1. Der Mann mit der Kutte - ein wahrer Goliath an Gestalt - stand auf dem Achterdeck der Dreimast-Handels-Galeone „Vale...
36 downloads
674 Views
852KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1. Der Mann mit der Kutte - ein wahrer Goliath an Gestalt - stand auf dem Achterdeck der Dreimast-Handels-Galeone „Valencia" und blickte voraus. Seine Miene war nachdenklich, seine Stirn leicht gefurcht. „Was halten Sie von diesem Wetter, Señor Capitán?" fragte er mit dunk-
ler, wohlklingender Stimme, als der Kapitän zu ihm trat. Don Angelo Val de Montez betrachtete den Himmel, der sich allmählich dunkler färbte, dann sah er auf das Wasser. Es war von milchigtrübem Blaugrün. Obwohl nur eine schwache Dünung die See kräuselte, schien es sich um unheilverkündende Zeichen zu handeln.
4 „Es könnte ein Gewitter geben", sagte Val de Montez. „Daß wir aber Havanna, unser Ziel, sicher erreichen, daran brauchen Sie nicht zu zweifeln, Padre." „Aber man soll den Tag auch nicht vor dem Abend loben, wie Sie immer sagen, Señor. Wieso sind Sie plötzlich so zuversichtlich?" „Weil Kuba nicht mehr weit entfernt ist", erwiderte Val de Montez lächelnd. „Das gibt mir Zuversicht. Das ist immer so, wenn man von der Heimat her den Atlantik überquert und die Karibik erreicht hat." Der Gottesmann fuhr sich mit der Hand über den Bart. „Ja, da haben Sie sicherlich recht, und ich kann diese Stimmung wohl schlecht nachempfinden, obwohl ich selbst froh bin, daß wir bald in Havanna sind." „Irgend etwas gefällt Ihnen nicht, Padre David", sagte der Kapitän. „Ich lese es an Ihren Zügen ab." Rasch war er wieder ernst geworden. „Vielleicht rechnen Sie mit einem Sturm. Aber wenn sich das Wetter in den nächsten Stunden verschlechtert, haben wir Zeit genug, die Turks- oder Caicos-Inseln anzulaufen und in eine Bucht zu verholen. Es ist Vormittag. Anders würde es aussehen, wenn es schon Abend wäre und wir eine Nacht mit ungewissem Ausgang vor uns hätten." „Ja", sagte der Mönch. „Da muß ich Ihnen zustimmen. Und ich will auch nicht den Teufel an die Wand malen. Nur habe ich daheim, in Valencia, davon vernommen, daß es hier in der Karibik den Huracán, den gefährlichen Wirbelsturm, geben soll. Die gelbliche Färbung des Himmels in der Ferne scheint mir darauf hinzudeuten."
Val de Montez zuckte kaum merklich zusammen. Wieder einmal überraschte es ihn, wie gut dieser Mann, der keinerlei Erfahrung in Sachen Seemannschaft hatte, sich auskannte. „Padre", sagte er. „Wir haben uns bislang gegenseitig vertraut, nicht wahr?" Pater David wandte den Kopf und sah ihn offen an, „Das will ich meinen." „Dann verlassen Sie sich darauf: Es gibt keinen Huracán." Pater David verschränkte die Arme vor der mächtigen Brust. „Um so besser. Die Männer an Bord dieses Schiffes sind mir in der Zeit der Überfahrt ans Herz gewachsen, ich bete täglich für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Es ist mir ein persönliches Anliegen, daß sie alle wohlauf die Insel Kuba erreichen." „Und daß wir dort unsere Ladung, die Bauhölzer und Werkzeuge, löschen", fügte der Kapitän mit einem leichten Lächeln hinzu. „Schließen Sie bitte auch das mit in Ihre Gebete ein." Der Gottesmann blieb ernst. „Ich tue auch das." „Eigentlich bedaure ich, daß sich unsere Wege in Havanna trennen", sagte Val de Montez, und er meinte es aufrichtig. „Sind Sie denn sicher, daß Sie das Richtige tun?" „Völlig sicher." „Sie wollen Ihr Werk den Eingeborenen widmen?" „Allen Menschen, die meine Hilfe und Gottes Beistand brauchen", erwiderte Pater David. „In erster Linie aber scheinen es die andersfarbigen Menschen zu sein, die in der Neuen Welt Not leiden."
5 „Das mag stimmen." „Es ist so, ich habe genug darüber gehört." „Ja", sagte Val de Montez. „Aber die Berichte zu vernehmen, die in Spanien kursieren, oder sich direkt mit der harten Wahrheit zu befassen, sind zwei unterschiedliche Dinge." „Eben deshalb habe ich in die Neue Welt reisen wollen", erklärte der Gottesmann. „Um vor Ort selbst urteilen und handeln zu können. Ich weiß schon, was Sie jetzt wieder sagen wollen, verehrter Capitán: daß die Indianer und die Schwarzen Heiden und Menschenfresser seien. Ich gebe mich keinen Illusionen hin, aber man muß auch die feinen Unterschiede erkennen. Was würden Sie davon halten, wenn man behauptet, alle Spanier wären Räuber und Schlagetots?" „Das wäre eine glatte Verleumdung." „Und doch hat es Leute wie Pizarro und Cortez gegeben." „Sie haben die Neue Welt dem christlichen Glauben geöffnet", sagte Val de Montez. „Aber sie waren keine Missionare", erwiderte Pater David fast schroff. „Alles andere als das! Viel Unheil und Schaden sind angerichtet worden, und es gilt, einiges wiedergutzumachen." „Wir haben uns während unserer Reise mehrfach darüber unterhalten", sagte Val de Montez. „Aber die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, scheinen Ihnen nicht viel zu bedeuten. Ich bin auf Jamaica von Wilden überfallen, halb totgeschlagen und ausgeplündert worden. Auf den Azoren hat mich vor Jahren ein Schwarzer mit einem Messer ange-
griffen - auch das hätte mich fast das Leben gekostet." „Der Herr stehe ihnen bei, denn sie wissen nicht, was sie tun. Waren es immer nur Indianer und Afrikaner, die Ihnen ans Leder wollten, Capitán?" „Nein. Auch Weiße." „Sehen Sie. Mensch ist Mensch. Nur gibt es keine Untermenschen." Val de Montez hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Sie sind zu hartnäckig, bei Ihnen beiße ich auf Granit. Aber ich will Sie auch nicht davon überzeugen, daß die Eingeborenen alle Teufel sind. Ich will Sie nur warnen. Seien Sie nicht zu gutgläubig." „Danke. Ich werde mich Ihrer Worte entsinnen." Pater David zeigte ihm seine Fäuste. „Ich scheue mich auch nicht, hart durchzugreifen, wenn man mich mit Steinen bewirft. Ich weiß, ich weiß, auch das ist nicht unbedingt die wahre christliche Gesinnung. Doch Jesus hat für uns alle gelitten, und es ist nicht erforderlich, seinen Weg unbedingt nachzuvollziehen." „Sie haben gewonnen, Padre", sagte der Kapitän resigniert. „Ich gebe es auf. Und ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie mit Ihrem Vorhaben, in der Neuen Welt allen Unterdrückten und Geknechteten zu helfen, Erfolg haben." Sie schwiegen und blickten wieder voraus. Es war der 20. Mai 1594, und die „Valencia" näherte sich dem östlichen Bereich der Caicos-Inselngruppe. * Eigentlich hatte sich Old Donegal
6 Daniel O'Flynn wieder einmal alles ganz anders vorgestellt. Etwa so: Nach dem siegreichen Gefecht vor Tortuga gegen den spanischen Flottenverband unter dem Generalkapitän Don Alonso de López y Marqués waren die Schiffe des Bundes der Korsaren zur Schlangen-Insel zurückgekehrt - und dort hätte man im Prinzip tüchtig feiern sollen, und zwar Tag und Nacht: erstens wegen des Triumphes und zweitens wegen der „offiziellen Einweihung" der Flagge, dem schwarzen Tuch mit den beiden gekreuzten goldenen Säbeln. Mit anderen Worten, all das war Anlaß genug, in „Old Donegals Rutsche" die Humpen zu lenzen, bis einer nach dem anderen total angeschlagen unter die Tische sank. Aber er hatte - wie üblich - seine Pläne ohne „den Wirt" aufgestellt. Der Wirt war zwar eigentlich er, aber das „Sagen" hatte Mary O'Flynn, geborene Snugglemouse, die vollauf mit den Vorbereitungen für die Taufe des Wikinger-Zwillings-Pärchens auf der Schlangen-Insel beschäftigt war. Alles andere war unwichtig und mußte zurückgestellt werden auch das Saufen. Den „Betriebsstoff", mit dem Old O'Flynn sich bei Diego eingedeckt hatte, würde man also erst später „kosten" können. Wann? Noch war alles offen, noch wußte keiner, nach welchem Ritual die Taufe überhaupt ablaufen sollte. Mary hatte mit dem nötigen Temperament wieder mal alles an sich gerissen. „Versteht sich", brummte Old O'Flynn an diesem Morgen mißmutig. „Aber langsam habe ich die Schnauze voll. Die verdammte Weiberwirtschaft muß ein Ende haben."
„Sie hat gerade erst angefangen", sagte Karl von Hutten lächelnd. „Aber wir sollten froh sein. Was wären wir ohne deine Mary, ohne Gotlinde, Gunnhild, Arkana, Araua und Siri-Tong?" „Immer noch dieselben wie früher", erwiderte Smoky. „Aber ziemlich verdreckt", sagte Karl von Hutten. „Und die Schlangen-Insel wäre ein feiner Saustall", sagte Sam Roskill. „So?" stieß der Alte hervor. „Ihr nehmt die Weiber also auch noch in Schutz? Euch bekommt das feine Leben nicht, ihr Affen, es verweichlicht euch!" „Bei Mary verweichlicht keiner", behauptete jetzt Martin Correa. „Da paßt sie schon auf. Wer muckt oder meckert, kriegt was vor den Bug." Die Männer lachten, nur Old O'Flynn und Mac Pellew lachten nicht mit. Sie waren beide total verbiestert, der Alte, weil er seiner Mary gegenüber wieder mal hatte klein beigeben müssen, Mac hingegen, weil sich ausgerechnet an diesem Morgen zu seinem gewohnten Griesgram noch ein ganz besonderer Fimmel gesellte: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, daß gespart werden müsse. In der Pantry und anderswo - am besten wurde künftig gehungert, damit die Vorräte nicht dauernd zur Neige gingen. Zuviel Brennstoff wurde auch verbraucht. Reine Verschwendung. Mit zehn Pfund Holzkohle mußte ein guter Schiffskoch einen Monat reichen. So und ähnlich dachte der sauertöpfische Mac Pellew ausgerechnet an diesem fatalen Morgen. Um seinem ewigen „Befehlshaber" Mary zu entgehen, hatte sich Old
7 O'Flynn mit seiner „Empress of Sea II." freiwillig zum Patrouillendienst gemeldet. Auf diese Weise war er jeder Art von Donnerwetter entronnen und hatte vorläufig seine Ruhe. Er fuhr das Seegebiet rund um die Caicos-Inseln ab. Daß er dabei ständig brummelte und orakelte, gehörte bei ihm zur Bordordnung. Gegen Mittag des 20. Mai stand die „Empress" einige Meilen östlich querab der Caicos-Gruppe. Außer Martin Correa, dem Bootsmann und Lotsen Old O'Flynns, Karl von Hutten, Smoky, Mac Pellew und Sam Roskill befanden sich die Söhne des Seewolfs mit an Bord - Haßard junior und Philip junior, die auch dieses Mal nicht darauf verzichtet hatten, Plymmie, die Wolfshündin, mitzunehmen. Eine feine, kompakte Crew also, die jedes Manöver im Schlaf beherrschte. Bislang war die Patrouillenfahrt ruhig verlaufen, und daran schien sich auch nichts zu ändern. Daß der „Empress" und ihrer Besatzung noch ein Ereignis ganz besonderer Art bevorstand, dessen unmittelbarer Zeuge sie werden sollte - davon ahnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner etwas. Mac Pellew erschien zum fünften Male an diesem Vormittag auf dem Hauptdeck, trat ans Schanzkleid, warf einen Blick zum Himmel und murmelte: „So ein Scheißwetter. Da braut sich was zusammen. Und warm ist es. Hölle und Teufel, ist das eine Hitze." Eine mächtige Haufenwolke schob sich, von dem Wind aus Nordosten bewegt, immer näher auf die „Empress" zu. In ihrem unteren Bereich das vermochten die sechs Männer und die beiden Jungen deutlich zu
erkennen - war sie von drohender Dunkelheit, während nach oben in die höheren Luftschichten hellere Schleier hinauswuchsen und sich so verteilten, daß das ganze seltsame Gebilde fast wie ein Amboß aussah. Smoky sah ebenfalls auf die eigentümliche Wolkenformation und kaute nachdenklich auf der Unterlippe. „Ja", sagte er. „Wir kriegen mindestens einen dicken Wolkenbruch aufs Haupt. Dem sollten wir auszuweichen versuchen." „Bist du der Kapitän?" fragte Karl von Hütten gedämpft. „Nein. Und die Entscheidung liegt nicht bei dir, das weiß ich." „Ob wir Donegal einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten sollten?" fragte Karl von Hutten. „Damit warten wir lieber noch", entgegnete Smoky. „Wie der heute früh dreinschaut, würde er am liebsten um sich beißen, glaube ich." In der Tat, Old O'Flynns Seelenzustand verschlechterte sich zusehends. Das Wolkengebilde in Nordosten schob sich auf die „Empress" zu, die auf einem Kreuzschlag Richtung Osten - zur offenen See hin - lag. Der Alte stand an der Pinne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wurde zappelig und unruhig und begann wieder kräftig zu fluchen. „Diese Hitze!" wetterte er. „Die Planken fangen bald von selbst an zu brennen!" Mac Pellew hatte es vernommen und hieb sofort in dieselbe Kerbe. „Jawohl!" rief er. „Und das verdammte Karibikwasser ist so warm, daß ich mir die Holzkohle sparen kann, um meine Suppe zu kochen.
8 Brütend heiß ist das hier, das hält keiner aus!" „Wie bitte?" fragte Sam zurück. „Wie war das mit der Suppe?" „Daß sie von selber kocht, hab' ich gesagt. Weil das Seewasser so heiß ist. Darum", erwiderte Mac Pellew mit einem Gesicht, als wolle er in Tränen ausbrechen. „Verdammt", sagte Sam. „Damit bin ich nicht einverstanden. Das kannst du uns nicht antun, Mister Pellew." „Kann ich aber doch. Die Brühe tut's auch, wenn ich das Zeug für die Suppe hineinschnippele", erklärte Mac mit grämlicher Miene. „Kartoffeln, Kräuter, Fleisch und all das Zeug. Außerdem spare ich gleich das Salz." „Auch die alten Fleischbrocken solltest du nicht wegschmeißen, Mac", riet Hasard junior. „Du heftest sie mit ein paar Stichen wieder zusammen und wirfst sie in die Suppe. Wenn dann wieder was übrigbleibt, kannst du es erneut verwenden und so weiter. Na, ist das nicht ein guter Sparvorschlag?" Mac musterte ihn traurig. „Kann sein. Ich werde darüber nachdenken." Sams Augen hatten sich etwas verengt. „Du hast es heute wohl mit dem Sparen, wie?" „Ja." „Und wie wär's, wenn du einfach die Zutaten weglassen und nur das Wasser kochen würdest?" „Ich koch' das Wasser nicht, es ist heiß genug", brummte Mac. „Bist du eigentlich taub, oder was ist los?" „Aha", sagte Sam grimmig. „Das macht die Sache noch leichter. Wir fieren nur eine Pütz außenbords und
schöpfen ein paar Gallonen Wasser. Das ist dann die Mittagssuppe. Oder?" „Eine gute Idee", erwiderte Mac. „Das hätte mir auch selbst einfallen können." „Nein!" zischte Sam. „Es gehört nämlich eine Portion Grütze dazu." „Grütze habe ich nicht in der Pantry", sagte Mac. Er wirkte jetzt sehr, sehr müde. „Und in deinem Gehirnkasten?" fragte Sam. „Auch nicht." „Eben. Sonst wärst du auch nicht auf einen so blöden Gedanken verfallen", sagte Sam mit unerschütterlicher Logik. Die Zwillinge lachten, sie konnten jetzt nicht mehr an sich halten. Mac indes blickte so deprimiert und schläfrig drein, als ginge ihn das alles nichts an, überhaupt schien er sich in völlig anderen Sphären zu bewegen. Auch das konnte nur am Wetter liegen. „Gebt mal einen Kübel her", murmelte er nur. „Ich will Wasser schöpfen." „Nein!" widersprach Sam energisch. „Bleib von dem karibischen Schlabberwasser weg, sonst kriegen wir Streit, alter Freund! Ich habe weder Lust noch Appetit auf Wasserflöhe und anderen Schweinkram in der Suppe!" „Flöhe sind doch kein Schweinkram", sagte Mac. „Kakerlaken auch nicht", fügte Philip junior fröhlich hinzu. „Sie sind knackig und fleischig und sollen gar nicht so schlecht schmecken. Wenn wir die Bilge der ,Empress' absuchen, finden wir bestimmt welche."
9 Die acht von der Crew zuckten un„Hört auf", sagte Sam. „Mir dreht willkürlich zusammen, denn diese sich gleich der Magen um." „Das ist ein Fehler", sagte Hasard Töne gingen ihnen wirklich durch junior. „Sieh mal, Sam, die asiati- Mark und Bein. Old O'Flynn duckte schen Völker ernähren sich auch von sich sogar ein bißchen, aus schmalen Ratten, Würmern und Ungeziefer, Augen spähte er zu der Wolfshündin, die sie vorzüglich zuzubereiten ver- die mit dem Winseln und Heulen stehen. Warum sträubst du dich da- nicht mehr auf hörte. gegen? An Bord eines Schiffes sollte „Plymmie!" rief Philip junior. man die Küche der Welt einführen - „Was ist los? Sei doch still!" von allem was. Jeder Koch kann daPlymmie, die sonst sehr anhängbei erheblich was einsparen." lich, folgsam und diszipliniert war, Mac horchte plötzlich wieder auf. schien seine Worte nicht gehört zu „Einsparen? Küche der Welt? Könnt haben. Sie setzte ihren „Gesang" fort, ihr mir mal mehr darüber erzählen?" die Laute wurden sogar hoch heller „Nein!" brüllte Sam, dem die Hitze und durchdringender. allmählich auch auf die Nerven ging. „Himmel, Arsch und Seemanns„Kein Wort mehr davon! Und bring garn!" polterte Old O'Flynn auf dem eine ordentliche Suppe auf die Back, Achterdeck los. „Was, zum Teufel, Mac, sonst kriegst du Ärger!" hat das verdammte Vieh gestochen?" „Ihr da vorn!" schrie Old O'Flynn. „Nichts", erwiderte Hasard junior. „Was ist mit euch los? Habt ihr Tang „Wir sind selbst ratlos." verschluckt? Ist euch nicht gut?" „Dann steckt den Köter in die Vor„Gut schon, Sir!" rief Sam Roskill piek!" brüllte der Alte. Das Gejaule zurück. „Aber das kann anders wer- ging ihm aufs Gemüt. den, wenn Mac mit seinem dämliDen Zwillingen blieb nichts andechen Spar-Tick wirklich ernst res übrig, sie mußten den Befehl bemacht!" folgen. Sie traten zu Plymmie, grifMac hob schwach die Hand und fen nach ihrem Halsband und zerrwollte einen neuen Versuch unter- ten sie zum Schott. Plymmie schien nehmen, sein Sparprogramm zu sich zu sträuben, gab dann aber doch rechtfertigen, doch plötzlich passier- nach. Philip zog sie, Hasard schob, te es: Vom Bug der „Empress of Sea und kurze Zeit darauf war sie in der II." ertönte ein gleichsam haarsträu- Piek verschwunden, wo sie allerbendes, markerschütterndes Heulen dings weiterheulte. und Wimmern. Die Männer und die „Unglaublich", sagte Old O'Flynn. beiden Jungen richteten ihre Blicke „Unmöglich. Das geht auf keine nach vorn. Kuhhaut. Das hält der stärkste Kerl nicht aus. Nicht so was." Plymmie! „Es muß am Wetter liegen", meinte Keiner hatte in den letzten Minuten mehr so recht auf sie geachtet. Smoky. „Wieso denn?" fuhr ihn der Alte an. Sie hatte sich vorn am Bug auf ihren hinteren Läufen niedergelassen, „Was ist an dem Wetter so besonreckte den Kopf und jaulte den Him- ders?" mel an. „Die Amboß-Wolke deutet auf ein
10 Gewitter hin", sagte Karl von Hutten. „Es ist ja auch ziemlich schwül. Für uns dürfte es das beste sein, nach Nordwesten abzulaufen." „Quatsch", sagte der Alte grantig. „Wegen so einer dämlichen Wolke weiche ich nicht aus, ich doch nicht. „Wir halten Kurs Osten." Das tat er dann auch, stur, wie er war. Die fünf Männer und die beiden Jungen tauschten untereinander Blicke, wobei Mac nach wie vor nur an seine Suppe und die Zutaten dachte. Plymmie setzte unterdessen ihr Jaulkonzert in der Vorpiek fort. Die Wolke zog näher heran, verdunkelte mehr und mehr den Himmel und wirkte drohend und unheimlich. Martin Correa war es schließlich, der zu Old O'Flynn an die Ruderpinne trat und noch ein offenes Wort riskierte. Ihm war inzwischen auch reichlich unbehaglich zumute. „Sir", sagte er ruhig. „Es wäre doch besser, eine andere Richtung einzuschlagen. Ich empfehle dringend den Nordwest-Kurs." „Dringend?" „Wir haben nicht mehr viel Zeit." „Steht deiner Meinung nach der Weltuntergang bevor?" „Nein, Sir. Aber ein Gewitter und möglicherweise ein Sturm, der uns das Schiff kosten kann." „Ihr habt alle Mann die Hosen voll", sagte der Alte. „So schnell säuft die ,Empress' nicht ab." Wie Mac seinen Spartag hatte, so hatte er heute seinen bockigen Tag. Daß seine Männer mit ihren' Warnungen und Bedenken tatsächlich recht hatten, wollte er absolut nicht wahrhaben. Martin Correa gab es auf, er sah ein, daß er so nicht weiterkam. Smoky aber hatte jetzt eine finstere Mie-
ne aufgesetzt und blickte nahezu unablässig zu der dunklen Wolke. „Na schön", sagte er. „Also weiter auf Kurs Osten. Aber du wirst schon sehen, was du davon hast, Mister O'Flynn. Mit den Sturmgöttern ist nicht zu spaßen. Die sind unberechenbar, besonders, wenn man sie herausfordert." Old O'Flynn schnappte nach Luft. Dann stieß er wieder einen ellenlangen Fluch aus. „Wie war das?" brüllte er. „Was faselst du da? Du hast keine Ahnung und redest über Sachen, für die allein ich zuständig bin!" „Nein, Mister O'Flynn!" begehrte Smoky auf. „Über Geister weiß ich auch Bescheid! Tu bloß nicht so empört!" „Nur ich kann hinter die Kimm blicken!" brüllte der Alte und trat so heftig mit seiner Beinprothese auf, daß man den Eindruck hatte, er wolle um jeden Preis ein Loch in die Achterdecksplanken stanzen oder sein kostbares Bein zerstören. „Nun hör dir das an", sagte Philip junior zu seinem Bruder. „Heute scheint ein richtig schwarzer Tag zu sein." „Ja. Er faucht, daß es raucht", murmelte Hasard junior. „Reg dich ab", sagte Smoky zu Old O'Flynn. „Du unkst ja auch dauernd, wenn es gar nicht angebracht ist. Jetzt unke ich mal, und schon ist der Teufel los." „Was weißt du denn schon!" stieß der Alte hervor. Er schien das Thema irgendwie sehr persönlich zu nehmen. „Nicht mal von Klopfgeistern hast du eine Vorstellung." „Hast du sie denn schon mal gesehen?" fragte Smoky herausfordernd.
11 „Jawohl! Aber das glaubst du mir ja doch nicht!" „Nein!" „Nixen, Wassermänner und Sturmgeister sind mir schon begegnet", sagte der Alte prahlerisch. „Ich habe sie an Bord kriechen sehen, und ich kenne ihre Stimmen. Aber man muß ein Medium sein, vorherbestimmt, will ich mal sagen, ihre Ausstrahlung zu empfangen und so. Das kann nicht jeder." „Nein", sagte Smoky trocken. „Wenn das so ist, dann frag deine Sturmgeister doch mal, ob sie uns heute wohlgesonnen sind." Sie stritten sich noch eine Weile herum, teils zur Belustigung, teils zur Verärgerung der anderen. Mac Pellew war inzwischen wieder in der Pantry verschwunden. Hasard junior nahm den Posten des Ausgucks am Bug wahr und spähte durch den Kieker aufmerksam in alle Himmelsrichtungen - besonders nach Nordosten, wo die Kimm mittlerweile eine schwärzlich-gelbe Färbung angenommen hatte. Wenig später entdeckte er etwas und richtete sich hoch auf. „Mastspitzen an der Kimm!" meldete er. „Steuerbord voraus! Ein Dreimaster auf Passierkurs zu uns!" 2.
An Bord der „Empress of Sea II." hörte das Fluchen auf, und auch die Debatte über Gespenster und Wassermänner wurde eingestellt. Old O'Flynn laschte die Pinne fest und griff selbst zum Spektiv. Er zog es auseinander und warf einen Blick hindurch. Auch die anderen spähten
voraus. Ihre volle Aufmerksamkeit galt jetzt dem fremden Segler, der sich zügig näherschob. Durch das Okular der Kieker mauserte sich der Segler zur Galeone. „Ein Handelsschiff!" rief Hasard junior. „Sehr bauchig gebaut, nicht stark armiert!" Inzwischen befand sich die „Empress" nahezu am Rand der mächtigen Haufenwolke. Karl von Hutten wandte sich noch einmal besorgt an Old O'Flynn. „Donegal, ich empfehle dir, nach Nordwesten abzulaufen auch, um dem Handelssegler auszuweichen." „Schnickschnack", erklärte der Alte. „Der Kerl steuert von der offenen See heran und kommt demzufolge vermutlich aus der Alten Welt. Sagt dir das nichts?" „Doch. Wahrscheinlich will er nach Havarina." „Wohin er segelt, ist mir egal. Was mich interessiert, ist seine Ladung." „Was?" fragte Smoky entgeistert. „Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein!" „Die Galeone ist ein Spanier!" meldete Hasard junior in diesem Moment. Old O'Flynn entblößte seine Zähne zu einem verwegenen Grinsen. „Das habe ich mir gedacht. Ein Kauffahrer, den man ohne große Probleme aufbringen kann. Wir müssen das nur geschickt anpacken. Wenn alles klappt, gelangt er nicht mal zum Schuß. Er hat nicht mehr als acht Culverinen, schätze ich." „Nach der Zahl der Stückpforten hat er vier Kanonen auf jeder Schiffsseite", sagte Hasard junior, der jedes auf dem Achterdeck ge-
12 sprochene Wort verstehen konnte. „Aber wer sagt dir, daß es Siebzehn-Pfünder sind?" fragte Smoky den Alten fast lauernd. „Könnten es nicht auch Zwanzig-Pfünder sein?" „Von mir aus auch Fünfzig-Pfünder", versetzte Old Donegal gallig. „Das ist mir schnurz." „Aber es ist ein Unding, das Schiff aufzubringen", sagte Karl von Hutten. „Nicht mit einer so kleinen Crew." Old O'Flynn hatte wirklich seinen bockigen Tag. „Ich hab's wohl schon gesagt - ihr habt die Hosen voll, und zwar gestrichen. Was hier läuft, bestimme ich. Jede Zuwiderhandlung wird bestraft. Wer ist hier eigentlich der Kapitän?" „Du natürlich", erwiderte Smoky und rümpfte die Nase. „Wer denn sonst?" fragte Sam Roskill mit verkniffener Miene. „Also!" brüllte der Alte. „Jede Nörgelei wird von jetzt an als Insubordination und Versuch zur Meuterei aufgefaßt! Schreibt euch das hinter die Ohren, ihr Miesmuscheln! Diesen Spanier lassen wir nicht an uns vorbei, das schwöre ich euch!" „Na dann - gute Nacht, Leute", sagte Sam Roskill. „Unser ,Emppress'-Kapitän ist zur Zeit vom Wahnsinn umzingelt!" „Wie war das?" brüllte der Alte. Mac Pellew tauchte in diesem Augenblick wieder aus der Pantry auf und schickte einen mißmutigen Blick in die Runde. „Die Suppe ist jetzt fertig", meldete er. „Klar zum Backen und Banken." „Suppe?" schrie Old O'Flynn. „Du kannst dir deine Suppe an den Hut stecken, Mann! Merkst du nicht, daß wir Wichtigeres zu tun haben?"
Mac Pellew war zutiefst gekränkt. An den Hut konnte er sich die Suppe nicht stecken, weil er erstens keinen Hut trug und zweitens nicht wußte, wie er dies praktisch hätte bewerkstelligen sollen. Aber er kehrte in seine Pantry zurück und holte den Suppenkessel. Keiner beachtete ihn so recht, als er damit ans Steuerbordschanzkleid trat. Nach wie vor galt das Augenmerk der Männer und der beiden Jungen der spanischen Galeone, die inzwischen so nah war, daß man mit dem bloßen Auge ihre Flagge erkennen konnte, die im Besantopp flatterte. „Ich bin ja eigentlich für's Sparen", sagte Mac Pellew mit beleidigter Miene. „Aber was zuviel ist, ist zuviel." Mit diesen bedeutungsschweren Worten entleerte er den dampfenden Inhalt des Kessels in die See. „Mac!" brüllte Old O'Flynn, der jetzt registrierte, wie die grünliche Brühe in Lee ins Wasser klatschte. „Was, zum Teufel, ist das für eine Sauerei?" „Suppe!" brüllte Mac zurück. „Und ich bin zum letzten Mal auf diesem Schlorren zur See gefahren, Mister O'Flynn!" „Einen Schlorren nennst du mein Schiff?" „Jawohl, einen Schlorren! Und du kannst zusehen, wer dir künftig hier an Bord einen Fraß kocht, ich jedenfalls nicht mehr! Ich hab' die Schnauze voll!" „Das ist Meuterei!" Mac setzte den leeren Kessel auf dem Handlauf des Schanzkleides ab und sah irritiert nach vorn. „He", brummte er. „Was ist denn das für ein Kahn, d e r . . . "
13 „Achtung!" rief der Alte, der nicht mehr auf das hörte, was Mac sagte. „Holt die Drehbassen rauf und macht sie schußfertig! Gleich ist es soweit!" Mac hielt den Kessel immer noch mit beiden Händen fest. Sein Blick glitt etwas höher - und sein Unterkiefer klappte weg. Smoky bemerkte es, sah ebenfalls auf und stieß einen saftigen Fluch aus. Dann schrie er: „Seht euch das an! Ich glaub', ich spinne!" Entsetzt deutete er zu der dunklen Haufenwolke hoch. Die anderen hoben ruckartig die Köpfe, Philip und Hasard stießen erschrockene Rufe aus, Plymmie heulte und jaulte in der Vorpiek, Mac ließ vor Schreck seinen Kessel sausen, und Martin Correa bekreuzigte sich rasch. Was jetzt geschah, jagte ihnen allen eine Gänsehaut über den Rücken, und alles Bisherige wurde gegenstandslos. Der Teufel schien seine Hand im Spiel zu haben, sämtliche Geister der Finsternis waren losgelassen - denn eine vernunftmäßige Erklärung für dieses schreckerregende Schauspiel gab es nicht. * Aus der Wolke schob sich eine Art gläserner Rüssel hervor, der immer dunkler wurde. Er pendelte hin und her und senkte sich dabei immer tiefer auf die See - wie der Arm eines Riesenkraken, unheimlich und drohend zugleich. Alle an Bord der „Empress of Sea II." waren wie gelähmt, auch Old Donegal. Ihm schienen die Augen aus den Höhlen zu quellen. Mit ungläu-
bigem Entsetzen verfolgte er, was sich weiter ereignete. Trotz der Entfernung von mehreren hundert Yards drang von dem Rüssel ein schmatzendes, gurgelndes Geräusch zu ihnen herüber, als er die See berührte. An dieser Stelle wurde das Wasser kranzartig in die Höhe gezogen. Es gischtete und brauste, und dann begann der Rüssel zu wandern - auf die spanische Galeone zu. „Sie heißt Valencia", stammelte Hasard junior, der kurz vor Smokys Ausruf noch durchs Spektiv geschaut hatte. Deutlich hatte er den Namenszug an dem Steuerbordbug des Dreimasters entziffern können. Und er sah jetzt auch die Gestalten, die auf den Decks in heller Aufregung durcheinanderliefen und gestikulierten. Schreie wurden ausgestoßen, sie hallten zur „Empress" hinüber. An Bord der Galeone herrschte Zustand, keiner schien mehr auf die in Panik geratene Mannschaft einwirken zu können. Bei Old O'Flynn stellten sich die Nackenhaare auf. Ja, er spürte, wie sie sich sträubten, wie es ihm eisigkalt über den Rücken rieselte und sich eine Faust um seine Kehle zu schließen schien. „Ein Geisterrüssel..." sagte er gurgelnd, etwas anderes fiel ihm nicht ein. Plymmie jaulte unverdrossen in der Vorpiek, immer lauter und dissonanter. Es brauste, zischte und gurgelte, und die Schreie auf der „Valencia" wurden immer schriller. Philip junior hielt sich unwillkürlich die Ohren zu. Es war eine instinktive Geste der Abwehr, denn wie die anderen ahnte er, was jetzt passierte. „Die Segel müssen geborgen wer-
14 den!" brüllte Karl von Hutten mit donnernder Stimme. Martin Correa und Sam Roskill sprangen sofort hinzu und lösten die Fallen. Smoky stieß einen ächzenden Laut aus, eilte ebenfalls zu Hilfe und bekreuzigte sich ein ums andere Mal. Hasard und Philip packten mit zu. Old Donegal hielt sich bleich und verstört an der Pinne fest. Mac Pel- i lew trauerte dem Suppenkessel nach, der in der See gelandet war und abtrieb. Er war aber noch nicht untergegangen. Der furchtbare Rüssel rückte auf die Galeone zu, und dort flogen jetzt die Segel aus den Lieken. Sie wurden im Sog nach oben gerissen. Was nicht niet- und nagelfest war, folgte - und dann stand der saugende und schlürfende Rüssel unmittelbar über der Galeone. Smoky brüllte wie verrückt, und sie sahen es alle: Die „Valencia" hob sich vom Wasser. Sie schien zu schweben. Rahen und Spieren rasten mit unvorstellbarer Geschwindigkeit und wirbelnd in dem Rüssel hoch, das Schiff stieg immer höher aus dem Wasser auf und befand sich an die siebzig Fuß hoch in der Luft. Gellende Schreie, in grenzenloser Panik ausgestoßen, wehten zur „Empress". Die sechs Männer und die Zwillinge mußten in ohnmächtigem Entsetzen und unfähig, etwa zu unternehmen, zusehen, wie das Schiff in dem Sog herumtaumelte. Jetzt bekreuzigte sich auch Old O'Flynn. „O Herr, steh diesen armen Teufeln bei", sagte er heiser. *
Pater David lag auf dem Achterdeck der „Valencia" ausgestreckt und klammerte sich an der Nagelbank des Besanmastes fest. Um ihn herum war das Brausen und Gischten der Fluten, die in die Luft gerissen wurden, das Schreien und Klagen der Männer und das Schlürfen des Sogs. „Ave Maria!" stieß der Gottesmann immer wieder hervor. „Gratia plena, rette unsere Seelen! Ave Maria!" Wo Don Angelo Val de Montez war, wußte er nicht mehr. Auch die Offiziere hatte er aus den Augen verloren. Sie waren, wie er noch hatte verfolgen können, auf das Hauptdeck hinuntergestürzt, um zu bergen, was noch zu bergen war, um ihren Männern beizustehen. Aber alles war verloren, denn für die „Valencia" kam jede Hilfe zu spät. Sie stand in der Luft und führte einen wackelnden Tanz auf. Es krachte, knirschte und knackte überall, und tief in den Verbänden kündigte sich ein unterschwelliges Bersten an. „Ave Maria!" brüllte Pater David. „Erbarmen!" Auch ihn hatte die Verzweiflung gepackt. Er wußte nicht, was er tun sollte. Seine Gebete waren das einzige Mittel, das ihm in einer Lage wie dieser übrigblieb, doch er war sicher, daß auch sie nichts mehr nutzten. Zwei Stürme hatten die „Valencia" bei der Überfahrt von der Alten zur Neuen Welt überstanden. Krankheit und Unmut hatten an Bord geherrscht, doch immer wieder hatte er, der Gottesmann, die richtigen Worte für die Männer gefunden. Er hatte einen Mann vor dem Fieber gerettet, einen anderen hatte er mit seemännischem und christlichem
15 Ritual beisetzen müssen, doch nie war der Hoffnungsschimmer am Horizont verblaßt, der ihm den Weg gewiesen hatte. Jetzt aber schien alles aus zu sein. Die Nagelbank barst, Pater David wurde quer über das Achterdeck geschleudert und prallte gegen das Steuerbordschanzkleid. Von dort riß ihn eine unheimliche Kraft hoch in die Luft. „Santa Maria, Madre de Dios", waren seine letzten Worte, dann schwanden ihm die Sinne. Todesschreie hallten über die Decks. Die „Valencia" sackte ab und fiel in rasendem Sturz auf die Wasserfläche zurück. Plötzlich war der gigantische Rüssel gerissen, und die „Valencia" krachte in die See. Sie barst auseinander und ging in zwei Teilen auf Tiefe. Ein einziger furchtbarer Schrei schallte noch über das Wasser, begleitet von einem donnernden Krachen und Rauschen, dann brachen die Fontänen brausend in sich zusammen. Sekunden später stürzte aus der Haufenwolke Wasser auf die ,,Empress of Sea II.". Es schüttete wie aus gewaltigen Kübeln, und die Sicht war im Nu gleich null. Die Männer und die beiden Jungen gingen in Deckung. Mac Pellew wurde um ein Haar außenbords gerissen, weil er das Gleichgewicht verlor und über das Schanzkleid zu kippen drohte. Im buchstäblich letzten Augenblick ruderte er jedoch mit den Armen und stürzte rücklings auf die Planken. Er fiel hart, war aber trotzdem heilfroh, daß er nicht seinem Suppenkessel gefolgt war. Ebenso schlagartig, wie er begon-
nen hatte, hörte der Regenguß wieder auf. Alles an Bord dampfte, alle waren klitschnaß. Plymmie - das war das Erstaunliche - hatte aufgehört zu jaulen. Old O'Flynn richtete sich von den Achterdecksplanken auf und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Sein erster Blick galt wieder der unheimlichen Wolke. Sie zog davon und hatte ihre dunkle Tönung im unteren Bereich verloren. Die See war wie immer - bis auf die herumschwimmenden Trümmer, zu denen sich jetzt ein paar auftreibende Fässer gesellten. Old O'Flynn, Smoky, Martin Correa, Sam Roskill, Karl von Hutten, Mac Pellew und die Zwillinge eilten ans Schanzkleid. Sie alle waren von dem soeben Erlebten derartig erschüttert, daß sie zunächst keine Worte fanden.
3. Erst Smoky löste den Bann. „Hölle und Teufel", sagte er mit einer Stimme, die kaum als die seine wiederzuerkennen war. „Hol's der Henker, das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ich kann's beschwören: Ich hab' in der Wolke die Fratze eines grinsenden Seedrachen erkannt. Und der hat das Schiff mit Haut und Haaren gefressen." Old O'Flynn sah ihn an, als sei er selbst ein Ungeheuer. „Sag mal, bist du noch ganz dicht?" Wieder einmal wurde an seinen „übersinnlichen Kompetenzen" gerüttelt. Das konnte er nicht dulden. „In Wolken gibt es keine ,See'-Drachen. Ich muß es ja schließlich wissen, nicht? Seedra-
16 chen sind nur im Wasser, nicht in der Luft." „Du kannst mir viel erzählen!" „Denkst du vielleicht, ich lüge?" „Nein! Aber du hast selbst noch kein Seeungeheuer gesehen, nicht mal eine lausige Seeschlange!" „Das haut dem Faß den Boden aus!" brüllte der Alte. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen!" Wieder war der hitzige Disput ausgebrochen, aber dieses Mal war es Karl von Hutten, der die beiden ebenso ruhig wie energisch und bestimmt unterbrach. „Tut mir leid, daß ich euch stören muß", sagte er. „Aber wir müssen nach Überlebenden suchen. Das ist doch wohl unsere verdammte Pflicht, nicht wahr?" Old O'Flynn sah ihn völlig entgeistert an. „Spinnst du?" „Nein. Aber wir können jetzt nicht einfach abhauen und so tun, als sei nichts gewesen. Vielleicht gibt es Überlebende." „Nein!" stieß Smoky hervor. „Wenn es Überlebende gibt, dann sind die verhext!" „Sehr richtig!" pflichtete Old O'Flynn ihm lautstark bei. „Wer sich nämlich im Sog des Sturmgottes befindet, der ist auf ewig verdammt und dazu verurteilt, bis ans Ende aller Zeiten auf schwarzen Sturmrappen durch die Lüfte zu reiten!" „Bis ans Ende aller Zeiten!" wiederholte Smoky aufgebracht. Dieses Mal war er sich mit dem Alten einig. „Aha", sagte Sam Roskill. „Dieses Gebilde, dieser Rüssel, war also ein Spuk?" Old O'Flynn schüttelte heftig den Kopf. „Es war der Sturmgott. Er hat sich ausgetobt, aber er kann jeder-
zeit wieder zuschlagen. Er ist unberechenbar." „Das hab' ich gleich zu Anfang gesagt", sagte Smoky. „Aber du wolltest ja nicht auf mich hören und hast stur den Kurs gehalten. Fast wären wir selbst abgesoffen." Der Streit zwischen den beiden schien von neuem zu beginnen, aber Karl von Hütten bemerkte nüchtern: „Meiner Ansicht nach hat es sich um eine Art kleinen Tornado, eine Trombe gehandelt." „Also eine ,Tromba de agua', eine Wasserhose?" sagte Martin Correa. „So was gibt es selten." „Möglich ist es aber", sagte Karl von Hutten. „Quatsch!" stieß Old O'Flynn erbost hervor. „Es war keine Hose und auch kein Hemd, ihr Narren! Es bereitet euch wohl Spaß, an meinen Worten zu zweifeln, wie? Aber ihr werdet noch begreifen, daß mir meine umfassenden Kenntnisse über das Reich des Jenseits und die Mächte der Finsternis das Richtige eingeben. Der Sturmgott wütet in dieser Ecke Meer. Es wird Zeit, daß wir ihm aus dem Weg gehen." „Was wir dir ja mehr als einmal vorgeschlagen hatten", sagte von Hutten spöttisch. „Noch so eine Bemerkung, und ich vergesse mich!" brüllte ihn der Alte an. „Es waren die Geister, die Götter der Stürme und der Finsternis", murmelte Smoky, der von dieser Vorstellung geradezu fasziniert war. „Amen", sagte Sam Roskill respektlos und suchte mit dem Kieker die See ab, um nach Überlebenden Ausschau zu halten. Mac Pellew stand etwas abseits
17 und rollte verdächtig mit den Augen. Schließlich sagte er: „Jetzt koche ich auf so einem Schlorren erst recht keine Suppe mehr." „Du hast ja auch keinen Kessel mehr", sagte Philip junior, aber Mac hörte gar nicht hin. Sein Blick war auf die Wasserfläche gerichtet, wo die Trümmer der „Valencia" auf den Wellen dümpelten, und wirkte entrückt. „Die ,Empress' ist nämlich selber verhext", fuhr er fort. „Weil sie auf Sturmgötter, Sturmrappen und Seedrachen zusegelt. Nicht auszuhalten ist das." „Warum bohren wir den Kahn nicht einfach an?" sagte Sam spöttisch. „Damit wäre der Spuk dann aufgehoben. Na, ist das nicht ein guter Vorschlag?" „Ein Spuk hebt sich nicht auf!" schrie Old O'Flynn. „Jedenfalls nicht auf diese Art! Du hast ja keine Ahnung davon!" „Um Hexen zu vertreiben, braucht man Feuer! Für Blutsauger Knoblauch und Eichenkreuze!" brüllte Smoky. „Werwölfe erlegt man mit Silberkugeln!" „Falsch!" fuhr der Alte ihn an. „Um Hexen den Teufel auszutreiben, muß man sie vierteilen, und zwar bei Vollmond!" „Aber dazu braucht man auch eine tote Katze", sagte Smoky schwer atmend. Old O'Flynn war irritiert. „Wieso denn das?" „Die schmeißt man der Hexe nach, wenn sie versucht, abzuhauen", erwiderte Smoky allen Ernstes. „Und man muß dabei eine Zauberformel sprechen, sonst funktioniert das nicht."
„Das ist absoluter Quatsch", erklärte Old O'Flynn. „Noch nie in meinem Leben habe ich so einen hanebüchenen Unsinn gehört." „Hört mal zu", sagte Sam Roskill zu den anderen. „Während die beiden sich in den Haaren liegen, unternehmen wir am besten was Praktisches. Alles andere hat ja doch keinen Zweck." „Glaubst du denn, daß sie wieder Vernunft annehmen?" fragte Hasard junior vorsichtig. „Vielleicht", entgegnete Sam. „Bei Smoky bin ich sogar sicher. Der benimmt sich doch sonst nicht so." „Hexen haben vor toten Katzen Angst!" rief Smoky zornig. „Nein! Sie kratzen ihnen höchstens die Augen aus!" brüllte Old O'Flynn. „Mac", sagte Karl von Hutten. „Hilfst du uns wenigstens, die Jolle abzufieren?" „Klar", antwortete Mac. „Ist doch Ehrensache. Die Suppe ist futsch. Der Kessel auch. Ich stehe hier sowieso nur rum." Karl, Martin, Sam, Mac und die Zwillinge setzten also das Beiboot der „Empress" aus, ohne sich noch weiter um das Gezeter und Geschrei von Old Donegal und Smoky zu kümmern. „Zurück!" schrie der Alte. „Das ist Meuterei!" „Die Dämonen werden euch zerfetzen!" brüllte Smoky. Aber die vier Männer und die beiden Jungen saßen bereits in der Jolle und legten ab. Old O'Flynn und Smoky blieben an Bord zurück. Ihr Disput dauerte an, und es hatte den Anschein, als würde er noch in Handgreiflichkeiten ausarten. „Laßt sie weiter rumspinnen", sag-
18 te Sam Roskill, während sie zu der Untergangsstelle pullten, die durch die treibenden Trümmer zu erkennen war. „Wir haben was Besseres zu tun. Falls es Überlebende gibt, haben sie nur eine Chance, wenn wir sie aus dem Wasser fischen." Aber kein Mitglied der Besatzung der „Valencia" schien das furchtbare Unglück überstanden zu haben. Die Untergangsstelle war eine einzige Stätte des Todes, die Aura des Jenseits schien von ihr auszugehen, wie Old O'Flynn das in seinen düstersten Visionen prophezeite. * Sie fanden Tote, die wie erstickt aussahen. Sie trieben rücklings oder bäuchlings im Wasser, ihr Anblick war grauenvoll. Viele hielten noch Planken oder die Überreste von Balustraden, Schanzkleidern und Nagelbänken in den Händen, an denen sie sich in panischer Verzweiflung festgeklammert hatten. „Die armen Teufel", sagte Mac traurig. „Himmel, wie schrecklich das ist. Schlimmer als das Ende einer Schlacht." „Sie müssen in dem unheimlichen Sog keine Möglichkeit mehr gehabt haben, atmen zu können", sagte Sam. „Ich habe so etwas noch nicht erlebt." „Ich auch nicht", murmelte Karl von Hutten. „Und wenn ich mir vorstelle, daß bald die Haie auftauchen und Mahlzeit halten, wird mir ganz anders." „Wahrschau!" stieß Philip junior, der im Bug kauerte, plötzlich hervor. „Da bewegt sich was!" Sie blickten voraus und entdeckten einen Menschen, der eine Rah um-
klammerte und schwach den Kopf bewegte. „Das gibt's nicht", sagte Mac Pellew. „Nichts wie hin." Sie pullten auf den Mann zu und sahen jetzt, daß er eine dunkle Kutte trug. Mac Pellew riß die Augen auf. Mit offenem Mund fixierte er den großen, bärtigen Mann, der eben wieder etwas mit dem Kopf ruckte. „Da wird doch der Aal in der Pfanne verrückt", sagte Mac mit belegter Stimme. „Träume ich?" „Glaub nicht", erwiderte Philip junior. „Er trägt wirklich eine Kutte." „Eine dunkle Kutte", sagte Karl von Hutten. „Folglich könnte er ein Franziskanermönch sein." „Das Wasser hat den Stoff dunkel gefärbt", sagte Sam Roskill. „Meiner Meinung nach könnte er auch ein Dominikanermönch sein." „Egal", sagte Martin Correa. „Auf jeden Fall ist er ein Gottesmann. Wer hätte schon gedacht, daß eine spanische Handelsgaleone einen richtigen Bordkaplan hat." „Das ist auch wieder nicht ganz richtig", sagte Karl. „Ein Kaplan ist kein Mönch und umgekehrt." „Hört mal", sagte Mac entsetzt. „Er betet." „Ave Maria", murmelte der im Wasser treibende Riese kaum wahrnehmbar. „Gratia plena. Dominus vobiscum. Padre, Fili et Spiritus Sanctus." „Ich hau' ab", sagte Mac. „Ich schwimme zur ,Empress' zurück. Das halte ich nicht aus." Sam mußte unwillkürlich grinsen. Er hatte das unheimliche Erlebnis am schnellsten von allen überwunden, ebenso die Zwillinge, in denen inzwischen die Frage nach dem nicht
19 Erklärbaren der Erscheinung des Rüssels bohrte. „Mac", sagte Sam. „Es reicht schon, wenn Donegal und Smoky verrückt spielen. Fang du nicht auch noch an. Langsam habe ich das Gefühl, wir benehmen uns wie die kleinen Kinder. Damit sollte jetzt langsam Schluß sein." „Santa Maria, prega por nosotros", murmelte der Mönch. Die Jolle hatte ihn jetzt fast erreicht. „Was sagt er denn?" fragte Mac. „Das ist doch Latein, nicht? Kann der nicht anders beten?" „Eben hat er Spanisch gesprochen", erklärte Hasard junior. „Die heilige Mutter Gottes solle für uns beten, hat er gesagt." „Ich kapiere überhaupt nichts mehr", stöhnte Mac. Karl von Hutten hatte eine skeptische Miene aufgesetzt. Erinnerungen an seine Vergangenheit wurden wieder in ihm wach. Nach der Ermordung seiner Eltern in Venezuela sein Vater war der letzte Generalkapitän der deutschen Kolonie des Handelshauses der Welser gewesen war er von spanischen Mönchen erzogen worden. Noch nicht erwachsen, war er aus dem Kloster ausgerissen und kämpfte seitdem gegen die Spanier. Aber er verdrängte diese Gedanken an die damalige Zeit, aus der er die Erinnerung an die Heuchelei so mancher Kuttenmänner in sich trug. „Vorwärts!" sagte er rauh. „Hier ist ein Schiffbrüchiger, also ein Mensch, der unsere Hilfe braucht. Sind wir jetzt wirklich von allen guten Geistern verlassen?" „Fast", sagte Sam. „Los, packt mal mit an."
Natürlich dachten sie alle gleich. Dem Fremden mit der Kutte mußte geholfen werden. Sie manövrierten an ihn heran, gingen längsseits und beugten sich über das Dollbord der Steuerbordseite. Sie griffen nach ihm, stellten jetzt aber fest, daß er sehr groß und schwer war. „Hölle", sagte Sam. „Das ist ja ein Riese." „Und was für einer!" stieß Martin keuchend hervor. Die Jolle krängte bedrohlich, als sie jetzt versuchten, den Mann zu übernehmen. Karl von Hutten traf die richtige Entscheidung. „Wir müssen ihn übers Heck ins Boot hieven", sagte er. „Alles andere hat keinen Zweck." „Trotzdem ist es noch riskant", sagte Mac. „Bei dem Gewicht, das er hat, meine ich. Der Kahn säuft uns glatt ab." „Ich habe eine Idee", sagte Hasard junior. „Philipp, Mac und ich gehen zum Bug als Gegentrimm. Ihr drei hievt ihn dann an Bord." „In Ordnung", sagte Karl. Sie wendeten und steuerten so auf den Kuttenträger zu, daß sie ihn mit dem Kopf zuerst übers Heck an Bord ziehen konnten. Mac und die Zwillinge standen im Bug. Karl, Martin und Sam beugten sich nach achtern und griffen dem Riesen unter die Achseln. Der murmelte pausenlos Gebete in lateinischer Sprache und schien die Rah um keinen Preis loslassen zu wollen. „Verdammter Mist", sagte Sam. „Das ist schwieriger, als ich mir vorgestellt habe." Plötzlich tönte Old O'Flynns Stimme von Bord der „Empress" herüber:
20 „Hat der Kerl Hörner? Verbrennt ihr euch die Finger an ihm?" „Quatsch!" rief Mac erbost zurück. „Er betet nur 'ne Menge!" „Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut!" schrie Karl. „Dann ist er vielleicht doch kein Dämon!" „Dämon oder nicht", sagte Martin grimmig. „Er muß an Bord." Sie schafften es, aber sie kippten dabei fast ins Wasser. Schwer landete der Riese im Bootsheck, der Bug stieg trotz des Gewichtsausgleiches durch Mac und die Zwillinge hoch. Sam, Karl und Martin holten den Schiffbrüchigen Hand über Hand an Bord. Dann, als er lang über den Duchten lag, richteten sie sich auf und atmeten tief durch. „Das war ein Stück Arbeit", sagte Sam. „Und wenn so ein Mann halb besinnungslos im Wasser hängt, wirkt er doppelt schwer." Sie blickten dem Riesen ins Gesicht. Unablässig bewegten sich dessen Lippen, er murmelte nach wie vor seine lateinischen Gebete. „Ist er nun bewußtlos oder nicht?" fragte Karl. „Keine Ahnung", erwiderte Sam. „Er hat eine Platzwunde", sagte Martin. „Ich sehe ihn mir mal an", sagte Mac. Er arbeitete sich vom Bug nach achtern und beugte sich mit interessierter Miene über den Mann. Die Blessur zog sich quer über die Stirn, eine klaffende Platzwunde, die ziemlich heftig blutete. „Ein Tuch", sagte Mac und griff in Richtung Bug, ohne sich dabei umzudrehen. Philip junior drückte ihm einen sauberen weißen Stoffetzen in die Hand, den er schnell aus der Se-
gellast gezogen hatte. Mac knüllte den Fetzen ein wenig zusammen und betupfte die Stirn des Riesen. Vorsichtig tastete er sie ab, offenbar, um festzustellen, ob der Schädelknochen angebrochen war. „Achtung, er bewegt sich wieder", sagte Sam. „Ach was, der liegt voll im Tran", brummelte Mac. Aber der Goliath kehrte in diesem Moment ein bißchen ins Bewußtsein zurück. Seine rechte. Faust zuckte hoch. Gleichzeitig murmelte er Unverständliches. „Aufpassen!" rief Hasard junior noch. „Er wischt dir eine, Mac!" Zu spät - die Faust traf Macs rechte Schulter. Mac flog aus dem Boot, als habe ihn eine unsichtbare Macht entführt. Er konnte nicht mehr fluchen: Schon landete er im Wasser und verschwand. Als er wieder hochschoß, spuckte er einen dicken Strahl Seewasser aus. „Ehrlich", sagte Sam. „So locker habe ich noch keinen außenbords fliegen sehen, Mac." „Der Teufel soll dich holen!" „Das fängt ja gut an", sagte Karl verdrossen. „Wir haben es mit einem boxenden Mönch zu tun. Vielleicht ist er auf Formosa gewesen und dort bei den Klosterbrüdern in die Schule gegangen." „Das ist mir scheißegal!" rief Mac. „Helft mir gefälligst raus!" „Bootscrew!" schrie Old O'Flynn. „Mann über Bord! Sofort bergen!" „Der merkt aber auch alles", sagte Sam Roskill. Mac war am Stöhnen. „Los, beeilt euch! Oder sollen die Haie eurem guten alten Koch und Feldscher was abbeißen?"
21 Sie arbeiteten sich näher an ihn heran und bargen ihn - während der Goliath, mittschiffs über die Duchten verteilt, die Länge der Jolle einnahm. Mit Ach und Krach zogen Martin und Sam den keuchenden und japsenden Mac an Bord. Karl von Hutten versuchte unterdessen, die Stabilität gewichtsmäßig auszugleichen. „Kein Zweifel", sagte er. „Wir haben zu tief geladen." „Wir saufen also doch ab?" fragte Mac entsetzt. „Weiß ich nicht", erwiderte Karl von Hutten. „Aber die Jolle hat mächtigen Tiefgang, soviel steht fest." „Folglich müssen wir uns wie auf Eiern bewegen", sagte Martin. Sie nahmen die Riemen und pullten sehr behutsam und vorsichtig zur „Empress of Sea II." zurück. Die lateinischen Gebete des Goliaths begleiteten sie dabei, sie schienen nicht mehr abreißen zu wollen. „Geht das ewig so weiter?" sagte Mac entnervt. „Kann der nicht endlich mit dem Salbadern aufhören?" „Nie", erwiderte Karl. „Du weißt doch, wie das mit den Mönchen ist." „Nein. Ich war noch nie in einem Kloster." Philip junior grinste. „Mönche beten immer, Tag und Nacht." „Das ist ja furchtbar!" stieß Mac hervor. Dabei rieb er sich die Schulter - und auch das Kinn, das ebenfalls von dem Hieb gestreift worden war und etwas verschoben zu sein schien. „Vielleicht versucht er auch, uns alle zu bekehren", sagte Sam. „Solche Gottesleute sind ja zu allem fähig."
„Aber wir sind keine Heiden", sagte Mac. „Fast", sagte Karl von Hütten. „Vor allen Dingen fluchen wir zuviel. Wenn du beichtest, darfst du das nicht vergessen, Mac. Ich schätze, daß du allein wegen deiner ewigen Schimpferei und Lästerei zu tausend Rosenkränzen verdonnert wirst." „Zu was?" „Du wirst auch beten müssen", sagte Sam Roskill grinsend. „Bis an dein Lebensende. Das geschieht dir recht." 4. Old O'Flynn und Smoky tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Wieder packte sie das kalte Grausen, denn soeben wurde der riesige Kuttenträger mit vereinten Kräften an Bord der „Empress of Sea II." gehievt. „Heiliger Strohsack", sagte Old O'Flynn. „Es ist also wirklich ein richtiger Mönch." Nur flüchtig hatte er zuvor durch seinen Kieker zu der Jolle geblickt. Irgendwie hatte er nicht wahrhaben wollen, daß seine Leute einen Gottesmann aus der See bargen. Jetzt aber wurden auch die letzten Zweifel beseitigt: Triefend hing die Kutte an der mächtigen Gestalt des Goliaths. Also war er ein Betbruder. Sie holten ihn binnenbords und ließen ihn vorsichtig auf die Planken nieder. In einer kleinen Wasserpfütze blieb er an Deck liegen. Er schien bewußtlos zu sein, aber seine Lippen bewegten sich nach wie vor. Smoky beugte sich kurz über ihn, um etwas von dem Gemurmel zu
22 verstehen. Verwirrt schaute er wieder auf und drehte sich zu den anderen um. „Gloria in excelsis Dei", wiederholte er. „Hat einer eine Ahnung, was das heißt?" „Antreten zum Backen und Banken bestimmt nicht", sagte Mac verdrossen. „Und was ist jetzt? Soll ich eine neue Suppe kochen oder nicht?" „Der Kessel ist futsch", sagte Philip junior sachlich. „Weißt du, was du mit deiner verdammten Suppe kannst?" fragte Old O'Flynn lauernd. „Aye, Sir", erwiderte Mac, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich kann sie mir an den Hut stecken. Aber ich habe keinen Hut. Außerdem habe ich die Suppe bereits außenbords gekippt - samt Kessel." „Paß auf, daß du nicht gleich hinterherfliegst", zischte der Alte. „Ich habe langsam die Nase voll - von dir, von deinen Suppen und von den verfluchten Sturmgöttern." „Für heute habe ich genug gebadet", sagte Mac beleidigt und zupfte an seiner nassen Kleidung herum. Es hörte ihm aber keiner mehr so recht zu, denn alle richteten ihre Blicke auf den nach wie vor ohnmächtigen Gottesmann. Wen hatten sie sich da bloß an Bord geholt? Old Donegal schüttelte sich unwillkürlich. Beim Anblick von Mönchen und Priestern fielen ihm alte Sünden wieder ein, und er kriegte ein schlechtes Gewissen. Was tat der Spanier, wenn er zu sich kam? Zelebrierte er eine Messe? Ließ er sie beichten? Und wo sollten sie mit dem Kuttenmann hin? Smoky fuhr sich immer wieder mit der Hand übers Kinn. Auch in ihm
rief der Anblick des riesigen Mannes einige Erinnerungen wach, vor allem an die Kindheit. Als Säugling war er auf der Kirchenschwelle der St.-Andrews-Kirche in Plymouth gefunden und von „Betbrüdern", wie er sie nannte, großgezogen worden - ähnlich wie Karl von Hütten. „Ein Glück, daß ich damals bei den Himmelslotsen frühzeitig abgemustert habe", murmelte er. Er hatte nie bereut, zur See gefahren zu sein. Im Kloster wäre er nur „vergammelt", wie er sich immer dann vor Augen hielt, wenn er sich in einer äußerst gefährlichen, ausweglos erscheinenden Situation befand. Die Männer und die beiden Jungen räusperten sich, traten auf der Stelle und wußten nicht, was sie unternehmen sollten. Die Anwesenheit dieses Paters stimmte sie verlegen. Durfte man ihm einfach einen Kübel Seewasser ins Gesicht schütten, um ihn ins Bewußtsein zurückzuholen? Das schien nicht angebracht zu sein auch deshalb nicht, weil der Mann eine kräftige Handschrift hatte, wie Mac am eigenen Leib erfahren hatte. „Da sieht man mal wieder, wie stark doch der Einfluß der Kirche ist", murmelte Karl von Hutten leise. „Er ist noch nicht bei Bewußtsein und hat auch noch kein Wort gesagt, und doch haben wir alle bereits Respekt vor ihm." Mac betastete wieder sein Kinn. „Mit gutem Grund, meine ich." „Außerdem betet er dauernd", sagte Sam Roskill. „Da wird man ganz kribbelig." „Die Frage lautet, was mit ihm geschehen soll", sagte Martin Correa. „Darüber braucht ihr euch nicht den Kopf zu zerbrechen", sagte Old
23 O'Flynn. „An Bord meines Schiffes bin ich der Kapitän und der liebe Gott zugleich, das ist ja wohl klar. Eigenmächtige Handlungen seitens des Kuttenträgers lasse ich also gar nicht erst zu - falls du das meinst." „Dominus vobiscum", murmelte der Gottesmann. „Ich hab's ja gesagt", erklärte Sam Roskill. „Er ist ein DominikanerMönch." „Unsinn", widersprach Karl von Hutten. „Das war wieder Latein und bedeutet ,Der Herr sei mit euch'." Old O'Flynn kratzte sich am Hinterkopf, dann am Kinn. „Meinetwegen. Aber eins ist mal sicher: Wir versuchen, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden." Seeleute hatten eben ein eher distanziertes Verhältnis zur Kirche und ihren Vertretern, außerdem waren sie im allgemeinen sehr abergläubisch. Doch das war etwas anderes. Wer die Wucht der Naturgewalten zu erdulden oder ihnen zu widerstehen hatte, war nicht unbedingt für die Sprüche an Land lebender Geistlicher empfänglich. Dennoch steckte in den rauhen Kerlen der nie zugegebene Respekt vor dem Wort Gottes. Aus dieser widersprüchlichen Haltung schlau zu werden, war nicht leicht. Aber Seeleute waren eben ein ganz eigenwilliger Schlag Mensch, gutherzig und störrisch zugleich, fair, aber rauhbeinig, gerecht, stolz und unbeugsam. Old O'Flynn begann wieder zu fluchen. Smoky drückte sich am Schanzkleid herum und hielt nach Wasserdämonen und Seegespenstern Ausschau, wobei auch er es nicht versäumte, tüchtig Verwünschungen auszustoßen.
Karl von Hutten trat vor Old O'Flynn hin und sagte: „Jetzt mach aber mal einen Punkt, Donegal. Du vergißt, daß der Mann verletzt ist. Er braucht unsere Hilfe. Ich bin ein getaufter Christ und habe einem verwundeten Mann noch nie meinen Beistand verweigert. Und überhaupt, so was haben Wir noch nie getan." „Was denn?" fauchte der Alte ihn aufgebracht an. „Daß wir einen Schiffbrüchigen, der sich aus eigener Kraft kaum auf den Beinen halten kann, einfach irgendwo wieder ausgesetzt haben." „Habe ich das etwa gesagt?" fuhr ihn der Alte an. „Daß wir ihn loswerden müssen, habe ich gesagt, verstanden?" „Das ist das gleiche", erwiderte von Hutten. „Du brauchst keine Angst zu haben, daß jemand an deiner Rolle als Kapitän rüttelt. Es geht nur um folgendes: Wir haben den einzigen Überlebenden einer spanischen Galeone an Bord, und es ist unsere Pflicht, ihm alle Hilfe angedeihen zu lassen, die er braucht. Auch Hasard würde nicht anders handeln." „Das weiß ich." „Warum fluchst du dann herum?" „Das mußt du mir überlassen", entgegnete Old O'Flynn mit gallebitterer Miene. Er war unsicher geworden und fühlte sich von Karl von Hutten überfahren. „Und die Debatte ist jetzt zu Ende." „Wie lauten deine Befehle?" fragte Karl von Hutten. „Wir kehren zur Schlangen-Insel zurück." „Und nehmen den Pater mit?" „Natürlich nicht!" rief der Alte. „Das wäre ja noch schöner!"
24 „Du setzt ihn also doch irgendwo aus?" „Schluß mit der Haarspalterei!" brüllte Old O'Flynn. Aber dann steckte er doch zurück, denn Karl von Hutten hatte die besseren Argumente zur Hand. „Wir müssen den Pater mit zur Schlangen-Insel nehmen", sagte er. „Der Kutscher, eventuell auch Arkana, könnten sich um ihn kümmern. Zweifellos hat er außer der Stirnwunde auch einen Schock erlitten." „Was ja wohl kein Wunder ist bei dem fürchterlichen Ereignis, das wir miterlebt haben", sagte Martin Correa. „Mac!" schrie Old O'Flynn. „Hat der Gottesmann einen Schock?" „Ich glaube schon." „Was heißt das - ich glaube?" „Er hat einen Schlag weg", entgegnete Mac. „Vielleicht hat er auch nicht mehr alle Mucks im Schapp, oder bei ihm sind ein paar Bolzen locker, weil er sich den Kopf gestoßen hat. Möglich ist alles." „Du bist mir vielleicht ein Feldscher", sagte der Alte. „Lieber trage ich den Kopf unterm Arm, als mich jemals von dir behandeln zu lassen." „Bleiben wir beim Thema." Karl von Hutten war jetzt ausgesprochen hartnäckig. „Den Mönch auf einer Insel abzuladen, ist Mord", sagte er. „Dafür gebe ich mich nicht her." „Bin ich vielleicht auf Mord aus?" zischte Old O'Flynn. „Sehe ich so aus?" „Nein. Aber du hast was gegen die Kutte." „Mit gutem Recht, oder?" „Ja!" rief von Hutten wütend. „Denn du lebst ja mit Mary Snugglemouse in einer wilden Gemeinschaft
zusammen, die nach christlichem Brauch erst legitim ist, wenn sie vor Gott von einem Vertreter der Kirche zusammengefügt und besiegelt wird!" „Nämlich?" „Durch den Bund der Ehe!" „O Schreck laß nach", stammelte der Alte. „Bis daß der Tod euch scheidet", sagte Karl von Hutten grimmig. „Daran gibt es nichts zu rütteln. Oder wollt ihr wie die Heiden leben und Götzendienst betreiben?" Der Alte zuckte zusammen. „Das gehört überhaupt nicht hierher." „Vielleicht doch", sagte Sam, Roskill. „Du hast Angst davor, daß der Mönch auf der Schlangen-Insel eine Kirche baut und dich mit Mary vor den Altar schleift oder so. Gib's doch zu." „Mary braucht er nicht zu schleifen", sagte Old Donegal mit heiserer, ersterbender Stimme. „Die läuft, wenn sie das hört. Aber ich spiele da nicht mit." „Da haben wir's", sagte von Hutten. „Aber ein Gottesmann scheint genau das zu sein, was wir auf der Schlangen-Insel brauchen." „Man merkt, daß du von Betbrüdern großgezogen worden bist", sagte Smoky. „Ja, das schlägt jetzt ganz dick durch." „Das mußt du gerade sagen!" „Du weißt wohl nicht, was wir uns mit einem Kuttenträger einhandeln, wie?" „Möglicherweise einen neuen Freund", erwiderte Karl. „Aber das steht jetzt außer Diskussion. Wir müssen ihn zur Schlangen-Insel transportieren. Das ist vordringlich." „Allmählich habe ich das Gefühl,
Das ist Pater David, ein Riese von Gestalt, der als einziger Mann den Untergang einer spanischen Handelsgaleone überlebt und von der Crew der „Empress of Sea" gerettet wird. Wir werden noch viel von ihm hören.
26 daß ich nicht mehr Kapitän auf meinem eigenen Schiff bin. Ich werde übergangen. Aber das hat noch Folgen für dich, Mister von Hutten, das schwöre ich dir." Karl von Hutten trat noch etwas näher auf ihn zu. „Hast du eigentlich ganz vergessen, wie Dan über dein Verhältnis mit Mary denkt?" „Das geht dich einen Dreck an." „Dan verhält sich ziemlich reserviert", sagte Smoky zu dem Alten gewandt. „Dir gegenüber. Das ist doch kein Geheimnis, das wissen wir alle." „Bist du jetzt auch wieder gegen mich?" „Nein. Und hier findet keine Verschwörung gegen dich statt", erwiderte Smoky. „Nur meine ich allmählich auch, daß es besser ist, wenn wir die Segel setzen und zur Schlangen-Insel abklüsen." „Mit dem Goliath?" fragte der Alte und deutete mit etwas bebender Hand auf den Bewußtlosen. „Na gut, meinetwegen." Was sollte er sonst noch sagen? Er kam sich sowieso bereits wie ein Unhold vor. Karl von Hutten hatte ihn mit seinen Worten fein genagelt. Es stimmte, daß Dan seit der Sache mit Mary seinem Vater gegenüber Distanz hielt. Es war nie richtig ausgesprochen worden, aber der Alte hatte es immer gespürt - und somit vertiefte sich sein schlechtes Gewissen. Daß er eben noch von „verhexten Überlebenden" gesprochen hatte, war ihm längst entfallen. Er brummelte und maulte zwar noch herum, aber das waren Rückzugsgefechte. „Ihr Narren", sagte er, „ihr Grünlinge! Ihr werdet schon noch sehen, was ihr davon habt. Ihr wißt nicht, was ihr euch einbrockt. Aber mir ist
es dann egal. Wer zuletzt lacht, lacht am besten." Der Gottesmann - nach wie vor wußten sie von ihm nicht, daß er Pater David hieß und dem Orden der Dominikaner angehörte - versuchte, sich auf die linke Körperseite zu wälzen. Er gab ein tiefes, langgezogenes Stöhnen von sich. „Da hört ihr's", sagte Mac Pellew mit wissender Miene. „Das ist jetzt wieder der Schock. Der läßt ihm keine Ruhe." „Schafft ihn unter Deck in die Kammer", sagte Old O'Flynn. „Packt ihn meinetwegen in meine Koje." „So was von Großzügigkeit", sagte Karl von Hutten. „Das ist ja kaum zu fassen." „Mister von Hutten!" fuhr der Alte ihn an. „Hör jetzt endlich auf, mich anzustänkern! Ich hab' die Schnauze voll!" Diesmal hielt von Hutten es für besser, den Mund zu halten. Man sollte es schließlich nicht übertreiben. Immerhin hatte er gesiegt: Der Gottesmann wurde ins Achterdeck verfrachtet und umschichtig von Mac Pellew und den Zwillingen bewacht. Er kehrte Vorlauf ig nicht ins Bewußtsein zurück, aber er hörte auch nicht auf, seine lateinischen Gebete zu murmeln. Mac und den Zwillingen gelang es im Laufe der Zeit, ihm doch die Stirnwunde abzutupfen, so daß der Blutfluß allmählich nachließ. Sie waren aufopfernd um ihn bemüht, wenngleich Mac auch meinte, er tue dies alles unter Einsatz seines Lebens. Seine Schulter und sein Kinn schmerzten immer noch. Die Segel der „Empress of Sea II." waren unterdessen gesetzt worden,
27 das Schiff ging auf Kurs Schlangen-Insel. Im Kielwasser blieben die Trümmer der spanischen Dreimast-Galeone „Valencia" zurück, Spuren einer Tragödie, die schon bald in Vergessenheit geraten würde. Die See überspülte schnell die Tragödien. Der Tod war eine Realität, mit der man sich abfinden mußte. Bei jedem konnte er unvermittelt anklopfen, niemanden verschonte er. Es war nur eine Frage der Zeit. Was die „Valencia" geladen hatte, wußten Old O'Flynn und seine Männer immer noch nicht. Aber der Geschmack und die Freude an einer Kaperfahrt war ihnen auch vergangen, zumal es ein Wagnis gewesen wäre, mit den Drehbassen der „Empress'' gegen solide Kanonen zu kämpfen. Sie hatten ihre Haut gerettet, ehe sie sie zu Markt hatten tragen können. Die dunkle Wolke und der unheimliche Rüssel hatten sie - von der jähen Dusche abgesehen - verschont. Jetzt galt es, die Kameraden auf der Schlangen-Insel aufzusuchen, den Schiffbrüchigen zu versorgen und alles, was sich zugetragen hatte, dem Bund der Korsaren zu berichten.
5. Die Zwillinge warteten einige Zeit ab, dann rangen sie sich zu einem Vorstoß durch. Philip junior holte einen Silberling aus der Hosentasche und fragte: „Kopf oder Zahl?" „Zahl", erwiderte Hasard junior. Philip warf die Münze in die Luft und fing sie geschickt wieder auf. Langsam öffnete er die Hand, und
beide blickten gespannt auf das Ergebnis. „Kopf", sagte Hasard. „Also, dann wünsche ich dir viel Erfolg." Philip verlieh sich einen innerlichen Ruck und marschierte nach achtern. Dort stand der Alte mit bitterböser, finsterer Miene an der Ruderpinne. Sein Blick war starr vorausgerichtet. Er hatte an der ganzen Geschichte immer noch schwer zu beißen, und es war absolut nicht der richtige Moment, ihn anzusprechen. Aber für Philips Unternehmen gab es zwingende Gründe. Deshalb verdrängte er seine Bedenken. Schließlich war die Wahl auf ihn gefallen, und ein echter Korsar hatte Mut und Verwegenheit in jeder Lebenslage zu beweisen. Wie aber sollte er Old O'Flynn ansprechen? Früher, als sie noch klein gewesen waren, hatten sie Großvater zu ihm gesagt, und Ed Carberry hatten sie „Onkel Ed" genannt. Aber die Zeiten waren vorbei. Vor allem galt an Bord wie an Land die Regel, daß die Söhne des Seewolfs wie normale Decksleute zu behandeln waren. Es durfte also keine Bevorzugungen geben - und anders herum keine plumpen Vertraulichkeiten. „Sir", sagte Philip darum. „Ich bitte um die Genehmigung, Plymmie aus der Vorpiek befreien zu dürfen." Old O'Flynn schwieg. Er sah den Jungen auch nicht an. Er blickte weiterhin stur geradeaus und schien tief in seine düsteren Gedanken verstrickt zu sein. Vielleicht malte er sich gerade aus, wie die Heimkehr ausfiel und was Mary ihm alles an den Kopf warf, wenn er vom „Fluch des Sturmgottes" erzählte. Oder schlief er mit offenen Augen?
28 Philip war versucht, ihn mit dem Finger anzuticken, bezwang sich aber rechtzeitig. Nein, der Alte war wach. Eben hatte er die Lider bewegt. Jetzt richteten sich seine Augen auf Philip, ganz langsam allerdings. Er schien durch ihn hindurchzublicken. Sah er ihn überhaupt? „Was willst du?" fragte er kaum verständlich. „Nur eine Erlaubnis, Sir." „Ich hab' jetzt keine Zeit." „Ich bitte darum, Plymmie aus der Piek rauslassen zu dürfen, Sir." „Plymmie?" „Unsere Wolfshündin, Sir." „Hölle, Tod und Teufel!" stieß der Alte plötzlich aufgebracht hervor. „Ihr denkt wohl alle, ich sei vertrottelt, was? Natürlich weiß ich, wer Plymmie ist. Kannst du mir mal verraten, warum, zum Henker, die Jaulsuse wieder an Oberdeck soll? Damit sie wieder zu heulen anfängt?" „Bitte zu bedenken, daß Plymmie nicht mehr heult, seit die Wolke weg ist", sagte Philip bestimmt. „Sie hat sich die ganze Zeit über ruhig und ordentlich verhalten." „Aber dafür brauchen wir sie nicht zu belohnen. Sie bleibt in der Piek und damit basta." „Sir - sie muß mal." „Was? Und ich soll mir die schöne Vorpiek versauen lassen?" „Ich glaube, sie muß auch mal was anderes." „Warum hast du das nicht gleich gesagt?" brüllte Old O'Flynn, daß es Philip in den Ohren dröhnte. „Raus mit dem elenden Köter und ab auf die Galion! Seht zu, daß er alles ablädt! Ihr seid dafür verantwortlich! Ich will keine Schweinerei an Bord, das darf gar nicht erst einreißen! Die
,Empress' ist ein anständiges und sauberes Schiff!" „Aye, aye, Sir!" rief Philip, während die Männer Mühe hatten, ihr Lachen zu verbergen. Old O'Flynn sog schnaubend die Luft durch die Nase ein, dann atmete er wieder aus. „Na schön. Gebt ihr meinetwegen auch was von der Suppe zu fressen, der alten Plymmie. Sie hat uns auf ihre Art durch das Gewinsel warnen wollen. Und ich bin schließlich auch kein Unmensch." „Nein, Sir." „Hau ab", sagte der Alte unwirsch, dann richtete er seinen Blick wieder voraus. Folglich holten Philip und Hasard die Hündin aus der Vorpiek und brachten sie auf die Galion, wo sie ihr „Geschäft" verrichtete. Anschließend besuchten sie zu dritt Mac Pellew, der maulend in der Pantry herumwirtschaftete. „Mac", sagte Philip und konnte sein Grinsen kaum verkneifen. „Der Kapitän hat gesagt, du sollst Plymmie was von deiner Suppe zu fressen geben. Sie hat's verdient. Ihr ist der Schreck ja auch ganz hübsch in die Knochen gefahren und ..." „Von der was?" fiel Mac ihm verblüfft ins Wort. „Von der Suppe", erwiderte Hasard. Mac stemmte die Fäuste in die Seiten. „Wenn der Alte denkt, er könne mich auf die Schippe nehmen, hat er sich geirrt. Sagt ihm das. Er weiß genau, daß ich keine Suppe und keinen Kessel mehr habe." „Richtig", sagte Philip und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Das habe ich doch total vergessen."
29 „Ich auch", sagte sein Bruder. „So was Dummes. Aber nichts für ungut, Mac. Wenn keine Suppe da ist, kannst du Plymmie vielleicht ein paar gekochte Kartoffeln vorsetzen." „Ich habe keine gekochten Kartoffeln. In was hätte ich sie denn wohl kochen sollen?" „Im Kessel", erwiderte Philip. „Aber der ist ja weg. Weiß der Himmel, wo er inzwischen treibt. Vielleicht fischen ihn ein paar Piraten auf und kochen ihren Griesbrei darin. Na, dann füttern wir Plymmie eben mit Brot." „Brot ist rationiert", sagte Mac gallig. „Eine Speckseite?" fragte Hasard hoffnungsvoll. „Ist mit dem Kessel weg." „Warum hast du keinen Ersatzkessel, Mac?" fragte Philip. „Dann könntest du eine neue Suppe kochen." „Pie Pantry ist zu klein", sagte Mac und zog den Kopf ein wenig tiefer zwischen die Schultern. „Hier gibt's keinen Ersatz, für nichts. Auf diesem Schlorren fahre ich nie wieder." „Aber was soll Plymmie dann fressen?" fragte Hasard. „Nichts, zum Teufel!" „Und die Crew? Wenn die Suppe alle ist, muß sie eben den Kessel auskratzen", sagte Philip. „Verschwindet, ihr Krebse!" brüllte Mac. Er war puterrot im Gesicht angelaufen. „Macht mich nicht verrückt, oder ich kippe euch die Suppe vor die Füße und hau' euch den Kessel auf die Birnen!" Die Zwillinge konnten sich nicht mehr halten und brachen in schallendes Gelächter aus. An Deck stießen sich die Männer mit den Ellenbogen an und grinsten.
„Habt ihr das gehört?" fragte Sam. „Mac scheint völlig aus dem Häuschen geraten zu sein." „Das ist die Rache des Sturmgottes", sagte Smoky. „Fängst du wieder an?" fragte Martin drohend. „Nein. Ich will die Schlangen-Insel lebend erreichen." Mac war drauf und dran, den Zwillingen ein paar Ohrfeigen zu verpassen, aber Plymmie hatte die Situation instinktiv erfaßt und strich ihm um die Beine. Da wurde auch Macs hartes Herz plötzlich weich, vor allem deshalb, weil sie ihm liebevoll die rechte Hand leckte. Er bückte sich, streichelte sie und setzte so was wie ein gequältes Grinsen auf. „Na, nun komm mal her", brummelte er. „Einen kleinen Happen hat der alte Mac ja doch für dich." Philip und Hasard staunten nicht schlecht: Mac zauberte einen Napf unter dem Schapp hervor, in dem sich die Reste befanden, die beim Zubereiten der besagten Suppe angefallen waren. In weiser Voraussicht hatte er sie für Plymmie zurückgehalten und nicht wie üblich über Bord gekippt. Plymmie begann zu fressen und wedelte freudig mit dem Schwanz. Sie war nicht wählerisch. Sie fraß alles, von der Wurstpelle bis zur Kartoffelschale. „Vielen Dank, Mac", sagte Philip junior. „Das ist wirklich fein von dir." „Schon gut", sagte Mac. „Geht jetzt lieber unseren Kranken besuchen. Ich war eben bei ihm. Es geht ihm wohl etwas besser. Vorhin dachte ich noch, ich müßte ihn festzurren, weil er dauernd schwadronierte und um
30 sich hieb. Aber das hat sich jetzt gelegt." „Er hat also Fieber gehabt?" fragte Hasard junior. „Ein bißchen. Es geht aber zurück." „Besteht nicht die Gefahr, daß er eine Vergiftung oder so was kriegt?" fragte Philip junior. „Nein. Seine Stirnwunde ist ja außer mit dem Seewasser mit nichts in Berührung gekommen. Und ich habe ihn auch ordentlich gesäubert und auf andere Blessuren untersucht." Unwillkürlich atmete er auf. „Ich hab' gedacht, er würde mir noch mal eine runterhauen, aber diesmal habe ich Glück gehabt." „Der Mensch kann ja nicht immer nur Pech haben", sagte Philip, dann verließen sie die Pantry. Plymmie blieb bei Mac. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, rollte sie sich neben Macs Füßen zusammen und schlief beruhigt ein, während er ein paar Rüben und Gurken schälte. Zum Backen und Banken, so hatte er beschlossen, würde er der Crew ein paar einfache Pfannengerichte vorsetzen. Irgend etwas mußte er ja zubereiten, sonst landete er möglicherweise noch einmal im Wasser. Die Zwillinge betraten die Achterdeckskammer und setzten sich zu dem großen Mann auf den Rand der Koje. Diesen Platz mußten sie aber bald wieder räumen: Pater David begann erneut, um sich zu schlagen und zu schwadronieren. Was er sagte, war unverständlich. Seine Stirn und sein Gesicht waren heiß und gerötet, der Schweiß lief ihm über die Wangen. „Mac hat sich zu optimistisch ausgedrückt", sagte Philip mit ernster Miene. „Es ist noch nicht vorbei.
Vielleicht fängt das Fieber gerade erst richtig an. Es ist wirklich besser, wenn der Kutscher ihn so bald wie möglich zu sehen kriegt." „Und Arkana", sagte sein Bruder. „Natürlich. Sie kennt ja so viele Wunderheilmittel - vielleicht gelingt es ihr, das Fieber zu dämpfen." Sie wachten weiterhin bei dem Patienten. Zwischendurch erstatteten sie dem Deck Meldung über seinen Zustand. Nachdenklich und besorgt blickten sich die Männer untereinander an. Es wurde wirklich höchste Zeit, daß sie die Schlangen-Insel erreichten. * Natürlich war es ein Wagnis und auch ein Problem, den Gottesmann auf die Schlangen-Insel zu verbringen. Karl von Hutten war sich darüber im klaren - auch und gerade deshalb, was den Kult der Schlangen-Priesterin Arkana betraf. Er wüßte, daß in diesem Punkt Komplikationen entstehen konnten. War der fremde Mönch seinem Wesen und seinen Anschauungen nach so, wie Karl von Hüuten ihn sich vorstellte, dann würde er jeden Kult als heidnischen Mummenschanz und eine Beleidigung der christlichen Religion verdammen. Andererseits hatte er, von Hutten, keine Alternative. Sie konnten den verletzten Mann nicht einem ungewissen Schicksal überlassen. Vielleicht kam er aus eigener Kraft nicht mehr zu sich, vielleicht brachte ihm das Fieber, das ihn schüttelte, den Tod. So groß und robust er auch sein mochte, packten ihn das Wundfieber
31 oder der gefürchtete Starrkrampf, dann war er geliefert. So dachte Karl von H t t e n , und ähnlich fielen auch die Überlegungen der anderen aus. Gleichzeitig beschäftigten sie sich immer wieder mit dem Erlebten. Was den „Rüssel", die „Amboß-Wolke" und das ungeheuerliche Vorkommnis betraf, so standen sie immer noch vor einem Rätsel. Sie alle waren mehr oder weniger erschüttert und innerlich aufgerührt. Keiner hatte eine sinnvolle, vernunftsmäßige Erklärung für das seltsame Gebilde, das aus der Wolke herausgewachsen war und dann mit so unvorstellbarer Kraft die Galeone zerstört hatte, ja, sie sogar über das Wasser hinaus angehoben hatte. Und wie war es möglich, daß der Kuttenmann überlebt hatte, ohne wie die anderen zu ersticken? Sie fanden auch darauf keine Antwort. Sie waren froh, als sie am Abend dieses Tages endlich am Ziel waren. Die „Empress of Sea II." lief mit dem Mahlstrom in die Bucht der Schlangen-Insel ein und ging wegen ihres geringen Tiefganges an der kleinen Pier längsseits. Hier wurde sie vertäut. „Mal sehen, ob wir jetzt eine Antwort auf die offenen Fragen kriegen", sagte Old O'Flynn grimmig. „Ich will sofort mit Hasard sprechen. Unverzüglich." Lange brauchte er nicht zu warten. Die Ankunft seines kleinen Dreimasters war verfrüht. Ursprünglich hatte er bis zum 23. Mai den Patrouillendienst versehen sollen. So waren denn bei der Ankunft der „Empress" die Bewohner der Schlangen-Insel bereits zusammengelaufen und verteilten sich jetzt auf das Ufer der
Bucht und die Pier: Hasard und die Crew der „Isabella", die Männer der „Wappen von Kolberg" und der „Pommern", der Wikinger und seine Nordmänner vom Schwarzen Segler, Ribault und seine Crew sowie Jerry Reeves samt dem Großteil seiner Leute. Die „Le Vengeur III." und die „Tortuga" lagen neben den anderen Schiffen in der Bucht, und hier ankerte auch der Zweidecker „Caribian Queen", Siri-Tongs neues Schiff. Auch die Frauen waren natürlich zur Stelle: die Rote Korsarin, von Barba und einigen anderen Männern begleitet, Gotlinde, Gunnhild, Mary, Arkana und Araua sowie die Schlangenkrieger und -kriegerinnen. Arkana deutete auf den kleinen Dreimaster und unterhielt sich mit ihrer Unterführerin Tatona. Beide hatten ernste Mienen aufgesetzt. Sie schienen zu spüren, daß etwas nicht in Ordnung war. „Donegal!" rief Hasard von der Pier aus. „Was ist los? Ist etwas passiert?" Old O'Flynn war ans Schanzkleid getreten. Er stützte sich auf, und irgendwie wirkte er zutiefst erschöpft. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. „Und ob", erwiderte er. „Aber mir fehlen die Worte." „Eben wolltest du doch noch mit Hasard sprechen", sagte Karl von Hutten. „Das will ich auch noch. Ich weiß aber nicht, wo ich anfangen soll." „Auf keinen Fall bei der Suppe!" rief Mac Pellew. „He", sagte Hasard. „Was hat das zu bedeuten? Seid ihr dem Wassermann begegnet?" „So ungefähr", brummelte der Alte.
32 wollte aber immer noch nicht so recht mit der Sprache heraus. Er wirkte jetzt maulfaul und verdrossen. Er hatte Mary entdeckt, die ihn ihrerseits mit einem gleichsam herausfordernden Blick musterte. Die Fäuste hatte sie auch bereits in die Seiten gestemmt, dabei wippte sie leicht auf den Fußballen, was ebenfalls ein schlechtes Zeichen war. Neugierig blickten alle auf die „Empress of Sea II.", auf der es offenbar nicht mit rechten Dingen zuging. Smoky stand etwas abseits, sein Gesicht war fahl. Er murmelte unablässig Unverständliches und schien auch nach dem roten Faden zu suchen. Plymmie stimmte ein leises Jaulen an, wurde aber sogleich von Philip junior zurechtgewiesen. Sie verstummte augenblicklich wieder. Wer Mac Pellew ansah, der mußte ohnehin annehmen, daß für die „Empress" jede Rettung zu spät erfolgte. Sein Gesicht wirkte wie zehn Tage Regenwetter, Fässer voll essigsaurer Gurken und tiefster Schmerz um einen lieben Verstorbenen gleichzeitig. „Donegal!" schrie Hasard. „Mach die Sache nicht so spannend! Was ist los? Ist bei euch jemand über Bord gegangen?" „Nur meine Suppe", antwortete Mac mit Grabesstimme. „Und der Kessel auch." „Hör mit deiner dämlichen Suppe auf!" zischte Old O'Flynn. „Mister O'Flynn!" schrie Mary. „Würdest du die unendliche Güte haben, uns allmählich aufzuklären? Wenn du uns veralbern willst, hast du dir den falschen Tag ausgesucht! Wir haben hier nämlich alle Hände voll zu tun - mit der Vorbereitung
des Festmahls, der Speisenfolge und den Getränken zum Beispiel!" „Ich weiß, ich weiß", murmelte der Alte mit schmerzlich verzogenem Gesicht. „Karl, tu mir einen Gefallen. Sag du es ihnen." Karl von Hutten verließ die „Empress" über die Gangway, trat auf die kleine Pier, blieb dicht vor Hasard stehen und begann: „Eigentlich hat alles mit der verflixten Amboß-Wolke angefangen. Plötzlich war sie da." „Was ist denn eine Amboß-Wolke?" wollte Mary wissen. „Miß Snugglemouse!" brüllte Old O'Flynn. „Wenn du Mister von Hutten ausreden läßt, erfährst du's gleich!" „Laßt mich mal kurz an Bord!" stieß Mary aufgebracht hervor. „Ich hab' mit dem alten Walroß unter vier Augen zu reden!" „Halt", sagte der Seewolf. „Das könnt ihr nachher unter euch abhandeln. Jetzt geht es um den Bericht. Ich wünsche, daß alle still sind und keiner mehr Zwischenfragen stellt. Karl, weiter bitte." Von Hutten schilderte so kurz wie. möglich, aber doch umfassend, was sich zugetragen hatte. Nur die „übersinnlichen Erklärungen und Kommentare" von Old Donegal und Smoky ließ er weg, weil sie seiner Ansicht nach mit einer sachlichen Schilderung nichts zu tun hatten. Er erntete ungläubiges Staunen. Arkana schob sich näher heran, betrachtete ihn aufmerksam und fragte, als er geendet hatte: „Bist du nicht der Meinung, daß es ein Dämon war, der da gewütet hat?" „Ich glaube nicht an Dämonen." „Nur ein Dämon kann ein ganzes Schiff vernichten."
37 „Sehr richtig!" pflichtete Smoky ihr spontan bei. Auch er hatte die „Empress" inzwischen verlassen. „Es war der Sog des Sturmgottes." „Da denke ich aber anders", sagte von Hutten so gelassen wie möglich. „Es war ein Naturereignis, wie wir es noch nicht erlebt haben. Etwas Ausgefallenes, Seltenes, für das es aber doch eine Erklärung gibt." „Eine Tromba de agua", sagte Martin Correa. „Eine Wasserhose." „Es gibt keine Wasserhosen", sagte Old O'Flynn. „Nur Windhosen." „Das stimmt nicht ganz", widersprach der Seewolf. „Und wir sollten auf jeden Fall sachlich bleiben." Er war nachdenklich geworden. „Ich bin geneigt, Karl recht zu geben. Die Wasserhose gleicht einer Art Wirbelsturm, ist aber örtlich begrenzt und dauert nie lange an." „Vielleicht hängt das mit einer starken Erwärmung des Wassers und einem deutlichen Temperaturgefälle zwischen Luft und Wasser zusammen", sagte Siri-Tong. „Ja, das könnte die Voraussetzung sein", sagte Hasard. „Wenn dann noch eine Gewitterwolke hinzukommt wie in diesem Fall, könnte es sein, daß sich die direkt über der Wasseroberfläche befindliche Luft erwärmt und entsprechend der steigenden Temperatur auch immer mehr Feuchtigkeit aufnimmt. So entsteht der sogenannte Rüssel. Man könnte ihn auch als Schlauch bezeichnen." „Das sind doch alles nur Annahmen", sagte Old O'Flynn. „Sehr überzeugend klingt mir das nicht. Darauf kann man sich nicht verlassen." „Aber auch nicht auf deine Sturmgötter", sagte Mary kampflustig.
„Wir haben noch Zeit genug, darüber zu diskutieren", sagte Hasard. „Wichtig ist jetzt erst einmal, daß wir uns um den einzigen Überlebenden der spanischen Galeone kümmern." „Wie war das eben?" rief Carberry. „Du hast gesagt, er sei ein Kuttenträger, Karl?" „Ja." „Leider", fügte Old O'Flynn mit Leichenbittermiene hinzu. „Ausgerechnet einen Gottesmann mußten wir auffischen." „Ein Pfaffe?" rief Thorfin Njal bestürzt. „Ein Betbruder? Und den schleppt ihr auf die Schlangen-Insel?" Sein linker Fußknöchel war immer noch bandagiert, und er lief auch noch mit Krücken. Das hinderte ihn aber nicht daran, heftig mit dem gesunden rechten Fuß aufzutreten. Die Pier begann zu beben. „Bei Odin und seinen Raben! Das ist ein starkes Stück!" „Ganz ruhig bleiben", sagte Karl von Hutten. „Noch hat er dich nicht getauft. Und er wird wohl auch nicht so schnell dazu kommen, bei seinem Zustand." „Ich laß mich nicht taufen!" brüllte der Wikinger. „Ich habe meine eigenen Vorstellungen, was die christliche Lehre betrifft!" „Das ist bekannt", sagte Gotlinde. „Aber das ist noch lange kein Grund, zu lästern. Versündige dich nicht. Du könntest es schwer bereuen." „Ja, das finde ich auch", sagte Mary. „Pfaffensalbader und Weibergeschwätz", sagte der Wikinger und rollte drohend mit den Augen. „Das hat uns hier gerade noch gefehlt." „Eben", sagte Old O'Flynn, aber es
38 klang ziemlich lahm. „Und ich wollte ihn ja auch nicht herbringen." „Was wolltest du denn mit ihm tun?" schrie Mary. „Ihn ersäufen? Ihn irgendwo aussetzen? Das sieht dir ähnlich! Du armer Sünder! Der Herr wird dich strafen!" „Heiliger Nepomuk", sagte der Alte entsetzt. „Steh mir bei." „Wo ist der arme Teufel?" fragte Arkana. „Wir wollen ihn sehen. Wir müssen ihn pflegen." „Wir stehen hier rum und reden dummes Zeug", sagte die Rote Korsarin. „Dabei ist jede Minute kostbar." „Wir bringen ihn an Land", sagte der Seewolf. „Mönch oder nicht - wir haben es hier mit einem verletzten Mann zu tun, der behandelt werden muß. Wo steckt der Kutscher?" „Hier bin ich, Sir", sagte der Kutscher und trat neben ihn. „Wo ist der Patient?" „In Old O'Flynns Koje", erwiderte Mac mit einer Miene, als wolle er gleich losheulen. „Er hat einen dikken Schock weg." „Weißt du überhaupt, was ein Schock ist?" fragte der Kutscher zweifelnd. „Klar. Eine Platzwunde auf der Stirn." „Nein. Mit Schock bezeichnet man einen auf ein schreckliches Ereignis folgenden Nervenzustand", erklärte der Kutscher. ,,Außerdem ist es denkbar, daß der Mann eine Gehirnerschütterung hat. Das muß genau geprüft werden." Arkana stand rechts neben Hasard und winkte ihren Kriegerinnen zu. „Der Mönch wird in eine der Hütten gebracht", befahl sie. „Versorgt ihn. Legt ihm kühle Tücher gegen
das Fieber auf. Ich kümmere mich selbst um ihn." Tatona in ihrer Funktion als Unterführerin und Anführerin der Tempelwache trat mit ein paar Kriegerinnen gelassen vor. Auch Araua schloß sich ihnen an. Gemeinsam begaben sie sich an Bord der „Empress of Sea II.". Die teils verdutzten, teils neugierigen und ratlosen Blicke der Umstehenden folgten ihnen. Außer Hasard, dem Kutscher, Mary, Gotlinde und den Kriegerinnen schien keiner so recht zu wissen, was er unternehmen sollte. 6. Ohne große Umstände hievten die Schlangenkriegerinnen den Goliath aus der Koje, unterfingen ihn und schafften ihn an Deck. Dann bugsierten sie ihn über die Gangway auf die Pier und schließlich an Land. Sie brachten ihn zu der Hütte, die Arkana und Araua ihnen zuwiesen - und sie taten all das mit einer Selbstverständlichkeit, die den Lästermäulern die Sprache verschlug. Beschämt blickten der Wikinger, Old O'Flynn, Carberry, Smoky und ein paar andere zu Boden. „So was Blödes", sagte der Profos. „Wir haben den Mund wohl doch zu voll genommen. Wir sollten lieber abwarten, was für ein Kerl der Betbruder ist." „Einer, der zuschlagen kann", sagte Mac. Er war zu ihnen getreten. „Ich hab's am eigenen Leib zu spüren gekriegt." Carberry mußte grinsen. „Ja, wenn ich das so bedenke, wird er mir richtig sympathisch, der Kuttenmann."
39 „Nicht so voreilig", warnte Smoky. „Himmelslotse bleibt Himmelslotse. Wenn er gesundet und hierbleibt, baut er eine Kirche und zwingt uns alle zum Beten. Bestimmt bringt er uns auch Lateinisch bei." „Mir nicht!" polterte Thorfin. „Bei mir reißen keine neuen Sitten ein! Ich hau' dazwischen, wenn hier das große Beten losgeht, darauf könnt ihr euch verlassen!" Allerdings hatte er nicht bemerkt, daß Gotlinde immer noch hinter ihm stand. „Ich an deiner Stelle würde jetzt erst mal den Mund halten", sagte sie scharf. „Das wäre nämlich durchaus angebracht. Hast du kein bißchen Takt und Anstand, du Grobian?" Sie schwiegen wieder betreten und blickten den Kriegerinnen nach, die mit dem schweren Mann zu der Hütte schritten. Der Kutscher folgte der Gruppe gemessen, ohne besonders dazu aufgefordert zu sein. Auch für ihn war es selbstverständlich, sich um den verwundeten Mann zu kümmern. Hasard unterbrach lächelnd das verlegene Schweigen, indem er, zu Gotlinde und dem Wikinger gewandt, sagte: „Dem Bericht Karls nach zu urteilen, ist dieser Gottesmann gewissermaßen vom Himmel gefallen. Ich fasse das als einen Fingerzeig des großen Kapitäns im Himmel auf." „Nein!" stöhnte Thorfin. „Und was hat das genau zu bedeuten?" „Daß ihr euer Pärchen christlich taufen lassen solltet." „Nie!" brüllte der Nordmann wutentbrannt. „Nur über meine Leiche!" Hasard blieb gleichmütig, wandte den Blick und fixierte Old O'Flynn,
der immer mehr in sich zusammenzuschrumpfen schien. Gelassen fuhr er fort: „Bei der Gelegenheit der Taufe, die ein großes, fröhliches Fest sein soll, könnten durch unseren Gottesmann auch gleich Mister O'Flynn und Miß Snugglemouse zu einem Paar zusammengefügt werden, damit alles seine Richtigkeit hat." „Sehr gut", sagte Dan O'Flynn. „Das wird auch langsam Zeit." „Jawohl!" schrie Mary mit Donnerstimme. Sie glühte vor Begeisterung. „Ganz meine Meinung! Dan, du bist doch aus einem besseren Holz geschnitzt als dein Alter! Komm her, laß dich an meine Brust drücken! Ich will dir einen dicken Kuß geben!" „Ich muß nur schnell nachsehen, ob der Kutscher seinen Medizinkasten dabei hat", sagte Dan hastig, und schon war er von der Pier verschwunden. Auch sein Erzeuger war mit einemmal wie vom Erdboden verschluckt. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben, aber ein verräterisches Ächzen gab kund, wo er war. Spornstreichs war er in der kleinen Kammer der „Empress" verschwunden. Aber das nutzte ihm nichts. Ein hallendes Gelächter dröhnte über die Bucht - befreiend klang es, der Bann war gelöst. Nie hatten die Arwenacks einem Hilfsbedürftigen ihre Unterstützung verweigert, und so wurde es auch dieses Mal gehalten. Ob die Anwesenheit des Kuttenträgers ein glücklicher Wink des Himmels oder ein bitteres Los war, das man erdulden mußte, würde sich noch herausstellen. Thorfin Njal räumte entrüstet die
40 Pier und befahl grollend seiner Leibgarde, ihn unverzüglich zum Schwarzen Segler zu pullen. Arne, Eike, Ölig und der Stör beeilten sich, der Order zu folgen. Sie sprachen kein Wort, während sie ihren Kapitän an Bord des Viermasters pullten. Sie waren heilfroh, daß auch der Wikinger schwieg. So hatte der Stör nichts zum Nachplappern - und brauchte nicht um seine Gesundheit zu bangen. Thorfin Njal enterte an Bord auf, begab sich auf das Achterdeck und ließ sich krachend auf seinem „Sesselchen" nieder. Dann versank er in finsteres Brüten. „Was tut er?" fragte Jean Ribault, der vom Ufer aus halb belustigt, halb besorgt zum Schwarzen Segler schaute. „Er schmollt", erwiderte Gotlinde. ,,Aber das gibt sich wieder." „Werden die Kindchen getauft oder nicht?" fragte Bill, der jüngste Mann der „Isabella IX." „Sie werden getauft", erwiderte Gotlinde. „Und zwar christlich, verlaßt euch drauf." * Hasard und Siri-Tong schritten nebeneinander über den Strand und unterhielten sich wieder über das „Phänomen" Wasserhose. Nicht weit von der Hütte entfernt, in der der Gottesmann niedergebettet worden war und behandelt wurde, blieben sie stehen. „Erstaunlich ist natürlich, daß die ,Tromba' einen so gewaltigen Sog hat?', sagte die Rote Korsarin. „Ich hätte nie gedacht, daß sie einen Dreimaster aus dem Wasser heben kann."
„Und doch ist die Kraft so groß", sagte der Seewolf. „Sicherlich werden die Gelehrten eines Tages eine umfassende Erklärung dafür finden. Heute sind wir noch nicht so weit, aber die Naturwissenschaftler sind ja hartnäckige Forscher." „Wie groß ist deiner Meinung nach die Windgeschwindigkeit einer Wasserhose?" „Sie dürfte der Geschwindigkeit eines Wirbelsturms entsprechen." „Bist du sicher?" „Nun, ich nehme es an - nach dem, was Karl berichtet hat", entgegnete Hasard. „Aber präzise Berechnungen werden sich darüber kaum anstellen lassen." „Irgendwie finde ich das Ganze doch unheimlich", sagte sie. „Stell dir vor, die .Empress' wäre in den Sog geraten. Ich bedaure die armen Teufel von der spanischen Galeone, aber das rettet sie nicht mehr. Ich finde aber auch Donegals Verhalten unverantwortlich." „Die Sache ist ihm eine Lehre", sagte Hasard. „Er ist ziemlich erledigt, weil er eingesehen hat, daß er einen schweren Fehler begangen hat." „Er hätte niemals auf die Gewitterwolke zusteuern dürfen." „Eben. Das hat er längst begriffen, nur gibt er es nicht offen zu." Der Kutscher hatte die Hütte verlassen und trat zu ihnen. „Es ist so, wie ich vermutet habe", sagte er. Der Mönch hat eine Gehirnerschütterung davongetragen. Zur Zeit ist er noch nicht ansprechbar." „Also hat er auch einen Schock er-' litten?" fragte Hasard. „Ja. Das Fieber sinkt inzwischen aber wieder."
41 „Wird er am Leben bleiben?" „Mit Sicherheit", erwiderte der Kutscher, und ein seltsamer Glanz trat in seine Augen. „Dieser Riese hat eine geradezu unwahrscheinliche körperliche Konstitution!" Sein fachliches Interesse war durch den Spanier geweckt worden, er geriet direkt ins Schwärmen. „Ich habe ihn von oben bis unten untersucht und außer der Platzwunde auf der Stirn noch ein paar Prellungen festgestellt. Dabei habe ich Gelegenheit gehabt, seine Muskeln zu bestaunen." „Er ist also gut gebaut ?" fragte Siri-Tong und hob die Augenbrauen etwas an. „Ja. Wohlgebaut und schwer muskelbepackt." „Also ein Mönch mit Muskelkraft", sagte der Seewolf amüsiert. Der Kutscher blickte ihn an. „Ehrlich - du bist ja auch ein Riese, Sir, aber dieser Mann muß meiner Meinung nach noch einen Kopf größer und ein Stück breiter sein als du." Hasard lächelte. „Hoffentlich habe ich jetzt keinen Konkurrenten gefunden." „Wie meinst du das?" fragte die Rote Korsarin. „Ach, nur so." Sie lächelte plötzlich ebenfalls. „Du weißt doch, daß die Liebe für ihn ein Tabu ist. Und du, solltest auf so etwas nicht anspielen. Du versündigst dich auch, wenn du so was sagst." „Schon gut. Ich werde mich bessern." Der Kutscher schüttelte den Kopf und lachte. „Auf was für Gedanken ihr aber auch verfallt. Na, ich habe unserem Gottesmann jedenfalls einen feinen Kopfverband angelegt Wegen der Prellungen brauchen wir
uns nicht zu sorgen. Es sind keine Knochenbrüche. Wenn er sich ruhig verhält, ist nichts zu befürchten." „Mac und die Zwillinge haben aber berichtet, daß er sich in der Koje hin und her gewälzt habe", sagte Hasard. „Das bedeutet, daß man auf ihn aufpassen muß, damit er sich nicht selbst schadet." „Ich glaube, dagegen haben Arkana, Araua und Tatona schon entsprechende Maßnahmen ergriffen", sagte der Kutscher. Sie waren wieder ernst geworden. Zu dritt suchten sie die Hütte auf, blieben am Fußende des Lagers stehen und betrachteten im Schein der Fackeln, die in der beginnenden Dunkelheit entfacht worden waren, ihren Patienten. Die Beine weit von sich gestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet, die Augen geschlossen und den Mund halb geöffnet - so lag er da und rührte sich nicht mehr. „Wirklich ein Goliath", sagte SiriTong. „Ein starker Mann", sagte Arkana. „Mir scheint, er hat das Fieber bereits fast von selbst überwunden. Das ist erstaunlich." „Er betet nicht mehr", sagte Hasard. „An Bord der ,Empress' soll er ständig wie in Trance gesprochen haben." Tatona trat mit Araua näher und lächelte. „Schlaf ist die beste Medizin. Auf Arkanas Weisung hin haben wir ihm einen Trank verabreicht, der einen sehr langen Schlaf zur Folge hat." „So bleibt er ruhig liegen, und alles wird wieder gut", sagte Araua. „Die Kriegerinnen werden Tag und Nacht bei ihm wachen, und es wird ihm an nichts mangeln. Hin und wieder ge-
42 ben wir ihm zu trinken, damit er keinen Durst leiden muß." „In besseren Händen könnte er gar nicht sein", meinte der Kutscher. „Er wird gehegt und gepflegt, besser als in einem Lazarett." Später saßen Hasard und SiriTong mit Arkana, Araua und Tatona an einem der Lagerfeuer zusammen und unterhielten sich über den„Fall". „Zur Zeit brauchen wir noch keine Befürchtungen zu haben, daß die Situation heikel wird", sagte der Seewolf. „Solange unser Patient schläft, kann er nichts unternehmen. Aber was geschieht, wenn er wieder gesund ist und aufstehen kann?" „Dann unternimmt er sicherlich als erstes einen Inspektionsgang über die Insel", sagte die Rote Korsarin. „Mit unserer freundlichen Genehmigung natürlich." „Vielleicht entdeckt er auch gleich den Schlangen-Tempel", sagte Hasard. „Das wäre die Krönung. Ein Dominikanermönch vor der Statue des Schlangen-Gottes. Das muß man sich mal vorstellen." „Betreten verboten", sagte Araua. „Wir lassen nicht zu, daß Unbefugte unser Heiligtum betreten. Das weißt du doch." Mit ihren sechzehn Jahren hatte sie eine Reihe von Aufgaben im Schlangen-Tempel übernommen, die sie sehr gewissenhaft erfüllte. „Ich gebe das ja auch nur zu bedenken", sagte Hasard. „Alles hängt davon ab, wie der Mönch sich verhält. Wenn er verrückt spielt und alles umkrempeln will, kriegen wir Ärger. Ich glaube, da spielt eine Rolle, welcher Glaubensrichtung er angehört." „Ein Inquisitor wird er schon nicht sein", sagte Siri-Tong mit einem Anflug von Ironie. „Höchstens ein Mis-
sionar. Und die wissen ja wohl, daß man sein Leben riskiert, wenn man wildfremden Menschen etwas aufzwingen will, was sie nach ihrer eigenen Anschauung ablehnen." „Er scheint sich aber gut wehren zu können", sagte Hasard. „Nicht gegen uns alle", sagte Arkana. „Außerdem glaube ich nicht, daß er versuchen wird, uns mit Gewalt zu bekehren. Ich spüre, daß er gut ist." „Du hast also im Prinzip nichts gegen den Verbleib des Gottesmannes auf der Insel?" fragte Hasard. „Nein. Vorausgesetzt, er respektiert den Schlangen-Kult der Araukaner und bringt hier nicht alles durcheinander. Fanatiker lehnen wir ab." Hasard vernahm es mit Erleichterung. „Gut. Ich bin froh, daß du so denkst. Wenn er sich tolerant zeigt, sind wir das auch." „Auf der Schlangen-Insel können wir ruhig zwei oder noch mehr Religionen dulden", sagte Arkana ernst. „Es ist nur wichtig, daß man sich gegenseitig achtet." „Richtig", pflichtete Siri-Tong ihr bei, „wie das bisher auch der Fall gewesen ist. Die Hautfarbe spielt dabei keine Rolle, wir respektieren den anderen." „So die Timucuas", sagte Hasard, „und auch Martin Correa, der ein guter Mann ist. Die Hautfarbe und die Glaubensgesinnung eines Menschen sind unwichtig. So kann man über Jahre hinaus in Frieden und Eintracht leben." „Wer sich zu etwas bekennt, muß das für sich selbst entscheiden", sagte Arkana. „Niemand hat das Recht, eine solche Entscheidung zu kritisie-
43 ren oder gar anzugreifen. Die Geisteshaltung eines Menschen ist frei, niemand darf sie beeinflussen." „Gute Worte sind das", sagte SiriTong. „Aber ich frage mich nach wie vor, was für ein Mensch dieser Mönch ist." „Bestimmt kein Fanatiker", sagte Arkana. „Hoffentlich täuschst du dich nicht." „Ich kann mich natürlich irren. Aber ich spüre, daß er gut ist." „Wir können folgendermaßen verfahren", sagte der Seewolf. „Wir warten ab, wie sich sein Zustand entwickelt. Sollte alles glücklich verlaufen, laden wir ihn ein, unser Gast zu sein, so lange er will. Zeigt er sich eigensinnig und engstirnig, entfernen wir ihn auf die sanfte Weise von der Schlangen-Insel." „Das dann aber nach Möglichkeit so, daß er niemals erfährt, wo sie liegt", sagte Siri-Tong. „Ich hoffe, daß eine solche Maßnahme nicht erforderlich wird", sagte Hasard. „Auf jeden Fall möchte ich sofort informiert werden, sobald eine Unterhaltung mit ihm möglich ist." „Das verspreche ich dir", sagte Arkana. „Ich habe den Kriegerinnen bereits entsprechende Anweisungen gegeben." „Die sie strikt befolgen", sagte Tatona, die bislang geschwiegen hatte. „Darauf achte ich." Hasard erhob sich und lächelte. „Ich weiß ja, daß ich mich auf euch verlassen kann." Er beschloß, noch einen Rundgang über die Insel zu unternehmen und - rein routinemäßig - die Wachtposten zu kontrollieren. Man konnte nie vorsichtig genug
sein. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß übertriebene Aufmerksamkeit besser war als eine gewisse Nachlässigkeit. Immer, wenn man sich besonders sicher fühlte, geschah etwas Unangenehmes. Doch in dieser Nacht und auch in den folgenden Tagen und Nächten ereignete sich nichts. Alles blieb ruhig. Von keiner Seite drohte den Bewohnern Gefahr, und auch Coral Island war ein Hort des Friedens. So gesehen, war Pater David, der nach wie vor in tiefem Schlaf lag, sicher wie in Abrahams Schloß. 7. Am Vormittag des 23. Mai war es endlich soweit. Hasard befand sich gerade an Bord der „Isabella IX.", wo er in Begleitung von Ben Brighton, Shane und Ferris Tucker eine Inspektion durchführte. Sie stiegen in die tiefsten Schiffsräume hinunter und kontrollierten sämtliche Planken und Verbände. „Dicht ist die Lady", sagte Ferris. „Wir haben ja vor kurzem erst die kleinsten Ritzen neu kalfatert und alles geprüft." „Ja. Aber da wir gerade viel Zeit haben, sollten wir größte Gründlichkeit walten lassen", sagte der Seewolf. „Das heißt mit anderen Worten, das Schiff soll aussehen, als sei es gerade erst vom Stapel gelaufen. Das Rigg ist in Ordnung, die Decks sind sauber, aber ich will, daß auch die Gefechtsstationen gründlich überholt werden." „Aye, Sir", sagte Ben. „Das geschieht noch heute morgen." Schritte trappelten durch das
44 Schiff und näherten sich ihnen. Bill erschien und meldete etwas außer Atem: „Arkana hat eben ein Zeichen gegeben. Der Mönch ist vernehmungsfähig." „Gut, aber wir wollen ihn nicht verhören", sagte Hasard lachend. „Es soll ein ganz freundschaftliches Gespräch werden. Ihr bleibt an Bord, ich setze allein über. Bitte habt Verständnis dafür. Ich glaube nicht, daß es gut für den Mann ist, wenn gleich eine ganze Kompanie Männer bei ihm anrückt." „Natürlich nicht", sagte Ben. „Das sehen wir ja auch ein. Er ist bestimmt noch sehr schwach." Kurze Zeit darauf betrat Hasard in Begleitung von Arkana und Karl von Hutten die Hütte, in der der Spanier untergebracht war. Tatona und drei Kriegerinnen waren anwesend. Sie zogen sich in den Hintergrund zurück, hockten sich auf den Boden und verfolgten schweigend die nun stattfindende Unterredung. Der Schiffbrüchige sah seine Besucher aus ruhigen grauen Augen an. Sein Blick verharrte auf Hasards Gesicht, und für einige Atemzüge musterten sie sich abschätzend. Der Mönch, so stellte Hasard noch einmal fest, hatte kantige Züge, die viel Energie, Willen und Durchsetzungsvermögen verrieten. Sein dunkelblonder Bart war länger geworden. Sein Haar von der gleichen Farbe war voll und fest, nur an den Schläfen war ein leichter Grauschimmer zu erkennen. Hasard gestand sich im stillen ein, daß dieser Mann ihm gefiel. Spontan trat er zu ihm, streckte ihm die Hand hin und sagte: „Willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft, Pater.
Mein Name ist Philip Hasard Killigrew." Pater David ergriff seine Hand und drückte sie energisch - trotz seines Kraftverlustes. „Sie sind Engländer?" fragte er. „Sie sprechen aber erstaunlich gut Spanisch." Arkana registrierte, daß der Patient eine sonor klingende Baßstimme hatte. Auch ihr war er außerordentlich sympathisch, und sie fühlte ihr schon kurz nach seinem Eintreffen abgegebenes Urteil bestätigt. „Ich habe viel Zeit gehabt, Ihre Sprache zu erlernen", entgegnete der Seewolf. „Ich muß gestehen, daß es mich auch einige Mühe gekostet hat. Spanisch ist nicht leicht." „Und ich kann kein Englisch", sagte der Gottesmann. „Aber vielleicht bringen Sie mir ein paar Brocken bei, Señor Killigrew? Übrigens, mein Name ist schlicht und einfach Pater David." „Und meine Freunde nennen mich Hasard." „Sehr gut, Hasard." Pater David hob die Hand und beschrieb eine Geste zu den Schlangen-Kriegerinnen. „Und wer sind diese freundlichen Frauen, die sich so aufopfernd um mich bemühen?" „Araukanerinnen", . antwortete Hasard. Er wies zu Arkana. „Das ist Arkana, ihre Führerin - und das Karl von Hutten." Pater David schüttelte auch den beiden die Hände. „Es freut mich, Sie kennenzulernen. Sind Sie Deutscher, Señor von Hutten?" „Ja. Allerdings war meine Mutter Indianerin. Die Tochter eines Häuptlings." „Auch Araukanerin?"
45 „Nein." „Eigentlich leben die Araukaner doch sehr viel weiter im Süden der Neuen Welt, wenn ich mich nicht irre", sagte Pater David. „Wir aber befinden uns in der Karibik, nicht wahr? Oder bin ich sehr weit gereist? Was ist überhaupt geschehen?" „Eins nach dem anderen", sagte Hasard. „Wie die Araukaner hierhergeraten sind - das ist eine lange Geschichte, die wir Ihnen bei einer anderen Gelegenheit noch ausführlich erzählen, Pater. Erlauben Sie mir, Ihnen ein paar Fragen zu stellen? Gehören Sie dem Orden der Dominikaner an?" „Richtig." „Und wie lautet Ihr vollständiger Name?" „Er spielt keine Rolle, ich verschweige ihn lieber." „Der Name David ist für einen Riesen wie Sie schon fast ein Witz", sagte Karl von Hutten. „Aber daran haben Sie sich wohl gewöhnt." „Allerdings. Was soll ich noch über mich sagen? Ich bin in Madrid geboren und Mönch geworden, weil ich schon immer Las Casas bewundert habe." „Donnerwetter", sagte der Seewolf. „Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wir wollen Sie weder vernehmen noch aushorchen. Wir brauchen nur ein paar Hinweise von Ihnen, um unter anderem auch rekonstruieren zu können, was zu dieser Tragödie geführt hat und aus welchen Gründen Sie sich an Bord dieses Schiffes befunden haben." „An Bord der ,Valencia'?" Pater Davids Züge verhärteten sich, er schien sich jetzt an alles zu erinnern. „O Herr, welch schlimme Strafe.
Warum mußte das geschehen?" Sein Blick richtete sich wieder auf Hasard. „Sie haben mich gerettet, aus höchster Not. Dafür bin ich Ihnen zutiefst dankbar, Señor Hasard. Ich weiß nicht, wo ich mich hier befinde, und es ist mir auch unerklärlich, daß ich das alles überlebt habe, aber ich danke Ihnen von Herzen. Ihnen allen." „Das ist nicht der Rede wert", sagte Arkana. „Wir verlangen keinen Dank, Pater." „Wir haben nur unsere Pflicht getan", sagte Hasard. „Sie scheinen edler und menschlicher Gesinnung zu sein", sagte der Gottesmann. „Wahre Christen dem Handeln nach. Ich habe das deutliche Gefühl, mich unter Freunden zu befinden." „Ja", sagte Karl von Hutten. „Wissen Sie noch, wie das Unglück geschehen ist? Wie sich ein Wasserrüssel über der See gebildet hat, unter der dunklen Amboß-Wolke?" „Das ja. Der Sog riß mich vom Deck der ,Valencia' und beförderte mich hoch in die Luft. Dann verlor ich die Besinnung. Im Wasser kam ich für kurze Zeit wieder zu mir und konnte ein Holz umklammern." „Die Rah", sagte Karl. „Ah ja. Von da ab fehlt mir aber jede Erinnerung." „Welchen Heimathafen hatte die ,Valencia'?" fragte Hasard. „Die gleichnamige Stadt." „Was hatte sie geladen?" „Bauhölzer und Werkzeuge. Für Havanna, den Zielhafen", erwiderte Pater David. „Allmächtiger Herr Jesus, Jungfrau Maria. Armer Kapitän Val de Montez. Er war überzeugt, sicher bis nach Kuba zu gelangen. Er
46 gab sich sehr optimistisch." Er sah erst Arkana, dann Karl von Hutten, dann Hasard an. „Sie sind tot - alle, nicht wahr? Sagen Sie mir ruhig die Wahrheit. Der Tod ist schrecklich, aber natürlich, und Gottes Ratschluß ist unergründlich." „Außer Ihnen gibt es keine Überlebenden", entgegnete Hasard. Pater David bekreuzigte sich. „Herr, sei ihren armen Seelen gnädig. Nimm sie in dein Himmelreich auf, denn sie haben es verdient. Sie sind brave, anständige Männer gewesen, und ich habe mich sehr mit ihnen verbunden gefühlt." Hasard erklärte ihm, wie er von den Männern der „Empress of Sea II." gefunden und aus der See geborgen worden war. Als er geendet hatte, nahm Pater Davids Gesicht einen beinah verlegenen Zug an. „Habe ich diesem Mann wirklich einen Hieb versetzt?" fragte er betroffen. „Mac?" Karl von Hutten mußte unwillkürlich lächeln. „Ja, aber das ist nicht so schlimm. Mac ist Schlimmeres gewohnt." „Was habe ich noch angerichtet?" „Nichts", erwiderte Hasard. „Es ist alles in bester Ordnung, Pater David. Nur haben wir uns um Sie gesorgt. Aber dank der Heilkünste von Arkana und ihren Stammesschwestern sind Sie rasch wieder genesen. Wie fühlen Sie sich jetzt?" „Großartig." „Aber Sie dürfen noch nicht aufstehen", sagte Arkana. „Das hat auch der Kutscher verboten." „Der Kutscher?" wiederholte der Gottesmann überrascht. „Unser Koch und Feldscher", erklärte Hasard. „Keiner kennt seinen
richtigen Namen. Deshalb wird er von allen der Kutscher genannt, weil er früher einmal Kutscher bei einem Arzt in Plymouth war." „Hochinteressant", sagte Pater David. „Aber wo bin ich hier gelandet? In einer englisch-deutsch-araukanischen Kolonie? In einer Siedlung?" „So ungefähr", erwiderte Hasard vorsichtig. .Aber es sind noch andere Nationalitäten vorhanden. Sie werden unsere Freunde noch alle kennenlernen, Pater." „Sind wir auf dem Festland?" „Nein. Auf einer Insel", antwortete Hasard. „Einer Insel? Wo liegt sie denn? Vielleicht Hispaniola? Ich habe mich eingehend mit der Neuen Welt beschäftigt, bevor ich diese Reise angetreten habe." „Die genaue Position darf ich Ihnen nicht verraten." „Ach? Ist das ein Geheimnis?" „Für Sie vorläufig noch", entgegnete der Seewolf rundheraus. „Aber das kann sich ändern." Pater David setzte sich etwas auf. „Ich verstehe", sagte er. „Und verzeihen Sie meine Neugierde." Er stellte keine weiteren Fragen in dieser Richtung. Hasard mußte es vor sich selbst eingestehen: Dieser Mann übertraf in seinem Wesen und Charakter noch die Eigenschaften, die er sich von ihm insgeheim erhofft hatte. Pater David schien ein prächtiger Mensch zu sein. * „Um auf die Reise zurückzukommen", sagte der Seewolf. „Was hat Sie
48 in die Neue Welt gezogen, Pater? Oder bin ich jetzt zu neugierig?" „Keineswegs", entgegnete der Gottesmann. „Aber ich möchte etwas weiter ausholen, wenn es mir gestattet ist." „Eigentlich sollten Sie gar nicht so viel reden", sagte Arkana. „Das strengt zu sehr an. Sie sollten jetzt wieder ruhen." „Sagt das der Kutscher?" „Nein, das sage ich." Pater David lächelte ihr zu. „Bitte, üben Sie sich in Nachsicht. Ich habe das Bedürfnis, mich jemandem mitzuteilen. Und ich möchte auch über Sie alles erfahren, über Sie alle. Ist das schlimm?" „Im Gegenteil", sagte Karl von Hutten. „Wir hören Ihnen gern zu. Unser Ärzterat muß eben mal ein bißchen zurückstecken. Außerdem ist Mac nicht befragt worden." „Der? Der bringt gerade einen neuen Suppenkessel an Bord der ,Empress'", sagte Arkana. Karl von Hutten hob überrascht die Augenbrauen. „Was? Er wollte auf dem ,Schlorren', wie er ihn nennt, doch nicht mehr fahren." „Das will er wohl auch nicht", sagte sie. „Aber die Pantry, das hat er geschworen, will er tipptopp in Ordnung bringen, ehe er abmustert." „Folglich hat er für Fragen des Gesundheitswesens im Moment keine Zeit", sagte der Seewolf und blickte wieder zu Pater David, der ihnen halb amüsiert, halb erstaunt gelauscht hatte. „Das ist so", sagte der Gottesmann jetzt. „Als ich noch ein Kind war, habe ich Las Casas im Kloster seines Ordens zu Madrid persönlich kennengelernt, wo dieser edle Freund
der Indianer dann im Jahre 1566 gestorben ist. Ich war fasziniert von ihm. Ich habe alle seine Werke gelesen und bin dann selbst Dominikaner geworden in der Absicht, ihm nachzueifern und Gutes für die Indianer und alle Andersfarbigen zu tun, die leider von meinen Landsleuten geknechtet oder gar ausgerottet werden. Das soll mein Lebenswerk sein. Doch es hat einer langen Zeit der Vorbereitung bedurft, außerdem hat mich mein Orden nicht so leicht gehen lassen. Ich habe Prüfungen ablegen und lange schriftliche Erklärungen mit theologischen Begründungen für mein Tun abfassen müssen. Dann, endlich, habe ich mit der ,Valencia' in die Neue Welt aufbrechen können. Aber der Beginn meines Auftrags ist denkbar schlecht." „Sie sind also kein Missionar?" fragte Karl von Hütten. „Nicht in dem eigentlichen Sinne. Ich bin nicht hier, um mit Nachdruck Menschen zu bekehren, sondern, um ihnen zu helfen." Hasard, von Hutten, Arkana und die Schlangen-Kriegerinnen durften erleichtert aufatmen. „Vielleicht haben Sie hier bei uns eine Aufgabe gefunden, Pater David", sagte der Seewolf. „Zu unserem Bund gehört auch ein Stamm der Timucua-Indianer. Sie leben auf einer Nachbarinsel, auf Coral Island." „Aber die Timucuas stammen doch aus Florida. Wir sind also in Florida?" „Nicht direkt, aber ziemlich in der Nähe", erwiderte Hasard ausweichend. „Und um welche Art von Bund handelt es sich?" „Um den Bund der Korsaren."
49 „Korsaren, aha." Um Pater Davids Mundwinkel spielte ein feines Lächeln. „Sie sind also doch keine Siedler. Was nun die Timucuas betrifft sie gehören auch zu den von meinen Landsleuten unterdrückten Ureinwohnern der Neuen Welt, wenn mich nicht alles täuscht. Sie sind ausgesprochen friedfertig und nicht so kriegerisch gesinnt wie die Seminolen." „Ich sehe, Sie kennen sich sehr gut aus", sagte Hasard. „Ja, aber es ist ein rein theoretisches Wissen, das ich mir durch die Lektüre von Büchern und durch das Anhören von Berichten angeeignet habe." „Jetzt lernen Sie auch die Praxis kennen", sagte Hasard. „Ja, es stimmt - leider. Die Spanier behandeln die Indianer leider nicht wie vollwertige Menschen. Darüber kann Ihnen auch Martin Correa, unser spanischer Freund, einiges berichten. Wir selbst haben auch unangenehme Erfahrungen gesammelt. Glauben Sie deshalb aber nicht, daß wir SpanienHasser sind." „Nein, das habe ich auch nicht angenommen." Pater David ließ sich zurücksinken, er schien jetzt doch sehr müde zu sein. Wieder beschrieb er mit der Hand das Zeichen des Kreuzes. „Ich spreche Ihnen meinen Segen aus, meine Freunde. Ich weiß jetzt, daß wir gut miteinander auskommen werden. Ich werde Ihnen keine Last sein, das verspreche ich Ihnen." Noch war Hasard allerdings nicht sicher, ob Pater David selbst die Absicht verkünden würde, auf der Schlangen-Insel zu bleiben. Erst mußte er ganz gesunden und seine
neue Umgebung kennengelernt haben. Dann konnte man weitersehen. Hasard selbst war mehr denn je davon überzeugt, daß die Anwesenheit des Gottesmannes eine Bereicherung für die Schlangen-Insel war, auch unter einem anderen Aspekt: Die eigenen Söhnchen, Philip junior und Hasard junior, konnten von diesem zweifellos gebildeten und intelligenten Mann unterrichtet werden - zum Beispiel. Aber das war noch Zukunftsmusik. Es mußte sich erst noch herausstellen, was der Pater wollte und wo er eine Aufgabe für sein Wirken sah. Vielleicht fand er sie auch bei den Timucuas. Abwarten, dachte Hasard. Er warf noch einen Blick auf den großen Mann und stellte fest, daß er eingeschlafen war. Arkana, von Hutten und Hasard sahen einander an, dann nickten sie sich zu und verließen die Hütte. Fürs erste hatten sie genug vernommen. Das Gespräch mit Pater David hatte sich als sehr zufriedenstellend erwiesen. 8. Pater David gesundete im Schlaf dank des geheimnisvollen Trunkes, den Arkana zubereitete. Mit großen Schritten ging der Heilungsprozeß jetzt voran, und bald war die Stirnwunde vernarbt. Von den Prellungen spürte er, wie er glaubhaft versicherte, auch nichts mehr, und rundum fühlte er sich immer wohler. Er aß und trank und bekam innerhalb weniger Tage jene frische, gesunde Gesichtsfarbe, die nach Aussage des
50 Kutschers das beste Zeichen für eine endgültige Gesundung war. Am 28. Mai war er auf den Beinen und unternahm seinen ersten „Spaziergang". Tatona und Araua, die gerade in seiner Hütte Wache hielten, lächelten ihm aufmunternd zu. Er lächelte dankbar zurück, schritt zur Tür und öffnete sie. Sonnenlicht flutete durch den Spalt herein, der Blick öffnete sich ihm auf den Strand und auf die Bucht der Schlangen-Insel, dann auch auf den Felsendom. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. Er trat ins Freie, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und legte den Kopf in den Nacken zurück. Der Wind umfächelte lau sein Gesicht. Es war ein warmer, sonniger, wolkenlos heiterer Tag. Nun begann die Besichtigung. Pater David schritt zwischen den Hütten der Schlangen-Krieger und -Kriegerinnen auf und ab, legte die Hände auf dem Rücken ineinander, blickte hier und da hin und nickte anerkennend. Er ging weiter, zum Strand hinunter, und nahm die Schiffe in Augenschein, die in der Bucht ankerten. „Phantastisch", murmelte er. Besonders auf der „Isabella IX." und dem ,schwarzen Schiff mit den vier Masten verweilte sein Blick lange. Er konnte sich nicht entsinnen, in Spanien jemals so schöne und gleichzeitig geheimnisvoll wirkende Segler gesehen zu haben. Auch der Zweidecker „Caribian Queen" fesselte seine Aufmerksamkeit. Was hatte es mit diesem Schiff auf sich? Es wirkte auf ihn wie der Inbegriff eines Piraten-Seglers. Doch Korsaren konnten keine Pira-
ten sein, das wußte er. Er war sich der feinen Unterschiede bewußt, die da bestanden. Er lenkte seine Schritte zu der Pier, an der die „Empress of Sea II." vertäut lag. Das also war der kleine Dreimaster, dessen Mannschaft ihn gerettet hatte? Ja, er konnte sich jetzt wieder entsinnen, ihn noch kurz gesehen zu haben, bevor die Wasserhose die „Valencia" aus der See gerissen hatte. Das Schiff entsprach auch den Beschreibungen, die ihm Philip Hasard Killigrew während ihrer Unterredungen in der Hütte gegeben hatte. Er schlug das Kreuzzeichen und sagte: „Der Friede des Herrn sei mit dir und deiner Mannschaft, ,Empress'. Du bist die Königin der MeeEr wurde beobachtet, fast von allen Seiten. Karl von Hutten trat schließlich zu ihm auf die Pier, begrüßte ihn freundlich und sagte: „Kommen Sie, Pater. Ich zeige Ihnen alles, was Sie interessiert. Die Insel hat eine besondere Struktur, wie Sie sehen, und es gibt hier einige Besonderheiten, die auf anderen Inseln wohl nicht existieren." Gemeinsam unternahmen sie einen ausgiebigen Rundgang und stiegen bis zum Ratsfelsen auf, von wo aus der Gottesmann seinen Blick schweifen ließ. „Wunderbar", sagte er. „Das alles wirkt wie das Paradies auf Erden. Nur die Kanonen wollen nicht recht dazu passen." „Allerdings. Aber wir brauchen sie." „Wozu?" „Um die Insel zu verteidigen." „Gegen wen?"
51 „Sie ist schon einmal von recht üblen Piraten angegriffen worden. Vielleicht tauchen eines Tages auch Ihre Landsleute hier auf, erwiderte Karl von Hutten. „Aber das ist eigentlich schon mehr, als ich Ihnen verraten darf. Ich überlasse es lieber dem Seewolf, Sie in unsere Geheimnisse einzuweihen." „Dem Seewolf?" „El Lobo del Mar. So wird Hasard auch genannt." „Hochinteressant", sagte Pater David und lächelte. „Ich fühle mich in eine Welt der Abenteuer versetzt, mein Freund. Vieles ist mir noch unklar, aber das wird sich ändern." „Werden Sie bleiben?" „Ich glaube, dieser Wunsch nimmt immer mehr in mir zu. Aber die Frage ist, ob der Bund der Korsaren damit einverstanden ist." Karl von Hutten hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Das wird sich zeigen. Ich denke, Hasard wird den Bund zu einer Beratung zusammentreten lassen. Aber ich will ihm nicht vorgreifen." Er zeigte dem Gottesmann auch die Taubenschläge, erklärte ihm aber natürlich nicht, welche Bedeutung sie hatten. Daß es ein Nachrichtensystem zwischen der Schlangen-Insel und Havanna gab, mußte ein Geheimnis bleiben - wie Pater David auch nach wie vor nicht die präzise Lage der Insel erfuhr. Später kehrte sie an die Bucht zurück, und wieder trat Pater David auf die Pier, an der die „Empress of Sea II." lag. Sein Blick war jetzt auf das Wasser gerichtet. Es schien von Strömungen bewegt zu werden, und es entging ihm auch nicht, daß es allmählich stieg.
„Was hat das zu bedeuten?" fragte er. „Das ist der Mahlstrom", erwiderte Karl. „Er fließt durch den Felsendom herein. Manchmal ist er ziemlich stark." Die „Tortuga" unter Jerry Reeves' Kommando befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Patrouillenfahrt, alle anderen Schiffe des Bundes ankerten in der Bucht. Pater David sah zum Ende der Pier und bemerkte erst jetzt das Boot, das gerade absetzte. Eine Frau saß dem Mann gegenüber, der die Riemen bediente: Gunnhild, Smokys Frau. Sie hielt das Pärchen im Arm, denn der immer noch grollende Wikinger hatte den Wunsch geäußert, die Kinder zu sehen. Der Mann im Boot war Eike, die Jolle gehörte zum Schwarzen Segler. Thorfin hatte Eike den Auftrag erteilt, „unverzüglich die Kinderchen an Bord zu holen", und zwar dalli, weil es sonst sein könne, daß er ihm, Eike, das Fliegen beibringen werde. Eike beeilte sich, die Aufforderung zu befolgen. Pater David schüttelte verständnislos den Kopf, denn die Jolle hatte stark zu schlingern begonnen. „Sehen Sie mal", sagte er. „Ist das nicht sehr leichtsinnig?" „Es wirkt nur so", erwiderte Karl von Hutten. „Ich verstehe nicht viel von der Seefahrt - eigentlich gar nichts. Aber die Frau und die beiden Säuglinge nein, das kann doch nicht gutgehen!" Der Wikinger stand bereits auf dem Achterdeck seines Viermasters und spähte mit bitterbösem Gesicht zur Pier. Den Gottesmann schien er nicht zu sehen, dafür aber war sein
52 Augenmerk voll auf Gunnhild und die „Kinderchen" gerichtet. Plötzlich zog er die Augenbrauen zusammen. Irgend etwas schien nicht zu stimmen. In der Tat: Gunnhild, von den starken Schlingerbewegungen verunsichert, trachtete danach, dem Boot mehr Stabilität zu geben, indem sie ihren Sitzplatz eine Ducht weiter nach vorn verlagerte. Das war genau falsch. „Vorsicht", warnte Eike noch. „Aufpassen!" schrie Pater David. Aber da passierte es auch schon. Gunnhild strauchelte und stürzte. Eike fuhr hoch, ließ die Riemen los und wollte sie auffangen, benahm sich dabei aber ungeschickt. Er verlor das Gleichgewicht. Das Boot schlingerte stark - und Gunnhild kippte mit den Babys im Arm außenbords. „Jesus, Maria", sagte Pater David, dann löste er mit einem einzigen Griff die Kordel, die seine Kutte um die Hüften zusammenhielt. Er setzte sich in Bewegung und rannte mit langen Sätzen über die Pier, noch bevor Eike, Karl von Hutten, der fluchende Wikinger oder sonst jemand etwas zur Rettung von Gunnhild und den Kindern unternehmen konnten. * Gunnhild hielt die Kinder nach wie vor fest in ihren Armen. Sie war untergetaucht und schoß eben wieder hoch. Japsend schnappte sie nach Luft. Ihre Kleider waren mit Wasser vollgesogen und drohten, sie in die Tiefe zu zerren. Verzweifelt trat sie Wasser und versuchte, sich auf diese Weise zu halten. Doch sie schien je-
den Moment wieder unterzutauchen. Pater David warf seine Kutte ab, er trug jetzt nur noch eine kurze Hose und ein weißes Leinenhemd. Ohne zu zögern, sprang er vom Ende der Pier ins Wasser und war mit wenigen gewaltigen Schwimmzügen bei Gunnhild. „Himmel", sagte Karl von Hutten, der jetzt ebenfalls das Ende der Pier erreicht hatte. Aus dem kreisenden Mahlstrom schoß ein langer grauer Schatten heran - ein Hai! Von Hutten war der erste, der ihn bemerkte, aber jetzt sah ihn auch Eike. „El Tiburón!" schrie Karl von Hutten. „Achtung - ein Hai!" „Ein Messer her!" brüllte Pater David. Von Hutten riß sein Messer aus der Scheide und warf es dem Gottesmann zu. Pater David gelang das Unglaubliche: Er schoß ein Stück aus dem Wasser hoch, griff in die Luft und hatte das Messer im nächsten Moment in der Hand, ohne sich dabei zu verletzen. Der Hai glitt in diesem Augenblick an der Pier vorbei. Pater David fuhr zu ihm herum und überbrückte die Distanz mit einem weiteren mächtigen Schwimmzug. Dann stach er mit dem Messer auf den Hai ein. Karl von Hutten flog durch die Luft und landete mit einem Kopfsprung im Wasser. Sofort arbeitete er sich an die verzweifelt tretende Gunnhild heran, die es inzwischen kaum noch schaffte, die Kinder und sich an der Oberfläche zu halten. Die Kinder hatten zu schreien begonnen. Auch die Jolle des Wikingers pullte jetzt auf sie zu. Eike fluchte unausgesetzt, er war hochrot im Gesicht.
53 Der kreisende Mahlstrom ließ das Boot tanzen. Er hatte Mühe, sich zu halten. Pater David hatte den Hai getroffen, aber der ging jetzt zum Gegenangriff über. Seine stumpfe Nase richtete sich auf den Gottesmann, sein halbmondförmiges Maul klaffte auf und gab die nadelspitzen, messerscharfen Zähne frei. Deutlich vermochte Pater David auch die kleinen, stumpf und kalt blickenden Augen zu erkennen. Aber dann tauchte er, bevor der Hai zuschnappen konnte. Durch diese Bewegung wich er gerade noch rechtzeitig genug aus, und das Tier schoß an ihm vorbei. Pater David vollführte eine Drehung und brachte sich unter seine helle Bauchseite. Wieder stach er mit von Huttens Messer zu. Diesmal drang die Klinge tiefer ein. Das Blut färbte das Wasser dunkel. Wild begann der Hai mit seiner Schwanzflosse zu schlagen. Pater David versuchte, ihm erneut zu entgehen, aber diesmal hatte er Pech. Die Flosse traf seine Brust, er wurde im Wasser zurückgeschleudert. Der Schlag war heftig, es dröhnte in seiner Brust, und in seinen Ohren brauste es. Schmerzen breiteten sich in seinem Oberkörper aus. Er biß die Zähne zusammen. Die Atemluft wurde knapp, aber er konnte jetzt nicht auftauchen. Der Hai fuhr herum und schoß frontal auf ihn zu. Gunnhild und die Kinder waren für ihn vergessen, sein Angriffsziel war jetzt Pater David. Schon öffnete sich wieder das mörderische Maul. Obwohl er schwer verletzt war, brachte er doch noch die Kraft auf, zu seinem Gegner zu-
rückzukehren und nach seinen Beinen zu schnappen. Pater David erkannte die Absicht des Hais im Ansatz. Noch einmal war es seine Schnelligkeit, die ihn vor dem Tod bewahrte. Er vollführte zwei rasche, geschickte Drehungen, rammte mit dem linken Ellenbogen die Nase des Hais, schrammte an seiner Körperseite entlang und stieß ihm noch zweimal das Messer in den Leib. Der Hai entfernte sich mit zuckenden Bewegungen. Er stieg fast bis an die Oberfläche, sein Schwanz peitschte das Wasser. Das Maul weit aufgerissen, als wolle er einen Schrei ausstoßen, drehte und wandte er sich im einsetzenden Todeskampf. Pater David tauchte auf. Keuchend schöpfte er Luft. Es wurde höchste Zeit. In seinen Lungen stach es wie von Messerstößen, seine Brust und sein Kopf schienen platzen zu wollen. Mit einem einzigen Blick erfaßte er die Situation. Karl von Hutten hatte Gunnhild und die Kinder bereits erreicht und hielt die drei über Wasser. Eike war mit der Jolle bei ihnen eingetroffen und beugte sich in diesem Augenblick über das Dollbord der Steuerbordseite. Am Ufer der Bucht und an Bord der Schiffe waren alle zusammengelaufen und hatten mit entsetzten Gesichtern verfolgt, was sich abgespielt hatte. Hasard, der sich gerade an Land befand, war einer der ersten, der auf die Pier der „Empress" stürzte und Anstalten traf, ebenfalls ins Wasser zu springen. Auch Old O'Flynn hatte sich bereits die Kleidung vom Leib gerissen.
54 Doch ihr Eingreifen war nicht mehr erforderlich. Eike und Karl von Hutten bargen Gunnhild und die Kinder mit vereinten Kräften. Pater David schwamm gerade zu ihnen, aber auch seine Unterstützung war nicht mehr nötig. Eike hatte die Kinder bereits zwischen die Duchten gebettet, und jetzt enterte auch Gunnhild auf. „He!" rief der Seewolf. „Ist bei euch alles in Ordnung?" „Alles in Ordnung!" erwiderte Gunnhild gefaßt. „Nur mein Kleid ist naß geworden. Aber es wird wohl an der Sonne schnell wieder trocknen." Alle atmeten erleichtert auf. „Glück muß der Mensch haben", sagte Pater David, dann schwamm er zur Pier zurück. Hasard trat zu ihm, beugte sich hinunter und reichte ihm die Hand. Fast zog ihn der Gottesmann durch sein Gewicht ins Wasser, dann aber gewann Hasard die Balance wieder und hievte ihn zu sich auf die Pier. „Alle Achtung", sagte Hasard. „Das war ein toller Kampf. Der Goliath David hat sich als ganzer Mann erwiesen." „Das war ganz normal." „Nein. Es war ein großer Tigerhai." Der Seewolf deutete zum Zentrum der Bucht. Dort trieb der Hai, mit dem Bauch nach oben und immer noch stark blutend. Er hatte aufgehört, sich zu bewegen. Er war tot. In der Strömung glitt er bis dicht an das schwarze Schiff. „Wissen Sie, was ich glaube?" sagte der Gottesmann. „Haie können nicht sonderlich gut sehen. Außerdem sind ihre Augen zu weit nach außen gerichtet. Es lohnt sich, in dieser Richtung ein paar nützliche Überlegun-
gen anzustellen und sie zur Niederschrift zu bringen." „Sehr gut", sagte Hasard. „Ich bin überzeugt, daß Sie ein ausgezeichneter Naturforscher sind." „Daran fehlt noch eine Menge." „Wie viele Überraschungen halten Sie noch für uns bereit?" „Keine. Ich bin ein ganz normaler Mensch - wie Sie auch, Señor Lobo del Mar." Unwillkürlich mußte der Goliath jetzt grinsen. „Jedenfalls bin ich froh, daß der Hai die Señora und die Kinder nicht erwischt hat. Übrigens, wer sind die drei überhaupt?" „Kandidaten für die erste Taufe und die erste mit richtigem kirchlichem Zeremoniell auf der Schlangen-Insel geschlossene Ehe. Aber wir haben auch noch andere Kandidaten", sagte der Seewolf und blickte zu Old O'Flynn. „Aha", sagte Pater David. „Ich verstehe. Jetzt wird's ernst, nicht wahr?" Als er aber Old O'Flynns entgeisterte, bestürzte Miene sah, mußte er schallend lachen.
Fassungslos blickte Thorfin Njal noch immer auf den im Wasser treibenden Hai. „Bei Odin und allen Göttern von Walhalla", murmelte er. „Es ist nicht zu glauben, was sich da alles in die Bucht verirrt. Wie hat das Biest bloß die Unterwasserbarriere passieren können?" „Passieren?" sagte der Stör. „Ganz einfach - er ist mit dem Mahlstrom reingetrieben." „Das weiß ich auch, du Aal. Aber das passiert ziemlich selten." „Achtung", sagte der Boston-
55 Mann, der wie alle anderen am Schanzkleid stand. „Jetzt kommt das Boot." „Eike", sagte der Wikinger voll grollendem Zorn. „Ich werde ihm das Hirn weichklopfen, bis ihm das ganze Stroh zu den Ohren 'rausfliegt." „Es war nicht seine Schuld", sagte der Boston-Mann. „Egal!" brüllte der Wikinger. „Nein. Ich habe alles genau verfolgt." „Schweig!" „Es war ein dummes Mißgeschick", fuhr der Boston-Mann unbeirrt fort. „Jedem hätte das passieren können. Man kann weder Eike noch Gunnhild dafür die Schuld zuschieben. Das mußt du einsehen, Thorfin. Im übrigen hast du genug rumgeschmollt. Der Betbruder ist schwer in Ordnung. Den können wir voll akzeptieren." Der Wikinger fuhr zu ihm herum und sah ihn an, als wolle er ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Dann aber besann,er sich. Kein anderer außer dem Boston-Mann hätte sich einem Thorfin Njal gegenüber so viel herausnehmen dürfen, ohne um sein Leben bangen zu müssen, allenfalls Siri-Tong. Aber die Worte des Boston-Mannes wirkten wie ein heilender Balsam auf den Nordmann. „Eigentlich hast du recht", sagte er völlig unerwartet. „Der Klosterkerl hat Gunnhild und meinen Kinderchen das Leben gerettet." Er gab einen Laut von sich, der wie eine Mischung aus Seufzen, Ächzen und Grunzen klang. „Na gut. Auch ein Wikinger ist kein Unmensch, das werde ich ihm jetzt beweisen. Aber wenn er mir die Ohren mit lateini-
schem Zeug vollquasselt, gehe ich sofort wieder über Stag." Die Jolle schor längsseits. Eike und Gunnhild enterten auf, die Kinder wurden vorsichtig an Bord gehievt. Zärtlich drückte der Wikinger sie an sich, und sein kantiges Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an. Er murmelte Worte in seiner Muttersprache, sein gerührtes Lächeln wirkte zuckersüß. Eike war ziemlich sicher gewesen, daß der Riese ihn auf der Stelle attackieren würde. Doch die Lage hatte sich zum Guten gewendet. Thorfin sah ihn an und nickte ihm sogar noch freundlich zu. Dann drückte er die Kinder Gunnhild in die Arme, blickte verdutzt an sich hinunter und sagte: „Hölle. Ich bin ja naß. Aber es hat nicht geregnet." „Das waren die Kinderchen", sagte Arne grinsend. „Was? Alle beide?" „Möglich ist es", sagte Gunnhild. „Du weißt ja, wie kleine Kinder sind." „Ich weiß es nicht!" brüllte Thorfin, daß die Planken, die Masten und die Rahen von „Eiliger Drache über den Wassern" zu zittern begannen. „Und warum, bei Sleipnir, Odins Roß, müssen sie ausgerechnet dann ihre Stauräume lenzen, wenn ich sie mal an meine Brust drücke?" Wie auf ein Zeichen begannen die Kinder zu weinen. Thorfin verstummte und blickte sie ungläubig an. Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? schien er fragen zu wollen, aber Gunnhild schaltete sich ein. „Du hast sie in Angst und Schrekken versetzt", sagte sie tadelnd. „Ich?" „Mußt du denn immer so laut her-
56 umbrüllen, Thorfin Njal? Sie sind doch kleine Kinder und keine Seebullen. Man muß Liebe und Verständnis für sie zeigen. Aber ihr Männer seid alle gleich. Ihr benehmt euch wie die Holzhacker, wenn ihr mit Kindern zu tun habt." Der Wikinger hielt es für ratsam, das Deck zu räumen. Brummelnd enterte er in die Jolle ab, Eike und Arne mußten ihn begleiten und ihn an Land pullen. Unterwegs wischte er sich nur flüchtig mit einem Ballen Kabelgarn die Brust ab. „Merkwürdige Sache, das", sagte er ärgerlich. „Viel ist mit so kleinen Würmern nicht anzufangen." „Aber sie wachsen auch", sagte Arne. „Und eines Tages eifern sie dir nach. Ja, vielleicht übertrumpfen sie dich dann vielleicht sogar noch." „Meinst du das wirklich?" „Ja, sonst hätte ich es nicht gesagt." „Das beruhigt mich", sagte der Wikinger. Dann blickte er zu der Pier, an der die „Empress" vertäut lag. Pater David, Hasard und Karl von Hutten standen dort und schienen ihn zu erwarten. 9. Zwei Giganten standen sich gegenüber - der Wikinger und der Gottesmann. Thorfin rückte sich den Kupferhelm zurecht, dann überlegte er, was er tun solle. Die rechten Worte wollten ihm nicht einfallen, deshalb hieb er Pater David zunächst einmal auf die Schulter, daß es krachte. Der Gottesmann wich aber nicht von der Stelle, und er knickte auch nicht in den Kniekehlen ein, wie man es erwartet hätte.
„Gut gemacht!" brüllte der Wikinger. „Das war mal ein feiner Kampf! Weiter so!" Pater David lächelte. „Sie sind Thorfin Njal, nicht wahr? Wie ich von unseren Freunden vernommen habe, entstammen Sie dem Volk der Nordmänner, einem Volk also, das eine tief verwurzelte Kultur und Mythologie hatte." „Beim Donner", sagte Thorfin. „Davon weiß ich nichts. Aber wenn du das sagst, Pater, wird es wohl stimmen." „Odin ist der allumfassende Gott der Nordleute, nicht wahr?" „So ist es." „Wir werden uns darüber noch ausführlich unterhalten." „Aber versuche nicht, mich zu bekehren!" stieß der Riese drohend hervor. „Sonst geraten wir aneinander!" „Ja, das ist mir klar. Ich habe aber auch nichts in der Richtung vor. Ich bin kein Eiferer." „Sondern?" „Ein Mann wie du." Nachdenklich griff sich der Wikinger ans Kinn. Er kratzte sich, und das klang fast so, als knistere ein Fuder Stroh. „Auch das scheint zu stimmen. So, wie du mit dem Hai gekämpft hast. Besser hätte ich das auch nicht gekonnt." „Nun untertreibe mal nicht, Mister Njal", sagte der Seewolf. „Gib lieber dein Einverständnis, daß die Kinder getauft werden." „Wie?" „Keiner will ihn dazu zwingen", sagte Pater David. „Er muß das selbst entscheiden." Thorfin musterte ihn prüfend, seine Augen waren schmal geworden.
57 Er stemmte die Fäuste in die Seiten und fragte mit dunkler Stimme: „Dieses Taufen - tut das weh?" „Nein. Es ist völlig schmerzlos." „Erklär mir mal genau, wie so eine Tauferei vor sich geht", sagte der Wikinger. Pater David setzte es ihm bis in die kleinsten Details auseinander. Thorf ins Augen weiteten sich, er horchte auf. Schließlich sagte er: „Das hört sich gut an. Aber dazu braucht man eine Kirche, was?" „Mindestens einen Altar." „Wir haben keinen Altar", sagte der Wikinger. „Aber wir können einen bauen, mit Steinen und so. Nach deinen Anleitungen, Pater." „Das ist eine gute Idee", pflichtete Pater David ihm bei. „Mit anderen Worten, du läßt deine Kinder also doch taufen?" fragte Hasard. „Ja!" brüllte der Wikinger und hieb dem Gottesmann noch einmal auf die Schulter. „Und es wird zwei Hochzeiten geben auf der Schlangen-Insel, verdammt noch mal!" Jetzt kannte der Jubel keine Grenzen mehr. Drei Hurras hallten über die Bucht, und die Männer der „Isabella" stimmten ihr „Ar-we-nack" an. Nur Old Donegal Daniel O'Flynn und Smoky waren plötzlich verschwunden und nicht mehr aufzufinden. Später stellte sich heraus, daß sie sich rasch in die Pantry der „Empress" begeben hatten, weil sie dort „dringend zu tun hatten". Auf den Schrecken leerten sie eine Flasche Rum. Sie hatten aber nur ganz leichte Schlagseite, als sie die „Empress" im Anbruch der schützenden Dunkelheit verließen und sich an Land wagten.
Plötzlich wurden sie umstellt. Der Wikinger, der Boston-Mann, Eike, Arne, Olig und der Stör sowie Ribault, Reeves und einige andere Männer hatten ihnen aufgelauert. Der Wikinger trat sofort dicht vor den Alten und vor Smoky hin und fragte: „Wollt ihr etwa nicht heiraten? Habt ihr euch deshalb versteckt?" „Ja", sagte Old O'Flynn verdrossen. „Wir haben beschlossen, abzudanken und über die Rutsche zu gehen. Die Haie werden sich freuen." „Red doch nicht so einen Blödsinn!" fuhr ihn der Wikinger an. „Heiraten ist was Schönes. Es ist genauso schön wie eine Taufe." „Das kann ich mir nicht vorstellen", murmelte Smoky heiser. Er war völlig erledigt. „Und noch was solltest du bedenken, Donegal", sagte jetzt Jean Ribault. „Die Hochzeit steigert den Umsatz deiner Kneipe. Hast du dir mal überlegt, was da an Wein, Bier, Rum und Whisky fließen wird?" „Ach", sagte der Alte überrascht. „Und Pater David hat nichts dagegen?" „Im Gegenteil", erwiderte Jean Ribault. „Wir haben extra mit Pater David darüber gesprochen. Er hat bereits angekündigt, daß er Thorfin unter den Tisch säuft." „Das schafft der nie", sagte der Wikinger. „So was", sagte Smoky erstaunt. „Das hätte ich von dem Himmelslotsen nicht erwartet." „Wann begreift ihr endlich, daß dieser Pater David ein feiner Kerl ist, ihr beiden?" fragte Jerry Reeves. „Ich hab's kapiert?" sagte Old O'Flynn. Seine Miene hatte sich auf-
58 gehellt. „Und meine Meinung hat sich geändert. Es wird geheiratet, jawohl! Smoky, glotz mich nicht so dämlich an. Was für mich und meine Kneipe gut ist, ist auch für dich gut." „Es hat keinen Zweck, daß ich mich sträube?" fragte Smoky. Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein. Jetzt nicht mehr." „Dann bin ich auch dabei", sagte Smoky. Darauf mußten sie einen Becher trinken, und als passender Ort bot sich natürlich „Old Donegals Rutsche" an, zumal Mary noch mit „Tauf-Vorbereitungen" beschäftigt war und nicht dazwischenfahren konnte. So wurde schon in dieser Nacht fleißig gezecht - „vorgefeiert", wie Old O'Flynn das nannte. * Am 31. Mai 1594 fand auf der Schlangen-Insel das Fest aller Feste statt. Früh um acht Uhr morgens waren alle auf den Beinen und legten ihren „Hofstaat" an. Old O'Flynn hatte sogar sein Holzbein abgeschrubbt. Matt Davies und Jeff Bowie polierten ihre Eisenhakenprothesen. Sogar Arwenack und Plymmie waren gebadet worden, und Sir Johns Gefieder glänzte wie noch nie. Mary Snugglemouse trug ein sehr schönes weißes Kleid, das sie sich selbst genäht hatte - heimlich natürlich, denn für den Alten sollte es eine Überraschung sein. Old O'Flynn staunte denn auch nicht schlecht, als sie aus Arkanas Hütte trat und sich ihm näherte. Sie war frisch frisiert und wirkte alles in allem sehr adrett und sogar - hübsch. „Bist du's wirklich, Miß Snuggle-
mouse?" fragte er. „Oder träum' ich?" „Das hängt davon ab, ob du nüchtern bist oder nicht." „Stocknüchtern." Galant bot er ihr den Arm an. Sie lächelte ihm zu, und er war richtig stolz und glücklich wie am ersten Tag, als er ihr auf Tortuga begegnet war. So schritten sie zum Altar, wo sich bereits alle anderen versammelt hatten - ein einmaliges, unvergleichliches Paar. Gotlinde und Gunnhild trugen nordische Gewänder, die reich bestickt waren und bis auf den Boden reichten. Der Wikinger hatte seinen Helm ausgebeult und seine „Kriegsmontur" angelegt. Smoky hatte seine Haare stundenlang zurückgekämmt und auch ein bißchen eingefettet. Außerdem trug er zur Feier des Tages eine frische Hose. Er wirkte wie aus dem Ei gepellt. Das Hübscheste waren die Kinder. Mary und die anderen Frauen hatten ihnen neckische Taufkleidchen geschneidert, besser hätte das auch der beste Schneider von London nicht gekonnt. In geordneten Reihen versammelten sie sich vor dem provisorischen Altar, der am Strand der Bucht errichtet worden war. Pater David trug seine schlichte Kutte, aber er war die überragende Figur: Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, als er aus der Bibel vorzulesen begann nicht auf Latein, sondern in reinem, fließenden Spanisch. Was er sagte, klang wie eine Erzählung, die er aus eigener Erfahrung vortrug. „Spannend", murmelte Carberry. „Ich wußte gar nicht, daß so was in der Bibel steht." „Sei still", sagte Dan O'Flynn.
59 „Willst du den Gottesdienst stören?" „Fliege ich aus der Kirche raus, wenn ich zu laut rede?" „Genau das." „Dann bin ich lieber still", sagte der Profos. Er grinste ein bißchen und dachte schon an die schöne Feier, die es anschließend geben würde. Zuerst wurden die Trauungen vollzogen, dann die Taufen, und danach das Heilige Abendmahl. Pater David war Herr der Szene, er beherrschte alles aus dem Gedächtnis. Als erstes Paar ließ er Old O'Flynn und Mary Snugglemouse vor dem Altar knien, wobei das Knien für den Alten mit einigen Komplikationen verbunden war, wegen des Holzbeins und der Krücken. Er kippte fast auf den Altar und räumte die Blumen ab, die von Araua sorgfältig überall verteilt worden waren. Aber Pater David handelte geistesgegenwärtig. Er fing den wild mit den Armen rudernden Alten auf und plazierte ihn selbst mit größter Vorsicht vor dem Altar. „Mister O'Flynn", sagte Mary gedämpft. „Kannst du dich nie anständig benehmen?" „Ich benehme mich doch", sagte er. „Was kann ich dafür, wenn ich ausrutsche?" „Ich glaube, ich überlege mir noch, ob ich dir das Jawort gebe." „Das hat es schon gegeben", sagte Pater David lächelnd. „Eine Braut, die in letzter Sekunde die Kirche verläßt." „Nicht bei uns", sagte der Alte grimmig. „Du bist jetzt meine Braut, Miß Snugglemouse, und wir heiraten uns gegenseitig. Bereite mir keine Schande, sonst gibt es echten Ärger."
„Soll das eine Drohung sein?" fragte sie. „Nein." Er lächelte honigsüß. „Eine freundliche Aufforderung." So wurden sie von Pater David getraut, und anschließend waren Smoky und Gunnhild an der Reihe. Einen Moment sah es so aus, als würde Smoky ohnmächtig, aber es wirkte nur so. Aufrecht stand er da und ließ alles über sich ergehen. Dann, als er nach Gunnhilds Hand griff, fühlte er sich von unbändigem Stolz erfüllt. Smokys und Gunnhilds Söhnchen wurde nun getauft, und Pater David richtete seine Frage an Smoky: „Wie soll der Junge heißen?" Smoky verschluckte sich halb und hustete. Mitfühlend klopfte Gunnhild ihm auf den Rücken. Pater David wartete geduldig. Er hielt das Kind schon in seinen Armen. Endlich konnte Smoky wieder sprechen. „David", sagte er. „David. Zu Ihren Ehren, Pater." „Ich bin gerührt", sagte der Gottesmann - und er war es wirklich. „Sie haben die Kinder und mich schließlich gerettet", sagte Gunnhild. „Da haben Smoky und ich uns gedacht, es wäre doch schön, wenn wir unseren Sohn so nennen würden. Außerdem gefällt mir der Name David sehr." Der Gottesmann vollzog das Sakrament der Taufe. Als er Klein David ein wenig Wasser auf die Stirn tröpfelte, begann dieser zu brüllen, als stecke er am Spieß. „Ho!" stieß der Wikinger hervor. „Was ist los? Er hat doch gesagt, es tut nicht weh!" „Tut's auch nicht", sagte Gotlinde. „David hat sich nur ein bißchen er-
60 schrocken. Das ist bei einer Taufe immer so. Das gehört dazu." „Woher weißt du das?" „Auf Island wurde auch getauft", erwiderte sie. So taufte Pater David denn auch das Töchterchen und das Söhnchen von Thorfin und Gotlinde. Endlich war die schwierige Frage der Namensgebung auch hier geklärt. Auf den einstimmigen Wunsch des Wikingers und seiner Frau hin sollte das Mädchen den Namen Thyra und der Junge den Namen Thurgil erhalten. Der Stör war von dem ganzen Zeremoniell derart begeistert, daß er am liebsten in die Hände geklatscht hätte. Matt Davies wollte einen Pfiff ausstoßen und „Arwenack" brüllen, Stoker von der „Tortuga" war drauf und dran, seine Mütze in die Luft zu werfen. Aber all das konnte noch verhindert werden. Das Abendmahl war nur kurz und wurde kollektiv vollzogen. Pater David wußte, daß er die Geduld seiner „Schäfchen" nicht zu sehr strapazieren durfte. „Kirche" und „Altar" wurden geräumt, die „Hochzeitsgesellschaft" ging zum Strand und brach nun in den langen zurückgehaltenen Jubel aus. Arkanas Kriegerinnen schlugen die Trommeln und spielten auf Flöten, und Old O'Flynn und Mary, Smoky und Gunnhild sowie Thorfin und Gotlinde improvisierten ein Tänzchen. Dabei prallten Old O'Flynn und der Wikinger zusammen und gingen lachend zu Boden. Noch ausgelassener ging es dann später in „Old Donegals Rutsche" zu. Hier wurden der Wein, das Bier, der Rum und der Whisky krugweise auf-
gefahren - und Pater David zechte, wie er versprochen hatte, kräftig mit.
Der Pakt der Freundschaft zwischen den Bewohnern der Schlangen-Insel und dem Gottesmann wurde auf diese Weise besiegelt. Lustiger hätte es nicht zugehen können. Thorfin Njal sprang, umringt von allen anderen, auf einen der Tische, hob seinen Humpen und brüllte: „Es lebe der Klostermann! Hoch Pater David!" „Hurra!" schrien die Männer und Frauen. Der Wikinger sprang wieder vom Tisch und stieß mit Pater David an, so heftig, daß um ein Haar die Humpen in Scherben zersprangen. „Laß uns einen trinken! Nur zwei Humpen, und du bist erledigt! Dann tragen wir dich nach Hause!" „Gern", sagte Pater David bescheiden. Hasard stieß mit den Hochzeitspaaren an und sagte: „Thorfin überschätzt sich. Er glaubt, Pater David sei nicht trinkfest. Aber da irrt er sich gewaltig, fürchte ich." Pater David und der Wikinger hatten sich an einem Ecktisch niedergelassen. Auch Carberry gesellte sich noch zu ihnen und ließ siph schwer auf einen der Hocker fallen. „Jetzt geht's rund!" rief er und hielt seinen Becher hoch. „Auf dein Wohl, Bruder David! Sag Edwin zu mir!" Sie lachten und tranken, und „so ganz nebenbei" leerte jeder von ihnen innerhalb kürzester Zeit fünf Humpen Bier, zwei Humpen Wein,
61 fünf Becher Rum und drei Becher Whisky. Thorfin war jetzt schon so weit, daß er ein nordisches Lied sang. Der Profos stimmte mit ein, obwohl er weder den Text noch die Melodie kannte. Aber das spielte keine Rolle die Hauptsache war, es ging schön laut zu. Der Lärm, der aus der Felsenkneipe drang, wehte fast bis nach Coral Island. Es war der Teufel los, und die Mäuse tanzten auf dem Tisch. Pater David sang ein spanisches Lied, noch lauter als der Wikinger und Carberry, dafür aber schöner. Beeindruckt starrten sie ihn an - und dann wurde eine neue Runde getrunken. Zu vorgerückter Stunde lallte Thorfin Njal: „Komm, alter Klosterkerl, wir tra-ha-hagen dich jetzt..." „ . . . ins Heia-Bett", brummelte Carberry. „Ab in die Koje." „Ich fühle mich noch ganz frisch und munter", sagte Pater David. „Wie wär's mit einer neuen Runde?" „Einver-sta-standen", sagte der Wikinger und hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin noch stack, nein stick . . . nein, stocknüchtern, bei Geri und Frisio, oder wie die Biester heißen." „Freki", sagte der Profos. „Auch gut - und w-wer bist du?" „D-der Profos, g-glaub ich." Carberry rülpste donnernd. „F-feine Feier", sagte der Wikinger, und wieder hob er seinen Humpen. Pater David hielt sich nicht zurück. Er trank mit. Aber im Gegensatz zu Thorfin Njal und Ed Carberry wurde er nicht betrunken. So ging es weiter, und an den Nebentischen wurden inzwischen schon Wetten abgeschlossen. Die
meisten setzten auf Pater David - er schien am längsten durchzuhalten. „Er erteilt ihnen jetzt eine Lektion", sagte Hasard lächelnd. „Das geschieht ihnen recht." Der Wikinger musterte als erster ab. Ihm fielen die Augen zu, dann rutschte er ganz einfach von seinem Hocker unter den Tisch. Dabei verlor er seinen Kupferhelm. Der rollte Carberry vor die Füße. „He", sagte Carberry. Irgendwie drehte sich alles um ihn herum, dabei
war kein Sturm angesagt. „Was - is' hier l-los? AI-alle Mann an Deck, oder ich zieh' euch die Haut v o m . . . vom Dings-bums ..." „Was sagt er?" fragte Pater David interessiert. „Ich verstehe ihn nicht mehr so recht." „Das ist sein berühmtester Spruch", entgegnete Hasard. „Aber er ist nicht ganz angebracht." „L-lebt w-wohl, ihr Af-affen-popos", murmelte der Profos noch mit schwerer Zunge, dann kippte auch er vom Schemel, rollte über den Wikingerhelm und leistete dem Nordmann Gesellschaft, wobei er seinen Humpen noch fest in den Händen hielt, der erstaunlicherweise nicht zu Bruch ging. Im Nu war er einge-
62 schlafen und schnarchte dröhnend. Pater David wandte sich den anderen zu. „Wie wäre es, wenn wir noch einen Gute-Nacht-Schluck trinken würden?" „Einverstanden", erwiderte Hasard. „Trinken wir auf eine gute Zu-
kunft - und daß du bei uns bleibst, Pater David." „Ich bleibe, so lange ihr mich haben wollt", sagte der Gottesmann. „Also für immer", sagte der Seewolf, und sie grinsten sich wie zwei Verschwörer zu...
Nächste W oche erschei nt SEEW ÖLFE Band 402
Die Geleitzugschlacht von Burt Frederick Entsetzt und mit einem lähmenden Gefühl der Hilflosigkeit beobachteten Don Estebán, der Geleitzugführer, und seine Offiziere, was sich abspielte. An den Besanruten der fünf angreifenden Schiffe, die vor dem Wind in breiter Formation auf den Geleitzug zusegelten, waren Flaggen gehißt worden - schwarzes Tuch, auf dem zwei goldene gekreuzte Säbel leuchteten. Es war die „Flagge der Freiheit", die Will Thorne für den Bund der Korsaren entworfen und genäht hatte. Für die Männer an Bord der „Gaviota" und der übrigen Schiffe des Geleitzugs stand fest, daß es sich bei den gekreuzten Säbeln um ein Freibeuter-Symbol handeln mußte. Aber diese Erkenntnis nutzte ihnen nichts mehr - das Verhängnis nahm seinen Lauf... Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer der Männer des Bundes der Korsaren erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen.