Marjaleena Lembcke
In Afrika war er nie Roman
Nagel & Kimche
Die Autorin dankt dem Ministerium für Städtebau und Wo...
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Marjaleena Lembcke
In Afrika war er nie Roman
Nagel & Kimche
Die Autorin dankt dem Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein Westfalen. © 2003 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München Wien
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa, Werbeagentur, CH-Zug Foto: © Doris Künster Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann Druck und Bindung: Friedrich Pustet Printed in Germany www.nagel-kimche.ch ISBN 3-312-00938-3
Juhanis Freunde finden es etwas seltsam, dass er ständig nach einer Harley-Davidson Ausschau hält. Aber auf genau so einem Ding ist Juhanis Vater Lasse, ein Tangosänger mit begnadeter Stimme, ein Tingler und Windbeutel, vor vier Jahren nach Afrika abgehauen. Eines Tages entdeckt der 13jährige Juhani in der benachbarten Siedlung eine Harley. Schon wieder hofft er, sein Vater sei zurückgekehrt. Schon wieder umsonst. Zum Glück ist da noch Milja, in die er sich verliebt, mit ihren sehr blauen Augen und den sehr hellen Haaren, mit denen sie ein bisschen aussieht wie die finnische Flagge. Mit ihr verbringt er den Sommer bei seinen Großeltern am See. Als das Bild seines Vaters schon langsam verblasst, wird es unerwartet wieder lebendig. Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Kokkola/Finnland geboren und studierte Theaterwissenschaften und Bildhauerei. Seit 1967 lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Münster, Westfalen. Sie schreibt für Kinder und Erwachsene. Für ihre Bücher wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Österreichischen Kinderund Jugendbuchpreis 1999, und nominiert für zahlreiche Preise, 1999 für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Zuletzt bei Nagel & Kimche: Als die Steine noch Vögel waren (1998), Und dahinter das Meer (1999), Abschied vom roten Haus (2000) und Schon vergessen. Eine Schusselgeschichte (2002).
D
er Tag, an dem ich die Harley-Davidson sah und mich in Milja verliebte, war ein Sonntag im Mai. Meine Mutter und ich hatten gefrühstückt, und meine Mutter musste anschließend noch arbeiten. Sie wollte einen der Holzsärge mit weißer Kunstseide ausstatten und fragte mich, ob ich ihr helfen würde. Es war schwierig, die Särge allein mit dem steifen Stoff zu bespannen. Ich nickte, obwohl ich keine Lust hatte. In dem Augenblick schellte es. Mutter seufzte, ich öffnete die Tür. Es war Pentti, mein Freund. »Komm schnell mit!«, rief er aufgeregt. »Bin gleich wieder da!«, rief ich meiner Mutter zu. Ich hatte keine Ahnung, was los war, aber langweiliger als einen Sarg zu bespannen konnte es nicht sein. Ich rannte Pentti hinterher. Er lief wie ein Windhund und ich hatte Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Als ich merkte, wo er hinwollte, blieb ich stehen. »Was sollen wir auf dem Schulhof?« »Komm schon«, rief er ohne stehen zu bleiben. Als wir zum Schulhof kamen, sah ich Milja. Sie war die Fahnenstange bis zur Mitte hochgeklettert und klammerte sich dort fest. Ihr Vater lief um die Fahnenstange und tobte. »Komm runter, komm sofort runter. Ich sollte dich grün und blau prügeln. Komm endlich runter!« Dann blieb er stehen und schrie zu Milja hoch: »Ich will dich nicht mehr sehen! Verschwinde! Verschwindet alle! – Mir ist es egal. Dieses beschissene Leben!« Plötzlich hörte er auf zu brüllen, setzte sich auf den Boden und weinte. Nach einer Weile stand er auf und ging, ohne sich noch einmal nach Milja umzudrehen. Sie kletterte herunter. »Das ist keine Zirkusnummer, ihr braucht nicht so blöd zu glotzen«, sagte sie.
Ich grinste verlegen. Wir standen schweigend an der Fahnenstange. »Du kannst zu uns kommen«, sagte ich nach einer Weile, weil mir nichts anderes einfiel. »Ja, komm mit, wir stecken dich in einen Sarg, dann sind alle deine Sorgen vorbei«, sagte Pentti und lachte. Sie warf ihm einen eisigen Blick zu und sagte zu mir: »Ich habe ein eigenes Zuhause!« Pentti und ich machten uns wieder auf den Weg und Milja ging in die andere Richtung. »Hast du mich deswegen geholt?«, fragte ich Pentti. »Ich dachte, wir müssten sie retten«, sagte er. »Sie kann auf sich selbst aufpassen.« Pentti schüttelte den Kopf. »Bei diesen Typen mit einem Granatsplitter im Hirn weiß man nie, was sie anstellen.« Er meinte Miljas Vater. Milja besuchte die Parallelklasse. Sie war dreizehn wie Pentti und ich auch. Auf dem Schulhof verfolgte ich sie mit den Augen. Ich wollte sehen, mit wem sie sich unterhielt und ob sie schon mit einem Jungen zusammen war. Aber sie stand immer in einer Gruppe von Mädchen und schien sich nichts aus Jungs zu machen. Ich hatte auch noch nichts mit Mädchen zu tun. Wenn ich allein mit einem Mädchen war, wusste ich nie, was ich sagen sollte. »Miljaaa!«, rief jemand laut. Es war Katri, Miljas Schwester. Sie schielte. Besonders, wenn sie aufgeregt war. Katri war oft aufgeregt. Als sie uns eingeholt hatte, wanderte ihr rechtes Auge wild durch die Gegend und das linke suchte irgendeinen uns unbekannten Winkel am Horizont. Sie schniefte, das Wasser tropfte ihr aus den Augen und aus der Nase. »Habt ihr Milja gesehen?«, fragte sie. »Wir wollten sie in einen Sarg stecken, aber sie wollte nicht«, antwortete Pentti.
»Blödmann!«, schnauzte Katri Pentti an. »Sie ist nach Hause gegangen«, sagte ich. »Und Vater?«, fragte sie. »Ist wohl auch unterwegs in die Richtung«, antwortete ich. »Er hat wieder einen Anfall«, sagte Katri. »Er wollte Milja den Hintern versohlen.« »Das hat nicht geklappt«, sagte Pentti. »Dann gehe ich auch nach Hause, vielleicht hat er sich schon wieder beruhigt«, sagte Katri. Wir zuckten die Schultern und setzten unseren Weg fort. Als wir an unserem Haus ankamen, sagte Pentti: »Wäre nicht schlecht, so ein eigenes Holzhaus zu haben, mit einem Garten.« Er grinste. »Und mit so vielen schönen Grabsteinen!« Pentti wohnte mit seiner Familie in einem grauen Mehrfamilienhaus, das Wanzenburg genannt wurde. Auch Milja und Katri wohnten in dem Haus. Ich hielt Pentti die Tür auf, er latschte pfeifend in die Küche und setzte sich an den Tisch, auf dem noch das Frühstücksgeschirr, Brot und Butter standen. Pentti schnitt sich eine Scheibe Brot und schmierte dick Butter drauf. »Fühl dich wie zu Hause«, sagte ich. »Schon kapiert.« Er legte sein Brot auf den Tisch und fragte: »Dürfte ich, bitte, eine Scheibe von eurem Brot essen?« »So viele du willst«, sagte meine Mutter und setzte sich zu Pentti. Sie hatte sich umgezogen. Sie trug das Kostüm, das sie sonst im Büro trug, wenn sie Kunden hatte. Meine Mutter ist groß und sie hält sich sehr gerade. In einem dunklen Kostüm sieht sie stolz und vornehm aus. Einige meiner Freunde sind in ihrer Gegenwart befangen, weil sie mit Leichen zu tun hat. Pentti nicht. Pentti ist nie befangen. »Tag«, sagte er. »Sind die Särge voll?«
Mutter lächelte und antwortete: »Ich habe noch Platz für dich, wenn du rein willst!« Pentti wieherte. »Keine Eile!« »Hier ist ein fürchterliches Chaos«, sagte meine Mutter zu Pentti. Das sagte sie immer allen Besuchern, aber sie änderte nie etwas an dem Durcheinander. Ich nehme an, ihr gefiel es ganz gut, ein Zimmer zu haben, in dem sie sich überhaupt nicht um die Ordnung kümmern musste. Das Büro und die Räume, in denen die Särge aufgestellt wurden, mussten immer sehr sauber und feierlich aussehen. Meine Mutter hatte auch Lippenstift aufgetragen. »Olavi wollte vorbeikommen«, sagte sie zu mir. Meine Mutter und Olavi hatten sich bei einem Arzt kennen gelernt, als sie ihre Rezepte für Insulin abholten. Sie waren beide Diabetiker. Die Augen meiner Mutter glänzten und sie wirkte jung und fröhlich. Sie sah immer fröhlich aus, wenn Olavi sich angemeldet hatte. Ich glaube, sie war in ihn verliebt. Olavi besuchte uns oft und wenn Mutter Probleme mit der Wasserleitung hatte, was im Winter schon mal vorkam, oder eine der Maschinen kaputt war, oder eine Steckdose angebracht werden sollte, erledigte Olavi das für sie, trank eine Tasse Kaffee und plauderte mit ihr. Dann fuhr er zurück zu seiner Frau und seinen sieben Kindern. Pentti erzählte meiner Mutter von Miljas Vater. »Einmal hat er eine Geschichte von einem Lottogewinn erfunden. Er behauptete, er hätte sechs Richtige gehabt, aber Katri habe den Gewinnschein nicht zur Annahmestelle gebracht, sondern Eis für das Geld gekauft. Er erzählte die Geschichte allen Leuten, bis wirklich jeder Mensch seine Geschichte mit dem Lottozettel und dem Erdbeereis kannte und ihm keiner mehr zuhören wollte. Vielleicht hat er die Geschichte gar nicht erfunden, vielleicht ist so etwas wirklich
mal passiert. Er selbst glaubt auf jeden Fall daran. Seine Lottoscheine bringt er jetzt immer persönlich zum Stempeln. Als ich ihn einmal am Kiosk traf, sah er mich traurig an und sagte: ›Was einmal vorkommt, kann auch ein zweites Mal vorkommen. Und dann wird es kein Eisgeld sein!‹ Ein komischer Kauz!« »Wer weiß, wie komisch wir wären, wenn wir im Krieg gewesen wären, und nicht nur eine Menge grausamer Erinnerungen, sondern auch noch einen Granatsplitter im Gehirn hätten. Er hat es nicht leicht. Er kann nichts für die Wahnvorstellungen, die er manchmal hat«, sagte meine Mutter und steckte sich eine Zigarette an.
Olavi klopfte und öffnete die Tür. Ich grinste ihn an und er sagte: »Guten Tag, Juhani! Einen schönen Sonntag wünsche ich. Alles in Ordnung bei euch?« »So weit alles klar«, antwortete ich. Meine Mutter war aufgestanden. Sie fing an den Tisch abzuräumen und sagte: »Wie es hier aussieht!« »Na, gemütlich sieht es aus«, meinte Olavi und setzte sich. »Ich koche mal gleich einen starken Kaffee«, sagte Mutter. »Juhani, holt ihr Jungs ein paar Stück Kuchen?« »Kann sie die Finger nicht von Süßem lassen?« Olavi sah mich an und lächelte. Ich schüttelte den Kopf und Mutter sagte: »Ich muss auch meine kleinen Sünden haben.« »Für mich keinen Kuchen«, sagte Olavi. »Ich bewundere dich«, sagte meine Mutter. »Ist mir bekannt«, lachte Olavi. Mutter wurde rot wie ein junges Mädchen und sagte: »Ich bewundere dich dafür, dass du auf die Sachen verzichten kannst, die dir nicht gut tun.«
Pentti und ich flitzten los. Mit Pentti war ich schon in der Grundschule befreundet. Und seit wir zusammen sind, bewundere ich Pentti, weil er vor nichts und niemandem Angst hat. Meine Mutter fürchtet, dass er einen schlechten Einfluss auf mich hat, weil Pentti die Schule und andere für Eltern wichtige Dinge nicht ernst nimmt. »Olavi hat so liebe Kinder. Deine Freunde haben zu viel Blödsinn im Kopf!«, sagte Mutter einmal. »Die Kinder von Olavi haben auch Blödsinn im Kopf, aber sie behalten es im Kopf, meine Freunde lassen es raus«, antwortete ich. Sie lachte und sagte: »Im Kopf ist mir der Blödsinn lieber. In die Köpfe kann man nicht reingucken. Auch Mütter wollen nicht alles wissen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Als Pentti und ich mit dem Kuchenkarton aus der Bäckerei kamen, fuhr jemand auf einem Motorrad vorbei. Auf einer Harley-Davidson! Ich hatte nie wieder eine gesehen, seit mein Vater mit seiner Harley weggefahren war. Er war der Einzige in der Stadt, der so ein Motorrad besaß, und er war mächtig stolz darauf, hatte mir meine Mutter erzählt. »Das war doch eine Harley?«, fragte ich Pentti. »Kann sein«, meinte er. »Ich hab nicht so genau hingeguckt.«
»Keine Apfelsinentorte da, wir haben Erdbeerkuchen mitgebracht und für mich zwei Schokoladentörtchen«, sagte ich. »Ein Törtchen ist doch für mich!«, rief Pentti. »Stimmt! Hatte ich vergessen!«
Pentti schüttelte den Kopf und meinte ironisch: »Kann man verstehen. Ist ja schon fünf Minuten her!« Wir tranken Kaffee und aßen unseren Kuchen. Ich sagte meiner Mutter kein Wort von der Harley. Wenn es denn eine war. Als Pentti nach Hause gegangen war, setzte ich mich auf einen Grabstein in unserem Garten. Links blühten die Apfelbäume, rechts standen die Grabsteine. Ich war traurig. Meine Gedanken drehten sich um das Motorrad.
I
ch war sieben Jahre alt, als mein Vater die HarleyDavidson kaufte und damit wegfuhr. Ein paar Wochen später erhielt ich eine Karte von ihm. Darauf döste ein Löwe mit einer mächtigen Mähne. Ich steckte ihn mit einer Heftzwecke über meinem Bett an die Wand. Das Löwenbild hängt schon lange nicht mehr in meinem Zimmer. Auch die Karte von Afrika habe ich vor ein paar Jahren zusammengerollt und in den Keller gebracht. Das Foto meines Vaters – er sitzt auf seinem Motorrad – steht noch auf meinem Schreibtisch. Ich habe lange auf ihn gewartet. Ich rannte an die Tür, wenn jemand klopfte. Ich rannte zur Tür, wenn es klingelte. Ich rannte auch zur Tür, wenn niemand klopfte und es gar nicht geschellt hatte, weil ich glaubte, seine Schritte oder seine Stimme gehört zu haben. Besonders an meinem achten Geburtstag wartete ich auf ihn. Während ich wartete, überlegte ich, was er mir wohl mitbringen würde. Meine Mutter war nervös. Sie sah immer auf die Uhr, als hätten mein Vater und sie eine bestimmte Zeit abgemacht, wann er kommen würde. Aber vielleicht ahnte sie schon damals, dass er überhaupt nicht kommen würde. Ich ahnte es nicht. Ich wartete auf ihn. Wenn mich die Kinder in der Schule fragten, wo mein Vater sei, antwortete ich: »In Afrika.« Und wenn sie mich fragten, was er in Afrika macht, sagte ich: »Er singt.« Auch an meinem neunten Geburtstag wartete ich auf ihn. Als es an der Tür klingelte, ging ich langsam hin und öffnete sie. Vor der Tür stand der Postbote und überreichte mir ein Päckchen von meiner Tante. Etwas später klopfte es. Diesmal waren es meine Großeltern, die kamen, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.
»Für deine Mutter ist es sehr schlimm, das mit deinem Vater«, sagte Großmutter zu mir. Aber für mich war es auch schlimm.
Vor drei Jahren stiegen die Eltern meines Vaters aus dem Geschäft aus und meine Mutter übernahm das Beerdigungsinstitut. Früher hatte mein Vater mit seinen Eltern zusammengearbeitet. Er war Steinmetz und er gestaltete Grabsteine. Ein paar von den Steinen stehen noch im Garten. Als meine Mutter und ich in das Haus einzogen, dachte ich: Jetzt kommt er zurück. Wieder lief ich zur Tür, wenn es schellte. Aber es waren Freunde, Bekannte, oder es war jemand, dessen Angehöriger gestorben war. Sogar an den Geburtstagen von meiner Mutter habe ich auf meinen Vater gewartet. Und an Weihnachten. Der Weihnachtsmann kam noch zu uns, als ich schon lange nicht mehr an ihn glaubte, und wenn er die Geschenke ausgeteilt hatte, dachte ich: Jetzt nimmt er die Maske ab und darunter ist das Gesicht meines Vaters. Eines Tages dachte ich nicht mehr an meinen Vater, wenn jemand an der Tür schellte oder klopfte. Aber ich glaubte immer noch daran, dass er eines Tages zurückkommen würde. Die Mutter meines Vaters sagte: »Nichts ist so hartnäckig wie die Hoffnung.« Sie fragte noch vier Jahre nach Vaters Verschwinden bei jedem Anruf: »Habt ihr etwas von ihm gehört?« Die erste Zeit stellte sie die Frage an den Anfang jedes Gesprächs, dann kam die Frage beiläufig zwischen ganz anderen Themen und im vierten Jahr war es nur ein leiser Satz zum Schluss – »Ihr habt natürlich nichts gehört?« –, auf den sie keine Antwort mehr erwartete.
Der Vater meines Vaters sagte: »Hunger treibt die Ferkel zum Fresstrog!«
Mein Vater hat gesungen und Klavier hat er auch gespielt. Aber vor allem sang er. Er träumte davon, ein berühmter Tangosänger zu werden. Einmal nahm er mich mit, als er in einem Dorf auftrat. Er stand in seinem weißen Anzug vor dem Orchester, mit der einen Hand hielt er das Mikrofon, die andere Hand hatte er in der Hosentasche. Er sang Tangos von Männern, die sich nach Sabrina, Kaisa, Aino oder einer anderen Frau sehnen, er sang von goldenen Ohrringen, roten Rosen und weißen Lilien. Der Schweiß rann meinem Vater über das Gesicht und er nahm ein Taschentuch und trocknete sich beim Singen die Stirn. Die Leute tanzten und zum Schluss sang mein Vater noch ein Lied, das kein Tango war. Die Leute hörten andächtig zu, und er sang über die Liebe und das Meer und über einen Mann, der mit dem Schiff fortgefahren war, und über eine Frau, die am Strand stand und auf das Schiff und auf den Mann wartete. Als das Lied zu Ende war, applaudierten alle. Die Frauen lange und begeistert. Mein Vater verbeugte sich und lächelte. Nachher saßen wir an einem Tisch mit den Musikern und Vater stellte mich vor: »Das ist mein kleiner Sohn. Er guckt sich schon mal an, wie man die Leute glücklich macht!« Ich trank Jaffalimonade und aß Würstchen und immer wieder kamen Frauen vorbei, um meinem Vater zu sagen, wie schön er gesungen habe. Mir strichen sie über die Haare, tätschelten mich, und lächelten mich an. Vater zwinkerte mir zu.
Großmutter sagte einmal zu meiner Mutter: »Du weißt ja, Edna, dass er in diesem Beerdigungsgeschäft nie glücklich
geworden wäre. Vielleicht ist er weggegangen, um die Särge, die Toten und all die traurigen Menschen nicht mehr sehen zu müssen.« »In Afrika sterben die Menschen doch auch«, sagte ich. »Wieso in Afrika?«, fragte Großmutter. »Das ist so eine Idee von ihm«, sagte meine Mutter und seufzte. »Er glaubt, sein Vater sei in Afrika.« »Warum soll er in Afrika sein?«, fragte Großmutter. »Weil er mir das gesagt hat! Er hat gesagt, wenn er erst mal eine Harley-Davidson hat, dann fährt er nach Afrika. Und er hat mir ja auch eine Löwenkarte geschickt.« »Er ist bestimmt nicht in Afrika«, sagte Großmutter. »Wo ist er denn?«, fragte ich. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Dann kann er auch in Afrika sein!«, sagte ich. Ich stellte mir meinen Vater als Tarzan vor. Er lebte mit den Gorillas oder Schimpansen zusammen. Später, als wir in der Schule über Afrika, Livingstone und auch über Albert Schweitzer sprachen, lebte mein Vater auch in so einem kleinen Dorf wie Lambarene in Gabun und half den Schwarzen. Auf welche Weise er ihnen half, das wusste ich nicht. Er war ja kein Arzt wie Albert Schweitzer. Aber Albert Schweitzer war auch Musiker, er hat auf der Orgel Bach gespielt und mit Konzerten Geld für sein Krankenhaus gesammelt. Mein Vater war auch mal ein Freund, Berater und Leibwächter von Haile Selassie, dem äthiopischen Kaiser. Egal, ob mein Vater bei den Kranken war oder am Hof des Kaisers, immer trug er seinen weißen Anzug und sang seine Lieder. Manchmal befand er sich in einer lebensgefährlichen Situation. Ich kämpfte mich durch die Regenwälder, durch ein Dickicht von Mangrovenbäumen, hangelte mich an den Lianen
hoch und hielt Ausschau nach ihm. Als ich ihn fand, lag er verletzt irgendwo in der Savanne, sein Anzug war zerrissen und verdreckt, und hässliche Hyänen schlichen bereits um seinen Körper, die Geier kreisten über ihm. Er war schon sehr schwach, aber er lächelte mich an und sagte: »Na, mein Sohn! Ich wusste ja, dass du mich findest!« Nachts träumte ich dann oft von den Löwen und giftigen Schlangen. Nach solchen Albträumen ließ ich es meinem Vater tagsüber wieder gut gehen. Sein weißer Anzug leuchtete in dem dunklen Saal und seine Stimme war kräftig. Er sang und die Leute applaudierten begeistert. Ich klatschte noch lange in die Hände, nachdem der Applaus der anderen verstummt war. Mein Vater lächelte und zwinkerte mir zu.
Mutter verbot mir, allen zu erzählen, mein Vater sei in Afrika. Aber sie konnte mir nicht verbieten von ihm zu träumen und mir irgendeinen Platz auszudenken, wo ich ihn besuchen konnte. Für mich blieb er in Afrika und sang weiter in seinem weißen Anzug vor einem großen Publikum. Die Zuhörer waren schwarze Männer und sie trugen dunkle Anzüge. Wenn ich meiner Mutter beim Auslegen der Särge mit Stoff half, stellte ich mir vor, wie ein schwarzer Mensch in einem weißen Sarg aussehen würde. Meinen Vater konnte ich mir nicht in einem Sarg vorstellen. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass er tot sei.
Einmal zeigte meine Mutter auf die Steine im Garten, die mein Vater behauen hatte und sagte: »Sollte seine Leiche jemals hier ankommen, dann kriegt er diese Steine auf sein Grab, mit all den Trompeten, Harfen und Flöten, die er darauf gemeißelt hat. Die kauft mir sonst sowieso niemand ab. Nur dein Vater
glaubte, jeder Tote sei ein Orchestermitglied oder Musikliebhaber.« »Aber er ist nicht tot«, sagte ich. »Wenn ich glauben würde, dass er tot ist, wäre ich nicht mehr wütend auf ihn«, sagte meine Mutter. »Ich hätte mich bestimmt gut mit ihm verstanden. Ich mag Musik auch«, sagte ich. »Du hast dich gut mit ihm verstanden.« »Aber du nicht?« »Doch, ich auch – manchmal. Aber er war ein Hulivili. Ein Windbeutel. Auf ihn konnte man sich nicht verlassen.«
Ich habe vieles vergessen, was mein Vater gesagt oder getan hat. Aber an seine Lieder und an den Klang seiner Stimme kann ich mich noch erinnern. Meine Mutter meint, ich hätte die Stimme meines Vaters, die Augen meines Vaters und die Haare meines Vaters. Das klingt, als hätte ich seine Stimme, Augen und Haare ausgeliehen wie ein Hemd, eine Hose und einen Hut.
Bevor ich zu Pentti ging, wollte ich meiner Mutter von der Harley-Davidson erzählen, aber dann fragte ich sie nur: »Mein Vater war doch auch im Krieg. Könnte er auch eine Gehirnverletzung haben?« Mutter lachte. »Ich verstehe ja, dass du nach einer Erklärung suchst, warum er weggegangen ist. Aber was auch immer ihn dazu bewogen hat, ein Granatsplitter war es nicht.«
I
ch besuchte Pentti gerne bei ihm zu Hause. Ich mochte seine Eltern. Sie zankten sich zwar fast immer, aber ihr Streiten klang nicht bösartig, es war mehr so, als hätten sie sich für ihre Gespräche eine besondere Sprache ausgesucht, die sie beide gut beherrschten. Penttis Mutter war klein und dick, sein Vater klein und dünn. Pentti war für einen Dreizehnjährigen sehr groß. Ich war für einen Dreizehnjährigen zu klein. Es war für mich ein Rätsel, wie solche kleinen Eltern einen so großen Sohn wie Pentti haben konnten, und warum ich so kurz geraten war, wo doch meine Mutter groß war und mein Vater auch. Das war nur eines der vielen Rätsel, die ich noch nicht gelöst hatte. Aber ich wuchs ja noch, Pentti auch. Seine Mutter machte mir die Tür auf. Sie hatte das Geschirrtuch in der Hand. Ihre Augen funkelten streitlustig. »Tag, Juhani, ich hoffe, du bist gekommen, um mich wenigstens von einem dieser Verrückten zu befreien.« Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Penttis Vater lag auf der Couch, Penttis zwei kleinere Schwestern spielten auf dem Fußboden mit den Puppen und Pentti stand vor dem Plattenspieler und Elvis Presley sang: »Love me tender, love me sweet.« Dann kam der Song »You are the devil in disguise« und Penttis Mutter stellte sich in die Mitte des Zimmers, die Arme vor der Brust gekreuzt wie ein mächtiger Indianerhäuptling und rief: »Aus! Aus! Ich kann es nicht mehr hören!« Pentti drehte den Plattenspieler leiser, er wackelte mit den Hüften und sang laut mit. »Auch du hörst jetzt mit dem Bellen und Jaulen auf«, rief seine Mutter. »Das ist ja, als hätte man läufige Hündinnen oder hungrige Wölfe in der Wohnung.«
Pentti gehorchte und es wurde still, aber nur für einen Augenblick. »Was für eine herrliche Ruhe!«, rief seine Mutter. »Was für eine Wohltat, wenn man dieses Gejaule, Gehämmere und den ganzen Höllenlärm nicht mehr hören muss.« »Was denn, was denn für eine Ruhe?«, sagte Penttis Vater. »Ruhe gibt es hier keine, solange du deinen Mund auf- und zumachen kannst. Wie soll man sich hier ausruhen? Entweder schreit der Amerikaner oder du oder beide.« »Womit hast du dir die Ruhe wohl verdient? Womit?«, fragte Penttis Mutter und stellte sich vor ihren Mann an die Couch. »Ich arbeite die ganze Woche, um euch zu ernähren. Da kann man sich es ja wohl am Sonntag einmal bequem machen«, antwortete er. »Ja, das könnte man, hätte man nicht zufällig in der Nacht zum Sonntag die ganze Familie wach gehalten mit besoffenem Geschwätz.« Penttis Vater zwinkerte mir zu. »Pass auf, was du sagst, Junge, meine Frau übt heute Rechtspflege. Jedes Wort und jede Tat wird auf der Waage der Gerechtigkeit abgewogen. Sie ist die Große Vorsitzende im Gerichtssaal.« »Vorsitzende? Ich wäre froh, überhaupt mal sitzen zu können! Vom Liegen und Es-sich-bequem-Machen will ich gar nicht reden! – Und dieser Elvis fliegt eines Tages in hohem Bogen aus dem Fenster, er kann von mir aus draußen auf dem Hof mit den Hüften wackeln und sich den Hals aus dem Kopf schreien!« »Wenn ich einen eigenen Plattenspieler hätte, brauchtest du dich nicht über Elvis oder über mich aufzuregen«, sagte Pentti. »Über dich werde ich mich noch in fünfzig Jahren aufregen, das weiß ich jetzt schon. Ja, grins du nur! Aber glaube mir – mit ein bisschen Hüftewackeln kommt man nicht weit auf dieser Welt!«
»Elvis Presley ist ziemlich weit gekommen!«, sagte Pentti. »Dreh mal die Lautstärke bei deiner Mutter etwas runter«, sagte Penttis Vater von der Couch. »Und du! Dich würde ich am liebsten in die Wüste schicken. In die Sahara, da könntest du mal erleben, was es bedeutet, wenn man Durst hat. Da braucht man keine edlen Tröpfchen mehr, ein Glas Wasser würde es auch tun. Für einen Löffel voll wärst du schon dankbar.« Die kleinen Mädchen kicherten und spielten mit ihren Puppen weiter. »Du magst den Elvis doch wohl nicht?«, fragte Penttis Mutter mich. »Ich habe auch Platten von ihm.« »Ach nee, du auch? Hätt ich nicht gedacht. Ich sag dir, wer gut singen konnte: dein Vater! Tränen hab ich in den Augen gehabt, als er bei der Hochzeit von Ilkka und Anni Virtanen gesungen hat. Erinnerst du dich, Ville?« Penttis Vater schmunzelte. »Joo, ich erinnere mich, dass jemand wie ein Schlosshund geheult hat. Kann gut sein, dass du es warst.« »Das war aber auch so feierlich und schön, das Kleid und alles, und gutes Essen, erinnerst du dich, Ville? War doch richtig rührend!« »Joo, hat die weiblichen Herzen kräftig durchgerüttelt«, sagte Penttis Vater und grinste. »Männer haben ja überhaupt kein Herz, das man rütteln oder schütteln kann!«, sagte seine Mutter. »Zumindest nicht alle!« Pentti gab mir ein Zeichen, dass wir in sein Zimmer verschwinden sollten. Es war nicht nur sein Zimmer, auch die beiden Schwestern und sein Bruder schliefen dort. Zwei Etagenbetten und ein Tisch und ein Stuhl standen in dem Zimmer. An der einen Wand hingen Bilder von Bill Haley und
Elvis Presley, an der anderen Wand Tierbilder mit Hasen und Hunden und Katzen. Pentti setzte sich auf sein Bett, ich setzte mich auf den Stuhl. »Unsere Haustiere!«, sagte Pentti und zeigte auf die Tierposter. Ich nickte. Ich sah sie ja nicht zum ersten Mal. »So ist das Leben«, sagte Pentti. Auch dazu konnte ich nichts sagen. Wir grinsten uns an und schwiegen, bis Pentti aufsprang und fragte: »Gehen wir zu dem Stein von Yrjana?« Ich nickte. Draußen auf dem Hof standen Milja, Katri, Eino, Schöne Sanna und Kalle. Eino, den wir auch Ekeleino nannten, stritt sich mit Milja. Dabei hatte er wieder einen Finger in der Nase. »Eines Tages sind deine Nasenlöcher so groß, dass du Erdbeeren reinstecken kannst«, sagte Milja. »Würdest du die dann essen, wenn die in meiner Nase gewachsen wären?«, fragte Eino. »Ihh – du hast wirklich nur Rotz in deinem Kopf!«, sagte Milja. »Und du bist ein Männekään!«, rief Eino und gackerte begeistert, als hätte er ein viereckiges Ei gelegt. »Was soll denn ein Männekään sein?«, fragte Milja. »Eine Frau, die jedem zeigt, was sie anhat!« »Du meinst wohl Mannequin. Dann bist du auch so ein Männekään. Jeder Mensch zeigt, was er anhat, das kann man gar nicht verbergen. Nur das, was man darunter hat, kann man verbergen«, mischte sich Katri ein. »Häh!« »Wem mit dem Löffel gegeben wurde, von dem kann man nicht mit der Kelle zurückverlangen«, sagte Milja. »Häh! Soll ich dich versohlen, oder was?« »Nein«, sagte Milja und Eino bohrte eifrig weiter in seiner Nase und überlegte, was er als Nächstes sagen könnte.
Kalle und Schöne Sanna lehnten an der Wand und rauchten Zigaretten. Kalle redete nicht viel, er kaute an seinem Kaugummi, den er sogar im Mund hatte, wenn er rauchte. Er war achtzehn und arbeitete als Verkäufer in einem Lebensmittelladen. Er fuhr Moped und seit einiger Zeit ging er mit Sanna, die sechzehn war und noch in der Wanzenburg bei ihren Eltern wohnte. Die beiden taten, als seien wir anderen mit unseren zwölf und dreizehn Jahren gerade mal aus den Windeln gekrochen. Wir spionierten Sanna und Kalle manchmal nach, wenn sie sich in den Wald zurückzogen. Wir wussten genau, wo sie hingingen. Zu dem Stein von Yrjana. Der Stein war eigentlich ein hoher Felsen und lag mitten im Wald von Kiefern und Birken umgeben. Wir kletterten auch gerne ab und zu hinauf, um dort ungesehen eine Zigarette zu rauchen. Meistens hatten wir nur eine einzige Zigarette. Sie musste für Pentti, Eino und mich reichen. Die Mädchen nahmen wir nie mit. Und Ekeleino auch nur, weil er sonst bei Penttis Mutter gepetzt hätte, dass wir dort rauchten.
Schöne Sanna und Kalle gingen auch jetzt wieder in Richtung Wald. Sanna trug Schuhe mit hohen Absätzen und einen sehr engen Rock. Ihre Lippen waren immer mit blaurotem Lippenstift geschminkt und ihre Wimpern mit blauer Tusche gefärbt. Auf die rechte oder auf die linke Wange hatte sie einen schwarzen Punkt gemalt. »Ich möchte gerne sehen, wie sie auf den Stein klettert – mit dem Rock«, sagte Pentti und lachte. »Vielleicht zieht sie den Rock aus«, sagte Ekeleino. »Könnte doch sein. Röcke kann man ausziehen.«
»Komm, Katri, wir gehen heim. Mit denen kann man nicht reden. Die sind zu blöd«, sagte Milja und sah mich dabei an. Aber nicht böse, eher, als sei sie enttäuscht. Wir warteten eine Weile und dann trotteten wir Sanna und Kalle hinterher. Sie waren schon im Wald verschwunden. Auf dem Stein von Yrjana ist ein roter Fleck, es soll Blut sein. Kalle hat uns gesagt, dass dort jemand umgebracht wurde, aber das hat er wahrscheinlich nur gesagt, um uns von dem Stein fern zu halten. Wahrscheinlich ist es rote Farbe. Bei Blut wäre die Stelle längst braun geworden oder wäre gar nicht mehr zu sehen gewesen. Den roten Fleck gibt es schon seit Jahren. Er ist zwar etwas kleiner geworden, aber immer noch deutlich von weitem zu sehen. Pentti meint, irgendwann mal hätte so ein verliebter Kerl ein Herz mit Farbe auf den Stein gemalt und als er nicht mehr verliebt war, hat er versucht, das Herz wieder abzukratzen, aber ein Rest Farbe ist noch übrig geblieben. Die Geschichte könnte sogar stimmen, viele Verliebte benutzten den Stein von Yrjana, um ungestört zusammen sein zu können. Wie auch immer Sanna auf den Stein gekommen war, sie und Kalle waren beide schon drauf, als wir uns heranpirschten. Über dem Felsen segelten die Rauchwölkchen von ihren Zigaretten. »Erst wird eine Friedenspfeife geraucht und dann…«, flüsterte Pentti und kicherte leise. »Und dann machen sie Kinder«, sagte Eino und wieherte. »Schnauze!«, befahl Pentti. Ich fühlte mich nicht mehr wohl. Ich dachte an Milja und daran, dass es wirklich blöd war, wie eine Raupe über die Erde zu kriechen, um etwas zu beobachten, was wir doch nicht sehen konnten und ich vielleicht auch gar nicht sehen wollte.
Draußen war es noch hell und die Vögel flogen über unsere Köpfe, in den Rüschen und im Gras raschelten die Waldmäuse. Auf dem Stein war es still. Die Rauchwolken hatten sich verzogen. Ich richtete mich auf. Ein trockener Ast knackte unter meinem Fuß. Sofort war auch Kalle auf den Beinen. Er wirkte wie ein Riese aus einem Märchen, als er hoch über unseren Köpfen auf dem Stein stand, in seinem Rücken der rötliche Abendhimmel und die hellen Wolken. »Ich hab euch gehört, ihr Kaninchen! Jetzt hoppelt mal schnell nach Hause und steckt eure Köpfe in die Schulbücher oder guckt euch das Buch Die Geheimnisse der Sternenkunde an. Das ist eine nette Lektüre für euch!« »Hah, hah«, machte Eino. »Wir kennen aber auch andere Geheimnisse.« »Wir können ja wohl auch im Wald spazieren gehen«, sagte Pentti und klopfte sich die Blätter und die Erde von der Hose ab. »Schlaaafenszeit für alle lieben Kinder!«, rief Schöne Sanna und lachte. Wortlos tapsten wir denselben Pfad zurück, den wir gekommen waren. »Sollen wir noch was unternehmen?«, fragte Pentti mich. Ich schüttelte den Kopf. »Ich gehe nach Hause. Morgen ist Schule.« »Klar«, sagte er. »Hätte ich fast vergessen.« »Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte Ekeleino und steckte einen Finger in die Nase. Ich holte mein Fahrrad von zu Hause und fuhr die größeren Straßen der Stadt ab. Ich hielt Ausschau nach einem Motorrad. Ich fand weder die Harley-Davidson noch sonst eins.
Aber an der Marktstraße kam mir Milja entgegen. Ihre langen Haare wehten im Wind und sie hatte ein gelbes Kleid an, das ich vorher nie an ihr gesehen hatte. Sie wirkte größer als sonst. Vielleicht, weil Katri, die groß und ziemlich dick war, nicht neben ihr stand. Ich bremste und sagte: »Hei!« Milja lächelte, eigentlich mehr mit den Augen. Sie hatte sehr blaue Augen und sehr helle Haare und Pentti sagte einmal, als Milja ein blaues Kleid anhatte: »An Milja ist alles blau und weiß, sie sieht aus wie die finnische Flagge!« Ich polierte den Lenker meines Fahrrades mit der rechten Hand und war verlegen. Sonst waren immer Pentti, Katri, Eino und andere von der Wanzenburg dabei, wenn wir uns trafen. »Suchst du nach deinem Vater?«, fragte ich. »Nee, ich war bei meiner Tante.« »Warum?«, fragte ich und wurde rot. Was für eine idiotische Frage. Milja lachte und ich lachte auch. »Ich mag sie. Sie ist nett und sie freut sich, wenn ich sie besuche. Sie hat selbst keine Kinder.« Ich sagte nichts. Mir fiel nichts ein. »Sie kann keine Kinder kriegen«, erzählte Milja. »Sie näht Katri und mir die Kleider. Sie hätte so gerne ein eigenes Mädchen gehabt.« »Hat sie auch das Kleid da genäht?«, fragte ich. Milja nickte. »Gefällt es dir nicht?« »Es ist sehr hübsch«, sagte ich. Meine Stimme überschlug sich und klang wie ein Möwenschrei. »Ich habe das Kleid extra angezogen, damit meine Tante sieht, wie gut es sitzt«, plauderte Milja mit ganz normaler Stimme weiter. Mädchen haben wohl keinen Stimmbruch. Meine Tonlage pendelte zwischen einem Bärenbrummen und Spatzenpiepsen. »Was machst du im Sommer?«, fragte ich Milja.
»Weiß noch nicht.« »Möchtest du Schokolade?«, fragte ich. »Jaa! Was für eine Schokolade hast du denn?« »Ich habe gar keine. Ich dachte, wir könnten zu einem Kiosk gehen und welche kaufen.« Milja zuckte die Schultern. Ich schob mein Fahrrad, als sei es eine besonders schwierige Aufgabe, auf die ich mich voll konzentrieren musste. Milja ging neben mir und summte ein Lied. Sie mochte am liebsten Fazerina-Schokolade. Das sind gefüllte Schokoriegel. Ich mag am liebsten einfache Milchschokolade. Wir standen uns gegenüber und aßen unsere Schokoladenriegel, sie schnell und ich sehr langsam. Sie sah mich an und ich überlegte, ob sie meine dunklen Haare und Augen mochte. Meine Mutter war blond so wie Milja, aber ich sah aus wie mein Vater. Ein wenig wie ein Zigeuner. Ich hätte gerne etwas Witziges zu Milja gesagt, nur fiel mir nichts Witziges ein. Pentti hätte hundert spritzige Sätze gewusst, aber ich war nicht Pentti. Penttis Vater war auch witzig. Vielleicht hatte er das von ihm gelernt, immer den richtigen Satz auf der Zunge zu haben. Mir fiel nur eine Szene aus einem Tarzanfilm ein. Tarzan zeigt auf sich und sagt: Ich Tarzan! Dann zeigt er mit dem Finger auf die Frau und sagt: Du Jane. Aber Milja kannte meinen Namen und ich kannte ihren. Wir brauchten uns einander nicht vorzustellen. »Warum lächelst du?«, fragte Milja. »Nur so, ich dachte gerade an Penttis Vater. Er ist manchmal so ein Witzbold. Und Pentti ist auch witzig!«, sagte ich. »Kann sein«, sagte sie. »Aber ich muss nicht immer lachen.« »Ich auch nicht«, sagte ich. Dann wollte sie nach Hause und ich stieg wieder auf mein Fahrrad.
Als ich zu unserem gelben Haus kam, dachte ich noch an Miljas gelbes Kleid und was sie gesagt hatte und was ich zu ihr gesagt hatte und es war nicht sehr viel, aber ich fühlte mich so gut, als hätte sie mir gesagt, ich sei der tollste Junge der ganzen Stadt. Ich hielt auf der Straße vor unserem Küchenfenster und sah hinein. Meine Mutter saß allein am Tisch. Was denn sonst. Es stand ja auch keine Harley-Davidson vor unserem Haus. »Hattest du einen schönen Abend?«, fragte sie. »Penttis Vater hat gestern gesoffen«, sagte ich. »Und sie war sauer«, sagte meine Mutter. »Ja, aber es war nicht so ernst. Ich glaube, sie mögen sich.« »Das hoffe ich doch«, sagte meine Mutter. »Würdest du Olavi heiraten, wenn er nicht schon verheiratet wäre?«, fragte ich. »Sofort!« »Vielleicht findest du jemanden, der nett und nicht verheiratet ist«, meinte ich. »Meine Chancen stehen nicht gut«, sagte meine Mutter. »Ich begegne den meisten Menschen zu Zeiten und in einer Situation, in der sie nicht gerade ans Heiraten denken. Und ich auch nicht.« Meine Mutter sagt, sie hätte einen Beruf, in dem man lernen muss, die eigenen Gefühle für sich zu behalten. Wenn man so viele verzweifelte Menschen sieht, lernt man Selbstbeherrschung zu üben. Sie konnte ja nicht immer in Tränen ausbrechen, wenn jemand zu ihr kam, um den Tod eines nahen Menschen bekannt zu geben und über die Beerdigung zu sprechen. Anfangs war es ihr schwer gefallen, ungerührt zu bleiben. Wenn die Angehörigen weinten, hatte sie auch mit den Tränen gekämpft. Aber das hatte sie sich abgewöhnen müssen. Schließlich kann man nicht jeden Tag um einen unbekannten Toten weinen. Da hat man ja keine
Tränen mehr übrig, wenn man um die eigenen Verstorbenen trauert, meinte sie. Ich glaube, dass man weinen kann, so viel man will, es werden immer wieder neue Tränen produziert, sie trocknen nie ganz aus.
A
m nächsten Tag in der Schule hatte Milja das gelbe Kleid an. In der Pause winkte sie mich zu sich. Pentti pfiff durch die Zähne. Ich ging langsam zu ihr. »Wir beide singen bei der Abschlussfeier«, sagte sie. »Wer sagt das?« »Kukkonen«, sagte sie. Kukkonen war unser Musiklehrer. Er hatte mir auch Klavierstunden gegeben. Seit ein paar Monaten ging ich aber nicht mehr hin. Er hatte mich gefragt, ob ich Lust hätte im Kirchenchor zu singen, wenn ich schon kein Klavier mehr spiele. Aber ich hatte keine Lust. Ich hatte oft in der Kirche gesungen. Bei Beerdigungen. Das war schon einige Zeit her. Ich sang nicht mehr gerne, weder mit anderen zusammen noch allein. Bei dem Sommerfest zum Ende des Schuljahres wollte ich auch nicht singen. Ich vertraute meiner Stimme nicht. Sie machte, was sie wollte. Und mir wäre wahrscheinlich auch nicht zum Jubeln zu Mute. Ich würde wahrscheinlich ein miserables Zeugnis bekommen. Mir machte es nicht so viel aus, aber meine Mutter würde enttäuscht sein. Und ihre Enttäuschung konnte ich nicht wegsingen. Die einzigen Fächer, in denen ich noch gute Noten hatte, waren Musik, Kunst, Geographie und Zoologie. Alles andere hatte ich links liegen lassen. Mehr oder weniger. »Ich bleibe wahrscheinlich sitzen«, übertrieb ich ein wenig. »Wieso?«, fragte Milja. »Weil ich nichts getan habe.« »Das ist mir klar. Aber wieso hast du nichts getan?« Ich zuckte die Schultern. »Na, singen kannst du ja«, sagte sie. »Aber ich will nicht.«
»Schade«, sagte sie. »Ich dachte, wir hätten zusammen üben können. Aber du steckst deine Nase wohl lieber in die Angelegenheiten, die dich nichts angehen.« »Was soll denn das bedeuten?« »Du weißt schon, was ich meine. Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du es nötig hast, Sanna und Kalle beim Knutschen oder was weiß ich zu begaffen.« »Man kann doch gar nichts sehen!«, sagte ich. »Der Felsen ist viel zu hoch.« »Dann spitzt ihr wohl nur die Ohren!« Ich wurde rot und drehte ihr den Rücken zu. Die Pause war zu Ende. Warum war sie wohl so sauer auf mich? »Was wollte sie von dir? Ist sie in dich verknallt?«, fragte Pentti. »Sie wollte nur mit mir singen.« »Olala! Wie soll das Lied denn heißen? Oh, wenn du, mein Liebster, ein Zuckerstückchen wärst«, summte er einen schmalzigen Schlager und grinste. »Halt die Schnauze!« »So weit ist es schon. Weiber drängen sich gerne in Männerfreundschaften! Pass auf, dass sie uns nicht gegeneinander aufhetzt!« »Ich bin kein Mann und du auch nicht. Und sie ist bestimmt kein Weib.« »Hei, ist was?«, sagte Pentti verdutzt. »Das sollte ein Witz sein!« »Ich muss nicht immer lachen«, sagte ich.
Mich beschäftigte die Harley. Und Milja beschäftigte mich auch. Als sie an der Fahnenstange hing, wie eine mir fremde Flagge, war etwas zu mir herübergeflattert. Wenn ich eine Flagge nicht kannte, versuchte ich herauszufinden, zu welchem
Land sie gehörte. Über Flaggen wusste ich schon eine Menge. Über Milja fast gar nichts. Über Afrika wusste ich mehr als alle anderen in meiner Klasse, vielleicht sogar mehr als die meisten in der ganzen Schule. Ich hatte die Namen aller Staaten in Afrika auswendig gelernt. Die Namen ihrer Hauptstädte wusste ich auch. Manchmal murmelte ich einige Namen wie einen Zauberspruch: Angola, Botswana, Senegal, Ghana, Guinea, Kenia, Tansania, Ruanda, Somalia. Ich mochte den Klang der fremden Wörter. Mein Lieblingsname war Kinshasa. Die Hauptstadt von Kongo. Mein Lieblingslehrer war Kukkonen. Vielleicht, weil Musik mein Lieblingsfach war. Aber er war auch fair und bei ihm brauchte man nicht viel zu können. Nur ein paar Noten lesen und singen. Beides fiel mir nicht schwer. Aber ich wollte nicht mehr singen und er hatte kein Verständnis dafür. »Du bist ein richtig fauler Hund geworden«, sagte er. »Ich weiß, dass du so gut wie nichts für die Schule tust. Und nun weigerst du dich auch noch zu singen. Das Einzige, womit du im Augenblick deinen Lehrern, deiner Mutter, deinen Mitschülern und dir selbst eine kleine Freude machen könntest. Und komm mir nicht mit der Entschuldigung, dass du im Stimmbruch bist. Davon hört man bei dir noch nichts.« Ich schwieg. Er sah mich an und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich natürlich nicht zwingen. Will ich auch nicht. Lass es dir noch einmal durch den Kopf gehen. Aber nicht in das eine Ohr rein, aus dem anderen raus!« »Na gut, ich singe!«, sagte ich. »Wie – plötzlich doch? Soll ich das jetzt als entscheidungsfreudig begrüßen?«, sagte er und lächelte etwas skeptisch.
Es war auch keine Entscheidungsfreude, ich war zur Zeit nur unfähig, irgendeinen großen Unterschied zwischen Ja und Nein zu sehen. Ich ging dorthin, wozu man mich gerade einlud oder hinschubste. Aber es machte Spaß, mit Milja zu singen. Sie hatte eine schöne Stimme und sie konnte eine Menge Liedertexte auswendig. Auch englische. Und sie konnte gut andere Sänger imitieren. Wenn wir eine Pause machten, imitierte sie Elvis Presley und Bill Haley und auch Kukkonen lachte aus vollem Hals. Pentti wäre froh gewesen, wenn er das so gut hingekriegt hätte wie Milja. Aber er konnte keinen Ton halten. Er konnte nur die Mimik und den Hüftschlenker von Elvis parodieren. Für das Schulfest suchten wir zwei Lieder aus. Eins sollten wir mit dem Schulchor zusammen singen und eins zu zweit. Das Lied für unser Duett durften Milja und ich selbst aussuchen. Es musste nur etwas mit dem Sommer zu tun haben. »Annähernd«, sagte Kukkonen. »Also kein O Tannenbaum oder Kling, Glöckchen, klingelingeling oder dergleichen.« Wir nahmen das Lied An ein Vögelchen, in dem es um den Sommer, das Singen und die Freude geht. Die Melodie war nicht ganz einfach und als wir gerade »so rein ist deine Stimme« sangen, kam bei mir nur ein Krächzen raus. »Das war jetzt aber kein Vögelchen, das war eindeutig eine Krähe«, meinte Kukkonen und lachte. »Ich singe nicht!«, sagte ich. »Die anderen kriegen einen Lachanfall, wenn ich plötzlich zu brummen oder zu quieken anfange.« »Das sehe ich ein«, sagte Kukkonen. »Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass du schon mitten im Stimmbruch steckst. Aber du hast auch schon lange nicht mehr mit mir gesprochen.
Ich habe eine Idee! Du kannst Milja auf dem Klavier begleiten. Das ist auch hübsch!« »Ich weiß nicht…«, sagte ich. Milja sah mich an und da wusste ich es plötzlich. Die Melodien waren ja nicht schwer zu spielen.
Ich half meiner Mutter beim Bespannen eines einfachen Holzsarges. Das Innere hatte sie schon mit einem weißen Stoff überzogen. Als wir fertig waren, legte sie noch ein kleines weißes Kissen an das Kopfende. »Fertig«, sagte sie und zupfte und zog noch an der einen oder anderen Ecke etwas zurecht. »Warum müssen die Särge eigentlich wie Betten aussehen?«, fragte ich. »Es hat damit zu tun, dass man sich den Tod als eine Art Schlaf vorstellt.« »Werden die Menschen in allen Ländern in solchen Särgen beerdigt?« »In so einem Sarg, den wir gerade gemacht haben, werden Menschen beerdigt, die nicht viel Geld haben. Einfache, mit weißem Stoff verkleidete Kiefernsärge sind billiger als zum Beispiel ein Eichensarg. Eichensärge bestellen bei mir nur die Angehörigen von Geschäftsinhabern, Ärzten und Pfarrern. Aber irgendeine Art von Gehäuse bekommen die meisten Toten. Es gibt viele Begräbnisrituale. Früher haben die Menschen ihren Toten viel Platz eingeräumt. Zumindest denen, die schon zu ihren Lebzeiten viel Raum für sich beansprucht haben und Macht und Geld besaßen. Zum Beispiel die Pharaonen in Ägypten. Ihre Leichen wurden mumifiziert und in riesigen Totenkammern mit wertvollen Schätzen aufbewahrt. Einige Mumien haben mehrere Jahrtausende überlebt.«
»Überlebt haben sie nicht, sonst wären sie ja nicht tot.« Meine Mutter lächelte. »Für die ägyptischen Könige wurden Pyramiden als Grabstätten gebaut. Und ich habe gelesen, dass irgendwo in Afrika die Toten einfach auf die Bäume zum Trocknen aufgehängt wurden«, sagte ich. »Dein Vater sagte mir mal, er wünsche sich einen durchsichtigen Sarg und der Sarg sollte auf dem Grund eines Sees liegen, damit die Fische sehen können, dass es auch die Fischer erwischt.«
Beim Essen erzählte ich ihr, dass Milja bei dem Sommerfest in der Schule singen und ich sie auf dem Klavier begleiten würde. Ich musste ihr das Lied vorspielen und singen. Vor Mutter hatte ich keine Hemmungen, egal was für Töne aus meiner Kehle kamen. Das Lied klang auch ganz gut, weil meine Stimme normal blieb und weder in die Höhe schoss noch in die Tiefe sank. »Schön! Könnte ein Lied von deinem Vater sein. Er war auch so ein Sommervogel ohne Kummer und Sorgen und mit einer sehr reinen Stimme.« »Hat es dir gefallen, dass er gesungen hat?« »Ja, sehr. Ich kann überhaupt nicht singen. Man bewundert an anderen immer die Fähigkeiten, die man selbst nicht hat. Aber es war nicht nur das Singen, es war auch seine Unbekümmertheit. Ich mache mir zu viele Sorgen und neige zum Grübeln. Das ist nicht gut.« »Aber du hättest mich nicht verlassen«, sagte ich. »Freiwillig nicht!«, sagte sie. »Glaubst du wirklich, dass er noch lebt?« »Ja. Aber es ist halt ein Glaube, kein Wissen. Und ich verstehe natürlich nicht, warum er sich nie gemeldet hat.
Während des Krieges und nach dem Krieg haben die Frauen auch auf ihre Männer warten müssen, manchmal jahrelang. Häufig bekamen sie keine Nachricht darüber, wo ihre Männer waren und ob sie überhaupt lebten. Aber die Frauen wussten wenigstens, warum ihre Männer sich nicht meldeten«, sagte meine Mutter. »Weil sich ihre Männer in Gefangenschaft befanden oder im Krieg gestorben waren. Und falls sie nicht mehr zurückkehrten, wussten sie, dass sie für eine gute Sache ihr Leben gelassen hatten«, meinte ich. »Eine so gute Sache ist der Krieg nicht, dass es sich lohnt dafür zu sterben!«, sagte meine Mutter. »Aber die Kriegswitwen bekamen Trost von vielen Menschen. Sie waren nicht allein.« »Du bist doch auch nicht allein«, sagte ich. »Du hast ja mich!« »Da hast du Recht. Gott sei Dank!« »Und meinem Vater sei Dank!«, sagte ich. »Und deinem Vater«, sagte sie und lachte. Ich hätte ihr von der Harley erzählen können. Ich war mir nur nicht mehr ganz sicher, ob es eine gewesen war. Vielleicht sah ich Dinge, die gar nicht da waren. So wie der Vater von Milja und Katri. Man braucht keine Kriegsverletzung um zu phantasieren. Vielleicht weiß man nicht mehr, was wahr und was nur ein Traum ist, wenn man sich zu oft Sachen vorstellt oder von ihnen träumt.
D
ie Tage vergingen, ohne dass ich das Motorrad noch einmal sah. Am einunddreißigsten Mai hatten wir unsere Feier in der Aula der Schule. Erst wurde ein Theaterstück gespielt. Kinder der ersten Gymnasiumsklasse tanzten als Maiglöckchen, Kornblumen, Margeriten und als roter Mohn auf der Bühne. Bienen, Schmetterlinge und Mücken gab es auch und eine riesige Sonne, die den Kopf mal zu der einen oder anderen Kinderblüte neigte. Um was es in dem Stück ging, weiß ich nicht. Ich war nervös und wäre am liebsten weggelaufen, aber Milja drückte meine feuchte Hand und flüsterte: »Ich bin so aufgeregt. Hilfe!« Und ich konnte ihr nur helfen, indem ich sie meine schwitzende Hand halten ließ. Als wir auf der Bühne standen, war ich froh, dass ich mich wenigstens sofort auf den Klavierhocker setzen konnte. Milja merkte man überhaupt nicht an, dass sie Lampenfieber hatte. Beim Singen lächelte sie mich sogar einmal an. Wir bekamen einen Riesenapplaus, wie alle anderen auch, die auftraten, ob sie nun im Theaterstück mitwirkten, ein Gedicht aufsagten, sangen oder ein Instrument spielten. Zum Schluss des Sommerfestes hielt die Rektorin eine Rede. Sie ermahnte uns, die Sonne, das Meer und die Freiheit zu genießen, damit wir im Herbst wieder mit neuen Kräften und mit Freude in die Schule kämen. Das letzte Lied wurde gemeinsam gesungen. Danach gingen die Schüler und Schülerinnen noch einmal in ihre Klassen, um die Zeugnisse entgegenzunehmen. Pentti war sitzen geblieben. Ich musste im Sommer in Englisch die Prüfung nachmachen, das hieß, in den ersten Ferienwochen pauken. Auch wenn ich damit gerechnet hatte, war ich geknickt. Pentti war auch betrübt, aber er konnte es
natürlich nicht zugeben. Er machte Witze wie üblich, aber ich wusste, dass es ihm etwas ausmachte sitzen zu bleiben. Schon deswegen, weil wir im nächsten Jahr nicht mehr in derselben Klasse sein würden, falls ich meine Nachprüfung in Englisch schaffte. »Kommst du zu uns?«, fragte Pentti mich. »Ich sehe nach, ob Mutter schon zu Hause ist«, sagte ich. Pentti nickte und wir gingen bei uns vorbei. Meine Mutter war nicht da. Ich legte das Zeugnis mit einem Zettel auf den Küchentisch und ging mit Pentti zu ihm. Er brauchte Unterstützung. »Das kommt von dieser ewigen Hüftewackelei und dem Affengebrüll. Dabei kann doch kein Mensch lernen«, sagte Penttis Mutter. »Ich möchte mal wissen, was das für einen Sinn macht, so gescheit zu sein wie du, wenn man sich so blöd anstellt. Ist es eine besondere Begabung, sich die Zukunft zu versauen, noch ehe sie begonnen hat?« »Du gehst noch ein paar Jahre zur Hauptschule und dann fängst du an zu arbeiten. Das ist ja auch nicht schlimm. Da lernst du wenigstens, was es bedeutet zu malochen«, sagte sein Vater. »Was dein Vater gesagt hat, vergiss mal ganz schnell, Söhnchen! Du gehst nicht vom Gymnasium. Und wenn – nur über meine Leiche! Meinst du, ich rackere mich hier ab, damit du Nylonhemden und Trevirahosen tragen kannst und schon mit dreizehn Jahren wie ein kleiner Beamter aussiehst? Bestimmt nicht, damit du dir in ein paar Jahren in irgendeiner Fabrik den Rücken kaputtmachst und dich am Wochenende voll laufen lässt. Du machst die Klasse noch mal. Und wenn ich dich zur Schule tragen muss!« »Das macht sie«, sagte Penttis Vater, der nie lange ernst bleiben konnte. Er zwinkerte uns zu.
Pentti und ich saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und wagten uns nicht von der Stelle zu bewegen. »Und du!« Penttis Mutter zeigte auf mich. »Du hast es auch nicht viel besser gemacht. Nachprüfung in Englisch! Das muss man sich vorstellen! Ihr hört in der Schule nicht mehr zu, ihr hört doch nichts anderes mehr als dieses Rokarantaklock!« Pentti konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. »Ja, lach du nur über deine ungebildete Mutter, aber lach nicht zu laut und nicht zu lange. Ich weiß immer noch einiges mehr als du! Und wenn du dich auf die faule Haut legst, wirst du nicht einmal so viel lernen wie ich in meinem Leben.« »Es heißt Rock around the dock«, sagte Pentti. »Sag ich doch. Und ist mir egal, wie man es rollt und dreht, aber dir werde ich den Kopf noch gerade setzen, das glaub mir, mein Bürschchen!«, sagte sie. »Wäre jetzt nicht eine kleine Kaffeepause angesagt?«, fragte Penttis Vater. »Wenn du Kaffee willst, koch dir welchen. Du weißt ja wohl, wo die Küche ist!« »Mach ich, mach ich«, sagte Penttis Vater und verschwand in der Küche. »Jungs – nun werdet ein wenig vernünftig«, sagte Penttis Mutter. »Ihr seid doch gute Söhne. Alle beide. Werft eure Chancen nicht aus dem Fenster. Was sagt denn deine Mutter, Juhani?« »Glücklich ist sie bestimmt nicht.« »Glücklich! Das hast du wohl auch nicht erwartet. Warum sollte sie wohl darüber glücklich sein, dass du eine Nachprüfung machen musst.« Sie schüttelte den Kopf. »Glücklich ist man auf dieser Welt nur, wenn man schläft!« Wir tranken zusammen Kaffee und aßen selbst gebackenen Kuchen, den es trotz der schlechten Noten gab. Als Pentti und ich auf dem Weg nach draußen waren, sagte Penttis Vater:
»Ich habe für die Sommermonate eine Arbeit auf dem Bau für dich. Also brauchst du keine Ferienpläne zu machen.« »Mist«, sagte ich. »Ich dachte, du kommst mit mir ein paar Wochen zu meinen Großeltern an den See. Ohne dich ist es dort langweilig.« »Du hast ja gehört, woher der Wind weht«, sagte Pentti und seufzte.
Milja, Katri und Eino standen draußen vor der Wanzenburg und bewunderten ein Motorrad. Eine Harley-Davidson. »Das ist eine Maschine!«, sagte Eino, der so voller Ehrfurcht war, dass er vergaß, in der Nase zu bohren. Pentti pfiff, betrachtete das Motorrad von allen Seiten mit gerunzelter Stirn und fragte mich: »Was meinst du, ein älteres Modell schon, oder?« »Wem gehört sie?«, fragte ich. Mein Herz schlug schnell. »Keine Ahnung«, sagte Milja. »Vielleicht jemandem, der im Haus zu Besuch ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand im Wanzenloch sich eine Harley kaufen kann.« Ich sah nach oben, die Hauswand entlang, als könnte man an den Fenstern sehen, wer gerade Besuch hatte. »Tolles Ding«, sagte Pentti. »Aber gehört uns nicht. Also – was sollen wir jetzt machen?« Ich wollte nichts machen. Nur dastehen und warten, bis derjenige herauskam, dem das Motorrad gehörte. Aber das konnte ich nicht sagen. Das würde Pentti nicht verstehen. Nicht ohne Erklärungen. Ich sagte nichts. Ich versuchte einfach Zeit zu gewinnen und fing an, mit Milja über das Sommerfest zu sprechen. Sehr viel fiel mir dazu allerdings auch nicht ein. Sie war ja dabei gewesen. »Du hast toll gesungen«, sagte ich.
»Ging so«, meinte sie. »Waren denn deine Eltern bei dem Fest?«, fragte ich. »Jaa – hast du sie nicht gesehen?« »Willst du eine Liste erstellen, wer auf dem Sommerfest war und ihren Gesang bewundert hat?«, fragte Pentti. »Wer hat denn gesungen?«, fragte Ekeleino. »Männekään und der Leichenbestatter oder wer?« »Geht dich nichts an – du verstehst von Musik sowieso nichts«, sagte Katri. »Wieso von Musik – ich dachte, da haben welche den Mund auf- und zugemacht und gequakt!«, sagte Eino, steckte den kleinen Finger in ein Nasenloch und quakte. »Hast du eigentlich schon alle deine Finger ausprobiert oder hast du besondere Vorlieben?«, fragte ich ihn. »Häh? Lieben tue ich gar nix. Weder die Nase noch die Finger. Ich könnte mich mal in die Männekään verknallen, aber ich weiß nicht. Lohnt sich doch nicht.« »Wie lange willst du hier noch labern?«, fragte Pentti. »Ich dachte, wir könnten ins Kino gehen.« Ich seufzte. »Wir könnten auch mitkommen«, sagte Milja. »Ich frage meine Mutter, ob sie uns Geld gibt.« Ich sah Pentti an. Er zuckte die Schultern. Milja verschwand im Treppenhaus. Wir warteten auf sie. Ich wartete auf den Mann, dem die Harley-Davidson gehörte, und hoffte, dass Milja für ihre Frage und für das Geld lange brauchen würde. Brauchte sie auch. So lange, dass Pentti nervös wurde. Er schaute auf die Uhr und meinte: »Wenn sie nicht in den nächsten fünf Minuten kommt, verpassen wir den Vorspann.« »Ich guck mal, wo sie bleibt!«, sagte Katri. Sie ging, aber nach fünf Minuten war auch sie nicht wieder zurück.
»In zehn Minuten fängt der Vorfilm an«, sagte Pentti. »In dreißig Minuten der Hauptfilm. Wir laufen von hier etwa fünfzehn Minuten zum Kino. Das heißt, alles Scheiße. Nur weil du über nichts und wieder nichts quasseln musst.« »Vielleicht sollten wir fragen, ob Milja und Katri noch mitkommen«, meinte ich. »Frag du, wenn du willst. Ich gehe jetzt. Kommst du mit, Eino? Ich spendiere dir eine Kinokarte!« Sie liefen davon. Ich stand noch eine Weile neben dem Motorrad. Dann ging ich auch ins Haus, in den Eingang, in dem Milja und Katri verschwunden waren. Ich wusste nicht, in welchem Stockwerk sie wohnten. Ich war noch nie bei ihnen gewesen. Ihren Nachnamen Lahti fand ich auf der Tafel, die unten im Flur hing. Vierte Etage. Ich schaute noch einmal nach draußen. Das Motorrad stand noch da. Während ich die Treppen hochstieg, überlegte ich, was ich machen würde, wenn mir ein Mann entgegenkäme. Sollte ich dann auch wieder runtergehen? Ihn fragen, ob ihm die Harley gehörte? Ich brauchte mich nicht zu entscheiden. Es kam mir niemand entgegen. Vor Lahtis Wohnung kämmte ich mir die Haare. Ich wollte gerade schellen, als ich jemanden weinen hörte. Ich horchte einen Augenblick. Ich war nicht sicher, ob es eins der Mädchen war oder die Mutter. Einen Augenblick stand ich unschlüssig im Treppenhaus, dann machte ich kehrt und rannte schnell hinunter. Ich wollte die Harley-Davidson nicht zu lange allein lassen. Sie war noch da. Es war keine Fata Morgana. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Hof hin- und hergegangen bin, aber wohl ein paar Stunden, denn plötzlich sah ich Pentti und Eino die Straße entlangkommen. »Was machst du denn noch hier? Sag bloß, du wartest immer noch auf die Mädchen?«, fragte Pentti.
»Nö, ich war schon zwischendurch zu Hause«, sagte ich. »Wie war der Film?« »Päng, päng«, machte Eino. »Ein Superwestern«, sagte Pentti und erzählte mir den ganzen Film. Er hätte mir noch ein paar andere Filme beschreiben können, ich hatte keine Eile. Ich wollte nur neben dem Motorrad stehen bleiben, wenn es sein musste, die ganze Nacht. Pentti nicht, er sagte: »Ich hab Hunger, kommst du noch mit zu uns?« Ich schüttelte den Kopf. »Na, hei dann!«, sagte er. »Ich gehe auch«, sagte Eino. Pentti drehte sich an der Haustür noch einmal um. »Falls du auf dem Hof übernachten willst, kannst du ja mich zum Frühstück besuchen!« Er dachte, dass ich immer noch auf Milja warte. Ich wusste nicht, auf wen ich wartete. Und der Unbekannte kam auch nicht. Ich war erst nach Mitternacht zu Hause. »Wenn du so spät nach Hause kommst, möchte ich vorher informiert werden, dass du so spät kommst. Wir leben zwar nicht in Chicago, aber auch hier kann man sich Sorgen machen!«, sagte meine Mutter. »Entschuldigung, war nicht geplant.« »Wo warst du denn?« »Ich musste Penttis Eltern beruhigen. Seine Mutter war wütend, weil er sitzen geblieben ist.« »Du kannst sie nicht beruhigen. Das kann nur Pentti, indem er mehr für die Schule tut. Und du hast auch was zu tun. Übermorgen bringe ich dich zu deinen Großeltern. Dort hast du Zeit und Ruhe, Englischvokabeln und Grammatik zu lernen.«
»Pentti darf nicht mitkommen in diesem Sommer. Er muss arbeiten.« »Umso besser«, meinte meine Mutter. »Dann wirst du nicht abgelenkt.« In der Nacht träumte ich von kleinen Menschen, die aussahen wie Pygmäen. Sie sahen zu, wie ich einen Bach überquerte. Als ich einen Fuß auf einen der Steine setzte, die im Wasser lagen, gab der Stein nach und ich rutschte aus. Als ich aufstand, sah ich ein Motorrad wegfahren. Die Pygmäen klatschten in die Hände und grinsten hinterhältig. Am nächsten Tag ging ich sofort nach dem Frühstück zur Wanzenburg. Die Harley war verschwunden. Ich besuchte Pentti. »Morgen muss ich anfangen«, sagte er und zeigte seinen Blaumann. »Den hat mir mein Alter gegeben. Er meinte, man bräuchte eine Uniform, wenn man auf dem Bau arbeitet.« »Bist du schon draußen gewesen?«, fragte ich. »Um elf Uhr? Spinnst du? Der einzige Morgen zum Ausschlafen. Ab tomorrow geht es um sechs Uhr los.« »Du kannst ja am Wochenende schlafen«, meinte ich. »Und du brauchst nicht für eine Nachprüfung zu pauken.« »Dafür sitze ich im Herbst mit Zwölfjährigen zusammen.« »Dreizehnjährigen«, sagte ich. »Ich werde aber schon vierzehn.« Er seufzte. »Wir sehen uns ja in den Pausen«, tröstete ich ihn. »Es kann aber sein, dass du in den Pausen Singübungen machen musst«, sagte er und grinste. »Quatsch!« Er zog sich an und wir machten uns auf den Weg ohne zu wissen, wohin wir gehen wollten. Wir schlenderten in der Stadt umher, schleckten im Park an unserem Erdbeereis und fütterten die Eichhörnchen mit Waffelkrümeln.
Ein paar Jungs aus unserer Klasse gingen zweimal an unserer Bank vorbei. »Die wissen nicht, was sie mit der Freiheit anfangen sollen«, sagte Pentti. »Nee«, sagte ich. »Willst du meine neue Platte hören?«, fragte Pentti. »Elvis Presley?« »Was denn sonst!« Als wir auf dem Hof ankamen, stand die Harley-Davidson wieder da. Um das Motorrad herum hatten sich Kalle, Schöne Sanna und Ekeleino versammelt. »Wem gehört die Maschine?«, fragte ich mit vor Aufregung quiekender Stimme. »Was glaubst du?«, fragte Kalle und streichelte den Sattel zärtlich wie einen Schoßhund. »Dir?« »Sieht es nicht danach aus?«, fragte er. »Es sieht danach aus, dass du bald an deinem Kaugummi erstickst oder vielleicht auch nur an deiner eigenen Spucke«, sagte Schöne Sanna sauer. »Müssen wir jetzt den ganzen Tag hier stehen, damit alle die Möglichkeit haben, deinen Schlitten zu bewundern?« »Das ist kein Schlitten. Das ist Wind auf Rädern!«, sagte Kalle. »Unterm Hintern fühlt sie sich an wie eine Rüttelmaschine«, sagte Schöne Sanna spitz. »Dir gefällt die Harley wohl nicht, meine Prinzessin! Eines Tages kaufe ich dir vielleicht einen Schlitten. Einen schönen breiten amerikanischen Schlitten, mit extra weichen Polstern für deinen zarten Hintern.« »Ich hab einen Schlitten«, sagte Eino. »Du hast einen Schlitten?« Kalle lachte. »Klar! Aber es liegt ja kein Schnee!«
»Komm endlich«, sagte Sanna zu Kalle. »Von wem hast du das Motorrad bekommen?«, fragte ich schnell. »Bekommen? So etwas bekommt man nicht. Solche Schätze muss man kaufen. Die kosten Money. Richtiges Geld!« »Aber wer hat es dir verkauft?«, fragte ich. »Ich weiß nicht mehr, wie der hieß. Stand in der Zeitung im Frühjahr. Ich hab da angerufen und gesagt – komm mal vorbei und zeig mir, in welchem Zustand der Harleyboy ist. Ich sah ihn, er gefiel mir und ich kaufte ihn. Es ist wie mit den Mädchen. Guck nach, ob alles dran ist und pack zu.« »Seitdem du das Ding hast, quasselst du ununterbrochen, als hättest du Lachgas bekommen oder fünf Glas Bier getrunken«, sagte Sanna. »Ich trinke nicht, wenn ich fahre!« »Ich habe gesagt, als ob…« »Wo wohnte der Mann?«, fragte ich. »Welcher Mann?«, fragte Sanna ungeduldig. »Der das Motorrad verkauft hat.« Ihre Augen wurden plötzlich schmaler. Sie erinnerte sich an das Verschwinden meines Vaters. Und daran, dass er eine Harley-Davidson hatte. Sie sagte leise: »Es war nicht dein Vater, Juhani.« »Es könnte sein Motorrad sein«, sagte ich. »Würdest du denn seine Harley-Davidson erkennen?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber es gibt wohl nicht viele Harleys hier. Wo wohnt denn der Mann?« »In Vaasa. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen, Kleiner.«
I
ch packte meinen Rucksack für die Ferien am See, als Milja und ihre Mutter die Straße entlangkamen. Sie sahen aus wie die Leute, die durch die Tür des Beerdigungsinstituts zu uns kommen. Meine Mutter war zum Einkaufen und die Tür zum Geschäft war noch geschlossen. Miljas Mutter drückte auf die Klinke und dann klopfte sie an unserer anderen Tür. Ich bekam Herzklopfen. Milja sah zum Küchenfenster herein und mir direkt in die Augen. Ich ging zur Tür und sagte: »Meine Mutter ist noch nicht da!« »Wann kommt sie denn zurück?«, fragte Miljas Mutter. »Bald«, sagte ich. Ich überlegte, was meine Mutter jetzt machen würde. »Wollt ihr eine Tasse Kaffee trinken?«, fragte ich. »Wir kommen am besten rein und warten auf sie«, sagte Miljas Mutter. Ich setzte Kaffeewasser auf. Milja und ihre Mutter hatten verweinte Augen und sie sagten nichts. »Es ist doch nichts passiert mit Katri?«, fragte ich. »Sie ist bei den Nachbarn«, sagte Milja und fing an zu weinen. »Geht es ihr nicht gut?« »Ach Juhani, mein Mann ist gestorben«, sagte Miljas Mutter. »Echt?«, sagte ich. »Ganz echt, mein Junge«, sagte Miljas Mutter. Der Kaffee kochte über und Miljas Mutter nahm einen Lappen und wischte über den Herd. Sie stellte die Kaffeekanne auf die Seite, wo es nicht so heiß war. Ich stellte Kaffeetassen auf den Tisch und setzte mich dann zu Milja. »Was hatte er denn?«
»Der Splitter im Kopf, der hat ihn umgebracht«, antwortete Miljas Mutter. »Der Krieg ist schon fünfzehn Jahre zu Ende, aber man kann immer noch an ihm sterben.« Milja sah ihre Mutter wütend an und schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht, warum sie auf ihre Mutter sauer war. Später habe ich den Grund erfahren. In dem Augenblick dachte ich aber nur daran, dass jetzt Milja auch keinen Vater mehr hatte. Und dass er auch nie wieder zurückkommen würde. Ich hatte von vielen Todesfällen gehört, ich hatte schon viele traurige Menschen gesehen. Aber diesmal war es anders. Es war Miljas Vater, der gestorben war. Als meine Mutter kam, fingen Milja und Miljas Mutter wieder an zu weinen. Meine Mutter holte einen Packen großer weißer Stofftaschentücher, setzte sich zu ihnen und hörte zu. Miljas Mutter beschrieb das Sterben ihres Mannes. Meine Mutter sagte nichts. Sie hörte nur zu und reichte ihr zwischendurch ein frisches Taschentuch. »Ja, Edna«, seufzte Miljas Mutter dann. »Nun weißt du, warum wir hier sind. Den Rest kennst du ja. Einen guten Sarg soll er haben. Er hatte kein leichtes Leben. Wahrhaftig nicht. Aber er soll wenigstens in einem schönen Sarg liegen und ein würdevolles Begräbnis bekommen.« »Sollen wir erst die Särge anschauen, ehe wir alles Weitere besprechen?«, fragte meine Mutter. Ich ging mit in das Zimmer, wo die fertigen Särge aufgestellt waren. »An ein paar Särgen habe ich mitgearbeitet«, flüsterte ich Milja zu. Sie nickte und fasste die Hand ihrer Mutter. Die drückte Miljas Hand und sagte: »Such du etwas aus für deinen Vater. Er hat dich ja so geliebt.« Ich dachte an das letzte Mal, als ich Miljas Vater gesehen hatte.
Wie er um die Fahnenstange lief und fluchte. Ich sah Milja an. Sie schaute mir in die Augen und sagte: »Er hat mich geliebt und ich habe ihn auch geliebt.« Ihr gefielen die fertigen Särge nicht. »Die sehen alle aus wie Kastenkuchen mit Sahnefüllung.« »Aber Milja!«, rief ihre Mutter. Meine Mutter führte sie in das Zimmer, wo die unbearbeiteten Holzsärge standen, und zeigte Milja und ihrer Mutter verschiedene Stoffe, mit denen man den Sarg bespannen könnte. »Sein letztes Bett soll schön sein, aber nicht zu teuer, Edna«, sagte Miljas Mutter, als Milja einen Stoff ausgesucht hatte, der ihr gefiel. »Mach dir darüber keine Gedanken. Das kriegen wir schon hin«, sagte meine Mutter. Als alles für die Beerdigung besprochen war, fingen Milja und ihre Mutter wieder an zu weinen. Ich holte neue Taschentücher aus der Küche und drückte sie Milja in die Hand.
»Eigentlich ist es doch egal, in welchem Sarg man liegt, wenn man gestorben ist«, sagte ich zu meiner Mutter, nachdem Milja und ihre Mutter gegangen waren. »Den Toten ist es bestimmt egal, aber nicht den Angehörigen. Zumindest den meisten nicht. Ob die Menschen nun an Gott und an die Auferstehung glauben oder an gar nichts, sie wollen, dass der Abschied von diesem Leben feierlich ist. Einige wollen auch ihren Lieben unbedingt etwas Eigenes in den Sarg mitgeben, nicht nur das Totenhemd. Einmal wollte eine Frau, dass ihr Mann im Sarg die Socken trug, die sie ihm gestrickt hatte. Und eine andere wollte sogar, dass ihr Mann
seine Wanderschuhe anbehält, weil er beim Wandern gestorben war. Ein Mann hätte gerne einen blauen Sarg für seine Frau gehabt, weil Blau ihre Lieblingsfarbe gewesen war. Das ging leider nicht. Dein Vater, der gerne alles Mögliche auf dieser Welt verändert hätte, wetterte immer dagegen, dass die Särge von innen weiß sein müssen, dass die Taufkleider weiß sind, dass die Bräute in Weiß zum Altar gehen. Also dagegen, das alles gleich aussehen muss.« »Er selbst hat einen weißen Anzug getragen«, sagte ich. »Stimmt«, sagte Mutter. »Aber er war der einzige Mann in dieser Stadt, der einen weißen Anzug trug. Er war halt die Ausnahme, der Tangosänger.«
Nach einer Weile sagte ich: »Milja war sehr traurig.« Mutter nickte. »Möchtest du, dass ich dich zu der Beerdigung abhole?« »Ich habe ihn doch gar nicht richtig gekannt«, sagte ich. »Aber du kennst Milja und Katri. Ihnen täte es gut, wenn du dabei wärst.« »Warum? Sie möchten doch bestimmt am liebsten keinen Menschen sehen. Auf jeden Fall möchte ich niemanden sehen, wenn mein Vater gestorben wäre.« »Ich glaube, dass es wichtig ist, wenn Freunde sie zur Kirche und zum Friedhof begleiten, an ihrer Trauer teilnehmen«, sagte meine Mutter. »Du kannst es dir ja noch überlegen. Die Beerdigung ist frühestens in zehn Tagen.« Im Bett dachte ich an Milja. Ich hätte ihr gerne gesagt, dass es mir Leid tat mit ihrem Vater. Aber ich hatte das nicht über die Lippen gekriegt. Vielleicht wusste sie es auch so, dass ich es sagen wollte.
Ich stand noch einmal auf und sah das Foto von meinem Vater an, dann nahm ich es aus dem Rahmen und steckte es in mein Englischvokabelbuch.
Die Eltern meines Vaters wohnten im Winter in einem Landhaus, das früher den Eltern meines Großvaters gehört hatte. Er war Bauer gewesen, aber die Felder wurden schon lange nicht mehr bestellt. Mein Großvater war gleich nach seiner Heirat in die Stadt gezogen und in das Geschäft seiner Schwiegereltern eingestiegen. Das Geschäft war das Beerdigungsinstitut. »Das darf man nicht als Geschäft bezeichnen«, hat er mir einmal gesagt, »weil die Menschen es nicht gerne haben, wenn man die Dinge beim Namen nennt.« Das Bauernhaus lag etwa dreißig Kilometer von der Stadt entfernt, und nur ein paar Kilometer von dem Haus stand das Mökki, das Holzhäuschen, in dem meine Großeltern die Sommermonate verbrachten. Ich war jeden Sommer bei ihnen gewesen. Früher, als mein Vater noch zu Hause war, fuhren wir alle zusammen dorthin. Nachdem mein Vater weggegangen war, besuchten meine Mutter und ich die Großeltern, und als sie das Beerdigungsinstitut übernahm, verbrachte ich einige Ferienwochen allein bei ihnen. Meine Mutter kam nur übers Wochenende, wenn sie Zeit hatte und gerade keine Beerdigung stattfand. Ich liebte das Sommerhaus. Es stand ganz nah an einem kleinen See. Jeden Sommer zog ein Möwenpaar seine Jungen auf einem Stein nah am Ufer auf. Auch die Schwäne kamen mit ihren Kleinen jeden Sommer. Sie schwammen über den See und fraßen ein paar Tage Wasserpflanzen in Ufernähe und
watschelten dann mit ihren noch nicht flugfähigen Jungen durch den Wald zu einem anderen See. Morgens und abends hörte man die Rufe der Haubentaucher. Die Strandläufer und Bachstelzen trippelten auf den Steinen oder saßen auf dem Steg. Im Schilf lauerten die Hechte, Rotaugen und Barsche schwammen träge in dem niedrigen Wasser neben dem Steg. Im Juli schwirrten die Libellen und Schmetterlinge flatterten durch die Luft. Im Juni die Mücken. Die Mücken waren die Ersten, die meine Mutter und mich begrüßten, als wir aus dem Wagen stiegen. Dann kamen meine Großeltern. Meine Großmutter roch immer ein wenig nach Hefeteig, mein Großvater nach Zigarillos. »Nun kann der Sommer kommen«, sagte sie. »Mir scheint er schon da zu sein«, sagte er und strich sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne war heiß und kein Wind wehte. Ein paar aufgeplusterte Sommerwolken segelten am Himmel. Ich lief zum Steg. »Ich springe sofort ins Wasser!«, rief ich. Großmutter brachte mir ein Handtuch und sagte: »Bleib aber nicht zu lange drin, das Wasser ist noch nicht sehr warm.« Ich bibberte, als ich in die Küche kam. Oma goss mir heißen Kakao ein und Opa sagte: »Nun hast du das Winterfell abgestreift!« Das Sommerhaus hatte eine Wohnküche, in der einen Ecke stand der Herd und die Spüle, vor dem Fenster standen ein rechteckiger langer Tisch mit einer Sitzbank auf jeder Seite, eine ausziehbare Holzliege und ein Sessel, und außerdem gab es einen offenen Kamin. Neben der Küche war ein winziger Raum mit zwei Betten. Dort schliefen Großmutter und Großvater. Von außen ging
eine Treppe nach oben zum Dachboden, wo noch ein kleines Zimmer war. Da schlief ich. Früher hatten wir zu dritt in der kleinen Kammer geschlafen. Wenn Mutter jetzt für eine oder zwei Nächte kam, schlief sie in der Wohnküche. Mein Zimmer oben hatte ein kleines Fenster, aus dem ich auf den See sehen konnte. Ich hatte auch einen Tisch, an dem ich viele Bilder von dem See gemalt hatte. In diesem Sommer würde ich an dem Tisch Englischvokabeln lernen. Und an die Harley-Davidson denken. Mein Zimmer roch nach Holz und Traubenkirschenblüten. Oma hatte eine Vase mit den weißen Blüten auf die Fensterbank gestellt. Als ich die weißen Blumen sah, fiel mir wieder die Beerdigung ein. Ich dachte darüber nach, was meine Mutter mir gesagt hatte: dass man an der Trauer von anderen teilnehmen sollte, um Trost und Anteilnahme zu zeigen. Ich glaubte nicht, dass man an der Traurigkeit eines anderen teilnehmen kann. Traurigkeit ist wie die eigenen Gedanken, man kann sie den anderen nicht mitteilen. Auf jeden Fall nicht so, wie man es möchte. Wenn ich meiner Mutter etwas erzählte, klang es meistens anders als das, was ich hatte erzählen wollen. Und wenn ich mit Pentti sprach, redete ich oft nur von Dingen, die ihn meiner Meinung nach interessierten. Vielleicht erzählte Pentti auch mir bloß Sachen, von denen er glaubte, sie würden mich interessieren. Manchmal redete ich nachts mit meinem Vater, wenn ich Sorgen hatte und nicht einschlafen konnte. Für jemanden, der gar nicht da war, gab er mir ziemlich gute Ratschläge.
»Kennst du den Namen der Blumen, die deine Großmutter in das Zimmer gestellt hat?«, fragte Opa.
»Klar, in Botanik muss ich keine Nachprüfung machen«, sagte ich und grinste. Opa schmunzelte und Oma sagte: »So schlecht ist er doch bestimmt nicht in Englisch! Diese Lehrer sind aber auch streng.« »Ich weiß nicht, ob die Wochen bei deinen Großeltern der Erziehung gut tun. Die beiden werden immer jemanden finden, der für deine Fehler oder deine Faulheit herhalten muss. Aber du wirst dich bestimmt sehr wohl fühlen und dich so richtig verwöhnen lassen«, sagte meine Mutter. »Du brauchst dir um den Jungen keine Gedanken zu machen. Wir sorgen schon dafür, dass er nächstes Jahr nicht die Klasse wiederholen muss«, sagte Großvater und zwinkerte mir zu. Dann redeten sie über die Eltern meiner Mutter und wie es ihnen ging und als Oma so weit war, dass sie anfing über meinen Vater zu reden, wie er war und wie er nicht war, ging ich nach draußen. Ich hatte alles schon so oft gehört. Es war ja nichts Neues dazugekommen, über das man hätte reden können. Ich hätte etwas Neues erzählen können. Aber sie hätten sich nur aufgeregt, wenn ich die Harley-Davidson erwähnt hätte. Um das Haus wuchsen Birken, vor dem Haus Gras und Wildblumen. Ich ging den Pfad entlang, der zu einem kleinen Wäldchen führte, und erinnerte mich an die Blindschleiche, die Vater mir gezeigt hatte. Er hatte mir auch im Moor eine Kreuzotter gezeigt und mich davor gewarnt sie anzufassen. Die Blindschleiche hatte ich in die Hand genommen. Sie sah schön aus und fühlte sich gut an. Mein Vater mochte es, Dinge in die Hand zu nehmen, sie zu berühren. Er befühlte Steine und Baumstämme, betastete ihre Form und Fläche. Mal schnitzte er aus Ästen und Wurzeln Tiere für mich, mal etwas für sich.
Er zeigte mir dann die Schnitzereien, die er zu seiner eigenen Freude gemacht hatte und sagte: »Ich weiß nicht, was das darstellen soll. Aber mir gefällt es.« Wenn wir zusammen waren, hielt er meine Hand fest oder er trug mich auf seinen Schultern. Wenn ich am Tisch saß und malte, strich er mir über den Kopf oder legte seine Hand auf meinen Rücken. Wenn ich ihn anschaute, lächelte er und sagte: »Ich muss ab und zu spüren, dass du wirklich da bist.« Mein Vater hat sich am See und in dem kleinen Mökki immer wohl gefühlt. Zum Angeln hatte er keine große Lust, aber er ruderte viel und wanderte gerne durch die Wälder. Die Birke, die direkt am Haus stand, war über zwanzig Meter hoch. »Das ist der Hausbaum«, hatte mein Vater mir gesagt. »So lange der Baum steht und wächst, kann den Menschen, die in dem Haus leben, nichts Böses geschehen. Der Baum ist der Wächter des häuslichen Glücks.«
Meine Großmutter machte morgens das Frühstück, ich holte das Wasser für den Kaffee aus dem Brunnen und das Spülwasser aus dem See und Großvater spülte das Geschirr. Ich fütterte die Rotaugen vom Steg aus mit Brot, ruderte eine Runde, schwamm und ließ mich von der Sonne bescheinen, bis Oma zum Mittagessen rief. Danach wurde ich zum Vokabellernen in mein Zimmer geschickt. Eine halbe Stunde saß ich vor meinem Englischbuch. Dann las ich noch anderthalb Stunden in meinem Krimi, bis Großmutter rief: »Nun komm mal runter, mehr kann kein Kopf auf einmal aufnehmen.« Es gab Kakao und Bostonkuchen, Omas Spezialität. Er wurde aus Hefeteig gemacht. Der Teig wurde zu einer rechteckigen
Form ausgerollt, mit viel Butter bestrichen, über die Butter streute man Zucker und Zimt und dann wurde der Teig zusammengerollt und in gleichmäßig große Stücke geschnitten, die in einer Kuchenform nebeneinander gelegt wurden, sodass sie von oben aussahen wie aufgeblühte Rosen. Den Bostonkuchen hatte mein Vater sehr gemocht. Und ich hatte ihn auch schon mit meinem Vater gebacken. »Warum heißt der Kuchen wohl Bostonkuchen?«, fragte er mich, als ich Zucker und Zimt auf den Teig streute. »Was ist Boston?«, fragte ich zurück. »Eine Stadt in Amerika! Aber kommt der Zimt aus Boston? Nein. Kommt die Hefe aus Boston? Nein. Haben die Bostoner den Hefeteig erfunden? Nein. Also, warum heißt der Kuchen Bostonkuchen?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich weiß es auch nicht, mein Sohn. Aber wir können ja mal nach Boston reisen und uns nach dem Bostonkuchen erkundigen! Man muss nach Erklärungen suchen, und wenn die Erklärung in Amerika zu finden ist, fahren wir hin!« Hier am See und in dem Holzhäuschen war mein Vater jeden Augenblick anwesend. Durch das, was er getan oder gesagt hatte, durch das, was er mochte oder nicht mochte. Und dadurch, dass seine Eltern immer an ihn dachten. Auf jeden Fall, wenn ich da war. Für sie war ich nicht nur ein Enkelkind, sondern der Sohn des verschwundenen Sohnes. So nannten sie mich auch manchmal. Abends angelten mein Großvater und ich vom Boot aus. Später heizte ich die Sauna an. Nachdem wir in der Sauna gewesen waren, aßen wir noch ein Brot oder ein paar Würstchen, meine Großeltern legten sich ins Bett und ich zog mich in mein Zimmer zurück und las die halbe Nacht. Ich hatte eine Menge Bücher mitgenommen. Nirgends macht es so viel Spaß, Krimis zu lesen, wie in einer kleinen
Dachkammer, wenn die Fußbodenbretter knarren, der Wind heult und ab und zu eine Eule ruft. Sobald ich das Licht ausmachte, träumte ich von meinem Vater. Er klopfte an die Tür. Oder er kam mir plötzlich auf der Straße entgegen. Er trug einen weißen Anzug und als wir uns gegenüberstanden, sagte er: »Na, mein Sohn.«
Tagsüber sang und pfiff ich Lieder und Melodien, die mir einfielen. Meine Großmutter und mein Großvater lächelten glücklich, als sie mich singen hörten. Manchmal summte Opa mit. Wir waren zufrieden. Aber das Motorrad vergaß ich nicht. Einmal angelten Großvater und ich am späten Abend auf dem See. Draußen war es ganz hell, und ich sah Großvater zu, wie er seine Angel schwang, um den Haken mit dem Wurm möglichst weit vom Boot zu werfen, ich sah die Spannung und die Vorfreude auf seinem Gesicht, wenn ein Fisch angebissen hatte. Großvater hatte tiefe Furchen um seinen breiten Mund, viele Falten unter den dunklen Augen und seine Haare waren grau. Als ich ihn so ansah, konnte ich mir vorstellen, wie mein Vater als alter Mann aussehen würde. Wenn ich in den Spiegel sah, konnte ich mir vorstellen, wie er als Junge ausgesehen hatte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie er jetzt aussah. Nicht einmal, wie er ausgesehen hatte, als er noch da war. Ich wusste nur, wie er auf dem Foto mit der Harley-Davidson aussah. Das war das letzte Foto von ihm. Als wir fünf Barsche und zwei ziemlich dicke Rotaugen gefangen hatten, meinte Großvater: »Das reicht wohl für eine Fischsuppe. Wir wollen nicht mehr mitnehmen, als wir essen können.« »Papa hat nicht so gerne geangelt, oder?«, sagte ich. »Dazu fehlte ihm die Geduld. Er hat die Reusen ins Wasser geworfen. Um die brauchte man sich dann nicht weiter zu
kümmern. Am nächsten Tag leerte er sie und holte die Fische raus. Fangen wollte er schon. Aber er wollte dafür nicht stundenlang auf einem Fleck sitzen müssen. Ja, das Fangen machte ihm schon Spaß!« »Dir denn nicht?« »Doch, mir auch. Wir Menschen haben das noch im Blut, dieses Jagen und Sammeln, aber ich brauche keine Reusen und Netze. Beim Angeln weiß ich, wann ich genug Fische habe, wann es Zeit ist aufzuhören. Man muss ja auch an die kommenden Tage denken. Man braucht jeden Tag etwas zu essen, man sollte nicht an einem Tag den ganzen See leer fischen.« »Das könnte man doch gar nicht«, sagte ich. »Einige versuchen es, und eines Tages kann es sogar so weit sein, dass jemand den letzten Fisch aus dem See angelt.« »Hat mein Vater das versucht?« »Ihm ging es gar nicht um die Fische oder um andere Dinge, es war nur so, dass ihm nichts genug zu sein schien. Oder es war nicht das Richtige. Dein Vater war ein Mensch, der vor einem langen Tisch, gedeckt mit den leckersten Speisen, stehen konnte, ohne etwas zu finden, was ihm schmeckte. Probiert hätte er alles, aber er hätte nicht das gefunden, was genau nach seinem Geschmack gewesen wäre. Warum das so war, weiß ich auch nicht. Ich dachte manchmal, dass er etwas sucht, was es gar nicht gibt. Ihn trieb eine Unruhe, die ich nie verstanden habe.« »Glaubst du, dass er gestorben ist?« »Keine Ahnung.« »Ich glaube, dass er lebt«, sagte ich. »Dann ist es ja gut«, sagte er. Nach der Sauna zog Großvater sich an und stieg allein ins Boot.
Er ruderte in die Mitte des Sees, blieb dann bewegungslos sitzen und ließ die leichten Wellen das Boot schaukeln. Ich ging vors Haus und setzte mich auf die Treppe. Großmutter kam mir nach und setzte sich neben mich. »Gleich singt er«, sagte sie. Erst riefen die Haubentaucher vom See, dann war es einen Augenblick ganz still und dann sang Großvater. Das Lied füllte die Luft, schwebte über das Wasser und hallte von einem Ufer zum anderen. Die Melodie war wunderschön, die Worte waren traurig. Das Lied erzählte von der Geliebten eines Seemanns, die am Strand steht und den Lichtern des auslaufenden Schiffes nachschaut. Es war das Lied, das mein Vater auch oft gesungen hatte. Als Großvater sang: »Ich glaube an die Kraft der Liebe, sie wird ihn zurückbringen«, wischte Großmutter sich die Tränen aus den Augen. Dann sagte sie: »Ich war damals sehr gegen die Anschaffung des Motorrades. Aber dein Vater musste es unbedingt haben. Damit ist er ja dann auch davongebraust. Und kein Mensch weiß warum. Verlässt einfach seine Frau und sein Kind! – Er wollte ja nicht heiraten. Aber wir haben ihm gesagt, wenn du ein Kind zeugen kannst, kannst du auch für das Kind und die Frau sorgen. Dem war wohl nicht so. Manchmal frage ich mich, was wir falsch gemacht haben. Manchmal bin ich einfach wütend auf ihn. Aber ich weiß, wenn er jetzt den Weg entlang käme, würde ich ihm keine Vorwürfe machen. Ich würde ihn nur in die Arme schließen.« »Wartet Großvater auch noch auf ihn?«, fragte ich. »Männer kennen das Warten nicht. Sie haben es nie geübt und sie können es auch nicht.«
I
ch hatte von meinen Großeltern Geld für das Zeugnis bekommen. Die Zensuren spielten dabei keine Rolle. Es war keine Belohnung für gute Leistungen, sondern das Sommergeld, wie sie es nannten. Sie wären nicht damit einverstanden gewesen, was ich mit dem Geld vorhatte, und ich sagte es ihnen auch nicht. Als Mutter mir schrieb, an welchem Tag die Beerdigung von Miljas Vater war, machte ich einen Plan. Alle zwei Tage holte ich Milch von einem Bauernhof. Manchmal sah ich der Bäuerin beim Melken zu und plauderte mit ihr. Ich wusste, dass ihr Sohn öfter zum Einkaufen in die Stadt fuhr. Ich fragte die Bäuerin, wann ihr Sohn wieder in die Stadt fahren würde und ob er mich wohl mitnehmen könnte. »Holt deine Mutter dich denn nicht ab?«, fragte sie. »Doch, eigentlich schon, aber im Augenblick hat sie viel zu tun.« »Ja, ja«, sagte sie und presste einen kräftigen Milchstrahl aus einer Zitze der Kuh. »Gestorben wird immer.« »Ich muss auch zu einer Beerdigung. Der Vater meiner Schulkameradin ist gestorben.« »Ist das nicht traurig?« Sie schüttelte den Kopf und hörte einen Moment auf zu melken. »Von einer Schulkameradin. Darm kann der ja kein ganz alter Mann gewesen sein. Die arme Frau. Hat sie denn viele Kinder?« »Zwei Töchter. Eine ist zwölf und die andere ist dreizehn.« »Na, das geht ja noch. Die sind doch schon fast erwachsen.« »Kann ich also mitfahren?«, fragte ich. »Klar, kannst du. Ich sag Jouni Bescheid, aber du musst um acht Uhr hier sein. Warten tut er nicht. Er will ja auch noch aufs Feld.«
Meinen Großeltern sagte ich, dass meine Mutter bestimmt viel zu tun hätte wegen der Beerdigung und darum würde ich mit Jouni am nächsten Tag in die Stadt fahren. »Wollte deine Mutter dich nicht abholen?«, fragte Großmutter. »Schon, aber ich will früher hinfahren, um ihr ein wenig zu helfen«, sagte ich und sah auf den Boden. »Auch keine schlechte Idee«, meinte Großmutter und Großvater fragte ein wenig misstrauisch: »Wobei willst du ihr denn helfen?« Ich murmelte etwas vom Aufräumen der Küche. Die halbe Nacht wälzte ich mich im Bett herum und war froh, als ich aufstehen, frühstücken, den Rucksack nehmen und aufbrechen konnte. Großvater sah bedrückt aus. Vielleicht dachte er, es gefalle mir nicht bei ihnen und ich würde nur nach Gründen suchen, um nach Hause gehen zu können. »Ich komme ja bald wieder«, sagte ich. »Der Sommer ist noch nicht vorbei.« Sie winkten mir nach und plötzlich wollte ich sie noch einmal drücken und ich rannte zurück. Als ich vor ihnen stand, war ich verlegen und sagte: »Ich wollte euch noch fragen, ob ich vielleicht Milja für ein paar Tage einladen kann. Ich meine, jetzt wo sie keinen Vater mehr hat.« »Sie ist herzlich willkommen«, sagte Großmutter, Großvater nickte und lächelte. »Also, hei dann – bis bald«, sagte ich und ging. Und sie winkten mir wieder nach.
Jouni ließ den Motor seines Minilasters schon laufen, der ganze Wagen wackelte und der Auspuff stieß dicke Abgaswolken in die frische Morgenluft. Ich kletterte neben ihn auf den Sitz und sagte: »Morgen!«
Er nickte und schaltete den Gang ein. »Tolles Wetter!«, sagte ich. »Wird wohl«, antwortete er. »Fährst du oft in die Stadt?«, fragte ich. »Geht so«, sagte er. »Wohl viel zu tun auf den Feldern im Sommer?« »Wie man’s nimmt«, sagte er. »Ich muss zu einer Beerdigung in die Stadt«, sagte ich. »Kommt vor«, sagte er. Ich sah mir die Nebelkrähen an, die am Wegesrand nach ihrem Frühstück, Würmern und Käfern, suchten. Der Löwenzahn blühte und einige Wiesen sahen von weitem aus, als hätte man sie mit Butter bestrichen. »Du musst mich nicht bis zur Haustür bringen«, sagte ich. »Du kannst mich gleich am Stadtrand rauslassen.« »Wird gemacht«, sagte Jouni. Ich zeigte ihm, wo ich aussteigen wollte und bedankte mich bei ihm fürs Mitnehmen. »Kein Problem«, sagte er. Meine Probleme fingen jetzt an. Ich musste an die Bushaltestelle kommen, ohne dass mich Bekannte von Mutter sahen. Schwierig in einer so kleinen Stadt, wo fast alle Menschen meine Mutter und auch mich kennen. Vor allem, weil sich der Busbahnhof direkt am Marktplatz befindet. Ich sah mir die Abfahrtszeiten an und kaufte eine Fahrkarte. Ich musste noch anderthalb Stunden warten. Ich versteckte mich zwischen zwei Booten, die am Flussufer vor dem Marktplatz befestigt waren. Ich hatte schon wieder Hunger, aber ich wagte nicht zu einem Kiosk zu gehen oder mich in einer Bäckerei blicken zu lassen. Mein Magen knurrte. Ich war aufgeregt.
Als ich im Bus nach Vaasa saß, bekam ich Zweifel an meinem Vorhaben. Ich kannte Vaasa und wusste, dass es eine kleine Stadt war, noch kleiner als unsere, aber vielleicht gab es dort auch andere Männer, die eine Harley-Davidson besaßen oder früher mal eine besessen hatten. War es überhaupt möglich, jemanden zu finden, der über die Motorräder der Stadt Bescheid wusste? Mir kam meine Fahrt nach Vaasa auf einmal ziemlich aussichtslos und kindisch vor. Aber ich saß im Bus und konnte nicht mehr aussteigen, es sei denn, ich würde kilometerweit zu Fuß zurücklaufen. Wenn Pentti bei mir gewesen wäre, wäre ihm etwas Lustiges eingefallen, um die Stimmung zu heben. Mir fiel nur ein, dass ich meine Großeltern gefragt hatte, ob ich Milja mitbringen könnte, ohne zu wissen, ob sie überhaupt mitkäme und ohne eigentlich zu wissen, ob ich sie dabeihaben wollte. Ich wünschte mir schon, mit ihr zusammen sein zu können, aber ich hatte Angst, es würde ihr dort nicht gefallen. Oder es würde ihr nicht gefallen, den ganzen Tag mit mir zusammen zu sein. Aber es würde sowieso alles anders werden, wenn ich meinen Vater gefunden hätte. Er musste in Vaasa leben. Natürlich erst seit ein paar Wochen. Als er aus Afrika zurückgekommen war, hatte er plötzlich hohes Fieber bekommen. Er hatte Malaria und er musste einige Wochen im Krankenhaus in Vaasa bleiben. Er hatte uns nicht angerufen, weil er nicht wollte, dass wir uns Sorgen machen, und auch nicht, dass wir ihm das erste Mal nach so langer Zeit in solch einem schwachen Zustand begegnen. Trotzdem war er erfreut, mich zu sehen. Er sah mich liebevoll und stolz an und sagte: »Ich kann dir alles erklären, mein Sohn.« Ich wischte ihm die Stirn ab und sagte: »Streng dich jetzt nicht an, wir haben ja noch viel Zeit.«
Die Frau neben mir sprach mich an: »Bist du nicht der Sohn von Edna Tammi? Was hast du denn? Du siehst so traurig aus. Ist was mit deiner Mutter?« Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Ich musste nur gerade an eine Beerdigung denken.« »Kein Wunder, bei dem Beruf, den deine Mutter hat. Da kann man ja an gar nichts anderes mehr denken. Für mich wäre das nichts. Immer nur Sargdeckel zumachen. Willst du nach Vaasa oder steigst du unterwegs aus?« »Nach Vaasa!« »Ich steig gleich aus. Ich muss meine Eltern besuchen. Die werden ja auch nicht jünger.« Ich nickte. Kurz darauf stieg sie aus dem Bus und ich fiel aus meinen Träumereien. Im Busbahnhof von Vaasa ging ich erst mal in die Baari, in das Bahnhofscafé, und bestellte mir Würstchen mit Kartoffelbrei und eine Limonade. Danach fühlte ich mich gestärkt für die Suche. Ich sprach die Verkäuferin hinter der Theke an. »Hei!«, sagte ich. »Kennst du zufällig jemanden in Vaasa, der eine Harley-Davidson hat oder gehabt hat?« »Meinst du nicht, dass für dich noch ein Fahrrad oder ein Mofa ausreicht?«, fragte sie und lachte. Ich wurde rot. »Ich suche kein Motorrad für mich. Ich darf es ja noch gar nicht fahren!« »Aber eine Harley-Davidson ist ein Motorrad. Was dachtest du denn, was es ist? Ein Kinderwagen?« »Ich weiß, dass es ein Motorrad ist. Aber ich will es nicht kaufen. Ich muss nur mit dem Mann sprechen, der eins hat oder eins gehabt hat«, sagte ich. »Und worüber musst du mit ihm sprechen?«, fragte sie amüsiert, gab mir ein Bonbon und nahm sich auch eins. Sie
wickelte es aus dem Papier, glättete das Stanniol mit ihren Fingernägeln und wartete auf meine Antwort. Als ich nichts sagte, zeigte sie auf das goldene Papierstück. »Ich sammele sie und mache daraus Weihnachtssterne.« »Also, du hast keine Harley in Vaasa gesehen?« »Doch – aber wessen Hintern drauf saß, das kann ich dir nicht sagen.« »Wann war das denn?« »Hab vergessen, es in meinem Kalender zu notieren. Aber ich kann dir sagen, wer es weiß!« »Wer denn?«, fragte ich aufgeregt. »Der Technische Überwachungsverein, sagt dir das was?« Ich nickte. »Die wissen, was für Fahrzeuge angemeldet sind!« »Genau – und die Polizei. Die wissen es auch.« »Danke!«, sagte ich und drehte mich zum Gehen. »Hei! Willst du mir nicht erzählen, warum du es wissen willst?«, rief sie mir nach. Ich blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Wohl ein Familiengeheimnis«, sagte sie.
Ich fand den TÜV, aber die Frau dort wollte mir keine Auskunft geben. Die Polizei auch nicht. Sie fragten nach der Zulassungsnummer des Motorrads, das ich suchte. Und nach dem Grund, warum ich es wissen wollte, und nach dem Typ und Baujahr des Fahrzeugs und nach meinem Alter und nach dem Namen des Besitzers. Ich wusste nur meinen Namen, mein Alter und den Grund, warum ich nach dem Motorrad und seinem Fahrer suchte, aber den Grund erzählte ich ihnen nicht.
Ich fragte noch die Verkäuferin in einem anderen Café, ob sie eine Harley-Davidson gesehen hätte, aber sie wusste nicht einmal, was eine Harley-Davidson ist. Ich schlenderte zwischen den Holzhäusern eine Straße entlang und wünschte, ich wäre zu Hause, oder in dem Sommerhäuschen, in der kleinen Dachkammer oder mit dem Boot draußen auf dem See.
Ich sah meinen Vater am anderen Ende der Straße stehen. Ich blieb auch stehen. »Du bist gekommen?«, rief ich. »Ja, ich bin gekommen«, rief er zurück. Wir gingen langsam aufeinander zu. Er verzog keine Miene. Ich auch nicht. Er hatte seinen weißen Anzug an. Seine Lackschuhe knallten bei jedem Schritt auf das Pflaster. Der Wind heulte, der Staub wirbelte durch die Luft. Wir kamen uns immer näher. Dann standen wir uns gegenüber. Ich sah in seine Augen. Langsam füllten sie sich mit Tränen. Er breitete die Arme aus und rief: »Mein Sohn, kannst du mir jemals verzeihen?« »Du kommst zu spät. Ich brauche dich nicht mehr«, sagte ich. Er streckte mir die Hand entgegen. Ich kehrte ihm den Rücken zu und drehte mich nicht mehr um, obwohl er nach mir rief.
Mein Vater streckte mir die Hand nicht entgegen und ich konnte ihm auch nicht den Rücken zukehren. Dafür hätte ich ihn erst finden müssen. Ich kehrte nur der Stadt Vaasa den Rücken und ging zurück zum Busbahnhof. Plötzlich kam mir der Gedanke, was wäre, wenn meine Mutter mich wirklich einen Tag früher abholen wollte. Was
würde sie denken, wenn ich nicht bei den Groß eitern war? Und was würden meine Großeltern denken? Ich wollte schnell zurück. Aber der nächste Rus fuhr erst spätabends. Ich setzte mich in den Warteraum, nahm mein Englischbuch aus dem Rucksack, sah mir das Foto von meinem Vater an und lernte dann Vokabeln. Nach einer Stunde hatte ich wieder Hunger. Ich ging in die Baari und kaufte mir ein Brot. »Glück gehabt?«, fragte die Verkäuferin mich. »Nicht so richtig«, sagte ich. »Also nein?«, sagte sie. Ich schlurfte mit meinem Brot zu einem Tisch in der Ecke. Mir war der Appetit vergangen. Ich kaute an dem Brot herum und die Verkäuferin aß Bonbons, glättete das Stanniolpapier sorgfältig und legte die glänzenden Stücke aufeinander. Zwischendurch sah sie zu mir herüber. Dann rief sie den Männern, die in der anderen Ecke Skat spielten, laut zu: »Hört mal, Jungs, wie heißt der Typ, der vor einiger Zeit mit der Harley hier aufkreuzte? Ihr wisst schon, der Prediger und Geschichtenerzähler!« »Warum willst du das wissen?«, fragte einer der Männer und spielte weiter. »Warum? Warum nicht? Bin halt so neugierig. Weißt du es oder weißt du es nicht?« »Ich weiß es wohl«, sagte derselbe Mann und warf eine Karte auf den Tisch. »Krieg ich einen Kuss, wenn ich es dir verrate?« »Du kriegst eine Tasse Kaffee umsonst«, sagte die Verkäuferin und zwinkerte mir zu. »Gieß schon mal ein«, sagte der Mann und ging zur Theke. Sie gab ihm den Kaffee und er ihr den Namen. Ich wollte aufstehen, aber sie gab mir ein Zeichen, dass ich sitzen bleiben soll.
Sie ging ans Telefon. Sie drehte mir den Rücken zu und sprach so leise, dass ich kein Wort verstehen konnte. Dann kam sie zu mir an den Tisch und sagte: »Kämm dir die Haare und wisch dir die Tränen aus dem Gesicht. Er kommt gleich vorbei.« »Ich weine doch gar nicht!«, sagte ich. »Aber fast«, sagte sie.
Der Mann kam nach nur zehn Minuten. Er gab mir die Hand und sagte: »Ich bin Eero. Und du bist Lasses Sohn, Juhani, das sieht man.« Ich nickte. Er bestellte sich einen Kaffee und für mich noch eine Limonade und dann saß er da und lächelte mich an. »Geht es deiner Mutter gut?«, fragte er. »Kennst du sie?« »Nur vom Erzählen, wie dich auch«, sagte er. »Ich hab nach deiner Mutter gefragt, weil ich überlege, warum du wohl jetzt gerade hier auftauchst.« »Wegen des Motorrads – die Harley-Davidson.« »Ja, natürlich, die Harley-Davidson«, sagte er. »Die gehörte deinem Vater. Ich habe sie von ihm gekauft.« »Warum hat mein Vater das Motorrad verkauft?«, fragte ich. »Aus demselben Grund, warum ich es auch verkaufen musste. Er brauchte Geld. Eine Harley-Davidson ist schon etwas Besonderes, man verkauft sie nur, wenn man nichts anderes mehr zum Verkaufen hat.« »Und wo ist er jetzt?« »Dein Vater?« Ich nickte. »Das weiß ich nicht«, sagte er. Dann saßen wir wieder eine Weile schweigend. Er beobachtete mich, ich sah meine Limonade an.
»Kennst du die Geschichte der Harley-Davidson?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »In Amerika gab es zwei Burschen, die gerne angelten. Sie waren Schulfreunde und gingen zusammen zum Fischen. Sie besaßen nur ein einfaches Ruderboot und ärgerten sich darüber, dass sie nicht all die fischreichen Stellen im See erreichen konnten, weil man beim Rudern nur langsam vorankommt und das Rudern außerdem sehr anstrengend ist, wie du vielleicht weißt. Also bauten sie einen Motor für das Ruderboot. Erst waren sie nur an Booten und Fischen und Bootsmotoren interessiert. Später – ganz genau im Jahr neunzehnhundertdrei – stellten sie dann ihr erstes Motorrad her. Das war die erste Harley-Davidson. Die erste HarleyDavidson war eigentlich kein Motorrad, sondern nur ein Fahrrad mit einem Hilfsmotor. Aber mit der Zeit wurde daraus das Motorrad. Der Traum vieler Männer. So klein und unschuldig fangen viele großen Ideen an – sie sind wie kleine Kinder, niemand weiß, was eines Tages aus ihnen wird. Die zwei Burschen hießen William S. Harley und Arthur Davidson. Solche Freundschaften gibt es. Wann hast du deinen Vater das letzte Mal gesehen?« »Vor sechs Jahren«, sagte ich. »Vor sechs Jahren hat er das Motorrad gekauft.« »Und weißt du auch, von wem er das Motorrad gekauft hat?« Wieder schüttelte ich den Kopf. »Er hat es mir erzählt. Das ist auch eine Geschichte von zwei Männern aus Amerika. Einige Jahre nach dem Krieg kamen Missionare nach Finnland, die der Sekte der Mormonen angehörten. Sie hatten sich vorher über Finnland kundig gemacht und wussten, dass das Land sehr dünn besiedelt ist. So beschlossen sie, ein Motorrad mitzunehmen, damit sie ihre Mission auch zu den entlegensten Bauernhöfen und Hütten bringen konnten. Als sie nach zwei Jahren wieder nach
Amerika zurückkehrten, verkauften sie das Motorrad. Und dein Vater kaufte es.« »Und wo hast du meinen Vater das letzte Mal gesehen?« »In einer Kneipe hier in Vaasa. Wir haben uns öfter getroffen.« Ich sah ihn an. »Was möchtest du denn von mir wissen?«, fragte er. »Irgendetwas.« »Ich habe noch eine Geschichte von zwei Männern. Sie haben allerdings nichts Neues erfunden und sie hatten auch keine Mission zu verkünden. Diese zwei Männer, die nichts zum Weitergeben hatten, waren dein Vater und ich. Wir sind uns oben in Lappland begegnet, wurden Freunde und haben zusammen gesoffen. Das war unsere Erfindung und unsere Religion. Solange die Flasche voll war, gingen all unsere Träume in Erfüllung, ohne dass wir irgendetwas anderes dafür tun mussten, als das nächste Glas einzuschenken.« »Aber man kann ja nicht immer trinken!«, sagte ich. »Das kann man. Das muss man sogar, wenn man so weit ist, dass man nicht mehr ohne Alkohol leben kann. Ich hatte Glück. Ich bin von dem Zeug losgekommen. Wie es deinem Vater geht, weiß ich nicht. Als ich ihn das letzte Mal sah, ging es ihm schlecht. Das ist aber auch schon vier Jahre her. Damals nahm er von hier aus das Schiff nach Schweden und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.« »Mir sagte er, dass er nach Afrika will«, sagte ich. »Wäre vielleicht besser gewesen«, sagte er. »Ich mochte ihn gerne, deinen Vater. Er hatte eine schöne Stimme. Tangosänger wollte er werden.« »Er war einer!«, sagte ich. »Vielleicht war er einer. Und ist es vielleicht immer noch. Sei nicht traurig, dass ich dir nichts Besseres erzählen kann. Fahr
nach Hause. Vielleicht kommt er eines Tages zurück, wenn er aus dem Land des Alkoholnebels aufgetaucht ist. Weißt du, es gibt Väter, die hinterlassen ihren Söhnen Erfindungen, oder sie geben ihnen ihren Glauben weiter oder auch nur gute Ratschläge fürs Leben. Es gibt Väter, die ihre Söhne verprügeln. Es gibt kluge und dumme Väter. Es gibt gute und schlechte Väter. Und es gibt Väter, die sind weder gut noch schlecht. Sie sitzen in dem Land des Vergessens und sie hören und sehen nichts. Und sie sind unsichtbar. Die Unsichtbarkeit ist ihr einziger Schutz und sie haben Angst davor, jemand könnte ihren Namen rufen und sie müssten sich erinnern. Denn sie wollen sich nicht erinnern. Aber die Söhne suchen nach ihren Vätern. So wie viele Menschen nach dem himmlischen Vater suchen.« Er klopfte mir auf die Schulter und fragte: »Möchtest du noch eine Jaffa trinken? Ich gebe einen aus.« Er fing an zu erzählen, warum die Limonade Jaffa hieß. »Das ist nämlich eine Stadt in Israel…« Dann unterbrach er sich und schaute zur Tür. Ich drehte mich auch um. An der Baaritür stand Olavi. Er sah mich sofort und kam an unseren Tisch. Alle in der Baari sahen zu uns. Zu mir. Die Männer in der anderen Ecke hatten sogar ihr Skatspiel unterbrochen. »Tag, Juhani«, sagte Olavi. Er setzte sich zu uns an den Tisch. Eero und Olavi machten sich bekannt. »Juhani und ich haben uns gerade ein wenig unterhalten«, sagte Eero. Olavi schien ihm nicht zuzuhören. Er stand wieder auf und sagte: »Ich rufe deine Mutter an!« Eero sah mich an. »Fast hätte ich es vergessen. Das hat dein Vater mal bei mir gelassen. Ich habe es aufgehoben, weil mir das Gedicht gut gefiel. Wer es geschrieben hat, weiß ich nicht.
Dein Vater bestimmt nicht, obwohl er das mal behauptet hat. Als er nüchtern war, sagte er, er hätte es aus einem Buch abgeschrieben. Ich habe es eingesteckt, als das Mädchen aus der Baari mich anrief. Ich dachte mir schon, dass es Lasses Sohn sein muss, der sich nach der Harley-Davidson erkundigt«, sagte Eero und gab mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Als Olavi zurückkam, verabschiedete Eero sich. »Wir sollten auch zurückfahren«, meinte Olavi.
I
m Auto saßen wir einige Zeit schweigend nebeneinander, dann sagte Olavi: »Dein Großvater hatte so ein Gefühl, dass irgendetwas mit deinem Abschiednehmen nicht stimmte, entweder war es zu innig oder zu plötzlich, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hat er Lunte gerochen und hat deine Mutter angerufen. Sie hat die halbe Stadt ins Kreuzverhör genommen und als sie von deinem Interesse für die Harley-Davidson erfuhr, hat sie mich um Rat gebeten. Es war meine Idee, dass ich dich suche. Ich dachte, es sei besser, sie bleibt zu Hause und wartet auf dich. Du nimmst es mir hoffentlich nicht übel, dass ich da aufgetaucht bin?« »Ich glaube nicht«, sagte ich. »Ich meine, er, der Eero, hatte ja schon alles gesagt, was er sagen konnte.« »Was konnte er dir denn sagen?« »Dass es gute und schlechte Väter gibt«, antwortete ich. »Also weiß und schwarz«, sagte Olavi. »Die Idealväter und die Halunken. Die meisten von uns gehören wohl eher in den Graubereich. Auch dein Vater.« »Hast du ihn gekannt?« »Gesehen habe ich ihn oft. Ich habe ihn auch mal singen gehört. Eine gute Tenorstimme hatte er. Deine Mutter hat mir einiges über ihn erzählt.« »Warum hat er mich – uns verlassen?« »Die Frage kann ich dir nicht beantworten. Was ich über ihn und deine Mutter weiß, ist nicht viel, aber es kann sein, dass deine Eltern sich wohl gemocht, nur eben nicht richtig verstanden haben. Ich weiß wirklich nicht, warum er dann einfach weggegangen ist. Manchmal weiß man es auch selbst nicht, warum man etwas tut. Oder man weiß es, nur kann man es den anderen schlecht erklären.«
»Hast du ihn gefunden?«, fragte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter bedankte sich bei Olavi, dass er mich nach Hause gebracht hatte. Als sie sich verabschiedeten, sagte sie: »Ich brauchte jemanden, der meinen Zuckerspiegel kontrolliert!« »Das schaffst du schon alleine«, meinte Olavi. »Manchmal ist alles verdammt kompliziert!«, sagte meine Mutter. »Wird auch wieder einfacher«, sagte Olavi. Meine Mutter setzte sich mir gegenüber und sagte: »Hättest du mir bloß von der Harley-Davidson erzählt. Ich hätte dir sofort sagen können, dass es das Motorrad deines Vaters ist. Ich brauchte nur zwei Minuten, um das festzustellen. Ich wäre mit dir nach Vaasa gefahren.« »Warum hast du nie nach ihm gesucht?«, fragte ich. »Ich dachte, er hätte eine andere Frau gefunden. Und ich wollte ihm nicht hinterherlaufen«, sagte sie. »Es wäre so einfach gewesen, ihn zu finden. Er ist lange Zeit in Finnland gewesen!«, sagte ich. »Finnland ist ein großes Land. Man kann sich hier schon verstecken.« »In Vaasa nicht«, sagte ich. »Wolltest du dich denn verstecken?«, fragte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf und sie strich mir über die Haare und ich erzählte ihr, was ich über meinen Vater erfahren hatte. »Als er mit uns lebte, hat er nicht getrunken. Oder nur am Wochenende wie Penttis Vater, wie andere Männer auch. Ist mir neu, dass er Probleme mit dem Alkohol hatte«, sagte meine Mutter. »Vielleicht hat er sie auch erst später bekommen.« »Glaubst du, dass er eines Tages zurückkommt?«, fragte ich.
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Dein Vater war sehr eitel, auch stolz. Wie er heute ist, weiß ich natürlich nicht, aber ich glaube fast, dass er nicht zurückkommt, wenn er in Schwierigkeiten ist. Es gibt Menschen, die bemitleidet werden wollen, und es gibt Menschen, die bewundert werden möchten. Dein Vater wollte bewundert werden.« Als ich allein war, las ich das Gedicht, das der Freund meines Vaters mir gegeben hatte. Es waren nur vier Zeilen. Ich bin gestorben dem Weltgewimmel Und ruh in einem stillen Gebiet. Ich lebe in mir und meinem Himmel, In meinem Lieben, in meinem Lied. In der Nacht träumte ich von Olavi. Er hatte sich eine HarleyDavidson gekauft und lud mich zu einer Fahrt ein. Aber ich schüttelte den Kopf, nahm mein Fahrrad und fuhr allein los.
Am nächsten Tag wurde der Vater von Milja und Katri beerdigt. Bei der Trauerfeier in der Kirche weinten die Mädchen und die Frauen. Am Grab, als der Sarg in die Erde gelassen wurde, weinten auch ein paar Männer. Dann legten alle ihre Kränze und Blumengebinde um das Grab und sagten ein paar Worte dazu. Viele lasen auch Gedichte vor. Es waren sehr schöne Gedichte dabei, aber keins gefiel mir so gut wie die vier Zeilen, die mein Vater aus irgendeinem Buch abgeschrieben hatte. Die Leute sprachen Miljas Mutter, Milja und Katri ihr Beileid aus. Ich drückte Milja die Hand ohne etwas zu sagen. Ich hätte auch kein Wort gewusst, um sie zu trösten.
Ich blieb zu Hause und lernte Englisch. Anfang Juli machte ich meine Nachprüfung und bestand. Meine Mutter kaufte eine Sahnetorte und lud Milja und Katri mit ihrer Mutter zum Kaffee ein. Sie wollte mit ihr darüber reden, ob Milja mit mir zu meinen Großeltern kommen dürfte. »Eigentlich könnten sicherlich beide Mädchen etwas Mökkileben gebrauchen«, sagte meine Mutter und sah mich dabei an. Ich sagte nichts. Ich wusste nicht einmal, wie ich mit einem Mädchen klarkommen sollte. Und jetzt gleich zwei. Die Mutter von Milja und Katri beobachtete mich. Ich nickte. Sie lächelte und sagte: »Ich würde aber Katri gerne zu den Eltern meines verstorbenen Mannes mitnehmen. Sie konnten ja nicht einmal bei der Beerdigung dabei sein. Meiner Schwiegermutter geht es gesundheitlich schlecht und die beiden können bestimmt etwas Hilfe gebrauchen. Katri fährt gerne zu ihnen und die Alten freuen sich auf sie.« »Dann ist doch alles klar«, sagte Mutter und lächelte mir stolz zu, als hätte sie mich gerade gerettet.
Mit Milja zusammen zu sein, war einfacher, als ich gedacht hatte. Sie konnte reden und sie konnte schweigen. Sie war eine gute Schwimmerin und wir verbrachten viele Stunden im Wasser, spritzten uns gegenseitig nass und schwammen um die Wette. Wir lagen auf dem Steg und beobachteten die Vögel und die Wolken. Wir fütterten Fische und suchten nach Eidechsen und Strandspinnen. Sie hatte keine Angst vor Spinnen. Vor Kreuzottern auch nicht. Mitte Juli halfen wir Jouni einen Tag beim Heuen und er belohnte uns mit Schokolade und mit einem vollständigen Satz: »Das habt ihr gut gemacht.«
Wenn wir ruhig auf dem Steg lagen und den vorbeiziehenden Wolken nachsahen, sprachen wir manchmal über unsere Väter. Ich hatte nie viel über meinen Vater gesprochen. Mit meiner Mutter sprach ich nicht über ihn, ich stellte nur Fragen. Oder ich wartete ab, dass meine Mutter etwas über ihn erzählte. Was nicht häufig vorkam. Mit meiner Großmutter redete ich auch nicht über ihn, weil sie dann zu weinen anfing. Bei meinem Großvater hatte ich oft das Gefühl, dass er wütend auf ihn war. Und darüber wollte ich nichts hören. Mit Pentti hatte ich nur einmal über meinen Vater gesprochen und dann nie wieder. Pentti hat gesagt: »Den kannst du vergessen. Entweder taugt er nichts oder er ist tot.« Mit Milja konnte ich über ihn reden. Ich erzählte ihr, wie er mir das Fahrradfahren beigebracht hat. Dass er mir Tangos vorgesungen, mit mir auf der Straße Fußball gespielt hat und dass er mich eines Tages mitnehmen wollte nach Afrika. Ich erzählte ihr, dass ich manchmal wütend wie mein Großvater und manchmal traurig wie meine Großmutter war, weil er uns verlassen hatte. Und dass er mir fehlte. Aber ich erzählte nicht, dass er ein Trinker geworden war. Einmal sagte ich: »Manchmal hasse ich ihn.« Milja nickte, als verstünde sie das. Ich drehte mich auf den Bauch und sah sie an. Sie sah so hübsch aus, dass sie mich verlegen machte. Ich guckte lieber die Rotaugen im Wasser an und fragte: »Hast du deinen Vater auch mal gehasst? Oder deine Mutter?« »Klar – beide, immer abwechselnd. Aber nie sehr lange.« Sie schöpfte eine Hand voll Wasser aus dem See und ließ es durch die Finger auf den Steg tropfen. Dann fuhr sie fort: »Eltern versuchen so viele Dinge zu vertuschen. Zum Beispiel das mit meinem Vater – es war schlimm, als er seine Anfälle bekam. Klar. Aber es hieß dann immer, es ist der Splitter in seinem Kopf, als eine Art Entschuldigung. Nur, es war kein
Splitter. Meine Mutter hat den Splitter erfunden, weil sie meinte, es klingt besser, als zu sagen, dass seine Nerven kaputt sind. In seinem Kopf passierten manchmal Dinge, die kein anderer sehen oder verstehen konnte. Er war dann richtig verrückt. Er hat sich für seine Anfälle geschämt. Und ich habe ihn geliebt, auch wenn ich wusste, dass kein Granatsplitter da war, dem man die Schuld geben konnte.« »Woran ist er denn gestorben?«, fragte ich. »Am Herzinfarkt. Er bekam einen Herzanfall an dem Abend, als Katri und ich mit euch ins Kino gehen wollten. Und danach hat er noch einen bekommen.« »Es tut mir echt Leid, dass dein Vater gestorben ist«, sagte ich. »Aber deine Mutter hat wahrscheinlich Recht damit, dass der Krieg ihn kaputtgemacht hat.« »Das kann sein, aber warum sagt sie das dann nicht?« »Vielleicht schämte sie sich. Kaputte Nerven zu haben klingt nach Schwäche. Granatsplitter hört sich irgendwie heldenhafter an«, sagte ich. »Ich glaube, dein Vater schämt sich auch«, sagte Milja. »Vielleicht geht es ihm nicht gut. Vielleicht hat er ein Verbrechen begangen und sitzt im Gefängnis. Oder er trinkt. Oder er ist krank wie mein Vater und weiß manchmal nicht, was er tut.« »Er trinkt«, sagte ich. »Oder zumindest hat er getrunken vor ein paar Jahren.« »Armer Mann«, sagte Milja. »Ein Onkel von mir hat auch getrunken. Es ging ihm furchtbar schlecht. Aber er war stark, er hat es geschafft aufzuhören.« »Und wenn man schwach ist?«, fragte ich. »Dann ist man schwach«, sagte sie.
An einem Wochenende besuchte uns Pentti am See. Pentti und ich alberten herum und rauchten heimlich ein paar Zigaretten. Sonst hatte er immer eine oder zwei Zigaretten aus der Schachtel seines Vaters mitgehen lassen, aber jetzt hatte er sich eine eigene Schachtel gekauft und gab damit an. »Ich hab keine Lust mehr, das Kraut von meinem Alten zu rauchen. Es gibt auch bessere Marken. Die kosten natürlich etwas.« »Ich würde kein Geld für Zigaretten ausgeben«, sagte Milja. »Das bisschen Qualm in der Luft.« »Du würdest dir wohl einen Lippenstift kaufen. Aber nach einem Kuss ist die Farbe auch verschwunden!« Pentti lachte. »Erzähl du mir nichts vom Küssen. Du hast ja noch nie jemanden geküsst und jemanden mit Lippenstift schon mal gar nicht!«, sagte Milja. »Woher willst du das wissen. Nur, weil ich mit dir nicht geknutscht habe! Das heißt noch lange nicht, dass ich keine Erfahrungen damit habe. Aber kleine Mädchen küsse ich nicht.«
Es klappte nicht mit uns zu dritt. Ich fühlte mich wie zwischen zwei Stühlen. Einige Sachen gefielen mir an Pentti besser, andere wiederum mochte ich an Milja, und nicht nur weil sie ein Mädchen war. Aber manchmal fand ich sie zu vernünftig und manchmal war mir Pentti zu kindisch. Und die beiden kriegten sich ständig in die Haare. »Wie Katz und Maus«, sagte meine Großmutter. »Oder wie ein Junge und ein Mädchen«, sagte mein Großvater und schmunzelte. »Was sich neckt, das liebt sich.« Ich war froh, als Penttis Vater am Sonntagabend kam und ihn abholte. »Magst du Pentti?«, fragte ich Milja.
»Der ist ein Lästermaul. Aber ich mag ihn schon. Natürlich nicht so, wie ich dich mag«, sagte sie. »Dich mag ich anders als andere.« Nach der Sauna sagte Oma: »Kinder, singt doch was Schönes für uns Alten!« Milja war sofort begeistert. Ich zuckte die Schultern, ließ mich aber überreden. Wir sangen Lieder, die wir aus der Schule kannten, wir sangen Schlager und auch Tangos. Wir sahen uns in die Augen beim Singen, und Miljas blaue Augen hatten einen besonderen Glanz und ich glaube nicht, dass der nur vom Singen kam.
I
m September fing die Schule an. Ich nahm wieder Klavierstunden bei Kukkonen. »Na also, ist ja eine Freude, dass wenigstens einer von euch weiterkommen will und sich nicht ein Leben lang mit dem Flohwalzer begnügt«, sagte er. In den Pausen sah ich Pentti, aber er hatte meistens eine Menge Jungs aus seiner neuen Klasse um sich. Er spielte für sie den Clown und sie lachten und bewunderten ihn. In der großen Pause ging ich manchmal mit Milja in eine Baari und ich aß eine Suppe oder ein Brot. Milja aß rote Grütze mit Vanillesauce. Ab und zu besuchte ich Pentti. Wir lungerten auf dem Hof herum, aber zu dem Stein von Yrjana zog es uns nicht. Schöne Sanna und Kalle brauchten den Stein auch nicht mehr. Im Laufe des Sommers war der Bauch von Sanna rund geworden. Kalle hatte die Harley-Davidson wieder verkauft und er kaute keine Kaugummis mehr. Dafür hatte er jetzt immer eine Fluppe zwischen den Lippen. »Gibt es denn so was!«, sagte Penttis Mutter empört. »Kinder kriegen Kinder!« »Nun reg dich ab«, sagte Penttis Vater. »Es sind ja nicht deine Kinder, die Eltern werden.« »Man macht sich aber Sorgen, wie es nun weitergehen soll mit den beiden«, sagte sie. »Wenn es dir gut tut, mach du dir ruhig Sorgen, aber ich würde gerne einen Kaffee trinken«, sagte Penttis Vater. »Du weißt ja, wo die Küche ist! Wasser kommt aus dem Hahn, solltest du es vergessen haben!« Dann fragte sie mich: »Was sagt deine Mutter dazu?« »Sie hat noch gar nichts dazu gesagt«, antwortete ich. »Aber sie muss doch eine Meinung haben!«, sagte Penttis Mutter.
»Sie guckt sich fremde Bäuche vielleicht nicht so genau an wie du!«, sagte Pentti. »Da braucht man nun wirklich nicht lange hinzusehen um zu erraten, was in dem Bauch vor sich geht! Ich möchte mal wissen, ob sie heiraten wollen?« »Dann frag sie doch!«, sagte Pentti. »Das tu ich auch. So wie ich Sannas Eltern kenne, sitzen sie wahrscheinlich in der Küche und jammern und sonst passiert gar nichts. Jemand muss dem armen Mädchen doch jetzt unter die Arme greifen.« »Du musst es ja nicht sein. Lass mal die anderen greifen, die werden die Sache schon im Griff haben«, sagte Penttis Vater und stellte seine Kaffeetasse auf den Couchtisch. »Und ich kriege keinen Kaffee, oder wie?«, fragte sie. Er stand auf und brachte ihr auch eine Tasse. »Kaffee trinken und abwarten, das ist meine Devise. Bloß nichts überstürzen«, sagte er. »Deine Devise kenne ich! Die lautet: Lass die anderen sich drum kümmern. Und wenn es deine Tochter wäre?« »Darüber reden wir, wenn es meine Tochter ist. Oder der Sohn«, sagte er und zwinkerte Pentti zu. »Da würde dir das Zwinkern vergehen, das weiß ich aber!«, sagte sie. Als ich meiner Mutter von der Unterhaltung erzählte, meinte sie: »Sie wird bestimmt dafür sorgen, dass die beiden in der Kirche getraut werden, eine richtige Hochzeit feiern und bei der Geburt wird sie wahrscheinlich auch assistieren wollen.« Meine Mutter hatte Recht, was die Hochzeit betraf. Und Penttis Mutter schaffte es, auch sie mit einzubeziehen. Sie sollte das Kleid für Sanna nähen.
Als Sanna zu uns kam, damit meine Mutter Maß nehmen konnte, fragte sie ängstlich: »Du nimmst doch nicht einen der weißen steifen Stoffe, die du für die Särge benutzt?« Meine Mutter lachte. »Nein, Sanna. Die weißen Stoffe für die Särge sind zwar oft sehr schön. Es gibt sogar Seide und Spitze. Aber ich besorge für dich einen anderen seidigen Stoff und nähe dir ein hübsches Kleid. An deinem Hochzeitstag solltest du wie eine Prinzessin aussehen.« Sanna freute sich nicht. »Eine Prinzessin mit einem dicken Bauch! Und Kalle ist achtzehn und ich bin erst sechzehn. Ich weiß gar nicht, wie das klappen soll!« »Manchmal klappt es, wenn man jung ist, manchmal, wenn man alt ist. Wer weiß, wann die richtige Zeit ist«, meinte Mutter.
In der Kirche sah Kalle blass und nervös aus. Ihm fehlte die Zigarette. Sanna hatte ihren Mund nicht mit dem üblichen lila Lippenstift, sondern mit einem rosa Lippenstift angemalt, den schwarzen Punkt auf der Wange hatte sie auch nicht mehr. Trotz ihres dicken Bauches sah sie wirklich aus wie Schöne Sanna. Die Hochzeitsfeier fand im Gewerkschaftshaus statt. Auf einem der Tische standen Teller mit geräuchertem Lachs, mit kaltem Rentierbraten, viele verschiedene Butterbrotkuchen, Brote mit einer Fisch-, Fleisch-, oder Gemüsefüllung. Es gab Fischsuppe und Rogen mit Sahne und Zwiebeln. Auf einem anderen Tisch standen Torten und Kuchen: Multbeersahnetorte, Blaubeertaschen, Toscakuchen, Bostonkuchen und Hefeteilchen in Herzform gebacken. Der Saal war voll. Alle Hilfsbereiten, die Penttis Mutter einbezogen hatte, wollten natürlich auch feiern. Die Frauen, die einen Kuchen gebacken, die Männer, die für Fisch und
Fleisch gesorgt hatten, waren dabei. Und natürlich die Eltern von Sanna und die Familie von Kalle. Auch der Besitzer des Ladens, in dem Kalle arbeitete. Und die Freundinnen und Freunde von den beiden. Und viele aus der Wanzenburg. Milja und Katri mit ihrer Mutter, Ekeleino und Pentti. Und Kukkonen, der eine kleine Rede hielt.
Ich tanzte mit Milja und Pentti tanzte mit Katri, und Eino hüpfte zwischen allen Tanzenden herum und klopfte mal dem einen, mal dem anderen auf die Schulter und sagte: »Weiter so, gar nicht so schlecht. Ja, jetzt den rechten Fuß und jetzt den linken. Gut so, macht weiter. Lasst euch nicht stören!« Kukkonen holte meine Mutter dreimal auf die Tanzfläche. Und eine Zeit lang saßen sie sehr eng zusammen an dem langen Tisch und unterhielten sich. Sogar Sanna und Kalle, die sich sonst immer stritten, sahen glücklich aus. Aber am glücklichsten war Penttis Mutter. Sie wirbelte überall herum, ihre Wangen waren rot vor Aufregung und ihre Augen leuchteten. »Ist das nicht eine schöne Hochzeit? Was auch kommen mag, einen schönen Abend haben sie ja für ihr Lebensalbum.« »Und nicht vergessen: Das haben sie dir zu verdanken!«, sagte Penttis Vater. »Etwa nicht?«, fragte sie und zog ihren Mann vom Stuhl auf die Tanzfläche. Milja und ich sahen uns an und lächelten.
Im November wurde ich vierzehn. Milja und ich trafen uns fast jeden Tag. Bei einem unserer Treffen erzählte ich ihr, dass ich mich in sie verliebt hatte, als
sie im Mai an der Fahnenstange hing. Sie lachte und wurde dann traurig, weil sie an ihren Vater dachte. Ich dachte auch oft an meinen Vater. Er half nicht mehr den Schwarzen in Afrika und beriet auch nicht den Kaiser Haile Selassie. Er sang nicht mehr und lag auch nicht in der heißen Sonne der Savanne. Er lag irgendwo in Schweden auf einer Bank oder auf dem Bürgersteig und schlief tief, und ich wusste nicht, wie ich ihn wecken sollte.
Weihnachten kam und wir feierten mit den Großeltern. Im Januar schneite es viel. Der Schnee lag hoch. Die Straßen, die Felder, die Dächer der Häuser, die Äste der Bäume, die Grabsteine in unserem Garten, alles lag unter einer weißen Schneedecke. Und im Februar hatten wir wieder Ferien und ich lief Ski mit Milja. »Wir wollen immer zusammenbleiben«, sagte Milja. »Ich spiele Klavier und du singst«, sagte ich. Und meine Mutter sagte: »Es ist schön, dass du mit Milja zusammen bist. Ihr passt zueinander.« »Zu wem passt du denn?«, fragte ich sie. »Mal sehen«, meinte sie und lächelte. Im März ging sie ein paar Mal mit Kukkonen tanzen. Im April trafen sie sich nicht mehr. Und dann kam wieder der Mai. Die ersten Blumen blühten und alle Menschen freuten sich auf den Sommer. Eines Abends saß ich im Wohnzimmer und übte Klavier. Ich spielte und träumte. Ich träumte, dass ich in einem großen Saal spielte und es einen riesigen Applaus gab. Als der Beifall der anderen verstummt war, applaudierte noch ein Zuhörer. Mein Vater. Die Klänge der Musik flossen in meine Träume ein.
Als ein Motorrad in unsere Straße fuhr, sah ich zum Fenster hinaus. Es hielt vor unserem Haus. Ich stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Mein Vater trug ein kariertes Hemd und eine graue Hose. »Darf ich reinkommen?«, fragte er. Ich nickte und trat einen Schritt zurück um ihn hereinzulassen. Dann ging ich in die Küche. Er kam mir nach. »Mutter ist nicht zu Hause«, sagte ich. »Aber ich kann einen Kaffee kochen.« Er setzte sich an den Tisch und sah sich um. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte ich. »Ich singe nicht mehr«, sagte er. »Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich bin im Stimmbruch.« »Ja, Brüche gibt es«, sagte er. Ich nickte und schenkte ihm Kaffee ein. Mein Vater bedankte sich und rührte lange mit dem Löffel in seiner Tasse. Ich setzte mich ihm gegenüber.