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Seewölfe 224 1
John Curtis 1.
Die Insel hatte keinen Namen. Aber die Menschen, die sie kannten und die in ihrer Nachbarschaft lebten, hielten sich fern von ihr. Denn auf jener Insel herrschte Kali, die mächtige schwarze Göttin des Todes. Kaltes, silbernes Mondlicht ergoß sich über die großen Steinquader, die den Vorplatz des Tempels bildeten. Nebelschwaden zogen über das dunkle Wasser des Ganges, das sich träge an den Ufern der Insel vorbeiwälzte und durch das Ganges-Delta in den Golf von Bengalen strömte. Asanga, der oberste Priester der Todesgöttin Kali, verharrte bewegungslos auf den Steinquadern. Sein hageres Gesicht war zur Maske erstarrt, nur in den schwarzen Augen brannte ein unheilvolles, fanatisches Feuer. Seine Blicke waren starr auf die Trümmer einer schwarzen Götterstatue gerichtet, die einst den Vorplatz des Tempels geschmückt. hatte. Geschmückt und bewacht. Denn niemand durfte es wagen, das Reich Kalis zu betreten ohne die Erlaubnis ihrer obersten Priester. Oder der Zorn der Todesgöttin traf den Frevler und tötete ihn. Asanga schloß für einen Moment die Augen. Was geschehen war in jener Vollmondnacht, das erschien ihm so ungeheuerlich, daß er es trotz seiner gewaltigen geistigen Kräfte, die ihn zum absoluten Herrscher dieser Insel gemacht hatten, nicht schaffte, den ohnmächtigen Zorn und den grenzenlosen Haß, der in ihm tobte, zu bändigen und seine sonstige Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Asanga öffnete die Augen wieder. Da lag sie vor ihm auf den Quadern. Ihr Leib war zerschmettert, einer ihrer sechs Arme, deren Hand noch den Totenschädel hielt, der sich einst im Wind der mondhellen Nächte im - Tanz des Todes hin und her bewegt hatte, lag mehrere Meter von ihrem geborstenen Haupt entfernt auf den Steinquadern. Ihre Beine, erstarrt im rasenden Tanz auf dem Leichnam ihres Gatten Schiwa, ragten als Stümpfe in die mondhelle Nacht.
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Wieder schloß Asanga die Augen. Solange die Welt bestand, solange Kali über die Toten herrschte, war noch nie ein solcher Frevel geschehen. versuchte krampfhaft, sich die Ereignisse jener entsetzlichen Nacht wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es war eine Nacht gewesen wie diese. Die Pansigare Asangas, die Würger, waren wie in jeder Vollmondnacht mit ihren Seidenschlingen unterwegs gewesen, um Opfer für Kali zu finden und auf die Insel zu bringen. Denn Kali hatte ihren Dienern befohlen, ihr in jeder Neumondnacht Menschenopfer zu bringen. Brachten die Pansigare keines, dann traf zwei von ihnen das Los, und sie starben tief im Innern des Tempels, dort, wo die riesige Statue der Göttin stand. Jene Statue. gegen die diese hier draußen vor dem Tempel ein Nichts war. Asanga hatte sich auf einem seiner Rundgänge durch das Tempelgelände befunden, als im Mondlicht plötzlich die Silhouette eines riesigen Schiffes auftauchte, sich durch die wabernden Nebel über dem Ganges der Insel näherte und schließlich Anker warf. Asanga hatte seinen Rundgang unterbrochen und die Fremden beobachtet. Es dauerte nicht lange, und sie ließen ein Boot zu Wasser. Kurz darauf näherten sie sich der Insel. Asanga knirschte vor Zorn mit den Zähnen, als er allein an diesen Frevel dachte. Aber nicht nur das, sie betraten die Insel der Todesgöttin. Ein Priester der Fremden, der ein großes goldenes Kreuz in den Händen hielt, mehrere Offiziere des fremden Schiffes, außerdem aber noch zehn schwer bewaffnete Seesoldaten. Asanga kannte sich aus. Er war in den großen Häfen seines Landes gewesen und hatte die Fremden oft genug beobachtet. Er wußte nicht, was sie tun würden, aber er war sicher, daß es ihnen nicht gelingen würde, ins Tempelinnere einzudringen, dafür war gesorgt. Aber Asanga war sich ebenfalls völlig im klaren darüber, daß er ohne seine Pansigare gegen die Fremden nichts unternehmen konnte. Gar nichts,
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denn sie würden ihn erschießen mit ihren Musketen. Der Priester der Fremden stutzte, als er die Göttin Kali erblickte. Aber dann verzerrte sich sein Gesicht. Er hielt sein Kreuz mit beiden Händen der Todesgöttin entgegen, während er und die Offiziere sich langsam zurückzogen. Sie schienen die Gefahr, die von dieser Göttin ausging, zu spüren. Und in diesem Moment hatte Asanga in seinem Versteck, aus dem er die Weißen beobachtete, gelacht. Ja, hatte er gedacht, sie sollten sich nur hüten! Oder der Zorn Kalis würde sie vernichten, alle! Fast überhastet hatten sie die Insel wieder verlassen, und Asanga hatte nie mehr in Erfahrung bringen können, warum sie überhaupt auf der Insel des Todes gelandet waren. Aber dann, das große Schiff hatte bereits den Anker gehievt und die Segel waren ebenfalls gesetzt, geschah das Entsetzliche. Auf der großen Galeone blitzte es auf. Das Donnern der Geschütze drang zu Asanga herüber, gleich darauf schlugen die schweren Eisenkugeln der ersten Salve ein. Sie bohrten sich in die Uferböschung, sie zerschmetterten einige der großen Steinquader auf dem Tempelvorplatz, eine von ihnen traf den Tempel und zerstörte einige der kostbaren Ornamente. Asanga begann das Entsetzliche zu ahnen. Voller Grimm rannte er zur Statue der Kali hinüber und ver- suchte die Göttin mit seinem Leib zu decken, da blitzte es auf der Galeone abermals auf. Die Kugeln heulten heran. Zischen erfüllte die Luft, und dann zerbarst mit ohrenbetäubendem Krachen über ihm die Todesgöttin. Asanga wurde zu Boden geschleudert, ein wilder Schmerz durchzuckte seinen Körper, und er verlor das Bewußtsein. Als er wieder erwachte, umstanden ihn drei seiner Pansigare. Sie hatten ihn auf eine Matte gebettet und seine Wunden verbunden. Ratlos blickten sie ihren obersten Priester an, und auch Asanga kam erst in diesem Moment die Erinnerung an das wieder, was sich auf der Insel des Todes zugetragen hatte.
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Er wollte wie rasend aufspringen, aber seine Glieder versagten ihm den Dienst. Ächzend sank er zurück. Die Pansigare stützten ihn, und so erblickte er die zertrümmerte Göttin. Eine ganze Weile herrschte Schweigen auf der Insel des Todes, aber dann schüttelte der Zorn über diesen ungeheuren Frevel Asanga durch wie ein wildes, tödliches Fieber. Er befahl, nichts anzurühren, alles genauso zu lassen, wie es war. Asanga leistete in diesem Moment einen heiligen Schwur: Der Frevel sollte gerächt werden. Er würde durch seine Pansigare Weiße fangen lassen, nur viele Opfer konnten die schwarze Todesgöttin Kali wieder versöhnen. Asanga wußte auch, wohin er seine Würger schicken mußte, aber er befahl ihnen, alle Opfer lebend zur Insel zu schaffen. Und dann, wenn sie genügend Gefangene in den Verliesen hatten, würde in einer Neumondnacht das große Fest zur Versöhnung der Göttin stattfinden. Asanga schickte seine Würger fort. Immer wieder, aber ihr Erfolg ließ zu wünschen übrig. Gegen Morgen würden sie abermals zurückkehren, und diesmal hatten sie die Häuser jener Weißen zum Ziel gehabt, die weiter oben am Fluß wohnten und dort Handel trieben. Asanga warf einen letzten Blick auf die so frevelhaft zerstörte Göttin, dann verschwand er im Innern des Tempels, durchschritt die unterirdischen Gänge und erreichte schließlich die große Halle, in der sich die riesige Statue der Kali befand. Ein gigantischer, in wildem Tanz begriffener Frauenkörper, pechschwarz und nackt, aus dem sechs Arme wuchsen, deren Hände Todenschädel und blitzende Messer hielten. Auch um den Hals trug Kali eine Kette von bleichen Totenschädeln, die im flackernden Licht der Fackeln zu leben schienen. Unter ihren Füßen aber lag der zerschundene Leib ihres Gatten Schiwa. Asanga näherte sich der rasenden Göttin, und er glaubte zu sehen, daß ihre Augen, hoch oben unter der Decke des Gewölbes, ihn anfunkelten. Asanga fiel auf die Knie, preßte sein Haupt mehrmals ehrerbietig gegen den mit
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goldenen Ornamenten durchzogenen Boden. „Große Kali, Herrscherin über Leben und Tod, dein Diener wird den Frevel rächen, der dir und deinem unsterblichen Namen angetan wurde. Habe mit deinem armseligen Diener noch etwas Geduld, o Kali!“ Asanga wandte den Blick nach oben, und das Funkeln der Augen. war einem sanften Glühen gewichen. Asanga erhob sich. Langsam erklomm er die hohen Stufen des Podests, auf dem die Göttin stand. Und dort, zu ihren Füßen, fiel er in Trance. Und er sah ein Schiff, das sich der Toteninsel näherte. Langsam, durch dichten Nebel hindurch, aber unaufhaltsam. Und je tiefer seine Trance wurde, je mehr sie von ihm Besitz ergriff, desto größer und bedrohlicher wurde der schwarze Schatten, der dieses Schiff einzuhüllen schien. * Der Nebel lastete über dem Wasser. Er war so dicht, daß man an Bord der „Isabella“ nicht von einem Mast zum anderen sehen konnte. Die Männer an Bord der Galeone sahen fast nichts, aber sie spürten, daß ihr Schiff von irgendeiner Strömung, der ein kaum wahrnehmbarer Wind noch etwas half, vorangetrieben wurde. Die Stimmung an Bord der „Isabella“ war schlecht, denn der Nebel dachte gar nicht daran, sich zu lichten. Der Mann auf der Back sang die Tiefe aus. Immer wieder warf er das Lot. „Fünf Faden“ klang es über Deck, und der Nebel dämpfte seine Stimme zu dumpfen, schwer verständlichen Lauten. Der Seewolf blickte auf. Seine Züge wirkten hart. „Die Tiefe nimmt ständig ab, Ben“, sagte er zu seinem Ersten Offizier und Stellvertreter. Ben Brighton nickte. „Wir sollten Anker werfen, Hasard“, erwiderte er und vernahm gleichzeitig den neuen Singsang, der undeutlich von der Back zum Achterschiff herüberdrang.
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„Vier Fuß!“ Dem Seewolf entging trotz des Nebels nicht, daß Stenmark, der schon seit einer runden Stunde die Wassertiefe auslotete, unruhig wurde. Und er mußte dem blonden Schweden recht geben. Der Seewolf sah Ben Brighton nur kurz an, dann nickte er. „Ben, laß den Anker auswerfen, alle Mann in die Wanten, Segel aufgeien. Wir bleiben hier liegen, bis diese verdammte Suppe sich aufklart. Wir wissen ja nicht einmal, wo wir sind.“ Ben Brighton nickte nur und gab die notwendigen Befehle. Gleich darauf scheuchte Carberrys gewaltige Donnerstimme die Seewölfe auf die Back und in die Wanten. „Hurtig, hurtig, ihr lahme Bande, oder ihr könnt unsere ‚Isabella’ aus diesem verdammten indischen, stinkenden Schlick ziehen. He, Luke, beweg dich gefälligst, oder soll ich dir erst eins über den Affenarsch ziehen, wie, was?“ Luke Morgan, genauso schlechter Stimmung wie alle anderen auch, fuhr herum. „Du kannst es ja mal versuchen, du ausgefranster Gorilla, du angerostete Bilgenkakerlake!“ schrie er wütend zurück. „Irgendwann stopf ich dir mal dein Haifischmaul und reiß dir deine lausigen Rattenzähne einzeln aus, du chinesischer Tempelpavian!“ Carberry klappte vor Staunen der mächtige Unterkiefer herunter. Er glaubte einfach nicht, was er da eben gehört hatte. Er wußte, wie jähzornig dieser drahtige Engländer war, und er wußte auch, daß Luke Morgan ihn schon einmal mit einem präzise geworfenen Belegnagel fast außer Gefecht gesetzt hatte. Aber das hier, das ging entschieden zu weit. Edwin Carberry, der Profos der „Isabella VIII.“, machte einen wahren Panthersatz. Seine Pranken griffen nach Luke Morgan, aber sie griffen ins Leere, denn Luke war wie der Blitz aufgeentert. „Was bin ich?“ brüllte Carberry, und unter seiner gewaltigen Stimme schien die „Isabella“ in allen ihren Verbänden zu
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erzittern. „Eine angerostete Bilgenkakerlake, ein ausgefranster Gorilla, ein chinesischer Tempelpavian?“ Carberry sprang in die Wanten, aber dann stoppte ihn plötzlich das dröhnende Gelächter der Seewölfe. Ferris Tucker, der riesige, rothaarige Schiffszimmermann, fiel vor Lachen fast von der Rah, Batuti, der hünenhafte Gambianeger, rollte wild mit den Augen und brach abermals in brüllendes Gelächter aus. Sir John, der Aracanga-Papagei, flatterte unter den wildesten Flüchen, die sein scharfer Schnabel hervorzubringen vermochte, entsetzt von seiner Rah auf und geriet im dichten Nebel prompt an ein noch nicht aufgegeites Segel und rutschte unter wüstem Gekreische und Geschimpfe und unter wildem Flügelschlagen an dem schweren Tuch herunter und klatschte schließlich an Deck. Arwenack, der Schimpanse, überrannte den Kutscher, der den Lärm gehört und neugierig aus seiner Kombüse an Deck getreten war. Fluchend fiel der Kutscher zwischen seine Töpfe und Pfannen. Der Profos hing im Steuerbordwant des Großmastes. Er glich in diesem Moment tatsächlich einem riesigen Gorilla. Aber er schwieg. Keinen Ton brachte er heraus. Diese ganze Seewölfebrut war ja völlig außer Rand und Band, es wurde allerhöchste Zeit, daß er an Bord der „Isabella“ andere Seiten aufzog. Und, verdammt, diese lausigen Affenärsche sollten ihn, Edwin Carberry, kennenlernen! Das schwor er sich in dem Moment, in dem er noch einen Blick auf den in sicherer Entfernung verharrenden Luke Morgan warf und in dem das brüllende Gelächter der Seewölfe verebbte. An Deck blieb er stehen, seine Rechte stieß vor in den Nebel, und sie zeigte genau dorthin, wo Luke Morgan in den Wanten hing. „Irgendwann kommst du mal wieder runter, Luke. Und dann wirst du mir noch einmal sagen, was ich alles bin, oder ich klopfe jedes Wort einzeln aus deiner lausigen schwarzen Seele heraus, bis sie wieder weiß ist, wie die Segel unserer Old
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Lady!“ brüllte er. Dann entfernte er sich. „Ausgefranster Gorilla, chinesischer Tempelpavian, angerostete Bilgenkakerlake!“ murmelte er voller Grimm, aber dabei überzog sein narbiges Gesicht bereits ein Grinsen. „Dir werde ich es zeigen, Mister Morgan! Ich glaube, das war schon lange mal fällig!“ Der Profos enterte zum Achterdeck auf. Er zog ein grimmiges Gesicht, als er auf den Seewolf und Ben Brighton zutrat, aber er konnte dennoch ein verräterisches Zucken um seine Mundwinkel nicht verbergen. Die „Isabella“ stoppte, als der Buganker griff. Die Seewölfe beeilten sich, die Segel an den Rahen festzuzurren. Hin und wieder warfen sie Luke Morgan einen Blick zu, der sehr nachdenklich an einem der Geitaue herumhantierte und dann noch nach einem Zurring griff. So ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut. Er kannte Carberry, seine rauhe Schale, sein im Grunde genommen weiches und gutes Herz, aber er wußte auch, daß der Profos bei gewissen Gelegenheiten verdammt sauer werden konnte. Zum Beispiel, wenn man die Disziplin an Bord der „Isabella“ in Frage stellte. Und wenn er sich selber gegenüber ehrlich blieb, dann hatte er eben genau das getan. Sein verdammter Jähzorn war wieder einmal schuld daran. Langsam enterte er ab. Auch die beiden Zwillinge, die Söhne des Seewolfs, die eine aufregende Unterbrechung der verdammten Bordroutine bei diesem nervtötenden Nebel vermuteten, sahen ihm zu, und dann folgten sie ihm langsam. Und sie täuschten sich nicht. Als Luke Morgan aus dem Steuerbordwant stieg, stand Edwin Carberry schon da. Groß und schwer wie ein Gebirge und ebenso drohend wuchs er auf den Decksplanken der „Isabella“ vor Luke Morgan auf. „So, Luke“, sagte er und gab seinem Narbengesicht einen grimmigen Ausdruck dabei, „jetzt kannst du dir alles von der Seele reden, was du sonst noch auf dem Herzen hast. Also, ich höre! Aber paß gut auf, Mister Morgan, damit du das Maul jetzt nicht wieder zu voll nimmst, denn sonst wird, wenn ich mit dir fertig bin, eine
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altersschwache, angerostete Bilgenkakerlake gegen dich so gewaltig sein, wie eine Tausend-Tonnen-Galeone mit ihren achtzig Zwanzigpfündern gegen eine zerborstene Schaluppe. die der Sturm auf die Klippen geworfen hat.“ Um die beiden hatte sich im Nu ein dichter Kreis gebildet. Wieder brandete brüllendes Gelächter über Deck der „Isabella“. So etwas hatten sie aus dem Munde ihres Profos’ noch nie gehört. Smoky wandte sich an den neben ihm stehenden Ferris Tucker. „Ich habe doch verdammt noch nie gewußt“, sagte er ziemlich laut, so daß es jeder deutlich verstehen konnte, „daß unser Profos seine poetische Ader entdeckt hat. Also. wenn ich mir das so richtig vorstelle. die altersschwache. angerostete Bilgenkakerlake, dazu vielleicht noch ein chinesischer Tempelaffe und ein ausgefranster Gorilla, und die hocken alle drei auf der zerborstenen Schaluppe, während die Tausend-Tonnen-Galeone aus allen Rohren feuert, also ...“ Die Seewölfe bogen sich vor Lachen, und nicht einmal der Seewolf, der das alles ebenso gehört hatte wie Ben Brighton. der neben ihm auf dem Achterdeck stand, vermochte ernst zu bleiben. Pete Ballie, der bis dahin am Ruder gestanden hatte. enterte zum Hauptdeck ab. Auch er grinste übers ganze Gesicht, denn eben schlug Carberry dem jähzornigen Engländer seine Pranke auf die Schulter, daß Luke unter dem Hieb fast zu Boden ging. „Also gut, ich will mal nicht so sein. Ihr seid doch alle ganz verdammte Rübenschweine, die man am besten ...“ Er unterbrach sich mitten im Wort, denn eben schallte ein weithin dröhnender Gongschlag über das schmutzig-gelbe Wasser, das an der „Isabella“ träge vorbeiströmte. Ein zweiter Gongschlag folgte, und dann glitt irgendwo an der „Isabella“ ein kaum wahrnehmbarer Schemen vorbei. Ein langgestrecktes, dunkles Etwas, das auch Dan O’Flynns scharfe Augen nicht zu identifizieren vermochten.
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Im Nu waren die Seewölfe still. An Bord der „Isabella“ herrschte absolutes Schweigen. Carberry sah den hünenhaften Schiffszimmermann an. „Hast du das auch gehört, Ferris?“ fragte er überflüssigerweise. „Ich will doch gleich kielgeholt werden, wenn das nicht so ein verflixter Gong war, wie ihn die Zopfmänner in Siri-Tongs Heimatland bei jeder Gelegenheit verwenden. Das bedeutet, das uns eben zumindest ein Boot passiert hat. Vielleicht hauen die Kerle ständig auf ihren Gong, um anderen Schiffen ihr Näherkommen anzuzeigen. Was meinst du, Ferris?“ Der Schiffszimmermann wiegte den Kopf. Da tönte ein dritter Gongschlag zu ihnen herüber. Aber es war auf keinen Fall derselbe Gong. Er wirkte — trotzdem sie ihn nur sehr leise noch vernahmen — weitaus mächtiger, gewaltiger. Irgendwie schien sein Dröhnen das ganze Wasser zu überziehen. Auch der Seewolf war vom Achterdeck aufs Hauptdeck abgeentert und stand jetzt bei seinen Männern. Er vermochte es sich nicht zu erklären, aber von diesem Dröhnen schien ihm eine Gefahr auszugehen, die genau auf die „Isabella“ zukroch und irgendwo im Nebel auf sie lauerte. „Wir sind hier nicht allein“, sagte er in die Stille hinein. „Der letzte Gongschlag war meiner Ansicht nach die Antwort auf die beiden vorangegangenen. Vielleicht dirigieren sie auf diese Weise ankommende Boote in einen Hafen, aber das glaube ich nicht. Das ist etwas anderes. Irgendwo dort im Nebel vor uns liegt entweder eine Küste, eine Stadt oder eine Insel verborgen. Wir können bei diesem Nebel nicht mehr weiter, aber ab sofort patrouillieren Doppelwachen. Drehbassen und Geschütze laden, unser Schiff muß ab sofort jederzeit feuerbereit sein. Morgen werden wir mit einem der Beiboote die Gegend erkunden, aber das Boot bleibt durch eine lange Leine mit der „Isabella“ verbunden. Ferris, das bereitest du bitte mit Will vor“, und damit meinte der Seewolf
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Will Thorne, den weißhaarigen Segelmacher der „Isabella“. Der Schiffszimmermann nickte nur kurz. Gleichzeitig warf er einen Blick in den dunkler und dunkler werdenden Nebel, der sich keineswegs auflöste, sondern an Dichte immer noch zuzunehmen schien. Es würde also in einer knappen halben Stunde stockfinster sein, denn bei dieser Suppe half ihnen auch der Mond nicht mehr. Die Gongs waren verstummt. Nur das leise Gurgeln des Wassers war zu vernehmen. „Ed, du teilst die Wachen ein“, sagte der Seewolf. „Ben und ich übernehmen die erste achtern. Zwei Mann auf die Back, zwei Mann aufs Hauptdeck, zwei Mann auf dem Achterschiff, das sollte reichen.“ Der Seewolf verschwand, und Carberry blickte ihm nach, während er sich an seinem Rammkinn kratzte. Abermals sah er den Schiffszimmermann an. „Wenn Hasard sechs Wachen anordnet, dann ist etwas los“, sagte er. „Da kannst du dich drauf verlassen. Er hat sich in dieser Beziehung so gut wie nie geirrt. Und ihr, ihr Rübenschweine, wenn ihr eure verdammten Glotzaugen nicht aufsperrt, dann ziehe ich euch allen ganz persönlich die Haut in Streifen von euren ...“ Wieder brandete Gelächter auf, und Carberrys Rechte wischte durch die Luft. „Ist ja auch egal, aber ihr werdet es dann schon merken. Ich glaube, es wird allerhöchste Zeit, daß ich euch mal wieder die Gräten richtig langziehe, sonst werdet ihr immer übermütiger und frecher, wie dieses Rübenschwein da!“ Er deutete grinsend auf Luke Morgan. „Du bist auch beim ersten Wachtörn dabei, Freundchen. Auf die Back mit dir, und Blacky kannst du gleich mitnehmen, klar?“ Luke Morgan grinste, dann verschwand er zusammen mit Blacky, der nach ihm wohl der jähzornigste Mann an Bord der „Isabella“ war. Die beiden verstanden sich prächtig und steckten dauernd zusammen. „Dan, du übernimmst mit mir zusammen die Wache auf dem Hauptdeck. Nach vier Stunden wird abgelöst...“
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Carberry teilte die Wachen ein. Eine Weile blieben die Seewölfe, die wachfrei waren, noch diskutierend an Deck. Doch dann legte sich die Finsternis über die „Isabella“, und der Nebel wirkte wie ein schwarzes Tuch, das alles unter sich begrub. * Jenes Boot, das die Insel der Todesgöttin in dieser Nacht erreichte, war schon das dritte seit der Vollmondnacht. Und auch diese Gruppe von Pansigaren hatte Erfolg gehabt. Die Männer mit den hageren Gesichtern und den roten Turbanen auf ihren Schädeln zerrten ein dunkelhaariges Mädchen und einen Mann mit silbergrauem Bart aus dem Boot. Beide waren mit der schwarzen Seidenschlinge gefesselt. Asanga, der oberste Priester der Todesgöttin, stand etwas abseits und beobachtete das alles. Die Pansigare schleppten die beiden Gefangenen zu ihm und stießen sie dort zu Boden. Das Mädchen starrte den Priester der Kali aus ihren dunklen Augen an. Dann warf sie einen raschen Blick zu ihrem Vater hinüber, der aber bewußtlos zu sein schien. Das Licht flackernder Fackeln erhellte die ganze Szene, Schatten schienen durch den Nebel über die Steinquader zu tanzen. Das Mädchen schloß die Augen. Sie spürte die Furcht, das Entsetzen, das sich mehr und mehr um ihre Sinne krallte. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatten die Teufel die Siedlung überfallen, warum waren viele von ihnen erwürgt und ebenso viele dann von diesen braunhäutigen Teufeln verschleppt worden? Irgendwohin — vielleicht wie sie auch hierher? Das Mädchen riß sich gewaltsam zusammen. Ehe es einer der Pansigare verhindern konnte, sprang sie auf, denn nur ihre Hände waren gefesselt. Sie beherrschte den Dialekt der Eingeborenen leidlich. Mit einem Schritt stand sie vor Asanga, der sich in diesem Moment in Trance zu befinden schien. Erst beim Klang ihrer
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Stimme zuckte er zusammen und starrte sie an. „Was soll das alles?“ wiederholte das Mädchen die Frage. „Warum haben Ihre Leute unsere Siedlung überfallen, warum wurden mein Vater und ich gefesselt und hierher verschleppt? Ich verlange eine Antwort ...“ Die Augen Asangas öffneten sich. Ein haßerfüllter Blick traf das Mädchen, und unter diesem Blick prallte sie zurück. „Schweig!“ herrschte Asanga sie an. „Du wirst erst antworten, wenn die große Kali dich fragt. Antworten mit deinem Blut, denn das wird deine Todesstunde sein!“ Das Mädchen erbleichte. Sie hatte von Kali, der schwarzen Todesgöttin der Hindus, gehört. Asanga entging nicht, daß das Mädchen den Sinn seiner Worte sofort begriff. „Ja, du wirst sterben, in der nächsten Neumondnacht, wenn das große Fest zu Ehren Kalis in unserem Tempel stattfindet. Sieh dorthin, nein, komm mit, weil du den Frevel, den Menschen deiner Hautfarbe auf dieser Insel der großen Kali angetan haben, nicht sehen kannst, dazu ist der Nebel zu dicht!“ Er packte das Mädchen und zerrte es mit sich fort. Dorthin, wo die Trümmer der Götterstatue auf den Steinquadern in weitem Umkreis verstreut lagen. „Das geschah in der letzten Vollmondnacht, ein Schiff ankerte hier, genau wie heute dort draußen vor der Insel eines ankert. Diese Barbaren verraten ihre Anwesenheit immer durch ihren Lärm, den sie bei jeder Gelegenheit verursachen, indem sie sinnlos herumbrüllen. Mit den Feuerrohren zerstörten sie das Abbild Kalis, und jetzt zürnt Kali uns. Wir werden sie durch viele, viele Opfer beim nächsten Neumondfest versöhnen. Und du wirst eines dieser Opfer sein, genau wie der Mann, den du deinen Vater nanntest. Mit euch werden noch viele andere sterben, auch jene, die sich da draußen auf ihrem Schiff befinden. Noch bevor der Morgen graut, sind sie Gefangene Kalis!“ Das Mädchen spürte, wie Schwindel sie zu überwältigen drohte. Sie sah den
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brennenden, fanatischen Blick des Kalipriesters, der sie zu durchbohren schien. Sie hatte einmal in der Siedlung am Fluß von jenen blutigen Menschenopfern gehört, die zu Ehren der Todesgöttin jeden Monat stattfanden. Sie begann zu taumeln, während die schwarzen Trümmer der Todesgöttin, die von zwei Pansigaren mit Fackeln beleuchtet wurden, vor ihren Augen zu tanzen begannen. Das abgeschlagene Haupt der Göttin schien sie böse anzustarren, unversöhnlich, voller Zorn und verzerrt von Haß und Rache. Das Mädchen sank zu Boden, und Asanga starrte sie an. „Schafft die beiden weg!“ befahl er dann. „Sperrt sie in das Gewölbe zu Füßen der Göttin. Das Gewinsel dieser Frevler wird sie besänftigen. Und dann ruft alle anderen. Wann trifft das letzte Boot auf der Insel ein?“ Einer der Pansigare, der einen grünen Turban trug, verneigte sich vor Asanga. „Es muß jeden Augenblick hier sein, Erhabener. Drei Gefangene befinden sich an Bord, Kali war uns gnädig.“ „Laßt eine Wache hier, ihr anderen folgt mir in den Tempel. Wir werden Kali um Hilfe für diese Nacht bitten. Dort draußen ankert wieder ein Schiff, und wir werden es noch in dieser Nacht überfallen. Schafft die Krüge herbei, die diesen Frevlern das Bewußtsein rauben werden. Ich werde die große Kali bitten, uns zu sagen, wie wir diese weißen Teufel in unsere Hände bekommen, um sie ihr zu opfern. Die große Kali wird uns helfen, denn was in jener Vollmondnacht geschah, das kann nur mit Blut wieder abgewaschen werden!“ Der Pansigar mit dem grünen Turban verneigte sich abermals, während die anderen sich vor Asanga zu Boden warfen. „Eilt euch, wir haben nicht mehr viel Zeit. Diese Nacht wird darüber entscheiden, ob Kali uns weiterhin zürnt oder nicht.“ Die Pansigare erhoben sich. Dann eilten sie zusammen mit ihrem Priester davon. Nur zwei Mann blieben auf der Insel zurück. Bereit, den großen Gong zu schlagen,
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sobald Antwort von ihnen gefordert wurde. Und das würde bald sein. 2. Die beiden Zwillinge Hasard und Philip konnten nicht schlafen. Über dem GangesDelta lag eine schwüle Hitze, die allen an Bord des Dreimasters arg zusetzte. Unter Deck konnte man es nicht aushalten, trotz der „Windmacher“, die Ferris Tucker als Abhilfe ersonnen und gezimmert hatte und die er von Zeit zu Zeit einsetzte, um das Innere der „Isabella“ zu durchlüften. Und an Deck war es ebenfalls nicht viel besser. Kam noch dieser verdammte Nebel hinzu, der die Schwüle von rund vierzig Grad Celsius mit tropfnasser Feuchtigkeit anreicherte. Die Decksplanken der „Isabella“ glänzten vor Nässe im spärlichen Schein der Deckslaternen. Irgendwie war alles glitschig, und schon manch einer der Seewölfe war fluchend zu Boden gegangen. Hasard und Philip hatten es sich auf dem Galionsdeck bequem gemacht. Dort wurden sie auch durch die Wachen nicht gestört, die auf Anordnung des Seewolfs auf der Back über ihnen patrouillierten. Zwei Taurollen, von ihnen dorthin praktiziert, bildeten ihr Lager. Hasards Gedanken kreisten dauernd um das, was der alte O’Flynn ihnen über dieses merkwürdige Land, an dessen Küsten sie nun schon seit etlicher Zeit entlangsegelten, erzählt hatte. „Glaubst du eigentlich, was der Alte da von den Königen gesagt hat, die hier angeblich Maharadschas heißen, Philip?“ fragte Hasard leise. „Und glaubst du, daß sie in ihren Palästen neben Hunderten von schönen Sklavinnen auch Riesenberge von Saphiren und anderen Edelsteinen verwahren, daß sie die reichsten Leute zwischen Sonnenaufgang und -untergang sind?“ Philip richtete sich in seiner Taurolle etwas auf. Vorsichtig blickte er sich um, um sich zu vergewissern, daß der Alte nicht gerade
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in der Nähe war. Aber vom alten O’Flynn war weit und breit nichts zu entdecken. „Ich glaube, daß Old O’Flynn wieder mal Meermänner und Geisterschiffe gesehen hat“. erwiderte er leise. „Erinnerst du dich — auch bei dem alten Gaukler wurde manchmal von Indien gesprochen. Märchenerzähler erzählten die gleichen Sachen, wie Old O’Flynn. Aber jeder wußte, daß es schöne Märchen waren. Es gibt in Indien bestimmt die reichen Nabobs, von denen immer wieder erzählt wurde, aber woher will denn Old O’Flynn davon wissen? Oder war er vielleicht mit der alten „Empress of Seas“ schon hier?“ Hasard überlegte. „Aber das von den Göttern, das könnte stimmen. Es soll eine schwarze Todesgöttin in Indien geben, der Menschen geopfert werden. Das habe ich auch früher schon auf den Märkten gehört.“ „Das könnte sein, Hasard“, stimmte Philip zu. Die beiden hatten sich in-. zwischen zu überaus cleveren, gewitzten und für ihr Alter bärenstarken Bürschchen entwickelt, dabei waren sie gerade erst zehn Jahre alt. „Aber warum fragst du eigentlich lauter so dummes Zeug?“ wollte Philip anschließend wissen. Hasard richtete sich in seiner Taurolle jetzt ebenfalls auf. „Hast du nicht den großen Gong vorhin gehört? Wenn du zu dämlich bist, dann sage ich es dir. Der befindet sich genau irgendwo vor uns, und zwar gar nicht so weit weg. Ich wette mit dir, daß die ‚Isabella’ ganz dicht vor einer Insel ankert. Und auf dieser Insel befindet sich ein riesiger Tempel, in dem ein großes Fest gefeiert wird, deswegen haben sie auch den Gong geschlagen.“ Philip sah seinen Bruder interessiert an, soweit die spärliche Beleuchtung auf dem Gallionsdeck das zuließ. „Jetzt spinnst du aber bald so, wie Old O’Flynn!“ stellte er nüchtern fest. „Mich wundert sowieso schon, daß der nicht behauptet hat, die Meermänner hätten den Gong in ihrem unterseeischen Palast geschlagen, weil sie uns anzeigen wollten,
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daß sie die ‚Isabella’ noch in dieser Nacht holen kommen.“ Hasard funkelte seinen Bruder wütend an. „Und Dad, spinnt der etwa auch?“ fragte er böse. „Sag es nur, dann gerbe ich dir das Fell, daß du hinterher aussiehst wie eine in Streifen geschnittene Kombüsenkakerlake!“ Er war aufgesprungen, und auch sein Bruder hatte seine Hände zu Fäusten geballt. „Das werden wir ja erst mal sehen, wer von uns beiden die gestreifte Kombüsenkakerlake ist, du Angeber ...“ Auf der Back erschien die riesige Gestalt Carberrys. „Wollt ihr dreimal verlausten Decksaffen wohl endlich Ruhe geben!“ donnerte er sie an. „Wenn hier nicht augenblicklich Ruhe herrscht, sperre ich euch in die Vorpiek, verstanden!“ Die Zwillinge verschwanden in ihren Taurollen. Carberry brummte noch irgendetwas, das wie fernes Donnergrollen klang, dann verschwand auch er wieder in Richtung Hauptdeck. „In Streifen geschnittene Kombüsenkakerlake!“ dachte er und mußte grinsen. Diese beiden Rübenschweinchen waren goldrichtig. Jawohl, hin und wieder brauchten sie eins mit dem Tampen auf ihre kleinen Achtersteven, aber sonst waren, sie in Ordnung. Er hatte ihr nächtliches Gespräch belauscht und erst eingegriffen, als sie sich gegenseitig ans Leder wollten. Aber das, was der kleine Hasard da von sich gegeben hatte bezüglich einer Insel und eines Tempels, das schien Carberry gar nicht so unwahrscheinlich, denn auch er hatte über diesen gewaltigen Gong, der da irgendwo vor ihnen ertönt war, anderen Gongs praktisch geantwortet hatte, nachgedacht und war, wenn auch nicht zu diesen, so doch zu ähnlich bedrohlichen Schlüssen gekommen. Irgendetwas verbarg sich da vor ihnen im Nebel, der Seewolf ahnte das auch, sonst hätte er nicht so reagiert. Darin hatte der kleine Hasard zweifelsohne recht. Hätte Carberry auch nur im entferntesten geahnt, was sich in diesem Moment auf
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dem Gallionsdeck für ein Drama anbahnte, er hätte die beiden tatsächlich in die Vorpiek gesperrt. Hasard wartete, bis Carberrys Schritte verklangen. Ihn ritt diese Nacht der Teufel. „Und ich habe doch recht!“ behauptete er und sah voller Genugtuung, wie sein Bruder ebenfalls aus der Taurolle emporfuhr. „Hast du nicht!“ zischte Philip ihm zu, und bemühte sich dabei, keineswegs lauter zu sprechen, als es unbedingt notwendig war. Er wußte ganz genau, wenn der Profos noch einmal bei ihnen auftauchte, dann war ihnen beiden das Tauende sicher, und das zog ganz schön hin, auch wenn Carberry immer meinte, daß er sie ja nur gerade eben gestreichelt hätte. Nein, darauf wollte Philip es denn doch nicht ankommen lassen. Hasard funkelte ihn an. „Also spinnt Dad doch. Er hat doppelte Wachen befohlen. Warum wohl, wenn er nicht glauben würde, daß da vorne etwas los ist?“ Das konnte auch Philip nicht widerlegen. Aber er gab sich trotzdem nicht geschlagen. „Jedenfalls gibt es dort keinen Tempel und auch keine Insel. Wollen wir wetten?“ fügte er noch hinzu. Wieder funkelte Hasard ihn an. „Gut, wetten wir. Worum?“ „Wer verliert, muß dem Kutscher einen Beutel mit Kandiszucker klauen und dem anderen übergeben. Einverstanden?“ „Einverstanden. Und wie willst du feststellen, wer von uns recht hat?“ fragte Hasard seinen Bruder. „Indem wir nachsehen.“ Hasard starrte seinen Bruder an. Was er da soeben gehört hatte, das war einfach ungeheuerlich. Philip war ja total übergeschnappt. „Nachsehen?“ fragte er daher. „Willst du Carberry vielleicht bitten, uns ein Beiboot zu Wasser fieren zu lassen, damit wir durch den Nebel davon rudern können?“ verhöhnte er seinen Bruder. „Und wie willst du dann die ‚Isabella’ wiederfinden? Du siehst bei dieser Suppe ja nicht einmal
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bis zum Hauptmast. Und was, glaubst du, wird der Profos mit uns anstellen, wenn er uns erwischt?“ Jetzt ritt Philip in dieser verrückten Nacht der Teufel. „Feigling!“ sagte er. „Erst wetten, dann kneifen!“ Hasard wollte aufspringen, aber er bezwang sich. „Also doch Feigling“, frotzelte Philip seinen Bruder weiter. „Machst du nun mit oder nicht? Erst wenn ich das weiß, sage ich dir, wie wir es anstellen können.“ Hasard fuhr sich unwillkürlich mit der Rechten über den Achtersteven. Aber ein Feigling wollte er nicht sein. „Ich mache mit“, sagte er. „So, nun bin ich aber gespannt. Wie willst du zur ‚Isabella’ zurückfinden, das will ich vor allen Dingen wissen. Ich habe keine Lust, irgendwo in dieser Brühe zu versaufen, weil ich nicht mehr weiß, wo unser Schiff ankert.“ Philip grinste. Gleich darauf verschwand er unter Deck, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Carberry nicht in der Nähe war und daß ihn auch die beiden Wachen auf der Back nicht beobachtet hatten. Vom Gallionsdeck führte schließlich eine schwere Bohlentür, die zudem wegen der Hitze noch geöffnet war, ins Innere der „Isabella-. Schon wenige Minuten später kehrte er mit einer dicken Rolle Kabelgarn zu seinem Bruder zurück. Grinsend präsentierte er sie ihm. „Kapiert?“ fragte er dann. Hasard pfiff leise durch die Zähne, dann nickte er. Der Fall lag klar. Sie brauchten das Ende des Kabelgarns nur an der Ankertrosse zu befestigen oder sonst irgendwo am Schiff und die Rolle während des Schwimmens langsam abzuspulen. Reißen würde das Kabelgarn nicht, das wußte er. „Gut. Du nimmst die Rolle. Wir schwimmen soweit, wie sie reicht. Ist sie alle, und haben wir dann weder eine Insel noch deinen Tempel gesehen, dann hast du verloren, klar?“ Philip nickte. Gleich darauf zogen sie ihre Hemden aus und verbargen sie in einer der
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Taurollen. Sie vergewisserten sich, daß ihre Messer fest in den Gürteln ihrer Segeltuchhosen steckten. Anschließend horchten sie in die Dunkelheit hinaus, aber auf der „Isabella“ blieb alles ruhig. Und der Teufel wollte es, daß gerade in diesem Moment wieder ein Gongschlag über das Wasser dröhnte, dem von irgendwoher auch sofort geantwortet wurde. Und wieder war es dieses dumpfe, schwere Dröhnen, das sie schon einmal gehört hatten und das irgendwie die ganze See erzittern ließ. Hasard starrte seinen Bruder nur an. Auch ihn packte jetzt die Neugier. Er wollte wissen, was dort vor ihnen im Nebel lag, und seine Phantasie gaukelte ihm einen riesigen goldenen Tempel vor, auf dessen Stufen die reichen Nabobs Indiens ein gewaltiges Fest feierten ... „Verflixt, Philip, vielleicht hast du recht!“ zischte er seinem Bruder zu, und sein junger Körper begann vor Abenteuerlust zu kribbeln. „Einen Beutel Kandis, denk dran!“ versetzte Philip ungerührt, obwohl er selber vor Abenteuerlust zitterte. Dann horchten die beiden abermals in die Nacht hinein. An Deck der „Isabella“ war zwar Stimmengemurmel zu hören, aber sonst rührte sich nichts. Vorsichtshalber krochen die beiden noch eine Weile in ihre Taurollen und stellten sich schlafend. Sie merkten auch, daß der Profos noch einmal auf der Back erschien und nach ihnen sah, und sie hüteten sich, auch nur einen Muckser von sich zu geben. Erst, als Carberry wieder verschwunden war, als auf dem Schiff wieder absolute Stille herrschte, glitten sie an der Ankertrosse ins Wasser. Sorgfältig befestigte Philip dort das Ende des Kabelgarns. Dann spulte er ein gehöriges Stück ab, und anschließend tauchten die beiden Rangen. Auf diese Weise bemerkte an Bord der „Isabella“ niemand etwas von ihrem Verschwinden. * Noch immer war der Nebel so dicht, daß die beiden Zwillinge kaum ein paar Yards.
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weit sehen konnten. Hasard; der neben seinem Bruder herschwamm, spürte nun doch erste Bedenken gegen ihr Unternehmen in sich aufsteigen. Ganz besonders im Hinblick darauf, was mit ihnen geschehen würde, falls man ihr heimliches Von-Bord-Gehen entdeckte, ehe sie zurückgekehrt waren. „Wie willst du bei diesem Nebel denn die Insel und den Tempel finden, Hasard?“ fragte Philip, während er für einen Moment wassertrat und mehr Kabelgarn von der Rolle abspulte. Hasard preßte die Lippen trotzig zusammen. „Die Insel liegt vor uns und der Tempel auch!“ behauptete er verbissen. „Wir brauchen nur endlich weiterzuschwimmen, dann wirst du sehen, daß ich recht habe. Oder glaubst du, daß so ein großer Gong einfach irgendwo im Wasser herumsteht und von einem vorbeischwimmenden Hai mit der Schwanzflosse geschlagen wird?“ Er grinste seinen Bruder von der Seite her an. „Oder sollte dir inzwischen dein Herz in die Hose gerutscht sein, du Hasenfuß?“ Philip, der mit dem Abspulen des Kabelgarns gerade fertig war, richtete sich wütend in den lehmgelben Fluten auf. „Wenn wir erst wieder an Bord sind, dann zeige ich dir, wer von uns beiden ein Hasenfuß ist! Dir werde ich es schon zeigen!“ Er nahm die Rolle Kabelgarn und schwamm weiter. Hasard grinste ihn an, und Philip grinste wütend zurück. Nur wirkte das Grinsen etwas gekünstelt. Der Hinweis seines Bruders auf möglicherweise vorhandene Haie behagte ihm gar nicht. Er kannte diese erbarmungslosen Räuber zur Genüge und hatte einen Heidenrespekt vor ihnen. Sie schwammen ein paar Minuten, und nichts war zu sehen. Nur die trüben Fluten des Ganges wälzten sich unter dem dichten Nebel träge an ihnen vorbei. Doch dann, plötzlich, verharrte Philip wassertretend auf der Stelle. Sofort tat Hasard es ihm nach. „Was ist, warum schwimmst du nicht …“
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Aber auch ihm blieb das Wort im Halse stecken. Denn vor den beiden Zwillingen zeichnete sich deutlich und unübersehbar im Lichtschein flackernder Fackeln die Silhouette eines langen Bootes ab, das offenbar an irgendeinem Anleger vertäut war. „Siehst du jetzt, Philip, daß ich recht hatte?“ raunte Hasard seinem Bruder zu. Philip schwieg verkniffen. Natürlich sah er es. Und im ersten Moment stieg der Ärger in ihm empor, aber dann wurde er von der ebenso aufsteigenden Abenteuerlust verdrängt. Trotzdem flüsterte er seinem um eine Stunde älteren Bruder zu: „Das Boot da beweist noch gar nichts. Es kann eine Küste sein, und deinen Tempel muß es auch nicht geben, nur weil da ein Boot liegt. Und .wenn nur eins von beiden nicht da ist, dann hast du verloren!“ Hasard junior warf seinem Bruder abermals einen wütenden Blick zu. Aber dann half er Philip, das Kabelgarn abzuspulen. Sie mußten, falls das Boot an einem Anleger oder Steg vertäut war, dem Kabelgarn genügend Lose geben, damit die „Isabella es nicht abreißen konnte, falls sie in der Strömung schwoite. Anschließend schwammen sie weiter, dabei vermieden sie jedes Geräusch, so gut sie konnten. Das Boot nahm an Deutlichkeit zu Immer mehr schälten sich seine Um risse aus dem Nebel heraus, der an dieser Stelle ganz besonders dicht über dem Wasser zu lagern schien. Nach ein paar Minuten, in denen sie immer wieder wassertretend sicherten und in den Nebel hinaushorchten, hatten sie das Boot erreicht. Und erst jetzt bemerkten sie daß es sich nicht um ein Boot, sondern um vier Langboote ihnen unbekannter Bauart handelte, die an Eisenringen vertäut waren, die wiederum in große Steinquader eingelassen waren. Eine ganze Weile starrten sie die vier Boote schweigend an. So ganz geheuer war ihnen nicht zumute, denn die brennenden und flackernden Fackeln, in derem tanzenden Schein alles um sie herum in Bewegung zu geraten schien, sagten ihnen
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nur zu deutlich, daß sich Menschen hier befinden mußten. Hasard machte seinem Brüder Philip ein Zeichen. Er bedeutete ihm, das Kabelgarn an einem der Büsche, die unmittelbar am Wasser standen und deren Zweige zum Teil bis in den Ganges hinab hingen, sicher zu befestigen. Der Ort war günstig, durch die Boote würden sie die Stelle, an dem sie die Rolle Kabelgarn zurückgelassen hatten, leicht wiederfinden können. Philip schwamm an den Busch heran. Sorgfältig suchte er sich einen der ins Wasser hängenden Zweige aus und befestigte das Kabelgarn dort so, daß es sich allein gewiß nicht lösen konnte. Dann schwamm er zu seinem Bruder zurück. Noch einmal sicherten die beiden. Aber bei den Booten herrschte Stille. Weit und breit war kein Laut zu hören, keine Menschenseele schien sich in der Nähe der Boote zu befinden. Hasard bedeutete seinem Bruder abermals durch ein Zeichen, auf ihn zu warten. Dann zog er sich in eines der an den Steinquadern vertäuten Boote. Sofort kauerte er sich zusammen. Aber wieder blieb alles ruhig. Vorsichtig, jedes unnötige Geräusch vermeidend, begann er das Langboot, das sicherlich zwanzig oder dreißig Menschen Platz bot, zu durchsuchen. Es hatte zehn Duchten. Bei jeder Ducht lagen zwei Paddel. Im Bug vorne, der sich hoch und scharf aus dem Wasser hob, entdeckte er eine Art Gräting, in die eiserne Ringe eingelassen waren, so als ob man dort Gefangene zu transportieren pflegte, indem man sie einfach auf die Gräting legte und an die Ringe fesselte. Hasard sah sich die Sache genauer an — und dann prallte er zurück. Auf der Gräting entdeckte er einen großen dunklen Fleck. der sich beim Betasten feucht und klebrig anfühlte. So unzureichend das Licht der Fackeln auch war, Hasard wußte sofort, daß es sich bei dem Fleck Blut handelte. Eilig kehrte er zum Heck des Bootes zurück und verständigte seinen Bruder.
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Philip, dem das Warten sowieso schon viel zu lange gedauert hatte, zog sich geschmeidig ins Boot. Dann untersuchte auch er den Fleck auf der Gräting, die den Boden des Vorschiffes bildete. „Blut!“ bestätigte er kurz darauf. Die beiden sahen sich an. „Hauen wir wieder ab?“ fragte Philip schließlich leise. „Wir sollten das Dad melden, wer weiß, was das für Kerle sind, die hier hausen, und die „Isabella’ ankert nur ein paar hundert Yard entfernt!“ Hasard kämpfte mit sich. Wenn sie ihre Entdeckung meldeten, dann mußten sie auch zugeben, daß sie sich heimlich von Bord gestohlen hatten. Und was das bedeutete, war ihnen klar. In diesem Punkt verstanden weder ihr Vater noch die anderen Seewölfe Spaß. Von Carberry ganz zu schweigen. Hasard verschob den Entschluß. „Erst sehen wir nach, wo wir sind“, wich er der Frage seines Bruders aus. Und der nickte nur zu bereitwillig. Zuerst ließ sich Hasard am Bug des Bootes hinab und landete auf den Steinquadern, die den Vorplatz zum Tempel bildeten. Aber das konnte er wegen des herrschenden Nebels nicht sehen. Philip folgte ihm. Als er auf die Steinquader sprang, zog er gleichzeitig sein Entermesser aus dem Gürtel der Segeltuchhose, die das einzige Kleidungsstück bildete, das er genau wie sein Bruder — am Körper trug. Hasard folgte seinem Beispiel, und dann huschten sie davon. Schon nach wenigen Augenblicken stieß Hasard einen leisen Schrei aus. Ziemlich unsanft landete er auf den Steinquadern. Er war über den von der Kanonenkugel des fremden Schiffes abgeschossener Leib der Todesgöttin Kali gestolpert. Im Nu war Philip bei ihm. „Was ist los mit dir?“ fragte er leise. Aber Hasard junior rieb sich lediglich den schmerzenden Schädel. Der Fackelschein, der von den Booten her noch schwach herüberdrang, erlaubte den beiden eine undeutliche Orientierung. Sie ertasteten mehr als sie ihn sahen den Leib der
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Todesgöttin. Wenige Augenblicke später stieß Philip auf den Kopf der Statue, und er erschrak bis ins Mark. „Hasard, rasch, hierher!“ rief er leise nach seinem Bruder, Hasard war sofort bei ihm. „Was ist?“ fragte er, aber Philip deutete nur auf den Kopf, der vor seinen Füßen auf den Steinquadern lag. Undeutlich vermochten sie ihn zu erkennen, auch, daß es sich um den Kopf einer Frau handelte. Den beiden lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Der Nebel hinderte sie daran, ihre Umgebung genau zu erkennen, und so konnten sie sich einfach kein Bild davon machen, wo sie sich befanden, und was da vor ihnen verstreut auf dem Boden lag. „Was tun wir?“ fragte Philip mit gedämpfter Stimme. „Solange die Fackeln brennen, und sie waren noch ganz frisch, können wir die Orientierung nicht verlieren, wenn wir uns nicht weiter von ihnen entfernen, als ihr Feuerschein reicht“, stellte er dann fest. Hasard nickte. „Wir müssen versuchen festzustellen, wo wir sind. Komm, wir werden uns diese Terrasse, oder was immer das ist, mal ein bißchen genauer ansehen!“ Er zog seinen Bruder mit sich fort. Die beiden Bürschchen verschwanden wie Schemen im Nebel, er sog sie geradezu auf. Immer wieder vergewisserten sie sich, daß sie den Schein der Fackeln bei den Booten nicht aus den Augen verloren. Aber dann blieben sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Denn vor ihnen erhellte sich der Nebel, und die Steinquader bildeten gigantische Stufen, die auf irgendetwas hinaufführten. „Da ... was ist das?“ fragte Hasard, nicht, ohne wieder jenes Kribbeln im Nacken zu verspüren, das ihm noch stets irgendwelches Unheil signalisiert hatte. Auch Philip spähte angestrengt in die Richtung, aus der die Helligkeit zu ihnen herüberdrang. Und wieder war es den beiden, als tanzten irgendwelche Schatten oder Gestalten auf den gigantischen Stufen der Terrasse.
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Zögernd, die Entermesser in den kleinen Fäusten, bewegten sie sich weiter, und dann standen ihnen beiden die Haare zu Berge bei dem Anblick, der sich ihren Augen bot. Vor ihnen, auf irgendeiner der Stufen, stand eine von Fackeln beleuchtete goldene Statue. Sie hatte sechs Arme, in ihren Händen hielt sie blitzende Messer oder auch bleiche Totenköpfe. Ihre Füße standen auf dem Leib eines Toten, und um ihren Hals hing eine ganze Reihe von Totenschädeln. Die beiden wagten kaum zu atmen. Sie starrten die Statue, die eine tanzende, furchtbare Göttin darstellte, nur wortlos an. Und beide spürten, wie ihnen der Schweiß ausbrach und über die Körper rann. Im nächsten Moment stieß Philip einen schwachen Schrei aus. Wortlos deutete er auf einen riesigen schwarzen Tempel, den eine gewaltige Stufenpagode zierte, die sekundenlang zwischen den wabernden Nebelschwaden sichtbar wurde. Undeutlich, gespenstisch, schemenhaft – aber doch deutlich zu erkennen. Hasard begann am ganzen Körper zu zittern. „Der Tempel!“ stieß er betroffen hervor, und diesmal vergaß er die Wette, die zwischen ihm und seinem Bruder abgeschlossen worden war, völlig. Philip ging es nicht besser, er kam erst wieder zu sich, als der ganze Spuk von neuen dichten Nebelschwaden eingehüllt wurde und verschwand. „Laß uns abhauen!“ beschwor Philip seinen Bruder, aber der hatte seinen ersten Schreck bereits überwunden. „Nein, Philip, jetzt will ich wissen, was hier eigentlich los ist. Melden müssen wir das alles unserem Dad sowieso, und Hiebe vorn Profos sind uns sicher, aber ich will jetzt wenigstens wissen, was das hier für ein Tempel ist!“ Philip kannte den Eigensinn seines Bruders, und im stillen gab er ihm sogar recht. Trotzdem folgte er Hasard nur widerstrebend. Er hatte ein verdammt ungutes Gefühl im Nacken. Diese Göttin,
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die vielleicht sogar aus purem Gold bestand, hatte seiner Phantasie arg zugesetzt. Er spürte mit jeder Faser seines Körpers und seines Bewußtseins die Gefahr, die von ihr ausstrahlte. Er hatte an Bord gehört, was die Seewölfe und allen voran Old O’Flynn über dieses geheimnisvolle Land Indien redeten. Sie hatten von Göttern gesprochen, denen sogar Menschen geopfert wurden... Hasard ließ ihm keine Zeit zu langen Überlegungen. Er schlich die riesigen Stufen, die zum Tempel emporführten, weiter und weiter hinauf. Längst achteten die beiden nicht mehr darauf, ob sie noch den Fackelschein sehen konnten, der von den Booten her über die Terrasse drang. Schließlich standen sie vor einem riesigen, pechschwarzen Portal. So riesig, daß sie es in Höhe und Breite gar nicht abzuschätzen vermochten. Und auch hier wieder steckten blakende Fackeln in eisernen Haltern und erhellten die grausige Szene. Grausig, weil auch das Portal mit dem Abbild jener schrecklichen, tanzenden Göttin geschmückt war, die Messer und Totenschädel in den sechs Händen hielt und auf den Körpern von Toten tanzte. Sie waren so beschäftigt damit, diese grausige Szenerie in sich aufzunehmen, daß sie die beiden Männer, die sich ihnen mit schwarzen Seidenschlingen in den Händen von hinten näherten, gar nicht bemerkten. Fanatische, glühende Augen starrten die beiden an, während die beiden Tempelwächter sich den Söhnen des Seewolfs auf leisen, unhörbaren Sohlen näherten. Einen Moment lang verharrten die beiden, Erstaunen in ihren Gesichtern. „Es sind Kinder!“ flüsterte der eine von ihnen. „Wir sollten sie nicht töten, sondern zu Asanga führen. Kinder sind ein Kali besonders wohlgefälliges Opfer! Und sicher stammen sie von dem Schiff, das vor der Insel Kalis ankert.“ Der andere nickte und hob gleichzeitig seine Seidenschlinge an. „Wir werden sie fangen. Sie werden uns alles sagen, was sie wissen, dann wird es
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leicht sein, auch die restliche Besatzung des fremden Schiffes in unsere Gewalt zu bringen. Kali hat unsere Gebete erhört, sie schickt uns diese beiden!“ flüsterte er dem anderen zu. Vorsichtig schlichen sie auf die Zwillinge zu. Ihre Augen glühten vor Haß, denn die beiden Kinder waren Weiße, gehörten zu jener verhaßten Rasse, die den ungeheuren Frevel an der schwarzen Todesgöttin begangen hatte. Im stillen fragten sie sich, wie diese beiden Kinder wohl auf die Insel der Todesgöttin gelangt sein mochten. Aber sie hielten sich mit dieser Frage nicht lange auf. Als sie nahe genug an die Zwillinge heran waren, warfen sie ihre schwarzen Seidenschlingen. Und sie verfehlten ihre Ziele nicht, denn die Pansigare Asangas waren geübt darin, ihre Opfer mit der Schlinge zu fangen oder zu töten. Hasard sah aus den Augenwinkel gerade noch den Schatten, der auf ihn zuflog, vernahm den Schrei des Pansigars, wollte sich herumwerfen, aber es war bereits zu spät. Die Seidenschlinge legte sich um seinen Hals, zog sich zu und riß ihn mit einem erbarmungslosen, gewaltigen Ruck zu Boden. Hasard krachte auf die Steinquader vor dem Portal des Tempels, und seinem Bruder erging es nicht besser. Im Gegenteil, er schlug so unglücklich auf, daß er sofort das Bewußtsein verlor. Die Pansigare warfen sich auf die beiden Kinder. Im Nu waren Hasard und Philip gefesselt. Dann warfen die beiden Würger Kalis sich ihre Beute über die Schulter und verschwanden augenblicklich im Nebel. Kali hatte ihnen ein Zeichen gegeben, indem sie diese beiden Kinder auf die Insel sandte. Asanga würde dieses Zeichen zu deuten wissen, denn zu ihm sprach die Göttin in diesem Moment und tat ihm ihren Willen kund. 3. Philip erwachte `erst, als sie sich längst im Innern des Kali-Tempels befanden. Sein Schädel schmerzte, aber er war wie alle Seewölfe zäh wie eine Wildkatze. Er sah,
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daß der andere Kerl mit dem Turban auf dem Schädel seinen Bruder vor sich her trieb durch einen langen, offenbar in Felsen gehauenen Gang, der von in Eisenarmen steckenden Fackeln erhellt wurde. Ein gewaltiger Schreck durchzuckte Philip, als die Erinnerung an die Vorgänge auf der Terrasse vor dem Tempelportal wieder vor seinem Bewußtsein erschienen. Wer waren diese verdammten Kerle, und was hatten sie mit ihm und seinem Bruder vor? Daß es nichts Gutes sein konnte, das war dem kleinen Seewolf sofort klar. Sein Bruder stolperte über irgendetwas, das brachte ihm sofort einen brutalen Tritt des Inders ein. Außerdem sah Philip, daß die Hände seines Bruders mit einer schwarzen Schnur zusammengebunden waren und Hasard vor dem Turbankerl her durch den Felsengang trabte. Ein merkwürdiger Geruch stieg Philip in die Nase. „Räucherwerk!“ dachte er, und damit lag er gar nicht so falsch. Denn die beiden Pansigare näherten sich bereits dem unterirdischen Gewölbe, wo die riesige Statue der schwarzen Todesgöttin stand und in dem Asanga und die anderen Anhänger der Kali sich gerade vor der Göttin verneigten und ihre Schädel auf den golddurchwirkten, spiegelblanken Boden der Halle preßten. Philip zögerte nicht länger. Sein Schädel schmerzte zwar, aber sein Verstand arbeitete wieder präzise, und auch seine Glieder gehorchten einwandfrei. Nur ein scharfes, unangenehmes Brennen in der Kehle behinderte seine Atmung. Eine Folge der ruckartig und mit großer Kraft zugezogenen Seidenschlinge, die der Pansigar ihm über den Kopf geworfen hatte. Aber das wußte Philip in diesem Moment noch nicht, dazu war alles viel zu schnell und zu überraschend geschehen. Der Pansigar, der den vermeintlich Bewußtlosen auf der Schulter durch den Gang zum Heiligtum des Kali-Tempels trug, war nicht darauf gefaßt, als sich sein Opfer plötzlich mit einem wilden Ruck selbständig machte, ihm genau vor die
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Füße fiel und gleichzeitig seine Beine packte. Der Pansigar ging zu Boden. „Hasard!“ Philips Schrei hallte durch den Felsengang. Hasard fuhr herum, sah den Pansigar, der seinen Bruder eben noch geschleppt hatte, stürzen. Er reagierte sofort und sprang den völlig überraschten Peiniger in seinem Rücken an. Mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, rammte er dem Inder seinen Schädel in den Leib. Der Pansigar stöhnte auf. Vor seinen Augen drehte sich alles, so überraschend war dieser Angriff gekommen. Ihm blieb die Luft weg, und in diesem Moment, in dem er noch versuchte die Balance zu halten, traf ihn der zweite Kopfstoß des kleinen Seewolfs, der durch die harte Arbeit an Bord der „Isabella“ genau wie sein Bruder trotz seiner zehn Jahre über stahlharte Muskeln, respektable Kräfte und blitzartiges Reaktionsvermögen verfügte. Der Pansigar ging brüllend zu Boden, er fiel quer über seinen Kumpan. Im Nu hatte Hasard ihm sein Entermesser, das er sich in den Gürtel gesteckt hatte, entrissen. Das gleiche gelang auch seinem Bruder, und mit zwei raschen Schnitten durchtrennten die beiden ihre Fesseln. Dann sprangen sie über die am Bo- den liegenden, brüllenden Inder hinweg und rannten den Gang hinunter, genau in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie blickten sich nicht um, aber sie vernahmen plötzliches Stimmengewirr. Indische Flüche wurden laut, bis sich eine laute, scharfe Stimme Ruhe verschaffte. Philip sah sich in diesem Moment um. Er gewahrte im Schein der Fackeln einen großen Inder, der am Turban eine blitzende Agraffe trug und dessen Gesicht von einem grauen Bart umrahmt wurde. Er zeigte auf ihn und Hasard, dann brüllte er ein paar Befehle in einer Sprache, die weder Philip noch Hasard verstanden. Aber die beiden kümmerten sich auch gar nicht darum. Sie rannten, was ihre Beine und Lungen hergaben. Sie wollten raus, ihnen saß das Grauen im Nacken, sie
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begannen zu ahnen, auf was für ein Abenteuer sie sich da eingelassen hatten. Das Gebrüll verebbte hinter ihnen, die Inder blieben zurück, jedenfalls dachten die Zwillinge das. Aber dann verzweigte sich plötzlich der Gang, durch den sie rannten, nach drei Richtungen. Hasard blieb abrupt stehen, und sein Bruder prallte gegen ihn. Ratlos starrten die beiden in die drei Richtungen, und wieder wurde jeder Gang durch brennende Fackeln erleuchtet. „Dorthin, Philip, rasch!“ entschied Hasard sich für einen der Gänge. „Wir müssen hier raus, hier findet uns nicht einmal Dad, wenn die Kerle uns kriegen!“ keuchte er, und sein Bruder hatte gerade noch genug Atem, um ihm zuzustimmen. Die beiden rannten los. Der Gang wand sich durch den Felsen, und er führte zu ihrem Schrecken immer weiter abwärts, so daß ihnen schon bald klar wurde, daß sie auf diesem Wege niemals wieder an die Oberfläche der Insel gelangen konnten, auf der sich der Tempel befand. Und daß es sich um eine Insel handelte, in deren Innern sie um ihr Leben rannten, daran zweifelte in diesem Moment keiner mehr von ihnen. Der Gang führte immer weiter abwärts und damit ins Innere der Insel. Aber die Zwillinge gaben nicht auf. Und sie hatten einen Vorteil auf ihrer Seite: Auch Asanga und seine Inder wußten nicht, für welchen der Gänge die beiden sich an der Kreuzung entschieden hatten. Der Hohepriester der Todesgöttin Kali tobte, als er erfuhr, was geschehen war. „Ihr Nichtswürdigen, ihr laßt euch von zwei Knaben überwältigen, die Kali in eure Hände gegeben hatte, damit wir die Weißen fangen konnten, die sich auf dem Schiff befinden!“ sagte er, während die beiden Pansigare, noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht, vor ihm standen. „Der Zorn Kalis wird euch treffen, und wenn die beiden weißen Knaben uns entkommen, dann werde ich euch Kali opfern, um sie zu versöhnen!“ Die beiden Pansigare zuckten zusammen. Sie kannten Asanga und wußten, daß er,
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ohne zu zögern, tun würde, was er ihnen angedroht hatte. Aber Asanga kümmerte sich bereits gar nicht mehr um sie. Er hatte sich den anderen Männern zugewandt. „Rasch, mir nach. Wir teilen uns in drei Trupps, jeder Trupp folgt einem der Gänge. Ich selber werde den mit ein paar Männern absuchen, der zu den Verliesen führt, in dem sich die Gefangenen befinden.“ Asanga eilte davon, gefolgt von vier Pansigaren. Zwei von ihnen trugen runde, grünlich aussehende Tontöpfe. Die anderen beiden Trupps verschwanden in die anderen Gänge. Doch so sehr Asanga sich beeilte, die beiden Knaben waren und blieben verschwunden. Vor den Gewölben, in denen die Gefangenen sich befanden. blieb Asanga stehen. Seine schwarzen Augen glühten die Gefangenen an. Aber er sagte nichts, stattdessen versuchte sein scharfer Verstand fieberhaft zu ergründen, wohin die beiden weißen Knaben sich gewandt haben konnten. Waren sie in einen der anderen beiden Gänge geflohen, dann würden seine Pansigare sie rasch einholen und wieder einfangen. Waren sie jedoch diesem Gang hier gefolgt, vorbei an den Verliesen der Gefangenen, dann gab es mehrere Möglichkeiten. Asanga schloß die Augen und konzentrierte sich. Nein, es hatte keinen Sinn, jetzt weiter nach ihnen zu suchen, falls die anderen beiden Trupps sie nicht inzwischen wieder aufgespürt hatten. Er hatte Wichtigeres zu tun. Die Weißen, die sich auf dem Schiff befanden, das draußen vor der Insel ankerte, durften nicht entkommen. Wenn das geschah, würde ihn der Zorn Kalis treffen, denn sie hatte diese Weißen hierhergeführt, um sie in seine Hand zu geben, damit er Kali zum Neumondfest die verlangten Opfer darbringen konnte. Und das sollte geschehen. „Ihr durchsucht die Gewölbe hier unten!“ befahl er den Pansigaren. „Ich will die beiden Knaben lebend, wagt nicht, sie zu
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töten oder sie entkommen zu lassen. Kalis Zorn würde euch treffen!“ Die beiden Würger der schwarzen Todesgöttin verneigten sich vor dem Hohepriester. „Sie werden nicht entkommen, Erhabener, wir werden sie dir lebend bringen!“ sagte der eine und verharrte in seiner gebeugten Haltung, bis Asanga das Gewölbe verlassen hatte. Als Asanga hinter der ersten Biegung des ziemlich steil aufwärts führenden Ganges verschwunden war, richtete sich der Pansigar wieder auf. „Ihr habt gehört, was der Erhabene befohlen hat“, sagte er dumpf, und gleichzeitig warf er einen haßerfüllten Blick auf das Mädchen, daß sich an die Gitter ihres Verlieses gedrängt hatte und ihn anstarrte. „Wir teilen uns jetzt, und suchen hier unten alles systematisch ab. Wenn sie diesem Gang gefolgt sind, dann können sie nur bis zu den Totenkammern gelangt sein. Und dort werden wir sie finden.“ Aber er ahnte nicht, daß Asanga einen schweren Denkfehler begangen hatte, indem er gerade diesen vier Männern die Suche nach den Zwillingen übertrug. Sie waren noch nicht allzu lange als Diener der Göttin Kali auf der Insel, und deshalb kannten sie auch nicht alle Geheimnisse der Gewölbe in ihrem Innern. * Hasard und Philip waren um ihr Leben gerannt, und sie wußten es. Sie waren dem abwärtsführendem Gang immer weiter gefolgt, und jetzt lehnten sie keuchend an einem Felsen, der leicht vorsprang. Sie brauchten einige Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. „Wir müssen weiter, Hasard!“ drängte Philip seinen Bruder. „Sie sind bestimmt hinter uns her, sie kennen sich hier unten aus und werden uns finden, wenn wir hier stehenbleiben.“ Hasard nickte. Dann sprang er zu einem der Eisenarme vor, in dem die Fackeln, die die unterirdischen Gewölbe beleuchteten,
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steckten, und riß eine heraus. Anschließend rannten die beiden weiter. Sie gelangten nach einigen Minuten an eine Stelle, wo sich der Gang erweiterte und schließlich ein nahezu kreisrundes Gewölbe bildete, von dem sternförmig verschiedene Stollen abzuzweigen schienen. Hasard leuchtete in einen der Stollen hinein, und vor Schreck blieb ihm fast das Herz stehen. Totenschädel grinsten ihn aus ihren leeren Augenhöhlen an, Gebeine lagen herum und schimmerten bleich im Licht der flackernden Fackel. In diesem Moment wurde das Gewölbe von schrillen Schreien erfüllt, die von irgendwoher durch die Gänge zu den Zwillingen drangen. Deutlich vernahmen sie portugiesische Worte und dann die laute Stimme eines Mädchens, das die anderen zur Ruhe mahnte. Dazwischen erfüllten indische Flüche die Gänge und brachen sich als schauerliches Echo an den Wänden. „Gefangene, Philip, dort befinden sich irgendwo Gefangene!“ Hasard flüsterte diese Worte nur, aber sein Bruder verstand ihn und sah die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen seines Bruders. „Fort hier, Hasard, sie kommen, sie können jeden Augenblick hier sein!“ keuchte Philip, den in diesem Moment auch die Panik zu packen drohte, denn die gräßlichen Schreie rissen nicht ab. Die beiden rannten los. Das Licht ihrer Fackeln geisterte über die Wände des Gewölbes, aber es schien keinen Ausweg für sie zu geben. Nur einer der Stollen erwies sich leer. Keine Gebeine lagen dort herum, keine Totenschädel grinsten die beiden Jungen an. Ohne zu zögern, rannten sie in den Stollen hinein, folgten seinem Verlauf, bis er vor einer Felswand endete. Sie blieben stehen. „Aus“, sagte Hasard nur, und begann aber trotzdem die Felswand vor sich abzuleuchten. Plötzlich begann die Flamme der Fackel wie wild zu tanzen. Philip, der hinter seinem Bruder stand, bemerkte das sofort. Er streckte die Hand hoch - und er spürte den Luftzug, der aus
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einer kleinen, fast runden Öffnung aus den Felsen hervorströmte. „Hasard, dort!“ sagte er und vermochte vor Aufregung kaum zu sprechen. „Dort strömt Luft heraus, es muß ein Schacht oder ein Stollen sein, der zur Belüftung der Gewölbe hier unten dient, durch ihn muß man ins Freie gelangen können!“ Hasard begriff sofort. „Rasch, Philip, versuch, ob du rein kannst!“ sagte er und leuchtete seinem Bruder mit der Fackel, die sofort bedrohlich zu flackern begann. Philip zwängte Kopf und Schultern in die Öffnung. Er wand sich wie ein Aal, und sein Bruder schob aus Leibeskräften nach. Dabei entglitt ihm die Fackel, fiel zu Boden und verlosch auf der Stelle. Aber Philip hatte es in diesem Moment geschafft. Zwar hatte er sich die Hose zerrissen, aber das scherte ihn nicht. „Schnell, Hasard. Zieh deine Hose aus, dann geht es leichter. Gib mir dein Entermesser und auch die Fackel, sie dürfen von uns nichts im Gewölbe finden, oder sie wissen sofort, wo wir stecken, wie wir geflohen sind.“ Hasard gehorchte. Er reichte seine Hose, sein Entermesser und auch die verloschene Fackel in die Öffnung hinauf, die er im schwachen Licht der beiden das Gewölbe beleuchtenden Fackeln nur gerade noch erkennen konnte. Dann schob er sich ebenfalls mit Kopf und Schultern in den Belüftungsschacht, wand sich wie ein Aal, während sein Bruder ihn bei den vorgestreckten Armen packte und nach Leibeskräften zog. Mit einem letzten Ruck schaffte er es, Hasard zu sich hineinzuziehen. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment stürmten zwei Pansigare in das Gewölbe und blickten sich wild um. Hasard und Philip krochen in sich zusammen, machten sich so klein wie möglich und rührten sich nicht. Die Pansigare durchsuchten das Gewölbe. Rücksichtslos wühlten sie zwischen den Totenschädeln und Gebeinen der Totenkammern herum, und dann standen
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sie plötzlich auch in der Kammer, in die der Luftschacht mündete. Philip und Hasard schlug das Herz bis zum Hals. Sie hörten, wie die Würger der schwarzen Göttin ein paar Worte miteinander wechselten, aber sie verstanden nicht, was sie zueinander sagten. Dann begannen sie auch die Kammer abzusuchen, nur den Belüftungsschacht übersahen sie entweder oder beachteten ihn nicht. Nach qualvollen Augenblicken, die den Zwillingen wie eine Ewigkeit erschienen, verließen sie das Gewölbe schließlich wieder, um ihre Suche fortzusetzen. Hasard und Philip hörten ihr Gefluche noch eine ganze Weile, ehe es wieder still wurde im Gewölbe der Toten. Die Zwillinge zitterten am ganzen Körper, ihre Herzen schlugen bis zum Hals, als sie sich endlich daran machten, den Belüftungsschacht entlangzukriechen. Keiner sagte es dem anderen, aber beide dachten voller Schrecken daran, was sie wohl tun sollten, wenn sie an eine Stelle gerieten, die zu eng war, um sie durchzulassen ... 4. Die feuchte Schwüle, die über der „Isabella“ lagerte, setzte den Seewölfen zu. Ed Carberry und Ferris Tucker hatten sich auf dem Achterdeck ein ruhiges Plätzchen gesucht, der Seewolf war in seiner Kammer verschwunden. Ben Brighton hatte sich nach seiner Wache ebenfalls zur Ruhe begeben. Aber richtig schlafen konnte keiner an Bord. Sogar den alten O’Flynn trieb es in dieser Nacht immer wieder über die Decks der „Isabella“, nachdem er mit seinem Sohn Dan schon einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen hatte. Pete Ballie, Batuti, Matt Davies, Jeff Bowie und Gary Andrews dösten zwischen den Culverinen auf dem Hauptdeck, aber schlafen konnten auch sie nicht. Nur die sechs Mann, die Wache hatten, patrouillierten über das Schiff. Zu den Wachen gehörten um diese Stunde auch
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Bill, der Moses der „Isabella“, und Dan O’Flynn, der normalerweise auf dem Achterdeck als Navigator Dienst tat. Der Kutscher lag neben. der Kombüse und verfluchte das ganze Indien, das ihnen neben der mörderischen Hitze auch schon so manchen dicken Ärger eingebracht hatte. Hin und wieder warf er einen Blick über das Deck, immer in der Hoffnung, daß sich der Nebel lichten möge, aber die Hoffnung erwies sich in dieser Nacht als völlig vergeblich. Carberry und Ferris Tucker unterhielten sich leise. Ab und zu horchten sie auf die See hinaus, dorthin, wo dieser vermaledeite Gong ertönt war. Aber alles blieb ruhig, nichts rührte sich um die „Isabella“ her. Manchmal drang das leise Glucksen der gelbbraunen Fluten zu ihnen empor, die an der „Isabella“ vorbeiströmten. Die „Isabella“ lag nahezu unbewegt in der Strömung, ihr Bug wies immer noch genau dahin, wohin er sich nach dem Ankerwerfen gedreht hatte. Es war ein für Carberry nahezu unerträglicher Zustand, daß keiner an Bord, auch der Seewolf nicht, so recht wußte, wo man sich befand. Carberry kratzte sich voller Unbehagen am Kinn, dann sah er Ferris Tucker an. „Du, Ferris, mir geht dieser verdammte Gong nicht aus dem Kopf. Erstens schien mir das Ganze ziemlich nah gewesen zu sein, und zweitens ...“ Carberry verfiel ins Grübeln. Ferris Tucker versuchte aus seinen Zügen herauszulesen, was in Carberrys Schädel vor sich ging. „Und zweitens, Ed? Was war zweitens?“ hakte er schließlich nach, als der Profos in dumpfes Brüten verfallen war. Carberry schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Wie, was? Ach so, ja, zweitens habe ich ein Gespräch zwischen den beiden Rübenschweinchen belauscht, rein zufällig allerdings. Und das, was sie sagten, schien mir gar nicht so abwegig zu sein. Natürlich habe ich die beiden, die sich gerade gegenseitig ans Leder wollten, wieder in ihre Taurollen gescheucht. Ich hätte doch lieber noch etwas warten sollen ...“
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Wieder wollte er ins Grübeln verfallen, aber diesmal ließ ihm der Schiffszimmermann keine Zeit dazu. „He, Ed, jetzt erzähl mir erst mal, was diese beiden Rangen gesagt haben. Die Kerlchen sind nicht dumm, und manchmal hören sie fast das Gras wachsen. Das habe ich schon öfter beobachtet. Also, wovon haben die beiden gesprochen, und warum wollten sie sich ans Leder?“ Carberry kratzte sich abermals an seinem gewaltigen Kinn. „Also, das war so ...“ begann er und berichtete dem Schiffszimmermann, was er gehört hatte. „Ich war später noch mal auf der Back und habe nach den beiden gesehen, man kann bei ihnen ja nie so recht wissen, was sie im nächsten Augenblick anstellen, aber sie schliefen friedlich zusammengerollt wie junge Katzen in ihren Taurollen.“ Ferris Tucker schwieg eine Weile. Auch er war nachdenklich geworden. Aber dann richtete er sich plötzlich auf. „Da könnte was dran sein, Ed“, sagte er endlich. „Ich habe von höchst gefährlichen Sekten gehört, die auf Menschenjagd gehen und ihren Göttern Menschenopfer darbringen sollen. Wäre ja eine ganz verflixte Nachbarschaft für unsere „Isabella“. Dieser Gong jedenfalls war nicht weit weg, und ein verdammt großes Exemplar muß es ebenfalls sein, sonst hätte der nicht so gedröhnt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, von diesen Gongschlägen innerlich ins Zittern geraten zu sein, wenn du weißt, was ich damit sagen will. Ich kann das nicht besser ausdrücken.“ Eine große dunkle Gestalt schob sich auf sie zu. Es war Big Old Shane, der einstige Waffenmeister derer von Arwenack und nunmehriger Waffenexperte und Schmied der „Isabella“. Seine Wache war gerade zu Ende, er wollte sich ein wenig zu Ferris Tucker und Carberry gesellen, denn an Schlaf war auch für ihn nicht zu denken. Er hatte die letzten Worte des Schiffszimmermanns gehört. Jetzt hockte er sich neben die beiden auf die Planken und warf Ferris Tucker einen zustimmenden Blick zu.
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„Stimmt genau, das mit dem Gong“, sagte er. „Auch ich hatte so ein Gefühl, und auch mich beunruhigt diese ganze Sache irgendwie. Aber bei dieser verdammten Suppe können wir wirklich nichts unternehmen. Es wäre Wahnsinn gewesen, weiterzusegeln. Hasard hatte gar keine Wahl. Die Gefahr, daß die ‚Isabella’ bei der ständig fallenden Wassertiefe irgendwo aufbrummte, war viel zu groß.“ Carberry starrte durch die Schmuckbalustrade in den Nebel. „Ich werde mal sehen, ob die beiden Rübenschweinchen schlafen oder ob sie auch wach sind. Wenn ja dann bringe ich sie mit, und sie können uns ja mal erzählen, wie sie auf den Gedanken geraten sind, daß sich da vor uns eine Insel mit einem Tempel befinden könnte.“ Er erhob sich, blieb dann aber noch mal stehen. „Die Kerlchen haben -verdammt scharfe Ohren. Die haben schon oft viel mehr gehört, als wir wußten. Besonders das, was sie nicht hören sollten!“ Carberry lachte, aber bemühte sich, sein gewaltiges Organ der Nacht entsprechend zu dämpfen. Ferris Tucker erhob sich ebenfalls. „Ich komme mit, Ed. Irgendwie muß man sich in dieser verdammten Nacht mal die Beine vertreten, man kriegt von dem ewigen Herumgesitze ja Schwielen am Hintern!“ Auf dem Hauptdeck begegneten sie Will Thorne. dem Segelmacher der „Isabella“, und auch Al Conroy, ihrem Stückmeister. Die beiden hatten gerade die Wache für Big Old Shane und Smoky übernommen. Smoky hockte in einiger Entfernung auf dem Steuerbordschanzkleid und starrte in die See. „Eine der lausigsten Nächte, die ich je an Bord unserer Old Lady erlebt habe“, brummte Carberry und wollte schon weitergehen, aber dann blieb er plötzlich stehen. „He, Will“, wandte er sich an den Segelmacher.
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„Ja, Ed?“ fragte der weißhaarige und ansonsten sehr stille, in sich gekehrte Mann zurück. „Habt ihr schon die Back kontrolliert, Will?“ fragte Carberry weiter. Will Thorne nickte. „Ja, gerade eben, wir kommen von dort. Warum willst du das wissen, Ed?“ „Auf dem Gallionsdeck liegen die Zwillinge. Sie filzen in Taurollen, habt ihr sie gesehen, oder wart ihr dort nicht?“ fragte er sofort, als Will Thorne sogleich den Kopf schüttelte. „Natürlich haben wir auch das Gallionsdeck kontrolliert. Da liegen zwei Taurollen, die dort nicht hingehören, aber von den beiden haben wir nichts bemerkt, oder hast du sie gesehen, Al?“ fragte Will Thorne den Stückmeister. Doch der schüttelte ebenfalls den Kopf. Der Profos hatte plötzlich ein ungutes Gefühl im Magen. Da er nicht schlafen konnte, war er hin und wieder über die Decks gewandert, aber von den beiden Rangen hatte er nicht das geringste gesehen oder gehört. Er kannte sie jedoch gut genug, um zu wissen, daß sie sich bei dieser bestialischen Hitze bestimmt nicht unter Deck aufhielten. Blieben noch die Mastkörbe der „Isabella“, oder die Kombüse, falls sie wieder mal hinter ein paar Stück Kandiszucker her waren. „Komm, Ferris, sehen wir noch mal nach. Und ihr beiden, ihr sucht mal, ob ihr die Rübenschweinchen irgendwo entdecken könnt. Purrt Bill hoch und jagt ihn in die Wanten, ich will wissen, was die beiden treiben, klar? Laßt auch im Achterschiff nachsehen, und wenn wir sie nicht finden, dann drehen wir die Old Lady um, klar?“ Will Thorne sah den Profos zweifelnd an. „He, was soll denn mit den beiden schon sein, Ed? Die treiben sich irgendwo im Schiff herum, warum bist du so ...“ „Verdammt, ihr sollt nach ihnen suchen, habe ich gesagt. Und wenn ich das sage, dann meine ich das auch, Will!“ fügte er hinzu, und diesmal dämpfte er seine Stimme keinesfalls.
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Ein paar der Seewölfe richteten sich auf und starrten die vier Männer auf dem Hauptdeck unwirsch an. „He, mußt du elender Wasserbüffel hier so rumbrüllen mitten in der Nacht?“ murrte Blacky. „Ich war gerade mal ein bißchen eingepennt, du gönnst wohl auch keinem Christenmenschen die Nachtruhe, was?“ Aber Carberry hörte das schon gar nicht mehr. Zusammen mit dem Schiffszimmermann hastete er in Richtung Back davon. Ferris und er enterten die paar Stufen zum ungewöhnlich flach gehaltenen Vorkastell der „Isabella“ auf, dann standen sie dort und starrten in die leeren Taurollen auf dem Gallionsdeck. „Sie sind weg, diese Rübenschweinchen!“ sagte der Profos voller dumpfer Ahnungen. Schließlich kannte er die beiden Bürschchen ziemlich genau und auch ihre unberechenbare Abenteuerlust. Ferris Tucker sprang aufs Galionsdeck hinab. „Was heißt weg, Ed?“ fragte er. „Wohin, zum Teufel, könnten sie bei diesem Nebel denn sein? Das wäre doch bodenloser Leichtsinn, die finden die ‚Isabella’ ja niemals mehr wieder ...“ „Genau das, Ferris. Aber bist du sicher, daß diese Rübenschweinchen an so etwas denken, wenn sie plötzlich auf die Idee verfallen, zu erkunden, ob es denn nun eine Insel mit einem Tempel gibt oder nicht?“ Ferris Tucker fuhr herum. An diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht. Er wußte, daß Carberry sich mehr als jeder andere um die beiden Rangen kümmerte, seit die Rote Korsarin sich nicht mehr an Bord der „Isabella“ befand. Ausgenommen vielleicht noch Will Thorne und der Kutscher. Also konnte Ed auch am besten beurteilen, wozu diese beiden fähig waren. Besonders in einer Nacht wie dieser, in der kaum ein Mann an Bord zu schlafen vermochte, in der alle an Bord von übelster Langeweile geplagt wurden. „Ed, du meinst wirklich, sie könnten ...“ „Ich meine gar nichts, aber ich denke nach. Was ist mit den Beibooten, verdammt noch mal, die sind doch an Bord. Außerdem, wie sollten die beiden denn ...“
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Nein, das schied aus. „Ferris, alarmiere die Crew. Das Schiff wird abgesucht, wenn sie jetzt nicht antworten.“ Carberry rief die Namen der beiden kleinen Seewölfe mit wahrer Donnerstimme durch die Nacht. Im Nu war die Crew der „Isabella“ auf den Beinen. Sie wußten, daß Carberry so etwas nicht ohne Grund tat. Auch Hasard fuhr in seiner Kammer hoch, ebenfalls Ben Brighton. Die beiden Männer stürmten an Deck. Aber Hasard und Philip gaben keine Antwort. Auf der „Isabella“ herrschte gespenstische Stille. Aber dann umringten sie ihren Profos und den Schiffszimmermann. Von allen Seiten hagelten die Fragen auf Carberry nieder. „Maul halten, verdammt noch mal!“ brüllte der Profos. „Seid ihr denn alle alte Weiber, die einfach drauflos quatschen? Los, durchsucht das Schiff, vom Kielschwein bis zu den Toppen. Ich will wissen, ob sich die beiden irgendwo an Bord verkrochen haben oder wieder einen ihrer verdammten Streiche aushecken, oder ob sie tatsächlich ...“ Der Seewolf erschien, und die Männer, die um Carberry und Ferris Tucker einen Ring gebildet hatten, ließen ihn sofort durch. „Oder ob sie was, Ed?“ fragte er, und eine steile Falte stand über seiner Nasenwurzel. Und das war verdammt kein gutes Zeichen. Carberry erklärte es ihm, und sogar im Schein der Deckslaterne sah er, wie der Seewolf erbleichte. „Laß das Schiff durchsuchen, aber ich sage dir schon jetzt, Ed, daß es keinen Sinn haben wird. Trotzdem, los, fangen wir an!“ Hasard spürte einen wilden Zorn über seine beiden Söhne in sich aufsteigen. Verdammt, dachte er, so dumm und so klein sind Sie ja nun auch nicht mehr, daß sie Gefahren einer solchen Nebelnacht nicht abzuschätzen vermochten. Und in diesem Augenblick wurde dem Seewolf wieder schmerzlich bewußt, wie sehr den beiden eine Mutter fehlte. Er dachte an Gwen, seine Frau, die die Schergen der Krone von England auf dem Gewissen hatten.
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Eine wilde Suche begann auf der „Isabella“. Und genau sie sollte den Männern zum Verhängnis werden. * Asanga hatte keine Zeit verloren. Er wußte zwar nicht, wie es de’ beiden Jungen gelungen sein konnte, seinen Männern zu entkommen. Aber das würde er später klären. Befanden sie sich im unterirdischen Labyrinth der Gänge, dann konnten sie nicht heraus, ohne erwischt zu werden, dafür war gesorgt. Nein, das hatte Zeit. Viel wichtiger war Asanga im Moment die Besatzung des Schiffes. Er hatte eine Weile nachgedacht, während zum Überfall alle Vorbereitungen getroffen worden waren, wie die beiden die Insel gefunden haben könnten. Durch den Gong, sagte er sich schließlich. Sie hatten trotz des Nebels die Richtung ausgemacht, aus der die Gongschläge den kleinen Handgongs der ankommenden Boote antworteten. Eine Einrichtung, die Asanga und seine Pansigare schon lange benutzten, weil das Ganges-Delta an dieser Stelle sehr oft von dichtem, undurchdringlichem Nebel heimgesucht wurde. Aber wie, so hatte sich der Hohepriester der Kali weitergefragt, hätten sie es anstellen wollen, in diesem Nebel auch wieder zu ihrem Schiff zurückzufinden? Auf ihren Ortssinn konnten sie sich wegen der herrschenden Strömungsverhältnisse im Ganges-Delta nicht verlassen, das wußte er, und das hatten auch die beiden Jungen gewußt, davon war Asanga überzeugt. Er hatte eine ganze Weile überlegt, ehe er darauf verfallen war, wie sie es vielleicht angestellt haben konnten, welche Sicherung sie für ihre Rückkehr eingebaut hatten. Als Asanga dieser Gedanke gekommen war, hatte er sofort Befehl gegeben, bei den Booten, denn dorthin hatten die Tropfspuren aus ihren nassen Hosen gewiesen, alles abzusuchen. Und zwar jeden Yard in der Umgebung der Boote. Das hatte zwar Zeit in Anspruch genommen, aber dann waren ihre
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Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen. Einer der Pansigare hatte an jenem ins Gangeswasser herabhängenden Zweig die Rolle mit dem Kabelgarn gefunden. Asanga beherrschte sich nur mühsam, als er von dieser Entdeckung erfuhr. Denn soviel war klar: Kali hatte die Fremden jetzt endgültig in seine Hand gegeben. Die restlichen Vorbereitungen waren schnell abgeschlossen. Wenig später glitten vier mit Pansigaren besetzte Boote in den Nebel hinaus. Die Paddel verursachten beim Eintauchen nicht das geringste Geräusch, an Bord der Boote wurde keine Silbe gesprochen. Das erste. Boot hatte die Rolle mit dem Kabelgarn an Bord, ein Mann im Bug zog den Faden behutsam ein, und so fanden die Pansigare die „Isabella“ fast mühelos. Asanga, der ebenfalls im Bug des ersten Bootes stand, sah die Umrisse des Schiffes aus dem Nebel wachsen. Er gab ein Handzeichen, sofort zu stoppen, denn an Bord der „Isabella“ brach in diesem Moment ein wüstes Gebrüll aus. Es war der Moment, in dem Carberry entdeckt hatte, daß die Zwillinge vom Gallionsdeck verschwunden waren, der Moment, in dem die Suche nach den beiden begann. Asanga, der englischen Sprache zu großen Teilen mächtig, verstand sogar, was an Bord der verhaßten Fremden für Befehle erteilt wurden. Ein satanisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Kali hat euch den Verstand geraubt“, murmelte er. „Sie gibt euch in meine Hand. Sie verlangt Opfer von mir – und ich werde ihr diese Opfer bringen. Danach wird Kali ihrem untertänigstem und treuestem aller Diener nicht mehr zürnen!“ Er horchte noch eine Weile zu dem großen Schiff hinüber, daß durch den Nebel nur gerade noch zu erkennen war. Unterdessen schoren die anderen Langboote bei Asanga längsseits. „Wir entern auf. Aber laßt euch auf keinen Kampf ein, sondern werft die Töpfe. Vor allem ins Innere des Schiffes. Und auch an Deck, aber werft sie rasch, die Fremden sind gefährlich. Dann springt ins Wasser und schwimmt zu den Booten zurück. Erst
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wenn die Töpfe ihre Wirkung erzielt haben, greifen wir an.“ Die Pansigare murmelten Zustimmung, danach lösten sich die vier Boote voneinander und kreisten die „Isabella“ ein. Anschließend näherten sie sich dem Schiff Yard um Yard, bis sie an der Bordwand der „Isabella“ längsseits schoren. Auch wieder, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, dafür sorgten die dicken Matten an ihren Rümpfen. Gleich darauf enterten die Pansigare zu beiden Seiten der „Isabella“ mit katzengleicher Gewandtheit auf, während andere ihnen die grünlich aussehenden Tontöpfe zureichten oder die an Bord befindlichen Pansigare die Töpfe blitzschnell in Netzen emporhievten. Den Seewölfen entging das alles, denn sie konzentrierten sich in diesem Augenblick voll auf die Suche nach den Zwillingen, und die meisten von ihnen befanden sich im Innern der Isabella, auf der wegen der herrschenden Hitze alle Ladeluken und Niedergänge zur Durchlüftung geöffnet waren. Ungünstiger hätte es für den Seewolf und seine Männer gar nicht sein können. Zumal sie die Waffe, die die Inder verwendeten, noch nie in ihrem Leben kennenge- lernt hatten. Und weil der dichte Nebel der Bundesgenosse der Diener Kalis war. * Die Suche nach den Zwillingen verlief völlig ergebnislos. Smoky wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Schiff, unter Deck, war die Schwüle trotz der offenen Luken nahezu unerträglich. Neben ihm stand Batuti, der riesige Gambianeger. „Nix da, Hasard und Philip”, bemerkte er überflüssigerweise. Seine dunkle Haut glänzte vor Schweiß, mit der Rechten fuhr er sich über sein Kraushaar. Im Hintergrund hörten sie. die Stimme Carberrys. Sie drang wie Donnergrollen aus den Tiefen der „Isabella“ hervor. In diesem Moment wurde der erste Topf geworfen. Er knallte dem Gambianeger direkt vor die Füße und zerbarst.
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Mit einem Fluch sprangen Smoky und Batuti zurück. Entgeistert starrten sie auf den grünlichen Nebel, der sich sofort aus der ekelerregenden Masse entwickelte, die einen riesigen Fleck auf den Planken des Laderaums bildete und bis an die Bordwände gespritzt war. „He, was sein?“ schrie Batuti. „Wer schmeißen widerliche Stinktöpfe in Laderaum, Batuti ihn hauen, bis nicht mehr wissen, wer sein!“ radebrechte er vor Aufregung in seinem fürchterlichen Englisch, das aber normalerweise inzwischen schon ganz manierlich klingen konnte. Das war der Moment, wo drei weitere Töpfe durch die Ladeluke segelten und mit lautem Krach auf dem harten Holz der Planken zerplatzten. Diesmal wurden Batuti und Smoky von der stinkenden, grünlichen Masse massiv getroffen. Sofort entwickelte sich auch auf ihren Körpern der widerliche grüne Nebel, der bereits in dichten Schwaden durch das Schiffsinnere kroch. Batuti und Smoky tanzten vor Schreck im Laderaum herum und schrien wilde Flüche in die Gegend. Carberry und Ferris Tucker hörten das Geschrei, sie stürzten herbei. Das Gesicht des Profos verfinsterte sich augenblicklich, als er die Bescherung, die riesigen dunklen Flecken auf den Planken, die klebrige Masse an den Bordwänden und die grünlichen Schwaden sah, die auf ihn zukrochen und mit jeder Sekunde dichter wurden. „Ja, zum Teufel, wie, was — was hat das zu bedeuten? Da soll doch gleich ...“ brüllte er, als die nächste Serie der Stinktöpfe auf die Planken knallte. Einen davon kriegte der Profos auf die linke Schulter, und mit lautem Gebrüll und Gefluche ging er unter der Wucht des Anpralls fast zu Boden. Ein wilder Schmerz durchzuckte seinen Körper, dann zerplatzte der Topf unmittelbar neben ihm. Überall auf dem Schiff ertönte jetzt wütendes Geschrei. Ferris Tucker begriff die Situation als erster.
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„Raus hier!“ brüllte er, aber dabei atmete er bereits einen Teil der grünlichen Schwaden ein. Ein widerlich-süßlicher Geschmack erfüllte seinen Mund. Er spürte, wie sich alles um ihn zu drehen begann. Die „Isabella“ schien ihm unter den Füßen wegzurutschen, als habe sie eine Riesenwoge einmal um sich selber gedreht, dann schlug er schwer auf die Planken und verlor sofort das Bewußtsein. Carberry sah das, sprang auf Ferris Tucker zu, wollte Smoky und Batuti etwas zurufen, aber in diesem Moment erwischten die grünen Schwaden auch ihn. Fast gleichzeitig mit Smoky und Batuti ging er auf die Planken. Auch Carberry hatte das teuflische Gefühl, daß die ganze „Isabella“ sich mit ihm drehte. Er stemmte sich mit seinen gewaltigen Kräften noch einmal empor, torkelte ein paar Schritte, brüllte, wie er glaubte, noch eine Warnung für die anderen durch das Schiff, dann verloschen für ihn alle Lichter. Er schlug abermals zu Boden und blieb dort regungslos liegen, während die grünen Schwaden der Gifttöpfe über ihn hinwegzogen und sich im Schiff ausbreiteten. Daß seine Warnung nur noch ein leises, völlig unverständliches Gekrächze gewesen war, das wußte er nicht. Die Pansigare leisteten ganze Arbeit. Sie huschten über Deck, warfen ihre Stinktöpfe in jeden Niedergang, durch jedes Schott, in jeden Laderaum, durch jede Luke, die sie entdeckten. Die Seewölfe kippten – wo immer sie von den betäubenden Schwaden erreicht wurden, schneller um, als sie die Gefahr, die ihnen aus den zerplatzten Tontöpfen entgegenströmte, begriffen. Den Seewolf erwischte es zusammen mit Ben Brighton und Big Old Shane im Vorkastell der „Isabella“. Hasard, der es doch schaffte, an Deck zu gelangen, stürzte dort zu Boden und blieb zwischen zwei Taurollen in Höhe des Fockmastes liegen. Andere Seewölfe, die sich an Deck befunden hatten, wurden von den heimtückischen Schwaden zwischen den Geschützen erwischt und verloren
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ebenfalls, noch ehe sie überhaupt begriffen, wie ihnen geschah, das Bewußtsein. Hinzu kam, daß sie die unheimlichen Angreifer im dichten Nebel zumeist gar nicht sahen oder nicht rechtzeitig erkannten. Nur eine Gruppe unter Führung von Dan O’Flynn drang unter wüstem Gebrüll auf eine Gruppe von Indern ein, die sie sofort mit einem Hagel ihrer teuflischen Töpfe eindeckte. Und mehr brauchten die Pansigare Asangas gar nicht zu tun. Die Töpfe zerbarsten auf den Geschützen, verspritzten ihre grünliche Masse nach allen Seiten, und im Nu war das ganze Geschützdeck mit grünlichem Nebel erfüllt, den die brüllenden und fluchenden Seewölfe einatmeten und dann umfielen, als hätte man ihnen Belegnägel auf die Schädel geschlagen. Die Pansigare zogen sich zurück, so, wie Asanga es angeordnet hatte. Nur ein paar von ihnen hielten das Schiff unter Beobachtung und wichen den betäubenden Schwaden immer wieder aus. Der Sieg Asangas war ein totaler. Der Widerstand der Seewölfe erlosch innerhalb weniger Minuten, und nach einer guten Viertelstunde herrschte auf der „Isabella“ die Stille des Todes. Der alte O’Flynn war einen der Niedergänge herabgestürzt und lag halb auf dem Schimpansen Arwenack, den die giftigen Schwaden ebenso betäubt hatten wie alle anderen auch. Sir John, der karminrote Aracanga-Papagei, flatterte total verstört und unter mörderischem Gekrächze in der Takelage herum, bis auch ihn die grünen Schwaden einholten und er, wild mit den Flügeln um sich schlagend, eine Bauchlandung auf dem Achterdeck machte. Mit letzter Kraft verkroch er sich ins Ruderhaus, dann lag auch er still. Nur ein einziger der Seewölfe entging den grünen Schwaden. Bill, der Schiffsjunge der „Isabella“. Er hatte sich vor der erbarmungslosen Hitze in einen der Mastkörbe geflüchtet. Als das Geschrei und Gebrüll der Seewölfe ihn aus dem Schlaf riß, war er wie der Blitz abgeentert, auf einen der Inder
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geprallt und in dem wilden Handgemenge von dem Inder über Bord geworfen worden. Da die Boote Asangas längst wieder von der „Isabella“ abgelegt und sich in den Schutz des Nebels zurückgezogen hatten, war sein Überbordgehen von den Pansigaren nicht bemerkt worden. Normalerweise wäre Bill sofort wieder zur „Isabella“ zurückgeschwommen, aber irgendetwas hinderte ihn daran. Ein widerlich-süßlicher Geschmack erfüllte seinen Mund, sein Verstand war völlig umnebelt, und eine ganze Weile schwamm er hilflos im Kreis umher. Durch Zufall geriet er dann ans Ruderblatt der „Isabella“, und dort krampfte er sich in Todesangst fest, denn immer wieder drohte ihm das Bewußtsein zu schwinden, und das hätte seinen Tod bedeutet. So hing Bill unter dem Heck der „Isabella“, er schaffte es gerade noch, Mund und Nase über Wasser zu halten. Seine Hände und Arme verfielen in eine Art Starrkrampf, und was um ihn herum vorging, das registrierte er nur noch wie wilde Phantasien, die sein Gehirn durchzogen. Daß er sich erst rund zwei Stunden später wieder an Deck der „Isabella“ zog, daran erinnerte er sich später nicht mehr, ebenso wußte er nicht, daß er zunächst an Deck in eine tiefe Bewußtlosigkeit fiel. * Als auf der „Isabella“ Totenstille herrschte, wartete Asanga noch eine Weile. Er kannte die Wirkung der Betäubungstöpfe genau. Ihre Nebel töteten keinen gesunden Mann, aber sie versetzten ihn in tiefe Bewußtlosigkeit, die einen ganzen Tag anhalten konnte, manchmal sogar länger. Erst als sich auf der „Isabella“ gar nichts mehr rührte, gab er seinen Booten das Zeichen, bei der Galeone längsseits zu gehen. Die Langboote der Pansigare setzten sich in Bewegung, glitten durch den dichten Nebel heran und machten an der „Isabella“ fest. Geschmeidig, fast geräuschlos,
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enterten die Inder an Bord, Asanga folgte ihnen. Dann stand er an Deck des Schiffes, und in seinen Augen brannte wilder Triumph. „Kali, Erhabene, Einmalige, Göttin und Herrscherin des Totenreiches, du hast deinen unwürdigen Diener erhört und diese Frevler in meine Hand gegeben. Sie werden dir zu Ehren in der Neumondnacht zu deinen Füßen sterben, o Erhabene. Zürne deinen Dienern nicht mehr länger, wir werden dir zu Ehren ein Fest bereiten, Wie es in deinem Tempel noch nie stattgefunden hat. Und du sollst ihre Todesschreie hören, o Erhabene!“ Asanga versank in Trance. Die Augen der Göttin erschienen ihm, und sie glühten ihn sanft und zufrieden an. Asanga, der auf dem Achterkastell gestanden hatte, gab seinen Pansigaren ein Zeichen. „Holt jetzt die Frevler alle an Deck. Die Zeit der Wirkung unserer Töpfe ist verstrichen, euch geschieht nichts mehr. Legt sie alle an Deck, aber vergeßt keinen, oder der Zorn Kalis wird euch treffen. Fesselt sie sorgfältig mit euren heiligen Schlingen, denkt immer daran, wie gefährlich diese Fremden sind. Wenn das alles geschehen ist, dann legt sie in unsere Boote, und wenn die sie nicht alle aufnehmen können, dann laßt das große Beiboot dieses Schiffes zu Wasser. Schafft sie zur Insel und sperrt sie in das Verlies zu Füßen der Todesgöttin. Dort werden sie bleiben und ihren Tod erwarten. Aber sorgt dafür, daß sie an dem Tag, an dem wir sie der großen Kali opfern werden, noch bei Kräften sind. Gebt ihnen zu essen und zu trinken, denn Kali verabscheut es, Kranke und Schwache als Opfergabe angeboten zu kriegen. Und jetzt tut, wie ich euch befohlen habe!“ Die Pansigare Asangas verneigten sich vor ihrem Hohepriester, sie warfen sich auf die Decksplanken der „Isabella“ vor Kali, die ihnen dieses Zeichen ihrer Versöhnung gesandt hatte. Dann erhoben sie sich mit glühenden Augen und zerrten einen der Seewölfe nach dem anderen an Deck, fesselten jeden einzelnen sorgfältig und
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ließen das große Beiboot zu Wasser. Und sie wußten erstaunlich gut mit den beiden Taljen an der Großrah der „Isabella“ umzugehen. Anschließend schafften sie die Bewußtlosen in die Boote. Sie verteilten sie so, daß keines der Boote überladen war. Nochmals durchsuchten sie das Schiff von oben bis unten, und sie zerrten noch Bob Grey und Sam Roskill, den ehemaligen Karibik-Piraten, an Deck. Als sie die „Isabella“ ein drittes Mal durchsuchten, fanden sie niemand mehr. Von Arwenack, dem bewußtlosen Schimpansen, und Sir John, dem Papagei, nahmen sie keine Notiz. Die ließen sie an Bord zurück. Asanga musterte das Schiff. Er ging langsam über die Decks. „Um die Ladung werde ich mich später kümmern“, murmelte er. „Das hat Zeit. Erst werde ich darauf achten, daß diese Weißen in den Tempel unserer Göttin geschafft und dort sicher untergebracht werden.“ Er blieb zwischen den Culverinen stehen, legte seine Rechte auf eine von ihnen und schloß abermals die Augen. Er erschrak, als er wieder die Vision von jenem heransegelnden Schiff hatte, das von einer pechschwarzen, unheildrohenden Wolke umgeben war, in der die weißen Segel der Galeone gespenstisch leuchteten und immer weiter und weiter um sich griff und ihn und den ganzen Tempel der Todesgöttin samt der Insel, auf der er sich befand, zu verschlingen drohte. Asanga öffnete die Augen. Schweiß perlte über seine Stirn. Was hatte diese schreckliche Vision zu bedeuten? Zürnte Kali ihm doch noch, oder sandte sie ihm eine Warnung vor einer Gefahr, die er noch nicht kannte? Asanga fielen die beiden Knaben ein, die seinen Pansigaren entkommen waren, und er nahm sich vor, die Suche nach ihnen sofort zu verstärken. Kali wollte offenbar nicht, daß sie entkamen. Asanga verließ die „Isabella“ als letzter. Als sein Boot ablegte und_ die große Galeone im Nebel verschwand, verwandelte. sich der Nebel um sie herum
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abermals in jene schwarze Wolke, die nach ihm und seinen Männern griff. Asanga feuerte seine Pansigare an, schneller zu paddeln. Sofort beschleunigten die Inder ihr Tempo, und das Boot schoß nur so durch das gelbbraune Gangeswasser, gefolgt von den anderen. Wenig später hatten sie den kleinen Hafen am Tempelvorplatz erreicht, und Asanga ließ die Gefangenen sofort in den Tempel schaffen. Aber keiner von ihnen merkte davon etwas, sie befanden sich in tiefer Bewußtlosigkeit, die ihnen bunte Träume vorgaukelte. 5. Die Zwillinge krochen in dem Belüftungsschacht des Labyrinths unter dem Tempel weiter und weiter empor. Schon ein paarmal hatten sie innehalten müssen, weil ihre Kräfte einfach versagten. Der Schacht erwies sich als eng und stellenweise auch sehr steil, so daß sie allergrößte Mühe hatten, überhaupt noch voranzukommen. Aber die Luft wurde mit jedem Yard, den sie weiter emporkrochen, besser, und das zeigte ihnen, daß sie sich auf dem Weg zur Oberfläche der Insel befanden. Das spornte sie an und mobilisierte ungeahnte Kräfte in ihnen. Der Luftschacht begann sich allmählich etwas zu erweitern. Hasard hielt inne. Sein Körper war schweißbedeckt. Er atmete tief durch. Die entsetzliche Furcht, es könne im Schacht eine Stelle geben, die zu eng war, um sie durchzulassen, fiel von ihm ab. Er wandte sich nach seinem Bruder um, der etwa einen Meter tiefer im Schacht steckte. „Ich glaube, Philip, wir haben es gleich geschafft. Es ist mir inzwischen auch ganz gleich, was Dad oder Carberry mit uns anstellen, ich will zur „Isabella“ zurück, wir müssen Dad warnen!“ Philip nickte, er war ebenso außer Atem wie sein Bruder. Es war eine mörderische Arbeit gewesen, sich durch den Luftkanal, der wahrscheinlich von einer künstlich erweiterten Felsspalte gebildet wurde, an
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die Oberfläche der Insel zu arbeiten. Und dabei hatten die beiden kleinen Seewölfe Glück, daß sich niemand im Tempel der Todesgöttin befand, der diesen Fluchtweg kannte, der darauf gekommen war, daß die unauffindbaren und wie vom Labyrinth verschluckten beiden weißen Knaben diesen Weg genommen haben konnten. Denn sonst hätten die Pansigare sie entweder längst mit ihren Stinktöpfen ausgeräuchert, oder sie hätten sie oben auf der Oberfläche der Insel an der Mündung des Schachtes in Empfang genommen. Daß noch eine weitere schreckliche Entdeckung auf sie wartete, das ahnten die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nach einer kurzen Ruhepause kletterten sie weiter. Da sie nun mehr Platz hatten, gelangten sie schneller voran. Endlich schimmerte über ihnen ein heller Fleck. Hasard spürte, wie sein Herz plötzlich schneller schlug. „Der Ausgang, Philip, wir haben die Mündung des Schachtes erreicht!“ triumphierte er. Er gönnte sich keine Ruhepause mehr, sondern kletterte mit allen Kräften weiter. Aber dann verlangsamten sich seine Bewegungen plötzlich. Philip, der nicht an ihm vorbeiblicken konnte, kroch dichter an ihn heran. „Was ist, Hasard, warum kletterst du nicht weiter?“ fragte er leise, und sein Atem ging dabei keuchend. Seine kleinen Lungen arbeiteten wie die Blasebälge Big Old Shanes, wenn der die Schiffsschmiede der „Isabella“ in Betrieb nahm. Hasard antwortete nicht. Er hockte verkrümmt in dem Schacht und starrte nur nach oben. Der Schlag war nach all den Strapazen, die sie hatten durchstehen müssen, einfach zu hart. Hasard schluckte, und gleichzeitig spürte er, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Tränen der Erschöpfung, der Wut, der Verzweiflung. Sein Bruder hörte ihn schluchzen. So gut es ging, schob er sich neben Hasard und blickte nach oben. Und dann sah er es auch: Ein massives Bambusgitter
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versperrte ihnen den Ausgang aus dem Schacht. Es war für Philip wie ein Schock. Unwillkürlich klammerte er sich an seinem Bruder, so gut es ging. So hingen die Zwillinge eine ganze Weile im Schacht. Keiner sagte ein Wort. Sie brauchten die Zeit, um diesen neuen Schlag zu verkraften, um überhaupt wieder zu irgendeiner Aktivität zurückzufinden. Nach einer ganzen Weile regte sich Philip. „Hasard“, sagte er in die Stille hinein, „wir sollten uns das Bambusgitter erstmal aus der Nähe ansehen. Immerhin haben wir unsere Entermesser bei uns. Umkehren können wir nicht, wir müssen da oben raus!“ Hasard antwortete nicht gleich. Aber dann kletterte er verbissen weiter. Er hatte seinen Schreck, seine Verzweiflung überwunden. Philip hatte ja recht. Es war für sie unmöglich umzukehren, dann fielen sie diesen Indern mit den fanatischen Augen und den Seidenschlingen in die Hände. Sie mußten da oben raus, oder ...“ Das „Oder“ dachte er gar nicht erst zu Ende. Der Schacht erweiterte sich mehr und mehr. Kurz bevor sie sich unter dem Bambusgitter befanden, konnten sie nebeneinander herklettern. Die letzten Yards legten sie unter Aufbietung aller ihrer Kräfte zurück. Sie hatten, seit sie sich von Bord der „Isabella“ fortgestohlen hatten, weder etwas gegessen noch etwas zu trinken bekommen. Das machte sich jetzt bemerkbar. Das hätte sogar einen ausgewachsenen Seewolf zugesetzt, die Zwillinge hingegen waren zehnjährige Jungen. Hart, Entbehrungen gewöhnt, weitaus kräftiger als normal aufgewachsene Altersgenossen — trotzdem. Die ausgestandene Angst und die Ausweglosigkeit ihrer gegenwärtigen Situation taten ein übriges. Dicht unter dem Bambusgitter gab es so etwas wie einen Felsvorsprung, auf dem sie beide Platz fanden. Eine kleine, natürliche Plattform. Hasard und Philip hatten den gleichen Gedanken. Diese Plattform bedeutete
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vielleicht sogar ihre Rettung. Erstens konnten sie eine Weile ausruhen, ohne Gefahr zu laufen abzustürzen, sobald sie einschliefen. Zweitens konnten sie von dieser Plattform aus das Bambusgitter untersuchen und ihm zu Leibe rücken. Ganz allmählich kehrten ihr Mut und ihr Lebenswille zurück. Sie zogen ihre Entermesser aus den Gürteln — Hasard hatte sich seine Hose längst wieder übergestreift, bevor sie mit dem Aufstieg begannen — und unterzogen das Bambusgitter einer gründlichen Untersuchung. Es erwies sich als außerordentlich fest und widerstandsfähig, dennoch gelang es den beiden, einen der Stäbe zu durchtrennen und anschließend mit vereinten Kräften zur Seite zu biegen. Aber noch war die Lücke zu klein, um sie durchzulassen. Verbissen arbeiteten sie weiter. Müdigkeit, Hunger und Durst waren wie weggeblasen. Sie wollten nur eins: raus aus dem Schacht, weg von der Insel, rüber zur „Isabella“. Sie arbeiteten verbissen, rissen sich die Hände auf, ihre Finger begannen zu bluten, Philip riß sich einen halben Fingernagel ab, aber er verbiß den Schmerz. Nach drei Stunden angestrengtester Schufterei hatten sie es geschafft. Sie bogen den letzten Bambusstab zur Seite, nachdem sie ihn auf der einen Seite durchtrennt hatten. Hasard schlüpfte als erster ins Freie, Philip folgte ihm. Sofort ließen sie sich in das sie umgebende Gras fallen, um nicht von einem der Inder, die sich vielleicht als Wachen draußen auf der Insel befanden, entdeckt zu werden. Dann sahen sie sich vorsichtig um. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet. Und so stellten sie fest, daß sie sich auf einem Felsplateau hinter dem hoch aus dem Nebel aufragenden Kali-Tempel befanden. „Wir müssen hier herunter und dann dorthin. Da irgendwo liegen die Boote, Hasard. Ich weiß nicht, wie spät es inzwischen ist, aber wir sollten uns beeilen.“ Hasard grinste seinen Bruder an. Jetzt, da sie erst einmal aus dem Tempel entwischt waren, kam ihnen alles andere wie ein
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Kinderspiel vor. Natürlich ahnten die beiden nicht, was sich inzwischen an Bord der „Isabella“ ereignet hatte. „Los!“ Hasard hielt sich nicht länger mit irgendwelchen Feststellungen auf. Von seinem Bruder dichtauf gefolgt, huschte er durch das hohe Gras. Sie verließen das Plateau und rannten den flachen Hang, der ebenfalls mit hohem Gras bestanden war, hinab. Dorthin, wo sie die Terrasse vermuteten und den kleinen Hafen, in dem die vier Langboote der Inder gelegen hatten. Je weiter sie sich dieser Region näherten, desto mehr Vorsicht ließen sie walten. Sie wollten nicht riskieren, abermals von den Indern ergriffen und wieder in den Tempel verschleppt zu werden. Hin und wieder verhielten sie sich mucksmäuschenstill im Gras und lauschten in den Nebel hinein. Aber es war weit und breit kein Laut zu hören, auf der Insel des Todes herrschte die Stille des Todes. Den beiden kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Undeutlich konnten sie die mächtige Pagode des Kali-Tempels im Nebel erkennen. Dann stießen sie auf den ersten Steinquader der Terrasse. Es war für sie nicht schwer, sich auf der Terrasse zu orientieren, sie fanden auch zu den Booten. Vorsichtig, auf jedes Geräusch, auf jede Bewegung in ihrer Umgebung achtend, soweit der Nebel das zuließ, krochen sie auf den kleinen Hafen zu. Und dann erstarrten sie beide mitten in der Bewegung. Denn zwischen den Langbooten der Inder lag auch das große Beiboot der „Isabella“. Fest vertäut in den Eisenringen, die in die Steinquader eingelassen waren. Hasard brachte zunächst kein Wort heraus. Irgendetwas schnürte. ihm die Kehle zu. „Dad sucht uns, er ist hier, auf der Insel, Philip!“ sagte Hasard schließlich. Aber in seiner Stimme schwangen überdeutlich starke Zweifel mit, und sein Bruder bestätigte sie ihm sofort. „Nein, das glaube ich nicht, Hasard“, versetzte sein Bruder. „Glaubst du, daß Dad das Beiboot so offen neben die
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Langboote der Inder legen würde, wenn er uns hier suchen würde?“ Ja. das stimmte. Nein, das würde ihr Vater, den man auf allen Meeren als den Seewolf kannte und fürchtete, bestimmt nicht getan haben. Er wäre eher mit ein paar Männern irgendwo auf der Insel heimlich an Land gegangen, aber das da, nein! „Aber wie kommt unser Boot dann da hin, Philip?“ raunte Hasard und versuchte sich gleichzeitig Mut zu machen. Philip sah ihn an. Überdeutlich las Hasard in den Zügen seines Bruders die Angst und die Sorge, daß inzwischen irgendetwas auf der „Isabella“ passiert sein könnte. Aber er sagte es nicht. Und er wagte sich erst recht nicht auszumalen, daß unter Umständen ihr heimlicher Ausflug daran die Schuld tragen konnte. „Wir schwimmen zur ‚Isabella’ hinüber, Philip. Wir holen uns das Kabelgarn, dann können wir die ‚Isabella’ nicht verfehlen.“ Philip nickte. Wieder lauschten die beiden eine Weile in den Nebel hinein, und als sich auch dann nichts rührte, rannten sie zu den Booten hinab, ließen sich ins Wasser gleiten und schwammen zu dem Zweig hinüber, an dem sie das Kabelgarn in der vorangegangenen Nacht befestigt hatten. Aber so sehr sie auch suchten, es war nicht mehr da. Den beiden lief es kalt über den Rücken. Denn es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatten es die Seewölfe an der Ankertrosse entdeckt und waren ihnen mittels des Kabelgarns gefolgt, oder die Inder hatten es gefunden, und diesen Gedanken wagten die beiden kleinen Seewölfe gar nicht erst zu Ende zu denken.“ Einen Moment lang hingen sie an dem Zweig im Wasser und starrten sich an. „Wir schwimmen zur ‚Isabella’ hinüber, auch ohne das Garn können wir sie nicht verfehlen. So dicht ist der Nebel nicht mehr, und ich weiß ziemlich genau, wo sie liegt“, sagte Hasard. Aber dabei zitterten seine Mundwinkel verdächtig. Abermals nickte sein Bruder. Sie ließen den Zweig fahren und schwammen davon. Dorthin, wo sie die „Isabella“ vermuteten.
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Sie hatten Glück. Schon nach kurzer Zeit tauchte die Silhouette des Schiffes aus dem Nebel vor ihnen auf. Hasard und Philip starrten wassertretend zur „Isabella“ hinüber. Ihnen war absolut nicht wohl in ihrer Haut. Zumal sich an Bord absolut nichts zu rühren schien. Langsam, ständig darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, schwammen sie schließlich weiter. Aber je weiter sie sich der „Isabella“ näherten, desto beklommener wurde ihnen zumute. Von Bord tönte keine Stimme zu ihnen herüber, kein Geräusch zeigte an, daß es auf dem Schiff überhaupt noch menschliches Leben gab. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie den Mut fanden, eines der ins Wasser herabhängenden Taue zu ergreifen und aufzuentern. * An Deck der „Isabella“ blieben sie stehen. Nebelschwaden zogen über die Decks, aber sie konnten wenigstens das ganze Schiff übersehen. Auch wenn vorne und achtern die Konturen verschwammen. Die „Isabella“ wirkte auf sie wie ein Totenschiff. Nichts regte sich an Bord. Ratlos liefen sie ein paar Schritte über das Hauptdeck: Dann sahen sie die Scherben der zerborstenen Töpfe, die häßlichen dunklen Flecken, die die Masse, mit denen sie gefüllt gewesen waren, auf den Planken hinterlassen hatten. Die Großrah war ausgeschwenkt. Lose baumelten die Taue von den Taljen herab, an denen das Beiboot abgefiert worden war. Die beiden Zwillinge standen zwischen den Culverinen und wagten nicht, sich zu rühren. Das Ganze kam ihnen so unwirklich vor, sie begriffen einfach nicht, daß die „Isabella“ zwar vor dieser dreimal verdammten Insel vor Anker lag, daß sich aber offenbar keiner der Seewölfe mehr an Bord befand. Ihr Dad hätte das Schiff doch niemals völlig allein gelassen, auch dann nicht, wenn ein furchtbarer Kampf stattgefunden hatte.
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Langsam bewegten sie sich weiter, ihre Entermesser in den kleinen Fäusten. Dann fanden sie Bill. Er lag zwischen den Culverinen drei und vier an Steuerbord. Hasard und Philip waren wie der Blitz bei ihm. Hasard kniete sich neben ihm nieder, und auch sein Bruder ging in die Hocke. Sie hatten oft genug gesehen, was der Kutscher in solchen Fällen tat. Hasard legte ein Ohr auf seine linke Brustseite, und er hörte, daß das Herz Bills noch schlug. Schwach zwar, aber doch deutlich zu vernehmen. „Er lebt, Philip, aber er ist nicht bei Bewußtsein“, stellte Hasard fest, und seine Stimme zitterte vor Freude. „Eine Pütz Wasser, ich brauche Wasser, so kriegen wir den nicht wieder wach. Verdammt, was ist denn hier bloß passiert, woher stammen die ganzen Scherben und die Flecken auf den Planken? Und warum stinkt es auf der ganzen ‚Isabella’ so?“ Mit der letzten Feststellung hatte Hasard zweifellos recht. über dem ganzen Schiff hing ein merkwürdiger, süßlicher Geruch, der ihm sofort zuwider war und ihn irgendwie an die Gerüche im Innern des Tempels erinnerte. Und daraus schloß sein scharfer Verstand sofort, was geschehen war. „Die Kerle haben die ‚Isabella’ überfallen“, sagte er. „Aber wieso sind Dad und die anderen nicht mehr hier. Dad hatte doch ausdrücklich Doppelwachen befohlen? Von uns läßt sich doch niemand von diesen verdammten Dreckskerlen so völlig überrumpeln!“ Philip sah seinen Bruder nur an. Er hatte zu diesem Punkt seine eigenen Gedanken, aber jetzt mußten sie erst mal Bill wieder zu sich bringen, der würde ihnen ohnehin einiges erzählen können. Gleichzeitig dachte Philip aber auch daran, daß Bill wahrscheinlich verdammt sauer werden würde, wenn er sie erblickte und wenn das alles hier auch nur im geringsten mit ihrem heimlichen Verschwinden von Bord zusammenhing. Zwar war Bill nur der Moses auf der „Isabella“ – aber das besagte gar nichts. Einer mußte schließlich auf einem Schiff wie der „Isabella“ der
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Moses sein. Aber Philip wußte immerhin nur zu genau, daß alle anderen Seewölfe Bill nicht nur außerordentlich schätzten, sondern ihn auch als vollwertigen Seewolf schon seit langem akzeptierten. Und so gesehen, war Bill absolut keiner, den man nicht für voll zu nehmen brauchte. Das alles ging Philip durch den Kopf, während er eine Pütz holte, sie an einem Tampen außenbords schwang und dann voll Wasser mit zu Bill zurücknahm. Sein Bruder brauchte gar nichts zu sagen, Philip wußte auch so, was zu tim war. Er zielte sorgfältig, und der Schwall Wasser traf Bill genau ins Gesicht. Er mußte die Prozedur dreimal wiederholen, aber dann schlug Bill die Augen auf und stützte sich, immer noch ziemlich benommen, auf die Ellenbogen hoch. Sekundenlang sah er die beiden Söhne des Seewolfs an, aber dann ging ein Ruck durch seinen sehnigen Körper, und er sprang auf. Einen Moment lang torkelte er noch an Deck umher, und die Zwillinge packten zu, um zu vermeiden, daß er wieder auf die Planken ging. Bill lehnte sich gegen die Nagelbank des Großmastes. Seine Augen zogen sich zusammen, als er die beiden endlich wieder klar und deutlich sah. „Ihr! Himmel und Hölle, wo kommt ihr her? Und wie seht ihr aus, verdammt?“ Die beiden blickten zu Boden, und in diesem Moment wurde Bill, der alles andere als begriffsstutzig war, die Sache klar. „Ihr habt euch heimlich abgesetzt, seid einfach von Bord ausgerissen. Ohne Erlaubnis, ohne jemand zu fragen. Und deshalb stecken Hasard und die anderen jetzt bis zum Hals in der Scheiße, und wir drei ebenfalls!“ Bill lief rot an vor Wut. „Mensch, was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Seht euch um. Wißt ihr eigentlich was passiert ist? Die Kerle haben uns überfallen, haben uns ihre verdammten Stinktöpfe unter die Nasen geknallt, daß uns allen die Laternen ausgingen. Und jetzt sind sie alle weg, spurlos verschwunden. Ich weiß gar nichts
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weiter, denn ich bin denen nur entwischt, weil mich so ein Kerl über Bord gefeuert hat, als ich vom Mast abenterte, um in den Kampf an Deck einzugreifen. Irgendwie konnte ich mich über Wasser halten, bin nicht abgesoffen, obwohl dieses verdammte Zeug, das in grünen Schwaden überall auf dem Schiff herumkroch, mich ebenfalls benebelt hatte. Wie ich wieder an Deck gelangt bin weiß ich nicht, und jetzt steht ihr vor mir wie die armen Sünder. Verflucht, ich hätte Lust euch das verdammte Fell zu gerben, daß ihr weder stehen noch laufen könnt. Und vielleicht tue ich es auch noch, wenn ich jetzt nicht sofort eine astreine Geschichte von euch verdammten Lausebengeln höre!“ . Bill griff tatsächlich nach einem Tampen und schwang ihn drohend hin und her. Die beiden Söhne des Seewolfs erkannten erst in diesem Augenblick, was sie mit ihrem Leichtsinn angerichtet hatten. Sie begriffen, wie schwer sie gegen die Borddisziplin verstoßen hatten und daß sich ihr Dad, Carberry, Ferris Tucker und alle anderen Seewölfe ihretwegen in tödlicher Gefahr befanden. Das war zuviel. Die Tränen schossen aus ihren Augen, sie begannen so heftig zu weinen, daß Bill alle Mühe hatte, sie auch nur halbwegs wieder zu beruhigen. Er legte den Tampen weg. Dann hob er die tränennassen Gesichter der beiden an und sah ihnen fest in die Augen, während sie immer noch weiterschluchzten. „Das Flennen hat jetzt auch keinen Zweck. Erzählt mir, was passiert ist. Aber laßt nichts aus. Dann sehen wir weiter. Wenn die Kerle sie wirklich verschleppt haben, dann werden wir irgendetwas unternehmen müssen, und zwar schnell, denn die sahen gar nicht so aus, als wenn mit ihnen zu spaßen wäre.“ Nach einigen Minuten gelang es den beiden, einen halbwegs klaren Bericht zu geben. Sie ließen nichts aus und beschönigten auch nichts. Und während sie sprachen, würde Bill immer blasser. . Als die beiden schließlich schwiegen und ihn aus großen, flehenden Augen ansahen, strich er ihnen über die Köpfe.
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„Setzt euch her zu mir. Das sieht böse aus, nach alledem, was ihr mir eben berichtet habt. Die Kerle haben sie in den Tempel verschleppt, und ich weiß bei allen Meermännern und Seegöttern nicht, wie wir sie da wieder herauskriegen sollen. Aber wir müssen etwas tun, uns muß etwas einfallen. Los, erzählt alles noch einmal. Erinnert euch vor allen Dingen an jede Einzelheit, ganz gleich an was, alles kann verdammt wichtig sein.“ Hasard und Philip setzten sich zu Bill. Dann erzählten sie ihm alles noch einmal, ganz von vorne an, und Bill hörte sehr aufmerksam zu. Sie waren noch nicht zu Ende, da erhob sich auf dem Achterschiff ein’ wüstes Gekrächze. Im nächsten Moment flatterte etwas an ihnen vorbei, machte eine klatschende Bauchlandung auf dem Hauptdeck und ließ unflätige Beschimpfungen vom Stapel. „Mistkerle, Affenärsche, stinkende Kombüsenkakerlaken!“ tönte es ihnen entgegen, dann entflatterte Sir John in die Takelage, wo er weiter vor sich hinschimpfte. Nur Sekunden später taumelte der Schimpanse Arwenack wie betrunken über Deck. Immer wieder verlor er die Balance und blieb schließlich neben dem Backbordschanzkleid hocken, um die drei Seewölfe aus glasigen Augen anzustarren. So ernst die Situation war, Bill und die Zwillinge mußten lachen. Und das tat ihnen gut. Aber gleich darauf waren sie wieder still. Dann begann Bill den beiden gezielte Fragen zu stellen. Und je mehr er fragte, je öfter Hasard oder Philip ihm antworteten, desto klarer wurde das Bild, das er von allem gewann. „Wir sind die einzigen, die für den Seewolf und alle anderen jetzt noch etwas tun können“, erklärte er schließlich. „Ich weiß noch nicht was, und wir haben auch noch Zeit, denn vor Einbruch der Nacht wird sowieso nichts möglich sein, aber wir werden etwas tun. Und wir werden höllisch aufpassen müssen, daß die Kerle uns hier an Bord nicht überraschen. Denn erstens
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werden sie nach euch gesucht und euch natürlich nicht gefunden haben, zweitens werden sie sich irgendwann auch für die ‚Isabella’ und ihre Ladung interessieren.“ Er sah die beiden an. „Ihr gebt mir als Seewölfe jetzt auf der Stelle euer Wort, daß ihr ohne meine ausdrückliche Erlaubnis nichts eigenmächtig unternehmt. Also?“ Die beiden streckten ihm ihre kleinen, aber harten Hände hin. „Wir versprechen es dir, Bill, wirklich!“ „Gut! Dann wollen wir jetzt mal anfangen zu überlegen. Das heißt, ihr beide legt euch sofort schlafen. Ihr müßt wieder zu Kräften kommen. Seht zu, daß ihr euch aus der Kombüse was zu essen holt und trinkt euch satt. Wer weiß, ob dafür später noch Gelegenheit sein wird. Ich werde inzwischen nachdenken und Wache halten. Und ich glaube, ich habe auch schon einen Plan!“ Die beiden bestürmten ihn, ihnen seinen Plan zu erklären, aber Bill blieb hart. „Später. Tut jetzt, was ich euch gesagt habe. Das ist alles noch zu unausgegoren, um darüber zu reden.“ Die beiden standen auf und gingen zur Kombüse hinüber. Später tranken sie sich satt, und dann fielen sie tatsächlich in tiefen Schlaf. Ihre jungen Körper verlangten ihr Recht. 6. Von diesem Moment begannen sich die Ereignisse zu überstürzen. Und zwar sowohl auf der „Isabella“ als auch im Tempel. Juana, die bildhübsche Portugiesin mit den langen, kohlschwarzen Haaren, hockte stumm in der Ecke des großen Gewölbes, das durch dicke Eisenstäbe nach vorne hin verschlossen war. Die letzte Nacht war schlimm für sie gewesen. Zusammen mit ihr befanden sich in dem Verlies zu Füßen der Kali noch ihr Vater und drei Inder einer vornehmen Kaste, die sich jedoch völlig apathisch in ihr Schicksal ergeben zu haben schienen. Denn sie saßen oder lagen stumm auf ihren
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Matten, und alle Versuche Juanas, sie anzusprechen, von ihnen vielleicht etwas Wichtiges zu erfahren, waren fehlgeschlagen. Als besonders schlimm empfand sie jedoch die Tatsache, daß auch ihr Vater immer nur für kurze Augenblicke erwachte, sie für einen Moment ansah, stöhnte und abermals in einen tiefen Dämmerschlaf versank. Juana wußte nicht, was ihm fehlte, aber sie hatte das dumpfe Gefühl, daß ihr Vater diese Gefangenschaft kaum überleben würde. Irgendetwas mußte ihm bei dem Überfall geschehen sein. Und nun starrte Juana die auf den nackten Felsenboden liegenden Seewölfe an, die ein Trupp von Indern soeben in das Gewölbe geschafft hatten. Die Männer, zum Teil wahre Riesen von Gestalt, waren bewußtlos. Und so hatten die Würger ihnen völlig sorglos die Fesseln, ihre entsetzlichen Seidenschlingen, abnehmen können, ohne dabei zu riskieren, von den Seewölfen angegriffen zu werden. Juana dachte daran, was der Kali-Priester ihr draußen auf der Terrasse ins Gesicht geschleudert hatte. Daß er sich die Männer von dem Schiff holen würde, daß auch sie der Kali in der Neumondnacht geopfert werden würden, um den ungeheuren Frevel, den Weiße der Todesgöttin angetan hatten, wiedergutzumachen. Juana fröstelte. Unwillkürlich zog sie ihr Kleid fester um den gut gewachsenen, schlanken Körper. Sie war erst achtzehn Jahre alt, sie wußte genau, welch ein grauenhaftes Ende ihr in wenigen Tagen bevorstand, und sie wußte auch, daß die Opfer der Kali grausam und auf abscheuliche Weise starben. Sie brauchte alle ihre Kraft, um nicht in Panik zu geraten, um sich nicht an die eisernen Gitterstäbe ihres Gefängnisses zu klammern und ihre ganze Angst, ihre ganze panische Furcht, die immer wieder in ihr aufzusteigen und sie zu überwältigen drohte, hinauszuschreien. Sie wußte, daß das nichts helfen würde. Denn die Eisengitter vor dem Gewölbe, in dem sie nun seit der vergangenen Nacht gefangen gehalten wurde, waren so massiv, daß
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jeder Ausbruchsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt sein mußte. Zögernd erhob sie sich. Was waren das für Männer, die diese verfluchten KaliAnbeter da eben ins Gewölbe geworfen hatten? Sie näherte sich zögernd demjenigen, der ihr am nächsten lag. Es war Carberry, der riesige Profos der „Isabella“. Behutsam hockte sie sich neben ihm nieder und betrachtete, so gut das bei dem spärlichen Licht der Fackeln möglich war, sein narbiges Gesicht. Mein Gott, dachte sie, dieser Mann sieht nicht so aus, als könnten ihm die Inder einfach eins über den Schädel geben und dann in ihren Tempel schleppen! Sie fühlte den Puls Carberrys ab, und voller Erleichterung stellte sie fest, daß er lebte. Wenn er lebt, dann leben sie wahrscheinlich alle, dachte sie, und ging daran, einen Seewolf nach den anderen zu untersuchen. Neben Carberry lag Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese am Unterarm. Neben ihm Ferris Tucker, dann Ben Brighton, dann der Seewolf selber. Bei Hasard verweilte Juana etwas länger. Irgendetwas an diesem Mann fesselte sie sofort, sagte ihr, daß dies der Anführer, der Kapitän jener anderen sein mußte. Bei Jeff Bowie blieb sie abermals stehen. Genau wie Matt Davies trug auch er eine Hakenprothese am Unterarm, aber nicht wie jener rechts, sondern am linken Unterarm. Der nächste, bei dem sie — immer nachdenklicher geworden — in die Hocke ging, war Big Old Shane und dann, neben ihm, Batuti. Auch den beiden fühlte sie den Puls, sie lebten alle. Mehr noch, sie mußten sogar bald wieder zu sich kommen, denn der Pulsschlag war nicht schwach, sondern kräftig. Sie schritt die ganze Reihe der Seewölfe ab, und nach und nach keimte Hoffnung in ihr auf. Nein, diese Männer waren nicht aus dem Holz, daß man sie einfach auf dem Altar der Kali umbringen konnte, die würden sich ihrer Haut zu wehren wissen, bis zum letzten Atemzug.
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Aber wie waren sie bloß hierher geraten? Wie hatten diese dreimal verfluchten KaliAnbeter es geschafft, sie so total zu überrumpeln? Denn anders, das war Juana sofort klar, konnte es sich nicht abgespielt haben. Flüchtig erinnerte sie sich an den Aufruhr hier unten im Gewölbe, als die Inder nach irgend jemand zu suchen schienen, als sie die drei Inder prügelten und traten, als sie ihren Vater vom Boden hochrissen und er einen seiner wenigen wachen Momente hatte und sich, soweit es sein angegriffener Gesundheitszustand erlaubte, energisch gegen die Inder zur Wehr setzte und sie ihn dann; um Ärgernis zu verhüten, wieder zur Ruhe bringen mußte. Hingen diese Vorgänge vielleicht mit jenen bewußtlosen Männern vor ihr auf dem Boden zusammen? Juana kehrte zum Seewolf zurück. Sie wußte nicht, ob diese Männer Spanier, Engländer, Holländer oder sogar Portugiesen waren, aber sie würde sich mit ihnen auf irgendeine Weise verständigen, ganz gleich, wie. Sie sprach portugiesisch, spanisch und auch leidlich Englisch. Neben dem Seewolf hockte sie sich nieder, und sie hatte Glück, Hasard begann, sich zu bewegen. Einige Minuten später schlug er die Augen auf. Das erste, was er erblickte, war Juana. Er war noch zu benommen, um sofort zu begreifen, daher starrte er das Mädchen fragend an. Juana half dem Seewolf hoch, bis er saß. „Wie kommen Sie hierher?“ fragte sie auf spanisch. „Sind Sie der Kapitän des Schiffes, das draußen vor der Insel der Todesgöttin ankert?“ fragte sie dann. Der Seewolf fuhr sich über die Stirn. Dann sah er sich um, sah seine Seewölfe bewußtlos auf den Felsen liegen. Das mobilisierte ihn. Mit einem Ruck sprang er auf, noch ein wenig taumelig, aber das kümmerte ihn nicht. Wie vorher Juana ging er von einem zum anderen, dann atmete er auf. Alle waren da, alle lebten. Bis auf Bill und bis auf seine Söhne. Doch sofort verdüsterte
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sich seine Miene, als er nun auch die anderen Gefangenen erblickte. Fragend deutete er auf sie. „Das ist mein Vater“, sagte Juana. „Wir wurden von diesen Kali-Anbetern überfallen und verschleppt. Woher die drei Inder dort drüben stammen, weiß ich nicht. Aber auch sie sollen, genau wie Sie und Ihre Männer, zum Neumondfest der Todesgöttin Kali geopfert werden. Irgendwo hier im Tempel. Ich weiß es vom Priester dieser teuflischen Sekte, die sich Thugs oder auch Thags nennen, je nachdem, wo man sich in Indien befindet.“ Der Seewolf begriff nicht sofort. „Thugs oder Thags?“ fragte er ziemlich ratlos und auch noch nicht ganz Herr seiner Sinne. „Kali-Anbeter, Insel der Todesgöttin?“ fragte er dann weiter. „Was, zum Teufel, hat das alles zu bedeuten?“ Aber dann kehrte seine Erinnerung plötzlich zurück. Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er an seine beiden Söhne dachte. Sie waren zu dieser Insel geschwommen, dabei mußten sie diesen Kali-Anbetern, wie das Mädchen die Kerle nannte, in die Hände gefallen sein. Also saßen auch sie hier irgendwo in einem der Gewölbe, falls sie noch lebten. Der Seewolf sah sich um. „Haben Sie irgendwo zwei Kinder gesehen?“ fragte er dann geradeheraus. „Zehnjährige Jungen ...“, und er unterrichtete Juana rasch mit wenigen Worten von dem, was vorgefallen war. Juana sah den Seewolf aus großen Augen an. „Ich glaube, sie waren hier“, sagte sie dann leise. „Aber es muß ihnen irgendwie geglückt sein, zu fliehen, denn hier unten war in der vergangenen Nacht der Teufel los. Die Inder waren hinter irgendjemand her, und sie haben sich aufgeführt wie die Teufel. Aber wenn es Ihre Söhne gewesen sein sollten – wie wollen sie aus diesem Tempel entkommen?“ Hasard spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er mußte dem Mädchen oder der jungen Frau recht geben. Sie hatten wirklich keine Chance gehabt, aus dem
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Tempelinneren zu entwischen. Aber wenn sie noch lebten, wo befanden sie sich? Der Seewolf sah das Mädchen an, dann stellte er sich vor. Lange sah ihn die Portugiesin an. „Es ist gut, daß Sie hier sind – jedenfalls für mich. Ich weiß nicht warum, aber ich habe wieder Hoffnung, daß wir diesen Teufeln und ihrem Opferfest doch noch entkommen werden. Sie und Ihre Männer sehen nicht so aus, als ob Sie sich einfach von diesen Kali-Anbetern abschlachten lassen werden. Ich habe sie mir vorhin alle angesehen, jeden einzelnen, und das war mein Eindruck. Und wenn Ihre Söhne leben, dann werden wir sie wiedersehen. Spätestens in jener Neumondnacht, in der das große Fest zu Ehren der Kali stattfinden soll.“ Sie sah den Seewolf aus ihren brennenden, dunklen Augen an. „Wir müssen hier raus“, sagte sie. „Aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“ Hasard nickte, aber er hatte ihr in diesem Moment noch gar nicht richtig zugehört. In Gedanken war er bei seinen beiden Söhnen, die möglicherweise ebenfalls in irgendeinem Verlies des Tempels steckten, halb wahnsinnig vor Angst. Er dachte daran, was seit dem tragischen Tod seiner Frau alles geschehen war. Man hatte die Zwillinge entführt, als Babys. Er und seine Männer hatten zusammen mit dem Franzosen Jean Ribault und Karl von Hutten und deren Crew überall nach ihnen gesucht. Dann waren seine Söhne für tot erklärt worden und schließlich – Jahre später – hatte er sie doch wiedergefunden. Der Seewolf dachte mit Grauen an diese Zeit, und auch daran, wie sehr ihm SiriTong, die Rote Korsarin in diesen schweren .Jahren geholfen hatte, den Verlust seiner Frau Gwendolyn zu überwinden. Nein, das durfte nicht alles umsonst gewesen sein. Er würde es nicht zugeben, daß diese Sektierer seine Söhne, seine Männer, ihn, das Mädchen dort und ihren Vater und die drei Inder ihrer wahnwitzigen und blutrünstigen Göttin in einer Blutorgie sondergleichen opferten. Nein, und nochmals nein, das würde nicht
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geschehen, solange auch nur noch ein Funken Leben in ihm war. Das Mädchen war unwillkürlich ein paar Schritte zurückgewichen, als sie plötzlich das eiskalte Leuchten in seinen Augen sah. Sie begriff in diesem Moment, welche Kraft, welche Entschlossenheit und welch unbeugsamer Wille von diesem Mann dort ausstrahlte. Und wieder schöpfte sie Hoffnung. Dieser Kali-Priester war hier an den Falschen geraten. Carberry begann sich zu regen. Nach ihm Ferris Tucker. Aber sie fanden nicht gleich ins Bewußtsein zurück, die betäubenden Nebel, die den Tontöpfen entstiegen waren, hielten sie immer noch in ihren Krallen. Weiter hinten im Gewölbe setzte sich plötzlich Old O’Flynn auf und stieß einen krächzenden Fluch aus; während er wild um sich blickte. Dann erwachte auch sein Sohn Dan, und schließlich, in kürzeren oder auch längeren Abständen alle anderen. Der Seewolf bedeutete seinen Männern durch eine rasche, energische Handbewegung Schweigen. In knappen Worten erklärte er ihnen, was vorgefallen war, was ihm von dem Mädchen, dessen Namen er noch immer nicht kannte, berichtet worden war. Die Seewölfe begannen zu murren. Ed Carberry richtete sich auf und funkelte den Seewolf an. „Die werden sich wundern!“ dröhnte seine Stimme durch das Gewölbe, daß sogar die drei Inder im Hintergrund des Gewölbes von ihren Matten emporfuhren und ihn voller Entsetzen anstarrten. „Denen werde ich helfen, Hasard“, brüllte er weiter. „Erst dem alten Carberry ihre verlausten Stinktöpfe vor die Füße schmeißen, die ganze ‚Isabella’ versauen, daß sie aussieht wie eine vergammelte alte Seekuh, und dann uns alle abschlachten wollen zu Ehren ihrer verrückten Kali! Das hat mir gerade noch gefehlt, denen bringe ich in der Neumondnacht das Tanzen bei, daß ihnen ihre indischen Plattfüße abfallen, darauf kannst du Gift nehmen! Nein, versuche es gar nicht erst, mich zu beruhigen, so eine Riesensauerei, die läßt
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der alte Carberry nicht auf sich und der ‚Isabella’ sitzen, und ich will jedem geraten haben, daß er absolut meiner Meinung ist, oder ich ziehe ihm höchstpersönlich die Haut in Streifen von seinem ... äh, hm ... ich meine, na, ihr verdammtes Rattenvolk, ihr wißt schon was ich meine!“ rettete er sich auf den mahnenden Hinweis Hasards, daß sich schließlich eine junge Lady bei ihnen befände, aus der Affäre. Ein brüllendes Gelächter der Seewölfe war die Antwort, und Juana starrte die Seewölfe an, als wären sie Erscheinungen, aber keine leibhaftigen Menschen. Im Gang wurden Schritte laut. Ein paar Wachen der Inder kamen herbei, lange Speere in der Hand, Wütend brüllten sie auf die Seewölfe ein, aber Carberry, ernstlich in Rage gebracht, war wie der Blitz am Gitter. Er langte zwischen den Eisenstäben hindurch, kriegte eine der Lanzen zu fassen und zog den Inder mit einem Ruck an sich heran. „Was, frech werden willst du dämliche, stinkende Turbanlaus auch noch?“ brüllte er den Pansigar an. „Dir werde ich zeigen, wer hier unten in Zukunft herumzubrüllen hat, du jedenfalls nicht mehr!“ Er versetzte dem Inder einen so gewaltigen Stoß, daß der wie eine abgefeuerte Kanonenkugel auf seine Kumpane zuschoß, zwei von ihnen mit sich zu Boden riß und dann mit solcher Wucht an die gegenüberliegende Felswand prallte, daß er dort sofort in sich zusammensackte und sich nicht mehr rührte. „So, jetzt ist wohl klar, woher hier unten der Wind weht, wie, was?“ brüllte Carberry, während die Inder nach ihrem bewußtlosen Kumpan griffen und wie der Blitz verschwanden. Der Seewolf sah Carberry an. Seine Züge drückten Mißbilligung aus. „Ich kann dich verstehen, Ed“, sagte er. „Aber ich hätte das nicht getan. Was, wenn die Kerle uns jetzt ein paar ihrer Stinktöpfe ins Gewölbe feuern? Dann gehen wir alle parterre, und dann können sie uns wieder Fesseln anlegen. So sind wir frei, und damit dürften wir die weitaus besseren
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Chancen haben! Also gut, geschehen ist geschehen, und vielleicht verhilft uns das bei diesen Burschen zu dem nötigen Respekt. Aber künftig unternimmt niemand mehr etwas ohne meinen ausdrücklichen Befehl, ist das klar?“ Carberry räusperte sich. Im stillen gab er dem Seewolf recht, aber der Tadel vor der gesamten Mannschaft mißfiel ihm doch arg. Trotzdem nickte er schließlich. „In Ordnung, Hasard, aber ich war einer der ersten, der diese verdammten Stinktöpfe vor die Füße und auch beinahe auf den Kopf kriegte. Und wenn ich nur daran denke, dann packt mich die Wut. Und deine beiden Lausebengels, die können sich von mir auf was gefaßt machen, wenn ich die in die Finger. kriege. Und da wirst auch du ihnen nicht helfen können!“ erwiderte er, und es klang wie das Donnergrollen eines heraufziehenden Gewitters. Hasard starrte seinen Profos an. Und plötzlich spürte er, daß die beiden noch am Leben waren. Es war wie eine Vision — aber er begriff, daß das, was er eben vor seinem geistigen Auge gesehen hatte, kein Trugbild gewesen war. Er wandte sich der jungen Portugiesin zu. „Senorita“, sagte er, „sie vergaßen, mir Ihren Namen zu nennen. Ich ...“ „Juana Rodriguez“, antwortete sie sofort. „Verzeihen Sie, aber ...“ „Bitte, Senorita, berichten Sie uns jetzt alles, was Sie über diese Sekte und ihre Gewohnheiten wissen. Ich werde es denjenigen meiner Männer, die Spanisch nicht verstehen, übersetzen, in unsere englische Muttersprache...“ Juana sah ihn plötzlich an. „Sie sind Engländer?“ fragte sie dann. „Sind Sie jener Philip Hasard Killigrew, den die Spanier Lobo del Mar, den Seewolf, nennen?“ fragte sie leise. Hasard nickte. „Der bin ich, Senorita. Und das dort sind meine Männer, die man die Seewölfe nennt.“ Juana ergriff plötzlich seine Hand. „Wenn es jemand schafft, hier wieder herauszukommen, dann Sie, Sir“, sagte sie
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auf Englisch, das vielleicht nicht ganz einwandfrei, aber eben doch gut zu verstehen war. „Ich werde Ihnen jetzt berichten, was ich weiß, aber ich werde es auf Englisch tun, dann brauchen Sie’s Ihren Männern gar nicht erst zu übersetzen.“ Sie schwieg eine Weile, dann warf sie ihrem Vater einen besorgten Blick zu, aber der Kutscher war bereits zur Stelle. „Keine Sorge, junge Lady“, sagte er, „ich werde mich um Ihren Vater kümmern. Ich glaube, so schlimm steht es gar nicht mit ihm. Er scheint einen Schock erlitten zu haben, überlassen Sie ihn mir! Ich bin der Feldscher der ‚Isabella’ und mit schlimmeren Dingen fertig geworden!“ Juana nickte dankbar, in ihre Augen traten für einen winzigen Moment Tränen, aber dann riß sie sich zusammen. „Die Göttin Kali ist eine der mächtigsten Göttinnen Indiens, besonders der Hindus“, erklärte sie. „Die Menschen Indiens fürchten und verehren sie zugleich. Aber sie meiden ihre Nähe und ihre Tempel, denn Kali verlangt, so behaupten ihre Priester, in jeder Neumondnacht neue Opfer. Menschenopfer. Kriegt sie die nicht, dann zürnt sie ihren Dienern, und ihr Zorn richtet unter den Menschen viel Unheil an. Man schreibt es ihrem Zorn zu, wenn die Pest ausbricht, wenn Hochwasserkatastrophen über die Inder hereinbrechen, wenn Zehntausende auf diese oder jene Art den Tod finden, Denn Kali ist die schwarze Göttin des Todes.“ Einen Moment lang schwieg Juana, aber dann fuhr sie fort, und die Seewölfe hörten ihr schweigend zu. „Jeder Tempel der Kali hat einen Priester, und der wiederum hat seine Pansigare, seine Würger. Sie ziehen mit schwarzen Seidenschlingen im Land umher und fangen oder erdrosseln ihre Opfer zu Ehren Kalis. Alle diese Pansigare gehören der großen Geheimsekte der Thugs oder der Thags an, was auch wieder Würger bedeutet. Sie tragen eine Tätowierung auf der Brust, entweder eine rote Kobra oder das Abbild der tanzenden Kali. Mehr weiß ich darüber nicht, aber das alles ist schon
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schlimm genug, denn wir sind Gefangene dieser Sekte, und die kennt kein Erbarmen.“ Wieder schwieg sie eine Weile, dann sah sie den Seewolf ernst an. „Es waren Weiße, die irgendwann in irgendeiner Nacht den Frevel begingen, die Statue der Kali, die draußen vor dem Tempel stand, mit ihren Kanonen zu zerschießen. Dieser Frevel muß jetzt getilgt werden, und das kann nach Auffassung der Thugs nur dadurch geschehen, daß man der Kali Weiße opfert. Deshalb schickte der Priester dieses Tempels seine Pansigare aus, mit dem Befehl, Weiße zu Ehren Kalis zu fangen und für das große Fest in der Neumondnacht in den Tempel zu schaffen. Er hat mir das auf der Terrasse gesagt, und seine Augen glühten dabei vor Haß, als er mir die Trümmer der Kali-Statue zeigte. Und er wußte zu dieser Stunde schon, daß wieder ein Schiff mit Weißen vor der Insel ankerte. Es war längst beschlossene Sache, dieses Schiff anzugreifen und der Besatzung habhaft zu werden. Was immer Ihre Söhne angestellt haben mögen, sie haben den Überfall nicht heraufbeschworen, sondern höchstens beschleunigt. Denken Sie daran, ehe Sie sie zu hart bestrafen ...“ Der Seewolf sah Juana an. Was war das für ein Mädchen, das sich in dieser Situation Gedanken um die Strafe machte, die seine Söhne erhalten würden? Er streckte ihr seine Rechte hin. „Danke, Juana“, sagte er. „Ich glaube, Sie haben uns sehr geholfen. Und ich glaube auch, daß sich selbst dieser Mann dort, Ed Carberry, unser Profos, einer solchen Fürbitte nicht verschließen kann. Aber straflos gehen die beiden nicht aus, falls wir sie je wiedersehen ...“ Hasards Augen verdüsterten sich. Denn sie saßen in diesem verdammten Gewölbe. Jeden Augenblick konnten die Inder zurückkehren und ihnen ihre Stinktöpfe vor die Füße werfen. Dann waren sie geliefert, ohne das geringste dagegen tun zu können.
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Er ahnte nicht, wie recht er mit seinen Befürchtungen hatte, denn Asanga, der Hohepriester der schwarzen Todesgöttin, hörte sich genau in diesem Moment voller Zorn den Bericht der beiden Pansigare an. „Wir werden sie zähmen“, sagte er, und seine schwarzen Augen glühten unheilvoll. „Wir werden diese weißen Bestien schon zur Ruhe bringen. Aber an dem Tag, an dem Kali sie ruft, an dem Kali ihr Blut will, an dem Tag müssen sie stark sein und bei vollem Bewußtsein. Ich, Asanga, will sie winseln hören, will mich an ihrer Todesangst weiden, wenn wir sie vor das zürnende Antlitz der Erhabenen schleifen, wenn dort ihr langsames, qualvolles Sterben beginnt. Es wird ein Fest, wie es die große Kali noch nie erlebt hat, und sie wird uns ihre Gunst wiederschenken! Aber jetzt, jetzt haben wir noch etwas anderes zu tun, ehe wir uns um diese Barbaren kümmern: Schickt eines unserer Langboote zu .ihrem Schiff. Ich will wissen, welche Ladung es birgt, ich will wissen ...“ Asanga unterbrach sich und dachte eine Weile nach. „Ich selbst werde mitkommen und mir alles ansehen. Und dann werde ich entscheiden, was zu geschehen hat!“ 7. Der Nebel hatte sich weiter gelichtet. Als das Langboot unter der Führung Asangas in kleinen Hafen des Tempelvorplatzes losmachte, war die Silhouette der „Isabella“ zwar nur undeutlich, aber eben doch zu erkennen. Asanga triumphierte innerlich. Er würde nicht nur die Ladung, sondern auch die prächtige Galeone behalten. Er hatte im stillen bereits Pläne geschmiedet, was er mit dem Schiff alles anstellen wollte. Man konnte zu Ehren Kalis andere Schiffe kapern und gleich Hunderte von Opfern in die Verliese des Kali-Tempels schaffen. Man konnte auch reiche Beute machen, auch das war der schwarzen Göttin Kali sicher gefällig. Die Insel des Todes konnte mit Hilfe dieses Schiffes zum mächtigsten Kali-Tempel des Ganges-Deltas werden, denn mit Geld
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konnte man alles kaufen. Auch Waffen, Kanonen zum Beispiel, mit denen man die Insel des Todes künftig vor fremden Eindringlingen, gleich wie stark sie waren, schützen würde. Ein solcher Frevel, wie er geschehen war, würde sich niemals mehr wiederholen. Dafür würde er, Asanga, sorgen! Asanga trieb seine Männer an. Es drängte ihn zu erfahren, was für eine Ladung die „Isabella“ im Innern ihres Rumpfes barg. Außerdem wollte er das Schiff einmal ganz in Ruhe in Augenschein nehmen. Was er nach dem Angriff gesehen hatte, war beachtlich gewesen. Das Schiff befand sich in allerbestem Zustand. Wieder warf Asanga einen Blick zur „Isabella“ hinüber. Und wieder wollte er seine Pansigare zur Eile antreiben, als sich vor seinem geistigen Auge um die „Isabella“ eine dunkle, drohende Wolke legte. Die, die er in Zusammenhang mit diesem Schiff schon mehrfach gesehen hatte. Asanga fuhr sich mit der Hand über die Augen. Diese dunkle Wolke bedeutete Gefahr! Kali schickte ihm eine Warnung – aber wovor? Asangas Unruhe wuchs. Er spürte die Gefahr, die da im Nebel auf ihn lauerte, fast überdeutlich. Aber von wem sollte Gefahr drohen? fragte er sich. Es befand sich niemand mehr an Bord, sie hatten sie alle erwischt, alle. Er erinnerte sich an die beiden Zwillinge, die seinen Pansigaren entkommen waren, jedenfalls hatte sich von ihnen nicht die geringste Spur im Labyrinth der unterirdischen Gänge des Tempels gefunden. Gut, es gab einige Stellen, wo tiefe Felsschluchten die Gänge des Tempels unterbrachen, die man nur dann zu überqueren vermochte, wenn man das Geheimnis der verborgenen Stege, die über sie hinwegführten, kannte. Diese Gänge bildeten zugleich auch die Fluchtwege, falls der Tempel einmal überfallen werden und er in ernste Gefahr geraten sollte. Die Verfolger würden ihn nie bekommen, sie würden abstürzen, auf Nimmerwiedersehen in den Felsspalten
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verschwinden und dort eines entsetzlichen Todes sterben. Nein, er glaubte nicht daran, daß diese beiden Kinder bis in jenen Bereich des unterirdischen Labyrinths vorgedrungen sein konnten. Aber wo waren sie dann? Man hätte sie finden müssen! Und wieder verschwamm die „Isabella“ vor Asangas Augen zu einer tiefschwarzen Wolke. Der Hohepriester der Kali streckte beide Hände abwehrend aus. Da war e die Gefahr. Und jetzt schlug sie über ihm zusammen. Jetzt tötete, vernichtete sie ihn und seine Männer, weil er Kalis Warnung mißachtet hatte. Er hätte umkehren sollen, auf ein neues Zeichen der Todesgöttin warten, er hätte... Nein!“ schrie er voller Entsetzen. Er stand hochaufgerichtet im Bug des Langbootes, die Hände in Richtung „Isabella“ ausgestreckt. Die Pansigare sprangen von den Duchten auf, das Langboot geriet gefährlich ins Schaukeln. Aber das half alles nichts mehr, es war zu spät… * Bill hatte Wort gehalten und den Schlaf der beiden Zwillinge bewacht. Tausend düstere Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen. Und sie alle hatten sich um eine einzige Frage gedreht: Wie konnte er Hasard und die anderen Seewölfe aus der Gewalt der Inder befreien? Was die beiden Söhne des Seewolfs ihm berichtet hatten, das klang verdammt gefährlich. Diese Kerle verstanden keinen Spaß, sie wollten die zerstörte Statue ihrer Göttin rächen, das war Bill sofort klar. Er wußte nicht viel von diesen Dingen, aber war auch nicht mehr so naiv, um sich nicht völlig darüber im klaren zu sein, daß dieses geheimnisvolle Indien viele Gefahren barg, von denen auch der Seewolf sicherlich keine Vorstellung hatte. Die Totenschädel, die ausgebleichten Gebeine, die Hasard und Philip dort unten in den Gewölben tief unter dem Tempel vorgefunden hatten, die zeigten deutlich genug, was fremde Eindringlinge oder
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Gefangene der Inder erwartete. Außerdem steckte Bill noch immer der Schreck darüber in den Knochen, wie lautlos und wie unsichtbar selbst für die Wachen die Inder über sie hergefallen waren. Sie hatten den dichten Nebel zum Bundesgenossen gehabt, aber sie hatten den Überfall auch sorgfältig vorher geplant, das bewiesen die Stinktöpfe, die sie in Mengen und noch dazu an die genau richtigen Stellen geworfen hatten. Außerdem waren sie in einem Moment aufgeentert, wie er für die Seewölfe gar nicht ungünstiger hätte sein können. Das alles ließ Bill diese Burschen auf der Insel da drüben doppelt gefährlich erscheinen. Aber wie sollte er dem Seewolf und seinen Freunden von der „Isabella“ nur helfen? Die Zwillinge hatten ihm berichtet, daß irgendwann da unten im Tempelinneren Menschen geschrien hatten. Also befanden sich auch noch andere Gefangene dort, und demzufolge mußten die Verliese in der Nähe der Totengewölbe liegen. So sehr Bill sich auch dagegen sträubte — es gab nur eine einzige Möglichkeit, dem Seewolf und den anderen helfen. Einer der beiden Zwillinge mußte noch einmal, diesmal durch ein Seil gesichert, den Luftschacht wieder hinab, um Hasard und die anderen zu suchen. Vielleicht konnte man Waffen durch den Belüftungsschacht hinablassen, vielleicht ließ sich von Hasards Söhnen auch geeignetes Werkzeug aus Ferris Tuckers Zimmermannskiste mitnehmen, mit dem die Seewölfe ihr Gefängnis aufbrechen und dann fliehen konnten. Hasards Söhne! schoß es Bill durch den Kopf. Ihm wurden in diesem Moment mehrere Dinge klar. Daß nämlich einer von ihnen alleine nie den Abstieg riskieren würde, sondern daß sie immer nur zusammen gehen würden. Und daß er, Bill, für die Zwillinge die volle Verantwortung trug und sie möglicherweise bei diesem Unternehmen in den sicheren Tod hetzte. Denn sie waren geflohen, und sie wurden gesucht. Vielleicht hatte man das zerstörte Bambusgitter über dem Belüftungsschacht
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längst entdeckt, und dann liefen sie alle drei in eine Falle. Und was würde der Seewolf ihm wohl sagen, wenn er — wie schon so oft — doch noch aus eigener Kraft einen Ausweg aus dem Labyrinth des Tempels fand, wieder an Bord erschien und dann von ihm, Bill, erfahren mußte, daß seinen Söhnen zwar ihre Flucht aus dem Tempel gelungen war, daß er, Bill, sie aber wieder hinab in ihr sicheres Verderben geschickt hatte! Bill schauderte bei diesem Gedanken. Es war ihm unmöglich, sich auch nur im entferntesten vorzustellen, was dann mit ihm geschehen würde. Er wußte ja, wie sehr jeder an Bord an den beiden Rübenschweinchen hing... Rübenschweinchen — Gott im Himmel, Carberry hatte er in seinen Überlegungen völlig vergessen. Hatte der nicht immer Vaterstelle an ihm vertreten, seit sein Vater gestorben war und er sich an Bord der „Isabella“ befand? Vor dem, was Carberry in diesem Fall mit ihm anstellen würde, fürchtete sich Bill fast noch mehr als vor dem Seewolf selber. Wie er es auch drehte, der arme Bill, er befand sich in einer ganz verdammten Situation. Als Seewolf mußte er den anderen helfen, ganz gleich, ob er dabei sein eigenes Leben verlor oder nicht. Aber er war auch voll verantwortlich für die Sicherheit und das Leben der Zwillinge, der Rübenschweinchen. Nein, das mit dem Schacht kam gar nicht in Frage. Er würde bis zum Anbruch der Nacht warten und dann zur Insel hinüberschwimmen, um selber an Ort und Stelle zu sehen, was zu tun war. Bei diesem Entschluß wurde Bill etwas leichter ums Herz. Er nahm sich vor, auch den Schacht zu untersuchen, ob er für ihn vielleicht doch groß genug war, um sich hinabzuzwängen. Er ging zu Hasard und Philip herüber. Sie lagen an Deck, in Taurollen gekuschelt, und sie schliefen wie die Toten. Kein Wunder, was sie hinter sich hatten, das war bestimmt keine Kleinigkeit.
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Bill verspürte plötzlich Durst. Schon wollte er ins Schiff hinuntersteigen zum Wasserfaß, das dort stand, da vernahm er irgendwo auf dem Wasser ein Geräusch. Etwa so, als wenn ein Paddel eintauchte, aber nicht tief genug im Wasser durchgezogen wurde und stattdessen an der Oberfläche einfach durchrutschte. Mit ein paar Sätzen, fast unhörbar durch seine nackten Fußsohlen, jagte er übers Hauptdeck und enterte zum Achterdeck auf. Dann rannte er zum Schanzkleid und erblickte das Langboot, das sich der „Isabella“ ziemlich rasch näherte. Er konnte nicht alles an Bord des Bootes deutlich erkennen, wohl aber, daß im Bug ein großer Mann stand, der zur „Isabella“ hinüberstarrte und daß sich eine ganze Anzahl von beturbanten Indern auf den Duchten befanden und ihre Paddel rhythmisch ins Gangeswasser tauchten. Daß die „Isabella“ ihr Ziel war, daran bestand für Bill schon auf Grund ihres Kurses nicht der geringste Zweifel. Bill erschrak. Was sollte er tun? Sich mit den Zwillingen im Schiff verstecken und warten, bis die Kerle wieder von Bord waren? Sie am Schanzkleid erwarten und den ersten, der an Bord wollte, mit dem Entermesser durchbohren? Dann fiel es ihm ein. Glühend heiß durchzuckte es seinen Körper. Er erinnerte sich, daß der Seewolf Al Conroy den Befehl gegeben hatte, alle Culverinen und die Drehbassen zu laden. Es mußte sich in der Kombüse sogar noch Glut im Herd befinden, denn bestimmt war auch der Kutscher in dem ganzen Durcheinander dieses allzu plötzlichen Überfalls nicht mehr dazu gekommen, die Glut, wie sonst bei Seegefechten oder Kämpfen jeder Art, zu löschen. Bill warf einen gehetzten Blick auf das Langboot. Es war schon verdammt nah heran, aber das half alles nichts. Er brauchte Glut und er brauchte auch eine Lunte. Wo er letzteres fand, wußte er: auf dem Geschützdeck neben den Culverinen. Bill rannte los. Im Vorbeilaufen warf er einen Blick auf die
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Zwillinge, aber die hatten nichts gemerkt, sondern schliefen fest. Bill hatte Glück. Er fand noch Glut, die er in einen Kupferkessel des Kutschers füllte, und er griff sich im Vorbeirennen auch eine der Lunten von den Culverinen. Das Boot war heran, vielleicht fünfzig Yard trennten es noch von der „Isabella“. Bill sprang an die Steuerbord-Drehbasse. Jetzt kam alles für ihn darauf an, keinen Fehlschuß zu tun, aber das war bei der Größe des Bootes fast unmöglich. Er schüttete aus einer Pulverflasche, die er sich ebenfalls bei den großen Kanonen auf dem Hauptdeck gegriffen hatte, Pulver in den Zündkanal, schwenkte die Culverine herum und zielte sorgfältig. Er sah noch, wie der Inder im Bug des Bootes abwehrend die Hände gegen ihn ausstreckte, dann zündete er die Lunte und hielt sie an das Zündloch der Drehbasse. Die Drehbasse entlud sich mit donnerndem Knall. Eine lange Feuerzunge stach aus ihrem Lauf, und gleich darauf prasselte die todbringende Ladung aus gehacktem Blei und Eisen ins Langboot der Inder. Die Männer brachen in ein satanisches Gebrüll aus, etliche von ihnen sanken getroffen in sich zusammen, aus dem Bootskörper des Langbootes wurden die Planken herausgefetzt, und ein riesiges Leck klaffte in seiner Backbordseite. Bill sah nur noch, wie es sich auf die Seite legte und gleich darauf kenterte. Einige der Inder sprangen ins Wasser, andere versanken schreiend, zu Tode getroffen. Bill zitterte am ganzen Körper. Es war etwas anderes, mutterseelenallein gegen ein ganzes Boot voller Männer zu kämpfen als zusammen mit den kampfgewohnten Seewölfen einen Gegner anzugehen. Außerdem mußte er damit rechnen, daß ein paar der Inder auf die „Isabella“ zuschwammen und an Bord enterten. In diesem Moment kamen die beiden Söhne des Seewolfs den Niedergang heraufgeturnt. So schnell, so atemlos, wie Bill das noch bei keinem der Seewölfe gesehen hatte. „He, Bill, was ist los, was ...“
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Doch Bill scheuchte sie zur Seite. Er griff sich ein langes Entermesser und stürzte an Deck. Am leichtesten gelangte man dort auf die „Isabella“, zumal an der Steuerbordseite, also genau dort, von woher sich das Boot der Inder der „Isabella“ genähert hatte, Taue ins Wasser hinabhingen. Bill hielt immer noch die glühende Lunte in der Hand, und so kam ihm der Gedanke, den er sogleich in die Tat umsetzte. Die beiden Zwillinge waren ihm gefolgt, und zusammen mit ihnen rannte er eine der schweren, mit überlangen Rohren versehenen Culverinen an der Steuerbordseite aus, an der auch der Tempel der Kali sich befand. Hastig, mit fliegenden Händen, schüttete er Pulver in den Zündkanal, und wieder hielt er die Lunte ans Zündloch. Mit ohrenbetäubendem Donnern entlud sich die Culverine. Auf die gleiche Weise zündete er auch die zweite Culverine, und wieder entlud sich die schwere Kanone unter gewaltigem Getöse, und wieder fuhr heulend eine der 17-pfündigen Kanonenkugeln zur Tempelinsel hinüber. Daß Bill instinktiv das Richtige getan hatte, wußte er nicht. Aber er erreichte auf diese Weise, daß nur einer der Inder, die voller Wut und glühenden Fanatismus in den Augen auf die „Isabella“ zugeschwommen waren, um den vermeintlichen Tod ihres Priesters Asanga, den sie mit ausgebreiteten Armen ins Wasser hatten stürzen sehen, zu rächen, die „Isabella“ tatsächlich erreichte. Bill sah den Schatten, der sich übers Schanzkleid schwang, und sofort rannte er auf den Inder zu. Die Kerle sollten die „Isabella“ nicht bekommen, das schwor er sich. Er hatte keine Zeit, sich um die Söhne Hasards zu kümmern, denn auch der Inder erkannte den Feind und warf sich sofort auf ihn, einen Säbel in der Faust. Bill hatte bei den Seewölfen kämpfen gelernt. Er unterlief den Hieb des Inders, holte mit dem Entermesser aus und schlug zu. Er traf den rechten Arm seines Gegners, und der Inder brüllte auf.
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Er wich zurück, aber dann stand er plötzlich mit einem Satz auf dem Steuerbordschanzkleid, hielt sich mit der Linken am Großwant fest und hieb mit wilden Schlägen auf Bill ein. Bill reagierte nicht schnell genug. Die Klinge des Inders traf ihn in die Schulter, und ein wilder Schmerz durchzuckte Bill. Ein Schmerz, der so groß war, daß ihm für einen winzigen Moment die Beine einknickten. Der Inder sah das. Er holte erneut aus, diesmal zum tödlichen Schlag, aber dann schwirrte etwas Dunkles heran und traf ihn genau am Schädel. Der Inder ließ seinen Säbel fallen, er hörte noch, wie irgendwo an Deck ein Wort gebrüllt wurde, das er nicht verstand, das aber klang wie Arwenack. Er hob beide Hände an den Kopf, und in diesem Moment traf ihn der zweite Belegnagel, diesmal geschleudert von Philip. Der Inder verlor den Halt, mit einem abermaligen lauten Schrei stürzte er neben der „Isabella“ ins Wasser. Bill taumelte hoch. Er sah die beiden kleinen Seewölfe. Die Rübenschweinchen hatten ihm glatt das Leben gerettet, er begriff es in dem Moment, als das Blut aus der Schulterwunde über seinen Oberkörper rann. Bill riß sich zusammen. Bewegen konnte er den Arm noch, also war es eine Fleischwunde, also war kein Knochen gebrochen und auch kein Muskel verletzt. „Los, aufpassen, ob noch einer dieser Kerle an Bord entert. Holt mir eine Muskete oder ein paar Pistolen, rasch, beeilt euch!“ Die beiden flitzten los. Sie wußten genau, wo auf dem Schiff sich Pistolen und Musketen befanden, und sie verstanden auch, sie zu laden und, wenn es sein mußte, sie abzufeuern. Bill hantierte unterdessen mit schmerzverzerrtem Gesicht an der dritten Culverine herum. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, das Geschütz auszurennen. Dann zündete er auch diese Culverine, und der donnernde Knall, mit dem sie sich entlud und ihre tödliche
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Ladung ausspie, rollte über die Tempelinsel hinweg. Die beiden Söhne des Seewolfs kehrten zurück. Jeder trug eine Muskete und eine Pistole und alles, was dazugehörte. Dann lauschten sie vom Achterdeck aus, von wo sie die „Isabella“ am besten übersehen konnten. Aber alles blieb still. Das zerschossene Langboot trieb kieloben an der „Isabella“ vorbei, und weit und breit war kein Pansigar zu sehen. Bill wußte es nicht, und er hatte auch keine Ahnung, wie er sich aufgrund der neuen Lage verhalten sollte. Denn die ganze Besatzung der kampfstarken „Isabella“ bestand aus ihm, dem Moses, und aus zwei zehnjährigen Jungen, für die er obendrein auch noch die volle Verantwortung trug. * Asanga schwamm um sein Leben. Mehrere Eisensplitter der Drehbasse hatten ihn getroffen, sein Körper brannte wie Feuer, und ständig drohten ihn seine Kräfte zu verlassen. Dann hörte er hinter sich den donnernden Knall, mit dem die erste Culverine sich entlud. Asanga begriff in diesem Moment gar nichts mehr. Wo kamen die Männer her, die auf sie geschossen hatten und die jetzt offenbar das Feuer auf den Tempel eröffneten? Sie hatten doch die gesamte Besatzung in ihrem Verlies im Tempelinnern! Oder war etwa ein Boot mit Männern irgendwo unterwegs gewesen, um die Umgebung des ankernden Schiffes zu erkunden? Ja, bei Kali, das mußte es gewesen sein! Und deswegen die ständigen Warnungen der Todesgöttin an ihn, ihren getreuen Priester! Asanga überlegte, während er mühsam und langsam auf die Insel zuschwamm, weil jede Bewegung höllisch schmerzte. Wenn sich aber noch Männer an Bord dieses Schiffes befanden, dann bedeutete das zweifellos, daß sie nach den anderen suchen, daß sie den Tempel angreifen würden. Was konnte er tun? Den Kanonen dieses gewaltigen Schiffes hatte er nichts
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entgegenzusetzen, und ein zweites Mal würden sie sich bestimmt nicht wieder überraschen lassen! In diesem Moment feuerte Bill die zweite Culverine ab. Der ungeheure Knall, die Feuerlanze, die nach Asanga stach, betäubte den Hohepriester der Kali fast. Der dritte Donner hallte über den Ganges, und Asanga heulte fast vor Wut. Er vermochte weder zu hören noch zu sehen, ob die Kanonenkugeln den Tempel trafen oder nicht, aber dieser neuerliche Frevel raubte ihm fast die Sinne. Er schwamm, und er wartete auf den vierten Schuß, aber der blieb aus, und das hielt Asanga sofort für eine neue Teufelei der Weißen. Er schwamm, so gut er konnte, und dann hatte er endlich die Insel erreicht. Einen Moment lang hing er an den Quadern und pumpte keuchend Luft in seine Lungen, dann zog er sich mit einer ungeheuren Kraftanstrengung an den Quadern empor und lief taumelnd auf die Stelle des Tempels zu, wo er den geheimen Eingang zum Tempelinnern wußte. Die Felsplatte war offen, also waren auch schon vorher andere Diener Kalis in den Schutz der Göttin geflohen! Asanga bewahrte noch soweit die Ruhe, daß er die Felsplatte unter Aufbietung aller seiner Kräfte schloß. Es gelang ihm nicht ganz, einen Spaltbreit blieb sie offen, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Sein Haß fraß ihn fast auf. Er wollte nichts, als die Fremden sehen. Sie sollten sterben. Nicht erst zum großen Fest der Kali in der Neumondnacht, sondern sofort, noch an diesem Abend! Niemand würde sie befreien, niemand würde ihnen zu helfen vermögen. Er wollte sich an ihren Qualen weiden. Aber bevor er die Diener Kalis zusammenrief, wollte er sie sehen, wollte ihnen ins Gesicht schreien, daß ihre Todesstunde gekommen sei, daß sie sich auf ein langes, qualvolles und blutiges Sterben zu Füßen der Todesgöttin vorbereiten sollten. *
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Die Seewölfe hatten sich inzwischen das Gewölbe, in dem sie eingesperrt waren, genau angesehen. Und sie hatten auch festgestellt, daß Bill, ihr Moses, sich nicht bei ihnen befand. Außer den Zwillingen der einzige, der fehlte. Niemand vermochte zu sagen, wo Bill sich während des Überfalls aufgehalten hatte. Ed Carberry und Ferris Tucker hatten sich zusammen mit Big Old Shane, dem Schmied der „Isabella“ das Gitter, das ihr Gefängnis zum Gang, der dahinter lag und irgendwohin ins Tempelinnere führte, abschloß, genau angesehen. Big Old Shane blickte auf. „An den Stäben gibt’s nichts zu rütteln, die sind so stark, daß man sie nicht einmal mit dem nötigen Werkzeug aus ihren Verankerungen reißen könnte.“ Tucker sah ihn aufmerksam an, und auch der Seewolf gesellte sich in diesem Moment zu den drei Männern. „He, Shane, da ist doch irgendein Haken dabei. Du hast doch etwas entdeckt, das sehe ich dir doch an! Los, raus damit, verdammt noch mal, wir haben keine Zeit zu verlieren. Oder hast du etwa Lust, dich zu Füßen dieser verdammten Kali massakrieren zu lassen?“ Big Old Shane schüttelte den Kopf, dann grinste er plötzlich. Juana, die sich in diesem Moment mit Ben Brighton und anderen Seewölfen neben ihn schob, drückte er mit einer seiner Pranken behutsam zurück. „Die Kerle sind so dumm, daß es fast weh tut”, sagte er dann. „Was nützt denn das stärkste Eisengitter, wenn ausgerechnet die Scharniere der Tür schon fast durchgerostet sind?“ „Paßt mal auf, wir machen das so ...“ In diesem Moment hörten sie Schritte auf dem Gang. „Halt, Vorsicht, geht zurück, die Kerle sollten keinen Verdacht schöpfen“, sagte Big Old Shane noch, dann Lachten sie auch schon alle im Halbdunkel des Verlieses unter. Gleich darauf sahen sie einen hochgewachsenen Inder um die letzte Biegung des Ganges torkeln. Seine
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Kleidung, einst kostbar und kaum mit Geld zu bezahlen, denn der Stoff seiner Beinkleider und des dazugehörigen langen Oberteils war golddurchwirkt, die spitzen, aufwärts gebogenen Schuhe mit Edelsteinen besetzt, war zerrissen, und troff vor Nässe. Die lange sariähnliche Jacke, die er trug, von Blut verschmiert, in seinen Augen flackerten Wahnsinn und Haß zugleich. Juana fuhr zurück, ihre kleinen Hände verkrampften sich. „Das ist er, der Kali-Priester, der mir auf dem Platz vor dem Tempel gesagt hat, daß wir alle Kali geopfert werden sollen, das...“ Der Seewolf legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Bleiben Sie ruhig, hören wir uns erst mal an, was er von uns will! Da ist etwas schiefgegangen, dieser Mann hat einen schweren Kampf hinter sich. Er ist verletzt, in seinen Augen flackern die Rache und der Wahnsinn!“ Juana schmiegte sich unwillkürlich an den Seewolf, und Asanga entging das nicht. Er trat näher ans Gitter heran. „Du hast Angst“, sagte er, und seine Stimme war heiser vor Haß. „Das ist gut, denn du hast allen Grund dazu.“ Seine Rechte schoß vor und deutete auf die Seewölfe. „Ihr werdet sterben, zu Ehren Kalis. Alle, heute nacht. Ich habe es beschlossen. Seid verflucht, denn euer Schiff hat den Tempel beschossen, die heilige Stätte der erhabenen Kali. Eure Männer haben meine Pansigare getötet, und selbst ich entkam nur knapp. Aber euer Opfer wird Kali versöhnen, ihr werdet langsam und qualvoll zu den Füßen der Todesgöttin sterben, und nach euch noch viele, denn dieser Frevel, den ihr und andere eurer Hautfarbe der Erhabenen angetan haben, kann nur mit Blut wieder getilgt werden!“ Die Seewölfe starrten den Hohepriester der Kali an. Der Kerl sprach wahrhaftig englisch zu ihnen. Woher wußte er denn, daß sie Engländer waren, und woher kannte er ihre Sprache? Und was war das? Die „Isabella“ hatte den Tempel
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beschossen, hatte die Würger dieses Irren getötet und ihn selbst verwundet? Himmel und Hölle, wer befand sich denn an Bord der „Isabella“? Bill allein, den sie alle verdammt vermißten und dessen möglicher Verlust sie schmerzte. Bill allein konnte das gar nicht geschafft haben! „Die Zwillinge“, murmelte der Profos. „Wir machen uns die größten Sorgen um sie, und diese verflixten Rübenschweinchen befinden sich längst wieder wohl und munter an Bord der Old Lady und spielen diesen miesen Tempelkakerlaken zusammen mit Bill zum Tanz auf. Na, wartet, der alte Carberry wird euch bei den Ohren nehmen, daß euch Hören und Sehen vergeht. Aber erst müssen wir heraus aus diesem dreimal verwünschten Gemäuer, darin werden wir weitersehen. Denn dieser Kerl da vorne vor dem Gitter, der meint es ernst!“ Asanga wandte sich zum Gehen, wahrscheinlich, um seinen Leuten zu befehlen, sie wieder mit ihren Stinktöpfen zu bombardieren. Als Carberry soweit in seinen Überlegungen gekommen war, stieß Big Old Shane ihn verstohlen an, gleichzeitig aber auch Ferris Tucker, der ebenfalls neben ihm stand. „Wenn wir diesen Kerl weglassen, dann ist es aus mit uns“, raunte er. „Dann hetzt der uns seine Kerle auf den Hals, mit allem was sie haben, einschließlich ihrer vermaledeiten Stinktöpfe. Und gegen die gibt es hier drinnen keine Chance. Hört zu, wir drei rammen jetzt zusammen diese verrostete Gittertür aus ihren Angeln, und dann greifen wir uns diesen Burschen dort. Er ist unser bester Schutz, denn an ihn wagen sich seine Kerle nicht heran, er ist so eine Art Tempelheiliger! Aber, verdammt noch mal, strengt euch an, zeigt mal, was in euch steckt!“ Der Profos und der Schiffszimmermann grinsten über das ganze Gesicht. Ho, das war eine Sache nach ihrem Geschmack, und dieser Big Old Shane war ein Teufelskerl.
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Auf ein verstohlenes Kommando hin rannten sie los. Alle drei, wie eine Lawine geballter Energie sahen sie aus. Die Seewölfe hielten den Atem an, und Asanga stand vor den Gitterstäben und riß vor Schreck und vor Erstaunen die Augen weit auf. Carberry, Big Old Shane und Ferris Tucker, die drei schwersten und größten Männer der „Isabella“, prallten gegen das Gitter. Genauer: gegen die Tür. Es gab ein knirschendes Geräusch. Die stark verrosteten Angeln hielten diesem Ansturm geballter Energie nicht stand. Die Tür flog aus dem Rahmen, und die drei schossen wie schwere Kanonenkugeln in den Gang hinaus. Dabei überrollten sie Asanga, der keine Zeit mehr fand, diesen drei Kolossen auszuweichen. Carberry packte sofort zu. Und er hielt fest. Asanga wand sich wie ein Wurm in seinen Pranken, dann aber waren die Seewölfe heran. „A-r-w-e-n-a-c-k!“ dröhnte ihr alter Schlachtruf durch den Raum, und es war, als ob eine Riesenwoge durch die Gänge brandete und alles niederwalzte, was sich ihr in den Weg stellte. Die Seewölfe fackelten nicht lange. Sie packten die drei Inder. Batuti und Smoky packten den Vater Juanas und trugen ihn aus dem Gewölbe. Batuti wandte sich dem Mädchen zu. „Nix Angst haben, Dad von Mädchen Fliegengewicht, wir ihn bringen an Bord der „Isabella“, dort schnell wieder gesund! Komm, eilen, nix gut Kali-Tempel!“ Der Seewolf tauchte bei Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane auf. „Sie werden meine Männer und mich jetzt aus dem Tempel herausführen“, herrschte er Asanga an. „Oder Sie sterben sofort. Und das ist mein Ernst.“ Was die Worte des Seewolfs nicht bewirkten, das schaffte die Pranke Carberrys spielend. Er packte einfach etwas härter zu als gewöhnlich. „Das ist erst der Anfang, du verdammter Affenarsch!“ sagte er dabei auf englisch. „Führ uns raus, oder du lernst mal kennen,
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wozu so ein Kerl wie ich imstande ist. Deine Kali kann mich mal, kapiert?“ Er drückte noch etwas kräftiger zu, und Asanga stöhnte vor Schmerz. Wie paralysiert durch die unbegreiflichen und für ihn geradezu niederschmetternden Ereignisse, völlig verstört in dem Bewußtsein, daß Kali sich gegen ihn gewandt hatte und jene Weißen offenbar als Opfer verschmähte, wankte er vor den Seewölfen her. Sein Widerstand war gebrochen, und eine entsetzliche Vision zeichnete sich vor seinen Augen ab. Als die Pansigare, eine ganze Rotte von Thugs, plötzlich den Gang blockierten, blieb Carberry stehen. Er drückte Asanga sein Entermesser in die Seite, so, daß es alle sehen konnten. „Sag deinen verdammten Tempelratten, daß sie uns aus dem Weg gehen sollen!“ knurrte er. Aber es hallte im Gang dennoch wider wie unheilverkündendes Dröhnen. „Beeil dich, meine Geduld ist zu Ende!“ Der Profos verstärkte den Druck der Klinge. Asanga richtete sich für einen Moment auf. Er sagte ein paar Worte in einer Sprache, die keiner der Seewölfe verstand, aber die Thugs wichen zurück. Sofort marschierten die Seewölfe weiter. Asanga führte sie zu der Felsplatte, die er allein nicht mehr hatte schließen können. Big Old Shane und Ferris Tucker drückten sie auf. Gleich darauf brachen die Seewölfe in Jubelgeschrei aus, denn vor ihnen, nur ein paar hundert Yard von der Insel entfernt, lag die „Isabella“. Der Nebel hatte sich weitgehend gelichtet, die „Isabella“ war deutlich und in allen Einzelheiten zu erkennen. Carberry packte Asanga, der sich seinem Griff zu entwinden versuchte. „Nichts geht, Freundchen. Du bleibst bei uns, bis wir alle an Bord sind, der Anker gelichtet ist und wir die Segel gesetzt haben. Dann kannst du meinetwegen zu deiner Kali zurückschwimmen, das ist mir egal. Aber wer solche Stinktöpfe schmeißt, wie ihr verdammten Tempelratten, dem traut der alte Carberry noch nicht einmal so
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weit, wie sein Arm reicht. Vorwärts, da unten liegen Boote ...“ Carberry unterbrach sich. „Hölle und Verdammnis, da liegt sogar unser eigenes großes Beiboot. Und wer keinen Platz mehr findet, Jungs, der schwimmt, ist das klar? Ein Bad können wir nach diesem stinkenden Tempelgewölbe sowieso alle brauchen!“ Die Seewölfe und ihre fünf Leidensgenossen zogen sich bis zum Hafen zurück, ständig nach hinten sichernd und Asanga in ihrer Mitte. Aber es geschah nichts, nicht einmal die Nasenspitze eines Pansigars kriegten sie zu sehen. Matt Davies brummte Dan O’Flynn, der neben ihm ging, leise zu: „He, was glaubst du, Dan, würden wir uns den Seewolf auch so vor der Nase entführen lassen?“ Dan O’Flynn grinste nur. Aber eine Antwort gab er nicht. * Eine knappe Stunde später hatte die „Isabella“ Segel gesetzt. Die Zwillinge waren nach einer stürmischen Begrüßung spurlos im Schiffsinnern verschwunden, aber das kümmerte die Seewölfe in diesem Moment noch nicht. Sie hatten Bill auf die Schulter geklopft und sich dann angehört, was er ihnen zu berichten hatte, während sie bereits unter Carberrys Gebrüll den Anker hievten. Und das war, verdammt noch mal, eine ganze Menge, über die noch zu reden sein würde. Bei einem Faß Rum, das verstand sich von selbst. Juana und ihren Vater hatte der Seewolf in seiner Kammer untergebracht, die drei Inder bewohnten die Kammer Ben Brightons. Man wußte noch nicht, was man mit ihnen beginnen sollte. Aber dem Vater Juanas ging es tatsächlich schon besser, als die „Isabella“ den ersten Wind in die Segel kriegte. Das war der Zeitpunkt, wo Carberry sich Asanga, den Hohepriester der Kali, vornahm. „So, ich habe dir versprochen, daß du auf deine verdammte Insel zurück schwimmen
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kannst, obwohl man dich besser an der Großrah hochziehen sollte. Also, über Bord mit dir!“ Ehe Asanga irgendetwas entgegnen konnte, hatte der Profos ihn gepackt und kurzerhand über Bord geworfen. Ein wüstes Gebrüll der Inder begleitete diesen Vorgang von der Insel her. Aber Carberry rührte das nicht. Stattdessen brüllte er nach den beiden Söhnen des Seewolfs, und Hasard, der auf dem Achterdeck stand, mischte sich nicht ein. Die beiden Rübenschweinchen hatten eine Lektion verdient, und er kannte Carberry einfach zu gut, um zu befürchten, daß der Profos zu hart mit ihnen umspringen würde. Hasard und Philip duckten sich unwillkürlich zusammen, als sie Carberry ihre Namen rufen hörten. „Jetzt geht es uns an den Kragen, Philip“, sagte Hasard, und dabei zog er ein ziemlich klägliches Gesicht. Philip schwieg, er legte nur unwillkürlich seine beiden Hände auf den kleinen Achtersteven. Carberry brauchte kein zweites Mal zu, rufen, dann standen die beiden auch schon wie zwei arme, kleine Sünder vor ihm. Eine Weile sah er sie grimmig an, und als er sie so zerknirscht vor sich stehen sah, fiel es ihm verdammt schwer, ernst zu bleiben. „Ihr wißt, was ihr getan habt“, sagte er grollend. „Ihr habt gegen die Borddisziplin auf allerschwerste Weise verstoßen und damit Schiff und Besatzung sowie euch selber in allergrößte Gefahr gebracht. Wärt ihr erwachsen, wäre euch die Neunschwänzige sicher, auch an Bord der ‚Isabella’. So aber könnte ich euch nur mit dem Tauende bestrafen, und das wäre zu wenig. Ihr sollt endlich lernen, daß hier an Bord nicht jeder machen kann, was er will, sondern das, was die Sicherheit des Schiffes und die Gemeinschaft aller von ihm fordern.“ Carberrys Stimme dröhnte über das Deck, und die beiden schrumpften bei jedem Wort mehr und mehr in sich zusammen. Der Seewolf atmete erleichtert auf, als er merkte, daß Carberry sie nicht mit dem
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Tauende durchhauen würde, aber auch da hätte er sich nicht eingemischt. „Ich habe also folgende Strafe für euch beschlossen.“ Die beiden sahen ihn aus bittenden Augen an, aber Carberry gab sich völlig ungerührt, er wirkte wie ein zürnender Rachegott. „Diese Thugs oder Thags, oder wie diese Kerle immer heißen mögen, haben unsere schöne „Isabella“ mit ihren verdammten Stinktöpfen in eine vergammelte alte Seekuh verwandelt. Ihr beide werdet das Schiff vom Kiel bis zur Mastspitze reinigen, und zwar rillensauber. Entdecke ich auch nur den allerkleinsten Fleck irgendwo im Schiff oder auf den Planken der Decks, dann werde ich euch eure kleinen Affenärsche höchstpersönlich mit dem Tauende in Streifen abziehen, ist das klar?“ Die beiden zuckten unter der donnernden Stimme des Profos’ zusammen. „Aye, aye, Sir, das ist klar!“ sagten sie dann leise. „Lauter, verdammt noch mal, ich will eine Antwort haben, und ich habe nichts gehört. Also, ist das klar, ihr dreimal kalfaterten Rübenschweinchen?“ „Jawohl Sir, das ist klar!“ tönten ihre hellen Stimmen über Deck, und schon grinsten die beiden wieder. „Dann an die Arbeit, und laßt euch ja nicht bei mir blicken, ehe ihr nicht fertig seid!“ Hasard und Philip flitzten los. Und erst viel später, als der Kutscher ihnen immer wieder mit Rat und Tat zur Seite stehen mußte, was Carberry aber absichtlich übersah, merkten sie, daß sie absolut nicht so glimpflich davongekommen waren, wie sie zunächst angenommen hatten. Denn die Flecke, die die Stinktöpfe der Inder überall auf dem Schiff hinterlassen hatten, gingen verdammt schwer und nur durch schwerste und schweiß treibenste Arbeit wieder weg. Aber sie schufteten verbissen weiter, Tag um Tag, denn sie wußten, daß sie eine harte Strafe verdient hatten. *
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Am fünften Tag, nachdem sie das GangesDelta verlassen hatte, stieß die „Isabella“ auf ein in Richtung Indien segelndes portugiesisches Kriegsschiff. Nach kurzer Verhandlung erklärte sich der Kommandant bereit, Juana und ihren Vater. der sich prächtig erholt hatte, nebst den drei Indern in einem sicheren Hafen abzusetzen. Juana küßte den Seewolf zum Abschied. „Ich wünschte, ich würde Sie unter anderen und besseren Umständen wiedersehen, Mister Killigrew“, sagte sie leise. Aber der Seewolf lächelte ihr nur zu. Und dabei dachte er an Siri-Tong, die Rote Korsarin, die jetzt irgendwo in den Weiten des Meeres in Richtung Schlangeninsel segelte. Und plötzlich wußte er, wie sehr sie ihm trotz ihrer Kratzbürstigkeit fehlte.’ * Als das große Fest der Kali nahte, versammelte Asanga seine Pansigare um sich. Er stand zu Füßen der schwarzen Todesgöttin, und er trug sein kostbarstes Gewand. Wie gebannt sahen ihn alle an, denn sie hatten kein Opfer für die Erhabene. Kali zürnte, und alle Aktionen, die sie unternommen hatten, um neuer Opfer habhaft zu werden, waren fehlgeschlagen. Keiner wußte, was nun aus dem großen Fest werden sollte, das sie der Göttin versprochen hatten. Asanga richtete sich auf.
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„Die Göttin des Todes, die erhabene Kali, verlangt ein Opfer von uns. Nur so können wir ihren Zorn von uns nehmen und sie versöhnen. Ihr alle wißt, was geschehen ist. Der ungeheure Frevel, der der Erhabenen und ihrem Tempel angetan wurde, muß getilgt werden. Daher habe ich mich entschlossen, der Erhabenen das befohlene Opfer darzubringen, auch wenn wir alle Gefangenen entfliehen ließen.“ Er machte eine Pause und sah die versammelten Thugs an, die ihn verständnislos anstarrten. „Ich selbst werde das Opfer sein“, sagte er dann in die Stille hinein, „und ich hoffe, daß die Erhabene dieses Opfer annehmen wird.“ Für einen Moment herrschte absolute Stille im großen Gewölbe tief unter dem Tempel. Die Fackeln flackerten plötzlich nicht mehr, und die großen Augen der Todesgöttin glühten auf die Versammlung herab. Asanga warf sich zu Boden, und die Pansigare folgten seinem Beispiel. Es war Ungeheuerliches geschehen, aber das, was sie soeben vernommen hatten, hatte es noch nie gegeben, und die meisten von ihnen waren ratlos, warteten auf ein Zeichen Kalis, ob sie das Opfer annahm oder nicht. Aber Kali, die schwarze Todesgöttin, schwieg. Sie wußte, daß ihr ungetreuer Diener einen seiner listenreichen Tricks vorbereitete, um seine Macht, die durch sein eigenes Verschulden ins Wanken geraten war, für alle Zeiten zu festigen.
ENDE