IM SCHATTEN DER LITERATURGESCHICHTE
AUTOREN, DIE KEINER MEHR KENNT? Plädoyer gegen das Vergessen.
DUITSE KRONIEK 54
Redaktion: Dr. A. Bosse (Namur, Belgien) Dr. L.R.G. Decloedt (Wien) Dr. P.A. Delvaux (Amersfoort) Dr. J. Enklaar-Lagendijk (Utrecht) Dr. J. Ester (Nimwegen) Prof. Dr. G. van Gemert (Nimwegen) Dr. C. Janssen (Nimwegen) Drs. E.K.E. Tax (Utrecht)
IM SCHATTEN DER LITERATURGESCHICHTE
AUTOREN, DIE KEINER MEHR KENNT? Plädoyer gegen das Vergessen.
Herausgegeben von
Jattie Enklaar und Hans Ester unter Mitarbeit von Evelyne Tax
Amsterdam - New York, NY 2005
Cover Design: Studio Pollmann The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 90-420-1915-8 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2005 Printed in the Netherlands
INHALTSÜBERSICHT 7
Zum Geleit
13
Claudia Erdheim: Karl Emil Franzos (1848–1904)
25
Klaus-Peter Möller: Hoffnung auf den Geistesfrühling. Karl Ferdinand Gutzkow (1811–1878)
41
Martin A. Hainz: Mehr als ein Syndrom zu Leopold von Sacher -Masoch (1836–1895)
57
Peter Rietbergen: Besinnung auf Felix Dahn
75
Hans Ester: Otto Roquette kam zur rechten Zeit
91
Guillaume van Gemert: Der Dichter als Identifikationsfigur national-kultureller Eigenständigkeit. Zu Adam MüllerGuttenbrunns Lenau-Trilogie (1919–1921)
107
Peter Delvaux: Otto Flake
113
Martin A. Hainz: Verhaltenes Ermöglichen – Zu Alfred Margul-Sperber (1898–1967)
129
Peter Delvaux: Waldemar Bonsels
135
Hanna Delf von Wolzogen: Wir ziehen ja doch an einem Strang. Gustav Landauer, ein einsamer Grenzgänger und Europäer
149
Thomas Eicher: Grandseigneur und mehr: Alexander Lernet Holenia (1897–1976)
159
Lars Koch: Vom Erzählen ohne Zentrum zum Schweben des Denkens – Friedo Lampes Roman Am Rande der Nacht
173
Christiaan Janssen: Der Kulturvermittler Friedrich Markus Huebner: Kunst, Literatur und die richtige Lebensführung
193
Julia Bertschik: „Kolportageliteratur mit Hintergründen“. Zur Problematik literarischer Wertung am Beispiel von Vicki Baum (1888–1960)
6
211
Kerstin Schoor: Der Journalist und Schriftsteller Leo Hirsch (1903–1943)
251
Henk J. Koning: Ernst von Houwalds Epik
269
Waltraud ›Wara‹ Wende: Grenzerfahrungen und Sprachlosigkeit der Protagonisten in der Novellensammlung Nächte von Carl Hauptmann
287
Gerhard Leyerzapf: „Verhängnis Amsterdam“. Grete Weils Schicksal in ihrem Werk
299
Natalia W. Pestova: Wilhelm Runge: „Das Denken träumt“
307
Jattie Enklaar: Sophie van Leer (1892–1953): „Und gleich einem Blitz ist eines Tages die Erkenntnis in mein Hirn geschlagen“
333
Lotti de Wolf-Pfändler: Johanna Spyri (1827–1901). Anlässlich einer neueren Biographie
339
Karl W.J.M. Tax: Nachruf auf Professor Dr. Gilbert A.R. De Smet
342
Abstracts
352
Die Autoren und Herausgeber
ZUM GELEIT Schlägt man ein willkürliches Handbuch der deutschen Literatur aus dem 19. Jahrhundert auf, etwa die Literaturgeschichte von Eduard Engel, so begegnet man Namen, die nur noch wenige kennen. Hat man das Glück, über eine großelterliche Bibliothek zu verfügen, so ist man erstaunt, wenn man außer den Namen bekannter Klassiker, wie Goethe, Schiller, Heine, Lenau, Uhland, Eichendorff, in weit größerer Zahl Werke antrifft, die der bürgerlichen Bildungsgeschichte des 19. und anfangenden 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt, ja an ihrer Zahl zu messen, die Werke des Kanons unserer heutigen Literaturgeschichten sogar überstimmt haben. Man begegnet (oft in zwanzigbändigen Ausgaben!) Namen wie Felix Dahn, Georg Moritz Ebers, Ludwig Ganghofer, Ernst Eckstein, Otto Ernst, ErckmannChatrian (Schriftsteller Duo: Emile Erckmann und Alexandre Chatrian), Paul Heyse, Wilhelm Hauff, Gottfried Bohnenlust, Detlev Liliencron,Gustav Schwab, Karl Simrock, Jakob Wassermann, Victor von Scheffel, Hermann Sudermann, Richard Voß, Peter Rosegger, Fritz Reuter, Otto Funcke, Enrica von Handel-Mazzetti („Der deutsche Held“), Emil Ludwig, Leopold von Rancke, Robert Hamerling, Carmen Silva, Ernst Zahn, Ernst von Wildenbruch, Waldemar Bonsels, Heinrich Seidel, Otto Flake, Otto Roquette oder einem Krasnow mit „Vom Zarenadler zur roten Fahne“. Die Reihe wäre leicht um ebensoviel Namen zu erweitern. Eine solche Sammlung, still unter dem Staub eines Jahrhunderts auf dem Dachboden oder in einem kaum noch betretenen Zimmer verweilend, bildet das schweigende Zeugnis einer Vergangenheit, ihrer Wiederentdeckung harrend. In schönen (teils Jugendstil-) Bänden, oft mit Goldschnitt, hat sie einmal die stattlichen Zimmer eines vornehmen Hauses geziert, allein schon durch ihr Dasein demonstrierend, wo man zu Gast ist. Diese Bücher sind die Musterstücke eines bürgerlichen Ideals, die einstigen Grundlagen einer Nation und die Zeugen einer vergangenen Zeit, in denen so verschiedene Tendenzen im Sinne von Nationalismus, Liberalismus, Idealismus und Heimatverehrung vereint sind. Von den Verlagen werden ihre Reihen den Wohlhabenden und Gebildeten angekündigt als „sei nichts geeigneter“ für „unsere Familien des gebildeten Mittelstandes“, während vor der Flut an Wochen- und Monatsschriften oft gewarnt wird: als seien sie „die Totengräber der schönen Literatur“. Nicht misszuverstehende Warnungen, die auf die Beständigkeit gebundener Bände hinweisen, und damit das
8 Fortbestehen des in ihnen vorgestellten Kulturgutes sichern möchten. Auch bezeugen die Verlage, dass die Leselust wohl bei keinem Volk so allgemein sei wie beim deutschen, mit der Einschränkung, „daß der Deutsche für alles andere eher Geld übrig hat und ausgiebt, als für ein Buch“ (Julius Matzmann), ein rätselhafter Werbetext, der an anderer Stelle noch anekdotisch erweitert wird: „In Deutschland leeren die Männer an manchen Tagen mehr Champagnerflaschen, als sie in einem Jahr Bücher der schönen Literatur kaufen“ und „In Deutschland geben die meisten Damen allein für Glacehandschuhe mehr jährlich aus als für gute Bücher“. Nicht uninteressant, auf welches Publikum diese Werbung anspielt. Felix Dahn steuert dem bei: „Bücher schreiben ist leicht, es verlangt nur Feder und Tinte und das geduld’ge Papier. Bücher zu drucken ist schwerer [...] Aber das schwierigste Werk, das ein sterblicher Mann bei den Deutschen auszuführen vermag, ist zu verkaufen ein Buch.“ Dahn, als der Autor eines mehr als 20bändigen Werkes, muss sich doch eines großen Lesepublikums im In- und Ausland erfreut haben. Heißt es ja im Vorwort von Der kleine Deutsche (1914): „Das neue Deutsche Reich hat sich seit der kurzen Zeit seines Bestehens zu einer Großmacht ersten Ranges emporgeschwungen. Die Erzeugnisse deutscher Literatur, Wissenschaft, Kunst und Industrie werden in allen Weltteilen geschätzt. Das Ausland sendet seine besten Söhne und Töchter nach Deutschland [...]“ Die geistigen Repräsentanten einer bürgerlichen Lesekultur, die immer noch in den verlassenen Ecken öffentlicher und privater Bibliotheken schlummern, erregen unsere Neugier. Sie zeugen ja von dem Zeitgeschmack einer sozialen Gruppe, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Teil der Literatur bestimmte. Wieso? Man könnte sogar meinen, dass im Prinzip bürgerliche Autoren für ein bürgerliches Publikum geschrieben haben; das heißt, dass in diesem Sinne nicht nur einem Bildungsideal Genüge geleistet wurde, sondern dass dieses Ideal (das die Klassiker keineswegs ausschloss) von innen aus genährt wurde. Die Literatur stellte das Spiegelbild einer Welt dar, in der man sich wieder erkannt hat, in der man zu Hause war und durch die man sich existenziell bestätigt wusste. So ließe sich auch die Bücherschwemme erklären, die auf die Breite der sozialen Klasse von Lesern hinweist und in ihrer Geschlossenheit eine Zensur nach außen hin impliziert. Es ist der soziale Rahmen ihres Entstehens. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei aller scheinbaren Verschiedenheit dies doch zu einer gewissen Sterilität geführt hat, zu einer Art Selbstbefruchtung. Das kann auch der Grund sein, dass diese Literatur durch den gesellschaftlichen Umsturz am Ende en bloc bei Seite
9 geschoben wurde, den sozialen Rahmen verloren hat. Sie hat sogar klassische Autoren in ihrem Rutsch mitgezogen, aber das war nur eine Frage der Zeit: die Großen konnten nicht untergehen, weil sie sich in der kollektiven Erinnerung schon längst einen Platz erobert hatten und vor dem Vergessen für immer bewahrt blieben. Das Vergessen erklärt sich aus dem Verschwinden dieser Rahmen oder eines Teiles derselben, entweder weil unsere Aufmerksamkeit nicht in der Lage war, sich auf sie zu fixieren, oder weil sie anderswohin gerichtet war [...] Das Vergessen [...] erklärt sich aber auch aus der Tatsache, daß diese Rahmen von einem Zeitabschnitt zum anderen wechseln. Nicht nur Erinnern, sondern auch Vergessen ist daher ein soziales Phänomen. (In: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Nördlingen 2000, 37)
Auch der Versuch, das Vergessen rückgängig zu machen oder zumindest auf seine Berechtigung hin zu untersuchen, bildet ein soziales Phänomen in der Erinnerungskultur. Ist ja die Gegenwart in bezug auf die Geschichte nicht nur kritisch, sondern auch konservierend eingestellt. Daher der überall spürbare Wunsch, die Werte der Vergangenheit nicht vorzeitig als unzeitgemäß zu verunglimpfen. An die Seite der eher bürgerlichen Autoren des 19. Jahrhunderts treten auch andere Autoren, die den konservativen Kräften entgegenwirkten und für eine neue Gesellschaft kämpften. Am Anfang des 20. Jahrhunderts ist es die neue Generation der Expressionisten, die sich von den Bildungsidealen bewusst entfernte. Auch unter ihnen gibt es „Vergessene“, „poetae minores“, die an der Geschichte ihrer Zeit aber voll teil hatten, wovon ihre lauten Klagen und Zweifel an der Menschheit schmerzlich zeugen. Nicht selten fielen sie jung dem Krieg zum Opfer, noch bevor sie zu den Dichtern hatten werden können, die ihr schmales Werk erhoffen ließ. In diesem Band wird eine Reihe von Autoren aus dem 19. und 20. Jahrhundert zusammengebracht. Von einem Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht im Entferntesten die Rede sein. Konnten bei solcher Fülle an vergessenen oder halbwegs vergessenen Autoren nicht alle bemerkenswerten Erscheinungen berücksichtigt werden, so sind doch alle, die berücksichtigt wurden, interessant, weil jede in ihrer Weise sich dem „kollektiven Gedächtnis“ (Maurice Halbwachs) entzogen hat. Die Verfahrensweise der Herausgeber verlief so, dass nach Aufstellung einer Wunschliste von Werken und Themen Autoren für die Beiträge gesucht wurden. In vielen Fällen blieb es bei der getroffenen Auswahl. In manchen Fällen aber wurden alternative Vorschläge gemacht. Das Endresultat beruht also auf einer Kombination von
10 geplantem Inhalt und spontanem Angebot. Die Herausgeber sind sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass manches zu wünschen übrig geblieben ist, dass noch viele andere Namen es verdienen, ins Gedächtnis zurückgerufen zu werden. Sollte die hier vorgelegte Auswahl Anklang finden, so wäre eine Fortsetzung dieser Bemühungen wider das Vergessen erwägenswert. Die Beiträge im vorliegenden Buch seien hier kurz vorgestellt: Claudia Erdheim eröffnet die Reihe mit einem Beitrag über Karl Emil Franzos. Dieser Autor entwickelte sich zum Hauptvertreter der sogenannten Ghettonovelle. Franzos schrieb Buchrezensionen, Satiren, Gedichte und Erzählungen. Daneben verfasste er Romane, die von den Missständen der Donaumonarchie, der Position der Juden und der Unterdrückung nationaler Minderheiten handeln. Das Theaterwerk und die Romane Karl Gutzkows bilden das Thema Klaus-Peter Möllers. Gutzkow hatte ein feines Gespür für die Spannungen und Nöte seiner Zeit und erreichte ein bemerkenswertes literarisches Niveau. Der Historiker Peter Rietbergen bricht eine Lanze für Felix Dahn. Rietbergen analysiert drei wichtige Werke Dahns und zeigt, dass der Autor ein guter Wissenschaftler war, der gute Kenntnis der Quellen besaß und verantwortungsvoll mit ihnen umging. In seinem Beitrag über Leopold von Sacher-Masoch geht es Martin Hainz um die Komplexität der Einsichten Sacher-Masochs in das Problem von Macht und Sexualität. Das Spiel des Masochismus stellt sich als Strategie dar, diese Macht zu betrügen. Otto Roquette erschien wie ein Meteor am Firmament der deutschen Literatur mit seinem Märchen Waldmeisters Brautfahrt. Hans Ester geht auch auf seine Novellen ein und plädiert behutsam für eine Wiederentdeckung dieses bescheidenen Mannes, der außerdem Lyriker und Komponist war. Guillaume van Gemert porträtiert den donauschwäbischen Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn, dessen zahlreiche Romane und Erzählungen heute nur noch von einem kleinen Kreise gekannt werden. Besondere Beachtung findet in diesem Beitrag Müller-Guttenbrunns Trilogie über Nikolaus Lenau. Im Interbellum erfolgreich war Otto Flake. Peter Delvaux beschreibt Flakes wechselvolle Wirkungsgeschichte und hebt seinen eleganten, schlichten und durch Erfindungsreichtum eindringlichen Stil hervor. Noch stärker in Vergessenheit geraten ist Alfred Margul-Sperber. Martin Hainz legt dar, wie Margul-Sperber einst mit der europäischen Intelligenz in regem Austausch stand, eine zentrale literarische Figur der Bukowina war und Mentor von Rose Ausländer und Paul Celan wurde. Unwiderlegbar ist Die Biene Maja und ihre Abenteuer von Waldemar Bonsels ein „evergreen“. Peter Delvaux stellt die Frage
11 nach dem Wert der anderen, von Bonsels verfassten Werke. Die Antwort ist nuanciert mit Anerkennung von Bonsels Leistung, die Natur den Heranwachsenden nahegebracht zu haben. Wara Wende lenkt die Aufmerksamkeit auf Carl Hauptmann und besonders auf seine Novellen-Sammlung Nächte. Hauptmanns Werk zeigt sowohl eine klare Auseinandersetzung mit dem Lebensgefühl der Moderne als auch eine sehr traditionelle, sogar altbackene Stoffwahl. Es hatte den Anschein, dass der österreichische Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia in neuerer Zeit internationale Beachtung gefunden hat. Thomas Eicher sieht jedoch ein rasches Abflauen des Interesses und plädiert aus inhaltlichen Gründen für kontinuierliche Beschäftigung der wissenschaftlichen Forschung mit dem noch weitgehend unveröffentlichten Werk Lernet-Holenias. Lars Koch analysiert im vorliegenden Band den Roman Am Rande der Nacht von Friedo Lampe, der 1933 verboten wurde. Die detaillierte Erforschung des Romans verschafft Einblick in die Technik der Fragmentarisierung und in die polyperspektivische Erzählweise. Lampe unterminiert das damals öffentliche Streben nach einer zusammenhängenden Identität. Henk J. Koning führt den Leser weiter in die Zeit zurück mit der Behandlung der Epik des “Schicksalsdramatikers” Ernst von Houwald, dessen Erzählungen und Märchen er in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt. Als Vermittlungsgestalt zwischen Deutschland und den Niederlanden tritt Friedrich Markus Huebner im Beitrag von Christiaan Janssen in den Vordergrund. Janssen gibt einen umfassenden Überblick über Huebners heute vergessenes, jedoch partiell sehr faszinierendes Werk, das aus Romanen, Gedichten und kritischer Prosa besteht. Neben anderen Leistungen Huebners ist seine Vermittlung der deutschen expressionistischen Literatur in den Niederlanden zu nennen. Vicky Baum ist ein Name, der auch in den Niederlanden bestimmt nicht vergessen wurde, jedoch fast automatisch mit Trivialliteratur assoziiert wird. Julia Bertschik weist in ihrem Beitrag nach, dass Vicky Baums Romane eine Art doppelte Rezeptionsmöglichkeit boten und dass sie gleichzeitig mit der Bestätigung der Kolportageliteratur auch deren Prämissen demontierten. Völlig in Vergessenheit geraten ist der Journalist, Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Leo Hirsch. Kerstin Schoor porträtiert Leo Hirsch mittels einer umfassenden Darstellung seines Lebens und seines Werks. Hirsch suchte nach einer Mittelposition zwischen der jüdischen Identität und dem modernen Denken Europas. Während der Zeit des Nationalsozialismus bemühte sich Hirsch
12 innerhalb des jüdischen Kulturkreises um eine Synthese von jüdischer Tradition und deutscher Kultur. Über Gustav Landauer schreibt Hanna Delf von Wolzogen. Landauer war neben Max Stirner der bedeutendste deutsche Anarchist und als solcher ein konsequenter Kriegsgegner. Landauer hatte enge Beziehungen zu den führenden europäischen Anarchisten seiner Zeit. Wenige Werke von seiner Hand wurden jedoch übersetzt. In ihrem Artikel geht Hanna Delf von Wolzogen den Gründen für Landauers besondere Position nach. Grete Weil hinterließ ein kleines, aber beachtliches literarisches Werk. Gerhard Leyerzapf zeigt die enge Verflechtung von Grete Weils Romanen mit den eingreifenden Ereignissen in ihrem Leben. Grete Weils Werke erschienen in großen zeitlichen Abständen. Sie suchte lange nach der richtigen literarischen Gestalt für die Darstellung der Thematik ihres Lebens. Wilhelm Runge war ein sehr begabter Dichter der zweiten expressionistischen Generation. Natalia W. Pestova stellt Runge mittels seiner Gedichte vor und geht dabei auch auf seine Freundschaft mit Zeitgenossen wie der Niederländerin Sophie van Leer ein. Die genannte Sophie van Leer bildet den Gegenstand von Jattie Enklaars Beitrag. Darin wird die mit Problemen der Identitätsfindung verbundene Entwicklungsgeschichte Sophie van Leers von expressionistischer Ekstase zu eher konfessionell gebundenem mystischem Enthusiasmus nachgezeichnet. Lange war Sophie van Leer vergessen, nun hat die Forschung sie in das kollektive Gedächtnis zurückgeholt. Eine viel umfassende Rezension ist Lotti de WolfPfändlers Bericht anlässlich der 2001 erschienenen Biografie der schweizerischen Dichterin Johanna Spyri, der bekannten HeidiAutorin. Gewiss sind nicht alle in diesem Band vorgestellten Autoren in Vergessenheit geraten. Die Herausgeber sind aber überzeugt, dass alle im vorliegenden Band behandelten Zeugen einer kulturellen Vergangenheit es verdienen, im Ideensystem einer tradierten Literatur weiterzuleben. Jattie Enklaar / Hans Ester
Claudia Erdheim KARL EMIL FRANZOS (1848 - 1904) I. Das Leben Karl Emil Franzos1 stammt aus Czortkow, einem kleinen Städtchen in Ostgalizien, unweit der russischen Grenze. Sein Vater, Heinrich Franzos, war dort Bezirksarzt. Als deutscher Beamter war er aufgrund des polnischen Aufstandes im Revolutionsjahr 1848 bedroht und schickte deshalb seine Frau über die Grenze nach dem russischen Podolien, damit sie dort seinen Sohn Karl Emil zur Welt bringe. Die Vorfahren Franzos’ waren sephardische Juden aus Spanien. Die Inquisition zwang sie zur Auswanderung nach Holland und später nach Frankreich. Durch Generationen hindurch betrieb die Familie, deren Name damals Levert lautete, die Kerzenzieherei. Der Urgroßvater ging nach Polen und gründete zwei Kerzenfabriken in Warschau und Tarnopol. Der jüngste Sohn übernahm die Tarnopoler Fabrik und wurde daher nach der Teilung Polens österreichischer Untertan. Der Teil Polens, den sich die Österreicher einverleibt hatten, war Galizien. Es war das ärmste Kronland der Monarchie. Dort lebte ein Völkergemisch aus Polen, Juden, Ruthenen, wie die Ukrainer damals hießen, wenigen Deutschen und Armeniern. Jedes Volk sprach seine eigene Sprache und auch ein wenig die der anderen. Die Polen waren in der Überzahl und die Juden, vorwiegend fromme Chassidim, machten ca 12 Prozent aus. Czortkow, das Franzos immer wieder in seinem Werk als Barnow verewigte, bezeichnet er als ein „ödes schmutziges Nest in einem gottverlassenen Winkel der Erde“, wo „die ärmsten Menschen der Erde leben“. Im Zuge der von Joseph II. angeordneten Namensverleihung für alle Juden Galiziens erhielt die Familie den Namen „Franzos“. Franzos’ Vater war aufgeklärt, deutschnational, studierte in München und kehrte danach nach Galizien zurück, wo er auf Wunsch seines Schwiegervaters blieb. So war die Familie gesellschaftlich isoliert. Für die Juden waren sie vom Glauben Abtrünnige, für die Polen Deutschgesinnte. Franzos hatte eine ruthenische, also ukrainische Amme und Kinderfrau, so dass seine erste Sprache eigentlich ruthenisch war. Als Anhänger der deutschen Aufklärung und der deutschen Sprache und Kultur wollte der Vater aber dem Sohn so früh wie möglich die 1
Ich beziehe mich auf: Lim: 1981; Böhm: 1998.
14 deutsche Sprache und Kultur vermitteln. Karl Emil wurde nicht nur von seinem Vater, sondern auch von dem zu militärischem Strafdienst verurteilten Wiener Studenten Heinrich Wild unterrichtet. Von ihm lernte er – so Franzos rückblickend – „nicht bloß Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern die Freiheit lieben, die Reaktion hassen.“2 Nach dessen Tod besuchte er die Klosterschule der Dominikaner in Czortkow. Franzos schildert seine Schulzeit in Czortkow in einer Skizze: [...] nachdem ich den Tag über bei dem dicken Pater Marcellinus Latein, bei Pater Ludovikus Polnisch, bei Osner deutsche ‚Grammähre‘ (wie er’s nannte), bei Poczubut Physik und beim Bocher David Talmud gelernt, machte ich des Abends unter Vaters Leitung stylistische Aufgaben oder las mit ihm Schillers WiIlhelm Tell.
1858 starb Franzos’ Vater und im darauffolgenden Frühling übersiedelte er mit der Mutter nach Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina. Dort war die Oberschicht zum Großteil deutsch, die Unterschicht meist rumänisch und ruthenisch. Daneben gab es auch Polen und Magyaren, und mehr als ein Drittel machten die Juden aus. Trotz der mosaischen Konfession kam Franzos in seiner Kindheit nur wenig mit dem orthodoxen und chassidischen Judentum in Berührung. Die Familie hielt sich nicht streng an die religiösen Gebote, trug europäische Kleidung und sprach nicht jiddisch. Trotzdem war seine jüdische Umgebung prägend für sein späteres Werk. In Czernowitz besuchte Franzos das deutsche Gymnasium, das ihm in der Erinnerung als „Vorhof zum Paradies Deutschland“ verblieb. Dort maturierte er mit Auszeichnung. Franzos wollte klassische Philologie studieren, ein schwieriges und langwieriges Fach, das ohne Stipendium nicht zu bewältigen gewesen wäre. Ein solches Stipendium hätte er jedoch nur erhalten, wenn er zum Christentum konvertiert wäre. Franzos war dazu ebenso wenig wie sein Vater bereit. So studierte er Jura, ein kürzeres und einfacheres Studium. Die ersten zwei Semester studierte er in Wien, danach setzte er das Studium in Graz fort. Franzos war deutsch-national, ohne seine jüdische Abstammung zu verleugnen. In Wien war er Mitglied der Burschenschaft „Teutonia“, in Graz gehörte er der „Orion“ an. Als Präsident dieser Burschenschaft verfasste er den Aufruf „an die Studenten der deutschen Hochschulen“, in dem er die Errichtung des deutschen Kaiserreiches für gut hieß. Während seiner Studentenzeit hat Franzos auch zahlreiche Reden für die deutsche Einigung unter der Führung Preußens und der zugunsten der Einbeziehung Österreichs gehalten. Dadurch geriet er immer wieder in Konflikt mit der Polizei, die diese Agitation mit Misstrauen 2
Karl Emil Franzos: Mein Erstlingswerk: 224.
15 beobachtete. In Graz schrieb er für Zeitungen wie die „Tagespost“ oder die „Freiheit“ Buchrezensionen, politische Satiren, Gedichte und kürzere Erzählungen. Ebenso erschien schon eine umfangreiche Erzählung in zwanzig Fortsetzungen mit dem Titel „Im Schlamme versunken“, die die österreichische Monarchie kritisierte. In den „Buchenblättern“, die Franzos im Winter 1869/70 in Czernowitz herausgab, erschien seine erste Ghettonovelle David der Bocher, die dann später unter dem Titel Das Christusbild in dem Sammelband Die Juden von Barnow erschien. Es ist eine autobiographische Geschichte über eine unglückliche Liebe zwischen einem jüdischen Arzt und einer polnischen Gräfin. Franzos schloss das Jusstudium mit Erfolg ab, wandte sich aber nach einer kurzen Zeit als Rechtspraktikant gänzlich der Literatur zu. Franzos hatte durchaus schon einen Ruf als junger, vielversprechender Journalist. Im Mai 1872 wurde er von der Wiener Neuen Freien Presse als Spezialkorrespondent zur Eröffnungsfeier der Universität Straßburg entsandt. Im Herbst desselben Jahres wurde er nach Budapest zum Ungarischen Lloyd geholt, für dessen Feuilleton er vorwiegend novellistische Skizzen verfasste. Hier begann er die literarische Gattung der Ghettonovelle zu entwickeln, die bei den Lesern sehr gut ankam. Franzos kehrte jedoch bald nach Wien zurück, da er hier doch ein zahlreicheres Publikum und mit der Neuen Freien Presse ein ihm genehmeres Organ vorfand. Im Auftrag der Neuen Freien Presse unternahm er von 1874 bis 1876 zahlreiche Reisen nach Galizien und in die Bukowina, nach Russland und Rumänien. Seine Eindrücke verarbeitete er zu kulturhistorischen und ethnographischen Reisebildern, die zunächst in der Neuen Freien Presse erschienen und 1876 das erste Buch der Trilogie Aus HalbAsien bildeten. Aus Halb-Asien wurde ein großer Erfolg; es wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt. Ein vergleichbarer Erfolg wurde die ein Jahr später erschienene Novellensammlung Die Juden von Barnow, in der Franzos seiner Heimatstadt Czortkow ein Denkmal setzte. Der Erfolg der beiden Werke brachte Franzos nicht nur literarischen Ruhm, sondern auch materielle Sicherheit, so dass er in der Folge die feuilletonistische Tätigkeit zugunsten der reinen Literatur einschränken konnte. Auf Sommerfrische in Gmunden lernte Franzos dort 1876 die um acht Jahre jüngere Ottilie Benedikt kennen, Tochter eines jüdischen Kaufmanns. Sie schrieb auch Novellen und Erzählungen. Im Oktober 1876 verlobte er sich mit ihr und am 28. Jänner 1877 fand die Hochzeit im israelitischen Tempel in der Seitenstettengasse in Wien statt. Der bekannte Rabbiner und Prediger Adolf Jellinek hielt die Trauungsrede. Im Schulhof 4, in der Inneren Stadt mietete er eine Wohnung. Franzos führte nun das Leben eines vielbeschäftigten, trotz
16 seiner Jugend schon berühmten Literaten. In rascher Abfolge erschienen weitere Kulturbilder aus dem Osten, aber auch Romane und Novellen, die meist der jüdischen Thematik gewidmet waren. Als große herausgeberische Leistung ist die von ihm besorgte erste Gesamtausgabe der Werke Georg Büchners zu werten. Er hat als erster den Woyzzek entziffert. Weiter war er literarischer Berater von Kronprinz Rudolf bei der Arbeit an dem Werk Die ÖsterreichischUngarische Monarchie in Wort und Bild. Nun schreibt er auch Werke nicht jüdischer Thematik, die sozusagen in Europa, im Westen spielen oder die Slawen betreffen. Davon ist das Wichtigste der Roman Ein Kampf ums Recht, eine Art ruthenischer Michael Kohlhaas. 1882 gab Franzos das Deutsche Dichterbuch aus Österreich heraus, eine umfangreiche Anthologie deutscher Dichtung aus den Ländern der österreichischen Monarchie. In dieser Anthologie waren fast alle bedeutenden Schriftsteller aus allen Kronländern mit ihren zum Großteil noch ungedruckten Dichtungen vertreten, z.B. Ludwig Anzengruber, Marie von Ebner Eschenbach, Ferdinand von Saar und Peter Rosegger. 1884 übernahm Franzos für zweieinhalb Jahre die Herausgabe und Redaktion der Neuen illustrierten Zeitung, ein Familienblatt vom Schlage der Gartenlaube, das jeden Sonntag in Wien erschien. Es ist nicht klar, was Franzos dazu bewogen hat, diese Zeitung zu übernehmen. Er selbst bezeichnet diese zweieinhalb Jahre als die schwersten seines Lebens. Es gab darin unter anderem Beiträge von Kronprinz Rudolf. Allerdings gelang es Franzos nicht, Autoren wie Gustav Freytag, Gottfried Keller oder Paul Heyse zur Mitarbeit an der Neuen Illustrierten Zeitung zu gewinnen; auch kam es zu Unstimmigkeiten und er legte die Redaktion nieder. Im Herbst 1887 zog Franzos von Wien nach Berlin. Die Gründe dafür sind nicht bekannt, nur dass Franzos schon 1883 den Umzug geplant hatte. Die ersten zehn Jahre der Berliner Zeit waren für Franzos auf literarischem Gebiet außerordentlich fruchtbar. Es erschienen das letzte Buch der Reihe Aus Halb-Asien, mehrere Novellensammlungen, die Ghettodichtungen Judith Trachtenberg und Leib Weihnachtskuchen und sein Kind, sowie der Roman Der Wahrheitssucher. Franzos gab von 1886 bis zu seinem Tod eine eigene Zeitschrift Deutsche Dichtung heraus, für die er sich bemühte, literarische Erstveröffentlichungen zu bekommen und in der er natürlich auch seine eigenen Romane und Erzählungen publizieren konnte. Franzos‘ Verdienst war es, die hervorragendsten Schriftsteller dieser Zeit als Mitarbeiter zu bekommen. So publizierten in der Deutschen Dichtung Ludwig Anzengruber, Felix Dahn, Marie von Ebner Eschenbach, Theodor Fontane, Paul Heyse, Arno Holz, Gottfried Keller, Fritz Mauthner, Conrad Ferdinand Meyer, Theodor
17 Storm, Bertha von Suttner, später auch Lou Andreas-Salomé, Christian Morgenstern und Stefan Zweig. 1893 vollendete Franzos nach jahrelanger Arbeit sein bedeutendstes Werk Der Pojaz, veröffentlichte es aber nicht. Der Grund dafür ist nicht ganz klar, möglicherweise spielten die zunehmenden antisemitischen Tendenzen in Deutschland und Österreich eine Rolle. Aufgrund des immer stärker werdenden Antisemitismus wurde es für Franzos immer schwerer, seine Werke zu publizieren. Die meisten Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure erklärten ihm, dass sie unmöglich ein „judenfreundliches“ Werk publizieren könnten. Dies bedeutete einen großen finanziellen Verlust. Franzos hat trotz seiner deutschnationalen Einstellung unter dem Antisemitismus zweifellos gelitten. Er trat verschiedenen deutsch-jüdischen Vereinigungen bei und versuchte in Reden und Vorträgen der unheilvollen Entwicklung entgegenzusteuern. Den Zionismus betrachtete er allerdings als Irrtum, sein Ziel für die deutschen Juden „Jude zu bleiben und Deutscher zu werden“ sah er darin nicht verwirklicht. In den letzten sieben Jahren seines Lebens wurde es stiller um ihn, wenngleich er noch einige Erzählungen und Novellen veröffentlichte. Er entwickelte auch eine reiche Vortragstätigkeit mit Themen aus dem Bereich der Literatur und Kultur der osteuropäischen Länder oder aus der deutschen Ghettoliteratur. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich mehr der Literaturgeschichte. Er schrieb wichtige Arbeiten über Heine und Conrad Ferdinand Meyer. Seit 1901 litt Franzos an Herzbeschwerden, am 28. Jänner 1904 starb er. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof BerlinWeißensee beigesetzt. II. Das Werk Franzos geht es in den meisten seiner Werke um die Missstände in der Donaumonarchie, die Judenfrage, die Unterdrückung nationaler Minderheiten, den Panslawismus und die Galizienmisere. Er weist unermüdlich auf die Rückständigkeit Halb-Asiens hin und tritt für wahre „Bildung“ und „Fortschrittlichkeit“ ein. Er ist nicht nur ein genauer Beobachter, sondern auch ein scharfer Kritiker, der nichts beschönigt. Er kritisiert den Schmutz, den Alkoholismus, den Aberglauben, den christlichen Antisemitismus, besonders aber den jüdischen Fanatismus im Ghetto. Franzos ist als Ghettoautor bekannt, wenngleich er auch viele Werke geschrieben hat, die in einem nicht jüdischen Milieu spielen. Die Ghettogeschichte ist eine Erscheinung der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Sie befasst sich mit den Bewohnern des Ghettos, mit
18 ihren Lebensformen sowie mit der Auseinandersetzung mit der nicht ghettoisierten Umwelt, wobei „Ghetto“ das Judenviertel einer Stadt meint oder nur die Judengasse oder eben das Stettl des Ostens. Auf den Begriff Ghettoliteratur soll hier nicht näher eingegangen werden. Franzos’ erstes Buch Aus Halb-Asien. Kulturbilder aus Galizien, Südrußland, der Bukowina und Rumänien erschien 1876 als das erste Buch der Trilogie Aus Halb-Asien. Es enthält die schon zuvor meistenteils im Feuilleton der Neuen Freien Presse erschienenen Reisebilder. Das Buch war ein großer Erfolg. Es wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt, einschließlich des Jiddischen. Franzos wurde ein viel gelesener und populärer Schriftsteller: Aus Halb-Asien wurde zu einem geflügelten Wort. Im Vorwort zu Aus Halb-Asien schreibt er: Nicht bloß geographisch sind diese Länder zwischen das gebildete Europa und die öde Steppe gestellt. Auch in den politischen und sozialen Verhältnissen dieser Länder begegnen sich seltsam europäische Bildung und asiatische Barbarei, europäisches Vorwärtsstreben und asiatische Indolenz, europäische Humanität und so wilder, so grausamer Zwist der Nationen und Glaubensge-nossenschaften, wie er dem Bewohner des Westens als ein nicht bloß Fremd-artiges, sondern geradezu Unerhörtes, ja Unglaubliches erscheinen muß.3
Die Kulturbilder in Aus Halb-Asien sind vorwiegend Reportagen, Skizzen, Anekdoten, Essays und weniger novellistisch. Franzos will den Osten nicht germanisieren, jedoch kultivierter machen. Eine endgültige Lösung des jüdischen Problems sieht er in der Assimilation, es ist ein rein kulturelles Problem, das sich mit der Zeit auflösen wird: „Denn die Judenfrage ist lediglich eine Kulturfrage: sie hört auf eine Frage zu sein, sobald die Kultur zum vollen Siege gelangt ist.“ Ich greife eine Skizze heraus, und zwar „Schiller in Barnow“, eine kurze Geschichte, in der Schiller als „Heiland und Erlöser“ erscheint, sein Werk als „Evangelium reiner Begeisterung“, „Evangelium der Menschenliebe“. In Barnow, Franzos’ fiktiver Bezeichnung für seinen Heimatort Czortkow und zugleich Symbol für Halb-Asien, gibt es fünf Exemplare der Werke von Schiller. Ein polnischer Graf besitzt eine zwölfbändige Ausgabe des Cotta Verlages. Er stellt sich als Mitgiftjäger heraus und weiß von Schiller nur, dass er irgend „so ein deutscher Dichter“ ist. Er hat dieses Werk nur gekauft, um seine Geliebte ebenso lieben zu können „wie Schiller die Laura geliebt“ hat. Anders verhält es sich mit dem jüdischen Arzt Aaron Tulpenblüth. Seine Frau, ein braves „Judenmädchen des Ostens“, bat ihn, ihr Werke 3
Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien. Vorwort XIII, Stuttgart und Berlin: 1927.
19 von Schiller, Börne und Heine zu kaufen. Aaron tat dies und griff eines Tages selbst zu einem Schillerband. Dabei entdeckte er eine „Menge des Schönen und Lebendigen“ und wurde ein begeisterter Anhänger der „stolzen, edlen Weltanschauung“. Ein anderes Exemplar befindet sich im Besitz der Gattin des polnischen Bezirksrichters in polnischer Übersetzung, die bei der Lektüre Schillers mehr an den „blonden Adjunkt“ denkt, der ihr das Buch geschenkt hat. Wenn der Jude Schlome Barrascher seinen Schiller liest „dann glänzt sein Aug’, dann hebt sich sein Haupt“. Er wird früh verheiratet, sein Versuch das Gymnasium in Czernowitz zu besuchen scheitert. Er findet Trost in den Büchern Schillers. Gleich drei Besitzer hat das fünfte Exemplar. Zunächst gehört es einem polnischen Studenten, der einer unglücklichen Liebe wegen ins Kloster geht und aus den Gedichten Schillers Kraft und Halt schöpft. Eines Tages trifft er vor der Stadt zwei junge Menschen, die sich gemeinsam abmühen, lateinische Verba zu konjugieren. Der eine ist Ruthene, der andere ist wiederum Jude. Er wird deren Lehrer, bald lesen alle drei begeistert Schillers Lyrik und veranstalten so „die einzige Schiller-Feier, welche jemals in Barnow abgehalten wurde“. Nachdem Franzos viele Jahre vergeblich einen Verleger gesucht hatte, erschien 1877, also ein Jahr nach Aus Halb-Asien, die Novellen-sammlung Die Juden von Barnow. 1869 während seiner Studienzeit in Graz entstand die erste der sechs Novellen: Das Christusbild. In der dritten Auflage sind zwei, in der vierten noch eine Novelle dazugekommen. Obwohl er betont, die Juden von Barnow seien „in gewissem Sinn ein streitbares Buch“ und die Novellen hätten „nebenbei einen Tendenzzweck“, erklärt er mit Nachdruck, er „schildere die polnischen Juden nicht besser noch schlechter, als sie sind, sondern genau so, wie sie sind“4 (Vorwort zu Die Juden von Barnow). Franzos will dem Leser des Westens die Rückständigkeit der Verhältnisse des galizischen Judentums zeigen und seine Anteilnahme erwecken. Dabei leitet ihn seine These „Jedes Land hat die Juden, die es verdient“, ein viel zitiertes Wort, das sogar im österreichischen Parlament seinen Widerhall fand. Mit dem Thema der Liebe zwischen Juden und Christen stellt Franzos die tragischen Auswirkungen der tiefen reli-giösen Gegensätze am Schicksal einzelner Menschen dar. Es durch-zieht viele seiner Novellen in verschiedenen Variationen. Der Shylock von Barnow, die erste Novelle, schildert das tragische Leben des wohlhabenden Moses Freudenthal, dessen Tochter einem Rittmeister in die Fremde folgt. 4
Karl Emil Franzos: Die Juden von Barnow. Vorwort VIII, Stuttgart und Berlin: 1916.
20 Für den Vater wie für die jüdische Gemeinde ist sie damit tot. Als sie schließlich vom Rittmeister verstoßen wird und zurückkehrt, stirbt sie an der Schwelle des elterlichen Hauses. Franzos wendet sich sowohl gegen die Vorurteile und Rücksichtslosigkeiten der christlichen Umwelt als auch gegen die frühe Verheiratung mittels Heiratsvermittler, also dagegen, aus der „Ehe ein Geschäft“ zu machen. Dies auch in Der wilde Starost und die schöne Jütta, in der ein jüdisches Mädchen von einem Christen entführt, dann von den Juden zurückgeholt wird und schließlich Selbstmord verübt. Beide Seiten wenden Gewalt an, Fluch steht gegen Fluch; in einer Schluss-sentenz heißt es: „Laßt uns endlich die Wahrheit begreifen, daß nur die Liebe selig macht, der Glaube aber blind [...]“. 5 Unerfüllt bleibt auch die Liebe zwischen dem jüdischen Arzt Reimann und einer polnischen Gräfin in Das Christusbild. Lediglich die Liebe der Chance aus Nach höherem Gesetz zum Bezirksrichter geht in Erfüllung, da ihr jüdischer Ehemann in die Scheidung einwilligt. In Das Kind der Sühne rettet die Liebe einer Mutter, die sich gegen den Aberglauben der Chassidim durchsetzt, ihr totkrankes Kind. In einer Zeit, in der die Cholera, die als Strafe Gottes aufgefasst wird, zahlreiche Menschenopfer fordert, glauben die Chassidim die Heim-suchung der Epidemie könne nur durch ein Sühneopfer abgewendet werden, ein Glaube, der vom „Wunderrabbi“ zu Sadagóra bestärkt wird. Die Mutter lässt sich überreden, nach Sadagóra zu fahren, um vom Zaddik das Leben ihres Kindes zu erflehen. Unterwegs kehrt sie aus Angst um das kranke Kind um und rettet ihm dadurch das Leben. 1878 erschien das zweite Buch der Kulturbilder unter dem Titel Vom Don zur Donau, wovon 1890 eine gänzlich umgearbeitete und vermehrte zweite Auflage erschien. Das Buch beginnt mit „Markttag in Barnow“, eine Reportage, eine Schilderung der verschiedenen Han-delsleute, die sich dem Beobachter am Wochenmarkt von Barnow bieten. Sie reicht von armseligen Zuckerlund Wursthändlern über Bauernmädchen, die Wasser verkaufen, bis zu den dort wohnenden polnischen Adeligen. Der Ringplatz von Barnow ist am Dienstag in der Tat ein Stapelplatz für die ganze Gegend, und wer ihn unbetäubt und prüfenden Auges durchwandert, gewinnt tieferen Eindruck in das Treiben dieser Menschen, dieses sonderbare Treiben, in welchem die starre Eigenart dreier Völker [gemeint sind Polen, Ruthenen und Juden], in welchem der Gegensatz zwischen Kultur und Barbarei zusammenflutet oder doch kaum unterscheidbar in eins zusammen-schillert. Wer dieses Tohuwabohu versteht, versteht auch ein gut Stück Kulturgeschichte von Halb-Asien. 5
Ebenda: 141.
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Hier gibt es jüdische Hausierer und Krämer, wie etwa Jitta Gelber, die stellvertretend für die vielen jüdischen Frauen ist, die oft die Alleinerhalter sind, während ihre Ehemänner nur mit den Studien des Talmuds beschäftigt sind. Aber auch Sissel Diamant geht es nicht viel besser, obwohl ihr Mann Schneider ist. Doch gibt es mehr als fünfzig andere Schneider in Barnow und das Angebot übertrifft bei weitem die Nachfrage. Der Barnower Markttag zeigt ein ethnographisches und soziologisches Panorama von ruthenischen Bauern, katholischen und griechisch-katholischen Pfarrern, von den Karaiten, einer jüdischen Sekte, und schließt auch den blinden Sänger ein, der dem Markt eine festliche Atmosphäre verleiht. Die umfangreichere Novelle Moschko von Parma erschien 1880 als Buch, 1875 in Fortsetzungen im Feuilleton der Neuen Illustrierten Zeitung. Mosche, ruthenisch Moschko, unterscheidet sich schon als Kind von seiner Umgebung in Barnow. Er ist sehr stark und läuft nicht vor den Christenkindern davon, sondern schlägt sich mit ihnen. Auch will er weder Schneider oder Schuster noch Dorfgeher oder Handelsmann werden, und für den Beruf eines Rabbiners oder Lehrers fühlt er sich ebenso ungeeignet. So kommt er auf die Idee, Sellner, also Söldner, Soldat, zu werden. Denn im Heer braucht man „starke Menschen“. Im militärischen Werbebezirk jagt man ihn aber als „feiges Hundsblut“ fort, und es nützt nichts, dass er den Schlägen und Beschimpfungen erwidert: „Wir sind kein Hundsblut, wir sind Menschen“.6 Die Gemeinde, die sich schon entsetzt hat, als er äußerte, „Sellner“ werden zu wollen, sträubt sich heftig, als Moschko Lehrling bei einem ruthenischen Schmied wird. Itzig Türkischgelb jedoch setzt sich für Moschko ein und überzeugt die anderen davon, dass ein Jude ohneweiteres den Beruf des Schmiedes ausüben könne, und erreicht, dass die Gemeinde Moschko weiterhin versorgt. Itzig Türkischgelb ist Marschallik. Er ist Spaßmacher, Arrangeur von Festlichkeiten und Heiratsvermittler, aber ebenso Gemeindevorsteher oder Bestechungsagent bei der Rekrutierung. Kurz, er macht alles und weiß alles. Und doch „ist es ein Rätsel, wovon er lebt, und er ist auch zumeist ein blutarmer Teufel.“7 Moschko gelingt es trotz Schwierigkeiten zu seinem Lehrherrn Wassilj und zu dem zweiten Schmiedelehrling Hawrilo ein relativ gutes Verhältnis zu bekommen. Moschko bleibt zwar Jude, doch wird er nichtsdestoweniger „allmählich ein anderer Jude als sie [...] er ahnt, dass der Mensch zunächst ein Mensch sei und dann erst ein Christ oder Jude“. Moschko verliebt sich in die 6 7
Karl Emil Franzos: Moschko von Parma. Wien 1972: 28. Ebenda: 18.
22 Schwester Hawrilos, die Magd Kasia. Das Verhältnis müssen beide vor den anderen geheim halten. Kasia erwartet von Moschko ein Kind und Wassilij stirbt. Der neue Herr will den Juden nicht mehr weiter beschäftigen. Schließlich kommt es in Barnow zur Rekrutierung. Weder die Bauern noch die Juden sind freiwillig bereit, neben der Geldsteuer auch noch diese „Blutsteuer“ zu entrichten. Vor allem die Juden unternehmen alles, um ihre Söhne davor zu bewahren, Speiseund Sabbatgesetze verletzen und Blut vergießen zu müssen. Die Beamten werden bestochen, aber auch Selbstverstümmelungen werden vorgenommen. Durch einen unglücklichen Umstand wird Moschko rekrutiert und zu einem Regiment in Parma befohlen. Einundzwanzig Jahre später kommt Moschko als alter kranker Invalide nach Barnow zurückkehrt. Die Eltern, Itzig und andere sind tot. Seine Verwandten weigern sich, ihm zu helfen, weil er sich nach vierzehn Pflichtjahren für weiter sieben Jahre verpflichtet hat. Ein ehemaliger Soldat nimmt ihn auf, aber insbesondere Hawrilo, der inzwischen Schmiedemeister geworden ist, kümmert sich um ihn. Moschko erkennt in dem neuen Lehrling seinen Sohn. Es gelingt ihm, ihn davon abzubringen, unbedingt Soldat werden zu wollen. Er stirbt mit sich und den anderen versöhnt. Die 1891 erschienene Novelle Judith Trachtenberg sei hier nur erwähnt. Es ist die tragische Geschichte eines jüdischen Mädchens, das sich in einen polnischen Grafen verliebt, und die mit deren Selbstmord endet. Nun zum bedeutendsten Werk Franzos, zu seinem Ghettoroman Der Pojaz, an dem er jahrelang arbeitete und den er 1893 vollendete. Aus nicht ganz geklärten Gründen erschien er aber erst postum 1905. Es ist ein Entwicklungsroman mit durchaus humoristischen Zügen, aber letzten Endes mit tragischem Ausgang. Der Roman erzählt die Geschichte des Jüdischen Jungen Sender Glatteis, der fern der modernen Bildung in Barnow, im ostgalizischen Ghetto heranwächst. Er ist der Sohn eines im Straßengraben umgekommenen Schnorrers, der von der störrischen und hässlichen Rosel Kurländer als ihr eigener Sohn großgezogen wird. Nach alter Ghettotradition möchte sie diesen Sender zu einem fleißigen und frommen Handwerker erziehen. Doch schon als Kind kopiert er die ruthenischen Fuhrleute und seine jüdischen Lehrer so naturgetreu, dass er den Beinamen Pojaz erhält, die jüdische Form von Bajazzo. Sender durchläuft die strenge jüdische Schule, kommt zu einem Uhrmacher in die Lehre, wo er es nicht lange aushält und wird schließlich Fuhrmann. Im Zuge dieser Tätigkeit kommt er eines Tages bis nach Czernowitz, wo er das entscheidende Erlebnis seines Lebens hat: einen Theaterbesuch. Er verschafft sich Zugang zum Direktor der Wander-
23 bühne. Der Direktor rät ihm, erst einmal richtig deutsch zu lernen. Es ist aber fast unmöglich im chassidischen Barnow an eine Fibel oder einen Dramentext heranzukommen. Jeder, der nur ein Wort deutsch lesen kann, gilt sofort als Abtrünniger. Sein erster Lehrer ist der Trainsoldat Heinrich Wild, den man als rebellischen Studenten nach der Achtundvierziger Revolution in eine galizische Strafkolonie gesteckt hat. Hier setzt Franzos seinem ersten Lehrer ein Denkmal. Nachdem dieser erschossen worden war, verschafft sich Sender heimlich Zutritt zur Klosterbibliothek, wo er sich wahllos durch deutsche Bücher durcharbeitet. Als ihn seine Mutter verheiraten will, entgeht er der Partie nur durch einen bösen Streich. Er schreibt einen Hilfebrief an den Direktor, der ihm Elementarbücher zum Selbstunterricht schickt und auszuharren rät. Schließlich verrät sich Sender selbst, indem er in Gegenwart des Rabbi ein deutsches Aktenstück liest. Vor dem Bann bewahrt ihn ein furchtbarer Blutsturz, ein Zeichen der Schwindsucht, die er sich in der Klosterbibliothek zugezogen hat. Sender erholt sich, lernt weiter und will im Herbst nach Lemberg gehen. Da erreicht ihn ein Brief des Direktors, unverzüglich nach Czernowitz zu kommen. Um einem Auftritt mit der Mutter zu entgehen, verlässt er in einer kalten Februarnacht heimlich das Haus. Er gerät in einen schrecklichen Schneesturm, erreicht aber den nächsten Ort, wo ihn ein Blutsturz befällt. Seine Mutter ist ihm hinterher geeilt und bringt den Schwerkranken zurück nach Barnow. Er erfährt, dass Rosel Kurländer seine Stiefmutter ist. In einer bedrohlichen Situation rettet er ihr das Leben. Damit hat er sozusagen seine Schuld beglichen und hätte tatsächlich Schauspieler werden können. Man erlaubt ihm sogar nach Lemberg zu fahren, um den jüdischen Schauspieler Bogumil Dawison als Shylock zu sehen. Er bekommt zum dritten Mal einen furchtbaren Blutsturz, wird nach Barnow zurückgebracht und stirbt im Alter von zweiundzwanzig Jahren. Leib Weihnachtskuchen und sein Kind, Franzos’ letzte Ghettogeschichte, erschien 1896. Es ist die Geschichte eines bitterarmen jüdischen Schankwirtes in einem ruthenischen Dorf. Ständig bedroht, dass die Pacht nicht verlängert wird und die Schulden eingetrieben werden, ist er von einer innigen Gottesfürchtigkeit und naiven Ehrlichkeit. Janko Wygoda, ein hässlicher ruthenischer Bauer, gibt Leib die Schuld an der Trunksucht seines Vaters und stößt ihn ins kalte Wasser. Weil es heißt „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ verzeiht ihm Leib und es kommt sogar zu einer Art Freundschaft zwischen den beiden. Janko verliebt sich leidenschaftlich in Leibs Tochter, die er schon als Mädchen lieb gewonnen hatte. Er möchte um jeden Preis eine Verheiratung des Mädchens verhindern und droht,
24 sich und die ganze Familie umzubringen, wenn Miriam verheiratet wird. Miriams Mutter drängt aber zur Verheiratung mit einem mehr als fünfzig Jahre älteren, reichen Mann. Die Mutter stirbt noch vor der Hochzeit an Tuberkulose. Janko sitzt inzwischen im Kerker, weil er gegen die Beamten, die sein Grundstück für den Eisenbahnbau erwerben wollten, gewalttätig geworden ist. Leib bürgt für ihn, damit er auf freien Fuß kommen kann. Dies soll aber erst nach der Hochzeit geschehen. Aufgrund eines Irrtums wird Janko am Tag der Hochzeit freigelassen und reißt das eben vermählte Paar während der Überfahrt über einen Fluss in den Tod. Leib spricht am Grab seiner Tochter das Kaddish Gebet und bricht tot zusammen. Franzos hat auch viele Erzählungen geschrieben, die in einem nicht jüdischen Milieu spielen. Zu erwähnen ist sein Roman, der unter Huzulen, einem wilden Bergvolk in den Karpathen spielt, Ein Kampf ums Recht, eine Art ruthenischer Michael Kohlhaas. Literaturverzeichnis Böhm, Hermann. 1998. ‚Karl Emil Franzos (1848-1904). Der Dichter Galiziens, zum 150. Geburtstag.‘ Katalog der Wiener Stadtund Landesbibliothek. Lim, Jong-Dae. 1981. Das Leben und Werk des Schriftstellers Karl Emil Franzos. Unveröffentlichte Diss. Universität Wien.
Meyers Hand-Atlas. 225 - Dr. Edgar Lehmann 1935, Seite 14b, Südpolen: Galizien
Klaus-Peter Möller HOFFNUNG AUF DEN GEISTESFRÜHLING KARL FERDINAND GUTZKOW (1811–1878) Ein Dorfspitz, der den Mond anbellt Am 10. Januar 1871 wurde Karl Gutzkows Drama Der Gefangene von Metz in Berlin uraufgeführt. Der neue Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, der sein Rezensenten-Amt bisher noch kaum ausgeübt hatte, weil er als Kriegsberichterstatter nach Frankreich und dort in Gefangenschaft und Festungshaft geraten war, aus der er erst wenige Tage zuvor zu einem kurzen Intermezzo nach Berlin zurückkehrte, glaubte sich zu einem gnadenlosen Verriss berechtigt, ja verpflichtet: Wir wollten, wir könnten anders sprechen. Es ist eine peinliche Aufgabe, die uns zufällt. Wir sehen uns einem Manne gegenüber, der vierzig Jahre innerhalb unserer Literatur steht und Jahrzehnte lang die Journalistik beinah völlig, die Bühne zu einem guten Teile beherrscht hat. Das leistet man nicht mit nichts. Eine Kraft muß da gewesen sein. Selbst die Anfeindungen, die sein Schaffen begleiteten (wir erinnern nur an die Arbeiten Julian Schmidts, dessen Literaturgeschichte beinah den Eindruck macht, als sei sie um der Bekämpfung Gutzkows willen geschrieben worden) – wir sagen, selbst die Anfeindungen, die er erfahren, beweisen die Bedeutung des Mannes. Gegen das Kleine und Nichtige richten sich keine Angriffe derart. Aber wie geneigt wir sein mögen, an eine dagewesene Kraft zu glauben, hier in diesem ‚Gefangenen von Metz’ ist sie nicht. Es ist ein unerquickliches Machwerk von Grund aus [...]1
Tief gekränkt, beschwerte sich Gutzkow am 15. Januar 1871 in einem Brief an den Chefredakteur der Vossischen Zeitung Hermann Kletke darüber, dass er „dem wüthendsten, alle Billigdenkenden im Berliner Publikum geradezu erschreckenden Anfall Ihres neuen Theaterreferenten preisgegeben“ wurde und dass der „ehemalige Kreuzzeitungsu Preßbüreau-Mitarbeiter in Ihrem liberalen Organ als Denunciant“ gegen ihn auftrat. Mag sich Herr Fontane für eine solche Methode der Kritik irgend ein kleines literarisches Scandalblatt aufsuchen! Der Voss. Zeitung gebührt ein Referent von Objektivität, Beherrschung seiner persönlichen Rache- und
1
Vossische Zeitung Nr. 12, 12. Januar 1871. In: Fontane Sämtliche Werke, Bd. XXII,1: 25 f.
26 subjektiven Witzgelüste, von maaßvoller u ruhiger Abschätzung des auf der Bühne Gebotenen lediglich nach den Gesetzen der Kunst.2
Klettke antwortete beschwichtigend und bot dem aufgebrachten Dramatiker an, eine Gegendarstellung zu publizieren: Veranlassen Sie einen befreundeten namhaften Literaten eine rein objektive Kritik Ihres Stückes zu schreiben, die, ohne jeden Seitenblick auf die Besprechung von F., lediglich das Drama selbst ins Auge faßt. Ich werde dann diesen Artikel in der Vossischen aufnehmen.3
Von diesem Angebot hat Gutzkow keinen Gebrauch gemacht. Womöglich sah er die Berechtigung der Kritik, die gegen ihn erhoben wurde, ein. Er hatte sich selbst überlebt, war zu einem Fossil einer vergangenen literarischen Epoche geworden, hatte den Zenit seines literarischen Schaffens überschritten. Was Fontane ihm vorwarf, entsprach den Tatsachen, wenn die Vorwürfe in der Form auch zu scharf formuliert gewesen sein mögen. Immerhin hatte sich der noch wenig bekannte Journalist und Schriftsteller Fontane an eine Schlüsselfigur der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts herangewagt. Solch ein „Königsmord“ erregt natürlich Aufsehen. Noch 40 Jahre später erinnerte sich Carl Bleibtreu an diese „Hinrichtung“: „Es stand dem damals obscuren Fontane nicht an, so über einen Gutzkow zu schwatzen.“4 Auch im Freundeskreis wurde Fontane die Schärfe seiner Kritik vorgehalten. Er sah sich zu einer Rechtfertigung gedrängt, zumal bekannt war, dass Gutzkow wegen seiner psychischen Erkrankung schonungsbedürftig war. In seinen über zwanzig Jahre später entstandenen Lebenserinnerungen Kritische Jahre – Kritiker-Jahre, die Fragment geblieben sind und zu Lebzeiten nicht gedruckt wurden, kam Fontane noch einmal auf diesen Vorfall zu sprechen. Jeder verständige Mensch, der mal Kritiker gewesen ist oder noch ist, wird wissen, daß es zu den schwierigsten und peinlichsten Aufgaben des Metiers gehört, oft auch Berühmtheiten, ja, was schlimmer ist, auch solchen, die einem selber als Größen und Berühmtheiten gelten, fatale Sachen sagen zu müssen. [...] ganz schlimm aber wird es, wenn man sich empört, wenn man in Indignation und Wut gerät und einem das Gefühl kommt: ja, wenn du hier nicht das Tollste sagst, so ist das eine Feigheit; du mußt deiner Indignation Ausdruck geben. [-] So lag es für mich, als ich diesen „Gefangenen von Metz“ sah. [...] Ich saß auf meinem Platz und wand mich vor seelischem und physischem Unbehagen. Es mußte dies wohl sehr stark 2 3 4
Rasch und Zand 1995: 54. Ebenda: 55. Ebenda: 51.
27 in die Erscheinung getreten sein, denn als der Vorhang nach dem zweiten oder dritten Akt fiel, ergriff von seinem Parketteckplatz her ein Herr meine Hand und sagte: „Lieber F., wenn Sie morgen darüber schreiben, vergessen Sie nicht, daß Gutzkow ein kranker Mann ist. Oder wenigstens war, sehr krank.“ [-] Der Sprecher war Dr. Max Ring. Es machte einen großen Eindruck auf mich. Ich kriegte doch einen kleinen Schreck und dankte ihm aufrichtig, daß er mir das gesagt. Es half aber nichts, wenigstens nicht viel, und ich kann mir keinen Vorwurf darüber machen. Dann hört alles auf. Sollen immer erst ärztliche Zeugnisse eingefordert werden, so ist es mit aller Kritik vorbei [...] Schlecht ist schlecht, und es muß gesagt werden. Hinterher können dann andre mit den Erklärungen und Milderungen kommen. – Gutzkow war natürlich außer sich. Er beschwerte sich bei der Zeitung, die sich sehr korrekt benahm und ihm eine Entgegnung auf meine Kritik zusagte, die zu widerlegen dann freilich auch dem Kritiker zustehen müsse. Ich habe dies alles erst später erfahren. Er stand davon ab. Ich glaube zu seinem Frommen, denn wiewohl er ein sehr kluger Herr und ein Mann großer kritischer Schärfe war (seine Begabung lag recht eigentlich nach dieser Seite hin), so war ich doch so von dem Berechtigten eines heiligen Eifers durchdrungen, daß ich, glaub’ ich, als Sieger aus dem Kampfe hervorgegangen wäre. Natürlich nur in den Augen einiger Kenner. Die Publikumsmasse geht nach dem Namen und hätte in mir den Dorfspitz gesehen, der den Mond anbellt. 5
Im Anschluss an diese Passage plante Fontane noch eine allgemeine Charakteristik Gutzkows, die er stichpunktartig fixierte: Meine damalige Kritik halte ich noch jetzt für richtig. Meine Meinung über Gutzkow. Parallele mit Hebbel. Dieser ihm unendlich überlegen, weil durch und durch Künstler. An Klugheit waren sie sich wohl gleich. Auch an dichterischer Beanlagung waren sie nicht so verschieden, wie’s manchem erscheinen mag. Gutzkow, den ich immer für einen Nicht-Dichter gehalten habe, war zwar nicht so undichterisch; sieht man das Ganze so von der Ferne an, so hat sein Tun und Wirken beinah was Imponierendes. Es ist viel von ihm gewollt und doch auch beinah viel erreicht worden. Aber die Form, die Art der Arbeit, da beginnt der Nicht-Künstler. Der Künstler in ihm stand weit hinter dem Dichter zurück. Und dazu dieser unglückselige Charakter. Diese echt berlinische Neidhammelei, die’s nicht über sich gewinnen kann, angesichts von etwas Großem oder auch nur Gelungenem zu sagen: „Ja, das ist gelungen“, sondern immer nur nach den Schwächen späht aus erbärmlicher Eitelkeit und Großmannssucht. Er war wirklich eine [?] ... bedeutende, aber zu gleicher Zeit eine ganz unerquickliche Erscheinung. Er hatte wohl ein Dichtertalent, aber kein Dichterherz. Sein Leben war nicht glücklich, konnte es nicht sein.6
Fontane wollte und konnte diesem Schriftsteller nicht gerecht werden. Auffällig ist, dass er Gutzkow, bei aller Anerkennung für seine Leitungen, das dichterische Talent absprach, obwohl er eingestand, 5 6
Fontane 1959-1975, Bd. XV: 391-393. Ebenda: 393.
28 dass er seine Werke gar nicht gelesen habe. An den Verleger Wilhelm Hertz, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, schrieb Fontane am 4. Februar 1879: Mit Ausnahme seiner Stücke kenn ich nicht viel von ihm und müßte mir von Gutzkow-Anhängern vielleicht den Zuruf gefallen lassen: „lies ihn erst“. Aber da liegt gerade der verdammende Punkt. Ein halbes Dutzend mal hab ich ernstlichst den Versuch gemacht, mich in ihn hineinzulesen, aber es ist mir nie geglückt. Ein unbeschreibliches Etwas haftet seinem Stil an, wodurch er ungenießbar wird. Er schreibt, im Ganzen genommen, wohlund richtig-construirte Sätze, die nur den einen Fehler haben, daß man sie nicht verstehen kann. Nur seine Kritiken kann man verstehn, weil er auf diesem Gebiet zu Hause war. So wie er gestalten will, ist es vorbei. Er hätte Leitartikelschreiber werden müssen, oder Rath im Cultusminister [!], ein auf die liberale Seite gefallener Stiehl; aber vom Dichter, der er sein ganzes Leben lang hat sein wollen, hatte er gar nichts. Er hat die deutsche Nation dupirt; in andern Ländern, die mehr natürlichen Sinn für die Künste haben und durch Bildungs-Drill weniger verdummt sind, hätte er 40 Jahre lang eine solche Rolle gar nicht spielen können. Er war ein Hochstelzler, was ein bischen an Hochstapler erinnert und auch soll, denn alles ist Schein, falsch, unächt. Es ist ein wirkliches Verdienst Julian Schmidts auf die vollkommene Hohlheit dieser merkwürdigen Erscheinung in unsrer Literatur hingewiesen zu haben. Sein Name wird bleiben, aber von seinen Werken nichts; vielleicht daß sich eins seiner Stücke („Zopf und Schwert“) noch ein Menschenalter hält. Ich kann des Mannes nicht ohne tiefe Theilnahme gedenken, denn ich kenne kein ähnliches Beispiel von einer in gewissem Sinne glänzenden und bedeutenden, und zugleich doch ganz nutzlosen und schon bei Lebzeiten bei Seite geworfenen Existenz. Mög’ es einem besser beschieden sein.7
Am 16. Dezember 1878 vollendete sich Gutzkows Leben in Sachsenhausen bei Frankfurt. Den Nachruf von Karl Frenzel in der Nationalzeitung8 fand Fontane vorzüglich, nur „zu anerkennend“. Sein eigenes Urteil fasst er in einem Brief an den Verleger Wilhelm Hertz zusammen: Alles an dem Manne war Unruhe, und die Muse bedarf bekanntlich vor allem der Muße, der Ruhe. Er war ein brillianter Journalist, der sich das Dichten angewöhnt hatte und es ähnlich betrieb wie Correspondenzen und Tages-Artikel schreiben; das hält aber die Dichtung nicht aus. Die bedarf mehr Pflege und Liebe. Auerbach sagte mir mal: „die ganze Gutzkowsche Produktion drehe sich um Gutzkow selbst“ – ich glaube, dies ist richtig, und damit ist ihr Todesurtheil ausgesprochen.9
7 8 9
Fontane 1972. Brief vom 4. Februar 1879. Anonym erschienen am 17. Dezember 1878, Abendausgabe. Fontane 1972. Brief vom 17. Dezember 1878.
29 Fontane wollte und konnte Gutzkow nicht gerecht werden. Interessant ist, dass es zunächst so aussah, als sollte er mit seinem Urteil über dessen literarisches Werk recht behalten. Gutzkow fiel dem Vergessen anheim. Erst in der Gegenwart scheint sich etwas daran zu verändern. Arno Schmidt hat diesen interessanten Autor wiederentdeckt und mit ihm eine neue Generation von Germanisten und Lesern. 1965 gab Schmidt seine Sammlung von Essays über in Vergessenheit geratene Schriftsteller-Kollegen unter dem Titel Die Ritter vom Geist heraus. Ganz vergessen war Gutzkow allerdings zu keinem Zeitpunkt. Immer wieder haben Editoren den Zugriff auf einzelne Werke oder Werkkomplexe versucht, und in der Wissenschaft blieb er Untersuchungsgegenstand als bedeutender Autor des Vormärz und zentrale Figur des Jungen Deutschlands. Unter denen, die sich um die Popularisierung und Erforschung dieses Autors bemühten, sei vor allem Heinrich Hubert Houben genannt, der nicht nur mit seinen Editionen in der Reihe Max Hesses Neue Leipziger Klassiker-Ausgaben, sondern auch mit seinen Funden, Arbeiten zu Einzelaspekten und Briefeditionen wertvolle Beiträge geleistet hat. Eine kommentierte Werkauswahl gab Reinhold Gensel 1910 in der Reihe Goldene Klassiker-Bibliothek im Deutschen Verlagshaus Bong & Co. in 12 Bänden heraus, denen er 1912 als Ergänzung noch eine Ausgabe der Ritter vom Geiste in drei Bänden hinzufügte. Zeugnisse des in der Gegenwart neu erwachten Interesses an Gutzkow und seinen Werken sind die 1998 im Verlag Zweitausendeins erschienenen Ausgaben des Romans Die Ritter vom Geiste, hrsg. von Thomas Neumann, und einer Auswahl aus den Schriften, hrsg. von Adrian Hummel. Erstmals wagte ein Editor, nachdem Gensel die Ritter am Anfang des 20. Jahrhunderts neu herausgegeben hatte, Gutzkows umfangreichstes episches Werk in einer gedruckten Ausgabe vorzulegen. Verlag und Editoren wurden belohnt. Die Bände sind vergriffen und erzielen auf dem Antiquariatsmarkt bereits recht gute Preise. Mit der ebenfalls 1998 erschienenen Personal-Bibliographie, einem Koloss von zwei opulenten Bänden, die Wolfgang Rasch in zehnjähriger unermüdlicher Arbeit zusammentrug, wurde die Basis für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Gutzkow geschaffen. Erstmals wurde das Werkes dieses Schriftstellers in seinen gigantischen Konturen überhaupt erfassbar. 10 Auf der Grundlage dieser Bibliographie hat ein Freundeskreis begonnen, Gutzkows Gesamtwerk erstmals vollständig zu edieren. Ein neuer Editionstyp, die Hybrid-Ausgabe, soll die 10
Die Sekundärliteratur ist allerdings nur bis zum Jahr 1880 erschlossen, die Fortsetzung bis in die Gegenwart soll später in einem weiteren Band erfolgen.
30 Vorzüge einer Internet-Edition des kompletten Textes und der als work in progress entstehenden Kommentare mit der Ausgabe von gedruckten Text-Bänden verbinden. 11 „Schmuggelhandel der Freiheit“ Karl Gutzkow war ein vielseitiger Schriftsteller, Erzähler und Bühnendichter, Journalist, Herausgeber, Redakteur, LiteraturOrganisator und -Förderer. Zu seinen großen Leistungen gehört, Büchner entdeckt und seinen Danton sowie weitere Werke aus dem Nachlass herausgegeben zu haben. In einem Brandbrief wandte sich der von polizeilicher Verfolgung bedrohte Büchner am 21. Februar 1835 an den Redakteur und gestandenen Autor Gutzkow. Mit glühenden Worten umriss er seine verzweifelte Situation und beschwor den beinahe Gleichaltrigen um Vermittlung des Manuskripts von Dantons Tod an den Frankfurter Verlag Sauerländer, in dem auch der Phönix erschien, dessen Literaturblatt Gutzkow damals redigierte. Gutzkow erkannte das außergewöhnliche Talent dieses Debütanten sofort und nahm es auf sich, sein Manuskript so zu bearbeiten, dass es zensurfähig wurde und gedruckt werden konnte. Gleichzeitig war ihm bewusst, welche Einbußen er diesem Werk dadurch zufügte. In seinem Nachruf auf Büchner, den er im Juni 1837 im Frankfurter Telegraf veröffentlichte, gestand er später ein: Um dem Zensor nicht die Lust des Streichens zu gönnen, ergriff ich selbst dies Amt und beschnitt die wuchernde Demokratie der Dichtung mit der Schere der Vorzensur. Da fühlt’ ich wohl, wie gerade der Abfall des Buches, der unsern Sitten und Verhältnissen geopfert werden mußte, der beste, der individuellste, eigentümlichste Teil des Ganzen war.12
Am 17. März 1835 schrieb Gutzkow an Büchner, über dessen Lage er durch einen raschen Briefwechsel Aufklärung erhalten hatte: Was Sie leisten können, zeigt Ihr Danton, den ich heute zu säubern angefangen habe, und der des Vortrefflichsten so viel enthält. Glauben Sie denn, daß sich irgend etwas Positives für Deutschlands Politik tun läßt? Ich glaube, Sie taugen zu mehr als zu einer Erbse, welche die offne Wunde der deutschen Revolution in der Eiterung hält. Treiben Sie wie ich den Schmuggelhandel der Freiheit: Wein verhüllt in Novellenstroh, nicht in seinem natürlichen Gewande: ich glaube, man nützt so mehr, als wenn man blind in Gewehre läuft, die keineswegs blindgeladen sind.13 11
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Weitere Informationen unter www.gutzkow.de und im Eröffnungsband der Ausgabe. Gutzkow [1912], Bd. 11: 84. Büchner 1967, Briefe: 549.
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„Schmuggelhandel der Freiheit“, unter der Devise hatte Gutzkow selbst begonnen, sich als Autor auf dem komplizierten literarischen Markt seiner Zeit zu plazieren. 1832 war sein erstes Werk erschienen, anonym, bei Hoffmann & Campe in Hamburg, die Briefe eines Narren an eine Närrin. Dieses Buch eines 20jährigen verriet nicht nur ein ungeheures Wissen und eine ungewöhnliche Belesenheit, sondern auch einen universellen Blick auf die politischen Probleme der Gegenwart und ein enormes schriftstellerisches Talent. Jonathan Kennedy, der Totengräber der Bethlehemskirche des Irrenhauses Bedlam zu London, wird im Vorwort als fiktiver Herausgeber dieser Briefe exponiert, die einem verwirrten Totenkopf entsprungen sind. In einer mondhellen Nacht durch „ein ungewöhnliches Lärmen und Poltern“ aus dem Schlaf geschreckt, sah Kennedy auf dem Gräberfeld zwei Schädel umhertollen, „die sich bald zu necken, bald zu küssen, erst zu verfolgen, dann wieder sich zu nähern schienen.“ Durch einen gezielten Schlag mit seinem Arbeitsinstrument, dem Spaten, machte er dem Spuk ein Ende, spaltete dabei dem einen der beiden Gespenster, das eine Rose zwischen den Zähnen trug, die Hirnschale, während das andere, durch eine Lilie gekennzeichnete, entkam, und fand dabei die 27 Briefe, die im folgenden ediert werden. Es handelt sich stets um die Briefe eines Freundes an seine Freundin oder Geliebte, auf deren Erwiderungen bewusst verzichtet wurde. Die freie Struktur, die Gutzkow dabei fand, war außerordentlich produktiv und wirkt noch heute modern. Beide Partner nehmen in raschem Wechsel die unterschiedlichsten Rollen an, die teilweise abstrakt, mitunter unbestimmt sind, teilweise aus dem geistreichen Spiel mit der literarischen Tradition gewonnen wurden, etwa den Episteln Abälards an Heloise. Unter der Maske des Narren, dessen Schreiben natürlich närrisch und verdreht sein können, gelang dem Autor ein Zeitbild, dessen entschiedene politische Aussagen, um die es ihm hauptsächlich ging, unangreifbar waren für jeden Zensor. „Wer weise sein will, der werde ein Narr in dieser Welt! Ist dies die Art unseres Jahrhunderts, daß, wer sein Vaterland retten will, sich für verrückt ausgeben muß?“14 Ja er benannte die Methode sogar in diesem Werk selbst: Wer nun in der That die Kunst besitzt, durch irgend eine untergelegte Diction, etwa daß er einen Narren an eine Närrin Briefe schreiben ließe, seine Stellung zu den Parteien nur versteckt durch den Schleier des
14
Gutzkow 2003: 204, 14-16.
32 Indifferentismus anzudeuten, der mag sich schmeicheln, hier und da seinen freundlichen Leser zu finden. 15
Was tut es, wenn dieser närrische Briefschreiber sich pausenlos in Widersprüchen verheddert, die doch nur scheinbar sind, in Paradoxa, die wie Zwiebelschalen scharfe Wahrheiten umhüllen. Es bleiben doch Aussagen stehen, die unverhüllt und direkt auf die Intention des Verfassers schließen lassen: Seine Meinung durch die That zu verwirklichen, kann das Zeichen eines ungewöhnlichen, eines kräftigen Geistes sein, sie auch dann zu verwirklichen, wenn eine Gegenansicht vorhanden, ist Kühnheit, und mehr als Kraft. Der Gegenansicht die Gelegenheit nehmen, sich gleichfalls geltend zu machen, ist die strafbarste Tyrannei, und in den letzten Fall kommen die Fürsten immer. Darum konnte aus der Consequenz eines Systems, das die Frömmigkeit oder was weiß ich, und die Aussicht auf den ewigen Frieden in die Schicksale der Völker spielen ließ, nur jene Kette von Ungerechtigkeiten sich entwickeln, die den wahren Frieden und das wahre Glück der Nationen noch in die Aussicht einer wild bewegten, wirren Zukunft verwiesen haben.16
Alle großen und eine große Menge kleiner Zeitereignisse greift er auf und beleuchtet sie von einem unverkennbar demokratischen Standpunkt aus. Kritik an Kirche und Staat, Klage über den Mangel an Freiheit sind zentrale Themen. Durch seine an Hegel geschulte Dialektik und die jean-paulsche Schwärmerei und Metaphorik erzielt Gutzkow zahlreiche, auch vom poetischen Standpunkt gelungene Passagen, wenn auch die Gesamtlektüre bereits für seine zeitgenössischen Leser eine Herausforderung, für die meisten eine Überforderung war. Das Werk war im Sommer 1832 erschienen. Die Einkleidung half nichts, der schlecht verhohlene „Ideenschmuggel“17 blieb nicht unentdeckt, und bereits im Oktober desselben Jahres wurde es in Preußen verboten. Dem Verfasser hat es anerkennende Beurteilungen eingebracht, unter anderem von Menzel, Laube und Börne. Auch mit seinen in der Folgezeit geschriebenen Werken verfolgte Gutzkow den gesellschaftskritischen Ansatz der jungen Generation, der auf Veränderung und Erneuerung brannte. Bereits in diesen Jahren, die noch zu seiner Studienzeit gehörten, steigerte sich seine literarische Produktion zur Eruptivkraft eines mittleren Vulkans. 1833 erschien der Roman Maha Guru bei Cotta in Stuttgart, 1834 gab der Hamburger Verlag Hoffmann & Campe zwei Novellen-Bände 15 16 17
Ebenda: 29, 12-16. Ebenda: 14, 19-31. Ebenda: 122, 34.
33 heraus, denen 1835 die vielbeachtete Sammlung Öffentliche Charaktere folgte, Essays über Zeitgenossen wie Talleyrand, Chateaubriand, Wellington und Rothschild. Gleichzeitig arbeitete Gutzkow für verschiedene Blätter als Korrespondent bzw. Redakteur. Am 12. August 1835 erschien sein dritter Roman im Mannheimer Verlag Löwenthal, Wally, die Zweiflerin. Im Herbst desselben Jahres brachte der Frankfurter Verlag Sauerländer eine Sammlung Soireen, Reisebeobachtungen, Essays und Novellen, darunter der berühmte Sadducäer von Amsterdam. Außerdem gab Gutzkow Schleiermachers Vertraute Briefe über Lucinde heraus, versehen mit einem provokanten Vorwort, das in Kirchenkreisen für Aufregung sorgte. Gutzkow hatte ja selbst u.a. Theologie studiert und kannte die „berlinischen Zionswächter“ und „Vikare des Himmels“ aus eigener Anschauung, die gerade dieses, ihnen unbequeme Werk bei der Herausgabe der Schriften Schleiermachers unterschlagen wollten. Mit dem behaglichsten Gefühl werf’ ich diese Rakete in die erstickende Luft der protestantischen Theologie und Prüderie und weide mich an der Verlegenheit, wenn in das moralische Gesäusel gewandt unterdrückter Leidenschaften und die loyale Politur gesellschaftlicher Bequemlichkeit und Selbstgenughabens plötzlich eine recht derbe, natürliche und witzige Zweideutigkeit fährt.18
Der kastrierten, idealisierten Liebe stellte Gutzkow die wirkliche Liebe gegenüber, die er zu einer Religion erhob, dem misogynen Frauenbild seiner Zeit den Gedanken der Emanzipation, der institutionalisierten Ehe die freie Gattenwahl, der spießigen Selbstgenügsamkeit der Zeitgenossen Leidenschaft, „Streben nach Wahrheit, Enthusiasmus der Schönheit.“19 Im selben Jahr 1835 erschienen auch die ersten dramatischen Versuche Gutzkows, Hamlet in Wittenberg in der von August Lewald herausgegebenen Allgemeinen Theaterrevue und die Tragödie Nero bei Cotta in Stuttgart. Im Oktober schleuderte Gutzkow seinem früheren Mentor Wolfgang Menzel eine Rechtfertigungsschrift entgegen, der ihn wegen seiner Wally angegriffen und zum Generalangriff auf die „unmoralische“ und „antireligiöse“ Literatur geblasen hatte. Die Lawine war aber nicht mehr aufzuhalten. In verschiedenen Ländern war sein Werk bereits verboten, in einigen auch konfisziert worden, und in Mannheim wurde am 16. November ein gerichtliches Verfahren gegen den Autor und den Verleger der Wally eingeleitet, denen Gotteslästerung, Verächtlichmachung des christlichen Glaubens 18 19
Gutzkows [1912], Bd. 10: 158. Ebenda: 158.
34 und der Kirche sowie Darstellung unsittlicher Gegenstände vorgeworfen wurde. Preußen erließ am 14. November sogar ein Verbot sämtlicher Verlagsartikel der Löwenthalschen Buchhandlung und aller Schriften von Gutzkow, Wienbarg, Laube und Mundt, in Gegenwart und Zukunft, wie es ausdrücklich hieß, das später noch gegen Heine ausgeweitet wurde; Börne hatte man, wie Houben lakonisch feststellte, „in der Eile vergessen.“20 Am 30. November erschien Gutzkow vor dem Gericht zu Mannheim, wurde inhaftiert und am 13. Januar 1836 zu vier Wochen Gefängnis verurteilt; die in Untersuchungshaft verbrachten Wochen wurden nicht angerechnet. Damit ist er noch glimpflich davongekommen. Die hysterischen Verfolgungen, die sich gegen die Burschenschaftsbewegung und „Demagogen“ richteten, führten in der Zeit bereits bei geringen Vergehen zu drastischen juristischen Maßnahmen. Fritz Reuter beispielsweise wurde 1833 zum Tode verurteilt, später zu lebenslänglicher Festungshaft begnadigt. Schließlich nach einer siebenjährigen Haftstrafe entlassen, resümierte Reuter voller Humor: Das hätte alles noch viel schlimmer können. Die Verfolgung gegen Gutzkow und die anderen Schriftsteller, die zum Jungen Deutschland gerechnet wurden, war aber schlimm genug. Am 10. Dezember 1835 verpflichtete der Bundestag sämtliche deutsche Regierungen, ihre Straf- und Polizeigesetze in ganzer Strenge gegen die Autoren des Jungen Deutschlands anzuwenden, namentlich gegen Heine, Gutzkow, Laube, Wienbarg und Mundt und die Verbreitung ihrer Schriften zu verhindern. Heine weilte seit 1831 in Paris, seiner konnte man also nicht direkt habhaft werden. Sollte auch Gutzkow den Weg ins Exil nehmen? Er entschied sich bewusst dagegen. Trotz des strengen Verbots setzte Gutzkow seine literarische Tätigkeit in den folgenden Jahren ungebrochen fort. Seine Werke erschien unter dem Pseudonym E. L. Bulwer, oder, trotz der Zensur, auch unter eigenem Namen. Am 18. Juli 1836 heiratete Gutzkow Amalie Klönne, die Stieftochter des schwedischen Generalkonsuls Freinsheim. Am 28. April 1837 wurde sein erster Sohn geboren. Um dieselbe Zeit fand Gutzkow ein leidliches Auskommen als Redakteur, zunächst bei der Frankfurter Börsenzeitung, ab 1837 beim Frankfurter Telegraph, der Ende des Jahres in den Hamburger Verlag Hoffmann & Campe wechselte, so dass Gutzkow 1838 sein Wirken in die Hansestadt verlegte. Als Publizist war er unermüdlich tätig, als 20
Houben: „Karl Gutzkows Leben und Schaffen.“ In: Gutzkow [1908], Bd. 1: 48.
35 Redakteur des Telegraph für Deutschland wurde er zu einer zentralen Institution für eine junge Schriftstellergeneration, darunter Franz Dingelstedt, Karl Goedeke, Levin Schücking, Friedrich Hebbel und Friedrich Engels, der zahlreiche seiner Aufsätze im Telegraph veröffentlichte. Aber auch Julius Mosen, Geibel, Eichendorff, Hermann Kletke, lieferten Beiträge. Aus Büchners Nachlass publizierte Gutzkow im Telegraph die Lenz-Novelle und Leonce und Lena. Mit Heine verwickelte er sich in eine Kontroverse über Börne. Um sich vollständig der literarischen Produktion widmen zu können, zog sich Gutzkow Anfang der 40er Jahre aus der Redaktionstätigkeit für den Telegraph zurück. Der journalistischen Alltagsfron und der literarischen Fehden, in die er sich verstrickt hatte, überdrüssig, wandte er sich dem Theater zu. Und tatsächlich gelang ihm der Versuch, die Bühne mit seinen Stücken zu erobern. In rascher Folge entstanden in den 40er Jahren Tragödien und Komödien, darunter Dramen wie Zopf und Schwert, Der Königsleutnant und Uriel Acosta, die bis zum Ende des Jahrhunderts zum festen Repertoire der deutschen Bühnen gehörten. Durch die Vermittlung von Emil Devrient erhielt Gutzkow 1846 die Stelle als Dramaturg am Dresdner Hoftheater, die vor ihm Ludwig Tieck von 1825 bis 1842 innegehabt hatte. Das war eine Würdigung für Gutzkow, außerdem gab die Stelle seiner Familie eine gewisse finanzielle Sicherheit. Die erhoffte Möglichkeit zu freier literarischer Produktion bot sie jedoch nicht, vielmehr sah sich Gutzkow bald in einem Netz von Machtspielen und Intrigen gefangen, so dass er bald wieder aus dem Amt schied. Die Ritter vom Geiste Wie für alle Zeitgenossen, war auch für Gutzkow die MärzRevolution von 1848 ein einschneidendes Erlebnis. Für ihn brachte das Jahr aber auch tiefe persönliche Erschütterungen. Am 22. April 1848 starb seine Frau. Auch sein Verhältnis zu Therese von Bacheracht, die er während seiner Hamburger Jahre kennengelernt hatte, zerbrach in dieser Situation. Gutzkow vermochte nicht, der langjährigen Freundin die Hand zum ehelichen Bund zu reichen. Therese von Bacheracht verehelichte sich noch im Sommer desselben Jahres mit Heinrich von Lützow und ging mit ihm nach Java, wo sie bereits 1852 starb. Gutzkow heiratete am 19. September 1849 eine Cousine seiner ersten Frau. Bis in die tiefste Seele aufgewühlt, entlud sich sein Schaffensdrang in einem unvergleichlichen Werk, das er in rasendem Eifer niederschrieb. Der Vulkan ist zu einem Riesen geworden, dessen Leuchtkraft das ganze Firmament erhellt. Mit
36 ungeheurer Eruptivkraft schleudert er einen Roman hervor, der nach seinem Abschluss neun Bände mit über 4000 Seiten umfassen sollte. Am 7. Juli 1850 begann der Abdruck der Ritter vom Geiste in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, im Herbst desselben Jahres erschienen die ersten Bände, der abschließende 9. Band wurde im November 1851 ausgeliefert. Bereits 1852 erschien eine zweite Auflage, in den folgenden Jahren kamen immer wieder neue Auflagen und Ausgaben auf den Markt. Ein „Zeitgemälde“ wird das Werk bereits im Verlagsvertrag genannt, den Gutzkow am 19. April 1850 mit dem Leizpiger Brockhaus-Verlag abschloss. Alle Hoffnungen und Ideale, die zur Erfüllung drängten, aber auch die Spannungen und Nöte seiner Zeit hat Gutzkow in diesem Roman zu einem einzigartigen Zeitbild verdichtet. Die Kritik ist gespalten. Schon nach dem Erscheinen des ersten Bandes erheben sich Stimmen, die das Werk und seinen Autor verurteilen, der Lächerlichkeit preiszugeben suchen. Aber es finden sich auch Rezensenten wie Max Ring, der schrieb: „Wir besitzen jetzt keinen deutschen Roman, der sich mit dieser Schöpfung messen kann.“21 Alles an diesem Roman ist bewunders-, oder doch wenigstens staunenswert, die Komposition, das Ensemble von Figuren, das sämtliche Gesellschafts-Schichten erfasst, vom Subproletariat bis hinauf zum König, das erzählerische Talent, die glückliche Verbindung einer spannenden Handlung, die den Leser in den Bann schlägt und seine Lektüre vorantreibt, mit prononciert vorgetragenen Aussagen zur zeitgenössischen Gesellschaft, Kultur, Politik, die ideelle Verknüpfung von Fragen der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft. Gestützt auf alte Dokumente, versuchen die Brüder Siegbert und Dankmar Wildungen, durch einen Prozess das Millionen-Erbe des Tempel- bzw. Johanniterordens, einen Gebäudekomplex in Berlin, zu gewinnen, um aus diesem Besitz einen Bund Gleichgesinnter zu finanzieren, der, nach dem Modell der Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts, von innen heraus auf die Veränderung der Gesellschaft wirken soll. Dabei werden sie in die intrigenreiche Handlung um das kleine Fürstentum Hohenberg verwickelt, in dem der junge, in Frankreich von den Ideen der frühen Sozialisten ergriffene Fürst Egon einen Musterstaat aufbauen will. Es gelingt ihnen, das gerichtliche Verfahren zu gewinnen, doch die Wertpapiere, auf die sich so große Hoffnungen gründeten, gehen während des ersten Bundestages der Ritter vom Geiste in einer Brandkatastrophe unter. Aber es ist größeres gewonnen, die ersten Freunde 21
Max Ring: „Die Ritter vom Geiste.“ In: National-Zeitung. Berlin, Nr. 236, 22. Mai 1851. Hier zitiert nach Neumann-Hummel. Materialien: 294.
37 haben sich zum Bund gefunden, der einmal die Menschheit umspannen soll und dessen segensreiches Wirken in der Zukunft Früchte tragen wird. Aufgelöst in von Figuren vorgetragene Positionen, finden sich in dem Roman zahlreiche bemerkenswerte Aussagen über die Gesellschaftsform, glühende Utopien für die Zukunft der Menschheit, philosophische Reflexionen, ökonomische Betrachtungen, Anspielungen auf politische Tagesereignisse, aber auch Diskurse über Liebe, Erziehung, Karrierismus, Bürokratie, das Verhältnis von Staat und Kirche, die Rolle der Kunst. Der Künstler soll nicht mehr Sklave des Überflüssigen sein und dem Luxus dienen, sondern „Priester des Volkes, berufen und geweiht vom Genius des Vaterlandes“. 22 Kunst ist eine Notwendigkeit, der Staat soll sie in seine Verantwortung nehmen. Und Kunst entsteht nicht frei von den gesellschaftlichen Verhältnissen. „Solange noch dem Überflüssigen die jammervolle Nichtbefriedigung des Nothwendigen gegenüber existiert, solange ist auch die Kunst zur Gesellschaft schief gestellt.“23 Die Zeitereignisse haben es an den Tag gebracht: Der Staat hat versagt, die Gesellschaft, die Fürsten sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Nur durch einen universellen Bund kann die Menschheit gerettet werden, einen Bund der Liebe, nicht der Macht, der auf einfache menschliche Wahrheiten begründet ist und in dem sich eine neue Aristokratie des Geistes formiert. Modelle solcher Geheimbünde liefern die Templer, die Johanniter und die Freimauerer. Die Ritter vom Geiste sind die neuen Templer. Sie haben den Tempel zu schützen und zu bewachen, den die Menschheit zur Ehre Gottes auf Erden zu erbauen hat. Ihre Waffe ist der Geist. Ihr Leben ist die innere Mission eines Kreuzzuges gegen die Feinde dieses Gottestempels. Der Geist als Lehre ist die Wissenschaft. Der Geist als Glaube ist die Gesinnung. Den Geist, der dem Verstande entstammt, kann Niemand bannen, Niemand zum einheitlichen Gedanken eines Bundes machen wollen. Der Geist aber, der dem Herzen entstammt, ist der Wecker zu den edelsten Verpflichtungen.24
Jeder kann in diesen Bund aufgenommen werden, unabhängig von seiner Religion, seinem Stand, seiner Weltanschauung. Ich grüße dich, Bruder, Mensch, Freund in dem großen Geist, ob er nun Gott, oder Allah oder Lama oder Jehova heißt. So sollen wir jeder uns verwandten edlen Intelligenz unsichtbar das Zeichen der Ritterschaft vom
22 23 24
Gutzkow 1998, Buch 3, Kap. 10: 967. Ebenda: 966. Ebenda, Buch 6, Kap. 10: 2217.
38 Geiste aufheften und dann ihn wandeln lassen seiner Wege. Sie führen schon zusammen zu einem Ziele!25
Die Gründer dieses Bundes verfolgen ein Konzept des Wirkens in der Zeit. Ihre Ideen sind weitreichend. Sie setzen sich ein für die Grundrechte der Menschen, Befreiung und „Heiligung der Arbeit“,26 Meinungs- und Pressefreiheit, eine neue Religion, eine neue Politik, ein neues ökonomisches System, eine neue Pädagogik. Durch die Überzeugungskraft ihrer Ideen wollen sie die Erneuerung der Gesellschaft bewirken. Ein schwieriges Unterfangen, ein Prozess, der nur in langen Zeiträumen und nur gegen den Widerstand der konservativen Kräfte zu erreichen sein wird. Aber sie sind voller Hoffnung. „Verzagen wir nicht! Es kommt ein Geistesfrühling!“27 Lenau hatte dieses Wort erfunden. In seinem Gedicht auf Jan Ziska schrieb er: Frühling, schönster Held auf Erden! Wonniglich sind deine Kriege Gegen starre Todesmächte, Wie holdselig deine Siege! Lenz, wie dich und deine Wonnen Stürme zur Nachtgleiche melden, Hat dein Bruder Geistesfrühling Sich vorausgesandt den Helden.28
Lenau erzählt in diesem Gedicht, wie der Heerführer der Hussiten starb, unüberwunden und unversehrt, mit der Hoffnung auf das Fortwirken seiner Taten in der Zukunft. Auch die Ritter vom Geiste, die mit ihren Ideen noch ganz am Anfang stehen, sind zuversichtlich. „Verzagen wir nicht! Es kommt ein Geistesfrühling!“ Gutzkow ist sich bewusst, welche Rolle die Literatur in dem Prozess der gesellschaftlichen Erneuerung spielen kann: Die äußere Welt ist durch Künstlerhand allein nicht zu ändern. Laßt vorläufig unsere Minister und die Soldaten dafür sorgen! Aber die innere Welt, die, welche Jeder in seiner Brust trägt, die kann schon eine umfassende, in allen Höhen und Tiefen des Lebens aus einem Gesichtspunkte betrachtete und eine festbegründete sein. Diese Allseitigkeit war mein Ziel.29 25 26 27 28 29
Ebenda, Buch 8, Kap. 7: 2893. Ebenda, Buch 1, Kap. 8: 190. Ebenda, Buch 8, Kap. 8: 2920. Lenau 1970, Bd. 1: 06, 408. Gutzkow 1998, Vorwort: 11.
39 Einen Bund der Ritter vom Geiste, wie er ihn im Roman konzipierte, konnte Gutzkow im Leben nicht begründen. Nicht durch seine journalistische Arbeit, der er sich in den Folgejahren als Redakteur der erfolgreichen Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd wieder zuwandte, nicht mit seiner Anstellung als Sekretär der SchillerStiftung. Einsam und verbittert, gequält von einem Nervenleiden, wurde er 1865 nach einem Selbstmordversuch in die Heilanstalt St. Gilgenberg eingewiesen. Nach der Entlassung im Dezember desselben Jahres setzte er sein ruheloses Leben fort. Seine literarische Produktion hielt unvermindert an, steigerte sich womöglich noch in den 50er und 60er Jahren. 1858 bis 1861 entstand sein zweiter großer Gesellschaftsroman Der Zauberer von Rom, in dem er seinen unverkennbar in der preußischen Metropole angesiedelten Rittern vom Geiste ein facettenreiches Gemälde des katholischen Südens hinzugesellt. „Wäre Gutzkow Katholik gewesen – sein Roman brachte ihn sogar in den Verdacht einer Konversion – er wäre ein Nationaldichter Westdeutschlands geworden [...]“30 Obwohl Gutzkow vom ärztlichen Standpunkt als geheilt angesehen wurde, litt er bis ans Lebensende an den Folgen seiner Erkrankung. Schlaflosigkeit quälte ihn, um überhaupt etwas Ruhe zu finden, betäubte er sich mit Chloral. In der Nacht vom 15. zum 16. Dezember 1878 warf er eine Lampe um und erstickte in dem entstehenden Schwelbrand im Qualm. Hackert, die merkwürdigste Gestalt aus seinem Roman Die Ritter vom Geiste, in der sich sämtliche Erzählstränge dieses Werkes auf eigentümliche Weise kreuzen, hatte auf ähnliche Weise den Tod gefunden. Während sich die Ritter vom Geiste zu ihrem ersten großen Bundes- und Erkennungstag in der Kirchenruine auf dem Tempelstein, einer alten Kommende des Tempelordens, versammeln, bringt Hackert schlafwandelnd den Schrein, der das Vermögen des alten Tempelordens einschließt, in dem überfüllten Gasthof in dem nahegelegenen Buchau in Sicherheit und setzte dabei mit der Lampe das Stroh unterm Schindeldach in Brand. Auf dem Schrein, den er um jeden Preis bewachen will, schläft er ein und kommt so in den Flammen, die das Haus verzehren, um. War der Schrein und sein Inhalt die irdische Hoffnung edleren Strebens für das Wohl der Menschheit, war Hackert, wie einst Dankmar an jenem Abend vor dem Fortunaball gesagt hatte, das Volk in seiner dämonischen, nicht guten, nicht bösen, räthselhaften und unheimlichen Sinnennatur, war der Aufschwung zu einer endlich reinen That in diesem Wesen Krankheit eher, als die edle Blüte der Gesundheit, so lagen die Gedanken nahe [...] daß der 30
Houben: „Karl Gutzkows Leben und Schaffen.“ In: Gutzkow [1908], Bd. 1: 108.
40 Geist ein Phönix wäre, der nur aus den Flammen eines irdischen Nestes zur reinen Sonnenhöhe aufsteigen könne, und daß da sterben müsse der Schlacke, was zum Lichte wolle.31
Literaturverzeichnis Büchner, Georg. 1967. Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Neue, durchgesehene Ausgabe. Hrsg. von Fritz Bergemann. , 7. Aufl., Leipzig: Insel-Verlag Anton Kippenberg. Fontane, Theodor. 1959-1975. Sämtliche Werke. Hrsg. von Edgar Gross, Kurt Schreinert u. a. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung. Fontane, Theodor. 1972. Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 18591898. Hrsg. von Kurt Schreinert vollendet u. m. e. Einführung versehen von Gerhard Hay, Stuttgart: Klett. [Frenzel, Karl.] Eine furchtbare Ernte hält in diesem Jahre der „Würger“ Tod ... [Nachruf auf Gutzkow]. In: National-Zeitung. Berlin. Nr. 594, 17.12.1878, Abendausgabe. Gutzkow, Karl. [1908]. Karl Gutzkows ausgewählte Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Heinrich Hubert Houben. Leipzig: Hesse. Gutzkow, Karl. [1912]. Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Hrsg. von Reinhold Gensel. Berlin: Bong. Gutzkow, Karl. 1998. Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern. Hrsg. von Thomas Neumann. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, mit einem Kommentarband, hrsg. von Thomas Neumann und Adrian Hummel. Gutzkow, Karl. 2003. Briefe eines Narren an eine Närrin. Hrsg. von R. J. Kavanagh. Münster: Oktober Verlag (Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Hrsg. vom Editionsprojekt Karl Gutzkow: Exeter und Berlin, Erzählerische Werke, Bd. 1). Lenau, Nikolaus. 1970. Sämtliche Werke und Briefe. Auf der Grundlage der historisch-kritischen Ausgabe von Eduard Castle mit einem Nachwort herausgegeben von Walter Dietze, Bd. 1-2, Leipzig, Frankfurt a.M.: Insel. Rasch, Wolfgang und Bernhard Zand [Hrsg.]. 1995. ‚Ein unbekannter Brief Gutzkows über Theodor Fontane.‘ In: Fontane Blätter 60: 47-60.
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Gutzkow 1998, Buch 9, Kap. 14: 3586f.
Martin A. Hainz MEHR ALS EIN SYNDROM – ZU LEOPOLD VON SACHER-MASOCH (1836 – 1895) I. Ehe Krafft-Ebings Werk die Passionen und Inszenierungen SacherMasochs zum Gegenstand einer medizinisch-gerichtlichen Diskussion machte, erfreuten sich dessen nicht nur delikate Texte eines beachtlichen Interesses - ihr Bekanntheitsgrad motivierte die Benennung einer Perversion nach jenem Werk, dem dieser Zug in einem Konversationslexikon von 1906 noch als Pikanterie ausgelegt wird: Sacher-Masoch, Leop. von, Romanschriftsteller, geb. 27. Jan. 1836 zu Lemberg, lebte in Graz, in Pest und Leipzig, seit 1890 in Lindheim, gest. das. 9. März 1895; schrieb zahlreiche meist pikante (s. Masochismus) Romane, Novellen, Schilderungen (»Falscher Hermelin«, 5. Aufl. 1894; »Der neue Hiob« 1878; »Naturalistische Kabinettsstücke«, 4. Aufl. 1893, u.a.).1
Die Folgen der Benennung erwiesen sich indes als für den Autor desaströs – der Begriff zehrte das Werk, dem er sich verdankte, auf. Der Autor geriet schließlich anders als de Sade in Vergessenheit; viele Zeugnisse und Dokumente fielen der scheinbaren Unwichtigkeit Sacher-Masochs zum Opfer; schnoddrig kommentiert den Verlust vieler Schriftstücke aus Sacher-Masochs Feder Koschorke mit der Bemerkung, jener sei „gründlich gestorben“2, was nicht geschmackvoll scheinen mag, doch nach dem Zurückschrecken der Leser vor dem Namensgeber der Perversion, die längst bekannter als der Autor ist, die Situation treffend charakterisiert. Bortenschlager, Daten deutscher Dichtung und viele andere literaturgeschichtliche Überblicke wissen zu diesem Verrufenen nichts.3 Man tat Sacher-Masoch damit in mehr als einer Hinsicht Unrecht; zum einen beschränkt sich sein Werk keineswegs auf jene erotischen Motive, für die es bekannt wurde, zum anderen ist die natürlich zentrale Obsession Sacher-Masochs doch eingehender zu 1 2 3
Brockhaus 1906, II: 583. Koschorke 1988: 177. „Überblickt man Autorenlexika der Gegenwart, so fällt auf, daß renommierte Standardwerke den Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch aussparen.“ – Rudloff 1994: 23.
42 untersuchen, zumal sie bei ihm eine Schöpfung und kein Verhängnis ist; von der dieser erotischen Spielart eigenen Inszenierung schrieb Deleuze: Es „gibt keine traurige Schöpfung“4. II. Es sei zunächst darauf eingegangen, was angesichts der Texte SacherMasochs kaum einem mehr in den Sinn kommt. Das ist zum einen seine strikte Opposition zu aller Verherrlichung des ruralen Lebens, ehe diese noch so bedenklich scheinen konnte, wie sie es heute, da der, dessen „Augen [...] blau (sind)“5, für uns auch als der brutalnaive Bauernbursch kenntlich ist, sein muss.6 So bekämpfte Sacher-Masoch, als er in Graz weilte, wo er das Monatsheft Schwarze Punkte herausgab, „das vorherrschende deutschtümelnde Kunstklima um 1880, insbesondere den jungen Peter Rosegger“7. Seinen kosmopolitischen Standpunkt erkennt man aber auch in seinen Beschreibungen der jüdischen Gemeinschaft in Galizien. Er galt „als der einzige nichtjüdische Autor von Ghettogeschichten aus Galizien“8, wobei zu bemerken ist, dass er überzeugt war, nichtjüdisch zu sein, seine Großmutter mütterlicherseits aber wahrscheinlich doch Jüdin war – gleichviel, ob dies richtig oder falsch ist, jedenfalls schilderte er die Juden a) von außen und b) frei von jenem Antisemitismus, der sonst zu seiner Zeit immer wieder als salonfähig galt.9 Die Schilderung des Juden ist bei ihm freilich nicht nur der Realität verpflichtet, auch nutzt Sacher-Masoch die Schilderung des Galiziers, um für die humane Habsburger Monarchie einzutreten. Hier ist einzuräumen, dass die Darstellung des Galiziers als homo habsburgiensis (wie die Humanität des österreichischen Kaiserreichs) das Produkt einer Propaganda wider den die Monarchie zerstörenden Nationalismus ist.10 Allenfalls auf einem Umweg hat sich dieses Reich und vor allem diese Region wider – ursprünglich auch progressive und nicht negative – Nationalismen zur „Hochburg der Humanität“11 entfaltet. 12 Darüber betrügt sich auch Sacher-Masoch nicht, der unter anderem „Missbräuche der bestechlichen österreichischen Beamten 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Deleuze 2003: 194. Celan 1986, I: 41 u. III: 63. Vgl. Adorno 1997: 430. Weibel 2003: 168. Klanska 2002: 194. Vgl. ebenda: 194f. Vgl. Hainz 2002: 8. Rumpler 1997: 15. Vgl. auch Musil 1995: 33.
43 bei der Durchführung des Erlasses Kaiser Joseph II. von 1787, kraft dessen die Juden Familiennamen annehmen müssen“13 , zur Kenntnis nahm und auch zur Sprache brachte. Schon der kurze Blick zeigt also, dass Sacher-Masochs Werk Perspektiven, die interessant wären und zugleich doch unbeachtet blieben, aufweist; er zeigt ferner die Unbestechlichkeit von SacherMasochs Blick, der Stereotypen kaum duldete und für die Verantwortung eines lebendigen Geistes eher als für Konzepte von Eigentlichkeit eintrat. III. Diese Qualitäten wirken auch in jenen Texten, die sehr wohl in einem Bezug zur erwähnten Pikanterie stehen. So schreibt Sacher-Masoch, der 1836 in Lemberg geboren wurde: „Es herrschte an dem Tage eine sibirische Kälte und so wäre vielleicht eine Erklärung für meine Vorliebe für Pelzwerk gefunden [...]“14. Das Verspielte, das Moment der Inszenierung, es prägt zumindest so sehr wie die Faszination der „Wildheit von Menschen und Landschaft“15, die Sacher-Masoch erwähnt, sein genuin erotisches Werk. Und es prägt nicht nur sein erotisches Werk, vielmehr auch sein Liebesleben. So ist festzuhalten, dass Sacher-Masoch immer wieder Werk und Leben sehr ähnlich gestaltet, prinzipiell „seine intimen Neigungen […] zu einem Literaturereignis“16 macht, vor allem gestaltet er sein Umfeld für seine Schriften – zum Beispiel, als er die Affäre mit Fanny von Pistor „schon unter dem Leitgedanken ihrer schriftstellerischen Auswertung eingeht.“17 Im Vertrag zum Liebesspiel heißt es, sie müsse „ihm täglich 6 Stunden für seine Arbeit einräumen“18, an deren Ende das hier besprochene Buch steht.19 Seine Schriften sind einer Poesis, nicht einer Mimesis der Erotik verpflichtet, das Leben folgt seinen Texten – oder hat ihrer Ermöglichung zu dienen.
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Klanska 2002: 199. Leopold von Sacher-Masoch im Nachlaß, zit. in: Koschorke 1988: 7. Ebenda: 27. Ebdenda: 7. Ebdenda: 90. Sacher-Masoch, 1980: 139; in der Folge werden im Text die Seitenzahlen der Ausgabe angegeben. Vgl. zur Vita ferner Farin et al., 1987, passim.
44 IV. Damit ist man schon im Zentrum dessen, wofür Sacher-Masoch beoder doch verkannt ist. Der Masochismus jedenfalls dessen, nach dem er benannt wurde, ist nicht etwa ein pathologisches Phänomen, sondern eine raffinierte Inszenierung rund um die femme fatale, die dazu und zur scheinbaren Sadistin erst im Fluss der Worte ihres ebenfalls scheinbaren Opfers wird.20 Deren bekannteste Vertreterin ist jene Wanda aus Venus im Pelz, von der das Opfer hernach sagen wird: „Hätte ich sie nur gepeitscht!“ (S.138) Wanda entpuppt sich in Sacher-Masochs Geschichte allem Anschein nach als femme fatale. Sie erweist sich weiter als Sadistin, die das ihr angetragene Verhältnis schamlos ausnutzt. Ist diesem Sich-Zeigen aber zu trauen? „Masoch war Masochist gewesen, also wollte man […][Wanda] als Sadistin sehen. Aber das ist vielleicht eine falsche Voraussetzung“21, schreibt Gilles Deleuze, was freilich die Vita des Verfassers betrifft, doch durch die enge Verwobenheit von Fiktion und Realität auch den Text berührt. Sacher-Masoch hat sich mit seiner Geliebten Fanny von Pistor photographieren lassen: zu ihren Füßen kniend. 22 Von dieser Photographie ausgehend stellt sich die für den Text bedeutsame Frage, ob die Frau Täterin sei – oder das Lassen und Zulassen eine dialektische Täterschaft darstelle. Wieviel Anteil hat das Wesen des „furiosen Mannweibs“23 am Bilde? Ist die klassische femme fatale eine Erfindung dessen, der an ihr lustvoll leidet? Quält sie? Lässt er sich quälen? Die Differenz scheint gering, scheidet aber Inszenierung und reale Hörigkeit. Sie scheidet das masochistische Setting von der Besessenheit für die übermächtige Frau, die in ihrem Sadismus, wie sich zeigt, mit den Lüsten des Masochisten nicht oder kaum kompatibel ist –„zwei irreduzible Stämme”24 also. Der Auftritt der gefürchteten und angebeteten Dame ist beeindruckend. Das „rote Haar“, „ihre Augen wie grüne Blitze“ (S.24), all das legt Dämonie nahe. Kontrastreich, auffallend, so ist ihr Äußeres, das ihr Charisma andeutet. Die „sanfte Gewalt“ (S.24) dieser Erscheinung wirkt nicht nur auf Severin. Man liest, „daß ihre Locken wie rote Flammen emporschlugen“ (S.25), wie das Feuer wirken, das 20 21 22 23 24
Vgl. zum Problem der Erotik bei Sacher-Masoch auch Hainz 2004: passim. Deleuze 1980: 165. Vgl. Koschorke 1988: 90. Ebenda 39. Deleuze 1980: 169; vgl. ebenda: 169ff.
45 des Teufels Element ist. Ihre „kleinen, weißen Zähne“ (S.29)25 sind bedrohlich; ihre Hervorhebung erinnert an das Extrem der Spinnenfrau Clarimonde bei Ewers – es scheine, „als ob die kleinen Zähne zugespitzt wären wie bei Raubtieren.“26 Wanda ist katzenhaft, was nicht nur ihre Launenhaftigkeit betrifft: „Ich glaube nicht, daß ich einen Mann länger lieben kann – als – […] einen Monat vielleicht“ (S.33f.), sagt sie zu ihrem Anbeter, sie – die in ihrem ganzen Wesen den felidae nahesteht. Fast rechtfertigt sie die Annahme, ihr fehle das Ich; das Fehlen des Ichs wird gerne als der Natur und damit der Frau zugehörig gesehen. Differenziert betrachtet Kierkegaard die Begriffe des unschuldigen Schönen und des reflektierten Interessanten.27 Für die vom Schmachtenden in Anspruch genommene Tradition brauchbarer ist der aus dieser Differenz weitreichende Konklusionen ableitende Weininger, der schließlich von der Annahme eines intelligiblen Ichs bei der Frau abrät: „Das absolute Weib hat kein Ich.“28 Damit ist Severins erotischer Nerv bzw. der Sacher-Masochs getroffen. „Eine Frau, die[…]einen Pelz trägt […] ist also nichts anderes als eine große Katze“ (S.44), bemerkt Wanda selbst. Auch die Bemerkung „Gewalt macht übermütig.“ (S.49), die Wanda Severin nebenbei hinwirft, ihr leidenschaftlicher Biss (S.56) und zahllose Flagellationen (vgl. S.51ff., 73, 90, 110, 131ff.) nicht nur Severins, sondern auch des Malers, all das lässt den Schluss zu, Wanda sei „die kühne geniale Kurtisane“ (S.43), als die Protagonist und Autor sie sich erträumen. Sie ist der flammende Gegenpol zur „eiszeitliche(n) Moderne“29, so könnte man es ohne negative Konnotate formulieren. Der Name Wanda weist, so sei nebenbei erwähnt, auf eine polnische Abstammung hin30, der Topos der „polnische(n) Gräfin“, die als eine „amazonenhafte, geheimnisvolle, leidenschaftliche Frau“31 charakterisiert ist, lebt hier auf, was an Nietzsches Denken nun wirklich unübersehbar erinnert: Er sah die wünschenswerteste Existenz im Leben als „polnischer Edelmann“32.
25
26 27 28 29 30 31 32
Was es mit den Zähnen auf sich hat, erklärt Kierkegaard: „eine Leibwache, die sich hinter der verführerischen Weichheit der Lippen verbirgt.“ Kierkegaard 1993: 369. Ewers s.a.: 341. Vgl. Kierkegaard 1993: 394f. Weininger 1980: 240 (im Original hervorgehoben). Koschorke 1988: 94. Vgl. Drosdowski 1968: 213. Koschorke 1988: 70. Montinari 1982: 120.
46 Nietzsche sieht in diesem ein Urbild der Vitalität, die auch SacherMasoch fasziniert. Diese Vitalität macht die Frau zum schillernden Geheimnis, zum Rätsel, dessen Lösung die Fähigkeit zum Neuen ist, also die Frage selbst. Schwanger erscheint darum bei Nietzsche Zarathustra.33 Seine „Tiefe […] glänzt von schwimmenden Räthseln und Gelächtern“34 – er ist der Gebärende. Es ist somit untertrieben, die Frau als „das gefährlichste Spielzeug“35, wie es bei Nietzsche heißt, zu sehen – jedenfalls, wenn man sich nicht Rechenschaft darüber ablegt, welche Macht das Spiel als Hort des Möglichen hat. „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“36 – der Rat des alten Weibleins hat wenig mit dem darin zuweilen gesehenen Geschlechterkampf zu tun; vielmehr braucht der Mensch, der sich einem sphinxartigen Unwesen, das er selbst sein könnte, nähert, offenbar Rüstzeug, um ihm ein auch nur annähernd gleichwertiges Gegenüber abzugeben. Oder bringt er vorausblickend die Peitsche, damit die Frau ihn damit züchtige? Im Text wird nun vor dieser wundervollen und zugleich bizarr anmutenden Hexe, diesem „gespenstische(n)[s], sinnberückende(n)[s], vampirhafte(n)[s] Wesen“37 Severin zum „Don Quijote der Liebe“38 – oder in der vollen Härte des Werkes: zeigt seine „Hundenatur“ (S.68), was weit unromantischer klingt. Zweifellos treffen dagegen die „Hauptmerkmale des intellektgesteuerten Don Juan“39 auf Wanda zu: „ein gewisses Maß geistiger Fähigkeiten, […] eine Vorliebe für das Spiel der Verführung und […] das Bedürfnis nach Beiwerk“40, das hier recht pikant ausfällt. V. Doch welchen Beitrag leistet Severins Wesen? Zuallererst ist er als derjenige, der Wanda verfällt, nicht unschuldiges Opfer, denn anders als die klassische femme fatale treibt Wanda ihn nicht als Ahnungslosen in ein unerwartetes Geschick. Severin unterschreibt und besiegelt somit sein Schicksal – oder auch nicht, da das mündige Rechtssubjekt, das für den Vertrag konstitutiv doch in ihm ausgelöscht wird, in selbstbestimmter Auflösung in ein juristisches Paradoxon 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Nietzsche 1993, IV: 84. Ebenda: 150. Ebenda: 85. Ebenda: 86. Koschorke 1988: 79. Ebenda: 74. Weinstein 1990: 56. Ebenda.
47 führt. (vgl. etwa S.86ff.) Das Gesetz dieses Vertrags ist von Deleuze erkannt worden – und nebenbei der Geist jeden Gesetzes: „Das Gesetz kann gar nicht anders als mit Ironie und Humor gedacht werden.“41 Derrida schreibt, es sei das „Gesetz […] verboten“42 – der Mensch könne ihm entgegentreten, sei jedoch nicht in der Lage, in es einzutreten, dürfe es nicht sein, da „Freiheit […] als Selbst-Verbot“43 des Gesetzes in sich trägt, was Gesetz im Sinne seines Anspruchs sein kann: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten“44, sagt der Türhüter dem Mann, der desgleichen nicht in das Gesetz eingelassen ward. Den Humor, das zu verstehen, hat der Masochist, dem die Ästhetik, die der Sadist vernichtet, lieb ist. 45 Doch diese Ästhetik als omnilatenter Gedanke stört zugleich jegliche Anbetung, allen Ästhetizismus. Und er verbleibt als zuweilen spürbarer Sprung, gegen den anzufechten die elegant ineinander gestellten Rahmen zeitigt, die nur scheinbar eine progressive Fiktionalisierung bewirken, in Wahrheit aber die Authentizität des Textes stützen. „Wenn sie je meine Herrschaft nicht mehr ertragen könnten, […] dann müssen Sie sich töten, die Freiheit gebe ich Ihnen niemals wieder.“ (S.141) Diese Ankündigung klingt schon nach dem Vertrag, den das Opfer aufgesetzt hat. Der „weibliche Henker im Masochismus kann gar nicht sadistisch sein“46, denn der Sadist zerrisse den Vertrag47, da die Lust, die er empfindet, darin begründet ist, ohne Rücksichten gerade jene zu quälen, die nicht – und schon gar nicht in Paragraphen und Klauseln – einverstanden sind. Marquis de Sades Dorothea zu quälen, das macht in Justine den sie Umgebenden keine rechte Freude, da unter Schmerz vor Lust „die Hure sogleich sich entladet.“48 Derlei und die Lust Severins bei Sacher-Masoch reizt den Sadisten wenig oder gar nicht, hingegen ist es ein Vergnügen, eine Frau, die in den Wehen liegt, per missglücktem Kaiserschnitt samt ihrem Kind zu Tode zu martern. 49 Das, was Böhme das Phantasma der „phallischen Mutter“50 geheißen hat, würde sich ein Masoch nicht wählen, würde ferner sich einen Masoch nicht wählen. Das 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Deleuze, 1980: 232 vgl. ebenda: 235. Derrida 1992: 67. Ebenda. Kafka 1989: 121. Vgl. Deleuze 1980: 278. Ebenda: 194. Vgl. ebenda: 176. Marquis de Sade 1990 : 454. Vgl. ebenda: 174ff. Böhme 2002: 29.
48 Arrangement gibt dies nur vor – wie Sacher-Masoch in der überarbeiteten Fassung der Venus im Pelz, in der die Anklänge jener Ambivalenz des Spiels getilgt werden sollen; bezeichnend ist etwa, dass das Beiwerk nun nicht nur Severins Sache ist, sich die grausame Fürstin als gleichfalls von Kindheit an von derlei fasziniert erweist.51 Was aber will das masochistische Opfer? Es ist die größte Macht, nämlich: die Definitionsmacht. Das Treiben des Masochisten ist ein absichtsvolles Spiel. Alle Fäden laufen bei ihm zusammen, der schon darum kein „nihilistischer Ästhetiker“ (S.106) (ne hilum) sein kann. Er definiert sich als Opfer und das Gegenüber als Täter; ihn bindet das Gesetz, das er selbst formuliert, das Gegenüber aber ist durch die Moral gebunden, die, indem sie nicht schriftlich vorliegt, anders als das Gesetz ihrem Täter integriert wirkt. „Das Gesetz kann gar nicht anders als mit Ironie und Humor gedacht werden“52 – und die Moral kann nicht anders als ohne Ironie und Humor gedacht werden. Nur die Moral ist mit Severins Klage zu treffen: „Du bist herzloser als ich dachte […]. Du nimmst meine Phantasie zu ernst.“ (S.66) Die Philosophie des Masochisten ist also eine Verschleierungstaktik für seine Verführung, „jedes Wort auch eine Maske“53. Während er virtuell seine Autonomie der Auflösung preisgibt, ist es sein ihm gegenüberstehender Täter, der sehr real in der Moralisierung seiner Sexualität geradezu verdunstet. Man sieht, wie die Anbetung zu einer sehr ambivalenten Praktik wird; natürlich ist das spielerische Moment, der ironische Umgang mit dem ironischen Gebot dabei sympathischer als die moraline Entgegnung – der Masochist kennt offenbar die Verantwortung, keiner zu sein, auf den man zählen könne; man „frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personalstandes“54, schreibt Foucault. Bei aller Eleganz muss man sich um die Täterin bei diesem Spiel sorgen. Sie wird förmlich entwirklicht; die femme fatale, so schreibt Baudrillard, ist ein „projektives Kunstprodukt der männlichen Hysterie“55 – und mehr als ein Projekt und Objekt ihres Sklaven ist die femme fatale bei Sacher-Masoch tatsächlich nur in einigen Szenen.
51 52 53 54 55
Vgl. etwa Sacher-Masoch 2003: 23. Deleuze 1980: 232, vgl. ebenda: 235. Nietzsche 1993, V: 234. Foucault 1995: 30. Baudrillard 1992: 73.
49 Theologisches Intermezzo Eine strukturelle Ähnlichkeit des masochistischen Verhältnisses zur Inszenierung des Angebeteten schlechthin sei doch vermerkt. Jenen versuchte man stets – bauernschlau – zu manipulieren. Alle menschlichen Opferhandlungen, planmäßig betrieben, betrügen den Gott, dem sie gelten: sie unterstellen ihn dem Primat der menschlichen Zwecke, lösen seine Macht auf56,
so schreibt Adorno. Während für Gott von ihm geforderte Opferhandlungen vollzogen werden, ist die entweder selbst erduldete oder an ein Opfer delegierte Qual ein Liebeswerben, das die Gottheit korrumpieren soll. Darum auch soll Gott immer wieder nicht ein guter, sondern ein vor allem auch gerechter sein – die sich an ihm in der Folge zeigende Grausamkeit jedoch, die jene seiner Gläubigen ist, wollte man expressis verbis doch nicht ihm zuschreiben. Aber auch die nicht zuletzt so motivierte Einführung des Teufels konnte das Dilemma nicht lösen, sondern allenfalls verunklären, war doch jener noch immer ein Geschöpf: des Schöpfers.57 VI. Zurückkommend zum eigentlichen Setting ist festzuhalten: Nicht nur die angeblich herzlose Herzensdame, auch des Masochisten Spiel ist gefährdet, und zwar als Spiel – das Spiel bezeichnet gerade nicht die in sich geschlossene Programmroutine, die droht, wenn die zurechtgeschrumpfte und -moralisierte Verführerin ihre Aufgabe dem weitaus seduktiveren Verführten in der Tat erfüllt. Wie ist das Spiel als solches zu retten? Wie kann genauer die als femme fatale Definierte an ihm teilhaben und in die Dialektik des Liebens eintreten, in der ihr der Masochist bloß eine Rolle zudachte? Wie kann sie dem Spiel den Ernst der Auseinandersetzung (wieder)geben? Denkbar wäre die Verweigerung gegenüber dem Szenario – also der Versuch, so zu tun, als wäre eine eigentliche Form der Begegnung möglich; man ahnt, dass das in diese gesetzte Vertrauen jedwedes Cliché ins Leben riefe. Listiger ist der Weg, den Wanda bei Sacher-Masoch wählt. Sie spielt das Spiel so, dass dem, der es erdachte, Hören und Sehen vergeht. Wanda wird tatsächlich zur Katze. Diese Lieblosigkeit führt sozusagen zur Möglichkeit des Liebesspiels. Wanda erfüllt und 56 57
Adorno, Horkheimer 1988: 57. Vgl. auch Dinzelbacher 1999: 149.
50 übererfüllt die Erwartungen. Damit wird die Konstellation dynamisch und eine zu verschriftlichende. In der Schrift zeigt der Masochist, was sein Begehr ist – ebenso gestaltet und dekonstruiert er es in der Beziehung. Die „‚Dekonstruktion‘ […] deckt sich […] mit dem Schreiben selbst“58, worin das Vorhaben der masochistischen Beziehung realisiert und befragt werden kann. Die pathetische Liaison endet bei Sacher-Masoch schließlich, und zwar abrupt. Das scheint eine Folge des Exzesses der Täterin zu sein, es ist aber eine Folge der Krise der Inszenierung, die weniger als das Spiel, das vonnöten ist, zu sein droht, insofern die Alternative deutlich wird, entweder das Spiel des Masochisten orthodox zu spielen, also: nicht zu spielen, oder unorthodox zu spielen, bis es wiederum kein Spiel ist. Nichts rettet eine Liebesutopie bei diesem Treiben, es ist ein unrettbares Begehrens-Arrangement, jedenfalls in der Theorie, auf welche das Buch, das ja um in sich geschlossene Träume kreist, nicht zuletzt abzielt. In Theorie ist der Masochismus als funktionelles Arrangement schon aus-gedacht, ehe ein Exzess die praktische Unlebbarkeit und als vage Möglichkeit das ironische Einvernehmen, das Liebe ist, zeigte. Also müsste nun die Praxis folgen. Sacher-Masoch ahnt dies; seine Theorie fasst das Enden in seiner ganzen Unvollendbarkeit – und schließt abrupt: für das, was hier nicht nicht erlischt, erklärt sie sich unzuständig.59 Nach der Theorie könnte man allenfalls noch sagen, dass es „ein Sprießenlassen“60 sein müsste, das fortdauert, sein Begriff hätte ein „Wort […], das sich selbst mehrt“61, zu sein. In diesem Sinne sind Sacher-Masochs Arrangements unsäglich: nicht auszusprechen – doch als reale (geschriebene und gelebte) in ihre Undenkbarkeit Experimente zu ritzen. VII. Leopold von Sacher-Masochs Werk ist wiederzuentdecken – und es wird wiederentdeckt. Einen ersten wesentlichen Schritt stellten in den späten Achtzigerjahren der von Michael Farin herausgegebene Materialienband zu Leben und Werk Sacher-Masochs sowie Albrecht Koschorkes Monographie dar. Im Jahr 2002 erschien ein DossierBand des Literaturverlags Droschl, 2003 im Rahmen der Aktivitäten um die Kulturhauptstadt Europas Graz unter anderem Sacher58 59 60 61
Hartman 2000: 127. Vgl. auch Deleuze 1980: 232 vgl. ebenda: 235. Foucault 2002, II: 1019; vgl. auch ebenda: 97. Schindel 1997: 34.
51 Masochs Venus im Pelz als Ausgabe letzter Hand. Es ist zu hoffen, dass aus einer Reihe von Aktivitäten, die sich immer wieder wie ein erster Schritt, dem mehr folgen könnte, ausnahmen, sich nun tatsächlich eine neue Rezeption Sacher-Masochs entspinnt. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. u. Max Horkheimer. 1988. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.:Fischer Taschenbuch Verlag (=Fischer Taschenbuch 7404 Fischer Wissenschaft). Adorno, Theodor W. 1997. ‚Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie (1964).‘ In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann et al. Bd 6: Negative Dialektik Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag (suhrkamp taschenbuch wissenschaft): 413-526. Baudrillard, Jean. 1992. ‚Die sexuelle Illusion‘, übers.v. Andreas Knop. In: Lettre International, Nr 17, Sommer ’92: 72-73. Böhme, Hartmut. 2002. ‚Bildung, Fetischismus und Verträglichkeit in Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz.‘ In: Leopold von Sacher-Masoch. Hrsg. v. Ingrid Spörk u. Alexandra Strohmaier. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl (=Dossier, Bd 20): 11-40. Brockhaus. 5 1906. Kleines Konversationslexikon. Leipzig: F.A. Brockhaus. Celan, Paul. 1986. Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Beda Allemann, Stefan Reichert u. Rolf Bücher. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag (=suhrkamp taschenbuch 1331). Deleuze, Gilles. 2003. Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, übers.v. Eva Moldenhauer. Hrsg. v. David Lapoujade. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Deleuze, Gilles. 1980. ‚Sacher-Masoch und der Masochismus‘, übers. v. Gertrud Müller. In: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt/M.: Insel Verlag (=insel taschenbuch 469): 163-281. Derrida, Jacques. 1992. Préjuges. Vor dem Gesetz, übers.v. Detlef Otto u. Axel Witte. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen Verlag (=Edition Passagen 34). Dinzelbacher, Peter. 1999. Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter. Freiburg, Basel, Wien: Herder (=Herder Spektrum, Bd 4715).
52 Drosdowski, Günther. 1968. Lexikon der Vornamen. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut (=DudenTaschenbücher Bd 4). Ewers, Hanns Heinz. o.J. ‚Die Spinne.‘ In: Der Mumienfuß. Eine Auswahl der besten phantastischen Geschichten. Hrsg. v. Eileen Margo. Hamburg: Mosaik Verlag s.a. (MosaikBücherei): 332-355. Farin, Michael et al. 1987. Leopold von Sacher-Masoch. Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. v. Michael Farin. Bonn: Bouvier (=Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd 359). Foucault Michel. 71995. Archäologie des Wissens, übers.v. Ulrich Köppen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 356). Foucault, Michel. 2002. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, übers.v. Michael Bischoff et al. Hrsg. v. Daniel Defert, François Ewald u. Jacques Lagrange. Bd II: 1970-1975. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Hainz, Martin A. 2004. ‚Cave Carnem. Eros, Macht und Inszenierung in Sacher-Masochs Venus im Pelz.‘ In: arcadia, Bd. 39: ·1, 226. Hainz, Martin A. 2002. Vorwort in: Stundenwechsel. Neue Lektüren zu Rose Ausländer,Paul Celan, Alfred Margul-Sperber und Immanuel Weißglas. Hrsg. v. Andrei Corbea-Hoisie, George Guu u. Martin A. Hainz. Iai (u.a.): Editura Universitii »Al. I. Cuza«, Hartung-Gorre Verlag, Editura Paideia (=Jassyer Beiträge zur Germanistik IX · GGR-Beiträge zur Germanistik, Bd IX): 8-9. Hartman, Geoffrey. 2000. Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen an der Kultur, übers.v. Frank Jakubzik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Kafka, Franz. 1989. Erzählungen. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Kierkegaard, Sören. 21993. Entweder-Oder. Teil I und II. Hrsg. v. Hermann Diem et al. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (= dtv 2194). Klanska, Maria. 2002. ‚Das Bild der jüdischen Gemeinschaft in Galizien beziehungsweise Polen im Schaffen SacherMasochs.‘ In: Leopold von Sacher-Masoch. Hrsg. v. Ingrid Spörk u. Alexandra Strohmaier. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl (=Dossier, Bd 20): 193-221.
53 Koschorke, Albrecht. 1988. Leopold von Sacher-Masoch. Die Inszenierung einer Perversion. München, Zürich: Piper (=Serie Piper, Bd 928). Krafft-Ebing, Richard von. 111901. Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine medicinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen. Stuttgart: Ferdinand Enke. Montinari, Mazzino. 1982. Nietzsche lesen. Berlin, New York: de Gruyter (de Gruyter Studienbuch). Musil, Robert. 1995. Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek/Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (=rororo 13462). Nietzsche, Friedrich. 31993. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag, de Gruyter (=dtv 2221-2235). Rudloff, Holger. 1994. Pelzdamen. Weiblichkeitsbilder bei Thomas Mann und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag (=Fischer Taschenbücher 12170). Rumpler, Helmut. 1997. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien: Ueberreuter (Österreichische Geschichte 1804-1914). Sacher-Masoch, Leopold von. 1980. Venus im Pelz. Frankfurt/M.: Insel Verlag (=insel taschenbuch 469). Sacher-Masoch, Leopold von. 2003. Venus im Pelz. Ausgabe letzter Hand (1869/1878). Mit einem Bildwerk von Günter Brus. Hrsg. v. Peter Weibel. Graz, München: belleville, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum. Sacher-Masoch, Leopold von. 1985. Venus im Pelz und andere Erzählungen. Hrsg. v. Helmut Strutzmann Wien, München: Edition Christian Brandstätter. Sacher-Masoch, Leopold von. 1992. ‚Zweimal verschenkt.‘ In: Der geköpfte Unterleib. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Manfred S. Fischer. Frankfurt/M., Berlin: Ullstein (=Ullstein-Buch Nr 30270 Die Frau in der Literatur): 54-66. Sade, Donatien Alphonse François Marquis de. 1990. Justine oder Die Leiden der Tugend. Roman aus dem Jahre 1797, übers.v. Raoul Haller. Frankfurt/M.: Insel Verlag (=insel taschenbuch 1257). Schindel, Robert. 1997. Die Nacht der Harlekine. Erzählungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag (=suhrkamp taschenbuch 2667).
54 Treut, Monika. 1984. Die grausame Frau. Zum Frauenbild bei de Sade und Sacher-Masoch. Basel, Frankfurt: Stroemfeld/Roter Stern. Weibel, Peter. 2003. ‚Ein magischer Nachmittag der Geschichte, der sich Graz nannte.‘ In: Graz von außen. Hrsg. v. Klaus Hoffer u. Alfred Kolleritsch. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl: 155-173. Weininger, Otto. 1980. Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. München: Matthes & Seitz. Weinstein, Leo. 1990. ‚Die beiden Don-Juan-Typen.‘ In: Don Juan. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Kurt-Jürgen Heering. München: Wilhelm Heyne Verlag (=Heyne Allgemeine Reihe Nr 01/8061): 53-62.
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Peter Rietbergen BESINNUNG AUF FELIX DAHN Einleitung Oft hört man auf die Frage: „Hast Du dieses oder jenes Buch gelesen?“ – meistens versteht man unter ‚Buch‘: ‚Roman‘- folgende Reaktion: „Nein, den Film habe ich aber gesehen.“ Verfilmt erwarb Margaret Mitchells Gone with the Wind (1936) weltweiten Ruhm und verfilmt gelangte Annemarie Selinkos Desirée (1952) zu ihrem großen Namen. Dies scheint, im Zeitalter von Kino und Fernsehen, das vom literarischen Anspruch her gesehen traurige Schicksal vieler zeitgenössischer Autoren, mag dieses Los finanziell gesehen weniger tragisch sein. Wer als Autor das Gefühl hat, dass sein Werk, sei es in beschränktem Kreise, dennoch gelesen wird, kann diese Situation ohne viel zu murren akzeptieren. Trauriger ist das Los derer, die, indem sie vor der kinemaskopischen Ära geschrieben haben, nach ihrem Ableben überhaupt keine Leser mehr finden. Obwohl die Möglichkeit besteht, dass einen (oder einige) Titel von ihrer Hand aus oft unerklärlichen Gründen eine Saite beim Publikum anschlägt und zum Kassenschlager im Kino avanciert. Zwar sehen sich Millionen von Leuten dann ihr Werk an, in Wirklichkeit bleibt es jedoch ungelesen. Häufig sind sich nur wenige Zuschauer der Tatsache bewusst, dass dem von ihnen bewunderten Film ein früher einmal bekannter Roman zugrunde liegt. Felix Dahn (1834-1912) ist der Schöpfer eines umfangreichen literarischen Oeuvres. Wie umfangreich sein Werk ist, wissen wir nicht mal annäherungsweise, weil viele seiner Gelegenheitsschriften in zahlreichen, selten oder heute nie wieder geöffneten Sammelbänden und in Lieferungen periodischer Schriften wie Cotta’scher MusenAlmanach, Deutsche Jugend und Die Gartenlaube schlummern.1 Dahns Oeuvre findet heuzutage nur noch wenig Leser. Aber, ein Roman, bereits bei seinem Erscheinen ein schlagender Erfolg, wird noch immer gelesen. Davon zeugen die Auflageziffern der vielen Neudrucke seit mehr als einem Jahrhundert: Ein Kampf um Rom 1
In diesem Augenblick ist es unmöglich, eine bibliographisch verantwortbare Geschichte der Editionen von Dahns literarischen Werken während seines Lebens und aus der Periode danach zu präsentieren. Neben den vielen und regulären Neuauflagen von Ein Kampf um Rom erschien 1977 in Wien im Tosa-Verlag eine umfassende Auswahl der historischen Romane Dahns.
58 (Leipzig 1876). Aber, obwohl auch dieser Roman verfilmt wurde, klingelte es – im Gegensatz zu den genannten Filmen – nicht in der Kasse. Kam die Darstellung mittels des Kinos in einem ungünstigen Augenblick, nämlich im Jahre 1968, als die westliche Welt nach Jahrzehnten von Schaulust der Spektakelfilme in römischer Einkleidung überdrüssig wurde? Die westliche Welt war ja in einen Kampf um die Modernität verwickelt und entdeckte das Hauskino, das für Massenszenen und großartige Dekorationen nun einmal weniger geeignet war als das echte Kino. Vor diesem Hintergrund darf und muss sogar die Frage nach der Deutung und der Bedeutung von Dahns vielseitigem Werk gestellt werden, damit zumindest deutlich wird, warum dieser eine Roman nach seinem Tode großen Anklang fand und der Rest seiner literarischen Prosa kaum ein Echo hervorrief. Ein romantischer Wissenschaftler Felix Dahn, Spross einer Hamburger Schauspielerfamilie, zog bereits als Baby mit seinen Eltern – beide spielten Theater – nach München, wo er sich später als Bayer ganz zu Hause fühlen sollte. Er wuchs in einem grossbürgerlichen, ‚gebildeten‘ Milieu auf, in dem professionelle Entfaltung und kreative Impulse angeregt wurden. Im Fall Felix Dahns kamen diese zwei Aspekte in einer regelrechten Passion für die Geschichte zusammen, wohlgemerkt: für die germanische Geschichte. Nach dem Jurastudium in München und Berlin entwickelte sich Dahn zu einem namhaften Rechtshistoriker. Er begann seine Karriere als Privatdozent in der bayrischen Hauptstadt, war dann Professor in Würzburg und Königsberg und bekam schließlich einen Ruf nach Breslau. Dort ist Felix Dahn gestorben. Dass er auch im Sozialen erfolgreich war, geht aus seiner Heirat mit Freiin Thérèse von Droste zu Hülshoff (1854-1910) hervor, die eine Kusine der berühmten Annette war. Schon während seines Studiums vereinigte Dahn seine wissenschaftliche Arbeit mit der schöngeistigen Literatur. Er war Mitglied bekannter literarischer Gesellschaften. Ich denke an: Das Krokodil in München und Tunnel über der Spree in Berlin. Dahn schrieb sein Leben lang Gedichte, die, vor allem als er bekannter wurde, auch Komponisten inspirierten, wie etwa Richard Strauss. Wie man heutzutage auch über diese Gedichte urteilen mag, einige von ihnen wurden in die deutsche Volkspoesie aufgenommen und vier Gedichte Felix Dahns gehören zum Bundesliedarchiv. Zum Teil geht es um Stimmungslyrik, in der die Liebe und die Natur im Mittelpunkt
59 stehen. Zum Teil haben diese Gedichte einen zeitgenössischen politischen Charakter. Auch Theaterstücke flossen aus Dahns Feder, sowohl mit historischen als auch mit zeitgenössischen Themen. Diese Stücke werden jedoch nicht mehr aufgeführt. Dahns wissenschaftliches Werk wird dagegen nach mehr als einem Jahrhundert noch verwendet und neu ediert, trotz der offenkundigen Voreingenommenheit, die daran haftet. Die Lektüre seiner Studien – besonders Die Könige der Germanen (zwölf Bände, die zwischen 1861 und 1870 und danach zwischen 1894 und 1908 erschienen) und die Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker (vier Bände, zwischen 1881 und 1890 publiziert) – lehrt den Leser rasch, worin die Stärke dieses Autors lag, abgesehen vom dokumentarischen Wert. Diese Stärke ist darin zu finden, dass der Text fesselnd, narrativ dargeboten wird. Der Leser wird in einer ansprechenden Evokation mitgerissen von den konstitutionell-sozialen Entwicklungen in der germanischen Welt bis in die Periode Karls des Großen. Die Themen, die Formwahl und der Schreibstil in Dahns wissenschaftlicher Prosa zeigen auch an, worin die Kraft seiner literarisch-fiktionalen Texte bestand, zumindest was die historischen Romane betrifft. Für meine Analyse beschränke ich mich auf drei Werke. Ein Kampf um Rom habe ich gewählt, da es noch häufig gelesen wird und nach meinem Dafürhalten als sein, kritisch zu lesendes, Magnum Opus gelten darf. Die in Vergessenheit geratenen Romane Felicitas (Leipzig 1882) und Vom Chiemgau (Leipzig 1896) sind beide in der gleichen, von deutscher Perspektive aus als Umbruchzeit und als grundlegende Zeit erfahrenen Periode angesiedelt. Es ist die Zeit der Völkerwanderung des fünften und sechsten Jahrhunderts. Diese beiden, von mir bewusst beliebig gewählten Werke bilden einen Teil einer dreizehnbändigen Serie, die 1901 zum Abschluss kam. Alle Teilbände tragen denselben Untertitel: „Historischer Roman aus der Völkerwanderung“. Freilich hat Dahn viele andere Romane und Novellen geschrieben, aber dieses Corpus bildet im Hinblick auf die Wahl dieser spezifischen Periode und dieser besonderen Problematik deutlich den Kern seines historisch-romantischen Œuvres. Dahns romantisches Œuvre Dahns erste Schritte als Schriftsteller, der seine Inspiration in der Vergangenheit, in der Geschichte suchte, führten ihn auf den Pfad idyllisch-historischer Verserzählungen. Mit ihnen machte er Furore in einem Künstlerkreis, der in der Literaturgeschichtsschreibung als
60 „Münchner Dichterschule“ bezeichnet wird. Es war eine Gruppe, zu der auch Dichter wie Geibel, Heyse und Von Schack gehörten, deren Werk - einschließlich des Nicht-Literarischen – mit Adjektiven wie: dekorativ-klassizistisch, historisierend und idealistisch charakterisiert wird. Dahns eigene Produktion in jener Periode wurde vor kurzem abgetan als „protzig-bürgerliche Butzenscheibenromantik in Goldschnittbändchen“2: ein ästhetisch-bewertendes Urteil, das für die kulturhistorische Analyse unbrauchbar ist. Dennoch scheint für Dahn dieser Dichterpinsel, diese poetische Leinwand zu bescheiden zu sein. Offenbar konnte er auf die Dauer kein Genüge finden an Schopenhauers Aussage, dass die Aufgabe des Romanautors darin bestehe, keine „großen Vorfälle zu erzählen, sondern kleine interessant zu machen“.3 Im Jahre 1859 schrieb er in München die ersten Seiten seines Romans Ein Kampf um Rom. Die Arbeit an diesem Roman lief parallel zur sehr ausgedehnten historischen Forschung, die Dahn damals begonnen hatte und wurde von ihr außerdem inspiriert. Es ging um historische Forschung für Die Könige der Germanen, deren erster Teil 1861 erschien. Der Roman war erst 1876 fertig. Im Vorwort schrieb Dahn: Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser in Gestalt eines Romans gekleideten Bilder aus dem sechsten Jahrhundert enthalten meine in folgenden Werken niedergelegten Forschungen: Die Könige der Germanen, II, III, IV… [und] Procopius von Caesarea. Ein Beitrag zur Historiographie der Völkerwanderung und des sinkenden Römerthums. 4
Der zitierten Information fügt Dahn einen aufschlussreichen Satz hinzu: „Aus diesen Darstellungen mag der Leser die Ergänzungen und Veränderungen, welche der Roman an der Wirklichkeit vorgenommen, erkennen“.5 Ein Kampf um Rom ist ein breit angelegtes episches Werk. Die Begebenheiten spielen sich von den Alpen bis Byzantium ab und umfassen einen Zeitraum von nahezu dreißig Jahren, einen Zeitraum, der, nach Dahns eigenen Worten, wegen des Aufbaus des Plots verkürzt, „oder doch in seiner Dauer verschleiert“ war.6 Nach diesem großen Epos wählte Dahn innerhalb der Serie der historischen Romane aus der Zeit der Völkerwanderung eher kleinere Novellen, 2 3 4
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Siehe das Lemma „Felix Dahn“ in: Der Literatur Brockhaus, I: 453. Schopenhauer, „Parerga et Paralipomena“: 473. Ein Werk, das Dahn 1865 in Berlin publiziert hat, das seine ganz besondere Identifikation mit diesem Autor demonstriert. Über Dahn und Procopius verschafft uns Cameron, Procopius, 113, leider sehr geringe Information. Ein Kampf um Rom: vii. Ebenda.
61 die aber in meiner Optik alle den gleichen Tenor haben und die gleichen Themen in den Mittelpunkt rücken. Der wesentliche erzählerische Inhalt der besprochenen Romane ist im Folgenden kurz wiederzugeben, wobei der Inhalt dieser Darstellung keineswegs als Abwertung von Dahns Qualitäten gemeint ist. Eine dieser Qualitäten bestand ja darin, dass er sein Publikum – ich rechne mich gerne dazu – ganz entschieden gefesselt hat. Felicitas, chronologisch gesehen im Hinblick auf das Oeuvre Dahns der erste der drei Romane, die ich zum Ausgangspunkt nehme, führt uns zur Gesellschaft Iuvavums, des römischen Salzburg im Jahre 476, dem Jahr, in dem die Stadt von den Alamannen belagert und erobert wird. Die dramatis personae sind der junge Bildhauer Fulvius, seine noch jüngere Frau Felicitas, der römische Tribun Leo – er ist der Schurke der Geschichte – und der christliche Priester Johannes. Das eigentliche Thema ist aber der Zusammenstoß einer römischen ‚Frontier‘‚ Gesellschaft, die bereits vom Reich losgelöst ist, einer Gesellschaft, die teils christianisiert, teils mit den hereinbrechenden Barbaren noch heidnisch ist. Letztere haben um die Hilfe der Markomannen, der späteren Bajuwaren gebeten. Diese Bajuwaren sind Dahns eigene bayerische Vorfahren, die in fast allen seinen Romanen eine Rolle spielen, ohne dass dies jemals explizite ausgesprochen wird. Die Handlung des sehr umfangreichen Romans Ein Kampf um Rom fängt im Jahre 526 an, umfasst eine ganze Generation und verwebt damit komplexer als in den anderen Werken zahllose kontrollierbare Tatsachen und historische Gestalten mit einem teils fiktionalen Plot und einer Reihe erfundener Nebenfiguren. Dennoch ist es relativ einfach, den Inhalt dieses Werks gekürzt wiederzugeben. Der Leser wird eingeführt in den Dreieckskampf zwischen den Goten – die von ihrer Hauptstadt Ravenna aus ganz Italien beherrschen -, den Byzantinern und den Römern. Die Goten sind gespalten in eine Gruppe, die nach Assimilation mit der römischen Kultur strebt und eine andere, die die alten Werte bewahren will. Die Byzantiner haben das Verlangen, dieses Italien als Teil des ehemaligen Imperiums wiederzuerobern. Die Römer, symbolisiert in einer Gestalt, streben nach Wiederherstellung der alten Selbständigkeit und Weltherrschaft der Aeterna. In Wirklichkeit ist von einem Viereckskampf die Rede, denn die Kirche erweist sich als einer der gewichtigsten Mitspieler, der, wie Dahn durchblicken lässt, auch der Endsieger sein wird. Die Goten werden in der Königin Amalaswintha und in den aufeinanderfolgenden Königen Witichis, Totila und Teja verkörpert, die Byzantiner sind vertreten im kaiserlichen Ehepaar Justinianus und
62 Theodora und ihren Feldherren Narses und Belisarius. Die Kirche wird von dem römische Erzdekan, dem späteren Papst Silverius, personifiziert. Alle sind sie historische Akteure. Die Römer nehmen Gestalt an in der, von neueren Dahn-Interpreten als fiktiv bezeichneten, aber ohne Zweifel historischen Person des nahezu tragischen Schurken-Helden dieses Romans: Cethegus Caesarius.7 Anstelle der Goten ist zu lesen: Die Vorfahren derjenigen, die in Dahns Zeit das Deutsche Reich gründeten, anstelle der römischen Kirche das institutionelle Christentum, dem Dahn bestimmt ambivalent gegenüberstand und statt der Städte Rom und Byzanz die möglicherweise nach universeller Herrschaft strebenden anderen Mächte Europas im neunzehnten Jahrhundert. Dieses Verfahren des Umlesens lässt ahnen, welche Parallele der Verfasser mit diesem Roman zu ziehen suchte. In Vom Chiemgau wird der Leser ins Jahr 596 versetzt und gelangt an das Ufer des Chiemsees am Fuße der Bayerischen Alpen. In diesem Roman legt Dahn seine Sicht schriftlich fest auf die schon fast wieder entromanisierte und noch kaum christianisierte germanische Gesellschaft, welche die Zukunft jenes Gebietes bestimmen wird. Die Handlung hat drei thematische Linien: erstens die wachsenden Konflikte zwischen den Gemeinfreien und den „Adalingen“; dann die germanische Götterwelt, die - symbolisiert in der Gestalt der Priesterin-Göttin Beratha - konfrontiert wird mit dem Christentum, das vom Priester Paulus vertreten wird, der gekommen ist, die Lehre seines Gottes zu verkündigen. Und schließlich das romantische Element, personifiziert von dem gemeinfreien Mädchen Arntrud, das von einem guten und einem schlechten Adaling und auch von einem jungen Mann des eigenen Standes begehrt wird. Alle Konflikte führen zu einer Klimax, wenn die Avarischen Horden die Bajuwarengesellschaft angreifen und erst nach blutigen Verlusten zurückgeschlagen werden können. In dieser Stunde höchster Not wird die Fehde zwischen den Adligen und den freien Bauern vergessen und vereinigen sich alle im Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Die Zivilisation, die Ordnung, siegt über die Barbarei. Es sind jedoch „die hohen Götter, unsere Ahnen“, die der zivilisierten Welt den Siegeskranz brachten.8 Kurz, wenn wir auch wissen, dass das Christentum sich zu einem wichtigen historischen Faktor entwickeln sollte, so legt Dahn offensichtlich mehr Wert auf die alte Religion.
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Der princeps senatus Cethegus spielt eine nicht unwichtige Rolle in Procopius’ Gotenkrieg. Vom Chiemgau: 202.
63 Eine erste Analyse: Dahns rhetorische Strategien Die Vorworte zu den genannten Romanen enthüllen Dahns Vorgehen und die ihn treibenden Kräfte. In der titellosen Verantwortung zu Felicitas9 beschreibt Dahn, wie er vor vielen Jahren in Salzburg arbeitete, im Archiv, in der Bibliothek und im Museum für römisches Altertum. Er arbeitete an seinen Studien über das fünfte Jahrhundert, in dem sich die Germanen in dieser Region ansiedelten. Die römische Besatzungsmacht war schon abgezogen, aber die vom Imperium gegründeten Niederlassungen wurden noch von Bauern, Händlern und Handwerksleuten bewohnt, die teils einer Vermischung von Einheimischen und Zugezogenen entstammten und die das ihnen liebgewordene Land nicht verlassen wollten, auch nicht im Angesicht der Bedrohung durch die Barbaren. Nach vollendetem Kampf und nach der Eroberung behandelten diese sie gut. Ein wesentlicher Bestandteil von Dahns kulturell-politischer Botschaft wurde mit diesem einen Satz bereits enthüllt. Nach der täglichen wissenschaftlichen Arbeit zog es Dahn in die Natur, die noch alle Spuren der „letzten Römer in den Alpenländern“ trug. Dort begann der kreative Prozess: die Gedanken der Forschung, die ihn den Tag über beschäftigt hatten, erfüllten sich in den Spielen seiner Phantasie, „wenn [er] im Abendschein zum Thore hinaus wanderte“. Er stellte sich die von Römern und Romanisierten bewohnten Täler und die von Nordwesten her anstürmenden Germanen vor. Während seiner Wanderungen fand er zahlreiche Inskriptionen, Münzen und Spolien, die jene Zeit für ihn zum Leben erweckten. Eines Abends wanderte er hoch in die Berge hinauf, körperlich angestrengt, geistig jedoch voller Hoffnung und Erwartung – „ich war noch sehr jung“. Was wird er hier antreffen? Im sogenannten Heidenschupf entdeckt er eine Quelle und um diese Quelle herum Bruchstücke eines marmornen Pflasters. Er findet auch eine Fliese mit dem Stempel der XXII. Legion. Das Aufregendste aber ist das erste Wort einer in Marmor gekerbten Inskription: „Hic…“. Nach wiederholtem Kratzen lässt sich mehr aufdecken: „Hic habet Felicit… Nihil mali intret“. Offensichtlich handelt es sich um eine Schwelle aus Stein mit einem Spruch. Er setzt sich in der abendlichen Ruhe hin und sinnt nach. Welches Glück wohnte hier? Oder ist der Name Felicitas 9
Das Werk ist Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer in Zürich gewidmet, „mit deutschem Gruß von Meer zu Fels“, Königsberg, Herbst 1882. Die Freundschaft mit den beiden schweizerischen Autoren illustriert Dahns intellektuelle Umwelt.
64 zweideutig: als Glück, aber auch als Frauenname? Wer war sie? Er schlummert, träumt – und wacht auf, rufend: „Felicitas, Fulvius, Liuthari“. Sie sind jedoch nicht da. Den Traum aber möchte er behalten: „Und ich eilte nach Hause und zeichnete noch in der Nacht die Geschichte auf, die ich geträumt auf dem Schutt der alten Römervilla“10. So verbindet Dahn die Sensation der wissenschaftlichen Forschung mit der Sensation des Abenteuers, inmitten einer Natur, die reizend von ihm beschrieben wird. Aber, auch wenn die so hergestellte Verbindung die meisten Leser männlichen Geschlechts als spannend angesprochen haben muss, die Frauen waren davon ausgeschlossen. Sie arbeiteten nicht in den Museen, um sich nach der Arbeit mühsam einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen und die Berge zu ersteigen. Vom Chiemgau11 hat ein längeres Vorwort, das nach demselben Muster die vom Autor erwünschte Lektüre des Romans noch deutlicher bestimmt. Dahn führt seine Leser mit an die Ufer seines geliebten Chiemsees, wo er mit seinen Freunden segelt, wo Natur Poesie ist, und er sich in die Naturgewalt, „mitten in den Kampf der Götter und der Riesen“ versetzt fühlt. Bereits als junger Mann hat er dort viel Zeit verbracht und nach Spuren der Geschichte gesucht. „Schon damals von sehr kampffreudiger Einbildungskraft beseelt und eifrig die Geschichte von Schlachten und Belagerungen verfolgend“, fand er einst an einem Abhang die Reste eines germanischen Bauerngutes. Erneut bietet Dahn dem Leser einen typisch männlichen Kontext: Segeln und voller Kampffreude archäologisch forschen. Viel Zeit verbrachte Dahn im Dörfchen Seebrück, dem römischen Bedaium, wo der keltische Gott Bid romanisiert worden war. In diesem Kontext ist folgende Aussage von wesentlicher Bedeutung: …das Beste an all dem Treiben dort in Wald und Feld, auf Berg und See und Eiland war wohl das Träumen und Sinnen. Aber nicht ein bodenloses in die Luft hinein: sondern das Sinnen und Träumen über die Geschichte dieser Landschaft, dieser Inseln und Ufergestade, der Menschen, die in grauer Vorzeit hier gearbeitet gekämpft, gehasst und geliebt, geflucht und gebetet zu vielfach wechselnden Göttern hinauf, aber immer aus den gleichen Wünschen und Hoffnungen, Ängsten und Nöten des Menschenherzens heraus, die verschieden gefärbt im Ausdruck, doch im Inhalt die nämlichen sind aller Zeit und jedes Orts [Hervorhebung vom Vf.].12 10 11 12
Felicitas: 14. Dahn widmete dieses Buch „meinem lieben alten Freund und Chiemseeischen Segelgenossen Max Haushofer“. Vom Chiemgau: 15.
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Im Anschluss an diese Gedanken enthüllt Dahn die Essenz seiner Emotionen als Wissenschaftler-Romancier: Diese Betrachtung nun hat mich von Jugend an gereizt: nachzusinnen, nachzufühlen, endlich nachzubilden, wie die immer gleichen menschlichen Triebe, Leidenschaften, Strebungen im Wechsel der Völker und Zeiten wechselnden Ausdruck, verschiedenartig gefärbte Form der Erscheinung annehmen […] Wen das nicht anzieht, wer die Versenkung in solche Vergangenheit verwirft, der verwerfe den geschichtlichen Roman, aber auch wie die Antigone und die Elektra, so den Coriolan und den Macbeth, den Tell und den Wallenstein, den Götz und den Egmont, - kurz alle Kunst, die geschichtliche Stoffe wählt und schließlich auch die Wissenschaft der Geschichtsforschung.13
Nach dieser Erläuterung teilt Dahn mit dem Leser den Augenblick, in dem er, sitzend am Ufer, auf ein Zeichen der Vergangenheit hofft. Als „der letzte übrig Gebliebene, der an dich glaubt“ betet er zu Wotan, dem ,Wunschgott‘ – ein angesichts des christlich-bürgerlichen Zeitgeistes bestimmt schockierendes Bekenntnis. Die Wellen spülen einen Gegenstand an seine Füße. „Ich reinigte es mit dem Taschenmesser – demselben, das mir die Inschrift von ,Felicitas‘ klar geschabt…“14 Das ist ein raffinierter und bedeutungsvoller Hinweis auf den Roman, der dreizehn Jahre früher erschienen war. Das Objekt war ein Hufeisen, das ihn in die Zeit der Bajuwaren zurückführte, in ihre Gemeinschaft von Adligen, Freien und Unfreien, in ihre Religion und in ihre Rechtspflege. In einem Traum zeichnete sich ein neuer Roman ab. Der Donner rollte laut. Er erwachte: „und es galt nur noch, auszugestalten, was ich gesonnen und geträumt“15. Dahns Denken gedeutet Welche Talente und Kenntnisse waren bestimmend für Dahn als Verfasser historischer Romane, die wissenschaftlich genannt werden? Er ist ja einer der am meisten genannten Vertreter der Gattung des ,Professorenromans‘. Unbestreitbar war er ein guter Wissenschaftler. Sein Werk zeugt von tiefschürfender Kenntnis der Quellen und erweckt trotz Vorurteile Bewunderung. Er hatte freilich wie mancher Zeitgenosse die Neigung, durch seine Wissenschaft das deutsche Volk, die nationale Kultur und die Position dieser Beiden in der Totalität Europas im neunzehnten Jahundert mit einer großartigen 13 14 15
Ebenda. Ebenda. Ebenda.
66 Tradition zu versehen. Dass er selber der Mit-Erfinder dieser Tradition war und sich in unseren Augen der Anachronismen und der teleologischen Interpretationen schuldig machte, ist gleichfalls deutlich. So war er bereits in seinen jungen Jahren - davon zeugen drei Aufsätze über „Freie Forschung gegen Dogmenzwang in der Wissenschaft“ – ein Mann, der sich – wenigstens im Urteil seiner Gegner – antikatholisch postierte16 . Die Angriffe von katholischer Seite gegen seinen Münchner Lehrer Karl Prantl veranlassten diese Haltung. Dass dieser Sachverhalt noch komplexer ist, geht aus seinem Roman Julian der Abtrünnige (Leipzig 1893) hervor. Darin nimmt Dahn nicht nur Stellung gegen die institutionalisierte Religion, gegen das Papsttum, sondern darin ergreift er auch Partei für eine Kultur, in der der Mensch in Freiheit seine religiösen Entscheidungen trifft. Das sind Entscheidungen, die bei Dahn nahezu gnostisch sind, vorausgesetzt, dass der Autor selber spricht während der weltanschaulichen und das Leben betreffenden Diskussionen zwischen Julianus und seinem Widerpart, dem Germanen Merowech-Serapio. Diese Haltung färbt sein gesamtes Werk. Prantls Pantheismus war als anthropologistisch von einigen Priester-Gelehrten verketzert worden. Ihre ultramontanen Standpunkte verwarf Dahn als dogmatisch und unwissenschaftlich: „siegen aber in Baiern auf die Dauer die Jesuiten, - dann heißt es: ,finis Bavariae.‘ “17 Dass Dahn während späterer Jahrzehnte im Kulturkampf eine Rolle spielt, braucht uns kaum zu wundern. Für seinen Standpunkt ist es genauso bezeichnend, dass seiner Meinung nach eine Brücke zwischen theistischen und pantheistischen Auffassungen nur mittels der Poesie geschlagen werden könne, wenn er diese Brücke auch als ,schwancke‘ beurteilt. 18 Trotz allem fehlt es Dahn nicht an historischer Reflexion. So hatte er ein offenes Auge für die Art und Weise wie die germanischen Quellen die Rolle des Individuums konsequent überbetonen und so die Geschichtsschreibung unvermeidlich färben. Gleichzeitig sah er auch, was eindeutig falsch war. Die Auffassung des Ursprungs der „blondköpfigen Germanen“ in Skandinavien, die im Europa des neunzehnten Jahrhunderts Anklang fand und eine asiatische Herkunft ausschließen wollte, verwies er mit einigen kernigen Argumenten ins Fabelreich.19 Dazu sei zu bemerken, dass die dramatischen Schlussseiten von Ein Kampf um Rom, auf denen die Goten Italien verlassen 16 17 18 19
Diese Aufsätze wurden zusammen mit anderen philosophischen und wissenschaftlichen Beiträgen gesammelt in: F. Dahn, Philosophische Studien: 9ff. Ebenda: 259. Ebenda: 94. Dahn 1905: 1-4.
67 und heimwärts, das heißt, gen Norden segeln, vermuten lassen, dass er früher vielleicht anders gedacht hat. Dass Dahn die Idee eines semitischen Ursprungs der Germanen ebenfalls als Unsinn abtat, mag uns aus der Perspektive des Nazi-Völkermords treffen, er hatte aber recht. Unverkennbar fühlte der Wissenschaftler in Dahn sich genötigt, die Früchte seiner Forschung einem Publikum darzubieten, das seine ausgereiften Studien nicht las. Er wollte dieses Wissen auch der Jugend vermitteln. Das beweisen auch manche populärwissenschaftliche Werke, von denen er einige zusammen mit seiner Gattin Thérèse schrieb, die, wie soviele Professorsfrauen, domestizierte wissenschaftliche Arbeit verrichtete. 20 Aber, Dahns Romane bekunden noch viel deutlicher sein Bedürfnis, auf didaktisch-effektive Weise historisches Wissen und historische Erkenntnisse zu popularisieren. Denn, wenn sie ihren Ursprung auch in seinen literarischen Bestrebungen fanden, sie waren offensichtlich die Folge seiner wissenschaftlichen Arbeit. Wie direkt dieses manchmal geschah, möge an einem Beispiel demonstriert werden. Sobald Dahn sich in das historisch-juristische Problem der ,Fehde‘ - die den normalen, von ihm als großes Kulturgut geschätzten Rechtsgang in der alt-germanischen Gesellschaft noch oft störte vertieft hatte21, fand das Thema auch seinen Weg zum Roman, in diesem Falle zu Vom Chiemgau. Wenn man Dahns historische Romane im Kontext seiner Zeit betrachtet, kann man nur feststellen, dass diese Romane einem Weltbild und einem Menschenbild entsprungen sind, das deutlich von der deutschen Kultur des Bildungsbürgertums geprägt worden ist, mit ihrer goetheschen Sehnsucht nach dem Süden, mit ihrer winckelmannschen Ästhetik und ihrer Verherrlichung der germanischen Wurzeln. Diese Einflüsse wachsen zu einer Vision zusammen, die am besten als eine Reihe von Mythen für das deutsche Volk umschrieben sind.22 Ohne Zweifel hatte Dahn wenig Bedürfnis nach Ideen, die über das Nationale hinaus gingen. Er glaubte nicht an sie, das heißt: Er glaubte nicht an politische Konstellationen, die den Rahmen dazu bieten konnten. Totila sagt seinem römischen Gegner: Wo ist denn die Menschheit, von der du schwärmst? Ich sehe sie nicht. Ich sehe nur Goten, Römer, Byzantiner! Eine Menschheit über den Völkern,
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Wie zum Beispiel in Wallhall und Kaiser Karl. In: Bausteine II. Vergleiche Wülfing, Bruns, Parr: 1991.
68 irgendwo in den Lüften, kenne ich nicht. Ich diene der Menschheit, indem ich in meinem Volke lebe. Ich kann nicht anders!23
Sogar Europa existierte im Grunde nicht für Felix Dahn, jedenfalls nicht als ein Ganzes von Nationen, von Staaten, von denen jeder auf seine eigene Weise das gemeinsame Erbe hegte und pflegte. Für die „Wälschen“ Elemente ist in Europa eigentlich kein Platz. Dahn charakterisiert sie als minderwertig: ein überdeutliches Echo der Debatte über Romanisch versus Germanisch als leitende Grundsätze innerhalb der europäischen Kultur. Diese stürmische Debatte fand am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland und nicht nur dort statt. Die wahren Erben Europas sind für Dahn die germanischen Völker. Von Italien aus – dieser „Mutter der Menschlichkeit“24 – ist die romanische Kultur im germanischen Europa erhalten geblieben. Beide waren ja nah verwandt, wie es Dahn in seiner Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker gezeigt hat. 25 In Ein Kampf um Rom wird die zentrale Thematik des Zusammenstoßes von romanischen und germanischen Kulturen und deren allmähliche Assimilation behandelt. Dahn argumentiert, dass die „Barbaren“ - seine Ahnen, die späteren Erbauer der deutschen Nationen und Staaten – eine selektive Auswahl aus dem „sinkenden Römerthum“ des fünften und sechsten Jahrhunderts getroffen haben. So haben sie eine Kultur gefördert, welche die Dekadenz des Alten zunichte machte und gleichzeitig Wertvolles für die Zukunft Europas bewahrte und schuf. Was den deutschen, germanischen ,Auftrag‘ betrifft, sind die Worte, mit denen der Nore Harald den Goten Totila überreden will, Italien zu verlassen, sehr aufschlussreich: „Vom Nordland geht alle Kraft aus – dem Nordvolk gehört die Welt“. 26 Die Romanserie Aus der Zeit der Völkerwanderung erweitert dieses Bild in Einzelheiten. Vom Chiemgau bildet eine überdeutliche Verherrlichung der alt-germanischen Rechtsordnung und des Aufbaus dieser Gesellschaft. Die faktische Unfreiheit und die sozial-ökonomische Ungleichheit werden darin zwar nicht verhüllt vorgestellt, aber dennoch gemildert, indem die adligen Hauptgestalten bis auf wenige Schurken alle gleich großherzig sind im Umgang mit ihren Untergebenen. Gleichzeitig aber wird für eine eher egalitäre Struktur eine Lanze gebrochen. In einer wirklich kräftigen Gesellschaft verschwinden, ganz gewiss in Krisenzeiten, Klasseninteressen hinter einer 23 24 25 26
Ein Kampf um Rom, II: 170f. Ebenda, I: 99. Dahn, Urgeschichte, I – IV. Ein Kampf um Rom, IV: 83.
69 allgemeinen Solidarität. Spiegelt der Roman auf diese Weise die Situation im kaiserlichen Deutschland des späten neunzehnten Jahrhunderts wider, eines Jahrhunderts, in dem das junkerhafte Preußentum und die bürgerliche Kultur danach streben mussten, zu einer Einheit zu gelangen? Wollte Dahn den Beitrag der ‚verschmolzenen‘ bajuwarisch-bayerischen, romanisch-germanischen Kultur gerade der preußischen Dominanz als Beispiel vorhalten? Derartige Ansichten haben dazu geführt, dass mancher Forscher und Betrachter Dahns Denken als einen Vorboten der Blut und Boden-Ideologie zu beurteilen geneigt war, nach der ein germanisches Überheblichkeitsgefühl konstruiert wurde, was dann im Nationalsozialismus sein imperialistisches Ziel erreichte.27 Auch an anderen Fronten sind die Deutung und die Situierung von Dahns Werken zuweilen zu einfach und beschränkt, in zu hohem Maße eingeblasen von gegenwärtigen Absichten und Überlegungen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in Dahns Perspektive auf die Vergangenheit der Mann die offenkundige Führer- und Heldenrolle erfüllt. In Ein Kampf um Rom tragen die Teile die Namen der aufeinanderfolgenden Gotenkönige. Gewiss ist auch, dass Dahn in seiner skizzenhaften Darstellung dieser Führer die – übrigens geringen und einander manchmal widersprechenden – historischen Einzelheiten manchmal ins Positive verkehrt. Der junge Athalarik zum Beispiel war vermutlich nicht der strahlende Held, den Dahn aus ihm gemacht hat. Und der alte Witichis war wahrscheinlich opportunistischer als Dahn ihn dargestellt hat. Dennoch kann man den Kritikern einer solchen männlichen Perspektive erwidern, dass Dahn die Frage nach der Bedeutung der Frau in der Geschichte implizit als roten Faden durch seine Romane zieht. Die Kulturvermittlung von romanisch und germanisch sei, im Falle der Verwirklichung der Träume der Goten, von Frauen realisiert worden. Theodoriks Tochter, Königin Amalaswintha, tritt als diejenige in Erscheinung, die ihr Volk zu kultivieren versucht, indem sie ihren Sohn, ihren Hof, ihre Adligen mit der Zivilisation des Südens konfrontiert. Später wählt sich König Totila die Römerin Valeria und in ihr die Verkörperung des Romanischen, das heißt, der römisch-griechischen Kultur, damit diese mit seiner Kultur zu einer Einheit verschmilzt. Beim Übergang von den traditionellen Göttern zum christlichen Gott, der in Felicitas umrissen wird, steht die Frau im Mittelpunkt. Sie ist als erste empfänglich für die neue Religion, sie gebärt die Kinder, die sie nach neuen Gesetzen 27
Siehe für diese Auffassung: Westenfelder 1989: 2. Der Verfasser verfehlt durch seine Beschränkung auf Ein Kampf um Rom die in Wirklichkeit viel komplexere Auffassung Felix Dahns.
70 erzieht. Kann die Frau aber auch Herrscher sein und folglich eine deutliche Männerrolle erfüllen, kann sie ein Volk führen? Der alte Gotenadel murrt, wenn die Tochter nach dem Vater Theodorik regiert. Auf die gestellten Fragen scheint Dahns Antwort ambivalenter, aber er schließt die Möglichkeit nicht aus. Ohne Zweifel verfügen manche Frauen über die erforderlichen Qualitäten – Amalaswintha legt es an den Tag -, eines der wesentlichen Elemente ihres Frau-Seins jedoch, die bedingungslose, aufopfernde Liebe zu Mann und Kindern, muss sie einem höheren Ziel opfern und sich damit versöhnen, dass sie zwischen beiden Polen hin- und hergerissen wird. Diese Betrachtungen lenken den Blick auf das Gedankengut der Bewegungen für die Frauenemanzipation während des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Man könnte Dahn also vorwerfen, hiermit anachronistisch umzugehen, indem er zeitgenössische Fragen und Erkenntnisse allzu einfach auf eine Vergangenheit hin projiziert. Vorsichtiger ausgedrückt: Auf eine Vergangenheit, die ihm nicht die Zeugnisse bot, die er als Grundlage einer solchen Darstellung brauchte. Geschichtsfälschung: Dies ist der Begriff, den mancher in den Mund nimmt, um die Gattung des historischen Romans zu kritisieren. Einige Forscher meinen, dass dieser Begriff in seiner Paradoxalität zeigt, dass diese Gattung keine Daseinsberechtigung haben kann. Handelt es sich um Geschichtsfälschung, wenn Dahn am Schluss des Romans Ein Kampf um Rom den Gotenschatz auf Drachenschiffen nordwärts transportieren lässt, während andere Historiker der Meinung sind, dass einer dieser Goten das Gold und die Juwelen an die Byzantiner verschleudert hat? Oder akzeptiert man diese Stelle als dramatisch wirkungsvoll? Ist Dahns evident anti-katholische Stellungnahme Geschichtsfälschung, die der Geisteshaltung der historischen Periode, die er heraufbeschwören möchte, in inakzeptabler Weise Abbruch tut? Oder ist eine solche Ansicht selber anachronistisch? Stellt sie das fünfte und sechste Jahrhundert allzu bequem als bereits christianisiert vor? Dahns Nachleben Die Zeit hat sich Dahn gegenüber nicht freundlich erwiesen. Dennoch wird der Roman Ein Kampf um Rom wiederholt neu gedruckt und wird in einem renommierten historischen Nachschlagewerk auf ihn hingewiesen.28 28
Giess 1993, Lemma: Totila.
71 Der „Große Herder“ aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts nennt Dahns Oeuvre sehr überschätzt, indem er vor allem den anti-katholischen Gehalt hervorhob. Einen solchen Verurteilungsgrund wird man heute nicht leicht anführen, um so mehr als viele Romane Felix Dahns diese Haltung bestimmt nicht so stark atmen wie Ein Kampf um Rom. In der Charakteristik von Dahns literarischer Prosa im kürzlich erschienenen, angesehenen Kindlers Literatur Lexicon wird dem Autor etwas anderes zum Vorwurf gemacht: Seine Naivität, das er die Geschichte als Produkt persönlicher Leidenschaften vorstelle. 29 Das ist ein befremdendes Urteil, das ohne Zweifel mit bestimmt wird vom Umstand, dass der Verfasser des Lemmas – keine Seltenheit bei Autoren solcher Beiträge – nicht die Mühe genommen hat, Dahns Werk selber zu lesen. Freilich, der Plot, die Oberflächenstruktur der meisten Romane – auch der hier namentlich genannten – konzentriert sich auf individuelle Verhaltensweisen. Dahn verfügte über genügend psychologische Kenntnisse, um einzusehen, dass eine spannende Geschichte und gute, sei es nach heutigem Sprachgefühl etwas pathetische und melodramatische, Dialoge als deren Motor starke Personen verlangen. Er wusste außerdem verwickelte Aktionen in Szenen zu kleiden, von denen die Leser ergriffen wurden. Dennoch erweist sich Dahn bei genauerer Lektüre eher fasziniert von der Rolle der Kulturen und der Weltanschauungen, wie diese nach meiner persönlichen Überzeugung nun einmal in individuellen Aktionen Gestalt annehmen. Kulturen, kulturelle Ideale – in Dahns Romanen von historischen Personen verkörpert – werden ihm zufolge besonders von Völkern getragen. Völker werden geboren, sie wachsen kräftig, sie erblühen, und schließlich hören sie auf zu bestehen – das legt Julius in Ein Kampf um Rom30 dar – wenn sie sich nicht erneuern, wenn bestimmte Bedingungen nicht erfüllt werden. Ein darwinistischer Unterton ist hier gewiss spürbar und das ist während dieser Jahrzehnte kaum verwunderlich. In seinem dreibändigen Notizbuch, das unter dem Titel Bausteine 1882 erschien, hebt Dahn in einer Besprechung von Gustav Freytags populärem Romanzyklus Die Ahnen solche Prinzipien wie „Individuation, Vererbung, Anpassung und Atavismus“ hervor.31 Aber bei aller Aufmerksamkeit für die Veränderung als Statuierendes innerhalb der Geschichte, legt Dahn allerdings den Nachdruck auf das Ewig-Menschliche – was der Idee, dass dieses in ,individuellen‘ 29 30 31
Barber 1989. 385f. Das Lemma basiert größtenteils auf Martini 1962: 448. Ein Kampf um Rom, I: 169. Bausteine III: 14.
72 Völkern Gestalt annimmt, nicht zu widersprechen braucht – und somit die Kontinuität verbürgt. Bleibt noch die Frage nach den Gründen für die Beliebtheit von Autoren wie Felix Dahn während des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Und, was Ein Kampf um Rom betrifft, seine Beliebtheit bis heute. Um mit Letzterem anzufangen: Viele der ,kleinen‘ Romane wird man auch in Zukunft nicht mehr lesen, da sie dem heutigen Bedürfnis nach individueller und psychologisierender Gestaltung der handelnden Personen – einem seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wachsenden Bedürfnis – nicht entgegenkommen. Wenn auch dieses mangelhafte Erzählverfahren in Ein Kampf um Rom fehlt, so ist es gerade die epische Breite, die vielen Lesern noch Leserfreude verschaffen kann. Es ist übrigens nicht befremdend, dass der nach heutigen Maßstäben gemessen sehr lange Text gekürzt und dass auch der Sprachgebrauch einigermaßen vereinfacht wird. Ob man die Begeisterung von Dahns Zeitgenossen genügend erklärt, wenn man behauptet, dass er seinem Lesepublikum die Gelegenheit bot, aktuelle politische und weltanschauliche Fragen in den Rahmen der „Unverbindlichkeit der Geschichtsferne“32 zu stellen, scheint mir fraglich. So unverbindlich war die Vergangenheit für Dahn und seinesgleichen überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Die Bilder, die heraufbeschworen wurden – ob sie nun die Verbundenheit mit dem Heimatboden und der regionalen Kultur, das Führertum, den Glauben, die Rolle der institutionalisierten Religion, die Position der Frau oder die breite Kluft zwischen einer germanischen und einer römischen Kulturtradition betrafen – stellten all diese Fragen in den Kontext der Vergangenheit, um zu demonstrieren, dass das Heute noch immer davon bestimmt wurde oder wieder davon bestimmt werden sollte. Kurz, wie man auch über die literarischen Qualitäten des historischen Romans urteilen mag, in dem Verfahren das von Dahn gewählt wurde, lag und liegt die Kraft und paradoxalerweise auch die mögliche Gefahr dieser Gattung. Diese Romangattung zieht ja noch immer eine viel größere Zahl von Lesern an als die Texte der Wissenschaft. Vielleicht sollten Historiker öfters Romane schreiben und so in die Spuren Felix Dahns treten? Aus dem Niederländischen übersetzt von Hans Ester
32
Martini 1962: 448.
73 Literaturverzeichnis Barber, D. 1989. ‚Felix Dahn‘, in: W. Jens (Hrsg.) Kindlers neues Literatur Lexicon. München. Cameron, A. 1985. Procopius. London. Dahn, F. 1882. Bausteine, I-III. Berlin. Dahn, F. 1880-1888. Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker, I-IV. Leipzig. Dahn, F. 1887. Kaiser Karl und seine Paladinen. Leipzig. Dahn, F. 1905. Die Germanen. Leipzig. Dahn, F. 1883. Philosophische Studien. Berlin. Dahn, F. 1882. Felicitas. Leipzig. Dahn, F. 1896. Vom Chiemgau. Leipzig. Dahn, F. 1876. Ein Kampf um Rom. Leipzig. Dahn, F. u. Dahn-von Droste zu Hülshoff, Thérèse. 1881. Walhall: die germanischen Götter- und Heldensagen, für Alt und Jung am deutschen Herd erzählt. Leipzig. Giess, L. 1993. Geschichte Griffbereit, III. Dortmund. Der Literatur Brockhaus, I. 1988. Mannheim. Martini, F. 1962. Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, 1848-1898. Stuttgart. Schopenhauer, A. 1873. „Parerga et Paralipomena“, in: Id., Sämmtliche Werke, 6. Leipzig. Westenfelder, F. 1989. Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel des historischen Romans zwischen 1890 und 1945. Frankfurt. Wülfing, W. Bruns, K. Parr, R. 1991. Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918. München.
74
Hans Ester OTTO ROQUETTE KAM ZUR RECHTEN ZEIT Alte Jahrgänge von Zeitschriften, die es längst nicht mehr gibt, sind eine Quelle des Vergnügens und der Verwunderung. Die von Karl Emil Franzos herausgegebene Zeitschrift Deutsche Dichtung birgt in ihrem Jahrgang 1888 manches Interessante, so schließe ich aus der Inhaltsübersicht. Die einzelnen Hefte, die ich mir antiquarisch erworben habe, sind unaufgeschnitten. Aber nicht ganz. Das vierte Heft des fünften Bandes wurde partiell gelesen. Die Seiten, auf denen Otto Roquettes Novelle Zu spät dem Leser als Fortsetzungsgeschichte dargeboten wird, brauchen keinen Eingriff mit der Schere. Sie sind geöffnet. Ein neugieriger Mensch ließ den Rest des Heftes unbeachtet und vertiefte sich erwartungsvoll in die neue Novelle Roquettes, der bereits viele vorangegangen waren. Bei anderen Heften der Deutschen Dichtung teilt Roquette das Schicksal Paul Heyses und Heinrich Kruses, nämlich immer dann, wenn es um Poesie geht. Diese kleine Beobachtung, die ich mit geziemender Vorsicht verallgemeinern möchte, lässt deswegen aufblicken, da Otto Roquette (1824–1896) nun gerade mit einem Werk in Versen zu seinem anhaltenden Ruhm gekommen war: Waldmeisters Brautfahrt. Als Gattungsbezeichnung trägt Waldmeisters Brautfahrt die dreifache Benennung: „Ein Rhein-, Wein- und Wandermärchen“. Es erschien 1851 in Stuttgart bei Cotta und wurde, wie Otto Drude in seinem Buch Fontanes Berlin behauptet, ein Bestseller des Jahrhunderts.1 Nach Drude erlebte Waldmeisters Brautfahrt im Jahre 1907 ihre achtzigste Auflage. Das hat dem Dichter so leicht keiner nachgetan. Um so erstaunlicher ist die Tatsache, dass Waldmeisters Brautfahrt heutzutage nur noch in der Literaturgeschichte existiert, sei es mit einer kleinen Ausnahme. Bis heute bekannt geblieben ist das Lied, das in drei Strophen jedesmal mit der Verszeile endet: „Noch sind die Tage der Rosen!“ Die zweite Strophe lautet: Frei ist das Herz, und frei ist das Lied, Und frei ist der Bursch, der die Welt durchzieht, Und ein rosiger Kuß ist nicht minder frei, So spröd und verschämt auch die Lippe sei. Wo ein Lied erklingt, wo ein Kuß sich beut, 1
Drude 1998: 276f.
76 Da heißt’s: Noch ist blühende goldene Zeit, Noch sind die Tage der Rosen.2
Wir tun Otto Roquette Unrecht, wenn wir ihn rückschauend mit seinem Bestseller von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts identifizieren. Freilich, Roquette hatte großes Glück mit seinem Märchen in Versen. Er ruhte sich nach dem ersten Erfolg aber keineswegs auf seinen Lorbeeren aus. Jeder, der sich einen Überblick über Roquettes Werke zu gewinnen versucht, kann ihm die aufrichtige Bewunderung für seine Schaffensfreude und für die Diversität der von ihm verwendeten literarischen Formen nicht versagen. Von Krotoschin nach Darmstadt In seinem Buch Siebzig Jahre. Geschichte meines Lebens, das 1894 erschien, hat Otto Roquette die wichtigsten Stationen seines Lebens dargestellt. Es waren zahlreiche Stationen, an denen er einen Abschnitt seines Lebens verbrachte. Dieser häufige Wechsel des Wohnorts hing mit der Tätigkeit des Vaters zusammen. Roquettes Vater arbeitete als Justizassessor im östlichen Teil Preußens, zunächst in Krotoschin und danach in Gnesen und Bromberg. Die Eltern sahen den Ortswechsel als Beeinträchtigung der Entwicklung des jungen Otto und quartierten ihn bei den Großeltern väterlicherseits in Frankfurt an der Oder ein. Im dortigen Pfarrhaus fand er ein gebildetes Zuhause. Nach dem Abitur folgte das Studium der Geschichte und Literatur in Berlin, Heidelberg und Halle. Während dieser Studienzeit trat Otto Roquette in die Fußstapfen seiner Eltern. Der Vater war literarisch begabt und hatte einen Roman mit dem Titel Arion geschrieben. Die Mutter, so erzählt der Siebzigjährige, zählte zu ihren Talenten auch das „Versemachen“.3 Ab 1852 kam Roquette wieder nach Berlin wo er Bernhard von Lepel und Theodor Fontane und die literarischen Kreise des „Rütli“ und „Ellora“ kennen lernte. Roquette verbrachte einige Jahre in Dresden als Lehrer. Danach war er als Professor für Literaturgeschichte am Polytechnikum in Darmstadt tätig. Während der Studienjahre schrieb er seine ersten kleinen Erzählungen und Gedichte. Und dann kam der überwältigende Erfolg mit Waldmeisters Brautfahrt. Auf dieses Märchen in Versen gehe ich gleich näher ein. Vorher möchte ich einige der zahlreichen folgenden
2 3
Roquette 1894: 66. Roquette 1894 b: 28.
77 Publikationen dieses Dichters, Novellisten, Theaterdichters und Literaturhistorikers erwähnen. Eine Leistung, die noch immer unsere Anerkennung verdient, ist Roquettes Geschichte der Deutschen Dichtung. Von den ältesten Denkmälern bis auf die Neuzeit. Sie erschien 1871 und wurde dem Kunsthistoriker Wilhelm Lübke gewidmet. Diese in zwei Bänden erschienene Darstellung der deutschen Literaturgeschichte ist relativ einfach aufgebaut. Nach einer allgemeinen Einführung in die jeweilige kulturhistorische Periode, bei der sich Roquettes Interesse für regionale Verwurzelung der Literatur offenbart, geht der Verfassser auf die Geschichte der unterschiedlichen Gattungen ein. Dabei richtet er seine Aufmerksamkeit auf einzelne Autoren, die in besonderem Maße für eben diese Gattung zuständig sind. Die letzten behandelten Autoren sind Gotthelf, Auerbach, Groth und Reuter. Das ist bedauerlich, da der Leser gern gelesen hätte, was Roquette zu zeitgenössischen Autoren und Freunden wie Theodor Fontane zu sagen gehabt hätte. Nichtsdestoweniger enthält diese Literaturgeschichte eine aktuelle Zuspitzung in politischem Sinne. Am Schluss schreibt Roquette: Dem Verfasser dieses Buches aber ist es ein beglückendes Gefühl, seine Arbeit in einer Zeit abzuschließen, die wir die größte und schönste unsrer Nation nennen dürfen. Wenn Hutten einst ausrief: O Jahrhundert! Die Geister erwachen, es ist eine Freude zu leben! So ist unre Lage noch freudiger und zuversichtlicher. Die Geister sind wach geblieben und haben rastlos gewirkt, ungeschreckt durch Gewalt, unverdorben und unverwüstlich unter Druck und Noth. Wofür in Jahrhunderten Tausende gekämpft, gelitten und gestorben, der Gedanke des einen deutschen Vaterlandes, er ist im Kampf und Sieg über den drohenden Nachbar zur Wahrheit geworden.4
Otto Roquette schrieb mehr Werke literarhistorischer Art. Er gab Oliver Goldsmiths Der Landpfarrer von Wakefield heraus und verfasste bereits 1860 eine beachtliche Monographie über Werk und Leben Johann Christian Günthers (1695–1723). Umfangreich ist auch seine dichterische Produktion im engeren Sinne, wobei Waldmeisters Brautfahrt im Mittelpunkt steht. Von den Gedichten nenne ich noch die Idyllen, Elegien und Monologe aus dem Jahre 1882, die den großen Einfluss der Dichtung der Antike auf Roquette vor Augen führen, und das recht hübsche Versepos Hans Haidekuckuck (1855) über einen Schüler von Hans Sachs, der sich als Retter seiner Vaterstadt Nürnberg erweist. Wichtiger als die meisten Gedichte sind die Romane und Novellen, die er schrieb. Auf die Novellensammlung 4
Roquette 1872: 510.
78 Welt und Haus. Novellen (erster Band: 1871, zweiter Band: 1875) werde ich kurz eingehen, nachdem ich versprochenermaßen meine Hauptaufmerksamkeit auf den Bestseller des neunzehnten Jahrhunderts gerichtet habe: Waldmeisters Brautfahrt. Um annähernd ein Bild von Roquettes großer Produktivität zu verschaffen, nenne ich außerdem noch die Novellensammlung Neues Novellenbuch, die fünf Novellen enthält (1884).
Zwischen dem Sommernachtstraum und der Liebesidylle am Rhein Ob Pose oder nicht, Otto Roquette schreibt in seiner Autobiographie, dass er nicht den Plan hatte, seine Verszeilen über Waldmeister zu veröffentlichen: „Zur Veröffentlichung schien mir der Scherz nicht geeignet, zumal ich mich der leichtblütigen Stimmung darin zu entfremdet fühlte, um noch Gewicht darauf zu legen.“5 Das Wort „leichtblütig“ ist nicht schlecht gewählt. Auf zwei Handlungsebenen spielt das Märchen Waldmeisters Brautfahrt. Die entscheidende Ebene ist die der Naturgestalten um den Prinzen Waldmeister herum, der die Inkarnation einer bekannten heilsamen Pflanze darstellt. Die Handlung der personifizierten Blumen und Pflanzen richtet sich auf die Vermählung des Prinzen mit seiner Auserwählten. Gleichzeitig findet auf menschlicher Ebene ebenfalls eine Liebesgeschichte statt, die durch das Eingreifen der Blumenfeen eine positive Wendung nimmt. Zwei Mottos gehen der Darstellung von Waldmeisters Brautfahrt voran. Das eine Motto stammt von Goethe, das andere von Shakespeare. Letzteres stammt aus dem Sommernachtstraum und über diese Tatsache wird kein Kenner von Shakespeares Werk nach der Lektüre von Roquettes Erstling verwundert sein. Bei Shakespeare ist die Liebe das zentrale Motiv der Handlung. Shakespeares Handlung vollzieht sich auf drei Ebenen, von denen besonders die der Waldfeen Oberon und Titania und jene des Athener Königspaares Theseus und Hippolyta von Bedeutung sind. Die dritte Ebene ist die Ebene der Handwerker, die weiterhin noch eine vierte, die Ebene des Theaterspiels über Pyramus und Thisby in das Ganze integrieren. Für Waldmeisters Brautfahrt sind die erste und die zweite Ebene ausschlaggebend. Denn auch hier geht es um eine Liebesgeschichte auf zwei Niveaus, von denen das feenhafte Niveau das menschliche Niveau im Verborgenen entscheidend zu beeinflussen weiß. Bei Shakespeare versuchen die Feen, das ihrige zur Welt der Liebe und des Verliebt5
Roquette 1894 b: 281.
79 seins beizutragen. Daraus entstehen Missverständnisse, die zu guter Letzt harmonisch gelöst werden. Bei Roquette befindet sich ein Wanderer inmitten von Weinbergen. Die Nacht betört ihn, so dass er sich plötzlich in einer verzauberten Welt wiederfindet: Wo war ich plötzlich! – Aus den blüh’nden Reben Stieg elfengleich ein zauberhaft Gebild, Und rings umher, und über mir, und neben, Von luft’gen Geistern ist das Laub erfüllt, Und aus dem duft’gen Bad goldhellen Weins, Die Tropfen schüttelnd, all die Kräutlein sprangen, Gestaltenreich wie jene, und mit Eins Waldmeister sich und Rebenblüth’ umschlangen.6
Die Elfen versuchen, den Dichter zu bedrängen, worauf der König der Elfen eingreift: Er spricht: „So wie die Reb’ im blüh’nden Reiche So ist der Dichter Herr in seiner Welt, Mit Stürmen kämpfet er, der uns so Gleiche, Nach jenem Ziel, das ihm Natur gestellt. Durch dunkle Felsenspalten mühsam fort Treibt ihrer Wurzeln stille Kraft die Rebe, Sie netzt im Lenz mit Thränen ihren Ort, Und ringt und kämpft, daß einst sie sprossend lebe. “7
Für den Elfenkönig sind der goldene Wein und die goldenen Lieder miteinander vergleichbar, da sie beide aus Schmerz, Härte und Qual entstanden sind. Die erste Episode aus Waldmeisters Brautfahrt führt den Leser in eine konfliktreiche Situation ein. Der Kaplan, der sich darüber freut, dass er die jugendlichen Verirrungen hinter sich gelassen habe, kommt nach Hause, wo er seine Haushälterin Ursula im fröhlichen Kreise fahrender Studenten findet, die ihre Lebensfreude in Liedern zum Ausdruck bringen. Der Kaplan verabscheut diese Ausgelassenheit und löst die gesellige Runde mit finsterer Miene auf. Sein Freund, der Botaniker, indessen, der die Meinung des Kaplans über die Jugend nicht teilt, hat auf eine andere Weise die Freude anderer Wesen gestört. Er hat beim Sammeln von Pflanzen eine ganze Staude ausgerissen, in der sich gerade der Prinz Waldmeister ausruhte, und hat die Pflanze mitsamt des Prinzen in seine Botanisiertrommel eingeschlossen. Ein Heer von Pflanzen sammelt sich danach, den Prinzen aus der grünen Trommel zu befreien. Prinz 6 7
Roquette 1894: 8. Ebenda: 9.
80 Waldmeister, der seine Braut Rebenblüthe nicht warten lassen möchte, muss dennoch Geduld üben: Indessen harrt der Bräutigam Waldmeister angstvoll der Befreiung. So nah nach langer Sehnsucht kam Ihm schon des höchsten Glücks Verleihung, Die holde Braut mit süßem Hoffen Harrt längst schon seiner Gegenwart, Und nun, so nah dem Ziel, betroffen Vom Unfall ärgerlich und hart! Verdrießlich unerwünschte Lage! Hier eingepfercht und eingesperrt, Von mancher zudringlichen Frage Gepeinigt und herumgezerrt! Denn mit ihm stak in dem Gefängniß Ein Pflanzenpöbel jeder Sorte: Kamillen, keck und frech von Worte, In grobem Scherz mit zweien Pilzen, Recht niedrigen Schmarotzerfilzen. In gelber Haube Butterblumen, Die wußten mit geläuf’gen Kehlen Von ihren Vettern, ihren Muhmen Die schönsten Dinge zu erzählen. Und Knöterich und wilder Kümmel Betragen gar sich wie die Lümmel. O welch unsägliche Bedrängniß! Wie sehr beklagt er sein Verhängniß.8
Prinz Waldmeister wird befreit. Der Kaplan, sein Gast, der Botaniker und Frau Ursula werden von den Blumenelfen, besonders von den Brennnesseln, bedroht. Es entsteht ein regelrechter Kampf zwischen den drei Menschen und einer Schar von Nachtfaltern, Motten, Käfern und Glühwürmchen. Prinz Waldmeister aber macht der Schlacht erfolgreich ein Ende und führt seine Mitkämpfer zum Ziel. Die ganze Natur findet sich zur Hochzeit vom Prinzen Waldmeister mit der Prinzessin Rebenblüthe zusammen. Alle Blumen melden sich zum Fest, alle Weinsorten aus deutschen Landen sind mittels ihrer Abgesandten vertreten. Hier scheinen die Welt der Elfen und die Welt der Menschen auseinanderzuklaffen. Man kann ja kaum erwarten, dass Frau Ursula den Botaniker heiratet. Wo bleibt die menschliche Liebeserfüllung? Um diese Lücke zu schließen flicht der Dichter eine Episode ein, die den Titel “Der wilde Jäger” trägt. Maria, des Winzers Tochter wartet in ihrem kleinen Haus auf den Jäger, in den sie sich verliebt hat. Auch hier schalten die wohlwollenden Kräfte 8
Ebenda: 39.
81 der Natur sich ein. Der Jäger wird von wunderbarem Vogelgesang in die Nähe des Winzerhäuschens gelenkt, wo er seine Geliebte findet. In dieser Welt der Reben, des Weins, des Rheins und des Waldes feiert die Liebe ihren Siegeszug über alle Gegenkräfte. Die Feier der Liebe besitzt nahezu orgiastische Züge: Die Liebe ist ein Blüthensegen, Der heilig in der Seele ruht, Ein Röslein nicht, das von den Wegen Man pflückt für einen Wanderhut. Wenn ihr der Seele Mai gehütet, Beklagt ihr nicht der Träume Flucht, Die Knospe, der ihr einst erglühet, Prangt als lebend’ge Lebensfrucht. Aus reinster Tiefe muß es stammen, Und wie des Himmels Blau so treu, Was eure Seelen fügt zusammen, Dann bleibt’s euch ewig frisch und neu. Aus erster Lieb’und erster Wonne Sproßt jede Blüth’am Lebensbaum. Wie ging die Zeit, wie ging die Sonne Dahin? Ihr wißt es selber kaum.9
Probleme und Hindernisse, soweit es sie gab, sind beseitigt. Es kann das Pfingstfest, das Blumenfest, das Fest der Liebe gefeiert werden. Sogar die etwas betrübliche Situation im Hause des lebensfeindlichen Kaplans verwandelt sich in Heiteres. Der Wein macht einen anderen Menschen aus dem Kaplan. Nachdem er die Schale mit Wein bis auf den Grund geleert hat, schließt er Freundschaft mit der ganzen Welt und macht sogar ein Tänzchen mit der spröden Frau Ursula. Der Kommentar der Alten im Dorf lautet: „Der würd’ge Herr, er hat sich heute / Auch was geholt, wie andre Leute!“10 Der Wein beglückt, macht freundlich und lässt die Rangunterschiede zwischen den Menschen verschwinden. Otto Roquette im Urteil Fontanes und einiger Literaturgeschichten Der Erfolg von Waldmeisters Brautfahrt war immens. In seinem Buch Deutsches Dichterlexikon schreibt Gero von Wilpert über Roquettes Märchen, dass es weitverbreitet gewesen sei.11 Auf das Warum dieses 9 10 11
Ebenda: 94. Ebenda: 116. Von Wilpert 1976: 588.
82 Erfolgs gibt Theodor Fontane Antwort in einem Kapitel seiner 1853 erschienenen Schrift Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. Dieses Kapitel befasst sich mit Person und Werk Otto Roquettes. Fontane schreibt: Wer das Glück gehabt hat, den kleinen anspruchslosen Dichter von „Waldmeisters Brautfahrt“ jemals am Klavier sitzen und mit dem Vortrag seiner von ihm selbst komponierten Lieder lustig beschäftigt zu sehen, der vergißt die freundlichen Eindrücke so leicht nicht wieder und hat weinig Neigung, mit dem Sänger um seinen Ruhm zu rechten, zu dem er freilich gekommen ist – er weiß nicht wie. Er könnte mit vollstem Rechte wie Lord Byron von sich sagen: „Eines Morgens wacht’ich auf und fand mich berühmt in meinem Bette.“ Schon in der Einleitung zu diesen Einzelbesprechungen haben wir das Wunder des Otto-Roquetteschen Ruhmes auf einfache und naheliegende Weise zu erklären versucht, und indem wir das Faktum nochmals konstatieren, gehen wir zunächst zu einer Aufzählung seiner Arbeiten über. Er schrieb – außer „Waldmeisters Brautfahrt“ – ein „Liederbuch“ und den „Tag von St. Jakob“; alle drei bei Cotta erschienen. Unsere Ansicht über den Dichter ist folgende: ein entschieden lyrisches Talent, das am Volksliede mit Erfolg seine Studien gemacht und ihm den Naturlaut gelegentlich auf überraschende Weise abgelauscht hat. Seine Liedchen sind oft unbedeutend, aber immer frisch und liebenswürdig […] 12
In der Einleitung zur Darstellung der einzelnen Autoren hatte Fontane auch Roquette erwähnt. Kurz und bündig gibt er folgende Erklärung für den Erfolg Roquettes beim Lesepublikum: Der Revolution [1848, HE] und der Erhebung der Gemüter folgen Reaktion und Erschlaffung. Die Reaktion (politische wie religiöse) hob Redwitz und Scherenberg auf ihren Schild; die Erschlaffung, die wieder Ruhe und Gemütlichkeit haben wollte, machte Otto Roquette zu ihrem Manne. Hiermit kann und soll nichts gegen die Dichter selbst gesagt sein; sie fanden günstigen Wind vor und segelten damit; für uns aber, die wir nicht gewohnt sind, die Dinge nach äußerlichen und rein zufälligen Erfolgen zu beurteilen, ergeben sich aus dem Faktum einer fünfzehnten Auflage noch keine besondern Verdienstlichkeiten, und, so gewiß wir in Nachstehendem den billigen Forderungen jener vier Dichter [Freiligrath gehört auch dazu, HE] gerecht zu werden hoffen, so bestimmt wissen wir auch, daß mancher von denen uns mehr gilt, die bei der Wettfahrt weit, weit zurückblieben und um desselben Windes willen nicht recht von der Stelle gekommen sind, der jene vier im Fluge über die Wellen trug.13
In A.F.C. Villmars Litteraturgeschichte, deren erste Auflage bereits 1844 erschien und deren sechsundzwanzigste, von Adolf Stern besorgte und ergänzte Auflage aus dem Jahre 1905 ich hier benutze, finden wir folgende Charakteristik Roquettes: 12 13
Fontane 1969: 252. Ebenda: 244.
83
Ungefähr um die gleiche Zeit, um die Redwitz’ „Amaranth“ Modedichtung wurde, fand ein studentisch fröhliches, lyrisch frisches Rhein-, Wein- und Wandermärchen „Waldmeisters Brautfahrt “ wohlverdiente und im Gegensatze zu der tendenziösen Unerquicklichkeit der Amaranthdichtung sogar allzu enthusiastische Teilnahme. Der Dichter des jugendlich heiteren, vom Duft des Lenzes und des Weines durchhauchten kleinen Phantasiestückes, Otto Roquette aus Krotoschin in Posen, schuf in den folgenden Jahrzehnten mit glücklicher Beweglichkeit des Naturells und leichtem Fluß des sprachlichen Vermögens neben poetischen und Prosaerzählungen auch dramatische Dichtungen und Romane, ohne die Wirkung von „Waldmeisters Brautfahrt“ zu überbieten, worauf an sich nichts angekommen wäre, wenn nicht gerade dieser Fall zeigte, wie leicht das Publikum unserer (und wohl aller) Tage geneigt ist, an die poetischen Schöpfungen falsche Maßstäbe anzulegen. „Waldmeisters Brautfahrt“, als ein in glücklichen Stunden empfangenes und leicht ausgestaltetes, wesentlich durch seinen lyrischen Zauber wirkendes Märchen, wies eine natürliche Stimmungseinheit auf, die bei größer angelegten und tiefer reichenden Schöpfungen nicht ohne weiteres wieder gewonnen werden konnte, aber unablässig gefordert wurde.14
Viel negativer spricht sich Eduard Engel im zweiten Band seiner Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart aus dem Jahre 1906 aus: Von Otto Roquette ist […] nur noch das erste Jugendwerk am Leben: Waldmeisters Brautfahrt (1851), das zierlichste Nippsächlein dieser ganzen Nippesgattung. Sein später erschienenes Liederbuch erschien dagegen matt; seine Romane, Novellen und Dramen sind schon jetzt vergessen. Waldmeisters Brautfahrt dagegen erfreut noch immer junge Leser und nicht ohne Grund. Mit seiner flotten Verssprache, den singbaren Liedern […] und mit seiner spannenden Fabel vom Prinzen Waldmeister und der Prinzessin Rebenblüte gehört es zu den literarischen Spielereien, die man sich gefallen lassen darf, wenn sie ohne jede andre Absicht als die der anmutigen Tändelei geboten werden, und wenn gar so schöne Lieder darin stehen wie: „Noch ist die blühende goldene Zeit“ mit dem Kehrvers „Noch sind die Tage der Rosen“. Aus seinen Liederbüchern sind zu erwähnen die vielgesungenen Stücke: „Weißt du noch, als ich am Felsen / Bei den Veilchen dich belauschte“ und „O laß dich halten, goldne Stunde“. Von Roquette rührt eine gute Arbeit über Christian Günther her und eine deutsche Literaturgeschichte (1862), die schon darum Beachtung verdient, weil sie von einem Dichter geschrieben ist.15
Distanz zu Waldmeister? Otto Roquette muss Ähnliches empfunden haben wie Fontane. Das lässt sich aus der Publikation schließen, die 1876 das Licht sah: 14 15
Villmar 1905: 623. Engel 1906: 895.
84 Rebenkranz zu Waldmeisters silberner Hochzeit. Dieser Rebenkranz in Versen erschien ebenfalls im Stuttgarter Cotta Verlag. Aufgrund des Titels erwartet der Leser ein Pendant zu Waldmeisters Brautfahrt. Die ehemals so wichtigen Elfen sind jedoch verschwunden. Aber auch hier steht die Liebe im Mittelpunkt. Der größte Unterschied zwischen den Jahren 1851 und 1876 liegt in der historischen Situierung der neuen Verserzählung. Friedrich, eine der Hauptgestalten, ist verwundet an Leib und Seele aus dem Krieg gegen Frankreich 1871 heimgekommen. Auch sein Vater, ein alter Offizier, wird von Herzeleid gebeugt: Zwei Söhne hatt’er hingegeben Dem Vaterland’ im letzten Kriege, Den frevelhaft des Franken Ruf Erweckt, und Deutschlands schönste Siege, Ihm selbst die Niederlage schuf. Auch dieser Jüngste, kaum an Jahren Zum Jünglingsalter noch gereift, Ließ Hörsaal, Studien, Bücher fahren, Und Tand und Spiel war abgestreift, Um jugendfeurig einzutreten Mit Tausenden in großer Zeit Für Deutschlands Ehr’ im Waffenstreit. […] Geheilt zwar galten Friedrichs Wunden, Ob tief und schwer – doch tiefre Noth Schien jetzt ein Leiden zu bekunden, Das langsam zehrend ihn bedroht. Gefordert von zu jungen Jahren Erschien ein Uebermaß von Kraft, In Wettern, Lagern, Schlachtgefahren Des Lebens Blüte hingerafft. Und leicht ertrug nicht das Entbehren Die junge Brust, der Seele Glut, Und suchte trotzig sich zu wehren mit Lebensdurst und Hoffensmut.16
Die Heilung Friedrichs erfolgt durch die sinnvolle Arbeit als Architekt, der das neue Rathaus baut, und durch Eva, die Tochter eines Weinbauern, die er nach seiner Rückkehr aus Frankreich kennen gelernt hatte. Es müssen freilich noch einige Hindernisse überwunden werden. Um Evas Hand wirbt nämlich auch ihr Vetter, in dessen Elternhaus sie als Waise aufgewachsen ist. Die anfängliche Rivalität zwischen Friedrich und Justin macht letztlich einer freundlichen Versöhnung Platz.
16
Roquette 1876: 11.
85 Der Krieg gegen Frankreich bildet ein immer gegenwärtiges Zeitelement in diesem Versepos. Dieser Krieg ist der Bezugspunkt, um die neue Zeit zu verstehen. Friedrichs Heilung ist Teil einer heilsamen geschichtlichen Entwicklung, zu der auch das Bewusstsein gehört, dass „bis an die Vogesenrücken / Ein deutsches Elsaß wieder liegt!“17 Die Zeiten haben sich geändert. Roquette schreibt mit seinem Rebenkranz in gewissem Sinne einen Kommentar zu Waldmeisters Brautfahrt. Der Rhein mit seinen Weinbergen, der in seiner Schönheit, seiner Märchenhaftigkeit und in seinen vielfältigen geistreichen Erträgen 1851 überhistorisch besungen wurde, ist nun der Schauplatz von anschaulichen Veränderungen und sichtbarem Fortschritt geworden. Ein Bibliothekar taucht auf, der, wie es im Gedicht heißt, die Spur des Mittelalters sucht und zutiefst bedauert, dass es den alten, romantischen Rhein nicht mehr gebe. Darauf reagiert der Weinherr, Justins Vater, Evas Pflegevater: Der Weinherr wiegte nur das Haupt, Und sprach: „Vor fünfundzwanzig Jahren, Da mußte langsam und bestaubt Auch ich im Reisewagen fahren, Wenn, im Geschäft von Ort zu Ort, Kein Dampfer mich an’s Ufer setzte. Nun freilich kam man auch so fort! Und wer es etwa heut noch schätzte Gemütlich und mit Zeitverthun, Mit Füttern, Aufenthalt und Ruhn. Und mit Befried’gung oder Gähnen Den heißen Reisetag zu dehnen, Dem ist es keiner Zeit benommen. Ein Wäglein kann er stets bekommen. Wir Andern aber werden kaum Den Schienenwegen widerstreben, Die uns erobern Zeit und Raum, Und Wohlstand und Geschäft und Leben. Ist unser guter Rheinstrom doch Nicht bloß zu müßigem Begaffen: Es wohnen daran Leute noch, Die vorwärts gehn in rüst’gem Schaffen. […] Ist schmal der Raum, so packt man kühn Der alten Berge Felsenrippen, Und baut mit kräftigem Bemühn Die neue Stadt sich auf den Klippen. Und all das Leben, das sich regt, Entsprang dem Ruf der Schienenstraße. War’s besser in so hohem Maße Als man noch finster eingehegt 17
Ebenda: 29.
86 In malerischen Trümmern hauste? War würdiger das ganze Sein, Und war es schöner denn am Rhein, Als man von Köln nach Mainz vor Jahren Acht Tag’ im Schlepptau mußte fahren?“18
Wenn mir auch die entsprechenden Daten fehlen, so glaube ich dennoch behaupten zu können, dass der Rebenkranz zu Waldmeisters silberner Hochzeit nicht im Entferntesten der Auflagenzahl des Erstlings Waldmeisters Brautfahrt gleichgekommen ist. Es war auch gewiss ein Wagnis, den Namen „Waldmeister“ nur im Titel zu wiederholen, wenngleich thematisch, vom Gegenstand der Liebe aus gesehen, bestimmte Übereinkünfte zwischen 1851 und 1876 zweifellos vorhanden sind. Spannung zwischen Romantik und Eisenbahn Der Riss verlief im Grunde durch Otto Roquette selbst. Die von ihm gewählten literarischen Formen sind den Traditionen des achzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts stark verhaftet. Lyrische Gedichte und erzählende Partien seiner Verserzählungen wechseln einander ab und auch in seinen Novellen sind Lied und Gesang zumindest thematisch stark vertreten. Die Sänger dieser Lieder sind oft fahrende Schüler, wandernde Studenten also, die ihren Vettern aus der Zeit der Romantik sehr ähnlich sehen. Die Stadt als Schauplatz ist in Roquettes Novellen nur spärlich vertreten, höchstens als Beginnpunkt einer Bewegung, die aufs Land hinausführt. Wenn wir Eduard Engels Urteil folgen, betrachten wir die zahlreichen Prosawerke Roquettes als längst ad acta gelegt. Aus zwei Gründen wäre ein derartiges negatives Pauschalurteil bedauerlich. Der erste Grund ist literaturgeschichtlicher Art. Roquette zeigt im Übergang von Waldmeisters Brautfahrt zum Rebenkranz, dass er sich der Dynamik der historischen Entwicklung nach 1871 sehr wohl bewusst war und auch über den Charakter der Literatur nachdachte, die diese Dynamik zu vertreten hatte. Ob seine Antwort im Nachhinein als die adäquate gelten darf, diese Frage ist von der Literaturgeschichte schon längst zugunsten von Realisten wie Gottfried Keller, Theodor Storm und Theodor Fontane entschieden. Ob man allerdings die Grenze zwischen überholten Positionen und Erneuerung so klar markieren kann, halte ich für fraglich. Wer die literarischen Zeitschriften aus den Jahr18
Ebenda: 41ff.
87 zehnten zwischen 1850 und 1890 in die Hand nimmt, registriert ein hohes Maß an Kontinuität in bezug auf Gattungen, Neubelebung romantischer Traditionen und auf das zentrale Motiv der Literatur, nämlich die Liebe. Insofern ist Otto Roquette literarhistorisch gesehen ein besonders interessanter Dichter und Prosaschriftsteller. Der zweite Grund hat mit dem Inhalt von Roquettes Novellen zu tun. In vielen Fällen wurden diese Novellen als Fortsetzungsgeschichten veröffentlicht. Vom Aspekt der Publikationsweise her gesehen, entsprachen die Novellen bei ihrer Erstveröffentlichung Gesetzen der modernen Publizistik. Inhaltlich erkennt der unbefangene Leser, dass Roquette keineswegs seine vorgefassten Themen und Formen endlos wiederholt hat. Die Variation an Gehalt und Gestalt ist groß, wobei sich für den Leser eine Form der Vertrautheit mit dem Roquette-Ton einstellt. Die Vertrautheit wird zur Gewissheit, dass die Liebe in irgendeiner Weise im jeweiligen Werk eine Rolle spielen wird. Otto Roquette war ein Mann der kreativen Einfälle. An den Einfällen haperte es bei ihm nicht, höchstens an der Ausarbeitung, an der Kraft, die guten Anfänge auch zu einem befriedigenden Ende zu führen. Dieses zwiespältige Bild zeigen die Novellen. So etwa die Novelle Das Paradies, die in der Sammlung mit dem Titel Welt und Haus 1871 erschien. Das Paradies, von dem hier die Rede ist, ist ein Stück Land außerhalb einer großen Stadt, das einem Gymnasiallehrer als Erbe überlassen wird. Das Land ist alles Andere als ein Paradies. Es ist viel eher ein großer Schutthaufen, der zur Verwandlung in ein idyllisches Anwesen viel Phantasie und eine nicht geringe Tatkraft verlangt. Auch zu Wilhelm Raabe hätte dieses Grundthema gut gepasst, nur hätte Raabe daraus vermutlich eine Anti-Idylle mit einer dämonischen Schicksalsfügung gemacht. Aber, so idyllisch ist nun auch nicht alles bei Roquette. Die Novelle offenbart einen seriösen Gegensatz zwischen dem Rektor und seinem Sohn Wolfgang. Dieser Wolfgang kritisiert den Mangel an einem typischen künstlerischen Stil in seiner Zeit. Er sieht nur Eklektizismus in der künstlerischen Darstellung. Ihm fehlt die harmonische Ausbildung des Menschen seiner Zeit, die alle Fähigkeiten umfasst und die „schöne Persönlichkeit“ zum Ideal hat.19 Der Rektor vertritt einen anderen Standpunkt als sein Sohn: Obgleich ich selbst ein Schulmeister bin, sage ich, man soll seine Zeit nicht schulmeistern, weder die Zeit, noch die Kunst, noch sonst eine Ausdrucksform des Menschlichen, sondern soll ihm die Freiheit der Entwicklung 19
Roquette 1871: 364.
88 lassen. Das Schöne ist nicht schön, damit es in Dienstbarkeit von irgend etwas treten solle, sondern um seiner selbst willen. Will man das rein Menschliche zu Gunsten anderer Gesichtspunkte aus der Kunst verschwinden lassen, was wird dann aus der Poesie, aus der Kunst überhaupt? Es ist damit nicht gesagt, daß bewußte Zeitstimmungen sich nicht auch tendenziös aussprechen sollen. Sie haben volles Recht dazu, allein im großen Ganzen sind sie dann auch nur Richtungen, über welche, nachdem sie sich ausgesprochen und gewirkt haben, das geistige Leben auch im Gebiete des Schönen auf seinem eignen Wege dahin geht.20
Die Diskussionen über das Schöne, die Kunst und über das Recht, einen subjektiven Standpunkt einzunehmen, sind fesselnd, da der Erzähler das Talent besitzt, seine Novellengestalten auf ihre jeweils individuelle Weise sprechen zu lassen. Bestimmte Teile dieser Novelle stehen qualitativ nicht unter dem Niveau der berühmten Fontaneschen Konversationen. Die der Familie des Rektors im Paradies geschenkte Zeit dauert nicht allzu lange. Die moderne Zeit kündigt sich nicht nur mittels des Gesprächs über die ästhetische Erziehung des Menschen an. Die Moderne ist auch hier bei Roquette mittels der Eisenbahn vertreten. Das geerbte Land wird von der Eisenbahngesellschaft gekauft, so dass auf ihm ein Eisenbahngleis gebaut werden kann. Der Erzähler nimmt am Schluss wiederum das Wort und zieht das Fazit der Entwicklungen für die Familie des Rektors und gleichzeitig der Novelle: Die Forderungen der Welt und des Lebens gingen über den Schauplatz ihrer Spiele dahin, und sie fühlten sich selbst dabei gewandelt und gefördert. Und als eines Tages der erste Dampfwagenzug über das Feld brauste, da stand am Rande des Parks eine vergnügte Gesellschaft mit wehenden Tüchern und begrüßte mit lautem Hurrahruf den Augenblick, da die weiße Wolke über das Fleckchen Erde flog, auf dem sie sich einst gefunden.21
Zu Unrecht vergessen Die Qualität von Roquettes Novelle Das Paradies wechselt von Episode zu Episode. Das gilt auch für die anderen Novellen in der genannten Sammlung Welt und Haus. Im ersten Band sind die Novellen Die Freunde vom Athos über den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken, und Die Thurmfalken sehr gelungen. Die Novelle Waldschmetterlinge dagegen macht einen konstruierten Eindruck, der die zweifache Liebesgeschichte unglaubhaft macht. Im zweiten Band dieser Sammlung stehen ebenfalls vier Novellen, die fast alle vorzüglich sind. Wintermärchen über die 20 21
Ebenda: 367. Ebenda: 411.
89 Folgen eines Bruderzwistes, Astorga über einen Musiker, einen typischen Sonderling, dessen monströses Lebenswerk von einem Menschen namens Astorga handelt, Der schlimme Finger über den Wert und Unwert des Klaviers im bürgerlichen Haushalt und schließlich die etwas weniger interessante Liesbesgeschichte Vogel flieg’ aus! stellen das Erzähltalent Roquettes unter Beweis. Das Niveau Fontanes erreicht er jedoch nicht. Das hängt damit zusammen, dass Roquette gegen das Ende seiner Prosawerke die Neigung zeigt, schnell zur Abrundung zu kommen. So heißt es gegen Ende der Novelle Der schlimme Finger: „Es kam ein Tag im Steinkopf’schen Hause, der zwei Glückliche vereinigte, es kamen dann geräuschvollere, die besonders der Tante viel Beschäftigung gaben, um dann von stilleren wieder abgelöst zu werden.“22 Dieser eilige Gang durchs Leben befriedigt das Interesse des Lesers, der sich über das Liebesglück voll und ganz freuen wollte, in keinerlei Weise. Vielleicht musste sich Roquette gegen die Langeweile zur Wehr setzen, die den Schreibprozess beeinflusste nachdem die echten Schwierigkeiten auf dem Niveau der Novellenhandlung überwunden waren? Oder tauchten Waldmeister und Rebenblüthe als störende Geister aus einer unliebsam gewordenen Vergangenheit immer wieder auf? Widersetzte sich Roquette mit dem Tempo der Novellenschlüsse der eigenen Neigung, Erzählungen harmonisch enden zu lassen, einer Neigung, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war? Zu Leben und Werk Otto Roquettes sind noch viele Fragen zu stellen. Die Antwort, die Eduard Engel 1906 in seiner Literaturgeschichte gab, ist als Faktum auch heute noch gültig. Die angeführten Gründe für das Vergessensein von Otto Roquette als Autor von Novellen versehe ich jedoch mit einem großen Fragezeichen.
Literaturverzeichnis Drude, Otto. 1998. Fontane und sein Berlin. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag. Engel, Eduard. 1906. Geschichte derDeutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Band 2. Leipzig: G. Freytag / Wien: F. Tempsky. Fontane, Theodor. 1969. Aufsätze und Aufzeichnungen. Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Band 1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 22
Roquette 1875: 385.
90 Roquette, Otto. 1855. Hans Haidekuckuck. Berlin: Verlag von Heinrich Schindler. Roquette, Otto. 1860. Leben und Dichten Joh. Christ. Günther’s. Stuttgart: J. G. Cotta’scher Verlag. Roquette, Otto. 1871. Welt und Haus. Novellen. Band 1. Braunschweig: George Westermann. Roquette, Otto. 1872. Geschichte der Deutschen Dichtung, von den ältesten Denkmälern bis auf die Neuzeit.In zwei Bänden. Band 2. Zweite, verbesserte Auflage. Stuttgart: Verlag von Ebner und Seubert. Roquette, Otto. 1875. Welt und Haus. Novellen. Band 2. Braunschweig: George Westermann. Roquette, Otto. 1876. Rebenkranz zu Waldmeisters silberner Hochzeit. Stuttgart: Verl. der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Roquette, Otto. 1882. Idyllen, Elegieen und Monologe. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Roquette, Otto. 1884. Neues Novellenbuch. Breslau: Verlag von S. Schottlaender. Roquette, Otto. 1894. Waldmeisters Brautfahrt. Ein Rhein-, Wein- und Wandermärchen. Sechsundsiebzigste Auflage. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Roquette, Otto. 1894 b. Siebzig Jahre. Geschichte meines Lebens. In zwei Bänden. Darmstadt: Verlag von Arnold Bergstraeßer. Vilmar, A. F. C. 1905. Geschichte der Deutschen National-Litteratur. Sechsundzwanzigste Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung. Wilpert, Gero von. 1976. Deutsches Dichterlexikon. Biographischbibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
Guillaume van Gemert Die Herrschenden dulden die Wahrheit nur im Kleide der Vergangenheit
Der Dichter als Identifikationsfigur national-kultureller Eigenständigkeit. Zu Adam Müller-Guttenbrunns Lenau-Trilogie (1919-1921) „Ignotus“ lautete, vielsagend genug, sein Pseudonym: „Der Unbekannte“.1 Das war nicht zukunftsträchtig gemeint, denn der Inhaber dieses Decknamens, der donauschwäbische Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn (1852-1923),2 dürfte über ein solches Maß an Selbstgefühl verfügt haben, dass er schon mit literarischem Nachruhm rechnete: Die Auflagen, die seine Romane und Erzählungen zu seinen Lebzeiten erzielten, berechtigten ihn durchaus dazu. Zudem ist er bis heute nicht ganz vergessen: Nicht zuletzt wohl auf Anregung eben jener Kreise, für die er sich schriftstellerisch engagierte, die Banater Schwaben seiner, mittlerweile rumänischen, Heimat, die seit 1945 mehrheitlich zu den Vertriebenen zählen, ist ihm bis in die jüngste Zeit gelegentlich schon noch eine bescheidene Aufmerksamkeit zuteil geworden, in Monographien, Aufsätzen und vereinzelten Neuauflagen einiger seiner Schriften. Das Pseudonym „Ignotus“ ist vielmehr in anderer Hinsicht aufschlussreich: Dass Müller-Guttenbrunn, der sich aus den Niederungen dürftigster Vorbildung emporarbeiten musste, sich hier des Latein, der Gelehrtensprache, bedient, zeugt implizit von seinem lebenslänglichen Bildungshunger und einem latenten Nachholbedarf. Es verrät aber auch etwas von seinen Zielsetzungen, von seiner Kämpfernatur und seinem Einsatz für die Rechte seiner Volksgruppe, der ihn öfters an die Grenze der Legalität führte, weswegen es dann und wann sicher not täte, ein „Unbekannter“ zu sein. Müller-Guttenbrunns Anfänge standen nicht gerade unter günstigen Vorzeichen:3 die uneheliche Geburt, am 22. Oktober 1852, als Angehöriger der deutschsprachigen donauschwäbischen Minderheit in dem damals ungarischen Banat und die gescheiterte Schullaufbahn aufgrund der einsetzenden Magyarisierung prädisponierten ihn zum Handwerk. Als Barbier und angehender Wundarzt schlug er sich durch, bis er, achtzehnjährig, nach Wien übersiedeln konnte. Hier ließ 1 2 3
Sachslehner 1990: 281. Zum Leben Müller-Guttenbrunns vgl. auch Berwanger 1976: 10-22. Zum Leben vgl. weiter: Weresch 1975 und Senz 1997: 423-428.
92 er sich zum Telegraphenbeamten ausbilden und holte die ersten drei Klassen des Gymnasiums im Selbststudium nach. Daneben beschäftigte er sich als Journalist und Feuilletonist, was ihm von 1886 an die Existenz als freier Schriftsteller ermöglichte. Sie war aber keineswegs gesichert, denn nach zweimaligem Scheitern als Theaterleiter stand er noch Anfang des 20. Jahrhunderts mittellos da. 4 Als (Roman) Schriftsteller und Feuilletonist erntete er gerade in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens zunehmend Anerkennung, deren Gipfel dem Autodidakten wohl die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Wiener Universität zum 70. Geburtstag bedeutet haben dürfte - wenige Monate vor seinem Tod, der am 5. Januar 1923 erfolgte. Im letzten Jahrzehnt des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bilden den Schwerpunkt von Müller-Guttenbrunns journalistischem, feuilletonistischem und literarischem Schaffen die Wiener Aktualität und die österreichische Geschichte. Mit donauschwäbischen Themen beschäftigte er sich seltener, wenn er auch regelmäßig für ungarisch-deutsche Blätter schrieb und sich schwäbischer Studenten aus den ungarischen Landen in Wien annahm. Die eigentliche Hinwendung zur deutschnationalen Literatur zwecks politischer Sensibilisierung der in ihren Rechten und ihrer ethnischen Identität beschnittenen Donauschwaben vollzog sich 1906/1907, als Müller-Guttenbrunn von einem Wiener Verlag den Auftrag erhielt, einen Roman über die Lage der deutschsprachigen Minderheit in den ungarischen Landen zu schreiben, und im Zuge der Vorbereitungen eine Reise in die alte Heimat unternahm. Das Werk, das 1907 unter dem Titel Götzendämmerung erschien,5 wurde in großen Mengen in das Banat geschmuggelt, von den Behörden jedoch als Konterbande beschlagnahmt und der Besitz unter Strafe gestellt. Es folgten historische Heimatromane wie Die Glocken der Heimat (1910), Der kleine Schwab (1910) sowie Meister Jakob und seine Kinder (1918),6 sein wohl bekanntestes Werk,7 in denen sich, wie in der Götzendämmerung, ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein artikulierte, das sich gelegentlich mit Rassendenken verquickte. Hier stand MüllerGuttenbrunn in einer Tradition, die ihn mit einem Houston Stewart Chamberlain und einem Paul Lagarde verband. 8 Zentrale Kategorie in seinem Denken ist ‚Volkstum‘, das er als eine fast mystische, Gemein-
4 5 6 7 8
Vgl. auch: Geehr 1973. Müller-Guttenbrunn [1918?]. Weresch 1927. Cobet 1991: 41. Weresch 1975: I, 396-398.
93 schaft stiftende Potenz ansah, die zum Ganzen tendiert, wie er seinen Landsleuten aufs Herz band: Ihr sollt nicht vom Ganzen wegstreben, nicht euch dem Ganzen feige und raffgierig entziehen, sondern hin zum Ganzen sollt ihr streben mit eurer Liebe, damit es eine lebendige und vor aller Welt würdige Gemeinschaft werde.9
Nicht Staat und Wirtschaftsinteressen schafften den Zusammenhalt, sondern eben ‚Volkstum‘: Es waltet in allen Gliedern der Nation ein volkstümliches Denken und Fühlen, Lieben und Hassen, Leiden und Handeln, Entbehren und Sehnen, Ahnen und Glauben, Nicht der Umstand ist das Wesentliche, daß wir den Staat gemeinsam haben, auch nicht etwa die wirtschaftliche Gemeinschaft des Handelns ist entscheidend, sondern die geistige Gemeinschaft, die wir Deutsche unter uns bilden, die uns überall verbindet, ganz gleichgültig, wo wir wohnen und wann wir leben oder gelebt haben - sie ist das Ausschlaggebende. 10
Bei solchen Auffassungen ist es nicht verwunderlich, dass MüllerGuttenbrunn nach seinem Tode von den Nationalsozialisten als Blutund Boden-Dichter vereinnahmt wurde. Trotzdem erfreute er sich auch nach 1945 noch einer gewissen Bekanntheit: Wohl nicht zuletzt, weil er als der einzige donauschwäbische Autor gilt, der über die Grenzen des Banat hinaus gewirkt habe, konnte noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine sechsbändige Auswahlausgabe seiner Schriften erscheinen. 11 Als Müller-Guttenbrunns reifstes Werk wird gemeinhin seine Lenau-Trilogie angesehen, die unter dem Obertitel Lenau, das Dichterherz der Zeit, die Romane Sein Vaterhaus (1919), Dämonische Jahre (1920) und Auf der Höhe (1921) vereinte.12 Wenn auch der Volkstumsgedanke hier wenig offensichtlich aufscheint, ist es eines der Anliegen Müller-Guttenbrunns, Lenau, dessen Volkszugehörigkeit bis dahin unklar gewesen sei, in seiner Deutschheit hervortreten zu lassen. 13 Dem „rein sittengeschichtlichen Roman“, 14 als welchen er die 9 10 11 12 13 14
Adam Müller-Guttenbrunn: Deutsche Kulturbilder aus Ungarn. Leipzig: Meyer 1896: 14. Zitiert nach: Weresch 1975: I, 398. Adam Müller-Guttenbrunn: Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse. Wien: Strache 1918: 67. Zitiert nach: Weresch 1975: I, 398. Vgl. dazu Cobet: 41. Herausgegeben wurden die Gesammelten Werke, die 1976-1978 in Freiburg erschienen, von Hans Weresch. Vgl. Weresch 1975: II, 374 - 430. Ebenda: 374f. Adam Müller-Guttenbrunn: „Roman und Familienforschung“. In: Neues Wiener Tagblatt vom 30.9.1920. Zitiert nach: Weresch 1975: II, 374.
94 Lenau-Trilogie einstuft, solle es um die Wahrheit gehen, die solide in der Biographie zu verankern sei, nicht die Erfindung sollte höchster Dichterstolz sein: Was ist ernster, das Leben oder die Kunst? Schiller behauptete das eine, Lenau das andere. Was ist wertvoller in der Dichtung, die Wahrheit des Lebens oder die Erfindung? Noch Karl Gutzkow rühmt sich im Vorwort eines seiner Riesenromane, daß er all den Reichtum der Handlung und die Gestaltung seines Werkes der eigenen Erfindungskraft verdanke und nicht etwa dem Leben. Dieser dichterische Stolz ist uns heute ganz unverständlich, die neueren Geschlechter des deutschen Schrifttums suchen im Gegenteil die engste Anlehnung an das Leben. Aber auch in der Dichtung, namentlich in der Erzählkunst, gilt das Wort von der goldenen Mittelstraße, das heißt, der Erzähler hat die möglichste Annäherung an das Leben zu erreichen, ohne dieses abzuschreiben.15
Der historische Dichter als Held aus dem Volke solle in seiner Volksverbundenheit, d.h. gerade auch in seinem verwandtschaftlichen Kontext, dargestellt werden, was kein Mangel an dichterischer Erfindungsgabe sei, da das Leben selber in seiner Gestaltungskraft die dichterische Phantasie weit überrage: Die aus dem Schoße des Volkes emporsteigenden Größen stehen uns nicht nur näher als die auf den Höhen geborenen, es ist auch weitaus fesselnder, ihre Herkunft und ihren Entwicklungsgang, der oft voller Wunder und Rätsel ist, darzustellen und dichterisch nachzuweisen als die Selbstverständlichkeiten im Leben eines geborenen Kaisers oder Königs. Aber auch zu solch einem Helden aus dem Volk gehört eine Familie, gehört der Blutkreislauf seiner engeren Verwandtschaft. Und das alles liegt in der Regel im Dunkeln, es ist unerforscht und bietet der Phantasie ein freies Feld; ein Dichter kann da hineingeheimnissen, was er mag, niemand wird ihm auf die Finger klopfen können. Der ernste Erzähler von heute verzichtet auf diese Freiheit, er zieht ihr die Wahrheit vor, denn er weiß, daß das Leben selbst der phantasievollste aller Dichter ist. Und wo die Wahrheit weh tut, wo sie auf Wunden brennt, verbreitet sie in der Regel Licht. Schillers ganze Familie ist gründlich erforscht, von Kleist kann das gleiche gelten, die des Melancholikers Raimund ist zu wenig durchgearbeitet, die Lenau's überhaupt nicht.16
Auf Lenaus Künstlertum an sich kommt es Müller-Guttenbrunn nicht an. An dieses hätte, so hat einst Wolfgang Hildesheimer dargetan,17 bestenfalls kongeniale dichterische Schöpferkraft herangereicht und die dürfte Müller-Guttenbrunn, bei all seiner Bewunderung für Lenau und bei aller Achtung, die man seiner Lenau-Trilogie zollen mag, zu 15 16 17
Müller-Guttenbrunn: Ebenda. Zitiert nach: Weresch 1975: II, 374. Müller-Guttenbrunn: Ebenda. Zitiert nach: Weresch 1975: II, 374-375. Hildesheimer 1988.
95 einem guten Teil abgegangen sein. Seine Wahrheit ist über die Faktizität der Familienforschung hinaus letztendlich ein Gleichnis, das aus der Doppelbödigkeit des historischen Romans lebt: Lenaus Kampf gegen das Metternichsche Unterdrückungssystem präfiguriert den Kampf der nationalgesinnten Donauschwaben gegen die Magyarisierung, die vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte, und um die kulturelle Eigenständigkeit im Schmelztiegel des Vielvölkerstaats Balkan nach 1918. Darin erschöpft sich, bei allem Einfühlungsvermögen, mit dem dessen Geschicke dargestellt werden, letzten Endes die Funktion von Müller-Guttenbrunns Lenau. Hier wird die vermeintliche Wahrheit zur Dichtung und Lenaus Leben zur Chiffre für deutschnationale Ideale in der Diaspora. *** Dies alles soll nicht heißen, dass Müller-Guttenbrunn es sich mit seiner Lenau-Trilogie leicht gemacht hätte; über vier Jahrzehnte hatte er sich mit dem Stoff beschäftigt, bevor er mit der Niederschrift der drei Lenau-Romane begann.18 Sein Interesse für den Dichter setzte ein, als er 1877 dessen Geburtsort Csatad besuchte, und er gab sich jahrelang ausgiebigen Quellenstudien in Archiven hin, die jedoch vor allem den Nachweis erbringen sollten, dass Lenau väterlicher- wie mütterlicherseits „reindeutscher Abstammung“ gewesen sei,19 und weder ungarische, noch serbische Vorfahren gehabt habe. Zudem wollte er sich so Klarheit verschaffen über die Geschicke von Lenaus Geschwistern, namentlich der jüngeren Schwester Lena oder Lentschi, deren Spur sich nach der Ehe mit einem Bäckermeister bis dahin im Dickicht der Regionalgeschichte verlor. Hier hat er als detailversessener Heimatforscher manch Unbekanntes zutage fördern können, ja insgesamt dürften ihm weder in Lenaus Vita, noch im eher skizzenhaft angedeuteten zeithistorischen Hintergrund kaum sachliche Fehler nachzuweisen sein. Aus heutiger Sicht stört allerdings am ehesten die einseitige Ausrichtung auf Lenaus Deutschtum und die sich daraus ergebende Gewichtung, die, in gleichsam naturalistischem Ansatz, die Auswertung der Familiengeschichte in den Mittelpunkt rückt, auf Kosten des breiteren Panoramas der Zeit. Bei dieser Ausrichtung braucht es nicht zu verwundern, dass der erste Band der Trilogie den Titel Sein Vaterhaus führt, was sich auf Lenaus Herkunft bezieht: Er befasst sich zu über Zweidrittel mit der Lebensgeschichte von dessen Eltern. Der Vater, Franz Niembsch, 18 19
Vgl. Weresch 1975: II, 376-377. Ebenda: 376.
96 ist das verzogene Muttersöhnchen einer mit Adelsdünkel behafteten Baronin und eines ihr weitgehend hörigen österreichischen Offiziers; die Mutter, Therese Maigraber, ein tüchtiges und lebensfrohes Banater Schwabenkind, das durchgreift, wo ihr Mann zu schwach ist, und klug die Geschicke der jungen Familie lenkt, als Franz seine Amtspflichten vernachlässigt und das Eheglück durch die Spielleidenschaft, seinen „schlummernden Dämon“,20 den er vom Großvater mütterlicherseits ererbt hat, zunehmend zerstört. Als er am Ende geschlechtskrank dahinsiecht, lebt sie nur noch in ihren Kindern, besonders dem einzigen Sohn Nikolaus, den sie als ihren „leuchtenden Stern“ betrachtet.21 Therese, die von ihrer Schwiegermutter, der Baronin, als unstandesgemäß und als Verführerin von deren einzigem Sohn, Franz eben, abgelehnt und lebenslang geschnitten wird, ist die eigentliche „Familiengründerin“.22 Thereses Sohn Nikolaus, der spätere Dichter, schlägt denn auch, als positive Leitgestalt, der Mutter nach, er ist „ein Maigraber, kein Niembsch, ein Schwab, kein ärarischer Mensch von weiß Gott woher“.23 Als Donauschwabe gehört er der überlegenen, deutschen, Minderheit in den magyarisierten Landen an, deren Wohnstätten im Roman als regelrechte Idyllen dargestellt werden: Etwa zehn große mehrtausendköpfige deutsche Dörfer lagen breit und wuchtig auf diesem Wege, als hätten sie die Zukunft dieser ungepflegten Wasserstraße zu hüten, die von Siebenbürgen herabkam, sich auf bequemen Umwegen in die Theiß wälzte, um mit ihrer hochmögenden Protektion zuletzt doch in die Donau zu gelangen. Und just in der Mitte dieser Straße von Arad bis Lippa sonnte sich Schöndorf, ein mächtiges Viereck, auf einer Hochfläche gelegen, mit kerzengeraden Gassen. Zweihundert, vom Anbeginn besiedelte Hausplätze mit Hof und Garten umgaben die im Mittelpunkt ragende Kirche, vor deren Pforte die Hauptstraße vorbeizog nach dem Osten. Einem Wald von Akazien- und Maulbeerbäumen, die alle Gassen in Doppelreihen bevölkerten, glich das große Schwabendorf. Die Landwirtschaft blühte, die Viehzucht gedieh, alles, was man anfaßte, glückte; Weizen und Korn, Flachs und Tabak, Melonen und Obst aller Art reifte in Fülle, und wenn die Schöndorfer auf dem Markt in Neu-Arad erschienen, da guckten die Händler. Von jenseits des Wassers liefen die Leute herbei um Schöndorfer Butter und Schöndorfer Obst. Die Tüchtigkeit dieser Kolonisten war weit berühmt; alt und jung konnte sich an Arbeit
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Müller-Guttenbrunn 1919: 85f. Ebenda: 247, 262, 340, 364, 366. Ebenda: 135: „Welch ein guter Geist mußte in dieser jungen Frau walten! Sie war die Familiengründerin, nicht er; sie die Erhalterin, denn sein Einkommen hätte ihn noch nicht befähigt, einen solchen Hausstand zu führen. Und er bereitete dieser Frau heimlichen Kummer?“. Ebenda: 350.
97 nicht genug tun. Ging einer in das Ausgeding, wurde er noch Bienenvater und Seidenzüchter.24
Wenn die deutschen Schwaben von der ungarischen Mehrheit auch zurückgestellt und benachteiligt werden, - ihnen widerfährt eben das, was Müller-Guttenbrunn in der Götzendämmerung angeprangert hatte - so haben sie dieser voraus, dass sie auf Ordnung und Erhalt setzen, während die Ungarn Verfall nicht verhüten können: Und das grausliche Soldatenfangen nehme auch immer mehr zu, weil das Werben nichts nütze. Gerade auf die Söhne der Deutschen mache man Jagd. Sei den Kolonisten nicht eine gewisse Militärfreiheit zugesichert worden? […] die Einverleibung mit Ungarn ist an so manchem Punkt zu hitzig angepackt worden, und es geriet vieles in Verfall.25
Über alles zeichnet die Banater Schwaben vor der ungarischen Mehrheit aber eine stolze Freiheitlichkeit aus, für die sogar einem Franz Niembsch, selber Ehemann einer Schwäbin, das Verständnis abgeht: Dreimal so weit als Lippa war Csatad von Schöndorf entfernt, und es führte keine gerade Straße dahin. Der Ausfall in der Wirtschaft, von dem Therese immer redete, wird schon durch seine erhöhten Bezüge wettgemacht werden. Ihm selbst ersetzte diesen Ausfall schon die Gewißheit, daß er nicht auf Schritt und Tritt in Gefahr war, von einem Vetter oder einer Base, die ihn duzten, angerufen zu werden. Er liebte die Bauern nun einmal nicht und wollte nicht als ihresgleichen gelten. Das waren doch alles einmal Leibeigene der Herrenschichte, zu der er sich zählte. Die Freigelassenen des Kaisers Joseph nannte man sie in seinen Kreisen. Seine Kenntnisse von Land und Leuten reichten noch nicht so weit, zu wissen, daß dieses Witzwort auf die deutschen Bauern des Banats nicht zutraf, daß diese Bauern als Freie ins Land gekommen und niemals Leibeigene in Ungarn waren. Alles ringsum war hörig, nur sie nicht. Darum saß ihnen auch der Respekt vor jedem, der wie ein Herr gekleidet ging, nicht so tief wie den Madjaren, den Walachen und Serben. Grüßten sie, so war das Höflichkeit, war es Kultur, nicht Unterwürfigkeit und eingeprügelte Demut. 26
In diese Welt wurde Nikolaus Lenau 1802 hineingeboren, hier, in Csatad, Tokay und Ofen werden ihm die ihn als Dichter prägenden Naturerlebnisse zuteil, bis er nach dem Tod des Vaters sich, zur Fortsetzung seines Bildungsweges, nach Stockerau in die Abhängigkeit seiner herrischen Großmutter, der Baronin, begeben muss, um in Wien studieren zu können. 24 25 26
Ebenda: 53f. Ebenda: 113f. Ebenda: 169.
98 Der Auszug aus dem Elternhaus und die Entlassung aus der mütterlichen Obhut markieren den ersten Wendepunkt in Lenaus Leben. Was nun folgt, sind „dämonische Jahre“, so der Titel des zweiten Bandes der Trilogie, Jahre der Selbstfindung in der Hinfindung zur Dichtkunst zum einen, und in schmerzvollen Erfahrungen der Liebe zum andern: Das Wiener Volksmädchen Berta Hauer gebärt ihm ein uneheliches Kind, die Tochter Adelheid, die ihm entzogen wird und ihrer leichtlebigen Mutter nachschlägt; die Beziehung zu Lotte Gmelin, der Geliebten der „Schilflieder“, muss dagegen bei aller Gegenseitigkeit platonisch bleiben. Die „dämonischen“ Jahre sind aber vor allem Jahre der Unfreiheit: Der Schüler und Student erfährt dies unter der Fuchtel der Großmutter, dieses Inbegriffs „ärarischer Nüchternheit“, 27 die keinen Widerspruch duldet und jeglichen Versuch freier Selbstentfaltung im Keim erstickt, besonders schmerzvoll; dem angehenden Autor erscheint der Metternichsche Überwachungsstaat, der mit seiner Zensur und seinem Spitzelsystem die freie Meinungsäußerung unterdrückt und den dichterischen Überschwang lähmt, in ähnlichem Lichte. Von Anfang an muss der Dichter Lenau damit rechnen, dass „ihn die Menageriewärter des Geistes wieder in einen Käfig lassen, in dem sie auf Befehl Metternichs den künftigen Geschlechtern die Zähne stumpf feilen“.28 Gegen den Metternichstaat kann Lenau, aller Melancholie, die ihn bis in sein tiefstes Wesen prägt, zum Trotz, unbändig, aber hellsichtig wettern, wobei sich in der Anbindung seiner Freiheitsideale die Akzente zunehmend verlagern, weg vom Erbe der Französischen Revolution, hin zur sagenhaft verklärten Freiheitlichkeit amerikanischen Gründertums: Unter dem Schatten von angeborener Schwermut, der sich über das Wesen des Dichters breitete, ahnte niemand die Kraft, mit der die Stürme der Zeit in ihm brausten. Er war von tiefem Haß erfüllt gegen jedwede Tyrannei, ein unbändiger Trotz erfüllte ihn bei dem bloßen Gedanken, daß ein Zensor sich anmaßen könnte, Einblick zu fordern in seine Gedankenwelt. Er trieb keine Politik, aber er liebte die Blumensprache nicht, wenn, wie heute, davon geredet werden mußte. Dieser Metternich! Diese heilige Allianz! Geschlossen zur Ausrottung aller Errungenschaften der Französischen Revolution! Dieser beständige Mißbrauch österreichischer und moskowitischer Armeen zur Stützung wankender Throne in ganz Europa! Bis nach Neapel und Spanien reicht der Arm dieser unnatürlichen Gewalt. „Nein, man sollte uns nicht reizen, davon zu reden, sollte uns lieber nicht zwingen, daran zu denken,“ rief er. „Jetzt kommt ein neues Geschlecht. Wird dieses den Maulkorb auch so geduldig tragen wie unsere verehrten Vorgänger auf 27 28
Müller-Guttenbrunn 1920: 5. Ebenda: 139.
99 dem Parnaß? Man sollte uns lieber nicht verwarnen, uns nicht drohen.“ Seinem idealen Republikanismus genügte auch der jetzige französische Rummel nicht. Er blickte über das Weltmeer, dort meinte er das Land der Verheißung emporsteigen zu sehen …29
Zu ersten lyrischen Glanzleistungen veranlassen ihn Liebesbeziehungen, wie die fatale zu Berta Hauer30 und die entsagungsvolle zu Lotte Gmelin,31 aber vor allem der Tod der Mutter. 32 Immer wieder finden sich allerdings in seinem Wiener Umfeld Personen, die ihn, mittelbar oder unmittelbar, darauf hinweisen, dass seine Dichtung sich nicht im Privaten erschöpfen sollte; das gilt vor allem für die Dichterkollegen, mit denen er sich im Silbernen Kaffeehaus Neuners trifft, Grillparzer und Anastasius Grün etwa, weiter für den Hofrat Kleyle, den Onkel seines Jugendfreundes Fritz Kleyle und den Vater der späteren Freundin und Muse Sophie Löwenthal, der ihn anschwäbelt: „Wir brauche starke Poete, die uns aufrichte, die uns hinausführe aus dieser gefährlichen deutschen Duselei“,33 und schließlich für sein zunächst noch nicht als solches erkanntes Vorbild, Erzherzog Karl, den verkannten Sieger von Aspern,34 der mit der kaiserlichen Politik in vielem nicht einverstanden ist, die Integrität seiner Person aber gerade dadurch hinüberrettet: Auf ihn sollte der Tyrannenhasser Lenau später ein Lobgedicht verfassen, den einzigen Fürstenpreis des Freiheitsdichters, der aber zu seinen besten Dichtungen zählt.35 Gegen Ende von Lenaus Wiener Bildungsjahren scheint endlich die Freiheit zu winken: Die Großmutter stirbt und selber kann er erstmals ins schwäbische Stammland fahren, wo er Anschluss gewinnt an die schwäbische Dichterschule um Uhland, Schwab und Kerner. Hier erfährt er, dass Mitbestimmung in Staatsangelegenheiten kein leeres Wort zu sein braucht und dass private wie politische Dichtungen unzensiert veröffentlicht werden können; er muss aber auch feststellen, dass die schwäbische Urheimat, gemessen am Banat, zum „Musterländle“ verkommen ist, in dem Behäbigkeit den Ton angibt, was für die Dichtkunst Schaden befürchten lässt: Er hörte im Gasthof, es tage jetzt der schwäbische Landtag in Karlsruhe und er sah Männer, die man ihm als Deputierte bezeichnete. Da gibts es einen 29 30 31 32 33 34 35
Ebenda: 289f. Ebenda: 197f., 294, 315-317. Ebenda: 347-351. Ebenda: 227f. Ebenda: 58. Ebenda: 261f. Müller-Guttenbrunn 1922: 290-300.
100 Landtag? Freilich, den gibt es in Ungarn auch, aber er wird nie einberufen, nur wenn es zu huldigen gilt, erinnert man sich seiner in Wien. Und in Österreich? Dem Metternich genügen die Stände. Und die huldigen daheim jetzt wohl bald dem gütigen Ferdinand, wie sie dem ungütigen Franz immer gehuldigt hatten. Er sprach bei Tisch mit Abgeordneten. Ei, ei, in diesem jungen Staat von Napoleons Gnaden gab es eine Verfassung, gab es Schwurgerichte. Und hier gab es Preßfreiheit. Was man nicht alles erfährt, wenn man sich über die schwarzgelben Grenzpfähle hinausbegibt. Darum ist es wohl auch so schwer, in Wien einen Auslandspaß zu erhalten. […] Auf dieser Fahrt besah er sich so recht die schwäbische Landschaft, die erstaunliche Reinlichkeit der Dörfer, die Ausnützung des Bodens, die bäuerliche Kultur. Woran erinnerte ihn das nur? An sein Banater Jugendland! Wo Deutsche hausten, sah es auch in Ungarn so aus wie hier. Aber ihm behagte da etwas nicht. So freundlich es ihn auch anmutete, so erfreulich es auch war, zu denken, wie froh all diese Menschen den Lohn ihres Fleißes genießen würden, er hatte das Gefühl einer Überkultur. Wie kleinlich, der Natur so zu Leibe zu rücken, seine Hand auf jeden Stein am Wege zu legen und in jedes Erdloch zu stecken, um eine Gabe von ihr zu erbetteln. Diese in Terrassen gestaffelten Weinberge, war das nicht eine Bewucherung der Natur? Die lässige Art der Madjaren gefiel ihm besser. Der streut seine Aussaat in flache Furchen, überläßt seinen Weinstock, wenn er ihn im Frühling beschnitten, dem lieben Herrgott, legt sich auf die faule Haut und raucht Tabak. Die liebe Sonne wird es schon machen, daß er ernten kann. Als eine bescheidene Anfrage an die Natur, ob sie die Gnade haben wolle, den Menschen von ihren köstlichen Gaben auch etwas zu spenden, erschien ihm der Landbau in Ungarn. Hier packte die Faust des Deutschen die gute Frau gleich an der Gurgel, sie mußte ihm alles lassen, was sie besaß. Hut ab, Hut ab vor so viel Fleiß. Aber die Tokajer Zigeunerwirtschaft erschien ihm edler … Trieben's die Schwaben am Ende auch so in der Poesie?36
Am Ende macht sich Lenau auf den Weg in den vermeinten Hort der Freiheit, nach Amerika als der großen Gegenutopie zum Metternichstaat: Er war schon ganz in amerikanischer Freiheitsstimmung, alles in Europa erschien ihm faul und niedrig, erbärmlich dünkte ihm der Staat, der Eigentumsrechte geltend machte auf seine Bürger wie auf eine Ware.37
Die Amerika-Reise markiert den zweiten Wendepunkt in Lenaus Leben und zugleich bei Müller-Guttenbrunn die Überleitung zum dritten Band der Trilogie, die unter dem Titel Auf der Höhe den Höhepunkt von Lenaus literarischem Schaffen und am Ende den jähen Absturz in den Wahnsinn schildert, der bis zum Tode 1850 andauern sollte. Bis dahin sollte sich Lenau mit der Hinwendung zu großen, der Zensur allesamt nicht genehmen Stoffen, in seinem Faust, seinem 36 37
Müller-Guttenbrunn 1920: 301-303. Ebenda: 360.
101 Savonarola, seinem Don Juan und in den Albigenser, an dem grundsätzlichen Zwiespalt, der die österreichische Literatur der Zeit prägte, künstlerisches Niveau zu wahren im Kampf gegen die staatliche Unterdrückung, ohne zum Tendenzdichter zu entarten,38 zerreiben und sollten mehrere Beziehungen, die ihm eine bürgerliche Existenz ermöglicht hätten, unter dem ständigen Druck seiner Muse Sophie Löwenthal, die er als „tugendhaften weiblichen Vampir“ charakterisiert,39 scheitern. In Amerika macht Lenau die tiefgreifende Erfahrung, dass Freiheit ohne Heimatgebundenheit nichts vermag. Seine Dichtkunst erlahmt. Das Gefühl der Unfreiheit hatte ihn, so erkennt er, dazu verführt, der eigenen Lebensmitte untreu zu werden: Diese Auswanderung nach Amerika, dieses deutsche Fieber, dem auch er erlegen war, erschien ihm bald als die schlimmste Frucht der unfreien heimatlichen Verhältnisse. […] Dieses Amerika erschien seinem empfindsamen Auge als das Land des Unterganges, als der Westen der Menschheit. Der Atlantische Ozean war ihm der isolierende Gürtel für den Geist und alles höhere Leben, das in Europa blühte. Der Preis, den dieses Land für das bißchen Freiheit von den Menschen forderte, erschien ihm zu hoch. Voreilig hatte er es als sein Bürger begrüßt; nein, sein Vaterland war dort, wo die lebten, die ihm ähnlich waren und die er liebte. Das deutsche Volk war ihm das Herz der Welt, das deutsche Land der Sitz aller Schönheit, alles höheren Menschentums, alles geistigen Lebens. Was ihn hier so tödlich anhauchte, das war das Gespenst der furchtbarsten Nüchternheit. Was sich hier bildete, das war die Heimat der praktischen Leute, deren Herz ein Pumpwerk, deren Gehirn eine Rechenmaschine ist. Wie tiefsinnig sei es doch, meinte er, daß es in Amerika keine Nachtigall gebe. Nie würde hier ein Beethoven geboren werden, nie ein Franz Schubert. Der Natur werde es in Amerika nie so wohl oder so weh ums Herz,daß sie singen möchte. Ein Land, das keine Nachtigall hat, erschien ihm aus der Gnade Gottes gefallen. Es sei mit einem symbolischen Fluch beladen und keine Heimat für Dichter.40
In Amerika identifiziert Lenau sich zunehmend mit Faust, der ihn im Grunde heimgeleitet: Der Winter war lang, der Winter war rauh, und Niembsch hoffte im Frühling vernünftiger zu sein, als er im Herbst gewesen … Und es fehlte ihm zuletzt nicht an Umgang. Der Doktor Faust, kein fremder Gast in seiner 38
39 40
Müller-Guttenbrunn 1922: 267: „Das Beste an uns ist die Beharrlichkeit unserer künstlerischen Arbeit unter den schändlichsten Verhältnissen, es ist die innere Abwehr gegen den Polizeistaat und das Muckertum. Und daß wir uns auf künstlerischer Höhe erhalten in dem Kampf und Weh dieser Zeit und nicht sämtlich zu politischen Tendenzdichtern entarten“. Ebenda: 335. Ebenda: 13-17.
102 Phantasiewelt, ein Lieblingstraum seiner jungen Jahre, erschien ihm immer wieder in dieser Einsamkeit. Endlich faßte er ihn an einem Zipfel seines Zaubermantels und ließ ihn nicht mehr los. Rasch waren ein paar Bilder hingeworfen; Bilder, nicht vom Beginn, sondern vom Gipfel, vom Ausgang dieser Schachpartie, die Gott mit dem Teufel spielen sollte. Faust folgte ihm an den Niagara; er begleitete ihn in Sturm und Not auf hoher See und landete mit ihm in der Matrosenschenke in Bremen, wo den Dichter der alte Adam wieder packte. Zu lange hatte er gedarbt … Was er dachte, was er erlebte, Faust riß es an sich. Denn Faust war er, wollte er selbst sein. Ein vergeistigtes Bild seines Lebens. Und er glühte für seinen Mephisto. Den wollte er mit der ganzen Höllenfracht beladen, die ihm im Blute lag, die er durch das Leben mit sich schleppte. Endlich hatte er den Blitzableiter gefunden für sein verdüstertes Gemüt. Das sollte ein rechter Teufel werden. Kalt sollte es seinen Freunden in Schwaben über den Rücken laufen, wenn er ihnen den einmal vorstellte.41
Am Ende geht die Identifikation mit Faust so weit, dass er ihn, in einem Gespräch mit Max und Sophie Löwenthal, sich nur als Schwaben vorstellen kann, der in der Selbstvernichtung, die mit der eigenen Selbstaufreibung gleichgesetzt wird, enden müsse: „So vollend' ihn [den Faust] hier [in Wien] und gehe dann!“ sprach Max. Sophie aber schwieg hartnäckig. „Hier? Nein, mein Freund, Faust ist ein Schwabe und er kann nur in Schwaben vollendet werden“, erwiderte Niembsch. „Ein Schwabe, der Doktor Faust? das wußte ich nicht.“ „Jawohl, ein Erzschwabe, auch seinem ganzen Charakter nach. Dieser Hang zur Schwärmerei, dieser redliche Ernst in Verfolgung einer überhirnigen, abenteuerlichen Idee, dieses leichtgläubige Sichprellenlassen vom Teufel, das alles ist echt schwäbisch. Was ist denn seine leichtsinnige Verschreibung an den Teufel anders als ein erhabener Schwabenstreich?“ „In der Tat, du steckst mir ein neues Licht auf“, erwiderte Max. Sophie aber sprach: „Und muß er sich denn prellen lassen? Gibt es keinen Ausweg?“ Niembsch sah sie groß an. „Sie ahnen meinen Ringkampf mit dem Bösen, gnädige Frau. Faust wird durch Selbstmord endigen.“ „Wie schauerlich“, sagte sie. „Selbstvernichtung ist das Ende.“ „Gibt es keinen Weg zu Gott?“ fragte Sophie. „Ich sehe keinen.“ „Er tut uns aber so furchtbar leid.“ Des Dichters Augen leuchteten auf: „Dann ist er gerettet“.42
Hier dürfte auch Lenaus Ende vorweggenommen sein. In Europa wird Lenau von Unrast getrieben; er führt ein unstetes Leben und reist hin und her zwischen Stuttgart, wo er bei Emilie Reinbeck eine Bleibe hat, und Wien, wo er bei Sophie Löwenthal und bei seiner älteren Schwester Therese lebt. Trotzdem gelingen ihm seine besten Werke, die er sich aber abringen muss, denn die Hauptpersonen gehen ihm in Fleisch und Blut über. In der 41 42
Ebenda: 14-15. Ebenda: 106f.
103 breiten Öffentlichkeit erntet er höchstes Lob, aber mit seinem Freiheitsideal und der schroffen Ablehnung jeglicher Unterdrückung eckt er immer wieder bei der Zensur an. Nur einmal noch kann er ihr einen Triumph abtrotzen, und zwar mit seinem Fürstenlob für Erzherzog Karl, das paradoxerweise als sein großes Freiheitslied verstanden wird: Lenau hatte immer sein Erlebnis; irgendeinem Fuchs trat er immer auf den Schwanz, wenn er in die Heimat kam. Und seine Mannhaftigkeit in allen Fragen der persönlichen Würde und der geistigen Freiheit machte ihn zum berufenen Führer der Genossen. Sie umjubelten ihn auch jetzt. Und gerade seine nichtliterarischen Freunde, die Doktoren Bach und Schmerling, die im Silbernen Kaffeehaus als die künftigen Träger einer neuen Politik angesehen wurden, fanden, daß aus seinem Fürstenlied, das er der Zensur abgetrotzt hatte, ein Freiheitslied geworden wäre. Aber er lehnte es ab, mit den Genossen zu politisieren. Sie mögen nur beraten und erwägen und beschließen, er werde nicht fehlen, wenn es zu Taten komme. Er sei ein anderer Tell. Wenn man seinen Bogen brauche, dann möge man ihn rufen. 43
Wie ein anderer Tell hatte Lenau sich mit seinem Freiheitsdrang in seinen Werken verausgabt. Was an persönlichem Schicksal hinzukam, das Schwanken zwischen den späten Geliebten Karoline Unger bzw. Marie Behrends einerseits und Sophie Löwenthal andererseits, die ihm klipp und klar gedroht hatte: „Eines von uns beiden muß wahnsinnig werden“,44 tat ein Übriges: Das „Dichterherz der Zeit“ zerbrach, wie ein dichtender Zeitgenosse damals festgestellt haben soll: Ein Schrei des Entsetzens ging alsbald durch die deutsche Welt; Nikolaus Lenau war wahnsinnig geworden. „Das Dichterherz der Zeit“, so rief ein junger Poet aus Österreich dem heimatlichen Publikum zu, „sei gebrochen“.45
Der junge Dichter der dies sprach, dürfte Alfred Meißner (1822-1885) gewesen sein, ein glühender Lenau-Verehrer, dem Müller-Guttenbrunn das Motto des dritten Bandes seiner Trilogie verdankte: Ihr wißt nicht, was er war? Ein Freiheitsstreiter, den der Schmerz geweiht, Ein weißer Schwan, ein flügelstarker Aar, In Kampf und Weh das Dichterherz der Zeit.46
43 44 45 46
Ebenda: 299. Ebenda: 327. Vgl auch: 338. Ebenda: 338. Ebenda: Titelblatt.
104 Lenaus Wahnsinn ist bei Müller-Guttenbrunn somit nicht, wie in Peter Härtlings Niembsch (1964), dichterische Vollendung, der Höhepunkt eines Lebens- und Kunstexperiments, sondern ein bloßes biographisches Faktum, das mit künstlerischer Selbstaufreibung und Liebesqualen nur dürftig erklärt wird; letztendlich ein Zufall, der jeden hätte treffen können. Es sollte aber nicht anders sein, da ansonsten Niembsch, der Melancholiker, der sich in Kunst und persönlichem Missgeschick selbst auflöst, keine politische Identifikationsfigur donauschwäbischer Identität hätte sein können. *** Freiheit, Deutschtum, Schwabentum und Heimat sind die Schlüsselbegriffe in Müller-Guttenbrunns Lenau-Trilogie. Nicht auf den Dichter Lenau kommt es ihm somit in erster Linie an, sondern auf den donauschwäbischen Freiheitskämpfer: die einzelnen Gedichte wie die großen Epen werden im Grunde biographisch gedeutet. Primär ist der Zeitbezug, der über sich hinausweist, auf die Lage der Banater Schwaben vor dem Ersten Weltkrieg unter österreichisch-ungarischer Herrschaft und nach 1918 im ethnischen Gemisch des Balkan. Eben auf die Lenau-Trilogie ist anwendbar, was Müller-Guttenbrunn seinen Lenau über dessen Savonarola sagen lässt: Will man seiner Zeit etwas sagen, muß man ja solche Masken tragen. Die Herrschenden dulden die Wahrheit nur im Kleide der Vergangenheit. 47
Die Donauschwaben sollten in Lenau den Vorkämpfer ihrer ethnischen und kulturellen Eigenständigkeit erblicken: der in der Hinsicht ‚offene‘ Titel der Trilogie, „Dichterherz der Zeit“, deutet darauf hin, aber auch die stark reduzierte Einbindung von MüllerGuttenbrunns Lenau-Vita in die historischen Hintergründe ihrer Zeit. Sie ist somit letztendlich Vereinnahmung der historischen Dichtergestalt zu kontemporären Zwecken. Modern ist Müller-Guttenbrunn in der Anwendung der erlebten Rede, die in allen drei Romanen prominent vertreten ist. Wiederholt rutscht er aber ins Kitschige oder ins Tränenselige ab. Nicht selten unterlaufen ihm, wohl aus der Eile, mit der er schrieb, Patzigkeiten wie die bereits zitierten „mehrtausendköpfigen Dörfer“, bemüht er regelrechte Kalauer wie „Vereinte Staaten - verschweinte Staaten“ her,48 geraten ihm Bilder schief, wie das ebenfalls schon 47 48
Ebenda: 208. Ebenda: 25.
105 herangezogene von den künftigen Generationen, denen jetzt schon die Zähne stumpf gefeilt würden, oder wechselt er die Perspektive ins Unglaubwürdige, wenn er sogar ein Vogelpaar mit dem jungen Lenau ins Gespräch kommen lässt.49 Das sind alles Unzulänglichkeiten, die man einem Erfolgsschriftsteller durchgehen lassen kann, die aber nicht dazu angetan sind, einen soliden Nachruhm zu verfestigen. Zu fragen ist, inwiefern Müller-Guttenbrunn in der LenauTrilogie der Heimatdichter ist, als der er immer wieder hingestellt wird.50 Die Heimat spielt hier eine entscheidende Rolle, aber die Darstellung steht unter politischen Vorzeichen. Mittlerweile ist es eine abhanden gekommene Heimat. Müller-Guttenbrunn ist weitgehend vergessen, wie die Kultur der Banater Schwaben, die er schildert. Die Perspektive, die er dabei gewählt hat, die des Dichters Lenau, ist aber gut getroffen, denn in Lenau lebt die Kultur der Banater Schwaben fort, weniger womöglich in dem Dichter, aber durchaus in seiner Person als Symbolfigur. Literaturverzeichnis Berwanger, Nikolaus. 1976. Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben und Werk im Bild. Bukarest: Kriterion. Cobet, Christoph. 1991. ‚Adam Müller-Guttenbrunn: Meister Jakob und seine Kinder‘. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 12. München: Kindler: 41. Geehr, Richard S. 1973. Adam Müller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna: 1898-1903. The Approach of Cultural Fascism. Göppingen: Kümmerle (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 114). Hildesheimer, Wolfgang. 1988. ‚Die Subjektivität des Biographen‘. In: Ders.: Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfzwanzig Jahren. Frankfurt/M.: Suhrkamp (= suhrkamp taschenbuch 1539): 123-138. Müller-Guttenbrunn, Adam. [1918?]. Götzendämmerung. Roman. Neue, durchgesehene Ausgabe, 15. bis 19. Tausend. Leipzig: Staackmann o.J. 49
50
Müller-Guttenbrunn 1919: 348: „Gern hätte er [der junge Lenau] ein Schwalbenpaar gebeten, es möchte doch sein Nest unter dem Dach des Sankt Nikolaus bauen, aber es ließ sich nicht erweichen. Sie [sic!] folgten seinen Lockrufen, beäugten das einsame Haus, aber sie sagten, sie fänden es für ihre Brut viel zu kühl. Nichts Lebendiges suchte hier ein Heim“. Schwob 1984.
106 Müller-Guttenbrunn, Adam. 1919. Sein Vaterhaus. Roman. Leipzig: Staackmann. Müller-Guttenbrunn, Adam. 1920. Dämonische Jahre. Ein LenauRoman. Leipzig: Staackmann. Müller-Guttenbrunn, Adam. 1922. Auf der Höhe. Ein Lenau-Roman. Neuntes bis dreizehntes Tausend. Leipzig: Staackmann. Sachslehner, Johannes. 1990. ‚Müller-Guttenbrunn, Adam‘. In: Killy, Walter (Hrsg.): Literaturlexikon. Bd. 8. Gütersloh, München: Bertelsmann: 281-282. Schwob, Anton. 1984. ‚Adam Müller-Guttenbrunn - ein Heimatdichter? Probleme seiner literarhistorischen Einordnung‘. In: Mádl, Antal; Schwob, Anton (Hrsg.): Vergleichende Literaturforschng. Internationale Lenau-Gesellschaft 1964 bis 1984. Wien: Österreichischer Bundesverlag: 437-446. Senz, Ingomar. 1997. ‚Mustergültige Arbeit aus ganzheitlicher Verantwortung. Zum Leben und Werk Adam MüllerGuttenbrunns‘. In: Hofmeister, Wernfried; Steinbauer, Bernd (Hrsg.): Durch aubenteuer muess man wagen vil. Festschrift für Anton Schwob zum 60. Geburtstag. Innsbruck: Institut für Gemanistik (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 57): 423-432. Weresch, Hans. 1927. Adam Müller-Guttenbrunn und seine Heimatromane. Phil. Diss. Marburg: Selbstverlag Weresch, Hans. 1975. Adam Müller-Guttenbrunn, sein Leben, Denken und Schaffen. Freiburg i. Br.: Selbstverlag. 2 Bde.
Peter Delvaux OTTO FLAKE Im Jahre 1880 wurde Otto Flake in Metz (also im damals deutschen Teil Lothringens) als Sohn eines aus Hannover dorthin versetzten Beamten geboren; seine Mutter kam aus der Pfalz. Er verlor den Vater früh, verbrachte seine Jugend in Mülhausen und Colmar, sprach und schrieb Französisch, studierte in Straßburg Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie, verließ das Elsass und zog umher, verbrachte die Zeit des I. Weltkriegs dienstlich in Brüssel, dann in Zürich, zog wieder umher, wurde aus Südtirol ausgewiesen und lebte seit 1927 in Baden-Baden. Sein Heimatgefühl nahm die heutige Euregio am Oberrhein vorweg. In ihrem Raum leben viele seiner Figuren, andere kehren aus deutschen Landen oder aus der weiten Welt dahin zurück, wenn das Schicksal sie nicht in der Fremde ereilt. Politische Verhältnisse und deren Änderungen, wiewohl durchaus wahrgenommen, hatten darauf keinen Einfluss. Das gilt auch für die Zeit, in der seine Ehefrau Marianne als Halbjüdin gefährdet war - sie kam im Februar 1945 bei dem Luftangriff auf Pforzheim, dem schlimmsten des Krieges, ums Leben - und zeigt sich in seinen Beiträgen zur Neuen Rundschau, deren Zahl allerdings infolge freundschaftlicher Warnungen abnahm. Überhaupt ist ja Lektüre der damaligen Jahrgänge der Neuen Rundschau allen jenen zu empfehlen, die sich trotz Kenntnissen der Zeitgeschichte nichts unter Innerer Emigration vorstellen können. (Für die Deutsche Rundschau gilt Gleiches.) Vorher hatte er dort politische Überlegungen und Analysen veröffentlicht, deren unparteiischer Scharfsinn nicht jedem recht war; diese mussten allerdings aufhören. Er wurde bespitzelt. Peter Härtling beschreibt in seinem Nachwort zu dem von ihm und Rolf Hochhuth 1980 in einer Verlagsgemeinschaft herausgegebenen Band mit meist kurzen Erzählungen an Hand des im Nachlass aufgefundenen Verlagsordners die Schwierigkeiten, in jenen Jahren die eigene Haltung richtig zu bestimmen. Im Interbellum war er ein erfolgreicher Autor bei S. Fischer, aber in der Nachkriegszeit verlor er den Kontakt zu Peter Suhrkamp, bemühte sich auch nicht darum, denn entgegenkommendes Wesen und Verständnis für Kritik zeichneten ihn in beruflichen Dingen nicht aus. Seinen in der Kriegszeit entstandenen Roman aus dem Europa und insbesondere jenem Grenzgebiet nach dem Wiener Kongress, in welchem der Titelheld Fortunat, wie dieser Beiname schon besagt,
108 glücklicher lebt und wirkt als sein Autor in der eigenen sich verdüsternden Zeit - diesen großen und anspruchsvollen Roman, von manchen und wohl auch von Suhrkamp als sein Hauptwerk betrachtet, wollte er nach Kriegsende möglichst bald herausbringen, und so schloss er voller Ungeduld einen Vertrag mit Paul Keppler in Baden-Baden. Der Roman erschien auch alsbald, fand aber nur geringes Echo. Keppler brachte auch noch anderes heraus, darunter Nietzsche. Rückblick auf eine Philosophie in zwei Auflagen; aber der Verlag erwies sich nach einigen Jahren doch als nicht hinreichend leistungsfähig, Kontakt mit weiteren kleinen Verlagen brachte nichts, der Versuch zur Aufnahme in den Suhrkamp Verlag misslang, und so sah er sich isoliert und in schwieriger Lage und sprach von „Schluss machen“. Lektoren bei Bertelsmann, nämlich Hochhuth und Karl Ludwig Leonhardt, nahmen sich seiner an, und so erschien wieder manches Neue in beträchtlichen Auflagen, das jetzt vergriffen ist. Schon vor seinem Tode im Jahre 1963 flaute das Interesse wieder ab, um danach für einige Jahre fast ganz zum Erliegen zu kommen. Nachdem auch Härtling und Siegfried Unseld wieder auf ihn aufmerksam geworden waren, erschienen zu seinem 100. Geburtstag einige noch immer im Buchhandel erhältliche Ausgaben, auf die noch kurz einzugehen ist. Vergriffen ist der oben schon erwähnte Band mit Erzählungen seit 1905 sowie dem Fragment eines abgebrochenen Romans. Flake schreibt einen ebenso eleganten wie schlichten und bei großem, gedrängtem und manchmal bizarrem Erfindungsreichtum eindringlichen Stil, zügig und ohne Umwege, so dass es viele Kurzerzählungen gibt und manche Romane eher novellistisch wirken. Eine der Ausnahmen hiervon ist der 1933 erschienene Roman Hortense oder Die Rückkehr nach Baden-Baden, 1970 auf Veranlassung von Härtling „Im Fischernetz“ neu aufgelegt, 1980 bei Manesse wiederum herausgebracht und von Hochhuth fürs Fernsehen bearbeitet, der die Abenteuer einer sich unter Hintansetzung aller Vorurteile emanzipierenden Frau aus dem badischen Adel im 19. Jahrhundert schildert. Andere Erzählungen, in denen er noch weiter zurückgeht - so auch in die leidvolle Geschichte des Elsass -, kann man „historische“ nennen. Sie schildern persönliche Schicksale in großer Geschichte, deren Kenntnis immer im Dienst einer fesselnden Darstellung aktiviert wird. Schon 1979 erschien als 44. Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung unter Mitwirkung von Hochhuth ein Band Biographische Essays aus sechs Jahrzehnten mit der Überschrift des ersten der 26 Essays als Buchtitel: Die Verurteilung des Sokrates. Es sind Einleitungen und Nachworte darunter. Die weitaus längste Abhandlung war 1950 selbständig bei Keppler erschienen:
109 Kaspar Hauser. Vorgeschichte - Geschichte - Nachgeschichte. Ein Tatsachenbericht. Flake stellt keine eigenen Recherchen an, sondern arbeitet die vorhandene Literatur kritisch auf. Seine Schlussfolgerung scheint unausweichlich, insbesondere auch in Anbetracht der Bemühungen der an den Vorgängen gar nicht mehr beteiligten Großherzogin Luise - der Schwester des späteren Kaisers Friedrich alle erreichbaren einschlägigen Akten vernichten zu lassen. Auch mit der dokumentierten historischen Erzählung: „Schön Bärbel von Ottenheim“, 1936 in der Neuen Rundschau erschienen, bleibt der Autor in seiner Heimat. Aber der Horizont ist weit. Der Titelessay problematisiert fromme Gesetzestreue. Am Schluss findet sich eine bündige Bergründung des Naturrechts. Rechtspositivismus war ihm ein Gräuel. Der Essay über Heinrich VIII. von England sucht dieses Mannes Machttrieb und Argwohn zu erklären. Diderot, Mirabeau, Stendhal, Gobineau, der jüngere Dumas (will sagen dessen Kameliendame) und andere Franzosen werden behandelt, Dürers Mäzen Pirkheimer, der abenteuerliche Fürst Pückler-Muskau sowie Lessing, Chamisso, Heine, Büchner, Jacob Burckhardt und Nietzsche. So ist 1900 die zeitliche Grenze. Die Nähe des auch von Goethe bewunderten Diderot zu Lessing wird hervorgehoben. Der Essay über diesen würdigt zu seinem 200. Geburtstag die epochalen Verdienste des originellen Schriftstellers und unerschrockenen Streiters für „Humanität, Duldung, Großmut, Bewilligung der Achtung und der Menschenrechte“. Die im von Goethe und Schiller wieder hervorgezogenen und auf die Weimarer Bühne gebrachten Nathan herausgestellte und heute mehr denn je aktuelle Bedeutung von Toleranz als zu eigenem festem Glauben gehörig tritt auch bei Flake insofern nicht klar hervor als er den subtilen Unterschied zwischen Diderots und Lessings Position nicht benennt, und so kommt denn auch dessen Erziehung des Menschengeschlechts nicht ins Blickfeld. - 1947 erschien zu Heines 150. Geburtstag bei Keppler ein Heine-Brevier, zu dem Flake die Einleitung schrieb. Sie beginnt mit der Feststellung: „Das Exil ist beendet, der Verbannte kehrt zurück.“ Die Würdigung ist ausgewogen und hebt das Charakteristische hervor: Nähe und Distanz zur Romantik, die Bindung an das revolutionäre Frankreich und den Blick von dort zurück nach Deutschland, die ironische Ambivalenz im Verhältnis zu Traditionen, von denen auch ihm die griechische teuer blieb, wie tragisch sie auch sei. Das las sich damals für die Käuferschaft von Dichterbrevieren nicht mehr so selbstverständlich wie ehedem und noch nicht so selbstverständlich wie heute. Der Aufsatz über Georg Büchner erschien 1917 in der Neuen Rundschau aus Anlass der von Wilhelm Hausenstein im Insel-Verlag
110 besorgten einbändigen Gesamtausgabe und trägt Merkmale seiner Entstehungszeit. Es ist viel vom Volke die Rede, aber vom ressentimentgeladenen Bündnis der Völkischen mit den Alldeutschen und Hochkonservativen war und blieb Flake denkbar weit entfernt. Der Nietzsche-Essay kombiniert einen im Oktober 1945 in Baden-Baden gehaltenen und in einem Sammelband Zuweisungen - in dem auch einige andere der hier aufgenommenen Betrachtungen standen - 1948 bei Keppler veröffentlichten Vortrag mit dem Nachwort zur 2. Auflage des Nietzsche-Buches aus 1947. Beide, und insbesondere der Vortrag, müssen sich wohl oder übel den Vergleich mit dem 1948 von Thomas Mann in Zürich und Amsterdam gehaltenen und alsbald veröffentlichten Vortrag Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung gefallen lassen. Man wird keine wesentlichen Unterschiede antreffen. Damals war notwendig, Nietzsches Verleumdung durch die Nazis als eines der Ihren zurückzuweisen; das geschieht. Bei Thomas Mann ist der Gegensatz von Bewunderung und Vorbehalten stärker ausgeprägt, der eigene mühsam bestandene Kampf gegen die Herrschaft des Titanen ist noch spürbar, ihre endliche Ablehnung ist ebenso schmerzlich wie entschlossen. Flake schreibt nicht weniger leidenschaftlich, aber er tut sich weniger schwer, denn Nietzsches Philosophie war nie seine. „Wenn es etwas Göttliches gibt, so ist es die Vernunft.“ Beide sehen das Verhängnis nicht sosehr in Nietzsches Vitalismus als vielmehr darin dass er als lebensfeindlich denunzierte „was allein uns noch retten kann, Maß und Ethos und Besonnenheit“, und sich Gutes erhoffte von dem derart verkündeten Nihilismus. „Nietzsche [...] beantwortet [die] Frage nach dem Kern des Christentums nicht mit dem Begriff des Ethos, sondern mit dem der Moral [...] und diesem Kurzblick, der einem Philosophen nicht gestattet ist, entsprangen alle weiteren Missgriffe.“ „Er ist der, der die Hybris des entmetaphysierten Menschen noch steigert, indem er ihm die letzten Bindungen ausredet.“ So an anderer Stelle, nämlich im vorletzten Abschnitt der Schrift über Burckhardt. So basiert Flakes eigene Philosophie denn wohl - verlässt man sich nicht auf die misanthropischen Aufzeichnungen aus dem letzten Lebensjahr - auf der französischen Aufklärung, nicht in ihrer radikalen materialistischen und rationalistischen Ausprägung (de Lamettrie, Holbach, Condillac), sondern in ihrer maßvolleren Erscheinung (Voltaire, Diderot). An Lessing fesselte ihn die Nähe zu Diderot mehr als das was darüber hinausweist. Hinzu kommt allerdings eine Vorliebe für „das Tragische, das Ahnende“, das er bei Lessing seltsamerweise vermisst, für „das Schicksal, das Vitale, [...] das Auftretende und das Gegebene, [...] die Ananke der Alten“, unter deren „Aspekt [...] ein
111 König, eine Frau, eine Person wenig [bedeutet]“. „Delphi schlummert, und wo tönet das große Geschick?“ Diese Zeile Hölderlins enthält eine sehr deutsche Sehnsucht und Frage. Bei Flake aber rufen Heinrich VIII. und Napoleon und Büchners Danton solche Überlegungen hervor, nicht Friedrich der Große, dessen Verhältnis zur Aufklärung (Voltaire und de Lamettrie stritten sich an seinem Hofe) doch genügend Anlass zu derlei Betrachtungen böte. Aber der Blick nach Osten lag Flake weniger, der Verlagsort Berlin lag ja eigentlich schon zu weit weg. Man könnte auch meinen, sinnende Betrachtung der Französischen Revolution vermöge jene beiden Gedankenkreise miteinander zu verbinden, aber das geschieht kaum, als bestünden sie in Flakes Bewusstsein unvermittelt nebeneinander, mit einer Lücke oder gar einem Abgrund zwischen sich; und so war es wohl auch, so sah er es wohl auch bei Büchner. Hatte er Unrecht? Liegt hier nicht noch immer die Denkaufgabe von damals? Sind Condorcet und die Gironde nicht noch immer aktuell? Immerhin: „den Anfang hat der Mensch in der Hand, nicht aber die Mitte und das Ende“ (im 2. Abschnitt der Schrift über Burckhardt). Seine spannenden Erzählungen - nur ausnahmsweise mit fiktivem Erzähler-Ich - spielen oft im zeitgenössischen Bürgertum, wo er sich auskennt, wo Bildung oder zumindest der Schein davon selbstverständlich ist, wo man weiß, was zu einem prosperierenden Dasein unerlässlich ist und wie man es gemeinsam in Stand hält, und wo dennoch immer wieder verborgene Gefahren sichtbar werden durch unberechenbare Einfälle und Ausbrüche von Leidenschaften, erotischen und anderen wie Kleptomanie, Spielverfallenheit - Baden-Baden hat eine Spielbank -, Habsucht, Gewinngier, Herrschsucht, Machtgier, Rachsucht, wo Exoten mit Geld oder dem Willen es zu erwerben oder auch nur mit der Kenntnis schneller Gifte die Szene beleben und wo nicht selten Frauenhelden, Zeitungsleute, Emporkömmlinge, verkrachte Akademiker, dubiose Geschäftsleute, gefälschte Existenzen uneingedenk der Warnung Schillers vor dem Fluch der bösen Tat durch rücksichtslosen Materialismus, gewissenlose Bosheit und verantwortungslosen Nihilismus sich Vorteile über ihre durch Vernunft und Anstand gehemmten Mitmenschen zu verschaffen suchen in der nicht immer zutreffenden Annahme, diese seien weniger klug als sie selber; so dass manchmal, unter Zuhilfenahme gediegener Kenntnisse der Kriminalistik, des Aischylos alle Stände übergreifender Wunsch in Erfüllung gehen kann: Doch es siege das Gute! Man könnte meinen, das sei überholt. Gibt es denn noch die bürgerliche Welt? Ihre Ordnung ist ins Wanken geraten und zerlästert; und so zeigt der Autor denn im Alter die Mühe von Versuchen sich von neuem zurechtzufinden (so auch in der Kurzgeschichte Die Versuchung
112 des Richters, 1980 im Klaus Wagenbachs Lesebuch aufgenommen) und die zugenommene Verunsicherung unterschiedlicher Mitglieder der Nachkriegsgesellschaft. Dies geschieht besonders klar in den beiden postum erschienenen Heidelberger Romanen Es begann in BadenBaden und Die Dame Brabant, deren erster ausdrücklich Kriminal- und Gesellschaftsroman heißt und deren zweiter, daran sich anschließender dies gleichfalls ist. Aber wenn das Besitzbürgertum ausgedient hätte, wer sollte sich dann noch etwa an Tatort delektieren? Wir wünschen spannende Unterhaltung bei der Lektüre von Otto Flake.
Martin A. Hainz VERHALTENES ERMÖGLICHEN – ZU ALFRED MARGUL-SPERBER (1898 - 1967) I. Alfred Margul-Sperber ist zu einem Vergessenen geworden; bedenkt man, dass er einst mit der europäischen Intelligenz in regem Austausch stand, eine Zentralfigur jener Landschaft war, von der heute jeder zu wissen glaubt, dass in ihr „Menschen und Bücher lebten“1 – was nicht ganz richtig ist, aber anders als bei den meisten Landstrichen doch immerhin auch nicht ganz falsch – so ist dies kaum begreiflich. Er lebte in der Bukowina; seine Rolle im lokalen Literaturbetrieb allein rechtfertigte die Behauptung, Margul-Sperber dürfe nicht leichtfertig vergessen werden. Denn so, wie seine Verse im Dienste der Möglichkeit standen, die sie erkannten oder schufen, so lebte der Dichter auch als einer, der viel möglich machte. So war Margul-Sperber der Mentor von Rose Ausländer und Paul Celan. Beide begleitete er als ihnen gewogener Kritiker, wobei nicht so sehr seine Rede auf die damals noch unbekannte Rose Ausländer zu betonen ist, wenngleich er ihr den Beinamen, der ihr dann blieb, darin gab: „schwarze[n] Sappho“2. Vielmehr sind die Kontakte, die er hatte und für jene Dichter seines Umfelds, die ihm förderungswürdig erschienen, offenbar bereitwilligst zur Verfügung stellte, bemerkenswert; sie sind heute im Nachlass, der in Bukarest aufbewahrt wird, nachzuweisen.3 So knüpfte Margul-Sperber für Rose Ausländer den Kontakt zur Fackel; eine Publikation folgte dort allerdings nicht, wiewohl Karl Kraus von Margul-Sperber in Der Fackel schrieb, dass dieser „aus Storozynetz bei Czernowitz gewissenhafter die Interessen der deutschen Kultur betreut, als es im Raum zwischen Berlin und Wien geschieht“4, womit von einer Wertschätzung doch zu sprechen ist.5 1 2 3 4 5
Celan 1986: III 185. Margul-Sperber 1997: 71. Vgl. Gutu 1998: passim; vgl. auch Sienerth:2002: 79ff. Kraus 2002: XXXIV 90. Vgl. zum Ablehnungsbrief der Fackel in bezug auf Rose Ausländers Gedichte Hainz 2000: 413 sowie Braun 1997: 15.
114 Für Celan wandte sich Margul-Sperber ebenfalls gen Westen – der junge Celan kam so in der Zeitschrift Der Plan (herausgegeben von einem weiteren Vergessenen: Otto Basil) zu einer Veröffentlichung.6 Selbst das Pseudonym Celans entstand im Hause Sperber. Man mag einwenden, dass Vaterfiguren selten rein positiver Natur seien; allerdings scheint allein dieser Umstand und kein Zeugnis die Bemerkung von Amy Colin (darum: unzureichend) zu stützen, dass Rose Ausländer auch und vor allem von Margul-Sperber früh in die Rolle derer gedrängt wurde, die – „totally incompetent and even incapable of proofreading her own texts“7 – gar nicht die Möglichkeit hatte, sich der Qualität ihrer Verse jenseits der väterlich vorgetragenen „ ‚bitter pills‘ of criticism“8 zu versichern. Tatsächlich half MargulSperber Rose Ausländer, indem er die Zusammenstellung der Gedichte zum Band Der Regenbogen besorgte und wenigstens in einigen Fällen Gedichttitel erdachte.9 Als erdrückend empfand Margul-Sperbers Hilfe allerdings weder Paul Celan noch Rose Ausländer – und warum jemand, der drei (!) Jahre älter als Rose Ausländer war, ihr zu einer Art Übervater geworden sein soll, ist kaum nachvollziehbar. 10 Zusammenfassend lässt sich dem positiven Befund George Gutus zustimmen, der mit der Feststellung schließt: „Vieles wäre […] anders gelaufen im Leben Rose Ausländers und Paul Celans, wenn sie nicht Alfred Margul-Sperber begegnet wären.“11 Peter Motzan stellt gleichfalls an den Beginn seiner Porträtskizze Margul-Sperbers diese Qualitäten, während das Lob der eigentlichen Dichtkunst in einer Parenthese Platz finden muss: Dank seiner großzügigen Hilfsbereitschaft und legendären Gastfreundschaft, seines geselligen Esprits und seiner phänomenalen Belesenheit, seiner unverkrampften Freundlichkeit und Offenheit in privaten Gesprächen erfreute er sich außerordentlicher Beliebtheit in Literatenkreisen. Als Verteidiger und Fürsprecher älterer, als geduldiger Ansprechpartner und Berater junger Schriftsteller hatte der zum Vorzeigepoeten avancierte Margul-Sperber – in den 1960er Jahren galt er als bedeutendster deutscher Gegenwartsautor Rumäniens – unermüdlich und folgenreich gewirkt. 12
6 7 8 9 10 11 12
Vgl. Schmidt-Dengler 1998: passim sowie Seng 1998: passim. Colin 1997: 14. Ebenda: 15. Vgl. Motzan 1992: 89f. Vgl. auch Hainz 2000: 412ff. Gutu 2002/03: 70. Motzan 2002: 10; vgl. auch Alfred Kittners Nachwort in Margul-Sperber 1975: 594.
115 II. Freilich ist damit noch nicht gesagt, warum Alfred Margul-Sperber mehr denn eine – wie immer verdiente und gewichtige – Fußnote in der Literaturgeschichte bzw. den Biographien Paul Celans und Rose Ausländers sei; daran, dass ihm dieses Fußnoten-Dasein nicht gerecht würde, ist freilich kaum zu zweifeln: „Zu den unumstößlichen Gewißheiten rumäniendeutscher Literaturgeschichtsschreibung gehört auch die Überzeugung von der Ranghöhe des Lyrikers Alfred MargulSperbers“13, schreibt 1990 Peter Motzan, wiewohl er mit der ihm eigenen Unbestechlichkeit auch den „Routine-Reim“14 erwähnt, der sich in der Tat desgleichen in diesem Œuvre findet und als Ausdruck der Tendenz zu einem letztlich konservativen Dichten auf das Problem weist, Margul-Sperbers hohen Rang und seine Originalität unwiderlegbar nachzuweisen. So findet sich das Gedicht Die Sage vom Sommer, worin die Vergänglichkeit es ist, die den Moment mit einem besonderen Wert auflädt: Als der Knabe tief im Grase lag, Sah er reglos in den Sommertag: Und die Wolke löste sich in Licht – Ach, so schöne Frauen trägt die Erde nicht! Als er wandern sah die Wolke weit, Weinte in ihm ungelebte Zeit; Und mit seiner kleinen Knabenhand Griff er nach dem Licht, das immer ferner schwand. 15
Die Verse zeigen eindrucksvoll das Vergehen, woraus sich erst der Wert jenes Lebens zu ergeben scheint, das ungelebt verstreichen zu lassen geradezu sündig in diesen sinnenfrohen Versen erscheint; die Wolke als besonders schönes und zugleich höchst ephemeres Phänomen wird zum Kulminationspunkt, an dem dies sinnfällig wird. Zugleich ist man jedoch versucht, die Verse mit denen des im gleichen Jahr wie Margul-Sperber geborenen Bertolt Brechts zu vergleichen, der in seiner Erinnerung an die Marie A. ein ähnliches Motiv handhabt – und, indem er eine konkrete Frau an jene Stelle setzt, wo Margul-Sperbers Stoßseufzer abstrakt bleibt (Ach, so schöne Frauen trägt die Erde nicht!), das stärkere Gedicht geschrieben haben dürfte: „Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen / Wenn nicht die 13 14 15
Motzan 1992: 88 Ebenda: 99. Margul-Sperber 2002b: 6.
116 Wolke dagewesen wär“16. Die Erinnerung an eine Frau ist zuletzt die an den Moment, worin die nur scheinbar akzidentielle Wolke zum Entscheidenden wird: zum Zauber einer Form, die profunder, als ein später konstruierter Sinnzusammenhang es je vermochte, in das Leben und jede darin zu erlernende Lebenskunst sich einprägt. III. Natürlich ergibt sich aus dem Verhaltenen in der Lyrik MargulSperbers nicht nur ein Defizit, sondern auch der Reiz jener Verse, die das Aufstören eines Liebespaars in den Vorstadtfeldern als Kindesmord bezeichnet; den, der mit einer Taschenlampe umherleuchtet, mahnt das lyrische Ich: Erbarmungsloser Wüterich, halt ein! Weißt du denn nicht, du mordetest soeben Den ersten Keim zu einem neuen Leben!17
Fern von diesem leisen Witz sind aber die Idyllen noch wesentlich interessanter – denn die Konzentration aufs eidolon ergibt ja keineswegs das, was man gemeinhin idyllisch nennt. So ist ein Winterbild eines des Ausgesetztseins, aber auch der gewonnenen Stille – sozusagen der Erfahrung, sich selbst ausgeliefert zu sein. „O weißer Schnee, weh’ meine Seele ein / und laß sie leer wie deine Landschaft sein!“18 Das Schweigen in diesen Worten ist nachgerade expressiv. Es erinnert an Robert Walsers Schnee-Gedicht, worin aus der Stille eine Erschütterung durchbricht, wobei Walser wie Margul-Sperber formal das Überfeine und -zarte wählt, um die Erfahrung eines Nichts zu (oder vielleicht besser: in) Worten werden zu lassen: Schnee Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde mit weißer Beschwerde, so weit, so weit. Es taumelt so weh, hinunter vom Himmel, das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee. Das gibt dir, ach, eine Ruh, eine Weite, die weißverschneite Welt macht mich schwach.
16 17 18
Brecht 1990: 317. Margul-Sperber 2002b: 9. Ebenda: 50 u. Margul-Sperber 1975: 293; vgl. Ebenda: 290ff.
117 So daß erst klein, dann groß mein Sehnen sich drängt zu Tränen, in mich hinein.19
Walsers Gedicht erscheint als Idylle, genau vier Worte lang: Es schneit, es schneit, ein Bild, das Kinderrufe evoziert. Doch schon ist das Gedicht daran, zu zeigen, wie das Verblassen der Farben das Ich in sich selbst wirft. Die fast schon monotone Variation von Reimworten wie schneit und weit erzeugt dabei zusammen mit den fast durchgehaltenen Jamben einen Sog, dem man folgen muss. Ihn unterstützt der eigenwillige umarmende Binnenreim; der Reim bindet hier alles, wiewohl die Versenden sozusagen nicht zueinander passen. Der Weltverlust ist so paradox erfahrbare Sprachform. Ähnlich wie von Walser einst Benjamin könnte man von Margul-Sperber schreiben, nämlich von der Leichtigkeit, „mit Sprachgirlanden, die ihn zu Fall bringen“20, der doch ihr Schöpfer ist, zu spielen, und vom Beredtwerden dieses Verhaltenen. Diese Kunst des Indirekten veranlasste Canetti zur Annotation, es bestehe die „Besonderheit Robert Walsers als Dichter […] darin, daß er seine Motive nie ausspricht.“21 Auch Margul-Sperbers Verse sind oftmals von einem solchen subkutanen Beben, das sie – scheinbar? – nicht aktualisieren, sondern allenfalls bis zur Artikulierbarkeit eindämmen müssen. Diese Stille kann fast nur „mit Nichtbeachtung beehrt“22 werden, wie Walser nicht völlig ohne Ironie und zugleich doch vollends akkurat bemerkt. In bezug auf Margul-Sperber wäre dieser Umstand an der Eigenheit festzumachen, dass sein Werk nicht etwa die expressiven Brüche moderner Lyrik ignorierte; vielmehr nimmt der Endreim hier zu – frühe Gedichte wie Geige gebrauchen den Vers noch markierend und geradezu als Ausnahme (hier in den Verszeilen 10-12: „spielt“ – „erfühlt“ – „wühlt“23), ehe sich der Vers durchsetzt, vielleicht Ausdruck einer Sprachskepsis, die auf Effekte wie den Reimentfall oder auch den einen Signalreim in einem Poem nicht mehr bauen mochte.24 Die Poesie des jungen Margul-Sperber hat einen expressionistischen Charakter, dessen Rückgang als solcher bedacht werden muss – ein still gewordener Margul-Sperber schreibt: 19 20 21 22 23 24
Walser 1984: 39. Benjamin 1999: II·1 326; vgl. auch Walser 1990: 31. Canetti 1973: 289. Walser 1984: VI 197. Margul-Sperber 2002a: 6; vgl. zu Margul-Sperbers expressionistischen lyrischen Anfängen auch Werner 1991: 12. Angelika Ionas hat die zunehmende Häufigkeit des Endreims im Werk Margul-Sperbers statistisch nachgewiesen – vgl. Ionas 2000: 149.
118 Schreie in dich hinein, Aber vermaure den Mund!25 Ich habe Worte, die ich nicht nenne: Einst, wenn ich schweige, reden sie laut.26
IV. Diese Stille hat sich auch als Qualität bewiesen, wo Margul-Sperbers Werk Lyrik nach Auschwitz ist: Judenfriedhof Eine Ziege weidet deines Ahnen Grab, Und ihr Bart im Winde flattert auf und ab. Weht das Gras im Winde, flutet weit und weich – Ihre Augen blicken Judenaugen gleich. Trägt die weiße Ziege deines Ahnen Bart? Traurig ist ihr Auge und von fremder Art. Wie ein alter Jude lehnt das Gräberhaus: Rauft der Wind sein Barthaar, Ziege rupft es aus.27
An diesem Gedicht aus 1968 fällt es schwer, das Verhaltene noch zu kritisieren. Wohl ist das ein Jahr früher entstandene Poem Bis an den Nagelmond von Rose Ausländer expressiver, kraftvoller – es endet mit den Worten: „Wie schön / Asche blühn kann / im Blut“28. Aber ist das Gedicht Rose Ausländers besser? Es scheint, dass beide Gedichte eine Wiederkehr, die indes entstellt ist, beschwören; das zunächst einem naiven Begriff von Realismus eher entsprechende Gedicht MargulSperbers vermag diese Entstellung sehr genau zu formulieren. Geblieben sind Spuren, doch deutlicher als die Asche sind diese Spuren zugleich Absenz und Präsenz dessen, worum zu trauern ist. Die Ambivalenz der scheinbaren Wiederauferstehung in Bilderfetzen gemahnt schließlich an Ruth Klügers Satz vom Gedenken: „Gespenstergeschichten sollte man schreiben können.“29 25 26 27 28 29
Margul-Sperber 2002a: 120. Ebenda: 153. Ebenda: 111 (im Original ist der Titel fett gedruckt). Ausländer 1984ff.: III 36. „Ich kann’s nicht besser machen und versuche vor allem, dieses, wie mir scheint, unlösbare Dilemma am Beispiel meiner eigenen Unzulänglichkeit
119 Margul-Sperbers Worte lassen sich gleichsam von einem Mangel tragen, der der Mangel aller Lyrik nach und aufgrund von Auschwitz ist; wir „fürchten uns vor Gespenstern […] nicht trotz der Tatsache, dass sie nicht existieren – sondern genau wegen der Tatsache, daß sie nicht existieren.“30 V. Man kann, wie angedeutet wurde, nicht behaupten, dass MargulSperber ein experimenteller Dichter gewesen sei; „Alfred MargulSperber hat […] [die Tradition] beherrscht; das Experiment haben andere gewagt“31, urteilt Scheichl zutreffend. Dennoch ist das, was dieser Dichter betreibt, Poiesis im strikten Sinne des Erschaffens; zum einen, wie gezeigt wurde, durch die Dezenz der konzisen Form, zum anderen aber auch durch Eigenheiten wie „die überdurchschnittlich große Häufung des Genitivs“32. Die Neigung zum Genitiv wäre einmal als nicht bloß expressionistische Marotte zu deuten, sondern im Sinne etwa Oskar Pastiors. Man muss sehen, dass Margul-Sperber eher „ein Feind der Literaturrevolutionen seiner Zeit“33 war, indes im Hören des Genitivs ist er in der Lage, für sich selbst durchaus revolutionär zu sein, den Worten nicht seinen, sondern ihren eigenen Sinn und Unsinn zu geben.34 Im Gedicht Elmsfeuer wird dies bei der Wendung „Dein Auge barg den matten Schein des Teiches“35 deutlich; kaum ist zu sagen, ob dies ein Schein vom oder aber auf den Teich ist, was der prekären Frage von Imagination und Realität des Elmsfeuers entspricht, kaum aber auch (wie bei Mörikes Auf eine Lampe) zu beantworten, ob hier sich etwas aufscheinend zeigt – oder bloßer Schein ist. Auch im Poem Geschlossenen Auges ist, wo „der Erde Gesang“36 beschworen wird, unklar, ob damit die Einrichtung des Lebens auf jener Erde oder eine Spur von gescheiterter und dies anklagender Existenzeinrichtung bezeichnet ist. Man kann also Margul-Sperber kaum aufgrund seiner Vorliebe für tradierte Formen das absprechen, was Czernin sehr
30 31 32 33 34 35 36
zu demonstrieren. Mein Vater ist zum Gespenst geworden. Unerlöst geistert er. Gespenstergeschichten sollte man schreiben können.“ – Klüger 1992: 28. Boovi 1995: 30. Scheichl 2002: 67. Ebenda: 63. Ebenda: 65. Vgl. zur Wendung Pastior 1997: passim. Margul-Sperber 2002a: 81. Ebenda: 120.
120 treffend „wortsemantische(n) Möglichkeitssinn“37 nannte – und hierin ist Margul-Sperber der nicht-experimentelle Schöpfer von dochexperimentellen Wendungen.38 VI. Ein weiteres Detail der Dichtung Margul-Sperbers hat Klaus Werner thematisiert. Alfred Margul-Sperber betrieb seine Dichtung nicht isoliert, sondern in einem sozialen Zusammenhang, und zwar jenem des kommunistischen Systems, welches naiv-realistisch gehaltene Verklärungen des Arbeiters und der Revolution wünschte. Um überhaupt eine Lyrik verfassen zu können, die Formkunst ist, musste Margul-Sperber zum Mittel der „Irreführung der Behörden“39 greifen, um „die kulturpolitischen Grenzen zugunsten des Lebensrechts der Kunst zu verschieben.“40 Unter diesen Bedingungen war nicht jede Dichtung möglich – und ist der Rekurs auf jene „Lyrik der ‚Wunder‘, die seinerzeit auch als Wunder empfunden worden ist“41, begreiflich. Man muss also sehen, dass Margul-Sperber zwar zurückblickt, aber auf eine Lyrik, die damals höchst innovativ schaffen und erschaffen wollte. Das mindert freilich den Eindruck eines traditionsbewussten Purismus nicht, der schon Celan fremd war: „Die Zeit tritt ehern in ihr letztes Alter. / Nur du allein bist silbern hier.“42 Mit dem Bild der vier Zeitalter deutet Celan doch recht deutlich an, dass Margul-Sperbers Dichtung auf prekäre Art unwirklich ist, wobei er sich mit silbern auch auf eine Reihe von Gedichten bezieht, worin der Angesprochene dieses Farbwort gebraucht, etwa Wunder aus dem Jahr 193443; bedenkt man, dass Celan bei seinen Übersetzungen eine „heutigere Diktion“44 anstrebte, wiegt der Vorwurf an jenen, dem das zitierte Gedicht gewidmet ist, schwer.45 Natürlich sind die Wünsche, die sich hinter der Sprache Margul-Sperbers zu verbergen scheinen, dennoch nicht illegitim; etwas „im Kitsch verweist auf Heimat und Vertrautsein, ein Bedürfen, 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Czernin 1992: 149. Vgl. zur Häufigkeit v. Genitivattributen bei Margul-Sperber Ionas 2000: 40. Werner 2002: 43. Ebenda: 44. Ebenda: 45. Celan 1989: 134. Vgl. zum Wort silbern etwa Margul-Sperber 2002a: 50ff. Paul Celan, zit. in: Gellhaus et al. 1997: 429. Vgl. auch Werner 2002: 46f.
121 das man nicht ablehnen kann, dem man aber mißtrauen muß“46, doch dieses Misstrauen scheint Celan an den Versen seines Mentors gefehlt zu haben, sie sind nicht Kitsch, doch unmittelbar gefährdet, dazu zu werden… Denn die böse oder auch schwarze Zeit ist, wo sie wahrgenommen wird, eine, die, wie Klaus Werner präzise bemerkt, als von der Beseeltheit zu widerlegende gezeichnet; Rose Ausländers Verse aus dem Jahr 1939 sind diesbezüglich von einer strukturellen Verwandtschaft: „Mein Herz kann mit der Zeit, der bösen, brechen, / und mit den Dingen wie mit Engeln sprechen.“47 Eine Zuspitzung erfährt das Problem dieser doch restaurativ anmutenden Lyrik dadurch, dass jene reine Sprache, auf die Margul-Sperbers Lyrik rekurriert – Celans Rekurs dagegen kann nur noch polemisch sein48 –, eine als Konzept von jenen, gegen die sich die Todesfuge denn auch richtet, mit irreparablen Konsequenzen missbrauchte ist.49 Man muss schon sehr genau lesen, um dann doch jene Momente zu erkennen, die wie erwähnt nur scheinbar eskapistisch sind – in denen, wie Peter Motzan schreibt, die Wahrheit „zunachte tritt“50, was auch eine mögliche Nähe zu Paul Celan bedeutet: „Wahr spricht, wer Schatten spricht.“51 Ein solches Gedicht ist sicherlich Auf den Namen eines Vernichtungslagers; darin führt Margul-Sperber den Namen des Lagers Buchenwald mit dem Namen seiner Heimat eng – mit Buchenland; vor allem aber formuliert er durch die deutsche Kultur gegen sie: „Daß es bei Weimar liegt, vergaß ich lang. / Ich weiß nur: man hat Menschen dort verbrannt.“52 Buchenwald liegt – nicht: lag – bei Weimar, darin klingt das an, was auch die Todesfuge treibt, nämlich jene unbegreifliche Vereinbarkeit von unaufgeklärter Leichenproduktion und deutscher Kultur; der Aufklärer der deutschen Literatur formulierte ja, dass Kultur gerade darin bestehe, „zugleich weinen und tapfer sein“53 zu können… Zuletzt erscheint es also zweifelhaft, dass Celan MargulSperbers Lyrik rechtens reserviert begegnet; vollends, wenn man liest, dass Margul-Sperber sein Wort an eben jenen idyllischen Dichter richtet, für den man ihn selbst gerne hielt: „Du träumst: doch rings 46 47 48 49 50 51 52 53
Schmidt 1994: 23. Ausländer 1984ff.: I 82; vgl. Werner 2002: 48f. Vgl. Hainz 2002 : passim. Vgl. auch Lämmert et al. 1967 : passim. Peter Motzan, zit. in : Werner 2002 : 51. Celan 1986 : I 135. Margul-Sperber 2002a: 151. Lessing 1987: 11.
122 erdröhnt die Welt“54. Selbst dann, wenn dies (auch) Selbstkritik ist, zeigt es, dass eine billige Schönfärberei von diesem Dichter doch nicht zu haben ist. Sie ist eher noch dort zu haben, wo Margul-Sperber – lange vor jener Lyrik, die man durch den Stalinismus als historischen Hintergrund ihres Enstehens begründen will – dezidiert engagiert ist und Gedichte auf den neuen Menschen (1915), der seine Ketten sprenge, oder eine arme Pariser Prostituierte, die vom lyrischen Ich plötzlich als Mensch erkannt wird („Deine Puppe / Dein Konfirmationskleid / Dein erster Liebesbrief“55), anstimmt.56 VII. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die Dezenz MargulSperbers auch seine Übersetzungen auszeichnet – wie in anderer Hinsicht auch diente hier Margul-Sperber einer anderen Dichtung, er übertrug Itzig Manger, rumänische Autoren (etwa Tudor Arghezi) sowie Texte des ukrainischen Dichters und Bildhauers Opanas Schewtschukiewitsch ins Deutsche.57 Eine Anregung seiner Dichtung durch die Multikulturalität – den Zusatzertrag des Nebeneinanders58 – ist dabei nicht unwahrscheinlich. 59 Kurz sei an dieser Stelle bei Tudor Arghezi verharrt; auch Celan verehrte Arghezi und wollte seine Dichtungen übertragen, doch hielt er später „die Poesie Arghezis für unübersetzbar“60. Er formulierte dies trotz einer Nähe, die George Gutu überzeugend zu zeigen vermochte.61 Margul-Sperber dagegen scheint dieser Dichtung weniger nahe zu stehen, jener haltlosen „Theophanie des Nichts“62 Arghezis, die in Celans Gedichtband Niemandsrose (1963) doch einen Nachhall zu haben scheint. Was hingegen zu Celan Distanz und zu Margul-Sperber Nähe geschaffen haben mag, ist der Umstand, dass Arghezi die Sprache „musikalisiert“63.
54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Margul-Sperber 2002a: 137; vgl. ebenda: 137f. Ebenda: 25. Vgl. ebenda : 10, 25 u. passim. Vgl. hierzu auch Motzan 2002: 25 u. 42. Vgl. Werner 2001: 39ff. Vgl. auch Corbea 1992: passim. Paul Celan in einem Brief an Edith Silbermann vom 5. 3. 1964, zit. in: Gutu 1994: 27. Vgl. ebenda: 26ff. Ebenda: 48. Ebenda: 58. Vgl. zur Musikalität der Poesie Celans etwa Hoffmann 1996: 360.
123 Arghezis Werk wird von Margul-Sperber zurückhaltend übersetzt – allerdings auch gezielt umgeformt, wie das Gedicht Psalm zeigt. Denn Arghezi ist nicht der Poet des Schönen, zu dem er hier wird, er ist „ketzerisch“64, wie es im Vorwort einer Gedichtauswahl heißt, und zwar als Polemiker, der bei der Facla (Fackel!) als Mitherausgeber wirkte, aber auch in der religiösen Dichtung.65 Die diplomatische Formulierung, Margul-Sperber werde den „herkömmlichen Aspekte(n)“66 dieser Dichtung sehr gut gerecht, sagt viel. Bei Margul-Sperber heißt es dementsprechend, wo Arghezi schreibt, er könne die Ewigkeit zur Vertrauten seiner Gedanken machen und Verse erfinden: „stihuri sprintene i grele”67 (Verse, beschwingt und gemessen), jene Verse seien „strenge und schöne.“68 Das klassische Ebenmaß duldet die Vielfalt des leichten und lustigen oder aber gravitätischen Dichtens, wie es aus der Alternative bei Arghezi spricht, nicht. Auch die Formulierung, dass eine himmlische Passion „sufletul mi-l arde“69 (meine Seele verbrennt), ist stärker als Margul-Sperbers Wendung, wonach eine „himmlische Leidenschaft […] meine Kraft (verzehrt)”70 – was weitaus weniger ketzerisch als Arghezis Worte ist. Und das Wort „dezmierdai“71, wonach das göttliche Gegenüber des lyrischen Ichs dieses liebkoste, ist mit „du warst mir gut“72 schlicht schwach übertragen. Man sieht hier das grundlegende Dilemma dieses Poeten. Er wählt sich als zu Übersetzenden einen modernen Dichter aus; aber er schwächt das, was ihn angezogen zu haben scheint, zugleich systematisch ab. Er glättet das Gedicht, was keine Folge des angestrebten Nachreimens ist (wobei aus einem Kreuzreim, den man als subtile Anspielung verstehen könnte, ein Paarreim wird), sondern eine Tendenz im Dichten dessen, der hier doch in die Bedeutung nachhaltig eingegriffen hat. 73 VIII. Zu erwähnen ist – gleichfalls aus der sogenannten Peripherie des Werkes – schließlich, dass Margul-Sperber sich lange Jahre mit der 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Arghezi 1996: XIII. Vgl. ebenda: XIIf. Ebenda: XXII. Ebenda: 12. Ebenda: 13. Ebenda: 12. Ebenda: 13 (Hervorhebung von mir, M.H.). Ebenda: 12. Ebenda: 13. Vgl. ebenda: 12f.
124 Idee einer Anthologie auseinandersetzte; diese, die wohl Die Buche geheißen hätte, sollte zusammenstellen, was den Geist der Lyrik aus der Bukowina der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei aller Vielfalt ausmacht. Die Anthologie ist nicht zustande gekommen, existiert aber in Form zweier Entwürfe im Nachlass – eine Rekonstruktion und in der Folge Herausgabe wäre zweifach lohnend. Zum einen wäre so ein weiterer Blick in das Lyrikverständnis Margul-Sperbers getan, zum anderen wäre der Band gewiss eine Bereicherung für die Darstellung der Poesie jener Region. Bislang befassen sich mit dieser zwei Lesebücher; zum einen der sehr schöne, aber doch recht schmale Auswahlband Fäden ins Nichts gespannt von Klaus Werner, worin sicherlich die Akzente sehr gut gesetzt sind, aber das immer nur scheinbar Unwesentliche dem Umfang von 152 Seiten geopfert werden musste, zum anderen der Band Versunkene Dichtung der Bukowina, der das, was bei Margul-Sperber Vorstellung blieb, einlösen will, aber doch deutlich von dem differieren dürfte, was jener konzipierte – die Widmung formuliert insofern einen etwas heiklen Anspruch: „Gewidmet dem Andenken des Initiators und geistigen Anregers dieser Sammlung […] Alfred Margul-Sperber”74. IX. Margul-Sperber ist ein überaus facettenreicher Agent in literarischen Angelegenheiten – und dringend wiederzuentdecken. Diese Wiederentdeckung ist freilich, wie gezeigt wurde, nicht einfach, die Qualitäten dieses homme de lettre erschließen sich tatsächlich nur der aufmerksamen Lektüre, die dann auch und gerade dort, wo dieses dichterische, übersetzerische und nicht zuletzt schlicht menschliche Werk vor allem betulich wirken mag, genuin Poetisches entdecken kann. Literaturverzeichnis Arghezi, Tudor. 1996. Cuvinte Potrivite / Wohlgefügte Worte. Zweisprachige Ausgabe Rumänisch – Deutsch, übers.v. Alfred Margul-Sperber et al. Hrsg. v. Paul Schuster u. Ion Acsan Bukarest: » Grai i Suflet – Cultura Naional «-Verlag (Ianus).
74
Kittner et al. 1994: 5 (im Original in Kapitälchen).
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Peter Delvaux WALDEMAR BONSELS Ganz vergessen ist er nicht. Das Jugendbuch Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1912) ist ein evergreen, in mehreren Ausgaben erhältlich, erprobt in Film und Fernsehen. Die Fortsetzung Himmelsvolk (1913), weltanschaulich schwerer befrachtet, ist kaum noch dem Namen nach bekannt, und nicht viel anders steht es um Das Anjekind (1913) und die drei Mario-Bücher, von denen ohnehin nur das erste, Mario und die Tiere (1927), seinerzeit Verbreitung gefunden hat, eben weil es mehr als die beiden folgenden das Heranwachsen in der Waldeinsamkeit ähnlich wie bei Parzival und Genovevas Sohn Schmerzensreich schildert. Nicht weniger haben der autobiographisch gestaltete - nicht ohne weiteres autobiographische - Reisebericht Indienfahrt (1916) und die Novellensammlung Notizen eines Vagabunden (1917-1923), für die Gleiches gilt, ihrem Autor in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weltweiten Ruhm und in den dreißiger Jahren eine treue Leserschaft gesichert, und so erhebt sich die Frage nach der Ursache von deren beider Schwunde und von Bonsels’ Absturz in der Gunst von Literaten mehr noch als von Lesern. Am literarischen „Ich“ weniger fiktiv als bei Karl May - kann es kaum gelegen haben, an seiner politischen Haltung - die Nazis mochten ihn ebensowenig wie er sie - auch nicht, und die unbekümmerte Freizügigkeit seines Lebenswandels müsste ihn heutzutage doch eher empfehlen. 1881 im holsteinischen Ahrensburg in der Nähe Hamburgs geboren, brach er im Alter von 17 Jahren aus der Obhut des Kieler bürgerlichen Elternhauses in die weite Welt auf, hierin Ernst Jünger vergleichbar; mit diesem teilt er auch den Vitalismus, wenngleich dieser bei ihm nicht militant ist und durch Offenheit für religiöse Erlebnisse klarer vom Nihilismus unterschieden ist. Während Jünger aber bald aus der Fremdenlegion zurückgeholt werden musste, zog Bonsels im Selbstverständnis eines Vagabunden jahrelang friedlich umher. Ausbruch und Wanderung haben sein Werk dauerhaft geprägt, jener noch mehr als diese. Seine Helden - voran die Biene Maja - sind Einzelgänger, die nicht aus der herkömmlichen Gesellschaft aussteigen oder sich ihr rebellisch entgegenstellen, sondern sich von ihr abwenden, in neue Zusammenhänge finden und darin ihre Individualität gestalten und, wenn alles gut geht, gewandelt zurückkehren. Kollegen wie Detlev von Liliencron, Richard Dehmel,
130 Hermann Stehr und die Brüder Mann haben ihn von Anfang an als Verleger wie als Schriftsteller ernstgenommen. Bonsels ließ sich nach jener Zeit zunächst in Schleißheim nieder, bis der Erfolg seiner Bücher ihm erlaubte, sich aus dem von ihm mitbegründeten W.E. Bonsels Verlag zurückzuziehen, und wurde dann in Ambach am Starnberger See ansässig, von wo aus er im Münchner Gesellschaftsleben zeitweise als Salonlöwe auftrat. Im Dritten Reich führte er wie so Viele ein unauffälliges Dasein, einige seiner Bücher wurden verboten, es erschien wenig Neues von ihm. Die Biene Maja war nicht umzubringen. Er überlebte den II. Weltkrieg und starb 1952. Die genaue und liebevolle Naturbeschreibung verbindet Bonsels mit dem 15 Jahre älteren Hermann Löns, jedoch tritt bei ihm immer etwas gleichsam Anthropomorphes hinzu, nicht in der Erscheinung, sondern im Wesen. Auch bei Löns kommen namentragende Tiere vor, die sich Gedanken machen, etwa Hasen, die untereinander den niederdeutschen Dialekt der Jäger sprechen, denen sie zu entrinnen suchen; derlei gehört bei Bonsels zum Sinn seines Unternehmens. Zudem werden in der Biene Maja gesellschaftliche Verhältnisse dargestellt und auch persifliert, deren Modernität z.B. durch die Anredeform Sie unter Gleichrangigen, etwa zwischen Biene und Schmetterling und Käfer, angedeutet und somit unweigerlich ins Komische und für Kinder Lustige gezogen wird. Die Bienen im Schlosspark haben nicht nur eine Königin Helene, die Achte ihres Namens, sondern ein richtiges hierarchisches Staatswesen, in dem diese ihres Amtes waltet, mit Würdenträgern, worunter Offizieren. Das alles gibt es auch bei den entsetzlichen Hornissen. Denn es gibt kleine und große Gefahren, Revolutionen und kriegerische Konflikte, deren Darstellung wenig an Aktualität verloren hat, die aber zum Glück gut für die Bienen ausgehen, wenngleich mit ernsten Verlusten. Es gibt auch wundersame nächtliche Elfen, sie gehören als Blumenelfen in diesen Naturbereich und hegen zuversichtlichen Glauben an Hinschied und Wiederkunft, und am Rande gibt es Menschen, sogar gute und schöne. Am Ende erwirbt Maja sich große Verdienste um den Bienenstock, dem sie zuvor entflohen ist, und wird mit Rang und Würden wieder in diesen aufgenommen. In Himmelsvolk ist es zunächst ähnlich, auch die Pflanzen ohne Blumenelfen haben dort ein Seelenleben, und gegen Ende erscheint Christus als Hüter und Erhalter, was einen Hinweis auf andere Werke des Autors enthält und nicht als Grenzüberschreitung gemeint ist, aber wohl so wirkt und längerfristiger Aufnahme dieses Buches nicht förderlich gewesen ist.
131 In den Erzählungen von Anjekind und Mario ist die Perspektive die des jungen Menschen im wilden Walde mit Moor und Heide, in den das Schicksal ihn verschlagen hat und der sich ihm, wenngleich unter der Anleitung eines weisen älteren Menschen - die Dommelfei, die sich Marios annimmt, erinnert an die alte Wittichen in Gerhart Hauptmanns Versunkener Glocke -, weder als unwirtlich noch als gefahrlos, sondern als angemessene Lebenswelt erweist. Natürlich entsprang der Widerhall, den diese Bücher gefunden haben, dem Ungenügen an einer als seelenlos empfundenen Zivilisation, wie auch Jugendstil und Wandervogel und manches Andere. Bekanntlich gehört auch die Aufbruchsstimmung zu Anfang des I. Weltkriegs dazu, später die sogenannte konservative Revolution, um nicht zu reden von noch Schlimmerem. Davon hat Bonsels sich ferngehalten. Er war zwangsweise eine Zeit lang Kriegsberichterstatter und entledigte sich dieser Aufgabe nicht zur Zufriedenheit jener Kreise, die im Gegensatz zu ihm sich die Erneuerung Deutschlands vom Kriege erhofften, um von den Kriegszielen der Alldeutschen nicht zu reden. Vielmehr schilderte er Begebenheiten am Rande der großen Geschehnisse, Kriegsbegeisterung und voreiligen Siegestaumel Anderen überlassend. Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, wie er Manchen als Lehrer, Künder, Prophet erscheinen konnte, so muss vorab Eines nachdrücklich vermerkt werden: Bonsels hat wiederholt darauf hingewiesen, dass seine Bücher vorrangig unter poetischen und ästhetischen und nicht weltanschaulichen Gesichtspunkten zu beurteilen seien. Es handelt sich vor allem um Indienfahrt und die Notizen eines Vagabunden mit ihren drei auch gesondert erschienenen Abteilungen Menschenwege (1917), Eros und die Evangelien (1920) und Narren und Helden (1923). Allerdings hielt er auch Vorträge, erweckte dadurch, ähnlich wie Rudolf Steiner, den Eindruck eines Wanderpredigers und erzielte derart eine ungewollte ähnliche, wenn auch weniger nachhaltige und seinem literarischen Ansehen auf die Dauer wohl eher abträgliche Wirkung. Wir wollen hier seinem Winke folgen, nicht in dem Sinne, dass der weltanschauliche Gehalt ausgeblendet würde - das ginge gar nicht -, wohl aber in dem Sinne, dass er nicht als Heilslehre gedeutet, sondern als folgerichtige Entwicklung eines dichterischen Bekenntnisses in sinnende Betrachtung zu ziehen ist. Durchgehender Zug ist eine tiefe gegen den Rationalismus gerichtete und insbesondere christlichem und fernöstlichem Glauben verpflichtete, jedoch weitgehend unbestimmte Religiosität, in die ein keine Herrschaft duldender Eros komplementär eingebunden ist, dem
132 die Verantwortung des Mannes für die Folgen des Zeugungsaktes eine untergeordnetes Problem ist, was sich in des Autors Lebensführung in einer Weise niederschlug, die meiner Mutter bei einer Begegnung mit ihm, ihrem eigenen Bericht zufolge, Anlass zu ihm unerwarteten Vorhaltungen war. Dass orthodox festgelegte Theologen sich ablehnend geäußert haben, ist nicht verwunderlich. Auffälliger ist dass Theologen, denen es mehr auf die Behauptung des Glaubens in einer scheinklugen säkularen Welt ankam, kritische Wertschätzung für das Werk aufbringen konnten. Es handelt sich dabei grundsätzlich nicht um Darlegungen, sondern um Erzählungen; in diese sind Darlegungen oder auch nur bündige Aussprüche aufgenommen, wie das eben so geht, und was dem Zauberberg von Thomas Mann recht ist, ist der Indienfahrt billig; die Form der Ich-Erzählung darf davon nicht ablenken, noch abgesehen von des Autors eigener Entwicklung. Mit anderen Worten: solche Darlegungen und Aussprüche sind als solche einzuschätzen und nicht zu sofortiger Beurteilung (einer Lehre) des Autors geeignet. Die Erzählungen enthalten mancherlei äußere und innere Geschehnisse, Abenteuer und Verwicklungen, die uns unglaubwürdig und phantastisch vorkommen mögen. Tragik fehlt nicht, wirft im Vitalismus aber kein ernstes Problem auf. Dem Stil ist Schwulst vorgeworfen, zu Unrecht, wie ich meine: Überschwang und Wirrsal stecken im Gehalt. Ist er zu Unrecht fast vergessen? Anders gefragt: sollen wir wieder etwas zum Vorschein holen? Um Die Biene Maja brauchen wir uns keine Sorgen zu machen; schon mehr um Himmelsvolk, man muss die religiöse Ausweitung mögen. Interessanter ist das erste MarioBuch. Man mag Einwände gegen die verklärende Darstellung einer solchen Existenz erheben. Aber die Frage ist auch, was es denn gibt um aufgeschlossenen Heranwachsenden die mögliche Bedeutung der einheimischen Natur oder auch nur von Wald und Feld nahezubringen: Hermann Löns und seine wenigen manchmal recht verdienstlichen Nachfolger; Karl Waggerl, Ernst Wiechert. Ganz Brave ziehen dann gleich Heimatromane hervor und zerreißen sie in der Luft. Wer will, mag Löns unter die Präfaschisten rechnen, weil er den Werwolf und das Lied von der Fahrt gegen Engeland geschrieben hat, und Waggerl war Mitläufer; Wiechert aber sind ebensowenig wie Bonsels politische Vorwürfe zu machen, und man lese seine Rede an die deutsche Jugend. Für das Anjekind gölte Gleiches, aber triebhafter Eros und gesetzloses Handeln in der Rahmenerzählung umstellen die Idylle. Und wie steht es nun um die Notizen und Reiseberichte mit der Hereinnahme religiöser Gedankengänge, die sich zumindest teilweise
133 der Begegnung mit anderen Kulturen in der Distanz zur eigenen verdanken? Sind sie mehr als nur noch Dokumente einer laut vernehmlichen Stimme im Interbellum? Das hängt davon ab. Sie dürften Seelen- und Triebleben, Leidenschaften und Konflikte kaum chaotischer, subjektiver, regelloser oder gar anstößiger schildern als vieles Neuere, was heute Absatz findet; vielleicht sind sie besser geschrieben. Wer mehr sucht, sehe sich weiter um. Bonsels’ letztes Werk, 1943 zunächst als Privatdruck erschienen, ist wohl als sein Vermächtnis zu betrachten: Dositos. Ein mythischer Bericht aus der Zeitwende. Es reflektiert Jesu Erscheinung und Wirken in den Begegnungen und Erlebnissen eines zeitgenössischen Griechen, zuweilen mit mehr wohlmeinender Phantasie als Sachkunde. Die Kritik hatte denn auch mancherlei auszusetzen, und je nach Standpunkt nicht immer ohne Grund. Der Gedanke aber ist originell und deutet auf das Versäumnis hin, die Entstehung des Heidenchristentums und seiner eigenen Traditionen zu verstehen. Diese ist heute Gegenstand spannungsvoller Auseinandersetzungen in theologischen Diskursen, nicht aber lebendiger Vorstellungen in der christlichen Gemeinde; es bleibt bei Zutaten zu Weihnachten Bonsels hat 1923 auch ein Weihnachtsspiel geschrieben - und Ostern. Man braucht Bonsels nicht in allem zuzustimmen, um dieses Anliegen zu teilen. Bibliographisches Eine Waldemar-Bonsels-Forschung gibt es kaum. Die WaldemarBonsels-Stiftung in Ambach hat 1986 als ersten Band der Ambacher Schriften die Übersicht Waldemar Bonsels im Spiegel der Kritik herausgebracht, der in Vorstehendem einiges entnommen ist. An seinen Werken außer der immer vorhandenen Biene Maja besteht ein unzuverlässiges verlegerisches Interesse, und man muss sich jeweils erkundigen was gerade erhältlich ist. Die 1980 geplante zehnbändige Gesamtausgabe ist nicht greifbar. In öffentlichen und privaten Bibliotheken ist vieles anzutreffen.
134
Gustav Landauer (1870 – 1919)
Hanna Delf von Wolzogen WIR ZIEHEN JA DOCH AN EINEM STRANG. GUSTAV LANDAUER, EIN EINSAMER GRENZGÄNGER UND EUROPÄER
„Wir ziehen ja doch an einem Strang.“ Diesen Satz schreibt Gustav Landauer an Frederik van Eeden, als dieser ihm einen Beitrag für das Tolstoi-Heft seiner Zeitschrift Der Sozialist geschickt hatte.1 Kurz zuvor hatten die beiden sich auch persönlich kennen gelernt, nachdem sie einander seit Jahren aus der sozialistischen und anarchistischen Bewegung kannten. Gemeinsam werden sie im Forte-Kreis eine übernationale Verständigung zwischen Intellektuellen zu organisieren versuchen.2 Fragt man über diesen singulären Kontakt hinaus nach dem Beziehungsgeflecht europäischer Intellektueller im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg und betrachtet dabei speziell den Kreis der sozialistisch oder anarchistisch Gesinnten und darin mit Gustav Landauer einen der wenigen konsequenten Europäer und Kriegsgegner unter den deutschen Intellektuellen des Kaiserreichs, so fällt die periphere Rolle, die er selbst in den Kreisen der Sozialisten zu Lebzeiten spielte, besonders ins Auge. Seine Rezeption in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg liest sich wie eine Fortschreibung dieser Geschichte. Der auffallende Widerspruch zwischen der Rolle, die Landauer in den Kreisen der Sozialisten und Anarchisten auf europäischer Bühne spielte, und seiner prononciert europäischen und antinationalistischen Haltung sowohl in seinen politischen Optionen als auch in seinen literarischen und philosophischen Entwürfen soll Anlass sein, in einigen Aspekten Landauers Wirkung nachzugehen und sein intellektuelles Profil in einigen Zügen zu skizzieren. Aus einer Karlsruher jüdischen Kaufmannsfamilie stammend gelangte Gustav Landauer bereits während des Studiums in den Kreis der ‚Jungen‘, der linken Opposition in der deutschen Sozialdemokratie. Schnell wird der literarisch ambitionierte, Nietzsche lesende Philologie-Student zum führenden Kopf dieses 1 2
Brief vom 18.12.1910: GLAA 87. Vgl. van Eeden, Frederik: Einer der wenigen. In: Der Sozialist 2 (1910), Nr. 23/24: 186/187. Der Kreis war ein loser Zusammenschluss von Schriftstellern und Intellektuellen, die sich seit 1910 geeint gegen den drohenden Krieg wenden wollten. Die Gründung sollte in Forte dei Marmi erfolgen, was wegen Differenzen und dem Ausbruch des Weltkriegs nicht mehr geschah. Dem engeren Kreis gehörten neben den beiden Genannten E. Gutkind, M. Buber, F. Chr. Rang, H. Borel, Th. Däubler an. Vgl. Holste 1992 und Faber 2001.
136 Kreises und zum Redakteur ihres Organs Der Sozialist.3 In dieser Eigenschaft nimmt er an den Kongressen der Zweiten Sozialistischen Internationale in Zürich und London teil. In den Querelen zwischen (sozialdemokratischen) Marxisten und Anarchisten, die in Beschimpfungen, Verdächtigungen und dem schließlichen Ausschluss der Anarchisten münden, steht Landauer auf der Seite der Anarchisten an exponierter Stelle. Indes kann er beim Zürcher Kongress 1893 seinen Delegiertenbericht nicht verlesen, weil er bereits am zweiten Tag, nachdem er von August Bebel diffamiert worden war, vom Kongress ausgeschlossen wird.4 Drei Jahre später in London erfolgt dann der endgültige Ausschluss der Anarchisten. Beide Male organisieren die Anarchisten und antiparlamentarischen Sozialisten einen Gegenkongress, an dem auch der junge Landauer an prominenter Stelle und als herausragender Redner teilnimmt. 5 Sein Bericht für den Londoner Kongress Von Zürich bis London gehört zu den meist übersetzten seiner Schriften.6 Während Landauer in der zeitgenössischen Literatur hier noch überall genannt wird, finden wir ihn bei den Kongressen in Amsterdam 1904 und 1907 schon nicht mehr, was vor allem darin begründet ist, dass er sich nach den Enttäuschungen mit den deutschen Anarchisten und dem Scheitern des Sozialist (der neunziger Jahre) als eines Blattes mit hohem politischen und kulturellen Niveau aus der Berliner anarchistischen Szene zurückgezogen hatte, ohne jedoch seine anarchistischen Haltungen grundsätzlich zu revidieren. Dass Landauer hingegen in das internationale anarchistische Netzwerk, das vor allem in der Übersetzung und dem Austausch von Artikeln führender Zeitungen und Zeitschriften, von Broschüren und Büchern und in der Vermittlung von Informationen über die Bewegungen in den jeweils anderen Ländern bestand, auch in späteren Jahren intensiv eingebunden war, zeigt der dritte Sozialist, den Landauer nach der Gründung des Sozialistischen Bundes von 1909 bis zur
3 4 5
6
Vgl. zu Landauers Rolle im Anarchismus: Linse1969. Zu seiner Rolle bei den Kongressen und zu seiner Rezeption vor allem de Jong 1997: 215-233. Vgl. dazu die Aufsätze in Der Sozialist, abgedruckt in Link-Salinger 1986. Landauer lernte hier Persönlichkeiten wie Peter Kropotkin, Elysée Reclus, Louise Michel, Bernard Lazare, Errico Malatesta und Rudolf Rocker kennen. Vgl. Nettlau 1947: 187-325, für das gesamte Thema Nettlau 1981 (über die Kongresse: Kapitel 16) und Nettlau 1984. Landauer, Gustav: „Von Zürich bis London. Bericht über die deutsche Arbeiterbewegung an den Londoner Internationalen Kongress.“ In: Der Sozialist 6 (18.7.1896), Nr. 29. Übersetzungen in: Les Temps Nouveaux, Paris 2 (1896), Nr.15-18, El Productor (La Coruna) 1 (1896), Nr. 3-5. Sonderdrucke u.a. in Pankow bei Berlin 1896, London 1896 und Ancona 1919.
137 kriegsbedingten Einstellung des Blattes 1915 wieder herausgab.7 Programmatisch heißt es dort in einer Anmerkung: Wir halten es für unsere Aufgabe, ein internationales Organ zu sein und unsere Leser an jeder lebendigen Weiterführung des Sozialismus teilnehmen zu lassen, so wie wir hoffen, mit unserm Denken allmählich auch über die deutsche Sprachgrenze hinauszuwirken.8
Neben Zitaten und Auszügen aus Werken der literarischen und philosophischen Tradition, wie Bettine von Arnim, Fichte, Jean Paul, Herder, Diderot oder Angelus Silesius und der Moderne wie Nietzsche, Hermann Bahr, Peter Altenberg oder Oscar Wilde finden in wohlüberlegter Komposition Beiträge über prominente anarchistische Autoren wie Peter Kropotkin, Michail Bakunin, P. J. Proudhon oder Alexander Herzen Platz neben Artikeln, die aus führenden anarchistischen Zeitschriften des Auslands übersetzt wurden. So kann der deutsche Leserkreis Voltairine de Cleyre oder Alexander Berkman in Artikeln aus der von Emma Goldmann herausgegebenen Mother Earth kennenlernen, den französischen Sozialisten Max Clair mit einem Artikel aus den Pariser Les Temps Nouveaux oder von Aristide Pratelle über die „Hungersnöte in Indien“ aus dem von John Most redigierten Londoner Freedom erfahren. Regelmäßig wird über soziale Bewegungen in fernen Ländern, in Spanien, Japan, Mexiko oder über spektakuläre Anarchistenprozesse berichtet und mit authentischen Texten an revolutionäre Ereignisse wie die Pariser Commune oder Ein Völkerfest von Lissabon erinnert.9 Umfangreiche Übersetzungen aus den Werken Proudhons, Etienne de la Boeties, Kropotkins, Tolstois oder Solowjeffs entstanden in diesem Kontext. Umgekehrt fand Landauer mit seinen Werken unvergleichlich viel weniger Aufmerksamkeit in den anarchistischen Kreisen des europäischen Auslands. Das hatte zum einen damit zu tun, dass die anarchistische Bewegung zuzeiten Landauers romanisch orientiert war, wie Rudolf de Jong zurecht bemerkt, zum anderen aber auch damit, dass Landauers theoretisches Profil trotz seiner frankophilen Vorlieben sich ganz wesentlich aus der Tradition der deutschen Klassik und Romantik speist, die außerhalb Deutschlands, zumal bei Anarchisten, wenig wahrgenommen wurde. Zu Landauers Lebzeiten gab es nicht 7 8 9
Vgl. den Reprint: Der Sozialist: Landauer 1980. Landauer, Gustav: „Vorbemerkung zu Clair, Max: Neue Formen des Streiks. “ In: Der Sozialist 3 (1.4.1911), Nr. 7: 51. Vgl. die Jahrgänge des Sozialist in Landauer 1980. Stellvertretend seien genannt Die beiden Märztage (Der Sozialist 1, 1909, Nr. 3) gefolgt v. einem Kap. aus Kropotkins Die französische Revolution (1911) und der Auszug aus E. Coeurderoy, übers. v. M. Nettlau: Der Sozialist 4 (1912), Nr. 2.
138 viel mehr als ein paar Übersetzungen aus dem Sozialist, einige Übersetzungen ins Jiddische, von denen Max Nettlau spricht, eine polnische Broschüre und einige Beiträge in La Huelga General, der Zeitschrift des spanischen Anarchisten Francesco Ferrer.10 Erst nach seinem Tod wurde Landauer vor allem durch Publikationen aus dem Umkreis der deutschen Anarchosyndikalisten auch international bekannt. Zu nennen sind Rudolf Rocker mit seinen Erinnerungen11 und Max Nettlau, der in seiner materialreichen Geschichte der Anarchie detailliert auf Landauers Wirken eingeht, ferner Helmut Rüdiger, der nach dem spanischen Bürgerkrieg im schwedischen Exil als Redakteur der Zeitung Arbetaren für die Verbreitung Landauerscher Gedanken sorgte und Augustin Souchy, dessen Schrift Landauer: Revolutions Filosof 1934 von Diego Abad de Santillán vom Schwedischen ins Spanische übersetzt wurde. Überhaupt leistete Diego Abad de Santillán als eine der wichtigen Persönlichkeiten der libertären Arbeiterbewegung Spaniens mit seinen Übersetzungen und Editionen sehr viel für die Verbreitung Landauerscher Ideen im spanisch-sprachigen Raum. Bereits 1929 waren La vida de Gustav Landauer según su correspondenca von Max Nettlau und 1931 der Aufruf zum Sozialismus in Barcelona erschienen. 12 Als Verleger in Buenos Aires sorgte Santillán auch in Argentinien für die Präsenz Landauers u. a. mit der Übersetzung der Shakespeare-Vorträge.13 Neben der Schweiz, wohin Landauer des öfteren zu Vorträgen eingeladen wurde und wo er zusammen mit der Gewerkschaftssekretärin und Sozialistin Margarete Faas-Hardegger den Sozialist ab 1909 wieder herausgab, sollen die holländischen Verbindungen erwähnt werden. Zuvörderst ist Domela Nieuwenhuis zu nennen, der Führer des Sociaal Democratische Bond (SDB), den Landauer seit den Kongressen der neunziger Jahre kannte und zu dem er auch später noch persönliche Kontakte unterhielt. Domela geht in verschiedenen Publikationen auf Landauer ein, druckt auch Artikel aus dem Sozialist in der von ihm herausgegebenen anarchistischen Zeitschrift De Vrije Socialist ab. Dagegen scheint der Kontakt zu Frederik van Eeden, der wie Landauer ein Gegner der Sozialdemokratie und mit der Kolonie Walden ein Verfechter von Produktiv- und Siedlungsgenossenschaften 10 11 12
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Nettlau 1947: 280, zitiert bei de Jong 1997: 223. Die Erinnerungen R. Rockers befinden sich im „Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“, A’dam. Vgl. Rocker 1974 und de Jong 1997: 223. Nach dem Bürgerkrieg erschienen in seinem Verlag in Buenos Aires neben anarchistischen Klassikern auch der Aufruf zum Sozialismus zusammen mit Max Nettlau und die Bände über Shakespeare, vgl. R. de Jong 1997: 225. Vgl. Landauer 1920, argentinische Ausg.: Buones Aires: Americalee 1947.
139 war, erst in den Tagen des Forte-Kreises aufgenommen worden zu sein.14 Aus dem Kreise der Siedler stammt auch der Tolstoianer Bernhard Reyndorp, der schon in den neunziger Jahren das Flugblatt Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse ins Niederländische übersetzt hatte15 und auch in späteren Publikationen immer wieder auf Landauer eingeht. Unter den wenigen, die sich im holländischen Umfeld mit Landauer beschäftigt haben, bleibt die Schriftstellerin und kommunistische, später christliche Sozialistin Henriëtte Roland Holst zu nennen, die nach der Lektüre der von Buber und BritschgiSchimmer herausgegebenen Briefsammlung Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen ein begeistertes Buch schrieb. 16 Damit wäre auch schon Landauers Rolle in der europäischen sozialistischen/ anarchistischen Bewegung skizziert: eine Erscheinung am Rande, die sich keiner politischen oder ideologischen Lagerbildung ganz zurechnen lässt und dadurch jeder einschlägigen Kanonisierung entgeht. Darüber hinaus ist Landauer im deutschsprachigen Raum in zwiefacher Weise, als Sozialist und als Jude, von der Dekanonisierung infolge der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten betroffen. Dass nach der Ermordung Landauers und über die Nazi-Zeit hinweg sich überhaupt Teile des schriftlichen Nachlasses erhalten haben, ist für den heute in Jerusalem aufbewahrten Teil vor allem Martin Buber zu danken, der schon mit seinen Editionen der Zwischenkriegszeit die deutschsprachige Landauer-Rezeption wesentlich beeinflusste. 17 Mit ihm ging auch Landauers Leserschaft aus dem liberalen deutschjüdischen Bildungsbürgertum nach Palästina, dessen Söhne und Töchter, nicht selten der sozialistischen bzw. zionistischen Jugendbewegung angehörend, Pioniere der Kibbuzbewegung wurden. Der andere Teil des Nachlasses wurde von der mutigen Bibliothekarin des gerade gegründeten Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis in Amsterdam, Annie Adama van Scheltema-Kleefstra, 1937 aus Nazi-Deutschland gerettet. Ohne die zwei Teilnachlässe wäre die seit den 70er Jahren im Zuge der Studentenbewegungen auch in Frankreich und den Vereinigten Staaten einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit Landauer um vieles, vor allem um die umfangreichen Briefschaften, ärmer. Mit Martin Buber als dem literarischen 14 15
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Zu van Eeden vgl. Holste 1992: 120-178. Vgl. Landauer, Gustav: „Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse.” Flugblatt (anon.), Verl. von A. Marreck, Berlin. [1.Mai] 1895. Übers. erschien 1897. Vgl. Landauer 1929 und Roland Holst 1931. Vgl. neben Landauer 1929 die Anthologien Beginnen (1924) und Der werdende Mensch (1921) sowie die Bände Shakespeare (1920).
140 Nachlassverwalter Landauers und seiner Frau Hedwig Lachmann und den reichen Briefschaften der Nachlässe wären wir bei jenem anderen Landauer, dessen intellektuelles Profil am Horizont des politischen Anarchismus nicht oder nur marginal wahrgenommen wurde, bei dem Kulturphilosophen und Theatermann, dem Übersetzer und literarischen Essayisten, dessen Stimme im intellektuellen Leben des Kaiserreichs durchaus Gewicht hatte. Schon der Student konnte in den frühen neunziger Jahren seine emphatischen Nietzsche-Lektüren in der damals von W. Bölsche redigierten Neuen Rundschau plazieren,18 in K. Kautskys Neuer Zeit seine nietzscheanische Kritik an den jüngsten (naturalistischen) Literaten vortragen. 19 Mit seinen ersten literarischen Versuchen hatte sich Landauer das Wohlwollen Fritz Mauthners, des renommierten Theaterkritikers und Sprachphilosophen, erobert.20 Mauthner schätzte das junge Talent ebenso wie Fontane. 21 Er hatte ihm die Tür seines Hauses und die Seiten seiner Zeitschriften geöffnet, in Deutschland und dem mit Otto NeumannHofer herausgegebenen Magazin für Literatur erschienen unzählige Rezensionen aus Landauers Feder. Der Todesprediger erscheint als erster deutschsprachiger Nietzsche-Roman22 und bald schon wird Landauer mit seinen Anarchischen Gedanken über Anarchismus zum Autor der von Maximilian Harden herausgegebenen Zukunft,23 in der auch weiterhin wichtige Arbeiten von ihm erschienen, wie die Essays zu Mauthners Sprachkritik, die später zu dem Band Skepsis und Mystik zusammengefasst wurden und Die Geburt der Gesellschaft, Auszüge aus dem in Bubers sozialpsychologischer Reihe Die Gesellschaft erschienenen Essay Die Revolution.24 Landauers Aufmerksamkeit in den Jahren nach der Jahrhundertwende gilt aber auch der literarischen Moderne. In Jacobsohns Schaubühne verteidigt er neue Tendenzen der Dramatik anhand von Richard Beer-Hofmanns Der Graf von Charolais, Oscar Wildes Florentinischer Komödie und Hugo von Hofmannsthals Gerettetem Venedig.25 In dem von Hermann Kienzl herausgegebenen Blaubuch erscheinen Arbeiten über George 18 19
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Vgl. Landauer, Gustav: „Religiöse Erziehung.“ In: Neue Rundschau. Freie Bühne für modernes Leben 2 (1891), Heft 6: 134-138. 1891. Vgl. Landauer, Gustav: „Gerhart Hauptmann.“ In: Die neue Zeit 10 (1891/92), Bd. 1: 612-621. Zu Landauers Nietzsche-Rezeption vgl. Delf von Wolzogen in Stegmaier, Krochmalnik 1997: 209-227. Veröffentlicht wurde die Novelle Ein Knabenleben (Landauer 1891). Vgl. den Brief an Otto Neumann-Hofer in Fontane 1910: 280-282. Vgl. Landauer 1893. Vgl. Landauer 1901. Vgl. Landauer 1907 und 1907/08. Vgl. Landauer 1906.
141 Bernard Shaw, Richard Dehmel, Walter Calé, Carl Spitteler und ein Essay über Hofmannsthals Ödipus, der ursprünglich in Karl Kraus’ Fackel erscheinen sollte, aber wegen des Umfangs dann doch nicht aufgenommen wurde.26 Strindberg, Rabindranath Tagore, Walt Whitman gilt sein Interesse, aber auch Hölderlin, über den er einen Essay in den pazifistischen Weißen Blättern publiziert,27 und Goethe, den er in dem großen zuerst in der Frankfurter Zeitung erschienenen Essay Ein Weg deutschen Geistes würdigt.28 Auch in anderen führenden Tageszeitungen erscheinen Essays aus Landauers Feder. So stößt man in der Vossischen Zeitung auf eine Arbeit über den ehemaligen Mönch und späteren Historiographen Ungarns Ignatius Aurelius Feßler,29 im Berliner Tageblatt auf eine Arbeit über Swinburne30 oder im Berliner Börsencourier auf eine ausführliche Besprechung des in der Schüddekopfschen Ausgabe gerade neu erschienenen Dramas Alois und Imelde von Brentano. 31 Die Liste ließe sich mühelos fortsetzen. All das entsteht neben der umfangreichen Übersetzungsarbeit und dem eigentlichen Amt, das für Landauer nach wie vor im Schreiben über einen möglichen Sozialismus bestand. Die größte Produktivität entfaltete Gustav Landauer in der Zeit nach der Jahrhundertwende. Während eines Gefängnisaufenthaltes hatte er den ersten Band von Fritz Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache redigiert.32 Von der nihilistischen Konsequenz der Mauthnerschen Kritik, dass mit Sprache Wahrheit nicht auszusagen, Wirklichkeit nicht zu erkennen sei, existentiell ergriffen, kommt er noch im Gefängnis zur Mystik Meister Eckharts, übersetzt dessen mittelhochdeutsche Schriften und findet in der Sprache des Mystikers ein Modell der sprachlichen Bewältigung von Transzendenz/Unmittelbarkeit und Nihilismus.33 Die Erfahrung des Unsagbaren als Quell sprachlicher Unmittelbarkeit, eines neuen dichterischen Sprechens wurden zum quasi methodischen Leitfaden auch seiner 26 27 28 29 30 31
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Vgl. Landauer 1907. Vgl. Landauer 1916. Vgl. Landauer 1916. Vgl. Landauer 1904. Vgl. Landauer 1907. Vgl. Landauer 1913, Besprechung von Clemens Brentano: Sämtliche Werke, hg. von Carl Schüddekopf, Bd. IX, 2: Aloys und Imelde, Trauerspiel in fünf Akten. 1. Fss. und Drama in fünf Akten. Der 1. und 2. Akt nach Varnhagens Entwendung hergestellt, hg. von Agnes Harnack, München 1912. Es handelt sich um die Erstveröffentlichung des Dramas. Die beiden Texte waren bis dahin lediglich aus einigen Erwähnungen Ludwig Achim von Arnims, Rahel Varnhagens und Karl August Varnhagens von Ense bekannt. Mauthner, Beiträge. Vgl. Meister Eckhart 1903, darin bes. die Einleitung, und Landauer 1903.
142 philosophischen Reflexionen. In der Polarität von Skepsis und Mystik lag ein Ausweg sowohl aus der Sprachkrise eines Lord Chandos,34 als auch aus den dogmatischen Verstrickungen der Marxisten. Sein sozialphilosophisches Hauptwerk Aufruf zum Sozialismus bedient sich bewusst der sprachlichen Figur des Aufrufs: Der Sozialismus als mögliche Form menschlicher Gesellschaft wird ausdrücklich dem kommunikativen Wagnis eines zu neuen Ufern rufenden Propheten anheim gegeben.35 Auch sein zweiter programmatischer Essay Die Revolution36 unternimmt ein sprachliches Experiment: In Anlehnung an Spinozas Ethik konstruiert Landauer die Begriffe Topie und UTopie als ein - gegen die Linearität des Historismus ebenso wie gegen das Fortschritts-Modell der Marxisten gerichtetes - Modell der Dynamik der europäischen Revolutionen der Neuzeit, das den epochalen Paradigmenwechsel vor allem in dem mit den Reformationen einhergehenden Ende des religiösen Zeitalters sieht. Mit der Segregation der neuzeitlichen Gesellschaften in bürgerliche Individuen und Staat war nach Landauer die Möglichkeit jenes verbindenden Geistes (Bewusstseins) untergegangen, der nun als unterirdische Strömung weiter wirkt und in Zeiten der begeisterten Revolution, die Institutionen der Gesellschaft erneuernd, an den historischen Tag tritt. Damit entwickelt Landauer ein Modell gesellschaftlicher Erneuerung, das nicht (wie das der Marxisten) aus einer ökonomischen Dynamik, sondern aus den Wirkkräften des Bewusstseins (bei ihm des Geistes) erwächst. Der einende Geist als die gesellschaftsbildende Kraft tritt das Erbe christlicher Metaphysik an, jetzt allerdings in der Figur immanenter Transzendenz: mit der utopischen Kraft des Glaubens und mit Nietzsches skeptischem Verdikt gleichermaßen begabt.37 Die Nähe solcher Gedanken zu denen Ernst Blochs, der in der ersten Ausgabe von Geist der Utopie aus der Revolutions-Schrift Teile fast wörtlich übernimmt, ist offensichtlich.38 Bei diesen Überlegungen steht indes nicht allein das Christentum Pate, für das sich Landauer ausdrücklich auf Novalis’ Christen-
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Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: „Ein Brief.“ In: Der Tag. Berlin 1902. Landauers Äußerungen zur Sprachkrise der Jahrhundertwende in Landauer 1903 (²1923): 71ff. Vgl. Landauer 1911. Vgl. Landauer 1907. Landauer benutzt den Nietzscheschen Begriff des Wahns in seiner Bedeutungsbreite zwischen Wunsch (Utopie) und Wahnsinn (falsches Bewusstsein, Ideologie). Auf die Nähe zu Geist der Utopie (Bloch 1918) hat Arno Münster (Münster 1982: 124-126) hingewiesen.
143 heit oder Europa beruft,39 sondern auch das Judentum, aus dessen Tradition er sich nunmehr ausdrücklich versteht. In der Neuen Gemeinschaft, in der sich um die Jahrhundertwende Intellektuelle und Künstler zum Behufe eines Lebens in Schönheit zusammenfanden,40 hatte Landauer auch Martin Buber kennen gelernt. Mit ihm teilte er das Interesse an den mystischen und ekstatischen Traditionen der Religionen, durch ihn lernte er auch jene Legendendichtung des Chassidismus kennen, die Buber zusammen mit seiner Frau in Neudichtungen vorstellte. 41 Tief beeindruckt von den Formen dieser mystischen Frömmigkeit des jüdischen Exils beginnt Landauer, in seine Reflexionen über Sozialismus seine eigene Situation als europäischer Jude mit einzubeziehen. Die „Galut als innere Stimmung“, wie es in einem Vortrag über Judentum und Sozialismus heißt,42 wird zum Leitgedanken seines weiteren Nachdenkens. Der Aufruf zum Sozialismus ist in diesem Geiste geschrieben, aber auch große literarische Essays wie Strindbergs Historische Miniaturen oder der Vortrag über Shakespeares Kaufmann von Venedig.43 Fortan finden wir Landauers Stimme in innerjüdischen Diskussionen, wie im Freistatt-Disput44 oder mit dem Aufsatz Sind das Ketzergedanken? in dem berühmten Sammelbuch Vom Judentum, des Prager Studentenvereins Bar Kochba,45 ebenso wie in den häufig von antisemitisch gefärbten Disputen der wilhelminischen Öffentlichkeit. So, wenn er als Jude das Wort erhebt gegen den von den Antisemiten gerade in der Vorkriegszeit wieder geschürten Aberglauben von der Hostienschändung oder dem immer noch aktuellen Ritualmordvorwurf46 oder wenn 39 40 41 42 43
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Vgl. die Anspielung auf Novalis’ gleichnamige Schrift (1799) in Landauer 1907: 32. Aus der Literatur zur Neuen Gemeinschaft sei hier nur auf Cepl-Kaufmann, Kauffeldt 1994: 304-343 verwiesen. Vgl. Die Geschichten des Rabbi Nachman (Buber 1906) und Die Legende des Baal Schem (Buber 1908). Vgl.„ Judentum und Sozialismus“ in Landauer 1997: 160f. Vgl. „Strindbergs Historische Miniaturen“: Landauer 1917, auch Landauer 1921: 263-285 und Landauer 1997: 129-151 und Der Kaufmann von Venedig: Landauer 1917, auch Landauer 1997: 194-221. Vgl. „Zur Poesie der Juden“: Landauer 1913/14 im Disput mit Julius Bab und Ludwig Strauß. Vgl. Landauer 1913, auch Landauer 1921: 120-128 und Landauer 1997: 170-174. Das Sammelbuch wurde von einer Gruppe junger jüdischer Intellektueller herausgegeben, die sich im Geiste von Bubers Drei Reden über das Judentum (Buber 1911) zusammengefunden hatten. Vgl. Miszelle „Der Hostienpilz“ im Sozialist (15.5.1914: Landauer 1997: 184) und das Kiew-Heft zum Ritualmordprozeß gegen Mendel Beilis: Der Sozialist 5 (1913), Nr. 20 (Landauer 1997: 177-184).
144 er in die antisemitisch aufgeladene Ostjuden-Debatte der ersten Kriegsjahre eingreift.47 Um so bemerkenswerter erscheint es, wenn wir bei der Lektüre des Aufsatzes Sind das Ketzergedanken? feststellen, dass Landauer auch in seiner Hinwendung zur Sache des Judentums sich keineswegs von der Bindung an seine europäischen und deutschen Wurzeln löst, sondern sich dabei ausdrücklich auf sie beruft. Die zionistische Option eines jüdischen Staates in Palästina mag für die pauperisierten Juden Osteuropas angemessen sein, für ihn selbst gibt es nicht Zion oder Deutschland. Er begreift sich aus seinen europäischen Wurzeln heraus als dreifach mit Nationalität Gespeister, als Deutscher, Süddeutscher und Jude. Denn: Nur geworden-werdendes lebt; nur wer in seiner Gegenwart und Wirklichkeit Vergangenheit und Zukunft in eins begreift, nur wer sich selber, wie er wahrhaft und ganz ist, mitnimmt auf die Reise nach seinem gelobten Land, in dem nur scheint mir das Judentum ein lebendiges Gut zu sein. Die Nationen, die sich zu Staaten abgegrenzt haben, haben draußen Nachbarn, die ihre Feinde sind; unsere Nation hat die Nachbarn in der eigenen Brust; und diese Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit in jedem, der ein Ganzer ist und sich zu sich bekennt. Sollte das nicht ein Zeichen sein des Berufs, den das Judentum an der Menschheit, in der Menschheit zu erfüllen hat?48
Nicht als äußerliches Kriterium der Aus- und Abgrenzung, sondern als „Thatsächlichkeit“ und Potential wird Nationalität aufgefasst. Aus dieser Perspektive überlagern sich die Sache des Judentums und die Sache des Sozialismus, denn nur im Zustande des Sozialismus vermag die innere Beschaffenheit des Juden zu einer äußeren Wirklichkeit zu werden. Ausdrücklich weist Landauer jedes Entweder-Oder und jede Ideologisierung in der Frage der Nationalität zurück und besteht - mit Meister Eckhart - auf dem „Komplex, [der er ist]“, in all seiner einmaligen Vielfältigkeit und seinen parataktischen Möglichkeiten: Nation ist eine Bereitschaft oder Disposition, die dürr und hohl und klappernd wird, wenn sie ohne Verbindung mit der Sachwirklichkeit, mit Aufgaben und Arbeiten auftritt und wenn sie anderes ist als deren Ursprung und Tönung.49
In diesem Sinne begreift Landauer sein Wirken für den Sozialismus als sein Amt an der Menschheit. Dass er sich mit dieser differenzierten 47 48 49
Vgl. „Ostjuden und deutsches Reich“ (Landauer 1916, auch Landauer 1997: 185-191). Landauer 1997: 174. Ebenda: 172.
145 Position sehr weit von den gängigen Strömungen des Sozialismus und Anarchismus entfernt hatte, scheint unbestreitbar. In der Situation des Weltkriegs erweist sich Landauers Auffassung des Nationellen als einer „vielfältigen Relation“ indes als resistent gegen jede Form des Nationalchauvinismus. Mit bemerkenswerter Sachlichkeit argumentiert Landauer auch gegenüber den engsten Freunden. Fritz Mauthner pariert er mit den Argumenten seiner eigenen Sprachkritik, stellt sich an die Seite Carl Spittelers, als dieser wegen seines Plädoyers für die Neutralität der Schweiz im Krieg von Mauthner scharf angegriffen wird, und an die Seite des im Berliner Tageblatt diffamierten Henri Bergson. 50 Martin Buber distanziert sich auf Landauers inständiges Einwirken hin von seinen nationalistischen Sympathien. 51 Bei Richard Dehmel und Gerhart Hauptmann ist der Bruch unüberwindlich. Bewusst hält er den europäischen Dialog über die Fronten hinweg aufrecht und verficht gegenüber Romain Rolland und dem Zürcher Pfarrer Jean Matthieu seine Auffassung der Nation als einer Größe jenseits territorialer und historischer Machtentfaltung.52 Mit bitteren Worten prangert er die staatstreue Kriegsbegeisterung der „Philosophen, Dichter, Forscher, Professoren und Zeitungsschreiber“ an und empfiehlt ihnen jene „Todbereitschaft des Geistes“, die nicht erst von Staats wegen verordnet und im Sog der Massensuggestion aufkommt, sondern Kraft des innersten Wesens auch gegen das herrschende Bewusstsein zu behaupten wäre: „Todbereitschaft des Geistes ist Ketzerei.“ Dieser Maxime folgend erweist sich Gustav Landauer auch und gerade im Weltkrieg als Europäer, als einer, der nach Formen des Denkens und Lebens suchte, die ein friedfertiges Miteinander aller nationalen Färbungen ermöglichen würde, und der davon überzeugt war: daß die wahren Schlachten der Völker im Unsichtbaren geschlagen werden, [...] daß nicht Menschen gegen Menschen kämpfen, sondern Menschen gegen Gespenster; daß in ihnen nicht Massen gegen Massen fallen, sondern Einzelne gegen die Massen [...] 53
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Vgl. seine Briefe vom 29.9.1914, 2.11.1914 und vom 4.5.1915 in Landauer - Mauthner 1994: 290ff. und 302, dort auch die Nachweise der Artikel von Mauthner im Berliner Tageblatt. Vgl. zur sogenannten „Kriegsbuber“-Affäre bei Mendes-Flohr 1978: 131ff. Vgl. „An Romain Rolland“ (Landauer 1914, auch Landauer 1997: 3-5) und „Zum Problem der Nation“ (Landauer 1915, auch Landauer 1997: 5-12). Landauer, Gustav: „Zum Gedächtnis.“ In: Der Sozialist, 20.10.1914, auch in Landauer 1919: 182-191, Zitat 187.
146 Literaturverzeichnis Bloch, Ernst. 1918. Geist der Utopie. München: Duncker & Humblot. Buber, Martin. 1906. Die Geschichten des Rabbi Nachman. Ihm nacherzählt von ... Frankfurt am Main: Rütten & Loening. Buber, Martin. 1908. Die Legende des Baal Schem. Frankfurt/M: Rütten & Loening. Buber, Martin. 1911. Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/M: Rütten & Loening. Cepl-Kaufmann, Gertrude, Kauffeldt, Rolf. 1994. BerlinFriedrichshagen. Literaturhauptstadt umd die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. o. O.: Boer. Coeurderoy, Ernest. 1910/11. Jours d’Exil. 3 Bde. Paris: Stock. de Jong, Rudolf. 1997. ‚Gustav Landauer und die internationale anarchistische Bewegung.‘ In: H. Delf, G. Mattenklott (Hrsg.): Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburts-tag. Tübingen: Niemeyer (Conditio Judaica 18): 215233. Delf von Wolzogen, Hanna. 1997. ‚Nietzsche ist für uns Europäer ... Zu Gustav Landauers früher Nietzsche-Lektüre.‘ In: Stegmaier, Werner und Krochmalnik, Daniel: Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin, New York: Walter de Gruyter (Monographien zur Nietzsche-Forschung 36): 209-227. Faber, Richard, Holste, Chr. (Hrsg.). 2001. Der Potsdamer ForteKreis. Eine utopische Intellektuellen-Assoziation zur europäischen Friedenssicherung. Würzburg: Königshausen & Neumann. Fontane, Theodor. 1910. Briefe. Hrsg. von Pniower, Otto und Schlenther, Paul. Berlin2: Friedrich Fontane. Holste, Christine. 1910. Der Forte-Kreis (1910-1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs. Stuttgart: Metzlersche Buchhdlg. Kropotkin, Peter. 1911. Die französische Revolution. Übersetzt von Gustav Landauer. Leipzig: Theodor Thomas. Landauer, Gustav. ‚Religiöse Erziehung.‘ In: Neue Rundschau. Freie Bühne für modernes Leben 2 (1891), Heft 6: 134-138. Ders. ‚Ein Knabenleben.‘ In: Das Magazin für Literatur 60 (1891), Nr. 52: 821-825. Ders. 1893. Der Todesprediger. Roman. Dresden, Leipzig: Minden. Ders. ‚Von Zürich bis London. Bericht über die deutsche Arbeiterbewegung an den Londoner Internationalen Kongress.‘ In: Der Sozialist 6 (18.7.1896), Nr. 29.
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148 Ders. 1919. Rechenschaft. Berlin: Paul Cassirer. Ders. 1920. Shakespeare. Dargestellt in Vorträgen. 2 Bde. Hrsg. von M. Buber. Frankfurt/M: Rütten & Loening. Ders. 1921. Der werdende Mensch. Potsdam: Gustav Kiepenheuer. Ders. 1924. Beginnen. Aufsätze über Sozialismus. Hrsg. von M. Buber. Köln: Marcan-Block. Ders. 1929. Sein Lebensgang in Briefen. 2 Bde. Hrsg von M. Buber und I. Britschgi-Schimmer. Frankfurt/M: Rütten & Loening. Ders. 1980. Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes. Bern, Berlin: Verl. des Soz. Bundes 1909-15. Reprint: Vaduz (3Bde.). Ders. 1994. Gustav Landauer - Fritz Mauthner. Briefe 1890-1919. Hrsg. von H. Delf von Wolzogen. München: Beck. Ders. 1997. Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie, Judentum. Hrsg. von Delf von Wolzogen, Hanna. Berlin: Akademie (Werkausgabe 3). Link-Salinger, Ruth (Hrsg.). 1986. Signatur: g.l. Gustav Landauer im ‚Sozialist‘ (1892-1899). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Linse, Ulrich. 1969. Organisierter Anarchismus im deutschen Kaiserreich 1871. Berlin: Duncker & Humblot. Mauthner, Fritz. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3Bde. Stuttgart: Cotta 1901-1902. Meister Eckharts mystische Schriften. 1903. In unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer. Berlin: Karl Schnabel. Mendes-Flohr, Paul. 1978. Von der Mystik zum Dialog, Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zum ‚Ich und Du‘. Königstein: Jüdischer Verlag. Münster, Arno. 1982. Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch. Frankfurt/M: Suhrkamp. Nettlau, Max. 1984. Geschichte der Anarchie. Bd. V: Anarchisten und Anarchosyndikalisten. Teil 1. Vaduz: Topos. Nettlau, Max. 1947. La Vida de Gustavo Landauer según su corespondencia. In: Landauer, Gustavo: Incitación al socialismo. Buones Aires : 187-32. Nettlau, Max. 1981. Geschichte der Anarchie. Bd. IV: Die erste Blütezeit der Anarchie 1886-1894. Vaduz: Topos. Rocker, Rudolf. 1974. Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, hrsg. von Melnikow, Magdalena und Duerr, Hans Peter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Roland Holst, Henriëtte. 1931. Gustaaf Landauer. Zijn levensgang en levenswerk. Arnhem.
Thomas Eicher GRANDSEIGNEUR UND MEHR: ALEXANDER LERNET HOLENIA (1897–1976) Als man im Jahr 1997 die einhundertste Wiederkehr des Geburtstags von Alexander Lernet Holenia feierte, herrschte unverkennbarer Enthusiasmus unter den Beteiligten. Kaum eine größere deutschsprachige Zeitung, die sich nicht in ihrem Feuilleton dem Gedenktag selbst oder soeben neu erschienenen Romanen Lernets gewidmet hätte.1 Jubiläen dieser Art sind aber keineswegs nur ein willkommener Anlass der Berichterstattung durch die Tagespresse, sondern auch in der Literaturwissenschaft, wie in anderen Kulturwissenschaften, zu einem verpönten und gleichermaßen vielgenutzen Marketinginstrument geworden. Runde Geburtstage steuern darum vielfach die Konjunkturen der Forschung, ohne im mindesten Nachhaltigkeit zu garantieren. Geburtstage eignen sich also, das Interesse an einem Autor zu stimulieren – sei es auch um den Preis, dass allenfalls Strohfeuer dabei abgebrannt werden. Lernet-Holenia hat immer schon seine Anhänger unter Wissenschaftlern wie Lesern gehabt. Gleichwohl erlebte er um die Jahrtausendwende eine gewisse Hochkonjunktur. So erschien z.B. 1997 im Böhlau-Verlag eine dickleibige Biographie über den Autor.2 Im gleichen Jahr fanden literaturwissenschaftliche Symposien in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar statt.3 Eine vielbeachtete Ausstellung des Österreichischen Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten tourt seitdem durch die Welt.4 Und auch die germanistische Forschungsliteratur über Lernet-Holenia hat international nennenswerten Zuwachs erhalten.5 Dass inzwischen in Wien ein Lernet-Holenia-Park eingeweiht und die lange verschwundene Gedenktafel in der Wiener Hofburg, gleich neben der Silberkammer, wieder angebracht wurde, sind – auch für Nicht-Leser – öffentlich 1 2 3
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Vgl. dazu Hübner 1998. Vgl. Rocek 1997. Alexander Lernet-Holenia 1897-1976. Symposium in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Wien, 12.-14.5.1997; Alexander Lernet-Holenia zum 100. Geburtstag. Internationales Symposium im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 17.-19.10.1997. Vgl. dazu Blaser/Müller 1998. Vgl. z.B. Dassanowsky 1996; Barrière 1998; Eicher/Gruber 1999.
150 wahrnehmbare Zeichen einer (kleinen) Lernet-Renaissance. Über sämtliche Aktivitäten zum Autor informiert aktuell und zuverlässig die Homepage der 1998 gegründeten Internationalen Alexander Lernet-Holenia Gesellschaft6: www.lernet-holenia.com und immer mehr Neuerscheinungen und Übersetzungen seiner Werke können dort verzeichnet werden. 7 Auch eine Reihe von CDs – Originalaufnahmen und Hörspiele oder auch Hörbücher – erschienen in den vergangenen Jahren.8 Diese Erfolgsbilanz hat freilich auch ihre Schattenseiten: Dass neuerdings wiederholt Titel jüngerer Lernet-Ausgaben in den modernen Antiquariaten auftauchen, ist nicht zuletzt ein Indiz für einen nicht erwartungsgemäßen Absatz. Dem entspricht auch ein sichtbares Abflauen des verlegerischen Interesses: Die Abstände zwischen den einzelnen Buchpublikationen wurden seit der Wiederaufnahme des Autors ins Verlagsprogramm des Zsolnay-Verlags zunehmend größer, und auch beim Zweitverwerter Insel ist vom anfänglichen Impetus nicht mehr viel zu spüren. Mag sein, dass man mit dem Erfolgsautor von Gestern im Überlebenskampf an der Verkaufstheke der Buchläden weniger Glück hat, als zunächst die Resonanz auf die geschäftig angelaufene Jubiläumsmaschinerie erwarten ließ. Die Lernet-Forschung (die Verwendung dieses Begriffes sei mir hier gleichsam heuristisch gestattet, auch wenn es sich nicht um eine große Community handelt) hat sich nach den Impulsen aus dem Geburtstagsjahr anscheinend jenseits der Marktgesetze als mehr oder minder beständige Diskussionsgemeinschaft etablieren können. Sie hat u.a. das Erscheinen einer Personalbibliographie zum Autor zu verzeichnen9 sowie eine Tagung im vergangenen Herbst,10 deren Ergebnisse noch im Sommer 2004 in Buchform vorliegen werden.11 Nach einem Anschub, der die Rückbesinnung auf Autor und Werk zwanzig Jahre nach seinem Tode beinhaltete, geht es in den neueren Forschungsansätzen um seine Kontextualisierung im Spannungsfeld literarischer Systeme und Diskurse des 20. Jahrhunderts. Denn Alexander Lernet-Holenia war 6 7
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11
Vgl. Anonym 1998. Die neueren Übersetzungen sind auf der Homepage der Lernet-Gesellschaft verzeichnet. Neueditionen der Werke liegen inzwischen bei Zsolnay und bei Insel vor. Zuletzt Der Baron Bagge 2003 und Ostfahrten 2004. Vgl. Barrière/Eicher/Müller 2001. Alexander Lernet-Holenia und die österreichische Literatur der Nachkriegszeit, Tagung der Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen in Dortmund, 24.-26. Oktober 2003; vgl. dazu Strigl 2004. Vgl. Barrière/Eicher/Müller 2004.
151 eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, befreundet und verfeindet mit zahlreichen Zeitgenossen, als Publizist der Tagespresse gefürchtet und als renitent verschrieen. Man wird ihm deshalb nur dann gerecht, wenn man ihn als Akteur in den Netzwerken des politischen und kulturellen Zeitgeschehens betrachtet. Die öffentliche Wahrnehmung des Autors nimmt seit Jahrzehnten oftmals einen Umweg über die Skandale und Gerüchte, die sich um seine Gestalt ranken: Zeit seines Lebens gefiel er sich in der Rolle des illegitimen Sohnes eines habsburgischen Erzherzogs;12 aus Anlass der Nobelpreisverleihung an Heinrich Böll legte er sein Amt als Präsident des österreichischen PEN-Clubs nieder;13 noch in hohem Alter stand er wegen Körperverletzung vor Gericht, nachdem er einen Autofahrer geohrfeigt hatte, der s.E. den Verkehr aufgehalten hatte.14 Ganz ähnlich verhält es sich mit den vielen Epitheta, die sich mit dem Namen des Autors stereotypisch verbunden haben: „Grandseigneur der österreichischen Literatur“, [...] „der Caballero, der Lordsiegelbewahrer, der Grandseigneur unter den Dichtern seiner Generation [...], ein ritterlicher Poet“, [...] „Literaturkavalier“, [...] „der Dichterfürst“, „Österreichs Paradedichter“, „einer der letzten dichterischen Repräsentanten des alten Österreich“, „einer der letzten Herren der Literatur“, „der letzte Österreicher“, „ein Ritter des Absurden“. [...] Für andere war er ein „Snob“, „ein Schwieriger“, „ein geborener Einzelgänger“, „Enfant terrible der Literatur“, „eine vielschichtige Figur“, „ein ungewöhnlicher, eigenwilliger und höchst ungleich produzierender Autor“, „ein geistvoller und amüsanter Fabulierer“, „Causeur und Charmeur“, „rebellischer Konservativer“, [...] „dieser Don Quichotte der österreichischen Literatur, Minnesänger und Don Juan, Einsiedler und Dandy, dieser übertalentierte Literat“. 15
Lernet-Holenia selbst wollte vor allem als Dichter wahrgenommen werden. Als Rilke-Epigone verspottet, 16 verfasste er zahlreiche Gedichte in vollendeter Form und geschliffener Sprache, die er in kleinen Auflagen drucken ließ, auch als er schon ein gefeierter Schriftsteller war. Berühmt wurde er durch seine dramatischen Werke, die ihn in der Zwischenkriegszeit zum Starautor der Wiener Bühnen machten und ihm 1926, ein Jahr nach Bertold Brecht, den
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Vgl. dazu Dreihann-Holenia 1999. Vgl. u.a. Sterk 1972. Vgl. dazu Rocek 1997: 350f. Daviau 1999: 40, Anm. 2. Vgl. dazu Görner 2000.
152 renommierten Kleistpreis eintrugen, mit dem seine Stücke Ollapotrida und Österreichische Komödie ausgezeichnet wurden.17 Doch schon in den Dreißiger Jahren erkannte Lernet, der mit dem Schreiben Geld verdienen wollte, dass das literarische Genre mit den größten Erfolgschancen der Roman sei, und sattelte um. Seinen Romanen indessen sieht man die schriftstellerische Vergangenheit ihres Autors deutlich an. Er beherrscht die Dramaturgie wie die Dialogregie hervorragend, und die an der Lyrik geschulte Eleganz seines Stils gleicht der ausgesuchter Preziosen. Gleichwohl entsteht dabei kaum je der Eindruck, der Autor habe sich besonders um diese Wirkung bemüht. Sein Erzählen geht mit einer scheinbar unverkrampften Leichtigkeit vonstatten, die es ihm auch erlaubt, ‚Unerhörtes‘ zu thematisieren. So entstanden bemerkenswerte Bücher, wie z.B. Die Abenteuer eines jungen Herrn in Polen (1931), Die Standarte (1934), Der Mann im Hut (1937) oder Ein Traum in Rot (1939), die sich unschwer als subversive Manifestationen von Kriegsgegnerschaft und Ablehnung des heraufdämmernden Nationalsozialismus interpretieren lassen. 18 Die Lesarten sind freilich variabel, da die Erzählhaltung der genannten Texte ambivalent ist: In den Abenteuern des Leutnants Keller, der an der polnischen Front des ersten Weltkriegs hinter die feindlichen Linien gerät und sich nur in der Verkleidung eines Bauernmädchens seiner Verhaftung entziehen kann, um nach dem Einmarsch seiner Kameraden für seine Tapferkeit ausgezeichnet zu werden, droht die Kritik an der Sinnlosigkeit des Grabenkriegs hinter den komischen Verwicklungen der Handlung zu verschwinden. In der Standarte wird des Protagonisten Trauer um ein vergangenes und seine Hoffnung auf ein wiedererstehendes Reich durch eine offene Rahmenhandlung relativiert, die diesen (Kriegs-) Helden in der Außenansicht als gescheiterte Existenz erscheinen lässt. Die Faszination schließlich, die im Mann im Hut von einem hier mit phantastischen Elementen umrahmten, wiederbelebten Nibelungenmythos ausgeht, wird dadurch gebrochen, dass der Massengrabhügel der erschlagenen Nibelungen im Veröffentlichungsjahr 1937 als Symbol für das erwartbare Scheitern kommender Ostzüge zu erkennen gewesen sein muss. Nach dem Polen-Feldzug ist Lernet-Holenia mit Mars im Widder der erste deutschsprachige Romancier, der wahrheitsgemäß 17
18
Vgl. dazu Sembdner 1968: 92-97. Dass er den Preis wenig später zurückgeben wollte, unterstreicht wiederum die Skandalträchtigkeit seiner PR-Aktionen. Vgl. u.a. Diebold 1930. Vgl. in diesem Sinne zu Abenteuer Dassanowsky 1996: 25-33, zur Standarte ebenda: 36-50, zu Der Mann im Hut Rocek 1997: 207-210.
153 berichtet, dass nicht etwa nur „zurückgeschossen“ wurde. Der Roman schildert den Einmarsch von 1939 aus der Sicht eines beteiligten österreichischen Offiziers. Hier brilliert der Erzähler u.a. mit besonders einprägsamen Naturbildern wie dem einer an der polnischen Grenze beobachteten Massenwanderung von Krebsen: Das Band hatte eine Breite von zwei oder drei Fuß und bewegte sich nicht nur über die Straße, indem es aus dem rechten Straßengraben hervorkam und in den linken hineinführte, sondern es rührte sich auch in sich selber. Es hob und senkte sich fortwährend um ein weniges, raschelte und schabte, ja es schien sogar, als klirre es hin und wieder mit leichtem, metallenem Ton. Als werde ein Bündel oder vielmehr ein Streifen nebeneinander liegender Ketten über die Straße gezogen, kroch es vorüber. Aber die Ketten bestanden nicht aus Gliedern, sondern aus dahinkriechenden Tieren.19
Ein Zug der Lemminge in einer ungewohnten Variante, allemal ein hellseherisches Symbol des nahen Untergangs der Invasionstruppen. Dass sich der Zug aber nach Westen bewegt, lässt bereits die russischen Panzerarmeen erahnen, die später aus der Gegenrichtung anrücken würden. Immerhin gelang die Publikation dieses Romans in der Zeitschrift Die Dame 1940, bevor die Auslieferung der Buchfassung verboten wurde. Wenig später verbrannte die verbotene und zurückgehaltene Gesamtauflage bei einem Bombenangriff im Lager des Fischer Verlags und konnte anhand eines Korrekturabzugs, den der Autor über die Kriegsjahre gerettet hatte, nach 1945 neu gedruckt werden. Alexander Lernet-Holenia avancierte nach dem zweiten Weltkrieg schnell zu einem der prominentesten Vertreter der österreichischen Literatur; denn er sicherte ihr jene Kontinuität, die von den konservativen nicht-nationalsozialistischen Intellektuellen gewünscht und von der Kulturpolitik des Landes gefördert wurde. „Die österreichische Literatur besteht derzeit aus zwei Autoren, aus dem Lernet und dem Holenia“20, spottete darum Hans Weigel 1948. Mit seinem Festhalten am Habsburg-Mythos und seinem literarischen Traditionalismus war Lernet-Holenia der richtige Kandidat für diesen Alleinvertretungsmythos. Doch zeigen seine Texte durchaus Seiten, die man ihnen auf den ersten Blick nicht unbedingt zutraut. Sie erweisen sich nämlich als politische Zeitdokumente. So sind vor allem die Elegie Germanien (1946) und die beiden Romane Der Graf von Saint Germain (1948) und Der Graf Luna (1955) geprägt von der Auseinandersetzung mit der österreichischen und der persönlichen Vergangenheit des Autors im Schatten des ‚Dritten Reichs‘. 19 20
Lernet-Holenia 1999: 161f. Zitiert nach Dassanowsky 1996: 126.
154 Besonders deutlich wird Lernet-Holenias Kritik an den gesellschaftlichen Umbrüchen der Kriegs- und Nachkriegszeit im Roman Der Graf Luna, wo in Andeutungen auf sarkastische Weise an die Greuel der Konzentrationslager erinnert wird. Seltsam erscheint hier jedoch eine Umwertung ethisch-moralischer in ökonomische Kategorien, die nur bedingt der Figurenperspektive des ‚degenerierten‘ Helden Jessiersky angelastet werden kann. Schon in Germanien wird eine erzählerische Kälte gegenüber dem individuellen Leid der NS-Zeit auf ähnliche Weise erzeugt, indem materialistische Handlungsmotivationen der Täter aufgeboten werden: „Das Dritte Reich / verzehrte sich vor Habgier, preßte bei, / [...] raffte, trog, / verhehlte das Erraffte, schändete / den Raub noch“21, wird dort formuliert. Im Grafen Luna dehnt sich diese metonymische Entschärfung des Tatsächlichen auch auf die ohnehin marginalen Bemerkungen zum Lagerleben Lunas aus. Da ist zwar von „Härten und Strapazen“22 die Rede, von der Grausamkeit der Büttel und der ‚Unbehaglichkeit‘ der Zwangsarbeit,23 ja sogar von „all den lebenden Skeletten“24 aus dem Lager, die nach der Befreiung in die umliegenden Lazarette eingeliefert werden; auch wird die Vermutung Jessierskys wiedergegeben, Luna würde „in jenem Lager halb oder ganz zu Tode geprügelt“25, der Begriff ‚Konzentrationslager‘ wird indessen nicht verwendet, die Massenvernichtung in den gleichnamigen Lagern nicht erwähnt, und für die „unbehaglich[e]“ Zwangsarbeit als solche finden sich Entschuldigungen, z.B.: „[W]arum hätte man das Salz auf behaglichere Weise fördern sollen, wenn doch die Verhältnisse auch im übrigen engumklammerten Reich schon so unbehaglich geworden waren wie nur möglich...“26 Wo aber die wirtschaftliche Komponente der Zwangsarbeit in den Vordergrund gestellt wird, da nähert sich die Rede des Erzählers dem nationalsozialistischen „Arbeit-macht-frei“-Diskurs an, auch wenn sie hier den Aspekt der Rufschädigung für das Dritte Reich betont: Doch war’s zwar verständlich, daß sich das Dritte Reich, wie auch schon soundso viele andre Reiche vor ihm, Sklaven hielt; nicht verständlich aber war, daß es diese seine Sklaven, zum Unterschied von der Art, auf welche sie anderswo gehalten wurden, so miserabel behandelte, daß es sich um ihre Arbeitskraft und mithin auch um den Nutzen brachte, den es davon hatte, beziehungsweise hätte haben können. Ja darüber hinaus verschlechterte es 21 22 23 24 25 26
Lernet-Holenia 1989: 369f. Lernet-Holenia 1981: 56. Vgl. ebenda: 57. Ebenda: 59. Ebenda: 42. Ebenda: 57.
155 eben dadurch den üblen Ruf, in dem es ohnedies schon stand, nur noch mehr und schuf sich immer neue Feinde. 27
Natürlich passt diese Darstellung in das leitende Konzept des Romans, das der untergehenden „Welt von Kriegern“ eine „Welt von Händlern“ gegenüberstellt, „die bloß zwischendurch Kriege führten“, um wirtschaftliches Wachstum herbeizuführen.28 Vor diesem ökonomischen Hintergrund werden auch die Entnazifizierung und der Kalte Krieg ebenso zur geschichtlichen Farce wie „der Tod der fünfunddreißig Millionen Menschen, die das Dritte Reich auf dem Gewissen hatte [...] Wir meinen, daß selbst der Verlust dieser Unmenge von Menschen nur mehr eine Episode war, die, wahrscheinlich mit Recht, vergessen wurde.“29 Der Text gibt sich hier expositorisch, er argumentiert aus einer Metaperspektive und setzt dabei im Plural der Bescheidenheit ein unpersönliches „Wir“ in Szene, dem Ironisierung der Figurenreflexion und Dialogregie der Romanerzählung gleichermaßen zuzuschreiben sind. Doch bleiben die essayistischen Einsprengsel dieser Art zu eindimensional, um tatsächlich analytisch zu wirken. In ihrer Monokausalität wiederholt sich die Erklärung Millemoths, der im Gespräch mit Jessiersky die Soziologie mit der Nationalökonomie gleichsetzt.30 Zur eigentlichen Gesellschaftsanalyse, die eben über auktoriale Randbemerkungen zu einer Kriminalhandlung hinausgehen müsste, nutzt Lernet-Holenia seine Romankonstruktionen nicht. Und dennoch lässt sich seine Vorliebe für verbale Verharmlosungen und ‚Schnellschüsse‘ aller Art nicht mit nationalsozialistischer Parteigängerschaft verwechseln. Ein Nazi war Lernet wohl nicht und schon gar nicht nachweislich. Sicher ist jedoch, dass er das entsprechende Etikett jahrelang mit sich herumgetragen hat, immer wieder genährt durch Verfemungen im Zusammenhang mit persönlichen und politischen Streitigkeiten. So trug ihm etwa eine Auseinandersetzung mit Hans Habe den Beinamen „Hitler-Husar“ ein.31 In umgekehrter Stoßrichtung hat Lernet-Holenia seit Kriegsende einen sicheren Blick für das Wiedererstarken faschistischer Positionen, wie er es im Grafen Luna geißelt. Er wittert förmlich faschistische Intrigen um sich herum. Eine von ihnen manifestiert sich in den antisemitischen Kommentaren zu seinem Pilatus (1967), die er in einer Replik im Rahmen einer Lesung in der Gesellschaft für Literatur heftig attackiert: 27 28 29 30 31
Ebenda: 56f. Ebenda: 55. Ebenda: 60. Vgl. ebenda: 45. Vgl. ebenda: 329-331.
156 Alexander Lernet-Holenia [...] ließ bei seiner Vorlesung aus seinem jüngsten Buch [...] die Eleganz eines Kavaliers der österreichischen Literatur, der er sooft genannt wird, vermissen. In seinen Prolegomena polemisierte er aufs heftigste gegen eine in einer Wiener Tageszeitung erschienene abfällige Kritik des Buches sowie gegen ihre Verfasserin und den Chefredakteur des betreffenden Blattes. Durch einen Zwischenruf des Kulturressortchefs jener Zeitung [...] erst recht aufgebracht, steigerte er sich aus dem anfänglichen ironischen und sarkastischen Ton immer stärker in eine schon peinlich wirkende Cholerik hinein. Der ehemalige Kavallerist ging offenbar auf einmal mit ihm durch.32
Noch ein Skandal, und nicht der letzte, in den Alexander LernetHolenia verstrickt ist. Doch hier geht es tatsächlich um eine für ihn fundamentale Frage, so dass ihm seine Reaktion von heute aus gesehen Sympathien verschaffen muss. In der Forschung jedoch zählt sie zu den noch nicht restlos aufgeklärten Problemfeldern seiner Biographie. Der Themenkomplex Lernet-Holenia und der Antisemitismus bedarf ohne Zweifel ebensosehr weiterer Aufklärung wie sein Verhältnis zu den nationalsozialistischen Machthabern der Kriegszeit. Andere genuin literarhistorische Forschungsdesiderate lassen sich dem hinzufügen. So ist beispielsweise der Dramenautor Lernet noch zu wenig bearbeitet worden, und auch seine Briefe harren bislang noch der Edition, ganz zu schweigen von ihrer Einordnung in ihr kulturhistorisches Umfeld. Aber auf diese Weise bleibt sichergestellt, dass es auch in Zukunft ein wissenschaftliches Interesse für Alexander Lernet-Holenia geben wird, so dass man auch jenseits von Jubiläen und Gedenktagen gespannt bleiben darf auf die Ergebnisse. Literaturverzeichnis Anonym: ‚Lernet-Holenia bekommt eine eigene Gesellschaft‘. In: Die Presse [Wien], Nr. 15176 (23.9.1998): 28. Barrière, Hélène, Eicher, Thomas und Müller, Manfred (Hrsg.). 2004. Schuld-Komplexe. Das Werk Alexander Lernet-Holenias im Nachkriegskontext. Oberhausen: Athena. Barrière, Hélène, Eicher, Thomas und Müller, Manfred. 2001. Personalbibliographie Alexander Lernet-Holenia. Oberhausen: Athena. Barrière, Hélène.1998. Le fantastique dans l’œuvre narrative d’Alexander Lernet-Holenia. Diss. Arras.
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158 Sterk, Harald. ‚Weil Böll Nobelpreisträger wurde. Lernet-Holenia will nicht mehr Präsident des österreichischen PEN-Clubs sein.‘ In: Arbeiter-Zeitung [Wien] (21.10.1972). Strigl, Daniela. ‚Eine Tagung, die weiter ging. Alexander LernetHolenia in Dortmund‘. In: Zwischenwelt 20, Nr. 4 (März 2004): 59.
Lars Koch VOM ERZÄHLEN OHNE ZENTRUM ZUM SCHWEBEN DES DENKENS – FRIEDO LAMPES ROMAN AM RANDE DER NACHT
Dem 1899 in Bremen geborenen und 1945 in den Wirren der letzten Kriegstage in der Nähe von Berlin von einem Rotarmisten versehentlich erschossenen Autor und Rowohlt-Lektor Friedo Lampe waren zeitlebens keine größeren publizistischen Erfolge vergönnt.1 Sein erster Roman Am Rande der Nacht wurde kurz nach der Veröffentlichung im Herbst 1933 von den Zensurbehörden des NS-Regimes aufgrund der in ihm enthaltenen Darstellungen männlicher Homosexualität sowie anderer, den rassehygienischen Normen der neuen Regierung zuwiderlaufenden Tendenzen verboten. Sein zweiter Roman Septembergewitter kam dann im Jahre 1937 zu spät in die Buchläden, um noch am einträglichen Weihnachtsgeschäft partizipieren zu können und fand so kaum eine größere Aufmerksamkeit. Die Druckfahnen seines dritten Buches, der Novellensammlung Von Tür zu Tür, wurden bei einem Luftangriff auf Leipzig im Jahre 1944 kurz von dem geplanten Starttermin des Verkaufs vollständig zerstört. Trotz dieser desaströsen Veröffentlichungsgeschichte hatten Lampes Texte einigen Einfluss auf andere junge Autoren der dreißiger und vierziger Jahre, die wie Lampe selbst den politischen und kulturellen Vorstellungen der Nazis prinzipiell fernstanden, aber nicht den Weg in die Emigration antraten, sondern mit ihren ersten publizistischen Versuchen innerhalb des zumindest bis 1939 noch nicht gänzlich geschlossenen literarischen Feldes des deutschen Marktes eine Nische zu behaupten trachteten und dann nach dem Ende des NSTerrors zu führenden Vertretern der deutschen Nachkriegsliteratur avancierten.2 So beriefen sich Autoren wie Alfred Andersch, Peter Härtling und Hans Bender in ihren ästhetischen Programmen ausdrücklich auf Lampe. Wolfgang Koeppen nannte sein Werk 1957 gar „ein Lehrbuch für junge Schriftsteller“ und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass es „zum Bleibenden der deutschen Literatur“ zählen werde.3 Verbindendes Element im poetologischen Selbstverständnis 1 2 3
Zur Biografie Lampes vgl. Grumbach 1999: 115-122. Vgl. zur „nichtnationalsozialistischen Literatur der jungen Generation im Dritten Reich“ den gleichlautenden Aufsatz von Schäfer 1983. Zur Rezeptionsgeschichte Lampes vor und nach 1945 vgl. Dierking 1986: 353ff.
160 dieser Autoren der von der Literaturgeschichtsschreibung im Nachhinein so titulierten „jungen Generation“ – neben den Genannten ist hier weiter an Autoren wie Günter Eich, Peter Huchel, Horst Lange und auch Eugen Gottlob Winkler zu denken – war eine politisch eher degagierte Schreibhaltung, die nach dem heißen Jahrzehnt des Expressionismus und der avantgardistischen Unterkühlung in den Jahren der Neuen Sachlichkeit im Schatten der politischen, ökonomischen und auch kulturellen Verwerfungen in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre fernab der Tagespolitik nach neuen Möglichkeiten literarischer Darstellung suchte. In einem von der konkreten historischen Situation abstrahierenden Denkstil auf den Kernbestand ästhetischer Weltaneignung konzentriert, entstand so ein Konglomerat von durch einen „Rückzug in die Introspektion“4 geprägten ProsaTexten, kunst-theoretischen Essays und Gedichten, welches der zunehmenden Disparatheit der (medial vermittelten) Wahrnehmung und der aus ihr resultierenden Krise der (literarischen) Repräsentation den an den historischen Stilnormen der Klassik, des Biedermeier und vor allem auch des Symbolismus orientierten Gegenentwurf einer tieferen bzw. höheren Wirklichkeit entgegenstellte.5 Getrieben von der Sehnsucht nach stabilen Maßstäben der Wirklichkeitsaneignung artikulierte sich auf diese Weise in der strengen, durchaus auch abstrakte Elemente der internationalen kulturellen Moderne integrierenden Formorientierung der „jungen Generation“ ein umfassendes und zugleich wenig greifbares Gefühl der Verunsicherung, welches für einen Großteil der in den dreißiger und vierziger Jahren verfassten nichtfaschistischen Literatur zum bestimmenden Grundton wurde. Lampes Roman Am Rande der Nacht trägt der für die Moderne insgesamt prägenden, aber in der gesellschaftlichen Zuspitzung um 1930 umso massiver auftretenden Erfahrung der Fragmentarisierung und Entzauberung der Lebenswelt auf thematischmotivischer wie auch auf formaler Ebene in einem am Modell des „Magischen Realismus“6 orientierten Literaturkonzept Rechnung, ohne allerdings – und das macht die literarische Qualität seines Textes 4 5
6
Kirchner 1993: 99. Zu der nicht zuletzt der Einführung des Tonfilms geschuldeten „Krise der Repräsentation“, die um 1930 in Kreisen der deutschen Gebildeten erneut zu ausführlichen Debatten über die Möglichkeiten der Literatur führte, vgl. Arntzen 1995. Zur literaturgeschichtlichen Einordnung des schillernden Begriffs „Magischer Realismus“, der die paradoxe Verquickung einer radikalisierten Wahrnehmungsschärfe mit dem Postulat einer das Hier und Jetzt transzendierenden höheren Wirklichkeit verbindet vgl. Scheffel 1990.
161 aus – die epochentypischen Friktionen der Zeit in der Evozierung einer wie auch immer gearteten Versöhnung der Gegensätze und Spannungs-lagen textimmanent zum Verschwinden zu bringen. Zwar ist in seinem Text durchaus eine Tendenz zur Transzendierung des prosaischen Alltags festzustellen, dieses Moment der Abkehr von der bloßen Faktizität der ‚mechanischen‘ Zivilisationswelt und der für sie bestimmenden Ausdifferenzierung der Lebenssphären erfährt jedoch kein Komplement im Entwurf einer an den gängigen Mustern deutscher Kulturkritik partizipierenden Utopie harmonischer Ganzheit. Die „höhere Wirklichkeit“ von Lampes Am Rande der Nacht bestimmt sich vor allem negativ, vom Fehlen eines sinnhaften und den Zusammenhang der Dinge substantiell garantierenden Zentrums her, die Metaphysik, die der Text implizit transportiert, ist eine des existentiellen Mangels, nicht der Fülle. Dergestalt für die Gefahr sensibilisiert, hinter das Problembewusstsein der internationalen, nicht zuletzt medien-ästhetisch inspirierten Literatur zurückzufallen, wie es sich in den auch in den Reihen der „jungen Generation“ mit großem Interesse rezipierten Werken etwa eines John Dos Passos, eines Thomas Wolfe oder auch eines Alfred Döblins ausdrückt, nahm es sich Lampe zur Aufgabe, die krisenhaften Erschütterungen seiner Gegenwart im mikroskopischen Fokus eines Kleinstadtidylls darzustellen. In einem Brief an seinen Freund und späteren Herausgeber der ersten Lampe-Gesamtausgabe, Johannes Pfeiffer, umreißt Lampe die poetologische und thematische Leitlinie seines Erstlings dementsprechend 1932 auch wie folgt: Es soll ein kleines Buch werden. Eine ziemlich wunderliche Sache. Wenige Stunden, so abends zwischen 8 und 12 Uhr in einer Hafengegend, ich denke dabei an das Bremer Viertel, in dem ich meine Jugend verbracht habe. Lauter kleine, filmartig vorübergleitende, ineinander verwobene Szenen nach dem Hofmannsthalschen Motto: „Viele Geschicke fühle ich neben dem meinen,/ Durcheinander spielt sie alle das Dasein“. Alles leicht und fließend, nur ganz locker verbunden, malerisch, lyrisch, stark atmosphärisch. […] Inhaltlich ist die Sache leider etwas heikel.7
Entstanden ist aus dieser Skizze ein kaleidoskopartiger Roman, der seinen Lesern in miniaturhaften Kapiteln von den abendlichen Vorgängen in dem kleinbürgerlichen Milieu einer norddeutschen Stadt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erzählt. Spielende Jungen und Mädchen werden dabei beobachtet, wie sie am Wallgraben der Stadt ein paar Ratten betrachten, von sich bei einer Varieté-Veranstaltung vergnügenden Paaren und der aufspielenden Musikkapelle wird 7
Lampe 1956/1957 : 108.
162 berichtet. Die auf den ersten Blick harmonisch-sommerliche Stimmung der Geschehnisse erweist sich bei genauerem Hinsehen – der fernab der NS-Heimatkunst angesiedelten Perspektive des „magischen Realisten“ eben – dann allerdings als von zahlreichen sexuellen Spannungen, hintergründigen Gewalttätigkeiten und unausgesprochenen emotionalen Verletzungen unterminiert. Eines der Mädchen erlebt in Schlaf einen Alptraum, in dem die zuvor gesehenen Ratten einen Schwan – typisches Motiv der Fin de siècle Dichtung – blutig zu Tode beißen, im Varieté betrügt eine Frau ihren etwas tumben Ehemann mit einem schwarzen Matrosen, ein Ringkampf endet in einer sexuell konnotierten Orgie der Gewalt. Dem aus Hofmannsthals Gedicht Manche freilich stammenden Motto der Daseinsverknüpfung folgend, präsentiert der Text darüber hinaus in einer für zeitgenössische Lese- und Schreibgewohnheiten oftmals „brutalen Realistik“8 Ausschnitte aus dem Leben von noch über dreißig weiteren Einzelfiguren, die wie zufällig in den Fokus der Erzählung geraten erscheinen und vordergründig in erster Linie vor allem durch die textimmanente Einheit von Raum und Zeit – eine Hafenstadt an einem lauen Septemberabend – zueinander in Verbindung gesetzt sind. Eine herausgehobene Hauptfigur ist in den nur locker miteinander verbundenen Episoden des Romans nicht auszumachen, der Blick des Erzählers schweift in parataktischer Reihung von Schauplatz zu Schauplatz, der Textraum bleibt – hierin der Denkfigur der negativen Transzendierung auf formaler Ebene entsprechend – ohne eigentliches Zentrum. Lampe, selbst ein leidenschaftlicher Kinogänger, adaptiert quasi die visuellen Möglichkeiten der Filmkamera – vom sanften Schwenk über den harten Schnitt bis zur diskreten Ausblendung – und erzeugt so, mit der Form linearen Erzählens brechend, den sinnlichen Eindruck narrativer Simultaneität9: Während im Hafen die ‚Adelaide‘ auslaufbereit wartet, begegnen dem Leser Kinder, die Ratten beobachten; ein Anlagenwärter, dessen Tochter sich prostituiert; ein Würstchenverkäufer; ein briefmarkentauschender Zollinspektor, dessen Freund aus unerfülltem Fernweh Geographielehrer wurde; ein masochistischer Steward und ein sadistischer Kapitän; ein Ringer, der sich seiner homosexuellen Neigungen erst während eines Varieté-Kampfes ganz bewußt wird; ein Hypnotiseur, der seinen Sohn zu ruinösen Experimenten mißbraucht; ein sterbender Greis; ein lungenkranker 8 9
Graf 2003: 151. Zu der in den Kino-Debatten der zwanziger Jahre immer wieder anzutreffenden Behauptung einer größeren Sinnlichkeit des neuen Mediums und den hieran anschließenden Erwägungen möglicher Konsequenzen für die Literatur vgl. Heller 1985: 60ff.
163 junger Mann, der auf seiner Flöte nächtens Bach spielt… All diese scheinbar absichtslos miteinander verknüpften Gestalten handeln, erleben gleichzeitig und gleichberechtigt.10
Eine Entsprechung zu dieser narratologischen Verbundenheit der Figuren in ihrer erzähltechnisch hergestellten Einheit von Zeit und Raum findet das synästhesierende Konstruktionsprinzip des Romans auf der thematisch-motivischen Ebene dadurch, dass bestimmte Leitmotive wiederholt inszeniert werden, die aus ihrer Perspektivierung auf überindividuelle Aspekte des allgemein-menschlichen Daseins eine implizit-abstrakte Gemeinsamkeit des Personals erzeugen. Das erste dieser das Figurenensemble quasi en passant miteinander in Beziehung setzenden Leitmotive ist die dem Kurzroman auch den Titel gebende „Nacht“. Die taghelle Faktizität der kleinbürgerlichen Gesellschaft hinter sich lassend, ist sie das atmosphärische Medium der im Roman dargestellten Handlungen, Verstrickungen und Sehnsüchte, ein melancholischer Ermöglichungszusammenhang, der die Normalität der Provinz zumindest für die Dauer einiger Stunden außer Kraft setzt und Platz schafft für Traum, Rausch und Begierde: Der Tag war verströmt, die Nacht war heraufgekommen, irgendeine, eine von unzähligen, sie würde nie so wiederkommen. Wie sie jetzt das Leben fügte, so würde es sich so nie wieder fügen, und wer sie nicht lebte, in Traum oder Wachen, wer sie versäumte, der hatte sie immer versäumt und sein Leben war um weniges, um merklich weniges ärmer. Ein Tag war vergangen und eine Nacht war heraufgekommen, irgendeine, wichtigunwichtige, eine volle, warme Septembernacht – ganz war sie jetzt da. Breit und schwer rauschte sie dahin. Sie füllte die Straßen und Gärten, nistete in den Bäumen und Büschen und wühlte mit ihrem lauen Atem die Blättermassen auf und schleifte die durchdringenden Gras- und Blumengerüche durch die Straßen. […] Und die Stadt versuchte sie ein wenig zu verdrängen: mit Laternen und Bogenlampen, mit Musik und Gespräch – aber die Nacht war mächtiger. Alles füllte sie, umfaßte sie und führte es in immer dunklere Schwärze. Sie war der weiche, strömende, volle Grund, auf dem alles ruhte, in den alles zurücksank, sie löste die Glieder und machte müde und satt.11
Auf diese Weise in vitalistischer Manier eines Bergson zum universalen Urgrund des Lebens erklärt, wird die Nacht zum semantischen Äquivalent der Zeit an sich, dem stetigen Fließen und Vergehen der Gegenwart, Bedingung und Grenze menschlicher Existenz. Lampe, als ehemaliger Student von Karl Jaspers gut mit der 10 11
Dierking 1986: 358. Lampe 2003: 37f.
164 existentialistischen Zeitphilosophie der zwanziger Jahre vertraut, stellt die Kategorie der Zeit damit in den Mittelpunkt der Romandramaturgie, sie ist textintern Antriebsfeder und zugleich retardierendes Element des polyperspektivischen Handlungsverlaufs: Ja die Zeit ging dahin, für den einen zu langsam und für den anderen zu schnell. Und doch ging sie weder schnell noch langsam, sondern in gleichmäßigem, unerbittlichem, pausenlosem Schritt, streng und gesetzhaft wie das Flötenspiel des Herrn Berg, das über die Gärten dahinklang, steigend, fallend, unaufhörlich, in ehernem Gleichmaß. Und dieses Dahingehen, Dahinfließen war nicht froh und nicht traurig, sondern einfach daseiend – unergründlich.12
Ergänzt wird die Kontinuität stiftende Thematisierung der Zeit auf der eher konkreten Sujet-Ebene des Textes durch das sich wiederholende Motiv der Musik, welches – darin selbst musikalisierend wirkend – den gesamten Roman wie ein roter Faden durchzieht. Genauso wie die Motive „Zeit“ und „Nacht“ öffnet auch die abstrakte Kunstform „Musik“ die jeweiligen Einzelepisoden auf ihren übergeordneten Kontext hin und vernetzt sie so zu einem pointillistischen, ein Panorama des Verfalls intendierendes, Gesamtkunstwerk. So ist es vor allem das Flötenspiel des Herrn Berg, das wie ein einheitsstiftendes Band an vielen Schauplätzen des Romans im Hintergrund zu vernehmen ist: Und Herr Berg spielte weiter, er spielte den ganzen Abend. Das machte er sonst so, und er machte es auch heute. Klar und stetig, in ruhigen Intervallen schwebten die kühlen, silberglänzenden Töne über die Gärten und vermischten sich mit der Abendluft, zerrannen in ihr. Aber wer hörte diese Töne, wer vernahm sie innen, wer war fähig, diese strenge Botschaft, diese klare Klage zu begreifen? Der Sterbende vernahm sie nicht, konnte sie nicht mehr vernehmen, er war schon in einen allzu tiefen Schlaf versunken, sonst wäre er vielleicht derjenige gewesen, der diese Töne am besten begriffen hätte – und die anderen Leute vernahmen sie noch viel weniger. 13
Den Figuren, die durch die Leitmotivtechnik auf diese Weise überindividuell miteinander verbunden werden, ist der Umstand gemeinsam, dass sie – allesamt Randfiguren der kleinbürgerlichen Welt – mit dem Leben, das sie führen, auf die eine oder andere Weise unzufrieden sind. Da ist der alte Mann, den seine Kinder verlassen haben, der schon erwähnte Anlagenwärter, der sich mit seiner Tochter zerstritten hat oder auch der Steward des Schiffes „Adelaide“, bezeichnenderweise ein ehemaliger Student der Geschichte, der jetzt, 12 13
Ebenda: 37. Ebenda: 27.
165 von seinem Kapitän täglich aufs Neue gequält, ein klägliches Dasein fristet. Einsamkeit, Hoffungslosigkeit und schwindende Empathie als Resultat einer mehr und mehr aus den Fugen geratenen Welt sind fortwährend präsente Subthemen in Lampes Roman und finden sich auch in der folgenden Szene, die in lakonischem Ton ein von Kapitänswitwen bewohntes Seefahrerstift beschreibt: Dort war es so schön still und tot. Einen Augenblick empfand man den tiefen Frieden ihrer Abgestorbenheit. In manchen Zimmern saßen die alten Mütterchen schon unter der Lampe beim Abendbrot [...]. Einige Frauen hatten noch kein Licht gemacht und saßen am Fenster, unbeweglich vor sich hindämmernd, zwei schwarze, runde, gebückte Gestalten gingen langsam an den Häuserwänden entlang, zwei andere standen vor einem kleinen Vorgarten, flüsternd und kichernd [...]. Hier ist es still, hier ist es tot. Sie leben überhaupt nicht mehr. Ihre Kinder sind fort, ihre Männer liegen vielleicht auf dem Grund der Meere – sie aber sind im Hafen. Sie haben ihren Papagei, den sie sich damals mitgebracht haben, als sie noch mit ihren Männern fuhren [...] – sie dämmern so dahin.14
Die „kleinen Muscheln und Korallenstücke“15 , die die Witwen aufbewahren, sind Bruchstücke eines reicheren Lebens, von dem jetzt, im Hafen sesshaft geworden, nur noch Erinnerungen geblieben sind. Nicht nur in dieser Episode entwickelt die Darstellung des Meeres einen semantischen Überschuss. Es fungiert – auch dies ein wiederkehrenden Motiv von Am Rande der Nacht – als symbolischer Gegenpol zur Statik des auch dem Wortsinne nach befestigten Lebens am Lande. Das in der Grenzregion des Hafens spürbare „ozeanische Gefühl“ (S. Freud) empfinden auch die zwei Studenten Anton und Oskar, die in der Nacht als Passagiere der „Adelaide“ nach Rotterdam aufbrechen wollen, und auch die Kinder Hans und Erich, die bei der Betrachtung der im Hafen liegenden Schiffe für einen Moment aus dem tristen Alltag des kleinbürgerlichen Elternhauses ausbrechen: Nach Haus? Jetzt? Denk nicht daran. Draußen war der Hafen mit Schiffen, die in Meer, in die Welt fuhren. Er [Erich] fühlte sich so allein. Und unterdessen saß die Mutter mit dem Vater beim Abendbrot – seine Bratkartoffeln und sein Spiegelei waren sicher schon kalt. 16
Eng verknüpft mit dem Motiv des Meeres ist das ebenfalls im Spannungsfeld von Normalität und Novität, Stagnation und Ausbruch oszillierende Motiv der sexuellen Leidenschaft, das einerseits in der 14 15 16
Ebenda: 15f. Ebenda. Ebenda: 22.
166 Figur des verkappt homosexuellen Ringkämpfers Diekmann eine prominente Rolle spielt und darüber hinaus in der Schilderung des Paares Berta und Karl zum Thema wird. Während Diekmanns sexuelle Ekstase im öffentlichen Raum zum Ausbruch kommt – seine vom Gegner nicht erwiderte Zuneigung bringt Diekmann dazu, das Objekt der Begierde, den gutaussehenden Südländer Alvaros, auf der Bühne des Varietés fast totzuschlagen – betrügt Berta ihren Ehemann zuerst mit dem Steuermann eines Vergnügungsdampfers, später dann – halb öffentlich – am Rande der Varieté-Veranstaltung mit einem schwarzen Matrosen. Alle drei Interaktionsfiguren sind von ihrer Herkunft her oder doch zumindest durch ihren Beruf an das im Symbol des Meeres manifest werdende Motiv des Fernwehs anschließbar und ordnen sich so, auf eine Metaebene gehoben, einer von drei zentralen Verhaltensstrategien im Umgang mit der grundsätzlichen Frage nach einer möglichen Bewältigung der den Roman als Ganzes durchziehenden krisenhaften Grundstimmung zu: dem Exotismus. Diesem, das aktive Moment einer (imaginären) Flucht in ein besseres Anderswo implizierenden Verhaltensmodell stellt der Roman – darauf hat an anderer Stelle Doris Kirchner hingewiesen17 – noch zwei weitere zur Seite, von denen das eine die Idee der freizeitorientierten Zerstreuung in den Fokus der Inszenierung stellt und das andere den eher kontemplativen Rückzug in die Privatheit propagiert. Zentrales Symbol für das Verhaltensmodell der Zerstreuung ist das Varieté „Astoria“, das in vielen Episoden eine Rolle spielt und so neben dem Meer als ein weiterer Knotenpunkt der Textstruktur fungiert. Betritt man das Lokal des abendlichen Amüsements, so wird man für ein paar Stunden Teil einer anderen Welt, die bestimmt ist durch Tanzvorführungen, Zaubereien und Schaukämpfe. Vor allem die im „Astoria“ auftretende Figur des Hypnotiseurs, der seinen in Trance versetzten Sohn als Singvogel auftreten lässt, verdeutlicht die realitätsausblendende Funktion der Zerstreuung. Wie gebannt lauscht das Publikum den Tönen des auf einen Baum gekletterten Sohnes, vergessen sind die Sorgen des Alltags, dann aber bricht das Realitätsprinzip in Form eines bellenden Hundes in den Raum des Imaginären ein, der Junge erwacht unkontrolliert und bricht sich beim Sturz aus einigen Metern Höhe beinahe den Hals. Dass das Modell der Zerstreuung eigentlich nur palliative Wirkungen zeitigt, wird auch an einer anderen Textstelle deutlich, in der anhand eines Gesprächs über
17
Kirchner 1993: 106ff.
167 die Bühnenaufbauten des Varietés die Inauthentizität des kulturindustriell ausgerichteten Entspannungsangebotes zur Sprache kommt: „Wundert mich, daß die Dinger hier draußen stehen.“ Jonny zeigte auf die Kulissen. „Bei schönem Wetter geht’s ja, aber bei Regen“ – „Die können Regen vertragen. Sind ja schon ganz verregnet. Sehen Sie doch mal genau zu, haben ja lauter abgewaschene Stellen und Streifen. Aber so aus der Entfernung machen sie sich wohl noch immer ganz gut. Man muß eben nie allzu genau hinsehen, dann geht’s schon.“18
Das dritte Verhaltensmodell eines Rückzugs in die Privatheit tritt dem Leser vor allem in der Figur der Herrn Hennicke und der seines Freundes, des Zollinspektors, entgegen. Hennicke, ein harmloser Zeitgenosse, ist der typische Vertreter einer kleinstädtischen Lebensform, dessen Charakter vor allem durch eine starke Verwurzelung in der Heimat und dem beklemmenden Gefühl einer hieraus folgenden Horizontverengung bestimmt ist: Herr Hennicke liebte die fernen Länder, das Reisen, die Abenteuer, das Meer, die Schiffe, aber er war nie über seine Heimatstadt hinausgekommen. Aus Sehnsucht war er Geographielehrer geworden. Da er nicht Reisen konnte, las er Bücher und reiste in Gedanken. Das gefiel ihm auch eigentlich viel besser. Da ging alles viel reibungsloser vonstatten.19
Zusammen mit seinem Freund, dem im Grenzverkehr arbeitenden Inspektor, frönt Hennicke dem Hobby der Philatelie, der Liebe zu exotischen Briefmarken. Genauso wie die Tätigkeit als Schulgeograph präsentiert der Text auch das Sammeln der Briefmarken als eine Technik der Kompensation, welche die substantiell nicht zu befriedigenden Bedürfnisse nach einem anderen Leben kanalisieren soll. Anders als das Modell „Exotismus“ – Berta kehrt natürlich am Ende des Abends in die Monotonie ihrer Ehe zurück – und anders auch als das Modell „Zerstreuung“ – auch der gelungenste VarietéAbend hat einmal ein Ende – verspricht das Modell des Rückzugs in die Privatheit allerdings am Ehesten so etwas wie Stabilität. Die idyllische Gartenlaube, in der sich die beiden Freunde am Abend treffen und von der der Inspektor weiß, dass man hier die Uniform ausziehen und „noch mal Mensch sein“20 darf, wird auch am nächsten Abend noch da sein. Doch ändert auch die Stabilität dieser Enklave – die außertextuell vielleicht als ein Autorkommentar zur eigenen Schreibsituation im Schatten der Diktatur gelesen werden kann – nur 18 19 20
Lampe 2003 : 72. Ebenda : 28f. Ebenda: 31.
168 wenig an der durch die Gesamtheit der Einzelschicksale entstehenden Stimmungslage des Textes. Diese ist und bleibt vor dem „Hintergrund einer Endzeitahnung im Spenglerschen Sinne“21 trostlos. Alle Romanfiguren sind auf ihre Weise Getriebene, sie alle spüren einen fundamentalen Mangel in ihrem Alltag, fühlen sich aber nicht dazu imstande, etwas an ihrer Lage zu ändern. Was ihnen fehlt, ist die Fähigkeit sich aus den Fesseln ihres bedrückenden Hier und Jetzt lösen zu können, sich qua höherer Einsicht – der Verinnerlichung der „Totenmusik“22 Herrn Bergs etwa – als geschichtliche Wesen zu begreifen und aus dieser Erkenntnis heraus einen lebensverändernden Entschluss zu fassen, der sie – um die fundamentalontologische Terminologie aus Martin Heideggers 1927 erschienenem Hauptwerk Sein und Zeit aufzugreifen – aus der Sphäre des „Man“ qua Antizipation der eigenen Sterblichkeit in die Sphäre der „eigentlichen Existenz“ hinübertreten lässt. An die Stelle einer im konkreten Falle wie auch immer gearteten Entscheidung zur Veränderung der eigenen Lebensführung treten in Lampes Roman eine Vielzahl von Substituten, die die Last des Daseins vielleicht erträglicher gestalten, aber an der Agonie der grundsätzlichen Lebenssituation nicht wirklich etwas verändern. Dabei ist die in Heideggers Konzept der Daseinsanalyse zentrale Kategorie des Nicht-Seins, des Todes auch in der Textwelt von Am Rande der Nacht permanent präsent. Wie in Gottfried Benns eindrucksvollem Endzeitgedicht September, so signalisiert auch in Lampes Text die zeitliche Situierung der Handlung im Spätsommer von vornherein die Präsenz des Todes. Der in der Abenddämmerung die Kanäle der Wallanlagen kontrollierende Anlagenwärter erinnert mit seinem breiten, schwarzgeteerten Boot an die Charonsfiguren in Thomas Manns Tod in Venedig, Herr Berg, der den ganzen Abend über bei offenem Fenster Bach-Stücke spielt, ist von einer todbringenden Lungenkrankheit gezeichnet: Sein weißer Hemdkragen war weit auseinandergeschlagen, und sie [die Vermieterin] erblickte seine blaße, knochige Brust. Sie sah die kleinen Schattentäler auf seiner Brust [...] Sie wußte plötzlich: der wird’s auch nicht mehr lange machen. Ein Todeskandidat. Und da spielt er noch so ruhig Flöte.23
Ist das weiter oben angesprochene Gefühl der Krisenhaftigkeit damit auf hervorgehobene Weise einerseits auf der Ebene einer individuellen „Krankheit zum Tode“ (S. Kierkegaard) angesiedelt, so verweist die 21 22 23
Kirchner 1993: 108. Lampe 2003: 93. Lampe 2003: 32.
169 biografische Schieflage nahezu aller Figuren in ihrer Geschlossenheit zugleich auch auf die überindividuelle Ebene einer lebensphilosophisch inspirierten Epochendiagnose24, die in auch auf der MotivEbene wieder aufgenommenen Dualismen wie Künstlichkeit und Natürlichkeit, Licht und Schatten, Tag und Nacht, Schein und (höhere) Wirklichkeit, Wachheit und Traum, Triebverzicht und Ekstase, die Defizienz des Lebens in der industrialisierten Moderne beklagt. Im Gegensatz zur wohlfeilen Metaerzählung gegenmoderner Kulturkritik, wie sie seit der Jahrhundertwende in verstärktem Maße in Autoren wie Klages, Spengler oder auch George den deutschen Moderne-Diskurs bestimmte, bietet Lampes Am Rande der Nacht allerdings dem Leser keinen bequemen Ausweg aus der von Georg Simmel, dem Soziologen und Vordenker der deutschen Spielart der Lebensphilosophie so benannten „Tragödie der Kultur“25. Vielmehr wird er zum Augenzeugen eines permanenten Scheiterns, das es – so vielleicht ein unausgesprochenes Verarbeitungsangebot des Textes – nicht durch Flucht oder Verdrängung in seiner Wirkung abzumildern, sondern in einer existenzphilosophisch inspirierten Auseinandersetzung mit der „geistigen Situation der Zeit“26 zu reflektieren gilt. Ein möglicher diskursiver Anknüpfungspunkt einer dergestaltigen Aufschlüsselung der im Text angelegten Handlungsmotivationen der einzelnen Figuren bietet – darauf hat Johannes Graf hingewiesen – Jaspers’ Konzept der „Grenzüberschreitung“. Nach Jaspers leidet der Mensch in der Moderne an einer Überbetonung des rationalen Wissens, dem er die Fähigkeit abspricht, über zentrale, den „Personenkern“ tangierende Lebensfragen aufzuklären. Durch diese instrumentelle Verstandeskultur in seinen Erkenntnispotentialen beschränkt, ist es ihm unmöglich, ein ausbalanciertes, und den Anforderungen des Daseins gerechtwerdendes Lebenskonzept zu entwickeln. Ein Gefühl der Sinnentleertheit und Aussichtlosigkeit ist die Folge, das sich dann jedoch in individuell erlebten „Grenzsituationen“ des Scheiterns, der Angst, des Ekels oder auch der Langeweile derart radikalisieren kann, dass die Bedingtheiten der eigenen Existenzweise – nicht mehr länger durch die Substitute der alltäglichen Verdrängungspraxis überdeckt – vor Augen treten und der Prozess einer Transzendierung des fragmentarischen Hier und Jetzt einsetzen kann: 24 25 26
Zur Lebensphilosophie vgl. die überblickshafte Darstellung in Schädelbach 1983: 174-197. Simmel 1911: 245. So der Titel einer diskursiv einflussreichen Schrift von Karl Jaspers aus dem Jahre 1931.
170
Das Schweben des Denkens läßt das eigentlich Unbedingte frei. Ziel des Erhellens ist nicht ein Seinsentwurf als solcher, nicht ein Erkenntnisbesitz, nicht ein Ergebnis, sondern das methodische Innewerden des Seins. Das Innesein aber ist gleichsam ein Schweben. In ihm vollzieht sich die Lösung vom Boden, um wahren Boden zu gewinnen, bis zuletzt die freischwebende Bodenlosigkeit in der Welt in bezug auf den Grund des einzigen absoluten Bodens der Transzendenz erreicht wird. [...] So ist am Ende kein Boden, kein Prinzip, sondern ein Schweben des Denkens im bodenlosen Raum. Gegen Verfestigung und Sicherung im Gedankensystem, in dem ich mich berge und dem ich mich unterwerfe, bleibe ich Herr meiner Gedanken, um offen zu sein für Transzendenz und daraus die eigentliche Unbedingtheit der Welt zu erfahren.27
Gerade dieses emanzipatorische „Schweben des Denkens“ führt Am Rande der Nacht inhaltlich und formal vor. Zwar verharren die Figuren des Romans in ihrer augenscheinlichen Veränderungsresistenz, zwar erweisen sie sich als nicht dazu in der Lage die jeweilige Erfahrung einer Grenzsituation im positiven Sinne zu nutzen. Nichtsdestotrotz bleibt die Möglichkeit der „Existenzerhellung“ auch in ihrer Negation als den Horizont der Figuren überschreitende Möglichkeit präsent und wird so zum Gegenstand eines immanenten, sich das Heideggersche Konzept der „formalen Anzeige“ ästhetisch anverwandelnden Dialoges zwischen der thematisch-motivischen und formalen Ebene des Textes, der eben nicht mehr „perspektivisch, sondern planetarisch“28 erzählt. Das intermediale Spiel der an der Filmästhetik partizipierenden Inszenierungsweise, führt in ihrem permanenten Orts- und Perspektivenwechsel genau jene Offenheit des Denkens vor, die Jaspers in seinen Überlegungen zur „existentiellen Grenzüberschreitung“ in Aussicht stellt. In der nach Beginn des Zweiten Weltkriegs verfassten und dann in die Textsammlung Von Tür zu Tür aufgenommenen Kurzgeschichte Laterna Magica thematisiert Lampe explizit, welche wahrnehmungsund denkrevolutionierende Wirkung er sich von der „neuen sinnlichen Kultur“ des Films (R. Musil) und deren Auswirkungen auch auf die Formvorstellungen der Literatur erwartet. Albert, ein junger Dichter und Drehbuchautor, verkündet dort seine Vorstellungen einer neuen, kulisseneinreißenden Ästhetik des Films so: Ihr habt ja keine Ahnung, was der Film bedeutet, was man aus ihm machen kann. Oh, diese herrliche, neue Form, ihr kommt ja von der Bühne nicht los, vom Theater, laßt doch einmal den Wind frei durch die offene Natur 27 28
Jaspers, Philosophie (1932), zitiert nach Schädelbach 1983: 195. Friedrich 1956: 137.
171 brausen, damit er all euren Kulissenkram wegfegt. Nicht mehr diese niedlichen, geradlinigen, dünnen Handlungen. Symphonien in Bildern müßte man komponieren, Träume, Phantasien, schwelgerische BildBacchanale! [...] Was ist das Wesens des Films? Was kann nur er allein? Raum und Zeit überwinden! Uns aus diesem entsetzlichen Kasten von Raum und Zeit befreien, uns wenigstens für Augenblicke das Gefühl unbeschwerten Schwebens, eines freien unbegrenzten Götterdaseins geben. Film, das sollte etwas Mystisches, Kosmisches sein –29
Einerseits der Verfalls-Motivik und Krisen-Thematik der Jahrhundertwende verhaftet, zugleich aber die Formimpulse des neuen Mediums Film aufnehmend, entwickelt sich Am Rande der Nacht in der Perspektive der Existenzphilosophie so zu einer impliziten Aufforderung zur Grenzüberschreitung, die nicht als konkrete Handlungsanweisung, etwa zur aktiven Positionierung im politischen Feld des sich abzeichnenden „Dritten Reiches“ missverstanden werden darf. Weder Am Rande der Nacht, noch die späteren Bücher Septembergewitter und Von Tür zu Tür sind Produkte einer politischen Ent- bzw. Verschlüsselungstechnik, wie sie etwa in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen zur Anwendung gelangt. Gerade in einer Zeit sozialer Anomie jedoch, in einer Gesellschaft deren politische Kultur zunehmend gefangen war in den starren Schemata eines undifferenzierten Freund-Feind-Denkens, entwickelt das in der Tiefenstruktur des Textes vernehmbare Plädoyer für eine Offenheit des Denkens ein politisches Moment. Lampe selbst hat sich immer als einen im Sinne handfesten politischen Engagements unpolitischen Menschen verstanden. Explizite Kritik an der NS-Herrschaft hat er auch in seinen späteren Texten nie unternommen. Den poetologischen Ansprüchen an das eigene Schreiben jedoch, an die sich Axel Eggebrecht in der Rückschau an ein gemeinsames Gespräch erinnert, hat er mit Am Rande der Nacht genügt: Ich sähe offenbar gewisse Züge, die ich mit völkischen Idealen in Verbindung brächte, treudeutsche Innerlichkeit und dergleichen. Da sei ich auf dem Holzweg. Er wehre sich auf seine Weise gegen die Barbarei, die sich als Neugeburt ausgebe. Er versuche gerade das zu retten, was die dröhnenden Barden totschlügen: Die Differenzierung, das Individuum, gebrochene Charaktere, Verzweifelte.30
29 30
Lampe 2002: 152. Eggebrecht 1975: 296f.
172 Literaturverzeichnis Arntzen, Helmut (Hrsg.). 1995. Ursprung der Gegenwart. Zur Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger Jahre in Deutschland. Weinheim: Beltz Athenäum. Dierking, Jürgen. 1986. ‚Die Augen voll Traum und Schlaf. Zum Werk des melancholischen Idyllikers Friedo Lampe.‘ In: Friedo Lampe: Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt: 351-389. Eggebrecht, Axel. 1975. Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Friedrich, Heinz. 1956. ‚Septemberpoesie.‘ In: Frankfurter Hefte 11 (1956): 137-138. Graf, Johannes. 2003. ‚Nachwort.‘ In: Friedo Lampe: Am Rande der Nacht. München: Deutscher Taschenbuch Verlag: 141-171. Grumbach, Detlef. 1999. ‚Friedo Lampe – Ein Porträt.‘ In: Forum Homosexualität und Literatur 12 (1999), H. 35: 115-122. Heller, Heinz-B. 1985. Literarische Intelligenz und Film. Tübingen: Niemeyer. Jaspers, Karl. 1931. Die geistige Situation der Zeit. Berlin, Leipzig: de Gruyter. Kirchner, Doris. 1993. Doppelbödige Wirklichkeit. Magischer Realismus und nicht-faschistische Literatur. Tübingen: Stauffenburg. Lampe, Friedo. 2003. Am Rande der Nacht. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Lampe, Friedo. 2002. ‚Laterna Magica.‘ In: Friedo Lampe: Von Tür zu Tür. Phantasien und Capriccios. Göttingen: Wallstein: 151167. Lampe, Friedo. ‚Briefe.‘ In: Neue Deutsche Hefte 3 (1956/1957): 108122. Schädelbach, Herbert. 1983. Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schäfer, Hans Dieter. 1983. ‚Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich.‘ In: Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945. München, Wien: Hanser: 7-54. Scheffel, Michael. 1990. Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung. Tübingen: Stauffenburg. Simmel, Georg. 1911. ‚Zur Philosophie der Kultur. Der Begriff und die Tragödie der Kultur.‘ In: Georg Simmel: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Leipzig: Klinkhardt: 244-277.
Christiaan Janssen DER KULTURVERMITTLER FRIEDRICH MARKUS HUEBNER : KUNST, LITERATUR UND DIE RICHTIGE LEBENSFÜHRUNG
Am 28. Dezember 1919 erschien in der bürgerlich-liberalen Zeitung Het Vaderland erstmals eine Literaturbesprechung von Friedrich Markus Huebner (1886-1964). Huebner versuchte, dem niederländischen Zeitungsleser den deutschen Expressionismus näher zu bringen. Den Umstand, dass der Expressionismus sich in Deutschland schon so früh, schon vor Ausbruch des Großen Weltkrieges manifestiert habe, während er in Frankreich erst nach demselben Krieg zur Blüte gelangte, erklärte Huebner mit der Nähe Deutschlands zu Russland, wo neue gesellschaftliche und kulturelle Bewegungen sich immer stärker ankündigten, und die auf ihrem Weg nach Westen immer erst an Deutschland vorbeikämen. Huebner informierte den kulturell interessierten Niederländer über Carl Sternheim, auf den er – wie sich noch zeigt – zehn Jahre später noch mal Bezug nehmen wird, über Frank Wedekind, Otto Stadler und Georg Trakl, der im ersten Kriegsjahr gefallen war. Nicht ganz zufällig erwähnt Huebner in seiner ersten Besprechung, ein Jahr nach Kriegsende, die Zeitschrift Das Zeit-Echo (erschienen 1914-1917; Untertitel: „ein Kriegstagebuch der Künstler“), für die er im ersten Jahrgang als Schriftleiter tätig war.1 Er wollte dem niederländischen Publikum durch den Hinweis zeigen, dass es inmitten des Krieges in Deutschland kulturelle Aktivität gab. Denkt man an Kulturvermittler zwischen Deutschland und den Niederlanden aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, dann denkt man etwa an Albert Vigoleis Thelen und Georg Hermann auf der deutschen und Nico Rost auf der niederländischen Seite.2 Über Thelen ist nach 1945 relativ viel geschrieben worden, nicht zuletzt auch in De Duitse Kroniek.3 Das große Nachkriegsinteresse für 1 2
3
Grötzinger 1994: 99-107. Vogel 2003: 37 nennt die Namen vieler anderer Kulturvermittler: Franz Dülberg, Paul Cronheim, Augusta de Wit, Alfred Alexej Hackel, Herwarth Walden, Theo van Doesburg, Kurt Schwitters, Til Brugman und Magda Révész-Alexander. Enklaar, Ester (hrsg.) 1987; vgl. weiter zu Veröffentlichungen über Thelen: Delabar 1998, Anm. 7: 83; Neuerscheinungen 2003 zu Thelen anlässlich seines 100. Geburtstages: Cornelia Staudacher: Albert Vigoleis Thelen. „Wanderer ohne Ziel. Ein Porträt.“ Zürich, Hamburg: Arche Verlag 2003;
174 Exilschrifttum und seine Rezeption in den Niederlanden hat zur besonderen Aufmerksamkeit für Thelen beigetragen. Für Huebner, dessen Biographie viele Berührungspunkte mit dem „ewigen Konkurrenten“ Thelen4 aufweist, war weitaus weniger Interesse. Das könnte an der interdisziplinären Thematik seiner Arbeiten5 liegen, oder auch daran, dass er sich nach 1933 dem deutschen Schrifttum im Dritten Reich zuwandte und sich nach 1940 in die Netze der Kollaboration verstrickte.6 Auf der anderen Seite gilt Huebner als einer der wichtigsten Vermittler des Expressionismus in die Niederlande.7 An der Quantität der Werke wird es auch nicht gelegen haben: von Huebner als Autor sind über 60 selbständige Titel erschienen.8 Über die Niederlande und in den Niederlanden hat er viel geschrieben, und in Deutschland hat er kunsthistorische Vorträge über niederländische Maler, u.a. Hieronymus Bosch, gehalten. Wie es Huebner in die Niederlande verschlug, lässt sich nicht in zwei Sätzen erklären und soll hier nur kurz angedeutet sein. 9 Der gebürtige Dresdner geriet über u.a. Heidelberg, wo er 1910 über die psychologischen Auffassungen von Paul Bourget10 promoviert hatte, München, Italien, als dreißigjähriger nach Belgien, wo er im Kriegsdienst für das Auswärtige Amt tätig war. 11 Dort erwachte neben dem Interesse für die flämische Kunst und Literatur auch sein Interesse für das nördliche Nachbarland. Als er 1918 Belgien verlassen musste, schweifte er noch eine Weile durch das vom Chaos heimgesuchte Deutschland umher. Schließlich setzte er sich in die Niederlande ab. Er wurde Mitarbeiter der Zeitung het Vaderland und gab zusammen mit Dirk Coster und englischen, französischen und
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Jürgen Putz: Albert Vigoleis Thelen. Erzweltschwerzler und Sprachschwelger. Bildbiographie auf der Grundlage der Sammlung Leo Fiethen. Bremerhaven: Edition Die Horen 2003. Delabar 1998: 82. Er operierte auf der Grenzfläche zwischen Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte, weshalb eine Einteilung schwierig ist. Aus der Korrespondenz zwischen Huebner und seinem Rechtsanwalt Ragnhild Stapel geht hervor, dass er dafür nie verurteilt worden ist (RKD inv. nr. 3). Vogel 2003: 42 weist hin auf Hadermann, Paul und Jean Weisgerber („Expressionism in Belgium and Holland“. Hrsg. v. Ulrich Weisstein: Expressionism as an International Literary Phenomenon. Paris: Didier 1973, 252), die Huebner - mit Marsman und Doesburg - zu den wichtigsten Vermittlern des Expressionismus in die Niederlande zählen; Vgl. auch Van Gemert 2004, Anm. 1. Delabar 1998: 81. Vgl. Grötzinger 1994 und Vogel 2003. Huebner 1910. Siehe dazu: Leonardy, Roland (Hrsg.) 1999; Roland 1999.
175 italienischen Kollegen das Werk Europas neue Kunst und Dichtung (1919) zum Thema Expressionismus heraus. Warum genau war Huebner so begeistert von den Niederlanden? Die niederländische Mentalität hatte es ihm angetan, so teilte er fast 40 Jahre später in einem Lebenslauf mit, der für die Westfälische Rundschau erstellt worden war. 12 Politische und kulturelle Entwicklungen und Ereignisse von „jenseits des Meeres“ würden sich, so Huebner, immer als erstes in den Niederlanden bemerkbar machen: „So erlaubte mir der Verbleib in Holland in geistiger Hinsicht ein vielfach beteiligtes Miterleben der Zeitenwechsel, was dazu beiträgt, dass man rein persönlich aufgeschlossen, rege und spannkräftig bleibt”. Dem folgen noch die landesüblichen Klischees, die Huebner mit seinem eigenen Wesen verbindet: „als wäre ihm dieses nüchtern-tüchtige Land der weiten Horizonte, der starken Kunstüberlieferung und des unerschrockenen Kampfes um das Jetzt & Hier ein notwendiges Korrelativ zu seinem eigenen mystischen Wesen”.13 Weitaus ergiebiger zur Ermittlung von Huebners Niederlandebild sind die Texte, in denen Huebner sich zu den Niederlanden äußert. Neben den vielen Beiträgen für verschiedene deutsche Zeitungen und Zeitschriften von den zwanziger Jahren bis in die sechziger Jahre hinein, 14 gewähren die Romane seiner Trilogie „Land der Windmühlen“: Satan im Tulpenfeld (1935), Sterne über Amsterdam (1939) und Wann war gestern? (1941), allesamt mit dem Untertitel „Roman unter Holländern“, wichtige Einblicke. Darüber hinaus verfasste er während der Besatzungszeit ein Bändchen Niederländer und Flamen (1943), das den Deutschen die Niederlande näher bringen sollte. 1955 erschien eine Neubearbeitung unter dem Titel Umgang mit Holländern (1956). Aus diesen Werken wird ersichtlich, dass Huebners Niederlandebild von einem eigenwilligen Ton geprägt wird, der bereits in den zwanziger Jahren seinen prägnantesten Niederschlag in der essayistischen Schrift Zugang zur Welt. Magische Deutungen (1929) fand. 12 13 14
Lebenslauf vom 29.10.57 für Westfälische Rundschau. In: RKD 1. Ebenda. Eine beliebige Auswahl aus den Zeitungsausschnitten im RKD: „Neues Bühnenleben in Flandern“ (Baaden-Baadener Bühnenblatt 1924), „Fahrt durch Zeeland“ (Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft 1925); Haager Anwalts-Porträts, Die Richter des Weltgerichts tagen (Hannoverscher Anzeiger 1931); „Japan und Insulinde“ (Vossische Zeitung 1933), „Wenn die Thronfolgerin heiratet“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1936), „Frans-Hals-Ausstellung in Haarlem“ (Kölnische Zeitung 1937), „Das deutsche Theater in Lille“ (Kölnische Zeitung 1943).
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Zugang zur Welt: Wider den „Kampf der Metapher“ In den zwanziger und dreißiger Jahren thematisierte Huebner in einer großen Anzahl von Werken den „Zivilisationsmenschen“, der den Kontakt zur Natur verloren habe und den Zweck des Schicksals nicht mehr verstehe. Der Dichter Karl Röttger, Mitherausgeber der zwischen 1904 und 1914 erschienenen religiös-philosophischliterarischen Zeitschrift Charon, die als erster Vorläufer des Expressionismus anzusehen ist, zeigte sich sehr begeistert von Huebners Schriften. Zugang zur Welt fasziniert ihn maßlos und auch an späteren Schriften findet er sein Gefallen: von diesen Büchern geht ein starkes Licht aus, das seinen Ursprung im Denken und vertieften Blick dieses Mannes hat, den ich den besten Denkern der Zeit beizählen möchte. Auf der Grenzscheide zwischen Philosophie und Dichtung ist Huebner eine außerordentliche Erscheinung, von der ich dichterisch und philosophisch noch Bedeutendes erwarte.15
Die esoterische, vom Expressionismus beeinflusste Schrift Zugang zur Welt, die in Leipzig bei Klinkhardt & Biermann verlegt wurde, ist heute fast ganz der Vergessenheit anheimgefallen. Das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, dass diese Schrift Autoren des „Kolonne“-Kreises wie Martin Raschke, Horst Lange, Oda Schäfer, Elisabeth Langgässer, Günther Eich und Peter Huchel, die als literarische Vertreter des ‚magischen Realismus’ gelten, beeinflusst haben.16 Die 221 Seiten umfassende essayistische Schrift umfasst Huebners Ansichten zu den „drei höchsten Möglichkeiten der Einswerdung mit dem Ewigen“:17 Sprache und Literatur; Liebe; Gottesverehrung. Die Themen werden in drei Kapiteln erörtert: „dem Weg über das Wort“, „der Verklärung im Fleische“ und „Dem demiurgischen Schöpferspiel“. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf den ersten Teil, der sich primär sprachlichen Fragen zuwendet: „Können wir die Welt durch Worte erfassen? Ist das, was durch ein Wort ausgedrückt wird, in demselben enthalten? Steht ein Name, der Name „Eiche“ wirklich 15
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Karl Röttgers’ Klappentext zu Zeichensprache der Seele. Röttgers’ Buchbesprechung von Zugang zur Welt in der Frankfurter Zeitung (1930): „So sind zum Beispiel die Abschnitte über Wort, Sprache, Dichtung für jeden, der mit der Sprache zu tun hat, sehr ergiebig, und die Abschnitte über die Liebe gehören jedem wahrhaft Liebenden“. Scheffel 1990: 79. Siehe Buchumschlag.
177 und wahrhaftig für das Gewächs Eiche?“18 Huebner bezieht dabei die Sprachkritik Fritz Mauthners ein, der gemeint hat, dass die Sprache unvollständig sei und unsere Erfahrungen extrem fehlerhaft abspiegele. Huebner hält Mauthners Sprachkritik für einseitig, weil er lediglich den sprachlichen Aspekt der Schöpfung ins Auge fasse und dabei den magischen übersehe. Die Neue Sachlichkeit hat für Huebner damit ausgedient: Zugang zur Welt ist, so lautet der Schutzumschlag, ein Bekenntnis zur „Ablösung der Sachlichkeitsdoktrin, ein Bekenntnis zum magischen Realismus! Das Buch des Menschen von morgen!“.19 Sprache habe, so Huebner, noch eine andere „Sendung“ als reine Darstellung der äußeren Form, sie beschränke sich nicht auf die Funktion als mangelhaftes Verständigungsmittel. Der magische Charakter der Sprache werde oft übersehen: „Im Zeichen der Worte entblößen sich die Dinge“, 20 erklärt Huebner. So unvollkomen die reale Übereinstimmung zwischen Wort und Ding, so vollkommen sei die magische, welche Ding und Idee, Mensch und Wort umgebe. Der Zuhörer fühle sich somit von den medialen Aspekten der Sprache erfasst. Ähnlich wie von einer Kraftsphäre gehen von den angehörten oder gelesenen Wörtern Schwingungen aus. Nicht in den Sätzen, sondern zwischen ihnen schwinge die Kraftsphäre mit. Nicht der Grammatik, sondern dem Rhythmus entsteige diese magische Kraft.21 Huebner weist auf den Sinn der Bildersprache hin: gerade durch sie unterscheidet sich dichterischer Stil von alltäglich-prosaischem. Huebners Abneigung gegen Technik nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. Seiner Ansicht nach würden in der Literatur die Dinge nicht sachlich wie in der Technik dargestellt, sondern umschrieben. Huebner macht dabei den Unterschied zwischen einem allegorischen Stil mit unnatürlichen „wie“-Vergleichen und einem bildhaftgleichnisvollen Stil mit einer Anschaulichkeit, die sich spontan melde. Als Beispiel nennt Huebner die Darstellungsweise von „Sorge“ in Goethes Faust: Sorge in Gestalt einer Person, die Schmerzen hervorruft und Lust und Ruhe stört. Auch die Sprache von Bauern, Fischern und Jägern wimmele von solchen personifizierten Vergleichen. Für Huebner ist ein Dichter mehr als nur der Verfasser von Texten: Töpfer, Diamantschleifer und Fischer seien auch Dichter, in dem Moment, wo ihnen die Arbeit nicht nur als Tatsache 18 19
20 21
Huebner 1929: 9. Der Hinweis auf „Morgen“ findet sich auch in der Frau von Morgen, einem von Huebner im selben Jahr herausgegebenen Band mit, übrigens nur von Männern verfassten, Beiträgen zur Frau von Morgen. Vgl. Vogel 2003. Huebner 1929: 13. Ebenda: 17.
178 vorkomme, sondern sich in seinem gleichnishaften Charakter enthülle und ihnen somit als Traum erscheine: „Denn ein jeder darf Dichter sein!“.22 Das sich-eins-Fühlen-mit-den-Dingen kennzeichnet Huebners Werk, und deutet auf eine Weltbetrachtung hin, die sich an der Gnosis orientiert. Gnostische Bewegungen entstanden bereits in der Antike, kurz nach Anfang der christlichen Zeitrechnung. Sie lehnten alles Materielle ab und erstrebten eine totale Vergeistigung des Menschen. Die sich zu der Zeit herauskristallisierende „offizielle“ christliche Kirche betrachtete solche, sich stark auf Intuition gründenden Bewegungen als eine Bedrohung ihrer auf strenger Hierarchie und Glaubenssicherheiten basierenden Macht. Die Gnostiker lehnten das offizielle, von der Kirche gepredigte Gottesbild ab. Jedem einzelnen sollte die Möglichkeit gegeben sein, Gott in sich selbst zu suchen. Im Laufe der Geschichte tauchte die Gnosis in verschiedenen Formen immer wieder auf. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es ein erneutes Interesse an solchen Auffassungen. Auch die sogenannten New Age Bewegungen der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts – Schlagwörter: Ökologie, Holismus, Meditation und Astrologie – sind moderne Varianten dieser Bewegungen, die in einer ihrer Ansicht nach überrationalisierten Welt Spiritualität und Intuition Platz einräumten.23 Der magischen Sprache diametral gegenüber steht bei Huebner die Zeitungssprache. Huebners Bemerkungen dazu sind geradezu polemisch. Die Zeitungssprache, so meint er, „bebt vor Unruhe und Reizbarkeit“. Exemplarisch wird der satirische Dramatiker Carl Sternheim als Vertreter dieser Gattung dargestellt. Sternheim (18781942) galt als provokativer, zeitkritischer Dramatiker, der eine direkte Sprache benutzt, dabei dem Gebrauch von verhüllter Sprache den Kampf ansagte, und sich nicht scheute, banale Szenen zu schildern. In seinen Stücken prangert Sternheim die bürgerliche Sprache an, die den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren habe. Bündig formuliert Sternheim in dem Imperativ Kampf der Metapher! (Aufsatz gleichen Titels im Berliner Tageblatt 1917) eine explizite, u.a. an Schopenhauer und Nietzsche geschulte Sprachreflexion; er widersetzt sich der phrasenhaften, bürgerlichen Sprache, die zu den heutigen gesellschaftlichen Realitäten keine Beziehung mehr habe. Huebner schildert ihn als kalten „Daseinspamphletär“, und paraphrasiert dazu Jakob Wassermann, der 1910 von solcher Literatur in seiner Schrift Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit berichtete: dem Dichter gegenüber stehe der Mythoslose, der „Literat“. Huebner drückt diese 22 23
Ebenda: 20. Vgl. Markschies 2001: 26-35; 116-119.
179 Meinung in der ihm eigenen expressiv-bildhaften Sprache aus, die als Gegenteil von metapherlos gelten sollte: Der Literat ist hinter den Dingen nicht wie ein Liebender, sondern wie ein Raubschütz her. Er schickt seine Worte nicht als Liebkosungen, sondern als Pfeile ab. Er stößt sein frenetisches Halali aus, wo die fliehende Beute, die Welt, nicht weiter kann und endlich, ausgedrückt zu restloser „Richtigkeit“, mit heraushängender Zunge zusammenbricht [...] Seine Sätze ächzen vor Grell, vor Unnatur. Die Grammatik knirscht vor Gewaltsamkeit. Kunst des Darstellens bekommt hier den Sinn einer Kunst des Abschlachtens und Ausweidens. Der Schreiber gebraucht nicht die Panflöte, sondern das Fangmesser. An seiner „Hose“24 streicht er sich hohngesättigt das Blut ab. Es triumphiert das Jagd- und Feldgeschrei: „Entschlossene Heutigkeit“.25
Huebner lehnt Sternheims Neigung zur minimalistischen Sprache, etwa den Verzicht auf Artikel und Adjektiv, und die direkte Gegenwartsbezogenheit als „kalt“, „mitleidslos“, kurzum als negativ und damit als literarische Kategorie ab, und tritt für die umständlichere Darstellung der Gegenwart in aufbauend-transzendierter Form, in Gestalt von Ewigkeitswerten, ein. Sternheims „zerhackte und zerstümmelte Sprache“ sei nur eine „Laboratoriumsausgeburt“, deren kalter Blick die Welt des Handels, der Wirtschaft und des Geldwesens nachahme. Die Welt sollte jedoch, so Huebner, nicht als leere zusammenhanglose „Tatsache“, sondern als „Vision“ übermittelt werden und sich einem „Ganzen“, einem „Sinn“ gegenübersehen.26 Im Werk Hermann Hesses und Hermann Stehrs komme diese magische Sehensweise am prägnantesten zum Ausdruck. Visionen spielen auch eine große Rolle in der Gnosis: eine verborgene, spirituelle Wirklichkeit wird durch sie enthüllt. Visionen machen dem einzelnen den Zusammenhang der Dinge klar und verleihen ihm den Zugang zur Welt. Damit verteidigt Huebner sich auch gegen den Vorwurf derjenigen, die Dichtung als eine Flucht aus der Wirklichkeit betrachten. Was denn Wirklichkeit sei, fragt Huebner rhetorisch: „Sind die gehobenen oder die gehetzten, die leuchtenden oder die betäubten Stunden die wirklichen? Gewiss ist Dichtung ein Ausweg. Der aber zum Eins- und Innesein der Welt, um das einen die Enge und der Druck des Werktags betrügt, hinführt“. 27 Die Welt als eine Einheit, die man durch den alltäglichen Wirbel aus dem Auge verliert. Nicht mit der Zeitung, sondern mit einer Prosaseite von 24 25 26 27
Die Hose (1911) bildet zusammen mit Die Kassette (1912) und Bürger Schippel (1913) Sternheims Komödienreihe Aus dem bürgerlichen Leben. Huebner 1929: 27. Ebenda: 27-28. Ebenda: 35.
180 Goethe, einem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer oder einem Aphorismus von Nietzsche sollte man, so Huebner, den Tag anfangen. Im direkten Zusammenhang mit den „Visionen“ steht Huebners Aufforderung zum intuitiven „Schauen“, Auch hier handelt es sich um einen Begriff aus dem Umfeld der Gnosis, der besagt, dass nicht durch diskursiv-logische Wissenschaft, sondern durch innere Schau sich philosophisch-religiöse Einsichten gewinnen lassen. 28 Nicht als „Privat-Ich“, als zeitgebundener Mensch, der bestimmten Doktrinen verfallen ist, sollte der Schriftsteller sprechen, sondern als große Persönlichkeit, der die Dinge bildhaft umschreibt. An den privaten Überzeugungen und Kenntnissen sei der Leser nicht interessiert. Huebner richtete seine Pfeile speziell gegen den Naturalismus. Emile Zolas Werke beispielsweise seien der Beweis, dass eine „entselbste, rein veristische Beobachtungs- und Wiedergabeweise Zeugniswert nur für den Verstand, Interesse nur für die beteiligten Zeitgenossen“ habe.29 Positives Beispiel dagegen sei Flaubert, in dessen Werke der zeitgebundene „Bürger Flaubert“ hinter dem großen, dem Tagesgeschehen ausweichenden Dichter verborgen bleibe. Der Leser lese, so Huebner, ein Buch nicht distanziert vom ästhetischen oder moralischen Urteil, seiner Kunst der Stil- oder Motivforschung wegen, sondern er genießt es, schmilzt mit dem Wesen des Buches zusammen, und lernt so die mythische Erfahrung kennen. Aus den Erörterungen im Zugang zur Welt wird ersichtlich, dass Huebner eine parteipolitisch unabhängige Art der literarischen Betätigung vorschwebt, durch seine unpolitische Haltung aber wieder politisch wirkt, besonders an den Stellen, wo er den Begriff der seiner Ansicht nach „wahren Gemeinschaftskunst“ neu definiert. Seine Ansichten scheinen eine Reaktion zu sein auf die Tendenz ehemaliger Expressionisten, Ihr Heil zur Rechten im Faschismus, oder zur Linken im Kommunismus zu suchen. Der Dichter solle jedoch, so Huebner, zwischen den Parteien stehen: „Er steht den Fortschrittsparteien so nahe wie dem Konservatismus, den Anhängern des Staatssozialismus so nahe wie denen des Privateigentums“. 30 Der Dichter solle sich keiner Klasse anschließen und der Parteipolitik gegenüber auf Distanz bleiben, denn „Verquickung mit der Zahl und mit der Macht, sei es die der oberen oder die der unteren Schichten, trübt ihm den Blick, macht ihn unfrei“.31 Diese Unfreiheit würde auf Kosten der künstlerischen, 28 29 30 31
Markschies 2001: 25. Huebner 1929: 39. Ebenda: 42. Ebenda: 43.
181 gleichnishaften Darstellung gehen. Dichter sollten sich nie einer politischen Diktatur unterwerfen, ob das jetzt eine „Diktatur des Einzelnen“ wie in Italien sei, oder die einer „Mehrzahl“ wie in Russland. Tendenzliteratur lasse nur „Tatsachen“ sprechen und nicht die „Zeichen“. Sie verbreite „Reizstoffe“, keine „Stille“ und „Wesenseinkehr“: „Die Ereiferung und Haßgesänge faszistischer und sowjetistischer Poesiefunktionäre sind von fataler Vergänglichkeit schon in der Stunde des Entstehens gezeichnet“.32 Gemeinschaftskunst definiert Huebner nicht als doktrinäre Kunst, sondern als Kunst für alle, die „aufnahmewillig, erlebnisbereit“ seien. Ob reich oder arm, verzweifelt oder glücklich: wahre Kunst gehe alle Menschen an. „Was sie bieten ist nicht Doktrin, sondern Schau“.33 Die Werke der Weltliteratur, die große Dichtung, überwinden die politischen, klassenmäßigen und konfessionellen Bindungen, die nur als „Begleiterscheinungen“ gelten und „ins Reich der „rein bürgerlichen Eigenschaften“ gehörten. Für Huebner ist Geschichts-schreibung denn auch nichts mehr als „Sammlung und Aufreihen von Nebensächlichkeiten“.34 Zwar spielten die bürgerlichen Bindungen auch in der Weltliteratur eine große Rolle, aber diese beschränke sich nicht nur auf sie, stelle die Tatbestände nicht bloß als Sonderfall dar, sondern als Gleichnis. Wieder führt Huebner Carl Sternheims Dichtungen als leuchtendes Beispiel dafür an, wie Literatur unbedingt nicht sein sollte: durch die Beschränkung auf Sonderfälle entstehe Karikatur statt Gleichnis; Sternheim fixiere auf Charakterschwächen einzelner Figuren, womit der Autor nur seine persönliche Verbitterung über den Leser ausschütte. Zwar stellten etwa auch Shakespeare und Molière, letzterer etwa im Geizigen, hässliche Menschen dar, diese Figuren dienten aber zur Veranschaulichung des Allgemeingültigen. Zielloser Hass sei als Grundlage für Literatur völlig ungeeignet, da das Niedrige, Feige oder Lächerliche, das er [ = Sternheim, CJ] aufzeigt, [...] immer nur für die betreffende Figur, den betreffenden Auftritt verbindlich [bleibt]. Der Spott Sternheims stößt nicht ins Typische vor. Man lacht über die Verschrobenheiten seiner Familienvorstände, über die Machenschaften seiner Emporkömmlinge, über das Muckertum seiner Offiziere und Parteisekretäre, weil sie einen sozusagen rein privatim ergötzen. Zwar öffnet sich hinter ihnen der Hintergrund einer Zeit, aber eben auch nur dieser, nicht der Ausblick in menschliches Allgemeinschicksal. Der Zuschauer lacht vor diesen Komödien wie der Dichter selbst: boshaft und mitleidslos. Der Zuschauer wird Partei. Wir erleben bei uns Triumphe, die nicht der 32 33 34
Ebenda: 45. Ebenda: 46. Ebenda: 47.
182 Anteilnahme, die nur Rachegefühl entspringen. Die Befriedigung bleibt in Schadenfreude stecken. Wir sättigen uns an Tendenzkunst, der Gattungen peinlichste.35
Huebners Ansichten zu Sternheims Werk waren seinerzeit nicht neu. Sternheims Komödien lösten vehemente Kritik aus durch den provokativen Stil und die Radikalität der Kritik an den bürgerlichen Wertvorstellungen der Wilhelminischen Epoche wie der Weimarer Republik. Man war entweder von seinem Werk begeistert oder man lehnte es komplett ab. Hier wurden grundverschiedene Ansichten über Sinn und Zweck der Literatur manifest: eine stark von idealistischen Leitwerten des 19. Jahrhunderts geprägte Literaturauffassung steht einer Überzeugung gegenüber, die die überlieferten Ideale als hohl, als wirklichkeitsverfälschend ansieht. Huebner tendiert, in dem ihm eigenen Gemisch aus Gnosis, Expressionismus und Gemeinschaftsethik, zur idealistischen Seite. Bei Huebner spürt man die Neigung, Sternheim Nihilismus vorzuwerfen und ihm jegliche Wertorientierung abzuerkennen. Damit wird er dem zeitkritischen Autor aber nicht gerecht: nicht die Normbindung sondern die Normstruktur hat sich bei Sternheim geändert. 36 An die Stelle von ontologischem, naturhaftmetaphysischem Denken tritt eine historische, auf die Individualität gerichtete Normbildung. Huebner erkennt allerdings nur die zerstörerische Radikalität (wie etwa den „Kampf den Metaphern“) von Sternheims parodistischen Stücken, nicht aber dessen Bemühen, auf den Ruinen neue Werte aufzubauen. Sternheim forderte den Zuschauer auf, Partei zu ergreifen, damit dieser von der Verlogenheit bestimmter Ideale überzeugt würde; Huebner strebte jedoch nach Einheit und die Idee einer trennenden Partei war ihm zuwider. Die Niederlande als Vorbild: Niederländer und Flamen (1943) und Holländer (1955) Huebners literarisches Werk steht eindeutig im Schatten seines Zugangs zur Welt und seiner Ausstellungen und Bücher zur Kunstgeschichte. Es scheint, als hätten die Autoren des „magischen Realismus“ Huebners „Ratschläge“ zur Sprache und Literatur besser beherzigt als der Autor selber, der in seiner Romantrilogie über die Niederlande, „Im Lande der Windmühlen“, oft ins klischeemäßige verfällt, in Trivialitäten stecken bleibt, und dabei die übergreifende Perspektive aus den Augen verliert. Der erste Teil der Trilogie, Satan 35 36
Ebenda: 48-49. Freund 1985: 27.
183 im Tulpenfeld, gilt als der schwächste Teil, dem literarisch nichts abzugewinnen ist.37 Als bester Teil sind die Sterne über Amsterdam anzumerken. Van Gemert38 wies bereits darauf hin, dass Huebners Darstellung der Niederländer in den Romanen kein Selbstzweck sei, sondern als Vehikel für seine Ansichten zum Ordnungssinn und zum Schicksalshaften diene, die er in den bereits erwähnten und in einigen anderen Schriften dargelegt habe. In seiner Deutung des niederländischen Volkscharakters geht Huebner ähnlich vor. Mitten im Krieg, im Jahre 1943, erschien in der von Franz Thierfelder herausgegebenen Reihe „Umgang mit Völkern“ als 7. Band Niederländer und Flamen (1943); Huebner bemüht sich hier, auf die ihm eigene, das Übersinnliche nachspürende Weise, den Volkscharakter der Niederländer zu ermitteln. Er will das gängige Klischee des Niederländers als nüchtern-sturen Typs widerlegen, ihm unter die Hülle schauen, und damit zum besseren Verständnis des Niederländischen bei den Deutschen beitragen. Umgekehrt aber, und dabei hatte Huebner sich ganz dem Zeitgeist angepasst, sollten Flamen und Niederländer sich an der deutschen Kultursendung beteiligen und seien „die beiden niederländischen Volksstämme im völkischen Sinne zu sich zurück und im europäischen Sinne zur treuen Gefolgschaft der neuen germanischen Gemeinschaft zu führen“.39 Aus der Neuauflage von 1955, der schlichtweg Holländer heißt, ist diese Passage gestrichen, wie überhaupt die ganzen Erörterungen zu den Flamen. Es erinnert nichts mehr an die vormaligen Vereinnahmungstendenzen in der Erstfassung, im Gegenteil: Deutschland sollte jetzt als eine Art der Wiedergutmachung, aber auch zu seinen eigenen Gunsten, Holland zu Diensten sein. Da dieses 1949 seine wichtigsten Kolonien verloren hatte und zur Sicherung seiner wirtschaftlichen Stellung jetzt auf die europäischen Nachbargebiete angewiesen sei, sei Deutschland dazu verpflichtet, dem Hinterland Beistand zu leisten: „durch Anpassung an die holländischen Bedürfnisse, durch ein Eingehen auf die holländische Eigenart“,40 damit wenigstens ein Teil des im Zweiten Weltkrieg durch die Deutschen zugefügten Schadens behoben werde. In der Neuauflage beschränkt Huebner sich ganz auf Holland als Zentrum der Niederlande und auf die Holländer als die Träger der niederländischen Eigenart und der geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen des Landes. Am Rande nur sind die 37 38 39 40
Van Gemert 2004: 135-145. Van Gemert 2004 weist hin auf Huebners Aufbruch ins Unbekannte. Schicksalshingabe und Schicksalsbemeisterung (1933). Huebner 1943: 48. Huebner 1956: 32.
184 konfessionellen Eigenheiten, wie etwa die in verschiedene Denominationen gespaltene protestantische Kirche und der holländische Handelsgeist Gegenstand der Darstellung, die Charaktereigenschaften jedoch bilden eindeutig den Schwerpunkt. Holländer, so Huebner, fühlen sofort, woher jemand komme, und erkennen ihre Landsleute im Ausland sofort: Holländer sind nun einmal – und dies ist ein allen gemeinsamer Wesenszug – scharfe Beobachter. „Hollanders kijken graag“ (Holländer gucken gern) ist eine Regel, die für jung und alt, für den Landmann wie für den Städter, für den Kleinen wie für den großen Mann gilt. Ungewöhnliche, wenn auch nicht ganz nichtige Vorgänge verursachen unmittelbar Straßenaufläufe; das „Kijkspel“ der Sportveranstaltungen, namentlich der Fußballwettkämpfe, zieht ungeheuere Zuschauermassen in die Stadien der Städte; Kunst und „Inboedel“, (Inventar-)Versteigerungen werden von Scharen überlaufen, die nichts weiter als „eventjes kijken“ wollen.41
Keine „abgeschmackte Neugier“,42 so Huebner, sondern eine den Holländern eigene, ungemein klare Sehkraft und ein damit einhergehender „Erfahrungstrieb“ erklären das große Interesse für die Umwelt; nicht ganz zufällig sei Holland das Land der großen Maler. Huebners Kunstverständnis beschränkt sich hier allerdings auf die figurative Malerei; die abstrakte Malerei dagegen ist ihm zuwider. Als Beispiele für die „in der völligen Unfruchtbarkeit versandende abstrakte Malerei“ nennt Huebner “die Strich- und Kästchengebilde“43 von Pieter Mondriaan und Theo van Doesburg. Kunst sollte, so Huebner, immer eine klare Beziehung zur Wirklichkeit haben. Diese sei der abstrakten Kunst jedoch völlig abhanden gekommen, denn sie stelle nichts dar: „Der Holländer“, so glaubt Huebner, wolle nicht „einer Idee, einem Gesetz oder einer abstrakten Regel, sondern dem betreffenden Gegenstand [...] in seiner sinnfälligen Tatsächlichkeit auf den Grund kommen“.44 Durch die hohe Bevölkerungsdichte seien, so Huebner, die Holländer gleichsam gezwungen, genauestens zu observieren und ausgeprägte Menschenkenntnisse zu entwickeln. So ließen sich Spannungen und Konflikte vermeiden. Neben den Menschenkenntnissen sei es seine Sprachbegabung, die den Holländer schnell in Kontakt mit Ausländern bringe, die er zudem instinktiv rasch durchschaue: Die Redeformel „Ik heb hem door“ bringe diese 41 42 43 44
Ebenda: 5-6. Ebenda: 6. Ebenda: 6-7. Ebenda: 7.
185 Begabung auf den Punkt. 45 Huebner betrachtet das „ZehneinhalbMillionen-Volk“ als „eine einzige große Familie, die in all ihren Gliedern, sei es durch weit zurückliegende oder jüngst geschlossene Heiraten, verwandtschaftlich verflochten ist“ und sich gerne beim „Genuß von Tee und „Koekjes“ über die Verwandtschaft unterhalte.46 Er will so mit dem – übrigens auch von holländischer Seite kultivierten – Klischee aufräumen, Holländer seien nur „kühl und nüchtern“: in Wirklichkeit pflegten sie warme, menschliche Beziehungen und könnten gar verstimmt sein, wenn Ausländer ihren Landsleuten übel nachredeten. Huebner konstruiert das Bild des „instinktiv“ – ein Lieblingswort Huebners – handelnden Holländers, der keine genauere Analyse seines Verhaltens braucht. Dem Holländer sei seine psychologische Fähigkeit gar nicht so ganz bewusst. Die moderne psychologische Forschung komme denn auch nicht aus Holland, sondern aus Amerika und Deutschland. Für den Holländer sei „die schulmäßige Unterbauung seiner Menschenkenntnis“47 im Grunde gar nicht nötig; er übe sie als etwas Selbstverständliches, das er nicht in einzelne Teile zergliedern möchte. Weil der Holländer sich nicht gern bloßstelle, gebe es auch keine großen nationalen Kritiker wie man sie wohl aus Deutschland, Frankreich und England kenne. Eine niederländische Variante von Friedrich Nietzsche, George Bernhard Shaw oder André Gide sei in Holland undenkbar. Unter sich üben Holländer zwar Kritik aus, nach außen hin allerdings wahren sie Ruhe und zeigen sie sich als eine „einzige geschlossene Front überzeugter Vaterlandsfreunde“, nicht aus Chauvinismus, sondern weil sie gelernt hätten, „die schmutzige Wäsche öffentlicher Skandale“ im Stillen zu waschen, damit die schwarzen Seiten eines Volkes „unter Verschluß“ blieben und dem öffentlichen Ansehen kein Schaden zugefügt würde.48 Auch hier fungiert Deutschland wieder implizit als Kontrapunkt: die Ruhe und Ordnung, die Niederländer an den Tag legten, um destruktive Kräfte und Chaos keine Chance zu lassen, fehle den Deutschen. Huebner hält den Deutschen vor, dass sie die als Folge der Besatzung verlorengegangene Sympathie wieder zurückgewinnen könnten, unter der Bedingung, dass sie sich den Verhaltensweisen des Holländers anpassen würden. Der Holländer sei dem „Draufgängertum der Deutschen“ abgeneigt und berate sich lieber 45 46 47 48
Ebenda: 8. Ebenda: 8. Ebenda: 11. Ebenda: 13.
186 stundenlang, als dass er voreilige Schlüsse ziehe.49 Die Geduld bei Verhandlungen und seine Kompromissbereitschaft seien typische Eigenschaften des Holländers, die ihn zum geborenen Vermittler und Zwischenhändler machen würden. Aus dem phlegmatischen Holländer, in älteren Darstellungen oft im spöttischen Sinne benutzt,50 macht Huebner einen „gemächlichen“ Typ. Die holländische Duldung gründe sich nicht auf „Temperamentsschwäche oder Lauheit des Glaubens“, denn in der „Vergangenheit “ seien sie „überaus gefürchtete Raufbolde“ gewesen. Der Holländer habe seine milden Tugenden erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. Wahrscheinlich will er den Deutschen vorhalten, dass auch sie des erasmischen Geistes teilhaftig werden könnten – wenn sie nur wollten. Teil dieses Geistes ist die Abneigung gegen totalitäre Ansprüche und das Fehlen von Ehrfurcht vor Obrigkeitsorganen. Huebner bringt die „Gesamtheiten der Tugenden“ in Holland auf die Einheitsformel eines „redlichen Bürgersinns“, für den er Beispiele anführt, die sich nach heutigen Ansichten als allzu idyllisch anhören. So wird etwa die holländische Höflichkeit im Verkehr gerühmt. Die Abwicklung von Unfällen unter Radfahrern, die durch die Dichte des Verkehrs häufig vorkämen, verlaufe ohne Streitereien und Beschuldigungen, Taxichauffeure versuchten einander nicht unter höhnenden Zurufen zu überholen.51 Auch heute noch erkennbar aber sind Huebners Beobachtungen zu den Amsterdamer Schaffnern, die „bei der Bedienung der Fahrgäste gern witzige Randbemerkungen“ machen würden. Der Bürgersinn schlägt sich, so Huebner, auch nieder in der Wohnkultur. Beim Blick durch die „von Vorhängen kaum jemals verhüllten Fensterscheiben“52 staune der ausländische Gast immer wieder über die in der Wohnung und der Küche herrschende Sauberkeit und Ordnung. Über Gemälde als beliebte Innenausstattung der holländischen Wohnungen kommt Huebner zum Thema Kunst. In den Erörterungen dazu fungiert Ordnung wieder als Leitmotiv. Die holländische Kunst verfolge in erster Linie keine ästhetischen Ziele, sondern möchte erbaulich sein, manchmal sogar in erschütterndem Maße, wie bei den drei bedeutendsten Vertreter der Malerei, Hieronymus Bosch, Rembrandt und Vincent van Gogh ersichtlich werde, die durch „das ungehemmte Furioso, mit dem sie ihr Tiefstes entblößen“ jedoch als Außenseiter zu betrachten seien. Gemäßigter Art seien die Werke von 49 50 51 52
Ebenda: 14. Vgl. dazu u.a. Meyer 1963: 202-224. Huebner 1956: 19. Ebenda: 20.
187 Johannes Vermeer, Jan Steen, Albert Cuyp, Jakob und Salomon van Ruisdael aus dem „Gouden Eeuw“, dem goldenen, 17. Jahrhundert. Die Ausrichtung auf “Reinlichkeit, Ordnung und Maß“ finde sich auch in der Literatur wieder: im Vergleich etwa zu den großen Werken etwa der skandinavischen und russischen Literatur würde man in der niederländischen Literatur große seelische Konflikte vermeiden, was auch der Grund dafür sei, dass das Theater, das ohne „dramatische Zwangs- und Verzweiflungslagen“ nicht auskomme, in Holland keine besondere Stellung einnehme.53 Huebners Technikskepsis spiegelt sich in seinen Erörterungen zum holländischen Verhältnis zu Industrie und Landwirtschaft wider. Zwar hätten Maschinen in weiten Bereichen der Arbeitswelt eine wichtige Funktion eingenommen, die Holländer hätten jedoch gelernt, damit menschengerecht umzugehen. Sie ließen sich nicht zu Sklaven der Technik machen, sondern stellten die Technik in ihre Dienste. Huebner schildert Arbeiter, die in den Fabriken gemächlich ihrer Arbeit nachgingen, und beschreibt eine Landschaft, die von den Industrieanlagen nur bedingt berührt worden und nicht der Zerstörung anheim gefallen sei: „Wie in den Stuben der Holländer ist auch hier im natürlichen Großraum alles sauber und ordentlich“.54 Huebner räumt ein, dass Industrialisierung und Intensivierung der Landwirtschaft der starken Bevölkerungszunahme wegen erforderlich seien, glaubt aber, dass diese Veränderungen in der Landwirtschaft nach außen hin im Verborgenen blieben: Für die Belehrung der Viehzüchter, der Getreidebauern, der Obst-, Gemüseund Blumengärtner über Tier- und Pflanzenkrankheiten, Düngemittel und Sortenverbesserung gibt es zwar modern ausgestattete Unterrrichtsanstalten [!] und Versuchsstationen (Landbauhochschule Wageningen), aber draußen unter dem unendlichen Himmel spielt sich das Landleben in den altüberlieferten Formen ab. 55
Huebners Darstellung der Niederlande (er spricht zwar von Holland, bezieht den Rest des Landes aber regelmäßig mit ein) gewährt interessante Einblicke in ein Land, das spätestens seit den sechziger Jahren in dieser Form nicht mehr existierte. Huebner schreibt flott, stellt bestimmte niederländische Eigenheiten treffend dar, kann einen gewissen kleinbürgerlichen Geist allerdings nicht verbergen. Zwar sind die Niederlande erst in den sechziger Jahren richtig in den Griff der Individualisierung, Frauenemanzipation und Multikulturalisierung 53 54 55
Ebenda: 23. Ebenda: 26. Ebenda: 27.
188 gekommen, wodurch es spätestens damals nicht mehr möglich war, von dem Typ des „Holländers“ schlechthin zu sprechen; dennoch wird Huebner auch den Niederlanden der fünfziger Jahre nicht ganz gerecht. ‚Technik’ ist für Huebner ein Schimpfwort, Natur, Ruhe und Ordnung sind sein Steckenpferd. Mittlerweile hatte sich das Land allerdings in einen Industriestaat transformiert, die Kolonialzeit näherte sich ihrem Ende und das Fernsehen begann gerade seinen unaufhaltsamen Siegeszug: die ersten beiden Entwicklungen nimmt Huebner zwar wahr, dennoch passen diese Entwicklungen nicht in sein Bild der Niederländer als Handelsleute und Kolonialherrscher. Huebner wollte gar kein soziologisch-wissenschaftlich fundiertes Bild der Niederländer skizzieren. Der Zweck des Bandes Holländer in der Reihe „Umgang mit Völkern“ war ein anderer und ein doppelter: das Werk fungiert einerseits als ein Podium für seine von Expressionismus und Esoterik geprägten, intuitiv hervorgerufenen Ansichten, anderseits sollte den Deutschen über diesen Weg Verständnis für die Niederländer und ihre Kraft des Schauens beigebracht werden. Ganz zum Schluss wird noch einmal klar, dass Huebner die holländische Mentalität den Deutschen, und auch sich selbst, der sich im Dritten Reich verirrt hatte, als ein nachahmenswertes Fremdbild vorhalten will: Die vier Dominanten des holländischen Daseinsverhaltens – der kluge Wirklichkeitssinn, die prüfende Menschenkenntnis, die gelassene körperliche und willensstarke Ausdauer, das bedachtsame, nicht ins blaue hinein zielende Planungsgeschick – bilden eine charakterliche Mitgift, mit der die anderen zu rechnen haben, und aus der namentlich der labiler angelegte Deutsche in seinem Umgang mit Holländern mancherlei Nutzen ziehen kann.56
Somit schließt Huebner sich seiner eigenen Definition von großer Dichtung im Zugang zur Welt an, die besagt, dass es bei der Beschreibung einer Nation nicht um Wahrheitstreue, sondern um Darstellung einer „Einheit“, um mythische Eigenschaften, handle: Große Dichtungen vollenden, was den Völkern und Nationen innerhalb ihrer tagtäglichen Existenz nicht möglich ist: Sie sammeln nicht so sehr deren reale als deren mythische Eigenschaften zur Synthese. Die Epen Homers bilden im Dasein des griechischen Volkes nicht ein beiläufiges Erzeugnis neben vielerlei anderen, keine bloße Illustration, sondern den Schlußstein.57
56 57
Ebenda: 32. Huebner 1929: 51.
189
Schlussbetrachtung In den letzten Jahren seines Lebens setzt Huebner seine Suche nach Ruhe, Ausgleich und Entspannung fort. Niederländische Kunst und Literatur beobachtet Huebner aus der Perspektive der Ganzheit und der Naturgebundenheit. In einem Aufsatz 1960 über „Hollands heutige Dichter“ in der Zeitschrift Die Warte. Monatsschrift für Literatur und Kunst lehnt Huebner die damals umstrittene literarische Erneuerungsbewegung der „Vijftigers“ (50er) wegen ihrer Willkür und dem Fehlen einer Beziehung zur Natur dezidiert ab. Vorwürfe, die im Zugang zur Welt bereits dem Dichter Carl Sternheim galten und in Holländer Mondriaan und Doesburg. Die Gedichte der „Vijftigers“ bildeten, so Huebner, [...] in gewissem Sinne [...] das Seitenstück zu den gegenstandslosen Malereien der Mondriaan und Doesburg. Auch der Dadaismus deutscher Observanz, mit deren Bestrebungen diese experimentierende Lyrik in gewissem Sinne auf die gleiche Stufe zu stellen ist, war ja alles andere als ein Dichten aus den sprachlichen Ursprüngen. Willkür, Gesuchtheit, Liebäugelei mit dem verblüffenden oder abgeschmackten, lagen dick obenauf. Bei Bert Schierbeek, Hans Loodhuyzen [Lodeizen?], Remco Campert, Lucebert, dem Anführer der experimentierenden Avant-Garde [der Vijftigers], verhält es sich nicht anders. 58
Huebner entscheidet sich für eine ältere Tradition, in der „die holländische Eigenart“ spürbar sei und die sich „sowohl im Gegenstand wie in der Sprache an das Vorbild der natürlichen Umwelt“ hält. Als deren Repräsentanten galten Albert Verwey, P.C. Boutens, J.H. Leopold, Jan Prins, P.N. van Eyck und J.C. Bloem, von denen 1960 nur letzterer noch lebte. Eine Mappe mit Zeitungsausschnitten von Anfang der sechziger Jahre über Autoverkehr, über das Problem der Ausflügler, die sich am Straßenrand niederlassen, über den Einfluss des Fernsehens, dazu die ersten Entwürfe zu einer Schrift unter dem Arbeitstitel Brot der Stille, zeigen Huebners letzte Bemühungen, das rasante, laute Nachkriegsleben durch besinnungsvolle Ratschläge abzubremsen. Der Mensch habe, so Huebner, den Kontakt zur Natur verloren: “der Ausflug in die Natur endigt mit Fernsehen. Geniesse die Natur”59 lautet eine der geplanten Kapitelüberschriften des Werkes, das nie zustande gekommen ist.
58 59
Huebner 1960. Erste Entwürfe zu Brot der Stille. In: RKD [3].
190 Huebner blieb bis zuletzt auf der Suche nach einer alternativen Lebensführung. Vierzig Jahre nach seinem Tode, zu Anfang des 21. Jahrhunderts, hätte Huebner bestimmt noch jede Menge Arbeit zu leisten.
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Archivmaterial Collectie Huebner. Abt. Moderne Kunst/Archivalia im „Rijksdienst voor Kunsthistorische Documentatie“ (RKD), ’s Gravenhage.
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„Trag doch van Heusen den halbsteifen Kragen …“ Werbeanzeigen in der Berliner Illustrirten Zeitung vom 16.5.1926 Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
Julia Bertschik „KOLPORTAGELITERATUR MIT HINTERGRÜNDEN“ ZUR PROBLEMATIK LITERARISCHER WERTUNG AM BEISPIEL VON VICKI BAUM (1888-1960) „Als wichtige Erzählerin[…] und Kommentatorin[…] der Zwischenkriegszeit [ist] [...] Vicki Baum noch immer zu entdecken“ - damit schließt 2001 ein vergleichendes Porträt der „Erfolgsschriftstellerinnen“ Gina Kaus und Vicki Baum. 1 Durch die literarhistorische Kategorisierung als erfolgreiche Unterhaltungsschriftstellerinnen erfuhren beide lange Zeit kaum wissenschaftliche Beachtung. Während dieser Zustand, „von der Germanistik hierzulande, wie man so schön sagt, gar nicht erst ignoriert zu werden“,2 für Gina Kaus derzeit noch andauert,3 lässt sich dies für Vicki Baum jedoch nicht mehr behaupten. Dabei verwundert es kaum, dass erste Anstöße zur neuerlichen Beschäftigung mit dieser Autorin, insbesondere zu ihrer Rolle im Literaturbetrieb der Weimarer Republik, von der amerikanischen Germanistik ausgingen. Im Rahmen genderorientierter Fragestellungen interessierte man sich hier - wie inzwischen auch in Teilen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft - für die amerika-inspirierte Massen- und Populärkultur dieser Zeit. 4 Dabei werden immer wieder - vor allem im deutschsprachigen Raum - Fragen der literarischen Wertung aufgeworfen. Unterstützt durch Vicki Baums rückblickende Selbsteinschätzung als „erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte“5 bewegten sie sich von Anfang an im Bereich der so genannten mittleren Sphäre. 6 Gemeint ist damit, wie 1 2
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5 6
Vollmer 2001: 57. So Werner Fuld 1989 in einer verdienstvollen Ehrenrettung von Vicki Baums internationalem Bestseller Menschen im Hotel (1929): Fuld 1989: 153. Vgl. allerdings: Capovilla 2004: v.a. 127-148. Vgl. hier v.a.: King 1988 sowie: Ankum 1998; Barndt 2003; Becker 1999/2000: 167-194; Bertschik 2000: 66-87; dies. 2003: 119-135; Nottelmann 2002. So Baum in ihren Lebenserinnerungen: Baum 1987: 377. Vgl. z.B. schon früh: Stromberg 1949: 3 („Sie [Vicki Baum; J.B.] überschreitet sie nie ganz, die unsichtbare Grenze zum gelobten Land der ‚großen Literatur’. Daß sie ihm oft nahe gewesen ist und mehr als einen Blick hineingetan hat, ist unleugbar“) oder: Lederer 1958: 3 („eine Mischung aus Kolportage, fundierter Reportage und Roman“). Unter Zuhilfenahme einer Formulierung Thomas Manns vom „Gutgemacht-
194 Christa Bürger es schon für Fremd- und Selbsteinschätzungen von Autorinnen der klassisch-romantischen Epoche aufgezeigt hat, eine weiblich konnotierte Form literarischer Normierung zwischen Autonomieästhetik und Trivialliteratur. 7 Gerade am Beispiel der massenliterarischen „Pionierin“ Vicki Baum8 soll hier hingegen eine Einschätzung dieser Autorin und ihrer ebenso gesellschafts-, geschlechter- wie medienthematischen Texte vorgeschlagen werden, welche die Autorität dieser beiden Säulen literarästhetischer Kanonisierung in Zweifel zieht. Dabei erweist sich einmal mehr Helmut Kreuzers Vorschlag zur Untersuchung trivial abgewerteter Literatur in ihrem soziohistorischen Bezugsrahmen als produktiv.9 Denn insbesondere für ein Verständnis der Texte Vicki Baums aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die dafür hier im Vordergrund stehen sollen, ist die Berücksichtigung literatur- und mediengeschichtlicher wie genderspezifischer Prozesse unabdingbar. Zwischen Wien und Hollywood: Biografischer und werkgeschichtlicher Überblick Schon ein Blick auf Vicki Baums Lebensstationen in Wien, Berlin und Hollywood zeigt dabei ihr Talent, zeitpolitische wie künstlerische Trends frühzeitig zu erkennen und mit ihrer persönlichen Lebenssituation erfolgreich zu verbinden: 10 Am 24. Januar 1888 wird Hedwig (Vicki) Baum als Tochter eines hypochondrischen Beamten und einer nerven- (später krebs-)kranken Mutter im Wien der k. und k. Monarchie geboren. Früh entdeckt sie Musik und Literatur als Ersatzwelten für ihre missglückte Kindheit. Autobiografische Erlebnisse dieser Zeit ebenso wie die glanzvolle Gegenwelt der Bühne bilden daher auch die ersten Erzählstoffe der inzwischen zur erfolgreichen Konzertharfenistin ausgebildeten Vicki Baum - so z.B. in ihren Romanen Frühe Schatten. Das Ende einer Kindheit (1914), Der Eingang zur Bühne (1920), Die Tänze der Ina Raffay (1921) oder in der Novellensammlung Schloßtheater (1921). Diese Texte entsprechen im Wesentlichen noch dem neuromantischen Stil der Jahrhundertwende. Mit ihrer Novelle Der Weg11 gewinnt Baum 1925
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Mittleren“ verwendet neuerdings Kerstin Barndt die Formulierung der „mittleren Sphäre“ explizit für Baums Werk: Barndt 2003: 46f. Bürger 1990: 31. Vgl. am Beispiel der (proto-)feuilletonistischen Prosa Caroline de la Motte Fouqués für diesen Zeitraum dagegen: Bertschik 2004. So nennt sie auch: Nottelmann 1998: 136. Kreuzer 1967: 173-191. Vgl. hierzu auch: Nottelmann 2000: 38ff. Vgl. zu diesem Text: Petersen 2001: v.a. 22-24.
195 schließlich den renommierten Kurzgeschichtenwettbewerb der Kölnischen Zeitung, deren Jury Vicki Baums literarisches Vorbild Thomas Mann vorstand. Erste Erfahrungen mit den Schreibpraktiken des Journalismus macht Baum in dieser Zeit ebenfalls. Denn für ihren ersten Mann, den Wiener Journalisten und Bohémien Max Prels, mit dem sie von 1906 bis 1910 verheiratet ist, übernimmt Vicki Baum zunehmend (und unter seinem Namen) die termingerechte Fertigstellung literarischer Artikel für Velhagen & Klasings Neue Monatshefte. Auch ihrem zweiten Ehemann, dem Dirigenten Richard Lert, den Baum 1916 in Deutschland heiratet und mit dem sie zwei Söhne hat, kann sie mit ihrer schriftstellerischen Arbeit aus einem finanziellen Engpass helfen: 1926 erhält die bereits erfolgreiche Romanautorin einen gut bezahlten Redakteursposten bei den populären Ullstein-Monatszeitschriften Die Dame und Uhu, obwohl sie sich eigentlich als Modezeichnerin beworben hatte. Bis 1931 reichen Baums Berliner Jahre, die sie im Nachhinein zu den „glücklichsten, interessantesten und fruchtbarsten“ ihres Lebens gezählt hat. 12 Initiiert durch eine zeittypische Imagekampagne des Ullstein-Verlags verkörpert sie dabei ab 1927 in geradezu idealtypischer Weise den temporeichen Lebensstil der „Neuen Frau“ in der Großstadtmetropole Berlin zur Zeit der Weimarer Republik.13 Dieses Idealbild der berufstätigen Frau und Mutter lässt sich kennzeichnen durch finanzielle Unabhängigkeit vom Mann, gleichberechtigte Kameradschaft in Liebe, Sexualität und Ehe, Befreiung aus einengender und unrationeller Mode durch kurze Haare und kniekurze Röcke, sportlich (Vicki Baum erhält Boxtraining) und weiblich zugleich. Auf ideengeschichtlicher wie ikonologischer Ebene wurde die „Neue Frau“ dadurch zum „Inbegriff Weimarer Modernität“ stilisiert, zum Symbol für die „Fortschrittlichkeit der Republik, ihre Urbanität und Technikbegeisterung, ihre Sachlichkeit und ihr demokratisches Profil“.14 Während sich für die Situation der meisten weiblichen Angestellten der Zwischenkriegszeit diese Vorstellung von weiblicher Modernität allerdings eher als Wunschbild denn als Realität darstellte, existiert mit Vicki Baum tatsächlich eine der wenigen Karrierefrauen dieser Zeit. Möglich wurde ein solcher beruflicher Aufstieg durch die steigende Industrialisierung und Kommerzialisierung des Presse- und Verlagswesens in der Weimarer Republik. Im Fall des finanzstarken Ullstein-Konzerns mit seiner 12 13 14
Baum 1987: 345. Vgl. hierzu ausführlich: King 1988; Bertschik 2000: 66ff. Frevert 1988: 25.
196 ständig erweiterten Palette von Zeitungs-, Illustrierten- und Buchprodukten wie deren interner Mehrfachverwertung führte es dazu, dass der Text als gut verkäufliche Ware über Gesinnung, Geschlecht oder Ausbildung der Autoren dominierte. Dies bedeutete eine Chance gerade für Frauen, denen traditionelle bürgerliche Tageszeitungen weiterhin eine Redaktionsmitgliedschaft vorenthielten.15 Baums Weg führt dabei bis nach Hollywood, wo 1931 ihr Bestseller Menschen im Hotel in Starbesetzung verfilmt wurde. Ein Jahr später wandert Vicki Baum mit ihrer Familie in die USA aus; 1938 erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. Noch vor der großen Emigrationswelle ab 1933 entscheidet sich die - nun auch international anerkannte - Starautorin jüdischer Herkunft aufgrund der radikalen Veränderungen des politischen Klimas in Deutschland zu diesem Schritt. Wie Recht sie mit dieser vorzeitigen Maßnahme hatte, zeigt sich gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten: Vicki Baums Werke werden verboten, die Autorin selbst - in Abwesenheit - mit einem Schreibverbot belegt.16 Auch im amerikanischen Exil bleibt Vicki Baum (die ab 1941 ihre Bücher auf Englisch verfasst) als eine der wenigen weiterhin erfolgreich. Denn sie kann hier zunächst, etwa mit dem Warenhausroman Der große Ausverkauf (1937) oder einem Roman über Imagestaltung und mediale Vereinnahmung einer Opernsängerin (Die Karriere der Doris Hart; 1936), an die populäre Großstadtthematik und die amerika-inspirierten neuen Frauentypen anknüpfen. Mit deren medienwirksamem Habitus und kunstseidenen Glamourträumen hatte Baum sich bereits in Berlin kritisch auseinander gesetzt. So vor allem in ihrem viel diskutierten Roman über die Naturwissenschafts-karriere einer allein erziehenden Mutter, Stud. chem. Helene Willfüer (1928), wie in ihrem modernen Metropolenkaleidoskop Menschen im Hotel (1929).17 Hier kombiniert Baum unterschiedlich repräsentative Figurentypen wie Erzählforme(l)n miteinander: vom Hochstapler bis zur alternden Tänzerin - vom Kriminalroman bis zum Melodram. Durch Reisen nach Bali, China, Mexiko und Thailand trainiert Vicki Baum darüber hinaus einen ethnologischen Blick. Ihn erprobt sie jedoch nicht nur an der (filmischen) Dokumentation von Exotischem,
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Vgl. hier ausführlicher: Bertschik 2003: 120ff. sowie: Todorow 1991: 84103; Schneider 2000: 93-114; Pänke 1977: 367-387. Vgl. zur Diskussion um Baums Exilstatus: Bell 1976: 247-258; Thunecke 1992: 134-153. Vgl. insbes.: Barndt 2003: 65-121; Nottelmann 2002: 140-195.
197 wie dem überlieferten Trance-Ritual des balinesischen Kristanzes,18 sondern wendet ihn ebenso auf ihre heimische, US-amerikanische Gegenwart an. Dies zeigen zumindest die detaillierten Beschreibungen von Gesellschaftsritualen und Dresscodes der Amerikaner in Baums postum erschienener Autobiografie Es war alles ganz anders (1962).19 Durch ihre Reisen erweitert Vicki Baum ihr Spektrum Ende der dreißiger Jahre zugleich durch die Genres von historischen und Tatsachenromanen. Wie in Kautschuk/ Cahuchu (The Weeping Wood) (1943/ dt.: 1945; 1952) erzählen sie z.B. die Transfergeschichte des Gummis aus der indianischen in die europäische Kultur als „inszenierte[s] Genre- und Image-Crossing“ zwischen Novelle, Entwicklungsroman, Kriegsroman, historischer Biografie, Familien- und Generationsroman, angereichert mit heterogenem Dokumentationsmaterial von der wissenschaftlichen Fachliteratur bis zum Werbeprospekt.20 Die so formal und inhaltlich angelegte Reflexionsmöglichkeit des kulturell, national und ethnisch Anderen beinhaltet hier im Sinne einer umfassenden Kapitalismuskritik - dabei eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus. In anderer Form hat Baum diese Thematik auch in ihrer Wiederaufnahme des Hotelmotivs - jetzt jedoch unter den Auswirkungen von Flucht, Vertreibung und Widerstand - verarbeitet (Hotel Shanghai, 1939; Hotel Berlin ’43/ Hier stand ein Hotel, 1944/ dt.: 1947). Mit dem Thema kultureller Alterität schließt sich zudem der Kreis zu Baums frühen publizistischen Interessen, wie sie sich in ihren lange übersehenen jüdischen Ghettogeschichten Im alten Haus und Rafael Gutmann dokumentieren (1910 bzw. 1911 im Magazin Ost und West veröffentlicht). 21 Vicki Baum stirbt am 29. August 1960 an den Folgen eines Haushaltsunfalls, den sie sich in der Küche ihres Hauses im kalifornischen Hollywood zugezogen hat. Im Unterschied zum Lob der linksgerichteten Exilpresse für Baums „realistische“ Erhebung „über das Niveau der Traumkonfektion“22 werden ihre Texte in (West-)Deutschland zu dieser Zeit als unpolitische Unterhaltungsliteratur vermarktet. Baums Romane erscheinen hier unter für die Nachkriegszeit typischen, (neu) übersetzten Titeln und Untertiteln wie Cahuchu. Strom der Tränen (1952) oder Die goldenen Schuhe (1959; 18 19 20 21 22
Vgl. hierzu den Nachlass Vicki Baums, archiviert von der Akademie der Künste, Berlin. Baum 1987: 410ff. Vgl. hier wie im Folgenden: Loster-Schneider 2002: 275-286. Vgl.: Brenner 1997: 101-121. Vgl. zu Baums Roman Die Karriere der Doris Hart so z.B.: Weiskopf 1960: 151 sowie allgemein auch: Erika u. Klaus Mann 1991: 306-309.
198 im Orig.: Theme for Ballet; 1958) - eine folgenreiche Entwicklung, denn bis in die 1980er Jahre hinein setzt sich diese Auffassung von der (minderwertigen) Trivialliteratur Vicki Baums damit auch in der Literaturwissenschaft fort. 23 „Vicki-Baum-Methode“: Ein Fallbeispiel Dass aber gerade das ironische Zusammenspiel unterschiedlicher Textsorten, Genres und Paratexte für ein Verständnis von Baums Literatur wesentlich ist, soll im Folgenden am Fallbeispiel weiblicher Imagemodellierungen in Vicki Baums bislang vernachlässigter Schönheitssalon-Komödie Pariser Platz 13 (1930) vorgeführt werden - einer furiosen Verbindung eigener Ullstein-Journalistik aus dieser Zeit mit dramatischer Fiktion. Exemplarisch kann hier ein zugleich demonstrativer wie untergründig kritischer Umgang mit typischen Frauenthemen wie Kleidung, Kosmetik und Schönheit aufgezeigt werden. Damit reagiert Baum auf die übliche Ghettoisierung von Frauen innerhalb der Redaktionen ebenso wie auf die Strukturen einer visuellurbanen Populärkultur,24 deren Oberflächen Baum sowohl perpetuiert wie dekonstruiert. Mit dem Komödientitel Pariser Platz 13 spielt Baum auf eine zeittypische Berliner Adresse für Kosmetikstudios an. In ihrem fiktiven Schönheitssalon wird dabei nach der berühmten, aus Amerika importierten „Helen-Bross-Methode“ verfahren, mit der Vicki Baum auf die weltweit erfolgreichen Kosmetikketten Helena Rubinstein und Elizabeth Arden anspielt. Bei letzterer ist Baum während ihres Amerika-Aufenthalts ein Jahr später sogar selbst zu Gast, um sich nach amerikanischem Vorbild, wie sie sagt, in eine ebenfalls Diät haltende, augenbrauenlose Platinblonde verwandeln zu lassen.25 Ihr so gewonnenes, neues Selbstbewusstsein ermutigt sie jetzt sogar dazu, sich jünger auszugeben als sie ist.26 In ihrer Komödie nimmt Baum diesen Vorgang bereits ironisch vorweg. Denn hier muss die Aus23 24 25 26
Vgl. hier v.a.: Bayer 1963; Holzner 1984: 233-250. Vgl. Todorow 1991: 94 und: Ward 2001: v.a. 81-91; 228-233. Baum 1987: 390; 423. Tatsächlich gibt Who’s Who zwischen 1934 und 1960 Baums Geburtsdatum mit 1896 statt 1888 an. Gesellschaftlich bedingte Altersprobleme der Frau ab vierzig sowie modisch-kosmetische Verjüngungsstrategien thematisiert Vicki Baum darüber hinaus in ihrem Artikel Apropos Alter... (Die Dame Febr. 1930, 18) sowie in ihrer Kurzgeschichte Omuna geht auf den Maskenball. Eine Faschingsgeschichte (Uhu Febr. 1927: 18-28; 125-128. Wiederabgedruckt u.d.T. The Masked Ball [Pictorial Review July 1933: 10f.; 60; 62]).
199 hängefigur des Instituts, die für ihr Alter von zweiundvierzig Jahren erstaunlich jugendlich aussehende, in Wirklichkeit allerdings auch erst vierundzwanzig Jahre alte Helen Bross aus Werbezwecken einen Altersschwindel zelebrieren. Laut Regieanweisung soll dafür ihre Schönheit „ein wenig auf das Plakatmässige überzogen“ wirken.27 Damit liefert Baums Text eine direkte Persiflage auf die im gleichen Jahr in ganzseitigen Anzeigen, z.B. in der Ullstein-Zeitschrift Die Dame, zu findende Arden-Werbekampagne mit dem Slogan „Elizabeth Arden die Schöpferin der nie alternden Frau“.28 Dass in Baums Komödie so außerdem lediglich eine Reklamefigur unter anderen agiert, wird in einem Gespräch mit Gigolo Pix deutlich, dem Begleiter der neuen Kundin Alix. Seiner Meinung nach sind Helen und er sich bereits begegnet, und zwar nicht im realen Leben, sondern auf virtueller Ebene: auf gemeinsamen, der zeitgenössischen Reklamepraxis entsprechenden Werbeplakaten nämlich. Im oberen Teil wirbt sie für die „Helen-Bross-Methode“, darunter ist Pix zu sehen mit dem Reklameslogan: „Der gut angezogene Herr trägt Hülsens halbsteifen Onyxkragen“ - eine Anspielung auf Werbung für die tatsächlich existierende Kragenmarke van Heusen.29 Doch nicht nur Helens Aussehen entspricht „so magazintitelblattmäßig, kitschig schön“ den eigenen Werbeplakaten, auch ihr theatralisches Auftreten mit perfekt einstudierten Schönheitstipps lässt sie als wandelnden „Helen Bross Prospekt“ erscheinen.30 Was dabei jedoch von ihr wie von den treu ergebenen Kundinnen propagiert wird, und zwar immer durch Anführungszeichen oder fingierte Seitenangaben deutlich als Zitate des Helen Bross Prospekts gekennzeichnet - es sind nichts weniger als Formulierungen aus Vicki Baums eigenen, Schönheitstipps anpreisenden Artikeln des Ullstein-Magazins Uhu. So finden sich die im Komödienrahmen jetzt ironisch als Phrasen ausgestellten Verhaltensregeln wie „Erstens ist die Liebe die kostbarste Medizin für die Schönheit“; „Eine Frau mit Verstand muß soviel Verstand haben, daß man den Verstand nicht bemerkt“ oder „Die müde Frau war eine Erscheinung des überwundenen neunzehnten Jahrhunderts“ bereits in Baums Ratgeberartikel Welche Frau 27 28 29
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Baum 1930: 17. Vgl. z.B. Die Dame 57 (Juni 1930), H. 19: 47. Vgl. Baum 1930: 39 sowie eine Werbeanzeige in der Berliner Illustrirten Zeitung 35 (16.5.1926) 20: 627 - ein paar Seiten vorher ist die erste Folge von Baums Roman Feme abgedruckt: „Trag doch van Heusen den halbsteifen Kragen [...]“. - Auch der Salonangestellte mit dem sprechenden Spitznamen Adonis soll, laut Regieanweisung in Baums Komödie, aussehen „wie eine Reklamefigur“(siehe Bild S.192 in diesem Heft) ; Baum 1930: 12. Baum 1930: 43; 17f.; 57; 67.
200 ist am begehrtesten?, der mit Baums modisch gestyltem Porträt im selben Jahr wie Pariser Platz 13 erscheint, sowie in ihrem Generationenvergleich Die Mütter von morgen - die Backfische von heute ein Jahr zuvor.31 Einzelheiten für die als wahrer Jungbrunnen verkaufte „Helen-Bross-Methode“, die von Make-up und Haarkoloration über spezielle Diäten, Massagen, Packungen und kleinere Schönheitsoperationen bis zur sogenannten Diathermie (einer damals modischen Wechselstrombehandlung) reichen, entnimmt Baum ferner ihrem gleichfalls mit dem eigenen Foto vermarkteten Uhu-Artikel Erfahrungen mit der Verjüngung von 1927. Die hierfür sogar im Selbstversuch getesteten Verjüngungskuren dienten ursprünglich als Vorstudien zu Baums ein Jahr später erschienenem Ullstein-Roman über die Chemiestudentin Helene Willfüer und ein von ihr erfundenes, verjüngendes Präparat. Doch gerade die von Baum in ihrem Artikel noch gepriesene, notwendige Anwendung der Verjüngungsmittel für eine „neue soziale Leistungsfähigkeit“ besonders der modernen, berufstätigen Frau, für welche die eigene „Fassade“ schließlich alles bedeute, 32 verweist auf eine weitere Verarbeitung dieses journalistischen Materials drei Jahre später in der Komödie Pariser Platz 13. Hier legt Baum diese These nahezu wortwörtlich einer allerdings ironisierten Alter Ego-Figur in den Mund, der hektischen Karrierefrau Alix. An ihr wird nun der mit der Schönheitsindustrie gleichzeitig einhergehende Zwang zur Kosmetik deutlich, wie ihn Kathy Peiss beschrieben hat: The new mass-market cosmetics industry celebrated itself as both cause and consequence of women’s modernity and emancipation. 33
Zwischen ihren beruflichen Terminen lässt sich Alix noch schnell bei Helen Bross verschönern, weil sie als moderne Architektin gleich in doppelter Hinsicht auf die perfekte Außenansicht von sich und von ihren zu vermarktenden Häusern angewiesen sei: Wenn meine Fassade nicht in Ordnung ist, läßt niemand bei mir bauen. Da haben Sie eines der großen Probleme der berufstätigen Frau: Wann soll man sich eigentlich den Kopf waschen lassen?34 31
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Vgl. ebenda: 34 (Helen Bross; in ähnlichem Sinne auch ebenda: 19; 57); 25 (Helen Bross); 67 (Stammkundin Katja) sowie: Baum (Okt. 1930), 69; 73 und: dies. (Febr. 1929), 47; 51f. Baum (Dez. 1927), 33; 37f.; 40f. Peiss 1998: 135. Baum 1930: 64. Zu einer solch technizistischen Analogie von Haus- und Gesichtsfassade als tatsächlichem Werbeslogan einer Elizabeth ArdenReklame im Magazin Uhu von 1931 vgl.: Ankum 1995: 181.
201 Trotz der anfänglichen Eifersüchteleien zwischen Helen Bross und Alix solidarisieren sich „diese beiden BERUFSFRAUEN“ am Ende, indem Baum sie den von beiden begehrten Pix unter sich aufteilen und sie dazu in einer karikierten synchronen Versöhnungsgeste gleichzeitig zur Puderdose greifen lässt. 35 Nach Helens kurzem, leidenschaftlichen Ausbruchsversuch aus ihrer permanenten Reklamerolle hat sie (laut Regieanweisung) bereits wieder „die Maske der Plakatschönheit“ übergestreift, die es ständig zu erneuern gilt.36 Denn der geliebte Pix, für den sie sogar ihren Altersschwindel offengelegt hat, entpuppt sich ihr gegenüber als bloß luxuriöse Attrappe.37 Mit Helens virtuosem Rollenspiel zwischen den weiblichen Imagines Femme fatale, Jungfrau und neusachliches Girl kommt Pix nicht zurecht, wie er selbst zugibt: Pardon - ich habe Dich nur einen Augenblick verwechselt. Dich mit Dir. Du verwandelst Dich zu oft. Gestern Nachmittag warst Du eine mondäne, große Frau - [...] Heute Nacht warst Du ein kleines, sehr schüchternes Mädchen [...] Heute morgen bist Du wieder etwas Anderes - [...] So etwas Kühles, Klares - ein Neutrum, das [...] punkt acht aufwacht.38
Das entlarvende Spiel mit verschiedenen Frauenbildern, ihrer medialen Vermarktung wie ihrer vorgeblich problemlosen Herstellbarkeit durch die Schönheitsindustrie kulminiert schließlich in der „große[n] Verwandlung“ einer hässlichen Schauspielerin in eine Kunstschönheit mit „Garboaugen“.39 Dieses Experiment soll den Ruf der „Helen-Bross-Methode“ wiederherstellen, der durch die Aufdeckung von Helens Altersschwindel ruiniert worden ist. Dass die hier zelebrierte, künstliche Verschönerung, die Vicki Baum in ihren 35 36 37
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Baum 1930: 120; 124 (Hervorhebung im Original). Ebenda: 57; 91; 121. Ebenda: 120 (Helen Bross über Pix): „Die Liebe ist auch nur eine Sache, bei der das Plakat mehr verspricht, als die Ware halten kann.“ In einem UhuArtikel vier Jahre zuvor hatte Baum hingegen noch von der ewigen Macht der Liebe geschwärmt, die trotz der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse durch Psychoanalyse und Biochemie ihren unergründlichen Zauber nicht verloren habe; vgl.: dies. (Nov. 1926): 86-91. Baum 1930: 98. Bezeichnend für die von Anfang an als klischeehafter „Roman in Fortsetzungen“ gezeigte Affäre zwischen den beiden ist außerdem, dass sie sich über die Auswahl von Parfüms mit werbetaktisch so verheißungsvollen Namen wie „Femme inconnue“ oder „Cette nuit ou jamais“ nähergekommen sind (ebenda: 41; 87f.). Ebenda: 124; 128. Wie aus der Korrespondenz zwischen Vicki Baum und ihrem amerikanischen Agenten hervorgeht, bestand 1935 zeitweilig sogar Interesse von Greta Garbo an Baums Komödie; vgl.: Vicki Baum-Archiv der Akademie der Künste, Nr. 88 (Brief v. Edmond Pauker an Vicki Baum v. 7.1.1935).
202 journalistischen Artikeln ja selbst propagiert hatte, jedoch wiederum nur Theaterschwindel ist, macht Baum durch einen markanten Hinweis in der Regieanweisung deutlich. Diese geht in ihrer Ausführlichkeit weit über eine rein technische Information hinaus und beinhaltet einen ebenso selbst- wie medienkritischen Kommentar. Die tatsächliche Darstellerin der Schauspielerin nämlich, darauf weist Baum hier ausdrücklich hin, muss ein hübsches Mädchen sein, das zuvor mittels verschiedener Requisiten, wie z.B. eines schlecht geschnittenen, schäbigen Mantels oder einer falsch aufgesetzten Baskenmütze, auf der Bühne einen hässlichen Eindruck macht, denn: Die Verwandlung einer schönen Schauspielerin in ein unscheinbares Wesen ist leicht. Aber die Verwandlung einer reizlosen Schauspielerin in eine überzeugende Schönheit ist technisch unmöglich. 40
Mit einer solch vollständigen Desillusionierung, die allerdings nur dem lesenden Publikum zuteil wird, spitzt Baum auf der Metaebene das zu, was sie ihre Protagonisten auf der Handlungsebene bereits erahnen lässt: dass „sogar der Schwindel nur Schwindel“ sein kann, dass aber das geraubte Vertrauen in einen Schwindel am allerschlimmsten ist.41 Denn Baums Figuren bewegen sich - analog zur Doppelstrategie von Elizabeth Ardens Image zwischen öffentlich propagierter „[p]ink femininity“ und innerbetrieblichem „tough manager“ - permanent zwischen Vorder- und Hinterbühne, zwischen „parfümierte[r]“ Rokoko-Atmosphäre des Schönheitssalons und sachlich-geschäftsmäßigem Ambiente des „gewissermaßen hinter den Kulissen“ liegenden Bürotrakts.42 Dass genau diese Art der Destruktion gängiger Zuschauererwartungen von Baum intendiert war, konnte bei der Premiere des Stücks 1931 an den Berliner Kammerspielen allerdings insofern nicht deutlich werden, als sich die ironischen Kommentare zum Bühnengeschehen nur über die nicht inszenierten Regieanweisungen bzw. im intertextuellen Bezug zu Baums eigenen Ullstein-Artikeln erschließen lassen. Die Komödie erweist ihre eigentliche Brisanz also erst als Lesedrama. Daher blieb auch der Theaterkritiker Herbert Jhering der oberflächlichen Handlungsebene verhaftet, wie seine vernichtende Kritik der Aufführung unter der Regie von Gustaf Gründgens bezeugt. Sie bot ihm Anlass, gleich über Baums gesamtes Schaffen das Verdikt 40 41 42
Baum 1930: 128f. So Helen Bross und die Stammkundin Katja; ebenda: 127; 107. Vgl. hier die diesbezüglichen Regieanweisungen: ebenda: 7; 27; 47 sowie: Peiss 1998: 80.
203 einer kosmetisch geschönten und „wohlig parfümierte[n] Literatur“ fragwürdig-trivialer Unterhaltung zu verhängen.43 Dabei legen in Baums Komödie Pariser Platz 13 die parodistisch überdehnten Figuren mit ihren reklametypischen Klischeevorstellungen in bewusst zitathaften Redewendungen doch gerade trivialliterarische Verfahrensweisen wie Figurentypisierung und -polarisierung, floskelhafte Sprache oder die Reproduktion tradierter Auffassungen offen. Die hintergründige Kommentarstruktur, welche selbst die Darstellungskonvention des Happy Ends ironisiert, unterläuft zudem eine für Trivialliteratur sonst übliche „Strategie der Bestätigung“.44 Dieses Verfahren ist für Baums Werk nicht neu. Schon einmal hatte die Autorin das Genre der Unterhaltungsliteratur bewusst mit Ironie versehen, was jedoch ebenfalls „kein Mensch [...] gespürt hat“, wie sie selbst in ihren Erinnerungen zugeben muss: Ihren ein Jahr zuvor erschienenen Erfolgsroman Menschen im Hotel hatte sie ursprünglich mit dem ironisch-kritischen Untertitel Ein Kolportageroman mit Hintergründen versehen. 45 Seine Streichung beim Übergang des Romans zur Dramenfassung wie zur Drehbuchversion Hollywoods ermöglichte jedoch eine „einzigartige [...] Wirkungsgeschichte, die auf einem gezielten Mißverständnis beruht“.46 Denn statt der von Baum geplanten Demontage zeitgenössischer Kolportageliteratur stand diese nun selbst im Mittelpunkt des Publikumsinteresses wie auch im Zentrum der Kritikerschelte. 47 In dieser „doppelte[n] Rezeptionsmöglichkeit“48 von Baums Texten liegt indes deren Erfolgsprinzip begründet, wie es sich schließlich auch nach Vicki Baums Auswanderung in die USA bewährte. Das erklärt jedoch ebenso die lang anhaltende Ignoranz der germanistischen Forschung. Denn Baums Prinzip einer „implizite[n] Ironisierung“ ist ihren Texten zwar eingeschrieben, lässt sich aber auch überlesen.49 So enthüllt sich in Baums Komödie Pariser Platz 13 der medienkritische Impetus ja erst im Zusammenlesen von 43 44 45 46 47
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Jhering 1961: 132f. Vgl.: Nusser 1991: 120. Baum 1987: 375. Fuld 1989: 158. Vgl. hier z.B. die Kritik an den (so nicht mehr bewusst ausgestellten) Klischeefiguren der Dramenfassung von Menschen im Hotel, inszeniert als „Kitschrevue“ am Wiener Volkstheater 1930: Ernst Lothar [d.i. Ernst Lothar Müller] 1930: 1. So beschreibt Ulrike Koller auch die Funktionsweise des trivial abgewerteten Frühwerks Wilhelm Raabes im 19. Jahrhundert; Koller 1979: 119f.; 127 (Hervorhebung im Original). Nottelmann 2002: 160; 167 (Hervorhebung J.B.).
204 dramatischem Haupt- und Nebentext, Figurendialogen und Regieanweisungen. Auch die Kombination von Titel und Untertitel des Bestsellers Menschen im Hotel bildet „in nuce die Doppelstruktur der Gesamterzählung und deren Strategie der Ambiguität ab“.50 Die so programmatisch angekündigte Differenz zwischen der Formel des Kolportageromans und dessen ironischer Variation kann aber - das zeigt die einseitige Wirkungsgeschichte dieses Textes schließlich auch - durchaus ignoriert werden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die weitgehend vorurteilslose Beschäftigung mit dem Phänomen der modisch-modernen Imagekonstruktion, ihren raschen Wechseln, Diskursüberlagerungen und neuartigen Vermarktungsstrategien Vicki Baum eine geschärfte Wahrnehmung für die massenkulturelle Entwicklung des Modernisierungsprozesses in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ermöglichte. Dies geschieht auf dem Hintergrund des typischen Dilemmas in einer modernen Massenkultur wie derjenigen der Weimarer Republik, deren Fusion von Kultur und Wirtschaft in der Unterhaltungsindustrie eine eindeutig wertende Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion, Original und Imitat, eigener und fremder Rede; zwischen medialer Vermarktung und einheitlich-individuellem Selbst, Produktwerbung und Selbstverwirk-lichung immer bedeutungsloser werden ließ. Vor diesem Hintergrund liefern gerade Baums Arbeiten für den Berliner Ullstein-Verlag, für den sie Image-„Verwandlung“, mediale Vermarktung und nicht zuletzt reale Karriere am eigenen Leib erfahren hat, einen innovativen Beitrag zu dieser von Benjamin ja treffend charakterisierten Situation des „Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Mit ihrer an Brecht erinnernden Taktik der Überbietung entlarvt Baum außerdem die neue Struktur massenhafter Literaturvermarktung durch publizistische Großunternehmen wie den Ullstein-Konzern - und zwar ohne dabei tradierte Diskursstrategien und humanistische Wertvorstellungen rehabilitieren zu müssen.51 So wird zugleich ein „gesellschaftliche[r] Erkenntniswert von Literatur“ erzielt.52 Wie insbesondere das Beispiel 50 51
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Ebenda: 169. Zu denken ist hier in erster Linie an Brechts „soziologisches Experiment“ des „Dreigroschenprozesses“ in den zwanziger Jahren. Denn im öffentlichen Konflikt um die Rechte an der Verfilmung von Brechts Dreigroschenoper wurde ebenfalls die beliebige Verwertbarkeit des einmal auf den Markt gebrachten Kunstwerks demonstriert; vgl.: Bert Brechts Dreigroschenbuch 1973: 117-176. Vgl. zu diesem Unterscheidungskriterium zwischen kritischer und affirmativer Literatur neusachlicher „Gebrauchsästhetik“: Becker 2000: 230f.
205 der Komödie Pariser Platz 13 gezeigt hat, führt dies im Falle der Autorin Vicki Baum zu intertextuellen Neuerungen im Sinne einer der zentralen avantgardistischen Forderungen: der Verschränkung von Kunst und Leben.53 Damit entsprechen solche Texte ästhetisch nicht einer zumeist ja weiblich konnotierten, zwischen Autonomieästhetik und Trivialliteratur angesiedelten „mittleren Sphäre“, sondern sie sind - als ein früher Ausdruck von Literatur im Medienzeitalter - jenseits dieser institutionalisierten Bereiche anzusiedeln. Literaturverzeichnis Ankum, Katharina von. 1995. ‚Motherhood and the „New Woman“: Vicki Baum’s „stud. chem. Helene Willfüer“ and Irmgard Keun’s „Gilgi - eine von uns“‘. In: Women in German Yearbook 11 (1995): 171-188. Ankum, Katharina von. 1998. Apropos Vicki Baum. Frankfurt/M.: Neue Kritik (= Apropos 13). Barndt, Kerstin. 2003. Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau (= Literatur-Kultur-Geschlecht 19). Baum, Vicki. November 1926. ‚Entlarvte Liebe. Die Chemie der Gefühle.‘ In: Uhu 3 (Nov. 1926), H. 2: 86-91. Ders. Febr. 1927. ‚Omuna geht auf den Maskenball. Eine Faschingsgeschichte.‘ In: Uhu 3 (Febr. 1927), H. 5: 18-28; 125-128 (wiederabgedruckt u.d.T. The Masked Ball. In: Pictorial Review 34 (July 1933) 10: 10f.; 60; 62). Ders. Dez. 1927. ‚Erfahrungen mit der Verjüngung. Ein Rundgang durch die Laboratorien einer neuen Wissenschaft.‘ In: Uhu 4 H. 3: 32-41. Ders. Febr. 1929. ‚Die Mütter von morgen - die Backfische von heute.‘ In: Uhu 5, H. 5: 46-53. Ders. Febr. 1930. ‚Apropos Alter...‘ In: Die Dame 57, H. 11: 18. Ders. Okt. 1930. ‚Welche Frau ist am begehrtesten? Eine Bilderreihe zu einem ewigen Problem.‘ In: Uhu 7, H. 1: 64-75. Ders. 1930. Pariser Platz 13. Komödie in 3 Akten (4 Bildern). Wien: Marton. Ders. 1987. Es war alles ganz anders. Erinnerungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
53
Zu Verschränkungsmöglichkeiten von Kolportage und Avantgarde bereits um 1900 vgl.: Storim 2002: 213-221.
206 Bayer, Dorothee. 1963. Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jahrhundert. Tübingen: Tübinger Ver. für Volkskunde (= Volksleben 1). Becker, Sabina. 1999/2000. ‚Großstädtische Metamorphosen. Vicki Baums Roman Menschen im Hotel‘. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5 (1999/2000): 167-194. Becker, Sabina. 2000. Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Köln, Weimar: Böhlau. Bell, Robert F. 1976. Vicki Baum. In: Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. 1: Kalifornien. T. 1. Hrsg. v. John M. Spalek und Joseph Strelka. Bern, München: Francke: 247-258. Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte, Materialien, Dokumente. 1973.Bd. 1. Hrsg. v. S. Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bertschik, Julia. 2000. Vicki Baum: Gelebter und inszenierter Typ der „Neuen Frau“ in der Weimarer Republik. In: Nora verläßt ihr Puppenheim. Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Hrsg. v. Waltraud Wende. Stuttgart, Weimar: Metzler: 66-87. Bertschik, Julia. 2003. ‚„Ihr Name war ein Begriff wie Melissengeist oder Leibnizkekse.“ Vicki Baum und der Berliner UllsteinVerlag.‘ In: Autorinnen der Weimarer Republik. Hrsg. v. Walter Fähnders und Helga Karrenbrock. Bielefeld: Aisthesis (= Aisthesis Studienbuch 5): 119-135. Bertschik, Julia. 2004. ‚„Sinnliche Zeichen“ - Dichtungssymbolik bei Goethe und Caroline de la Motte Fouqué.‘ In: Jahrbuch der Fouqué-Gesellschaft Berlin-Brandenburg 2004 [im Druck]. Internet-Publikation unter: http://www.goethezeitportal.de/db/ wiss/epoche/bertschik_zeichen.pdf (12.1.2004). Brenner, David A. 1997. ‚Neglected „Women’s“ Texts and Contexts: Vicki Baum’s Jewish Ghetto Stories.‘ In: Women in German Yearbook 13 (1997): 101-121. Bürger, Christa. 1990. Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart: Metzler. Capovilla, Andrea. 2004. Entwürfe weiblicher Identität in der Moderne. Milena Jesenská, Vicki Baum, Gina Kaus, Alice Rühle-Gerstel. Studien zu Leben und Werk. Oldenburg: Igel (= Literatur- und Medienwissenschaft 94). Ernst Lothar [d.i. Müller, Ernst Lothar]. 1930. ‚Theater als angelegter Bluff, oder: Wunschtraumerfüllung für Nähmädchen.‘ In: Neue Freie Presse. Morgenblatt (13.5.1930): 1-3.
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209
Leo Hirsch (1903 – 1943)
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Sitzung des Kulturbundvorstands 1939
Kerstin Schoor „Aber wenn ich dächte, das Leben, die Welt, die Menschheit ist Fortschritt...“1
DER JOURNALIST UND SCHRIFTSTELLER LEO HIRSCH (1903 – 1943) Möge uns aus der Revolution Religion kommen, Religion des Tuns, des Lebens, der Liebe, die beseligt, die erlöst, die überwindet. Was liegt am Leben? Wir sterben bald, wir sterben alle, wir leben gar nicht. Nichts lebt, als was wir aus uns machen, was wir mit uns beginnen.2 Gustav Landauer
Als Nelly Sachs 1940 buchstäblich in letzter Minute den Verfolgungen als Jüdin im nationalsozialistischen Berlin entkommen kann, befindet sich in ihrem Gepäck ein Empfehlungsschreiben an den Stockholmer Verlag Otto Bonnier, das der damals noch unbekannten Autorin den Übergang ins schwedische Exil erleichtern soll. 3 „Der 1
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Leo Hirsch an Rose Boekdrukker am 6.6.1942; Privatnachlass: A. Wolffs. Mein ausdrücklicher Dank gilt an dieser Stelle Abraham Wolffs (Beit Jizchak, Israel) und Joseph Rafaeli (Sde Jaakow, Israel), den Neffen Leo Hirschs, die mir den Zugang zu dem in ihrer Obhut befindlichen Teilnachlass des Autors ermöglichten und mich zudem in jeder ihnen möglichen Weise bei Recherchearbeiten unterstützt haben. Ebenso danke ich Kathrin Hermann (Berlin), Paula Radl (Berlin), Dr. Christian Jäger (Berlin) und Dorothea Salzer (Berlin) sowie den Mitarbeitern der Deutschen Bücherei in Leipzig, Helena Brännström von der Universitätsbibliothek Göteborg und den Mitarbeitern der Kgl. Bibliothek Stockholm für ihre freundliche und unkomplizierte Hilfe bei der Materialbeschaffung. Posthum gedacht werden soll an dieser Stelle der bereits verstorbenen Interviewpartner der Verfasserin, Hans Hirsch (1914 Breslau – 1997 Holon, Israel) und Erna Bose (1916 Breslau – 1993 Weimar), die als Cousin und Cousine Leo Hirschs durch ihre Zeitzeugenberichte das Andenken an den Autor lebendig hielten. Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus. Vorwort zur zweiten Auflage, 1978: XVII. Vgl. Kopie des Gutachtens an den Otto Bonnier Verlag vom 6.8.1939; Kgl. Bibliothek, Stockholm, Acc.-nr. 1982/23; Enar Sahlin. L. Hirsch äußerte hierin u.a. den Wunsch, dass sich für das dichterische Talent der Autorin „eine weitere und freie Lebens- und Wirkungsmöglichkeit schaffen lasse.“ Die Bekanntschaft L. Hirschs mit der Autorin lässt sich bereits für das Jahr 1932 nachweisen (vgl. L. Hirsch an N. Sachs am 13.9.1932; Kgl. Bibliothek, Stockholm, Acc.-nr. 1983/136; Gunhild Tegen). Auch N. Sachs schreibt am 27.1.1946 an Manfred George und Mary Graf in diesem Sinne.
212 Pilger“ – so beschreibt sie der schwedischen Schriftstellerin und Theologin Emilia Fogelklou-Norlind am 18. Juli 1943 den Verfasser dieses Schreibens: „Der Pilger: Redakteur am Berl. Tageblatt gewesen, schwer lungenkrank und wirklich einen Schimmer der Chassidim um sich verbreitend.“4 Nelly Sachs weiß zu diesem Zeitpunkt bereits von seinem Tod, – nichts Genaues jedoch, denn sie glaubt den ehemaligen Dramaturgen des Jüdischen Kulturbunds in Berlin und seit 1938 Mitarbeiter der letzten jüdischen Zeitung in Deutschland, des Jüdischen Nachrichtenblattes, irrtümlich deportiert und im Gas von Auschwitz ermordet.5 Zumindest dieses Schicksal ist Leo Hirsch, dem am 18. Januar 1903 in Posen geborenen Journalisten, Schriftsteller, Dramaturgen und Übersetzer, jedoch erspart geblieben. Durch ein altes Lungenleiden bereits geschwächt, starb er am 6. Januar 1943 auf der Tb-Station des Jüdischen Krankenhauses in Berlin an den Folgen der Zwangsarbeit.6 Seine Erzählungen, Kritiken und Berichte, „in ihrer Mehrzahl Meisterwerke eines begabten, jungen Menschen“,7 gerieten in den Nachkriegsjahren ebenso in Vergessenheit wie die Person des Autors. Die Initialen „L.H.“, von Nelly Sachs 1943 als eine ihrer Grabschriften in die Luft geschrieben der Titelzeile ihres Gedichts „Der Pilger“ hinzugefügt, müssen heute mühsam wieder entschlüsselt werden... 8
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Wenn sie dabei erwähnt, dass eine Sammlung ihrer Gedichte von L. Hirsch für die Insel zusammengestellt worden sei und schließlich nicht mehr erscheinen konnte (vgl.: Briefe der Nelly Sachs 1984: 45), war damit nicht, wie die Herausgeber vermuten, der Insel-Verlag gemeint, sondern „Die Insel“, eine Beilage des Berliner Tageblatt, bei dem Hirsch in diesen Jahren im Feuilleton arbeitete. N. Sachs an Emilia Fogelklou-Norlind, Stockholm, am 18.7.1943, in: Briefe der Nelly Sachs 1984: 30f. Vgl.: N. Sachs an Gudrun Dähnert geb. Harlan am 20.3.1947 und an Walter A. Berendsohn am 4.2.1959, in: Briefe der Nelly Sachs 1984: 74 und 204. Auf dem Totenschein wurde als Todesursache vermerkt: „Lungenleiden“. Leo Hirsch wurde am Freitag, den 15.1.1943, um 11 1/4 Uhr nachmittags auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben (Grab Nr.: 110525, Feld: A VI, Reihe: 15); Privatnachlass: A. Wolffs. Abraham und Juanita Wolffs ließen dem Autor 1991 einen neuen Grabstein setzen. Ernst G. Lowenthal: Ein „Baedecker durch das Judentum“, 1966. Das Gedicht „Der Pilger“ entstand im Umkreis des Gedichtbandes „In den Wohnungen des Todes“ und wurde schließlich nicht veröffentlicht. Es ist in der Kgl. Bibliothek in Stockholm bzw. in der Universitätsbibliothek Göteborg einsehbar. Auch eine Widmung, die Victor E. Wyndheim (d.i. Victor Klages; 1922 bis 1932 Redakteur am „Berliner Tageblatt“) seinem 1948 veröffentlichten Roman „Es geschieht“ vorangestellt hatte, erinnerte in den Nachkriegsjahren noch einmal an Leo Hirsch: „Dem immer gegenwärtigen einzigen Freunde LEO HIRSCH, der, schon vom Tode
213 Einen ersten Hinweis auf den Autor gibt zunächst die bislang einzige Wiederauflage einer seiner Publikationen in den Nachkriegsjahren: Unter dem Titel Jüdische Glaubenswelten veröffentlichte HansJoachim Schoeps 1962 noch einmal ein Buch, das er in den 30er Jahren von Leo Hirsch erbeten und als Praktische Judentumskunde 1935 in dem von ihm geleiteten Berliner Vortrupp Verlag herausgegeben hatte.9 Die Rezeptionsgeschichte dieser noch immer viel gelesenen „Einführung in die jüdische Wirklichkeit für jedermann“10 führt jedoch in eine Sackgasse, beförderte sie doch nach dem Zweiten Weltkrieg kurzschlüssig ein Bild von ihrem Verfasser als das eines „frommen Juden“11 aus dem Osten – und griff damit nicht nur zu kurz, sondern geradezu fehl. „Für das Buch war natürlich der Auftrag zuerst da, den ich aus „religiöser Abstinenz“ zunächst zweimal sehr dringend abgelehnt habe“, bemerkte Leo Hirsch in einem Brief vom 27. Mai 1935 an die bereits in Palästina lebenden Eltern.12 Als eine der wichtigsten geistigen Bezugnahmen seines Schaffens bezeichnete er selbst dagegen Gustav Landauer, der für sein Leben „von ungeheurer Bedeutung“ geworden sei. Er wäre sozusagen zur Welt gekommen, als Gustav Landauer starb, bekannte Leo Hirsch im März 1927 dem von ihm verehrten Freund Landauers, Martin Buber.13
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gezeichnet, in einer stillen Nachtstunde die entscheidende Anregung zu diesem Buche gab.“ (5). Vgl. Literaturverzeichnis. So der Untertitel des Bandes. Vgl. Frieda Hebel: „Kunde vom Judentum“, vom 29.10.1963 (loser Artikel im Nachlass des Autors, Zeitung bislang nicht nachgewiesen): „... sein Verfasser war Journalist, ein frommer Jude zeit seines Lebens.“ Auch in dem von Renate Heuer herausgegebenen Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (2002) heißt es zu Leo Hirsch in Bd. 11: 382: „kannte als frommer Jude die Gesetze und Bräuche seiner Religion genau“. L. Hirsch an seine Familie am 27.5.1935; Privatnachlass: A. Wolffs. Weiter heißt es darin: „Da der Verleger, ein Jugendführer, mir aber das Angebot zum dritten Mal machte, mir erklärte, es gebe niemand, der das Buch sonst schreiben würde, ich aber das Buch auch für nötig hielt und da schließlich und endlich der Gerichtsvollzieher von der Steuer, der Mietswechsel und andere Kleinigkeiten sehr dringend wurden, während der Verleger sagte, 200 M könnte er mir vorauszahlen, habe ich kurz entschlossen doch ja gesagt und angefangen.“ L. Hirsch („Berliner Tageblatt“) an Martin Buber am 26.3.1927; Jewish National and University Library (JNL), Jerusalem: Martin Buber Archive; Ms. Var. 350, Buber-Korr. 271,2. Auch in einem Brief der Mutter des Autors, Bertha Hirsch, an Herrn Lenz (Bertelsmann Verlag) vom 15.2.1966 heißt es über L. Hirsch: „Er kam während der Revolution nach München und stand stark unter dem Einfluss von Gustav Landauer u. seinem Kreis“; Privatnachlass: A. Wolffs.
214 Leo Hirsch war vermutlich erstmals 1920 bei einer Lesung Arnold Zweigs aus Landauers Shakespeare-Buch mit den Ideen Gustav Landauers in Berührung gekommen.14 Bereits 1924, in seinem Aufsatz über Landauer und Rathenau, schreibt er von dem Schriftsteller und libertären Sozialisten als „ein[em] Fundament des Lebens“. Landauer habe mit vierzig Jahren „so klar und wach den Feind, wie keiner noch Krieg und Kapital gesehen, und seine Stimme, die wie die Sonne flammt, ruft neue Menschen in neue Lande zu neuem Leben auf.“15 Wie bedeutsam Gustav Landauers Aufruf zum Sozialismus insbesondere für jene Intellektuellen wurde, die am Ende des Ersten Weltkriegs nach politischen Gegenentwürfen zu einer als chaotisch erlebten Gegenwart suchten und die philiströse Enge der bürgerlich-wilhelminischen Gesellschaft im Zeichen eines humanen, ethisch bestimmten Lebens für eine soziale Gemeinschaft aufbrechen wollten, erinnerte der Schriftsteller Manès Sperber noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Interview: Es war ein Sozialismus, bei dem das Wort Gemeinschaft eine größere Rolle spielte als Gesellschaft. Bei dem die einzelne Person, der einzelne Mensch, wichtiger war als die ganze Phraseologie [...] Das ist der klassenlose und vor allem auch der herrschaftslose Sozialismus. [...] Als wir im Mai 1919, einige Monate nach der Revolution ... , erfuhren, wie Gustav Landauer gefoltert und getötet worden war, wurden sein Beispiel, sein Buch, seine Worte mehr als das, was sie waren. Pascal hat gesagt: Ich glaube an die Zeugenschaft jener, die bereit sind, sich für ihre Wahrheit umbringen zu lassen. Landauer hatte einen Sozialismus entworfen, der sich an den Einzelnen wandte und die Menschen dahin führte, daß sie tatsächlich
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Vgl. Leo Hirsch: Landauer und Rathenau, 1924: 4. Das von Martin Buber 1920 in 2 Bänden herausgegebene „Shakespeare“-Buch (Frankfurt/M.) gilt als eines der bedeutendsten Werke Gustav Landauers. Arnold Zweig, der vermutlich aus dem neu erschienenen Band gelesen hatte und bei seinem Vortrag in den Zügen des Brutus ein Selbstbildnis Landauers erkannte, wurde dem Journalisten Leo Hirsch vier Jahre später zum Anlass seines Vergleichs von „Landauer und Rathenau“. Ebenda: 5. In ähnlicher Bildsprache und Stilisierung von Landauers Tod zu einem letzten Aufflammen und einem tiefgreifenden Einschnitt in jüdischer Entwicklung, zeichnete Leo Hirschs Gedicht „Jüdische Dämmerung“ (1925) in seiner zweiten Strophe den großen Sozialphilosophen und Rhetoriker: „Zuweilen scheint mir wohl die lange Bahn, / Die wir durchkämpft, sich blitzhaft zu erhellen. / Wenn leis dann neue Weltgedanken quellen, / Ist mir’s als wär’ der Männer Werk getan. / / Und abgetan. Und alle Männlichkeiten, / Die nur in einem noch einmal entflammt, / Ganz sonnengroß und doch schon tief verdammt, / Den man erschlug, verglommen und vergleiten. / / [...]“ (in: Das Dreieck. Berlin, 1.Jg. 1925 Doppelheft 4/5. Sonderheft: Die Lyrik der Generation: 29).
215 Gemeinschaften bildeten, ein System von Gemeinschaften, die sich ineinanderfügen...16
Bereits Leo Hirschs erster veröffentlichter und stark autobiographisch geprägter Roman Lampion (1928) beschrieb, vor dem Hintergrund einer skurrilen Liebesgeschichte im Nachkriegsdeutschland und den ehemaligen deutschen Gebieten des polnischen Ostens mit den Pogromen unter dem polnischen Pilsudski-Regime und der dadurch ausgelösten Fluchtbewegung jüdischer Bevölkerungsteile nach Deutschland, die weltanschaulich-politischen Selbstfindungsversuche des ostjüdischen Protagonisten Lampion. Wie der Autor mit 17 Jahren aus der geistigen Enge und vor den antisemitischen Ausschreitungen in der ehemals preußischen Kleinstadt Ostrowo zum Studium nach München übergesiedelt, begegnet Lampion dort selbst in den jüdischen Bevölkerungsteilen einem völligen Desinteresse an den Vorgängen im ehemaligen Osten Deutschlands. Als bei einem gemeinsamen Schabbatmahl mit dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde in München seine Aufklärungsbemühungen schließlich nicht zu einer erhofften Solidarisierung mit den östlichen Glaubensgenossen führen, sondern diese im Gegenteil eine diskreditierende Bewertung der revolutionären Erhebungen in Deutschland als „ostjüdischer Räterepublik“ zur Folge haben, erhebt sich Lampion totenblass und verlässt mit den Worten „Ich bin ein polnischer Jude!“ protestierend das Haus. 17 Das Erleben von Heimatund Ortlosigkeit sowie eine damit einhergehende Identitätssuche seiner östlichen Glaubensgenossen zwischen polnischer, jüdischer und deutscher Existenz bestärken den Protagonisten schließlich in seinem Zweifel an der Notwendigkeit nationaler Zugehörigkeit überhaupt, der das antistaatliche, anarchistische Moment eines libertären Sozialismus im Geiste Landauers bereits präsent hält. Eine damit korrespondierende soziale Utopie kann der Roman in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nicht mehr entwickeln. – „Illusion. Die Revolution, die nicht stattfand“, lautete in diesem Sinne bezeichnend der Titel 16
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Zit. nach: Alfred Mensak (Hrsg.), Siegfried Lenz: Gespräche mit Manès Sperber 1980: 37f. Auf Initiative des 1. bayerischen Ministerpräsidenten, Kurt Eisner, hatte Gustav Landauer in München zusammen mit anderen Schriftstellern für eine umfassende revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft gestritten und schließlich mit Erich Mühsam und Ernst Toller eine führende Position in der kurzlebigen, aber für die deutsche Geschichte einzigartigen Münchener Räterepublik (April 1919) übernommen. Nach seiner Gefangennahme wurde Landauer am 2.5.1919 von den gegen die Revolution herbeigerufenen „Weißen Truppen“ der Reichswehr bestialisch ermordet. Leo Hirsch: Lampion: 39.
216 eines von Leo Hirsch vermutlich ebenfalls in diesen Jahren verfassten und unpubliziert gebliebenen Romanmanuskripts, in dem die Anwesenden einer konspirativ anmutenden Erzählerrunde in einem alten Gasthof an teilweise dubios erscheinenden individuellen Schicksalen das Fehlschlagen der deutschen Revolution und den Verlust politischer Hoffnungen nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal eindringlich thematisierten. 18 In Leo Hirschs Roman Lampion kehrt die Hauptfigur nach dem Erlebnis in München noch einmal für kurze Zeit in die einstige Heimat zurück und verliert dort durch die Demütigung eines polnischen Offiziers seine junge Geliebte. Mitten in einen Pogrom geraten, betritt der verzweifelte Student nun im Tumult einer antisemitischen Versammlung in Ostrowo das Rednerpult und predigt den Tod Gottes und die Sinnlosigkeit menschlicher Existenz. Lampions Aufruf zum Freitod, der im Fortgang der Handlung schließlich fast zu seinem Todschlag durch die Menge führt, zitiert literarisch die Figur des Karl Starkblom aus Gustav Landauers erstem Roman Der Todesprediger.19 Wütend zerreißt Lampion dann auch nach der innerlichen Überwindung des Ereignisses Exemplare dieses Romans. Die sozialistischen Thesen Landauers lassen ihn jedoch nicht mehr los.20 In einer zwischen Traum und realem Geschehen oszillierenden Szene erlebt der 17jährige Student schließlich die Ermordung Gustav Landauers als Augenzeuge. Wenngleich erzählerisch noch wenig überzeugend und am Ende perspektivlos bleibend, verändert sich Lampions Lebensweg nach diesem Erlebnis grundlegend. Zunächst ein Suchender zwischen Herzl und Marx, sozialistischen Ideen seit langem nahestehend, sieht Lampion sich nun „genötigt, ein Revolutionär zu werden“: Dieser Mann, den sie auf dem Gefängnishof von Stadelheim bei München ermordet hatten, war Gustav Landauer. Man musste etwas tun. Es war ganz deutlich nun, man hatte gelebt wie ein Verbrecher. Es musste anders werden.21
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Leo Baeck Institute, New York: MS 191, AR 5864. Der Untertitel ist im Manuskript gestrichen. Die erste Auflage dieses Romans erschien 1893 im Verlag von Heinrich Minden, Dresden, die zweite Auflage, um ein „Nachwort“ erweitert, um 1903. Von Gustav Landauer selbst wurde er 10 Jahre nach Erscheinen als „weltabgewandter Anarchismus“ bezeichnet. Starkbloms Alternative im Roman war ein Sozialismus als Offenbarung des Menschheitsgedankens und als ein einmaliger und bewusster Willensakt des Individuums. Vgl. Leo Hirsch: Lampion: 126f. Ebenda: 134.
217 Hirschs literarische Figur Lampion vollzieht in dem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung, was der Autor selbst in den frühen 20er Jahren durchlebt hatte: die intellektuelle Trennung von seinem orthodox-jüdischen Elternhaus und die geistige Hinwendung zu einem Sozialismus anarchischer Prägung.22 „Die Gestalt des Lampion – bunt leuchtend und rasch abrennend – haftet in der Seele des Lesers“, vermerkte ein Rezensent der Berliner C.V.-Zeitung vom 5. April 1929 nachdrücklich, „weil ein Wesensgleicher sie schuf, der mit grausamer Selbstkritik, fast möchte man sagen im Selbstvernichtungstrieb, sein eigentliches jugendliches Ich der Welt preisgibt.“23 Gustav Landauers Traditionsverbundenheit und seine emotional identifizierende Beziehung zum Judentum, seine intellektuelle Bindung an die europäische und Weltkultur sowie seine sich in einer Philosophie der Tat manifestierende gesellschafts- und kulturkritische Haltung mögen dem sich aus traditioneller ostjüdischer Denkweise lösenden jungen Autor Leo Hirsch in den beginnenden 20er Jahren als Möglichkeit erschienen sein, jüdische Existenz und politisches Denken in moderner westlicher Zivilisation für sein Leben sinnvoll zu vermitteln. Nicht einmal 40 Jahre alt geworden, erscheint das Leben des Journalisten und Schriftstellers dabei in vielem exemplarisch für den Weg eines ostjüdischen Intellektuellen in die europäische Moderne – auch und gerade in dem sich noch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland fortsetzenden Versuch einer produktiven Verbindung jüdischer Tradition und deutscher Kultur. Sein umfangreiches publizistisches und schriftstellerisches Werk spiegelt dabei charakteristische Entwicklungen deutschsprachiger Kultur der zwanziger bis in die frühen dreißiger Jahre ebenso, wie es über einen Zeitraum von nur zwei Jahrzehnten die fortschreitende Zerstörung ostjüdischer Wirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt und nach 1933 in den Konstituierungsversuchen eines jüdischen Kulturkreises in Berlin und Deutschland entscheidende Bedeutung erhält. I. Aufgewachsen war Jizchak Arjei Leo Hirsch als ältester Sohn des Kolonialwarenhändlers Hermann Israel Zwi Hirsch und seiner Frau 22
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Ebenda. In einem Brief Bertha Hirschs an Herrn Lenz (Bertelsmann Verlag) vom 15.2.1966 hieß es auch über den Autor Leo Hirsch: „Die strenge Orthodoxie des Elternhauses lehnte er damals ab“; Privatnachlass: A. Wolffs. Th. Sch.: „Lampion. Ein kleiner Roman von Leo Hirsch“ 1929: 180.
218 Bertha Hirsch geb. Selka24 in einer orthodox lebenden jüdischen Familie in Ostrowo, einer damals preußischen Kleinstadt in der Nähe von Posen.25 Dort besuchte er auch das Gymnasium. Der von Hirsch als „[h]ässlich schmutzig, gesichtslos und ausgedehnt“26 beschriebene Ort im Kreis Aldenau war durch die verschiedenen Teilungen Polens häufig zum Spielball politischer Großmächte geworden und lange Zeit preußische Grenzregion nach Russland, in der polnische, deutsche und jüdische Nationalitäten aufeinander trafen. Ein schon in Hirschs frühen journalistischen Arbeiten erkennbares antistaatliches Kosmopolitentum hatte sicherlich hier bereits seine Wurzeln. Auch der Grundstein für Hirschs spätere Übersetzertätigkeit, der er sich ebenso wie Gustav Landauer intensiv widmete, wird im Vielvölkergemisch des preußisch-polnischen Ostens jener Jahre gelegt: Leo Hirsch beherrschte außer der deutschen und jiddischen Sprache ebenfalls das Polnische, sprach Englisch und ein wenig Russisch. „Alles ging gut bis zum ersten Weltkrieg“, erinnerte sich später Rose Wolffs, die Schwester Leo Hirschs. „Dann fielen nacheinander Brüder von Vater u. Mutter u. wir sahen sie oft schiwe sitzen.“27 Israel Hirsch selbst war 1914/15 eingezogen worden, kam 24
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Hermann Israel Zwi Hirsch (geb. 30.12.1878 – gest. 4.4.1947), Bertha Hirsch geb. Selka, geb. am 11.3.1879 – gest. am 17.07.1971. Rose Wolffs erinnerte sich an den Vater als einen Menschen „voller Güte, Humor und Toleranz.“ (Erinnerungen von Rose Wolffs, geschrieben für ihren Sohn; Privatnachlass: A. Wolffs). Nach Meyers Konversationslexikon von 1896 hatte Ostrowo 10328 Einwohner. Um 1890 waren davon 3328 Einwohner evangelisch getauft und 1080 Einwohner jüdischer Herkunft. Ostrowo war seit der ersten polnischen Teilung 1793 eine preußische Stadt und wurde während der napoleonischen Zeit ab 1808 mit der Provinz Posen dem Herzogtum Warschau angegliedert. Der Wiener Kongress beendete 1815 diesen Status. Ostrowo wurde preußische Grenzstadt mit einer Garnison, in die ein Batallion der „reitenden Jäger“ aus Lissa einzog. Die Mehrheit der in Ostrowo ansässigen Juden waren damals Kaufleute und Handwerker. Einige zogen als Hausierer über das Land, während die Frauen im kleinen Laden am Ort bedienten. Die Stadt hatte ein kleines jüdisches Viertel mit einer zweistöckigen Synagoge. „Wir hatten ein Geschäft, in dem hauptsächlich Mehl u. Futtermittel wie auch Kolonialwaren verkauft wurden. Die Kundschaft bestand vorwiegend aus Bauern“, erinnerte sich Rose Wolffs (Meine Kindheit; 7seitiges, handschriftl. Manuskript: 7; Privatnachlass: A. Wolffs). Ab 1919 wurde Ostrowo dann bis 1939 wieder polnisch und gehörte nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Reichsgau Wartheland. Leo Hirsch: Lampion: 13. Rose Wolffs: Meine Kindheit: 3; Privatnachlass: A. Wolffs. Schiwe sitzen (Jidd.): Jüdischer Trauerritus, 7 strenge Trauertage (Schiwa) nach der Bestattung, dabei Sitzen auf niedrigem Schemel und unbeschuht.
219 als Landsturmmann nach Grodno an die Ostfront und war nur noch selten zu Hause.28 Leo Hirschs erster Roman Lampion war – wie zahlreiche seiner insbesondere nach 1933 entstandenen Aufsätze und Erzählungen – geprägt von den Kindheits- und Jugenderlebnissen sowie der politischen Atmosphäre jener Jahre. Die Angst um die im Ersten Weltkrieg kämpfenden Angehörigen, von der die Kriegsjahre für die Kinder und Daheimgebliebenen bestimmt waren, erinnerte noch 1935/36 die Eingangsszene einer in den 30er Jahren angesiedelten Auswanderergeschichte unter dem Titel Die letzte Station. Erwin, ältester Sohn des ehemaligen Kolonialwarenhändlers Juda aus Malewa, durchlebt darin in einer sein Leben begleitenden alptraumartigen Vision immer wieder die lebensbedrohliche Zufahrt von Baranowiszy bis Thorn im Januar 1919, in der er als 16-Jähriger den in Russland festsitzenden Vater aus dem Krieg zurückgeholt hatte.29 Die Wirren des Krieges schilderte 1937 auch Leo Hirschs Novelle Joseph wird nicht verkauft.30 Im Titel an die alttestamentarische Verkaufung Josephs durch die eigenen Brüder anknüpfend,31 wird der lebensgefährlich an Lungenentzündung erkrankte, 11-jährige Joseph darin in doppeltem Sinne gerade nicht verkauft: nicht von seinen, einen Kolonialwarenhandel betreibenden, jüdischen Eltern angesichts der 1914 vor dem ostpreußischen Städtchen stehenden russischen Armee, aber auch nicht von einem als Kundschafter eingesetzten russisch-jüdischen Soldaten, der plötzlich im Zimmer des fiebernden Joseph aufgetaucht ist. In einer sich heimlich entwickelnden Liebesgeschichte zwischen der Magd Selma und dem von ihr und Joseph versteckten Eindringling wird vielmehr der „Irrsinn“ dieses Krieges offenbar, denn Selmas Mutter war eine russische Jüdin, sie war also selbst halb russisch, obwohl sie ihren Papieren, ihrer Sprache, ihrer Erziehung, ihrem Gefühl nach völlig uns gleich war. Hatte sie bedacht, daß sie diesen Fremden anzeigen, festhalten, ausliefern müsste? Daß sie uns alle, sich selbst, ihre Sprache, ihre 28 29
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Ebenda: 6 sowie die „Eidesstattliche Versicherung“ von Bertha Hirsch; beides im Privatnachlass: A. Wolffs. Leo Hirsch: Die letzte Station, hier: Jüdische Rundschau Nr. 103/104, vom 24.12.1935: 16: „[...]; schon hinter Grodno war auf die zurückkehrenden Soldaten geschossen worden. Es war tiefdunkel, zwanzig Grad unter Null, und über dem Wasser pfiff der Wind noch ein besonderes Frostlied. Das Brückengeländer war niedrig und dünn, es konnte niemand hindern, vom Trittbrett ins Wasser zu fallen. Und das Wasser unten war ganz bodenlos schwarz und fast ohne Glanz, [...].“ Vgl. Literaturverzeichnis. Vgl. AT, I. Mose 37,12–36.
220 Erziehung, ihr Gefühl, ihre Heimat verriet, da sie es nicht tat? Und daß sie zugleich des Gleichen schuldig würde, wenn sie nur daran dachte, daß ja an Stelle dieses Fremden ein Naher, ein Nächster, ein Bruder ihrer Mutter hätte vor ihr stehen können, hätte von ihr ausgeliefert werden müssen, daß sie am Abgrundrand eines rettungslosen Wahnsinns stand.32
Leo Hirschs Vater, Israel Hirsch, hatte während des Ersten Weltkriegs das jüdische Leben in Litauen kennengelernt und wollte sich nach dem Krieg mit seiner Familie dort ansiedeln. Sein Wunsch, die Kinder in einer traditionell-jüdischen Atmosphäre aufwachsen zu lassen, ließ sich aber nicht mehr verwirklichen. Ostrowo war im Gefolge des Ersten Weltkriegs polnisch geworden und die Familie verlor in den sich anschließenden Pogromen fast ihr gesamtes Vermögen. Von dem verbliebenen Rest zog Israel Hirsch mit seiner Frau, seinen Eltern und den beiden noch im Haus lebenden Kindern, Raphael und Rose,33 1920 nach Berlin und erwarb dort eine kleine Bäckerei in der Schönhauser Straße 15.34 „Wir lebten damals im Zentrum der Stadt, in einem verrufenen Viertel“, erinnerte sich Rose Wolffs: Hier gab es Einbrecher und Diebe, Zuhälter und Huren in Hülle und Fülle. Aber sie alle waren uns gute Nachbarn und schützten uns später vor den Nazis. [...] Vater stand jeden Morgen um 4 Uhr früh auf und arbeitete eine Stunde voraus, damit er später nach Sonnenaufgang in Ruhe eine Stunde Tefillin legen35 konnte. Zu dieser Zeit war in Deutschland viel Not und 32 33
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Leo Hirsch: „Joseph wird nicht verkauft“, hier: Jüdische Rundschau Nr. 4, vom 15.1.37: 5. Der jüngere Bruder Leo Hirschs, Raphael Fulek Hirsch (geb. 18.12.1905 – gest. 3.9.1939) wurde später Zionist und wanderte 1932 nach Palästina aus. Seine jüngere Schwester Rose, spätere Boekdrukker, spätere Wolffs (geb. 13.10.1908 – gest. 11.9.1982; 1. Ehe 1933 mit dem Niederländer Nico Boekdrukker, 2. Ehe 1950 mit Wolff Benjamin Wolffs) wurde Kindergärtnerin, emigrierte 1933 nach Palästina und lebte dort einige Zeit im Kibbuz Ein-Charod. Wegen des harten Klimas und des schlechten Gesundheitszustandes ihres Mannes verließ sie Palästina am 28.6.1937, übersiedelte nach Amsterdam und ging in den 40er Jahren als Kommunistin in den niederländischen Widerstand. Siehe dazu auch Anm. 130. „Vater lernte mit über 40 Jahren das Bäckerhandwerk“, erinnerte sich Rose Wolffs. „Diese körperlich schwere Arbeit war für ihn, der nie körperlich gearbeitet hatte, sicher sehr schwer, doch hörte ich ihn nie klagen. Aber es hatte auch sein Gutes in eine Stadt mit hohem kulturellem Leben zu kommen und wir freuten uns an den Museen, Theatern, Filmen und den großartigen Lernmöglichkeiten.“ Rose Wolffs: Erinnerungen für meinen Sohn; Privatnachlass: A. Wolffs. Tefillin legen: Gebetsriemen, die von männlichen Juden ab 13 Jahren am linken Arm, dem Herzen gegenüber und an der Stirn beim Morgengebet der Wochentage getragen werden, mit je einem auf den schwarzen Riemen befestigten Kästchen, in dem sich vier Toraabschnitte, auf Pergament geschrieben, befinden.
221 Hunger und oft wurden Lebensmittelgeschäfte geplündert und die Scheiben wurden zerschlagen.36
Die beginnenden „goldenen“ zwanziger Jahre erlebte die Familie als eine Zeit der Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit.37 Leo Hirsch, der noch während der Unruhen der Revolution zum Studium nach München gegangen war, musste dieses bald abbrechen, um seine in Berlin lebende Familie zu unterstützen.38 Er begann mit einundzwanzig Jahren „bei Mosse als kleiner Schriftsteller“39 und unter denkbar ungünstigen Bedingungen: Tagsüber arbeitete er in der koscheren Bäckerei seines Vaters, die Nachtstunden gehörten seiner schriftstellerischen Arbeit. „Bevor er über ein Thema schrieb, studierte er sein Metier gründlich, arbeitete sich gründlich ein..., war geradezu pedantisch genau...“, erinnerte sich Hans Hirsch, ein Cousin des Autors.40 Es mochte zwar der äußerlichen Erscheinung eines zierlichen, früh von Schwindsucht gezeichneten Mannes durchaus nahe kommen, in Leo Hirsch vornehmlich einen „zarten Lyriker“41 zu sehen, es scheint allerdings seinem inneren Wesen, wie es uns heute aus seinen Texten entgegentritt, kaum zu entsprechen. Es verzerrt schließlich auch den Blick auf das eigentlich Bedeutsame seines Werkes: die journalistischen Aufsätze, Essays und Kritiken sowie seine Prosatexte. „Sie werden ungefähr wissen“, schrieb Hirsch dem Schriftsteller Hannes Küpper am 7. Februar 1929 über die eigene schriftstellerische Entwicklung, 36 37
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Ebenda. Am 5.11.1923 erreichte ein Pogrom schließlich auch das sogenannte Scheunenviertel von Berlin. „Einmal“, erinnerte sich Rose Wolffs, „kamen auch zu uns viele von diesen Plünderern. Auch wir hatten damals nicht viel Brot, weil das Geld nur noch für einen halben Sack Mehl reichte. Vater verschnitt die Brote, die gerade aus dem Ofen gekommen waren in mehrere Stücke und sagte: ‚Wartet ruhig, ich gebe Euch, was ich habe‘, verteilte alles und beim letzten Stück sagte er: ‚Ihr seht, dieses Stück ist für meine Frau und die Kinder‘. Die Menschen gingen ruhig fort und bei uns wurde keine Scheibe zerbrochen.“ Ebenda. Bertha Hirsch an Herrn Lenz (Bertelsmann Verlag) am 15.2.1966; Privatnachlass: A. Wolffs. Nach Erinnerungen Rose Wolffs unter dem Titel „Max“, hatte Leo Hirsch bei eben jenem Bäcker Max das Bäckerhandwerk sogar ernsthaft erlernen wollen. Über Leo Hirschs Studium in München konnte bislang noch nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden, da die Universitätsunterlagen dieser Jahre teilweise nicht mehr erhalten sind. Interview mit Hans Hirsch in Holon, bei Tel-Aviv, am 23. September 1992. Ebenda. Anton Dietzenschmidt an Gertrud Isolani am 12.12.1933, zit. nach Isolani 1985: 50.
222 daß ich eine gute Zeitlang Verse schrieb wie Krethi und Plethi, dann das große Kotzen davor bekam und einsah, daß man bessere Formen finden mußte, um zu sagen, was ich zu sagen habe. Das wurden dann die „Elemente“42: Gedanken statt Gefühle, Prosa statt Reimen. Ich schrieb also so die „Elemente“ und wollte entsprechend konsequent weiter. Die Konsequenz davon wäre aber gewesen, daß ich keine Prosa-Gedichte mehr geschrieben hätte, sondern philosophische Aufsätze. Ich habe das angefangen. Mir fehlte dabei etwas, was meinem Wesen am dringendsten nottut: Musik. Ich fiel also glatt ins andere Extrem zurück: Verse, bloß um der Musik willen. Ich schrieb die Dackellieder und die Songs dazu, wahrhaftig „mit Leichtigkeit“ aus dem Ärmel geschüttelt ist das, mir zum Spaß, zur Musik, zum Wohllautvergnügen. Sie verkennen mich, wenn Sie glauben, daß ich damit aus der Reihe gehopst und zu den Schlagerleuten à la ‚Ich küsse Ihre Hand, Madame’ übergelaufen bin. Aber es ist vielleicht ein Weg in der Richtung, die Brecht verfolgt. Übrigens komponiert Meisel das alles, nur ich selbst habe meine Melodien dazu, die ich auf dem Klavier klimpere. [...] Aber Sie müssen wissen, daß ich nach der Prosa dazu gekommen bin, auf dem Heimweg in die Verse, in die Reimstrophe, in die Romantik und den Reichtum ihrer Sprache. 43
In den von Hirsch erwähnten, noch wenig originären und nur vereinzelt veröffentlichten frühen lyrischen Texten, für die seine Gedichte Vorstadt oder Perverse Landschaft exemplarisch sind, wird die Liebe des Autors zum Expressionismus sowohl in der Syntax als auch Bildwelt noch deutlich fassbar. 44 In späteren Jahren ist der „heimliche Lyriker“45 von Brechts Arbeiten beeindruckt und gerät Ende der 20er Jahre zunehmend in die Nähe singbarer, kabarettistischer Texte, deren sozialkritischer Blick ebenso ungetrübt bleibt wie der seiner journalistischen Arbeiten.46 In dem von Leo Hirsch erwähnten, und dem einzigen von ihm veröffentlichten Lyrikband, den Dackelliedern (1930),47 wird die Figur Lampion aus seinem ersten Roman erneut zu literarischem Leben erweckt. Der Band war Edith Ester Hirsch gewidmet, einer 20 Jahre älteren Schauspielerin, die Leo Hirsch in den zwanziger Jahren geheiratet 42 43 44
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Leo Hirsch: Die Elemente. Heilbronn/Neckar: Otto Ulrich Verlag 1927. Leo Hirsch an Hannes Küpper am 7.2.1929, Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N.: A: Küpper, Zug.nr.: 76.7267/11. Vgl.: Leo Hirsch: „Vorstadt“ in: Das Dreieck. Berlin, H. 2, Oktober 1924: 48; „Perverse Landschaft“ in: Das Dreieck. Berlin, 1. Jg. (1925), Sonderheft/Doppelheft 4/5: Die Lyrik der Generation: 29. Briefliche Mitteilung von Paul A. Otte vom 3.10.1962; zitiert nach: Boveri: 1965: 552. Vgl. u.a. die Gedichte: Fürsorge; Bis zum großen Coup; Romanze vom Wedding; London, alle in: Robert Seitz; Heinz Zucker: Um uns die Stadt 1931: 81f.: 58f., 113f. und 126f. Leo Hirsch: Die Dackellieder: 1930.
223 hatte.48 Seit Mitte der 20er Jahre begleitete Leo Hirsch in Zeitschriften wie dem Dreieck, der Premiere, oder der Weltbühne, vor allem aber als Mitarbeiter in der Feuilletonredaktion des Berliner Tageblatt die kulturellen und geistigen Entwicklungen der Zeit. Die bis 1933 unter der Chefredaktion Theodor Wolffs stehende Zeitung zählte in diesen Jahren neben der Vossischen und der Frankfurter Zeitung zu den repräsentativsten Organen des liberal-demokratischen Deutschland.49 Seine Mitarbeiter gehörten zur Elite des deutschen Journalismus: Eine einzigartige Garde des Geistes stellte die Kulturredaktion dar, an der Spitze Alfred Kerr [...] als großartiger Stilist, als hinreißender Schreiber, als aggressiver Formulierer, kurz, als König der deutschen Theaterkritiker neidlos anerkannt. Leiter des Feuilletons war Paul Block, der 1920 als Korrespondent nach Paris ging. Dann kamen Hermann Sinsheimer, Fred Hildenbrandt und Fritz Engel. Fritz Stahl und Julius Meier-Graefe zeichneten verantwortlich für die Kunst, Leopold Schmidt und Alfred Einstein für die Musik. Bis heute unübertroffener Meister der „Kleinen Form“ und des Feuilletons im klassischen Sinne aber war Victor Auburtin, den Wolff im April 1911 in die Redaktion holte. [...] Groß und reich an berühmten Namen ist die Schar der regelmäßigen Mitarbeiter der Feuilleton-Redaktion. Dazu gehören Alfred Polgar und Kurt Tucholsky, der bis 1922 die Beilage „Ulk“ machte; ferner Otto Flake und Frank Thiess, um nur einige Namen zu nennen.50
Leo Hirschs frühe journalistische Arbeiten weisen ihn als einen Kenner großer Weltliteratur aus, als kritischen Beobachter der zeitgenössischen jungen Film- und Hörspielentwicklung sowie des Theaterlebens im Berlin der 20er Jahre.51 Er sei in der Redaktion „ungemein beliebt“ gewesen, habe Kafka für das Blatt entdeckt, sich 48
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Über das spätere Schicksal der Ehefrau Leo Hirschs, Edith Esther Hirsch geb. Cohn (geb. 18.11.1883), ist bislang nichts Genaues bekannt geworden. Sie stammte vermutlich aus Polen. Bei der sogenannten „Polenaktion“ der Nationalsozialisten wurde ihre Schwester über die deutsch-polnische Grenze abgeschoben. Edith Esther Hirsch wurde vermutlich am 1.3.1943 (nach Auschwitz?) deportiert. Der Autor habe in den 20er und beginnenden 30er Jahren „wenig verdient und immer mehr ausgegeben als verdient ...seine Wohnung, die Führung des Hauses, verbrauchte viel Geld“, erinnerte sich Hans Hirsch. „Bis spät in die Nacht hatte er Freunde bei sich zu Besuch. Insbesondere seine Frau führte ein „Boheme-Haus“ und -Leben. Leo selbst war ein sehr seriöser, ernsthafter Mensch und sehr zurückhaltend.“ Interview mit Hans Hirsch in Holon, bei Tel-Aviv, am 23. September 1992. Das „Berliner Tageblatt“ gehörte zum Rudolph Mosse Unternehmen, neben dem Ullstein Verlag und dem von Hugenberg aufgekauften Scherl-Verlag das bedeutendste deutsche Zeitungsunternehmen dieser Jahre. Köhler: 1978: 141f. Überliefert sind zudem zahlreiche literarische Porträts von Schriftstellern, Filmschaffenden und Theaterleuten der Zeit.
224 mit modernen Philosophen herumgeschlagen, eine Liebe zum russischen Film (Eisenstein etc.) gehabt und sei der „beste Filmkritiker der zwanziger Jahre“ gewesen, erinnerte sich der seit 1926 ebenfalls beim Feuilleton tätige Paul A. Otte.52 Tatsächlich geben Hirschs Filmkritiken noch heute aufschlussreiche Einblicke in die frühe Filmgeschichte sowie die zeitgenössische Bedeutung des russischen Films. 53 Seine von Gustav Landauer geprägten Vorstellungen eines humanen, ethisch bestimmten Lebens führen dabei auch in seinen Aufsätzen zum Theater bzw. zur Kultur- und Kunstentwicklung der Zeit immer wieder zu einer stark gesellschaftsund kulturkritischen Ausrichtung seiner Beiträge. Er schreibt über eine „Kultur der Unkultur“54 und begrüßt im Februar 1925 Else Lasker-Schülers Kampfschrift gegen die Verleger, Ich räume auf!, als einen „Feldzug des Geistes pro domo gegen das Geld“. „Die nicht erfolgte Revolution der Dichter vom Jahre 1918“ rächte sich für Leo Hirsch „explosionshaft: man lag ganz auf der Straße“: Und während die Bäcker streiken konnten und können, bis mit ihnen die Menschheit verhungert, isoliert sich jeder Autor und hofft, allein das Safe der Thomas- oder Hauptmannschaft sich zu erlorbeern. [...] Seitdem ich mich in das kleine Buch geflüchtet habe, warte ich, bis mich die Großen, die über jeden Zweifel erhabenen Offiziellen daraus hervorholen mit Bekenntnis und Konsequenz, bis sie die banale, so selbstverständliche Notiz verbreiten: „Wir, die Literatur, haben uns zusammengetan und beschlossen, die Verleger solange zu boykottieren, bis ihnen ein für allemal jede derartige Ausnutzung untergraben ist.“ Die Dichter haben das Wort!55
Leo Hirschs Parteinahme für soziale Randgruppen der Gesellschaft richtete die Aufmerksamkeit seiner Leser auf eine zunehmende soziale Verelendung breiter Schichten und entlarvte die Scheinheiligkeit einer
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Briefliche Mitteilung von P. A. Otte am 3.10.1962; zit. Boveri: 1965: 552. So schrieb Leo Hirsch u.a. den Begleittext zu den Bildern in dem von A. W. Lunatscharski eingeleiteten Buch Der russische Revolutionsfilm (Zürich; Leipzig 1929) und veröffentlichte im Berliner Tageblatt Aufsätze wie: Melchior Vischers Chaplin (5.11.1924); Romanze (16.3.1927); Ernst Lubitsch (25.5.27); Am Rande der Welt (21.9.27); Tauentzien-Palast Berlin (24.9.27); Der Casanova-Film im Gloria-Palast (3.11.27), Kinos (15.11.27); Helden und Heldenverehrung im Kino Nationales Geschäft (1.2.28); Charlie Chaplins ‚Zirkus‘ (8.2.28); Volksverband für die Filmkunst (27.2.28); Die Großstadt im Kino. Berliner, filmt Berlin! (4.9.28); Bericht über das Filmparadies (19.11.28); Film-Experimente (10.9.29); Russenfilm: Erde (7.1.31); Fritz Lang ‚Metropolis‘ (12.5.31). Vgl. Leo Hirsch: Das Dumping der Seelen 1931: 36. Leo Hirsch: Meilenstein Lasker-Schüler, 1925: 196.
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Familienporträt
227 öffentlichen Religiosität, die die wahren Missstände verdecken half.56 Beiträge wie der über den Schriftsteller Vicente Blasco Iabňez,57 den Spiritus rector und maßgeblichen Finanzier der revolutionären Bewegung in Spanien, zeigen Hirsch als erklärten Gegner des Krieges und jeder Form von Militarismus. Nationalistischen Hasstiraden gegen den spanischen Autor steht er dabei ebenso fern wie nationalistischen Verbrämungen der Gedanken des „Turnvaters Jahn“ von einer „körperlichen Ertüchtigung des deutschen Volkes“58 oder dem latenten und offenen Antisemitismus der Weimarer Zeit. Seine Bemerkungen Darf Rothschild in die Walhalla? bleiben daher 1930 in der Weltbühne bei der Besprechung einer Rede von Prof. Paul Herre nicht ohne Sarkasmus, wenn dieser im Blick auf die Ausgestaltung der Walhalla als eines nationalen Denkmals „in sehr erhebendem Deutsch“ seine Bedenken äußerte, den Begründer des großen Frankfurter Weltbankhauses Mayer Anselm Rothschild „in den Kreis der deutschen Walhallagenossen“ aufgenommen zu finden, und münden schließlich nicht ohne Bitterkeit in einen „gemischtrassigen Ruf Walhallaluja“, nachdem dem Autor „das Symbol der teutschen Teutschheit samt Volkstänzen und vaterländischen Weihespielen mit Frau Direktor als Attinghausen den ganzen Tag vor Augen schwebte“.59 Der ironisch-satirische Grundton vieler Beiträge Leo Hirschs ist heute noch ebenso unterhaltsam zu lesen wie seine zeitgenössischen Reflexionen aufschlussreich sind. Dabei schrieb der Autor als vehementer Kritiker eines Deutschland, in dem ihm Ende der 20er Jahre „überall der hellste Wahnsinn“60 zu blühen schien. 1930 formulierte er in der Neuen Schweizer Rundschau noch einmal einen Zeit- und Wirklichkeitsbefund, der seinen Erzählungen, Romanen, Buchpublikationen und auch Gedichten nachhaltig eingeschrieben war: Von der Wucht der Zerstörungen in diesen Jahren und vom Tempo erfinderischen Aufbaus durchschüttert, durch Krieg und Inflation in der Lebenshaltung schwankend geworden, vom Umlauf des Amerikanismus betört und durch den Bankrott des praktischen Marxismus, Zionismus und Swarajismus verwirrt, im Mangel an Religion, Philosophie, an hinreißendem Aberglauben: machen wir uns auf, die spärlichen Realitäten unseres fragwürdigen Daseins von den Schlachtfeldern unserer Skepsis
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Vgl. u.a. Leo Hirsch: „Eßt Fische!“ 1931: 667–668. Leo Hirsch: „Sie begraben V. B. Ibanez“ 1928: 212–214. Leo Hirsch: „Der Hasenheideläufer“ 1928: 219–220. Leo Hirsch: „Darf Rothschild in die Walhalla?“ 1930: 803–804. Leo Hirsch an Martin Buber am 26.3.1927; JNL Jerusalem: Martin Buber Archive: Ms. Var. 350, Buber-Korr. 2.
228 aufzulesen und den Sinn für sie – das ist: für uns – aus ihnen – das ist: aus uns – zu erraten.61
Gustav Landauers Ideale einer „Selbstbewußtwerdung und Selbstbefreiung des Menschen, der sich als gewordenes Individuum begreift und aus eigenem Antrieb heraus die Bedeutung von Gemeinschaft erkennt“,62 erscheinen in Leo Hirschs literarischen Arbeiten der 20er Jahre geprägt von einer tiefen Skepsis angesichts eines falsch verstandenen Fortschrittsglaubens und wachsender Radikalisierungstendenzen der republikanischen Gesellschaft. Reale Hoffnung auf Veränderung wird kaum mehr sichtbar.63 Hirschs literarische Figuren scheitern an den sozialen Gegebenheiten einer Gemeinschaft, deren enge bürgerliche Schranken einer vollen Entfaltung des Individuums keinen Raum geben. So erinnert Leo Hirschs Protagonist Karl Hartmann in dem Roman Vorbestraft (1929) in seinen tragisch endenden Bemühungen um eine Reintegration in die Gesellschaft an die im gleichen Jahr erschienene Geschichte Franz Biberkopfs aus Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Steht der mit Hartmanns Entlassung aus dem Gefängnis in Plötzensee einsetzende Roman Hirschs zunächst noch unter dem Motto „Wo ein Wille, ist auch ein Weg“, erweist sich im Fortgang der Handlung sehr bald, dass Hartmann trotz aller Bemühungen um ein ehrliches Leben die ersehnte Freiheit eines normalen Daseins in dieser Gesellschaft versagt bleiben wird. „Ich habe diese Geschichte aus dem Kino“, erklärt der Erzähler im 12. Kapitel des Buches – und in Bezug auf den Autor authentisch: Ich kam einmal in ein Kino und sah einen Film „Die Vorbestraften“ von Erich Kraft. Die Regie hatte Rudolf Meinert. Dieser Film war von einer geradezu bedrückenden Macht, und das Publikum, jenes Volk der Dichter und Denker, vermied es, den Film anzusehen. Ich sah die Bilder und ging heim, um sie zu vergessen. Anstatt dessen begann ich, euch das Schicksal Hartmanns zu erzählen, das ich aus diesem Film kenne. Das Schicksal eines Hartmanns. Wenn ihr in Deutschland wäret und gewiß nicht bloß in Deutschland, und ihr würdet die Augen offenhalten, so könntet ihr unzähligen Hartmännern begegnen. 64
Hartmann hatte gestohlen, weil seine Frau schwer erkrankt war und er keine Arbeit finden konnte. „Zu spät“ hatte er sich jedoch zu dieser Tat entschlossen. Seine Frau starb und seine Tochter Maria wurde in 61 62 63 64
Leo Hirsch: „Der platonische Film“ 1930: 64. Kauffeldt: 1984: 18. Leo Hirsch: „Der platonische Film“ 1930: 64. Leo Hirsch: „Vorbestraft“ 1929: 139f.
229 ein Waisenhaus gebracht. Nach seiner Entlassung wird Hartmann nun erneut – und diesmal zu Unrecht – von Arbeitern der Maschinenbau GmbH des Kommerzienrat Rechlin des Diebstahls bezichtigt. Hartmann verlässt daraufhin freiwillig die Fabrik und gerät in die bürokratischen Räder von Gefangenenfürsorge, von Wohlfahrts- und Arbeitsamt. Keine Fabrik stellt ihn jedoch ein, sobald klar wird, dass er im Gefängnis war. In Deutschland und wahrscheinlich auch anderwärts ist es aber so, daß man denen, die einmal eine Strafe bekommen haben, nicht mehr erlaubt, anders zu leben und umzukehren und wieder Menschen zu werden, wie sie es nennen.65
Das Geld wird knapp und Hartmanns Tochter Maria schlägt vor, selber in Dienst zu gehen. Aus Angst um die Tochter wird Hartmann schließlich erneut rückfällig und beim ersten Einbruch sofort erwischt. Die Zeugenaussage des Gefangenenfürsorgers vor Gericht entlarvt nun unfreiwillig nicht nur diesen selbst, sondern gleichermaßen den von ihm vertretenen deutschen Beamtenstaat. Klarsichtig erkennt Hartmanns Verteidiger in dem Angeklagten einen „Prellbock der menschlichen Vorurteile“, einen Unschuldigen, den die Gesellschaft schuldig werden ließ, zweimal schuldig, um ihn der grausamsten Pein zu übergeben. Wenn hier überhaupt von einer Strafe die Rede sein dürfte, so wären die staatlichen Institutionen, die unglückseligen Umstände, die gesamte Organisation unseres gesellschaftlichen Zusammen-, vielmehr Auseinanderlebens die Schuldigen und die Strafbaren.66
Nach drei Monaten Gefängnis wird Hartmann erneut entlassen und alles beginnt von vorn. Maria hat keine Ausbildung und kann nur als Dienstmädchen arbeiten, Kommerzienrat Rechlin hat sich erschossen, nachdem er durch eine öffentliche Indiskretion als Vorbestrafter gesellschaftlich unmöglich gemacht worden ist, und der mit Hartmann sympathisierende Gefängnisdirektor kann erst für die spätere Zukunft Hilfe in Aussicht stellen. Maria geht in ihrer Verzweiflung mit einem Fremden in ein Hotel und wird als Prostituierte verhaftet. Hartmann, der sie unterwegs zufällig trifft, erschlägt den Polizisten und wird zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Maria geht ins Wasser. Das Schlussbild zeigt Hartmann erneut in der Zelle seines einstigen Gefängnisses, gescheitert an den sozialen Verhältnissen und unfähig, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Lediglich dem Kanarienvogel, 65 66
Ebenda: 139. Ebenda: 128.
230 einem Geschenk des Gefängnisdirektors, kann er am Ende symbolisch die Freiheit geben... II. Als der Roman Vorbestraft 1929 erschienen war, befand sich Deutschland bereits in der weltweiten Rezession. Auch die Situation im Mosse-Haus und am Berliner Tageblatt gestaltete sich unter dem wachsenden wirtschaftlichen Druck zunehmend schwieriger. Die NSDAP hatte 1928 ihre ersten, großen Wahlerfolge errungen und als Hitler 1933 schließlich an die Macht kam, standen die Vertreter der sogenannten „Judenpresse“ mit im Zentrum nationalsozialistischer Verfolgungen. Am 10. März 1933 „verteilten die dragonerblau uniformierten Zeitungsverkäufer des Rudolf Mosse Verlags an den verkehrsreichen Plätzen und Straßenkreuzungen Berlins an Stelle des wichtigsten Blatts ihres Hauses nur zeitungsgroße weiße Bogen“, auf denen die Leser vom Verbot der Zeitung durch den Polizeipräsidenten von Berlin erfuhren. 67 Mit diesen zeitweiligen Erscheinungsverboten verschärfte das Propagandaministerium seinen Druck auf die Zeitungen, ihre jüdischen Journalisten zu entlassen. „Schwarze Listen jüdischer Journalisten kursierten im Ministerium. Die Arbeit der noch verbliebenen jüdischen Journalisten machten unzählige Verbote so gut wie unmöglich.“68 Bereits Anfang Februar 1933 war der Chefredakteur des Berliner Tageblatt, Theodor Wolff, 67 68
Boveri: 1965: 17. Burger: 2001: 28. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. 4.1933 hatte zunächst den Abstammungsnachweis eingeführt. „Als am 30. April 1933 die im Reichsverband der deutschen Presse (RDP) zusammengeschlossenen Journalisten ihre Anpassung an den nationalsozialistischen Staat vollzogen, hatte das auch für die jüdischen Journalisten weitreichende Folgen. Dem zu diesem Zeitpunkt erst angekündigten Schriftleitergesetz vorauseilend wurde beschlossen, Juden und Marxisten die Mitgliedschaft künftig zu verweigern. Jüdische oder politisch „unerwünschte“ Mitglieder sollten von nun an jederzeit ausgeschlossen werden können. Das dann am 4. Oktober 1933 vom Kabinett verabschiedete Schriftleitergesetz enthielt enge Reglementierungen für den Berufszugang. Schriftleiter durften nur Deutsche sein, die eine festgelegte Mindestausbildung absolviert hatten. Alle Schriftleiter mußten in eine Berufsliste aufgenommen sein, was sie automatisch zu Mitgliedern des RDP machte. Die Durchsetzung des Gesetzes war Aufgabe der Reichspressekammer, einer Unterabteilung der Reichskulturkammer (RKK), die am 22. September 1933 durch das Inkrafttreten des RKK-Gesetzes gegründet worden war. [...] Der für jüdische Journalisten entscheidende Absatz des Schriftleitergesetzes lautet: ‚Schriftleiter kann nur sein, wer arischer Abstammung und nicht mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet ist.‘“ Burger: 2001: 26f.
231 von Drohbriefen überschüttet nach München geflohen.69 Die ab 1934 für die Zeitung tätige Journalistin Margret Boveri beschrieb das Feuilleton des Berliner Tageblatt dennoch rückblickend als einen zeitweiligen „Schutzwinkel“70 für Juden. Nach brieflichen Äußerungen des Dramatikers Anton Dietzenschmidt vom Dezember 1933 hatte dieser für Leo Hirsch die Bürgschaft beim Reichsverband Deutscher Schriftsteller übernommen: „Flemming [...] hat ja jetzt das Feuilleton und die Kritikbeilage unter sich, – offiziell; hinter den Kulissen aber macht Leo Hirsch den Hauptteil der Arbeit, denn Flemming ist darin ziemlich hilflos anscheinend (ich wäre es auch).“71 Bis zur Verabschiedung des Schriftleitergesetzes am 4. Oktober 1933 arbeiteten u.a. auch die mit Hirsch befreundeten Journalisten Hermann Sinsheimer und Gusti Hecht weiter für das Feuilleton der Zeitung.72 „Ich blieb“, erinnerte sich der damals dort federführende Hermann Sinsheimer. Wir versuchten, unter täglicher Gefahr von außerhalb und innerhalb der Zeitung – es stellte sich heraus, daß ausgerechnet unser biederer Fahrstuhlführer der Leiter der „Zelle“ im Mosse-Haus war – ein verirrter Klassenkämpfer – vom Geist oder wenigstens der Routine des Blattes zu retten, was zu retten war.73
Leo Hirschs öffentliche Abrechnung mit der Haltung Gottfried Benns in seinem Artikel vom 13. Juli 1933 unter dem Titel Der Zentrale Mensch. Ein Bekenntnis von Gottfried Benn gehört zu diesen mutigen Versuchen damaligen Widerspruchs.74 Ironisch und bewusst missverstehend hatte Hirsch bereits im Titel eine Äußerung des Dichters aus dessen erster Rundfunkrede, in der sich Benn ausdrücklich zum neuen Deutschland bekannt hatte, mit den enttäuschten Reaktionen seiner ehemaligen Verehrer verknüpft. Sie hatten Benn vorgeworfen, „er sei früher links gewesen. Aber: ‚Ich bin 69
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Paul Scheffer, der 1921 bis 1929 Korrespondent der Zeitung in Moskau war, übernahm danach die Chefredaktion des Berliner Tageblatt und den vergeblichen Versuch, die Zeitung leidlich anständig durch die NS-Zeit zu bringen. Boveri: 1965, Kap. II: „Das Feuilleton als Schutzwinkel“: 89–91. Anton Dietzenschmidt an Gertrud Isolani am 12.12.1933; in: Isolani: 1985: 50–54. Leo Hirsch hatte in der Reichsschrifttumskammer die Akt.-Nr.: II A 20830/15.8.37/110. Die Journalistin Gusti Hecht war ebenso wie Leo Hirsch mit dem ehemaligen Herausgeber der Weltbühne, Carl von Ossietzky, befreundet, den Leo Hirsch nach 1933 offenbar noch im Gefängnis besucht hat (telefonische Mitteilung von Hannah Hobbs, London, am 8.6.1996). Sinsheimer: 1953: 268. L.H. [=Leo Hirsch] 13.7.1933, in Berliner Tageblatt.
232 nie links gewesen, nicht eine Stunde –‘, denn, so konstatiert Benn mit stolzer Bescheidenheit: ‚Das Schöpferische ist weder rechts noch links, sondern immer zentral.‘“ Und so steht nach näherer Besichtigung des neu erschienenen Bandes Der neue Staat und die Intellektuellen75 für Hirsch der Leser schließlich vor einer Völkerwanderung der Begriffe, Worte und Zusammenhänge, denn auf Zusammenhänge, nicht Gründe kommt es an. So wird Sturm gelaufen gegen den europäischen Intellektualismus, und ein geradezu asiatischer Mystizismus heraufbeschworen. Als Kronzeugen großartig brutaler Rassenzüchtung werden Moses und der biblische Esra gerufen. Esra ließ aus rassenpolitischen Gründen Tausende töten; sie waren krank, sie hatten sich im Exil angesteckt. Diese Maßnahme zitiert Benn als sensationelles Argument – für heutige Diskussion? Als wollte er sagen: bloß keine Sentimentalitäten, bitte, schon in der Bibel – ? Aber wenn wir schon ein paar Jahrtausende auf der Argumentensuche zurückgehen, dann stoßen wir schließlich auch auf Heinrich Manns sechzigsten Geburtstag, welcher mit einem Bankett gefeiert wurde, dessen Höhepunkt die Festrede war, welche von keinem andern gehalten wurde als von Gottfried Benn. Kein Wunder also, wenn ihn jetzt Heinrich Mann oder andere literarische Emigranten „bedrohen“.76
Das Feuilleton und auch der Weltspiegel des Berliner Tageblatt druckten Leo Hirsch auch noch 1934, nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus der Redaktion, – nun nicht mehr unter seinen deutbaren Initialen, sondern unter anonym bleibenden Kürzeln bzw. dem Pseudonym Christian von Kleist. 77 „Das schwere Lungenleiden hatte Hirschs Humor und Sarkasmus nicht beeinträchtigt“, erinnerten sich ehemalige Kollegen: Der „Weltspiegel“ brachte eines Tages unter dem Titel „Lautenlieder mit Bändern“ eine Veräppelung des „Tags der Hausmusik“ von ihm. Wahrscheinlich hat der Text allein schon bei den Nationalsozialisten großen Unmut erregt. Daß er auch noch von einem Juden stammte, war natürlich bald herausgefunden und machte die Sache unverzeihlich. 78
Treffend vermerkte Hermann Sinsheimer in späteren Jahren, dass das Berliner Tageblatt „so wenig wie andere große deutsche Blätter in Ehren“ gestorben sei. Es teilte vielmehr das Schicksal jeder anderen 75 76 77
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Benn: 1933. L. H.: Der Zentrale Mensch, 1933. Auf das Pseudonym Christian von Kleist verweist M. Boveri in ihrem Buch Wir lügen alle 1965: 552f. A. Dietzenschmidt schreibt in seinem Brief an G. Isolani vom 12.12.1933: „Leo Hirsch heißt L. H. Y. und anonym. Wer will so etwas überprüfen und verhindern?“, in: Isolani: 50–54. Zit. nach: Boveri: 1965: 553.
233 verdeckten oder offenen publizistischen Opposition im damaligen Deutschland: „Es wurden ihr ein zum Beißen geeigneter Zahn nach dem anderen ausgezogen und schließlich die Zunge aus dem Mund gerissen.“79 Einem Journalisten jüdischer Herkunft blieb über kurz oder lang nur die Emigration, oder eine Arbeit für die jüdische Presse in Deutschland. Leo Hirsch entschied sich zunächst für Letzteres. Der bereits erfahrene, seines „zurückhaltenden Wesens wegen ungemein geschätzt[e]“80 und als „sehr bescheiden“81 geltende Autor avancierte in der zweiten Hälfte der 30er Jahre zu einer der wichtigen Persönlichkeiten in dem sich seit Sommer 1933 mit dem Kulturbund deutscher Juden konstituierenden jüdischen Kulturkreis in Berlin. Im Sinne einer von Martin Buber favorisierten Bildungsidee beförderte er in den folgenden Jahren als Kritiker, Dramaturg, Theaterpraktiker, Schriftsteller und Übersetzer die Versuche einer Neukonstituierung jüdischen kulturellen Lebens im nationalsozialistischen Deutschland. III. „Unsere Lage ist nur dann verzweifelt“, hatte der bürgerlich-liberale Historiker Ismar Elbogen nach dem Boykott im April 1933 geschrieben. „wenn wir selber verzweifeln. Eine Gemeinschaft geht nicht unter, außer sie gibt sich selber auf ... Unsere Ahnen trugen ihr Los mit Heldenmut, mit Würde und religiöser Hingabe. Laßt uns von ihnen lernen.“82 Wie viele der damals im Lande gebliebenen Intellektuellen83 sprach auch die Nicht-Zionistin Eva G. Reichmann von einem „geistigen Umbruch in der gesamten Judenheit“.84 Ausgelöst durch die historischen Ereignisse verschärfte sich nicht nur das Empfinden, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören, sondern ebenso die Notwendigkeit einer Sinngebung jüdischer Existenz. Eines der größten Probleme bestand dabei zunächst darin, die Vereinzelung der jüdischen Bevölkerung in der Folge eines langjährigen 79 80 81 82 83
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Sinsheimer: 1953: 265f. Lowenthal: 1966. Interview mit Hans Hirsch in Holon, bei Tel-Aviv, am 23. September 1992. Ismar Elbogen: „Haltung!“, in: C.V.-Zeitung vom 6.4.1933. Noch etwa 2000 jüdische Intellektuelle sahen sich nach 1933 mit der Frage konfrontiert, ob und wie angesichts wachsender Bedrohung in Deutschland noch öffentlich gesprochen werden konnte oder sollte und hatten die zunächst jede Veröffentlichungsmöglichkeit voraussetzenden Aufnahmeanträge für den Reichsverband Deutscher Schriftsteller gestellt. Vgl. dazu ausführlich Dahm: 1979: 43. Danach betrug die Zahl der Antragsteller in der Reichsschrifttumskammer insgesamt 40000, d. h., der Anteil von Autoren jüdischer Herkunft zunächst etwa 5%. Reichmann: 1974: 46f.
234 Emanzipationsprozesses zu überwinden. In diesem Sinne war 1933 für Leo Hirsch Einigkeit das, was „die Juden am nötigsten haben“. In seiner gleichnamigen Prosaskizze im Israelitischen Familienblatt vom 5. Dezember 1933 bringt ein Fremder, ein Jude mit zerknautschtem Hut, den Juden eines kleinen Städtchens diese Einigkeit als Geschenk. Das den Bewohnern Erlösung verheißende Kästchen des Fremden geht jedoch – für die zeitgenössische Situation gleichnishaft – in den Zwistigkeiten der Juden untereinander erneut verloren. 85 Die sich hierin artikulierende Skepsis des Autors war positiv gewendet als Aufforderung zu lesen, den verlorenen Bund jüdischer Gemeinschaft neu zu begründen. Sie wandelte nach 1933 Gustav Landauers Glauben an die Möglichkeit der Wiederherstellung einer kollektiven Identität im Geiste Martin Bubers, der sich in diesen Jahren bemühte, die jüdische Bildungsarbeit in Deutschland auf dem Gedanken einer Wiederanbindung an die „Urkräfte“86 des Volkes als eines ewigen Gottesvolkes aufzubauen. „Ich hatte nie das Glück, auf einer SchulUniversitäts- oder Lehrhausbank als Ihr Schüler zu sitzen“, bekannte Hirsch dem Religionsphilosophen noch in einem Brief vom 13. Februar 1938, „aber ich konnte niemals verhindern, daß Sie mein Lehrer sind, und Sie werden es wohl bleiben müssen, was Sie auch anfangen“.87 Martin Buber versuchte in jenen Jahren in einem wiederzuerweckenden Bewusstsein der Einzigartigkeit jüdischer Geschichte von Leidenden und Verfolgten sowie der Erinnerung an den Dialog Gottes mit den Menschen, durch den alles Gegenwärtige mit dem Ewigen verbunden sei, nicht nur ein neues 85
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Z. [d.i. Leo Hirsch]: „Einigkeit. Kein Märchen!“ 1933: „Ich habe alle schlimmsten Schwierigkeiten ausgestanden, alle Sorgen des Weges... Fast hätte ich das Kästchen verloren... Laßts Euch doch erklären! Der Messias schickt mich! Bevor ich komme, hat er gesagt, geh du und bringe den Juden dies hier und dann will ich kommen... Juden! Aber niemand hat ihn gehört. Die Juden hatten schon angefangen, sich zu schlagen, zu zanken, an den Röcken zu reißen, ein schreckliches Getümmel erfüllte den Markt. Und mitten in diesem Tumult ging der Denunziant des Städtchens und holte den Aufseher, der bezecht war und den Juden mit dem Einheitskästchen abführte... Und der sitzt noch bis auf den heutigen Tag... Weil sich die Juden nicht einigen können, ob man ihn auslösen soll oder nicht.“ Buber: 7.7.1933: 309. Leo Hirsch an Martin Buber am 13.2.1938; JNL Jerusalem, Martin Buber Archive: Ms. Var. 350, Buber-Korr. 271,5. Und weiter hieß es darin: „Es müßte ein Röntgenverfahren zur Aufnahme geistiger, psychologischer, sprachlicher Bestände geben, damit ich feststellen könnte, was alles ich von Ihnen habe; bewusst sind mir besonders zwei für mich sehr bedeutende Erfahrungen. Eine Phase vor der einen Erfahrung hieß ungefähr: Kabzonim aller Ländern vereinigt euch! [...] die Erfahrung und letzte Phase heißt genau: Ich und Du. Die andere Erfahrung ist das Übersetzen.“
235 Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, sondern stellte gleichzeitig dem „völkischen Menschen“ das Bild des „überwindenden Juden“ entgegen, dessen „Überwinden [...] nur von einem Unüberwindlichen her“ kommen könne, „das der Labilität nicht untertan ist, das von ihr nicht erfasst werden kann, das ihr unbedingt überlegen bleibt.“88 Die Legitimität eines Gottesvolkes konnte aber niemals auf einer äußeren Macht beruhen und grenzte sich somit in positiver Bestimmung jüdischen Daseins selbstbewusst gegen fremdbestimmte und negative Identitätszuschreibungen von außen ab.89 „Ich bin auch heute noch der Meinung, daß es [die Religion, K.S.] nicht die einzige Möglichkeit ist, als anständiger Mensch zu leben und den höchsten Menschenzielen zu dienen“, schrieb Leo Hirsch seinen Eltern am 27. Mai 1935, aber es ist wenigstens eine Möglichkeit und wenn man sie wirklich behol lewowcho90 praktiziert, eine vollkommene! Für hier ist es sogar die einzige, denn zum Christentum tritt nun kaum wer über, und alles übrige… Die wirklich idealen Menschheitsverbesserungssysteme erscheinen von hier aus ferner denn je gerückt, während die Religion praktisch erprobt ist. Ich meine, bei aller inneren Reserviertheit der Religion gegenüber mußte ich doch mir eingestehen, daß sie zunächst die einzige, praktisch sofort anwendbare, von Massen anwendbare Möglichkeit ist, seinem Leben einen Sinn zu geben.91
Dass Leo Hirsch in seinen seit 1933 entstandenen schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten nach eigener Einschätzung „nur Jüdisches, also 90% Religiöses“92 thematisierte, war also weniger einer geistigen Wandlung als vielmehr einer aus den politischen Verhältnissen resultierenden pragmatischen Notwendigkeit geschuldet. Ganz in diesem Sinne hatte er mit dem Verleger HansJoachim Schoeps vor der Niederschrift seiner Praktische Judentumskunde (1935) verabredet, daß ich ein Buch schreiben sollte, um den „Neujuden“, d.h. Menschen, die unter den jetzigen Umständen geistig und seelisch nichts mehr haben als ihr Judentum und es vor allem einmal kennen lernen wollen, wissen wollen, was das ist und wie man Jude „wird“ oder „ist“, um also solchen Menschen eine Art Einführung ins Judentum zu verschaffen.93 88 89 90 91 92 93
Buber: 7.7.1933: 309. Buber: 11.8.1933: 413. Behol lewowcho (Hebr.): hier im Sinne: von ganzem Herzen. Leo Hirsch an seine Familie am 27.5.1935; Privatnachlass: A. Wolffs. Ebenda. Ebenda. Auch der vom Vortrupp-Verlag verwandte Werbetext für die „Praktische Judentumskunde“ argumentierte in dieser Weise: „Der Jude unserer Tage, altfrommer Sitte und Brauchtum zumeist entfremdet, sucht heute einen Weg, der zurück in die Welt der Väter führt. Dieses Buch will
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In seinen journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten nach 1933 konnte Leo Hirsch – ob als Kritiker zeitgenössischer Kunst und Literatur oder in Vorträgen über ostjüdische Kultur und ihre Dichter, ob in seiner Prosa oder als Übersetzer vor allem jiddischer Literatur, ob als Dramaturg für kabarettistische Kleinkunstprogramme oder für die Jugendbühne des Jüdischen Kulturbundes – im Unterschied zu seinen aus assimiliertem westjüdischen Milieu stammenden Kollegen wie Julius Bab oder Kurt Pinthus auf den großen religions- und bildungsgeschichtlichen Fundus einer orthodox-jüdischen Erziehung zurückgreifen.94 Er war dadurch gerade nicht in der Situation des von ihm 1934 beschriebenen Dreitage-Juden,95 oder des zeitgenössischen Philologen in seinem Artikel Am Tor der guten Wünsche, der – ein „bedauernswerter, kein Ausnahmefall“ – „früher eine vorzügliche Lebensstellung und heute gar nichts“ hatte. Der Philologe sei „heute auf das Judentum angewiesen, dem er nichts zu bieten hat als profunde germanistische Kenntnisse. Er muß umlernen.“96 Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft mussten sich nach 1933 vielfach selbst als „Lernende“ begreifen und auch in Dichtung, Kunst oder journalistischen Veröffentlichungen jener Jahre ist ein gewachsener Bildungsauftrag unübersehbar. Der von Leo Hirsch gemeinsam mit Egon Jacobsohn herausgegebene, feuilletonistisch-skizzenhafte Band über Jüdische Mütter (1936)97 entstand vor diesem zeitgenössischen Hintergrund ebenso wie sein Jugendbuch Das Lichterhaus im Walde (1936),98 in dem zwei Großstadtkinder, die bisher von ihrer jüdischen Abstammung nicht viel wussten, im Haus eines jüdischen Fellhändlers ihren ersten Schabbat Chanukkah erleben. Auch die 1935 unter dem Titel Gespräch im Nebel. Leibniz besucht Spinoza als 2. Band der Philo-Bücherei erschienene Erzählung eines fiktiven Gesprächs des
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ihm eine Stütze sein, indem es ihn das jüdische Leben in seiner Fülle wieder kennen und verstehen lernt.“ Privatnachlass: A. Wolffs. So bemerkte der Literaturkritiker Kurt Pinthus, aus assimilierten jüdischen Intellektuellenkreisen kommend und in den ersten Jahren nach 1933 gerade wegen seiner engen Bindung an deutsche und europäische Kultur von der Gestapo mehrfach mit Redeverbot belegt, am 6.6.1935 in einem Brief an Salman Schocken, er habe sich „mit Eifer und Leidenschaft in jüdische Dinge eingearbeitet [Hervorhebung von der Verf.]“ und setzte damit die Situation Vieler noch einmal nachdrücklich ins Bild. Kurt Pinthus an Salman Schocken am 6.6.1935, Berlin; Schocken-Archiv, Jerusalem 844/2, Bd. 5. Leo Hirsch in: Der Morgen, Sept/Okt. 1934. Leo Hirsch in CV. Zeitung 6.9.1934. Jacobsohn und Hirsch: 1936. Leo Hirsch: 1936.
237 deutschen Philosophen Leibniz mit dem bereits todkranken Baruch Spinoza in Haag, in deren Zentrum die ersehnte Lektüre der Ethik Spinozas durch den mit dem Manuskript alleingelassenen Leibniz steht, wurde damals als Versuch gelesen, „auch nicht gelehrte Leser etwas von der stillen Größe Spinozas ahnen zu lassen“.99 Dass Leo Hirschs Arbeiten dieser Jahre weit eher der Bildung und inneren Stärkung eines breiteren Publikums zugedacht waren als dass sie einen ausdrücklich gelehrten Anspruch vertraten, wurde von den zeitgenössischen Rezensionen eher anerkennend als kritisch vermerkt.100 So registrierte ein Rezensent der Jüdischen Rundschau die Ungleichgewichtigkeit der Darstellung beider Philosophen, in der ihm völlig zutreffend „die Gestalt des Besuchers, des jungen Leibniz, im Nebel bleibt“, lediglich als dem Titel bereits eingeschrieben und im ironisch-freundlich bleibenden Seitenhieb.101 Die zeitgenössischen Deutungsmöglichkeiten des Textes, so der Untertitel „Spinoza – Jude?“ oder die Heimatlosigkeit des Protagonisten in einer antisemitischen Umwelt, wurden dagegen dankbar aufgegriffen.102 „Jüdischer Geist ist, was Sie als Bestes in sich tragen, nicht was Sie an andern verachten“, hatte Leo Hirsch in diesem Sinne – Gustav Landauer zitierend – seinem Buch als Motto vorangestellt.103 „Wir sind selbst in einer geistigen und seelischen Notlage und müssen selbst sehen, was uns noch gehört“, hatte der Autor am 22. November 1934 in seinem Aufsatz Geist und Seele jüdischer Lyrik im Israelitischen Familienblatt erklärt: Aber wir können auf unsere Geschichte, unsere Gesetze, unsere Literatur stolz sein, denn wenn wir sie uns zu eigen machen, „als wer’s [sic.!] ein 99 100
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M.: Gespräch im Nebel 1935: 102. Auch in dem vom Vortrupp-Verlag verwandten Werbetext für Leo Hirschs „Praktische Judentumskunde“ hieß es in diesem Sinne: „Es ist kein Lehrbuch alten Stiles, das vor lauter Gelehrsamkeit nicht lesbar ist, sondern heutig-ewige Lehre von jüdischer Wirklichkeit, so spannend geschrieben, daß es den Leser nicht eher losläßt, als bis er auf der letzten Seite angekommen ist.“ Privatnachlass: A. Wolffs. bs.: „Philo-Bücherei“, in: Jüdische Rundschau. Berlin, Nr. 55, vom 9.7.1935: 8. In einem Brief an Martin Buber spricht Leo Hirsch selbstkritisch davon, dass seine „Abneigung, vielleicht besser: Hilflosigkeit Leibniz gegenüber“ ihn „nicht näher an ihn herankommen ließ“. Und weiter: „Den Mangel empfinde ich auch, aber selbst beim nachträglichen Überdenken der Begegnung treibts mich wieder, fast blind für Spinoza Partei zu ergreifen, also gegen Leibniz.“ Leo Hirsch an Martin Buber am 10.11.1935; JNL Jerusalem: Martin Buber Archive: Ms. Var. 350, BuberKorr. 271, 6. Vgl. u.a.: M.: Gespräch im Nebel 1935: 102. Leo Hirsch: Gespräch im Nebel 1935: 4.
238 Stück von mir“, wenn wir unsere Geschichte leben, unsere Tradition fortführen, unsere Literatur kennen und pflegen, dann wachsen wir in das alles hinein, als wenn wir auch an seiner Entstehung beteiligt gewesen wären.104
Aus dieser Perspektive erscheinen auch Leo Hirschs forcierte Bemühungen um die Übertragung jiddischsprachiger Texte als Beitrag zu einem sich in jenen Jahren unter jüdischen Künstlern und Intellektuellen neu formulierenden Verständnis kultureller Wurzeln und Zugehörigkeit. Neben zahlreichen Nachdichtungen poetischer Texte in Zeitungen und Zeitschriften105 erschienen u.a. seine Übertragungen von Jecheskel Kotiks Lebenserinnerungen Das Haus meiner Großeltern (1936),106 von H. Leiwiks Dichtung Der Golem. Eine jüdische Sage in sieben Szenen (1937)107 und von Perez Hirschbeins Stück Grüne Felder, das im Jüdischen Kulturbund und von der Jugendbühne des Kulturbundes aufgeführt wurde. Gemeinsam mit Dr. J. Meitlis leitete Leo Hirsch seit dem 5. Februar 1935 im Berliner Jüdischen Lehrhaus die Arbeitsgemeinschaft „Ostjüdische Literatur“, veröffentlichte eine kleine Maschinenschrift unter dem Titel Eine Stunde jiddische Literatur108 und war ab 1935 vorübergehend Mitarbeiter für Jiddisch in der Dramaturgischen Zentralstelle des Reichsverbandes der Jüdischen Kulturbünde. Noch die aus den späten 30er und beginnenden 40er Jahren überlieferten Briefe Leo Hirschs belegen, dass er sein fundiertes Wissen über jüdische Tradition und Religion bis zu seinem Lebensende unablässig erweiterte. Seine Position in den damals zwischen äußerem politischen Druck und inneren Selbstbestimmungsversuchen mit großer Vehemenz geführten Diskussionen um eine sogenannte „jüdische Kultur“ erlebte dennoch nach 1933 keinen grundlegenden Wandel. Seiner ostjüdischen Herkunft und den religiösen Traditionen ohnehin nie völlig entfremdet, unternahm der Autor vielmehr den 104 105
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Leo Hirsch: „Geist und Seele jüdischer Lyrik“ 1934. Eine in den Unterlagen des Schocken-Verlags vom 16.5.1935 vermerkte Anthologie jiddischer Lyrik ist offenbar nicht mehr zustande gekommen (Halbmonatsbericht des S. Schocken-Verlags vom 16.5.1935, Monat V/I.). Der Autor präsentierte jedoch eine kleine Anthologie unter dem Titel „Der jüdische Winter“ in der Jüdischen Rundschau vom 17.4.1935; „Eine kleine Anthologie“ (sämtliche Übertragungen von Leo Hirsch), in: Jüdische Rundschau. Berlin, Nr. 98 vom 8.12.36: 5.; „Jüdische Literatur in fremden Sprachen. Dichter und Denker der letzten vierzig Jahre“, in: Jüdische Rundschau. Berlin, N. 31/32, vom 17.4.1935: 34. Kotik: 1936. Leiwik. 1937. Leo Hirsch: Eine Stunde jiddische Literatur 1935.
239 durchaus zeittypischen Versuch, auch in einer sich verstärkenden Rückwendung zu seinen intellektuellen Wurzeln an der Verbindung zur europäischen und Weltkultur festzuhalten. Das Leben und Werk Franz Kafkas waren ihm dabei in einem Artikel von 1935 erneuter zeitgenössischer Beleg dafür, daß es eine ganz jüdische Möglichkeit gibt, ohne Abkehr von der gewohnten Welt, ohne Verzicht auf die gewohnte Sprache, ohne leibhaftige Auswanderung und ohne seelische Flucht aus der gewohnten Vorstellungswelt, ja mit allem literarischen, europäischen, modernen Geistesbesitz heimzukehren, wieder so völlig Jude zu sein, daß man trotz aller Unterschiede ein Glied in der Kette wird, die mit Propheten, Psalmisten, Talmudgleichnis-Erzählern, Klaglied- und Bußgebetdichtern, Kabbalisten, mittelalterlichen Philosophen, Chassiden und neuen Heimkehrern doch auch zu uns führt.109
Dass sich dabei – durch die veränderte politische Situation bedingt – die Perspektive literarischer Darstellung fast zwangsläufig änderte, spiegeln einige der späten Texte Leo Hirschs in einer vereinzelt auffindbaren Wiederaufnahme von Stoffen und Geschichten aus seinem Frühwerk, die nach 1933 noch einmal „neu“ erzählt werden. So entlehnt die 1934/35 in der Zeitschrift Der Morgen abgedruckte Erzählung An der Grenze110 die im ostjüdischen Milieu angesiedelte Jugendgeschichte des Journalisten und Revolutionärs Michael Boskin aus Hirschs unpubliziert gebliebenem Romanmanuskript „Illusion“.111 Erscheint in letzterem der Nichtjude Boskin vor allem als revolutionärer Denker, der – zwischen verschiedenen Religionen aufgewachsen – den Glauben an Gott verloren hat, aber aus Respekt und Verehrung für seine jüdischen Pflegeeltern als Jude lebt, entbehrt der Heranwachsende in der unter den Bedingungen nationalsozialistischer Zensur 1934 erzählten Geschichte nahezu vollständig seiner politischen Ambitionen. Verstärkt herausgearbeitet werden dagegen Boskins Fremdheitsgefühle innerhalb der Dorfgemeinschaft und der Gastfamilie Kiwi gegenüber, seine innere Zerrissenheit und sein Glaubenskampf sowie Zeichen einer antisemitischen Umwelt, der die religiöse und menschliche Toleranz der jüdischen Familie und die Schilderungen traditionellen jüdischen Gemeinschaftslebens gegenüberstehen. Obgleich jedoch das Zusammenleben von Dorfbewohnern christlicher und jüdischer Religion in der späteren Erzählung in den Mittelpunkt rückt, wird der darin angelegte – und angesichts der zeitgenössischen politischen Situation durchaus 109 110 111
Leo Hirsch: „Anmerkungen über Franz Kafka“ 1935. Leo Hirsch: „An der Grenze“ 1934/1935. Vgl. Anm. 18.
240 naheliegende – Konflikt erzählerisch nicht zentral. Wie im frühen Roman wird Boskin auch in der späteren Erzählung in erster Linie als Mensch gezeichnet und nicht als Vertreter einer Religion. In der zusätzlichen Überhöhung einzelner Figuren formuliert die Geschichte damit einen Appell an Toleranz und Menschlichkeit, der sowohl in seinem Moment offenen Widerspruchs gegen die politischen Entwicklungen in Deutschland als auch in einer in ihm beschlossenen illusionären Hoffnung an die erste Aufführung des Kulturbundes deutscher Juden im Sommer 1933 in Berlin erinnerte: Gegen den Ausbruch der offenen Diktatur in Deutschland inszenierte man Nathan der Weise, das Hohelied der Toleranz. Für viele der in den Jahren nationalsozialistischer Herrschaft entstandenen journalistischen und fiktionalen Arbeiten Leo Hirschs war ungeachtet der Zensurbestrebungen Hans Hinkels und seines Büros zur Überwachung kultureller Tätigkeit der deutschen Juden eine überraschende Offenheit in der Darstellung jüdischer Existenz im damaligen Deutschland bezeichnend.112 So setzte die bereits erwähnte Erzählung Die letzte Station, die seit dem 24. Dezember 1935 in der Jüdischen Rundschau in Fortsetzungen erschienen war,113 die bedrohte gegenwärtige Lage der Juden unmittelbar ins Bild. Im erneuten literarischen Selbstzitat – diesmal aus seinem Roman Lampion – integriert der Autor die Geschichte vom „Versagen“ seines Protagonisten, als dessen junge, jüdische Geliebte von einem polnischen Offizier belästigt wird, als Binnenhandlung und in neuer historischer Perspektivierung seinem Text von 1935. Wird das erinnernde Wiedererwecken der antisemitischen Atmosphäre der frühen 20er Jahre in Polen für die literarische Figur Erwin zur 112
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So dürften die vorgenommenen Änderungen in einer vom Autor verfassten kabarettistischen Szenenfolge „Der große Bilderbogen“, die im November 1937 bereits mehrmals zugunsten der Winterhilfe in den Berliner KaiserWilhelm-Sälen aufgeführt worden war, gerade in deren übermäßiger Realitätsnähe begründet gewesen sein: Ein Puppenspiel, „das die trüben Erfahrungen eines armen Schluckers auf dem Wege von einer jüdischen Organisation zur anderen mit sarkastischer Laune“ darstellte, musste damals durch einen gleichnishaft fungierenden Sketsch nach Scholem Alejchems Novelle „Hotel Türkalia“ in Berditschew ersetzt werden (vgl. Jüdische Rundschau Nr. 94, vom 26.11.37, Berliner Rundschau). Auch in dem Aufsatz „Am Tor der guten Wünsche. Zum Beginn des neuen Jahres. Ein Querschnitt“ antwortet der 7jähriger Junge Walter auf die Frage, wie es geht, in offenem Realitätsbezug: „Ich habe als Jude in meiner Klasse nicht zu leiden.“ Woraufhin der Erzähler kommentiert: „(Es geht mir wie ein Stich durchs Herz, wenn ich denke, wie naiv dagegen unsereins mit sieben Jahren noch sein durfte.)“. In: C.V.-Zeitung. Berlin, vom 6.9.1934. Leo Hirsch: Die letzte Station 1935/56.
241 Möglichkeit, die damaligen Erlebnisse zu verarbeiten und sich in der erlebten Gegenwart der 30er Jahre vor seiner Auswanderung aus Europa auch innerlich vom Ort seiner Kindheit zu lösen, gibt dem Autor selbst das Aufgreifen dieser Jugendgeschichte die erzählerische Freiheit, die antisemitischen Ausschreitungen im gegenwärtigen Berlin und Deutschland im Bild der Vergangenheit offen zu thematisieren. Im scheinbaren Rückblick schreibt er über die „Angst vor der Pogromwelle, die sie alle damals gepackt hatte wie die Tiere der Druck vor dem Gewitter“, über die „Panik zwischen Pogrom und Auswanderung, Deutschtumsstolz und Judentumsnot“ und erinnert eindringlich daran, dass, „[w]enn man sich Tag und Nacht nicht mehr sicher fühlt, [...] man gehen“ muss. „Die Heimat kommt erst“, lacht Erwin optimistisch am Schluss der Erzählung,114 die dem damaligen Leser eine Perspektive jüdischer Existenz in der Auswanderung nach Palästina wies. Leo Hirsch, der auf der Warteliste für eine an Quoten gebundene Auswanderung nach Palästina stand, ist die Flucht aus Deutschland nicht mehr gelungen. „Ich bin auch froh, daß Ihr nicht hier seid. Denn sonst hättet Ihr jetzt die ganze Krankheitsgeschichte mit dem Onkel mit durchzumachen, die eine Nervenmühle ist,“ schrieb er den Eltern noch vor November 1938. Hitler als „Onkel“ bezeichnend, berichtet er verklausuliert von der sich zunehmend verschärfenden politischen Lage in Deutschland und den Gefahren offenen Sprechens selbst im vermeintlich privaten Raum: Als er den ersten Schlaganfall hatte, und wir dachten, schlimmer kann es schon nicht mehr werden, da war es noch verhältnismäßig großartig gegen jetzt, denn nun ist er überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig, so habe ich den Eindruck. Ich hätte mir als Laie nie vorstellen können, daß eine Arterienverkalkung einen Menschen so weit bringen kann. Darum bitte ich Euch inständigst, nichts zu schreiben, was ihn aufregen könnte. Denn bei aller Gereiztheit ist er doch noch so anhänglich, daß er jeden Brief von Euch lesen möchte, und er weiß ja, daß Ihr jede Woche schreibt. 115
Leo Hirschs in den späten dreißiger Jahren unternommenen Versuche einer Emigration in die USA scheiterten trotz der Unterstützung dortiger Freunde an fehlenden Pässen, mangelndem Geld oder den nicht rechtzeitig erlangten Visa für einzelne Länder. Auch Nelly Sachs’ Bemühungen, noch Anfang der 40er Jahre für den Autor etwas 114 115
Leo Hirsch: „Die letzte Station“ hier: Jüdische Rundschau Nr. 5, vom 17.1.1936: 8. Leo Hirsch an die Familie [ohne Datum; vor dem 9.11.1938]; Privatnachlass: A. Wolffs.
242 in Schweden zu erreichen, blieben erfolglos.116 Spätestens seit dem Novemberpogrom von 1938 war offensichtlich geworden, dass sich die Nationalsozialisten mit einer Entrechtung jüdischer Bürger nicht mehr begnügen würden, sondern eine radikalere Lösung der sogenannten „Judenfrage“ anstrebten. Hans Hirsch berichtete von seinem Besuch in Berlin am Abend vor der sogenannten „Reichskristallnacht“. Leo Hirsch, der immer gut unterrichtet gewesen sei, habe ihn vor einem Bleiben in der Stadt gewarnt und bereits Schlimmes erwartet, falls der Legationsrat vom Rath sterben sollte: Edith und ich gingen zur Nachtvorstellung gegen 23.00 Uhr ins Kino. Beim Herauskommen sahen wir ein Extrablatt: „Vom Rath seinen Verletzungen erlegen“. „Hans“, sagte Edith, „wir gehen jetzt noch einen Kaffee trinken, aber nicht in ein jüdisches Lokal.“ Wir gingen zu „Trumpf“, aßen Kuchen, tranken Kaffee, gingen später nach Hause. Leo hatte die Nachricht schon gehört und sagte: „Heute gehen wir zeitig (ca. 2.00 Uhr!) schlafen.“ [...] Eine Stunde später klingelte es Sturm. Leo und ich wachten auf. Es klingelte weiter. Alle waren still und schwiegen, nicht einmal der Hund bellte. Klingeln... „Leo: ‚Wir rühren uns nicht!“ Wir hörten das Splittern von Glas, schliefen später noch ein wenig ein und standen am nächsten Morgen (gegen die Gewohnheit) früh auf. Ein Freund kam zu Besuch. Er war nachts unterwegs gewesen, hatte geklingelt und berichtete nun über die Vorfälle der vergangenen Nacht. Wir lasen die neuesten Meldungen in den Zeitungen...117
Die zweite große Fluchtwelle der jüdischen Bevölkerung setzte ein: Im Januar und Februar 1939 emigrierten über 6400 Juden allein aus Berlin. Von 1933 bis zum Beginn des II. Weltkrieges haben insgesamt mehr als 90000 Berliner Juden ihre Heimatstadt verlassen. Nach dem 9. November 1938 waren sämtliche jüdischen Zeitschriften und Zeitungen von den Nationalsozialisten verboten worden. Der Jüdische Kulturbund musste auf Anordnung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda seine Arbeit fortsetzen. Nachdem der langjährige Dramaturg der Organisation, Julius Bab, im Februar 1939 emigrieren konnte, war die Frage seines Nachfolgers, „der zugleich als Verbindungsmann zum Jüdischen Nachrichtenblatt und 116 117
Vgl. Nelly Sachs an Kurt Pinthus am 12.11.1946, in: Briefe der Nelly Sachs 1984: 71. Interview mit Hans Hirsch in Holon, bei Tel-Aviv, am 23. September 1992. Hans Hirsch wurde nach seiner Rückkehr am 11.11.1938 in Breslau verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Nach 10 Tagen im KZ Buchenwald gelang es ihm schließlich, von seiner Mutter unterstützt, über Italien, den Suez Kanal, Singapur und Manila nach Shanghai auszuwandern. In Columbo erreichte ihn – zu spät – ein Brief Leo Hirschs, der ihm riet, in Ägypten das Schiff zu verlassen und sich an einen Bekannten von ihm zu wenden, der ihn nach Palästina bringen sollte.
243 Leiter der Vortragsabteilung tätig sein“ sollte, nach einem Arbeitsbericht des Jüdischen Kulturbunds „weniger schwierig zu lösen“, da „als einziger Bewerber Leo Israel Hirsch in Betracht kam“.118 Neben der Redaktion eines Halbjahresbandes der Monatsschrift für die Wissenschaft des Judentums übernahm Hirsch nun die Dramaturgenstelle im Kulturbund, betreute ab Februar 1939 die Redaktion der Monatsblätter des Jüdischen Kulturbundes und schrieb bereits ab Dezember 1938 für das Jüdische Nachrichtenblatt.119 Diese einzige, weiterhin zugelassene und unter strenger Vorzensur stehende jüdische Zeitung erschien noch bis zum 1. Juni 1943 und dokumentiert mit ihren regelmäßigen Veröffentlichungen neuester Restriktionsmaßnahmen gegen die Juden unmittelbar neben den Ankündigungen der aktuellen Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes, wie sehr jede kulturelle Betätigung dieser Jahre im Schatten der immer drückender werdenden Zwangsmaßnahmen und der Ghettoexistenz der jüdischen Bevölkerung stand. In seiner Untersuchung zum Jüdischen Nachrichtenblatt120 verwies Reiner Burger auf das große Schreibtalent der Journalisten und ihren Mut, „der Selbstbehauptung des Geistes und der Wahrung der absoluten Werte unter der Gefahr des Existenzverlustes“ zu dienen.121 Leo Hirsch berichtete über aktuelle Theater- und Filmvorführungen in Berlin, über kulturelle Ereignisse in Palästina, schrieb über jüdische Traditionen, Bräuche und Literatur und immer wieder offen oder verdeckt über das Schicksal der Juden in Deutschland. Im Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen journalistischen Widerstands im Feuilleton des Jüdischen Nachrichtenblattes erwähnt Reiner Burger insbesondere die Arbeiten Leo Hirschs, der in seinen Besprechungen von Kulturbundveranstaltungen wie beispielsweise Shakespeares Wintermärchen122 immer wieder gewagt habe, „offen oder zwischen den Zeilen Parallelen zwischen der Handlung eines Theaterstücks und der Lebensrealität der Juden im national-
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Arbeitsbericht des Jüdischen Kulturbundes vom 1.10.1938–30.6.1939; Archiv der Akademie der Künste, Berlin: Fritz Wisten Archiv 74/86/5042. Vgl. auch die Notiz im Jüdischen Nachrichtenblatt Nr. 24, vom 24.3.1939 (Wien): 9. Leo Hirschs erster Artikel im Jüdischen Nachrichtenblatt erschien am 13.12.1938, sein letzter Beitrag am 10.6.1941. Burger 2001. Ebenda: 135. Burger zitiert an dieser Stelle Karl-Wolfgang Mirbt: 1958. Leo Hirsch: Das Wintermärchen 1939: 9.
244 sozialistischen Deutschland aufzuzeigen.“123 Leo Hirschs Aufsatz über J. B. Priestleys Drama Menschen auf See kann heute als sprechendes Beispiel dafür stehen. Es dokumentierte zugleich sein Bemühen um eine weitgehende Zeitbezogenheit bei der Auswahl der Stücke für den Kulturbund. Schauplatz des Dramas war ein Schiff, [b]esser ein Wrack; auf dem Schiff ist Feuer ausgebrochen, man kann nicht mehr steuern, man hat alle Rettungsboote ausgesetzt, Sturm ist aufgekommen, das letzte Rettungsboot ist zerschellt, einige Passagiere sind ertrunken, und auch der Kapitän scheint ein Opfer dieses Unglücks zu sein. Aber das alles hat sich schon abgespielt, bevor der Vorhang aufgeht. Jetzt ist das Feuer gelöscht, und wenn es nicht wieder ausbricht oder wenn kein neuer Sturm aufkommt, müßte das Schiff sich noch über Wasser halten können. Es muß - denn an Bord sind noch zwölf Menschen.124
Immer wieder verwischen sich auch in der anschließenden Besprechung die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, gerät Hirschs Text selbst zur kaum mehr verklausulierten Metapher, wenn ihm das Schiff, „auf dem Priestleys Menschen leben und der brennenden, stürmischen Lebensfrage ausgesetzt sind, nicht nur irgend ein Schiff ist, sondern das Schicksalsschiff und [...] die Lebensfrage unsere Frage“: Denn ihre Lage ist dramatisch wie die Hochspannung der Atmosphäre vor dem Ausbruch eines Gewitters: wird es sich entladen? Und wenn es sich nicht entladet, wird man das denn ertragen können? Und wenn es sich entladet, wird man das überleben?125
Der in Bezug auf die eigene Person sehr zurückhaltende Autor klagt in seinen späten Briefen immer wieder über gesundheitliche Probleme, mangelnden leidet unter den Lebensmittelrationierungen,126 Heizmöglichkeiten in den kalten Wintern, einer schlimmen Kiefernvereiterung, die ihn 1940 fast die Hälfte seiner gesunden Zähne kostet.127 Sein altes Lungenleiden bricht wieder aus. Als der 123
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Burger 2001: 92. Vgl. auch 133f. und 135: „Nach April 1939 konnten im JN keine Artikel mit ähnlich offensichtlichem Zeitbezug mehr gefunden werden. Wichtig ist aber letztlich nicht die Menge dieser Beiträge, erstaunlich ist vielmehr die Tatsache, daß sie überhaupt erschienen.“ Leo Hirsch: Menschen auf See 1939: 2. Ebenda. Seit Beginn des Krieges wurden in Berlin Lebensmittelkarten an alle Bürger verteilt. Die Juden erhielten für ihre mit einem „J“ gekennzeichneten Karten weniger und nahmen an Sonderzuteilungen, die es von Zeit zu Zeit gab, nicht teil. Vgl. Leo Hirsch an Nelly Sachs am 5.7.1940, Nollendorfstr. 37; Kgl. Bibliothek Stockholm: 1983/136 Gunhild Tegen.
245 Jüdische Kulturbund am 11. September 1941 aufgelöst wird,128 beschäftigt ihn zunächst die Bibliothek der Jüdischen Gemeinde. „Die letzten sechs Wochen habe ich in unserem Antiquariat gearbeitet, und die vielen alten Bücher, meist solche Folianten, wie auch unser Vater hat, waren mir eine gute Gesellschaft“, 129 schreibt er am 9. November 1941 seiner inzwischen von den Nazis im Frauengefängnis von Anrath inhaftierten Schwester Rose. Diese hatte zusammen mit anderen Kommunisten am 25. und 26. Februar 1941 in den Niederlanden den Fabrikarbeiterstreik mit organisiert und war in diesen späten Jahren die einzige aus der Familie, zu der Leo Hirsch in einem ihr monatlich einmal erlaubten Schreiben Kontakt halten konnte.130 Wenige Tage nach diesem Brief wird Leo Hirsch als 128
129 130
Leo Hirsch wurde bis zum 30.9.41 als Gehaltsempfänger des Jüdischen Kulturbunds mit einem Gehalt von 200,- RM brutto und 140,29 RM netto geführt. Leo Hirsch an Rose Boekdrukker am 9.11.1941, Nollendorfstr. 37; Privatnachlass: A. Wolffs. „Als die Deutschen in das kleine Holland kamen und diesem Volk alle Freiheit nahmen und es leer plünderten, fanden sie hier den allergrößten Widerstand“, beschrieb Rose Boekdrukker ihren Eltern am 18. Mai 1945 die damaligen Ereignisse: „Im Februar 1941 begannen sie mit Judenverfolgungen. Die Juden wehrten sich so gut sie konnten. Und als die Arbeiter aus den angrenzenden Bezirken davon hörten, kamen sie mit Messern, Äxten, Ofenrohren, Stuhlbeinen usw. bewaffnet, den Juden zur Hilfe. Das gab blutige Strassenschlachten. Zur Strafe dafür sollten 400 junge jüdische Männer in ein K.Z.-Lager nach Deutschland geschickt werden. Als Antwort darauf ging ganz Amsterdam und ein großer Teil von Nordholland zum Generalstreik über. Post u. Telegraf, Licht und Wasserleitung, Polizei und sämtliche Bahnen, alle Fabriken u. Geschäfte, Arbeitsämter, alles alles hat am 25. u. 26. Febr. 1941 gestreikt, um sich deutlich gegen jede Judenverfolgung auszusprechen. Unsere Partei hat diesen Streik vorbereitet und wurde von den Deutschen auch dafür verantwortlich gemacht. Es wurden alle Kommunisten verhaftet, deren sie habhaft werden konnten und 22 Funktionäre vor Gericht gestellt. Darunter war ich auch. Wir waren 20 Männer u. 2 Frauen. Ich wurde erst am 9. April verhaftet. Nun kam eine schwere aber sehr große Zeit für mich. Ich habe mich selbstverständlich gut gehalten und trotz aller Bemühungen der Gestapo gut meinen Mund gehalten. Ich habe aber auch so viel Liebe von Seiten meiner Kameraden und auch viele Sympathiebezeugungen vom holländischen Volk empfangen, daß ich schon davon stark sein mußte. Im Sept. 1941 fand unser Prozeß in Den Haag statt und dauerte 14 Tage. Jedes Mal, wenn wir unter schwerer Bewachung zum Gerichtshof gebracht wurden, waren die Straßen schwarz von Menschen. Viele waren sogar aus Amsterdam gekommen, um uns zuzujubeln. (Die Öffentlichkeit war natürlich ausgeschlossen.) Die S.S. knüppelte die Menschen vergeblich immer wieder auseinander. Sofort waren unsere Autos wieder umringt. – Ich wurde zu 10 Jahren Zuchthaus nach Anrath bei Krefeld gebracht. Dort war ich 3 Jahre.“ (Privatnachlass: A. Wolffs). Am 15.4.1994 wurde zur
246 Transportarbeiter zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der physischen Belastung ist er nicht lange gewachsen. Erschöpfungszustande und Krankenhausaufenthalte häufen sich. Bereits schwer erkrankt, spricht Hirsch in seinen letzten Briefen der Schwester noch immer vom Mut zum Überleben. „Wenn ich denken sollte, alles ist eitel und wiederholt sich, so wäre ja keine Veranlassung da, überhaupt zu leben“, schreibt er am 6. Juni 1942. Aber wenn ich dächte, das Leben, die Welt, die Menschheit ist Fortschritt, geht gradenwegs bergauf vom Affen zum Gott oder von der Urkeimzelle zum Ideal des Gesellschaftslebens, dann müsste ich ja auf alle persönliche und angelesene wissenschaftliche Erfahrung verzichten. Ich denke etwa so: woher wir kommen weiss man sowenig, wie wohin. [...] Geschichte lesen macht mich oft traurig, jeder liest ja das Seine heraus oder hinein, aber da es so ist, ist sie auch nur dann für mich wertvoll, wenn sie mir hilft, meinen Weg zu finden, wenn sie mir Vorbilder zeigt, die mir das Herz höher schlagen lassen. Das tut unsere immer wieder. Dann kommt die Frage: hatten die Menschen der Vergangenheit (und haben wir) den freien Willen, so zu sein und zu leben, oder waren sie nur Marionetten der geschichtlichen Notwendigkeit?131
Leo Hirsch hat die Frage für sich noch beantwortet: „Ich habe mich zum freien Willen bekehrt und mein Gott hat jedem einen guten und bösen Trieb mitgegeben, und was jeder mit seiner Mitgift anfängt, dafür ist er verantwortlich.“132 Die Unmenschlichkeit nationalsozialistischer Machtherrschaft beendete sein kurzes Leben. Den eindruckvollen Spuren, die es hinterlassen hat, sollte weiter nachgegangen werden.
Literaturverzeichnis Benn, Gottfried. 1933. Der neue Staat und die Intellektuellen. Berlin: Deutsche Verlagsanstalt. Boveri, Margret. 1965. Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler. Olten und Freiburg i. Br.: Walter. Buber, Martin. ‚Unser Bildungsziel‘ in: Jüdische Rundschau. Berlin. Nr. 54, vom 7.7.1933: 309.
131 132
Erinnerung an Rose Boekdrukker, geb. Hirsch, eine Schule in Amsterdam in „Rose Boekdrukker“ Schule umbenannt. Sie befindet sich in der Vancouverstraat 3-5, De Baarsjes, Amsterdam. Leo Hirsch an Rose Boekdrukker am 6.6.1942, Privatnachlass: A. Wolffs. Ebenda.
247 Ders.: ‚Geschehene Geschichte’ in: Jüdische Rundschau. Berlin, Nr. 64, vom 11.8.1933: 413. Burger, Reiner. 2001 Von Goebbels Gnaden. „Jüdisches Nachrichtenblatt“ (1938–1943). Münster: LIT (Kommunikationsgeschichte; 15). Dahm, Volker. 1979. Das jüdische Buch im Dritten Reich. Teil 1: ‚Die Ausschaltung der jüdischen Autoren, Verleger und Buchhändler.’ In: Archiv für Geschichte des Buchwesens. Bd. 20, Frankfurt/M. 1979. Dinesen, Ruth. 1984. Müssener, Helmut (Hrsg.): Briefe der Nelly Sachs. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Elbogen, Ismar. ‚Haltung!‘ in: C.V.-Zeitung. Berlin, vom 6.4.1933. Gruner, Wolf. 1995. ‚Die Reichshauptstadt und die Verfolgung der Berliner Juden 1933–1945.‘ In: Reinhard Rürup: Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Berlin: Ed. Hentrich. Heuer, Renate (Hrsg.). 2002. Archiv Bibliographia Judaica. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 11, München: Saur. Hirsch, Leo. ‚Landauer und Rathenau‘ in: Das Dreieck. Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Kritik. Berlin: Dreieck-Verl., 1. Jg., Sept. 1924, H. 1: 4. Ders. ‚Meilenstein Lasker-Schüler‘ in: Das Dreieck. Berlin, 1. Jg., Febr. 1925, H. 6: 196. Ders. 1927. Die Elemente. Heilbronn/Neckar: Otto Ulrich Verlag. Ders. [1928]. Lampion, ein kleiner Roman. Mährisch-Ostrau: Dr. R. Färber, o. J.. Ders. ‚Sie begraben V. B. Ibanez‘ in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft. Berlin, 24. Jg. 1. Halbjahr 1928: 212–214. Ders. ‚Der Hasenheideläufer‘ in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft. Berlin, 24. Jg. 2. Halbjahr 1928: 219–220. Ders. 1929. Vorbestraft Roman, Baden-Baden: Merlin Verlag [in der Reihe: Die fesselnden Romane des Merlin-Verlages]. Ders. 1930. Die Dackellieder. Baden-Baden: Merlin-Verlag. Ders. ‚Der platonische Film‘ in: Neue Schweizer Rundschau. Zürich. Jg. 23, H. 1, Januar 1930: 63–72. Ders. ‚Darf Rothschild in die Walhalla?‘ in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft. Berlin, 26. Jg. 2. Halbjahr 1930: 803–804.
248 Ders. ‚Das Dumping der Seelen‘ in: Die Weltbühne, Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft. Berlin, 24. Jg. 2. Halbjahr 1931: 35–37. Ders. ‚Eßt Fische!‘ in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft. Berlin, 27. Jg., 1931, H. 18: 667–668. L. H. [d.i. Leo Hirsch]: ‚Der Zentrale Mensch. Ein Bekenntnis von Gottfried Benn‘ in: Berliner Tageblatt. Berlin. 62. Jg., Nr. 323 (Ausgabe A), vom 13.7.1933. Z. [d.i. Leo Hirsch]: ‚Einigkeit. Kein Märchen!‘ in: Israelitisches Familienblatt Nr. 49, vom 5.12.1933 (Jüdische Bibliothek: Unterhaltung und Wissen). (Ausschnitt im Nachlass mit den Initialen L.H. gezeichnet). Ders. ‚Dreitage-Jude‘ in: Der Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden. Berlin 10. Jg. Sept./Okt. 1934, H. 6/7: 295–298. Ders. ‚Am Tor der guten Wünsche. Zum Beginn des neuen Jahres. Ein Querschnitt‘ (Zeichnungen von Ludwig Meidner), in: C.V.-Zeitung. Berlin, vom 6.9.1934. Ders. ‚Geist und Seele jüdischer Lyrik‘ in: Israelitisches Familienblatt Nr. 47, vom 22.11.1934 (Jüdische Bibliothek: Unterhaltungsbeilage). Ders. ‚An der Grenze.‘ Ein Romanfragment. In: Der Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden. Berlin. Abdruck-Beginn: Nov.1934, 10. Jg. H. 8: 352–359; Schluss: Mai 1935, 11. Jg., H.2: 68–73. Ders. 1935. Praktische Judentumskunde. Berlin: Vortrupp [nach dem Krieg als: Jüdische Glaubenswelten. Hrsg. u. mit e. Vorwort von Hans-Joachim Schoeps. Gütersloh 1962]. Ders. 1935. Gespräch im Nebel. Leibniz besucht Spinoza. Berlin: Philo-Verlag [Philo-Bücherei 2]. Ders. Eine Stunde jiddische Literatur. Hrsg. vom Kleingemeindedezernat. Berlin: Mai 1935, 19 S. [Masch.schrift vervielfältigt, Schriftenreihe des Reichsausschusses der jüdischen Jugendverbände, H. 3; 1 Exempl. in der Jew. Nat. Library, Jerusalem S 36 B 937]. Ders. ‚Anmerkungen über Franz Kafka‘ in: C.V.-Zeitung. Berlin, vom 13.6.1935. Ders. ‚Die letzte Station. Ein kleiner Roman.‘ In: Jüdische Rundschau. Berlin. Jg. 40, 41. Abdruck-Beginn: Nr. 103/104, vom 24.12.1935: 16f. – Abschluss: Nr. 5, vom 17.1.1936: 7f. Ders. 1936. Das Lichterhaus im Walde. Eine Erzählung für die jüdische Jugend [Mit Bildern von Ludwig Schwerin]. BerlinCharlottenburg: Verlag Kedem.
249 Ders. ‚Joseph wird nicht verkauft.‘ Novelle. In: Jüdische Rundschau. Berlin. Abdruck-Beginn: Nr. 1, vom 5.1.37: 5 – Abschluss: Nr. 5, 19.1.37: 4. Ders. ‚Das Wintermärchen‘ in: Jüdisches Nachrichtenblatt. Berlin, 2. Jg., Nr. 12 vom 10.2.1939: 9. Ders. ‚Menschen auf See. Zu der Aufführung im Jüdischen Kulturbund in Berlin‘ in: Jüdisches Nachrichtenblatt (Wiener Ausgabe), Nr. 29/30, vom 14.4.1939: 2. Isolani, Gertrud. 1985. Kein Blatt vor dem Mund. Briefe – Gespräche – Begegnungen. Basel. Jacobsohn, Egon; Hirsch, Leo. 1936. Jüdische Mütter [mit Radierungen von Max Liebermann]. Berlin: Vortrupp-Verlag. Kauffeldt, Rolf. ‚Zur jüdischen Tradition im romantisch-anarchistischen Denken Erich Mühsams und Gustav Landauers‘ in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 69 (1984): 18. Köhler, Wolfram. 1978. Der Chef-Redakteur Theodor Wolff. Ein Leben in Europa 1868–1943. Düsseldorf: Droste. Kotik, Jecheskel. 1936. Das Haus meiner Großeltern. Lebenserinnerungen. Übertragen von Leo Hirsch. Berlin, Schocken-Bücherei Nr. 95. Landauer, Gustav. 1978. Der Todesprediger. Wetzlar: Büchse der Pandora [Erstauflage: Dresden: Heinrich Minden 1893]. Ders. 1978. Aufruf zum Sozialismus. Köln: Wetzlar: Büchse der Pandora. Leiwik, H. ‚Der Golem. Eine jüdische Sage in sieben Szenen.‘ Übertragen von Leo Hirsch, in: Theater im Oktober 1937. Lenz, Siegfried. 1980. Gespräche mit Manès Sperber und Leszek Kolakowski. Hrsg. u. mit e. Vorwort von Alfred Mensak. Hamburg: Hoffmann u. Campe. Lowenthal, Ernst G. ‚Ein Baedecker durch das Judentum. Eine Erinnerung an Leo Hirsch.‘ In: Aufbau. New York, vom 22.7.1966. M.: ‚Gespräch im Nebel. Leibniz besucht Spinoza‘ in: Mitteilungen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin Nr. 7, vom 15.7.1935: 102. Mirbt, Karl-Wolfgang. 1958. Methoden publizistischen Widerstandes im Dritten Reich, nachgewiesen an der „Deutschen Rundschau“ Rudolf Pechels. Phil. Diss. Berlin. Reichmann, Eva G. ‚Diaspora als Aufgabe.‘ In: Dies. 1974. Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung. Heidelberg: Schneider.
250 Sch., Th. ‚Lampion. Ein kleiner Roman von Leo Hirsch‘ in: C.V.Zeitung. Berlin, vom 5.4.1929: 180. Seitz, Robert; Zucker, Heinz. 1931. Um uns die Stadt. Berlin: SiebenStäbe-Verlag. Sinsheimer, Hermann. 1953. Gelebt im Paradies. Erinnerungen und Begegnungen. München: Richard Pflaum. Wyndheim, Victor E. [d.i. Victor Klages]. 1948. Es geschieht. Roman. Berlin: Suhrkamp.
Ernst Christoph von Houwald (1778-1845)
Henk J. Koning ERNST VON HOUWALDS EPIK.* Bernd Juds in Dankbarkeit gewidmet.
Fragt man nach einem Schriftsteller, der als repräsentativer Gestalter von Kinder- und Jugendbüchern angesprochen werden könnte, so fällt wie bei allen soziologisch begründeten Gattungen die Antwort nicht leicht. Am ehesten ist wohl Ernst Christoph von Houwald (1778-1845) zu nennen (Buch für Kinder gebildeter Stände, 3 Bde., Leipzig 1819-24; Bilder für die Jugend, 3 Bde., Leipzig 1828-32; Abendunterhaltungen für Kinder, Leipzig 1833). In der Biedermeierzeit wurde er überall hervorgehoben, und es ist wirklich eine Tücke des Geschicks, dass man ihn heute nur als Vertreter des Schicksalsdramas zu kennen pflegt.1
Das schreibt der berühmte Biedermeierforscher Friedrich Sengle. Er trifft den richtigen Ton, wenn er darauf hinweist, dass Houwald heutzutage fast nur noch als Schicksalsdramatiker2 bekannt ist und oft mit Friedrich Ludwig Zacharias Werner und Adolph Müllner in einem Atem genannt wird. Diese Gattung, die sich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts einer großen Beliebtheit erfreute, verbreitete Houwalds Namen im ganzen deutschen Sprachgebiet, so dass es für seine Zeitgenossen verständlich war, dass sein Trauerspiel Das Bild im Juni 1821 gleich nach Webers Freischütz zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses in Berlin gegeben wurde. Hier soll jedoch nur am Rande von Houwalds Wirken als Dramatiker die Rede sein, vielmehr sollen seine Erzählungen und Märchen im Mittelpunkt des Interesses stehen, wobei die Frage gestellt werden soll, ob sie heutigen Lesern noch etwas zu sagen haben. Von besonderer Bedeutung für sein künstlerisches Schaffen war die langjährige Freundschaft mit Carl Wilhelm Salice-Contessa, der schon als Student in Halle mit Houwald intensiv verkehrte. Beide studierten am dortigen Pädagogium, das damals unter der Leitung des berühmten evangelischen Theologen und Pädagogen August Hermann Niemeyer ( 1754-1828) großes Ansehen besaß. Mit Niemeyer blieb Houwald auch nach seinem Abgang vom Pädagogium (1802) in Kontakt. So ist aus dem Jahre 1820 ein Brief vom 26. März erhalten * 1 2
Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags vom 28. Nov. 2003 im Neuhaus bei Lübben zum 225. Geburtstag Ernst von Houwalds. Sengle 1971-1980: Bd. II, 90. Vgl. Schmidtborn: 1909.
252 geblieben, in dem Niemeyer seine Bewunderung für Houwalds erstes. Bändchen von dem Buch für Kinder gebildeter Stände (Leipzig 1819) ausspricht. Er hatte das Werkchen schon selbst gekauft, weil es ihm aber abhanden gekommen war, hofft er ein neues Exemplar per Post von seinem ehemaligen Schüler zu erhalten. Am Ende dieses Schreibens erkundigt Niemeyer sich, ob Houwald bereit wäre für die Buchhandlung des Pädagogiums zu schreiben: Haben Sie nicht unter Ihren Papieren noch mehr für Kinder und die liebe Jugend? Und gäben Sie auch wohl etwas der Art u n s r e r Buchhandlung? Wären wir uns näher, ich suchte Sie in das Interesse eines Plans für ein Volksschul-Buch zu ziehen. Sie haben einen so herrlichen Ton, so kindlich und doch nicht kindisch, so fromm und doch nicht so mystisch dunkel, wie’s heut zu Tag Mode ist.3
Niemeyer erkannte in Houwald „einen beispielhaften Kinderschriftsteller”4, der mit seinen Erzählungen den richtigen Ton zu treffen wusste. Inhaltlich entsprachen die Houwaldschen epischen Arbeiten Niemeyers erzieherischen Ansichten, wie noch unten bei der Besprechung einiger Werke gezeigt werden soll. Nicht nur die Freundschaft mit Contessa war für den jungen Houwald von Bedeutung, es wurden auch Kontakte zu anderen literarisch interessierten Jugendlichen aufgenommen, mit denen Houwald später in Lübben und Berlin noch verkehren sollte. Es wurden zahlreiche Freundschaften geknüpft: er lernte den damals neunzehnjährigen Jurastudenten Julius Eduard Hitzig kennen, der als erster E.T.A. Hoffmann-Biograph5 in die Weltliteratur eingegangen ist und der für Houwalds literarische Kontakte in der preußischen Hauptstadt von Interesse sein sollte. Heinrich Voss, der später Philosophieprofessor in Heidelberg wurde, Heinrich Müller, der treffliche Violinspieler und Achim von Arnim, der, als er auf seinem Gute Wiepersdorf wohnte, gelegentlich noch mit Houwald korrespondierte6, gehörten ebenfalls zu seinem Bekanntenkreis. Diese künftigen Literaten fanden mehrmals freundliche Aufnahme bei Johann Friedrich Reichardt, dem Komponisten, Dirigenten und Musikschriftsteller, der durch die Vertonung Goethescher Gedichte bekannt geworden war. Reichardts anmutig gelegenes Besitztum Giebichenstein bei Halle war in den Sommermonaten ein beliebter Treffpunkt literarisch und musikalisch
3 4 5 6
Lehmann 1958: 187f. Sengle 1971-1980: Bd. II, 90. Hitzig 1823. Lehmann 1958: 206 und 232f.
253 Interessierter: auch Tieck, Wackenroder, Novalis, Brentano und Eichendorff waren dort gern gesehene Gäste. Schon der junge Houwald hatte also Kontakte zu Musikern und angehenden Poeten und Literaten. Vorerst fehlte ihm jedoch die Zeit zu literarischen Arbeiten, denn 1802 war er durch den Tod seines Vaters gezwungen, frühzeitig sein Studium der Kameralwissenschaften7 abzubrechen und in die Heimat zurückzukehren. Er lebte anfangs in Sellendorf, Kreis Luckau, wo er 1806 die einzige Tochter des verstorbenen Oberamtregierungsrates von Haberkorn8 heiratete. Abgesehen von Gedichten, die unter dem Namen Ernst oder dem Anagramm Waludho erschienen, ist es in dieser Zeit nicht zu schriftstellerischen Arbeiten gekommen. Der von Amtsgeschäften überhäufte Houwald fand keine Gelegenheit dazu, zumal er sich öffentlich stark engagierte und u.a. mit der Organisation der Landwehr beauftragt war und außerdem zum Vorsitzenden des Hilfs-und Wiederherstellungsausschusses der Niederlausitz9 ernannt wurde. Es waren die Jahre, in denen der von finanziellen Sorgen bedrängte Houwald die größte Mühe hatte sich mit den Seinen durchzuschlagen. Die Befreiungskriege von 1806 und 1815 und die napoleontische Fremdherrschaft10 verheerten auch die Niederlausitz und eine Viehseuche raffte manchen Wohlstand über Nacht weg. 1816 war für Houwald ein bedeutendes Jahr, weil Contessa zu ihm zog. Contessa lebte in Berlin mit seinem Sohn, als aber seine zweite Frau Henriette Neuendorf gestorben war, verlegte er seinen Wohnort nach Sellendorf. Der Privatier Contessa, der als Sohn eines reichen schlesischen Leinwandhändlers ein großes Vermögen geerbt hatte und sein ganzes Leben keinen Beruf ausübte, war ein willkommener Gast in der Familie Houwalds. Auch Houwald ging ein neues Leben auf, nicht zuletzt, weil er durch eine neue Verwaltungsstruktur mancher bisher geführten Amtsgeschäfte enthoben worden war. Er berichtet ausführlich über diese einschneidende Veränderung in seinem Berufsund Privatleben: Durch die Einsetzung der königlichen Landräte war ich vieler bisher geführter Geschäfte überhoben, und als ständischer Landesdeputierter nur auf die Führung der rein ständischen Angelegenheiten meines Kreises, wie durch die Verpachtung meines Gutes nur auf mein Haus zurückgewiesen worden. Ich konnte meine Zeit nun ausschließlich der Erziehung der Kinder 7 8 9 10
Kameralwissenschaft: Finanz-, Wirtschaft-und Verwaltungslehre im feudalabsolutistischen Deutschland. Der Begriff ist heute veraltet. Lehmann 1958: 164. Orphal 1993: 84. Ebert 1993: 35-51.
254 und dem Selbststudium widmen, gab der inneren lauten Aufforderung Gehör und nahm, in der ernsten Schule des Lebens vielleicht reifer dazu geworden, meine seit langer Zeit von der Hand gewiesenen literarischen Arbeiten aufs Neue vor. Der Familienvater forderte vom Dichter die nützliche Verwendung der Zeit, und der Dichter fand in den großen Ereignissen seiner Zeit, in der Nähe seines dichtenden erfahrenen Freundes Contessa und in der ländlichen Zurückgezogenheit Begeisterung, Rat und Muße. Manche längst angefangene Arbeit wurde vollendet, manches Neue gedichtet.11
Als Contessa 1816 zu Houwald auf Sellendorf zog, war er in der deutschen Literatur kein Unbekannter mehr, nicht zuletzt, weil er in Berlin mit dem Kreis um E.T.A. Hoffmann Kontakte unterhielt. 1815 hatte er im Verlag von Ferdinand Dümmler die Schicksalsnovelle Der Todesengel und das Riesengebirgsmärchen Haushahn und Paradiesvogel oder Die Gebirgsreise veröffentlicht. Es kann denn auch kaum Zufall sein, dass das erste Bändchen mit Erzählungen Houwalds Romantische Akkorde im nämlichen Verlag 1817 von Contessa herausgegeben wurde. Es werden Themen wie Wahnsinn und Tod angesprochen, wobei Houwald, ganz dem Zeitgeist entsprechend, die Handlung in den lieblichen Süden und das rauhe Schottland verlegt. Diese erste Ausgabe Houwaldscher Epik hat seinerzeit kein Echo gefunden und gehört heute zu den bibliophilen Seltenheiten. Zwei Jahre später kam bei Arnold in Dresden ein Bändchen mit Erzählungen von Houwald heraus; auch hier mag Contessa der Vermittler gewesen sein, waren ja im selben Verlag, ebenfalls 1819, zwei Bändchen mit Erzählungen von ihm erschienen. Arnold verlegte auch die Dresdener Abendzeitung, ein Blatt, das leichte literarische Ware anbot und mit dessen Stofflieferanten Houwald in persönlichen Kontakt kommen sollte. Auch diese zweite Ausgabe mit Erzählungen wurde kaum beachtet; erst mit dem Buch für Kinder gebildeter Stände. (3 Bd. Leipzig 1819, 1823 und 1824) kam Houwald als Epiker zum Durchbruch. Es ist anzunehmen, dass er als Erzähler von seinem Erfolg als Theaterdichter profitiert hat, denn seine berühmtesten Bühnenwerke wurden kurz vor und nach 1820 veröffentlicht: Die Freistatt 1819 (gedichtet 1817), Die Heimkehr 1821 (gedichtet 1818), Das Bild 1821 (gedichtet 1818/ 19), Der Leuchtturm 1821 (gedichtet 1819) und Fluch und Segen 1821 (gedichtet 1820). Houwalds Breitenwirkung um 1820 soll nicht unterschätzt werden; fast ebenso stark wie die positive Aufnahme beim 11
Adami 1859: 15.
255 Theaterpublikum war jedoch die negative Bewertung durch damalige führende Kritiker wie Tieck12, Börne13 und Heine14. Es sind diese Urteile, die das Bild Houwalds geprägt haben: die abfällige Beurteilung seiner Schicksalsdramen hat seine epische Produktion in den Hintergrund gedrängt. Trotzdem wusste das Lesepublikum seine Erzählungen zu schätzen, so dass manche zu Houwalds Lebzeiten in verschiedenen Ausgaben gedruckt wurden: sogar am Ende des 19. Jahrhunderts ist es zu Nachdrucken gekommen.15 Die Formenfülle16, ein typisches Merkmal der Biedermeierzeit, ist auch in den Bändchen Houwalds anzutreffen: eine bunte Mischung von Schauspielen, Märchen, Romanzen, Erzählungen, Charaden, Rätseln nebst Erinnerungen an große unvergessliche Männer und Gedichte wechseln einander ab. Houwald wollte in seinen epischen Arbeiten eine Kombination von Belehrung und Unterhaltung bieten, wobei nicht vergessen werden darf, dass manche Erzählung primär zum Vorlesen gedacht war und die Ein- oder Zweiakter von Kindern im familiären Kreis aufgeführt werden sollten. Die Musikbeilagen sind ebenfalls zum geselligen Vergnügen gedacht und sollten von Familienmitgliedern gespielt werden. Geselligkeit war damals in Mode und in den gehobenen bürgerlichen und adligen Kreisen wurden auch Kinder aufgefordert ihren Beitrag zur abendlichen Unterhaltung zu liefern. Um die Aufmerksamkeit der kleinen Zuhörer festzuhalten und die Darstellung vor Familienmitgliedern zu ermöglichen, beschränkte Houwald sich auf kurze Erzählungen und Dramolette, die den Umfang von zwei Akten nicht überstiegen. Die Zahl der Produzenten von Kinder-und Jugendliteratur war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts groß, so dass die Hervorhebung der Qualität der Houwaldschen Ausgaben, was Inhalt und Ausstattung angeht, ins Auge auffällt. Karl Hobrecker, ein Kenner alter Kinderbücher schreibt zu Houwald: Er gab sein Allerbestes im Buch für Kinder gebildeter Stände, drei Bände, 1820 [sic]-24, mit feinen Rambergschen Kupfern. Es sind wieder Schauspiele, längere Gedichte, Erzählungen und Märchen, nicht alle gleichwertig, aber alle weit aus den Niederungen ihrer literarischen Umgebung hervorragend. 17
12 13 14 15 16 17
Tieck 1848/1852: Bd. III, 124 ff. Börne 1964: 130. Häker 1998: 7. Klotz 1992: Bd II, 352. Sengle 1971-1980: Bd. II, 91. Hobrecker 1981: 84.
256 Zur dramatischen Kinderliteratur teilt Hobrecker mit: „Unter denen, die kleine Schauspiele und Lustspiele zur Personenaufführung schrieben, fallen Houwald und Kletke18 angenehm auf, […]”19. Die Houwaldschen Bändchen bestachen durch ihre Sorgfältigkeit und fanden mit einigen Titelkupfern Aufnahme in Hubert Göbels Hundert alte Kinderbücher aus dem 19. Jahrhundert.20 Wie Houwald über das Schreiben für Kinder dachte und welche Zwecke er dabei verfolgte, ist den Bemerkungen zu seinen Bilder für die Jugend zu entnehmen: Hierbei hab’ ich, wie früher schon, den Grundsatz wieder beobachtet: dass wer für Kinder schreiben will, nicht bloß von Kindern erzählen, und dabei sich zu einem fast kindlichen Tone herabstimmen müsse […] Das Kind denkt nicht an die Gegenwart, sondern immer nur an die Zukunft, zu welcher es aufwachsen und sich hinaufbilden, in der es selbstständig werden will, es mag daher eben nicht gern lesen, was Kinder mit Kindern, sondern lieber was Kinder in Berührung mit Erwachsenen beginnen, am liebsten aber, was Erwachsene selbst thun; denn die Lebensverhältnisse der Letztern sind theils viel bedeutender, theils versetzt sich das Kind am lebendigsten und liebsten in die Lage der Erwachsenen, weil es niemals Kind zu bleiben wünscht, sondern immer den Blick vorwärts richtet. 21
Erwachsene sollen also nach Houwald den Kindern zum Vorbild dienen und sie zu ehrsamen Bürgern erziehen. Der letzte Satz der Erzählung Der neue Schullehrer, die als Abendunterhaltung für Kinder gedacht war, lautet denn auch ganz in diesem Sinne: „ […] die Kinder zu Salbach wuchsen zur Freude aller Menschen auf, und es wurden aus ihnen brave, besonnene Hausväter und Hausmütter und treue, tüchtige Unterthanen.”(SW V, 467) Der neue Schullehrer soll hier vorgestellt werden, weil Houwalds Ideen in Bezug auf Erziehung und Schulwesen in dieser Erzählung sichtbar werden. Der Einzelne stand nicht im Gegensatz zum Staat, war ihm dagegen verpflichtet und fand nur im Rahmen einer sozialen Gemeinschaft zu sich selbst. Das sollte jedoch nicht heißen, dass alles vom Staat bedingungslos akzeptiert werden muss. Kritik am Staatsgebilde ist zwar bei Houwald nicht anzutreffen, dessen individueller Vertreter wie der verstorbene Schullehrer, der mit drastischen Methoden den Schülern veraltetes Wissen eintrichterte, wurde jedoch mit negativen Zügen versehen. So werden von den Dorfkindern an seinem Begräbnistag einige verhasste Strafinstrumente unter großem Jubel öffentlich verbrannt. Die 18 19 20 21
Herman Kletke (1813-1886). Lyriker, Erzähler und Publizist. Bekannt durch Kinderbücher und Jugendschriften. Hobrecker 1981: 131. Göbels 1979: 102f. Wegehaupt 1985: 120.
257 Wiederbesetzung der Schulstelle war nicht leicht: der Gutsherr, ein alter verabschiedeter Major, der tapfer fürs Vaterland gekämpft hatte (SW V, 447) wollte einem Feldwebel, der wegen seiner Wunden den Dienst verlassen musste, die Schulstelle übergeben, der Pfarrer verlangte jedoch für die Dorfschule einen jungen Seminaristen, der nicht nur über die erforderlichen Kenntnisse verfügte, sondern auch Bescheid wusste über die neueste Lehrmethode. Da war die Wahl nicht leicht und so kam es zu einem Examen, dessen Ergebnis leicht vorherzusehen war: der Seminarist war gelehrter, der Feldwebel dagegen viel lebenserfahrener. Der Seminarist bekam letzten Endes die Stelle, ohne dass dabei der respektable Feldwebel beiseitegeschoben wurde: er soll im Auftrag des Gutsherrn die Dorfjugend in Aufsicht halten „denn ich [d.h. der Gutsherr] will meinem König tüchtige und treue Unterthanen erziehen, und zwar nach meiner Methode.” (SW V, 450) Der Seminarist geht nach einer modernen Unterrichtsmethode vor: Er beschäftigte die Dorfkinder mit wissenschaftlichen Gegenständen, von denen sie bisher noch nichts gewusst hatten. Sie mussten vieles auswendig lernen, und konnten bald zur Verwunderung ihrer Eltern nicht allein eine Menge fremder, weit übers Meer gelegener Länder und Städte, Inseln, Gebirge und Flüsse hersagen, sondern auch die Blumen und Gewächse nach ihren botanischen Namen nennen, und sogar altgothische Buchstaben malen, welche die Eltern mit Erstaunen betrachteten. (SW V, 451)
Sein Mitbewerber um die Stelle hat ganz andere Ideen: Der Feldwebel hingegen lebte still in seinem Hause, bebaute sein Gärtchen und schickte seine eignen zwei Söhne fleißig in die Schule. Durch die letztern ließ er denn bisweilen einige der fleißigsten Kinder zu sich einladen, theils um mit ihnen in der schöneren Jahreszeit einen Spaziergang durch Wald und Feld zu machen, theils, wenn das Wetter zu rauh war, ihnen in seinem Stübchen etwas zu erzählen oder sie in einer Handarbeit zu unterrichten. Auf seinen Spaziergängen ließ er sich von ihnen zwar auch wohl die recht fremden, botanischen Namen vorsagen, um sie gewissermaßen selbst von ihnen zu erlernen, dagegen machte er sie aber mit dem Nutzen der verschiedenen Pflanzen und Baumarten bekannt, lehrte sie, wie sie erzogen und behandelt werden müssten, um für den Menschen brauchbar zu seyn, und zeigte ihnen auch die Pflanzen, die entweder als Unkraut aus den Saatfeldern vertilgt werden müssten, oder die als wirkliche Giftpflanzen dem Leben des Menschen gefährlich wären. (SW V, 451).
Nicht nur durch diese praxisbezogenen Lektionen, sondern auch durch die Aufmerksamkeit, die der Feldwebel den täglichen Vorfällen im Dorf widmete, gewann er die Achtung der Kinder und deren Eltern. War einer krank, ihm wurde von den Kindern geholfen. Auch dem Schullehrer entging der Einfluss des Feldwebels auf seine Schüler
258 nicht und so glaubte er in seinem ehemaligen Mitbewerber, einen Feind sehen zu müssen, der ihm entgegenwirkte. Nachdem aber dieses Missverständnis beseitigt wird, werden der welterfahrene weise Feldwebel und der gebildete junge Schullehrer innige Freunde: […] sie reichten sich bei dem Unterricht und der Erziehung der Jugend gegenseitig die Hand, unterstützten sich mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen, und es geschah oft, dass wenn der junge leidenschaftliche Schulmeister mit den härtesten Züchtigungen nicht auskommen und Besserung bewirken konnte, der alte Feldwebel dann aushelfen musste. (SW V , 462)
Eine bessere Kombination für die Dorfschule in Saalbach kann es wohl kaum geben: der temperamentvolle draufgängerische jugendliche Schulmeister wirkt in Zukunft zusammen mit dem welterfahrenen vaterländisch gesinnten Feldwebel. Es ist aber ein Aspekt aus dem Wirkungskreis des ehemaligen Soldaten, der hervorgehoben werden soll: dessen Glaube. Es handelt sich bei ihm nicht um einen starren Dogmatismus, der, kaum praxisbezogen, den Gläubigen zur Last wird und sie in ihrem Alltagsleben hemmt, sondern um eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, die einen direkten Einfluss auf das Leben des Feldwebels ausübt. Es mag naiv anmuten, dass ihm in heiklen Kriegssituationen nach inbrünstigem Gebet auf dem Schlachtfeld der Sieg gewiss ist, andererseits besticht die Unmittelbarkeit, mit der er seinen Glauben praktiziert, wenn er die Schulkinder dazu anhält, armen Dorfbewohnern in ihrer trostlosen Lage zu helfen. So wird der soziale Aspekt des Christentums sichtbar. Es kann kein Zufall sein, dass Houwald wiederholt in dieser Erzählung auf die christliche Nächstenliebe hinweist und christliches Gedankengut deren Inhalt wesentlich prägt. In den Schriften seines Hallenser Lehrers August Niemeyer, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein22 allgemeine Verbreitung fanden, lesen wir in Grundsätze der Schule über Erziehung und Unterweisung gleich am Anfang als Ausgangspunkt : Bei aller Erziehung muss eine lebendige Erkenntnis Gottes und ein rechtschaffenes Christentum der letzte Zweck sein. Dadurch allein wird Gottes Ehre unter den Menschen befördert. Auch ist nur der wahrhaft fromme Mensch ein guter Bürger der Gesellschaft. Ohne echte Frömmigkeit ist alles Wissen, alle Klugheit, alle Weltbildung mehr schädlich als nützlich, und man ist nie vor ihrem Missbrauch sicher.23 22 23
Auch international fanden die Ideen Niemeyers Beachtung: so ist es u.a. zu holländischen Übersetzungen gekommen. Rein 1884²: Bd. III, 382.
259 Ein rechtschaffenes Christentum ist also eine Voraussetzung, ein guter Staatsbürger zu werden. Houwald zeigt exemplarisch in der Person des Feldwebels, dass wahre Lebensweisheit darin besteht sein Handeln von christlichem Gedankengut und christlichen Grundsätzen leiten zu lassen. Deshalb musste der junge Schullehrer von seinem anfänglichen Rivalen in dieser Hinsicht belehrt und korrigiert werden. Christliche Standhaftigkeit und Nächstenliebe kommen in Houwalds Erzählung Der Christ und der Muhamedamer [sic] noch stärker zum Ausdruck. Wer aber denkt, dass Houwald seinen eigenen Glauben einseitig verherrlicht und kein Auge hat für die Missstände, die durch das Christentum in die Welt gekommen sind, irrt sich. Nachdem er seine jugendlichen Leser auf die Vergänglichkeit alles irdischen Seins hingewiesen hat, indem er ausführlich die Macht und den Reichtum des einst großen und herrlichen Carthago beschreibt, richtet er seine Aufmerksamkeit auf den grausamen Sklavenhandel. Hierbei werden die Christen nicht von Schuld freigesprochen, wenn Houwald recht kritisch schreibt: Das thäthige, kunstfleißige Volk der Mauren oder Araber, welches Spanien in ein blühendes Land verwandelt hatte, wurde von den christlichen Königen dort mit unerhörter Grausamkeit vertrieben und gänzlich ausgerottet, denn die Christen hielten es für ein verdienstvolles Werk, die armen Ungläubigen bis auf den Tod zu verfolgen. (SW IV, 276)
Nachdem auf diese Weise der Ton der Geschichte gesetzt ist, wird von dem mutigen Malteser Ritter Raimund erzählt, der bei einem Kampf gegen die Korsaren als Sklave in die Hände des reichen Mohammedaners Cid Muley fällt. Trotz Torturen und Schmähungen verleugnet Raimund seinen Glauben nicht. Wenn andere Sklaven den grausamen Tyrannen Cid Muley umbringen wollen, befreit Raimund ihn aus den Händen seiner Gegner, denn „allein gegen Verrath und Meuchelmord schützt der christliche Ritter selbst den Feind.” (SW IV, 282) Cid Muley schenkt ihm die Freiheit und Raimund kann nach Malta zurückkehren, wo er gastfreundlich in die Familie seines Bruders aufgenommen wird und ein friedfertiges Leben führt, bis eines Tages Cid Muley als Sklave vor ihm steht. Jetzt sind die Rollen umgekehrt und ist jener in der Gewalt Raimunds, der sich jedoch nicht an ihm rächt, sondern christliche Nächstenliebe zeigt. Cid Muley hilft in den Gärten Blumen zu binden und Weinbeeren zu pflücken. Die häusliche Stimmung besticht den Heiden so sehr, dass er davon angetan immer empfänglicher wird für christliche Lehre und Tugenden; dabei wird geflissentlich der Schein, den Mohammedaner bekehren zu wollen, vermieden: „denn erlernen sollte er erst mit ihnen
260 [d.h. mit den Verwandten Raimunds] die christliche Religion, das Heil erst empfinden lernen, das in der Befolgung ihrer Lehren beruhte, und so in der Sehnsucht erst reifen zur Aufnahme in den christlichen Bund.” (SW IV, 288) Wenn zum Schluss der Geschichte kleine Kinder Cid Muley von dem Heiland am Kreuze erzählen, wird der verstockte Mohammedaner durch die kindliche Einfalt aufs tiefste erschüttert und zum wahren Glauben bekehrt. Störend wirkt hier die unnatürliche Diktion, die dem Schriftsteller und Literaturkritiker Ludwig Börne24 schon bei Houwalds Schicksalstragödie Die Heimkehr (1818) aufgefallen war. Houwalds schreibt trotz dieser Weichlichkeit eine seinen kleinen Lesern und Zuhörern verständliche Sprache, die zu seinen Lebzeiten eine günstige Aufnahme fand. Es soll nicht vergessen werden, dass ein solcher Stil zur Zeit des Biedermeier üblich war und Houwalds Erzählungen sich positiv von den zahllosen zeitgenössischen Machwerken abhoben. Ludwig Tieck, der wie kaum ein anderer mit der Unmenge an trivialen Stücken und Erzählungen ins Gericht ging, urteilt über Houwalds Werk: „ -Doch, um gerecht zu sein, ich habe hie und da in Erzählungen und Gedichten so Manches von Houwald mit Wohlgefallen gelesen […] und auch aus seinen dramatischen Arbeiten schaut ein freundlicher, kindlicher Sinn hervor.”25 Tieck trifft den richtigen Ton, denn „ein freundlicher, kindlicher Sinn” schaut zweifelsohne auch aus Houwalds Erzählungen hervor; er versteht es in seinen epischen Werkchen in wenigen Strichen Kindergestalten darzustellen, die auch noch heute die Sympathie der Leser für sich gewinnen. Houwald verfolgt die Strategie der didaktischen Mimikry: Mit diesem Ausdruck wird nicht ein listiges ,,subversives Verhalten” gekennzeichnet, sondern auf die Anpassungswilligkeit Houwalds hingewiesen, die zu seinen didaktischen Intentionen korrespondiert. Größtmöglichen Schutz kann danach das Individuum nur erlangen, wenn es vorgegebene Verhaltensmuster übernimmt und sich in dieser ,,Tarntracht” (Mimikry) gesellschaftlicher Umwelt integriert. Dieser Prozess wird deshalb als ,,didaktischer” bezeichnet, weil dadurch die Absicht des Schriftstellers beschrieben werden soll: aus obersten Sinn-Normen Erziehungsformen abzuleiten, welche die Heranwachsenden disponieren sollen zu einem ,,loyalen patriotischen” Dienst.26
In diesem Sinne soll auch die sentimentale Szene verstanden werden, in der kleine Kinder den Heiden Cid Muley bekehren. Houwald hat drei Kindermärchen geschrieben, in denen der sagenumwobene 24 25 26
Börne 1964. Tieck 1848-1852: Bd. III, 124. Lenhard 1977: 172.
261 schlesische Berggeist Rübezahl vorkommt: Rübezahl und seine Schwestern, Die Reise auf das Riesengebirge und Rübezahl unter den Menschen. Sie waren erstmals 1819 erschienen und verarbeiten Eindrücke einer Badereise in das Riesengebirge, die Houwald 1817 zusammen mit seiner Familie und Contessa gemacht hatte. Contessa ist der Elementargeist Rübezahl, der in dem Augenarzt Dr. Misspickel menschliche Gestalt angenommen hat und unerkannt unter den Besuchern des Badeorts Warmbrunn lebt und mit den dort zahlreich versammelten Gästen manchen Schabernack treibt. Elementargeister waren zur Zeit der Romantik beliebt, denken wir an Fouqués Undine (1811). Im Gegensatz zur Märchennovelle Fouqués kommt es stellenweise in Houwalds Rübezahlmärchen zu düsteren, grauenerregenden Szenen, wenn z.B. Dr. Misspickel eine Operation an den Augen vornimmt. Hiermit verfolgt Houwald einen didaktischen Zweck: aufopfernde Liebe eines Kindes, das seiner Mutter seine Augen geben will, kann heute wohl kaum junge Leser zur Rührung bringen. Diese Testsituation soll zeigen wie groß die Liebe eines Kindes sein kann und dass es kaum etwas in der Welt gibt, das stärker ist als dieses Gefühl. Der Berggeist Rübezahl kann das nicht verstehen und erprobt auch in dem zweiten Märchen die Menschen, indem er u.a durch ein entsetzliches Gewitter die Badegäste in Furcht versetzt. Dies führt aber dazu, dass die Menschen Gott anrufen, statt auf die Macht Rübezahls zu bauen. Auch in diesen Werkchen Houwalds finden wir einen unzerstörbaren Optimismus: das Gute wird letzten Endes siegen und Gottes Allmacht hat stets das letzte Wort. Albin Lenhard sagt zu diesen Houwaldschen Märchen: Wer in den Rübezahl-Märchen Houwalds nur die wirklichkeitsfremde Idylle ortet, übersieht, dass Houwald hier Wünsche und Hoffnungen artikuliert, die ihren Grund in der christlichen Frohen Botschaft haben. Dieser Optimismus rechtfertigt sich auch durch den Leserbezug: Houwald will Kindern Mut machen, sich mit Kopf und Herz im Leben zu bewähren. 27
Unterhaltung steht bei Houwald im Dienste der Belehrung, denn die jugendlichen Leser sollen zu standhaften frommen Bürgern erzogen werden. So sind in diesen Märchen zahlreiche Hindernisse zu überwinden, aber letzten Endes steht ohne jeden Zweifel fest, dass diese nur da sind, um den Einzelnen wehrbarer zu machen. Das geschlossene Ende ist somit in allen Erzählungen und Märchen Houwalds zwangsläufig positiv, denn nur so kann das präsentierte Vorbild zur Umsetzung und schließlich Verwertung in den eigenen 27
Lenhard 1978: 232.
262 Erlebnisbereich anregen. Standesunterschiede bleiben dabei intakt und gesellschaftliche Strukturen aufrechterhalten, denn nie geht es ihm um Widerstand gegenüber Autoritäten oder Kritik an bestehenden Verhältnissen, sondern vielmehr um Anpassung, so dass eine gewisse Untertanen-Mentalität in jeder Erzählung Houwalds vorhanden ist. Das soll jedoch nicht übermäßig akzentuiert werden, es war ja ein Merkmal des biedermeierlichen Schrifttums überhaupt, denn die Zeit nach den Karlsbader Beschlüssen (1819) forderte die Konsolidierung bestehender Verhältnisse und die Handhabung öffentlicher Ruhe und Ordnung. Auch Houwald hatte am eigenen Leibe erfahren, wie noch vor wenigen Jahren Kriege herrschten und Hungersnot vorkam. Nach diesen Zeitwirren lebte man jetzt ziemlich sicher, aber das alles hatte seinen Preis: politisches Engagement war wenig gefragt, stattdessen herrschte eine Beschränkung auf das eigene Heim und die eigene Familie vor. Tugenden wie Patriotismus und aufopfernde Liebe hatten somit auch einen hohen Stellenwert in der Kinder-und Jugendliteratur der Biedermeierzeit. Dies soll jedoch nicht seinen Beitrag zur Literatur dieser Periode schmälern, hat er doch in einer ungekünstelten Sprache und übersichtlichen Erzählungen ein Bild dieser Zeit vermittelt, das nicht nur literarhistorisch von Interesse ist, sondern darüberhinaus einem heutigen Rezipienten durchaus noch Lesegenuss verschaffen kann. Hier muss das Kindermärchen Die Brandhexe erwähnt werden, das als einziges Werk Houwalds in eine Textsammlung zur Kinder-und Jugendliteratur der Romantik28 aufgenommen wurde. Friedrich Sengle hat dieses Märchen über Friedrich Hebbels Der Rubin gestellt und fragt sich was aus dem Werkchen geworden wäre, wenn es ein bekannterer Autor verfasst hätte29. Die Handlung ist wie folgt: Ernst hat einer alten hexenhaften Frau aus Mitleid das Halstuch seiner verstorbenen Mutter gegeben und ihr auch die Erdbeeren gelassen, die er im Wald für seine Stiefmutter gepflückt hatte. Mit ihr, deren Sohn Fritz und einem verwaisten Mädchen namens Florentine, das Ernsts Vater an Kindesstatt angenommen hatte, bildet sie eine äusserlich intakte Familie, die aber kaum Bestand haben wird, weil die Stiefmutter, die Eva [!] heißt, schon gleich am Anfang als böse bezeichnet wird; sie ist nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht und hofft, Ernsts Vater heiraten zu können, um danach den ganzen Haushalt endgültig zu beherrschen. So werden schon in den ersten Zeilen des Märchens scharfe Kontraste sichtbar, die im Verlauf 28 29
Ewers 1984: 245-258. Sengle 1971-1980: Bd. II, 959.
263 der Geschichte immer mehr verstärkt werden. Zwischen den beiden Jungen kann es kaum gut gehen, wenn Houwald schreibt: […] Fritz, der zwar in Ernsts Alter, aber sonst gerade das Gegentheil von diesem war. Ernst, ein froher, munterer Knabe, oft sehr wild und kühn, aber niemals frech und boshaft, kannte keine Lüge, umfasste alle Menschen mit unendlicher Liebe und war fleißig und gehorsam. Fritz hingegen schien zwar viel sanfter und wohlgezogener, allein er war es nur vor den Augen der Menschen; versteckt und lügenhaft suchte er seine Streiche immer zu verbergen oder auf Andere zu schieben, war neidisch und verleumdete, wo er konnte. Die Affenliebe seiner Mutter, die selbst eine böse Frau war, hatte ihn verzogen, und manche Anlage zum Guten in ihm unterdrückt. (SW IV, 47)
Die herrische und boshafte Stiefmutter ist außer sich, wenn Ernst ohne Erdbeeren nach Hause kommt, bestraft ihn und schickt ihn am nächsten Morgen erneut in den Wald nach Erdbeeren. Sowohl der Vater wie die Stiefmutter wissen von der Sage, nach der sich in der Heide oft ein altes zerlumptes Weib sehen lässt. Bald sammelt sie Kräuter und Erdbeeren, bald sitzt sie weinend als Bettlerin am Wege. Man nannte sie, weil die Heide Brand genannt wird, Brandhexe. Niemand wagte es ihren Namen auszusprechen. Ernsts Urgroßvater hatte einen Fluch auf sich geladen, als er einst eine schöne Jungfrau Brandhexe geschimpft hatte, weil sie ihm auf der Jagd das Wild verscheuchte. Seitdem hat sie geschworen, so lange in dieser Verwandlung zur Erdbeerenzeit im Brande zu spuken und hier alle Nachkommen des Urgroßvaters zu beunruhigen, bis einer von ihnen freiwillig und aus eigenem Herzenstriebe ihr sein liebstes Kleinod schenken würde (SW IV, 50). Die Schwur ist jedoch schon aufgehoben, weil Ernst ja sein liebstes Kleinod, das Halstuch seiner verstorbenen Mutter, der Brandhexe geschenkt hatte. Von dieser Sicht aus kann der Spuk den aufrichtigen Knaben kaum mehr treffen und darf er in der Brandhexe eine Helferin statt einer Gegnerin sehen. So geschieht es denn auch: Ernst und Florentine, zwei Naturkinder, begegnen im Walde einer freundlichen Gestalt, die gerne bereit ist ihnen zu helfen, während der niederträchtige Fritz von einer garstigen alten Hexe aus dem Wald hinausgeprügelt wird. Die Gegensätze spitzen sich immer mehr zu, und wenn Ernst tief erkrankt, schneidet die Tante mit heimlicher Freude sein Sterbehemd und verspricht ihrem Fritz alle hübschen Sachen, die Ernst hinterlassen wird. Das kann natürlich nicht gut ausgehen und die Rettung ist nahe. Ein Nussknacker, den der kleine Ernst von seiner Freundin, der Brandhexe, als Ersatz für einen von Fritz ins Herdfeuer geworfenen bekommen hat, singt süße Lieder. Es ist dem kranken Knaben als
264 hörte er die Melodien der Wiegenlieder seiner verstorbenen Mutter. Wenn dann der eiligst kommende Vater im Spukwald von der Erdbeerenelfe Fragaria Erdbeeren bekommt und diese seinem Sohn zu essen gibt, wird die Genesung verstärkt vorangetrieben. Die Tante Eva wird schließlich entlarvt und muss mit ihrem Sohn das Schloss verlassen. Trotzdem ist es dem Vater auf dem Lande unheimlich und er zieht wieder in die Stadt. Ernst sieht von nun an die Erdbeerenelfe Fragaria nicht wieder, aber den Nussknacker nimmt er mit als ein Andenken an die Zeit in dem Waldschloss. Er hat viel Vorteil von dem Nussknacker, denn, wenn Ernst des Tages über fleißig und gut gewesen war, so knackte ihm abends der Nussknacker ungeheißen süße Nüsse und Mandeln auf; dagegen blieb er still und unbeweglich stehen, wenn Ernst sein Tagewerk nicht ordentlich vollendet hatte. ( SW IV, 63)
Hier haben wir den Vollbluthouwald, der es nicht unterlassen kann, einen belehrenden Ton anzuschlagen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass er auch mit seinen Kindermärchen didaktische Zwecke verfolgte und immer bestrebt war Belehrung und Unterhaltung miteinander zu verbinden. Ernst dient den Lesern als Vorbild: „ Er ward die Freude seines Vaters, der Stolz seiner Freunde und die Hoffnung des Vaterlandes.” (SW IV, 64) Wenn zum Schluss des Märchens ein Kind geboren wird und der Storch in den Windeln das Tüchelchen von Ernsts seliger Mutter mitnimmt mit dem Vergissmeinnicht und unter demselben mit goldener Stickerei der Name Fragaria steht, dann wissen wir, dass Ernst und seine Frau Florentine noch ein langes frohes Leben haben werden, wie es in einem Märchen immer wieder erzählt wird. Houwald hat hier ein Märchen geschrieben, das besticht durch eine klare direkte Sprache. Er schafft es auf kaum zwanzig Seiten, ein abgerundetes Ganzes zu bieten, wobei die Handlung vordergründig von Gegensätzen bestimmt wird: so steht der sanfte Vater der gemeinen Tante Eva gegenüber und ist Ernst das Gegenbild von Fritz. Dahinter steckt aber die zweite Geschichte von der sagenumwobenen Brandhexe, die bald als holdselige Erdbeerenelfe, bald als abscheuliche Hexe auftritt. Houwald siedelt sie zwar im Bereich des Märchenhaften an, lässt sie jedoch auch direkt in das Alltagsleben der beiden Kinder eingreifen. Es sind Kinder, die durch ihre Unbefangenheit und Unverdorbenheit die Hexe für sich gewinnen und schließlich dafür sorgen, dass den Erwachsenen in Zukunft ein friedfertiges Leben ermöglicht wird. Die Väter und die Mütter kommen in vielen Er-
265 zählungen Houwalds nur am Rande vor. Der Vater ist sogar ausgesprochen willensschwach, hat als Adliger, der andere für sich arbeiten lässt, alle Gelegenheit sich den ganzen Tag der Trauer um seine verstorbene Frau hinzugeben. Hans-Heino Ewers schreibt zu einem Kinderschauspiel Houwalds was auch zu diesem Märchen gelten kann: Auffällig ist sodann die große Zahl an Eltern-bzw. Elternersatzfiguren, die sich hinter ihrer strengen Fassade, gelegentlich aber auch auf direkte Weise als schwach und hilfsbedürftig, als verunsichert, schwankend und haltlos, als verängstigt, verletzt, gekränkt oder sonstwie gebrochen erweisen. Figuren wie diese lassen es Kindern gegenüber an jeglicher Souveränität missen.30
Es ist in diesem Zusammenhang denn auch kein Zufall, dass Ernst erst in der Stadt ein neues Leben aufgeht, indem er dort mit seinem Studium erfolgreich ist und das Eheglück findet. Houwald möchte jedoch eine totale Versöhnung und lässt Ernst mit seiner Frau Florentine am Ende der Geschichte aufs Land zurückkehren. Hier wird denn auch ein Sohn geboren, so dass Ernsts Vater einen Stammhalter hat und für alle für die kommende Zeit ein Dasein in Harmonie mit der Natur ansteht. Die dämonische Brandhexe ist überwunden, stattdessen gibt die Erdbeerenelfe Fragaria dem jungen Paar Ernst und Florentine ihren Segen, indem sie das Halstuch, das Ernst ihr als kleiner Junge geschenkt hatte, in die Windeln des neuen Weltbürgers gewickelt hat. Houwald hat in Die Brandhexe ein Kindermärchen verfasst, das interessante Bezüge zur Natursymbolik aufweist. Er hat den Nussknacker E.T.A.Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig entnommen, was einigermaßen störend ist. Gewiss, Houwald war kein Autor, der in der Stoffwahl über viel Originalität verfügte oder sich an die großen Probleme seiner Zeit heranmachte und dabei kritische Töne hören ließ. Es ist aber auch nicht so, dass nur eine heile Welt bei ihm vorkommt; Zeitgeschichtliches spielt hinter der Kulisse durchaus eine Rolle. „Das Biedermeier erscheint mehr und mehr als das Zeitalter einer Fassade von Friedfertigkeit und Harmonie, hinter der es nur so brodelt.”31 Manches Böse muss überwunden und manches Hindernis beseitigt werden, ehe die anfängliche Harmonie wiederhergestellt ist. Es ist schwer an die Houwaldschen Texte heranzukommen, weil sie nicht in leicht greifbaren Ausgaben vorhanden sind. Albin Lenhard spricht einen Wunsch aus:
30 31
Ewers 1999: 37. Ebenda: 36.
266 Daher ist die Neuherausgabe der an ,,Kinder” gerichteten Texte Ernst von Houwalds - zumindest aber eine Auswahl daraus - ein Desiderat der Fachwissenschaft und wäre zudem eine Provokation zu ,,Nutz und Frommen” kritisch lesender Jugendlicher.32
Literaturverzeichnis Primärliteratur: SW = Ernst von Houwalds Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Adami. 5 Bde. Leipzig: Göschen 1858/59². Im Haupttext zitiert als SW Bd. I-V, mit Seitenzahl. Sekundärliteratur: Adami, Friedrich. ‚Das Leben des Dichters.‘ In: Ernst von Houwalds Sämtliche Werke. ( s.o.) Bd. I, 1-96. Börne, Ludwig. 1964. Kritische Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Edgar Schumacher. In: Klassiker der Kritik. Hrsg. von Emil Staiger. Zürich/ Stuttgart: Artemis. Ebert, Rolf. 1993. ‚Lübben in der Zeit der napoleontischen Fremdherrschaft und der Befreiungskriege von 1806-1815.’ In: Ders. Lübben und die Niederlausitz. Beiträge zur Geschichte einer Region im Land Brandenburg. Bd. I. Lübben: Herms: 35-51. Ewers, Hans-Heino. 1984. Kinder- und Jugendliteratur der Romantik. Stuttgart: Reclam. Ewers, Hans-Heino. 1999. ‚Familie im Kinderschauspiel des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Christian Felix Weiße, August Rode und Chr. Ernst von Houwald.‘ In: Ders. und Inge Wild (Hrsg.). Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim/ München: Juventa: 25-40. Göbels, Hubert. 1979. Hundert alte Kinderbücher aus dem 19. Jahrhundert. Eine illustrierte Bibliographie. Dortmund: Harenberg. Häker, Horst. 1998. ‚Ernst von Houwald (1778-1845) und das Neuhaus in Lübben-Steinkirchen.‘ Frankfurter Buntbücher 22. Förderkreis Kleist-Museum. Frankfurt /Oder e.V. 32
Lenhard 1977, 195.
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Carl Hauptmann (1858 – 1921)
Waltraud ›Wara‹ Wende
„... und Worte werden daran nichts ändern“
GRENZERFAHRUNGEN UND SPRACHLOSIGKEIT DER PROTAGONISTEN IN DER NOVELLENSAMMLUNG NÄCHTE VON CARL HAUPTMANN Im Jahr 1912 veröffentlicht Carl Hauptmann (1858 – 1921) im Ernst Rowohlt Verlag (Leipzig) eine Novellensammlung, der er den Buchtitel Nächte gibt. Fragt man nach möglichen thematischen und formalen Übereinstimmungen der insgesamt drei Novellen, dann fällt auf, dass den Texten mit Blick auf den erzählten Inhalt zumindest eines gemeinsam ist: Die Titelfiguren der Novellen – Claus Tinnappel, Franz Popjel und Hieronymus van Doorn – finden sich in Situationen existentieller Grenzerfahrung versetzt und haben große Schwierigkeiten, diese ihrer Umwelt gegenüber mitzuteilen. Gestört im emotionalen Kontakt mit ihrer Mitwelt sind die drei Männer unfähig, mit dem affektiven Leben anderer spontan und mühelos in Verbindung zu treten, sind sie nicht in der Lage, mit anderen Menschen eine emotionale Vertrauensbeziehung aufzubauen, ist ihnen der andere kein verlässlicher Gesprächspartner, mit dem Empfindungen und Gefühle, Wünsche, Sorgen oder gar Nöte ausgetauscht werden könnten. Das Vertrauen auf sprachliche Kommunikation und die Kraft der Sprache sind weder dem Forstgehilfen Claus Tinnappel noch dem Studenten und Bohemien Franz Popjel und auch nicht dem Priester Hieronymus van Doorn gegeben: Anderen etwas erzählen und einander zuhören können, sich anderen anvertrauen und einander begreifen liegt jenseits ihres Verhaltensrepertoires. Sprache ist ihnen kein Medium des zwischenmenschlich-kommunikativen Kontaktes mit einem Gegenüber, und die Möglichkeit des Miteinanderredens ist für sie alles andere als ein bewusstseinsverändernder oder gar bewusstseinserweiternder Akt subjektiven Erkenntnisgewinns. Mit anderen Worten: Für die Selbst- und Weltreflexion der Hauptmannschen Figuren spielt das offene Gespräch mit anderen – wenn überhaupt – eine nur untergeordnete Rolle, unfähig mit anderen Menschen vertrauensvoll zu kommunizieren, ist es ihnen dann natürlich nicht möglich, individuelle Lebenskrisen über ein Gespräch mit anderen zu
270 verarbeiten, sind sie außerstande, persönliche Erlebniskatastrophen auf sozialer Ebene emphatisch zu verbalisieren. Zuerst zum Inhalt der drei Novellen: In der ersten Novelle wird von einer leidenschaftlichen und tragischen Liebesgeschichte zwischen dem jungen Forstgehilfen Claus Tinnappel und der zwanzigjährigen – „verteufelt unschuldig“1 aussehenden – zweifachen Witwe Rosalie Rotkegel, genannt Salie, erzählt. Gleich zu Beginn der zu diesem Zeitpunkt noch heimlich gelebten Liebesgeschichte wird der Forst-gehilfe – über dessen Vorgeschichte der Leser so gut wie keine Informationen bekommt – von seinem vorgesetzten Förster gewarnt: „Vor der warne ich Sie! […] Zwei Männer hat sie schon unter die Erde gebracht... das ganze Dorf kennt ihre Tollheit.“2 Das Urteil des Försters über die junge Frau korrespondiert mit der Auffassung der übrigen Waldarbeiter, die ebenfalls eine dezidierte Meinung über Salie und ihr Verhältnis zu Tinnappel haben: „... das ist ein Galgenvogel ... kaum zwanzig is’ se ... und zwei Männer liegen schon im Erdboden eingescharrt ... die wird ihre Schlingen schon um den jungen Kerl zu werfen wissen ... die hat auch in Trauerkleidung Courage.“3 Salie – aufgewachsen in einem wohlhabenden Elternhaus, dessen exotische, auf Fernreisen erworbene Reichtümer und Kostbarkeiten, Miniatur-bildchen, Mosaiken und Götterbilder, Goldbecher und Goldschalen den einfachen Bewohnern des Ortes beim „schielenden“ Blick durch die Fenster „wie eine verborgene Zauberwelt“ und „wie ein Märchen“4 erscheinen – kennt keine moralischen Tabus; die junge Frau führt das Leben einer femme fatale mit uneingeschränkter Sinnlichkeit jenseits bürgerlicher Normalmoral. In Salies Stimme, die zärtlich war, lachte und girrte es./ In ihren Hantierungen, wenn sie auch nur mit einem Blumenkelche tändelte, lagen Liebkosungen wie zum Trotz./ Manchen Alten, nicht bloß durch junge Sinne gesehen, stach ihr wissendes Wesen im Blute wie mit seinen Nadeln und machte ihn ihr nachblicken, wenn sie wehenden Brusttuchs um die Schultern, ohne Hut in der Sonne, heute wie ein Bauernmädchen und morgen wie eine Prinzessin durch die Dorfstrasse lief. Mancher weise Blick lächelte über die Schalkheit und Inbrunst ihrer jungen, jähen Bewegungen, die ihr um Schulter und Hüften zuckten und ihren losen, dunklen Kopf zurückwarf. 5
Weil ihr bürgerliche Werte und gesellschaftliche Normen genauso fremd sind wie Heucheleien und Maskeraden, lebt Salie Rotkegel ihre 1 2 3 4 5
Hauptmann 1912: 9. Ebenda: 10. Ebenda: 5. Ebenda: 11, 14. Ebenda: 16f.
271 unkonventionelle Romanze mit Claus Tinnappel vor aller Augen, offen, bedenkenlos und ohne Rücksichten auf ihr Trauerjahr. Die Beziehung zwischen dem so ungleichen Paar – „Claus Tinnappel war so nüchtern, wie Salie verrückt und verschroben“6 – währt allerdings nicht lange: Als die junge Frau beim Tanz in einer Dorfwirtschaft den neuen Brauereibesitzer des Dorfes kennenlernt, verlässt sie – geblendet von der städtischen Eleganz des anderen – den einfachen Forstgehilfen, ohne dass zuvor zwischen den beiden eine Aussprache stattgefunden hätte. Für Tinnappel kommt die Trennung und die „Schmach“ des Sitzen-gelassen-werdens einer seelischen Katastrophe gleich, „beinahe um allen Verstand“7 gebracht, hat sein Blick „nichts Gutes mehr“, seine Seele ist „zerrissen“.8 Aber auch Salie, die bereits kurze Zeit nach der Trennung von Tinnappel mit dem anderen Mann vor dem Traualtar steht, wird in ihrer neuen Situation nicht wirklich glücklich. Der barsche Umgangston ihres Ehemanns, von dem sie rasch schwanger wird, bereitet ihr viele schlaflose Nächte und die in schmerzhafter Intensität erinnerte Zeit mit Claus Tinnappel lässt sie nicht los. Eines Nachts treibt sie die Sehnsucht aus dem Haus: „Es [Hervorhebung im Originaltext] war gleich wie ein Wahnsinn.“9 Tinnappel – archaisch den Gewalten der Natur verbunden – läuft ihr entgegen und nimmt sie wortlos in die Arme. Das Glück der beiden währt allerdings nur einen kurzen Moment. Die Tatsache, dass Salie von einem anderen Mann ein Kind erwartet, holt den Forstgehilfen zurück in die Realität, seine Freude über das unverhoffte Wiedersehen wird durch Verlustängste und ein Gefühl absoluter Ausweglosigkeit verdrängt. Tinnappel befindet sich in einer psychischen Grenzsituation: „Da war es Claus auf einmal gewesen, als wenn alle Hoffnungslosigkeit der Erde gespenstisch aus den rauschenden Morgenlüften über ihm zusammenbrächen./ Und es (Hervorhebung im Originaltext) hatte ihm keine Zeit gelassen.“10 Keine Zeit wofür? Keine Zeit, sein Handeln zu bedenken? Keine Zeit für eine Aussprache? Keine Zeit zur Besinnung? Claus Tinnappel erschießt erst Salie und dann sich selbst. Um seelische Nöte, Irritationen und Spannungen geht es auch in dem zweiten Text der Sammlung Nächte, in der Novelle Franz Popjels Jugend. Im Zentrum des Novellengeschehens steht der aus einem geordneten, gutbürgerlichen Elternhaus stammende Student 6 7 8 9 10
Ebenda: 18. Ebenda: 31. Ebenda: 33, 42. Ebenda: 44. Ebenda: 47.
272 oder besser Bohemien Franz Popjel. Der junge Mann ist unfähig, seinem Leben eine an bürgerlichen Ordnungs- und Moralvorstellungen orientierte Sinnstruktur zu geben. In auffälligem Gegensatz zu seinem Bruder Eduard, einem hoffnungsvollen und vielversprechenden Geiger, der Kunst und Leben, geniehafte Produktivität und bürgerliche Korrektheit in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen weiß, ist Franz anfällig für alles Rauschhafte, Nicht-Gesunde, Morbide, Amoralische und Antibürgerliche. Zum Balanceakt innerer Ausgewogenheit ist Franz – anders als sein Bruder – aufgrund seiner Charakterstruktur nicht in der Lage. Massive Abneigung gegen alles Mittelmäßige, Banale, Gewöhnliche und Normale, verbunden mit leidenschaftlichem Hass gegen die Werte und Normen der Bürgerlichkeit, lassen den Studenten immer wieder die Rolle eines die sozialen Standards und Ordnungsstrukturen der Bürgerwelt verletzenden Bürgerschrecks spielen: Seine Nächte am liebsten in üblen Spelunken, Spielhallen und Bordellen und manchmal auch betrunken auf einer Parkbank zubringend, findet er so gut wie nie eine Möglichkeit der Besinnung und des Bei-sich-selbst-seins. Einzig die Musik hat zumindest ab und an therapeutische Wirkungen auf sein Seelenleben: „Wenn ihm Musik in den Sinn kam, begann er immer einen Augenblick zu genesen. Er sehnte sich dann nach seinem Bruder, und gute Entschlüsse gewannen die Oberhand.“ Und später: „Ganz erdverbunden war die Welt, die in ihm aufquoll, wenn er Musik hörte.“11 Musik ist ein Heilmittel für seine beschädigte Psyche, sie ist ein ausschließlich auf der Ebene der Empfindungen wirkendes Gegenmittel gegen die Prosa des täglichen Lebens. Musik ist aber auch mit bürgerlicher Bildung wie mit bürgerlicher Geselligkeit und den Normen und Konventionen des Dazugehörens eng verbunden. Und genau dies kann Franz Popjel nicht ertragen: Nach einem gemeinsam mit der Mutter besuchten Konzert seines Bruders – von dem Musikerleben innerlich zutiefst aufgewühlt – flieht der junge Mann vor der Gesellschaft anderer hinaus in die Nacht und in die narzisstische Einsamkeit. Allerdings währt die gesuchte Einsamkeit nicht lange, die Anfälligkeit für extreme Lebenssituationen und die Gier nach rauschhaften Grenzerfahrungen führen den Bohemien noch in der selben Nacht einmal mehr ins Bordell, wo er sich „wie ein Herrscher unter den Seinen“12 aufführt. Der unkonventionelle Lebenswandel des Studenten ist kostspielig, und da Franz nicht im Entferntesten willens ist, seinen Lebensstil und seine Vergnügungen an die Begrenztheiten der 11 12
Hauptmann 1912: 63, 82. Ebenda: 87.
273 finanziellen Ressourcen eines Studenten anzupassen, sieht der Bohemien – maßlos und selbstbezogen – schließlich nur mehr eine Möglichkeit der Problemlösung, er bestiehlt seine eigene, ihn abgöttisch liebende Mutter. Franz ist auf dem Wege in die Kriminalität, und weder die Mutter noch der Bruder sind in der Lage ihn in die bürgerliche Normalwelt zurückzuholen: „Das Verbotene ist das Meistgewünschte“13. Die Lust am Verbotenen und die Gratwanderung am Abgrund des Nichterlaubten sind dann wohl auch die Motive für sein Interesse an der Verlobten des Bruders, an Hellen Raddas. Die junge Frau wird für Franz zum Objekt seines Begehrens, nicht obwohl, sondern gerade weil sie eigentlich dem Bruder versprochen ist. Das Begehren des Verbotenen ermöglicht dem gegen die bürgerliche Normalmoral Rebellierenden eine weitere Grenzerfahrung im Spannungsfeld zwischen orgiastischer Ausschweifung und selbstzerstörerischer Bodenlosigkeit. Als sich Hellen – für die im übrigen schon lange vor dieser Nacht feststeht: „Daß Franz nicht maßvoll lebt, weiß doch ein jeder von uns ... und Worte werden daran auch nichts ändern“14 – seinen massiven Zudringlichkeiten und Belästigungen fügt und sich zum Geschlechtsakt nötigen lässt, empfindet der Draufgänger weder Mitgefühl für die junge Frau, noch Empathie mit seinem gehörnten Bruder, dessen emotionale Stabilität und wohlanständige Disziplin für Franz bereits seit langem ein ausgesprochenes Ärgernis darstellen: Allerdings schleicht er sich nach dem Liebesakt davon wie sich auch „Mörder davon schleichen.“15 Wochen später begegnet Franz Popjel auf einem seiner nächtlichen Streifzüge tatsächlich dem Tod: Die Begegnung mit dem Leichenzug eines Selbstmörders löst eine bedrohliche und folgenschwere Angstreaktion bei ihm aus. Angesichts der Endlichkeit allen Lebens fühlt sich der Bohemien einsam. Verloren und absolut haltlos beschleicht ihn ein „Gefühl des Begrabenseins“16. Orientierungslos, angsterfüllt und schutzsuchend stiehlt sich Franz – von der Gegenwart der Mutter Wärme, Geborgenheit und Schutz erwartend – zurück in deren Wohnung: Vater und Mutter sind ein schwacher Halt in diesem Leben. Vater und Mutter sind uns im innersten Ursprung geheimnisvoll verbunden, nur ein wenig näher wie die Dinge der Welt. […] Aber Vater und Mutter sind doch Mächte aus der Zeit der Tiefe. […] Vater und Mutter sind mehr wie nur zärtliche Namen./ Vater und Mutter sind wie Sonne und Sterne./ Vater und Mutter das wird wie 13 14 15 16
Jofen 1972: 38. Hauptmann 1912: 76. Ebenda: 130. Ebenda: 148.
274 eine Sphärenmusik im Blute klingen./ Und wenn die Sonne einmal untergegangen, wenn die Sterne erloschen sind, werden wir unsere Seele verdunkelt fühlen, unser Gemüt vereinsamt.17
Mythisierung der Bluts- und Familienbande und eine weitere Begegnung mit dem Sterbenmüssen – diesmal ist es der Tod der eigenen Mutter – lösen dann nur wenige Tage später einen überraschenden Wendepunkt in seiner Lebensführung aus. In tiefster Erregung und „wie ein reuiger Sünder“18 am Sterbebett der ihm zeitlebens Zuflucht und Beistand gewährenden Mutter mit der Unausweichlichkeit des Todes konfrontiert, empfindet Franz sein bisheriges Leben plötzlich als Entgleisung und Verfehlung, als unsinnige und vertane Zeit. Die Erfahrung des für immer Abschied-nehmens von einer geliebten Person wird für den jungen Mann zu einer kathartischen Grenzsituation. Die Begegnung mit dem Tod und die mit ihm verbundenen Schmerzen und Narben initiieren ein radikales Neudenken der Dinge, sind Katalysator für eine neue, veränderte Wirklichkeitsorientierung: Der Student kehrt auf den Pfad bürgerlicher Tugend zurück, beginnt von nun an ernsthaft zu studieren und wird schließlich – „streng gegen sich und von zäher Arbeitssucht“19 bestimmt – Richter. Das Amt des Richters unerbittlich und erbarmungslos ausübend, ersetzt Franz Popjel, der den Rest seines Lebens unverheiratet bleibt und jedweder Sinnenfreude rigoros abschwört, den ekstatischen-ungezähmten Lebensstil seiner ersten Studienjahre durch absolute Askese und unbedingte Disziplin: Womit er sich freilich wiederum für ein Extrem der Lebensführung – diesmal jedoch einseitig auf Verstand und Intellekt ausgerichtet – entschieden hat. Die letzte der drei Novellen der Sammlung Nächte trägt den Titel Ein Später Derer van Doorn. Der Text erzählt von einem jungen Priester der katholischen Kirche, mit Namen Hieronymus van Doorn und dessen Kampf gegen die Sinnlichkeit, der für den Priester zu einer schmerzhaften Lebenskrise wird. Als der in einem kleinen Fischerdorf ordinierte Priester zu einer sterbenskranken, aber noch jungen Frau gerufen wird, betet der „Gottgeweihte“20 stumm, aber leidenschaftlich und „voll Entrücktheit“21 für deren Genesung: Die Kranke wird wieder gesund, der Priester allerdings hat sein Herz an die „engelhaft 17 18 19 20 21
Ebenda: 151f. Ebenda: 161. Ebenda: 164. Ebenda: 171. Ebenda: 183.
275 bleiche“22 Frau verloren. Es folgen Wochen, in denen der Mann der Kirche aus Selbstschutz und um die Ordnungsstrukturen seines bisher gelebten Lebens nicht zu gefährden, die Gegenwart der Genesenden zu meiden sucht, während die wie durch „ein Wunder Gottes gerettet(e)“ Frau umgekehrt nichts sehnsüchtiger wünscht, als den Priester möglichst rasch wiederzusehen. Je länger ihr Warten dauert, umso mehr rückt sie den Mann der Kirche in den Status einer Heilandsfigur, Hieronymus van Doorn erscheint ihr schließlich als eine „Macht ohne Grenzen“: Sie träumte oft […] den Traum der himmlischen Gnade. Und es kam wie ein fernes Erinnern auch, als wenn des Heilands beide sanften Hände selber nach ihr sich ausgestreckt hätten, sie aus den Ängsten der Finsternis und der eisigen Abgründe ins warme Licht emporzuheben.23
Die Situation spitzt sich zu, als sich Hieronymus dann doch zu einem Treffen mit Frau Hartje und deren Ehemann durchringt. Das im Zeichen religiös verklärter Erotik stehende Wiedersehen hat für den Priester fatale Folgen: „(G)efangen in der Pracht der Jugend, die hier neu und strahlend das Leben liebte und lebte, die eine Auferstehung feierte in das irdische Herbstparadies“24, wird er von der Aura der jungen Frau vollends verzaubert und geradezu magisch in den Bann gezogen, werden priesterliche Disziplin und asketische Lebensführung erbarmungslos bedroht, geraten Moral, Normen und Werte des bis zu diesem Zeitpunkt durch „Mauern und Dornen“25 vor den Verlockungen und Versuchungen des außerkirchlichen Lebens geschützten Mannes turbulent ins Schwanken. Der Priester wird von bis dato unbekannten Gefühlen übermannt, seine bisherigen lebensordnenden Sinnorientierungen, absolute Selbstdisziplin und bedingungslose Treue gegenüber den kirchlichen Dogmen werden durch die von Frau Hartje ausgehende erotische Stimulierung komplett erschüttert und letztlich zum Einsturz gebracht. In Hunderten von Briefen, die er freilich nie abschickt und allesamt wieder zerreißt, gesteht er der Frau, der sowohl seine Tagträume wie auch seine Nachtphantasien gehören, seine Liebe. Die Situation eskaliert, als die Frau seines Begehrens gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Berlin reist, um dort wie jedes Jahr die Wintermonate zu verbringen: Der Priester ist durch die geographische Distanz endgültig nicht mehr in der Lage, die 22 23 24 25
Ebenda: 177. Ebenda: 187. Ebenda: 191. Ebenda: 193.
276 Verwirbelungen seines Gefühlslebens auszubalancieren, er schlittert vollends in eine Sinn- und Lebenskrise: Nachdem er den Bischof um Urlaub von seinem Amt gebeten hat, reist Hieronymus dem Ehepaar kurz entschlossen nach. Beim Wiedersehen mit Frau Hartje wird das Verhalten der Angebeteten für den Priester allerdings zu einer Erlebniskatastrophe, zu einer ihm „unbegreiflichen Phantasmagorie“26: Erst ist er sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt wiedererkennt, und dann muss er auch noch erleben, dass die Frau, der all seine Liebe gehört, die Geschichte ihres gemeinsamen Kampfes gegen den Tod ihren Gästen als amüsant-kurzweiliges Bonbon der Abendunterhaltung präsentiert. Der Priester verlässt die Abend-gesellschaft, ohne je über seine Gefühle gesprochen zu haben, betrinkt sich in einer Schenke und landet schließlich in einem Bordell, wo er sich alkoholisiert und wahrnehmungsgestört vorstellt, dass es Frau Hartje sei, mit der er den Weg in die „Verdammnis“27 geht: Und der auf Hieronymus Bosch – den Maler der Glaubensabgründe und der Verdammnis – verweisende Vorname des Priesters wird unversehens zum Programm. Über Nacht ergraut, fährt Hieronymus am kommenden Morgen ruhelos und voller innerer Spannung zurück in sein Fischerdorf. Sein Bischof, den er um Absolution für den Verstoß gegen die Dogmen der Kirche bittet, empfiehlt ihm, zunächst zum Schutz der Kirchenehre alle irdischen Spuren seiner Sünden zu verwischen und dann sich selbst durch „tiefe Entwürdigungen“ zu bestrafen. Die Worte des Bischofs bringen dem Sünder nicht die ersehnte Gelassenheit, sie sind weder tröstlich noch sind sie dazu geeignet, eine neue Sinnorientierung zu ermöglichen. Hieronymus kann sich seinen Schritt vom Wege nicht mehr verzeihen. Zwei Jahre später findet „man ihn halb entblößt, den Rücken mit blutigen Striemen bedeckt, in seinem Schlafzimmer vor dem Kreuze erstarrt auf der Diele liegen, mitten in der Inbrunst seiner Zerknirschung vom Erlöser mit weicher Hand in die ewige, abgrundtiefe Ruhe gebettet.“28 Dass es sich bei den drei hier wiedergegebenen Geschichten unter dem Gesichtspunkt der Gattungsbezeichnung um Novellen handelt, ist mehr als offenkundig: Die Novelle – bekanntlich bereits von Goethe als das Erzählen einer „sich ereignende[n] unerhörte[n] Begebenheit“29 charakterisiert – ist eine Prosaerzählung, die – so die Theoretiker der Gattung – von einer „schicksalhafte(n) Krisen26 27 28 29
Ebenda: 231. Ebenda: 245. Ebenda: 247. Eckermann 1948: 225.
277 situation“30, einer „Merkwürdigkeit und Fragwürdigkeit des Lebens“31 handelt. Das „Unerhörte“32 des Erzählten lässt sich auch als „Daseinserfahrung des Schicksals“ und als „Krise menschlicher Selbstmächtigkeit“33 umschreiben, wobei das Erzählte durch „unerwartete Fügungen“34 und „Wendepunkte“35 den Charakter des Außerordentlichen, Überraschenden und Unberechenbaren bekommt. Weitere Kennzeichen der Novelle sind „Kürze“ und „Geschlossenheit“36 des erzählten Geschehens, immer aber ist der Gegenstand der Literarisierung eine „Situation der Krise“37 menschlicher „Selbstbestimmung“38, bei der dem „Schicksal als Spielfeld des Geschehens“39 eine folgenschwere Bedeutung zukommt. Das zentrale Ereignis einer Novelle, auf das alle Aufmerksamkeit gerichtet wird, ermöglicht Einblicke in die Beschaffenheit der „menschlichen Natur“40 , deren Autonomie nachdrücklich in Frage gestellt wird. Die Inhaltsskizzen sollten deutlich gemacht haben, dass die Protagonisten der Sammlung Nächte in der Tat alles andere als selbstbestimmt und autonom handeln. Die erzählten Ereignisse um Claus Tinnappel, Franz Popjel und Hieronymus van Doorn illustrieren, dass das Gefühlsleben und die Einbildungskraft der drei Titelhelden ihren Verstand und ihre Vernunft dominieren, und dass Schicksalsergebenheit schwerer wiegt als selbstreflektiertes Handeln, wobei durch die zu Beginn meiner Ausführungen herausgestellte kommunikative Unfähigkeit der drei Männer, durch ihr Unvermögen mit ihrer nächsten Mitwelt in einen vertrauensvollen Gesprächskontakt zu treten, mögliche Zweifel an der eigenen Sicht der Dinge und eine mögliche Korrektur des eigenen – individuellen und subjektiven – Wirklichkeitserlebens durch Auseinandersetzung mit der Wirklichkeitsauffassung eines Gegenübers unterbleiben. Novellistisches Erzählen findet in seiner ursprünglichen Situation – abgeleitet aus Boccaccios Decamerone (1349/1353), Goethes Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderter (1795) und Wielands Hexameron von Rosenhain (1805) – in einer mündlichen 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Kunz 1973: 7. Lukács 1963: 47. Petsch 1973: 407. Kunz 1973: 6. Kaiser 1977: 12. Tieck 1929: LXXXV. Mackensen 1973: 408. Kunz 1973: 10. Ebenda: 12. Ebenda: 7. Goethe 1988: 452.
278 Erzählsituation statt. Das Thema des Erzählens wird in den Unterhaltungen Goethes mit dem Wort Neuheit umschrieben: „Fragen Sie sich selbst und fragen Sie viele andere: was gibt einer Begebenheit den Reiz? Nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß, den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt.“41 Für Wieland kommt dann noch hinzu, dass bei einer Novelle vorausgesetzt werden könne, dass „sie sich […] in unserer wirklichen Welt begeben habe, wo alles natürlich und begreiflich zugeht, und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthaben zutragen könnten.“42 Auch diese Kriterien werden von den von Hauptmann zusammengestellten Novellen erfüllt. Alle drei Novellen werden den Lesern von unbekannt bleibenden Er-Erzählern präsentiert.43 Und die Art und Weise, in der die Er-Erzähler agieren, erweckt tatsächlich den Eindruck mündlichen Erzählens. Der Sprachstil ist unkompliziert und einfach: Der auffällig häufige Gebrauch der Hilfsverben war und hatte sowie eine große Zahl von Wie-Vergleichen lassen an spontan gesprochene – und nicht am Schreibtisch wohl komponierte – Sprache denken. Kurze und überschaubare Satzkonstruktionen und eine Vielzahl parataktischer, oft staccatohaft daherkommender Satzreihungen erinnern an die Ausdrucksweisen mündlicher Kommunikation, sie entsprechen dem stückweisen Erfassen und dem im zeitlichen Nacheinander erfolgten Weitergeben eines Sachverhaltes. Mit der von Carl Hauptmann für seine Novellen gewählten ErErzählform geht – so zumindest Jürgen H. Petersen, der die Er-Form mit der Ich-Form fiktionalen Erzählens kontrastiert44 – einher, dass die Erzähler der Novellen keine eigene Personalität besitzen, so dass ihre Personalität konturlos bleibt. Bei den Erzählern handelt es sich nicht um konkrete Personen, „vor allem nicht um den Autor selbst.“45 Die Tatsache, dass die Leser nichts über individuelle Charaktereigenschaften der Erzähler erfahren und keine Informationen über deren Persönlichkeitsprofile erhalten, bedeutet allerdings nicht, dass das Erzählen deshalb objektiv, neutral oder gar farblos wäre: In den Erzählvorgang eingebaute Kommentare und Anmerkungen zu dem erzählten Geschehen lassen durchaus Rückschlüsse auf subjektive Empfindungen und Meinungen der Erzähler zu. Das Verhältnis der 41 42 43 44 45
Ebenda. Wieland 1939: 60. Petersen 1977: 175. Petersen 1993: 57. Ebenda.
279 Erzähler der Hauptmannschen Novellensammlung zu den von ihnen erzählten Geschehnissen ist nur selten sachlich beobachtend oder neutral. So wird über Claus Tinnappel zwar nüchtern berichtet: „Claus Tinnappel konnte unbarmherzig sein. Er fürchtete sich vor niemand.“ Er „war so nüchtern“, und er „war einer von denen, die in der Einsamkeit aufgewachsen, die Blicke fremder Menschen immer wie etwas Kaltes und Peinliches empfinden.“46 In erster Linie aber wird immer wieder die eigene Meinung und das subjektive Empfinden des Er-Erzählers – und zwar vor allem über die bereits erwähnten WieVergleiche – ins Spiel gebracht: „Claus war wie von Furien gejagt.“ „Rauch und Bierdunst und Ausdünstungen und Staub. Das kriecht ins Blut und ist wie Gift in den Sinnen.“47 Das Verhalten Salies kommentiert der Erzähler mit den Worten, dass sie zwar „wie ein vornehmes gesittetes Mädchen“ aufzutreten verstehe, dass sie aber „tanzte wie eine Süchtige“ und ihr Blut „heiß wie Sonnenfeuer und dunkel wie Abgründe“48 sei. Ein vergleichbares Verhalten zeigt der Er-Erzähler von Franz Popjels Jugend, auch hier ist die persönliche Sichtweise des Narrators für den Leser permanent präsent. In Kommentaren zum Verhalten des Titelhelden manifestiert sich nichts anderes als das eigene Empfinden des Er-Erzählers: „Sein dunkles Auge versuchte fest unter die Leute zu blicken, […] als wenn er Sieg und Freiheit verkünden wollte.“ An anderer Stelle heißt es dann: „Dort lag der leidende, ewig mißratene Menschensohn.“ Und: „Dann war er bald mit verstohlenen Schritten die Treppe hinunter, als käme er von einer Dirne. […] Er lachte häßlich.“49 Ähnliches gilt für die Erzählinstanz der Novelle Ein Später Derer van Doorn, auch hier ist das Erzählverhalten nur selten neutral und oft alles andere als unprätentiös: Hieronymus „rühmte die Gnade des Lebens und der seligen Leiden mit anschwellendem Wortgesang. Er zerriß sich seine Brust wie ein kranker Adler, der die Wunden offen sieht und die Blutstropfen liebt, die aus seinen Wunden quellen. Er verfluchte die Süßigkeiten des Lebens. Er schilderte das Menschenschicksal wie eine kühne, entsagungsvolle Meerfahrt.“ Und weiter: „Hieronymus van Doorn hatte immer hinter Mauern ein einsames Leben in Gott gelebt. Seine Welt lag innen. Sein Auge, das blau war, schien dunkel, weil es verzehrt aussah, erhitzt von der Glut sehnsüchtiger Kasteiung. Seine Wangen waren hohl, seine Stirn war kalt und sehr blaß. Sein Gesang, 46 47 48 49
Hauptmann 1912: 8, 18, 28. Ebenda: 46, 29. Ebenda: 25, 30, 18. Ebenda: 51, 60, 109, 66.
280 wenn er zu einem Sterbenden durch die Dünen schritt, hatte etwas sehr Edles.“50 Zur Vielzahl der Anmerkungen, Kommentare und Beurteilungen, durch die der Er-Erzähler alles andere als eine neutrale oder gar distanzierte Präsentation der erzählten Geschehnisse bietet, kommt hinzu, dass der Narrator wiederholt einen olympischen Standort – der auch als der der Allwissenheit bezeichnet wird – einnimmt, dass heißt, er macht deutlich, dass er über umfassende Sachkenntnisse verfügt und einen vollständigen Überblick über die Personen, Vorgänge und Schicksale, die er schildert, hat, ohne allerdings zu explizieren, woher diese Kenntnisse stammen. Die Bewertung von Vorgängen aus der Position der Allwissenheit – „es ist wahr, was der schwarzbärtige Förster oben im Schlage zu Claus Tinnappel gesagt“51, in „Wahrheit war trotz des ewigen Streitens immer auch ein inbrünstiges Verhältnis zwischen den Brüdern Popjel gewesen“, aber man „ahnt nicht, wie Musik aussehen konnte in diesem Blute. Welche Urgewalten und Höllendürste sie auslösen konnte“, und „Franz war und blieb unheilbar in seiner Verwahrlosung“52, „es war wirklich eine große Gemeinschaft“53 um den Priester van Doorn – wird ergänzt durch die Kenntnis der jeweiligen textimmanenten Vorgeschichte: Tinnappel „hatte sich geschworen sich unbarmherzig an den Wilderern zu rächen, die seinen Vater im tiefsten Forste zu qualvollem Tode gebracht. Sein rechtes, unteres Augenlid war gespalten. Er hatte einmal einen Streifschuß ins Gesicht erhalten“54; in „der Wohnung der Popjels war ein geheimes Zimmer, [...] vor Jahren war es das Zimmer des Vaters gewesen, der auch ein erfolgreicher, sehr ruhmreicher Künstler war“55; „Hieronymus van Doorn stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Seine Väter hatten auf Schlössern der Grafschaft Westflandern gehaust. […] Schon einst war einer Derer van Doorn immer auch dem Himmel ein Geweihter gewesen. […] Hieronymus van Doorn […] hatte den Dienst als Priester gewählt, weil er schon früh ein bleicher Knabe war und […] mit ängstlichem Blick in die Welt sah.“56 Zum Wissen um zukünftiges Geschehen in Form zeitlicher Vorausdeutungen – „Jetzt gab es einige gute Zeiten“57, „so daß 50 51 52 53 54 55 56 57
Ebenda: 174, 176. Ebenda: 11. Ebenda: 55, 82, 100. Ebenda: 174. Ebenda: 8. Ebenda: 63f. Ebenda: 169f. Ebenda:25.
281 Wochen und Monate ohne Störungen […] hin gingen“58, Hieronymus van Doorn „war keiner von denen, die Bischof oder irdische Sündenvergebung je zu lösen vermochten“59– kommt eine große Zahl von Einblicken in das Innenleben der Personen, ihre inneren Erlebnisse, Gedanken und Vorstellungen: „Salie dachte, daß sie sich nur nach Claus je gesehnt“, „Claus Tinnappel hatte […] die stumme Sprache verstanden, die Salies Atem und Pulse redeten“, und später dann, nachdem Salie ihn verlassen hat: „In Claus Tinnappel gab es Beängstigungen, Traumgesichte, Schlangen.“60 Über das Innenleben Franz Popjels weiß der Narrator zu berichten: „Er schien sich wie abgestorben“, er „gab Pflichten des Studiums vor, hörte ein paar Kollegs über Philosophie und Kunstgeschichte und schmiedete Pläne. Was man so Pläneschmieden nennt, wenn man eigentlich nur denkt, wie kann ich einen Schatz aus der Erde graben, einen Sack Gold wie einen Sack Kartoffeln?“61 Der Erzähler der Novelle Ein Später Derer von Doorn kennt die Vorstellungen Frau Hartjes: „Da kam für ihr Erinnern, wie aus einer Brunnentiefe Perle um Perle, so das Bild des Beters und Gottüberwinders herauf und ihrem Blick immer näher, so daß sie vor dem Bilde […] gebunden dalag, als läge sie diesem Heiland in seinen ringenden Ruferarmen.“62 Und der Erzähler weiß natürlich auch über das Seelenleben des Priesters Bescheid: „Hieronymus hatte einen harten Kampf zu kämpfen heimlich, daß […] Frau Hartjes […] Herrlichkeit nicht ganz das heilige Gnadenbild auf dem Altar verdrängte. […] In seinen Träumen war er kein Priester mehr.“63 Wobei diese Allwissenheit der Erzähler zumindest partiell auch wieder eingeschränkt und relativiert werden kann, indem die Erzähler sich in ihrer Beurteilung der Geschehnisse nicht wirklich sicher sind und nur mehr spekulieren, so z.B. über die Atmosphäre am Weihnachtstage im Haus der Popjels: „Es schien durchaus nichts Bedrohliches in der Luft“64, als Hieronymus durch die Begegnung mit Frau Hartje in eine Lebenskrise gerät, heißt es im Text: „Was in Hieronymus van Doorn vorgegangen war seitdem er aus dem Hause der Kroens heimgekehrt und die fröhlichen Worte und das klingende Lachen von Frau Hartje noch im Ohre mit sich getragen hatte, wußte 58 59 60 61 62 63 64
Ebenda: 99. Ebenda: 246. Ebenda: 18, 42. Ebenda: 60, 100. Ebenda: 188. Ebenda: 213, 220. Ebenda: 100.
282 niemand“65, und auch über die Nacht, in der die schwangere Salie ihren Mann verlässt, um zu Tinnappel zu laufen, dieser aus dem Schlaf erwacht, sein Gewehr ergreift und nach draußen eilt, weiß der Erzähler nur Mutmaßnahmen anzustellen: „Vielleicht hatte Claus Tinnappel diesen Ruf gehört. Vielleicht hatte er gar die Stimme erkannt.“66 Die drei Er-Erzähler der Novellensammlung berichten von Menschen, die mit schicksalhaften Krisensituationen konfrontiert werden, Menschen, die für ihr weiteres Leben folgenschwere Grenzerfahrungen machen: der Forstwirt Claus Tinnappel, dem es nicht gelingt, seine Eifersucht unter Kontrolle zu bringen, der junge Franz Popjel, der nicht in der Lage ist, ein Leben jenseits der Extreme zu führen, und Hieronymus van Doorn, der als Priester die ihm verbotene Sinnlichkeit entdeckt. Zudem ist den Lebenswegen der drei Titelhelden gemeinsam, dass sich – wie seinerzeit bereits von Wieland von der Gattung Novelle gefordert – durchaus denken lässt, dass sich das erzählte Geschehen wirklich und tatsächlich zugetragen haben könnte. Erzählt wird – dem Buchtitel der Hauptmannschen Textsammlung entsprechend – von den Nachtseiten des menschlichen Lebens beziehungsweise den Schattenseiten der Seele: Der Mensch, weit entfernt von jedweder Selbstverwirklichung, ist die Summe emotionaler Faktoren und der Spielball seines Schicksals, er ist unfähig, sein Leben autonom zu gestalten oder gar selbstreflektiert zu planen: Empfindungen, Reize, Reflexe, Unbewusstes bewirken, dass die Protagonisten entheroisiert daherkommen. Die jenseits von Gesellschaft und Ordnung stehenden Titelhelden der Novellen sind in ihrer individuellen Triebstruktur noch weitaus eher ein Es als ein Ich. Es geht also um die „psychologische Seite“67 des Menschen, darüber hinaus geht es in allen drei Novellen um Grenzgänger, um das Verhältnis von Individuum und Mitwelt, um die Relation von Normalität und Andersartigkeit, um korrekte und falsche Verhaltensmuster, wobei das Nichtzusammenfallen individueller Wünsche mit den Rahmenbedingungen der tatsächlichen Wirklichkeit und die Unfähigkeit zu erfolgreicher Kommunikation, bzw. das Unvermögen, Bedürfnisse und Sehnsüchte an andere zu vermitteln sowohl Claus Tinnappel wie auch Franz Popjel und Hieronymus van Doorn zur Einsamkeit verdammt, oder – mit anderen Worten – der intellektuell einfache Forstgehilfe hat sowohl mit dem Studenten wie 65 66 67
Ebenda: 194. Ebenda: 45. Stroka 1965: 71.
283 auch mit dem Priester zumindest eine Gemeinsamkeit: Alle drei sind gleichermaßen zur Sprachlosigkeit verurteilt. In der Novellensammlung Nächte gestaltet Carl Hauptmann ein Welt- und Menschenbild, das mit der Sicht von Welt und Mensch – mit der Ordnung der Dinge – in der Literatur der Moderne um 1900 korrespondiert. Einbuße der Autonomie des Individuums und subjektives Lebensgefühl, Realitäts- und Identitätsverlust des Ichs, Desorientierung, Verzweiflung, Kommunikationslosigkeit und Entfremdung, das Schwinden der Werte und die Auflösung aller Gewißheiten stehen für die Krise der bürgerlichen Wertewelt, die nicht nur von Hauptmann, sondern auch von anderen Autoren der Jahrhundertwende zum zentralen Thema ihrer Werke gemacht wird. Vor diesem Diagnosehintergrund stellt sich dann aber die Frage, warum Carl Hauptmann und sein Werk – anders als z.B. die Werke seines Bruders Gerhart – im kollektiven Gedächtnis nahezu vergessen sind? Weshalb Carl Hauptmann und sein Werk weder Schullektüre noch Stoff an den Universitäten sind? Wieso die Forschung den Autor und sein Werk geflissentlich übersieht? Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass bei allen Korrespondenzen des Novellengeschehens mit den Erfahrungsqualitäten der Jahrhundertwende die Stoffwahl und deren Bearbeitung – die archaische Interpretation der Natur in Claus Tinnappel, die esoterische Mythisierung der Bluts- und Familienbande Franz Popjels und die religiös verklärte Erotik in Ein Später Derer van Doorn – in einem eminenten Widerspruch zu den Bewusstseinsstrukturen der Moderne stehen. Hinzu kommt, dass die zuvor entwickelte These, wonach die Unkompliziertheit des Sprachstils mit der ursprünglichen Situation novellistischen Erzählens, also mit dem Sprachstil der mündlichen Kommunikation, korrespondiert, natürlich nur die eine Seite einer möglichen Bewertung ist. Die Simplizität der sprachlichen Gestaltung (überwiegend parataktische Satzkonstruktionen, unzählige Versuche der Spannungssteigerung durch wortgleiche Satzanfänge, die Vielzahl der schon erwähnten Wie-Vergleiche), sprachliche Ausrutscher und Schnitzer (die „kleine Frau war wie ein feiner Gesang“68, „innere Sinne voller Harmonien“69 haben, „wie ein durstendes Vieh schreien können nach Seligkeit“70 , die „Bestürmungen des Blutes“, „in den feuchtschwellenden Mund“71) verbunden mit einem häufig als überzogen erscheinenden Pathos des Erzählers (in „seinem Blut war 68 69 70 71
Hauptmann 1912: 21. Ebenda: 56. Ebenda: 57. Ebenda: 209.
284 dann auch die Kraft und das Jauchzen“72, „beide schienen in Gott geboren“73, „Vater und Mutter sind Mächte aus der Tiefe der Zeit“74, „vom Erlöser mit weicher Hand in die ewige, abgrundtiefe Ruhe gebettet“75) lassen die Novellen jenseits ihrer zweifelsohne ebenfalls vorhandenen Tendenz zur Auseinandersetzung mit dem Lebensgefühl der Moderne als gewollt, schwerfällig und durchaus altbacken erscheinen und rücken sie in große Distanz sowohl zu den Sprachexperimenten eines Arno Holz wie zu den Fragmentierungen des Blicks und dem Oszillieren zwischen Sinn und Nicht-Sinn der Expressionisten. Gleichwohl sollte bei der Einschätzung der Bedeutung des Werkes von Carl Hauptmann aber nicht vergessen werden, dass die Wahrscheinlichkeit für die Genese eines außergewöhnlichen Kunstwerkes mit der Vielzahl der Versuche wächst. Oder mit anderen Worten: Wenn es – wie in Italien im 17. und 18. Jahrhundert – viele Geigenbauer gibt, dann wächst auch die Chance, dass einer dieser Geigenbauer eine Geige von der Qualität einer Stradivari bauen wird. Und um im Bild zu bleiben: Dann wäre also Carl Hauptmann einer von jenen Geigenbauern, die zwar nie selbst eine Geige in der Qualitätsstufe einer Stradivari gebaut haben, die aber dennoch nötig sind, um die Wahrscheinlichkeit für die Genese eines brillanten Kunstwerkes zu erhöhen. Literaturverzeichnis Eckermann, Johann Peter. 1948. ‚Gespräch mit Goethe vom 25. (29.) Januar 1827.‘ In: Ders.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. v. Ernst Beutler. Zürich. (= ArtemisGedenkausgabe, Bd. 24). Goethe, Johann Wolfgang von. 1988. ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter.‘ In: Ders.: Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797. Bd. 1., Hg. v. Reiner Wild. München. (= Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe). Hauptmann, Carl. 1912. Nächte. Leipzig: Ernst Rowohlt Verlag.
72 73 74 75
Ebenda: 27. Ebenda: 182. Ebenda: 151. Ebenda: 245.
285 Jofen, Jeann. 1972. Das letzte Geheimnis. Eine psychologische Studie über die Brüder Gerhart und Carl Hauptmann. Bern. Kaiser, Wolfgang. 1977. Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft (1948). 7. Aufl., Berlin. Kunz, Josef. 1973. Einleitung in: Ders. (Hg.): Novelle. Darmstadt: 7. (= Wege der Forschung, Bd. LV). Lukács, Georg. 1963. Die Theorie des Romans (1916). Ein geschichtlicher Versuch über die Formen der großen Epik. 2., um ein Vorwort vermehrte Aufl., Neuwied/Berlin-Spandau. Mackensen, Lutz. 1973. ‚Die Novelle.‘ In: Josef Kunz: (Hg.): Novelle. Darmstadt: 408. (= Wege der Forschung, Bd. LV). Petersen, Jürgen H. 1993. Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart: Metzler. Petersen, Jürgen H. 1977. ‚Kategorien des Erzählens. Zur systematischen Deskription epischer Texte.‘ In: Poetica, 9. Bd. Petsch, Robert. 1973. ‚Der Gattungsbegriff Novelle‘ (1928). In: Josef Kunz (Hg.): Novelle. Darmstadt: 407 (= Wege der Forschung, Bd. LV). Stroka, Anna. 1965. Carl Hauptmanns Werdegang als Denker und Dichter. Wroclaw. Tieck, Ludwig. 1929. Schriften. 11. Bd., Berlin. Vorbericht zur dritten Lieferung. Wieland, Christoph Martin. 1939. ‚Das Hexameron von Rosenhain.‘ In: Ders.: Alterswerke. Hg. von Friedrich Beißner. Berlin: 60. (= Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften).
286
Gerhard Leyerzapf „VERHÄNGNIS AMSTERDAM“1 GRETE WEILS SCHICKSAL IN IHREM WERK Grete Weil (1906-1999) debütierte erst mit dreiundvierzig Jahren. Danach musste sie dreißig Jahre warten, bis sie als Schriftstellerin bekannt wurde. Ihre Buchveröffentlichungen sind an zwei Händen abzuzählen und erschienen in großen zeitlichen Abständen. Diese Charakteristica der Schriftstellerin Grete Weil hängen mit der Thematik ihres Werks zusammen. In allen ihren Büchern spielt ihre Autobiographie die vorherrschende Rolle, so dass es naheliegt, sich mit dem Leben der Autorin zu beschäftigen. Im folgenden werden die Veröffentlichungen Grete Weils in der Reihenfolge ihres Erscheinens vorgestellt und auf ihren autobiographischen Inhalt hin untersucht.2 Dabei soll auch betrachtet werden, wie die Autorin autobiographische Elemente in den jeweiligen Text verarbeitet. Grete Weils bislang unbekannte erste Veröffentlichung erfolgte Anfang 1944. Es handelt sich nicht um eine Buchhandelsveröffentlichung im üblichen Sinn, sondern um ein hektographiertes Flugblatt, das von Widerstandskämpfern illegal verteilt wurde. Es trägt den Titel Mauthausen 1941 und berichtet über die berüchtigte Amsterdammer Razzia vom Juni 1941, bei der dreihundert junge jüdische Männer verhaftet wurden und nach ihrer Verschleppung in das KZ Mauthausen innerhalb weniger Wochen umkamen.3 Grete Weil schrieb den Text während der Zeit, in der sie in der Wohnung von Herbert Meyer-Ricard im Zentrum Amsterdams versteckt war. Dieser aus Frankfurt stammende Graphiker war ein Schulfreund ihres Mannes Edgar Weil. Seiner Gewerkschaftstätigkeit wegen kam er bald nach 1933 in die Schusslinie der Gestapo und emigrierte deshalb Ende 1935 nach Holland. Nach dem Einmarsch der Deutschen gründete er mit einigen Freunden eine Widerstandsgruppe, die „Hollandgruppe Freies Deutschland“. Zunächst stellten die Mitglieder der Gruppe falsche Ausweise und Lebensmittelkarten her. Grete Weil tauchte Ende September 1943 bei Herbert Meyer-Ricard unter. Die 1 2 3
Weil 1998: 128 (Kapitelüberschrift). Ihre Ubersetzungen und die beiden als Auftragsarbeiten entstandenen Libretti bleiben im folgenden unberücksichtigt. Dreiser, G.W. [1944]. „Mauthausen 1941“. In: Dossier Herbert Meyer Ricard. Gemeentearchief Amsterdam, Sign.ZKW8E15.
288 aus einer gutbürgerlichen Münchner jüdischen Familie stammende Autorin hatte 1933 ihr Germanistikstudium abgebrochen und stattdessen als Vorbereitung ihrer Emigration eine Ausbildung als Fotografin absolviert. Durch ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet konnte sie sich bei der Herstellung gefälschter Papiere nützlich machen. Seit Januar 1944 verfassten Mitglieder der Gruppe außerdem Flugblätter zur Aufklärung über wichtige Kriegsereignisse. Die in Auflagen von 75-250 Exemplaren hektographierten deutschsprachigen Texte verteilte Herbert Meyer unter dem Schutz seiner gültigen deutschen Papiere auf zahlreichen Reisen an in Holland stationierte deutsche Soldaten. Auf diese Weise sind bis Kriegsende etwa 60 deutsche Soldaten teils unter Mitnahme ihrer Waffen zum holländischen Widerstand übergelaufen. 4 Eines der ersten Flugblätter ist das von Grete Weil über Mauthausen. Zum ersten Mal berichtet sie hierin über das Schicksal ihres Mannes, der auf dem Heimweg zufällig in die völlig überraschend angesetzte Razzia geraten war. Wie alle anderen Verhafteten dieser Gruppe wurde auch er in dem berüchtigten Steinbruch des KZ Mauthausen zu Tode gequält. Natürlich wird in dem Text sein Name nirgends erwähnt und benutzt Grete Weil ein Pseudonym. Die detaillierte Beschreibung des Geschehens, angefangen von Zitaten aus verschlüsselten Mitteilungen ihres Mannes über die Zustände in Mauthausen, die sie auf offiziellen Postkarten aus dem Lager erreichten bis zur Erwähnung von Versuchen, bei einflussreichen Nazis seine Freilassung zu erreichen, lassen keinen Zweifel an ihrer direkten Betroffenheit. Dennoch schreibt sie über die Ereignisse im Ton eines zwar vom Geschehen berührten, aber persönlich unbeteiligten Zeitgenossen, sachlich und mit Abstand. Was sie das an Kraft und Selbstbeherrschung gekostet haben muss, kann jeder ermessen, der ihre späteren Bücher kennt und weiß wie traumatisch der Verlust ihres Mannes ihr Leben lang geblieben ist. Etwas von den Umständen, in denen sich Grete Weil damals befand, der Unerbittlichkeit der Kriegszeit und der ständigen Gefahr des Entdecktwerdens, wird daraus spürbar. Schon damals war sie entschlossen, Zeuge zu sein und Zeugnis abzulegen. Von einer literarischen Verarbeitung des Geschehens ist dieser Text allerdings noch weit entfernt. Wenn man von dem ebenfalls noch in ihrer UntertauchPeriode entstandenen Puppenspiel Weihnachtslegende 1943 absieht, das 1945 kurz nach Kriegsende in einem Sammelband erschien,
4
Winkel 1954: 132.
289 erfolgte ihre nächste Publikation 1949.5 Sie war zwei Jahre vorher nach Deutschland zurückgekehrt, eine Entscheidung, die bei vielen ihrer Bekannten auf Unverständnis stieß. So erinnert sie sich an eine heftige Diskussion 1947 mit ihrem Jugendfreund Klaus Mann: Er redete einmal eine ganze Nacht auf mich ein, daß ich nicht nach Deutschland zurückgehen dürfe (ich tat es doch und habe es nie bereut), er war von einem unglaublichen Haß auf Deutschland besessen und fand alles und alle dort entsetzlich und verabscheuenswert. Nie habe ich einen Juden getroffen, der so gehaßt hat. Ich selbst konnte es gar nicht. Wenn ich an eine Kollektivschuld geglaubt hätte, hätte ich mir das Leben genommen.6
Einer der Hauptgründe für ihren Schritt war die Hoffnung, endlich im deutschen Sprachraum schreiben und publizieren zu können. Die Erzählung Ans Ende der Welt, ihre erste eigenständige und für eine größere Öffentlichkeit bestimmte Publikation ist zugleich einer der ersten deutschen literarischen Texte über die Judenverfolgungen. Grete Weil war, um sich und ihre Mutter besser vor Deportationen schützen zu können, im Sommer 1942 dem Angebot einer Anstellung beim Jüdischen Rat gefolgt. Bis zur Auflösung dieses Organs Ende September 1943 war sie, zunächst als Fotografin, später als Schreibkraft tätig und dadurch im Besitz von „Ausnahme-Bescheinigungen“, die sie und ihre Mutter vor Deportationen schützten. In Ans Ende der Welt verarbeitet Grete Weil Erinnerungen an ihre Tätigkeit in der „Hollandsche Schouwburg“ in Amsterdam, der Zwischenstation der Amsterdamer Juden auf dem Weg ins Lager Westerbork, von dem aus die meisten in die Vernichtungslager verschleppt wurden. In durchgehender Erzählperspektive und knappen, konzentrierten Sätzen schildert Grete Weil die Erlebnisse des holländischen Professors Waterdrager, seiner Frau und seiner Tochter, die nach ihrer Verhaftung einige Tage dort festgehalten werden. Die absurde Atmosphäre in den überfüllten Räumen des zweckentfremdeten ehemaligen Theaters und die angesichts des Kommenden peinliche Arglosigkeit der Hauptpersonen wirken beklemmend. Eindringlich wird das Abgleiten des Professoren-Ehepaares vom Gefühl gesicherter bürgerlicher Existenz in das völliger Schutzlosigkeit beschrieben. Der moralisch gefestigte angesehene Professor wird unter dem Druck der Verhältnisse schließlich zum opportunistischen Denunzianten an 5
6
Ein nach Kriegsende erschienener holländischer Prospekt der „Hollandgruppe Freies Deutschland“ nennt eine weitere noch vor Kriegsende erschienene Veröffentlichung Grete Weils. Ein Drucknachweis konnte dafür nicht gefunden werden. Vgl. Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie, Amsterdam: Collectie 249 (Sign. DocII-324A) Meyer 1996: 41f.
290 seinem Verwandten Ben, der daraufhin als Widerstandskämpfer verhaftet wird. Gegengewicht dazu formt die Liebesbeziehung, die sich zwischen der Tochter Annabeth und Ben entwickelt. Auch wenn es sich nicht mehr um einen Dokumentartext handelt, ist doch auch hier wieder ein Abstand der Autorin vom Beschriebenen spürbar. Grete Weil schreibt kühl observierend, versucht nicht, das die Familie erwartende Grauen näher zu beschreiben und greift nicht als Erzählerin ins Geschehen ein. Zurückhaltung zeigt Grete Weil auch bei der Beschreibung des verantwortlichen Hauptsturmführers, einem Porträt des berüchtigten Kriegsverbrechers Aus der Fünten.7 Ohne dass Gewalttaten geschildert werden, macht sie doch die ständige Bedrohung der Inhaftierten durch den machttrunkenen SS-Offizier deutlich. Trotz des augenscheinlichen Abstands der Autorin vom Beschriebenen ist das Buch eine deutliche Auseinandersetzung mit ihrer eigenen damaligen Tätigkeit. Nach dem Krieg hat sich die Anschauung durchgesetzt, die Mitglieder des von der deutschen Besatzung installierten Jüdischen Rates hätten sich zur reibungsloseren Deportierung der Juden missbrauchen lassen. In ihrer Autobiographie schreibt Grete Weil: Mir wäre wohler, ich wäre nicht dabeigewesen, wenn ich mir auch nichts vorzuwerfen habe, im Gegenteil, es ist mir gelungen, ein paar Erwachsene (durch Überreden, doch noch unterzutauchen) und viele Kinder (durch Überreden der Eltern, sie in christliche Familien zu geben) zu retten.8
Augenfällig an Grete Weils erstem Buch ist die Differenzierung der handelnden Personen, die eben nicht nur unschuldige Opfer oder Inkarnationen des Bösen sind. Dadurch erleichtert sie es ihren Lesern, sich in die Protagonisten einzufühlen. Dennoch wurde das 1947 beendete Manuskript trotz Empfehlung von unter anderen Albert Ehrenstein von mehreren Verlagen abgelehnt, bevor der Berliner Verlag Volk und Welt die Herausgabe übernahm. Grete Weil geht es wie vielen exilierten Schriftstellern, die beim damaligen westdeutschen Publikum wegen ihrer konsequenten Haltung gegenüber den Nazis unbeliebt weil unbequem waren. Andererseits gab es viele Literaturliebhaber, die alle Exilautoren zur alten Garde aus der „Systemzeit“, wie es in der Nazi-Propaganda hieß, zählten und als vermeintlich altmodisch ignorierten. Im Rückblick schreibt Grete Weil:
7 8
Exner 1998: 70. Weil 1998: 166.
291 Heute, wo sie [die Erzählung] längst in Westdeutschland erschienen ist, weiß ich, daß es eigentlich ein Skandal war, daß niemand im Westen sie wollte. Doch noch ahne ich nichts von den Schwierigkeiten, denen ich über viele Jahre begegnen werde, weil Literatur über dieses Thema unerwünscht ist.9
Folgerichtig bleibt die Resonanz der deutschen Leser auf dieses Buch aus. Als Schriftstellerin tritt Grete Weil erst vierzehn Jahre später wieder an die Öffentlichkeit. Sie hatte in der Zwischenzeit einen Jugendfreund, den Regisseur Walter Jokisch geheiratet und in seinem Auftrag einige Opernlibretti verfasst, daneben arbeitete sie als Übersetzerin. Der 1963 im westdeutschen Limes-Verlag erschienene Roman Tramhalte Beethovenstraat spielt wieder in Amsterdam, aber ist keine einsträngige quasi-dokumentarische Geschichte mehr. Je mehr die Autorin von diesem Buch an ihre eigene Person ins Spiel bringt, desto differenzierter wird die Struktur des Textes. In einer Art von Rahmenerzählung kehrt der westdeutsche Journalist Andreas nach Amsterdam zurück, wo er während des Kriegs die Judendeportationen miterlebte. Alle Versuche, seine Erinnerungen an das Geschehene zu Papier zu bekommen, waren bisher vergeblich und er hofft, an Ort und Stelle damit mehr Erfolg zu haben. Zwischen seine Beobachtungen als Tourist in Amsterdam schieben sich Erinnerungen aus dem Krieg, an seine damaligen Hausgenossen und die Beziehungen zu Daniel, dem jüngeren Freund, der im Widerstand aktiv ist und später nach Mauthausen deportiert wird. Daneben thematisiert Grete Weil die Schwierigkeiten ihres Protagonisten, diese Erinnerungen zu formulieren. Zu viele Formen boten sich an. Hatte er sich zu einer entschlossen, fand er am nächsten Tag eine andere, die ihm besser gefiel. Und keine paßte. Seinen Stil konnte er nicht wechseln. Der gehörte zu ihm wie ein Teil seines Körpers. Auch sein Stil paßte nicht.10
Da der Aufenthalt in Amsterdam Andreas seinem Ziel nicht näherbringt, entschließt er sich zuletzt zu einer Fahrt nach Mauthausen. Aber den Besuch des ehemaligen Lagers bricht er fluchtartig ab. Niemand, der es sich anschaute, würde auch nur das geringste von dem Vergangenen erfahren. Niemand würde eine Antwort auf die Frage bekommen, wie es möglich gewesen war. Die Gemordeten hatten ihr Geheimnis und das ihrer Mörder mit sich genommen. 11
9 10 11
Ebenda: 239. Weil 1963: 50. Ebenda: 211.
292 Andreas scheitert also an seinem ursprünglichen Vorhaben. Er hatte den bis ins Extreme gesteigerten Ehrgeiz, wahr zu sein, ein Fanatiker der Präzision. Doch erkannte er keine Wahrheit an, die nicht mit vierhundert in Trambahnen abtransportierten Menschen begann. Über ein anderes Thema zu schreiben war unmöglich. Für dieses aber gab es kein Wort, kein Zeichen, kein Gleichnis, das deckte.12
In Tramhalte Beethovenstraat versucht Grete Weil erstmals, Verhaftung und Ermordung ihres Mannes Edgar Weil literarisch zu verarbeiten. Wie ihr Protagonist Andreas kämpft sie mit dem Zwang, ihre Erinnerungen auszusprechen und mit der Form, in der das Erlebte konkretisiert werden kann. Trotz aller authentischen Einzelheiten kann von einem autobiographischen Roman keine Rede sein. Der verschlungene Text wird zum schillernden Spiel der Spiegelung eigener Erlebnisse und Empfindungen in denen ihrer Romanfiguren. Dabei legt sie zum Beispiel eigene Erinnerungen nicht nur ihrem alter ego Andreas, sondern auch anderen Figuren in den Mund und wird das Schicksal ihres Mannes sowohl Daniel als auch einer anderen Person im Roman zugeschrieben. Im Gegensatz zu ihren früheren Texten beschränkt sie sich jetzt nicht mehr darauf, nur über die Zeit der Verfolgung zu schreiben. Abwechselnd mit Passagen, in denen das Zusammenleben der Hausgemeinschaft in der Beethovenstraat während des Kriegs beschrieben wird, Grete Weils Exiladresse, für die sie selbst und ihr damaliger Bekanntenkreis Modell stehen, reflektiert Andreas die Erfahrungen der Autorin in der Nachkriegsgesellschaft Deutschlands. Darin wird deutlich, dass der durch den Verlust ihres Partners entstandene Bruch in ihrer Existenz für Grete Weil bestehen bleibt. Das Emigrantenschicksal, das in der Rolle des Opfers der Judenverfolgungen gipfelt, findet seine Fortsetzung in dem Schicksal als Außenseiterin innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der ihre Erlebnisse als Jüdin tabuisiert sind. Verglichen mit Grete Weils früheren Texten ist Tramhalte Beethovenstraat ein formal anspruchsvolleres Experiment. Es entwickelt sich dabei wie von selbst aus aus seinem Thema. Während im Roman Andreas an der Aufgabe, seine Erlebnisse zu schildern scheitert, findet Grete Weil in der assoziativen Verbindung von Erinnerung und Selbstreflexion der Hauptfigur das Mittel, sich ihren traumatischen Erinnerungen sprachlich zu nähern. Fünf Jahre später erscheint ihre nächste Veröffentlichung. Die unter dem Titel Happy, sagte der Onkel herausgegebenen drei 12
Ebenda: 50.
293 Erzählungen entstanden nach einer Amerikareise. Die formal und inhaltlich fast ineinander übergehenden Texte beschreiben in Folge einen Besuch bei in Kalifornien lebenden Verwandten, einen Aufenthalt in New York und die Besichtigung von Azteken-Ruinen in Mexiko. Grete Weil ist hier erstmals die Ich-Erzählerin. Das in allen bisherigen Texten vorhandene autobiographische Element wird von diesem Buch an nicht mehr verhüllt. Der erzählerische Abstand in Ans Ende der Welt, dessen Aufhebung sich in Tramhalte Beethovenstraat durch die Einführung von Andreas, dem alter ego der Autorin schon ankündigte, wird jetzt endgültig aufgegeben. Wer die auf den ersten Blick wie einfache Reisenotizen wirkenden Texte allerdings als rein autobiographisch ansähe, wäre im Irrtum. Neben der Schilderung des Besuchs bei Onkel und Tante aus München, die nichts mehr von Flucht und Verfolgung wissen wollen, und doch in der Vergangenheit denken und leben, stehen die Erlebnisse der Erzählerin in New York und Mexiko, in denen sich kontrollierbare Fakten und glaubwürdige Begegnungen mit traumhaften Passagen mischen, in denen mögliche Konflikte, die aus diesen Begegnungen entstehen könnten, durchgespielt werden. Ob es dabei um Kontakte mit ehemaligen Tätern oder Opfern der Judenverfolgungen geht, wie immer bei Grete Weil sind ihre Erlebnisse im zweiten Weltkrieg gegenwärtig. Aber es gelingt ihr auch, Emotionen und Verhalten eines durch diese Erlebnisse gezeichneten Menschen in der Gegenwart zu beschreiben. Es geht ihr nicht um das jeweils neu Formulieren dessen was geschehen ist, sondern um den aktuellen Umgang mit dieser Vergangenheit. Die IchErzählerin klammert nicht wie ihre Verwandten die schreckliche Vergangenheit aus, sie geht daraus sich ergebenden Konfrontationen nicht aus dem Weg. Sie beobachtet den Rassismus gegenüber den Schwarzen, bei anderen wie bei sich selber, sie beschreibt, wie andere auf sie reagieren, sobald sie sich als Jüdin zu erkennen gibt und diskutiert in Gedanken mit einem SS-Verbrecher. Die Vergangenheit ist bei Grete Weil nicht abgeschlossen, sondern Anlass ständiger Auseinandersetzung. Von jetzt an schreibt sie nicht mehr nur über ihre Vergangenheit, sondern vor allem über ihren Umgang mit dieser Vergangenheit. Den literarischen Durchbruch schafft Grete Weil erst mit ihrem folgenden Buch, dem Roman Meine Schwester Antigone, der wiederum nach längerer Schreibpause erscheint, nämlich 1980. Ihr Ehemann Walter Jokisch war inzwischen gestorben, sie selbst von Frankfurt in ihre Heimat umgezogen, wo sie in der Nähe von München bis zu ihrem Tod 1999 wohnt. Wie die Erzählungen in Happy, sagte der Onkel ist auch dieser Roman in der Ich-Form
294 geschrieben. Die Ich-Erzählerin beschreibt den Ablauf eines Tages und verknüpft damit assoziativ Motive des antiken Mythos von Antigone, die gegen den Befehl ihres Onkels, des Tyrannen Kreon, den im Kampf gegen ihn gefallenen Bruder beerdigt, mit ihren schon aus früheren Büchern bekannten Erinnerungen an die Jahre des Exils und der Verfolgung. Seit ihren schriftstellerischen Anfängen hatte sich Grete Weil mit dem Antigone-Thema befasst. 13 Was sie an Antigone faszinierte, formulierte sie 1988 in einem Interview so: „Ich sagte nicht nein - Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit, Antigone hatte sie souverän genutzt.“14 Die im Roman gezogene Parallele zwischen Antigone und der Widerstandskämpferin Sophie Scholl widerspiegelt diese Überlegungen: Die Analogie zwischen Sophie und Antigone ist dicht. Menschen, die bis an die Grenze gehen. Die ihr Selbst voll ausschöpfen. Nicht nach dem Erfolg fragen, nur nach der eigenen Notwendigkeit. Unbequeme. Schwierige. Die uns zum Denken zwingen. Unser Bewußtsein wach machen. 15
Grete Weils lebenslängliche Beschäftigung mit Antigone ist also vor allem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Gegenüber der konsequenten Haltung dieser Widerstandskämpferin steht ihre eigene Mitarbeit an den Deportationen während der Tätigkeit im Jüdischen Rat und das allgemeine Schuldgefühl, ihren Mann und so viele andere Verfolgte überlebt zu haben. Aber Grete Weil spricht im Roman auch über die Schattenseiten moralischer Konsequenz. Sie greift damit in die damals aktuelle Debatte über die RAF ein. Anhand des Antigone-Mythos wurden in verschiedenen Theateraufführungen Aspekte gesellschaftlicher Verweigerung durchgespielt.16 Im Roman selbst tritt Marlene, eine RAF-Sympathisantin auf, der die Ich-Erzählerin in vollem Bewusstsein ihrer Gefährdung Unterkunft und praktische Hilfe bietet. Gleichzeitig macht sie ihre Vorbehalte gegenüber einer solchen durch Marlene vertretenen rigorosen Haltung deutlich.
13
14 15 16
Meyer 1996: 237. Danach befindet sich ein in den fünfziger Jahren abgeschlossener Antigone-Roman unveröffentlicht im Nachlass Grete Weils. „Ich habe Auschwitz, wie andere Tb oder Krebs.“ Liz Wieskerstrauch im Gespräch mit G.W. In: Anschläge .H.14/1988: 22-26. Zitiert nach Meyer. Weil [1980]1989: 112. „George Steiner, der die mannigfaltige Rezeptionsgeschichte des AntigoneStoffes eingehend beleuchtet hat, spricht von einem ‚Antigonefieber‘, das in den Jahren 1978 und 1979 in der alten Bundesrepublik (im übrigen auch in Frankreich und England) grassierte.“ Zitat aus Meyer: 264f.
295 Plötzliches Begreifen, daß meine Prinzessin [=Antigone] viel mit Marlene gemeinsam hat und ebenso schwer zu ertragen gewesen wäre. Der Gedanke tut weh. Ich ahne, daß die leibhaftige Antigone, die ich nicht nach Lust und Laune herbeirufen und wieder ins Dunkle zurückstoßen könnte, mir schwer auf die Nerven ginge. Meine Angst vor den Unvernünftigen. Ich bin nie gekippt, habe immer Kompromisse gemacht, wie wir sie alle machen, die es mit der Moral nicht ganz ernst meinen.17
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Grete Weil keine SchwarzweißMalerei mag, ist der zunächst wie ein Fremdkörper wirkende Einschub des Berichtes von Friedrich Hellmund über eine Ghettoliquidierung im besetzten Polen.18 Es sind Notizen eines einfachen Wehrmachtsoldaten über einen mit äusserster Brutalität durchgeführten Einsatz, der detailliert beschrieben wird. Deutlich spricht daraus der Vorsatz des Beobachters, das grauenvolle Geschehen der Nachwelt zu bezeugen, also derselbe Anspruch, den Grete Weil auch an ihre Texte stellt. Damit stellt sie eine für manche sicher unerwartete Parallele zwischen sich und dem gegen Kriegsende verschollenen deutschen Soldaten her. Generationen, der nächste Roman Grete Weils, nimmt in ihrem Werk eine besondere Stellung ein. Er spielt ganz in der Gegenwart und kommt ohne Wechsel von Zeit und Perspektive aus. Es geht um das letztlich scheiternde Zusammenleben dreier Frauen weit auseinanderliegenden Alters in einer gemeinsamen Wohnung. Unterschiedliche Charaktere, Erfahrungen und Erwartungen führen zu immer wieder aufflammenden Konflikten. Die Ich-Erzählerin, eine wohlhabende alte Jüdin, beschreibt ihre Schwierigkeiten, sich den beiden Jüngeren mitzuteilen. Erinnerungen aus der Zeit der Verfolgung fehlen auch hier nicht, aber sie bilden nicht mehr das wichtigste Thema. Von einer Gedächtnislücke überrascht, zweifelt die Erzählerin sogar einmal an ihrer selbstgestellten schriftstellerischen Aufgabe: „Tiefes Misstrauen gegen meine Zeugenschaft. Der Sinn meines Lebens nach dem Krieg, Zeugnis abzulegen gegen den Feind, ist in Frage gestellt.“19 Der Leser hat den Eindruck, als ob Grete Weil ihr bislang allgegenwärtiges literarisches Thema ausgeschöpft habe. Einen bislang von ihr noch nicht behandelten Aspekt bringt Grete Weils letzter Roman, der 1988 unter dem Titel Der Brautpreis erschien. Ähnlich wie in ihrem Antigone-Roman verknüpft er Elemente eines aus der Antike stammenden Mythos mit Erfahrungen aus der Gegenwart. Abwechselnd treten als Ich-Figuren die alternde 17 18 19
Weil [1980]1989: 96f. Ebenda: 115-136. Weil 1983: 142.
296 deutsche Jüdin Grete und Michal, die in der Bibel bezeugte erste Frau König Davids auf. Die Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte benutzt Grete Weil zu Bemerkungen über ihr Judentum, das in ihren bisherigen Werken kaum eine Rolle spielte. Sie beschreibt einschlägige Erinnerungen aus ihrer Jugend, Begegnungen mit Juden im Laufe ihres Lebens und am Schluss des Buchs Eindrücke einer Reise durch Israel. Im Rückblick stellt Grete Weil fest, dass das Jüdische ihr fremd ist, trotz der ambivalenten Erkenntnis: „Ich gehöre dazu, gehöre nicht dazu.“20 Im Wechsel mit diesen selbstreflektierenden Passagen spricht Michal von ihrer Liebe zu David, dem sie sich jedoch seiner Brutalität wegen verweigert und bis zu seinem Tod nur auf Abstand verbunden bleibt. David, der in der jüdischen Geschichte als Nationalheld betrachtet wird, ist ihr in dieser Rolle nicht wichtig. „David war begabter, kühner als die meisten. Doch glaube ich nicht, dass die Hochbegabten, Kühnen, Ehrgeizigen ein Glück für die Welt sind.“21 Dem Helden David stellt Grete Weil den kleinen Judenjungen im Rembrandtschen Bild David vor König Saul gegenüber und bekennt, „daß der Kleine, der Häßliche, der Künstler, besser in meine Welt paßte.“22 Judentum hat für Grete Weil vor allem die Bedeutung der eigenen Leidenserfahrung. „Rembrandts Judenjunge steht mir näher, ihn, dem zu leiden vorbestimmt scheint, der Auschwitz nicht überlebt hätte, möchte ich an mein mit Trauer erfülltes Herz drücken.“23 Mit diesem anderen, dem leidenden David fühlt sie sich verbunden, weil sie „als Jüdin erfahren hat, was Leiden bedeutet“.24 Dieser Roman ist das eigentliche Vermächtnis der Schriftstellerin Grete Weil. Die ein Jahr vor ihrem Tod erschienene Autobiographie Grete Weils, ihre letzte Veröffentlichung, fasst noch einmal die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens zusammen. Vorher erschien die Prosasammlung Spätfolgen, in der sie in der kleinen autobiographischen Skizze Und ich? Zeugin des Schmerzes schreibt: Über vierzig Jahre habe ich mir eingebildet, ein Zeuge zu sein, und das hat mich befähigt, so zu leben wie ich es getan habe. Ich bin kein Zeuge mehr. Ich habe nichts gewußt. Wenn ich Primo Levi lese, weiß ich, daß ich mir ein KZ nicht wirklich vorstellen konnte. Meine Phantasie war nicht krank genug.25 20 21 22 23 24 25
Weil [1988] 1991: 221. Ebenda: 93. Ebenda: 12 Ebenda: 236. Ebenda: 167. Weil 1992: 102f.
297 Wer Grete Weils Gesamtwerk überblickt, sieht die Entwicklung ihrer Zeugenschaft. Sie ist sich dabei sehr wohl der Problematik bewusst, die von Adorno auf die Formel gebracht wurde, „daß es barbarisch sei, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben“.26 Trotz dieses Verdikts verarbeitet Grete Weil die bedrückenden Schlüsselerlebnisse ihrer Jahre in Amsterdam literarisch. Dabei entwickelt sie eine eigene Schreibform, die sie vom reinen Dokumentartext über eine traditionell konstruierte fiktionale Erzählung zur assoziativen Mischung von Erinnerung, Gegenwartserfahrung und Selbstreflektion führt. Aus dem selbstgestellten Auftrag der Autorin der Zeugenschaft über die erlebten Schrecken, wird das Zeugnis der persönlichen Denk-und Erfahrungswelt eines von Exil, Verfolgung und Schuldbewusstsein geprägten Menschen. Der Leser erfährt durch ihre Bücher nicht nur, was Judenverfolgung konkret bedeutet, sondern auch wie schwierig es ist, für das Geschehene Worte zu finden. Gleichzeitig wird aus ihren Werken deutlich, dass Grete Weil nicht aus einer Position moralischer Unangreifbarkeit schreibt. In aller Offenheit teilt sie mit dem Leser ihre Selbstzweifel. Das erleichtert nicht nur die Identifikation mit ihrer Person, sondern auch das Einfühlen in die von ihr beschriebenen Erlebnisse. Das Eindringen in die Erfahrungswelt Grete Weils wird noch durch ihren luciden, federleichten Stil gefördert. So sind es sowohl inhaltliche wie formale Aspekte ihres Werks, die ihr bleibende Geltung verschaffen. Literaturverzeichnis: Exner, Lisbeth. 1998. Land meiner Mörder, Land meiner Sprache: die Schriftstellerin Grete Weil. München: A-1-Verlag. Meyer,Uwe. 1996. ‚Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit‘. Das Werk der Schriftstellerin Grete Weil. Frankfurt/M: Peter Lang. Weil, Grete. 1949. Ans Ende der Welt. Berlin: Volk und Welt.(Zitiert nach: Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag 1989). Weil, Grete. 1963. Tramhalte Beethovenstraat. Wiesbaden: Limes. Weil, Grete. 1968. Happy, sagte der Onkel. Drei Erzählungen. Wiesbaden: Limes. Weil, Grete. 1980. Meine Schwester Antigone. Zürich: Benziger. (Zitiert nach: Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag 1989). Weil, Grete. 1983. Generationen. Zürich: Benziger. 26
Ebenda: 23
298 Weil, Grete. 1988. Der Brautpreis. Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche. (Zitiert nach: Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag 1991). Weil, Grete. 1992. Spätfolgen. Erzählungen.Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche. Weil, Grete. 1998. Leb ich denn, wenn andere leben. Autobiographie. Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche. Weil, Grete. 1999. Erlebnis einer Reise–Drei Begegnungen. Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche. Winkel, L.E. 1954. De ondergrondse pers 1940-45. Den Haag: Nijhoff.
Natalia W. Pestova WILHELM RUNGE: „DAS DENKEN TRÄUMT“
Wilhelm Runge – am 13. Juni 1894 in Rützen/Schlesien geboren, als gefallen gemeldet am 22. März 1918 bei Arras an der französischen Front als Leutnant – ist einer der begabtesten Dichter der zweiten expressionistischen Generation aus dem Berliner „Sturm“-Kreis seiner „Nach-August-Stramm“-Periode. Wie viele andere Vergessene und Verschollene, die das einmalige expressionistische Profil der Dichtung prägten, ist er nicht in der „expressionistischen Bibel“, der Anthologie von K. Pinthus Menschheitsdämmerung (1920), unter den 23 kanonisierten expressionistischen Dichtern vertreten. Die Verszeile „Das Denken träumt“, die Herwarth Walden auf eigene Faust als Titel einer postumen Buchveröffentlichung Runges wählte, könnte zu seiner Visitenkarte werden: Das Denken träumt Gelächter reimt die Straßen zum Tanz des Blutes schläfenaufundab die Adern blinzeln Frühling durch die Knospen und schlürfen tief den schweren Himmel ein Wind spielt der Augen froh geschwellte Segel der Stirne Knoten löst vom Tode sich weiß über Wiesen schnattern Dörfer hin die Städte fauchen und zankend zerrn die Pulse ihre Zügel nur deine Seele spielt im Sternjasmin Lieb-Brüderchen Maßloslieb-Schwesterlein1
Eine andere, dem engen Kreis der Spezialisten wohl nicht weniger bekannte, Verszeile „Die Sonne wintert“, die Runges Verweigerung des Kriegsdienstes angeblich signalisieren sollte, wurde etwa siebzig Jahre später zum Titel der Ausgabe seiner ausgewählten Gedichte in der Reihe, wie könnte es denn anders sein, Vergessene Autoren der Moderne2. Diese Verszeile findet sich auf einer Postkarte an seinen Freund Georg Muche. Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Runge 1916–1918 seine Gedichte, meistens in Form lyrischer Zyklen als 1 2
Runge 1918: 23. Runge 1990.
300 „Lieder“ bezeichnet, regelmäßig bei H. Walden in „Der Sturm“3. Einzelne Gedichte finden sich auch in vier Gedichtsammlungen und Anthologien: vier Gedichte in Sturm-Abende4, zwei – in der „letzten“ expressionistischen Anthologie jener Periode „Expressionistische Dichtung“5, die die Bilanz der literarischen Richtung im Bereich der „neuen Wortkunst“ ziehen sollte; vier Gedichte von Runge hat Gottfried Benn 1955 für seine „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“6 ausgesucht. Durch ein einziges Gedicht ist der Dichter in der populären Reclam-Ausgabe der Gedichte des Expressionismus7 mit dem Untertitel „Wort und Spiel“ vertreten. Über seine Person ist nicht vieles bekannt, Grundsätzliches kommt, wie darauf W. Ihrig hinweist8, in seiner Poesie zur Sprache. Im November 1914 wurde er als Kriegsfreiwilliger vor Ypern schwer verwundet. Nach seiner Genesung kam er 1915 nach Berlin, wo er, von kurzen Urlaubsreisen zu den Eltern in die Nähe von Liegnitz, dem heutigen Legnica, abgesehen, bis zum September 1915 blieb und in Kontakt kam mit vielen Angehörigen des Sturm-Kreises. Danach ging er wieder an die Front, zunächst nach Flandern, anschließend an die Somme und nach Arras. Mitte 1917 nahm er an einem Offizierslehrgang im Sennelager am Teutoburger Wald teil. Im Dezember wurde er wieder an die französische Front beordert. Am 22. März 1918 ist er bei Arras gefallen.9 Sonstiges erfährt man aus dem zum größten Teil verschollenen Briefwechsel zwischen dem Dichter und Georg Muche, der damals an der Kunstschule des „Sturm“ unterrichtete, und dessen Braut Sophie van Leer, die zugleich Dichterin und Sekretärin Waldens war, sowie aus den wenigen erhaltengebliebenen Briefen und Postkarten Runges an Herwarth und Nell Walden. 10 A. Soergel11 und Paul Raabe12 erwähnen zwar seinen Namen in ihren wohl bekanntesten Expressionismus-Studien, aber diese Tatsache rettet den Dichter kaum vor der totalen Vergessenheit.
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Als erstes erschien in Der Sturm (3, 1912/13) das Gedicht „Der Jahrmarkt“. Sturm-Abende 1918. Walden/Silbermann 1932. Benn 1955. Bode 1966. Ihrig in: Runge 1990: 25-30. Ebenda: 26. Briefe und Postkarten von und an W. Runge werden im Sturm-Archiv der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin aufbewahrt. Soergel 1925: 609. Raabe 1985: 398 f.
301 Wenn auch die Literaturwissenschaft die expressionistischen Dichtungen nur selten als „Meisterwerke“13 anzuerkennen vermag, bedeuten sie doch unbestritten einen entscheidenden Durchbruch in die literarische Moderne. Man spricht zwar von „den wenigen Früchten, die eingebracht wurden“, aber sie wachsen durchaus „auf dem Boden der Weltliteratur“14. Darunter sind Gedichte unvergleichlicher poetischer Meisterschaft und ästhetischer Wirkung von Gottfried Benn und Georg Trakl, Else Lasker-Schüler und Johannes R. Becher, Paul Boldt und Ernst Wilhelm Lotz, Ferdinand Hardekopf und Oskar Loerke, Ernst Stadler und nicht zuletzt die von Wilhelm Runge. Seltsamerweise verzichten die meisten Forschungsstudien der expressionistischen Poetik auf den Beitrag der sogenannten „poetae minores“. Sie tauchen in der Regel nur am Rande auf, wobei das Typische und typologisch Wichtigste der Kunstrichtung ausgerechnet in ihrem Schaffen wohl am deutlichsten als etwas doch Einheitliches, Homogenes und Stilbestimmendes zur Geltung kommt. Eine Aussage von Peter Härtling anlässlich eines anderen vergessenen expressionistischen Dichters, Paul Boldt, trifft auch im Fall Runges ins Schwarze. Härtling wundert sich, wie wenig die deutsche Literatur von dieser Dichtung Gebrauch gemacht hat. Die französische hätte aus dem Dichter solches geheimnisvollen Schicksals und dem Autor solcher unvergleichlich schönen Verse längst eine mythische Figur gemacht. Man hätte davon spannende Geschichten erzählen können.15 Bei der Neuausgabe der wohl berühmtesten expressionistischen Publikationsreihe Der Jüngste Tag äußerte Heinz Schöffler die gleiche Verwunderung in Bezug auf die schönsten Gedichte von Ernst Wilhelm Lotz, einem weiteren vergessenen Expressionisten, der „seltsamerweise“ in der deutschen Literatur anscheinend so gut wie keine Spuren hinterlassen hatte.16 Runges Gedichte sind bei all ihren modernistischen und „Wortkunst“-gerichteten Tendenzen viel mehr als rein avantgardistische Versexperimente im Sinne der „Sturm“-Schule als einer der vielen ästhetischen Flügel des Expressionismus. Sie könnten stellvertretend für den Nerv der expressionistischen Dichtung sein, wenn ein solcher festgestellt sein sollte, denn sie bewahren trotz ihrer unerhörten formellen Kühnheit unverkennbar klassisch-romantische und durchaus humanistische Traditionen im Unterschied zur DadaDichtung auf. Sie umfassen fast die ganze thematische Palette 13 14 15 16
Anz 2002: 205. Lohner in: Rothe 1969: 126. Vgl. Härtling in: Boldt 1979: 5. Vgl. Schöffler in: Der Jüngste Tag 1970: 1693.
302 expressionistischer Literatur und besingen trotz gewisser Beschuldigungen die „ewige Schönheit“, die inmitten der zerfallenden Harmonie und der zerstückelnden Wirklichkeit im expressionistischen Weltbild doch unantastbar bleibt.17 Das Gedichtbuch Das Denken träumt zeugt von dem unvergänglichen Wert der Liebe zur Natur und Heimat, zum Nächsten und zu Gott, zur Welt, zum Frieden, in erster Linie aber zur Frau: Meine Augen wollen wandern alle Wege deines Leibes doch schon auf dem Rücken deiner Hand brechen sie zusammen überall bist du ganz steil unzugänglich schüttelst Spott übers Zagen meines Fußes durch die wäldersamtne Haut deines Blutes grollendes Gewitter schleppt der Schwüle Zunge lechzend alle Vögel zwitschern schluchzend ins Gefieder Biene bin ich all dein Blühen schweigt und der Stirne offne Hand ist verschlossen18
Giese bemerkt im Hinblick auf die Frage, wieso solche Dichtung innerhalb der Expressionismusforschung oft außer Betracht bleibt, folgendes: Gibt es eine Liebeslyrik des Expressionismus? Die Frage muß wohl verneint werden. Dabei mag auch eine Rolle spielen, daß die Kultur der Jahre von 1910 bis 1920 kein erotisches Leitbild der Frau entwickelt hat [...]. Liebeslyrik […] findet sich entweder gar nicht, oder aber sie ist nicht spezifisch expressionistisch.19
Ohne Zweifel ist solche Dichtung ganz weit vom typisch expressionistischen „Sturz und Schrei“ oder von „Aufruf und Empörung“20 entfernt und in diesem Sinne wohl „nicht spezifisch
17 18 19 20
Vgl. Pestova 1999; 2004. Runge 1918: 12. Giese 1993: 123f. Teiltitel in Menschheitsdämmerung von K. Pinthus.
303 expressionistisch“. Zu häufig sind Runges Gedichte von einer naiven, ja fast kindischen Weltbegeisterung durchdrungen: Wiese blinzelt Sonne regnet steif steht Strahl in tausend Silberhöschen Blumen raffen ihren Schiller auf Häschen streicht den Kummer von den Ohren Nesseln summen Frösche klatschen Quack und des Blättchens seidenzarte Brust wiegt des Sommers Atem ab und auf21
Kein Hauch von Verfall und Verwesung, weder Pessimismus noch Resignation, keine nihilistisch destruktive Geste, sondern Tiefe und Schärfe des Gefühls und des Denkens, Sehnsucht nach friedlichem Leben, menschlichem Glück und Verlangen nach der Heimat. All diese unentbehrlichen Komponenten Rungescher Dichtung sind in einem seiner schönsten Gedichte „Rosen nicken in den Junistunden“ zu einem Kontext verflochten. Fast zehn Jahre nach Runges Tod hat Herwarth Walden dieses Gedicht dem Dichter zum Andenken in Der Sturm veröffentlicht: Rosen nicken aus den Junistunden trällern Sommerblau den Matten hin mild aus tiefstem Herzen grünt die Heimat ihre Lippen murmeln wälderschwer überwelthin schwingt die Sterne Zeit Kinderwangliebkinderwanggereiht Krieg brüllt auf die wilden Blumen schrein Sonne leckt Gestöhn aus allen Poren Frieden holt den tiefen Atem ein und der Nächte durchgewühlte Locken schmeicheln um der Seele zitternd Knie Angst zerreißt der Sterne Himmelsglanz und der Abend drückt die Augen blind einsam geigt tief hinter Blut geduckt ewger Kindheit wildumsehntes Glück und der Sehnsucht über die Welt hängende Herzen schlagen22
21 22
Runge 1918: 60. Der Sturm 17 (1926/27): 68.
304 Die Analyse der bildhaften Ausdrucksmittel Runges deckt ihre Zugehörigkeit zu dem poetischen Schatz der literarischen Moderne und insbesondere zu dem des Expressionismus auf. Darunter ist eine Reihe von Erscheinungen von großer Bedeutung: die totale Personifizierung, eine ausgesprochene „Körperlichkeit“ des Bildes und die Verehrung des Körpers als Tempel; das synästhetische Spiel der vertauschten Sinne, das Geflecht von Akustik, Sensorik, Optik, Geruch in einem unzerlegbaren metaphorischen Ganzen (Blumenzwitscher / Vogelschein); die Hervorhebung und auch Vergötterung des Einzelnen, des Fragments aufgrund der Synekdoche; Versetzung der Wortarten in fremde Wortklassen; die Erweiterung der semantischen und syntaktischen Valenz der Wörter (Blumen flattern Sommer; Blätter flattern Staub), was die Grenzen sowohl der Sprachnorm wie auch die des Sprachsystems selbst sprengt und ins Endlose verschiebt. Infolgedessen handelt sich um kühne, sehr dynamisierend wirkende Metaphern und um die Transitivierung der intransitiven Verben. Die meisten Neologismen und lexikalischgrammatischen Einheiten haben einen potenziellen Charakter, sind aber nach produktiven wort- und satzbildenden Modellen kreiert, so dass sie im Kontext der expressionistischen Ästhetik mit ihrer programmhaften Verfremdung doch leicht zu interpretieren sind. Sophie van Leer23 hat in ihrem Gedicht mit der Widmung „Für Wilhelm Runge“ das Weltbild Runges und die Natur seiner Bildhaftigkeit genau getroffen: Dein Wort ist Blut Sein Sinn erblüht in Deiner Hand Die Zeilen säumen leuchtende Gärten die jauchzen in den Tag Aus jedem Waldbach murmelt das Märchen In jedem Baum glänzt ein Gestirn Die Nacht trägt eine Säule Der Tempel Deines Herzens tönt Die Lieder taumeln sonnenschwer und trinken den Quell Deiner Träume24
23 24
Vgl. hierzu auch Jattie Enklaars Beitrag in diesem Heft. Van Leer in: Der Sturm 7 (1916/17), H. 3: 28
305
Für jeden Übersetzer ist die Arbeit an der poetischen Übertragung der Gedichte von Wilhelm Runge ein ästhetischer Genuss und eine Herausforderung, wie es die Übersetzung des hier folgenden Gedichts Das Denken träumt ins Russische zeigen möchte: Мышленье грезит Смех рифмует улицы В единый танец крови вверх и вниз виска артерии сквозь почки весной мерцают и вдыхают тяжесть неба глубоко играет ветер парусом раздутым счастливых глаз и узел лба отряхивает смерть и белым загогочут деревни вдоль лугов шипением ответят города и пульсы рвут бранясь поводья в клочья и лишь душа твоя в жасмине звездном играет в „милый братец и безмерно милую сестрицу“
Literaturverzeichnis Anz, Thomas. 2002. Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler. Benn, Gottfried (Hrsg.). 1955. Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada. Wiesbaden: Limes Verlag Max Niedermeyer. Bode, Dieter (Hrsg.). 1966. Gedichte des Expressionismus. Stuttgart: Philipp Reclam. Giese, Peter Christian. 1993. Lyrik des Expressionismus: Interpretationshilfen. Stuttgart, Dresden: Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung. Härtling, Peter. 1979. ‚Vorwort.‘ In: Boldt, Paul. Junge Pferde! Junge Pferde! Das Gesamtwerk. Lyrik, Prosa, Dokumente. Hrsg. v. Wolfgang Minaty. Olten, Freiburg/Br.: Walter-Verlag: 5-9. Ihrig, Wilfried. 1990. ‚Nachwort.‘ In: Vergessene Autoren der Moderne. Bd. 43: Runge, Wilhelm. Die Sonne wintert. Ausgewählte Gedichte. Siegen: Universität-Gesamthochschule Siegen: 25-30. Lohner, Edgar. 1969. ‚Die Lyrik des Expressionismus.‘ In: Rothe, Wolfgang (Hrsg.). 1969. Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern, München: Francke: 107–126.
306 Pestova, Natalia W. 1999. Lyrik des deutschen Expressionismus: Fremdheitsprofile. Jekaterinburg: Verlag der St. Pädagogischen Universität (auf Russisch). [Im Original: Пестова Н.В. Лирика немецкого экспрессионизма: профили чужести. Екатеринбург, 1999]. Pestova, Natalia W. 2004. Deutscher literarischer Expressionismus. Jekaterinburg: Verlag der St. Pädagogischen Universität (auf Russisch). [Im Original: Пестова Н.В. Немецкий литературный экспрессионизм. Екатеринбург, 2004]. Raabe, Paul (Hrsg). 1985. Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Ein bibliographisches Handbuch. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler. Runge, Wilhelm. 1918. Das Denken träumt. Gedichte. Berlin: Verlag Der Sturm. Runge, Wilhelm. 1990. ‚Die Sonne wintert. Ausgewählte Gedichte.‘ In: Vergessene Autoren der Moderne. Bd. 43. Siegen: Universität-Gesamthochschule Siegen. Schöffler, Heinz (Hrsg.). 1970. Der Jüngste Tag: die Bücherei einer Epoche. Bd. 2. Frankfurt/M.: Verlag Heinrich Scheffler. Soergel, Albert. 1925. Dichtung und Dichter der Zeit. Bd. 2: Im Banne des Expressionismus. Leipzig: Voigtländer. Sturm-Abende 1918. Ausgewählte Gedichte. Berlin: Verlag Der Sturm. Walden, Herwarth; Silbermann, Peter A. (Hrsg.). 1932. Expressionistische Dichtung. Vom Weltkrieg bis zur Gegenwart. Berlin: Carl Heymanns Verlag.
Jattie Enklaar SOPHIE VAN LEER (1892-1953): „UND GLEICH EINEM BLITZ IST EINES TAGES DIE ERKENNTNIS IN MEIN HIRN GESCHLAGEN“ Zwei Biografien erschienen in den letzten Jahren über Leben und Werk der niederländischen Dichterin Sophie van Leer. In der 1997 unter dem Titel Sophie van Leer – Een expressionistische dichteres erschienenen Biografie von A.H. Huussen Jr. lesen wir die eindrucksvolle Lebensgeschichte der in eine jüdische Familie hineingeborenen Sophie als eines von acht Kindern. Unter dem Titel Op zoek naar de blauwe ruiter [Auf der Suche nach dem blauen Reiter], mit Untertitel Een leven tussen avant-garde, jodendom en christendom [Ein Leben zwischen Avantgarde, Judentum und Christentum] erschien im Jahre 2000 ein Buch von Marcel Poorthuis und Theo Salemink, in dem auf Grund der neuerdings an verschiedenen Fundstellen entdeckten Manuskripte, Tagebücher und Briefe ein neues Licht geworfen wird auf die fesselnde Geschichte dieser eigensinnigen Frau, deren schmerzhafte Lebensgeschichte die Kernthemen (Kunst, Revolution, Zionismus, Antisemitismus, Feminismus und Sexualität) des nicht weniger schmerzhaften 20. Jahrhunderts enthält. Die Lektüre der von Sophie geschriebenen Autobiographie war Anlass, unter Verwendung der beiden genannten Biografien die Dichterin Sophie van Leer einem breiteren Publikum vorzustellen. Wir wollen uns beschränken auf die für ihre Entwicklung entscheidenden Jahre, die ihrer Konversion vorangingen. 1919 schreibt Sophie van Leer unter dem Namen Francisca, den sie nach ihrem Übertritt zum Katholizismus angenommen hat, eine Autobiographie1, in der sie auf die ersten 27 Jahre ihres Lebens zurückblickt. Das 74 Seiten lange Typoskript fängt mit fünf Seiten in niederländischer Sprache an, auf denen Sophie wie in einer generellen Beichte zeigen möchte, wer sie ist: „Seht Menschen, wer ich bin. Seht, was ich getan habe“. Dem fügt sie hinzu: 1
Wir zitieren hier aus dem Exemplar der Universitätsbibliothek Utrecht, das Laetus Himmelreich, ihr Taufvater auf dem Vorblatt mit seiner Unterschrift versehen hat. Es handelt sich um ein Typoskript. Das handgeschriebene Exemplar befindet sich im Archiv A. Munnichs in Nimwegen. Siehe: Poorthuis & Salemink.2000: 530f. Wir folgen hier Sophies Orthographie. Die Stellenhinweise stehen hinter den Zitaten.
308
Ich schreibe diese Geschichte, als waere sie nicht mir, sondern einer fremden Person widerfahren: im 3. Fall. Wie ich schon sagte, liebt jeder Mensch sichselbst am meisten, deswegen faellt es einem schwer, sich selbst zu kennen [im Text gestrichen: „von sich selbst Schlechtes zu sagen“]. Doch noch einen Grund gibt es, meine Geschichte einer anderen Person zuzuschreiben. Es kommt mir heute so vor, als waere nicht ich es, der dieses Wunder erlebt hat. Es geschah mir. Ich war das leidende Objekt. Nicht aktiv, sondern passiv. Zwar handle ich, aber es handelt etwas Anderes in mir, ich war nur Werkzeug. (S. 1)
In der sie-Form fängt sie nun in deutscher Sprache ihre Lebensgeschichte2 an: Sophie Jeanette van Leer wurde am 3. Februar 1892 auf der Raamgracht 11 in Amsterdam geboren. Sie war das siebte Kind eines Kaufmannsehepaares. – Bald nach ihrer Geburt zogen die Eltern mit den Kindern aus Amsterdam fort nach Nijmwegen, wo Sophie ihre Kindheit verbrachte. [...] Sophie weiss wenig mehr aus ihrer Kindheit. Die Familie bewohnte ein schoenes Haus, Sophies Kindheit war sonnig und froh, umsomehr da sie schon damals die Welt nur einfach begriff. [...] Ihre Mutter war eine fromme, juedische Frau und schickte sie schon sehr frueh in die Religionsschule. [...] Als sie zum ersten Male die alten wuerdigen Thorarollen aus der Arche nehmen sah, als sie daraus vorlesen hoerte, da glaubte sie, Gott selbst sprechen zu hoeren [...] Doch fiel es ihr niemals ein, eine Verbindung zwischen dem Leben und ihrem Glauben herzustellen oder auch nur zu suchen. [...] Gott hatte man, wenn am Freitagabend Papa die Haende auf den Kopf legte und den Segen aussprach. Aber im Leben, in der Schule, im Spiele, da war Gott nicht. Gott und die Welt waren zweierlei. Unter diesem Zwiespalt litt Sophie damals nicht. (S. 1)
Schon in der Darstellung ihrer Kindheit deutet Sophie einen unausgesprochenen Konflikt an, der sie von den Wurzeln weg in die Richtung des „Kreuzes“ führen wird: Wir sind das alte Volk, das erniedrigt und bedrueckt durch alle Zeiten hindurch, vertrieben aus dem Lande der Vaeter, des Erloesers harrt, der es zurueckfuehrt in das gelobte Land. (S. 7)
Nachdem die Familie infolge eines Bankrotts nach Kleve und später nach Luzern umgezogen ist, erfährt der Leser ihres Berichts, wie die junge Sophie in der Beschreibung der schweizerischen Landschaft ahnungsvoll ihr dichterisches Talent entfaltet: Die Berge, der See, die Alpen, die Schneekuppen, die aufgehende Sonne, die Moeven, die Waelder auf den Ruecken der Huegel, ein Mondaufgang ... alles das erfuellte sie mit bebender Liebe, mit Sehnsucht, mit Ehrfurcht. Kaum konnt sie 2
Wir übernehmen hier große Teile ihrer Lebensgeschichte, weil sie ein deutliches Licht auf die Umstände werfen, die zu der großen Wende in ihrem Leben geführt haben.
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Sophie van Leer, wahrscheinlich 1919 in München Sammlung AAM Part. Arch. A. Munnichs, Nimwegen
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311 atmen, wenn sie morgens [...] noch einen Gang am See entlang machte und langsam [...] wie eine gluehende Frucht die Sonne hinter der Rigi aufging und den See in ein Feuermeer und die Schneeberge in flammende Vulkane verwandelte. (S. 10)
Vielerlei kommt in solchen Stimmungsbildern zusammen: ihre Anfänge als eine Dichterin, deren Sensibilität in mancher Beziehung von einem Vater unterstützt wird, der als ein Anhänger des Spinoza „Gott in der Natur sah“. In ihrem Innern aber spürt sie ein „unentwirrbares Knäuel“ unerklärter Lebensbegriffe, während sie immer öfter ihr Heil in der Anbetung der Natur sucht. Dann aber kommt, wie Sophie es ausdrückt „Der Zufall ihr zu Hilfe“, und zwar in der Gestalt des Bildhauers3 Fritz Huf, dessen Freundin sie, gegen den Willen der Eltern, wurde. Sie war damals siebzehn Jahre alt, und „hatte bei allen Fehlern und Untugenden“ „ihre Reinheit bewahren können“. Hier erwähnt sie etwas, das in ihrem späteren Leben von großer Wichtigkeit, ja zur Zwangsvorstellung werden wird: „Sie sehnte sich nach reiner, unkörperlicher Liebe und glaubte nun, diese Liebe gefunden zu haben“. (S.12) Unter dem Eindruck des von ihr zu beschreibenden Schicksals erster erotischer Erfahrungen verlässt sie plötzlich die sie-Form, weil diese als das halb distanzierte, halb vertraute „alter ego“, dem nun eine zentrale Erfahrung, die lebensbestimmend ist, zuteil wird, nicht mehr genügt. In ihrem teils autobiografischen, nicht publizierten Roman Das gelbe Haus (1943) meint sie, dass es das große Trauma sei, „dass ihr Leben seitdem bestimmt habe“4. In diesem Sinne liegen in Sophies Autobiographie Bekenntnis und Psychogramm dicht beieinander. Auch weiterhin lernt sie sichselbst in ihrer Beziehung mit Fritz Huf besser kennen, wenn sie trotz aller Enttäuschung feststellt, selig zu sein, „für ihn und seine Kunst arbeiten zu dürfen“ (S.14). Sophie betont nicht nur, dass in dieser Periode die Kunst für sie so wichtig ist, dass sie eines großen Opfers wert sei, sondern sie weist auf eine Disposition hin, die ihre Entwicklung als Frau, Künstlerin und Katholikin bestimmen wird: „In meinem Drang nach Verehrung, nach Ehrfurcht, in meiner Sehnsucht, etwas oder jemand anzubeten, kannte ich keine Grenzen.“ (S. 14) Sophie hatte Angst, sich zu binden, Angst vor einer Heirat. Seit dem Trauma sexueller Einschüchterung sieht sie es als eine Form der Emanzipation, sich nicht als die „Sklavin“ des Mannes missbraucht zu fühlen. Das Merkwürdige ist, dass im weiteren Verlauf
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Siehe Poorthuis & Salemink 2000: 46ff. Poorthuis & Salemink 2000: 48.
312 ihres Lebens die erotische Komponente in ihren Kontakten zu Männern stets wegweisend und Grund zum Scheitern sein wird. Als der Große Krieg ausbrach, befand sich Sophie in Brügge, wo sie sich von den Wirrungen ihres bisherigen Lebens zu erholen suchte. Sie empfindet ihr Leben als eine „Lüge“5, schwebt zwischen Kunst und Traum, Judentum und esoterischer Mystik: Die Leere und der Jammer meines Daseins überwaeltigte mich und tagelang streifte ich ziellos durch die stillen Straßen der toten Stadt [Brügge], und schien etwas zu suchen, das ich nirgends fand. [...] Ein Lebensueberdruss hatte sich meiner bemaechtigt, so gross, dass ich nicht einmal die Kraft gehabt haette zu dem Entschluss, mir das Leben zu nehmen. Wenn ich abends am Strande in Blankenberge entlang ging und hinuebersah nach den Terrassen der Hotels, beneidete ich die Menschen, die froh und unbeschwert den Eitelkeiten des Lebens nachjagen konnten.[...] Da brach der Krieg aus. (S. 20a)
Auch weiterhin treibt sie eine Sehnsucht, ein mehr als romantisches Verlangen nach Erlösung, einer Erlösung, die sie kurze Zeit in Wagners Musik, in Parzival als Traumfigur zu finden glaubt. Alles in ihr ist auf der Suche nach Spiritualität. Nach Ausbruch des Krieges drängt es sie nach Deutschland: „Fest überzeugt davon, dass Deutschland schuldlos angegriffen worden war, begann ich ganz deutsch zu fuehlen, und alles Nicht-Deutsche zu hassen.“ (S. 20b) Ein Gefühl, das sich später ins Gegenteil verkehren wird. In ihrer Autobiografie drückt sie es so aus: Meine Liebe zu dem einen Menschen [Huf] hatte einer grenzenlosen Liebe zum deutschen Volke Platz gemacht. Da mein phantastischer Geist immer etwas haben musste, das er anbeten konnte, betete er den Mut, die Tapferkeit und die Kraft des Volkes an, das sich gegen eine Welt von Feinden wehren musste. (S. 21)
Durch die nun folgende Bekanntschaft mit dem Kunstsammler Franz Kluxen wird sie mit der Kunst in Berührung gebracht. Das romantisch-extatische Verlangen, das Sophie von Kind an vom orthodox-jüdischen Glauben ihrer Mutter wegführte, sie mehr an die Liberalität des Vaters band, und von ihr bis dahin weder benannt, noch gelenkt werden konnte, sucht sie nun durch Franz Kluxen in der Kunst zu konkretisieren. Der Lernprozess war auch in diesem Falle ein harter. Sie befindet sich mit dem Mann Kluxen in einem merkwürdigen, krankhaften Abhängigkeitsverhältnis („aneinander geket5
„Mein Leben eine Lüge“, ein Manuskript von Sophie, das sie „generelle Beichte“ nannte, später aber selbst verbrannte. Vgl. Poorthuis&Salemink 2000: 53.
313 tet“ ), in dem sie nach ihrem eigenen Bericht Person und Kunst zu verwechseln scheint: Ich war ja in jeder Beziehung von ihm abhaengig und wagte nicht anderes zu wuenschen, obwohl der Zustand durchaus ungesund und fuer uns beide nachteilig war. Ein dunkles, unergruendliches Schicksal hielt uns aneinander gekettet, und keiner von uns wagte, diese geheimnisvollen Bande zu brechen, wenn sie sich nicht von selbst loesten. (S. 26)
Diese Bande lösten sich durch eine in ihrem Leben entscheidende Begebenheit, durch einen Traum: Eines Nachts hatte ich einen merkwuerdigen Traum. Er beschaeftigte mich sehr, und ich erzaehlte ihn meinem Meister [Kluxen], der sich mit Traumdeuten abgab. Der Inhalt war dieser: Ich befand mich zu Fuessen eines Thrones, auf dem ein alter Mann sass. Er gab mir eine geschlossene Pergamentrolle mit dem Befehl, diese Rolle geschlossen seinem Sohne zu bringen, der fortgeritten sei, wenn ich ihm diese Rolle gegeben haben wuerde, solle ich sein Pferd beim Zuegel fassen und es fuehren, jedoch nach der entgegengesetzten Seite, denn jetzt ritte er in die falsche Richtung. Ich nahm die Rolle und eilte fort. Ich kam in eine Wüste und sah von weitem einen Reiter in einem blauen Mantel. Ein weisses Pferd trug ihn. Atemlos eilte ich ihm nach und reichte ihm die Rolle. Er las sie und schuettelte den Kopf und sagte ‚Ich will nicht’. Doch ohne ein Wort zu erwidern, nahm ich das Pferd beim Zuegel und leitete es nach der Richtung, die der Koenig mir befohlen hatte. Als ich dann aufwachte, sah ich vor mir die weite Wueste, das Pferd mit dem blauen Reiter am Zuegel, mit der anderen Hand wies ich geradeaus nach dem Horizont, wo die Sonne aufging. (S. 26)
Der Traum, der in der aufsehenerregenden Biografie von Poorthuis und Salemink als Zentrum von Sophies Leben dargestellt und erklärt wird, ist besonders auch als Text interessant. Nicht nur wird im Motiv des „blauen Reiters“ eine direkte Verbindung zu der damaligen Kunstrichtung des Expressionismus sichtbar, sondern vor allem spürt man in der Darstellung des Traumes, wie Sophie – ganz im Sinne der Zeit, denken wir an Wassilij Kandinsky6 und Franz Marc - hier die plastische Form der Darstellung durchbricht und das Bildliche ins energisch Geistige überführt, so dass das idealistische Primat des Geistigen, Ahnungsvollen das Materiell-Bildliche des Textes zu übersteigen scheint. Vielleicht ließ Sophie sich auch von der Farbensymbolik Kandinskys inspirieren, nach der die Farbe „blau“ für das Männliche, Spirituelle steht. So vergleicht Kandinsky die Aufgabe des Künstlers mit der mythischen Reise, die den Schamanen zu Pferd von der Erde weg ins Himmlische führt. Die Farbe „weiß“ steht nach 6
Vgl. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (1910) und Metzler 2003: 69ff.
314 dieser Lehre für die Hoffnung und die Unschuld, für ein Schweigen auch, „welches nicht tot ist, sondern voll Möglichkeiten“7, während das in Sophies Bericht fehlende Gelb bei Kandinsky für das Weibliche, Liebliche steht. 8 In Über das Geistige in der Kunst definiert Kandinsky: Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels [...] Es wird eine unendliche Vertiefung in die ernsten Zustände, wo es kein Ende gibt und keines geben kann. Ins Helle übergehend, wozu das Blau auch weniger geeignet ist, wird es von gleichgültigerem Charakter und stellt sich zum Menschen weit und indifferent, wie der hohe hellblaue Himmel. Je heller also, desto klangloser, bis es zur schweigenden Ruhe übergeht – weiß wird. Musikalisch dargestellt ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer gehend den wunderbaren Klängen der Baßgeige; in tiefer, feierlicher Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar.9
Nach Monika Wagner entsteht in dieser Weise eine „immaterielle Malerei“, eine universelle Bildsprache, die Kandinsky „als Farberleben“ vorschwebte, und der Musik vergleichbar „das Tor zu einer ‚geistigen Welt‘ öffnen“10 sollte. In diesem Zusammenhang zitiert sie Franz Marc, den anderen Pionier, der „das Geistige in der Kunst“ zum Programm erhoben hat, stark auf das Metaphysische in der Kunst der Moderne hinzielend: „Der uralte Glaube an die Farbe,“ so schwärmte der zweite, ‚blaue Reiter‘, Franz Marc, „wird durch die Entsinnlichung und Überwindung des Stoffes an ekstatischer Glut und Innigkeit zunehmen wie einst der Gottesglaube durch die Verneinung der Götzenbilder. Die Farbe wird vom Stofflichen erlöst ein immanentes Leben führen nach unserem Willen.“11
Interessant ist am Ende von Sophies Text die Andeutung des Rots oder besser das „unterdrückte“ Rot im Bild der aufgehenden Sonne, das nach Kandinsky schwer und roh von den anderen Farben überstrahlt wird, und das man als das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen kann. In Sophies Traum scheinen das Blau und Weiß tatsächlich von der Morgenröte überstrahlt zu werden. Sicherlich klingt jedoch im Leser auch der triviale, gehobene Ausdruck vom
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Kandinsky 1952: 96. Vgl. Brief von Kandinsky an Macke 1912. Kandinsky: 1952 Über das Geistige in der Kunst: 92f. Wagner 2002: 23. Ebenda.
315 „Prinzen auf dem weißen Pferd“12, im Sinne eines mädchenhaften Liebestraums nach. Leider führt es im Rahmen dieses Aufsatzes zu weit, sich mit den expressionistischen Kunsttheorien auseinanderzusetzen; jedenfalls ist es klar, dass – wenn man Kandinskys und Marcs Äusserungen dazu in den verschiedenen Aufsätzen13 gelesen hat – Sophies Traum von den „inneren Impressionen“ dieses expressionistischen Zeitalters stark beeinflusst wurde. In diesem Zusammenhang nicht unwichtig ist, dass die Künstler dieser Periode spielerisch diese von Sophie in ihrem Traum erwähnten Figuren und Farben in ihren gegenseitigen Bezeichnungen und Korrespondenzen benutzten. So nannte sich die mit dem „blauen Reiter“ stark verbundene Else Lasker-Schüler (die erste Gattin von Herwarth Walden) „Prinz“ Jussuf, sie wurde von Franz Marc mit „lieber Prinz“ in seinen Briefen an sie angeredet, während sie ihn in ihren Gegenbriefen „Blauer Reiter“ nennt. Poorthuis und Salemink erklären den Traum durchaus im Kontext dieser Kunstperiode, an der Sophie van Leer noch mehr als ihr später lieb gewesen sein durfte, teilgenommen hat: Der Hinweis auf den blauen Reiter und auf das Verlangen selbst ein blauer Reiter zu werden, stellt unserer Meinung nach die Grundbedeutung in diesem Traum dar, wenn auch Sophie diese Bedeutung später unter dem Einfluss ihrer Konversion zum Katholizismus marginalisieren wird. Der forteilende blaue Reiter symbolisiert den expressionistischen Künstler, der auserwählt ist, der Menschheit die göttliche, erlösende Botschaft zu verkündigen.14
Als Leser kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Sophies Traum von zwei einander beinahe entgegengesetzten Einflüssen getragen wird. Erstens ist da das geheimnisvolle Band mit dem Kunstsammler Franz Kluxen, dem sie in Sachen Kunst viel zu verdanken hatte, wie ihrem Briefwechsel mit ihrem späteren Liebhaber, dem Maler Georg Muche, zu entnehmen ist. Auch dieses Band hat sie in die Nähe des berühmten „blauen Reiters“ geführt. So berichtet der Maler Paul Citroen, der gleichfalls zur Berliner Avantgarde gehörte, anlässlich eines Besuches bei Kluxen in 12
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Dieser Ausdruck ist erst seit 1937 durch den Disneyfilm Snow White and the Seven Dwarfs bekannt. Interessanter ist in diesem Zusammenhang die Bibelstelle: „Komm! und ich sah [...] ein weißes Pferd. Und der darauf saß hatte einen Bogen, und ihm wurde eine Krone gegeben und er zog aus sieghaft und um zu siegen.“ (Offenbarung 6,1) vgl. E. Sanders in NRC Handelsblad 13.12.2004. Vgl. auch Franz Marc 1978. Poorthuis & Salemink 2000: 66.
316 München: „Ich sah in seiner Münchener Wohnung noch zwei große Picassos aus der frühen Zeit, der sogenannten blauen Periode, den ‚Knaben mit Pferd’ [...]“15 In dem Sinne ist ihr Traum ein Zeitzeugnis, das interessanterweise implizit auf die wichtigsten Kunstereignisse und Theorien der Zeit Bezug nimmt. Dann aber zeigt sich schon hier, wie Sophie in ihrem Verlangen nach einer „höheren Sendung“ in der Gestalt des „Prinzen“ eine Erklärung sucht, die in ihrer weiteren Entwicklung über die Gestalt des Parzivals in der Christusfigur zur Vollendung gebracht werden wird. Poorthuis und Salemink gehen im Großen und Ganzen von diesem Leitfaden in ihrem Leben aus, indem sie so gut wie alle Männergestalten an der Figur dieses Reiters in blauem Mantel messen und sie zum Symbol erheben. Entscheidend in der folgenden Phase ihres Lebens ist die Freundschaft mit dem expressionistischen Dichter Wilhelm Runge, der jung im Krieg fallen sollte. In Sophies Verhältnis zu ihm werden sich die Weichen für ihr weiteres Leben stellen.16 Auffallend ist, dass Sophie in ihrer Autobiografie an nur einer Stelle auf die für sie eingreifende Hinwendung zur Kunst des Expressionismus eingeht: […] mit Lust und Freude begann ich nun, den Menschen die neue Kunst zu erklaeren. Ich schrieb selbst auch Maerchen und Gedichte, die in der Futuristenzeitschrift „Der Sturm“ veroeffentlicht wurden. Zwei Jahre lang arbeitete ich dort als Vorkaempferin des Expressionismus und war mit Liebe und Eifer bei der Sache. Waehrend dieser Zeit war es mir fast unmoeglich, mich mit irgend etwas Anderem zu beschaeftigen. Ich glaubte, dass die moderne Kunst die Menschheit erloesen werde. Alles Leben wurde mir zur Kunst. Ich lebte gar nicht in der Wirklichkeit, nur in jenen Bildern. Ich vergass meinen Traum. – Lebte mich aus in Gedichten und Erzaehlungen, sang von Liebe, von Sehnsucht, von Tristan und Isolde, ging auf in der Kunst und wuenschte nichts anderes, als mein Leben lang Kuenstler zu sein. Die neue Kunst war universell. (S. 29)
Es ist die Periode ihres Lebens, in der sie im Kunstbetrieb des Ehepaares Herwarth und Nell Walden in Berlin als Sekretärin tätig war. In einem Brief an Muche aus dem Jahre 1915 fragt sie sich mit prophezeiendem Blick: Aber wer wird von ihm [Walden] sprechen? Natürlich wird es einmal Kandinsky- Marc- Chagall-Biographien geben. Aber wer wird sprechen von Dem, durch den sie alle geworden sind?17
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Zitiert nach Huussen 1997: 33. Hierzu: Poorthuis&Salemink 2000: 97ff. Vgl. zu dem Dichter Runge den Aufsatz von Natalia Pestova in diesem Heft. Zitiert nach Huussen Jr. 1997: 23. Vgl. hierzu auch: Metzler 2003. In
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Gleichfalls prophezeiend wirkt ihre Aussage, wenn sie sich in dem Dienste Waldens vorstellt: Zwar wird man von mir (hoffentlich) nichts wissen; man möchte ja immer gar zu gerne die Biographen der Biographen kennen. Oder man entdeckt in alten ‚Sturmnummern‘ Sachen von mir, wenn ich mich ein bisschen entwickle. Vielleicht wundert man sich, dass ich gleichzeitig Privatsekretärin, Künstlerin und Walden-Biographin war. 18
Diese Berliner Periode ist der Lebensabschnitt, in dem Sophie, nachdem sie auch den 19jährigen Maler Georg Muche hatte kennen lernen, mit dem sie lange Jahre schicksalsvoll verbunden war, als Künstlerin der Avantgarde angehörte. Es ist eine Zeit, die in jeder Beziehung krisenhaft ist, sowohl in ihrem Verhältnis zu den sie umgebenden Personen als in ihren Erlösungsversuchen durch die Kunst, nicht zuletzt auch durch die Drohungen des Krieges. A.H. Huussen Jr. geht in seiner Biografie namentlich auf diese Periode ein, wie es der Untertitel seines Buches schon vermuten ließ. Huussen kommt das Verdienst zu, die erste Biografie geschrieben zu haben, durch die Sophie als Dichterin einem niederländischen Publikum vorgestellt wird. Zurecht bemerkt Metzler in diesem Zusammenhang: „Im deutschsprachigen Raum jedoch fehlt bis heute jegliche Rezeption ihres Werks.“19 Allen biografischen Zeugnissen ist zu entnehmen, wie sehr die künstlerisch veranlagte Frau in diesen Jahren ihrer „Sturm-Zeit“ zwischen Kunst und Leben schwebte, zwischen der oft bedrohlichen Realität des Alltags und höheren Idealen, durch die sie oft das Gleichgewicht verlor. Paul Citroen drückt es anschaulich aus: Sophie van Leer hatte vor einem Bild von Chagall geweint, auf dem ein Pferd einen Wagen zieht, ein Pferd, das ein kleines Pferdchen in seinem Leib trägt. So war diese Frau: sie weinte vor Bildern, sie erlebte die Qual des Tieres mit.20
Die Spannung zwischen Kunst und Leben, die sich in Sophies Leben immer stärker spürbar macht und zu immer größeren inneren
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diesem Buch wird der Sophie van Leer als „mehr oder weniger vergessener“ expressionistischer Autorin und Großstadtlyrikerin ein Kapitel mit Untertitel „Ein Einspruch der weiblichen Avantgarde“ (S. 130-143) gewidmet. Metzler zitiert nach Huussens Biografie, hat aber die Biografie von Poorthuis und Salemink offenbar nicht gekannt. Ebenda. Metzler 2003: 131. Zitiert nach Huussen 1997: 32. Vgl. Poorthuis&Salemink 2000: 86.
318 Kämpfen führen sollte, macht aus ihr die Suchende nach größerer Erfüllung. Huussen zeigt in seiner Biografie21 an Hand vieler Textbeispiele, dass Sophie fast von Anfang an keine Befriedigung in der Dichtung fand. Schon in ihren Kontakten zu dem Ehepaar Walden, in ihrer Korrespondenz mit Georg Muche und dem jungen Wilhelm Runge, den sie 1915 kennen gelernt hatte, und mit dem sie sich auch nach seinem Tod innerlich verbunden fühlte, ist ihr Zweifel an der Kunst hörbar. Vielleicht hat auch der Druck des Krieges dazu geführt, dass sie sich immer stärker nach Erlösendem sehnte. So schreibt sie am 28. Mai 1915 Georg Muche in scheinbar voller Überzeugung: „Nun weiss ich dass ich ein Künstler bin“, am 14. Januar 191722 heißt es dagegen: „da ich nicht Künstler bin“. Aus beiden Biografien geht deutlich hervor, wie sehr diese Lebensperiode, die Sophie 1919 in ihrer Autobiografie fast übergeht, von Krieg und Kunst, von Künstlern wie Franz Marc, Wassily Kandinsky, August Stramm, Marc Chagall, Oskar Kokoschka, Kurt Heynicke, Paul Citroen und von seelischer Verwandtschaft mit Muche und Runge bestimmt wird. Die Emotivität der Sophie, der Wahnsinn des Krieges, ihre fortwährende Suche nach einem Lebensziel, die sie dauernd mit männlichen Geistesverwandten zusammenbringt und sie wieder von ihnen wegführt, haben nicht nur ihre literarischen Produkte beeinflusst, sondern vor allem ihren „Schöpfungsmythos“ gezeitigt. So bewies sie mit ihrem 1916 in Der Sturm erschienenen Kurzprosatext Die Puppe, wie der weibliche Schaffensdrang dem männlichen in der Kunst der Avantgarde ebenbürtig ist. Das Männliche und das Weibliche erscheinen als absolute Setzungen.23 Ihre lyrischen Texte erinnern durch den sinnlichen und explosiven Charakter an das Werk Georg Trakls oder August Stramms, sind aber sehr eigenständig als die Vorboten einer neuen Welt. So zeugt „Knabenstunde“ aus dem Jahre 1917 in bildlicher Klarheit von dem Verlangen nach einem neuen Anfang. Auch hier spielt die Gestalt des entstellten, auseinanderfallenden Puppenmenschen, dessen Herz „den Namen sucht“, eine große Rolle. Es klingt zudem die Sehnsucht nach einer „anderen“, ewigen Zeit an:
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Huussen Jr. hat in seiner Biografie veröffentlichte und unveröffentliche Gedichte der Sophie van Leer publiziert. Vieles in seiner Beschreibung entnimmt er Sophies Korrespondenz. Die von Poorthuis und Salemink entdeckten Manuskripte, Tagebücher und andere Dokumente konnten ihm nicht bekannt sein. Zitiert nach Huussen Jr. 1997: 22. Vgl. Metzler 2003: 130-143.
319 Knabenstunde Augen brennen im Abendraum. Blicke träumen in Falten von Gardinen. Hände schleichen um den Tischrand. Die Lampe würgt den Docht. Die Flamme leckt das Glas, Schultern schluchzen auf der eisen Platte. Die Hände schleichen weiter, weiter , immer weiter um den Rand. Die Uhr an der Wand rückt den Zeiger. Die Lippen beben ein Wort. Ein weißer Strahl ritzt die Gardine, gleitet nach der Uhr, spielt Hasche mit dem Ticken. Zähne haken die Handgelenke. Schultern schüttern. Die Glieder fallen Kreuz auseinander. Würge Träume reißen das Herz hoch, werfen es zwischen Sterne, spannen es an den weißen Mond. Das Herz blickt nieder. Es sucht und sucht den Namen, den Namen, der um die weite Erde rollt. Der Mond wandert um die Nacht. Im Zimmer steht die Uhr.24
In Sophies Entwicklung als Dichterin passt das expressionistische Postulat, durch Umbruch und Zerstückung eine neue Welt zu erschaffen, zu ihrer „Klage um die Menschheit, der Sehnsucht nach der Menschheit“25. Sie hatte teil an dem Erlösungsbedürfnis und der messianischen Botschaft ihrer Zeit. Zugleich ist ihre Verzweiflung symbolisch für die Kriegszeit, als die Fundamente einer neuen Zukunft nicht ersichtlich werden konnten. Den in Huussens Biografie wiedergegebenen publizierten und unpublizierten Gedichten ist zu entnehmen, wie Sophie van Leer sich in ihrer Kommunikations-Suche anfangs einem „Du“, später jedoch mehr und mehr einem Heiligen, „Dritten“ zuwendet. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. Rausch Meine Blicke sind goldene Bälle Meine Zähne tanzen Reigen in deinem Blut Deine Freude sprudelt blitzende Tropfen Reckend ringt deine wilde Wucht mein lahmendes Wollen zu Boden Verlangen brandet Sehnen bäumt und sprengt den trotzen Willen Mein Denken zerschellt 24 25
zitiert nach Huussen Jr. 1997: 175. vgl. Kurt Pinthus in Menschheitsdämmerung 1959: 14.
320 Ich Fühle Uns26
Dagegen heißt es in einem Gedicht, das noch kein Jahr später entstand: Schwarz kniet die Nacht die blaue Erde Die Himmel stürzen in die Dunkelheit Aus allen Träumen steigt mein Antlitz auf aus allen Tränen heb ich mein Gebet Ich gehe zu den Sternen ein und meine Hände werden eine Schale unter Gottes Haupt 27
In manchem Text treffen wir eine Ich-Emphase rilkescher Prägung an. Einerseits geht es um ein latentes Verlangen des Künstlers nach Gott, um das Bedürfnis, durch die Kunst zum Göttlichen zu gelangen: die Dichtende möchte eine Betende werden. In dieser Weise hat sie auch auf die „entgötterte Welt“28 und die Pseudo-Religiosität ihrer Zeit reagiert. Der Untergang Europas schien manchem unausbleiblich: Es beginnt eine neue Zeit, von der wir noch keine Vorstellung machen können. Wir ahnen nicht,was aus diesem furchtbaren Morden, aus diesen Greueln der Verwüstung [...] wird. Jedenfalls erleben wir jetzt eine Verwirklichung der apokalyptischen Bilder von den Reitern des Verderbens [...]29
Andererseits zeugt mancher ihrer Texte von einem gespaltenen IchDu-Verhältnis, das ins eigne Ich hinein verlegt wird, wie in Freunde, mit dem bedeutungsschweren Schluss: Du bist gestorben, mein schwarzer Freund. Ich habe den Fall deines Körpers gehört, habe deine Hand sinken sehen mit der Waffe, die ich im Schrank wußte, und die ich nicht nehmen durfte. Aus deiner Stirne fließt Blut, und deine Augen sind geschlossen. Nun bist du tot, mein schwarzer Freund. Aber ich weine nicht. Du hast die Eisschicht durchstoßen, die deine Blumen erdrückte. Nun wirst du nicht mehr wollen, daß ich dich beweine, mein schwarzer Freund, denn du bist bei mir und wirst nie mehr von mir gehen. Ich halte deine Seele und zeige ihr das Leben.30 26 27 28 29 30
Gedicht aus Unseren Stunden I-III, (1915) zitiert nach Huussen Jr. 1997: 148. Gedicht IV (1916) zitiert nach Huussen 1997: 171. Vgl. Hermann Sudermann: Die entgötterte Welt (1915). Johannes Müller 1919: XXI. Zitiert nach Huussen Jr. 1997: 139.
321 Es ist bezeichnend in dieser Geschichte, die Sophie von Georg Muche über einen Schulfreund gehört hatte, wie die Erzählende sich mit dem „schwarzen Freund“ identifiziert. So heißt es etwas früher in diesem Text: „Denn ich bin durch Dich. [...] Du bist ein Halbes. Wärest du eine Frau, du würdest meine Geliebte sein. So kann ich dich nicht küssen [...] I c h kann den Zwiespalt in dir nicht ausheilen.“31 Es wird auf einen inneren Zwiespalt hingewiesen, auf ein in zwei Hälften verteiltes Ich mit einer männlichen und einer weiblichen Hälfte, die einander entgegenwirken und ständig sich suchen. In ihrem späteren Roman Mijn volk roept lässt Francisca van Leer den Halbjuden Richard sagen: Ich kenne mich nicht [...] ich weiss nicht, was ich hoffe oder fürchte. Aber ich will ein Mensch werden, und nicht eine Hälfte oder zwei. Ich möchte ichselbst werden.32
Dieses Doppelte, das Sophiens Wesen bestimmt, macht das Fesselnde ihrer Persönlichkeit aus, lässt sie aber ständig leiden. Das Androgyne rückt sie in die Nähe der Avantgarde, zeigt aber deutlich sein eignes Gesicht. Das von der Künstlerin Sophie in sichselbst gespürte Doppelte, das zweigeschlechtlich ist, übersteigt das Persönliche, wenn das Männliche in der Kunst einem Weiblichen höherer Erzeugung gegenübersteht. Die von Sophie ersehnte „höhere Begattung“ wäre als die Überwindung der Kunst, die das „Tote“ zu neuem Leben erweckt und von der Materie erlöst, zu verstehen. Es verbindet sie auch mit Georg Muche, den sie als ihren „Bruder“ und „blauen Reiter“ bezeichnet, mit dem sie in platonischer Liebe Kunst in Religion verwandeln möchte. Dieser Erlösungsdrang, der ihr innerhalb der Dichtung ihrer Zeit einen eignen Platz zuweist, nicht zuletzt in ihrer Berufung als Frau33, ist eine Sendung, die sie unmerkbar von der Kunst, und auch von Muche wegführt. Dass sie sich im persönlichen Umgang mit den Künstlern ihrer Zeit stark verbunden wusste, beweist allein die Tatsache, dass sie 1916 für den auf dem Schlachtfeld gefallenen Franz Marc dichtet: Auf den Tod von Franz Marc Der Atem welkt Die Stunden gehn gebückt Blaue Tränen trösten das Leid 31 32 33
Zitiert nach Huussen Jr. 1997: 138. Leer, Francisca van 1955: 11 Das Buch wurde nach Sophies Tod von ihrem Taufvater Himmelreich herausgegeben. Vgl. Metzler 2003: 139.
322 Das Wort schreit Die Klage jammert Stunden bluten hin sterben34
Die „blauen Tränen“ der Frühe färben den Lebensteppich Sophiens, bis sie sich in ihrem späteren Leben in die bitteren Tränen des Scheiterns verwandeln werden. Nach ihrem ersten Traum vom „blauen Reiter“ notiert sie in ihrer Autobiografie: Da hoerte ich eines Tages die Matthaeuspassion in der Garnisonskirche in Berlin. Und meine Augen gingen auf. Mein Traum erwachte wieder in mir. Der Prinz, das war der Erloeser. – Doch was hatte ich damit zu tun? Wie konnte ich dem Prinzen den Weg weisen? Wenn der Prinz der Erloeser der Welt war? Von da an nahm mein Eifer fuer die moderne Kunst ab. (S. 29f.)
In diese Jahre fällt auch ihr Wagnerstudium. Sie liest Tolstoi, Nietzsches Zarathustra. Ganz besonders liebt sie den Parzival, der ihr die Verkörperung ihres blauen Prinzen zu sein scheint: Sie steht den pseudo-religiösen Prätentionen der Avantgarde kritisch gegenüber und meint, dass die Kunst nicht göttlich sein kann, sondern zum Göttlichen hinweisen sollte. Sie beruft sich dabei auf die esoterische Lehre von Masdasnan, christliche Motive mit aufnehmend. Ihr jüdischer Hintergrund spielt dahingegen keine nachweisbare Rolle. 35
Mit expressionistischem Eifer entwickelt sie der Menschheit und Gott gegenüber ein Schuldgefühl, das sie immer näher in die Richtung des Kreuzes führt, wie es ihre Texte dieser Jahre verraten. So heißt es in Die Geschwister aus dem Jahre 1916: Im Beichtstuhl kniete er, die Stirne gegen das Holz gedrückt. Über ihm hing ein schwarzes Kreuz mit einem silbernen Christus. Er ergriff es und hielt es sich vor die Augen. Worte zerfetzten seinen Atem. Glühend spannten seine Lippen über den Mund. Seine Zähne hakten in die zuckende Hand. Er horchte, den Hals zwischen die Schultern geduckt und blickte scheu nach dem Kreuz empor. Der Christus schwieg.36
In Die Geschwister fällt nicht nur das Inzestthema traklscher Provenienz, sondern vor allem die Verbindung des Männlichen und Weiblichen als Doppelnatur auf, die das Motiv der Selbstverschuldung und der Hoffnung auf Erlösung in sich trägt. Prophezeiend 34 35 36
Zitiert nach Huussen 1997: 158. Das Gedicht wurde von Walden 1916 in Der Sturm aufgenommen. Poorthuis & Salemink 2000: 86. Zitiert nach Huussen Jr. 1997: 151.
323 war schon 1915 in diesem Zusammenhang das Gedicht „Ich kniee in grauen Kapellen“, in dem es mit expressionistischer Färbung heißt: Ich jauchze Türme in Sonnen und töne hallende Fliesen und kniee die Altarstufen Ich bin, der die heiligen Bücher schrieb ich bin der Leidensweg und die weinenden Frauen Ich bin der Freund der Richter der Verräter Ich bin für den er am Kreuze lebt.37
Mit Recht wird dieses Gedicht von Poorthuis und Salemink im Hinblick auf Vergangenes und Zukünftiges folgendermaßen gedeutet: In den letzten Strophen geht es nicht nur um katholische Devotion, sondern vor allem um die Identifikation mit den Personen um Christus. Diese Identifikation, sowohl mit dem Richter wie mit dem Verräter, deutet auf eine Christusmystik, in der der Selbstbeschuldigung ein großer Platz eingeräumt wird. Dieses Motiv wird in den zwanziger Jahren, als Sophie Klosterschwester geworden ist, eine ungemein große Rolle spielen.38
Das Motiv des Kreuzes, das im Laufe der Jahre zum Doppelmotiv des Kreuzigenden und des Gekreuzigten wird, ist wegweisend für die messianische Sendung, die Sophie in ihrer Autobiografie energisch und pathetisch zum Ausdruck bringt: „I c h, I c h ganz allein hatte den Heiland gekreuzigt. – Wie sollte ich das gut machen?“ (S. 34) Sie sagt es nicht, sie ruft es aus, als Frau, als Jüdin, als Flehende, die sich am Karfreitag mit der Christusfigur in ihren einsamen Exerzitien im feuchten Kellerraum in einem Bauerndorf identifiziert. Diese Selbstbestimmung scheint ja die Antwort auf den früher von ihr geäußerten Wunsch zu sein: Ich wollte knieen vor etwas, vor Jemandem.- Doch wo war dieser Jemand? Unter den Menschen fand ich ihn nicht [...] (S. 32)
37 38
Ebenda: 146. Poorthuis&Salemink 2003: 88f.
324 Sehnsüchtig vermischen sich in Sophiens Berichten stets Heiliges und Erotisches mit dem Tod. Nicht nur gehört sie damit einem „romantischen“ Expressionismus an, sondern vor allem offenbart sich darin das heftige Verlangen, die Kunst zu vergeistigen, wobei das eigene Ich als Medium fungiert: „Das Kreuz auf sich nehmen“, heißt es, noch ohne dass sie Christus als Gott anerkennt, sein Leben und Leiden aber zum Vorbild nimmt. Das romantische Thema von Liebe und Tod reifte auch in ihrem Verhältnis zu Wilhelm Runge zu besonderer Bedeutung und führte zu einem Schuldgefühl, das sie ihr Leben lang verfolgen sollte. Das Merkwürdige ist, dass Sophie in ihrer Autobiografie den Freund Runge und die große Geistesverwandtschaft mit ihm nicht erwähnt. Als Sohn eines lutherischen Pfarrers 1894 in Schlesien geboren, setzte der Krieg seinem jungen Leben schon 1918 ein Ende. Sophies Deutung seines Todes als „ein Selbstmord“ aus pazifistischen Gründen bleibt unentschieden. Immerhin ist für sie mit seinem Tode ihr Ebenbild gestorben.Vielleicht war ihre Bindung an Wilhelm Runge, den sie dazu anregte, den Dienst an der Front zu quittieren, so groß, dass sie in ihrer Autobiografie von ihm nicht sprechen konnte. Krieg und Tod verwirren sie so sehr, dass sie sich längere Zeit aus der Welt zurückzieht.39 Schließlich konnten weder Muche noch Runge ihr in ihrer messianischen Esoterik folgen. Ihr Leben lang sollte sie auf der Suche sein nach einem Mann, mit dem sie sich absolut eins fühlen konnte: einem „Mann, der an die Stelle des toten Runge und des lebenden Muche treten“ könne. 40 Während Runge als Dichter durch die Kunst zu Gott geführt werden möchte, wurde für Sophie die Kunst in der Beziehung Mensch-Gott immer mehr zum Hindernis. Die Mitteilung in ihrer Autobiografie: „Ich verliess den Sturm und ging nach München“ (S.31) ist in prägnanter Kürze der Anfang des großen Umschwungs. Die Jahre 1917-1918 sind in vielerlei Weise entscheidend für Sophies weiteren Lebenslauf. Nachdem sie mit Muche und Runge eine Periode von geistigem Glanz, von dichterischer Produktivität und intellektuellem Kritizismus erlebt hatte, folgten Verzweiflung und düstere Ahnung. Im Sommer 1918 erwähnt sie von neuem einen Traum, der mit dem ersten eng zusammenhängt: Wieder sass ich zu Füssen eines Thrones, auf dem ein alter Mann sass und weinte. Mir zur Seite sass ein junger Mann (ich dachte Christus). Und der junge Mann sprach zu mir: „Du Kind, willst die Menschheit erloesen? Das habe ich ja nicht einmal fertig gebracht?“ (S.36) 39 40
Vgl. Poorthuis&Salemink 2000: 108ff. Ebenda: 121
325 Mit dem Versprechen auf den Lippen, dass sie versuchen will, die Menschen zu ihm zu bringen, wachte sie auf. Poorthuis und Salemink deuten den Unterschied zum ersten Traum: Der erste Traum auf der Insel symbolisiert ihre Berufung als expressionistische Künstlerin. Der zweite Traum in Moosach markiert das Ende dieser Berufung. Sophie tauscht Kunst gegen Revolution und Religion. Die Revolution [in München] wird sie vors Exekutionspeloton führen.41
Tatsächlich erfahren wir, wie beide Male „in grenzenloser Einsamkeit“ in ihren Traumvorstellungen Figuren erscheinen, die wegweisend für sie sind. Trotz der Schwierigkeit aller Traumdeutung ist es auffallend, dass der „blaue Reiter“ aus dem ersten Traum nun dem mit Namen genannten Christus den Platz einräumt. War die Beschreibung des ersten Traumes einem Märchen ähnlich, so enthält der zweite Traum den Hinweis auf Christus, den Vater und den Sohn, und den persönlichen Auftrag: „Ich sah in dem Traum ein Gebot, die Menschheit zu erloesen, ohne den Weg zu kennen.“ (S. 36) Im Nachhinein scheint Sophie die Bedeutung der Träume als die Topoi ihrer Lebensziele zu verstehen. Der Traum ist nicht Wirres, sondern in einem rilkeschen Sinne: „ein Fühlen, das in dir beginnt und schließt“42. Vielleicht hat Sophie sichselbst davon überzeugen wollen, dass der Traum nicht im Fluchtbereich der Sprache zu Hause ist, sondern dass sich in ihm eine verborgene Lebenswirklichkeit offenbart. Jedenfalls scheint sie in dieser Weise einen neuen Sinnzugang zu suchen, der ihr weiteres Leben bestimmen musste. So möchte die Dichtende eine Betende werden. Die künstlerische Selbstbestimmung naht ihrem Ende. Inzwischen lebte und litt Sophie stark unter dem Druck des Krieges, von dem es in ihrer Autobiografie heißt: Ich kann es unmoeglich sagen, wie ich unter den Gedanken an den Krieg litt. Wenn ich verwundeten Soldaten begegnete, fuehlte ich ihre Schmerzen so heftig, dass ich [...] oft mich nicht mehr weiter bewegen konnte. […] Wenn ich die Nachricht des Todes eines Freundes erhielt (und sehr viele meiner Freunde sind gefallen) war ich ploetzlich tot und lag leblos Tage lang zu Bett, nicht faehig zu sprechen, zu fuehlen, zu denken oder Nahrung zu mir zu nehmen. Der Zustand in dem ich mich befand, war so voll Verzweiflung, dass ich naechte-lang auf den Knieen lag, den Kopf emporgehoben und fragte: „Gott, bist Du? Oder gibt es keinen Gott? Wenn Du lebst, Gott, wie kann dann dieser furchtbare Krieg entstanden sein?“ (S. 44)
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Poorthuis&Salemink 2000: 72. Rilke 1996: 359
326 Ihr Traum mahnt sie aber. Menschen mussten wieder gut machen, was Menschen verschuldet haben: Sie wolle den Frieden stiften. Darin ging Sophie sehr weit. Sie schickt ein Telegramm an den Kaiser, der ihr dankt „für ihre edlen Absichten“, dem aber hinzufügt: „es sei zu spät“. Sie will nach Präsident Wilson in Amerika reisen, gerade in dem Moment, als in München am 9. November 1918 die Revolution ausbricht. Ihre Beschreibung der Lage Deutschlands an diesem Moment ist als Zeugenbericht so interessant, dass wir sie hier in großen Teilen übernehmen: Sie [die Revolution] bildet ein eignes Kapitel, nicht allein in meiner Entwicklung [...] Derjenige, der eine Revolution beurteilt von theoretischem Gesichtspunkte aus, naemlich, ob sie schadet oder nuetzt und welche Folgen sie hat, wird immer vergessen, dass fuer eine Revolution in der Hauptsache die Umstaende verantwortlich zu machen sind, die die Revolution herbeigefuehrt haben. Wo keine Aktion ist, da ist keine Reaktion. Wo keine Evolution, da ist keine Revolution. Die Revolution in Deutschland war die Antwort auf den Krieg. Sie konnte nicht ausbleiben. Ein Volk, das geknechtet war vom Militarismus eines Bismarck, eines Hindenburg und Ludendorff, das gehemmt wurde in seiner kulturellen Entwicklung, das man gewaltsam in die Bande der Waffen schlug, das man fesselte und knebelte, einem solchen Volk darf man die Revolution nicht uebelnehmen. [...] und wenn jetzt die Heerfuehrer versuchen, sich rein zu waschen, die Schuld fuer das groesste Unheil, das je das deutsche Volk traf, von sich zu waelzen, so ist das milde gesagt: kurzsichtig. Wer den Krieg in Deutschland mitgemacht hat, dem war die Revolution eine Erleichterung. Man hatte darauf gewartet, wie auf die einzig moegliche Befreiung. Der Krieg war eine Pestbeule, die aufplatzen musste, damit endlich einmal all die furchtbaren Giftstoffe, die das Blut des deutschen Volkes verseuchte, zu Tage treten konnten. Das Fieber brach aus. Die Demoralisation, die so lange unter dem Maentelchen der Militardisziplin versteckt gewesen war, konnte sich austoben. Nackt und schamlos konnte sie Orgien feiern, und sich auf diese Weise selbst ad absurdum fuehren. Man muss das deutsche Volk gekannt und geliebt haben, um es in seiner tiefsten Erniedrigung zu verstehen. Nicht wie so viele Neutrale, muss man es schadenfroh bespottet haben, als die Welt aufstand, um den preussischen Militarismus endlich zu bekaempfen. Denn Preussen ist nicht Deutschland, und der deutsche Kaiser war nicht das deutsche Volk. Man muss das deutsche Volk geliebt haben, um es zu verstehen. Man muss sein Leid mitgelitten, seine Schmach als eigene Schmach gefuehlt haben, um es jetzt noch in dem furchtbarsten Chaos zu begreifen, und ... an eine Wiedergeburt des deutschen Volkes zu glauben. Und deshalb muss man die deutsche Revolution nicht als einen Anfang, sondern als ein Ende betrachten, als einen Tod. Vogel Phoenix wird aus der Asche neu erstehen. (S. 46f.)
In diesem Zusammenhang ist es mehr als interessant, wie sich in Sophies Leben Biografisches und Zeitgeschichtliches eng verbinden. Der hier von ihr erwähnte Zusammenbruch des Alten, der Aufschrei
327 zum Neuen, das nur durch den Tod zur Vollendung geführt werden könne, die Befreiung eines Volkes aus der Einkerkerung, das alles fällt mit der großen Wende in ihrem persönlichen Leben zusammen. Diese große Wende findet nach ihrer Beteiligung an der Münchener Revolution statt. Weil sie sich fortwährend fragt, ob sie nicht wie Christus einen Auftrag hat, die Menschen näher zueinander zu bringen, versucht sie, einen Dialog zwischen Arbeitern und SozialDemokraten zu stande zu bringen. Sie glaubt an ein Zeitalter des Friedens, an eine goldene Zeit. In allem bleibt sie die religiöse Expressionistin, die in plastischen Bildern fanatisch von der Dunkelheit der Welt und der Hoffnung zeugt. Sie meint, dass das Schicksal der ganzen Welt in ihren Händen liegt, wenn sie vollkommen verzweifelt am 21. Dezember 1918 Georg Muche schreibt: Die Menschen schauen nach mir als wäre ich ihre einzige Rettung. Ich bin die Einsamste der Welt. Oh, diese Verantwortung. Morgen oder übermorgen ist es zweitausend Jahre her, dass der Heiland erschienen ist. Ist Er bis jetzt tot gewesen? Hat Gott mich, ein kleines Mädchen, auserwählt, Ihn wieder zum Leben zu erwecken in den Seelen der Menschen? Gott sei mir gnädig. Mein Weg ist lang und steil. Aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Wille Gottes. Denn ich und der Vater sind eins.43
Muche erträgt solche Sprache nicht länger. Sophie setzt ihrem Verhältnis mit ihm ein Ende, weil sie weiß, ihrer Berufung folgen zu müssen. Sie sucht andere Partner, wie den Theaterdichter Georg Kaiser, der sie seine „kleine Heilige“ nennt, während sie in ihm den „alten“, reinkarnierten Runge zu erblicken meint. Inzwischen erfährt sie in der Münchener Revolution, dass der utopische Sozialismus von Ernst Toller und Gustav Landauer eine Illusion ist; ihr messianischer Pazifismus verblutet im Blut der Revolution. Sie ist einsamer denn je. Verloren hat sie ihren Glauben an die Menschheit. Sie verlangt nach dem Tod und zieht sich wieder in die Einsamkeit zurück. Am Ostersamstag 1919 schreibt sie Muche: „Ich arbeite an meiner Autobiographie [...] mein ganzes Leben spielt sich im mir ab“.44 In der Autobiographie schildert sie das dramatische Bild der Karwoche, in der sie sich mit den Leiden Christi ganz identifiziert: „Diese Ostertage begannen Licht in meine verdunkelte Seele zu bringen.“ (S. 59) Dann, in München, erfolgt ihre Verhaftung, weil sie auf der schwarzen Liste der weißen Truppe stand, die sie für staatsgefährlich hielt: „Ausserdem glaubte niemand, dass ich Hollaenderin sei. Man hielt mich (auch meines Aussehens wegen) fuer eine russische Bol43 44
Zitiert nach Poorthuis&Salemink 2000: 118. Ebenda: 125.
328 schewistin.“ (S. 61) Durch diese Verhaftung passiert das wohl Wichtigste, das in ihrem Leben geschehen konnte: ihre Bekehrung zum Katholizismus. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, den sie als eine Erlösung sogar herbeisehnte, doch nur ein Gedanke bedrückt sie: „erschossen zu werden, ohne verhoert zu sein.“ (S. 61) In eine Ecke des Gerichtssaales geworfen, von zwei Soldaten bewacht, verbringt sie einen ganzen Tag auf einem Strohsack. Auf die Frage bei ihrer Verhaftung, wo ihre Waffen seien, zieht sie das neue Testament hervor, das der Leutnant fluchend wegwirft. Endlich kam das Verhör. Sophie sagt in ihrer Autobiografie: „darauf kann ich heute noch nicht eingehen. Die Emotion damals war so stark, dass sie noch heute in mir nachwirkt [...]“ (S. 63) Sie lässt eine kurze Beschreibung des Verhörs folgen: Auf alle Fragen hatte ich nur eine Antwort: „ Ich bin Kommunist genau so wie es Christus gemeint hat.“ [...] Ich hatte auch gar keine Angst. [...] Man fand mich frech [...] weil ich meine Meinung sagte und scheinbar gar keine Furcht vor dem Tode hatte. [...] Fuenf Stunden dauerte das Verhoer [...] Ich war sehr ruhig [...] Ich wusste, dass ich nun, nachdem ich meinen Gott bekannt, ruhig sterben koenne. Ich wusste, dass keiner meiner Richter von meiner Schuld überzeugt sei [...] Und ich kam frei. Wie ich frei kam, kann ich auch heute vor unbegreiflicher Verwunderung noch nicht genau schildern. (S. 64)
Nachts in ihrem Kerker schreibt sie einen Brief für ihre Richter, den sie am folgenden Morgen bei ihrem Verhör vorlesen wird. Diese Verteidigungsschrift, die sie mit der Anrede „Lieber Herr Oberwachtmeister“ anfangen lässt, ist ein dramatisches Dokument.45 Sie ist sich sicher, dass dieser Oberwachtmeister von ihrer Unschuld überzeugt ist, weil er ihr religiöses Bekenntnis gehört hat. Wieder zeugt sie in diesem Brief von ihren kommunistisch-pazifistischen Gedanken im Namen Christi, indem sie ihre Liebe für die Menschheit betont und am Schluss mit Pathos fragt: „Wollen Sie, dass ich sterbe oder dass ich wahnsinnig werde?“ Poorthuis und Salemink dazu: Sophie van Leer erlebt eine Schreckensnacht, die schlimmste ihres Lebens. [...] Bis ihren Tod im Jahre 1953 erzählt sie immer wieder, was in jener Nacht sie überkam. In all ihren Beschreibungen erscheint das Motiv eines Ultimatums. In jener Nacht hat sie Gott das Ultimatum gestellt: Er soll ihr das Leben retten, dann wird sie an Ihn glauben, Ihn annehmen und ihr Leben in Seinen Dienst stellen.46
45 46
Poorthuis&Salemink 2000: 134. Poorthuis&Salemink 2000: 135.
329 Sophie wird sich durch dieses Bekenntnis ihr weiteres Leben gebunden fühlen, mehr als durch irgendwelchen Eid. In ihrer Autobiografie teilt sie mit: Vier Wochen lang war ich im Banne dieser furchtbaren Geschehnisse. Vier Wochen hatte ich Zeit, ueber mein wiedergeschenktes Leben nachzudenken, und das Eine wurde mir klar: dein Leben gehoert dir nicht mehr. Du darfst dich weder verheiraten, noch sonst dich jemals an einen Menschen binden. Denn du lebst jetzt nicht mehr fuer dich, sondern fuer Den, Der Dir das Leben schenkte. Und in diesen Wochen fand ich endgueltig meinen Gott und Seinen Sohn, den Erloeser. Und gleich einem Blitz ist eines Tages die Erkenntnis in mein Hirn geschlagen: „Du hast die Pflicht, Christin zu werden im Sinne der katholischen Kirche“. [Hervorhebung vom Vf.] (S. 66)
Unmittelbar nach ihrer Taufe schreibt sie mit Bleistift unter ihrem Taufnamen Francisca van Leer: Auf dem Trittbrett, Zug Nürnberg-Gmunden 16 Juni 19 Ich bin auf meiner Hochzeitreise. Gestern getraut und heute mit dem himmlischen Bräutigam im Herzen in die weite Welt hinaus. Oh Gott, wie herrlich ist Deine Schöpfung. War ich bisher blind? Die Sonne, die Erde, der Himmel, die Blumen, das Gras, die Häschen, die Enten, die Bäume – und die Menschen wie gut die Menschen sind! Oh, ich wusste es ja. Nur Einer muss wollen, dann ist die Welt erlöst!47
Diese Bekehrungsgeschichte hat tatsächlich ihr weiteres, schwieriges Leben bestimmt, in dem sie viele dunkle Täler durchschreiten musste. Ihr Gelübde hat sie in der ewigen Suche nach einem geistigen Partner nicht halten können. Sie hat schließlich geheiratet, ihre Ehe wurde eine unglückliche. Gekämpft hat sie bis ihren Tod, als Propagandistin der Lehre Christi, als Pionierin in Israel, in ihrer Mission, Juden und Christen näher zueinander zu bringen. Ihr Eifer für den Dialog zwischen Katholiken und Juden musste fruchtlos bleiben, Freunde haben sie verlassen, weil sie solchen pathetischen Eifer nicht verstanden oder ihn als Exaltiertheit ablehnten. Am 3. Juni 1953 starb Sophie Francisca van Leer. Sich selbst war sie treu geblieben, bis an ihr Lebensende von Idealen vorwärts getrieben.. „Was sie getrieben hatte auf ihrer ungewöhnlichen Reise durch die Zeit“, heißt es am Schluss der Darstellung von Poorthuis und Salemink, „hat sie 1916 als Dichterin uns prophezeit“: In die Welt bin ich geworfen Weit wurde die Erde 47
Archiv Paters Benedictijnen, Sint-Andriesabdij in Brügge. Mit besonderem Dank an Pater Christian Papeians.
330 In roten Wolken bin ich aufgefangen Der Mond geht rund und immer seh ich sein eines Gesicht Hinter den Sternen rauscht die Ewigkeit Klein sind meine Arme und Vögel haben Flügel Die Sonne strahlt mir das Lächeln von Gott Mein Schatten fällt den Strahlen in das Haar Auf meiner Stirne weint das Leben Die Seele schläft und träumt und wartet in die Ewigkeit48
Literaturverzeichnis Huussen, A.H. Jr. (Hrsg.). 1997. Sophie van Leer – Een expressionistische dichteres. Haren-Gn: Uitgeverij Knoop. Kandinsky, [Wassily]. 1952 [1912]. Über das Geistige in der Kunst. 4.Auflage mit einer Einführung von Max Bill. Bern-Bümpliz: Benteli-Verlag. Kandinsky, Wassily und Franz Marc (Hrsg.).1965. Der blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München: Piper. Lankheit, Klaus. 1978. Franz Marc Schriften. Köln: DuMont. Leer, [Sophie] Francisca van. 1919. Autobiographie. Typoskript, in der Universitätsbibliothek Utrecht. Leer, [Sophie] Francisca van. 1955. Mijn volk roept. Bilthoven: H. Nelissen und Antwerpen: ’t Groeit. Macke, August und Franz Marc. 1964. Briefwechsel. Köln: DuMont. Marquardt, Ulrike und Heinz Rölleke (Hrsg.). 1998. Mein lieber, wundervoller blauer Reiter. Privater Briefwechsel Else Lasker-Schüler/Franz Marc. Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler. Metzler, Jan Christian. 2003. De / Formationen. Autorschaft, Körper und Materialität im expressionistischen Jahrzehnt. Bielefeld: Aisthesis. Müller, Johannes. 1919. ‚Weltkatastrophe und Gottesglaube‘. Sonderdruck des Vierteljahrsheftes der Grünen Blätter (21. Bd. 4. Heft) Elmau: Verlag der Grünen Blätter. Poorthuis, Marcel und Salemink, Theo. 2000. Op zoek naar de blauwe ruiter – Sophie van Leer: een leven tussen avant-garde, 48
Poorthuis&Salemink 2000: 488. Die Gedichte der Sophie van Leer von vor 1919 wurden alle in Huussens Biografie publiziert.
331 jodendom en christendom (1892-1953). Nijmegen: Valkhof Pers. Rilke, Rainer Maria. 1996. Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden, hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nawelsli und August Stahl. Frankfurt a.M. und Leipzig: Suhrkamp. Runge, Wilhelm. 1990. Die Sonne wintert. Ausgewählte Gedichte. Mit einem Nachwort herausgegeben von Wilfried Ihrig. (= Vergessene Autoren der Moderne XLIII) Siegen: UniversitätGesamthochschule. Wagner, Monika. 2001. Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: Beck.
Wassily Kandinsky – Lyrisches 1911, Inv.no. 1430, 94 x 130cm Sammlung Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam
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Johanna Spyri im Alter von etwa 40 Jahren
Lotti de Wolf-Pfändler JOHANNA SPYRI (1827 - 1901) ANLÄSSLICH EINER NEUEREN BIOGRAPHIE Heidi, Johanna Spyris Hauptwerk, ist weltbekannt. Ob in Originalfassung oder in Bearbeitung - verkürzt, verfilmt, parodiert, verkitscht und verkommerzialisiert - an der Geschichte vom fröhlichen, liebenswerten Alpenkind kommt kaum eine Kindheit vorbei. Anders steht es mit der Autorin dieses Weltbestsellers. Schon zu Lebzeiten blieb sie lieber im Verborgenen und wer weiß heute noch zu sagen, wo und wann sie eigentlich gelebt hat und was sie außer Heidi, dessen erster Teil übrigens in Anlehnung an Goethe Heidi's Lehr- und Wanderjahre heißt, sonst noch geschrieben hat? Unter dem Titel Johanna Spyri, verklärt, vergessen, neu entdeckt erschien 2001 im Verlag Neue Zürcher Zeitung, im Rahmen der Ausstellung heidi.01 zum 100. Todesjahr der Schriftstellerin, eine kleine ansprechend gestaltete Biographie von Georg Escher und Marie-Louise Strauss, die eine ausgezeichnete Einführung in das Leben und Werk der „berühmten Unbekannten“ vermittelt. Wirklich vergessen war Johanna Spyri allerdings nie. Immer wieder erschienen Spyri-Biographien, aber damit ist es so eine Sache. Johanna Spyri hat sich immer geweigert, eine Autobiographie zu verfassen und sich auch gegen allfällige Biographen gewehrt: „Wie könnte ich erzählen, was wahr ist? Wie könnte ich lügen? Nein es ist ein Greuel und Unsinn“, schrieb sie 1881 an Conrad Ferdinand Meyer1. Von Betsy Meyer, der mit ihr befreundeten Schwester Conrad Ferdinands, erbat sie sich 1892 ihre Briefe und alten Gedichte zurück und vernichtete vor ihrem Tod selber viel Material. So ist die Quellenlage zu Spyris Leben dürftig und ihre späteren Biographen mussten irgendwie die Lücken selber füllen. Die Literaturwissenschaftlerin Hedwig Bleuler-Waser eröffnete 1910 den Reigen der Spyri-Biographien. 1919 und 1927 erschienen zwei Lebensbilder von Anna Ulrich (Johanna Spyris Nichte) und Marguerite Paur-Ulrich (Großnichte), die, weil sie aus dem verwandtschaftlichen Umfeld stammten, als besonders glaubwürdig betrachtet wurden. Sie bestimmten, trotz Verfälschungen und Verklärungen, das Spyri-Bild bis in die 1980er Jahre hinein. 1977 wurde Spyris 1
Escher und Strauss 2001: 17
334 Briefwechsel mit der Familie Meyer veröffentlicht und 1980 gab der Germanist Karl Fehr die Hauschronik von Meta Heusser-Schweizer, der Mutter Johanna Spyris, heraus. Diese Hauschronik vermittelt Einblicke in den Alltag der Großfamilie, in der Johanna aufwuchs, und regte zu neuen Biographien an. Die früheren Spyri-Biographen setzten Johanna Spyri gradlinig und unbekümmert mit ihren literarischen Figuren gleich und reduzierten sie weitgehend auf ihre, wie man annahm, fröhliche und unbeschwerte Kindheit. Spyri wurde zur Autorin, die ausschließlich in ihren Kindheitserinnerungen lebte und von ihnen zehrte, ihr Leben als Erwachsene jedoch blieb blass. Bis zu einem gewissen Grad hat Johanna Spyri dem selber Vorschub geleistet, als sie an einen Verleger schrieb: „Für den, der zu lesen versteht, ist die Geschichte meines Lebens und Wesens enthalten in allem, was ich geschrieben habe“2. Allerdings zeigt sich dem, der wirklich zu lesen versteht, in ihrem Werk dann auch Rätselhaftes und Abgründiges. Ihre Kinderfiguren sind viel labiler und gefährdeter, als man üblicherweise wahrnimmt. Auch Heidi ist bei aller Heiterkeit kein unverwüstliches Naturkind. Die neueren Biographen, wie zum Beispiel 1986 Jürg Winkler, versuchten, dieses einseitige Bild zu korrigieren, mussten sich aber, zieht man die spärlichen Quellen in Betracht, auf das weite Umfeld Spyris stützen, so dass auch heute noch dieses zwar erhellt ist, sie selber aber doch weitgehend im Verborgenen bleibt. Johanna Spyri (1827 - 1901) Johanna Spyri wurde am 12. Juni 1827 in Hirzel, einer Landgemeinde auf den Höhen zwischen dem Zürich- und dem Zugersee geboren, in der die Bevölkerung von der Landwirtschaft und der Heimarbeit (Weberei) lebte und in der große soziale Unterschiede bestanden. Johanna war die Tochter des Dorfarztes Johann Jacob Heusser, der sich als Chirurg und Nervenarzt einen Namen gemacht hatte, und der pietistischen, in ihrer Zeit im ganzen deutschen Raum bekannten Lyrikerin Meta Heusser-Schweizer. In der Familie lebten nebst Johanna und ihren fünf Geschwistern auch eine Großmutter und verschiedene Tanten und Großtanten. In einem Nebengebäude verblieben zudem Patienten des Vaters für kürzere oder längere Zeit. In Spyris Büchern findet man später sehr viel von der abwechslungsreichen, aber wohl auch gerade durch die psychisch kranken Patienten des Vaters belasteten Kindheit in dieser Großfamilie zurück. Nach der 2
Winkler 1986: 87
335 Grundschule, deren beschränktes Lernprogramm durch zusätzlichen Privatunterricht ergänzt wurde, verbrachte Johanna ab 1842 zwei Jahre zur weiteren Ausbildung in Zürich und ein Jahr in einem Pensionat für junge Frauen im Welschland zur Erlernung der französischen Sprache. In jene Zeit fällt auch ihr Interesse für die deutschen Dichter, allen voran Goethe und Annette von DrosteHülshoff, deren Einfluss auf ihre spätere schriftstellerische Arbeit da und dort deutlich spürbar ist. In Zürich lernte Johanna über ihre Mutter die belesene, charismatische, aber auch problematische Elisabeth Meyer-Ulrich und deren Kinder Conrad Ferdinand und Betsy kennen und befreundet sich mit ihnen. Conrad Ferdinand Meyer bewunderte später das Schreibtalent Spyris: „Sie sind ein großes Talent, liebe Freundin,“ schrieb er ihr 18833. 1845 kehrte Johanna ins Elternhaus auf dem Hirzel zurück und unterrichtete ihre jüngeren Geschwister bis zu ihrer Heirat mit dem Juristen und späteren Stadtschreiber Johann Bernhard Spyri (1821 - 1884). Mit ihm zog sie in die Stadt Zürich um, wo sie sich nur schwer einlebte. 1855 wurde ihr einziger Sohn, Bernhard Diethelm, geboren. Während der Schwangerschaft geriet Johanna Spyri in eine Depression, die sich nach der Geburt des Kindes noch verstärkte und mehrere Jahre anhielt. Düstere Briefe aus jener Zeit haben sich erhalten. 1856 nahm sich zudem Elisabeth Meyer, die für Johanna wie eine Mutter war, und in deren Haus Johanna in diesem Jahr die literarischen Abende der Montag Gesellschaft besuchte, das Leben. Johannas Ehe mit Johann Bernhard Spyri gilt als wenig glücklich, die Karriere als Redaktor der Eidgenössischen Zeitung und später als Stadtschreiber im von starkem Umbruch geprägten Zürich absorbierte ihren Mann, das Leben als Person des öffentlichen Lebens lag Johanna nicht. Die Beiden lebten offenbar weitgehend aneinander vorbei. 1871 erschien im Verlag des Bremer Kirchenblattes, nur mit den Initialen J.S. versehen, Johanna Spyris erste Erzählung Ein Blatt auf Vrony's Grab, eine rührselige Geschichte, die sie auf die Bitte des Bremer Pastors Cornelius Rudolf Vietor hin geschrieben hatte und die sich in Norddeutschland rasch großer Beliebtheit erfreute. Das religiöse Anliegen, das sich in dieser ersten Erzählung zeigt und das uns heutigen Lesern eher Mühe bereitet, prägt Spyris gesamtes Werk. Meistens ist die schweizerische Heimat Schauplatz der Schilderung von Verlassenheit, Not, Krankheit und Schuld und deren Überwindung durch unerschütterliches Gottvertrauen. Der Erfolg ermunterte Spyri, mit ihrer Schreibarbeit Ernst zu machen, acht weitere 3
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336 Erzählungen erschienen in Bremen. All diese ersten Geschichten waren noch für Erwachsene bestimmt. Erst 1878 erschienen unter dem Titel Heimathlos und mit dem Untertitel Geschichten für Kinder und Solche, welche die Kinder lieb haben, den Spyri noch oft verwendete, bei Friedrich Andreas Perthes in Gotha ihre ersten Kindergeschichten. All ihre Werke publizierte sie in Deutschland, erst nach ihrem Tod erschienen sie auch in Schweizerverlagen. Heidi Johanna Spyri war bereits eine sehr angesehene Autorin als dann Weihnachten 1879, vordatiert auf 1880, immer noch anonym, („Von der Verfasserin von Ein Blatt auf Vrony’s Grab“ ) Heidi's Lehr- und Wanderjahre erschienen. Im Sommer 1879 war Spyri bei einer Jugendfreundin im Bündnerland in den Ferien und unternahm Spaziergänge rund um Maienfeld, das kurz danach die Inspirationsquelle, nicht aber die wirkliche Kulisse zur Heidigeschichte wurde, die Johanna Spyri innerhalb von vier Wochen schrieb. Das Buch hatte beim Publikum wie bei der Kritik sofort Erfolg. Im nächsten Jahr war bereits eine Zweitauflage nötig, in der Spyri zum ersten Mal mit ihrem vollen Namen als Autorin zeichnete. Im selben Jahr erschien auch die Heidi-Fortsetzung Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Bald wurden die beiden Bücher in verschiedene Sprachen übersetzt. Die englische Übertragung, die 1884 in Boston erschien, sorgte für die rasche Verbreitung in den Vereinigten Staten und von dort aus begann der Siegeszug um die Welt. Für Johanna Spyri brachte Heidi Geld und Ruhm. 1931, nach dem Verlöschen des Urheberrechts, begann der Ansturm auf die populäre Kinderfigur. Die Bearbeitungen, Fortsetzungen und Verfilmungen jagten sich. 1937 wurde Heidi in Hollywood mit dem Kinderstar Shirley Temple verfilmt, 1953 entstand die erste Schweizer Heidi-Filmproduktion, die zum nationalen Mythos und zum internationalen Erfolg wurde. Weitere Produktionen folgten, u.a. 1975 eine Zeichentrickfilmserie in Japan, die die Japaner noch immer ins Ferienland Schweiz lockt. Dabei wurde der Abstand zum ursprünglichen Heidi-Text, der seinerseits zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geriet (stereotypes Frauenbild; allzu einfache Religiosität; Ausblendung der Sexualität und politischer und sozialer Probleme; Vergötterung der reinen Natur im Kontrast zur verruchten Stadt....) immer größer. Oft blieb und bleibt von der einnehmenden Kinderfigur Heidi bloß noch ein Werbeetikett für Tourismus und Konsumprodukte übrig. Dabei ist es erstaunlich, wie frisch der Originaltext, trotz einiger Längen, auch heute noch beim Wiederlesen ist.
337 1884 starb Spyris Sohn Bernhard Diethelm, der seit mehreren Jahren schwer krank war. Noch im selben Jahr starb auch ihr Gatte an einer Lungenentzündung. Die Witwe musste das Stadthaus, das im Zuge der Stadterneuerung 1885 abgebrochen wurde, verlassen. Sie zog 1886 in eine großzügige Neubauwohnung am Zeltweg, damals noch am Stadtrand, um. (Heute ist im Nachbarhaus das Johanna Spyri-Archiv untergebracht und in nächster Nähe befindet sich das Schweizerische Jugendbuch-Institut). Von ihrem neuen Wohnsitz aus unternahm Johanna Spyri in den kommenden Jahren verschiedene Reisen, pflegte Kontakte zu Freunden und widmete sich nach wie vor intensiv dem Schreiben. In ihrem Todesjahr 1901 erschien ihre letzte Erzählung Die Stauffer-Mühle mit inhaltlichen Anklängen an Annette von DrosteHülshoffs Vers-Epos Das Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard. Als Johanna Spyri am 7. Juli 74-jährig starb, hinterließ sie ein Werk von 28 Bänden mit 48 Erzählungen, die vielfach aufgelegt und übersetzt wurden, auch ins Niederländische, in dem die Erzählungen Aus unserem Lande dann eben Uit Zwitserland heißen! Literaturverzeichnis Escher, Georg und Strauss, Marie-Louise. 2001. Johanna Spyri, verklärt, vergessen, neu entdeckt. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Winkler, Jürg. 1986. Johanna Spyri. Aus dem Leben der HeidiAutorin. Rüschlikon-Zürich: Albert Müller Verlag.
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NACHRUF AUF PROFESSOR DR. GILBERT A.R. DE SMET * 17. Januar 1921 - † 11. November 2003 Erinnerungen eines ehemaligen Studenten Es fällt schwer, eines Menschen zu gedenken, dessen arbeitsames Leben mit solch einer Intensität, Energie, Anteilnahme, Forschungssinn, Fachkompetenz und auch Vielseitigkeit verlaufen ist. Für mich, dem er, wie den zahllos vielen anderen Studenten auch, den Weg in die Germanistik vorzeigte, kann es nur ein dürftiger Versuch sein, ihm und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch nur annähernd gerecht zu werden. So wird es hier kaum um mehr gehen können als um einige wenige persönliche Erinnerungen an den Menschen Professor De Smet, der zwischen 1961 und 1966 mein Professor für Deutsche Sprachwissenschaft während der Studienzeit an der Katholischen Universität Nimwegen gewesen ist. Anderen sei es überlassen, ihre Sicht über ihn darzulegen, wie bereits mancherorts geschehen ist. In dem Augenblick, da mich die Nachricht seines Todes erreichte, ging mir so vieles durch den Kopf, und es war mir plötzlich, als hätte er vor nicht allzu langer Zeit im Hörsaal des Instituut Duits an der Annastraat 25 in Nimwegen gerade eine seiner Vorlesungen beendet und wäre hinausgegangen, auf die ihm eigene Art - mit kurzen, raschen Schritten ... Manch einem, der ihn aus jener Zeit kennt, wird es vielleicht ähnlich ergangen sein, als er die traurige Kunde vernahm. Plötzlich kommen Erinnerungen hoch, Gedanken, Augenblicke, Begegnungen die auf irgendeine Weise mit dem Verstorbenen verbunden sind; und mit einem Male scheint der Kontakt, die Verbindung mit den längst verklungenen, ereignisvollen sechziger Jahren wieder hergestellt... Das Studienjahr 1961/62 hatte bereits angefangen, als ich im Februar 1962 als Student der Germanistik der Universität Nimwegen immatrikuliert wurde. Ich hatte gerade den Militärdienst vorzeitig verlassen können, und wohnte noch bei meinen Eltern. Nach und nach folgte die Bekanntschaft mit meinen damaligen Kommilitonen, mit dem Lehrkörper an dem ‚Instituut Duits‘, der aus drei Dozenten und zwei Professoren bestand. Der aus Flandern gebürtige Professor für Deutsche Sprachwissenschaft war Dr. G.A.R. De Smet, der oftmals auf seinem typisch belgischen Sportfahrrad zum Institut fuhr. Und wenn auch für mich gilt, dass Erinnerungen im Laufe der Jahre allmählich schwächer werden, so weiß ich dennoch, dass er, als ich mich ihm vorstellte, auf meine Vornamen zu sprechen kam. So wurde
340 gleich eine persönliche Beziehung hergestellt. Ich durchlief die damals vorgesehenen Stufen des Germanistikstudiums. Geblieben sind Erinnerungen an Professor De Smet, an seine Vorlesungen und Seminare [historische Grammatik, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, deutsche Mundarten], an die Vorprüfungen, die Berlinreise im Jahre 1962, die Feiern an seinem 65. und 70. Geburtstag in Gent, und an vieles andere. Die von ihm gestellten Anforderungen waren hoch, doch nicht übertrieben und es tat ihm wohl, wenn man über das verlangte Pensum hinaus, Eigenes einbrachte. Er stimulierte Interesse, Fähigkeiten, eigene Ideen und Vorstellungen. Man konnte ihn im Institut jederzeit ansprechen, mit ihm etwas besprechen, er war für seine Studenten da. So hat er es mir ermöglicht, 1966/67 zwei Semester an der Johannes-GutenbergUniversität Mainz zu studieren, meine Ausbildung - weil in Deutschland - um Wesentliches zu ergänzen; es war eine Zeit, die mir auch persönlich sehr viel bedeuten sollte. Und auch in der Ferne blieb der Kontakt bestehen: Professor De Smet gab mir auf meine ‚Berichterstattung‘ hin auch weiterhin gute Ratschläge, machte mir Vorschläge, führte mich bei ihm bekannten Dozenten und Professoren ein, schrieb Empfehlungen und förderte so meine Ausbildung daselbst, wo er nur konnte. Eine Eigenschaft von Professor De Smet möchte ich hier hervorheben, weil sie mir persönlich so überaus wichtig scheint: Anteilnahme an dem, was man das Schicksal des Einzelnen, im Guten wie im Schlechten, nennen könnte. Aber wichtig auch für junge Menschen, und namentlich für solche, die den Beruf eines Lehrers wählen: Er hat sich über all die Jahre hinweg immer wieder danach erkundigt, wie es mir und meiner Familie ergangen ist, mit einem persönlichen Wort, sei es in Briefen oder am Telefon. Es lag ihm sehr daran, zu erfahren, was aus seinen früheren Studenten geworden sei, als Menschen und in ihrem Beruf; das war ihm - abgesehen vom Fachlichen - wichtig. Was Letzteres betrifft war es die Arbeit an meiner Dissertation, die den regelmäßigen Kontakt zu Professor De Smet herstellte. Die Autofahrten nach Gent, an mehreren Samstagen morgens früh um acht; Ankunft in Gent gegen 10:00 Uhr. Herzliche Begrüßung durch ihn und seine Frau; kleine Verschnaufpause bei einer guten Tasse Kaffee. Dann Besprechung des von mir ausgearbeiteten Materials bei ihm zu Hause oder im Institut des Deutschen Seminars am Blandijnberg und mehrmals eine liebevolle Einladung von Frau De Smet zum Mittagessen; die herzliche
341 Gastfreundlichkeit im Hause De Smet, am Congreslaan 40 zu Gent werde ich nicht vergessen. Dennoch mein Doktorvater wurde er nicht - das übernahm dann freundlicher- und dankenswerterweise 1994 Professor Dr. A.H. Touber, den Professor De Smet mir vorgeschlagen hatte, falls ich meine Arbeit mit einer Promotion beschließen wollte. Dieser wiederum gab meiner Bitte statt, Professor De Smet in die Corona der Promotionskommission der Universität von Amsterdam [UvA] aufzunehmen, was ihm offenbar letzten Endes viel Freude und Genugtuung verschafft hat. Denn trotz seines schwächlichen Gesundheitszustandes trat er die Reise am 24. Juni 1996 nach Amsterdam an. In den ‚Katakomben‘ vor der Aula am Spui hat er mich ganz herzlich begrüßt und mir alles Gute für die Promotion gewünscht... Wir haben uns danach herzlich voneinander verabschiedet und blieben auch weiterhin miteinander in Kontakt. Zum Glück konnte ich ihm wenige Monate vor seinem Tode noch einen Artikel zuschicken, auf den er mir jedoch nicht mehr hat antworten können, dazu war er bereits zu sehr geschwächt... Am Montag den 17. November 2003 waren wir dann mit einer kleinen Gruppe von ehemaligen Nimwegener Studenten bei der Trauerfeier in der Pfarrkirche St. Pieters-Buiten in Gent wiederum versammelt. Die feierlichen Exequien, so eindrucksvoll von seinen Kindern, Enkelkindern, Verwandten und Freunden gestaltet, führten sehr viele von Nah und Fern zu diesem Abschied von Professor De Smet zusammen. ER RUHE IN FRIEDEN. Karl Tax
ABSTRACTS Claudia Erdheim Karl Emil Franzos (1848 – 1904) Prose-writer Karl Emil Franzos (1848 – 1904) came from the small Austrian city of Czortkow near the Russian border. Franzos grew up in a social environment for which the heterogeneity of cultures, religious traditions and languages was essential. His personal background was Jewish and this foundation influenced his whole life and all his work. In his novels, especially in his ghetto novels, Franzos denounces the abuses of the Danubian monarchy, for example the oppression of national minorities and antisemitism. He pleads for cultivation and social progress of the countries east of Rumania, he called “Half Asia”. For Franzos assimilation was the ultimate solution for the so-called Jewish Problem. His novels like Der Pojaz show that things easily go wrong and that assimilation still had a long way to go. As an editor of various magazines and contributor to daily newspapers and periodicals Franzos contributed much to literary life of his time. Klaus-Peter Möller Hoffnung auf den Geistesfrühling. Karl Ferdinand Gutzkow (1811 – 1878) On January 10th 1870 the play Der Gefangene von Metz, written by Karl Gutzkow, became first performance in Berlin. Even Gutzkow at that time was a first class german author, he became a desastrous press. Especially the young critic Theodor Fontane condemned the drama and his writer, although he was an insane, mentally ill man. Throughout 40 years, from his beginning at 1832 till that times, Karl Gutzkow was a leading press-editor and ciritc and one of the most known poets in the German federation. As chief editor of several papers and journals he supported a lot of young authors, among them Georg Büchner. Gutzkow first published his The death of Danton, the novella Lenz and Leonce and Lena. Even Gutzkow was endangered by governmental persecution, he decided to stay in Germany and at the end of 1835 he was taken into custody and sentenced to four weeks imprisonment. And he was strictly prohibited to publish anything. But
343 he found possibilities to avoid these restrictions. He wrote and published a lot of books and essays. After the exciting experiences oft the year 1848 Gutzkow wrote in a short time a gigantic novel of 4000 pages, called Die Ritter vom Geiste (The nobles of spirit), in which he gave expression his hopes of change. Martin A. Hainz Mehr als ein Syndrom – zu Leopold von Sacher – Masoch (1836 – 1895) Leopold von Sacher-Masoch is well-known, although not as the poet he was – as the thinker and poet of the erotic culture, as one who saw the problem of power in the centre of love and who invented the game of masochism in order to beguile this power. Does his playmate torture the first-person narrator? Does he admit her torture? There seems to be little difference, but stage-management and real sexual dependence separate these questions from oneanother. Sacher-Masoch raises the law against the power of the never-innocent love – and the “law can only be thought about with irony and humor“ (Deleuze). Therein lies the option or the utopia of a love which eventually knows more than only the guilty and the victims. Peter Rietbergen Besinnung auf Felix Dahn Although Felix Dahn (1834 - 1912) has retained his reputation as one of nineteenth-century Germany's greatest historians - both of general history and of legal institutions - his literary fame did not stand the test of time. Of all his novels, plays and poems only Ein Kampf um Rom (1882) still is reprinted frequently and, obviously, read. In my article I try to find out which are the main characteristics of Ein Kampf um Rom, Felicitas (1882) and Im Chiemgau (1896). Dahn is fascinated by the confrontation of the germanic tribes with the Christian-Roman inheritance. Precisely in their fusion he sees the foundation of German and, indeed, European civilization. Though Dahn was accused of antisemitism, my analysis of his work does not bear this out. However, he did take a definite anti-Catholic stance, rejecting the power and influence of the institutional Church as a
344 negative force within contemporary society - and used his novels to show the historical roots of this situation. While today’s readers might still find Dahn’s ideas interesting, and the broad, epic sweep of his novels attractive, they are quite likely to be put off by the lack of psychological motivation of his characters. Hans Ester Otto Roquette kam zur rechten Zeit German author Otto Roquette (1824-1896) became famous overnight. In 1851 Roquette published his fairytale in verses Waldmeisters Brautfahrt which was an immediate success. In his essays Roquettes friend Theodor Fontane explained the exuberant publical reaction to Roquettes fairytale to the general longing for rest and peace in Germany after the revolution of 1848. In my article I intend to show that Otto Roquette was very well aware of the limits of Waldmeisters Brautfahrt and that he tried to find a balance between romanticism and realism. Roquette was not the hero of the timeless idyll. He was a citizen of two worlds, the pre-revolutionary world and the world of the tankengine. His early reputation turned out to be fatal for the later Otto Roquette. But his novelettes and novels are much more interesting than literary history judges today. Guillaume van Gemert Der Dichter als Identifikationsfigur national-kultureller Eigenständigkeit. Zu Adam Müller-Guttenbrunns Lenau-Trilogie (1919 – 1921) Adam Müller-Guttenbrunn (1852-1923) can be regarded as the most prominent literary representative of the German speaking community the so-called „Banater Schwaben“ - in present Rumania. In a great number of literary works, in particular the Götzendämmerung from 1907, he pleads for the interests of the German speaking minority that suffered from the increasing Magyar domination. His trilogy „Lenau, das Dichterherz der Zeit“ - in which the poet Nikolaus Lenau is the main character - includes the novels Sein Vaterhaus (1919), Dämonische Jahre (1920) and Auf der Höhe (1921) and focusses on the same aspect. In these novels Lenau does not really represent the
345 poet, he rather symbolizes, from a German-national view, the specific qualities of the Swabian culture in the Banat. In a time in which this culture is hardly of current interest, also Müller-Guttenbrunn has fallen into oblivion. Peter Delvaux Otto Flake Otto Flake was a well known German author in the twenties and early thirties with roots in Alsace-Lorraine and Baden. His novels, short stories and detectives were partly situated in history. He also wrote on philosophy. During World War II Flake worked in an isolated environment and after the war he was not able to make his comeback. However, we have to conclude that Otto Flake was in principle a very good writer. Martin A. Hainz Verhaltenes Ermöglichen – Zu Alfred Margul-Sperber (1898–1967) Alfred Margul-Sperber’s merrits as a translator and literary agent of the Bukowina-poetry are evident – it is though hard to give an opinion of his literary meaning, if one does not try to understand him in his contradictoriness. For Margul-Sperber was modern, but restraint in his modernism. This tendency to quietness also proved to be a quality, but first of all it is the basic dilemma of this poet. One may still observe this in his translations; he chooses to translate authors from among the modern poets, but he weakens systematically that which seems to have attracted him in his choice. In conclusion, the re-discovery of the poet Margul-Sperber is difficult, but rewarding. Peter Delvaux Waldemar Bonsels Die Biene Maja und ihre Abenteuer is an evergreen, but its author is nowadays nearly unknown and other titles which founded his
346 worldwide fame in the twenties are almost forgotten. What is the reason, and is a revival thinkable? Hanna Delf von Wolzogen Wir ziehen ja doch an einem Strang. Gustav Landauer, ein einsamer Grenzgänger und Europäer Gustav Landauer (1870-1919), the most important German anarchist beside Max Stirner, was one of the few ‚Europäer‘ and consequent opponent of the war. As a main speaker of the German anarchists he took part at the congresses of the Second Socialist International at Zurich in 1893 and at London in 1896, where the Anarchists were expelled. Even though his journal Der Sozialist participated in the anarchist press media network and he himself stood in contact with the leading European anarchists of his time, only a few of his various writings were translated. The article asks for the reasons of his singular position and lines out some topics of his thought, especially his interpretation of diversed nationality. Thomas Eicher Grandseigneur und mehr: Alexander Lernet Holenia (1897 – 1976) The article lines out different aspects of the reborn public and academic interest on Alexander Lernet-Holenia, which was stimulated by the centenary events in 1997. Lernet-Holenia was an important figure in the Austrian literary system of the 20th century. Already in the Twenties and Thirties he was very successful with his comedies and novels. After the war he turned out to be one of the most representative Austrian literarians and finished his career as president of the Austrian P.E.N., which he left in 1972. Actually one of the most characteristic tendencies of the authors rediscovery is the contextualization of his work. The 2003 conference on Lernet discussed his role in post war Austria, and there are still other periods to be investigated, for example the years of World War II.
347 Lars Koch Vom Erzählen ohne Zentrum zum Schweben des Denkens – Friedo Lampes Roman Am Rande der Nacht This essay which was banned by the censors of the NS regime in 1933 focusses on the novel Am Rande der Nacht by Friedo Lampe. In this text, mostly forgotten nowadays, Lampe relates to emotional odysseys and turmoil of a warm summer night in a northern German town. Within his partial description of the cast of characters by means of the performing techniques of fragmentary and polyperspective narration the author tries out the possibilities of a filmic style designing a formaesthetic program of thought without a centre. The tendency typical for this time, namely a totalitarian creation of a comprehensive identity, is undermined in Am Rande der Nacht by using a contingent-sensitive stressing of an open difference. Christiaan Janssen Der Kulturvermittler Friedrich Markus Huebner: Kunst, Literatur und die richtige Lebensführung Friedrich Markus Huebner (1886-1964) is, as opposed to for example Albert Vigoleis Thelen and Georg Hermann, a forgotten mediator between Dutch and German literature and culture. Huebner wrote about several subjects, about art-historical themes as well as literary and quasi-philosophical (‚Lebensführung‘) themes. His document Zugang zur Welt. Magische Deutungen (1929) has even influenced the members of the literary Kolonne circle that searched for a ‚magically realistic‘ way of writing. In Zugang zur Welt Huebner critizes the widespread materialistic worldview and advocates a gnostic way of living. According to Huebner, the author of a literary work should try to ‚describe‘ the magical powers beyond the words that are expressed in the rhythm of the sentences. In Holländer (1955) Huebner projects his gnostic view on Dutch people by claiming that they are excellent observers with an outstanding knowledge of human character. Moreover, their painting proves their visionary powers. Huebner poses that the German people, unstable in their minds and therefore misled in the Third Reich by destructive powers, could learn from the wellbalanced Dutch people.
348 Julia Bertschik „Kolportageliteratur mit Hintergründen“. Zur Problematik literarischer Wertung am Beispiel von Vicki Baum (1888 – 1960) The article presents a general view of Vicki Baums life and work, an author whose literary career brought her to Hollywood. In 1931 her bestseller Menschen im Hotel was put on the screen. Originally Vicki Baum had provided this novel with the ironical and critical title Ein Kolportageroman mit Hintergründen. The washing out of the original title had far reaching consequences for the reception of this novel. Instead of the planned dismantling of the trivial (colportage) books of that time, this very phenomenon stood in the centre of interest on the part of the reader and of rejection from the literary critics. This double reception explains the fact that Vicky Baum was very successful with her readers on the one hand, but was ignored by German literary criticism on the other. Kerstin Schoor Der Journalist und Schriftsteller Leo Hirsch (1903 – 1943) The publicistic and literary work of the journalist, writer, dramaturg and translator Leo Hirsch, born in Posen 1903, appears in many respects exemplaric for the route Eastern-Jewish intellectuals took into European Modernity. His novels, stories, literary reviews and reports, “for the most part master pieces of a talented young man” (Ernst G. Lowenthal), reflect characteristic developments of German speaking culture of the twenties into the early thirties. They describe, over a period of two decades, the advancing destruction of Eastern Jewish reality in the first half of the twentieth century and, after 1933, they become highly significant for the attempt to constitute a Jewish Cultural Circle in national socialist Germany in productively combining Jewish tradition with German culture. The young author distanced himself increasingly from the traditional Eastern Jewish way of thinking, sympathizing, in the early twenties, with Gustav Landauer's critical stance towards society and culture which envisaged a reasonable chance of mediating between Jewish being and modern Western political thinking. After 1933 Hirsch’s literary writings changed Landauer's belief in the possibility of reconstructing a collective identity in the spirit of Martin Buber who, in those years,
349 sought to base Jewish education in Germany on the idea of reconnecting to a people’s “primitive strength” (Buber) as an eternal people of god. Not yet 40 years old, Leo Hirsch died on the tuberculosis ward of the Jewish Hospital in Berlin, in the aftermath of his forced labour. Henk J. Koning Ernst von Houwalds Epik Currently Christoph Ernst von Houwald (1778-1845) is almost exclusively known as a writer of tragedies dealing with fate. Particularly in the period of 1820 to 1830 his plays were performed in numerous theatres and he received wide acclaim as a dramatic talent. Moreover his works were successful outside the boundaries of the German-speaking regions. Not only did his contemporaries appreciate him as a playwright, but he also stood out as an author of juvenile literature. His Buch für Kinder gebildeter Stände (3 vol.) (1819-1824), Bilder für die Jugend (3 vol.) (1828-1832) and Abendunterhaltungen für Kinder (1833) were republished regularly and they were favourably reviewed by none other than the famous Friedrich Sengle, an authority on Biedermeier literature. Houwald’s narrations and fairy tales cannot be detached from the Biedermeier period and they show a strongly moralistic tendency, are often sentimental and have happy endings. Yet they are not only interesting from a literary-historical point-of-view, but they may also fascinate both adult and young readers of today by their lucid use of language and their taking descriptions of everyday situations. Therefore, Houwald deserves a place in the German history of literature for children and young people. Waltraud >Wara< Wende Grenzerfahrungen und Sprachlosigkeit der Protagonisten in der Novellensammlung Nächte von Carl Hauptmann The image of man and the world created by Carl Hauptmann in his collection of novellas published in 1912 are often said to correspond with the vision of man and the world presented in modern literature. While the topics of all three texts included in this collection centre on
350 the loss of autonomy of the individual, the loss of reality and identity of the self, a lack of orientation, the inability to communicate, desperation and alienation, the vanishing of values and the disappearance of certainty could be considered as a reflection of the crisis that had struck the bourgeois value system around 1900. However, Carl Hauptmann’s archaic vision of nature presented in Claus Tinnapel, his esoteric, mythical views on blood relationship and family bonds put forward in Franz Popjel and the religious, transfigured eroticism Hauptmann professed in Ein Später Derer van Doorn, are quite obviously inconsistent with the conceptions of the modern age. This fact as well as many blunders, slips and weaknesses in his style may be the reason why Carl, unlike his brother Gerhart Hauptmann, has not been included in the canon of literature. Gerhard Leyerzapf „Verhängnis Amsterdam“. Grete Weils Schicksal in ihrem Werk Grete Weil (1906-1999) published a small oeuvre of novels and stories, in which her own life plays an important role. Due to her Jewish background, she had to leave Nazi-Germany and lived in Amsterdam until the end of the war. During the German occupation she lost her husband, who was murdered in a concentration camp, worked for the “Jewish Council”, where she cared for prisoners waiting for deportation and finally had to hide underground for nearly two years. Since her first publication, a clandestine pamphlet on the murder of threehundred Jewish men in Mauthausen, among them her own husband, she was determined to bear witness of what she experienced, but struggled to find the proper literary way for it. In her first works she keeps a clear distance from her subject. Later she developed her own method of mixing her memories with her actual experiences in postwar Germany, where she returned in 1947. In her work she describes the Naziterror, her feelings of guilt about what she did during this period and also her difficulties as a writer, to find the right words to describe what happened. With her novel Meine Schwester Antigone she reached at last a broader public In this book she compared Antigone as known from the greek myth with her own behavior during the war. With her light-footed style and her frank, open-minded approach she enables her readers to understand more about the past.
351 Natalia W. Pestova Wilhelm Runge: „Das Denken träumt“ Typological features of expressionist literature in Germany find reflection in the works of the „poetae minores“. The German poet Wilhelm Runge (1894 - 1918) - mostly known for his publications in the Berlin journal Sturm (1912 -1916) - also adheres to this kind of „poetae“. The unique character of his poetry is manifest in a peculiar synthesis of tradition and innovation. The short creative life of the poet is typical for the expressionist generation. Jattie Enklaar Sophie van Leer (1892–1953): „Und gleich einem Blitz ist eines Tages die Erkenntnis in mein Hirn geschlagen“ By using two biographies of Huussen Jr. (1997) and Poorthuis & Salemink (2000) the author of this article introduces the most interesting period of the life of Sophie van Leer to a larger audience. In this turbulent period of her life, in which Sophie van Leer lived as a beginning expressionist artist in Berlin, the great change which she describes in her autobiography (1919) occurred. Influenced by war and violence, imprisoned during the Munich revolution, her conversion to the Roman Catholic religion did not only determine the rest of her life, but it was also the end of a struggle between the ideal conception of art and religion. Lotti de Wolf-Pfändler Johanna Spyri (1827– 1901). Anlässlich einer neueren Biographie An exhibition held in Zürich in 2001 and an accompanying biography commemorated the hundredth anniversary of the death of Johanna Spyri, author of the famous Heidi. Primary sources happen to be rare, but some recently published material has helped revise the received view, which identified the author’s character with those of her literary creations in a somewhat naïve way. The article summarizes the main points of her biography and deals briefly with some aspects of the international success of Heidi.
352 DIE AUTOREN UND HERAUSGEBER Julia Bertschik (1964) Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in Erlangen-Nürnberg und Berlin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB Germanistik der FU Berlin, Privatdozentin am FB Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin, Gastprofessur an der Beijing University in Peking; Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Kultur- und Motivgeschichte, Diskursanalyse, Gender Studies; Veröffentlichungen zu Spätromantik, Realismus, Poetiken des Nebensächlichen und zum Verhältnis von Mode und Moderne in der Literatur. Anschrift: Schudomastr. 42, D-12055 Berlin, E-mail: [email protected] Hanna Delf von Wolzogen (Berlin 1951) Studium der Philosophie, Germanistik und Psychoanalyse in Gießen, Frankfurt a.M. und Heidelberg. 1985–1988 Forschungsaufenthalt in Jerusalem, wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Duisburg, Potsdam und der Freien Universität zu Berlin, seit 1996 Direktorin des TheodorFontane-Archivs in Potsdam, Herausgabe der Briefe Landauers (FU Berlin). Publikationen zur deutschen und deutsch-jüdischen Literatur und Philosophie und zu Fontane, u. a.(Hrsg.) Gustav Landauer - Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890–1919. München: C. H. Beck 1994, (Hrsg.) Gustav Landauer: Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie, Judentum (Werkausgabe 3). Berlin: Akademie 1997. Anschrift: Helmholtzstraße 13, D-14467 Potsdam. E-Mail: [email protected] Peter Delvaux (1931) studierte Germanistik, Indogermanistik und Zeitgeschichte in Utrecht, Berlin (FU) und Tübingen. Lehramt in Utrecht. Promotion in Amsterdam (VU) über Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, in deren Folge zwei Bücher zu diesem Thema. Aufsätze über Goethe, Tragödie, Zeit- und Kulturgeschichte. Anschrift: Trekvogelweg 68 G, NL-3815 LS Amersfoort. Thomas Eicher (Heidelberg 1963) Studium der Germanistik und Anglistik an der Ruhr-Universität Bochum; M.A. 1990; Promotion 1993; nach diversen Stipendien und Lehraufträgen 1996-2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Dortmund; 2001-2003 Leiter des Auslandsinstituts der Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen in Dortmund. Zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen zur Leserforschung, zur
353 Hochschuldidaktik sowie zur Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, Schwerpunkt: österreichische Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts; u.a. Mithrsg. der Bde.: Alexander Lernet-Holenia (1999), Im Zwischenreich des Alexander Lernet-Holenia (2000), Personalbibliographie Alexander Lernet-Holenia (2001), SchuldKomplexe (2004). Mitherausgeber mehrerer Buchreihen, Vorstandsmitglied der Internationalen Alexander Lernet-Holenia Gesellschaft und der Gesellschaft für österreichische Literatur und Kultur. Anschrift: Querstr. 32, D-44139 Dortmund. E-Mail: [email protected] Jattie Enklaar (1942) Dozentin für Deutsche Literatur an der Universität Utrecht. Promotion 1984: Adalbert Stifter. Landschaft und Raum. Publikationen u.a. über: Franz Kafka, Hermann Broch, Georg Trakl, Christine Lavant, Ludwig Hohl. Űbersetzungen aus dem Deutschen und Russischen. Anschrift: Muurhuizen 11, NL-3811 EC Amersfoort. E-Mail: [email protected] Claudia Erdheim (Wien 1945) Studium der Philosophie und Logik in Wien, München und Kiel. 1984 erschien mein erster Roman Bist du wahnsinnig geworden?, 1985 mein zweiter Herzbrüche. Szenen aus der psychotherapeutischen Praxis. Seither freie Schriftstellerin. Anschließend erschienen weitere Romane und Erzählungen. Zwischen 1996 und 1998 hielt ich mich anderthalb Jahre in Russland auf, worüber ich auch zwei Bücher publizierte. Zur Zeit arbeite ich an einem großen Projekt: ein historischer Roman, eine Familiensaga über eine jüdische Familie aus Galizien in der Zeit von 1874 bis 1945. Anschrift: Höhnegasse 19/5, A- 1180 Wien E-Mail: [email protected] Hans Ester (1946) lehrt Literaturwissenschaft an der Katholieke Universiteit Nijmegen. Er studierte Germanistik und Theologie in Amsterdam und Tübingen. Schwerpunkte seiner Forschung: Hermeneutik, Theodor Fontane im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts, deutschsprachige schweizerische Literatur, südafrikanische Literatur. Letzte Veröffentlichungen: Die blou berg wil ek oor (Amsterdam 2003, Anthologie südafrikanischer Lyrik, zus. mit Lina Spies), In de ban van Nietzsche (Budel 2003, zusammen mit Meindert Evers). Anschrift: Wisentstraat 1, NL-6532 AN Nijmegen. E-Mail: [email protected]
354 Guillaume van Gemert (1948) studierte Germanistik in Nijmegen sowie Jura in Utrecht. 1979 Promotion zum Dr. Phil. Seit 1976 am Germanistischen Institut der Katholieke Universiteit Nijmegen tätig, seit 1984 als Associate Professor für deutsche Gegenwartsliteratur, seit 1995 als Ordinarius für deutsche Literaturwissenschaft. Gastprofessuren in Wien (1987, 1996), Graz (1997) und Duisburg (2000, 2002). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit, deutsche Gegenwartsliteratur, deutsche Literatur im europäischen Kontext, deutsch-niederländische Kultur- und Literaturbeziehungen. Anschrift: Radboud Universiteit Nijmegen, Afdeling Duitse Taal en Cultuur, Postbus 9103, NL-6500 HD Nijmegen. E-mail: [email protected] Martin A. Hainz (Wien 1974) nach Österreich-Lektorat in Rumänien und Mitarbeit am Projekt „Literatur im Kontext“ derzeit Universitätsassistent an der Universität Wien. Forschungs-schwerpunkte: Habilitationsprojekt zu Klopstock, österreichische Gegenwartsliteratur, Literatur der Bukowina, „Lyrik nach Auschwitz“, Literaturtheorie. Zuletzt erschien: Masken der Mehr-deutigkeit. Celan-Lektüren mit Adorno, Szondi und Derrida (Braumüller ²2003). Anschrift: Universität Wien · Institut für Germanistik, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 WIEN. E-mail: [email protected] ; http://de.geocities.com/martinhainz/ Christiaan Janssen (1972) studierte Duitsland-Studies (Deutschlandstudien) an der Universiteit Nijmegen und ist dort seit 1997 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Zudem arbeitet er als Dozent an einer Privatschule und als freiberuflicher Übersetzer. Querverbindungen zwischen niederländischer und deutscher Kultur 1918-1945 bilden den Forschungsschwerpunkt. 2003 erschien die Dissertation Abgrenzung und Anpassung. Deutsche Kultur zwischen 1930 und 1945 im Spiegel der Referatenorgane Het Duitsche Boek und De Weegschaal. Anschrift: Radboud Universiteit Nijmegen, Afdeling Duitse Taal en Cultuur, Erasmusplein 1, NL-6500 HD Nijmegen. E-mail: [email protected] Lars Koch (1973) studierte von 1994 bis 2001 Allgemeine Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Universität Siegen. Von Sommer 2001 bis Frühjahr 2004 Promotionsstipendium an der Rijksuniversiteit Groningen, Titel der Promotion: Der Krieg als Medium der Gegenmoderne – Zu den Werken von Walter Flex und
355 Ernst Jünger, Würzburg 2004 (im Druck). Seit August 2004 Post-docStipendiat der Onderzoekschool Geesteswetenschappen Groningen. Projekttitel: „Bildungskonzepte nach 1945. Der Topos ‚Jugend‘ im diskursiven Spannungsfeld von Nationalkultur und Amerikanisierung, Elitenkunst und Konsumorientierung“. Anschrift: Rijksuniversiteit Groningen, Faculteit der Letteren, Oude Kijk in ’t Jatstraat 26, Postbus 716, 9700 AS Groningen. E-mail: [email protected] Henk J. Koning (1952) Studium der Germanistik in Groningen; Promotion 1987 in Utrecht mit Carl Wilhelm Salice Contessa. Ein Schriftsteller aus dem Kreis um E.T.A. Hoffmann. Veröffentlichungen zur deutschen und niederländischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts: Multatuli, Potgieter, E.T.A. Hoffmann, Nestroy, Holtei und Horváth. Buchausgaben (Hrsg.): Carl Wilhelm Salice Contessa. Erzählungen und Märchen (1990) und Karl von Holtei. Ausgewählte Werke. Bd. I (1992 zus. mit J. Hein). Neuere Publikationen (Auswahl): Die Welt als Labyrinth bei Dürrenmatt und Nestroy (2001), Holteis Epik. Überlegungen zur Spätphase seines künstlerischen Schaffens (2003), Horváth’s ‚Revolte auf Côte 3018‘ und Gerhart Hauptmanns ,Die Weber′ (2003), E.T.A. Hoffmann in Holland. Neue Funde (2003), Karl von Holtei (1798-1880). Ein schlesisches Multitalent (2004). Derzeit Dozent für Deutsch an einem Gymnasium in Kampen. Anschrift: Bosrand 27, NL-3881 GS Putten E-mail: [email protected] Gerhard Leyerzapf (Mainz 1952) Buchhandelslehre und Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Frankfurt/Main. 1976 Studienabbruch und Übersiedlung nach Amsterdam. Seitdem als Antiquar tätig. Veröffentlichung: „Zur jüdischen Frage. Eine verschollene Erstausgabe von Thomas Mann.“ In: Aus dem Antiquariat Jg.2000, H.5 (S.300-303). Anschrift: Brouwersgracht 4, 1013 GW Amsterdam E-Mail: [email protected] Klaus-Peter Möller (1960) Studium in Sofia, arbeit an verschiedenen Projekten, seit 1998 Archiv Potsdam (www.fontanearchiv.de) als besonders an Literatur der Frühen Neuzeit,
später Potsdam, Mitim Theodor-FontaneArchivar, interessiert Lexik der deutschen
356 Sprache, Literatur des 19. Jahrhunderts. Buchausgaben: Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache, Berlin: Lukas Verlag 2000 Hrsg.: Theodor Fontane: Der Stechlin. Berlin: Aufbau Verlag 2001 (Große Brandenburger Ausgabe) Anschrift: Postfach 601144, D-14411 Potsdam E-Mail: [email protected] Natalia W. Pestova (Nishnij Tagil, Gebiet Swerdlowsk, Russland 1958) 1975–1980 Germanistikstudium am Moskauer Maurice-ThorezInstitut für Fremdsprachen; 1986 Promotion: Grammatische Norm des poetischen Textes; seit 1986 Dozentin an der St. Pädag. Universität Jekaterinburg; 2000 Habilitation an der St. Päd. Univer-sität Jekaterinburg mit der Monographie: Deutsche expressionistische Lyrik: Fremdheitsprofile; seit 2001 Professorin an der St. Pädag. Universität Jekaterinburg; Lehrstuhl für deutsche Philologie; Schwerpunkte in der Lehre und Forschung: Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie, vergleichende Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft; Mitwirkung im Verband der russischen Germanisten, Mitglied eines Arbeitskreises für internationale Expressionismusforschung am Moskauer Gorkij-Institut für Weltliteratur; etwa 100 Publikationen und mehrere Vorträge zur Poetik, Ästhetik und Philosophie des deutschsprachigen und russischen Expressionismus. Anschrift: 620142 Jekaterinburg – 142, Postfach 476, Russland E-Mail: [email protected] Peter Rietbergen (1950) studierte in Nijmegen, Paris und Rom. Seit 1992 ist er Professor für die Geschichte der Kontakte zwischen Europa und der aussereuropäischen Welt. Seit 2001 ist er ebenfalls Ordinarius für Kulturgeschichte nach dem Mittelalter an der Radboud Universiteit Nijmegen. Veröffentlichungen: Pausen, prelaten, bureaucraten (diss., Nijmegen 1983); De eerste landvoogd: Pieter Both (Zutphen 1987, 2 delen); Dromen van Europa (Amersfoort 1993); Geschiedenis van Nederland in Vogelvlucht (Amersfoort 1993, et cetera); A Short History of the Netherlands (Amersfoort 1993, 2000); Europe. A Cultural History (Londen 1998); De retoriek van de Eeuwige stad: Rome gelezen (Nijmegen 2003); Japan verwoord. Nihon door Nederlandse ogen, 1600-1800 (Amsterdam 2003). Außer Hunderten von Artikeln veröffentlichte er unter dem Pseudonym Nicolaas Berg den historischen Roman Dood op Deshima (Amsterdam 2001).
357 Anschrift: Afdeling Geschiedenis, Radboud Universiteit Nijmegen, Postbus 9103, NL - 6500 HD Nijmegen. E-Mail: [email protected] Kerstin Schoor (1963) Dr. phil., Studium der Germanistik an der Humboldt Universität Berlin, 1988/89 freiberuflich, Promotion zur „Verlagsarbeit im Exil“ (1989, Amsterdam 1992), ab Sept. 1989 wiss. Aspirantin an der Akademie der Wissenschaften der DDR, seit 1993 wiss. Assistentin an der Freien Universität Berlin, Veröffentlichungen und Forschungen zum 20. Jahrhundert, zur Lyrik, zur Literatur des antifaschistischen Exils sowie zu deutsch-jüdischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Anschrift: FB Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie,Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin. E-Mail-Adresse: [email protected] Karl WJM Tax (’s-Hertogenbosch 1939) Studium der Germanistik an der „Katholieke Universiteit Nijmegen“ 1962-1969, davon zwei Semester - WS 1966/67 und SS 1967 - an der Johannes-GutenbergUniversität Mainz. Von 1966 bis 1998 Gymnasiallehrer Deutsch am „Mgr. Zwijsencollege Veghel“. Promotion 1996 an der „Universiteit van Amsterdam“ mit der Dissertation Das Janota-Officium. Geschichte und Sprache eines ripuarischen Stundenbuches. Im Jahre 1997 Teilnahme am International Medieval Congress der University of Leeds. Veröffentlichungen: „Das Schicksal einer mittelalterlichen Handschrift“ in: Romerike Berge, Zeitschrift f.d. Bergische Land, 41. Jrg., Heft 1: 1-4, März 1991; hrsg. vom Schlossbauverein Burg a.d. Wupper und dem Bergischen Geschichtsverein. Im September 1997 erschien der Artikel „Denn, was schlummert, ist noch da ...“, in Ons Geestelijk Erf, Bd. 71, Lfg. 3: 205-214. Universitaire Faculteiten Sint-Ignatius, Antwerpen. Ein weiterer Artikel mit dem Titel: „‚VERLORENES‘ GEFUNDEN. Zwei Varianten des mittelalterlichen Liedtextes ‚Och starcker got‘ - eine niederrheinisch/ ripuarische und eine oberrheinische“, harrt noch der Veröffentlichung, ebenfalls in Ons Geestelijk Erf. Anschrift: Antoon Coolenstraat 2, NL-5473 AZ Heeswijk [N.B.] E-Mail: [email protected]
358 Lotti de Wolf-Pfändler (Zürich 1944) studierte Deutsche Sprachund Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht, wo sie 1993 ihr Studium abschloss. Anschließend war sie an dieser Universität einige Jahre als Dozentin für deutsche Sprache und Literatur tätig. Sie publizierte in der Duitse Kroniek 48 (1998) einen Aufsatz über die Sprachsituation in der Schweiz. Anschrift: Zuilenstraat 12B, NL-3512 ND Utrecht.
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Perspektiven der Philosophie.
Neues Jahrbuch Band 30 – 2004.
Begründet von Rudolph Berlinger †. Herausgegeben von Wiebke Schrader, Georges Goedert, Martina Scherbel. Amsterdam/New York, NY 2004. 391 pp. ISBN: 90-420-1913-1
€ 80,-/US $104.-
Inhalt I Sein und Wirklichkeit Friedrich-Wilhelm von HERMANN: Die innermonadische Zeitlichkeit in der Monadologie Murray MILES: Überlegungen zum Metaphysik-Begriff Kants Thomas LEINKAUF: Sein-Können, Tat, Existenz : Aspekte von Schellings Hegel-Kritik in der Weltalter-Philosophie Damir BARBARIĆ: Die Heisenbergsche Unschärferelation im Kontext philosophischer Gedankengänge II Seinswert und Seinsmangel Jorge USCATESCU BARRÓN: Das Wesen des Schlechten als privatio boni. Zur Frage seiner Bestimmung Bernd IRLENBORN : Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen Sigbert GEBERT: “Für die Wenigen – Für die Seltenen”. Heideggers Zeitdiagnose, Technikkritik und der “andere Anfang” III Person und Gemeinschaft Thomas BERRES: Personalität und Sprache bei Homer Edgar FRÜCHTEL: Subjekt und Person als Ermöglichung von Weltzuwendung in Wissenschaft und Technik. Einige Bemerkungen zu diesem Problemfeld Nikolay MILKOV: Leo Tolstois Darlegung des Evangelium und seine theologisch-philosophische Ethik Heinz-Gerd SCHMITZ: Der ‘permanente Staatencongress’ – die internationalen Beziehungen im rechtsphilosophischen Denken Kants Mirko WISCHKE: Die Institutionen der Freiheit und die Sprache der Politik. Über mögliche Reaktualisierungspotentiale von Hegels Rechtsphilosophie
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Erotik, aus dem Dreck gezogen Herausgegeben von Johan H. Winkelman und Gerhard Wolf Amsterdam/New York, NY 2004. 331, 16 pp. (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 59) ISBN: 90-420-1952-2
€ 70,-/US $ 95.-
Inhalt: Vorwort H.J.E. van BEUNINGEN: Zum Auffinden und Sammeln von Realien, Eröffnungsrede zum Kongreß “Spätmittelalterliche Insignien aus den Niederlanden in ihrem kulturhistorischen Kontext” Wolfgang BEUTIN: “Das nerrisch tut vil manig man,/ der sich des schamt ein ander zeit”. – Zur Problematik des Obszönen im Mittelalter Marija Javor BRIŠKI: Eine Warnung vor dominanten Frauen oder Bejahung der Sinnenlust? Zur Ambivalenz des ‘Aristoteles-und-Phyllis-Motivs’ als Tragezeichen im Spiegel deutscher Dichtungen des späten Mittelalters Walter HAUG: Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter Gaby HERCHERT: Wer trägt des Pfaffen Schand’ am Hut? Deutungen erotischer Tragezeichen aus literarischen und rechtlichen Perspektiven Malcolm JONES: Sacred and Profane: Reinforcement and Amuletic Ambiguity in the Late Medieval Lead Badge Corpus Erika LANGBROEK: Die Jungfrau und das Wilde Tier in der Erzählung ‘Valentin und Namelos’ Sebastiaan OSTKAMP: Profane Insignien und die Bildsprache des Spätmittelalters: Die Welt christlicher Normen und Werte steht Kopf Norbert H. OTT: Zwischen Literatur und Bildkunst. Zum ikonographischen Umkreis der niederländischen Tragezeichen Stefanie STOCKHORST: Offene Obszönität. Bedeutungsangebote der Geschlechtsdarstellungen profaner Tragezeichen im kulturellen Kontext Hans Rudolf VELTEN: Groteske Organe. Zusammenhänge von Obszönität und Gelächter bei spätmittelalterlichen profanen Insignien im Vergleichen zur Märenliteratur Johan H. WINKELMAN: Des Müllers Lust. Spätmittelniederländische Müllerinsignien in ihrem literaturhistorischen Kontext Gerhard WOLF: Phallus am Grillspieß und Vulva auf Stelzen. Überlegungen zur kommunikativen Funktion erotischer und obszöner Tragezeichen aus den NiederlandenBESPRECHUNGEN
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Traiano Boccalini und der Anti-Parnass
Frühjournalistische Kommunikation als Metadiskurs Bettina Bosold-DasGupta
Amsterdam/New York, NY 2005. 153 pp. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 82) ISBN: 90-420-1624-8
€ 35,-/US $ 47.-
Mit den Ragguagli di Parnaso (1612) verfasste der italienische Jurist Traiano Boccalini einen europäischen Bestseller des 17. Jahrhunderts: 120 Editionen, darunter Übersetzungen ins Deutsche, Niederländische, Englische, Französische, Spanische und Lateinische sowie knapp 200 Nachahmungen in mehreren europäischen Sprachen. W ie kam es zu diesem bahnbrechenden Erfolg? Die vorliegende Untersuchung betrachtet die literarhistorischen und ästhetischen Voraussetzungen der Berichte vom Parnass, die sich im Grenzbereich von traditioneller Dichtung und frühem journalistischen Schreiben konstituieren. Zeitgenössische Lebenserfahrung und idealisierte Welt der Künste und Wissenschaften treten sukzessive in einem Gattungsmodell zusammen, das die medientechnischen Neuerungen, die gesellschaftlichen Umbrüche sowie die literarästhetischen Innovationsbestrebungen der Epoche prägnant erfasst.
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Konversionen
Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive
Herausgegeben von Iris Därmann, Steffi Hobuß, Ulrich Lölke Amsterdam/New York, NY 2004. 259 pp. (Studien zur Interkulturellen Philosophie 13) ISBN: 90-420-1953-0
€ 50.-/US $ 67.-
Unter dem Begriff der Konversionen erkundet dieser kulturwissenschaftliche Band Formen einer Umkehrung, die einsetzt, wenn die Erfahrung des Beobachtetwerdens als zentraler Bestandteil von Fremderfahrungen anerkannt wird. In den versammelten Texten wird ausgeführt, wie diese aus der ethnologischen Feldforschung gewonnene Erinnerung als Vorbild für andere disziplinäre Perspektiven dienen kann. Die Ethnologie liefert dabei den viel zu lange vernachlässigten Hinweis auf die Wichtigkeit des Blicks des anderen in der Fremderfahrung; die philosophische Perspektive auf interkulturelle Dialoge liefert den Hinweis auf die Wichtigkeit des Sprechens des anderen. Aus diesen Hinweisen ergeben sich Ansprüche an ethnographische und literarische Texte und an andere wissenschaftliche Disziplinen sowie an eine angemessene Lektürepraxis. Die Texte des vorliegenden Bandes versuchen, diese Ansprüche exemplarisch einzulösen. Sie zeigen in einer neuartigen interdisziplinären Zusammenstellung sowohl einzelne Fälle der Umkehrung von Blickrichtungen als auch das Prinzip der Kritik und Erweiterung einer eurozentristischen Philosophie durch die Einführung einer ethnologischen und interkulturellen Perspektive.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik und ihre Umsetzung in die Prosa in Mexiko
Die Verarbeitung der französischen Literatur des fin de siècle Andreas Kurz
Amsterdam/New York, NY 2005. 254 pp. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 83) ISBN: 90-420-1724-4
€ 50,-/US $ 65.-
Das vorliegende Buch zeichnet die Herausbildung einer Dekadenzästhetik der Jahrhundertwende im Mexiko des Porfiriats nach. Aus historischen Gründen konnte es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mexiko nicht zur Entstehung einer der europäischen Bewegung vergleichbaren Romantik kommen. Erst mit einer Verspätung von etwa 50 Jahren wurden bis dahin vernachlässigte Tendenzen der französischen und deutschen Romantik rezipiert. Diese Aufnahme fiel zeitlich mit dem Erfolg der französischen Literatur nach Baudelaire zusammen. Eine Mischung diverser Ismen, die in Mexiko als homogener dekadenter oder im weitesten Sinne moderner Block verstanden wurden, führte zur Durchsetzung des Modernismo im Lande, der sich nicht zuletzt in den beiden großen Zeitschriften der Bewegung – Revista Azul und Revista Moderna- manifestierte. Die Besprechung dieser beiden Organe, sowie die Analyse der wichtigsten erzählerischen Werke des Modernismo in Mexiko bilden den Kern des Buches, das auch ein Beispiel für Saids „Reise der Ideen“ bereitstellen möchte. Der Modernismo als erste unabhängige literarische Bewegung Lateinamerikas wird als eigentliche Romantik des Kontinents interpretiert, die erst durch die Internationalisierung der Kultur und –in Mexiko- die komplexe soziale und politische Konstellation der belle époque unter Porfirio Díaz möglich wurde. USA/Canada: One Rockefeller Plaza, Ste. 1420, New York, NY 10020, Tel. (212) 265-6360, Call toll-free (U.S. only) 1-800-225-3998, Fax (212) 265-6402 All other countries: Tijnmuiden 7, 1046 AK Amsterdam, The Netherlands. Tel. ++ 31 (0)20 611 48 21, Fax ++ 31 (0)20 447 29 79 www.rodopi.nl [email protected] Please note that the exchange rate is subject to fluctuations
Seelenarbeit an Deutschland Martin Walser in Perspective
Edited by Stuart Parkes and Fritz Wefelmeyer Amsterdam/New York, NY 2004. VII, 470 pp. (German Monitor 60) ISBN: 90-420-1993-X
Bound € 96,-/US $ 130.-
The last decade has undoubtedly been the most controversial in the long literary career of Martin Walser. This volume presents a review of this career, going far beyond short-lived arguments to present an insightful overview of much of his work. It considers not only major aspects of his writing, covering both his literary beginnings and the most recent works, but also different, previously neglected features of his persona and his writing, namely his activity as a university teacher and his art criticism. In addition, fruitful comparisons are made with other writers, such as Proust, Grass and Uwe Johnson. At the same time, recent controversies are also considered with major attention being paid to Walser’s public speeches and those works of fiction which have been seen by some as demanding the end of German self-recriminations over the Nazi past. This volume is unique in that much space is devoted to both sides of the argument. It will provide stimulating reading to all those interested in Germany and German literature. Editions Rodopi BV
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Artistic Research Edited by Annette W. Balkema and Henk Slager
Amsterdam/New York, NY 2004. 184 pp. (Lier en Boog Series 18) ISBN: 90-420-1097-5 ISBN: 90-420-0920-9 (Textbook)
€ 40,-/US$ 52.€ 18.50/US$ 24.-
Currently, advanced art education is in the process of developing (doctorate or PhD) research programs throughout Europe. Therefore, it seems to us urgent to explore what the term research actually means in the topical practice of art. After all, research as such is often understood as a method stemming from the alpha, beta or gamma sciences directed towards knowledge production and the development of a certain scientific domain. How is artistic research connected with those types of scientific research, taking into account that the artistic domain so far has tended to continually exceed the parameters of knowledge management? One could claim that the artistic field comprises the hermeneutic question of the humanities, the experimental method of the sciences, and the societal commitment of the social sciences. Will that knowledge influence the domain, the methodology, and the outcome of artistic research? Another major topic concerns not only the specificity of the object of knowledge of artistic research but above all whether and how artistic research and its institutional programs will influence topical visual art, its artworks and its exhibitions. These complex problematics with their various points of view and management models are mapped out through the contributions of theorists, curators, and institutions, from Belgium, France, Great-Britain, Italy, The Netherlands, Finland, Germany, and Sweden. May these contributions be a constructive impetus for a versatile debate which may influence the future role of advanced art institutions and the position of artistic research in the next decade.
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Natur und Freiheit.
Eine Untersuchung zu Kants Theorie der Urteilskraft. Jyh-Jong Jeng Amsterdam/New York, NY 2004. IX, 337 pp. (Elementa 78) ISBN: 90-420-1059-2
€ 70,-/US$ 88.-
Die vorliegende Studie zeigt, inwieweit Kant in der Kritik der Urteilskraft versucht, die Prinzipien der theoretischen und der praktischen Philosophie durch das bloß subjektive transzendentale Prinzip der Urteilskraft zu einem System zu verbinden. Auf der Sachebene steht damit das Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit im Zentrum der Untersuchung. Viele Kantinterpretationen betrachten diesen Übergang entweder als unmöglich oder suchen die Möglichkeit einseitig unter der Perspektive der moralischen Freiheit zu klären. Dagegen setzt der Verfasser auf eine eingehende Analyse der Selbstgesetzlichkeit der Urteilskraft in ihrer Struktur und Funktion und legt damit eine Gesamtinterpretation der Kritik der Urteilskraft vor, die sich an alle wendet, die ein intensives Kantstudium anstreben. In der Bestimmung der Urteilskraft als Vermögen der „Darstellung“ und „Reflexion“, was mit der innerteleologischen Auffassung der Kantischen Vernunft übereinstimmt, welche die Vernunftkritik voraussetzt, tritt der Zusammenhang mit der ästhetischen Urteilskraft deutlich hervor. Als ausführende Instanz der Vernunftprinzipien bringt die Urteilskraft in ihrem reflektierenden Wirklichkeitsbezug das Zusammenwirken der Erkenntnisvermögen ans Licht. Die Einheit der drei Kritiken sowie die Einheit der beiden Hauptteile der Kritik der Urteilskraft selbst lassen sich nicht nur dadurch begreiflich machen, sondern der Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen gewinnt auch eine pragmatische Bedeutung im Kantischen Sinne.
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Theatrical Events
Borders - Dynamics – Frames Edited by Vicky Ann Cremona, Peter Eversmann, Hans van Maanen, Willmar Sauter and John Tulloch Amsterdam/New York, NY 2004. VI, 398 pp. ISBN: 90-420-1068-1
Paper € 85,-US$ 106.-
Theatrical Events. Borders, Dynamics and Frames is written to develop the concept of ‘Eventness’ in Theatre Studies. The book as a whole stresses the importance of understanding theatre performances as aesthetic-communicative encounters of a wide range of agents and aspects. The Theatrical Event concept means not only that performers and spectators meet, but also that the specific mental sets, backgrounds and cultural contexts they bring in, strongly contribute to the character of a particular event. Moreover, this concept gives space to the study of the role societal developments - such as technological, political, economical or educational ones - play in theatrical events. The book is written by a group of theatre scholars, members of The International Federation for Theatre Research and since 1997 unified in the IFTR/FIRT Working Group ‘Theatrical Event: Production, Reception, Audience Participation and their Interrelationships’.
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