals. „Was ist los, Sam?", fragte Dad. „Die Milch ist sauer", knurrte ich. „Schmeckt das eklig!" „Wahrscheinlich ist das Verfallsdatum überschritten. Und dabei habe ich sie erst gestern gekauft. Ich werde sie nachher in den Laden zurückbringen und mich beschweren", sagte Mum. Sie ging zum Mülleimer und suchte nach der Verpackung. Als Erstes zog sie die leere Milchtüte heraus, dann die beiden grünen Schwämme. Die beiden halb aufgegessenen grünen Schwämme. Ich hielt den Atem an, während meine Mutter sie verwundert betrachtete. Nie im Leben würde ich zugeben, dass ich gestern Nacht ein Schwamm-Sandwich gegessen hatte – auch wenn es mir im Schlaf passiert war. „Hey, Mum! Wolltest du nicht nach dem Verfallsdatum auf der Milchtüte gucken?", versuchte ich, meine Mutter abzulenken. Aber mein Plan funktionierte nicht. Sie starrte weiterhin die Schwämme an. „Mum, ich bin am Verhungern! Was ist mit meinem Frühstück? Ich werde noch zu spät zur Schule kommen."
Das wirkte. Sie schüttelte den Kopf und warf die Schwämme zurück in den Mülleimer. „Wie wär's mit ein bisschen Grießbrei?", fragte sie, während ein Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. Mum weiß genau, dass das mein allerliebstes Lieblingsfrühstück ist. Ich nickte eifrig. Das hörte sich schon besser an. Kurz darauf stellte Mum einen Teller vor mich und einen vor Dad hin. Er liebt Grießbrei nämlich fast so sehr wie ich. Weiße Dampfwölkchen stiegen von meinem Teller auf. „Hmm", dachte ich voller Vorfreude. „ Lecker-schmecker!" Ich konnte es kaum noch erwarten anzufangen. Mir hing der Magen schon in den Kniekehlen. Genüsslich tauchte ich meinen Löffel in die weiche Masse und schob ihn mir in den Mund. Aber als der Grießbrei auf meiner Zunge landete, klappte mir vor Schreck der Unterkiefer herunter. „Dad!", schrie ich. „Nicht davon essen. Tu's nicht!"
KAPITEL 7 Zu spät. Mein Vater hatte sich schon einen großen Löffel Brei in den Mund geschoben. „Dad, das schmeckt..." „... wirklich köstlich!", beendete er meinen Satz. „Wo liegt das Problem, Sam? Ist mit deinem Grießbrei irgendwas nicht in Ordnung?" „Er ... er schmeckt widerlich", stotterte ich. „Wie Sand mit Essig gemischt." Ich wandte mich an Mum. „Was hast du damit gemacht?" „Überhaupt nichts", antwortete Mum erstaunt. „Ich habe ihn so zubereitet wie immer." „Du musst irgendwas damit angestellt haben, Mum", beharrte ich. „Nein. Habe ich nicht, glaub mir." „Na gut, aber irgendwer muss es getan haben." Ich ließ nicht locker. „Diese Pampe ist jedenfalls scheußlich." In diesem Moment kam unser Collie Fred in die Küche getrottet und legte mir den Kopf auf den Schoß. Das macht er jeden Morgen, in der Hoffnung, dass ich mein Frühstück mit ihm teile. Ich fuhr mit meinem Finger durch den Grießbrei und schaute aufmerksam zu, als Fred ihn ableckte. Mum und Dad beobachteten ihn ebenfalls. Fred schleckte alles bis auf den letzten Rest ab, wedelte dann begeistert mit dem Schwanz und verlangte laut bellend nach mehr. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Iss doch einfach was anderes", schlug Dad vor. „Wie wär's mit einem Majonäse-Sandwich?" „Nein! Äh ... ich habe gar keinen Hunger mehr", antwortete ich hastig. Ich schob meinen Stuhl zurück und ging ins Wohnzimmer. Ein Blick auf die Uhr über dem Kamin sagte mir, dass ich noch etwas Zeit hatte, bevor ich zur Schule musste. Also konnte ich mir noch kurz einen Zeichentrickfilm angucken.
Ich ging zum Fernseher, machte ihn an und – bzzz! Ein leichter Schlag fuhr durch meine Hand. Anscheinend hatte sich das Gerät aufgeladen, und dadurch hatte ich eine gewischt bekommen. Ich schüttelte meine Hand, damit das unangenehme Kribbeln aufhörte, und ließ mich auf die Couch fallen. Fred sprang auf meinen Schoß und kratzte sich ausgiebig seine Flohbisse. Mein Hund erforscht für sein Leben gern den FearStreet-Wald, aber alles, was er von dort mit nach Hause bringt, sind Flöhe. Als ich ihm über den Kopf streichelte, bekam ich – zack – wieder einen Schlag. Vor Schreck versetzte ich Fred einen unsanften Stoß. Er sprang von meinem Schoß und sah mit traurigen Hundeaugen zu mir auf. „Tut mir Leid, Fred", entschuldigte ich mich bei ihm. „Ich weiß, dass es nicht deine Schuld war." Ich umarmte den Collie liebevoll und kraulte ihn eine Weile, dann schnappte ich mir meinen Rucksack und machte mich auf die Socken. Als ich über den Schulhof ging, entdeckte ich Kevin und Lisa, die gerade die Treppe zum Haupteingang hinauf stürmten. „Hey, Leute! Wartet auf mich!", rief ich ihnen zu. Als wir die Tür erreichten, klingelte es gerade zum ersten Mal. Ich griff nach der Klinke und bekam wieder einen elektrischen Schlag. Ein kräftiger Ruck durchfuhr mich vom Kopf bis zu den Zehen, und ich fing an, am ganzen Körper zu zittern. „Auuu!", schrie ich laut auf und schüttelte meine Arme und Beine. „Das gibt's doch nicht!" „Warum stellst du dich so an?", fragte Lisa verwundert. „Du hast doch nur eine gewischt bekommen." „Ja, aber das passiert mir heute Morgen schon zum dritten Mal", erklärte ich ihr. „Und eben hat es richtig wehgetan." Ich konnte das Kribbeln in meinen Zehen und Fingerspitzen immer noch spüren. „Findest du es nicht auch merkwürdig, wenn einem das in so kurzer Zeit dreimal hintereinander passiert?" „Echt schockierend!", witzelte Lisa.
„Haha, sehr witzig." Beleidigt drehte ich mich zu Kevin um, aber der zuckte nur mit den Schultern. Wahrscheinlich fand er es auch nicht weiter schlimm. Und vielleicht war es das auch nicht. Vielleicht war ich nur in einer komischen Stimmung. Ich meine, würde euch das nicht genauso gehen, wenn ihr nachts ein Schwamm-Sandwich verdrückt hättet? „Ich muss noch mal zu meinem Spind", sagte ich zu Kevin, mit dem ich zusammen in einer Klasse bin. „Wir sehen uns dann gleich." Ich holte meine Hefte aus dem Schrank und rannte zu unserem Klassenzimmer. Dort wartete Kevin vor der Tür auf mich. „Warum gehst du denn nicht rein?", fragte ich ihn erstaunt. „Ich habe eine Idee", flüsterte er mir verschwörerisch zu. „Berühr doch mal Lucas im Nacken, und schau, ob du davon auch einen Schlag bekommst." „Warum?", fragte ich verwirrt. „Du hast doch gesagt, das wäre keine große Sache." „Ich habe das nicht gesagt", erinnerte er mich. „Das war Lisa. Vielleicht ist ja wirklich irgendwas Merkwürdiges mit dir passiert", fuhr er fort. „Lucas trägt eine Zahnspange aus Metall. Lass uns doch einfach mal ausprobieren, ob du davon auch einen Schlag kriegst." „Warum nicht?", sagte ich und zuckte die Achseln. Dann ging ich in die Klasse und ließ mich auf meinen Stuhl plumpsen. Lucas Johnson sitzt direkt vor mir. Seit die Schule vor drei Monaten wieder angefangen hat, habe ich ständig seinen dicken schweinchenrosa Nacken vor der Nase, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihn zu berühren. Ich warf einen Seitenblick zu Kevin. Er nickte mir auffordernd zu, was ungefähr so viel heißen sollte wie: „Na los, nun mach schon!" „Ich werde seinen Nacken nur ganz leicht streifen", überlegte ich mir. „Und wenn er sich dann umdreht, tu ich so, als wäre es ganz zufällig passiert." Ich beugte mich vor und streckte meine Finger aus. Obwohl ich mir ganz sicher war, dass nichts geschehen würde, zitterte meine Hand wieder.
Langsam näherte ich mich Lucas' Nacken. Wieder blickte ich zu Kevin. „Beeil dich!", signalisierte er mir mit stummen Mundbewegungen. „Mach endlich!" Ich holte tief Luft und streckte die Hand so weit aus, dass sie nur noch einen Zentimeter von Lucas' Kopf entfernt war. Und dann tat ich es. Ich berührte seinen Nacken. Lucas ruckte auf seinem Stuhl zurück. Sein Körper versteifte sich und begann, plötzlich zu zucken, als wäre er von einem Blitz getroffen worden. Er taumelte zur Seite. Die ganze Klasse hielt erschrocken die Luft an, als er mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden landete.
KAPITEL 8 „Lucas! Lucas!" Ich sprang von meinem Stuhl auf und kniete mich neben seinen zuckenden Körper. „Hilfe!", schrie ich laut. „Holt einen Arzt!" Ich packte Lucas bei den Schultern und versuchte, ihn festzuhalten. Aber es funktionierte nicht. Je mehr ich mich anstrengte, ihn zu beruhigen, desto mehr zitterte und ruckte sein Körper. „So ein Trottel!", rief Kevin. „Wie kannst du ihn einen Trottel nennen?", protestierte ich empört. „Siehst du denn nicht, dass er verletzt ist?" „Du bist der Trottel", sagte Kevin und zeigte auf mich. Dann prustete er los. Lucas hörte von einem Moment zum anderen zu zucken auf und fing ebenfalls an zu lachen. Verwirrt ließ ich ihn los. „Wirklich umwerfend komisch", murmelte ich verlegen und setzte mich wieder hin. „Ihr seid irre witzig." Ich schaute mich in der Klasse um. Die anderen kicherten und lachten laut. „Hey, jetzt hab dich nicht so", sagte Lucas. „Kevin hat mir erzählt, dass du heute Morgen ein paarmal einen Schlag bekommen hast. Komm, mach nicht so ein Gesicht. Es war doch nur ein Scherz. Gib's zu, war echt lustig, oder?" Ich konnte es einfach nicht fassen. Für einen Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, ich hätte Lucas durch einen Stromschlag ernsthaft verletzt. Wahrscheinlich war das wirklich zum Brüllen komisch. Als ich etwas später wieder daran dachte, konnte ich sogar ein bisschen darüber lachen. Und ich fühlte mich ein wenig besser. Dann war es Zeit fürs Mittagessen. Und alles wurde schlimmer. Viel schlimmer. Kaum hatte es zur Mittagspause geklingelt, schoben alle ihre Bücher und Hefte unter die Tische und stürmten zur Cafeteria.
Obwohl ich nicht gefrühstückt hatte, war ich nicht sehr hungrig, und räumte in aller Ruhe meine Sachen weg. „Komm schon, Sam", rief Kevin ungeduldig von der Tür her. „Beeil dich! Sonst steht nachher wieder eine Riesenschlange an der Essensausgabe, und alle Chips sind weg, bevor wir dran sind!" Kevin liebt Kartoffelchips über alles. Er isst jeden Tag drei Tüten zum Mittagessen. „Geh schon mal vor", rief ich zurück. „Ich hab heute irgendwie keinen Hunger." „Du bist immer noch sauer auf mich, stimmt's?", hakte Kevin nach. „Wegen dieser Geschichte mit Lucas." „Nein", beruhigte ich ihn. „Ich habe einfach nur keinen Hunger. Geh ruhig ohne mich." Kevin zuckte die Achseln, drehte sich um und verschwand in Richtung Cafeteria. „Sam?" Kurz darauf steckte Miss Munson ihren Kopf durch die Tür. „Alles in Ordnung mit dir?" Miss Munson ist unsere neue Kunstlehrerin. Früher hat sie in einem Kindergarten in Shadyside gearbeitet. In diesem Schuljahr hatte sie uns als Erstes die Aufgabe gestellt, die amerikanische Flagge zu malen – und zwar mit Fingerfarben. Ich hatte das Gefühl, Miss Munson hat sich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass sie jetzt keine Kleinkinder mehr unterrichtete. „Gehst du heute gar nicht zum Mittagessen?", fragte sie erstaunt. „Ich habe keinen richtigen Hunger", antwortete ich. „Du bist doch nicht etwa krank, oder?", erkundigte sie sich besorgt. „Nein, ich habe bloß keinen Hunger", wiederholte ich. „Bist du sicher?", bohrte sie nach. Ich wusste nicht genau, was sie nun damit meinte – ob ich mir sicher wäre, dass ich keinen Hunger hätte, oder ob ich mir sicher wäre, dass ich nicht krank sei. Aber ich nickte trotzdem. „Sehr gut!", rief sie erfreut. „Ich brauche nämlich deine Hilfe. Komm mit!" Also folgte ich Miss Munson in den Flur, wo sie ein großes Transparent an der Wand befestigt hatte. „Die Schule von Shadyside begrüßt den Herbst" stand dort in großen Blockbuchstaben.
„Ich habe gestern Nachmittag all diese hübschen Papierblätter ausgeschnitten." Miss Munson zeigte auf einen Stapel bunter Blätter auf dem Boden. „Aber ich habe im Moment keine Zeit, sie alle festzukleben. Kannst du gut kleben?" „Äh, ich ... natürlich ...", stammelte ich verwirrt. „Wun-der-bar", jubelte Miss Munson. Sie reichte mir einen breiten Pinsel und ein großes Marmeladenglas, das mit weißem Kleister gefüllt war. „Wenn du mich brauchst, ich bin im Kunstraum und schneide Papierhüte fürs Erntedankfest aus. Du wirst bestimmt sooo süß damit aussehen", fügte sie hinzu, kniff mich aber zum Glück nicht in die Wange. Während Miss Munson den Flur entlangeilte, schraubte ich den Deckel des Glases ab, tauchte den Pinsel in die zähflüssige Masse und schmierte die Rückseite des ersten Blattes mit Kleister ein. Ich drückte es auf das Plakat und hielt es dort einige Sekunden fest. Dann trat ich ein Stück zurück. Hey! Das sah ja gar nicht so übel aus. Ich klatschte ein bisschen von dem Zeug auf die Rückseite eines goldenen Blattes. Dabei stieg mir der Geruch des Kleisters in die Nase. Um ehrlich zu sein, er roch nicht besonders gut. Irgendwie, na ja, ihr wisst schon – klebrig eben. Aber ich musste ihn unbedingt probieren. Ich hob den Pinsel an meine Lippen. „Willst du jetzt auch noch Kleister essen? Was ist bloß los mit dir?", fragte ich mich erschrocken. Hastig ließ ich den Pinsel ins Glas fallen, als hätte ich mich daran verbrannt. Doch mein Blick hing sehnsüchtig an dem Glas in meiner Hand. „Nur eine winzige Kostprobe", dachte ich. „Mehr will ich ja gar nicht." Ich zog den Pinsel wieder aus dem Glas. „Stopp! Warte mal einen Moment", befahl ich mir. „Was zum Teufel tust du da?" Ich meine, wenn ich kurz vorm Verhungern wäre, würde ich vielleicht Kleister essen. Aber auch nur sehr vielleicht. Dazu müsste es schon um Leben und Tod gehen. Entschlossen klatschte ich das goldene Blatt auf das Transparent. Dann griff ich mir das nächste vom Stapel und kleisterte es ein.
Verbissen nahm ich mir ein Blatt nach dem anderen vor und klebte es an. Dann betrachtete ich mein Werk. „Ist wirklich gut geworden", dachte ich. „Echt nett." Auf der Suche nach jemandem, der es bewundern würde, schaute ich den Flur auf und ab. Aber es war niemand zu sehen. Hmmm. Keiner da. Ich fischte mit dem Finger einen Klumpen Kleister aus dem Glas – und schob ihn mir in den Mund. Dann schluckte ich ihn runter. Es schmeckte total widerlich. Aber ich tat es nochmal. Ich holte mir den nächsten Klumpen heraus – einen größeren diesmal – und runter damit. Rausschöpfen und schlucken. Rausschöpfen und schlucken. Gierig stopfte ich mir eine Hand voll nach der anderen in den Mund und leckte mir sogar noch die Finger ab. Der Kleister setzte sich an den Zähnen fest und quoll zwischen meinen Lippen hervor. Ich konnte einfach nicht wieder aufhören, mir das widerliche Zeug in den Mund zu schieben. Bis ich hinter mir eine Stimme hörte, die gellend schrie: „Sam! Was isst du da?"
KAPITEL 9 Ich fuhr erschrocken herum. „Sam!" Kevin starrte mich ungläubig an. „Was machst du denn da?" Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich blickte hinunter auf meine Handfläche, auf der ein dicker Klumpen Kleister thronte. Gegen meinen Willen hob ich die Hand – und stopfte mir den Klumpen in den Mund. „Sam!", kreischte Kevin entsetzt. „Hör sofort damit auf!" Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich wollte ja aufhören, aber ich konnte es nicht. Wieder schob ich mir eine Hand voll von dem scheußlichen Glibber in den Mund. Kevin sah mich voller Ekel an und riss mir das Glas aus der Hand. Ich versuchte, es mir zurückzuholen. „Warum isst du denn Kleister?", fragte Kevin entgeistert. „Ich ... ich dachte, es wäre Majonäse", platzte ich heraus. Kevin verdrehte bei dieser lahmen Ausrede genervt die Augen. „Okay, ich wusste, dass es Kleister war", gab ich zu und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Na und?" „Aber Sam, das Zeug ist doch giftig!", schnaubte Kevin. „Ich hatte eben Hunger", log ich. „Und es war zu spät, um noch in die Cafeteria zu gehen." Kevin schaute mich zweifelnd an und fragte sich offensichtlich, ob ich noch alle Tassen im Schrank hatte. Aber er gab mir das Glas trotzdem zurück. „Jetzt beeil dich", sagte er ungeduldig und mied dabei meinen Blick. „Wir kommen sonst noch zu spät zum Sportunterricht." Ich brachte den Kleister zurück in den Kunstraum, und dann gingen wir zusammen zur Turnhalle. Während wir unsere Sportklamotten anzogen, ertappte ich Kevin dabei, wie er mir verstohlene Blicke zuwarf und leicht den Kopf schüttelte. Er erwähnte die Sache mit dem Kleister nicht noch einmal, aber ich wusste, dass er die ganze Zeit daran dachte.
Mir ging es nicht anders. Als ich die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zuband, zitterten meine Hände. Ich hatte doch eben tatsächlich ein halbes Glas von diesem widerlichen, klebrigen Zeug aufgefuttert und hatte gar nicht wieder aufhören können. Was war bloß los mit mir? Und müsste mir nicht eigentlich kolossal schlecht sein? „Ein bisschen Bewegung, Jungs! Heute geht's mal wieder auf die Tribüne! Na wird's bald? Raus aus dem Umkleideraum, aber dalli!" Mr Sirks laute Stimme durchbrach meine Gedanken. Mr Sirk ist unser Sportlehrer. Er macht ziemlich viel Krafttraining – und so sieht er auch aus. Meistens läuft er mit geblähter Brust rum, um mit seinen Muskeln anzugeben. Aber das finde ich nicht weiter schlimm. Wenn ich wie Mr Sirk aussähe, würde ich auch mit rausgestreckter Brust rumstolzieren. Locker joggte ich in die Halle. Es macht mir nichts aus, die Tribüne rauf- und runterzusprinten. Das könnte ich den ganzen Tag tun. Nicht umsonst habe ich die beste Kondition aus unserer Klasse. „Das haben wir doch letzte Woche schon zweimal gemacht", beschwerte sich Chris Hassler. „Und wir werden es diese Woche wieder zweimal machen", kündigte Mr Sirk mit strenger Stimme an. „Können wir stattdessen nicht mal Fußball spielen?", fragte Alex Pepper hoffnungsvoll. „Ihr Jungs habt eine miserable Kondition", antwortete Mr Sirk. „Der Speck, den ihr euch beim Grillen in den Sommerferien angefuttert habt, muss erst wieder runter. Und dafür gibt es nichts Besseres, als die Tribüne rauf- und runterzulaufen. Das bringt euch doppelt so schnell in Form wie alles andere." Das hörte ich gerne. Dieses Jahr wollte ich unbedingt richtig hart trainieren. Wenn ich Muskeln wie Mr Sirk und eine Narbe wie Kevin hätte, würde ich aussehen wie ein ganzer Kerl, und niemand würde wagen, mich nochmal in die Wange zu kneifen – da war ich mir sicher. Alex und Chris murrten leise, aber sie trauten sich nicht zu widersprechen. Außerdem hatte es sowieso keinen Zweck, mit unserem Sportlehrer zu diskutieren. Er änderte nie seine Meinung.
„Fertig, Leute?", brüllte Mr Sirk. „Fertig!", brüllten wir zurück. „Los!" Wir rannten alle auf die Tribüne zu. Eins, zwei, drei, vier – ich stürmte die ersten vier Reihen hinauf und ging mühelos in Führung. Fünf, sechs, sieben, acht – kein Problem. Ich flog förmlich! Hinter mir hörte ich die anderen keuchen und ächzen, und ich atmete noch nicht mal schneller. Als ich oben ankam, wirbelte ich herum und rannte wieder nach unten, während die anderen sich immer noch nach oben kämpften. Ich rauschte lässig an ihnen vorbei. Wie üblich kam ich als Erster unten an. „Gib alles! Knie dich rein, Sam!", feuerte Mr Sirk mich an. „Na los, noch zwei Durchgänge!" Noch zwei Durchgänge? Kein Problem. Letzte Woche war ich sechsmal hintereinander die Tribüne rauf- und runtergesprintet, ohne dass mir auch nur ansatzweise der Schweiß ausgebrochen wäre. Ich lief die Stufen wieder hinauf, während die anderen noch auf dem Weg nach unten waren. Doch als ich die dritte Reihe erreicht hatte, musste ich plötzlich keuchen. Nach zwei weiteren Reihen begann mein Herz zu hämmern. Während mir der Schweiß in die Augen rann, zwang ich mich, weiter hinauf zulaufen. Die anderen starteten jetzt mit ihrem zweiten Durchgang. Einige von ihnen überholten mich auf dem Weg nach oben. Was war das? Bis jetzt hatte mich auf der Tribüne noch nie jemand überholt. Mühsam schleppte ich mich zwei weitere Reihen hinauf, hielt mir dabei die Seiten und schnappte nach Luft. „Sam, alles in Ordnung mit dir?", rief Mr Sirk mir zu. „Ich nehme nur einen neuen Anlauf", antwortete ich und wischte mir den Schweiß aus den Augen. Als ich mit einem großen Satz die oberste Reihe erreichte, hätten fast meine Beine unter mir nachgegeben. Ich schaffte es, auf den Füßen zu bleiben, aber meine Knie hörten gar nicht wieder auf zu zittern.
„Was ist denn heute mit mir los? Das ist mir doch noch nie passiert", dachte ich verwirrt. Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich versuchte, mich zu beruhigen, aber es ging nicht. Immer wieder sah ich vor mir, wie ich auf diesem widerlichen SchwammSandwich rumkaute und Kleister in mich reinstopfte. Ich war völlig außer Kontrolle. „Sam, worauf wartest du denn?", brüllte Mr Sirk. Meine Beine zitterten immer noch, als ich mich langsam umdrehte und tief durchatmete. „Konzentrier dich!", befahl ich mir. „Hör auf zu denken, und lauf!" Ich starrte die vielen Sitzreihen der Tribüne hinunter und strengte mich an, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Doch als ich mich in Bewegung setzte und den ersten Sprung machen wollte, begann sich die Sporthalle um mich zu drehen. Ich schrie laut auf, als mein Fuß die Stufe verpasste. Und ich fiel. Unaufhaltsam nach unten fiel. Das Nächste, was ich mitbekam, war, dass Mr Sirk sich über mich beugte. „Sam! Bist du okay?", fragte er besorgt. Ich nickte benommen und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. „Wa-was ist denn passiert?", stotterte ich. „Sah aus, als wärst du gestolpert", antwortete Mr Sirk. „Zum Glück hat Kevin, der gerade auf dem Weg nach oben war, deinen Fall gebremst." Mein Freund Kevin schaute mich ganz seltsam an – als wäre ich plötzlich ein Fremder für ihn. „Normalerweise schaffst du doch problemlos sechs Durchgänge", fuhr Mr Sirk fort. „Was ist nur mit dir los?" „Keine Ahnung", erwiderte ich, noch immer ganz benommen. „Ich wünschte, ich wüsste es. Das wünschte ich wirklich."
KAPITEL 10 Kevin und ich gingen nach der Schule zusammen nach Hause. „Was war denn heute mit dir los?", fragte er und durchbrach das unbehagliche Schweigen, das zwischen uns herrschte. „Wie meinst du das?", erwiderte ich mit einem komischen Gefühl im Bauch. „Was soll das heißen, wie meinst du das?", schnaubte er. „Du weißt genau, was ich meine." „Hey, Jungs! Wartet mal!" Das war Lisa, die uns hinterhergerannt kam. „Sam, du musst unbedingt noch mit zu uns kommen, bevor du nach Hause gehst", stieß sie ganz außer Atem hervor. „Wir haben eine neue Karateübung auf Lager. Stimmt's, Kevin?" „Stimmt." Kevin nickte. „Tante Sylvie hat gesagt, sie hätte letzte Nacht eine Begegnung mit dem Geist von Bruce Lee gehabt und dass er ihr bei dieser Gelegenheit eine seiner unglaublich schnellen Bewegungen gezeigt hätte. Und sie hat sie uns beigebracht. Das kann sie richtig gut. Vielleicht zeigt sie es dir ja auch." „Könnte ich ... äh ... könnte ich mir das vielleicht morgen ansehen? Ich habe meiner Mutter versprechen, gleich nach der Schule nach Hause zu kommen, weil ich ihr helfen soll, den Keller auszumisten", log ich. Meine Beine fühlten sich immer noch ganz wackelig an, und ich wollte einfach nur heim. Mir war heute überhaupt nicht danach, Tante Sylvie über den Weg zu laufen. „Na gut", sagte Lisa enttäuscht. „Aber vergiss es nicht. Das musst du dir unbedingt angucken!" „Klar", rief ich ihr zu, als ich um die Ecke bog. „Gleich morgen." Als ich zu Hause ankam und durch unsere Haustür trat, fühlte ich mich schon fast wieder so wie immer. Meine Beine zitterten nicht mehr wie Wackelpudding, und mein Appetit war zurückgekehrt – ich meine, ein gesunder Appetit auf ganz normale Dinge. „Mum!", rief ich. „Ich bin wieder da." Keine Antwort.
„Mum! Ich bin zu Hause!", rief ich noch einmal lauter. „Ich habe Hunger!" Immer noch keine Antwort. „Und, ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen!", schob ich hinterher. Ich musste ihr ja schließlich nichts von dem Kleister erzählen, oder? Außerdem hätte ich das im Moment sowieso nicht gekonnt, weil sie offenbar nicht da war. Ich ließ meinen Rucksack auf den Küchentisch fallen und öffnete den Kühlschrank. Roggenbrot, Erdbeermarmelade und ein paar übrig gebliebene Bohnen. Viel war das nicht gerade. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich in der hintersten Ecke noch zwei hart gekochte Eier. Ich ließ mich am Küchentisch nieder und pulte das Eigelb heraus. Auf dem Stuhl neben mir saß die neueste Puppe meiner Mutter – die Größte, die sie bis jetzt gemacht hatte. Sie war größer als ich und hatte lange, rote Haare und Sommersprossen. Sie war schon fast fertig, nur die Augen fehlten noch. „Ich wette, ich weiß, wo Mum hingegangen ist", schoss es mir plötzlich durch den Kopf. „Sie ist bestimmt auf der Suche nach Augen für ihre neue Puppe." Ganz in Gedanken schob ich mir ein Stück Eiweiß in den Mund – und spuckte es sofort wieder aus. Es schmeckte bitter und grobkörnig. Es hatte mir sogar ein wenig die Zunge zerkratzt. „Da muss wohl noch ein Stückchen Eierschale drangehangen haben", dachte ich, als ich es in den Mülleimer warf. „Ein verdorbenes Ei, an dem noch Schale klebt. Bäh!" Ich biss in das zweite Ei. Igitt! Das schmeckte ja noch grausiger als das Erste. Irgendwie glitschig und säuerlich. Was war hier los? Erst war meine Milch sauer, dann der Grießbrei verdorben und jetzt die Eier. Mein Magen protestierte mit einem lauten Knurren. Ich hatte Kohldampf. Und was für einen! Es musste hier doch irgendetwas zu essen geben, das nicht gammelig schmeckte. Also sah ich nochmal im Kühlschrank nach – nichts.
Ich durchwühlte die Speisekammer – Fehlanzeige. Nur Dosensuppe, Cracker, Cornflakes, Schokoladenstreusel und Tunfisch. Schweren Herzens sah ich ein, dass mir nichts anderes übrig blieb, als zu warten, bis Mum nach Hause kam. Dann würde ich sie bitten, mir einen Riesenteller Käsemakkaroni zu kochen und zum Nachtisch Vanillepudding. Wieder stieß mein Magen ein lautes, sehnsüchtiges Knurren aus. Um mich von meinem Hunger abzulenken, beschloss ich, erstmal Hausaufgaben zu machen. Ich kramte in meinem Rucksack herum, bis ich das Buch gefunden hatte. Bis morgen mussten wir die nächsten drei Kapitel von Johnny Tremaine lesen. Unsere Literaturlehrerin Mrs Hartman wollte uns dann Fragen dazu stellen. Neugierig schlug ich das Buch auf. Die Geschichte spielte in Boston während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. So was lese ich für mein Leben gern, und ich stürzte mich begierig darauf. Als ich zum spannendsten Teil kam, hörte ich die schlürfenden Geräusche. Ich warf einen Blick quer durch die Küche. Fred hing über seinem Fressnapf und schlang gierig sein Hundefutter hinunter. „Hey, Fred! Geht das auch ein bisschen leiser?", fragte ich genervt. Der Collie hob den Kopf und blickte mich an. Von seinem Maul tropften Speichel und Hundefutter auf den Boden. „Fred, das ist ja ekelhaft", sagte ich vorwurfsvoll, aber er wackelte nur freundlich mit dem Schwanz. Ich vertiefte mich wieder in mein Buch. Schlürf. Schlürf. „Fred, bitte!" Er sah kurz auf und tauchte mit seinem Kopf dann wieder in den Napf. Schlürf. Schlürf. Von dem Geräusch, mit dem Fred sein Fressen wegschlabberte, wurde mir richtig übel. Ich sprang vom Stuhl auf und nahm ihm seinen Napf weg. „Geh ins Wohnzimmer. Raus aus der Küche!" Ich zeigte mit dem Finger zur Tür.
Fred bewegte sich nicht. „Na, los. Wird's bald?" Doch anstatt in Richtung Tür zu traben, versuchte der Collie, seinen Fressnapf zurückzuerobern. Als ich den Napf noch ein Stück höher hielt, stieg mir der Geruch des Hundefutters in die Nase. Es roch gut – genauer gesagt: richtig lecker. Mein Magen begann wieder zu knurren. Bei diesem Geräusch stellte Fred erschrocken die Ohren auf und kroch von mir weg. Mit schief gelegtem Kopf sah er zu, wie ich den Fressnapf auf den Boden stellte, mich auf Hände und Knie niederließ und mich mit meinem Mund seinem Napf näherte. Nun kam er doch wieder heran und versuchte, mich von seinem Futter wegzuschubsen. Als ich ihn unsanft zur Seite schob, knurrte er drohend. Er schubste noch einmal. Und ich schob ihn wieder weg. Ich senkte meinen Kopf tiefer und tiefer und atmete in vollen Zügen den Duft ein. Den unglaublich köstlichen Duft des Hundefutters. Und dann stürzte ich mich kopfüber in den Fressnapf. Meine Zunge schoss hervor, um die saftigen Fleischstückchen aufzulecken. „Stopp!", rief in diesem Moment eine Stimme in meinem Kopf. „Was machst du denn da?" Ich sprang vom Boden auf und warf mich auf den nächstbesten Küchenstuhl. „Ich glaub's einfach nicht! Eben hätte ich beinahe Freds Fressen verdrückt", dachte ich voller Entsetzen. Als ich mir vorstellte, wie ich gebückt vor dem Futternapf kniete, musste ich würgen. „Was war denn nur mit mir los? Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, Hundefutter zu essen?", fragte ich mich verzweifelt. Schlürf. Schlürf. Fred war zu seiner Schüssel zurückgekehrt. Während er fraß, stieg mir der Duft seines Futters in die Nase. Der köstliche, unwiderstehliche Duft. Ich umklammerte mit beiden Händen die Tischkante und zwang mich mit aller Selbstbeherrschung, die ich aufbringen konnte,
sitzen zu bleiben. Vor lauter Anstrengung wurden meine Fingerknöchel dabei ganz weiß. Freds Schlürfen wurde immer lauter, und ich immer hungriger. Ich wollte dieses Hundefutter. Ich musste es haben. Unbedingt. Sofort. „Nein! Nein! Neiiin!", rief ich verzweifelt. „Ich werde kein Hundefutter essen!" Ich klammerte mich an den Küchentisch, bis Fred fertig war und seinen Fressnapf fein säuberlich ausgeschleckt hatte. Als ich endlich meinen Griff lockerte, fingen meine Hände an zu zittern, und ich musste mich ein paar Minuten draufsetzen, bis sie endlich wieder damit aufhörten. Ich atmete ein paarmal tief ein und stieß den Atem langsam aus. „Du hast alles unter Kontrolle", sprach ich beruhigend auf mich ein. „Du hast das Hundefutter nicht gegessen. Jetzt beschäftige dich wieder mit deinem Buch. Es ist alles in Ordnung." Ich versuchte, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, die ich vorhin so gespannt verschlungen hatte. Fred hatte sich in der Ecke ausgestreckt und kratzte sich genüsslich seine Flohstiche. „Komm her, mein Junge!", rief ich ihm zu. „Tut mir Leid, dass ich dich eben weggeschoben habe." Fred trottete gehorsam zu mir herüber und ließ sich neben mir auf den Boden fallen. Ich streichelte ihn mit der einen Hand, während ich mit der anderen die Seiten meines Buchs umblätterte. Jetzt kam eine der besten Stellen – der Teil mit der Schlacht. Völlig von der Geschichte gefangen genommen fuhr ich fort, Fred zu streicheln und knabberte zwischendurch an meinem Snack. „Moment mal", schoss es mir plötzlich durch den Kopf. „Was für ein Snack?" Ich ließ meinen Blick auf der Suche nach den hart gekochten Eiern über den Tisch wandern, bis mir einfiel, dass ich sie weggeworfen hatte. Dann warf ich einen Blick auf das, was ich in der Hand hielt. „Bitte, lass es Schokoladenstreusel sein!", betete ich im Stillen, während ich meine Hand langsam vor die Augen hob.
Wie erstarrt und mit offenem Mund glotzte ich die Streusel zwischen meinen Fingern an. Die Streusel, die mit ihren winzigen Beinchen zappelten. „Neiiin!", schrie ich auf. „Oh, nein! Das sind ja Flöhe!"
KAPITEL 11 „Ich habe Flöhe gegessen", kreischte ich entsetzt. Mir drehte sich der Magen um. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, damit ich mich nicht übergeben musste, und spürte, wie ein Floh von meinem Finger hüpfte und über meine Wange krabbelte. „Aargh!" Voller Ekel wischte ich ihn weg. Aber jetzt kitzelte mich etwas im Rachen. Eigentlich fühlte es sich mehr wie ein Stechen an. Oh, nein! Mir war ein Floh im Hals stecken geblieben! Ich versuchte, ihn durch Husten wieder ans Tageslicht zu befördern, aber es gelang mir nicht. Wie ein Wilder raste ich nach oben ins Bad. Ich schnappte mir meine Zahnbürste und fummelte damit in meinem Rachen herum, bis ich nichts mehr von einem Floh spürte. Dann putzte ich mir die Zähne, das Zahnfleisch, die Zunge und sogar meinen Gaumen. Ich putzte, bis mein Mund schon fast wund war. Ich musste mit jemandem darüber reden. Irgendwas stimmte mit mir nicht. Kevin! Er würde mir helfen rauszufinden, was los war. Dann wurde mir klar, dass ich ihm auch von den Flöhen erzählen musste. Das hätte ich zwar lieber für mich behalten, aber ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich brauchte Hilfe – und zwar schnell. Ehe ich es mir anders überlegen konnte, lief ich nach unten und wählte die Nummer der Sullivans. Tante Sylvie ging ans Telefon. „Hallo?" „Hier ist Sam Kinny", sagte ich. „Ist Kevin da?" „Hallo?", fragte Tante Sylvie ein zweites Mal. „Hier ist Sam Kinny", wiederholte ich. „Ist Kevin da?" „Hallo. Wer ist denn dort? Ich kann Sie nicht verstehen", sagte Tante Sylvie. Wahrscheinlich war die Verbindung schlecht. „Hier ist Sam Kinny", rief ich in den Hörer. „Sind Kevin oder Lisa zu Hause?"
„Tut mir Leid, aber das Telefon rauscht so laut", antwortete sie. „Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie sagen wollen, ich werde versuchen, Ihre Gedanken zu lesen." An diesem Punkt legte ich auf und rief kurz darauf noch einmal an. In der Hoffnung, dass diesmal jemand anders ans Telefon gehen würde. „Hallo?" Wieder Tante Sylvie. Vielleicht war sie schwerhörig, dachte ich. „Hier ist Sam", brüllte ich in den Hörer. „Ist Kevin da?" „Au!", schrie Tante Sylvie auf. „Das tut ja richtig weh in den Ohren. Wie kann man nur so grob sein?" Und damit legte sie auf. Okay, das war's dann wohl. Aber ich beschloss, noch einen letzten Versuch zu starten, bevor ich endgültig aufgab. Tante Sylvie hob schon nach dem ersten Klingeln ab. „Hier ist Sam Kinny", sagte ich in normaler Lautstärke. „Ich wollte Ihren Ohren nicht wehtun, aber ich würde gerne wissen, ob ich mit Kevin sprechen kann. Es ist ziemlich wichtig." „Sprich doch bitte etwas langsamer!", schnaubte Tante Sylvie ungehalten. Langsamer? Was meinte sie mit langsamer? „HieristSamKinny", wiederholte ich. „IchmöchtemitKevinsprechen ..." Hilfe! Tante Sylvie hatte Recht. Ich redete tatsächlich schnell. Sehr schnell sogar. Ich atmete tief durch und zählte bis fünf. „Hier ist Sam Kinny." Oh, nein! Ich nahm noch einen Anlauf. „IchmussunbedingtmitKevinsprechen." Jetzt konnte ich selbst nicht mehr verstehen, was ich gesagt hatte. „Ich bin absolut nicht in der Stimmung für schlechte Scherze, junger Mann", schimpfte Tante Sylvie lautstark. „Untersteh dich, noch einmal anzurufen." Sie knallte empört den Hörer auf die Gabel. „HirisSamKny! HirisSamKny!" Ich wiederholte den Satz immer wieder und bemühte mich krampfhaft, langsamer zu sprechen. Aber es ging einfach nicht. Ich konzentrierte mich auf meine Lippen. Meine Zunge, Strengte mich an, beides unter Kontrolle zu bringen.
„HirisSamKnymöchtmitKevunLissprechn. HirisSamKnymöchtmitKevunLissprechn." Oh, nein! Jetzt konnte ich auch nicht mehr aufhören zu reden! Mir brach der kalte Schweiß aus. „Wassollichjetztbloßmachn?", schnatterte ich vor mich hin. „Wassollichjetztbloßmachn? Wassollichjetztbloßmachn?" Ich umklammerte mit beiden Händen meinen Unterkiefer und presste ihn nach oben. Dann ging ich in mein Zimmer und starrte in den Spiegel über meiner Kommode. Ganz, ganz langsam löste ich meinen Klammergriff. „Was –" Bevor mein Mund das nächste Wort hervorsprudeln konnte, presste ich mir wieder die Hand vor den Mund. Okay, ich musste jetzt ganz ruhig bleiben. Das war schon gar nicht schlecht gewesen für den Anfang. Ich hatte nur ein einziges Wort gesagt. Wieder lockerte ich meinen Griff. „Was –" Ich sagte es noch einmal. Dann presste ich meine Kiefer zusammen. Und entspannte sie wieder. „Soll –" Zusammenpressen. Entspannen. „Ich–" Nochmal. „Jetzt –" Nochmal. „Bloß –" Und ein letztes Mal. „Machen?"
KAPITEL 12 „Was soll ich jetzt bloß machen?" „Wie meinst du das, Sam?", fragte meine Mutter, die gerade nach Hause kam, verwundert. Kaum war Mum durch die Tür, platzte ich mit allem heraus, was passiert war. Ich gab mir Mühe, langsam zu sprechen, und diesmal klappte es auch. Endlich klang ich wieder ganz normal. Ich erzählte meiner Mutter, wie ich versucht hatte, bei den Sullivans anzurufen, und die Worte plötzlich mit unglaublicher Geschwindigkeit aus meinem Mund herausgesprudelt waren. Und wie ich mir zum Schluss mit beiden Händen den Mund zuhalten musste, weil ich nicht wieder aufhören konnte zu reden. Mum drückte mich auf einen Küchenstuhl und beugte sich mit besorgt gekräuselter Stirn über mich. „Und wann genau hat das alles angefangen?", wollte sie wissen. „Ungefähr vor einer Stunde", antwortete ich. „Hat es lange gedauert?", fragte sie. „Nein, nicht besonders." Ich schüttelte den Kopf. „Ist dir dabei warm gewesen?", erkundigte sie sich. Ich versuchte, mich zu erinnern. „Nö", sagte ich. „Ich glaube nicht." Mum legte mir ihre Hand auf die Stirn. „Hmmm. Fühlt sich nicht heiß an. Du scheinst kein Fieber zu haben." „Was ist mit mir los, Mum?", fragte ich nervös. Mum setzte sich neben mich und lächelte mich an. „Ich glaube jedenfalls nicht, dass dir etwas Ernstes fehlt." Sie tätschelte beruhigend meine Hand. „Vielleicht hast du irgendetwas gegessen, das dir nicht bekommen ist." Irgendetwas, das ich gegessen hatte. Kleister zum Beispiel. Oder Flöhe. „Das kann nicht sein", dachte im Stillen. „Kleister oder Flöhe können doch nicht daran schuld sein, wenn man so komisch
spricht." Aber Schwämme. Was war mit Schwämmen? Nein, das konnte ich mir auch nicht vorstellen. Es musste etwas Ungewöhnlicheres sein als das. Etwas sehr viel Ungewöhnlicheres ... So wie diese kleinen schwarzen Flocken, die Tante Sylvie unter meinen Milchreis gemischt hatte. Diese schwarzen Flocken, die mir den Mund verbrannt hatten und von denen mir am ganzen Körper heiß geworden war. „Das ist es!", wurde mir schlagartig klar. Tante Sylvie hatte mir das angetan! Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Mir fiel plötzlich wieder ein, was sie gesagt hatte, nachdem Lisa ihr erzählt hatte, dass ich nur weiße Sachen mag. „Du musst mehr essen als das", waren ihre Worte gewesen. Und dann hatte sie diese grässlichen Flocken in meinen Nachtisch geschmuggelt. Die sie selbst nie essen würde, wie sie gesagt hatte. Und danach hatten diese verrückten, unheimlichen Erlebnisse angefangen. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Tante Sylvie kannte sich bestens mit Magie und Zaubersprüchen aus, das hatten Kevin und Lisa mir jedenfalls erzählt. Diese schwarzen Flocken waren bestimmt Teil eines Zaubers. Eines bösen Zaubers! Ich musste unbedingt mit Kevin reden und ihm sagen, dass seine Tante Sylvie mich durch diese Flocken mit einer Art Fluch belegt hatte. Genau, ich musste es ihm sofort erzählen! Ich war schon auf dem Weg zur Haustür, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Mist, ich konnte ja gar nicht zu Kevin gehen. Tante Sylvie war dort – es war entschieden zu gefährlich. Und anrufen wollte ich lieber nicht nochmal. „Dann muss ich eben bis morgen damit warten", dachte ich und seufzte. „Ich werde es ihm beim Mittagessen erzählen." Am nächsten Tag in der Schule starrte ich die ganze Zeit auf die Uhr. Der Morgen schien sich endlos hinzuziehen. Ich konnte mich auf überhaupt nichts konzentrieren, nicht mal auf den Test über
Johnny Tremaine. Wahrscheinlich hatte ich ihn gründlich verhauen. Aber das war mir egal. Im Moment zählte für mich nur, dass ich endlich mit Kevin reden konnte. Ich musste mir zusammen mit ihm etwas einfallen lassen, wie wir Tante Sylvie dazu bringen konnten, dass sie den Fluch wieder von mir nahm. Als es zur Mittagspause klingelte, sprang ich von meinem Stuhl auf und schnappte mir Kevin. „Beeil dich! Wir müssen schnell in die Cafeteria!", drängelte ich. „Kein Problem!" Kevin stieß die Faust in die Luft und schrie: „Kartoffelchips, ich komme!" Ich wollte, dass er sich mit mir hinsetzte, sobald wir in der Cafeteria waren, aber er bestand darauf, sich zuerst seine Chips zu holen. Also suchte ich mir einen Tisch und wartete auf ihn. Ich öffnete die Plastikdose mit meinem Mittagessen, aber ich bekam keinen Bissen hinunter. Ich war viel zu nervös. Immerhin hatte ich vor, Kevin zu sagen, dass seine Tante böse Kräfte besaß und dass sie mich mit einem Fluch belegt hatte. Würdet ihr nicht auch nervös sein, wenn ihr eurem besten Freund so was erzählen müsstet? „Warum braucht er denn so lange?", fragte ich mich ungeduldig und suchte mit den Augen die Schlange vor der Essensausgabe ab. Kevin war nirgendwo zu sehen, aber stattdessen entdeckte ich Lisa. Sie winkte, kam zu mir herüber und setzte sich neben mich. „Jetzt muss ich beiden von Tante Sylvie erzählen", dachte ich und stöhnte innerlich auf. Das machte mich noch nervöser. „Warum isst du denn nichts?", fragte Lisa und biss kräftig von ihrem üblichen Erdnussbutter-Sandwich mit Marmelade ab. „Ich hab keinen Hunger", schwindelte ich, als Kevin sich mit drei Tüten Chips auf den Stuhl neben mir fallen ließ. „Hört mal, Leute, ich muss euch etwas sehr Wichtiges sagen", begann ich. Kevin riss die erste Chipstüte auf. „Na, dann schieß mal los", nuschelte er, während er mit vollem Mund genüsslich vor sich hin mampfte. Kevin und Lisa alles zu erzählen, war schwerer, als ich gedacht hatte.
„Na ja, äh ... also, gestern ... nach der Schule, da ist mir was ziemlich Komisches passiert." „Hey!" Lisa blickte von ihrem Erdnussbutter-MarmeladeSandwich auf. „Uns ist auch was ganz Komisches passiert." „Ach, und was?", fragte ich interessiert. Vielleicht hatte Tante Sylvie die beiden ja auch mit irgendeinem Fluch belegt. Das würde das Ganze für mich einfacher machen. „Nach der Schule haben Lisa und ich uns umgezogen, um ein bisschen den Fear-Street-Wald unsicher zu machen", meldete sich jetzt Kevin zu Wort. „Als wir uns unten vor der Haustür getroffen haben, hatten wir genau die gleichen Sachen an. Schwarzer Pullover, schwarze Jeans mit einem Riss drin und rote Socken." „Und außerdem hatten unsere Jeans den Riss genau an derselben Stelle. Komisch, was?", fügte Lisa hinzu. „Äh, na ja ... irgendwie schon", sagte ich ziemlich enttäuscht. „Aber mir ist etwas viel Merkwürdigeres passiert. Es hat vor ein paar Tagen angefangen ..." „Ich brauch unbedingt noch mehr Chips." Kevin sprang auf und stellte sich wieder in die Schlange an der Kasse. „Bin gleich zurück", rief er uns quer durch die Cafeteria zu. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Komm schon, Kevin. Beeil dich!", dachte ich unruhig. „Wir müssen uns dringend überlegen, was wir tun können, bevor noch etwas Schlimmeres passiert." Endlich kam Kevin mit seiner Tüte Chips zurück. „Okay, also was hat denn nun vor ein paar Tagen angefangen?", fragte er. Ich holte tief Luft – froh, jetzt endlich loslegen zu können. „Vor einigen Tagen fing es an, dass mir plötzlich lauter merkwürdige Sachen passiert sind – und das alles nur wegen ..." „Tante Sylvie", kreischte Lisa los. „Genau!", rief ich verblüfft. „Hallo, Tante Sylvie!" Lisa winkte jemandem hinter meinem Rücken zu. Dann legte sich mit festem Griff eine kalte Hand auf meine Schulter. Tante Sylvies Hand.
„Hallo, Kinder." Sie warf den beiden ein warmes Lächeln zu. Dann schwenkte ihr Blick zu mir – und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie starrte mich eindringlich an. „Mann, Tante Sylvie, echt coole Klamotten", rief Lisa anerkennend. „Oh, danke", antwortete Tante Sylvie und wirbelte um die eigene Achse, um ihr Outfit vorzuführen. Sie trug ein kurzes, neongrünes Eiskunstlaufkostüm mit einem Gürtel aus unechten dunkellila Steinen um die Taille und darunter zart violettfarbene Leggins. Als Krönung hatte sie sich ein glitzerndes Diadem in die weißen Haare geschoben, das mit den gleichen lilafarbenen Steinen besetzt war wie ihr Gürtel. „Ich war gerade auf dem Weg zur Eisbahn", erklärte sie. „Um meinen Doppellutz und diese verflixten Pirouetten zu trainieren." „Aber was machst du dann hier?", fragte Kevin. Tante Sylvie grub ihre Finger tiefer in meine Schulter. „Ich habe etwas für Sam mitgebracht", sagte sie und reichte mir eine braune Papiertüte, die oben ein paarmal umgeschlagen war. „Etwas, um die Sache abzuschließen." „Oh, nein!", stöhnte ich. „Was meinst du damit?", fragte Lisa verwundert. „Sam weiß schon Bescheid", antwortete sie viel sagend. Ich linste über die Schulter zu Tante Sylvie hinauf. Ein unheimliches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Mach die Tüte auf, Sam!", drängte Lisa. „Ich möchte sehen, was drin ist." „Ich ... ich mach sie lieber nachher auf", stotterte ich. „Ach, komm. Hab dich doch nicht so", drängte Kevin. „Okay, okay", knurrte ich widerstrebend. Ich stellte die Tüte auf den Tisch. Öffnete sie vorsichtig. Und warf einen Blick hinein.
KAPITEL 13 „Aaahhh!" Ich schrie entsetzt auf und schmiss die Tüte auf den Boden. „Sehr witzig!", schnaubte Lisa und verdrehte die Augen. „Genau, hör auf, so eine Schau abzuziehen", sagte Kevin. „Zeig uns lieber, was drin ist." Bevor ich sie daran hindern konnte, hatte Lisa sich hinuntergebeugt und sich die Tüte vom Fußboden geschnappt. „Guck nicht rein!", rief ich warnend. „Du willst bestimmt nicht sehen, was da drin ist." „Sam, beruhige dich doch." Tante Sylvie verstärkte den Griff um meine Schulter noch einmal. „Du scheinst heute ein bisschen nervös zu sein", sagte sie und lachte spöttisch. Lisa stellte die Tüte auf den Tisch. „Na, dann wollen wir doch mal schauen ...", sagte sie und machte sie auf. „Tu das nicht!" Ich schnappte ihr die Tüte aus der Hand. „Da sind zwei Augen drin. Richtige Augen!" „Ach, red doch keinen Unsinn." Tante Sylvie lachte glucksend und nahm mir die Tüte aus der Hand. „Das sind doch keine echten Augen." Sie griff hinein und holte etwas heraus. „Seht ihr? Es sind Steine. Wunderschöne, mitternachtsblaue Steine." „Und wofür sind die?", fragte Kevin. „Für Sams Mutter", antwortete Tante Sylvie. „Ich hab sie gestern im Laden für Bastelbedarf getroffen, und da hat sie mir erzählt, dass sie für eine ihrer Puppen auf der Suche nach blauen Augen ist..." „Sams Mutter macht richtig tolle Puppen", unterbrach Lisa sie. „Ja, das hat der Mann, dem der Laden gehört, mir auch erzählt. Na ja, auf jeden Fall habe ich Sams Mutter gesagt, dass sie nicht länger zu suchen braucht. Von meiner letzten Reise nach Borneo habe ich nämlich wunderschöne, blaue Steine mitgebracht. Ideal für die Augen ihrer Puppe. Und hier sind sie."
Tante Sylvie hielt mir die Tüte wieder hin. Ich nahm sie mit zitternder Hand entgegen. „Sam, ist alles in Ordnung mit dir? Warum zitterst du denn so?", fragte Tante Sylvie. „Ich, äh ... mir geht's in letzter Zeit nicht so gut", stammelte ich. „Seit dem Abend, an dem ich den Milchreis gegessen habe." Tante Sylvie beugte sich ganz dicht zu mir und schaute mir, ohne zu blinzeln, in die Augen. Sie blickte mich so forschend an, als würde sie nach etwas Bestimmtem suchen. „Ah-ha! Da haben wir's ja", flüsterte sie nach einer Weile. „Hab ich mir's doch gedacht!"
KAPITEL 14 „Was? Was ist denn da?" Beunruhigt sprang ich von meinem Stuhl auf. „Setz dich hin!" Tante Sylvie drückte mich energisch wieder hinunter. Dann legte sie ihre Hände auf meinen Kopf und machte kreisende Bewegungen. Zuerst kleine Kreise, dann immer größere. „Uuum", summte sie mit tiefer Stimme, während sie ihre Finger gegen meinen Schädel presste. „Uuuma, uuuma, uuuma." „Was hast du gesehen, Tante Sylvie?", fragte Lisa neugierig. „Was hast du in Sams Augen entdeckt?" „Zu viel Yin und nicht genug Yang", antwortete sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Was ist das?", erkundigte sich Kevin verdutzt. „Als Yin bezeichnet man alles Dunkle, Kalte und Feuchte in der Natur. Und Yang ist alles Helle, Warme und Trockene", erklärte sie uns. „Ich habe eine Menge darüber gelernt, als ich das letzte Mal in China war. Sani hat eindeutig zu viel Yin. Er ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten, aber das ist nichts Ernstes. Ich glaube, ich habe bereits alles wieder in Ordnung gebracht. Diese Methode habe ich übrigens von einem alten chinesischen Heilkundigen, der magische Kräfte besaß." „Magische Kräfte?" Ich zuckte zurück. Tante Sylvie zog einen letzten Kreis auf meinem Kopf. „Ach, du lieber Himmel!", sagte sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich werde noch zu spät zu meiner Eislauf stunde kommen." Nachdenklich sah ich ihr hinterher, als sie eilig die Cafeteria verließ. „Warum ist sie nicht bei uns zu Hause vorbeigegangen und hat meiner Mutter die Augen für die Puppe gegeben? Warum ist sie extra in die Schule gekommen, um sie mir in die Hand zu drücken?", schoss es mir durch den Kopf. „Verdächtig. Sehr verdächtig."
Ich musste Kevin und Lisa jetzt sofort von Tante Sylvie berichten! „Mit mir stimmt irgendwas nicht", begann ich. „Mir passieren in letzter Zeit lauter schreckliche Dinge." Kevin und Lisa sahen mich gespannt an und warteten darauf, dass ich weiterredete. Ich nahm den Pfefferstreuer vom Tisch und schraubte den Deckel ab. „Ihr werdet mir wahrscheinlich nicht glauben, was ich euch erzähle", fuhr ich fort. „Aber es ist wahr. Das schwöre ich." Kevin und Lisa nickten aufmunternd. Ich streute mir etwas Pfeffer auf die Hand. „Es hat an dem Abend angefangen, als ich bei euch gegessen habe." „Sam, was machst du denn da?" Lisa schaute verwirrt auf meine Hand. Ich hob sie an den Mund. Und leckte den Pfeffer in meiner Handfläche ab. „Iiih! Das ist ja widerlich!", quietschte Lisa. Ich nahm den Pfefferstreuer, setzte ihn an die Lippen und schüttete mir das Zeug in den Mund. „Sam! Hör sofort damit auf!", befahl Kevin. Das wollte ich ja gerne. Aber ich konnte nicht, egal wie sehr ich mich auch anstrengte. Kevin riss mir den Streuer aus der Hand. Dabei verteilte sich der Pfeffer über den ganzen Tisch. „Gib ihn mir zurück!", kreischte ich und versuchte, ihm den Streuer wegzunehmen. Ich musste diesen Pfeffer haben! Aber Kevin hielt ihn außerhalb meiner Reichweite. Ich senkte meinen Kopf und leckte den verstreuten Pfeffer vom Tisch auf. „Sam!", rief Lisa entsetzt. „Jetzt lass das doch endlich!" „Ich will ja, aber ich kann nicht!", rief ich verzweifelt. „Das versuche ich euch doch die ganze Zeit zu sagen." „Und warum kannst du nicht aufhören?", wollte Lisa wissen. „Weil ich ein bisschen aufgeregt bin", platzte ich zu meinem eigenen Erstaunen heraus. Warum hatte ich das denn jetzt gesagt? Das war doch gar nicht der wahre Grund!
Der Pfeffer brannte in meiner Kehle, und ich trank hastig ein paar Schlucke aus meiner Milchtüte. „Ich brauche eure Hilfe! Ihr seid die Einzigen, die mir helfen können." „Klar helfen wir dir", sagte Kevin. „Aber du musst uns erst mal verraten, was mit dir los ist." „Ich weiß, dass ich mich total verrückt verhalte, aber ich stehe unter einem ..." „Unter einem was?", fragte Lisa ungeduldig. „Ja, was?", echote Kevin. „Unter einem Dackel, Pudel, Schäferhund." Hä? Was war denn jetzt wieder? Was redete ich da für einen Unsinn! Kevin und Lisa lachten. „Unter einem Terrier, Collie, Boxer, Pekinesen", sprudelte es aus mir heraus. Oh, nein! Was war das bloß? Ich wusste doch, was ich sagen wollte. Warum kamen dann die falschen Worte aus meinem Mund, fragte ich mich verzweifelt. Die Klingel zeigte das Ende der Mittagspause an. „Wir müssen los, Sam." Kevin und Lisa standen auf. „Nun mach schon! Erzähl ihnen von dem Hundefutter und den Flöhen", dröhnte es in meinem Kopf. Mein Herz begann zu rasen. Ich öffnete den Mund. Würden jetzt die richtigen Worte herauskommen? Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf das, was ich sagen wollte, und rief: „Dogge!" Kevin und Lisa schnappten sich ihre Bücher und verzogen genervt das Gesicht. „Pitbull!", quiekte ich verzweifelt. Warum konnte ich nicht das sagen, was ich mir vorgenommen hatte? Ich musste ihnen doch erzählen, dass Tante Sylvie mich mit einem Fluch belegt hatte und dass diese kleinen schwarzen Flocken an allem schuld waren. Hey, Moment mal! Ich schnappte nach Luft, als mir plötzlich ein Licht aufging.
Deswegen war Tante Sylvie also in die Schule gekommen! Weil sie wusste, dass ich herausgefunden hatte, wer hinter der ganzen Sache steckte. Nämlich sie. Und weil sie verhindern wollte, dass ich es Kevin und Lisa erzählte. Nur aus diesem Grund war sie hier aufgetaucht. Das mit dem Gleichgewicht von Yin und Yang war doch alles Quatsch. Tante Sylvie hatte diese seltsamen Worte über meinem Kopf gesummt, um den Fluch noch zu verstärken. Um ganz sicherzugehen, dass ich niemandem etwas davon erzählen konnte – niemals!
KAPITEL 15 „Dobermann, Neufundländer", rief ich in dem verzweifelten Versuch, meinen Freunden von Tante Sylvies Untaten zu berichten. „Labrador, Schnauzer, Cocker." „Sam, was soll denn das?", fragte Lisa sichtlich genervt. „Ich versuche euch doch nur zu erklären, was los ist", wollte ich sagen, aber heraus kam: „Rottweiler, Retriever!" „Hör endlich auf mit dem Unsinn!" Lisa schüttelte ungeduldig den Kopf. „Bernhardiner, Windhund ..." „Sam, ich mein's ernst!" Lisa beugte sich zu mir hinüber und knuffte mich unsanft in den Arm. „Aua!", schrie ich auf. „Das hat richtig wehgetan!" „Tut mir Leid", entschuldigte sich Lisa. „Aber ich musste dich doch irgendwie dazu bringen, wieder normal zu reden." „Dafür hättest du aber nicht so fest zuhauen müssen", knurrte ich und rieb mir meinen schmerzenden Arm. „Du hättest mir glatt was brechen können." Hey! Ich konnte ja wieder normal reden! „Okay, Schluss jetzt mit diesen blöden Spielchen. Sag uns endlich, was los ist", forderte Kevin mich ungeduldig auf. „Das sind keine Spielchen", protestierte ich. „Das gehört alles zu diesem Fluch." „Was denn für ein Fluch?", fragte Kevin entgeistert. „Na der, mit dem Tante Sylvie mich belegt hat!", rief ich. „Sam, du bist wirklich verrückt!", quiekte Lisa entgeistert. „Nein, bin ich nicht!", widersprach ich und erzählte den beiden, wie ich die Schwämme gegessen hatte. Dann erinnerte ich Kevin an die Sache mit dem Kleister und an die seltsamen Stromschläge. Ich erzählte ihnen, wie ich beinahe Freds Hundefutter verdrückt hatte und wie ich gestern plötzlich so schnell geredet hatte, dass ich mich nicht mal mehr selbst verstehen konnte.
Zuletzt erzählte ich ihnen, wie ich mich ganz in Gedanken mit Flöhen voll gestopft hatte. „Und all das hat angefangen, nachdem Tante Sylvie diese komischen schwarzen Flocken in meinen Milchreis getan hat", schloss ich. „Vorher ging's mir gut. Ich meine, ich wäre nie auf die Idee gekommen, solche ekligen Dinge zu essen." „Flöhe? Du hast tatsächlich Flöhe runtergeschluckt?" Lisa würgte. „Das ist ja widerlich!" „Aber wir haben doch alle von dem Milchreis gegessen", wandte Kevin ein. „Und mit uns ist nichts Merkwürdiges passiert." „Nein, habt ihr nicht", widersprach ich. „Ich war der Einzige, der davon probiert hat. Dann hat Tante Sylvie die schwarzen Flocken in den Ausguss gekippt. Weißt du noch? Sie wollte nicht mal einen Löffel davon testen. Einfach weggeworfen hat sie das Zeug. Und danach habt ihr dann alle Eis gegessen." „Aber warum sollte Tante Sylvie dich mit einem Fluch belegen?", fragte Kevin zweifelnd. „Weil sie Leute nicht leiden kann, die mit dem Essen pingelig sind!", rief ich aus. „Das ist doch lächerlich!", schnaubte Lisa empört. „Ach, ja? Und wie würdest du dir dann bitte schön erklären, was da mit mir passiert?" „Keine Ahnung, aber Tante Sylvie hat bestimmt nichts damit zu tun", behauptete sie. „Hat sie doch! Sie hat mich mit einem Fluch belegt. Das müsst ihr mir glauben." Frustriert knallte ich meine flache Hand mit voller Wucht auf den Tisch, und ratschte mit der Hand an der scharfen Kante einer Chipstüte entlang. „Vorsicht, Sam. Du hast dich geschnitten", sagte Kevin und zeigte auf meine Hand. „Das ist mir piepegal!", rief ich aufgebracht. „Ich stehe unter einem Fluch. Kapiert ihr das denn nicht?" „Jetzt sieh dir doch mal deine Hand an!", wiederholte Kevin mit belegter Stimme. „Hilfe!", kreischte Lisa, deren Augen größer und größer wurden. Ich warf einen Blick auf meine Hand. Aus einem langen Schnitt lief Blut und tropfte auf den Tisch. Schwarzes Blut.
KAPITEL 16 „Schwarzes Blut!", stieß ich hervor. „Ich habe schwarzes Blut!" „Ist das ... ist das echt?", stotterte Lisa ganz verdattert. „Natürlich ist das echt!", rief ich. Hastig schnappte ich mir eine Serviette vom Tisch und presste sie auf meine Hand. Die Serviette saugte das Blut auf und verfärbte sich augenblicklich tief schwarz. „Aber ... aber warum ist es nicht rot?", fragte Lisa mit zitternder Stimme. „Das weiß ich doch nicht", rief ich genervt. „Irgendetwas – oder irgendwer muss es gefärbt haben." „Iiih!", quiekte sie entsetzt, als ich die Serviette wieder wegnahm. „Glaubt ihr mir jetzt?", fragte ich. „Irgendetwas Merkwürdiges geht hier vor. Irgendetwas sehr Merkwürdiges! Und es hat angefangen, nachdem ich diese schwarzen Flocken gegessen habe." „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Tante Sylvie etwas damit zu tun hat", protestierte Lisa. „Sie würde doch nie jemandem was Schlimmes tun." Kevin nickte zustimmend und fügte hinzu: „Aber ich wette, sie kann rausfinden, was mit dir los ist. Sie kennt sich schließlich aus mit sonderbaren Dingen." „Stimmt", dachte ich bitter. „Zum Beispiel, wie man jemanden verhext." Düster blickte ich hinunter auf meine Hand. Immer noch tropfte Blut aus der Wunde. Frisches, schwarzes Blut. „Ich gehe jetzt nach Hause", sagte ich. „Meine Eltern sollten endlich über die Sache Bescheid wissen. Ich muss ihnen davon erzählen, bevor es zu spät ist." Dann wickelte ich mir noch eine Serviette um die Hand, schnappte mir meinen Rucksack und rannte den ganzen Weg nach Hause.
„Mum! Mum!", rief ich, kaum dass ich durch die Haustür war. „Komm schnell!" Doch nur Fred kam angetrottet, um mich zu begrüßen. Er schnüffelte neugierig an meiner verletzten Hand und wich dann knurrend zurück. „Mum! Wo bist du? Ich brauche dich." Doch meine Mutter war offenbar nicht zu Hause. Ich raste in die Küche. Dort hing Dads Telefonnummer bei der Arbeit an unserer Pinnwand. Als ich in seinem Büro anrief, sagte mir der Mann, der an den Apparat ging, mein Vater würde auswärts Mittag essen. Was sollte ich jetzt bloß tun? Ich wusste nicht, wo Mum war. Und ich konnte auch nicht warten, bis Dad vom Mittagessen zurück war – schließlich hatte ich keine Ahnung, wie lange man mit schwarzem Blut überleben konnte. Ein Arzt! Genau, das war die Lösung – ich würde einen Arzt anrufen. Ich blätterte Mums Telefonregister durch und sah mir jede Seite gründlich an. Aber ich konnte keinen einzigen Arzt darin finden – nur die Nummer von Dr. Stone, Freds Tierarzt. Sollte ich etwa zum Tierarzt gehen? Ja. Ich hatte keine andere Wahl. Als ich aus dem Haus flitzte, stieß ich mit Kevin und Lisa zusammen. „Was macht ihr denn hier?", fragte ich verdutzt. „Wir sind gekommen, um nach dir zu sehen", antwortete Kevin. „Wo willst du denn hin?" „Zu Dr. Stone", sagte ich. „Ist was mit Fred?", fragte Lisa besorgt und hielt nach meinem Collie Ausschau. „Ich ... ich gehe nicht wegen Fred hin. Sondern, äh ... meinetwegen." „Du willst zum Tierarzt?", rief Lisa ungläubig. „Das ist doch lächerlich!" „Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll", entgegnete ich hitzig. „Mum ist nicht zu Hause, Dad ist beim Mittagessen, und ich konnte in unserem Telefonregister keine einzige Telefonnummer
von einem richtigen Arzt finden. Mein Blut ist nämlich immer noch schwarz." Ich hielt meine Hand hoch, um es ihnen zu zeigen. „Kommt überhaupt nicht infrage!", protestierte Kevin und nahm mich am Arm. „Du wirst nicht zum Tierarzt gehen. Du kommst mit zu uns." „Ich gehe auf keinen Fall mit zu euch nach Hause!", widersprach ich. „Mit dir stimmt tatsächlich irgendwas nicht, Sam", sagte Lisa. „Und Tante Sylvie wird bestimmt wissen, was zu tun ist." „Sie hat schon genug getan!", brüllte ich unbeherrscht los. „Was hältst du davon, wenn wir uns in ihr Zimmer schleichen und ihre Sachen durchsuchen. Vielleicht finden wir dabei irgendwas über diesen komischen Fluch mit den schwarzen Flocken", schlug Kevin vor und rollte bei dem Wort Fluch übertrieben mit den Augen. Ich dachte einen Moment darüber nach. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Vielleicht würden wir in ihrem Zimmer wirklich einen Gegenzauber finden. Dr. Stone würde sich als Tierarzt mit solchen Dingen garantiert nicht besonders gut auskennen. „Okay." Ich gab nach. „Aber Tante Sylvie darf auf keinen Fall mitkriegen, dass ich da bin. Wir müssen uns vorsichtig ins Haus schleichen." Damit waren Kevin und Lisa einverstanden. Während wir die Fear Street entlanggingen, fiel mir plötzlich ein riesiger Ahornbaum ins Auge, der in einem der Vorgärten stand. Ich hatte noch nie einen so großen Baum gesehen. Seine Zweige überragten alle Häuser im Umkreis. „Wie lange der wohl schon hier steht?", murmelte ich nachdenklich. „Vielleicht eine Million Jahre", sagte Lisa. Ich blickte an dem großen Baum hinauf, dessen rote und goldene Blätter sanft zu Boden schwebten. „Ich frage mich, warum er bis jetzt noch niemandem aufgefallen ist." „Warum sollte irgendjemandem ein ganz gewöhnlicher Ahornbaum auffallen?", erwiderte Kevin verdutzt. „Die schauen doch alle gleich aus."
„Dieses Prachtexemplar ist ja wohl kaum zu übersehen", schnaubte Lisa. „Wetten, der ist mehr als zehn Meter hoch?" Ich blieb einen Moment am Gartentor stehen. Dann machte ich es auf und trat in den Vorgarten. Sehnsüchtig blickte ich zu Boden. „Sam, was starrst du denn da an?", fragte Kevin alarmiert. „Die Blätter", antwortete ich. „Die sehen so lecker aus." Ich sank auf die Knie und fing an, mir gierig die roten und goldenen Blätter in den Mund zu schieben. Eine Hand voll nach der anderen klaubte ich vom Boden auf und stopfte sie mir in den Mund. Sie schmeckten trockener als Sand, aber ich konnte einfach nicht aufhören. „Sam!", rief Kevin aufgebracht. „Steh auf!" „Wir müssen ihn irgendwie davon abhalten!", kreischte Lisa. „Wir müssen irgendwas tun!" Kevin und Lisa packten mich jeder an einem Arm und versuchten, mich von den Blättern wegzuziehen. „Lasst mich los!", schrie ich wütend. „Ich muss diese Blätter essen!" Lisa umklammerte meinen Hals mit einem ihrer Karategriffe und zog mich weg. „Bitte, nur noch ein einziges Blatt", bettelte ich. „Nur eins." „Glaub ihm kein Wort, Lisa!", rief Kevin. „Ich hab gesehen, wie er den Kleister weggeputzt hat. Sobald er einmal angefangen hat, kann er nicht wieder aufhören. Wenn du ihn jetzt loslässt, wird er alle Bäume in der Fear Street kahl fressen." Mit vereinten Kräften schleppten mich die beiden zurück auf den Bürgersteig. Ich atmete tief durch. „Danke. Jetzt bin ich wieder okay", sagte ich zu ihnen. „Mann, aber du brauchst echt Hilfe", meinte Lisa kopfschüttelnd. „Das war ja widerlich, Sam. Richtig widerlich!" Ich pulte mir ein Stückchen Blatt aus den Zähnen. „Weiß ich", stöhnte ich. Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, musste ich wieder an Tante Sylvie denken. Mir fiel wieder die schreckliche Geschichte ein, die sie am ersten Abend erzählt hatte – von den Jungen, die sich wahllos mit allem voll gestopft hatten, bis sie platzten.
Ich sah ihr spöttisches Lachen vor mir. Hörte ihren bösen Singsang. Ich beschloss, lieber nach Hause zu gehen. „Oh, nein. Das wirst du nicht tun." Kevin zog mich am Ärmel zurück, als ich mich umdrehte und in die andere Richtung marschieren wollte. „Wir gehen zu uns, schon vergessen?" Entschlossen zerrte Kevin mich weiter. Doch als wir an Mrs Kowalskis Vorgarten vorbeikamen, riss ich mich los und stürzte mich mit einem Hechtsprung mitten in ihr gepflegtes Blumenbeet. „Sam, bitte. Keine Blätter mehr!", rief Lisa. Nein, keine Blätter, Lisa. Erde! Dunkle, schwere, feuchte Erde. Gierig warf ich mich auf den Boden. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, die Erde mit meinen Händen aufzuschaufeln. Stattdessen beugte ich meinen Kopf hinunter – und leckte sie mit der Zunge auf. Hmmm, köstliche Erde. „Oh, neiiin!", hörte ich Lisa entsetzt stöhnen. Aber ich achtete nicht weiter darauf, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, mit meinem Kopf im Dreck zu wühlen. Dabei fiel mein Blick auf eine Chrysantheme. Ein hübsches, gelbes Exemplar. Ich knickte den Stängel ab und schob mir die Blume in den Mund. Und dann entdeckte ich einen Regenwurm. Einen dicken, saftigen Regenwurm. Ich schnappte ihn mir, machte den Mund auf und ließ ihn einen Moment über meiner wartenden Zunge baumeln. Und happs, im nächsten Moment hatte ich ihn schon im Ganzen verschluckt. Gierig wühlte ich in der Erde nach dem nächsten, und dann wurde um mich herum alles schwarz.
KAPITEL 17 „Hey! Was ist denn jetzt los?", schrie ich erschrocken auf und strampelte mit Armen und Beinen. „Halt still, Sam", befahl Lisa mit strenger Stimme. „Ich habe dir nur meine Jacke über den Kopf geworfen. Das war die einzige Möglichkeit, um dich zum Aufhören zu bringen." Sie und Kevin hakten mich mit festem Griff unter und zerrten mich aus dem Blumenbeet. Den Rest des Weges bis zu ihrem Haus lotsten sie mich mit der Jacke über dem Kopf den Bürgersteig entlang. „Alles in Ordnung, Sam?", fragte Lisa von Zeit zu Zeit. „Nein, ist es nicht. Nehmt endlich dieses Ding weg! Und zwar sofort!" „Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten, Sam", sagte Kevin mit beruhigender Stimme. „Dann haben wir nämlich keine Kontrolle mehr über dich. Tut mir Leid, Kumpel." Im Grunde genommen konnte ich ihnen keinen Vorwurf machen. „Ist schon okay", erwiderte ich seufzend. „Solange ich die Jacke über dem Kopf habe, ist mir wenigstens nicht danach, Erde zu essen. Ich schätze, wenn ich sie nicht sehe, habe ich auch nicht den Drang, sie mir in den Mund zu stopfen." Ich konnte es kaum noch erwarten, zum Haus der Sullivans zu kommen. Mehr als alles andere brauchte ich im Moment ein Glas Wasser, um den säuerlichen Geschmack der Erde aus meinem Mund zu vertreiben. Igitt! Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass ich wirklich und wahrhaftig einen Wurm runtergeschluckt hatte. „Hoffentlich finden wir einen Gegenzauber in Tante Sylvies Zimmer", betete ich im Stillen. „Wir müssen einfach einen finden." „Okay, da wären wir, Sam." Lisa zog ihre Jacke mit einer schwungvollen Bewegung von meinem Kopf. Blinzelnd schaute
ich in das helle Licht im Flur der Sullivans. Dann sah ich mich plötzlich im Spiegel, der neben der Garderobe hing. Meine Haare waren schmutzverkrustet, und Erde klebte an meinen Wangen, meiner Nase und meinen Lippen. Ich sah furchtbar aus! „Irgendjemand zu Hause?", rief Kevin laut. „Was machst du denn da?" Erschrocken legte ich ihm meine dreckige Hand auf den Mund. „Ich hab dir doch vorhin gesagt, dass Tante Sylvie nicht mitkriegen soll, dass ich hier bin." Kevin schob meine Hand weg und verzog angeekelt das Gesicht. „Hey, entspann dich, Sam. Ich wollte mich doch nur vergewissern, dass sie weg ist, sonst nichts." Tante Sylvie antwortete nicht. Und auch sonst niemand. „Na, kommt." Kevin winkte uns zur Treppe. „Gehen wir rauf." Tante Sylvies Zimmer sah noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Ihre Schlafmatte lag mitten auf dem Boden, die uralte Medizinmaske hing an der Wand, und der Traumfänger baumelte von der Decke und bewegte sich sachte hin und her. Die Kristalle waren feinsäuberlich auf der Kommode aufgereiht. „Wo sollen wir zuerst nachsehen?", fragte ich. „Nehmen wir uns die Bücher vor", meinte Kevin. „Vielleicht steht irgendwas darüber drin, was mit dir passiert ist." Ich schaute mich im Zimmer um. „Ich sehe hier aber nirgendwo Bücher." „Sie sind hier drin", sagte Kevin. Er öffnete die Tür eines Wandschranks und knipste das Licht darin an. Sämtliche Wände waren mit Regalen bedeckt. Ich nahm ein paar Bücher heraus. „Na gut, dann fangen wir mal an zu lesen", sagte ich seufzend und drückte Kevin und Lisa jeweils ein Exemplar in die Hand. „Vielleicht finden wir in einem davon etwas über den Fluch mit den schwarzen Flocken." Kevin las den Titel seines Buches laut vor: „Du brauchst nicht zu flüstern – wie man sich mit den Toten unterhält." Dann war Lisa an der Reihe: „Kräuter und Beeren", murmelte sie. Meins hieß: Die Zauberkraft der Gewürze. „Seht mal, Leute!", rief ich. „Ich wette, in diesem hier steht etwas über mein Problem."
Aufgeregt blätterte ich die Seiten durch. Aber alles, was ich fand, waren Rezepte und Ratschläge für alle Arten von Gebrechen. Quälende Rückenschmerzen, verstopfte Nebenhöhlen, trockener Husten – für jede Krankheit, die man sich nur vorstellen konnte, war ein Heilmittel genannt. Langsam wurde mir klar, dass ich hier wohl doch nicht finden würde, was ich suchte, denn in diesem Buch wurde nur erklärt, wie man Menschen gesund machte – aber nicht, wie man sie mit einem Fluch belegte, geschweige denn ihn von ihnen nahm. Kevin und Lisa nahmen in der Zwischenzeit die anderen Bücher unter die Lupe. „Seht ihr da vielleicht irgendwas über Magie oder Zaubersprüche? Es könnte auch etwas über Gifte sein", sagte ich. „Bis jetzt noch nicht", rief Lisa zurück. „Gut, aber haltet weiter danach Ausschau!", bat ich die beiden. Während ich auf der Suche nach einem Gegenzauber für den Fluch durch das Zimmer wanderte, fiel mein Blick auf die Maske an der Wand. Auf die unheimliche, bemalte Maske. In diesem Moment fiel mir wieder ein, was Kevin und Lisa mir darüber erzählt hatten. Sie hatten doch behauptet, dieses scheußliche Ding würde angeblich die Bazillen aus dem Körper eines kranken Menschen vertreiben und ihn wieder gesund machen. Aber wie sollte das funktionieren? Musste der Kranke sie aufsetzen? Oder musste der Medizinmann sie tragen und dazu irgendeinen Singsang von sich geben? Ich hatte keine Ahnung, aber ich beschloss, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht würde mir dieser komische Zauber ja helfen. Vorsichtig nahm ich die Maske von der Wand. Ich setzte sie auf – und wartete. Durch die Augenlöcher konnte ich sehen, und atmen konnte ich durch die Mundöffnung. Ich fühlte mich kein bisschen anders als vorher. Mit der Maske auf dem Gesicht streifte ich weiter durchs Zimmer. Ich fuhr mit den Fingern sanft über die Federn des Traumfängers, berührte Tante Sylvies Kristalle und entdeckte dabei ein Döschen mit Gesichtscreme, das ebenfalls auf der Kommode stand.
Ich schraubte den Deckel ab und tauchte meine Finger in die zarte, weiße Creme. Dann leckte ich sie vorsichtig ab. Hmmm. So weich. So lecker. Wieder fuhr ich mit den Fingern durch die Creme und holte mir noch eine Portion, die ich genüsslich verschlang. „Ahh!", schrie Lisa auf. Kevin fuhr herum und starrte mich an. „Das ist doch nur Sam unter der Maske, Lisa. Krieg dich wieder ein." „Es geht doch nicht um die Maske, du Idiot!", rief sie wütend. „Sam isst gerade Tante Sylvies wertvolle Gesichtscreme auf." Sofort warfen die beiden mir wieder die Jacke über den Kopf. „Wir müssen ihn hier rausbringen, bevor er die ganze Dose wegnascht", sagte Kevin. Sie zerrten mich aus Tante Sylvies Zimmer und schleppten mich den Flur entlang und die Treppe hinunter. Erst als wir die Küche erreicht hatten, ließen sie mich wieder los. Ich schüttelte die Jacke ab. „Puh, da wird Tante Sylvie aber sauer sein", murmelte Kevin mit betretenem Gesicht. „Verdammt sauer." „Das glaube ich auch", sagte Lisa, die genauso bedrückt aussah wie er. „Diese Creme ist zweihundert Jahre alt. Tante Sylvie hat uns erzählt, sie hätte magische Kräfte, die ewige Jugend und Schönheit verleihen. Und es war ihre letzte Dose." „Es war ihre einzige", korrigierte Kevin seine Schwester. „Wie könnt ihr euch bloß über diese blöde Gesichtscreme den Kopf zerbrechen?", rief ich mit überschnappender Stimme. „Eure Tante hat mit bösen Mächten zu tun. Sie hat mich mit einem Fluch belegt!" Aber Lisa hörte mir gar nicht zu. Sie schaute über meine Schulter – auf irgendetwas, das sich draußen auf der anderen Seite der Hintertür befand. Ich drehte mich um und ließ meinen Blick über den Garten wandern. Blumen, Bäume, Sträucher, eine hölzerne Bank. Und dann sah ich sie: Tante Sylvie. Lisa nahm meine Hand. „Du musst ihr erzählen, was mit dir los ist. Sie kann dir bestimmt helfen!", bat sie. „Nein!", wehrte ich ab. „Kommt überhaupt nicht infrage."
Aber trotz meiner Proteste zogen Kevin und Lisa mich durch die Hintertür. Auf der Veranda blieb ich wie angewurzelt stehen und schnappte nach Luft. Tante Sylvie saß auf dem Rasen – mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen. Sechs schwarze Schlangen ringelten sich um ihren Hals, ihre Arme, ihre Beine. Voller Entsetzen sah ich zu, wie sie sich um Tante Sylvies Körper wanden, während ihre langen, gespaltenen Zungen vor und zurück schnellten. Tante Sylvie wiegte sich langsam hin und her. „Ondu ... ondu ... ondu ...", wiederholte sie in einem merkwürdigen Singsang. Mit den Händen wedelte sie über einem großen Eisenkessel herum, in dem eine dunkelbraune Flüssigkeit brodelte. Dann nahm sie eine Holzmaske vom Boden, deren schwarze Lippen zu einem widerlichen, bösartigen Grinsen verzogen waren, und setzte sie auf. „Sie ist eine Hexe!", schrie ich. „Tante ... Tante Sylvie", stotterte Lisa. „Stimmt das? Bist du eine Hexe?" Langsam setzte ihre Tante die Maske wieder ab. Ihre Augenlider hoben sich flatternd, und sie sah uns mit starrem Blick an. „Ja, mein Schatz. Das bin ich."
KAPITEL 18 Tante Sylvie stand langsam auf. Es sah aus, als würde sie dabei von einer unsichtbaren Kraft hochgezogen. Während sie in unheimlichem Singsang zu den Schlangen sprach, schwankte sie sachte vor und zurück. Die Schlangen, die sich um ihren Arm geschlungen hatten, glitten nun mit einem trockenen Rascheln über ihren Körper. Tante Sylvie streichelte sie zärtlich. „Odru kan toka", gurrte sie ihnen zu. Die Schlange, die um ihren Hals lag, wiegte sich geschmeidig im Rhythmus der seltsamen Worte. Tante Sylvie küsste sie zärtlich auf den Kopf. „Odum ruba kantan", murmelte sie mit sanfter, monotoner Stimme. „Odum ruba kantan haru." „W-was bedeutet das?", stotterte Lisa. „Pssst! Nicht reden", flüsterte Tante Sylvie ihr zu und legte einen Finger auf die Lippen. „Sonst brichst du den Zauber." Nach einer Weile nahm sie die Schlangen vorsichtig von ihren Armen und Beinen ab und setzte sie in einen geschlossenen Korb, der hinter ihr stand. Nur diejenige, die sich um ihren Hals geschlungen hatte, blieb an ihrem Platz. „Also, Kinder", sagte Tante Sylvie dann und wandte sich zu uns um. „Jetzt könnt ihr mir eure Fragen stellen." „Was war das eben für eine Sprache?", erkundigte sich Kevin neugierig. „Die gemeinsame Sprache aller Zauberer und Hexen", antwortete Tante Sylvie mit einem seltsamen Lächeln und küsste die Schlange noch einmal auf den Kopf. Dann kam sie langsam auf mich zu. „Sam, soll ich dich vielleicht mit Rabia Wan bekannt machen?", fragte sie und strich mit zarten Bewegungen über den schuppigen Leib der Schlange. „Ich glaube nicht, dass du ihr bis jetzt schon begegnet bist."
Tante Sylvie kam näher und näher. Bis sie nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war. Dann packte sie die Schlange im Nacken und hielt sie mir mit einer ruckartigen Bewegung direkt vors Gesicht. Rabia Wans gegabelte Zunge schoss hervor und traf beinahe meine Wange. Ich sprang zur Seite und schrie auf. „Wie ich sehe, bist du nach wie vor ein wenig nervös, Sam." Tante Sylvie lachte. „Zittern deine Hände immer noch? Vielleicht sollte ich es lieber nochmal mit einem anderen Zauberspruch probieren." „Fassen Sie mich nicht an!" Ich wich ein Stück zurück. „Kommen Sie mir bloß nicht zu nahe!" „Bist du wirklich eine Hexe?", fragte Lisa mit gepresster Stimme. „Natürlich nicht." Diesmal lachte Tante Sylvie noch lauter. „Aber der Eingeborenenstamm, bei dem ich in Brasilien gelebt habe, hat mich für eine gehalten. Von meiner Nummer mit der Schlangenbeschwörung konnten sie gar nicht genug kriegen. Wirklich schade, dass Sam solche Angst vor Schlangen hat. Es tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe", sagte sie an mich gewandt. „Das ist nur so was wie eine Zirkusnummer?", fragte Kevin verblüfft. „Es war also nicht echt?" „Ach, was. Das kann jeder lernen." Tante Sylvie nahm die Schlange von ihrem Hals und setzte sie zu den anderen in den Korb. „Mir hat es ein begnadeter Schlangenbeschwörer in Ceylon beigebracht – mit diesen sechs kleinen Schönheiten hier. Sie sind völlig harmlos." „Siehst du, Sam!" Kevin drehte sich triumphierend zu mir um. „Tante Sylvie ist keine Hexe. Und sie hat dich auch nicht verflucht!" „Sam!", rief Tante Sylvie erstaunt. „Glaubst du etwa allen Ernstes, ich hätte dich mit einem Fluch belegt? Wie kommst du nur auf so eine Idee?" „Natürlich haben Sie das getan", stieß ich hervor. „Ich weiß es genau! Und zwar mit diesen kleinen schwarzen Flocken." „Kleine schwarze Flocken?" Tante Sylvie tat so, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich sprach. „Genau. Diese komischen Dinger, die Sie in meinen Milchreis getan haben", sagte ich anklagend. „Seit ich die gegessen habe,
kriege ich nichts Weißes mehr runter. Meine Lieblingsgerichte und alle normalen Lebensmittel schmecken für mich absolut widerlich, aber nicht solche ekligen Dinge wie Regenwürmer und Flöhe und Schwämme ..." „Sam", unterbrach ihn Tante Sylvie, „warum sollte ich wollen, dass du Schwämme isst? Kannst du mir das vielleicht mal erklären?" „Weil Sie verrückt sind – und weil Sie was gegen mich haben!", platzte ich heraus. „Das ist doch Unsinn!" Tante Sylvie schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht fällt mir ja irgendetwas ein, womit ich deinen seltsamen Appetit wieder rückgängig machen kann. Lass mich mal überlegen." „Bleiben Sie mir bloß vom Hals!", schrie ich gellend. „Ich weiß genau, was Sie vorhaben. Sie werden wieder einen von Ihren komischen Zaubersprüchen singen, damit ich nicht mehr normal sprechen kann. Damit ich niemandem verraten kann, was Sie mit mir angestellt haben!" Wieder schüttelte Tante Sylvie mitleidig den Kopf. „Armer Sani", sagte sie. „Selbstverständlich kannst du alles sagen, was du möchtest. Ich befürchte nur, dass dir niemand deine verrückten Geschichten abnimmt." „Kannst du Sam nicht helfen?", bat Lisa ihre Tante. „Hast du vielleicht eine Ahnung, was mit ihm los sein könnte?" „Nun, eventuell hat er eine Allergie. Die lösen manchmal die seltsamsten Symptome aus. Möglicherweise leidet er auch an einem Virus." Tante Sylvie drehte sich zu mir um. „Auf jeden Fall solltest du dich unbedingt von einem Arzt untersuchen lassen, Sam. So kann das schließlich nicht weitergehen. Wer weiß, was als Nächstes passiert." Den letzten Satz sagte sie in einem so merkwürdigen Ton, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Ich drehte mich um, sprang über den Zaun und rannte wie ein Wilder davon. Nur weg vom Haus der Sullivans – bevor Tante Sylvie mir noch mehr antun konnte. Als ich in unsere Straße einbog, wurde ich etwas langsamer. Mir blieb auch gar nichts anderes übrig.
Irgendwas stimmte nicht mit meinen Füßen – sie kribbelten so komisch. Nach ein paar Schritten spürte ich das unangenehme Kribbeln auch in meinen Händen. Ich blickte auf meine Finger hinunter – und schnappte ungläubig nach Luft. Sie schwollen langsam an. Voller Entsetzen sah ich zu, wie sie dicker und dicker wurden. Vor Schreck lief ich wieder schneller. Das seltsame Kribbeln hatte sich jetzt bis in meine Handgelenke ausgebreitet. Auch meine Arme wurden immer praller, als würden sie von einer unsichtbaren Macht aufgepumpt. Schon nach kurzer Zeit spannten die Ärmel meines Hemdes. Und dann hörte ich ein lautes, reißendes Geräusch, als meine angeschwollenen Arme den Stoff sprengten. „Hilfe!", schrie ich verzweifelt. „Helft mir doch! Der Fluch – er breitet sich immer weiter aus!"
KAPITEL 19 Mit letzter Kraft schwankte ich auf unser Haus zu. Die Nähte meiner Jeans waren unter dem Druck meiner Beine, die zu enormem Umfang angeschwollen waren, bis zum Zerreißen gespannt. „Mum! Dad! Bitte, helft mir doch!" Vor der Haustür brach ich japsend und keuchend zusammen. In diesem Moment bog mein Vater mit dem Wagen in die Auffahrt ein. Kaum hatte er mich entdeckt, stieg er hastig aus und rannte zu mir hinüber. „Dad, mit mir stimmt irgendwas nicht", stöhnte ich. „Meine Arme ... meine Beine ... Ich habe das Gefühl, als würde ich jeden Moment explodieren!" Nachdem mein Vater mich genauer betrachtet hatte, runzelte er besorgt die Stirn. „Keine Bange, Sam", sagte er beruhigend, half mir auf und führte mich ins Wohnzimmer. „Das wird alles wieder in Ordnung kommen." „Wird es nicht", widersprach ich verzweifelt. „Du weißt doch gar nicht, worum es hier geht. Mir sind lauter merkwürdige Dinge passiert, und ich hab mich mit den verrücktesten Sachen voll gestopft." „Wie meinst du das, Sam? Was hast du gegessen?" „Na ja, Schwämme und Blätter und Kleister und Erde und Würmer", sprudelte ich hervor. „Sam!" Meine Mutter, die gerade zur Tür hereinkam, riss erschrocken den Mund auf, als sie meinen angeschwollenen Körper sah. „Was ist denn mit ihm los?", fragte sie meinen Vater besorgt. „Ibn krz vrm Plodirn!", rief ich in Panik. Mum schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich nicht. Du bist was, Sam?" Ich versuchte, ihr zu sagen, dass ich kurz vorm Explodieren war, aber auch meine Zunge schwoll immer mehr an, sodass ich nicht mehr richtig reden konnte.
Dad trug mich durch den Flur in die Küche, dicht gefolgt von Mum. „Der arme Sam ist zu Tode erschrocken", sagte Dad zu ihr. „Wsis mimir?", fragte ich angstvoll, während ich wieder an Tante Sylvies seltsame Geschichte denken musste. An die Jungen, die schließlich geplatzt waren ... Dad setzte mich vorsichtig auf einen Küchenstuhl. „Schau mal", rief ich und zeigte auf meine Hand. Der Schnitt hatte sich durch den Druck wieder geöffnet. „Schwarz!" „Ja, sieh doch nur." Mum seufzte tief auf. „Er hat sich geschnitten. Es blutet ziemlich stark." Dad untersuchte vorsichtig meine Hand. „Schwarz! Vergiftet!" „Beruhige dich, Sam." Dad tätschelte mir liebevoll den Kopf. „Das haben wir gleich. Ich weiß, was zu tun ist. Lass uns in den Keller gehen." Dad wusste, was zu tun war? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Woher sollte er wissen, wie man einen Fluch von jemandem nahm? Ich wollte ihn fragen, aber ich konnte nicht mehr sprechen. „Ich wette, er hat etwas Verkehrtes gegessen ...", begann Dad. Ja! Ich nickte heftig mit dem Kopf. Das ist es! Volltreffer! „Irgendetwas zu stark Gewürztes vielleicht", fuhr er fort. „Es muss offenbar einen Kurzschluss in seinem Verdauungssystem ausgelöst haben. Wahrscheinlich kommt daher auch sein Heißhunger auf völlig ungenießbare Dinge." Kurzschluss?! Wovon redete er da? Mein Vater hob mich hoch, trug mich in den Keller und setzte mich ächzend auf seine Werkbank. „Ein paar neue Mikrochips, und er ist wieder ganz der Alte", sagte er schwer atmend zu meiner Mutter, die uns mit sorgenvollem Gesicht gefolgt war. Mikrochips? Was sollte das denn jetzt wieder heißen? Dad holte seinen Werkzeugkasten vom Regal. „Wenn ich schon mal dabei bin, kann ich auch gleich sein Verdauungssystem neu einstellen." Entsetzt sah ich zu, wie er einen großen Schraubenzieher aus seiner Werkzeugkiste nahm und damit auf mich zukam.
„Was hatte er mit mir vor?", fragte ich mich angstvoll. Meine Mutter schüttelte betreten den Kopf. „Ich hätte besser aufpassen müssen", sagte sie und seufzte. „Ich hätte gleich merken müssen, dass etwas nicht in Ordnung ist, als Sam mir sagte, dass er Probleme mit dem Sprechen hat." „Ach, mach dir deswegen keine Vorwürfe", sagte Dad. „Solche kleinen Pannen kommen eben ab und zu vor." Pannen? Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Verzweifelt drehte ich mich zu Mum um, die Augen vor Angst weit aufgerissen. „Was redet er denn da für einen Unsinn?", versuchte ich zu rufen, doch ich brachte kein einziges Wort heraus. „Dabei war er so aufgeregt, als er es mir erzählt hat." Mum seufzte noch einmal. „Sam ist im Handumdrehen wieder so gut wie neu, du wirst schon sehen", versicherte ihr Dad. „Je mehr er von diesen ungenießbaren Dingen gegessen hat, desto mehr Schaden hat er natürlich angerichtet – das ist sicher auch der Grund für seine Sprachprobleme." „Und es würde ebenfalls dieses merkwürdige Anschwellen seiner Gliedmaßen erklären, nicht wahr?", fügte Mum hinzu. „Worüber reden sie da bloß?", dachte ich völlig entgeistert. „Und warum tun sie so, als ob ich Luft für sie wäre?" „Du hast wahrscheinlich Recht", sagte Dad und nickte. „Am besten setze ich ihm gleich ein neues Verdauungssystem ein, damit so etwas nicht mehr vorkommt." Er baute sich mit dem Schraubenzieher in der Hand vor mir auf und lächelte Mum aufmunternd zu. „Bis Sam ins Bett muss, ist alles wieder repariert", versicherte er ihr. „In ein, zwei Stunden wird deine Lieblingspuppe wieder ganz normal funktionieren."
KAPITEL 20 „Ich werde auf keinen Fall einen von diesen blöden Hüten zum Erntedankfest aufsetzen", maulte Kevin ein paar Tage später beim Mittagessen in der Schule und schnitt eine Grimasse. „Du musst so einen Hut aufsetzen", sagte ich und biss von meinem Sandwich ab. „Mrs Munson hat sie extra für uns gebastelt. Außerdem wirst du nicht der Einzige sein, der damit bescheuert aussieht. Wir müssen schließlich alle einen tragen." „Du hast ja Recht", maulte Kevin. Er seufzte resigniert und zuckte mit den Schultern. „Hallo, Jungs!", sagte Lisa und ließ sich neben uns auf einen Stuhl fallen. „Mensch, Kevin, das ist ja schon deine vierte Tüte Chips!" Sie zeigte auf die drei leeren Packungen auf dem Tisch. „Wenn du noch mehr davon isst, wirst du bestimmt gleich explodieren." „Werd ich nicht", widersprach Kevin. „Dafür habe ich auch mein Sandwich verschenkt. Heute Mittag esse ich nur Chips." Lisa wickelte ihr Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich aus. „Wie fühlst du dich, Sam? Dir scheint's ja wieder besser zu gehen." „Stimmt", sagte ich. „Viel besser. Tante Sylvie hatte Recht. Es muss ein Virus oder so was Ähnliches gewesen sein." „Was hast du denn da auf deinem Sandwich?", fragte Lisa und beugte sich neugierig über den Tisch. „Hackfleischbällchen", antwortete ich. „Hackfleischbällchen mit Ketschup auf Roggenbrot." „Du isst Fleisch?" Lisas Augenbrauen schössen erstaunt in die Höhe. „Und Ketschup und dunkles Brot?" „Klar", sagte ich. „Warum nicht? Ich bin schließlich nicht so verrückt wie gewisse andere Leute, die jeden Tag ein Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich zum Mittagessen verdrücken. Ich bin genau wie Kevin – ein ganz normaler Junge eben", fügte ich dann noch hinzu, während sich mein Mund zu einem breiten Grinsen verzog.