Herta Vogel Im Paradies ... der Arbeiter und Bauern
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 2. Auflage
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Vorwort zur 1. Aufl...
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Herta Vogel Im Paradies ... der Arbeiter und Bauern
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 2. Auflage
9
Vorwort zur 1. Auflage
11
1. Teil: Ich klage an Die Zeitbombe
15
Mit Stumpf und Stiel
22
Protest und Flucht
32
»Repatriierung«?
41
In Bogorodka
50
Sonntagskind in Glückskappe
58
Die Volljährigkeit
68
Neuland und der Fleischer
80
Gehirnwäsche
91
Der Alltag
105
2. Teil: Im Schmelztiegel der Wüste Die Kaderschmiede
116
Im Konglomerat der Studenten
125
Doktoren und Professoren
137
Glückseligkeit und Träume
146
Sehnsucht und Enttäuschungen
159
Liebeskummer
168
Der Abschluss
180
Die Kloake
192
Architekt in Jesil
203
Substanz aus der Wüste
215
3. Teil: Ich grabe meinen Brunnen Moskau – die »belokamennaja« Hauptstadt
228
»Ninka von der Ordynka«
236
Aspirant – eine objektive Realität
245
Unruhe im Lande
257
Erlebnisse in Ehe und Familie
268
Volkszählung 1970 – Deutsche in Aprelewka
286
Sklavenpsychologie der Herren
300
Eine Stadt in der Halbwüste
312
Dort, wo kein Gras wächst
324
Erziehungsfragen
337
Im Auftrag des Gewissens
349
Da scheiden sich die Geister
362
Das Vertrauen und der Verrat
374
Nachwort
386
Bibliografie
388
VORWORT zur 2. Auflage
Heute, am 28. August 2001, jährt sich zum 60. Male die Vertreibung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion aus ihren angestammten Siedlungsgebieten, entsprechend dem Erlass des Obersten Sowjets. Dieser Beschluss legte den Grundstein für die Jahrzehnte dauernde Verfolgung und Diskriminierung der Sowjetbürger deutscher Abstammung. Vielen brachte die Vertreibung auf grausame Art den Tod und allen brachte sie den Verlust der Heimat. So verstreut lebend, verteilt auf das ganze Territorium der Sowjetunion, fiel es uns nicht leicht, deutsche Kultur und Sprache zu bewahren. Obwohl die Deutschen vermeintlich anderen Völkern gleichgestellt wurden, führte der Erlass auch lange nach dem Krieg zu großen Nachteilen. Anfang der 80er Jahre, noch zur Zeit des kalten Krieges, habe ich dieses Buch geschrieben und anhand eigener Erfahrungen und Erlebnisse gezeigt, in welche Situationen eine selbstbewusste Deutsche damals geraten konnte. Die 1. Auflage wurde 1986 unter meinem Mädchennamen Herta Neufeld veröffentlicht. Damals lebten noch viele meiner Angehörigen in Kasachstan und es war gefährlich, die uns gegenüber praktizierte Straf- und Verbannungspolitik der Sowjetregierung offen anzuprangern. Mit »Glasnostj und Perestrojka« wurde gerade erst begonnen - ihre Richtung, ihre Dauer und ihr Erfolg waren nicht absehbar. Bei Veröffentlichung der 1. Auflage meines Buches hatte ich die Intention, der Bevölkerung hier im Westen Folgendes bewusst zu machen: Es gibt eine Volksgruppe im Osten, die immer noch unter den Folgen des Krieges leidet – eine Volksgruppe, für die es nicht selbstverständlich ist, in Freiheit und Selbstbestimmung zu leben. Ich wollte aber nicht nur über das Schicksal der Deutschen in der UdSSR berichten, sondern auch zur Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern beitragen. Seitdem ist viel Wasser die Wolga und den Rhein hinunter geflossen: Der Sozialismus hat als System ausgedient, die UdSSR ist in
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ihre Bestandteile zerfallen, der »Eiserne Vorhang« und die Berliner Mauer sind Vergangenheit. Das Schicksal der Russlanddeutschen kann jetzt aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: Der Großteil von ihnen lebt inzwischen im freien Westen, als gleichberechtigte Bürger im vereinten Deutschland. Andere verharren noch drüben und hoffen auf die Wiederherstellung der Autonomie. Doch all die Umwälzungen der letzten Jahre haben meinen Landsleuten wenig Genugtuung gebracht. Die Lage hat sich entspannt, aber die Vergangenheit kann man nicht ungeschehen machen. Das Unrecht ist geblieben. Es wurde nicht beim Namen genannt. Täter wurden nicht bestraft. Den Opfern wurden keine Entschuldigungen und Entschädigungen zuteil. Sie sehen sich als Bittsteller in Ost und West, und das zehrt an ihrem Selbstbewusstsein. Viele der jetzigen Aussiedler, insbesondere aus der jüngeren Generation, wissen nicht mehr, mit welchen persönlichen Opfern es noch vor wenigen Jahren verbunden war, sich zum christlichen Glauben zu bekennen oder einen Ausreiseantrag zu stellen, um in die Freiheit zu entkommen. Heute haben sie im Herkunftsland weder Entlassungen, noch Schikanen am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu befürchten. Mit dieser zweiten, überarbeiteten und erweiterten Ausgabe meines Buches will ich ihnen und darüber hinaus allen interessierten Menschen Gelegenheit geben, die Großartigkeit dieser Errungenschaften zu erfassen. Augsburg, den 28. August 2001
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VORWORT zur 1. Auflage
Ich will nicht das Rad neu erfinden. Schon so manches Buch ist in den letzten Jahrzehnten über die UdSSR geschrieben worden. Da sind insbesondere die Berichte aus den sowjetischen Kriegsgefangenen- und Straflagern »Arzt von Stalingrad« (1) und »Arzt in Workuta« (2) zu nennen, deren Autoren mehrere Jahre in der Sowjetunion hinter Stacheldraht verbrachten. Sie können zwar wahrheitsgetreu die Haftverhältnisse schildern, aber andere Teile des Landes, des Volkes und der Kultur haben sie kaum oder gar nicht kennen gelernt. Außerdem sind da Schriftsteller zu nennen, die die UdSSR vielfach bei verschiedenen Gelegenheiten als Touristen, Diplomaten oder Journalisten durchreisten und dann über das Land und sein Volk berichteten. Einer von ihnen (3) wurde in Moskau als Sohn deutscher Eltern geboren und ist 1914 nach Deutschland ausgereist. Er fühlt sich also allem Russischen persönlich verbunden und perfekte Kenntnisse der russischen Sprache erlauben es ihm, den »Sowjetmenschen« realistisch zu beschreiben. Ein anderer Literat behauptet, in seinen Schilderungen besonders objektiv zu sein, da ihn keinerlei persönliche Sympathien oder Antipathien mit den Russen verbinden – er habe keine Mutter, die ihm Russisch beibrachte, und auch seien keine seiner Verwandten in sowjetischen Straflagern ums Leben gekommen (4). Seine Objektivität wird hier nicht angezweifelt – es fragt sich nur: Was hat er gesehen? Vermutlich nur das, was »Intourist«, das frühere staatliche Reisebüro der Sowjetunion, ihn auf seinen Reisen auch sehen lassen wollte. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass seine Ausführungen mit dem, was die Sowjets offiziell behaupten, im Großen und Ganzen übereinstimmen. Dann ist da noch ein Autor, der sich selbst als Zionist bezeichnet (5), und ein anderer, der von sich sagt, er sei ein lebendiger Christ (6). Beide schildern das Leben in Straf- und Arbeitslagern etwas einseitig:
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Der erste berichtet über die Lage der jüdischen Volksminderheit, der zweite über die Christenverfolgung in der UdSSR zu Chruschtschows und Breshnews Zeiten. Die prominenten sowjetischen Bürger im Exil, die vor dem 2. Weltkrieg Hochschulbildung genossen hatten, zur Sowjetintelligenz gehörten, Russen und überzeugte Kommunisten waren, als Offiziere der Roten Armee in den 2. Weltkrieg zogen, von der Staatssicherheit verhaftet wurden und mehrere Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern bzw. an Verbannungsorten verbrachten, schildern die sowjetische Wirklichkeit von ihrem besonderen Standpunkt aus. In diesem Zusammenhang ist ein Autor zu nennen (7), der in 3 Bänden auf mehr als 1 700 Seiten sehr viel über die Opfer der sowjetischen Strafpolitik aussagt, von dem man aber nicht erfährt, wer die Henker sind. Als ein anderer der besagten Sowjetbürger 1981 in die Bundesrepublik kam (8), berichteten die Zeitungen, er wolle Deutscher werden, weil er schon immer »ein großer Freund des deutschen Volkes« gewesen sei. In seinem 617 Seiten umfassenden Werk geht er aber mit keinem Wort auf die deutsche Volksminderheit in der UdSSR ein, als existiere sie für ihn nicht. Alexander Solschenizyn schreibt (7, Band 3, S. 369): »So viele Völker verschickt worden sind, so viele Epen werden dereinst geschrieben werden: über das Heimweh und über das sibirische Verderben. Sache dieser Völker allein ist es, das Durchlittene zu ermessen, nicht unsere, es nachzuerzählen, ihnen ins Handwerk zu pfuschen.« Eines dieser Völker, die in der UdSSR verschickt worden sind, sind die Deutschen, deren Diskriminierung durch die Sowjetregierung bis zum heutigen Tage anhält und der Weltöffentlichkeit völlig entgangen zu sein scheint. Der sowjetische Regimekritiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow meint: »Für die Russlanddeutschen wurde Unterdrückung aus nationalen Gründen zum alltäglichen Schicksal.« Über eben dieses Schicksal wurde bisher zu wenig berichtet. Ich möchte hiermit zur Verständigung und Versöhnung der Völker, wie sie in Europa seit
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1975 offiziell angestrebt werden, etwas beitragen und am Beispiel einer typischen Familie die Lage der Deutschen in der UdSSR und ihre Beziehungen zu anderen Völkern zeigen. »Ich« ist in meinem Bericht kein Held, keine politisch wichtige Figur, sondern eine kleine Frau, als Deutsche 1937 im Gebiet Saporoshje in der UdSSR geboren. In 20 Jahren der Sowjetherrschaft (1920 bis 1940) wurden sieben Männer aus meiner Verwandtschaft umgebracht: mein Großvater, zwei seiner Söhne (die Brüder meiner Mutter), zwei seiner Schwiegersöhne (darunter mein Vater) und zwei Brüder meines Vaters. Nachdem wir 1943 in den Warthegau geflüchtet waren, wurden wir 1945 nach Kasachstan verschleppt. Ich wuchs in diesem Verbannungsgebiet auf, erhielt hier später eine Ausbildung als Ingenieurin und war auch als solche tätig. 1980 gelang es meinem Mann und mir, mit unseren Kindern in die Bundesrepublik auszuwandern. Im Verlauf von vierzig Jahren bekam ich in nahezu alle Schichten der Sowjetgesellschaft Einblick und jetzt versuche ich, meine Beobachtungen zu ordnen und festzuhalten. Mein Buch ist keine Autobiografie. »Ich« ist darin nur der Leitfaden, der die Aufzeichnungen zusammenhält und den Leser durch das Dickicht der Vergangenheit bis zur Ausreise aus der UdSSR führen soll. Die hier beschriebenen Ereignisse spielten sich tatsächlich so ab, nur die Namen der Beteiligten habe ich geändert. Dieser Tatsachenbericht ist in einer Unterhaltungsform geschrieben – nach Anton Tschechows Prinzip »damit die Worte es eng, die Gedanken aber weit hätten«. Es ist ein Buch, in dem von Liebe und Kampf, Patriotismus und Verrat, Alkoholismus und Verbrechen die Rede ist. Hier kann gelacht und geweint werden. Lesen und urteilen Sie selbst. Königsbrunn, den 05.01.1986 Herta Vogel
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1.Teil: Ich klage an Die Zeitbombe
Ich, eine Deutsche in der UdSSR, bin 41 Jahre alt, parteilos, habe Hochschulbildung, bin verheiratet, habe zwei Kinder und lebe in der Stadt Pawlodar. Am 3. Juli 1979 zwischen 12 und 13 Uhr versuche ich, den Oberst Temirchan Duabekowitsch Duabekov wegen »persönlicher Angelegenheiten« zu sprechen. Der Oberst ist stellvertretender Chef der UWD, der Verwaltung für innere Angelegenheiten. Während seiner Sprechstunde komme ich ins Wartezimmer. Die Sekretärin meldet mich an und kommt zurück: »Er kann Sie nicht empfangen, hat aber den Instrukteur der Passabteilung zu sich bestellt.« Ein junger Kasache geht an mir vorbei ins Empfangszimmer des Oberst, kommt wieder heraus: »Bürgerin! Folgen Sie mir!« Wir kommen in sein Arbeitszimmer. Er setzt sich: »Sprechen Sie! Ich höre.« »Wer sind Sie eigentlich? Ich wollte doch mit dem Genossen Duabekov sprechen ...« »Worum geht’s?« »Es geht um die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu den Verwandten. Im vorigen Monat haben wir die fünfte Absage bekommen. Ich hoffte, vom Genossen Duabekov aus erster Hand informiert zu werden.« Im Zimmer ist noch Lidija Kusminitschna Woroschilowa, Leutnant und Mitarbeiterin der Passabteilung, anwesend. Beide hören mir zu, dann sagt der Instrukteur: »Welche Information wünschen Sie denn zu bekommen? Der Sachverhalt ist klar: Ab-ge-lehnt, was wollen Sie noch?«
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»Ich möchte klipp und klar erfahren, warum man unseren Antrag abgelehnt hat.« »Warum? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mit dieser Frage hat sich eine Kommission beschäftigt. Die Gründe für die Absage sind mir nicht bekannt.« »Warum sprechen Sie dann mit mir über meine persönlichen Angelegenheiten, wenn Sie zu diesem Thema nichts zu sagen wissen? Deshalb wollte ich ja auch zum Genossen Duabekov, weil er es weiß, und Sie nicht.« »Nun ja, Sie sind in der UdSSR geboren, Sie sind unser ...« »Eigentum? Leibeigene? Bin ich etwa unmündig und brauche Sie als Vormund?« »Sie sind unsere Bürgerin und haben im Ausland nichts verloren! Niemand ist verpflichtet, Ihnen die Gründe der Absage zu erklären.« »Sie behandeln mich wie einen Verbrecher! Ich will wissen, für welche Taten ich bestraft werde. Sogar einem Kriminellen, der einen Mord, Diebstahl oder Brandstiftung begangen hat, wird klar und deutlich gesagt, weswegen und aufgrund welcher Gesetze er bestraft wird. Wieso ist niemand verpflichtet, mir die Gründe meiner Bestrafung zu erklären?« In die Auseinandersetzung mischt sich die Woroschilowa ein: »Die Kommission entscheidet über diese Fragen, nicht wir.« »Lidija Kusminitschna, ich bin sicher, sollte die Kommission Ihnen befehlen, uns zu erschlagen, so würden Sie auch das tun! Aus der Geschichte sind Beispiele bekannt, wo die Angeklagten sich damit zu rechtfertigen versuchten, sie hätten nur die Befehle der Obrigkeit erfüllt. Aber das hat noch niemanden von der Verantwortung befreit. Es werden vielleicht 50 Jahre vergehen und alles in der Welt wird sich ändern. Nur das, was hier und jetzt geschieht, wird nicht mehr zu ändern sein. Sie und ich werden nicht mehr sein und Ihre Nachkommen werden sich schämen ...« »Schämen?«, versucht der Instrukteur zu unterbrechen. »Ja. So wie Sie jetzt über 1937 - das »Jahr des großen Terrors« sprechen, so werden auch Ihre Nachkommen sich schämen gestehen zu
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müssen, es seien Fehler begangen worden, es sei zu Härten gekommen.« Der Instrukteur: »Sie haben im Ausland keine Eltern, sondern nur Geschwister, stimmt’s? Sie sind alle erwachsen und haben eigene Familien. Die Geschwister sind nicht so nahe verwandt, um ihretwegen auszuwandern.« »Ach so! Geschwister sind nicht nahe Verwandte!?« Bei einer Schwägerin lässt es sich besser von Familienzusammenführung sprechen, nicht wahr? Lidija Kusminitschna, erklären Sie mir bitte, wie wurde das im vorigen Sommer gehandhabt, als eine Familie mit der Ehefrau des verstorbenen Bruders zusammengeführt wurde? Und wer von diesen Leuten ist alleinstehend oder nicht volljährig?« Es handelt sich um eine Familie, bestehend aus drei Rentnern, die zu einer Schwägerin, ebenfalls Rentnerin, auswandern durfte. Der Instrukteur: »Die Kommission trifft ihre Entscheidungen gemäß dem Gesetz.« »Nicht die Spur von Gesetz bei den Entscheidungen Ihrer ehrenwerten Kommission! Nur Willkür! Die Entscheidungen entbehren jeglicher Logik. Mein Mann durfte nicht in die Bundesrepublik zur Beerdigung seines Vaters fahren, aber unser Bekannter durfte. Ist das logisch? Erfreut sich der eine Vater eines näheren Verwandtschaftsgrades zu seinem Sohn als der andere Vater? Erklären Sie es mir ganz einfach, auf Russisch. Ich verlange nicht, dass mit mir Deutsch gesprochen wird. Warum schweigen Sie? Sie schämen sich? Ich weiß, warum Genosse Duabekov mich nicht empfangen will: Er hat noch einen Rest von Empfinden dafür, wie unwürdig und niederträchtig das ist, was hier vorgeht, und welche Schuld jeder von Ihnen auf sich nimmt. Er kann mir nicht in die Augen sehen, deshalb schickt er mich zu Ihnen.« »Wir haben uns nichts vorzuwerfen«, sagt der Instrukteur. »Sie verstehen eben gar nichts, aber der Genosse Oberst ist klug genug, um zu wissen, welche Rechte hier verletzt werden und wie man das Ganze zu nennen hat.«
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Der Instrukteur wird wütend: »Sie vergessen, wo sie sich befinden! Das Gespräch ist beendet!« »Wenn Genosse Duabekov mich nicht empfangen will, werde ich ihm meine Fragen schriftlich stellen. Über die Zeitung. Auf Wiedersehen!« Ich gehe und weine vor Zorn und Hilflosigkeit. Neun Tage später läutet an meinem Arbeitsplatz das Telefon: »Adina Petrowna? Guten Tag! Hier Woroschilowa. Heute für 15 Uhr lädt Genosse Duabekov Sie zu einem Gespräch ein. Kommen Sie bitte in mein Arbeitszimmer und ich werde Sie zu ihm begleiten.« Ich bin neugierig, einen Menschen kennenzulernen, der sich ungeniert berechtigt fühlt, über das Leben seiner Mitmenschen zu bestimmen und ihnen nach seiner Willkür die Freiheit zu schenken oder zu entziehen. Ein Sklavenherr des ausgehenden XX. Jahrhunderts? Interessant! Das Gespräch mit mir beginnt der Oberst so: »Mir wurde berichtet, Adina Petrowna, Sie wollten mich sprechen. Entschuldigen Sie bitte, ich war beschäftigt und konnte Sie nicht empfangen.« »Nein, Genosse Duabekov, Sie waren nicht beschäftigt, denn es war Ihre Bürgersprechstunde und außer mir war kein Besucher im Wartezimmer.« »Kann sein. Ich beeilte mich wohl, zu einer Beratung zu kommen. Aber jetzt bin ich ganz Ohr.« »Vorigen Monat wurde uns das Ausreisevisum zum fünften Mal verweigert. Ich möchte den Grund dafür erfahren.« Ich hoffe vergeblich, von ihm eine ausführliche Antwort zu bekommen. Der Oberst begnügt sich mit Einwendungen und Ausreden: Unter das Gesetz der Familienzusammenführung fielen wir nicht, da Geschwister nicht unsere Familie seien. Freilich bekämen manche Bürger das Visum zur Ausreise auch zu Verwandten, ausnahmsweise. So seien zum Beispiel die Brüder Ziegenhagel ausgewandert. Aber einer der Brüder sei zurückgekommen.
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»Haben Sie nicht den Artikel in der Zeitung gelesen?«, fragt er mich. »Doch. Ich habe nicht nur den Artikel gelesen, ich habe auch die Zeitung mitgebracht. Was denken Sie darüber, Genosse Duabekov? Erst bemühen sich die Menschen jahrelang um die Ausreise, und dann ... kommen sie plötzlich zurück. Woran liegt das? Wissen die nicht, was sie wollen?« »Wer weiß? Jeder hat so seine Gründe ...« »Aber man kann es doch verallgemeinern? Schlussfolgerungen ziehen? Handelt es sich hier nicht um die Orientierungslosigkeit und Agonie einer entwurzelten Volksgruppe, die der Vernichtung ausgeliefert ist?« »Vernichtung?! Aber wovon sprechen Sie? Wo denken Sie hin? Wir leben doch unter gleichen Bedingungen. Die UdSSR ist meine und Ihre Heimat, wie kann da von Vernichtung die Rede sein?!« »So ganz gleich sind die Bedingungen nicht. Ihre Angehörigen leben alle in Kasachstan. Bei uns ist das anders. Mein Mann und ich leben in Kasachstan, zwei Schwestern leben in Kirgisien, eine weitere in Weißrussland und drei Geschwister sind in Deutschland. Wo ist sie, unsere Heimat?« Der Oberst lacht gezwungen: »Laden Sie doch alle Ihre Verwandten nach Pawlodar ein. Hier ist Platz genug.« »Gewiß. Platz ist hier genug. Jedoch hat im vorigen Monat das Präsidium des Obersten Sowjets der Kasachischen Republik die Frage der Gründung einer deutschen Autonomie mit einem Zentrum in Jerementau überprüft. Die Kasachen sind dagegen. In Zelinograd, Kokschetau und Karaganda soll es Demonstrationen gegeben haben.« »Davon habe ich nichts gehört.« Der Oberst schüttelt den Kopf. »Ach? Tun Sie doch nicht so! Wenn schon ich es gehört habe, dann wissen Sie es ganz sicher. Und die Kasachen haben Recht: Warum sollten sie einen Teil ihres Landes verschenken? Haben sie uns denn etwas weggenommen?«
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»Mich persönlich stört niemand, Ehrenwort. Kasachstan ist so groß, hier ist Platz und Arbeit für alle. Sie sollten die Frage nicht so zuspitzen.« »Nein? Warum denn nicht zuspitzen? Wollen wir doch mal ehrlich sein und das Kind beim Namen nennen. Vom Standpunkt eines Arbeitgebers aus gesehen haben Sie ja Recht, Temirchan Duabekowitsch. Sie, als Herren des Landes, sind daran interessiert, das Land zu bebauen, der Wüste Erträge abzuringen. Mit wessen Kraft, ist unwesentlich. Arbeiten dürfen wir, doch leider gehört uns hier nichts. Wir haben kein eigenes Zuhause. Darin besteht meine und Ihre nationale Nichtgleichberechtigung, die Sie nicht zugeben wollen. Ich will einfach zu meinen Verwandten umziehen. Aber Sie, Temirchan Duabekowitsch, werden noch lange gezwungen sein, mit deutschen Mitbürgern solche Gespräche zu führen, wenn nicht in der Tat und recht bald unsere Gleichberechtigung wiederhergestellt wird.« »Adina Petrowna, uns ist bekannt, dass Sie und Ihr Ehemann sich stets absolut korrekt verhalten. Bitte, führen Sie sich auch weiterhin so. Wenn Sie es sich nicht anders überlegen, können Sie nach sechs Monaten einen neuen Ausreiseantrag stellen. Und wir wollen hoffen...« »Wir hoffen schon zu lange! Wir haben auch nur ein Leben. Vielleicht benehmen wir uns zu korrekt, als dass Sie sich von uns trennen könnten? Willkür hat Menschen schon immer zum Protest geführt! Ich will es nicht verschweigen: Auch ich protestiere. Ich habe nur die geeignetste Form des Protestes noch nicht gefunden. Was kann ich tun – eine wehrlose Frau, anderthalb Meter groß? Nichts! Wie kann ich meinen Protest zum Ausdruck bringen? Vielleicht jemandem das Gesicht zerkratzen?« »Warum kratzen? Wozu protestieren? Ich wiederhole: Ich hoffe, Ihre Angelegenheit wird positiv entschieden. Und wenn ja: Sie werden vielleicht auch zurückkehren – wie Franz Ziegenhagel?« »Da müsste aber erst die Republik der Deutschen an der Wolga wieder auferstehen! Leider lässt diese Geste des guten Willens auf sich
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warten. Wir aber können nicht länger warten: Die Kinder wachsen heran, ohne ihre Verwandten zu kennen, ohne ihre Muttersprache zu lernen.« Er schaut in Gedanken versunken auf die Papiere auf seinem Tisch. »So also sehen Sie die Frage ... So steht die Sache ... Vielleicht wird sich doch bald etwas ändern. Auf Wiedersehen! Bis zum Dezember.« Seit Tagen komme ich in Gedanken auf dieses Gespräch zurück. Was soll ich von diesem Sklavenherren halten? Er ist selbst ein Sklave des Systems, der über Sklaven anderer Nationalität eine relative Macht hat. Handlungsfreiheit besitzt auch er nicht. Aber was sagte er da über unser Verhalten? Wie war das: »Uns ist bekannt«? Das bedeutet, er gibt es zu, dass wir seit langem beobachtet werden? Daher dieses ständige Unbehagen, als fühle man fremden Atem im Nacken! Und unser Verhalten? Wenn er damit zufrieden ist, dann stimmt etwas nicht ... So, jetzt habe ich eine geeignete Form des Protestes gefunden! Ich werde nationale Aufklärung unter den deutschen Jugendlichen betreiben. Ich habe Aufzeichnungen, die ich zur Heranbildung des ethnischen Selbstbewusstseins meiner Kinder gemacht habe. Ja, diese Aufzeichnungen werde ich unter deutschen Jugendlichen verbreiten. Etwas Sinnvolleres, als diese Zeitbombe zu legen, kann ich nicht leisten! Seit ich diesen Entschluss gefasst habe, führe ich bei jeder Gelegenheit Gespräche, höre regelmäßig die Sendungen der Deutschen Welle und lese alles, was es in Deutsch und Russisch über die Deutschen auf russischem Boden zu lesen gibt. So entsteht ein Panorama: Von der Einwanderung vor ca. 200 Jahren bis zum heutigen Tage zeichne ich das Schicksal meiner Volksgruppe auf. Von Freunden werde ich gewarnt: »Pass auf, Petrowna! Wenn deine Aufzeichnungen dem KGB in die Hände fallen, dann bist du erledigt! Dann wanderst du an den Kältepol ... auf nimmer Wiedersehen!« Jetzt liegt das Heft mit den Aufzeichnungen vor mir und drei Abschriften davon habe ich meinen Freunden in Kasachstan überlassen.
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Mit Stumpf und Stiel
Zur Zeit des Bürgerkrieges nach der Oktoberrevolution 1917 haben meine Großeltern fünf Kinder: Liese, Kornelius, Jakob, Justine und Helene. Sie sind Schwarzmeerdeutsche, Mennoniten, leben in Mariawohl an der Molotschna und bewirtschaften einen Bauernhof mit 65 Hektar Land. Eines Tages, als Großvater und Kornelius nicht zu Hause sind, tauchen Machno-Banditen in ihrem Hof auf. Sie zerbrechen und zerhacken Möbelstücke, zerschmettern Geschirr und Küchengeräte. Sie verwüsten die Vorratskammer, schlitzen Mehl- und Getreidesäcke auf, kippen vier 30-Liter-Behälter mit Sonnenblumenöl um. Sie urinieren in die Arbusensirupbehälter. Most- und Saftbehälter dienen ihnen als Zielscheibe. Glasscherben schwirren durch die Luft. Weinbehälter, Räucherschinken, Kleider und Bettsachen werfen sie im Hof auf einen Leiterwagen und spannen die besten Pferde davor. Als die Banditen den 18-jährigen Jakob in der Scheune erwischen, freuen sie sich: »Ah, Kulakensöhnchen! Ah, Blutsauger! Jetzt haben wir dich! Ein paar Kirschen waren deinem Vater zu schade für uns? Wir werden dich zerquetschen, wie ein Insekt!« Es sind Burschen aus dem ukrainischen Nachbardorf, die jeden Sommer Großvaters Obstgarten überfallen und dabei die Bäume zerbrochen haben. Großvater hatte ihnen einmal aufgelauert, ihre Hosen herunter gestreift und ihnen die Hintern mit Brennesseln gegerbt. Das war vor etwa fünf Jahren und sollte eine Erziehungsmaßnahme sein. Jetzt gehören die Burschen zur Machno-Bande und nehmen Rache. Sie schlagen mit Fäusten und Gewehrkolben auf Jakob ein und traktieren ihn mit Fußtritten. Als Großmutter ihnen in die Quere kommt, wird sie ausgepeitscht. Ein Bandit schlägt Jakob mit dem Säbel auf den Kopf, Blut überströmt sein Gesicht. Saufend, laut lachend und singend fahren sie davon und nehmen den misshandelten Jungen mit.
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In der Nacht klopft es leise am Fenster. Großmutter späht hinaus und sieht eine Mädchengestalt. Sie lässt sie herein und hört ihr Geflüster: »Euer Jakob ist bei uns. Er ist verwundet. Wir müssen ihn in Sicherheit bringen.« Großmutter und Liese gehen mit dem Mädchen bis ans Dorfende. Im letzten Haus, dessen Fenster zur Sicherheit verdunkelt sind, liegt auf der Küchenbank ein stöhnender Körper. Er ist kaum zu erkennen: die Haare mit Blut verklebt, das Gesicht geschwollen, die Zähne fehlen. Über dem linken Ohr klafft eine blutende Wunde und sein linker Arm hängt schlaff herab. Liese, von Beruf Krankenschwester, reinigt und verbindet seine Wunden. Er trinkt etwas Tee und erzählt, die Machno-Leute hätten ihn in die »Grüne Schlucht« bringen wollen. Ihm aber sei es gelungen, sich aus der Kutsche fallen zu lassen und im Roggenfeld zu verschwinden. Als die Banditen das bemerkt hätten, seien sie umgekehrt, durchs Feld geprescht, hätten geflucht und ihm den schrecklichsten Tod versprochen. Inzwischen sei es dunkel geworden und die »Machnowzy« hätten das Roggenfeld angezündet. Sie hätten sich lustig gemacht und geschrien: »Jetzt wird der Kulakensohn braten.« Er habe es schließlich mit letzter Kraft geschafft, unbemerkt durch das Feuer zu kriechen, sich über einen Feldweg zu wälzen und im Graben zu verschwinden. Am frühen Morgen gehen drei »Mädchen« durch das Dorf. Sie tragen lange Kleider und bunte Fransentücher nach ukrainischem Brauch. Es sind Jakob, seine Schwester Liese und ihre Freundin. Sie gehen ins deutsche Nachbardorf zu Verwandten und verstecken den verletzten Jakob in deren Scheune. Am nächsten Tag wird er dort von den Banditen entdeckt und erschossen. Die Scheune wird in Brand gesteckt und die Familie, bei der sie Jakob finden, wird ermordet. Nach dem Tod seines jüngeren Bruders tritt Kornelius dem Selbstschutztrupp der Mennoniten bei und fällt wenige Wochen später im Kampf mit den Machno-Banditen. So kommen zwei Brüder meiner Mutter ums Leben.
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Es soll hier ausdrücklich festgehalten werden: Erst kam die Gewalt, dann folgte die Verteidigung mit der Waffe in der Hand durch die Selbstschutztruppen. Später distanziert sich die Sowjetregierung offiziell von der MachnoBande und lässt sie von der Roten Armee ausheben. Vorher aber sieht man lange Zeit tatenlos und schadenfroh zu, wie die deutschen Ansiedler von der Bande heimgesucht werden. Durch die feindselige Propaganda der Bolschewiken werden anschließend die Tatsachen verdreht: Den Deutschen werfen sie vor, mit den Selbstschutztruppen die Einheimischen zur Gewalt provoziert zu haben. Somit wird ihnen die Schuld an der Entstehung der Bande angelastet. Im Anschluss an den Bürgerkrieg bricht in der Ukraine eine Hungersnot aus, wie man sie nie zuvor erlebt hat. Da man den Bauern das Arbeitsvieh und das Saatgut weggenommen hat, können sie kein Getreide mehr anbauen. Das ganze Wirtschaftssystem kommt zum Erliegen. Eine Typhusepidemie vollendet die Katastrophe. Mein Vater Peter Neufeld, Gymnasiast im letzten Schuljahr, wird wegen der Epidemie Vollwaise und ist plötzlich sich selbst überlassen. Er nimmt die Arbeit eines Sanitäters am Krankenhaus auf, fährt als solcher mit einem Pferdewagen durch die Gegend, sammelt Leichen der an Typhus verstorbenen ein und liefert sie am Friedhof zur Beerdigung ab. Dafür bekommt er im Krankenhaus zu essen und ein Bett in einer dunklen Kammer im Treppenhaus. Zu dieser Zeit lernt er meine Mutter kennen und die beiden heiraten. Drei Jahre später heiratet auch Mutters jüngere Schwester. So hat mein Großvater zwei Söhne verloren und zwei Schwiegersöhne gewonnen. Im Jahre 1927 ziehen meine Eltern mit zwei Kindern vom Hof des Großvaters weg und leben künftig am Dorfende in einer »Koot«, wie man im Dorf ihre Lehmhütte nennt. Die Regierung verwirklicht in der Zwischenzeit die »Neue ökonomische Politik« und profitiert dadurch vom Fleiß der Bauern. Doch diese Politik führt letztlich zur Zwangskollektivierung und zur Ausrottung der wohlhabenden Bauern, die »Kulaken« genannt
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werden. Ihnen werden endgültig alle Produktionsmittel wie Land, Inventar, Technik, Pferde und Kühe weggenommen. Im Dorf, wo meine Großeltern und Eltern leben, entsteht eine landwirtschaftliche Kommune, in der sich die Armen vereinen. Ihr Vorstand »Kombed«, das Komitee der Ärmsten, erhält seine Befehle aus Moskau, zum Beispiel zu welchen Terminen Getreide, Fleisch und Gold abzuliefern sind. Selbst als nichts mehr zu holen ist, kommen noch immer entsprechende Befehle. Ende Dezember 1930 klopft eines Nachts jemand leise an ein Fenster von Großvaters Haus. Großvater blickt durch einen Spalt im Fensterladen, erkennt seinen ehemaligen Stallarbeiter, der jetzt Mitglied des Kombed ist, und lässt ihn herein. »Der Kombed hat beschlossen«, flüstert der Gast, »dass du morgen 500 Pud Getreide und 1000 Goldrubel abliefern musst. Andernfalls wirst du als Saboteur verhaftet.« »1000 Rubel?!«, staunt mein Großvater. »Und 500 Pud Getreide?! – Das sind ja über 80 Doppelzentner! Wo soll ich die denn hernehmen? Ich hab nichts mehr – weder Gold noch Getreide ... Ihr habt mir sogar schon das Saatgut weggenommen.« »Ich weiß. Deshalb bin ich ja gekommen. Du solltest sofort aus dem Haus gehen und verschwinden. Hast du nicht Freunde oder Verwandte, bei denen du dich eine Zeit lang verstecken könntest?« »Fliehen soll ich? Wie ein Verbrecher? Wo bleibt denn da die Vernunft?!« »Später werden wir nach der Vernunft fragen. Jetzt geht es ums nackte Leben!«, sagt der Gast. Großvater sieht verzweifelt auf seinen dick angeschwollenen Fuß, den er sich verletzt hat, als er im Stall auf eine Harke getreten ist. Noch in derselben Nacht verlässt er sein Haus, um nie wieder zurückzukehren. Am gesunden Fuß trägt er einen Lederstiefel, während der kranke Fuß in ein warmes gestricktes Kopftuch gewickelt ist, über das er einen Holzpantoffel gebunden hat. So humpelt er durch den verschneiten Obstgarten.
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Am frühen Morgen verlassen auch Großmutter und Tante Liese das Haus. Sie tragen einen Korb mit Wäsche und Kleider mit sich, als sie zu meinen Eltern in die Koot kommen. Als der Kombed sich bei Großvater einfindet, um Getreide und Gold zu requirieren, steht sein Haus leer. Es wird mit allem Hab und Gut in den Besitz der Kommune überführt. Einen Monat später erfährt die Familie, Großvater sei bei seiner Schwester in Rückenau verhaftet und ins Straflager Dnepropetrowsk gebracht worden. Liese macht sich auf den Weg nach Dnepropetrowsk, um ihren Vater aufzusuchen. Dort angekommen erfährt sie, dass die Sträflinge mit der Errichtung des größten Baus des Fünfjahresplans beschäftigt seien, dem Wasserkraftwerk »Dneprogess«. Es gelingt ihr, eine Stelle als Haushälterin bei dem ausländischen Ingenieur Franz Juljewitsch zu bekommen, der mit der technischen Aufsicht und Leitung des Baus beschäftigt ist. Liese geht jeden Tag zum Straflager und zu der großen Baustelle – in der Hoffnung, ihren Vater in den endlosen Sträflingskolonnen zu erkennen. Das gelingt ihr jedoch nicht, weil die Wachsoldaten sie nicht nahe genug herankommen lassen. Eines Tages, als sie einer Kolonne nachgeht und versucht, die Wache anzusprechen, wird sie verhaftet und zum Lagerkommandanten geführt. Sie wird vernommen, beschimpft und verprügelt. Als sie erklärt, die Haushälterin des leitenden Ingenieurs zu sein, jener herbeigerufen wird und dies bestätigt, lässt man sie frei. Nach diesem Vorfall erzählt sie Franz Juljewitsch von ihrem Vater, und der hilft ihr, ihn zu finden. Als das Dneprkraftwerk dem Fünfjahresplan nach fertig sein soll, meldet die Bauleitung nach Moskau den Abschluss der Bauarbeiten. In Wirklichkeit sind die Arbeiten nicht beendet - sie müssen noch mindestens eine Woche intensiv fortgeführt werden. Wenig später trifft in der Bauleitung ein Telegramm aus Moskau ein: Eine Kommission sei zu erwarten! Man wolle den ausländischen Gesandten und Reportern zeigen, mit welchem Aufschwung und Enthusiasmus der Kommunismus aufgebaut wird, um das Vertrauen der restlichen Welt zu gewinnen. Die Bauleitung und
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Lagerverwaltung geraten in Panik: Jetzt werde man ihre Lüge entdecken und sie der Sabotage beschuldigen! Außerdem seien die Ausländer unberechenbar: Sie könnten auf die Idee kommen, die »Helden des kommunistischen Aufschwungs« zu interviewen. Sollte man sie dann etwa ins Straflager führen?! Welche Zustände würden sie da antreffen? Die Verantwortlichen ergreifen schleunigst bestimmte Maßnahmen: Die Bauarbeiten werden fortan rund um die Uhr durchgeführt. Das Blasorchester übt Hymne und Märsche. Es werden Plakate weiß auf rot angefertigt: »Partei und Volk sind eins!«, »Die Bauten des Kommunismus erstellen wir vorzeitig!« und »Der Kommunismus ist nicht hinter den Bergen!« Auch im Straflager wird Ordnung hergestellt: Über Nacht verschwinden die Insassen in andere Lager. Es bleiben nur diejenigen, die Nachtschicht haben. Die Typhusbaracke ist verschwunden. Alle anderen Baracken sind auf einmal leer und sauber desinfiziert. Die ganze Nacht hindurch haben sich zwei Bulldozer mit Erdarbeiten beschäftigt. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, in dem Massengrab seien nicht nur die Leichen, sondern auch die Kranken eingebettet, zugeschüttet und festgewalzt worden. So, jetzt ist man bereit, die hohen Gäste zu empfangen. Am nächsten Morgen trifft die erwartete Kommission ein: Bei Sonnenschein und Blasmusik nähern sich die Ehrengäste dem »technischen Wunder«. Die Schleusen werden geöffnet und eine gewaltige Wasserwelle spült Dutzende von Häftlingen hinweg, die noch mit der Betonierung des Bodens des gigantischen Wasserbeckens beschäftigt sind. Alles läuft wie am Schnürchen: Der Minister hält seine Rede über den technischen Fortschritt im freien sozialistischen Land. Die Zuhörer, extra herbei gebrachte »freie« Bürger, klatschen Beifall. Die Botschafter staunen. Die Reporter fotografieren. Ein paar Tage später muss der Ingenieur Franz Juljewitsch binnen vierundzwanzig Stunden das Land verlassen, da er den ausländischen
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Journalisten einen nicht geplanten Bericht erstattet haben soll: über das geheimnisvolle Verschwinden der Typhuskranken und über die Betonarbeiter. Bevor er das Land verlässt, wird ihm mit Nachdruck eingeprägt, man habe ihn nur seines technischen Wissens wegen ins Land geholt, nicht aber, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Außerdem habe es den Westen überhaupt nicht zu interessieren, wie die Regierung mit ihrem Eigentum in Form »menschlichen Rohstoffes« umgehe. Man sagt ihm: »Und wer wird Ihrem Bericht schon Glauben schenken? Wir sind doch keine Menschenfresser! Die Gesandten haben unser Heldentum mit eigenen Augen gesehen und ihren Regierungen darüber Bericht erstattet. Die Reporter haben Bilder in westlichen Zeitungen veröffentlicht. Wir haben erklärt, Ihr Bericht sei ein Hirngespinst. Sie seien geisteskrank, wenn Sie so etwas erzählen.« Der Ingenieur verlässt wie befohlen das Land. Seine Haushälterin kehrt nach Mariawohl zurück. Mein Großvater bleibt spurlos verschwunden. Den richtigen Aufschwung erfährt der sozialistische Aufbau erst später, in den Jahren 1937 bis 1939, was meine Familie weitere vier Menschenleben kostet. Anfang des Jahres 1937 wird Vaters ältester Bruder David abgeholt. Seine Frau bleibt mit sieben Kindern zurück, von denen die Jüngsten, die Zwillinge Harry und Eduard, knapp ein Jahr alt sind. Die älteste Tochter Erna, Krankenschwester von Beruf, bekommt als »Tochter eines Volksfeindes« keine Arbeit. Daher schreiben sie an Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja und beklagen sich: »Wie soll eine Familie ohne Ernährer existieren?« Bald darauf bekommen sie Antwort: Erna darf als Krankenschwester arbeiten und für die Zwillinge wird eine kleine Rente bewilligt. Meine Eltern leben inzwischen in Waldheim, das später in »RotFront« umbenannt wird. Vater arbeitet dort als Buchhalter in der Maschinen-Traktoren-Station, kurz MTS genannt. Er spielt Volleyball in der MTS-Mannschaft, die als einzigen Gegner die Milizmannschaft hat. Unter den Milizionären hat er einen ukraini-
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schen Freund namens Nikolaj Tus, mit dem er nach jedem Spiel eine Bierstube aufsucht. Es ist eine unruhige Zeit: Jede Nacht werden etliche Kollegen verhaftet. Keiner weiß, warum und weshalb. Am Feierabend verabschieden sie sich voneinander und wissen nicht, wer von ihnen morgen fehlen wird. Man misstraut einander, da die Geheimpolizei überall ihre Ohren hat. Über die Verhaftungen von Verwandten, Freunden und Kollegen wird nicht gesprochen. Deshalb können später die Nichtbetroffenen behaupten, sie hätten davon nichts gewusst. Allmählich verschwinden alle männlichen Mitarbeiter der MTS. Im Dezember 1937 sind nur noch zwei von ihnen da: der Direktor, ein Ukrainer und Kommunist, und der Buchhalter, mein Vater. Letzterer fragt sich, warum man ihn nicht auch abholt. Die Familien seiner verhafteten Kollegen könnten ja Verdacht gegen ihn schöpfen. Er erklärt es sich so: Jemand müsse ja die Jahresabrechnung des Betriebes machen ... Am 14. Dezember sollen Wahlen stattfinden. Tags zuvor liefert Vater die Jahresabrechnung ab und am Abend meint er, wenn man ihn in dieser Nacht nicht hole, so würde er wohl bleiben, denn nach den Wahlen solle alles besser werden. Es wird für ihn eine lange, bange Nacht. Endlich um 3 Uhr in der Früh klopft jemand an die Tür. Vater öffnet und sieht Nikolaj Tus vor sich stehen, der mit zwei Begleitern gekommen ist, um ihn zu verhaften. Tus hat nicht den Mut seinem Freund zu sagen, er sei ein Volksfeind. Er legt die Hand auf Mutters Schulter und versucht, sie zu trösten: »Weine nicht, Justine. Es ist ein Irrtum. Man wird die Sache aufklären und Peter kommt zurück.« Irrtum? Vater kommt nie mehr zurück. Beim Arrest eines Volksfeindes wird sein Vermögen requiriert. Bei meinen Eltern gibt es nichts zu beschlagnahmen, es sei denn, man würde die Kinder als Vermögen ansehen und sie konfiszieren. Fünf sind wir insgesamt: Mein Bruder Bernhard ist 13 und befindet sich im Internat der Taubstummenschule. Dann kommen meine Schwestern: acht, vier und zwei Jahre alt. Ich bin die Jüngste, vor
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fünf Wochen geboren. Die Ponjatyje schreiben ein Protokoll über die Enteignung des »Vermögens«: Vaters Sonntagsanzug, seine Stiefel und sein Pelzmantel werden mitgenommen. Sie wollen auch die Nähmaschine wegschaffen, aber Tus winkt ab: »Die Nähmaschine gehört der Mutter.« Am nächsten Morgen erklingt feierliche Musik. Die Straßen sind mit roten Transparenten geschmückt. Das »glückliche« Sowjetvolk wählt einstimmig den »Block der Kommunisten und Parteilosen«. In den Zeitungen ist zu lesen: »Im ganzen Land wird mit Erfolg die materielle Basis des Kommunismus geschaffen« und »Die Prinzipien der Demokratie siegen«. Ein paar Tage später soll meine Familie die Wohnung räumen, weil sie der MTS gehört und für den neuen Buchhalter bestimmt ist. Mutter sucht vergeblich nach einer Bleibe. Eine Familie von acht Personen findet nicht ohne weiteres eine Unterkunft. Eines Tages fährt ein Lastwagen in den Hof und Möbel werden abgeladen. Der neue Buchhalter und seine Frau sind eingetroffen. Sie sind Juden. Eine mollige Dame, in Seide und Fell gekleidet, mit goldenen Fingerund Ohrringen kommt in den Vorraum. Meine erschrockene, bleiche Mutter erklärt stotternd, sie habe keine Möglichkeit gefunden, die Wohnung rechtzeitig zu räumen. Hinter ihrem Rücken schauen zwei neugierige Kinder hervor - meine Schwestern, vier und zwei Jahre alt. »Ach, wie entzückend!«, ruft die Dame und schlägt die Hände zusammen. »Solche Kätzchen habe ich mir schon immer gewünscht. Bekomme selbst leider keine.« Sie streichelt den Kindern übers Haar und beschenkt sie mit Konfekt aus ihrer Handtasche. Dann geht sie durch die Wohnung, schaut in alle Zimmer und wendet sich an meine Mutter: »Keine Bange. Wir haben hier alle Platz, bis Sie etwas Passendes finden.« Ihrem Mann sagt sie: »Modest, laß das Klavier in die Scheune tragen. Dafür ist hier kein Platz.«
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Drei Wochen leben die zwei Familien in einer Wohnung, und meine Mutter erinnert sich später nicht, ein böses Wort gehört oder einen schiefen Blick gesehen zu haben. Dann ziehen wir um. Nachbarn haben uns ihre Sommerküche angeboten. Sie ist im Herbst verputzt und anschließend nicht geheizt worden, weshalb die Wände nass sind. Wenn in diesem Zimmer alle schlafen (Großmutter auf der Kiste am Ofen, Tante Liese auf drei zusammengeschobenen Stühlen, drei Mädchen in einer aufgeklappten Schlafbank, Bernhard, wenn er in die Ferien kommt, auf dem Fußboden und ich in der Wiege), dann bleibt für meine Mutter nur noch ein Stuhl übrig. Sie schläft sitzend, auf die Wiege gestützt. Wegen all der Aufregungen und Strapazen hat sie die Milch verloren und kann mich nicht mehr stillen. Um Milch zu kaufen, fehlt das Geld. In vielen schlaflosen Nächten wünscht mir meine Mutter den Tod. Vergebens versucht sie, ihre frühere Arbeit als Grundschullehrerin wieder aufzunehmen. »Der Frau eines Volksfeindes kann die Erziehung der Sowjetkinder nicht anvertraut werden«, heißt es. Ihre Lage ist so hoffnungslos, dass sie nicht mehr leben will und zum Strick greift. Gerade noch rechtzeitig gelingt es meiner Großmutter sie eines Nachts aus der Schlinge zu holen... Schließlich bekommt meine Mutter eine Stelle als Putzfrau in derselben Schule, in der sie bis vor kurzem noch als Lehrerin angestellt war. Vater hat sich geirrt: Auch nach den Wahlen gehen die Verhaftungen weiter. In Putschkowo bei Omsk wird sein jüngerer Bruder und in Mariawohl sein Schwager verhaftet. Somit ist die Aushebung der Männer in unserer Verwandtschaft komplett.
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Protest und Flucht
Inzwischen rückt das neue Jahr 1938 näher und damit die Winterferien. Nikolaj Tus bietet an, meinen Bruder Bernhard aus dem Internat der Taubstummenschule abzuholen. Der freut sich: »Hurra! Nach Hause in die Ferien! Zu Eltern und Geschwistern!« Strahlend läuft er den Gang entlang und bleibt verblüfft stehen, als er Tus sieht. »Onkel Kolja?! Und wo ist mein Papa?« Neben ihnen steht »der Sawutsch« – eine stellvertretende Schuldirektorin Bella Sasulitsch, - eine Jüdin. Tus legt seine Hand auf Bernhards Schulter und sagt: »Ich hatte hier in der Stadt zu tun und habe deinen Eltern versprochen, dich mitzubringen.« Im Auto sagt er: »Dein Vater wurde verhaftet« und drückt den schmalen Körper des schluchzenden Jungen an seine Brust. Allmählich beruhigt sich mein Bruder, wird nachdenklich, nimmt seinen Pionierschlips vom Hals und schiebt ihn in seine Hosentasche. Bernhard liebt seinen Vater, glaubt nicht an seine Schuld und kann nicht begreifen, warum man ihn verhaftet hat. Kurz nach den Winterferien kommt eine Vorladung: »Die Erziehungsberechtigten« sollen in die Taubstummenschule kommen. Dort wird meine Mutter von Bella Sasulitsch mit Vorwürfen empfangen: »Wie erziehen Sie Ihren Sohn? Er trägt kein Pionierhalstuch! Wo wir ihm doch die Ehre erwiesen und ihn in unsere Pionierorganisation aufgenommen haben! Wir haben ihm schon eine Menge Schlipse gegeben. Mal behauptet er, ihn verloren zu haben, mal, er habe Löcher oder sei dreckig. Ich habe beobachtet, wie er mit Absicht die herabhängenden Enden des roten Tuches in den Suppenteller schob und noch mit dem Löffel draufdrückte. Dann war das Tuch natürlich dreckig und er hatte einen Vorwand, es vom Hals zu nehmen. Ich
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habe im Schlafzimmer nachgesehen und drei Pionierschlipse unter seiner Matratze gefunden. Wenn Sie ihm nicht beibringen, wie er sich zu benehmen hat, werden wir ihn der Schule verweisen, wegen ... antisowjetischen Benehmens ... Übrigens, wo ist Bernhards Vater? Warum ist er nicht gekommen?« Mutter hört geduldig zu und sagt dann müde und langsam: »Bernhards Vater ... gräbt ... mit Ihrem Mann ... an einem Graben ...« Bella schaut sie erschrocken an und sagt kein Wort. Mutter spricht weiter: »Bernhard liebt seinen Vater und leidet sehr. Er ist jetzt dreizehn Jahre alt und schon sieben Jahre in dieser Schule. Er wird von Ihnen erzogen. Erklären Sie ihm, welch große Ehre es ist, Pionier zu sein und ein Halstuch zu tragen. Ich kann ihn nicht dazu zwingen.« Bellas deutscher Ehemann wurde auch verhaftet. Sie will nicht »Frau des Volksfeindes« sein und hat sich sofort von ihm scheiden lassen. Seit diesem Gespräch ist nie mehr die Rede davon gewesen, mein Bruder solle der Schule verwiesen werden, obwohl er sich auch weiterhin hartnäckig weigert, das rote Pioniertuch zu tragen. Noch im selben Jahr werden alle deutschen Schulen in der Ukraine in russische und ukrainische Schulen umgewandelt, was die taubstummen Schüler besonders hart trifft: Es fällt ihnen schwer, sich sofort auf eine andere Unterrichtssprache umzustellen. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges ist die deutsche Bevölkerung in der UdSSR von den Kommunisten so gehetzt, gepeinigt und gequält, dass Haß und Rachegefühle natürlich und selbstverständlich gewesen wären. Aber bei den Deutschen in der UdSSR ist das nicht der Fall. Sie widersetzen sich den Machthabern nicht, denn sie glauben an die Nächstenliebe, die Gerechtigkeit und die höheren Prinzipien. In den ersten Monaten des Krieges wird die Republik der Deutschen an der Wolga durch einen Erlass der Sowjetregierung aufgelöst und die Bevölkerung nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert. Zugleich macht man sich daran, die Deutschen aus der Ukraine in dieselben Gegenden zu »evakuieren«.
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Mehrere Tage lagern wir mit vielen anderen Leuten am Bahnhof RotFront im Freien. Meine Familie hat sich sofort den Mariawohlern angeschlossen, um mit den Verwandten zusammen zu sein. Ein Zug nach dem anderen fährt nach Osten. Nachts gibt es einen Bombenangriff. In vollständiger Finsternis geraten die Leute in Panik. Man hört sie schreien, stöhnen, weinen ... Der Bahnhof, die Gleise und Züge sind zerstört. Die Wachsoldaten sind verschwunden. Die Leute beeilen sich, nach Hause zu kommen. Wir sind unter deutscher Besatzung. Meine Familie fährt nach Mariawohl und zieht ins ehemalige Haus meines Großvaters ein. Kurz darauf entdeckt Bernhard im Wäldchen neben der Chaussee hinter den Obstgärten eine Stute. Das Pferd ist in einem erbärmlichen Zustand: Mager, dass man alle Rippen zählen kann, der Rücken ist schorfig, die kranken Hufe sind zerquetscht. Vorüberziehendes Militär hat das kranke Tier zurückgelassen. Bernhard bringt die Stute in den Stall und hat seine helle Freude an ihr. Er hegt und pflegt sie und in kurzer Zeit wird sie zu einem Prachtstück. Er nennt die Stute »Kukla«, was auf deutsch Puppe bedeutet. Das Leben im Dorf verläuft friedlich, die Bauern säen und ernten. Nichts außer dem Gewitter und dem leuchtenden Himmel im Osten deutet noch auf den Krieg hin. Als zwei Jahre später die deutsche Armee den Rückzug antritt, flüchten etwa 350.000 deutsche Zivilisten vor den russischen Truppen. Auf allen Wegen ziehen lange Trecks in Richtung Westen. Wir flüchten auch. Vom Kolchos bekommen wir einen Leiterwagen und ein zweites Pferd zugeteilt. Über dem Wagen errichten wir ein Dach aus Furnier. Bettsachen, Kleidung und Lebensmittel werden mitgenommen. Oma, die Kinder und die Ziege mit langem Bart dürfen aufsteigen. Die Reise beginnt. Reporter, die unseren Treck begleiten, fotografieren mehrmals unseren Flüchtlingskarren, weil sie die Ziege mit den Kindern hoch oben auf dem Gepäck so drollig finden. Unsere Reise ins Ungewisse dauert den ganzen Winter, vom Herbst 1943 bis zum Frühling 1944, und unterwegs gibt es viele
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Schwierigkeiten. Unser Treck ist in Sechsergruppen aufgeteilt, wobei zu jeder Gruppe ein Mann - ein Greis oder ein Invalide - gehört. Diese Gruppen halten zusammen: Wenn mit einem Wagen etwas passiert, wird die Familie nicht allein auf der Strecke zurückgelassen, sondern die anderen fünf Wagen scheren auch aus. Der Treck zieht weiter, während den Betroffenen geholfen wird. Dann holen alle gemeinsam den Treck wieder ein. Zweimal wird für längere Zeit Rast gemacht, in den Dörfern Alexandrowka und Birishanka. In welchem Land diese Dörfer liegen, weiß keiner genau. Wahrscheinlich in Rumänien, denn die Einwohner sprechen hier weder russisch noch deutsch. In Birishanka sind wir bei einer Frau mit drei Töchtern einquartiert. Das Haus steht an einer mit dichtem Gestrüpp bewachsenen Schlucht, neben einer Brücke. Eines Nachts wird es kritisch, als zwei bewaffnete Partisanen in langen nassen Uniformmänteln aus der Schlucht kommen, ins Haus eindringen, nach Nahrungsmitteln suchen und sich erkundigen, ob sich im Haus fremde Leute aufhalten. Als die Männer wieder gegangen sind, sagt die Wirtin meiner Mutter, sie habe vorgegeben, ihre Schwester sei mit den Kindern aus dem Nachbardorf gekommen. Auf keinen Fall sollten wir uns als deutsche Flüchtlinge zu erkennen geben, sonst würden wir getötet. Im Frühjahr 1944 kommen wir im Warthegau an, werden in Neukirchen bei Exin untergebracht und eingebürgert. Das Dorf Neukirchen ist auf drei Seiten von einem dunklen Tannenwald mit dichtem Unterholz umgeben. Zwischen Wald und Dorf liegt eine sumpfige Wiese mit tiefen rechtwinkligen Torfgruben. Um die deutschen Flüchtlinge unterzubringen, vertreiben die deutschen Soldaten die polnischen Familien aus ihren Häusern. Die Frauen weinen, die Kinder klammern sich an ihre Röcke. Ein bekanntes Bild: Meine Mutter erinnert sich an das Jahr 1937 ... nein, das will sie nicht! Sie greift ein. Die polnische Familie soll dableiben. Wir brauchen nicht viel Platz. Das Haus, in dem wir untergebracht werden, liegt außerhalb des Dorfes, etwa 120 bis 150 Meter von den Nachbarn entfernt. Wir leben in diesem Haus eine
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längere Zeit zusammen mit Pani Wanda und ihren Kindern. Meine Mutter, meine Tante und mein Bruder arbeiten zusammen mit Pani Wanda und anderen Polen beim Gutsbesitzer Müller. Das heißt, der Gutsbesitzer selbst ist im Krieg, auf dem Gut sind nur zwei ältere Damen – seine Frau und seine Schwester. Meine Schwestern und ich gehen zur Schule. In Neukirchen wird es unruhig. Immer mehr Militär zieht durch die Straßen in verschiedene Richtungen. Der Kanonendonner kommt näher und näher. Schließlich müssen wir weiter vor den Russen flüchten. Russische Kriegsgefangene in Zivil helfen den Frauen und Kindern auf der Flucht. Durch ein Dorf nähert sich unser Flüchtlingstreck der Überfahrt über die Netze, einen Nebenfluss der Neiße. Die Bomben fallen vor und hinter uns. Meine Mutter klammert sich an den Ärmel des russischen Burschen, der das Fuhrwerk lenkt: »Kehr um, Paschka! Kehr um! Da vorne ist die Hölle los!« »Zu spät, Frau Neufeld. Hinter uns sind die Panzer!« An der nächsten Straßenbiegung ergreift meine Mutter die Zügel und lenkt die Pferde zum versperrten Brettertor eines Hofes. Unter dem heftigen Schlag der Deichsel öffnet sich das Tor und das Fuhrwerk ist im Hof. Ihm folgen weitere drei Fuhrwerke. Die Müller-Damen, unsere Verwandten und Lydia Kasper, eine Frau aus Mariawohl mit ihren Kindern. Die Kutscher schlagen das Tor zu und spannen die Pferde aus. Die Frauen und Kinder gehen ins Haus, das von seinen Herren verlassen steht. Drinnen finden wir nur eine junge Polin vor, eine Hausangestellte. Der Flüchtlingsstrom bewegt sich ununterbrochen an den Fenstern vorbei zur Brücke. Der Kanonendonner wird noch lauter. Die sowjetischen Panzer zersplittern den Menschenstrom und rasen die Straße entlang in dieselbe Richtung. Die Erde bebt. Der Himmel scheint einzustürzen. Zwei sowjetische Panzer fahren in den Hof und wenden so, dass die Flüchtlingsfuhren umkippen und Kissen, Koffer, Geschirr und Papiere über den ganzen Hof verteilt herumliegen. Die Panzer halten an, ihre Besatzungen steigen aus und durchwühlen die Sachen. Einem Russen gefällt Vaters
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gelbe Lederaktentasche, in der Mutter alle wichtigen Dokumente wie Zeugnisse und Urkunden aufbewahrt. Der »Tankist« schüttet alle Papiere auf die Erde und schiebt irgendwelche Kindersachen in die Tasche. Die junge Polin hat sich im Hühnerstall versteckt, wird dort aber von den Soldaten gefunden und vergewaltigt. Alle, die im Hause Zuflucht gefunden haben, werden auf den Hof getrieben, vor der Scheune aufgestellt, und die Russen beginnen zu schießen. Dabei fluchen und schimpfen sie: »Deutsche Hunde! Ihr wollt uns entkommen? Jetzt haben wir euch!« Als Erste werden die nobel gekleideten Müller-Damen und russische Kriegsgefangene, die keinen Laut von sich geben, erschossen. Plötzlich schreit eine helle Knabenstimme: »Djadenjki, ne streljaite, my she russkije.« Die »Tankisten« stutzen: »Wer war das?« Lydia Kasper hält ihrem 9-jährigen Sohn Viktor den Mund zu und drückt ihn an sich. Er reißt sich von ihr los und schreit wieder: »Wir sind aus Russland, schießt nicht ...« Und tatsächlich: Sie hören auf zu schießen. »Warum sagt ihr denn nicht gleich, dass ihr aus Russland, ja dass ihr die Unseren seid?« »Wir wissen nicht, wessen wir sind«, weint Lydia Kasper. »Die Faschisten sagen russische Schweine und ihr nennt uns deutsche Hunde ...« Die Panzer verlassen schleunigst den Hof und rollen zur Flussüberfahrt. Die Frauen schaffen die Leichen weg und verscharren sie hinter der Scheune. Sie bringen ihre Fuhrwerke, soweit es möglich ist, in Ordnung, sammeln manche Sachen, Fotos und Papiere auf und begeben sich, obwohl es schon Nacht ist, auf den Rückweg. Als wir zurück nach Neukirchen kommen, treffen wir in dem von uns verlassenen Haus eine schwangere Frau mit ihren Kindern an. Sie hat die Flucht nicht fortsetzen können und ist ins erstbeste Haus eingekehrt, weil sie gebären muss. Meine Großmutter kann ihr dabei gerade noch helfen.
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Im Wartheland herrscht nun Anarchie. Die Deutschen sind weg, aber die Rote Armee hat das Gebiet noch nicht besetzt. Am Morgen nach unserer Rückkehr besucht uns der junge Förster Stephan Strichalski, in dessen Schwester Haus wir einquartiert sind. Er berichtet, dass die Lebensmittellager, Geschäfte und Apotheken geplündert und die Häuser der deutschen Gutsbesitzer in Brand gesteckt würden. Dicke Rauchwolken bestätigen seine Worte. Stephan hat seine Verwandten mit Lebensmitteln versorgt, weil man in der nächsten Zeit nichts würde kaufen können. Er hat auch an uns gedacht: Einen Sack Mehl, eine Schachtel Butter und einen Eimer Marmelade trägt er ins Haus und verschwindet. Am Abend desselben Tages taucht eine Gruppe Sowjetsoldaten in unserem Hof auf. Sie schleppen ein laut quiekendes Schwein mit sich, schlachten und zerlegen es und unsere Frauen müssen ihnen das Essen zubereiten. Großmutter spricht die »Gäste« sofort auf Ukrainisch an, damit sie wissen, wer wir sind. Die Rotarmisten wollen wissen, ob sich Militär in Neukirchen aufhält. Es stellt sich heraus, dass sie Deserteure sind, die den Krieg satt haben und jetzt nur plündern und ein freies Leben führen wollen. Vor der Roten Armee haben sie mehr Angst als vor den Deutschen. Sie hüten sich, in die Hände ihrer eigenen Leute zu fallen, denn, wie der eine sagt, »das Tribunal verstehe ja keinen Spaß!« Es sind gefährliche Burschen. Mein gehörloser Bruder und die älteste Schwester halten sich im Kuhstall versteckt. Während das Fleisch brät und die Kartoffeln schmoren, durchwühlen die Männer unsere Sachen. Aber bei uns ist nichts mehr zu holen. Der eine dreht in den Händen mein neues blaues »Kriegswaren«Mäntelchen, auf das ich sehr stolz bin, und schiebt es in seinen Rucksack. Mutter und Tante Liese haben sich die Gesichter mit Ruß beschmiert und die Kopftücher so umgebunden, dass sie alten Ukrainerinnen ähneln, da sie sich vor Vergewaltigungen fürchten. Später, als die Männer beim Schmaus sind, werden die Frauen auch zum Essen eingeladen, sie lehnen aber dankend ab. Die Russen demonstrieren ihre
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Geselligkeit und Gastfreundschaft: »Kommt, esst doch mit uns. Und du«, wendet sich einer von ihnen direkt an meine Mutter, »wasch mal den Ruß aus deinem Gesicht und setz dich zu uns. Du bist jung und schön, willst uns nur vormachen, du seist ein Großmütterchen.« Mutter tut so, als höre sie es nicht. Dann wollen die Angetrunkenen wissen, wer sich hinter der versperrten Tür des Nebenzimmers befindet und brechen dort ein. Gleich darauf hört man grässliches Fluchen, ein herzzerreißendes Geschrei, das Weinen der erschrockenen Kinder: Die Wöchnerin wird vergewaltigt – von allen der Reihe nach. Meine Großmutter will ihr helfen und geht entschieden dazwischen: »Was macht ihr denn, Jungs?! Das dürft ihr doch nicht!« Sie wird aber grob mit dem Gewehrkolben zurückgestoßen. So also sieht die »Befreiung der Völker Europas durch die Sowjethelden« aus: Es wird geplündert, geschändet, gemordet. Und wir »dürfen« es mit eigenen Augen sehen. Um die Zerstörung und die Plünderungen zu beenden, wird eine polnische Selbstverwaltung geschaffen. Kurz darauf wird mein Bruder Bernhard schriftlich aufgefordert, sich bei der Selbstverwaltung zu melden. Meine Mutter geht mit. »Ein großer gesunder Bursche. Wieso ist er nicht bei der Armee?«, fragt der Vorsitzende. »Er ist taub und für die Armee untauglich. Das haben sowohl die Russen als auch die Deutschen bestätigt«, sagt meine Mutter. »Taub? Aber er spricht ja?!« »Ja, das hat er in der Taubstummenschule gelernt. Er liest auch von den Lippen ab, aber nur, wenn er sie sehen kann, versteht sich.« Bernhard, 20 Jahre alt, steht neben der Mutter und sieht sie aufmerksam an. Der Vorsitzende trägt einen Bart, und deshalb kann mein Bruder nicht verstehen, worum es geht. »Taub ist er also? Das macht nichts. Wir schicken ihn zu Bauarbeiten. Einen Flugplatz bei Exin wird er bauen«, beschließt der Vorsitzende. »Bitte, lassen Sie ihn hier in der Landwirtschaft weiterarbeiten.
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Erbarmen Sie sich! Am Bau sind viele Menschen und Technik. Er hört nichts und wird da umkommen!« »Erbarmen soll ich mich? Ich höre wohl nicht recht?! Und ihr? Habt ihr Mitleid mit unseren Leuten gehabt?« »Wer ihr? Wen meinen Sie? Ich bin eine Frau, eine Mutter, ich führe keinen Krieg! Ich komme aus der Sowjetunion, bin eine Deutsche ...« »Ja! Jetzt sind wir zur Sache gekommen. Eine Deutsche sind Sie! Und mit den Deutschen haben wir Krieg, verstanden? Die Faschisten haben euch hergebracht, damit ihr für sie arbeitet. Und für uns wollen Sie also nicht arbeiten?« »Wir werden nicht gefragt, was wir wollen ...« »Stimmt. Ich frage Sie auch nicht. Ihr Sohn wird für Bauarbeiten mobilisiert. Morgen um 8 Uhr soll er auf dem Platz vor dem Rathaus erscheinen.« Das ist im März 1945. Die Rote Armee zieht durch die Städte und Dörfer Polens. Sie wird von der Bevölkerung nach altem slawischen Brauch mit Brot und Salz begrüßt. »Chaj shewe Towarischtsch Stalin! – Es lebe Genosse Stalin!«, wird dem Volk zugerufen. »Chaj shewe! Chaj shewe!«, kommt es freudig zurück. Damit ist unsere Flucht beendet. Aus der Befreiung, auf die sich meine Großmutter gefreut hat, ist nichts geworden.
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»Repatriierung«?
Nach Osten gehen endlos lange Güterzüge mit wertvoller Fracht: Fabrik- und Werkausrüstung, Militär- und Landwirtschaftstechnik, Kohle, Kalkstein, Baumaterialien. Die Freude der Polen über ihre Befreiung währt nicht lange. »Was soll das, Frau Neufeld?«, empört sich Stephan, der Förster. »Die wollen wohl ganz Europa ausplündern?! Das ist ja Raub!« Mutter hat zu diesem Thema ganz bestimmte Gedanken, die sie aber vorsichtshalber für sich behält. »Hast du vom Sieger etwas anderes erwartet?«, meint sie und zuckt mit den Schultern. Stephan schüttelt energisch den Kopf, wird nachdenklich, verzieht sich in seinen sumpfigen Wald und lässt sich lange nicht blicken. Als er wieder erscheint, bringt er ein gutes Stück Wild mit. Er hat ein Reh erlegt und versorgt seine Verwandten und uns mit Fleisch. Und wieder äußert er Bedenken: »Jetzt könnten die Russen doch gehen, Frau Neufeld. Warum gehen die nicht?« »Die werden bleiben, Stephan«, sagt Mutter. »Freiwillig gehen die nicht.« »Warum denn? Das kann nicht sein! Die Russen haben uns befreit und werden jetzt gehen ...« »Nein, Stephan, das werden sie nicht. Ihr seid jetzt weiter von der Freiheit entfernt als je zuvor. Diese Laus im Nacken werdet ihr so bald nicht wieder los.« Sie unterhalten sich noch lange. Bald darauf kommt der Förster wieder, bringt zwei große Wollknäuel und ein Bündel Rohwolle mit. »Stricken Sie mir bitte Handschuhe - fünf Paar, mit Daumen und Zeigefinger?«, bittet er. »Handschuhe?«, wundert sich Mutter. »Der April steht vor der Tür – es ist Frühling! Fünf Paar?« Sie sieht ihn fragend an.
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»Die Nächte sind kalt«, erklärt er lakonisch. »Stephan, dein Vorhaben ist gefährlich und aussichtslos. Glaub mir! Ein russisches Sprichwort sagt: Mit einer Peitsche brichst du den Beilrücken nicht.« »Ich verstehe. Aber ich kann doch nicht die Hände in den Schoß legen, während Polen wieder seine Freiheit verliert. Wer soll denn kämpfen, wenn nicht ich? Außerdem bin ich nicht allein und uns bleibt keine Wahl.« Stephan kommt jetzt nur noch bei Dunkelheit: Er bringt Wolle und holt Handschuhe ab. Davon braucht er immer mehr. Die Russen fühlen sich in Neukirchen unbehaglich. Ein Offizier geht alleine aus und verschwindet. Wo mag der geblieben sein? Desertiert? Entführt? Ermordet? Die Besatzungsmacht droht schon mit Vergeltung, da wird der Verschwundene von der polnischen Miliz plötzlich gefunden: Ertrunken in einer Torfgrube ... Die russischen Soldaten trauen sich nicht einzeln auf die Straßen. Sie gehen nur in Gruppen und haben wenig Lust, uns am Dorfrand nahe des Waldes zu belästigen. Ein beladener Güterzug fliegt kurz hinter Neukirchen in die Luft. Andere Güterzüge stehen lange auf den Gleisen herum und werden nur zögernd weitergeschickt. Plötzlich kommt Frau Wanda, Stephans Schwester, zu uns gelaufen. Ihr Mann ist bei der polnischen Miliz. Sie ist außer Atem: »Frau Neufeld!«, keucht sie. »Frau Neufeld, Sie werden für zehn Tage nach Sibirien geschickt, sagt mein Mann ...« »Nach Sibirien? Für zehn Tage? Das ist ja Unsinn! Wissen Sie überhaupt, wo Sibirien ist? Allein die Fahrt dorthin dauert mindestens zehn Tage.« »Doch! Re-pa-tri-ierung nennt man das, sagt mein Mann.« »Was soll denn das bedeuten? So etwas habe ich noch nie gehört.« Im April 1945 erstellt die Besatzungsmacht Listen derjenigen, die in die UdSSR zurückgeführt werden sollen. In dieser Zeit kommt Stephan eines Tages zu uns und meint:
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»Frau Neufeld, warum wollen Sie zurück nach Russland? Sie sind doch Deutsche!« »Wer spricht denn von Wollen? Wir werden ja gar nicht gefragt. Unsere Familie steht ohne unser Zutun auf der Liste.« »Ich verstecke Sie! Die Russen trauen sich nicht in den Wald. Mit ihrem Gerät und schwerer Technik bleiben sie im Sumpf stecken.« »Aber Stephan, sei doch vernünftig. Wie lange kann sich eine Familie mit so vielen Kindern und einem alten Mütterchen im Wald verstecken? Einmal müssen wir doch raus aus dem Wald. Außerdem fällt der Verdacht ja sofort auf dich und deine Familie, wenn wir verschwinden. Wir können dieses Risiko nicht eingehen und euch in Gefahr bringen.« »Dann lassen Sie Ihre Tochter Regine hier. Ich verstecke sie. Ich liebe sie und werde sie heiraten.« »Stephan, ich habe hier schon meinen Sohn verloren. Wer weiß, ob er noch lebt. Ich kann nicht auch noch eine Tochter hier lassen. Regine ist erst 16, sie ist noch ein Kind. Du wirst es später verstehen. Glaub mir, uns ist nicht zu helfen. Du kennst die Russen nicht. Die werden sich hier festsetzen und auch deinen Wald erobern.« Kurz darauf werden wir zur Station gebracht, um nach Russland zurückgeschickt zu werden. Der Güterzug, der für die Menschen bestimmt ist, besteht aus Plattformen – offenen Güterwagons, die mit verschiedensten Geräten beladen sind: Da sind Panzer und Traktoren, Kanonen und Sämaschinen, Bahnschienen und große blanke Metallbehälter mit runden, glatten Seiten. Wo sollen hier Menschen Platz finden? Nur die ersten drei Wagons haben etwas höhere Wände, sind aber zur Hälfte mit Kohle gefüllt. Meiner Mutter und meiner Tante gelingt es, einen Ballen Bettsachen in den dritten Wagon nach der Lokomotive zu werfen. Darauf werden Großmutter und wir, die kleineren drei Kinder, gesetzt. Wichtig ist, einen bequemen Platz zu erwischen, denn wir werden ja mehrere Tage und Nächte hindurch fahren müssen. Die Frauen laufen, um die anderen Sachen zu holen: Koffer mit Kleidern und Taschen mit Lebensmitteln. So machen es auch alle anderen Leute.
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Plötzlich fährt der Zug an und jagt mit Volldampf davon. Was soll das? Das Einsteigen hat ja erst begonnen! Es gibt ein unvorstellbares Durcheinander: Alle schreien, weinen, manche springen vom Zug und verletzen sich. Die Frauen werfen die Sachen hin und laufen dem Zug hinterher. Familien werden auseinandergerissen. Wo soll eine Mutter später ihre Kinder suchen? Ungefähr nach zehn Kilometern hält der Zug im Wald an. Ein junger Pole läuft den Zug entlang, fuchtelt mit den Armen und schreit: »Pani, Wald, Wald!« Er zeigt auf den Wald, aber die erschrockenen alten Weiber können nicht begreifen, warum sie mit den kleinen Kindern in den Wald laufen sollen. Dem Polen entgegen, den Zug entlang, laufen ein sowjetischer Offizier und zwei Soldaten. Der Offizier schießt, der Bursche fällt und rutscht die Böschung hinab. Die Russen haben die Lokomotive erreicht. Der Offizier ergreift mit einer Hand die Griffstange, springt auf das Trittbrett und hält dem Lokführer die Pistole unter die Nase: »Zurück! Sofort fährst du zurück, oder ich erschieße dich wie einen räudigen Hund!« Weiter folgt eine wahre Flut von Fluch- und Schimpfwörtern, aus der man nur einzelne Worte wie »Saboteur«, »Schädling« und »Tribunal« versteht. Das sind überzeugende Argumente: Der Zug kriecht langsam rückwärts zur Station. Nach ein paar Stunden ist das Einsteigen beendet und die Reise beginnt. Wir sind froh, dass Mutter, Tante und Regine wieder bei uns sind. Der Zug fährt, ohne anzuhalten, zwei Tage und zwei Nächte. Wir haben Durst, aber es gibt kein Wasser. Es gibt kein WC und daher werden Nachttöpfe und Konservenbüchsen benutzt. Die Erwachsenen können auch nachts kein Auge zumachen, weil durch den Funkenflug aus dem Schornstein der Lokomotive ständig Brände ausgelöst werden. Hier und dort entstehen kleine Flammen, die man rechtzeitig löschen muss. In der Dunkelheit hört man flüsternde Frauenstimmen: »Was wollten die Polen eigentlich? Warum sollten wir in den Wald?«
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»Die Polen wollten das Verschleppen von Menschen und Gütern verhindern. Es ist aber schief gelaufen. Die haben es schlecht vorbereitet.« »Wir wussten ja nichts davon, sonst hätten wir mitgemacht. Aber so haben wir ihnen das Spiel verdorben.« »Die Polen sind naiv! Die kennen ihren großen Bruder nicht. Schließlich haben die Russen Spürhunde und Waffen. Sie werden die Partisanen in ihren Wäldern vernichten.« »Hat der Offizier den Burschen erschossen?« »Ach wo. Der hat nur in die Luft geschossen und der Junge fiel schon vor Schreck um«, lachen sie. »Und wo bringt man uns hin? In die Ukraine?« »Die Polen sagen, nach Sibirien für zehn Tage«, lachen sie abermals. »Haben die eine Ahnung!« »Repatriierung?! Was könnte das bedeuten?« »Es bedeutet Heimkehr. In die Heimat bringt man uns«, meldet sich mit heiserer Stimme der einzige anwesende Greis zu Wort. »Heimat? Kaum zu glauben! Wo ist sie denn, unsere Heimat? In Sibirien etwa?« »Ich bin in Mariawohl geboren. Da sind mein Haus und meine Heimat. Da möchte ich auch sterben«, fügt die heisere Stimme entschieden hinzu. »Aber Opa!«, erwidert eine Frauenstimme, »Heimat ist nicht unbedingt der Fleck, wo man das Licht der Welt erblickt hat. Heimat ist da, wo man gute Freunde hat, wo man sich wohl fühlt, wo man frei ist ...« »Gibt es denn so eine Heimat, wo wir uns frei und wohl fühlen könnten?« Wir sind fast drei Monate unterwegs aus dem Warthegau nach Kasachstan. Mal werden wir auf offenen Plattformen, mal zusammengepfercht in Viehwagons befördert. Endlich dürfen wir aussteigen und es heißt, die Reise sei zu Ende: Station Atbasar, Gebiet Akmolinsk ... Eh, Moment mal, wo ist denn hier die Station? Ach, dieses Dutzend niedriger Lehmhütten mit flachen Dächern und Wermut drauf? So, so ...
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Man sieht nichts außer gelbem, sauberem, heißem Sand so weit das Auge reicht. Für mich ist das sehr interessant. Die blanken Bahnschienen liegen im Sand – ach nein, wenn man barfuß ein wenig scharrt, entdeckt man zwischen den Schienen doch Schwellen. Von hier aus werden wir mit Ochsenfuhrwerken auf die umliegenden Kolchosen verteilt. Die Ochsen gehen langsam, der Wagen knarrt, und ich schlafe ein. So kommen wir Ende August 1945 nach Bogorodka. Der Kommandant Winokurow erklärt uns, wir seien Vaterlandsverräter und deshalb für ewige Zeiten verbannt. Es folgt unsere Registrierung mit Fingerabdrücken, die auch von meiner 12-jährigen Schwester genommen werden. Das also ist die Repatriierung?! Heimkehr? Dann verliest der Kommandant unser »Urteil«: Wir seien »Sonderumsiedler«, die sich ohne seine schriftliche Erlaubnis vom Land dieser Kolchose nicht entfernen dürfen. Jeder Erwachsene müsse sich monatlich bei ihm persönlich melden. Ob wir auch irgendwelche Rechte haben, auf Unterkunft oder Vorschuss, sagt der Kommandant nicht. Das ist Sache des Kolchosvorstandes. Unsere Lage ist so aussichtslos und ohne Hoffnung, dass meine Mutter zusammenbricht. Sie ist erschöpft von den Anstrengungen der letzten Monate und hat keinen Mut, weiterzuleben. Sie hat hohes Fieber, Tante Liese vermutet eine Lungenentzündung. Im Dorf gibt es jedoch keinen Arzt und auch keine Medikamente. Die Russin, die uns mit dem Ochsenfuhrwerk von Atbasar abgeholt hat, lädt uns zu sich ein und gibt uns Borschtsch zu essen. Wir sind sehr hungrig, denn über Winokurows langer »Begrüßungsrede« ist es später Nachmittag geworden. Mutter kann sich endlich hinlegen. Tante Liese geht sofort Kräuter sammeln, macht ihr Tee und Umschläge. Mutter übersteht nur dank ihrer Hilfe die schwere Krankheit. Der Kolchosvorstand bringt uns in einem verfallenen Krippengebäude unter. Ein Fenster ist zur Hälfte verglast, alle anderen sind mit Ziegeln vermauert. Zum Heizen und Kochen bauen wir uns einen Herd aus Steinen. So werden zwei Zimmer in Ordnung gebracht und 24 Personen verbringen hier ein ganzes Jahr.
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Vom ersten Tag an arbeiten alle Erwachsenen im Kolchos bei der Heu-, Gemüse- und Getreideernte. Da bekommen sie etwas zu essen, bringen aber alles nach Hause, um es mit uns Kindern zu teilen. Außerdem tauschen wir bei den Einheimischen Sachen gegen Lebensmittel – Eier, Milch, Kartoffeln – ein. Viel zu tauschen haben wir jedoch nicht. Die Frauen gehen zum Vorsitzenden und erkundigen sich, wann sie für ihre Arbeit entlohnt werden. Er lacht nur: »Am Jahresende, falls ihr nicht noch Schulden haben werdet. Ihr esst ja jetzt schon alles auf.« »Aber wie sollen wir leben? Wir haben Kinder!« »Lasst euch was einfallen.« Ratlos gehen die Frauen wieder und wissen wirklich nicht, was sie sich da einfallen lassen könnten. Der Gehilfe des Buchhalters folgt ihnen und sagt leise: »Hört mal, Weiber, ihr müsst stehlen ... Ja – überall, wo ihr arbeitet. Hier ein paar Kartoffeln, da eine Tasche Weizen. Nur so könnt ihr eure Kinder durchbringen.« Die Frauen sehen ihn mißtrauisch an: »Der will uns wohl auf den Arm nehmen?« »Das soll wohl ein Witz sein?!« Er meint es aber ernst: »Lasst euch dabei aber nicht erwischen! Für ein Kilo Weizen bekommt ihr fünf Jahre Gefängnis. Nehmt also nie viel mit. Nur so, dass es gerade für einen Tag reicht. Ab und zu werdet ihr durchsucht. Behüt euch Gott, dann etwas in den Taschen zu haben!« Bedrückt und geschlagen kommen die Frauen nach Hause. Gibt es denn wirklich keinen anderen Ausweg? Man wird ja direkt gezwungen, stehlen zu lernen und dabei auch noch den lieben Gott um Beistand zu bitten. Seitdem wird jeden Abend ein Weizenbrei gekocht. Während der Reisig im Herd lustig knackt und knistert, während die Flamme den Raum spärlich beleuchtet, rücken alle näher ans Feuer, wo Märchen erzählt werden vom Rumpelstilzchen, vom Dornröschen, vom tapferen Schneiderlein ... Manchmal wird gesungen. Ja, singen können unsere Frauen herrlich! Sie singen zweistimmig: Auf Russisch »Ich
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sitz hinter Gittern im feuchten Verlies«, auf Ukrainisch »Es heult und stöhnt der breite Dnjepr« oder auf Deutsch »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt«. Die vorübergehenden Russen bleiben erstaunt stehen und lauschen: »Was haben die Sondersiedler denn zu feiern? Die singen ja, dass sich die Balken biegen!« Unser Gesang aber ist wehmütig. Er klingt wie eine Klage. Sehnsucht, Demut und Heimweh sind in diesem Gesang: »Wie wehen die Lüfte so schwüle durch die Natur dahin. Ein banges Sehnen ich fühle, betrübt bin ich im Sinn. Oft setz ich im Dunkeln mich nieder, ganz traurig, müde und matt. Und singe die Heimatlieder und weine mich recht satt.« Der Winter ist sehr kalt. Es gefriert bis zu minus vierzig Grad. Wir Kinder haben nur Holzpantoffeln und müssen dem Schulunterricht fernbleiben. Da bekommen wir eines Abends unerwarteten Besuch: Eine Bettlerin klopft an unsere Tür. Sie ist in Lumpen gekleidet und trägt ein Kind auf dem Rücken. Wir können ihr nichts geben, außer etwas Weizenbrei. Weil der aber noch nicht fertig ist, muss sie warten. Sie wärmt sich am Ofen auf und erzählt uns ihr Schicksal. Sie sei eine Tschetschenin aus dem Kaukasus. Zu Beginn des Krieges, während ihr Mann und ihre Brüder in der Roten Armee an der Front kämpften, seien alle Einwohner ihres Bergdorfes zusammengetrieben, auf Lastwagen verladen und zum Bahnhof transportiert worden. Das sei im Oktober gewesen, als es im Kaukasus noch warm war. Sie sei schwanger gewesen und habe gerade mit bunter Seide einen Wandschoner gestickt. Als sie in Bogorodka angekommen sei, habe ihr ganzes Gepäck aus einem Korb mit bunter Seide bestanden – keine Bettsachen, keine Kleidung. Viele seien schon im Zug gestorben.
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»Ihr seid klüger als wir, ihr habt euch gleich an die Arbeit gemacht und es euch so gut wie möglich eingerichtet. Wir haben nicht gearbeitet. Wir saßen da und hofften, bald in den Kaukasus zurückzukehren. Uns hat man gesagt, wir kämen für drei Wochen nach Kasachstan. Als dann der Winter kam, haben wir Löcher gebuddelt und uns in der Erde verscharrt. Aber das konnte uns auch nicht retten. Alle meine Verwandten sind gestorben. Ich war jung, schön und glücklich. Ich verstehe nicht, warum man uns das angetan hat.« Ein paar Tage später wird sie auf der Straße in einer Schneewehe tot aufgefunden. Ihr krätziges, verlaustes Töchterchen ist am Leben und wird vom Kolchosvorstand nach Balkaschino ins Waisenhaus gebracht. In diesem Winter sterben unsere beiden Omas – unsere Großmutter und Tante Lenas Schwiegermutter. Sie haben uns oft aus der »Biblischen Geschichte«, dem einzigen vorhandenen deutschen Kinderbuch, vorgelesen. Jetzt ist es für uns Kinder noch langweiliger geworden: Den ganzen Tag sind wir uns selbst überlassen und sehen durch das winzige, zugefrorene Fenster fast nichts von der Außenwelt.
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In Bogorodka
Auch ein sehr langer Winter hat ein Ende. Der Schnee taut und das Wasser gurgelt im Graben hinter dem Haus. Der Frühling geht schnell in einen heißen Sommer über und wir ziehen in zwei Brigadehöfe um. So bekommt jede Familie ihr eigenes Zimmer. Meine russischen Freundinnen und ich holen uns aufgeweichten Lehm, der uns als Knetmasse dient, setzen uns auf die trockene warme Erde in der Sonne und formen Geschirr, Tiere, Puppen – alles, was man so zum Spielen braucht. Ich habe erstaunlich schnell Russisch gelernt und spiele gerne mit Russenkindern. Mit ihnen gemeinsam mache ich Entdeckungsreisen durch das Dorf. Die Hauptstraße ist lang und breit, flankiert von Holz- und Lehmhäusern. Am Ende der Kartoffelgärten stehen niedrige Badehäuschen, die des hohen Unkrauts wegen kaum zu sehen sind. In den vernachlässigten Vorgärten blühen goldfarbene Sonnenblumen. Im Dorfzentrum stehen nebeneinander die Schule und eine kleine Kirche mit hohem Turm. Die Kirche dient dem Kolchos als Getreidespeicher und den Turm haben zahlreiche Tauben in Beschlag genommen. Neben der Hauptstraße, dem kleinen Fluss entlang, liegt eine kürzere einseitig bebaute Straße, die »Ukraine« genannt wird. Ukraine deshalb, weil sie zu Beginn des Krieges von Deutschen aus der Ukraine und der Krim gebaut wurde. Die Häuser sind hier kleiner, die Gärten gepflegter und in manchen Vorgärten blühen Blumen, Flieder und gelbe Akazien. Es gibt im Dorf noch den so genannten »Kaukasus« – eine kurze Straße, die einem Friedhof ähnelt. Da blühen keine Blumen und wachsen keine Sträucher. Es gibt dort auch keine richtigen Häuser, sondern kleine dunkle Häufchen, die wie Torf oder Mist aussehen und aus denen Schornsteine ragen. Kaum vorzustellen, dass darin Menschen leben.
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Gleich nach besagtem Kaukasus öffnet sich die unendliche Weite der Steppe. Ihr gegenüber fühlt sich ein jedes menschliche Wesen klein und hilflos. Die Zeit fliegt dahin, die Jahreszeiten vergehen. Wir haben uns an das Leben in Bogorodka gewöhnt: Die Fremde ist zwar nicht Heimat geworden, aber die Heimat – Mariawohl, die Ukraine – wird allmählich fremd. Wir erinnern uns immer seltener an unser früheres Leben. Im Jahre 1947 bekommt Mutter plötzlich die Nachricht, unser Bernhard sei im Kriegsgefangenenlager in Saporoshje. Sie schreibt ihm und bekommt auch bald Antwort. Wir erfahren, dass Bernhard uns nur mit der Hilfe des Lagerchefs hat finden können, der kein anderer ist als Nikolaj Tus. Bernhard hat ihn sofort erkannt. Als Häftling traut er sich jedoch zunächst nicht, sich ihm bemerkbar zu machen. Später werden aus den Häftlingen Baubrigaden gegründet und zum Aufbau der zerstörten Stadt Saporoshje geschickt. Es werden spezialisierte Brigaden aufgestellt. Bernhard meldet sich als Tischler und wird in die Liste der Holzarbeiter eingetragen. Bevor die Häftlinge, begleitet von bewaffneten Soldaten, das Lager verlassen, hält Tus auf dem Appellplatz eine Rede: »Vor euch liegt eine zerstörte Stadt. Ihr könnt eure Schuld durch gewissenhafte Arbeit mildern. Wer gut arbeitet, wird auch menschlich behandelt – das verspreche ich euch. Macht ja keine Fluchtversuche! Ihr werdet sonst auf der Stelle erschossen ...« Tus stockt, seine Augen bleiben an einem bekannten Gesicht hängen. Die bewachten Brigaden verlassen das Lagergelände, er denkt nach. Dann verlangt er die Liste der Holzarbeiter und sieht sie aufmerksam durch. »Da ist er ja tatsächlich: Bernhard Neufeld, Tischler, geboren 1924 in Mariawohl, Gebiet Saporoshje ... Ja, gibt’s denn das?!« Am Abend lässt Tus diesen Tischler zu sich ins Arbeitszimmer rufen. Die beiden haben sich so manches zu erzählen. Bald wissen es alle Wachsoldaten: »Dieser Bursche ist taub. Er war in keiner Armee und ist auch kein Faschist.« Bernhard wird von den Wachsoldaten scherzhaft »Tus’ Patenkind« genannt.
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Wenn die Holzarbeiter in der Stadt Fußböden, Fenster, Türen und Zäune reparieren, sorgt die Wache dafür, dass sie nicht mit der Bevölkerung in Kontakt kommen. Aber wenn die Wachsoldaten von den Frauen ein Gläschen Selbstgebrannten bekommen, werden sie faul und gutmütig. Dann kneifen sie auch ein Auge zu, wenn die Häftlinge von der dankbaren Bevölkerung etwas zu essen bekommen: Pellkartoffeln, Äpfel, Piroggen oder Sauermilch. Die Häftlinge, die im Lager arbeiten, bekommen eine sehr karge Ration und müssen hungern. Von seiner Begegnung mit Bernhard erzählt Tus seiner Frau, die es in einem Brief einer jetzt verbannten Freundin aus Mariawohl berichtet. Die Nachricht wandert von einem Brief zu dem anderen, bis sie auch uns erreicht hat. Es ist wieder Winter. Der Winter 1947/48. Wochenlang tobt ein Schneesturm. Der Wind heult, die Wände stöhnen. Die Häuser liegen bis über die Dächer im Schnee begraben. Wieder fällt der Schulunterricht aus. Aber das Vieh will bei jedem Wetter versorgt werden. Deshalb müssen die Frauen schwer arbeiten – den Schnee wegschaufeln, damit man mit den Schlitten aus dem überdachten Hof fahren, Heu holen und das Vieh tränken kann. Als die Heuvorräte ausgehen, werden drei Ochsenschlitten zum 5 km entfernten Heulager geschickt: Unsere Regine, die Cousine Johanna und eine Russin machen sich auf den Weg. Als sie am späten Nachmittag noch immer nicht zurück sind, schickt der Brigadier Leute auf die Suche. Es ist aber so ein weißes Durcheinander, dass man die Hand vor den Augen nicht sieht und die Suche ergebnislos bleibt. Sie kommen erst am nächsten Tag nach Hause: erschöpft, halb erfroren und ohne Heu. Sie erzählen, ihrer Meinung nach hätten sie schon in der Nähe des Dorfes sein müssen, als sie bemerkten, dass sie im Kreis gefahren und zum Heulager zurückgekommen seien. Das habe sich dreimal wiederholt und sie hätten den richtigen Weg nicht gefunden. Dann hätten sich die erschöpften Ochsen niedergelegt und keine Kraft der Welt habe sie von der Stelle bewegen können. Die Frauen hätten daraufhin die sturen Biester ausgespannt, sich an ihren Schwänzen festgehalten, sie
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vorangetrieben und den Weg frei wählen lassen. Die Ochsen seien schließlich langsam aber sicher ins Dorf zurückgelaufen. Der Sturm legt sich so plötzlich wie er aufgezogen ist. In den Ställen brüllt das hungrige Vieh. Jetzt werden die Heuschlitten ohne Risiko abgeholt. Der Wind sammelt seine Kräfte für einen neuen Angriff und wir Kinder nutzen diesen Augenblick, um Schlitten zu fahren. Unsere Schlitten stellen wir neben den aus dem Schnee ragenden Schornstein und fliegen jauchzend die Schneedüne hinunter. Aber die Kälte treibt uns bald zurück ins warme Zimmer. Seit wir im Brigadehof leben, haben wir es immer warm, denn wir heizen mit den Überbleibseln vom Ochsenfutter. Die Wärme, die Liebe und die friedliche Atmosphäre sind es, die uns allen helfen, diesen Winter zu überstehen. Wir leiden Hunger und das tut sehr weh. Was meine Mutter und Schwestern im Kolchos verdient haben – Kartoffeln, Zuckerrüben, Kraut und Weizen – ist so wenig, dass es knapp bis Ende Januar reicht. Mutters Hochzeitskleid wird gegen einen Eimer Kartoffeln eingetauscht. »Das war das letzte Andenken an das frühere Leben!«, sagt Mutter. Mehr Sachen zum Tauschen haben wir nicht. Meine Mutter spinnt Wolle, Regine und Martha stricken für die Russen Mützen und Schals, Jacken, Pullover und große warme Kopftücher mit bezaubernden Strickmustern. Diese Arbeit machen sie am Abend, beim spärlichen Licht einer Petroleumlampe, die wir aus einer Konservenbüchse selbst gebastelt haben. Am Tag müssen sie das Arbeitsvieh der Brigade versorgen. Bezahlt werden sie dafür jedoch nicht. Das Spinnen und Stricken wird von den Russenfrauen mit Milch, Eiern und Kartoffeln gedankt. Am Abend ist es bei uns ganz gemütlich, wenn die Erwachsenen mit der Handarbeit beschäftigt sind, ich für Mutter die Wolle zupfe und Siegrid aus Walentin Katajews »Für die Sowjetmacht« und »Das weiße Segel« vorliest. Das sind die einzigen Bücher, die man bei dem Komsomolzen Grischa ausleihen kann. Manchmal singen wir auch zusammen. Meine Mutter hat eine hohe, starke und sehr schöne Stimme. Sie hat als 14-jähriges Mädchen in Mariawohl im Kirchenchor gesungen:
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»Ich sehe oft um Mitternacht, wenn ich mein Werk getan, und niemand mehr im Hause wacht, die Stern am Himmel an. Sie gehen da hin und her zerstreut, wie Lämmer auf der Flur. In Rudeln auf- und aufgereiht, wie Perlen an der Schnur. Sie funkeln alle weit und breit, sie funkeln hell und schön. Ich seh die große Herrlichkeit und kann mich satt nicht seh’n. Ich werf mich auf mein Lager hin und liege lange wach. Ich suche es in meinem Sinn und sehne mich danach ...« Wenn ich meine Mutter singen höre, dann schwebe ich sehr weit, irgendwo in meinen Phantasien. Was eine Mutter mit Singen ganz einfacher Lieder alles erreichen kann! Diese Lieder sind für mich gleichzeitig Musik-, Sprach- und Philosophieunterricht. Nur durch die Lieder meiner Mutter lerne ich die Seele und den Geist meines Volkes kennen und lieben – eines Volkes, das überlebt hat, obwohl man es systematisch verfolgt, entwurzelt, aus Häusern und Dörfern vertreibt und der Muttersprache beraubt. Das Schlimmste aber ist, dass die Meuchelmörder, die uns das alles antun, sich in der Weltöffentlichkeit als unsere Gönner, Befreier und Retter darstellen. Über uns ist der Himmel von Kasachstan und zu ihm empor steigt unser Gesang: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten ...« Februar, März und April 1948 – die schrecklichste Zeit unseres Lebens: Der Hunger wird unerträglich, er nagt an Leib und Seele. Meine Schwester Siegrid und ich sind kaum noch Menschen ähnlich, so mager. Ohne Haut würden wir die Knochen verlieren. Wir sind zu schwach, um zur Schule zu gehen. Als es wärmer wird, trägt
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mich Mutter, immer bevor sie zur Arbeit geht, in den Hof und setzt mich auf das Stroh an der Wand in die Sonne. Im Mai sprießt das erste Gras aus dem kargen Boden und wir essen es, wie Nudeln in Salzwasser gekocht. Bis zur neuen Ernte sind es noch gut drei Monate. Wer und was könnte uns retten? Uns steht der sichere Hungertod bevor, es sei denn , Gott lässt ein Wunder geschehen. Am 6. Juni 1948 fängt es plötzlich an zu schneien und das unerwartete Unwetter dauert drei Tage lang. Nie mehr in den folgenden 30 Jahren haben wir so etwas erlebt. Und dieses Naturphänomen rettet unser und anderer Leute Leben auf eine ungewöhnliche und seltsame Weise. Die Kolchosschafe hat man gerade vor ein paar Tagen geschoren und auf die Sommerweide gebracht, wo es keinerlei Schutz und Unterkunft für sie gibt. Als es zu schneien beginnt, bemüht sich der Hirte vergebens, die Herde ins Dorf zu bringen. Die Schafe blöken kläglich, pressen sich aneinander, lassen sich aber nicht gegen den Wind ins Dorf treiben. Die Herde geht in Windrichtung und entfernt sich immer weiter von der Siedlung. Die erschöpften Tiere legen sich in den nassen Schnee. Manche krepieren, die anderen werden mit Ochsenfuhrwerken ins Dorf gebracht und unter den Leuten verteilt. Für jedes gerettete Schaf werden fünf Arbeitseinheiten versprochen, aber die kann man ja nicht essen und vergütet werden sie bestenfalls im Dezember nach dem Jahresabschluss. Auch unser Zimmer ist voll Schafe: Sie zittern, stöhnen und husten wie kranke Menschen. Unsere Mutter heizt den Ofen, damit den Tieren das kurz geschorene Fell schneller trocknet. Von den 300 Schafen bleiben etwa 80 bis 90 am Leben. Die meisten werden geschlachtet, bevor sie krepieren. Der alte Zootechniker murmelt etwas wie: »Gott hat die Gebete der Menschen erhört. Gott hat sich der Hungernden erbarmt.« Und dabei ist er ein Kommunist, der eigentlich gar nicht an Gott glauben dürfte. Die Innereien und Rippchen werden sofort an die Bauern verteilt – angerechnet auf ihre Arbeitseinheiten, versteht sich. Das Fleisch
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wird in Fässern eingesalzen und ein paar Monate lang auf verschiedene Weise den Feldarbeitern serviert: mal als Fleischsuppe, mal mit Schmorkartoffeln oder als Weizenbrei mit Fleisch. Unsere Martha, die schon 14 Jahre alt ist und als Küchenhilfe in der Brigade arbeitet, bringt öfters eine Schüssel Brei mit Fleisch mit. Auch Regine und Mutter teilen mit uns ihre Ration. Es ist knapp, aber das Schlimmste haben wir überstanden. Wir essen uns auch später nie richtig satt, aber so schlimm wie im Frühling 1948 ist es nie wieder gewesen. Plötzlich wird Regine schwer krank. Sie hat hohes Fieber, ihre Gelenke sind geschwollen und schmerzen. Mutter bittet den Kommandanten Winokurow um Erlaubnis, sie ins Kreiskrankenhaus nach Balkaschino bringen zu dürfen. »Bitte, geben Sie mir die Erlaubnis, sonst muss sie sterben!«, fleht sie. Der Kommandant aber ist unerbittlich und antwortet: »Sterben? Nein, krepieren wird sie! Aber dazu seid ihr ja hier. Alle werdet ihr hier verrecken, du und deine Brut!« Seine Gehässigkeit ist unendlich. Kann denn ein Mensch mit solchem Hass im Herzen leben und glücklich sein? Oder sind echte Kommunisten keine richtigen Menschen?! »Lieber Gott, verzeih es ihm, bitte. Er weiß es nicht besser«, betet Mutter am Abend. Gegenüber dem Brigadehof lebt eine Kasachenfamilie. Eine alte Frau kommt über die breite Straße. Der heiße Wind reißt an ihrem langen Rock, ihrer Plüschjacke und ihrer seltsamen Kopfbedeckung. Es ist kein Tuch, auch kein Schal, aber etwas Großes und Weißes, wie ein Laken, das vorne und hinten herunter hängt und in der Mitte ein Loch fürs Gesicht hat. Die alten Kasachen haben eine seltsame Gewohnheit: Bei der größten Hitze trägt ein Greis einen gesteppten wattierten Mantel und eine Dreiecksmütze aus Fuchsfell. Und er behauptet, ihm sei nicht heiß! Eine ältere Frau kleidet sich wie oben beschrieben. Die Frau bringt uns einen Tonkrug voll saurer Stutenmilch. Sie gibt meiner kranken Schwester davon zu trinken. Die Alte meint, meine Schwester sei an Bruzellose erkrankt, weil
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sie vom Fleisch eines kranken Schafes gegessen habe. Die Frau hilft meiner Mutter, Kräuterumschläge und Kompressen auf die geschwollenen Glieder und Gelenke meiner Schwester zu machen. Ja, wahrhaftig: »Armut macht erfinderisch«, und die Leute hier wissen jede Krankheit mit Hausmitteln zu bekämpfen. »Die Welt ist wirklich nicht ohne gute Menschen«, meint Mutter, »und nie kann man wissen, wo man sie findet.« Wenn ein Brief vom Bruder kommt, setzen wir uns alle und hören gespannt zu, wie Mutter ihn feierlich vorliest. Aber in der letzten Zeit kommen keine Briefe mehr. Er hat geschrieben, das Lager in Saporoshje solle aufgelöst und die Häftlinge in andere Lager verlegt werden. Dann kommt noch ein Brief, schon aus einem anderen Lager, bei Sarapul in der Udmurtischen Autonomie. Er schreibt, dass er hier beim Holzfällen und Flößen arbeitet, und dass die Wachsoldaten hier recht brutal seien. Allerdings vermisst er auch den Tus, worüber er aber nichts schreibt. Mutter macht sich Sorgen um ihn, schreibt ihm oft Briefe, bekommt aber keine Antwort. Weihnachten 1948: Der Schnee liegt bis über die Dächer, die Temperatur sinkt unter 30 Grad minus. Alle Verwandten und Freunde haben sich bei uns versammelt. Im Ofen flackern lustig die Flammen. Wir Kinder sagen Gedichte auf, singen »Stille Nacht, heilige Nacht« und andere Weihnachtslieder, trinken Hagebuttentee und essen Piroggen mit Kartoffeln, Zuckerrüben oder Karotten. Es schmeckt köstlich! Es ist warm und behaglich. Plötzlich klopft es an der Tür: Unser Bernhard steht auf der Schwelle! Ist das eine Überraschung! Das ist ein wunderschönes Weihnachtsgeschenk. Man hat ihn entlassen und er ist bei diesem Frost vier Tage unterwegs gewesen – per Bahn, Ochsenschlitten, zu Fuß. Die Freude ist unbeschreiblich!
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Sonntagskind in Glückskappe
Von zehn Kindern, die meine Mutter zur Welt gebracht hat, bin ich das Jüngste und fünf sind im Kleinkindesalter gestorben. Zwei von den fünf Überlebenden sind an einem Sonntag geboren, und eines dieser Sonntagskinder – Bernhard – ist mit einer so genannten »Glückskappe« zur Welt gekommen. Solche Kinder sollen besondere Günstlinge des Schicksals sein. Im Jahr 1927 erkrankt dieser »Glückspilz« im Alter von drei Jahren an Meningitis, die man zu dieser Zeit in Russland noch nicht zu behandeln weiß. Er liegt mit bis zu 40 Grad Temperatur im Fieber, als einzige Hilfe werden ihm Eiskompressen auf die Stirn gelegt. Er stirbt nicht , wird aber taub. Und Großmutter meint: »Wer weiß, was der liebe Gott mit diesem Kind noch vor hat?« Jetzt, wo mein Bruder so unerwartet aus dem Kriegsgefangenenlager gekommen ist, glaubt meine Mutter wieder an sein besonderes Schicksal: Wer ist schon je aus einem Sowjetlager zurückgekehrt? Im Kolchos herrscht Mangel an Männerarbeitskräften und Bernhard beginnt sofort, als Zimmermann, Tischler und Fassbinder zu arbeiten. Das hat er in der Taubstummenschule gelernt. Im Kolchos gibt es viel zu tun. Er wird einigermaßen gut bezahlt, und so müssen wir wenigstens nicht mehr so entsetzlich hungern. Ein Jahr später, 1949, wird im Kreiszentrum Balkaschino als Gemeinschaftsprojekt mehrerer Kolchosen eine Molkerei gebaut, und jede beteiligte Wirtschaft muss Bauarbeiter stellen. Bernhard und Regine werden für ein Jahr nach Balkaschino geschickt. Selbstverständlich stehen sie auch hier unter der Kommandantur. An der Baustelle lernen sie mehrere Deutsche kennen, darunter auch den Lastwagenfahrer Walter Blok. Der Direktor der Molkerei möchte Bernhard in Balkaschino behalten, da er ihn als Fassbinder für den Betrieb benötigt. Bernhard ist einverstanden, aber nur unter der Voraussetzung, dass auch die Mutter mit den jüngeren Geschwistern
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nach Balkaschino umsiedeln darf. Balkaschino ist zwar keine Stadt und hat auch nur etwa 5000 Einwohner, aber dort gibt es ein Krankenhaus und eine Mittelschule. Solche Einrichtungen findet man in Bogorodka nicht. »Aber der Kommandant Winokurow lässt nicht mit sich reden. Ich würde gerne auch weiterhin bei Ihnen arbeiten, wenn Sie diese Angelegenheit mit Winokurow regeln könnten«, sagt Bernhard. »Ich habe eine schriftliche Erlaubnis des Ministerrates unserer Republik, mir Arbeitskräfte dort zu holen, wo ich sie finde. Aber den Genossen Winokurow zu überzeugen wird schwer sein. Der lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen. Ich hab da so eine Idee: Wir stellen die Kommandantur und den Kolchosvorstand vor vollendete Tatsachen. Ihr holt eure Familie einfach her und meldet euch sofort beim Kommandanten. Alles andere überlasst mir«, beschließt der Direktor. Anfang Januar 1950 bringt Walter Blok eines späten Abends Bernhard und Regine mit dem Lastwagen nach Bogorodka. Nachts wird gepackt und in der Morgendämmerung fahren wir los nach Balkaschino. Zum Glück schneit es nicht und die 70 Kilometer schaffen wir in wenigen Stunden. Die Sachen werden abgeladen. Martha, Siegrid und ich bleiben im Zimmer, das unsere Geschwister bei einer Russenfamilie gemietet haben. Blok fährt meine Mutter, meinen Bruder und meine Schwester zur Kommandantur. Dort herrscht große Aufregung: Junge Milizionäre diskutieren auf dem Korridor. Besorgte Gesichter. Sekretärinnen huschen von einem Zimmer ins andere, mit Aktenmappen und Papieren in der Hand. Telefone läuten ununterbrochen. Woher der Alarmzustand? Der Kolchosvorstand in Bogorodka hat die Flucht von deutschen Sondersiedlern gemeldet. Der diensthabende Milizionär schaut meine Mutter nicht einmal richtig an, als sie ihm sagt, sie möchte Genosse Winokurow sprechen. »Geht nicht, Grashdanotschka, geht nicht. Genosse Winokurow ist heute nicht zu sprechen, er hat Wichtigeres zu tun. Gefährliche Verbrecher sind mit einem Lastwagen geflohen, wir müssen sie einfangen.«
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»Aber wir sind ja gar nicht geflohen. Wir sind einfach aus Bogorodka nach Balkaschino gekommen und wollen uns jetzt bei Genosse Winokurow melden. Verbrecher sind wir nicht und einzufangen brauchen Sie uns auch nicht.« Dem Diensthabenden fällt der Telefonhörer aus der Hand und er verschwindet im Arbeitszimmer von Winokurow, aus dem nur ein einziges Wort erklingt: »Arestowatj!« – »Festnehmen!« Winokurow steht auf der Schwelle seines Arbeitszimmers, zwei bewaffnete Milizionäre schubsen die Verhafteten in einen Nebenraum, als der Direktor der Molkerei erscheint. »Na, habt ihr die Verbrecher schon? Sie sind wohl nicht weit geflohen?«, begrüßt der Direktor den Kommandanten freundlich. »Natürlich!«, strahlt Winokurow. »Uns entkommt niemand!« »Hab ich ja immer gewusst – unsere Miliz besteht aus lauter Helden.« Die Worte des Direktors klingen ironisch, Winokurow aber merkt das nicht. »Ja!«, stimmt er zu. »Unsere Helden leisten einen schweren Dienst, indem sie es mit diesen unbelehrbaren Sondersiedlern zu tun haben. Diese Deutschen können wir gar nicht streng genug behandeln.« »Moment mal!«, unterbricht ihn der Direktor. »Das sollen wohl die Verbrecher und Ausreißer sein, von denen Sie sprechen? Aber das sind ja meine Arbeiter, ich kenne sie persönlich: Blok, Geschwister Neufeld und ihre Mutter. Na, sowas ...« Die Verhafteten werden eingesperrt. Der Direktor und der Kommandant verschwinden in dessen Arbeitszimmer. Wie die Verhandlung da abläuft, wie der Direktor den Ministerrat und Winokurow das Innenministerium anrufen, wer schließlich das entscheidende Wort sagt – das alles können wir nur vermuten. Drei Stunden später werden die Verhafteten entlassen, vorher jedoch noch von Winokurow zurechtgewiesen: »Glaubt ja nicht, dass euer Anarchismus unbestraft bleibt! Euer Leben lang werden wir euch im Auge behalten. Versucht ja nicht nochmal zu fliehen! Mütterchen Russland ist zwar groß, aber
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Ausreißer finden nirgends Unterschlupf. Die Sowjetmacht ist überall!« Meine Geschwister haben hier an der Baustelle Geld verdient und sogar etwas sparen können. Bald kaufen sie eine Erdhütte, die am Ende der Hauptstraße liegt und nur einen Raum mit zwei kleinen Fenstern hat. In der Ecke steht ein großer russischer Ofen, der ein Viertel des Raumes einnimmt. Bernhard baut ein größeres Fenster ein, damit die Stube besser beleuchtet ist. Dann wird der russische Ofen durch einen holländischen mit einer Röhre ersetzt. Dieser Ofen bleibt länger warm und braucht weniger Platz. So entsteht etwas wie eine Küchenecke. Es ist ganz behaglich und wir ziehen ein. Bald wird ein schwarzes Kalb mit weißem Stern auf der Stirn gekauft und auch in diesem Zimmer untergebracht. Von nun an sind mit diesem Kalb meine Träume verbunden: Aus dem Kalb wird eine Kuh, die Milch gibt. Viel echte, warme, süße und weiße Milch. Aber vorläufig ist es meine Pflicht, das Kalb zu pflegen, und das ist gar nicht so interessant. Soweit ich zurückdenken kann, habe ich auf alle Fragen über meinen Vater immer dieselbe Antwort gegeben: »Mein Vater ist 1937 verschwunden – propal bes westi.« Oft folgt darauf: »Dann ist er also ein Volksfeind?« oder »Dann bist du also Tochter eines Volksfeindes?« Meine Mutter hat mir alles über das Leben und die Verhaftung meines Vaters erzählt. Ich bin von seiner Unschuld überzeugt und wünsche mir von ganzem Herzen seine Rückkehr. Und darum bete ich. Meine Großmutter und meine Mutter haben mir das Beten beigebracht: Am Morgen »Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab ich geschlafen so sanft die Nacht«, am Tisch »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast«, vor dem Schlafengehen »Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Augen zu«. Und jedem Gebet füge ich in einfacher Form meine Bitte an Gott hinzu, der Regierung die Unschuld meines Vaters zu beweisen und ihn zu uns kommen zu lassen. Sehr stark ist mein Glaube an den Sieg der Gerechtigkeit, an den Sieg des Guten über das Böse. Und ich glaube nicht nur an die Gerechtigkeit, son-
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dern will ihr auch auf die Sprünge helfen. Deshalb habe ich 1950 einen Brief an die Adresse Moskau, Kreml, Schwernik abgeschickt. In diesem Brief bitte ich den Innenminister, meinen Vater zu suchen und ihn zu uns nach Hause zu entlassen, da er unschuldig sei, kein Volksfeind sein könne und nur aus Versehen verhaftet worden sei. Nach längerer Zeit bekomme ich eine schriftliche Vorladung zur Kommandantur. Meine Mutter glaubt, es sei ein Versehen, und schickt an meiner Stelle Regine zum Kommandanten, der empört sich aber: »Wo ist Neufeld Adina Petrowna? Nicht Regine sondern Adina Petrowna habe ich vorgeladen!« Die Schwester erklärt: »Adina Petrowna ist ein Kind, sie ist Schülerin der 4. Klasse, sie ist meine jüngere Schwester. Was soll sie hier in der Kommandantur?« »In der 4. Klasse? Und die schreibt Briefe an den Genossen Schwernik? Sie sucht ihren Vater? Sagen Sie ihr, sie soll nicht mehr schreiben.« »Aber sie hat doch nicht Ihnen geschrieben, sondern dem Innenminister und erwartet von ihm eine Antwort.« »Sie bekommt keine Antwort. Ihren Brief hat man uns zugeschickt. Wir sollen uns mit der schreibenden Person befassen. Hm, in der 4. Klasse ... Ihr Vater ist gestorben. Sagen Sie es ihr. Sie soll nicht mehr schreiben.« »Gestorben? Woher wollen Sie das wissen? Wann, wo, unter welchen Umständen soll er gestorben sein?« »Das ist nicht Ihr Problem! Das brauchen Sie nicht zu wissen. Gehen Sie!« Meine Geschwister arbeiten inzwischen beim Industriekombinat, das aus einer Ziegelei und einer Tischlerwerkstatt besteht. Dort ist Regine mit anderen deutschen Frauen in der Holzanfuhr tätig: Auf Ochsenfuhrwerken bringen sie Baumstämme aus dem Wald. Die Stämme werden aufbereitet und dienen als Rohstoff für die Erzeugnisse der Tischlerwerkstatt, in der Möbel und Bauteile hergestellt werden.
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Mein Bruder Bernhard lernt eine Gruppe jüngerer Burschen zu Fassbindern an, da im Kombinat eine Böttcherei eröffnet werden soll. Die Molkerei braucht viele Bottiche, Kübel, Fässer und Tonnen jeder Art und Größe. Außerdem sind Holzgefäße auch in allen landwirtschaftlichen Betrieben im Umkreis gefragt. Zuerst geht Bernhard mit seiner Gruppe zum Holzlager, wo er den Burschen erklärt, welche Holzarten es gibt und welche Anforderungen an Bottichholz gestellt werden. Sie suchen sich das richtige Holz aus. Dann lernen sie, wie man Fassdauben schneidet, wie man sie aneinanderfügt und an den Fassreifen befestigt, wie der Boden geschnitten und eingesetzt wird. Bald sind die ersten Fässer fertig. Sie werden gepicht, gerollt und an die Kreiskonsumgenossen schaft verkauft. Die Burschen sind stolz auf ihre Arbeit und machen sich daran, eine neue Serie von Fässern herzustellen. Als Brigadier ist in der Tischlerwerkstatt ein demobilisierter Leutnant namens Tschursin tätig, der sechs Jahre nach dem Krieg noch immer stolz seine ausgeblichene Uniform samt blankpolierter Orden an der Brust trägt. Er schreit und kommandiert herum, macht sich wichtig, obwohl er selbst nie an einer Werkbank gestanden hat und nichts vom Tischlerhandwerk versteht. Bernhard führt deshalb die Rechnung für die Fassbinder. Er hat über seiner Werkbank eine ausgemusterte, astige Fassdaube hängen, auf der er täglich vermerkt, wer was gemacht hat. Damit lässt sich auch der Verdient errechnen. Zu dieser Zeit erschüttert ein Ereignis die Belegschaft des Kombinats. Ein Mitarbeiter, ein Russe namens Kudrjawzev, wird verhaftet – mit der Begründung, er sei ein westlicher Spion. Seine Frau, ebenfalls Russin und Mitglied der Kommunistischen Partei, wendet sich an die Miliz und bittet um Erklärung. Ihr wird ein Brief einer Tschechin an ihren Mann gezeigt. »Er hat Verbindungen zum Westen. Er ist ein Spion, will es aber nicht gestehen!«, wird ihr gesagt. »Diese Tschechin hat meinem Mann das Leben gerettet. Das hat er mir sofort nach dem Krieg erzählt. Diese Frau hat ihn aus einem
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Graben geholt, wo er verwundet und bewusstlos lag. Jetzt schreibt sie einen Brief und möchte wissen, wie es ihm geht. Ist das denn ein Verbrechen? Und was kann er dafür, wenn sie ihm schreibt?« »Ja, er hat Ihnen natürlich nicht alles erzählt. Aber wir werden ihn zum Reden bringen. Wir haben schon härtere Nüsse geknackt! Er wird uns erzählen, wie und wann er zum Spion wurde und welche Aufgaben er hier zu erfüllen hat.« »Aber mein Mann ist unschuldig!«, behauptet die Frau verzweifelt. Eine Woche später darf sie an der Beerdigung ihres Mannes teilnehmen. Er habe sich im WC an seinem Hosenriemen erhängt, behauptet die Miliz. Darüber wird im Kombinat gesprochen und auch Bernhard erfährt davon von seinen Mitarbeitern. Am Ende des Monats wird im Kontor den Arbeitern ihr Lohn ausgezahlt. Die Böttcher-Lehrlinge sind enttäuscht: Sie haben nur halb soviel bekommen, wie Bernhard berechnet hat. Aufgeregt gehen sie zum Direktor und beklagen sich: »Brigadier Tschursin betrügt uns ständig um unseren Verdient. Da, unser Boris hat alles aufgeschrieben, was wir gemacht haben. Er hat auch ausgerechnet, was wir verdient haben. Aber wir bekommen nur die Hälfte ausgezahlt!« Bernhard reicht dem Buchhalter, der auch anwesend ist, seine Fassdaube mit der Abrechnung. Der überprüft und nickt: »Ja, das stimmt! Der Brigadier Tschursin hat uns eine andere Berechnung vorgelegt.« Er gibt Bernhard die Fassdaube zurück. In diesem Augenblick stürmt Tschursin in den Raum und brüllt: »Du Missgeburt willst mich der Lüge bezichtigen?!« Er hebt drohend seine Faust. Bernhard hebt die Fassdaube und ist bereit, sich zu verteidigen. »Du Faschist! Du wirst da landen, wo Kudrjawzev ist. Dafür werde ich sorgen!«, droht Tschursin und verlässt das Kontor. Die Burschen bitten den Direktor, ihnen Bernhard als Brigadier zu geben: »Er erklärt gut, ist genau und ehrlich bei der Abrechnung. Tschursin läuft nur wutschnaubend herum und stört bei der Arbeit.«
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Alle kehren in die Werkstatt zurück. Bernhard ist aufgeregt und macht sich Luft, indem er auf eine Fassdaube schreibt: »Doloj sowjetskaja wlastj!«, was »Weg mit der Sowjetherrschaft!« heißt. Als die Frauen mit den Ochsenschlitten aus dem Wald ins Kombinat zurückkommen, wird Regine sofort von zwei Milizionären festgenommen und in die Kommandantur gebracht. Im Wartezimmer von Winokurow muss sie, bewacht von einem Milizionär, warten. Sie grübelt nach, ist ratlos, begreift nicht, was los ist. Schließlich wird sie von Winokurow und einem Unbekannten vernommen: »Dein Bruder, Bernhard Neufeld, ist Faschist und SS-Mann, das wissen wir. Erzähle uns Einzelheiten über deinen Bruder.« »Mein Bruder ist taub, das ist ärztlich bestätigt und der Kommandantur bekannt. Als Behinderter ist er nie in der Armee gewesen und kann daher kein SS-Mann sein. Sonst hätte man ihn ja auch nicht aus dem Lager entlassen.« »Und was sagst du dazu?«, wird sie unterbrochen und man legt vor ihr ein Foto auf den Tisch. »Ist das nun dein Bruder oder ist er es nicht?« Sie ist gelähmt vor Schreck: Das Foto stammt aus unserem Familienalbum und zeigt Bernhard, wie er einen Freund aus seiner Kindheit umarmt, den er im Warthegau im Sommer 1944 zufällig getroffen hat und der eine SS-Uniform trägt. Aber wie kommt dieses Foto aus unserem Album in die Kommandantur?! Hat es etwa Beine bekommen? »Na, erkennst du deinen Bruder, oder willst du behaupten, er sei es nicht?«, wird sie bedrängt. »Ja«, stottert sie, »der zivil gekleidete ist mein Bruder.« »Und wen umarmt er? Einen Faschisten! Willst du auch jetzt noch behaupten, dein Bruder sei kein Faschist? Wir erwarten von dir ein ehrliches Geständnis!«, wird drohend hinzugefügt. »Erzähle uns. Womit beschäftigt sich dein Bruder?« Sie zuckt die Schultern: »Womit schon? Er arbeitet, liest viele Bücher, hat für den Kulturpalast ein Ölgemälde gemalt, das die ›Drei Recken‹ darstellt ...«
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»Und hat eine Organisation gegründet, um die Sowjetmacht zu stürzen, stimmt’s?«, wird sie abermals unterbrochen. »Welche Organisation?«, stammelt Regine. »Eine Jugendorganisation«, fährt der Fremde fort. »Du gehörst ihr wohl auch an? Sag, wo trefft ihr euch, wie viele seid ihr und was ist euer Ziel?« »Was fällt Ihnen ein? Was erfinden Sie da?«, stockt sie verzweifelt. »Du wirst wohl die Handschrift deines Bruders kennen«, sagt Winokurow und legt eine Fassdaube vor ihr auf den Tisch. Sie liest: »Weg mit der Sowjetherrschaft!« »Na, bestätigst du die Handschrift deines Bruders? Hat er das geschrieben?«, wird sie gefragt. »Ich weiß nicht, wer das geschrieben hat. Mein Bruder ist krank, aber kein Verbrecher.« »Ist er verrückt? Nur Unnormale können den Sturz der Sowjetmacht wünschen und planen.« »Nein, er ist nicht verrückt. Er ist gehörlos.« »Das haben wir schon gehört. Na ja, unsere Ärzte werden es herausfinden, ob er ein Verrückter oder ein Feind ist. Je nachdem gehört er jetzt ins Irrenhaus oder ins Gefängnis. Du kannst gehen.« Sie geht und stößt im Wartezimmer auf Bernhard, der jetzt hinein geführt wird. Zu Hause stürzt sie sich als Erstes aufs Familienalbum und zeigt der Mutter den leeren Fleck: »Weißt du, wo das Foto ist? Mir hat man es eben in der Kommandantur vorgelegt. Sag mal, wie kann das Foto da hingekommen sein? Man hat es uns offenbar gestohlen, aber wer und wann?« »Wollen mal überlegen: Wem haben wir unser Album gezeigt?« Sie sehen einander erschrocken und entsetzt an. »Alexander Keksel – dein Verehrer!«, sagt Mutter. »Dem hast du vorigen Monat das Album gezeigt und dabei nicht bemerkt, dass das Foto verschwunden ist.« Regine weint: »Keksel? Das ist unmöglich! Er ist doch Deutscher und ein guter Freund.«
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Als Bernhard am Abend kommt, erzählt er von seinem Konflikt mit dem Brigadier Tschursin. Und beim Kommandanten habe man ihm eine Spritze gegeben. Dann hätte er Fragen beantworten müssen, erinnere sich aber nicht so recht, was das für Fragen gewesen seien. Nach der Spritze habe er einen schweren Kopf bekommen. Er äußert die Vermutung, dass man ihn verfolge und töten wolle. Am nächsten Morgen wird mein Bruder von Sanitätern abgeholt und ins Krankenhaus eingeliefert. Meine Mutter darf ihn einmal in der Woche besuchen. Er befindet sich in einem Einzelzimmer mit vergittertem Fenster. Er ist apathisch, niedergeschlagen, hat einen leeren Blick. Mutter spricht mit der Ärztin über seinen Zustand. »Ihr Sohn ist geisteskrank«, erklärt die Ärztin. »Er hat Schizophrenie, leidet an Verfolgungswahn und bekommt Beruhigungsspritzen. Aminasin ist das beste Beruhigungsmittel, das wir haben.« »Mir gefällt sein Zustand nicht«, sagt Mutter. »Ich finde es merkwürdig, dass er so geistesabwesend ist. Werden ihm diese Spritzen nicht schaden? Er hat ein durch die Meningitis geschädigtes Nervensystem. Wenn er zu Hause sein könnte, würde er sich vielleicht schneller erholen?« Die Ärztin antwortet schnell, ohne meine Mutter anzusehen: »Das hängt nicht allein von mir ab. Er wird sofort entlassen, wenn es ihm besser geht, wenn er gesund und für die Gesellschaft unschädlich ist.« Als Bernhard drei Monate später aus dem Krankenhaus kommt, ist er ein anderer Mensch: Er ist apathisch, schläft viel, sein Blick ist traurig. Mutter hofft, dass er wieder so wird, wie er früher war. Die Zeit vergeht, aber es ändert sich nichts: Bernhard arbeitet nicht, liest nicht und malt nicht. Das ist das Ende meines Bruders. Nein, nein, man hat ihn nicht umgebracht, wie seinen Großvater, seinen Vater und seine fünf Onkels. Ihm ist etwas Schlimmeres widerfahren: Man hat seinen Geist gebrochen, seine Psyche zerstört, seinen Intellekt ausgelöscht. – Jetzt ist er für die Gesellschaft »unschädlich«! So sieht das besondere Schicksal eines Menschen aus, der in Russland an einem Sonntag in einer Glückskappe zur Welt gekommen ist.
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Die Volljährigkeit
Wegen der Krankheit meines Bruders machen sich Not und Hunger bei uns wieder breit. Die Kuh, die aus dem schwarzen Kalb herangewachsen ist und tatsächlich weiße, süße Milch gibt, müssen wir verkaufen, da wir kein Heu für den Winter besorgen können. Der Verdienst meiner Schwester ist so gering, dass er bei unserer großen Familie kaum für Brot und Salz reicht. Allerdings bleiben uns noch die Kartoffeln und das Gemüse aus unserem Garten. Dies ist nunmehr unsere Hauptnahrung, die sehr schnell aufgebraucht wird. Die Not ist so groß, dass uns sogar unser letzter Freund, ein kleiner krummbeiniger Hund, verlässt. Er läuft einfach davon. Was soll er auch bei Menschen, die ihn nicht füttern können? Bernhards Krankheit nimmt unterdessen verschiedene Formen an. Der tiefen Apathie folgt eine seltsame Aktivität: Er tobt und brüllt, stellt sich vor die Tür und schimpft, droht mit den Fäusten und spuckt in alle Himmelsrichtungen. Später überfällt ihn die Angst, man wolle ihn umbringen, und er befestigt an unserer Außentür zahlreiche Haken, Riegel und Verschlüsse. Sieht er einen Fremden sich unserer Hütte nähern, versteckt er sich im Stall oder im Keller. Dann folgen wieder Apathie und Gleichgültigkeit. Jetzt sitzt er still und schuldbewusst da, starrt vor sich hin, mit traurigem Blick. Sind das alles Symptome seiner Krankheit oder ist es das Ergebnis der Zwangsbehandlung im Krankenhaus? So oder so ist er für den Rest seines Lebens auf ärztliche Hilfe angewiesen. Es ist schwer, einen Menschen wie ihn im Hause zu haben. Mutter wendet sich schließlich an die Ärztin und bittet sie um Rat. »Er ist chronisch erkrankt«, meint die Ärztin. »Wir können ihn hier bei uns nicht fachgerecht behandeln. Ich werde ihn in die Psychiatrie in Aleksejewka einweisen. Dort wird auch chronische Schizophrenie behandelt.«
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Da wir aber immer noch unter der Kommandantur stehen und Aleksejewka sich im Gebiet Kokschetau befindet, soll Bernhard von der Miliz dorthin gebracht werden. Das ist im Dezember 1952. Bernhard wehrt sich und schlägt um sich, wird aber überwältigt und weggebracht. Drei Tage später, es ist eiskalt, wird meine Mutter zur Kommandantur gezerrt: »Wo haben Sie Verwandte?« »Na, wo schon. In Bogorodka leben meine zwei Schwestern.« »Das wissen wir. Wo noch?« »Andere Verwandte hab ich nicht. Wo mein Mann ist, weiß ich nicht.« »Wo könnte Ihr Sohn sich versteckt halten? Er ist unterwegs ausgerissen, dieser Simulant! Er spielt verrückt und ist dabei schlau wie ein Fuchs.« »Bernhard ist weggelaufen?! Dann brauchen Sie ihn nicht zu suchen. Er geht bestimmt nicht zu Verwandten, sondern kommt zu mir zurück, wenn er bei diesem Frost nicht unterwegs erfriert.« »Keine Bange, er ist zu raffiniert, als dass er umkäme.« »Er ist krank!«, sagt Mutter. »Da bin ich nicht so sicher«, brummt Winokurow. »Aber das haben Sie ja selbst behauptet, als Sie ihn vor einem halben Jahr zwangsweise ins Krankenhaus einliefern ließen.« »Wenn er auftaucht, sollen Sie es uns sofort melden.« Eine Woche später kommt mein Bruder tatsächlich zurück: halb erfroren, dreckig und hungrig. Mutter spricht beruhigend auf ihn ein: »Aber so geht es doch nicht, Bernhard. Du musst dich behandeln lassen, damit du wieder gesund wirst und arbeiten kannst.« Er fleht sie an, ihn nicht wegzuschicken. Er möchte einfach nur zu Hause sein, weiter nichts. »Erinnerst du dich, wie du dich in den letzten Monaten benommen hast?«, fragt ihn Mutter. »Schau dir mal all die Haken und Riegel an! Du hast dir Messer und Dolche gemacht und dich bewaffnet wie ein Räuber. Da kriegen wir ja Angst vor dir.« Meine Mutter meldet dem Kommandanten Bernhards Ankunft, bittet aber, ihn bei uns zu Hause zu lassen. Knapp zwei Wochen später,
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als er sich von seiner Erschöpfung erholt hat, überfällt ihn wieder die Wut und er fängt an zu toben. Zwei Milizionäre kommen, legen ihm Handschellen an, fesseln ihn damit an sich und bringen ihn nach Aleksejewka. Während sich all dies abspielt, wird unsere materielle Lage nicht besser. Mutter hält uns zum Lernen an: »Wenn ihr keinen guten Beruf bekommt, seid ihr verloren. Ihr seid zart und schmächtig und könnt unmöglich bei so schwerer physischer Arbeit, wie sie Regine machen muss, überleben.« Im Herbst 1952, als Bernhard krank wird, beginnt meine Schwester Siegrid, in einer Lehrerbildungsanstalt in Eska zu lernen. Sie ist dort im Wohnheim untergebracht, bekommt ein kleines Stipendium und entlastet so den Familientisch. Am 5. März 1953 stirbt der Herrscher des sowjetischen Imperiums – Stalin. Sein Tod lässt niemanden gleichgültig: Seine Anhänger und Handlanger weinen um ihn, denn sie ahnen Veränderungen, die für sie negativ sein könnten. Die zahllosen Häftlinge in Gefängnissen und Lagern, die Verschickten, Verschleppten und Verbannten freuen sich, denn sie hoffen auf Veränderungen, die ihr Leben zum Positiven wenden könnten. Für meine Familie bleibt zunächst alles beim Alten: Der Bruder ist krank, wir hungern und stehen wie früher unter der Kommandantur. Im September 1953 folge ich meiner Schwester Siegrid in die Lehrerbildungsanstalt. Es ist gar nicht so einfach. Erstens muss ich mich auf die Aufnahmeprüfungen vorbereiten. Zweitens muss ich mir das Geld für die Fahrt verdienen, indem ich im Sommer zwei Monate bei der Forstei arbeite. Und drittens muss ich mich um die Erlaubnis des Kommandanten bemühen, da Eska fast 200 Kilometer entfernt ist und zu einem anderen Gebiet gehört. Mit dem Anfang des Lehrganges beginnt für mich ein neues Leben. Ich bin noch nicht 16, aber schon auf mich selbst gestellt. Von 30 Personen in meiner Gruppe sind 28 in die Listen der Kommandantur eingetragen. Jetzt muss auch ich mich einmal im Monat melden. Nur zwei Russen aus unserer Gruppe unterliegen nicht
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der Meldepflicht. Alle anderen, zwei Inguschen – ausgesiedelt aus dem Kaukasus, zwei Polen – ausgewiesen aus der Ukraine, vierundzwanzig Deutsche – deportiert von der Wolga, evakuiert aus dem Kaukasus, aus der Ukraine, von der Krim, verschleppt aus dem Warthegau, alle so genannte Sondersiedler, sind den Machthabern verdächtig. Obwohl wir alle 14 bis 17 Jahre jung sind und dem Gesetz nach noch keiner Pässe bedürfen, werden uns »Zeitpässe«, gültig für ein halbes Jahr, ausgestellt und wir unterstehen der öffentlichen Aufsicht. Nur unsere Zugehörigkeit zu bestimmten Volksminderheiten ist der Grund für dieses Verfahren. Weder wir noch unsere Eltern sind Verbrecher, darüber sind wir uns im Klaren. Im Gegenteil: Verbrechen werden von der Regierung an uns begangen. Und was erwarten die Machthaber jetzt von uns? Was befürchten sie? Jeder von uns denkt darüber nach, findet aber keine Antwort auf diese Fragen. Und wenn nach Immanuel Kant (9, S. 27) »die Minderjährigkeit eine Unfähigkeit, seinen Verstand ohne fremde Hilfe zu gebrauchen« bedeutet, so sind wir in diesem Sinne sehr früh volljährig geworden. Das Leben stellt uns schwierige Fragen, mit denen jeder selbst fertig werden muss. Im ersten Lehrjahr geht es mir nicht gut. Das winzige Stipendium, das wir bekommen – 120 alte Rubel im ersten bis 180 alte Rubel im vierten Lehrjahr – reicht nur für schwarzes Brot, ein wenig Zucker und billigste Fischkonserven. Ich kann mich nicht erinnern, einmal satt gewesen zu sein. Im Wohnheim sind wir 16 Mädchen in einem Zimmer, wo acht Betten stehen, in denen wir jeweils zu zweit schlafen. Den Ofen müssen wir uns selbst mit Holz und Kohle, die uns zugeteilt werden, heizen. Das Brennmaterial ist so knapp, dass es im Zimmer nie richtig warm ist. Das einzige Glück für mich ist, dass ich mit meiner Schwester Siegrid in einem Zimmer wohnen darf, obwohl sie schon im zweiten Lehrjahr ist. Wir schlafen in einem Bett und wärmen uns gegenseitig. Außerdem hilft sie mir, den Stubendienst zu verrichten, denn ich bin zu schwach, um allein einen Eimer voll Kohle oder Wasser zu tragen. Der Unterricht in der LBA läuft in zwei Schichten, da nicht genügend Lehrräume zur Verfügung stehen. Wir haben eine alte Steppjacke
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und ein Paar geflickte Filzstiefel, die wir auch in zwei Schichten benutzen: Nach dem Unterricht läuft meine Schwester so schnell sie kann ins Wohnheim, wirft die Fufaika und die Walenki ab, ich schlüpfe hinein und laufe zum Unterrichtsgebäude. Manchmal komme ich daher etwas zu spät. Am Abend sind wir gewöhnlich alle zu Hause, sitzen um einen langen Tisch, über dem eine einzige Glühbirne brennt, und machen unsere Hausaufgaben. So sitzen wir auch am Heiligen Abend des 24. Dezembers 1953. Es ist still und wäre sogar gemütlich, wenn nur der Magen nicht immer knurren würde. Da klopft es laut an der Tür, die mit einem dicken Eisenhaken versperrt ist. Sechzehn Köpfe drehen sich wie auf Kommando zur Tür, aber niemand rührt sich von der Stelle. Im Vorhaus wird geflucht und mit den Füßen gegen die Tür getreten. Unser Haken kann uns nicht mehr schützen und springt auf. Im Zimmer erscheinen zwei junge Männer. Sie tragen lange schwarze Mäntel mit blanken Knöpfen, die zur Uniform der Berg- und Bahnarbeiter in der UdSSR gehören. Der eine ist groß und breitschultrig, der andere ist viel kleiner. Sie sind stark angetrunken, nähern sich mit hässlichen Mutterflüchen dem Tisch und grapschen den Mädchen, einem nach dem anderen, an den Busen. Schutzlos sind wir und starr vor Schreck. Als auch meine Schwester, die neben mir sitzt, begrapscht wird und ich jetzt an der Reihe bin, springe ich auf und hämmere mit meinen kleinen Fäusten an die Brust des größeren Affenartigen. Seine Visage kann ich nicht erreichen, er ist zwei Köpfe größer als ich. »Les pod Nary!«, brüllt er und gibt mir einen Stoß mit der Faust. Ich wäre bestimmt umgefallen, wenn ich mich nicht ans Bett geklammert hätte. »Warum soll ich unter die Pritschen?«, denke ich, »Hier sind doch keine Pritschen, sondern nur Betten.« »Kriech unter die Pritschen!«, wiederholt er und versucht nochmals, mich mit seiner Faust zu erreichen. Alle sind aufgesprungen und stehen herum. Ich steige auf das Bett, springe auf das andere und laufe schließlich zur Tür. Meine Beine tragen mich durch den Schulhof zum Unterrichtsgebäude, das zu dieser späten Stunde jedoch verschlossen ist.
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»Wohin jetzt?«, überlege ich. »Wenn er mich hier erwischt, bringt er mich um, und kein Hahn kräht danach ...« Es ist aber alles still, im Schulhof ist niemand zu sehen. Der Mond scheint hell und es herrscht starker Frost. Ich friere und merke erst jetzt, dass ich ausgezogen bin und in Wollsocken im Schnee stehe. Es ist Heiliger Abend. Irgendwo in der zivilisierten Welt wird gefeiert und gesungen ... Meine Zähne klappern vor Kälte und Angst. Ich fürchte mich, muss aber ins Wohnheim zurück, wenn ich nicht erfrieren will. Im Zimmer finde ich meine Schwester in Tränen. Ich erfahre, was sich hier abgespielt hat. Als ich zur Tür hinauslief, sei mir der Mann mit einem Messer in der Hand nachgestürmt. Wo er das Messer her hatte, weiß niemand, aber alle behaupten, es gesehen zu haben. Ein Mädchen habe vor Schreck einen Nervenzusammenbruch bekommen. Als es nach einer Weile im Wohnheim still geworden und ich nicht zurückgekommen sei, habe Siegrid mich gesucht: Sie habe in den Nachbarzimmern nach mir gefragt, in die Küche hineingeschaut, mit Zündhölzern das dunkle Vorhaus abgesucht und nachgesehen, ob ich irgendwo mit dem Messer im Rücken läge. Sie habe mich nicht gefunden und geweint. Ich beruhige sie jetzt: »Was kann mir schon passieren? Du weißt doch: Den Hasen retten seine Beine.« Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass die Männer aus unserem Wohnheim ins Gebäude gegenüber gegangen sind, dort eine Tür aus den Angeln gehoben, unter alle Betten geschaut und jemanden gesucht haben. Dort wohnen Mädchen vom vierten Kursus. Sie haben Widerstand geleistet und versucht, die ungebetenen Gäste hinauszuwerfen. Einer der Betrunkenen hat einem Mädchen die Mandoline aus der Hand gerissen und sie auf dem Kopf des Mädchens zerschlagen. Die Schülerinnen vom zweiten und vierten Kursus beklagen sich bei der stellvertretenden Direktorin, die eine Anzeige bei der Miliz erstattet. Die Männer werden festgenommen. In den ersten Tagen des neuen Jahres bekommen wir Vorladungen zum Volksgericht als Zeugen. Hier erfahren wir, dass einer der
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Männer am 24. Dezember aus dem Gefängnis gekommen ist, wo er anderthalb Jahre wegen Rauferei war. Seine Entlassung »begießt« er mit Verwandten und Freunden, wie es bei Russen so üblich ist. Sie lassen sich volllaufen und begeben sich zu unserem Wohnheim. Im vollen Gerichtsaal zieht mich eine Frau am Ärmel zur Tür hinaus und erklärt, sie sei die Ehefrau des Mannes, der hinter mir herlief. »Hör mal, sag vor Gericht nicht, dass er ein Messer bei sich hatte, sonst kommt er wieder ins Gefängnis.« »Ich habe kein Messer gesehen. Diejenigen, die es gesehen haben, die werden darüber aussagen.« »Und du sag, dass sie lügen! Sag, dass er kein Messer hatte! Ich werde es dir bezahlen. Ich gebe dir dafür 200 Rubel. Hab doch Mitleid mit mir, ich habe ein Kind.« »Ihr Mann sollte mit Ihnen Mitleid haben. Ich kann Ihnen nicht helfen.« »Du Hure!«, schreit sie mir plötzlich ins Gesicht, »Du hast meinen Mann in euer Wohnheim geschleppt!« »Das ist wohl die Liebe auf Russisch«, denke ich und ohne ihr noch ein Wort zu sagen, gehe ich in den Verhandlungsraum zurück. Der Mann versucht, die Schuld auf uns abzuwälzen, und erklärt: »Ich bin zu den Mädchen zu Besuch gekommen. Ich wollte sehen, wie es ihnen geht. Aber die da«, er zeigt mit dem Finger auf mich, »die hat mich geschlagen.« Sogar die Richter können sich das Lachen nicht verkneifen. Ich würde ja auch lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Er wird als rückfälliger Täter zu drei Jahren und sein Freund zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach einem halben Jahr sind aber beide wieder frei. Nach der Verhandlung werden wir auf der Straße von Verwandten der Männer verflucht und beschimpft. Bei meinem Abendgebet seufze ich: »Lieber Gott, hast du uns endgültig vergessen? Du musst wohl Wichtigeres zu tun haben, als dich unser zu erbarmen ...« Im zweiten Lehrjahr tritt fast die ganze Gruppe – dabei auch ich dem Komsomol bei, das heißt dem kommunistischen Jugendverein, da die Lehrer und die Parteifunktionäre es von uns verlangen.
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In der Bildungsanstalt ist die Laienkunst gut organisiert. Es gibt ein Streichorchester mit etwa 35 Teilnehmern, einen großen Chor sowie Tanz- und Sportveranstaltungen. Nur von Laienkunst in deutscher Sprache gibt es keine Spur. Dem Lehrplan nach werden wir in allen denkbaren Fächern unterrichtet: Russisch, Kasachisch, Mathematik, Singen, Musik, Zeichnen, Naturkunde, Geschichte der KPdSU und Kinderliteratur. Außerdem lernen wir auch die Methoden des Unterrichts fast aller genannten Fächer. Aber Deutschunterricht gibt es nicht. Unsere Gruppe nimmt aktiv an allen Veranstaltungen teil und hat auch gute Lernerfolge. Aber wir fühlen instinktiv das Bedürfnis, Deutsch miteinander zu sprechen, wo wir doch ein gemeinsames Schicksal haben. Eines Tages schlägt mir meine Freundin vor, mit ihr in eine Jugendversammlung zu gehen, und verspricht mir, es würde da sehr interessant sein. Und wirklich: Dort versammeln sich viele deutsche Jugendliche, unter denen ich mehrere bekannte Gesichter sehe. Da sind Freunde aus unserer und anderen Gruppen der Lehrerbildungsanstalt Auch meine Schwester Siegrid ist anwesend. Am Anfang machen wir verschiedene Spiele, die mit deutschen Volksliedern begleitet werden: »Grünes Gras, grünes Gras unter meinen Füßen. Ich hab verloren meinen Schatz, werd ihn suchen müssen.« Sobald es dunkel wird, gehen wir ins Haus einer deutschen Familie. Dort werden die Spiele fortgesetzt, Tee und Kuchen aufgetragen, und in Begleitung eines Streichorchesters gesungen. Die Teilnehmer des Orchesters sind überwiegend aus der Lehrerbildungsanstalt. Darunter meine Schwester und ihr Freund, der es so gut versteht, auf der Bühne der Lehranstalt die Fabeln von Krylov vorzutragen, dass die Zuschauer sich krummlachen. Das Orchester wird vom besten Musiker und Tänzer der Lehranstalt geleitet, der sich im letzten Lehrjahr befindet. Mir gefällt es hier und meine Freundin sagt mir: »Wenn du niemandem erzählst, wo du warst und wen du da gesehen hast, kannst du immer mit mir hierher kommen.«
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Ich besuche später noch oft die Jugendversammlungen, und sie geben mir Kraft für den grauen Alltag im Wohnheim. Einmal wird ein Gottesdienst abgehalten, bei dem außer den Jugendlichen auch ältere Leute anwesend sind. Zunächst ist für mich das Wesentliche an all diesen Versammlungen die deutsche Sprache und die mir aus der Kindheit bekannten Melodien. Sie geben mir irgendwie das Gefühl der Geborgenheit. Zwei Jahre nach Stalins Tod bricht eine ungewöhnliche Zeit an. Im Literaturunterricht studieren wir auch die Lyrik von Alexander Blok und Sergej Jesenin, die bis dahin verpönt waren. Unser Literaturlehrer, ein Krimtatar namens Rauf Chafisowitsch, erzählt uns über Solschenizyns »Ein Tag des Iwan Denisowitschs« und äußert die Hoffnung, dass dieses und ähnliche Werke der sowjetischen Schriftsteller bald in Druck erscheinen werden. Es wird gemunkelt, nach Stalins Tod soll es eine Amnestie für die politischen Häftlinge geben. Irgendwo soll schon jemand aus der Verbannung zurückgekehrt sein. Es soll Listen der Überlebenden geben, die ihre Verwandten suchen. Denn die Verbannungsorte dürfen nur diejenigen verlassen, die Familien oder Angehörige haben. In unserer zerrissenen Familie herrscht ein freudiges und hoffnungsvolles Warten: Vielleicht kommt Vater bald? Nein. Stattdessen bekommt meine Mutter per Post ein Dokument zugeschickt, das wie folgt lautet: »Die Generalprokuratur der UdSSR berichtet, dass Neufeld P. D., der 1937 repressiert wurde, rehabilitiert wird, wegen Fehlens des Tatbestandes eines Verbrechens.« So! Und? - Weiter nichts. »Ist er am Leben oder nicht?« Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Es wird viel über die Aufhebung der Kommandantur gesprochen. Aber Meetings und Orchestermusik, Gratulationen und Glückwünsche zur Befreiung, Entschuldigungen für das grundlos zugefügte Leid bleiben aus. Die Machthaber bekennen ihre Verbrechen sehr bescheiden – ohne »Pauken und Trompeten«. In einer offenen Versammlung des kommunistischen Jugendverbandes wird uns der
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Inhalt des halb geheimen »Briefes des XX. Parteikongresses« bekannt gegeben, der über die Missetaten des Personenkults berichtet. Die Parteiclique schlägt erstaunlich schnell einen neuen Ton an und schimpft mit Schaum auf den Lippen über den Personenkult, der angeblich an allem schuld sei. Der Bericht ist unpersönlich: »Es wurden Unschuldige verhaftet, verbannt, hingerichtet ...« »Von wem?«, fragt man sich. Nur Schulterzucken: »Von Stalin und Berija.« »Aber die zwei hätten es doch alleine nie geschafft, Millionen hinzurichten?! Dazu brauchten sie – und hatten sie auch – eine ganze Armee von Handlangern, Richtern und Henkern. Wo und wer sind sie? Wird man sie bestrafen?« Nein, für diese Verbrechen wird niemand bestraft. Der Tod von Millionen Unschuldiger wird als »Fehler des Personenkults« bezeichnet. Wir, die Opfer dieses Fehlers, hoffen umsonst, von den Augen unserer Parteifunktionäre, die Handlanger der Obrigkeit sind und alles rechtfertigen, ein Schuld- und Reuegefühl abzulesen. Doch niemand hat etwas zu bereuen. Die Henker und Verräter sind überall und versuchen auch weiterhin, alles zu rechtfertigen, was geschehen ist. »Die Bauern hat man ausgerottet.« »Aber es waren ja alles Kulaken!« »Die Tataren, Tschetschenen und Inguschen hat man aus ihrer Heimat vertrieben.« »Aber die waren ja gefährlich! Die freuten sich auf ihre Befreiung aus der Sowjetherrschaft durch die deutsche Armee!« »Die Deutsche Republik an der Wolga hat man zerstört.« »Na, hör mal! Mit den Deutschen gab es Krieg. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.« Unsere Jungs lassen sich von den Russen nicht mehr so einfach als Faschisten und Verräter beschimpfen. Durch solche Beschimpfungen kommt es zu einer Schlägerei zwischen den Burschen der LBA und des Bergbautechnikums in der Nachbarschaft. Nach dieser Schlägerei werden der Ingusch Daud Chasijew und der Pole Walentin Lutschinskij vom Gericht zu zwei und anderthalb
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Jahren Gefängnis verurteilt. Die anderen drei, die Minderjährigen Sultan Chamtschiew – ein Ingusch, Johannes Dreher – ein Deutscher und Eduard Metrinskij – ein Pole, bekommen einen strengen Verweis wegen »unsittlichen Benehmens«. Die russischen Teilnehmer der Schlägerei erscheinen in dem Prozess als Zeugen ... So wird uns beigebracht: Von der Kommandantur befreit man euch zwar, die Zeiten haben sich geändert – beschimpfen darf man euch dennoch ungestraft, denn etwas Verbrecherisches muss doch an euch sein. Denn: Unschuldige werden bei uns nicht verhaftet und verbannt. In derselben Zeit wird meine Mutter in die Kreisabteilung für soziale Fürsorge vorgeladen und ihr wird eine Mutterschafts-Medaille mit einer Verspätung von fast 20 Jahren ausgehändigt. Wir diskutieren und streiten in unserer Gruppe über all diese, für uns wichtigen Ereignisse: »Rehabilitation bedeutet Wiederherstellung der Ehre, genauer gesagt, die Wiedereinsetzung in die verlorenen Rechte. So steht es in der Enzyklopädie.« »Ja? Und wie will man die Ermordeten in ihre verlorenen Rechte wiedereinsetzen?« »Ich möchte wissen, was die Rehabilitation meines Vaters bedeutet? Welche seiner Rechte hat man ihm wiedergegeben?« »Und was bedeutet für uns die Abschaffung der Kommandantur? Wir bleiben ja doch für ewig verbannt und haben nicht das Recht, in die Heimatorte zurückzukehren.« »Ja, wir sollen ewig verstreut über die Weiten Sibiriens und Mittelasiens leben. Nur heißen wir jetzt nicht mehr Sondersiedler, sondern Sowjetbürger.« »Und was soll meine Mutter mit der Mutterschafts-Medaille? Sie sich etwa an den Hut stecken? Die hat man ihr wohl zum Hohn verliehen? Wo sie doch all die Jahre keine Hilfe erfahren hat.« »Heuchelei, das alles. Halbmaßnahmen. Leere Wörter wie Spreu.« »Es ändert sich nichts an unserer Lage! Daud Chasijew sagte vor Gericht, er werde um seine Rechte kämpfen. Und wir? Wollen wir nicht kämpfen?«
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»Ja, wo denkst du hin?! Daud ist im Gefängnis! Mit wem willst du kämpfen? Wir wissen nicht einmal, wer unser Feind ist und wo er steckt.« Immanuel Kant sagt (9, S. 27): »Aufklärung ist der Austritt des Menschen aus dem Zustand seiner Minderjährigkeit. Minderjährigkeit aus eigener Schuld bedeutet nicht Mangel an Verstand, sondern Mangel an Entschlossenheit und Mut, seinen Verstand ohne fremde Hilfe zu gebrauchen. Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu gebrauchen! - So lautet die Devise der Aufklärung.« Zu dieser Zeit lesen wir Kants Werke noch nicht, aber »die Devise der Aufklärung« demonstrieren wir ziemlich anschaulich. Wir nehmen nichts unkritisch hin, sondern handeln nach dem Prinzip »prüfe alles und das Gute behalte«.
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Neuland und der Fleischer
Nach Stalins Tod macht sich die Regierung daran, in Nordkasachstan, im Altajgau, in den Gebieten Nowosibirsk und Omsk, an der Wolga, im Südural und im Fernen Osten Neuland zu erschließen. Nordkasachstan, das sechs Gebiete einschließt, erstreckt sich etwa 1.300 Kilometer von Westen nach Osten und dehnt sich etwa 900 Kilometer von Norden nach Süden aus. In dieser Region, zu der auch die Gebiete Akmolinsk und Kokschetau gehören, werden insgesamt 25 Millionen Hektar Neuland umgepflügt, davon 18 Millionen Hektar nur in den Jahren 1954 und 1955. Darüber schreibt Ministerpräsident Leonid Breshnew in seinen Erinnerungen (10). Um all dies möglich zu machen, wird von der Regierung ein Strom von landwirtschaftlicher Technik und Menschen aufs Neuland geschwemmt. Die Menschen, die da kommen, kann man in drei Kategorien einteilen: Erstens kommen Parteifunktionäre, die hier in den Wirtschaften gut bezahlte Positionen einnehmen und Karriere machen wollen; zweitens sind es Abenteurer und Burschen, die ohne bestimmten Beruf in den Großstädten nicht viel verdienen können; drittens werden Kriminelle und Alkoholiker, die man in den Städten des europäischen Russland nicht brauchen kann, hergeschickt. All diese Leute werden als Helden des Neulands gefeiert und mit einem beträchtlichen Geldvorschuss in die Neulandgebiete transportiert. Hier sollen die Kriminellen, freigelassen auf Bewährung, durch schwere Arbeit und durch die ansässige Bevölkerung umerzogen werden. In manchen Fällen klappt es mit der Umerziehung, aber bei weitem nicht immer. Die meisten Zelinniks arbeiten gut, viele werden ansässig, heiraten, bauen Häuser. Manche lungern aber in den Siedlungen und auf den Steppen herum und treiben Unfug: Sie saufen, raufen, stehlen, morden, vergewaltigen. Wenn sich früher die Leute auf den Steppen nur vor den Wölfen fürchteten, so kommt jetzt die Furcht vor den Neulandsiedlern dazu.
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Die Kommandantur hat man zwar immer noch nicht aufgehoben, aber eine Linderung liegt in der Luft. In unserer Familie gibt es Änderungen. Regine heiratet und zieht zu ihrem Mann in den Kolchos. Martha hat die 10. Klasse beendet und kommt auch in die LBA, nachdem sie die Aufnahmeprüfungen bestanden hat. Wir mieten ein Zimmer und nehmen Mutter zu uns nach Eska. Bernhard bleibt allein in Balkaschino in der Erdhütte zurück. In den Sommerferien besuche ich ihn und finde ihn in einem entsetzlichen Zustand. Er hat einen ungepflegten Bart und einen wilden Blick. Die Wände des Zimmers sind schwarz, von einer dicken Schicht Ruß bedeckt. Ich streife mit dem Finger über die Wand und halte ihn ihm vor die Nase. »Wieso?«, frage ich. »Man muss doch Brennmaterial sparen«, sagt er. »Der Rauch ist warm, deshalb lass ich ihn im Zimmer abkühlen und zur Tür hinausziehen ...« Ich hole Wasser und wasche mit einem Lumpen den Ruß von den Wänden. Dann streiche ich sie zweifach mit Kalk an. Jetzt sind sie grau, aber frisch. Ich bin mit dem Ergebnis nicht zufrieden, vermag es aber nicht besser zu machen. Am nächsten Morgen trage ich alles Geschirr und Besteck in einem Korb zum Fluss und scheuere es mit Sand bis es glänzt. Als meine Mutter ein halbes Jahr später nach Balkaschino kommt, um die Mutterschafts-Medaille in Empfang zu nehmen, will sie auch nach Bernhard sehen, findet die Hütte aber leer und kalt. Die Nachbarin weiß zu berichten, im Herbst sei eine Frau, eine NeulandHeldin mit zwei Kindern, zu ihm gezogen. Zwei Monate später habe sie die Kartoffeln aus dem Keller und das Holz aus dem Stall auf ein Lastauto geladen und sei mit einem anderen Mann davongefahren. Bernhards Situation sei sehr kritisch gewesen, denn er habe jetzt kein Brennmaterial mehr gehabt und auch nichts zu essen. Die Bauarbeiter von nebenan würden vielleicht wissen, wo er sich jetzt aufhalte. Mutter findet ihn im Wächterhäuschen der Baustelle, wo eine Werkbank und ein kleiner Eisenofen stehen und ein Haufen
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Späne liegt. Dort stellt er Fensterrahmen her und verdient damit sein Brot. Er schläft auf den Spänen, denn seine Bettsachen hat die »Heldin« ebenfalls mitgenommen. Mutter bringt es nicht übers Herz, ihn nochmal allein zu lassen und nimmt ihn mit nach Eska, wobei er hoch und heilig verspricht, sich menschlich zu benehmen. Eska ist ein Städtchen in einer Oase, die als »Kasachische Schweiz« bekannt ist. Das Städtchen hat 25.000 bis 28.000 Einwohner und ist im Vergleich zu anderen Siedlungen der Republik grün und ruhig. Die Stadt hat derzeit nur eine einzige asphaltierte Straße. Auf allen anderen Straßen watet man nach dem Regen bis zu den Knien im Dreck. Die Siedlung liegt an einem herrlichen See mit Süßwasser, umgeben von einem Kleingebirge, das mit Fichtenwald bedeckt ist. Da der Neubruch nicht nur das Umackern bedeutet, werden wir, die Besucher der LBA, in allen Jahreszeiten bei Landarbeiten in den umliegenden Wirtschaften eingesetzt. Im Frühling müssen wir runde, platte, braune, blanke Körner, etwa 5 Millimeter im Durchmesser, sorgfältig im Quadratnestverfahren pflanzen. Man sagt uns, es seien Kautschukpflanzen, denn die Industrie brauche dringend Rohstoff. Im Sommer müssen wir die Gemüse- und Kartoffelfelder jäten, an der Heuernte teilnehmen und bis Ende September sind wir voll mit der Kartoffel- und Getreideernte beschäftigt. Sogar im Winter findet man für uns Verwendung: Für den Kolchos »Neuer Weg« müssen wir an einem Steppensee Schilf schneiden. All diese Arbeiten machen wir selbstverständlich umsonst. Die Neuland-Helden verrichten nur die gut bezahlte Arbeit. Lernen müssen wir nebenbei, in den Pausen zwischen den Landarbeiten. Anfang Juni 1956, während wir gerade Prüfungen haben, werden wir zwischen zwei Prüfungen für eine Woche in den Kolchos geschickt, um die jungen Maispflanzen dort auszureißen, wo man sie zu dicht gesät hat. Wir bekommen vom Kolchos zu essen und sind im Schulgebäude, wo man für uns zwei Klassenzimmer ausgeräumt und Stroh auf den Fußboden geworfen hat, untergebracht. Die Tage sind unerträglich heiß, auf dem Feld ist es schwer zu atmen. Der heiße Wind versengt Haut und Lungen. Es gibt keine Bäume
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und keine Büsche, die etwas Schatten bieten würden. Die Abende sind frisch und die Nächte kühl. Wenn man einfach auf Stroh ohne Bettsachen schlafen muss, friert man und die verbrannten Schultern schmerzen. Ich fange an zu husten und bekomme Fieber, muss aber weiterhin arbeiten. Als ich ein paar Tage später nach Hause komme, habe ich große Wasserblasen auf Schultern und Rücken. Meine Mutter macht mir Sauermilchumschläge. Das Fieber lässt nach, die Schmerzen werden weniger, aber der Husten bleibt. Als ich die letzte Prüfung bestanden habe, hält mich ein alter Lehrer an, zum Arzt zu gehen, denn mein Husten höre sich gefährlich an, sagt er. Ich würde es ja gerne tun, habe aber keine Zeit dazu. Gleich nach der Prüfung müssen meine Freundin und ich als Erzieherinnen ins Pionierlager fahren, das im Fichtenwald an einem See liegt. Wir verbringen viel Zeit mit Wandern und Schwimmen. Es geht mir sehr gut im Lager, die Arbeit mit den Kindern ist interessant und außerdem habe ich mich noch nie in meinem Leben so satt gegessen. Als wir Mitte August nach Hause kommen, erfahre ich, dass meine Angehörigen von der Kommandantur entlassen worden sind. Jeder hat persönlich unterschreiben müssen, dass er niemals in sein Heimatdorf zurückfahren und irgendwelche Ansprüche auf das verlorene Vermögen erheben werde. Meine Freundin und ich melden uns am nächsten Tag bei der Lehranstalt und sollen sofort zur Heuernte. Da packt mich der alte Lehrer am Kragen: »Du hustest immer noch?! Sofort gehst du jetzt zum Arzt! Wenn ich dich husten höre, könnte ich schwören, du hättest Tuberkulose. Erst wenn der Arzt bestätigt, dass du gesund bist, dann kommst du nach. Verstanden?« Ich gehe in die Klinik, werde von der Hausärztin untersucht und in die Tuberkulose-Fürsorgestelle geschickt: »Weil bei uns der Röntgenapparat nicht funktioniert«, erklärt sie. Ich gehe wie mir befohlen in den so genannten »Tubdispenser«, setze mich ins Wartezimmer, in dem sehr viele Kranke sind, schlage
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mein mitgebrachtes Buch auf und lese. Als eine junge Laborantin mich ins Labor ruft und von mir eine Schleimprobe verlangt, mache ich mich lustig: »Ich huste zwar sehr, kann Ihnen aber keinen Schleim spenden.« »Dann spucken Sie einfach ins Gläschen«, fordert sie mich auf, nimmt noch eine Blutprobe aus meinem Finger und lässt mich gehen. Der Dispenser liegt auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt, umgeben von Fichtenwald. Von hier hat man eine herrliche Aussicht auf den See. Am nächsten Morgen sind im Wartezimmer wieder sehr viele Kranke. Ich lese eine Weile, doch dann werde ich abgelenkt. Ein junger Ingusch hat sein Hemd aufgeknöpft und zeigt allen Anwesenden seine Brust: »Der Fleischer von Arzt hat mir zwölf Rippen rausgebrochen, vorne sieben und hinten fünf. Dadurch werden meine Lungen wieder gesund und ich bleibe am Leben.« Seine Brust sieht entsetzlich aus. Jemand berührt behutsam mit den Fingern seine Narben und zuckt erschrocken zurück, als die Lunge unter der Haut wie ein Frosch hüpft. Der Kranke lacht, zieht aber schleunigst einen Spucknapf aus seiner Kitteltasche ... Jetzt bin ich dran und gehe ins Sprechzimmer des Arztes, den der Ingusch soeben als Fleischer bezeichnet hat. Er ist Armenier und hat dunkles, krauses Haar. Unter den buschigen Augenbrauen sind die Augen kaum zu sehen. Er hat eine große Hakennase, die an einen Raubvogel erinnert, und keinen Hals, als ob der Kopf unmittelbar auf den breiten Schultern säße. Er steht auf, dreht sich zum Fenster und sieht sich aufmerksam ein Röntgenbild an. Da merke ich, was für unnatürlich lange Arme er hat – eine seltsame Erscheinung! Er sieht sich meine Sputumproben an, hört und klopft meinen Brustkorb ab und sagt: »Ich muss Sie ins Krankenhaus einweisen. In etwa zwei Wochen werde ich Sie operieren.« Mein Entsetzen ist grenzenlos: »Operieren wollen Sie mich?! Aber ich huste ja nur. Verschreiben Sie mir bitte ein Mittel gegen Husten und ich fahre mit meiner LBA
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Klasse in den Kolchos ... zur Heuernte.« »Daraus wird nichts. Sie müssen operiert werden.« »Sie scherzen wohl? Seit wann wird Husten mit dem Messer geheilt?!« »Sie haben Tuberkulose. Und ein operativer Eingriff ist das erfolgreichste Mittel dagegen.« »Ich bin keines Ihrer Versuchskaninchen! Die suchen Sie sich anderswo!« Ich verlasse sein Sprechzimmer. Zwar schlage ich die Tür nicht hinter mir zu, aber sie knallt trotzdem heftig, weil sie mit einer Stahlfeder versehen ist. Es ist mir peinlich – ich hätte sie halten sollen. Ein schmaler Fußweg führt mich durch den Wald, an Bänken, Baumstämmen und Steinblöcken vorbei, auf denen zahlreiche Kranke in grauen und gestreiften Kitteln sitzen. Schließlich nehme ich nichts mehr um mich herum wahr, bemerke nicht einmal den hellen Sonnenschein – so sehr bin ich mit meinen Gedanken beschäftigt: »Tuberkulose ... Eine unheilbare Krankheit! Der alte Lehrer hatte Recht. Aber lieber werde ich sterben, als mich so verstümmeln zu lassen wie der Ingusch. Wie hofft denn der Mensch ohne Rippen weiterzuleben?« Zwei Stunden später sitze ich wieder im Wartezimmer des Arztes. Neben mir sitzt meine Mutter: Sie meint, ich hätte den Arzt falsch verstanden, so schlimm könne es wohl nicht sein, dass ich unbedingt operiert werden müsse. Da kommt ein hochgewachsener Kaukasier auf uns zu und fragt meine Mutter, ob er mit mir mal sprechen dürfe. Wir gehen hinaus und er überrascht mich: »Willst du dich vom Metzger nicht operieren lassen? Er ist ein guter Chirurg, ein Forscher. Er ist aus Leningrad extra hergekommen, um seine Forschungsarbeit durchzuführen. Wenn du ihn gut bezahlst, hast du eine Chance am Leben zu bleiben und gesund zu werden.« »Woher wissen Sie, dass ich operiert werden soll?« »Ich hab dich vormittags im Wald weinen sehen. Da dachte ich, es kann nur einen Grund dafür geben ... Hast du Mutalijew gesehen? Den ohne Rippen? Sein Bruder hat für diese Operation viel Geld
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bezahlt. Wer nicht bezahlt, den lässt der Fleischer sterben. Manche sofort, noch während der Operation, andere später.« »Unsinn, was Sie da sagen! Erstens haben wir eine kostenlose medizinische Betreuung. Zweitens würde man, wenn sich die Todesfälle bei oder nach den Operationen häufen sollten, ja nach den Ursachen fragen. Der Arzt wird wohl nicht so blöd sein, sich auf diese Weise strafbar zu machen. Drittens habe ich kein Geld, deshalb kommt es sowieso nicht in Frage.« »Aber deine Verwandten! Die könnten sich doch bemühen, Geld aufzutreiben!?« Ich lasse ihn stehen und gehe zu meiner Mutter zurück. Sie lässt sich vom Arzt erklären, wieso ich operiert werden muss und was das für eine Operation sein soll. Er erklärt, ich hätte eine besondere Art von Lungenerkrankung – eine Brandtuberkulose, die durch heiße und trockene Luft entstehe. Es sei mein Glück, dass ich rechtzeitig zu ihm gekommen bin, weil nur ein geringer Teil der Lunge betroffen sei und die Krankheit sich noch nicht auf die ganze Lunge verbreitet habe. Deshalb genüge ein lokaler Eingriff. Dann richtet er seine Worte an mich: »Von mir wollen viele nichts wissen und schlagen hinter sich die Tür zu. Aber damit ist Ihnen nicht geholfen: Die Krankheit lässt sich nicht einfach ablehnen. Wenn Sie nun schon krank sind, dann sind Sie auch meine Patientin, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie brauchen keine Furcht zu haben, dass ich Ihnen die Rippen entfernen will, wie dem Alexander Mutalijew. Nein, das ist ja ein anderer Fall: Seine Lungen sind von Kavernen durchlöchert. Nur in solchen äußersten Fällen mache ich diese plastische Operation. Da hat der Patient ja nichts mehr zu verlieren, kann aber unter Umständen ein paar Jahre gewinnen.« Ich füge mich gehorsam in die Krankenhausordnung. Von morgens bis abends lasse ich »Krieg und Frieden« von Leo Tolstoj nicht aus der Hand und lese bei jeder Gelegenheit. Das ist das einzige Mittel gegen die Langeweile. So sitze ich in den »stillen Stunden« von 14 bis 16 Uhr im Schatten auf einem warmen Stein und lese. Da fällt ein Zapfen vom Baum
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– ein Eichhörnchen sieht mich neugierig an und verschwindet im Geäst. Ich höre Schritte und schaue mich um: Der Chirurg kommt. Hat er denn zu dieser Zeit auch nichts zu tun? »Wieso sitzen Sie hier und liegen nicht im Bett?«, fragt er streng. »Die Luft ist hier viel besser als im Zimmer. Dort riecht es nach Blut und Medikamenten, hier nach Erz und Nadeln.« Er setzt sich auf einen Stein neben mir und nimmt mir das Buch aus der Hand: »Krieg und Frieden ... Ist es nicht zu früh für Sie, Werke von Leo Tolstoj zu lesen?« »Dem Programm nach sollen wir in diesem Schuljahr seine Werke durchnehmen und ich hatte bisher keine Gelegenheit, alles zu lesen. Ich finde, Tolstoj ist die einzige Persönlichkeit, auf die die Russen wirklich stolz sein können. Seine Lehre über die Abkehr von der Gewalt stimmt mit dem Gebot der Gewaltlosigkeit der Mennoniten überein. Die glauben ja auch, die Welt verbessern zu können, indem sie sich der Gewalt nicht widersetzen.« Er schaut mich verwundert an: »Gehört das auch zum Programm?« »Nein, zum Programm gehört nicht einmal die Wahrheit über Tolstojs Weltanschauung.« Immer wenn der Chirurg in meiner Nähe ist, bekomme ich eine Gänsehaut. Er wirkt auf mich magisch und rätselhaft. Die Gerüchte, die im Krankenhaus über ihn in Umlauf sind und sein seltsames Aussehen tragen dazu bei, dass ich mir Gedanken über ihn mache und ihn zu enträtseln versuche. Um meine Angst vor ihm zu überwinden, werde ich frech und sage: »Doktor, warum sind Ihre Patienten ausschließlich Sondersiedler, wenn ich fragen darf? Suchen Sie sich uns nach unserer nationalen Zugehörigkeit aus? Es sind nur Deutsche, Inguschen und Tschetschenen.« »Unsinn! Nicht ich, sondern die Krankheit sucht sie sich aus. Die Kaukasier vertragen das raue, trockene Klima schlecht. Das gilt übrigens auch für die Deutschen, denn in den Gegenden, aus denen sie
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kommen, ist das Klima ja auch milder und feuchter. Deshalb sind die Sondersiedler durch die Tuberkulose besonders gefährdet. Natürlich spielt die starke Belastung durch schwere Arbeit, Unterernährung und moralischen Druck ebenfalls eine wesentliche Rolle.« »Sieh mal einer an: Sie wissen genau, was man einem Volk antun muss, um es durch Krankheit auszurotten. Hat Stalin Ihre Ratschläge eingeholt, als er sich ans Werk machte?« Er lacht: »Nein. Da muss der Chef wohl andere Ratgeber gehabt haben. Wir können jetzt nur die Folgen feststellen.« »Und? Gefallen Ihnen die Folgen? Großartig, nicht wahr?! Das System der Vernichtung funktioniert tadellos, ohne Aufsehen oder Proteste zu erregen. Wir siechen dahin und machen keine Schwierigkeiten. Da hätte selbst Hitler so manches lernen können. Der Ärmste hatte wohl keine so gescheiten Helfer und Ratgeber wie Ihr Chef.« »Mit Protesten kann man hier nichts ändern. Außerdem bin ich Arzt und Forscher und kein Politiker.« »Und wenn Sie feststellen, dass eine Krankheit politische Gründe hat, dann kneifen Sie einfach die Augen zu? Eine bequeme Position!«, sage ich sarkastisch. »Ich staune, hier im Neuland einen Menschen wie Sie zu treffen: Schleifen in den Haaren, Sommersprossen auf der Nase – ein halbes Kind, zart wie ein Vögelchen. Aber die Gedanken, die Sie da wälzen, sind dunkel und schwer wie diese Granitfelsen.« »Werden Sie nicht poetisch, Doktor. Sagen Sie ruhig: grau und schwer wie unser Alltag.« »Ja, Sie sehen zwar aus wie ein Engelchen, sind jedoch stachelig wie ein Igel.« »Das ist gut so. Ein Vögelchen und Engelchen zu sein, kann ich mir nicht leisten. Ich muss mich ja durch das Graue und Schwere, was da vor mir liegt, durchbeißen. Übermorgen werden Sie mich operieren, und ich möchte gerne wissen, was Sie für ein Mensch sind. Was hat Sie in diese Gegend verschlagen? Warum sind Sie hier? Haben Sie den Wunsch zu retten oder nutzen Sie die Gelegenheit, um zu experimentieren?« Er antwortet nicht und steht plötzlich auf:
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»Sie sind ein böser Mensch. Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, brauche ich Sie ja nicht zu operieren.« »Aber Doktor! Woher soll das Vertrauen kommen?« Am nächsten Tag regnet es und ich kann in den »stillen Stunden« nicht in den Wald. Ich setze mich mit meinem Buch auf die Veranda. Der Regen trommelt an die Scheiben, die Tropfen laufen herab wie Tränen. Das bringt mich auf traurige Gedanken. Da taucht der Arzt wieder auf: »Ich habe Sie gesucht. Ich weiß nicht, ob Sie für mich ein Fluch oder ein Segen sind, aber seit Sie hier sind, habe ich keine Ruhe. Ich fühle mich verpflichtet, Sie über die bevorstehende Operation aufzuklären.« Die Operation, sagt er, sei ganz einfach und werde darin bestehen, dass der Nerv, der die Arbeit des Zwerchfells reguliert, betäubt wird. Dadurch solle der linke Lungenflügel zusammengedrückt, beim Atmen entlastet und somit geheilt werden. »Ich träume davon, dich in den Kaukasus zu bringen, wo du gesund und glücklich sein könntest. Vielleicht ist es Liebe!?« Er duzt mich plötzlich und merkt es nicht. »Zur Liebe gehört noch etwas anderes als nur Unruhe und Schuldgefühle, vermute ich. Aber Nächstenliebe oder Feindesliebe könnte es sein. Was wählen Sie?« »Feindesliebe ist eine Perversion des Denkens, propagiert von den Popen.« »Und von Tolstoj: Liebet eure Feinde. Gefällt es Ihnen nicht?« Am Tag darauf werde ich operiert und darf danach eine Woche lang das Zimmer nicht verlassen. Der Arzt verbringt relativ viel Zeit mit Aufklärungsgesprächen, was zu seinen Heilmethoden gehören soll. Er erklärt, bei der plastischen Operation werde nur das Knochengewebe der Rippen entfernt, der Knorpel aber bleibe und solle, der Theorie nach, wieder nachwachsen und den Brustkorb stabil machen. Nur so könne Patienten geholfen werden, die eine Lungentuberkulose im Kavernenstadium hätten. Drei Wochen später werde ich aus dem Krankenhaus entlassen und der Arzt verabschiedet sich von mir wie folgt:
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»Ich habe das Meine getan. Jetzt liegt Ihr Schicksal in Ihrer Hand.« Mir fällt auf, dass er mich wieder siezt. »Hüten Sie sich vor Erkältungen, aber noch mehr vor großer Hitze«, fährt er fort. »Sie dürfen sich nicht sonnen. Ein Rückfall könnte tödlich sein. Ach ja, und beeilen Sie sich nicht mit dem Heiraten und Kinderkriegen. Damit sollten Sie warten, bis Sie 27 oder 30 Jahre alt sind. Und kommen Sie alle zwei Monate zu mir zur Kontrolle.« Er bleibt für mich ein Rätsel, aber bald habe ich ihn vergessen, denn der Unterricht in der LBA hat begonnen und ich habe viel nachzuholen. Jetzt werde auch ich noch einmal zur Kommandantur bestellt, wo mir der Erlass über die Aufhebung der Meldepflicht vorgelesen wird und ich zum letzten Mal etwas unterschreiben muss. Als ich im Februar 1957 zur zweiten Kontrolle in den Tubdispenser komme, erfahre ich, dass Mutalijew in der vergangenen Nacht gestorben sei. Er habe sechs Monate in Frunse bei seinem Bruder verbracht, dann aber musste er zurück nach Eska ins Krankenhaus. Sein Traum, gesund zu werden, hat sich nicht erfüllt und der Arzt konnte für ihn nicht einmal ein Jahr Lebenszeit gewinnen ...
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Gehirnwäsche
Unsere Gruppe erlebt jetzt, was Gewissensfreiheit auf Sowjetisch bedeutet. April 1957. Eines Tages komme ich ins Klassenzimmer, unterhalte mich mit jemandem und lache. Da zieht mich plötzlich eine Mitschülerin am Ärmel und flüstert: »Vorsicht! Über dich hat man in der Zeitung geschrieben.« »In welcher Zeitung? Was geschrieben?« »In der örtlichen Zeitung. Du seist Sektiererin.« »Ich sei was? Hab’s nicht verstanden.« Es läutet und der Unterricht in Kinderliteratur, den unser Direktor führt, beginnt. Nach dem Unterricht bestellt er mich in sein Arbeitszimmer. »Da über Sie ein Zeitungsartikel erschienen ist, muss ich mit Ihnen etwas besprechen, Genossin Neufeld.« »Darf ich bitte den Artikel lesen, Wladimir Iwanowitsch?« Er reicht mir die Zeitung und schaut aus dem Fenster, während ich lese. Die Zeitung behauptet, in der LBA liege die Erziehungsarbeit im Argen: Zwei Schüler aus unserer Gruppe seien wegen einer Schlägerei im Gefängnis; die Absolventinnen sowieso, zwei Russinnen, träumten von einer komfortablen Wohnung mit fließendem Wasser und drückten sich vor schwerer Körperarbeit; die Komsomolzin Adina Neufeld glaube an Gott und gehöre einer Sekte an. Weiter wörtlich: »Der Direktor und der Partorg wissen von alledem, wollen aber den Müll nicht aus dem Hause tragen.« Unterschrift: Pratt. Das ist unser Hausmeister, ein deutscher Kommunist. Ich reiche dem Direktor die Zeitung zurück: »Danke. Jetzt können wir uns unterhalten.« »Dieser Artikel zielt auf mich, trifft aber Sie«, sagt er. »Sie sollten es schriftlich widerlegen.«
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Ich denke nach: Unser Direktor hat einen polnischen Namen, ist ein Verbannter wie wir. Er ist nicht groß, hat einen Buckel und kluge, verständnisvolle Augen. Ihm möchte ich nicht schaden. »Sie haben recht, Wladimir Iwanowitsch, der Artikel zielt auf Sie und Sie müssen sich verteidigen. Mich hat keiner gefragt, wohin ich gehe und an wen und was ich glaube. Ich habe dazu nichts zu sagen, denn es ist meine persönliche Angelegenheit.« »Verstehen Sie denn nicht, was Sie erwartet?! Und ich werde Ihnen nicht helfen können! Schreiben Sie an die Zeitung, das Ganze sei ein Zufall gewesen, man habe Sie verleitet, Sie würden es bereuen und in Zukunft unterlassen.« »Was sollte ich bereuen, Wladimir Iwanowitsch? Ich habe kein Verbrechen begangen. Auf den Gottesdienst bin ich wirklich zufällig gestoßen, bin aber später oft und gerne hingegangen. Schon wegen der deutschen Sprache und der schönen Lieder, die mir aus meiner Kindheit bekannt sind und die ich schon fast vergessen hatte. Bevor ich etwas an die Zeitung schreibe, muss ich nachdenken.« Im Klassenzimmer starren mich meine 29 Kollegen schweigend an. Ich setze mich wortlos auf meinen Platz. Nach dem Unterricht kommt unsere Klassenlehrerin und hält eine Versammlung ab. »Genossen, etwas Entsetzliches ist passiert. In unserer Gruppe ist eine Sektiererin! Das ist eine große Schande für uns alle! Und jetzt wollen wir Adina Neufeld zu Wort kommen lassen. Sag mal, wie ist das möglich? Wie konnte es dazu kommen? Wer hat dich verleitet?« »Erklären Sie mir bitte das Wort Sekte, Maria Nikolaewna. Ich höre es zum ersten Mal.« »Was du nicht sagst?! Du gehörst einer Sekte an und weißt nicht, was das ist?« »Ich möchte nur wissen, was Sie unter Sekte verstehen. Es klingt bei Ihnen so negativ, wie ein Schimpfwort.« »Tja, weißt du, die Sekte ist im Mittelalter entstanden und besteht jeher aus Abtrünnigen der offiziellen Kirche. Sie versammeln sich
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insgeheim in Privatwohnungen zu ihren Gottesdiensten. Das ist vom Staat verboten, verstehst du?« »Nein, das verstehe ich nicht. Welcher offiziellen Kirche soll ich abtrünnig geworden sein? Ich besuche deutsche Gottesdienste, das heißt, die Kirche meines Volkes. Dort, neben dem Marktplatz steht die orthodoxe Kirche, die jeden Sonntag von Gläubigen Ihres Volkes besucht wird. Was ist da für ein Unterschied? Wenn man neben Ihrer Kirche für uns ein Gemeindehaus bauen und unsere Gottesdienste erlauben würde, so wären auch wir keine Sektierer. Verstehe ich das richtig?« »Schweige!«, schlägt sie plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch. »Genossen, hört ihr, wie frech sie ist?! Sie schämt sich gar nicht und sagt stolz ›die Kirche meines Volkes‹! Du willst uns hier wohl einen Vortrag über Kirche und Sekte halten? Weißt du, was dir dafür blüht?« »Bitte, Maria Nikolajewna, machen Sie weiter«, unterbricht sie unser Komsorg Jakob Schütz. »Sie fragen und Neufeld antwortet. Das ist sehr interessant.« »Interessant?! Dann wird ja bald die ganze Gruppe in der Sekte sein! Aber jetzt zur Sache: Sag mal, Adina, wie bist du in die Sekte gekommen? Wer hat dich verführt?« »Mit dem Wort Sekte bin ich nicht einverstanden. Die Gottesdienste besuche ich freiwillig. Ich bin volljährig und lasse mich weder zwingen noch verführen.« »Wer von unseren Schülern geht noch dorthin? Du bist doch sicher nicht die Einzige?« »Ich bin für mich und nicht für andere verantwortlich. Was wollen Sie von mir?« »Gut, dann stelle ich die Frage anders: Wer von den Anwesenden gehört zusammen mit Neufeld der Sekte an?« Ich höre ein Geräusch und schaue mich um: Drei Kolleginnen sind aufgestanden. Das ist eine Tatsache, der Maria Nikolajewna nicht gewachsen ist. »Seid ihr denn alle verrückt?!«, schreit sie. »Schämt ihr euch denn gar nicht?!« Und wieder unterbricht sie unser Komsorg:
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»Wieso verrückt? Warum schämen? Maria Nikolajewna, Sie stellen Fragen und bekommen ehrliche Antworten. Ist das ein Grund, hysterisch zu werden?« »Schütz, Sie sind Komsorg und nehmen die Sektierer in Schutz?! Das ist ein Aufstand! Eine Rebellion!« »Es ist kein Aufstand. Es sind Gewissensfragen!«, sagt jemand. »Mich interessiert euer Gewissen nicht! Ich kann mit euch nicht arbeiten. Sollen doch andere sich mit euch befassen!« Sie läuft schluchzend aus dem Klassenzimmer. »Was wird jetzt werden?«, sagt hinter meinem Rücken Walter - unser deutscher Klassensprecher. »Und an alledem ist Neufeld schuld!«, meldet sich Nikolaj - einer der beiden Russen zu Wort. Plötzlich sprechen und schreien alle durcheinander: »Woran ist Neufeld schuld? Hat sie den Zeitungsartikel geschrieben? Oder hat sie vielleicht diese Versammlung veranstaltet?«, fragt Schütz. Sie streiten lange, bis sie zu dem Ergebnis kommen, ich solle einen Widerruf an die Zeitung schreiben. »Was soll ich widerrufen? Soll ich lügen? Was ich wirklich glaube, denke und fühle, scheint euch allen egal zu sein?!« Es folgt eine Reihe von Versammlungen und Unterhaltungen, zu denen ich entweder alleine oder zusammen mit den anderen drei Kolleginnen vorgeladen werde. Bald kommt als fünfte meine Schwester Martha aus einer anderen Gruppe hinzu. Alle Fragen werden hauptsächlich an mich gerichtet, weil man wohl der Zeitung Rechenschaft über meine »Umerziehung« schuldig zu sein glaubt. Dann gibt es eine allgemeine Komsomolversammlung, die vom Vorsitzenden ihres Vorstandes Walentin Wlassenko geführt wird. Er fragt mich: »An wen und wie glaubst du? Erkläre es uns ausführlich: Wenn du uns überzeugst, bekehren wir uns alle!« Im Saal wird gelacht – die Komsomolzen erwarten ein lustiges Schauspiel. »Überzeugen darf ich euch nicht, sonst beschuldigen Sie mich der religiösen Propaganda. Trotzdem will ich versuchen, es euch zu
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erklären: Ich glaube an Jesus, den gekreuzigten Sohn Gottes, und ich glaube an Gott als die höhere Gerechtigkeit mit den höchsten Prinzipien!« Es ist sehr still geworden, als hielte die Menge im Saal den Atem an. »Sie wollen wissen, wie ich glaube? Nicht so, wie Sie sich das vorstellen: Mein Gott hängt nicht an der Wand, ich habe ihn im Herzen. Ich glaube, wie Leo Tolstoj, als er die orthodoxe Kirche verließ. Wie Albert Einstein und Max Planck, als sie sich mit der Relativitätstheorie befassten.« Applaus, Lachen, Trampeln und Schreien unterbrechen mich. »Sag doch gleich: Wie Karl Marx!« »Lass die Gelehrten aus dem Spiel. Die hatten mit den Pfaffen nichts am Hut!« »Tolstoj war Atheist! Ihn hat man verteufelt – predali anafeme.« »Tolstoj wurde aus der Kirche ausgestoßen!« Wlassenko schafft Ruhe. Ich spreche weiter: »Man muss nichts mit Pfaffen zu tun haben, um an Gott zu glauben. Wisst ihr nicht, dass Einstein auf die Frage eines Journalisten nach seinem Glauben geantwortet haben soll ›Ich glaube an den Gott von Spinoza‹? Seht mal nach, an wen und wie Spinoza glaubte. Er war keineswegs Atheist! Und was Tolstoj betrifft: Ja die Kirche hat hat ihn verstoßen, weil er anders glaubte, als die orthodoxe Kirche es lehrt. Die Großen dieser Welt lehnen eben die eine oder andere Form des Glaubens ab, nicht aber den Glauben selbst. Leo Leo Tolstoj wurde nicht Atheist, sondern Protestant.« Wieder werde ich ausgepfiffen: »Das ist dein Wunschdenken! Das hättest du wohl gern?!« »Du hoffst, dich in gute Gesellschaft zu bringen!« »Was ist mit Karl Marx, Engels, Lenin? Sind sie keine Vorbilder für dich?« »Religion ist Opium fürs Volk! Nie davon gehört?« »Doch, das behauptet Karl Marx«, sage ich. »Stellst du etwa seine Aussage in Frage?« »Willst wohl gescheiter sein als unsere Klassiker?!«
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»Die Aussage von Marx kann ich weder bestätigen noch in Frage stellen. Was die Klassiker betrifft, so kamen sie alle aus protestantischen Familien – genau wie ich.« Ohrenbetäubender Lärm. »Ist doch glatt gelogen!« »Woher willst du das wissen?!« »Und so etwas Rückständiges will Lehrerin werden?!« »Und das soll eine Absolventin sein?!« »Dir darf man keine Kinder anvertrauen!« »Im Komsomol ist sie auch noch!« Ich ergreife wieder das Wort: »Woher ich das weiß? Ja, lest ihr denn die Klassiker nicht? Ihre gesammelten Werke sind in unserer Bibliothek für jeden zu haben! Schlagt doch mal ihre Biografien auf! Der 17-jährige Wladimir Uljanow hat sich selbst als evangelisch bezeichnet, als er sich um einen Studienplatz an der Uni bewarb. Das ist im Band 30 der Leninwerke nachzulesen – da ist ein von ihm eigenhändig ausgefülltes Formular abgebildet. Friedrich Engels soll sich sogar noch mit 28 zum evangelischen Glauben bekannt haben. Und Karl Marx wurde im Alter von 6 Jahren evangelisch getauft; als er 19 war – so wie ich jetzt – schrieb er eine Abschlussarbeit über die Vereinigung der Gläubigen mit Christus; mit 25 hat er dann evangelisch kirchlich Jenny von Westphalen geheiratet. Das sind biografische Daten, die keiner leugnen kann. ›Religion ist Opium fürs Volk‹ soll Marx später gesagt haben, als er Atheist geworden war oder sich vielleicht einer okkulten Sekte angeschlossen hatte. Lesen Sie den Briefwechsel mit seinem Vater ...« Meine letzten Worte gehen im Lärm unter. »Das sind Verleumdungen sozialistischer Klassiker!« »Du nennst Marx einen Sektierer?! Unerhört!« »Weg mit der aus unserer Lehranstalt!« »Hinter Gitter gehörst du – zum Nachdenken!« »An der Wand müsste man dich verreiben – rasmasat po stenke!« »Die ganze Sekte ausheben, wie ein Wespennest!« Wlassenko bemüht sich, die Situation in den Griff zu bekommen.
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»Was du da faselst!«, sagt er. »Das ist gegen die sozialistische Denkweise! Wieso bist du überhaupt im Komsomol?« »Weil Sie so hartnäckig darauf bestanden haben.« »Ha! Wurdest du etwa gezwungen?« »Nein, aber unter Druck gesetzt.« »Wieso hast du deine Ansichten so lange verschwiegen? Du hast deinen Gott verleugnet – dafür wird er dich bestrafen!« »Verleugnet habe ich ihn nicht! – Dazu gab es bis heute keinen Anlass. Außerdem ist er nicht kleinlich. Bei ihm heißt es: ›Prüfe alles und das Gute behalte‹! Wie hätte ich über den Komsomol urteilen können, wäre ich ihm nicht beigetreten? Die Beziehung des Menschen zu Gott hat nur etwas mit seinem Gewissen zu tun. Und das muss nicht zur Schau gestellt werden, denn es ist Privatsache.« »So? Meinst du? Aber deine Zugehörigkeit zum Komsomol ist nicht nur deine Privatsache! Du hast wohl unsere Satzung nicht gelesen, bevor du dem Verein beigetreten bist?! Eine Gläubige können wir im Komsomol nicht haben!« »Die Komsomolsatzung habe ich sehr genau studiert – da ist kein Wort über die christliche Weltanschauung zu finden. Da heißt es nur, der Komsomolze müsse entschieden die religiösen Vorurteile bekämpfen. Mein Glaube hat mit Vorurteilen nichts zu tun, deshalb schließt er meine Zugehörigkeit zum Komsomol nicht aus. Wenn Sie aber das Gegenteil behaupten, so werde ich nochmal darüber nachdenken.« »Tu das! Ich will es dir dringend empfehlen! Schreib einen Widerruf an die Zeitung! Wenn du deine Ansichten nicht änderst ...« »Meine Ansichten sind kein Kleidungsstück ...« »Nun, dann werfen wir dich aus dem Komsomol und auch aus der Lehranstalt!« »Wieso aus der Lehranstalt?! Dürfen Sie das? Was ist mit Gewissensfreiheit?« »Gewissensfreiheit willst du?! Aber die haben wir doch! Ja, bei uns herrscht Gewissensfreiheit. Und trotzdem werden wir einen Weg finden, dich aus der LBA zu werfen. Du glaubst doch nicht im Ernst,
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wir würden dir die Kindererziehung anvertrauen?! Also, denk mal nach, was du weiter machen wirst, solange du noch Zeit hast.« »Ich werde mich an das Bildungsministerium in Almaty wenden.« »Spar dir die Mühe – wir handeln im Auftrag des Ministeriums!« Dann meldet sich unsere Pädagogiklehrerin, die kleine stupsnasige Walentina Nikiforowna - eine junge Russin und Komsomolzin, zu Wort: »Was, Komsomolzen, habt ihr unseren Sektierern entgegenzusetzen? Ihr könnt sie bedrohen, wie Genosse Wlassenko soeben, ohne dabei selbst etwas zu riskieren. Aber überzeugen könnt ihr sie nicht. Ihr stellt ihnen Fragen, um sie auszulachen, und sie argumentieren so ernsthaft, dass es nichts zum Lachen gibt. Die Schwestern Neufeld ernähren mit ihren winzigen Stipendien ihren kranken Bruder und die Mutter. Sie haben ein kleines Zimmerchen gemietet und ihr einziger Reichtum sind Bücher. Ich finde unsere Sektierer sehr sympathisch! Es ist ein Vergnügen, mit ihnen zu debattieren! Sie führen mit uns eine ehrliche Diskussion. Sie könnten uns ja einfach auf die Heilige Schrift verweisen, und wir wären erledigt. Stattdessen geben sie uns eine Chance und beziehen sich auf Tolstoj und Einstein. Und wenn sie Marx und Lenin zitieren, so wissen sie sogar Bände und Seiten zu nennen! Wer von den Anwesenden kann schon Kapitel und Seiten der Klassikerwerke angeben, von der Bibel ganz zu schweigen?« Sie wird unterbrochen: Pfeifen, Trampeln, Klatschen, Schreien. »Ne obutscheny! – Wir sind nicht unterrichtet! Die Bibel steht nicht im Programm!« »Wo sollten wir die Bibel erlernen? In der Sekte etwa?!« Die Lehrerin spricht weiter: »Wie wollt ihr die Gläubigen vom Atheismus überzeugen, wenn ihr nichts über die Religion wisst? Ich möchte in euch, Komsomolzen, die Wissbegierde sehen, die in unseren Sektierern steckt! Ich will damit sagen: Seine Überzeugungen muss man erleiden, nur dann kann man sie auch verteidigen! In dieser Hinsicht sind unsere Gläubigen beispielhaft ...«
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Das Licht fällt aus, im Saal krachen Stühle und es wird geflucht. Die Versammlung ist beendet. Auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, es verschiebe sich etwas in meinem Genick, mir wird schwarz vor Augen und meine Beine werden schlaff. Ich halte mich am Zaun fest und sinke zu Boden. Am nächsten Tag wird die »Umerziehung« fortgesetzt: Eine Lehrergruppe befasst sich mit uns. Scheinbar müssen sie alle zu diesem Thema Stellung nehmen und sich mit diesem »Fall« beschäftigen. Eine Lehrerin, die Russin und Kommunistin Swetlana Wassiljewna, gibt sich besonders energisch: »Sie sind fast vier Jahre hier in der Ausbildung. Sie haben Pflichten gegenüber dem Staat und der Gesellschaft, die dringend Lehrer in dieser entlegenen Gegend brauchen! Ihre Ausbildung hat sehr viel gekostet. Sie sind es dem Vaterland schuldig: Schreiben Sie einen Widerruf an die Zeitung, sonst bekommen Sie das Diplom nicht ...« »Moment mal!«, falle ich ihr ins Wort. »Vaterland? Das müssen Sie mir näher erklären. Meinen Sie damit das Land, dessen Regierung meinen Vater ohne Gerichtsverfahren verschwinden ließ und mich zur ›Tochter des Volksfeindes‹ machte? Und diese ›entlegene Gegend‹, wie Sie es so elegant umschreiben, ist unser Verbannungsgebiet – vergessen Sie das bitte nicht! Vor einem Jahr wurde zwar die Kommandantur aufgehoben, aber wir dürfen nicht in unsere Geburtsorte zurückkehren. Warum denn? Nur weil wir hier dringend gebraucht werden?!« »Ach, das ist es also! Jetzt sprichst du schon über Politik!«, meint Swetlana Wassiljewna. »Ihr seid mit eurer Lage unzufrieden und nur aus Protest Sektierer geworden?! Ihr sucht ja nur Ausreden und wollt euch rechtfertigen!« »Sie zäumen das Pferd beim Schwanze auf: Sie reden über Politik, wenn Sie unsere Schulden beim Vaterland aufzählen. Wir sind keine Verbrecher und müssen uns nicht rechtfertigen! Der Glaube und die Religion sind einfach wichtig für unser Überleben.« »Neufeld, bleiben wir bei der Religion! Verstricken Sie sich nicht auch noch in politische Fragen!«, mischt sich unser Literaturlehrer
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Rauf Chafisowitsch, ein Krimtatar und Verbannter wie wir, in das Gespräch ein. »Und Sie, Swetlana Wassiljewna, sollten vorsichtiger sein: Wir können den Willen anderer brechen, doch das ist nicht unsere Aufgabe. Wir wollen biegen, überzeugen aber nicht brechen.« »Keine Bange, bei so einer gibt es nichts zu brechen, denn im gesunden Körper ein gesunder Geist, wie es so schön im Sprichwort heißt« Plötzlich spüre ich einen glühenden Schmerz im Genick und werde ohnmächtig. Mit kaltem Wasser, das man mir ins Gesicht spritzt und zu trinken gibt, werde ich wieder zu mir gebracht. »Das mit dem gesunden Geist mag stimmen«, höre ich den Lehrer sagen, »doch vom gesunden Körper sieht man nicht viel!« »Ich bin sooo müde, bitte lassen Sie mich in Ruhe ...« Am darauf folgenden Morgen bleibe ich im Bett. Mutter hat die Asche hinausgetragen, Holz und Kohle hereingebracht und macht gerade Feuer, als die Tür aufgeht und eine Gruppe Jugendlicher sich in den engen Raum drängt. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, fragt Mutter überrascht. »Wir sind Komsomolzen aus der Lehrerbildungsanstalt.« »Meine Tochter ist krank!« Mutter stellt sich ihnen in den Weg. »Man wird sie wohl noch besuchen dürfen?!« Mutter wird von zwei Mädchen zur Seite geschoben. Es sind nicht Freunde aus meiner Gruppe, sondern vier Mädchen und zwei Burschen aus anderen Gruppen – allesamt Russen, die von meiner Klassenlehrerin Maria Nikolajewna begleitet werden. »Ich wollte eigentlich zu Ihnen«, wendet sich die Lehrerin an meine Mutter, während sich die Jugendlichen in unserem Zimmer umsehen. Drei der Mädchen heben die Tischdecke, setzen sich auf den Fußboden und räumen unser »Bücherregal« aus, das wir unter dem Tisch eingerichtet haben. Das vierte Mädchen nimmt die Bibel vom Fensterbrett und blättert darin. Die Burschen stehen vor dem Spruchkästchen mit der Aufschrift »Nimm und lies«, das an der Wand hängt.
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»Was ist denn das für ein komisches Buch? Das kann man ja gar nicht lesen!«, sagt das Mädchen mit der Heiligen Schrift in der Hand und kommt an mein Bett. »Ist das Jüdisch?« »Quatsch! Es ist die Bibel. Sie ist in gotischen Lettern gedruckt, deshalb kannst du sie nicht lesen.« »Ich dachte, ihr seid Deutsche?!« »Sind wir auch. Die Bibel ist deutsch. Es ist eine alte Ausgabe. Siehst du? Von Doktor Martin Luther übersetzt und im Jahre 1911 in Stuttgart gedruckt.« »Woher kennst du diese Schrift? Kannst du mir das vorlesen?« Sie hat Jesaja 53,4 u. 5 aufgeschlagen und ich lese: »Führwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen ... Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.« Ich übersetze und erkläre so gut ich kann. »Es ist doch jetzt Ostern. Wird das bei deinen Eltern nicht gefeiert?«, frage ich. »Doch, mit bunten Eiern und Osterkuchen. Aber was Ostern bedeutet, weiß ich nicht.« Ich zeige ihr das Bild »Jesus am Kreuz« und sage: »So habe man ihn am Karfreitag hingerichtet, und am Sonntag sei er dann auferstanden, steht in der Bibel geschrieben. Schau dir die farbigen Bilder an.« Dann stehen die zwei Burschen neben meinem Bett: »Du, hör mal, wer hat das geschrieben?« Sie haben Sprüche aus dem Spruchkästchen gezogen und reichen sie mir. »Das habe ich abgeschrieben. Es sind Sprüche für jeden Tag.« Ich lese: »Alle eure Sorgen werfet auf ihn«, »Siehe, ich bin bei euch alle Tage« und »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«. - Versteht ihr? Wenn ich in der Früh einen Spruch gezogen hab, dann denk ich am Tag darüber nach. Es stimmt doch – vom Brot allein kann man nicht leben. Und jetzt lasst mich bitte in Ruhe, ich bin sehr müde.« Die Mädchen haben alle Bücher vom Regal auf den Fußboden geworfen und wühlen darin herum.
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»Hier sind nur populärwissenschaftliche Ausgaben«, sagen sie zur Lehrerin, »weiter nichts«. »Sucht ihr was Bestimmtes?«, will Mutter wissen, bekommt aber keine Antwort. »Haben Sie jetzt endlich Zeit für mich?«, fragt Maria Nikolajewna barsch. »Wie lange soll ich noch warten?« »Ich habe Sie nicht eingeladen!«, gibt Mutter zurück. »Sie platzen hier einfach herein ... Und gefrühstückt haben wir auch noch nicht.« »Was soll das da bedeuten?«, zeigt die Lehrerin auf einen Spruch an der Wand. Mutter zuckt mit den Schultern: »Das spricht doch für sich – ›Gott ist die Liebe‹. Sie können sich alles anschauen, wir haben nichts zu verbergen.« »Sagen Sie Ihrer Tochter, sie soll einen Widerruf an die Zeitung schreiben, sonst hat sie keine Zukunft!« »Meine Tochter ist erwachsen. Ich mache ihr keine Vorschriften. Und die Zukunft liegt in Gottes Hand.« »Sie sollten sich schämen! Mit diesem Unsinn haben Sie Ihre Kinder ins Unglück gestürzt! Sie alleine haben schuld daran! Was wollen Sie damit erreichen?« Mutter ist blass und zittert: »Ich habe meine Kinder gelehrt, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden – weiter nichts.« Ich stehe auf und gehe dazwischen: »Lassen Sie meine Mutter in Ruhe! Und gehen Sie. Bitte, gehen Sie!« Ohnmächtig sinke ich nieder. Um die Mittagszeit kommt meine Schwester nach Hause. Sie ist nicht im Unterricht gewesen, sondern war auf Arbeitsuche gegangen. Mit Erfolg: Morgen darf sie in der Nähfabrik anfangen. Mutter begleitet mich in die Poliklinik, wo ich der Ärztin meine Beschwerden schildere: Schwindel- und Ohnmachtsanfälle. Ich bekomme von ihr eine Aufbauspritze und werde zum Neurologen weitergeschickt. Der Neurologe tastet meine Gesichtsknochen ab, klopft mit
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einem Hämmerchen auf das Knie und schreibt etwas in seine Kartei. »Was ist los mit Ihnen? Können Sie nicht schlafen?« »Doch, ich schlafe schon. Aber nach dem Schlafen bin ich immer noch müde, weil ich die ganze Nacht hindurch Streitgespräche führe.« »O je. In solchem Zustand ist ein Mensch nach langer Überforderung. Aber welche Belastungen hat denn so ein junges Mädchen wie Sie? Sind Sie verheiratet?« »Nein. Mein Name ist Neufeld. Sagt Ihnen das nichts?« »Neufeld? Ich habe einen Patienten namens Boris Neufeld. Ist der mit Ihnen verwandt?« »Boris ist mein Bruder. Er mag es nicht, wenn man ihn Boris nennt. Er heißt Bernhard und hat mit meiner Gesundheit nichts zu tun. Ich bin Schülerin der LBA!« »So, so ... Neufeld aus der pädagogischen Lehranstalt. Ich hab da was gehört. O la la!« Plötzlich lacht er: »Dann sind Sie es, die unsere Obrigkeit in Atem hält?! Sagen Sie, wie ist es Ihnen gelungen, so viel Aufsehen zu erregen? Sie sehen so vernünftig aus, und dabei machen Sie so viel Lärm.« »Den Lärm mach ja nicht ich, sondern andere um mich herum«, sage ich erleichtert. Dieser Arzt hat einen polnischen Namen. Ob er wohl auch ein Verbannter ist? Ich weiß es nicht. »Erzählen Sie, wie war das?«, fragt er neugierig. »Man hat Sie ›erzogen‹? Wie? Bei Versammlungen? Was? 20 Mal in anderthalb Monaten? Wahnsinn! Das geht an Ihre Substanz! Machen wir Schluss damit: Sie sind für das Heil dieser Hohlköpfe nicht zuständig!«, fügt er mit sarkastischem Lächeln hinzu. Am nächsten Tag bekomme ich von einer ärztlichen Kommission eine Bescheinigung, die mich zu einem Jahr akademischen Urlaubs berechtigt. Als ich in die LBA komme, um diesen Urlaub zu beantragen, bittet mich die pädagogische Direktorin, einen Abend mit ihren Kindern zu verbringen. Sie müsse zur Lehrerberatung und die Kleinen könne man nicht alleine lassen.
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Ich finde das unerhört! Einerseits habe ich Berufsverbot und andererseits soll ich ... Ist das vielleicht ein Bekenntnis? Was will sie mir damit sagen? Ist sie privat anderer Meinung? Ich verbringe mit den Kindern einen lustigen Abend. In den nächsten Tagen packe ich meinen Koffer, trage die Lehrbücher in die Bibliothek und treffe da unseren Gesangslehrer, den alten »verdienten Dirigenten der Ukraine«, der nach Kasachstan verbannt wurde. »Ich freue mich für dich, dass du aus dem Schlamassel sauber herausgekommen bist«, wendet er sich im leeren Lesesaal an mich. »Sei nicht traurig! Auch wenn du das Diplom bekommen hättest – arbeiten hätte man dich doch nicht lassen. Hast du das ganze Theater auch richtig verstanden? Das war doch alles von langer Hand geplant: Zuerst schnüffeln sie den Leuten hinterher, um sie dann aufeinander zu hetzen. Pratt hat sich nicht gewehrt. Er hat den Zeitungsartikel unterschrieben, den andere verfasst haben. Aber du hast ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Du hast den Kriechern und Zuträgern eine Lehre erteilt. Alle Achtung!« Noch am selben Tag steige ich in den Zug und fahre zu meiner verheirateten Schwester in den Kolchos. Auf dem Bahnsteig steht fast unsere ganze Gruppe und winkt mir nach.
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Der Alltag
Mai 1957. Ich fahre zu meiner Schwester in den Kolchos. Es ist ein kleines Dorf, das »eingeklemmt« zwischen Wald und Flussufer liegt. Meine Schwester hat ihr erstes Kind geboren und befindet sich im Kreiskrankenhaus. Mein Schwager arbeitet im Kolchos als Viehhirte. Er ist Tag und Nacht mit der Herde auf der Weide und taucht nur selten auf, um sich Lebensmittel zu holen. Hier erlebe ich täglich eine richtige »Morgensymphonie auf dem Bauernhof« und es gibt eine Menge für mich zu tun. Der Hahn kräht und verkündet den Anbruch des Tages. Es ist 5 Uhr. Ich laufe mit dem Eimer durch den Hof, denn es ist Zeit, die Kuh zu melken und zur Herde zu bringen, die schon die breite Dorfstraße entlang getrottet kommt. Es ist frisch und Tautropfen funkeln im Gras. Alle Bewohner des Bauernhofes sind erwacht und wollen bedient werden: Das Kalb muht, das Schwein grunzt, die Ferkel quieken – sie alle bekommen ihr Frühstück und es wird ruhiger. Nur aus dem Hühnerstall tönt noch ein vielstimmiger Chor. Die Enten und Gänse schnattern, die Hühner fliegen mit lautem Geschrei von der Stange, der Hahn stolziert umher und ruft sie zusammen. Jeder erhält sein Futter und ich gieße frisches Wasser in den Holztrog. Das Kalb bringe ich auf die Weide hinter den Garten. Dort binde ich es mit einer langen Leine an einen Zaunpfosten, damit es grasen kann. Die Gänse marschieren jetzt langsam hinunter zum Fluss. Die Sonne ist aufgegangen und die Tautropfen verschwinden. Im Hof ist es still geworden. Ich höre die Schwalben unter dem Dach zwitschern und die Bienen im blühenden Akazienbusch summen. Die Katze schnurrt an meinen Beinen, miaut und erinnert mich daran, dass es Zeit ist zu frühstücken. Ich gehe mit ihr in die Küche, gebe ihr zu fressen und sie lässt es sich schmecken. Es gibt zwar keinen Arzt im Dorf, aber eine Feldscherin. Es ist eine ältere Dame, die ich täglich nach dem Frühstück mit dem Fahrrad
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aufsuche. Ich habe 30 Ampullen »Duplex« mitgebracht und die Frau verabreicht mir Spritzen. Am Abend erlebe ich wieder die »Symphonie auf dem Bauernhof«. Alles ist genau so, wie der Neurologe es verordnet hat: viel Bewegung und frische Luft, gutes Essen, keine Zeit für irgendwelche geistige Beschäftigung, kein Anlass zum Grübeln. Nur die vielen Briefe meiner Freunde und Verwandten unterbrechen mein eintöniges, gemütliches und »tierisch-pflanzliches« Dasein. Ich erfahre, die Inguschen und Tschetschenen hätten die Wiederherstellung ihrer Republik im Kaukasus erzwungen und würden jetzt alle abziehen. Daud Chasijew sei daraufhin vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Er sei in sein Heimatdorf bei Grosny gefahren und wurde dort sofort in den Armeedienst eingezogen. Weiter wird mir berichtet, meine Freundinnen hätten die Diplome auch nicht bekommen. Meine Schwester Siegrid, die ein Diplom mit Auszeichnung hat und schon ein Jahr Deutsch und Russisch in einer kasachischen Schule unterrichtete, sei in den Ferien ins Komsomolkomitee des Kreises gegangen und habe mit den Worten »Ich bin Neufeld« dem Sekretär ihren Komsomol-Mitgliedsausweis zurückgegeben. Sie sei daraufhin sofort aus ihrem Lehramt entlassen worden und arbeite jetzt als Krankenpflegerin. Später macht ihre Freundin Hilda Neufeld dasselbe und versetzt den Sekretär in Panik: »Was?«, schreit er. »Noch eine Schwester?! Das gibt’s doch nicht! Nimmt das denn kein Ende?! Wie viele seid ihr denn?« Darauf sie: »Ich bin eine Schwester im Glauben. Wir sind sehr viele.« Das ist das letzte Echo auf meine Auseinandersetzung mit dem Komsomol in der LBA. Die deutschen Jugendlichen helfen einander, eigene Häuser zu bauen. Auch meine Schwestern sind dabei. Das nötige Geld hat Mutter bei Verwandten geborgt. Abends nach der Arbeit fertigen die jungen Leute Ziegel aus Stroh und Lehm. An den Wochenenden werden dann die Bauarbeiten ausgeführt. Auf ein Gesuch von Mutter hat man uns Baugrund am Rande des alten Friedhofs zugewiesen. Es ist ein Grundstück von etwa 800 Quadratmetern.
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Kurz vor Weihnachten schreibt mir Mutter, mit Bernhard sei es sehr schwer, meine Schwestern seien am Ende ihrer Kräfte und ich solle sie ablösen. Ich fahre mit einem Gütertaxi 200 Kilometer nach Hause. Am Mittagstisch dreht Bernhard sein Gesicht zur Wand und sagt: »Verschwinde! Du hast hier nicht herumzustehen und mir in den Mund zu schauen!« Wen mag er da wohl sehen? Mit wem spricht er? Siegrid kichert: »Er sieht da vielleicht den Teufel!?« »Du hast nicht zu lachen!«, brüllt Bernhard plötzlich und packt sie beim Ohr. »Du gehörst überhaupt nicht zu unserer Familie! Da, dein Ohrläppchen beweist es – es ist ganz anders als bei uns allen ...« »Lass sie los!«, schreie ich. »Lass sie los!« Aber er kann ja nicht hören. Da kralle ich mich wie eine Katze an seinen Schultern fest und beiße ihn zwischen den Schulterblättern. Er lässt Siegrid los und schüttelt mich ab. »Meine kleinste Schwester?«, fragt er leise und reißt entsetzt die Augen auf. »Meine liebste Schwester ... hat mich gebissen?« Er lässt sich in einen selbstgemachten Sessel fallen, schlägt die Hände vor die Augen, weint und schluchzt. Solche hässlichen Szenen hat es bei uns seit Beginn der Krankheit meines Bruders nur selten gegeben. Er hört nicht, hat aber so scharfe Augen, dass wir uns in seiner Gegenwart kaum zu sprechen trauen. Die Atmosphäre ist gespannt. Am Heiligen Abend lassen wir ihn allein und gehen alle zum Gottesdienst. Aber dort wird mir übel – meine Krankheit kehrt zurück: Die Handflächen schwitzen, die Knie zittern und mir wird schwarz vor Augen. Mutter und ich verlassen den Gottesdienst. Sie begleitet mich nach Hause, wo wir Entsetzliches vorfinden: Bernhard hat die Dielen in der Küche aufgerissen, schaut in die Öffnung unter dem Fußboden und ruft: »Kommt heraus! Ihr seid eingeladen – hier ist es warm und Platz genug für alle.« Als er uns sieht, hält er den Finger an seine Lippen: »Pssst! Erschreckt sie nicht! Sie sollen kommen und bei uns Weihnachten feiern.«
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»Da ist doch niemand, Bernhard. Mach das Loch zu, sonst wird es kalt im Haus!«, sagt Mutter. Die Tatsache, dass wir am Rande eines alten Friedhofs wohnen, erregt seine kranke Phantasie. »Hört ihr denn nicht, wie sie stöhnen und mit den Zähnen klappern?«, fragt er. »Hört ihr nicht, wie ihre Knochen knacken, wenn man sie ihnen bricht? Sogar ich höre es, wo ich doch taub bin. Und ihr seid doch nicht taub?!« Mit großer Mühe gelingt es uns, ihn zu überreden, das Loch im Fußboden wieder zu schließen. Auf der Straße treffe ich zufällig meinen alten Lehrer, den antireligiösen Propagandisten. Er begrüßt mich freundlich und fragt: »Hör mal, wie sieht es denn jetzt bei dir mit der Religion aus?« Und ohne meine Antwort abzuwarten, beginnt er mit seinem Lieblingsthema. Meine Handflächen schwitzen, die Knie zittern, mir wird schwarz vor Augen ... Ich klammere mich an einen Zaun. »Es fehlte nur noch, dass ich jetzt umfalle«, denke ich und flehe ihn an: »Bitte, hören Sie auf damit. Ich kann es einfach nicht mehr hören. Entschuldigen Sie bitte.« An den religiösen und atheistischen Fragen bin ich fast zerbrochen. Ein Glück, dass meine Mutter nicht fanatisch ist. Sie beruhigt mich: »Es soll niemandem mehr auferlegt werden, als er tragen kann.« Ich entziehe mich weiterhin jedem Gespräch zu diesen Themen und besuche 20 Jahre lang keinen Gottesdienst, obwohl ich mich zum Glauben bekannt habe und getauft bin. Anfang Januar 1958 verlassen meine Schwestern ihre Arbeitsplätze und fahren aus Eska weg: Martha geht in die fast 500 Kilometer entfernte Stadt Rudnyj und übernimmt dort eine Tätigkeit als Schreibkraft in der Bergbauverwaltung; Siegrid fährt 300 Kilometer weit weg nach Putschkowo bei Omsk zu Verwandten von Vater. Ich stehe jetzt vor der Frage, wie ich weiterleben soll. Meine Schwestern haben uns zwar ein wenig Geld dagelassen, aber das reicht nicht für lange, denn Mutter und Bernhard bekommen immer noch keine Rente. Ich bin jetzt 20 Jahre alt und muss mich um die beiden kümmern.
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Ich suche Arbeit, was gar nicht einfach ist: Für schwere physische Arbeit bin ich zu schwach, als Lehrerin darf ich nicht arbeiten, und etwas Anderes habe ich nicht gelernt. Nach langem Suchen nehme ich eine Stelle als Sanitäterin in der medizinischen Versorgung des Förster-Technikums an. Die Feldscherin weist mich in meine Pflichten ein. Als Sanitäterin habe ich folgende Arbeiten zu verrichten: Zwei Öfen heizen, Fußböden schrubben und Staub wischen, Spritzen, Skalpelle und anderes medizinisches Kleingerät putzen und sterilisieren, Wäsche waschen und bügeln sowie während der Sprechstunden Verbände wechseln und Spritzen verabreichen. Zweimal im Monat werden der Kindergarten, das Wohnheim und die Kantine inspiziert. Das Technikum befindet sich in einer Ortschaft etwa fünf Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Mein Arbeitstag dauert von 7 bis 19 Uhr, mit einer Pause von vier Stunden. Um mit dem Bus rechtzeitig da zu sein, muss ich um halb sechs aufstehen. Die Feldscherin verlangt, dass ich ihr in der Pause im Haushalt helfe. Ich putze in ihrer Wohnung täglich die Fußböden, wische Staub, koche das Mittagessen, spüle ab, wasche und bügle ihre Wäsche. Sogar ihren vollen Nachttopf lässt sie mich hinaustragen. So verdiene ich mir das Mittagessen. Die Feldscherin ist eine Westukrainerin. Zu Tausenden wurden sie während und nach dem Krieg nach Kasachstan verschickt – wegen des »ukrainischen Nationalismus«. Sie ist groß, plump, fett und faul. Eines Morgens komme ich und sie ist nicht da. Ich erfahre, dass man sie zu einer Abtreibung ins Krankenhaus eingewiesen habe. Ihr Mann, ein schmächtiger Kaukasier, steht ratlos mit dem Melkeimer herum – die Kuh muss gemolken werden und er weiß nicht, wie er es angehen soll. Ich nehme ihm den Eimer aus der Hand, gehe in den Stall und melke die Kuh. Als die Feldscherin wieder zu Hause ist, jubelt sie: »Du kannst melken? Toll! Warum hast du das nicht gleich gesagt? Du kannst melken und ich Blöde plage mich damit ab ...« Von nun an gehört das Melken auch noch zu meinen Pflichten.
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Beim Mittagessen schaltet der Kaukasier gewöhnlich das Radio ein, um Nachrichten zu hören. Einmal wird über den erfolgreichen Aufbau des Sozialismus in der DDR berichtet, über das glückliche Leben der Werktätigen im ersten deutschen Arbeiterstaat gesprochen usw., und da platzt dem Kaukasier plötzlich der Kragen: »So blöde, wie ihr Deutschen seid, ist kein anderes Volk!«, sagt er und schaut mich mit vernichtendem Blick an. »Ihr habt eure Chancen vertan und auch andere Völker ins Unglück gezogen. Wir haben geglaubt, ihr würdet uns befreien. Aber ihr ... Wenn alle Völker der UdSSR vor den Russen knien, so liegt ihr Deutschen auf dem Bauch. Zuerst lehnt ihr euch gegen die ganze Welt auf und dann wagt ihr es nicht einmal, euren persönlichen Stolz, eure nationale Ehre zu verteidigen. Von den Russen werdet ihr totgeschwiegen und die DDR wagt es nicht, das Thema der Sowjetdeutschen zur Sprache zu bringen. Ihr verratet einander ja! Ihr ekelt mich an! Wo sind sie denn, der freie deutsche Geist und die deutsche Kultur? Warum duckst du deinen Kopf in den Teller? Antworte mir!« »Petrusek!«, höre ich plötzlich die forsche Stimme der Feldscherin. »Lass sie in Ruhe. Du siehst doch, dass sie blöde ist und nichts von ihrem Volk und seinem Geist weiß.« Die Bratkartoffeln bleiben mir im Halse stecken und es gelingt mir kaum, meine Tränen zu verbergen. Die Freude, mich weinen zu sehen, gönne ich ihnen nicht. Ich muss alles über mich ergehen lassen und darf mit ihnen nicht diskutieren oder mich gar verteidigen. Auf dem Heimweg weine ich hemmungslos, beschließe aber, mich auch weiterhin auf keine Provokation einzulassen, denn ich kann es nicht riskieren, diesen Arbeitsplatz zu verlieren. Ich verdiene zwar nicht viel, aber es reicht uns zum Leben, weil wir sehr genügsam und bescheiden sind. Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause komme, treffe ich bei meiner Mutter Besuch an: Eine Mennonitin sitzt tränenüberströmt neben meiner Mutter. Sie flüstern noch eine Weile, knien nieder und beten miteinander. Dann verabschiedet sich die Frau und geht. Sie ist alleinstehend, etwa 35 Jahre alt und arbeitet im Krankenhaus,
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das außerhalb der Stadt im Wald am See liegt. Die Frau hat sich bei meiner Mutter beklagt, ihr seien die Agenten der Geheimpolizei, des KGB, auf den Fersen und sie wisse sich nicht gegen sie zu wehren. Auf dem Weg zur oder von der Arbeit werde sie im Wald von ihnen abgefangen und über das Gemeindeleben ausgefragt. Sie wollten alles wissen: Wann, wo und wie oft die Gottesdienste stattfinden, wer die Laienprediger sind, worüber gesprochen wird, wer im Chor singt und wer ihn leitet, ob und von wem die Erziehungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren geführt wird, wer aus anderen Gemeinden wann zu Besuch war, ob und durch wen man christliche Literatur aus dem Ausland beziehe und dergleichen. Die Frau habe sich geweigert, die Fragen zu beantworten. Da habe man ihr angedroht, sie spurlos verschwinden zu lassen, und ihr gesagt, niemand werde es wagen, sich auch nur nach ihr zu erkundigen. »Und warum kommt sie mit diesem Kram ausgerechnet zu dir? Kannst du ihr etwa helfen?«, frage ich meine Mutter. »Vielleicht hat sie mich voriges Jahr verraten? Quält sie jetzt etwa ihr Gewissen? Oder wollte sie dich um Erlaubnis bitten, über dich als Chorleiterin zu berichten?« »Sei nicht so zornig. Sie hat es schwer. Wir müssen für sie beten, damit sie die Kraft hat, dem zu widerstehen«, sagt meine Mutter. Bald darauf kehrt Siegrid von den Verwandten zurück und beginnt im Möbelkombinat eine Lehre als Drechslerin. In dieser Zeit bekomme ich viele Briefe von meinen Freunden – von Mädchen und Jungen meines Alters, die mir ihre Probleme, ihre Freuden und Leiden mitteilen, mit denen auch ich offen bin und meinen Gedanken Luft mache. Jetzt, nach Aufhebung der Kommandantur, werden die deutschen Burschen in den Armeedienst eingezogen und kommen so aus Kasachstan in alle Teile der UdSSR. Einer von ihnen, Alexander Baljuk, dient drei Jahre lang im Ural und vor der Entlassung wird ihm angeboten, Berufssoldat zu werden. »Nur eine Frage wäre da noch«, sagt man ihm in der Personalabteilung. »Wieso steht in Ihren Papieren, sie seien Deutscher? Wir wissen,
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dass Ihr Vater ein ukrainischer Kommunist war. Sie können stolz auf ihn sein. Die Nationalität werden wir in Ihren Papieren ausbessern, wenn Sie einverstanden sind. Dann können Sie in der Armee bleiben und werden eine technische Ausbildung bekommen.« »Meine Nationalität lässt sich nicht ausbessern!«, antwortet er. »Ich habe als Deutscher gelitten und werde auch weiterhin Deutscher bleiben.« Er wird nicht Berufssoldat, sondern kehrt zu seiner Mutter in den Kolchos zurück. Er stammt aus einer Mischehe. Sein Vater, ein Schuster, ist im Jahr 1940 an Blutvergiftung gestorben. Seine Mutter ist Deutsche und hat ihren Mädchennamen behalten. Sie alle waren mit uns im Warthegau, wurden nach Kasachstan verschleppt und haben das Schicksal der Deutschen in der UdSSR voll zu kosten bekommen. Alexander Baljuk ist der Älteste von drei Geschwistern, musste mit 13 Jahren schon im Kolchos arbeiten und hat nur vier Klassen Grundschulbildung. Seine Antwort, er wolle Deutscher bleiben, hat keinen politischen oder ähnlichen Hintergrund. Sie hat für ihn nur den einen Sinn, seine Mutter nicht zu verletzen und zu verraten, nachdem sie ihn und seine Geschwister alleine großgezogen hat. Ein anderer Bursche, der die LBA beendet und sich bei unserer Auseinandersetzung mit dem Komsomol über Religionsfragen im Frühjahr 1957 zum Atheismus bekannt hat, muss später zum Armeedienst in die Ukraine. Er ist als Waise von seinen Geschwistern aufgezogen worden, da der Vater die Arbeitsarmee und die Mutter die hungrigen Kriegsjahre in der Verbannung nicht überlebt haben. Ihn, den Jüngsten, haben die Geschwister nicht ins Waisenhaus gegeben, damit er erfährt, wer er ist und wohin er gehört. Nur die deutsche Sprache konnten sie ihm nicht beibringen. In einem Brief schreibt er, dass sein Bruder, der ihm immer geholfen habe, ermordet und tot unter die Räder eines Lastautos geworfen worden sei. Es sei ein schwerer Verlust für die Familie: Für Frau und Kinder und auch für die Geschwister. Alle Spuren des Verbrechens führten zu den Neuland-Helden ... In einem anderen Brief berichtet er: »Gestern musste ich eine große Schande erleben. Stell dir vor: Ein Russe bewies mir, dass er besser Deutsch könne als ich. Er sagte,
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ich dürfe mich gar nicht als Deutscher bezeichnen, wenn ich die Sprache nicht beherrsche. Ich habe mir sofort ein deutsch-russisches Wörterbuch mit 70.000 Wörtern gekauft und bin jetzt dabei, Deutsch zu lernen.« Ein weiterer Bursche berichtet, man habe ihm in der Schule, an der er unterrichtet, sofort den Deutschunterricht auferlegen wollen, worüber er sich empört: »Wie soll ich Deutsch unterrichten, wenn ich selbst nie die Möglichkeit hatte, Deutsch zu lernen?« Darauf der Schuldirektor: »Was sind Sie denn für ein Deutscher, wenn Sie Ihre eigene Sprache nicht unterrichten können?« Er entschließt sich, ein Fernstudium zu beginnen, um Deutsch zu lernen. Ja, die Absicht der Auflösung der deutschen Volksminderheit hat man nach Stalins Tod durchaus nicht aufgegeben. Nur geht man jetzt subtiler an die Sache heran: An jedem Einzelnen wird gerüttelt, jeder Einzelne wird auf die Probe gestellt. Was durch Gewalt, Verschleppung und Kommandantur nicht gelang, wird jetzt mit Propagandamitteln versucht. Wenn wir bis dahin kein einheitliches Volk waren, so hat man uns jetzt dazu gemacht! Das gemeinsame grausame Schicksal hat uns zusammengeschweißt, wie wir selbst es nie geschafft hätten. Allerdings gibt es auch schwarze Schafe, die dem Geheimdienst als Zuträger dienen. Aber auch sie gehören zur »Familie« und sind Opfer des Systems. Meine Freundinnen, die auch ohne Diplome von der LBA abgegangen sind, haben ihren Weg gefunden: Eine ist Lehrling in einem Modesalon, die Andere lernt als Köchin, die Dritte als Buchhalterin. All diese Nachrichten machen mich unruhig und bringen mich in Bewegung: Jeder weiß mit seinem Leben etwas anzufangen, alle denken an die Zukunft. Nur ich sitze herum, schrubbe Fußböden, putze Staub und trage den Nachttopf hinaus ... Ich suche die »Abendschule der arbeitenden Jugend« auf und erkundige mich, ob ich hier die 10. Klasse absolvieren und das
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Reifezeugnis erwerben kann. Da ich nie in der 8. und 9. Klasse war und nur die Zeugnisse aus der Lehrerbildungsanstalt vorzuweisen habe, werde ich einer Aufnahmeprüfung in Mathematik, Russisch und Geschichte unterzogen. Dann wende ich mich an den Leiter der Abteilung für Gesundheitswesen und bitte ihn, mir eine andere Arbeitsstelle zuzuweisen, um den Unterricht am Abend besuchen zu können. Ich werde Kassiererin in der Stadtapotheke und das bringt mir folgende Vorteile: Zum einen brauche ich jetzt nicht mit dem Bus zu fahren, sondern kann meinen Arbeitsplatz zu Fuß in 15 Minuten erreichen; zum anderen habe ich jetzt einen geordneten Arbeitstag von 8 bis 17 Uhr und bin um 19 Uhr schon in der Schule; außerdem bin ich meine »Freunde«, die Feldscherin und ihren Kaukasier losgeworden und muß mir nicht mehr ihre Gemeinheiten anhören. Hurra, mein Leben kommt ins Rollen! Meine Zeit ist bis zur letzten Minute ausgefüllt, ich bin immer in Eile. Und das ist gut so: Ich spüre wieder den Puls des Lebens. Im Herbst müssen wir an den Wochenenden zur Kartoffel-, Karottenund Rübenernte. Ich bekomme sogar eine »Auszeichnung für die aktive Teilnahme am Einbringen der Neulandernte«, wie es in der Urkunde heißt. Im Winter laufe ich oft mit meinen neuen Kameraden aus der Abendschule im Wald Ski, erteile ihnen Nachhilfeunterricht in Deutsch, Literatur und Physik. Ich brauche dringend und bekomme auch Nachhilfe in Algebra, Trigonometrie und Chemie, was wir in der Lehrerbildungsanstalt nur gestreift haben. Ende April/Anfang Mai 1959. Es regnet ununterbrochen mehrere Tage und Nächte. Unser Haus hat kein Dach, weil Bauholz schwer aufzutreiben ist. Stattdessen ist da nur eine Schicht Kesselschlacke aufgeschüttet. Im Winter hat die Schlacke uns gut vor Frost geschützt, bei Regen ist aber alles undicht. Der Verputz fällt ab, überall bilden sich Pfützen. Es ist dreckig, der nasse Strohlehm fällt uns buchstäblich auf den Kopf. Mutter entfernt den Rest des Verputzes mit einem Spaten, fegt ihn zusammen und wirft ihn hinaus. Ein paar Wochen später, als sich die richtige Sommerhitze eingestellt hat und unsere Decke gut getrocknet ist, machen meine Schwester Siegrid
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und ich Strohlehm und verputzen die Decke aufs Neue. Ich arbeite in der Apotheke, lerne in der 10. Klasse der Abendschule und mit der Decke beschäftigen wir uns an einem Wochenende. Wir können es einfach nicht mehr sehen, wie unsere Mutter und der kranke Bruder in einem Zimmer hausen, das mehr einem Hühnerstall denn einem Wohnraum ähnelt. Ende Juni 1959 bekomme ich das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife mit sehr guten Noten und bin im Begriff, ein Studium anzutreten.
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2. Teil: Im Schmelztiegel der Wüste Die Kaderschmiede
Ende der 50er Jahre befindet sich die sowjetische Schulpolitik in einer Krise: Sie liefert dem Staat die nötigen qualifizierten Kräfte für den kommunistischen Aufbau, weckt aber gleichzeitig in den Jugendlichen Ansprüche, die nicht befriedigt werden können. Im Frühjahr 1959 tritt der Ministerpräsident der UdSSR, Nikita Chruschtschow, vor dem 13. Kongress des Komsomol auf und erklärt, dass von 1953 bis 1957 fast drei Millionen Schulabsolventen keinen Studienplatz an einer Hochschule oder einem Technikum bekommen hätten, obwohl sie sich darum beworben hatten. Chruschtschow spricht von der Notwendigkeit einer Reform des Bildungssystems, deren erste Maßnahmen dann auch nicht lange auf sich warten lassen. In jeder größeren Stadt Nordkasachstans werden neue Hochschulen gegründet: in Semipalatinsk ein medizinisches und ein pädagogisches Institut; in Ust-Kamenogorsk ein Institut für Bauwesen; in Pawlodar ein pädagogisches und ein industrielles Institut; in Kokschetau ein pädagogisches Institut; in Akmolinsk ein landwirtschaftliches, ein pädagogisches, ein medizinisches Institut und eines für Bauwesen; in Aktjubinsk ein pädagogisches und ein medizinisches Institut. Die Ausbildung an den Hochschulen soll in Zukunft weniger akademisch sein und dafür mehr den Anforderungen der Praxis entsprechen, heißt es. Es sollen überwiegend diejenigen immatrikuliert werden, die mindestens zwei Jahre praktische Arbeit aufzuweisen haben. So will man den Bedarf des Neulands an Fachkräften decken. Das ist günstig für mich, denn somit habe ich nicht umsonst Fußböden geschrubbt und an der Kasse gesessen. Natürlich wagen wir, d. h. drei meiner russischen Abendschulkameraden und ich, uns nicht an eine Universität heran. Wir nehmen
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schlicht und bescheiden an den Aufnahmeprüfungen im landwirtschaftlichen Institut in Akmolinks teil. Hier werden seit zwei Jahren landwirtschaftliche Fachkräfte ausgebildet. Zunächst sollen die Leute in nur drei Fachrichtungen geschult werden: Agronomie, Landwirtschaftstechnik und »Semleustrojstwo«. Letzteres ist eine relativ neue Berufsbezeichnung, die erstmalig im Jahre 1955 in einem Wörterbuch auftaucht (11). Im Deutschen gibt es keinen entsprechenden Terminus, mit dem der Inhalt des Begriffs »Semleustrojstwo« abgedeckt wäre. Semantisch gesehen gibt die Übersetzung »rationelle Bodennutzung« den Sinn des Begriffes am besten wieder. Vor Beginn der Aufnahmeprüfungen hält Professor Hendelman, Doktor der ökonomischen Wissenschaften, die Studienbewerber in einer Ansprache an, die Fachrichtung »Semleustrojstwo« zu wählen und erklärt, dass es dabei um ein System staatlicher Maßnahmen gehe, das die Organisation der maximalen, rationellen und effektiven Bodennutzung, die Schaffung der Bedingungen zur Steigerung der Ackerkultur und den Schutz der Ländereien umfasse. »Hier in der kasachischen Steppe sind in den letzten Jahren Hunderte von neuen Kolchosen und Sowchosen entstanden, in denen man die wissenschaftlichen Methoden der Bodennutzung einführen muss.« Vorläufig verstehe ich nichts von der »rationellen Bodennutzung«, entscheide mich aber für diese Ausbildung und stürze mich ins Ungewisse. »Hallo!«, klopft mich nach der ersten Prüfung jemand auf die Schulter. »Wie kommst du denn hierher?« Ich sehe einen jungen Mann vor mir stehen. »Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie?«, frage ich. »Ich bin der Sekretär des Komsomolkomitees aus Eska. Kennst du mich tatsächlich nicht?«, grinst er. »Nein. Ich kenne Sie nicht«, sage ich und lasse ihn stehen. Ich bin aufgeregt und kann die Ursache dafür meinen russischen Kameraden aus der Abendschule nicht erklären. »Was will dieses Stinktier von dir?«, wollen meine Kameraden wis-
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sen. »Wenn er dich nicht in Ruhe lässt, putzen wir ihm die Zähne!«, drohen sie. »Lasst euch nicht mit ihm ein!«, bitte ich. »Der kann gefährlich werden.« Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er sei, so behaupten meine Kameraden später, bei den Prüfungen durchgefallen. Seine Rolle mir gegenüber hat er wahrscheinlich ausgespielt, aber darüber denke ich jetzt nicht nach. Als ich zu Hause meinen Koffer packte, um zu den Prüfungen zu fahren, kam eine Mennonitin zu mir und bat mich, ihrer Bekannten in Akmolinsk ein Heft, welches sie bei ihr ausgeliehen hatte, zu überbringen. Sie gab mir das in Zeitung verpackte Heft und einen Zettel mit der Adresse. Jetzt machen das russische Mädchen Galja und ich uns auf den Weg, um die Bekannte aufzusuchen und den Auftrag zu erfüllen. Die Frau ist sehr freundlich, lädt uns zum Tee ein, doch wir bedanken uns und gehen, denn wir müssen uns auf die nächste Prüfung vorbereiten. Zwei Tage später steht in unserem Zimmer auf dem Tisch eine Schüssel mit herrlich duftenden goldbraunen Piroggen. Die Mädchen berichten mir, es sei eine »Tante« dagewesen, hätte lange auf mich gewartet und wäre schließlich gegangen. Sie habe die Piroggen gebracht und versprochen, mich nochmal aufzusuchen. Ich lade die Mädchen ein zuzugreifen, was die sich nicht zweimal sagen lassen. Es schmeckt wirklich gut. Als die Frau wiederkommt, bedanke ich mich und überreiche ihr die leere Schüssel. Sie fordert mich auf, mit ihr hinauszugehen, weil sie mit mir etwas zu besprechen habe. Wir gehen um das Institutsgelände, biegen in eine schmale Straße ein und bleiben vor einer Gartenpforte stehen. Die Frau öffnet die Pforte und lässt mich eintreten. Wir gehen durch einen kleinen Vorgarten und kommen in ein mir unbekanntes Häuschen. Es ist ärmlich, aber hell und sauber. Im Zimmer sitzt ein sehr sympathisches buckliges Mädchen bei der Handarbeit. Sie begrüßt uns freundlich und bietet uns Tee an. Ich begreife immer noch nicht, weshalb ich hier bin. Da sagt meine Begleiterin:
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»Sieh mal da! Der Verputz ist nach dem Regen abgefallen.« Sie zeigt mit dem Finger auf die Decke, wo ungefähr zwei Quadratmeter Verputz weg und nur noch gelbe Flecken sind. »Lyli ist Invalide und kann die Decke nicht verputzen. Ihr Bruder und ihre Mutter arbeiten und haben daher keine Zeit dazu. Ich habe versprochen, jemanden zu finden, der diese Arbeit machen wird.« »Ich werde es Ihnen auch gut bezahlen!«, fällt Lyli ihr ins Wort. »Sie meinen, ich soll die Decke verputzen? Ich habe doch keine Zeit, ich stehe momentan in den Prüfungen ...«, antworte ich. »Ach die Prüfungen«, sagt die Frau und macht dabei eine verwerfliche Geste. »Ist ja Unsinn, was du da machst. Hier kannst du den Leuten in ihrer Not helfen – das ist eine gute Tat und der liebe Gott wird es dir vergelten.« Nach dem Tee verabschieden wir uns und draußen sagt die Frau kategorisch: »Morgen also kommst du, machst den Lehm und verputzt die Decke. Lyli wird es dir bezahlen.« »Nein, morgen werde ich mich auf meine letzte Prüfung vorbereiten. Und Sie können die gute Tat selbst vollbringen. Lyli ist nicht auf meine Hilfe angewiesen und ihr ist es sicher egal, wem sie das Geld für die Arbeit bezahlt.« Sie sieht mich empört an und schimpft: »Du willst im Luxus leben? Gott wird dich dafür bestrafen!« »Lernen heißt, im Luxus leben zu wollen? Für’s Lernen soll Gott mich bestrafen? Das sind ja mittelalterliche Ansichten.« Ich lasse mich auf keine Debatte mehr ein und gehe ins Wohnheim zurück. Warum können die Leute mich nicht in Ruhe lassen? Ich denke an meinen kranken Bruder. Wir haben unsere Decke auch selbst verputzt. Wir haben nicht auf fremde Hilfe gewartet und hatten auch kein Geld, um jemanden zu bezahlen. Wie kann denn da von Luxus die Rede sein? Ein Studium ist für mich die einzige Möglichkeit, um die große Welt und das wahre Leben kennen zu lernen. Ich will studieren und werde mich von nichts und niemandem davon abbringen lassen. Die Aufnahmeprüfungen bestehe ich ohne weitere Zwischenfälle
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und besondere Schwierigkeiten und finde meinen Namen in der ausgehängten Liste der Studenten des ersten Kurses. Als dem Vorsitzenden der Prüfungskommission die Frage gestellt wird, warum einige Studienbewerber mit schlechteren Noten immatrikuliert und andere mit besseren Noten abgewiesen worden seien, erklärt er: »An der Hochschule immatrikuliert zu werden oder nicht, hängt von mehreren Faktoren ab und nicht von den Noten allein. Erstens sollen mindestens 50 % aller Plätze an Leute vergeben werden, die mindestens zwei Jahre gearbeitet haben. Zweitens müssen wir auch die Nationalität berücksichtigen. Wir sind verpflichtet, nicht weniger als 30 % aller Studienplätze an Kasachen und nicht mehr als 6 % an Deutsche zu vergeben. Dann erst kommen die Noten zur ›Geltung‹.« Ich merke mir: »Da habe ich ja besonderes Glück gehabt, dass ich mit 19 von 20 möglichen Punkten nicht durchgefallen bin. Es hätte ja durchaus 6 % Deutsche geben können, die 20 von 20 Punkten erreichen.« Wie dem auch sei: Ich habe es geschafft, in die 6 % hineinzukommen. Zu dieser Zeit, nur drei Jahre nach Aufhebung der Meldepflicht bei der Kommandantur, wagen sich noch nicht viele Deutsche an die Hochschule. Oder haben sie etwa kein besonders großes Interesse an landwirtschaftlichen Berufen? Vielen fehlt auch der nötige Schulabschluss. Dem Institut in Akmolinsk hat man zwei Gebäude eines ehemaligen Bahntechnikums zugewiesen. Das ganze Gelände des Instituts, etwa acht bis zehn Hektar, ist vorläufig eine einzige große Baustelle. Da werden zwei neue Unterrichtsgebäude, drei fünfgeschossige Studentenheime, ein Wohnhaus für die Professoren, ein Kindergarten und eine Studentenkantine gebaut. Zwar ist keines der neuen Bauwerke vollendet, aber der Unterricht beginnt. Während wir Vorlesungen in höherer Mathematik und Geschichte der KPdSU hören, bewegt sich vor den Fenstern ein Turmdrehkran – über uns wird das nächste Stockwerk errichtet, obwohl es nach den geltenden Sicherheitsbestimmungen nicht erlaubt ist. Alle Studentengruppen
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werden nach einem bestimmten Zeitplan zu den Bauarbeiten geschickt, wo sie kostenlos alle unqualifizierten Arbeiten ausführen, wie zum Beispiel Gruben für die Fundamente der Bauten mit Spaten, Schaufeln, Brecheisen und Pickeln vertiefen, ebnen und säubern oder Ziegelsteine und Mörtel schleppen. Gelernt wird nebenbei. Ein Studentenheim hat man vorübergehend in ehemaligen Militärkasernen am anderen Ende der Stadt eingerichtet, wo die Studenten zu sechs bis acht Personen in einem Zimmer untergebracht sind. Die Unterrichtsräume können entweder mit dem Bus mit zweimal Umsteigen oder in einer Stunde zu Fuß erreicht werden. Bei erträglichem Wetter wird Zweites gewählt, denn die unregelmäßig fahrenden und ständig überfüllten Busse sind kein Vergnügen. Ja, vom leichten und luxuriösen Studentenleben ist hier keine Spur. Vielleicht herrscht mehr Luxus an den Universitäten der Hauptstädte der Unionsrepubliken, in der Studenten- und Gelehrtenstadt bei Nowosibirsk oder im Moskauer Institut für Internationale Beziehungen? Das wäre verständlich, denn sie sind für die Elite bestimmt und ausländischen Journalisten zugänglich. In den Instituten der Peripherie hingegen wird der Nachwuchs der Arbeiterintelligenz ausgebildet. Hier gibt es keinen Luxus, hier wird hart geschuftet. Wer aber aus solch erbärmlichen Verhältnissen wie ich kommt, weiß auch das Wenige zu schätzen, das hier geboten wird. Die Unterrichtsfächer können grob in drei Gruppen unterteilt werden. Zur ersten Gruppe zählen die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, denen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, nämlich Geschichte der KPdSU, politische Ökonomie, Ethik und Ästhetik, Grundlagen des wissenschaftlichen Kommunismus, dialektischer und historischer Materialismus sowie Geschichte des Grundeigentums. In der zweiten Gruppe finden sich die naturwissenschaftlichen Fächer wie höhere Mathematik, Physik – insbesondere Optik, Vermessungskunde, Luftbildgeodäsie und Kartographie. Die dritte Gruppe, die so genannte Fachtheorie, besteht aus den technischen Fächern: Mechanisierung und Elektrifizierung der
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Landwirtschaft, Melioration und Wasserversorgung, Organisation und Planung der Produktion in der Landwirtschaft, Bodeninventur und -nutzungserhebung. Der Unterricht in Gesellschaftswissenschaften wird nach dem Schema Vorlesungen/Seminare und in den anderen Fächern nach dem Schema Vorlesungen/praktischer Unterricht gestaltet. Er läuft nach einem einheitlichen Programm ab, welches zehn Semester in fünf Jahren vorsieht. Alle Fächer sind Pflicht. Wahlfächer gibt es nicht. Wir sollen zu disziplinierten, patriotischen, pflichtbewussten und fachkundigen Führungskräften der landwirtschaftlichen Produktion ausgebildet werden. Wir werden zu hohen Lernleistungen angespornt, denn ein Stipendium erhält nur, wer die zahlreichen Prüfungen am Ende eines jeden Semesters mit den Noten 3, 4 und 5, also befriedigend, gut und ausgezeichnet besteht. Wenn auch nur eine Prüfung wiederholt wird, egal mit welchem Erfolg, bekommt der Student kein Stipendium mehr. Wer mit dem Programm nicht zurechtkommt und nicht die erwünschten Leistungen erzielt, wird aus der Hochschule entfernt. Besonders viele fallen bei den Prüfungen nach den ersten zwei Semestern durch. Die frei gewordenen Plätze werden teilweise an Fern- und Abendstudenten vergeben, die entsprechend gute Noten vorzuweisen haben. Von den 94 Studenten, die mit mir 1960 im 2. Kurs sind, erhalten 1964 nur 52 ihr Diplom. Die Vorlesungen finden in großen Sälen statt, in denen jeweils ein ganzer Kurs von 100 bis 120 Personen Platz hat. Für die Seminare und den praktischen Unterricht sind wir in Gruppen zu je 30 und Untergruppen zu je 12 bis 15 Personen aufgeteilt. Es herrscht eine »Pauk-Atmosphäre«: In den Seminaren wird auswendig gelernt, was wir in den Vorlesungen gehört haben. Auf keinen Fall werden dort Gesellschaftsfragen zur Diskussion gestellt. Auch im praktischen Unterricht in den technischen Fächern gibt es keine Anregungen zum selbständigen, schöpferischen oder gar kritischen Denken. Die Ingenieure in der UdSSR sollen in der Regel nicht selbständig Entscheidungen treffen; sie sollen lediglich fähig sein, die Beschlüsse staatlicher Organe in bestimmten Bereichen umzusetzen.
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Die Hochschulreform, die von Chruschtschow durchgesetzt wird, macht den jungen Leuten das Leben nicht leicht. Einer meiner Kameraden aus der Abendschule hat die Aufnahmeprüfung nicht bestanden. Das russische Mädchen Galja, fällt bei den Prüfungen nach dem 1. Semester durch und fährt nach Hause. Der dritte meiner Kollegen, ein junger Mann, der Landwirtschaftstechnik studiert, verlässt das Institut ein halbes Jahr später freiwillig, nachdem er die Prüfungen des 1. Kursus zwar bestanden hat, aber kein Stipendium bekommt. Er begründet seinen Entschluss so: »Warum soll ich mich abrackern und abplagen? Hab ich es nötig? Ich habe einen Traktoristenschein und werde mir mein Brot in einem Sowchos als Traktorist verdienen.« Ähnlich geht es auch noch einer Kollegin aus unserer Abendschulklasse, die gleichzeitig mit uns in Ust-Kamenogorsk ein Studium am Institut für Bauwesen begonnen hat. Obwohl sie vor Studienbeginn zwei Jahre praktisch gearbeitet hat, muss sie die ersten zwei Jahre Abendstudentin sein und am Tage im Zementwerk arbeiten. Sie schreibt mir verzweifelte Briefe und klagt über ihre Schwierigkeiten: Acht Stunden am Tag müssten die Studenten die schwerste und dreckigste Arbeit im Betrieb machen. Manche Kollegen hätten es nicht nötig, hier Geld zu verdienen, weil ihre Familien über ein gutes Einkommen verfügten. Sie drückten sich vor der Arbeit, trieben sich im Betrieb herum, nur um zu zeigen, dass sie da sind. Sie aber, meine Freundin, sei auf diesen Verdienst, der auf alle Brigademitglieder aufgeteilt wird, angewiesen. So verdiene sie für einen vollen Arbeitstag im Monat nur knapp so viel wie ein Stipendium. Von 19 bis 23 Uhr hätten sie dann Unterricht und ihr bleibe keine Zeit, etwas zu lernen oder die praktischen Aufgaben zu lösen. Das Programm aber sei überladen, und bis zu den Prüfungen bliebe nicht mehr viel Zeit. Ob sie es schaffen werde, sei nicht sicher. Während des Wandels der Hochschulausbildung sind die Studenten in der UdSSR eine nahezu kostenlose Arbeiterarmee, die zu jeder
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Zeit die ihr zugewiesenen Arbeiten ausführt. Diese Experimente mit Hochschulbetrieb und gleichzeitiger Arbeit gehen sowohl auf Kosten der Gesundheit der Jugendlichen als auch auf Kosten der Ausbildung. Im Laufe der nächsten Jahre weicht dieses Chaos einem bestimmten Unterrichtssystem, das sich aus all diesen Experimenten ergibt. Als ich in den Jahren 1972 bis 1975 am industriellen Institut in Pawlodar arbeite, gibt es dort Vollzeit-, Abend- und Fernstudenten, die nach verschiedenen Programmen unterrichtet werden. Die Abend- und Fernstudenten sind verpflichtet, in den letzten drei Studienjahren bereits in ihrem zukünftigen Beruf zu arbeiten. Die Vollzeitstudenten haben ein Betriebspraktikum von insgesamt sechs Monaten abzuleisten und sie werden im Sommer in geordneten und spezialisierten Brigaden beschäftigt. Die Studenten der Baufakultät bauen in den Dörfern Schaf- und Schweineställe, Verwaltungs- und Wohngebäude, Kindergärten und Krankenhäuser. Die künftigen Ingenieure für Landwirtschaftstechnik werden in mechanisierten Brigaden der Landwirtschaft eingesetzt. Da den Studenten die Arbeit jetzt entsprechend bezahlt wird, sind sie auch motivierter.
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Im Konglomerat der Studenten
Die Studenten des 1. Kurses der Fakultät für rationelle Bodennutzung sind ein so buntes Gemenge, wie man es sonst nirgends findet. Sie unterscheiden sich in ihrem Alter, ihrer nationalen Zugehörigkeit und ihrem erlernten Beruf. Unter den etwa 100 Studenten sind nur 20 Mädchen. Zum einen sind hier frische Schulabsolventen, die knapp 17 Jahre alt sind, zum anderen Leute im Alter von 22 bis 28 Jahren, die den Armeedienst oder 2 bis 8 Arbeitsjahre hinter sich haben. Einige wenige Studenten sind verheiratet, die meisten aber sind ledig. Diejenigen, die bereits gearbeitet haben, kommen aus verschiedenen Wirtschaftszweigen der Republik – von den Kohlegruben Karaganda und dem Tagebau Ekibastus, den Kupferminen Balchasch, den Goldgruben Sholymbet, den Hüttenwerken Temir-Tau und aus der Landwirtschaft. Manche wurden wie ich vor drei Jahren von der Kommandantur befreit, andere sind vor ein paar Jahren als Neulandsiedler aus Zentralrussland und der Ukraine gekommen, weitere sind Einheimische. Die eben erst demobilisierten Soldaten haben ihren Dienst bei der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn, bei der Bewachung der Gefangenenlager in Workuta und Pawlodar, in Baubataillonen und in Pioniertruppen geleistet. Aber erst in nationaler Hinsicht bilden wir ein richtiges Konglomerat. Die Mehrheit, etwa 50 %, sind Slawen: Russen, Weißrussen und Ukrainer. An zweiter Stelle stehen mit 30 % die Asiaten, die durch Kasachen, Kirgisen, Turkmenen, Tadshiken und Usbeken vertreten sind. Die restlichen 20 % der Studenten setzen sich aus fünf Deutschen, vier Polen, drei Juden und ansonsten aus je einem oder zwei Inguschen, Griechen, Krimtataren, Bulgaren und Koreanern zusammen. Die Vorschrift, nicht weniger als 30 % aller Studienplätze an Kasachen zu vergeben, wird im Institut wohl eingehalten, aber nicht innerhalb
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jeder Fachrichtung. So sind an den Ingenieurfakultäten für landwirtschaftliche Technik und rationelle Bodennutzung die Kasachen mit etwa 22 bis 25 % vertreten, während es an der Agrarfakultät etwa 35 bis 40 % sind. Das erklärt sich damit, dass viele Kasachen die schwierigen Aufnahmeprüfungen in Mathematik und Physik an den Ingenieurfakultäten nicht bestehen. Die Ursachen dafür liegen im niedrigen Unterrichtsniveau in den Schulen der »Aule« – der kleinen Hirtendörfer, aus denen die Studienbewerber kommen. Lehrer mit Hochschulbildung gibt es dort selten. Gewöhnlich sind es Absolventen der 10. Klasse oder einer Lehrerbildungsanstalt, die alle Fächer von der 1. bis zur 10. Klasse unterrichten. Viele Kasachen haben Sprachschwierigkeiten, da sie nur ungenügend das Russische beherrschen, das aber mit wenigen Ausnahmen die Unterrichtssprache in allen Technikums und Instituten der Republik ist. In diesem Konglomerat fühle ich mich zunächst einsam und verlassen. Das erste Studienjahr beginnt am 1. September damit, dass wir alle für drei Wochen zur Heuernte in die umliegenden Wirtschaften müssen. Wir werden in einem Sowchos etwa 80 Kilometer südlich von Akmolinsk einer Brigade zugeteilt. Es sind elf Studenten, sieben Burschen und vier Mädchen, die in dieser Brigade bei der Heuernte helfen sollen. Auf einer grenzenlos scheinender Wiese steht ein kleiner aus Brettern gezimmerter Wohnwagen, in dem die Köchin die Lebensmittel einschließt. An der Außenwand des Wohnwagens hängen zwei primitive Waschbecken, die uns an die Notwendigkeit der Hygiene erinnern. Neben dem Wohnwagen sind ein langer Tisch und zwei Bänke eingegraben. Ein kleiner aus Ziegeln gemauerter Herd samt schwarzem gußeisernem Kochtopf steht auch da – so hat man an unsere Verpflegung gedacht! Nur: Weit und breit ist nichts von einer Unterkunft zu sehen. Der Brigadier führt uns zu einem Heuschober, fächert ein Stück Segeltuch zur Seite und siehe da: Vor unseren Augen öffnet sich
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ein Raum, besser gesagt, eine »Strohhöhle«. In der Mitte steht eine Stütze und oben ist ein Loch zur Belüftung. Als Beleuchtung gibt es eine Petroleumlaterne der Marke »Fledermaus«. In dieser Strohhütte sollen wir drei Wochen alle zusammen hausen. Was der Staat seinen jungen Bürgern so alles zumutet! Kaum auszudenken! Wir aber, die wir in diesem Staat geboren und aufgewachsen sind, die Atmosphäre dieses Systems von Geburt an eingeatmet haben, wundern und empören uns nicht. Wir sind optimistisch, fast glückselig gestimmt und machen uns jetzt über den Brigadier lustig: »Genial haben Sie diese Hütte aufgebaut.« »Gescheit sind Sie! Fast wie ein Neandertaler ...« »Gut getarnt haben Sie unsere Behausung: Kein Teufel findet uns hier im Falle eines Falles!« »An den Brandschutz haben Sie keinen Gedanken verloren!« Wir Mädchen haben praktische Bedenken und stellen schüchtern ein paar Fragen: »Und wo baden wir uns? Wo waschen wir die Wäsche? Gibt es hier auch ein WC?« »Ja, ihr seid gut! Von einem Wasserhahn träumt ihr wohl?«, macht sich seinerseits der Brigadier über uns lustig. »Fließendes Wasser habt ihr da im Fluss und als WC wird euch das Gestrüpp dienen.« Der Fluss ist 500 Meter entfernt und um ihn zu erreichen, muss man durch Gestrüpp und Brennesseln gehen. Außerdem ist es September – die Nächte sind kühl und das Wasser ist zu kalt, um darin zu baden. »Jetzt haben wir aber genug geplaudert. Ihr müsst euch an die Arbeit machen«, sagt der Brigadier und weist uns in unsere Pflichten ein. Wir sollen Heu schobern. Dabei haben wir zwei Traktoren mit Schleppvorrichtung zu bedienen, mit denen wir die im Umkreis von etwa 20 Kilometer verteilten Heuhocken zum Lagerplatz transportieren müssen. Der Brigadier fährt in den Aul zurück, in der »Küche« hantiert eine junge einheimische Kasachin. Die Traktoristen hupen schon ungeduldig. Unsere Sachen lassen wir in der Strohhütte zurück, und es geht an die Arbeit. Im Laufe der ersten Tage lernen wir uns etwas näher kennen.
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Von den Mädchen bin ich die Kleinste, mit fast 22 Jahren die Älteste und die einzige Deutsche. Die anderen drei Mädchen sind Russinnen. Wir sprechen einander mit unseren Vornamen an und die Burschen mit ihren Familiennamen. Galja kenne ich schon aus der Abendschule. Sie ist 20 Jahre alt und hat ebenfalls schon zwei Jahre lang gearbeitet. Ljuda – ein dickes sehr kurzsichtiges Pummelchen - kommt aus Sholymbet, wo ihr Vater als Grubeningenieur angestellt ist. Sie hat eben erst die 10. Klasse beendet und ist knapp 18 Jahre alt. Die Letzte, Walja, kommt aus Baschkirien. Sie ist fast 19, groß und breitschultrig, hat eine grobe Konstitution. Unter den Burschen sind zwei Russen, Wysotschin und Stepanov, ein Deutscher namens König, ein Krimtatar - Ajdaschew, ein Pole Paschkowskij und zwei Kasachen. Wysotschin ist mit etwa 23 Jahren der älteste von ihnen. Er hat in Ungarn gedient und auch zwei Jahre lang gearbeitet. Die anderen haben eben erst die 10. Klasse beendet. Ajdaschew ist der Jüngste – er ist erst 16. Sein Vater, Schuldirektor und Mathematiklehrer, hat ihn mit sechs Jahren eingeschult. Schobersetzer und Schoberschablone gibt es nicht. Heugabeln, die man jedem von uns in die Hand gedrückt hat, sind das einzige Werkzeug und Instrument, mit dem wir hantieren. Vier Burschen und ich bedienen einen Schlepper. Die Jungs packen jeweils zu zweit eine Heuhocke an und werfen sie auf die Schleppvorrichtung. Ich bin oben und muss das Heu auffangen und so verteilen, dass der Schober breit, hoch, fest und oben abgerundet ist. Am Anfang will es bei mir nicht klappen. Als mein erster Schober etwa 2,5 Meter hoch ist, fällt er auseinander und ich rutsche hinunter. Da kommt mir König, der in einem Kolchos aufgewachsen und in diesen Sachen sehr geschickt ist, zu Hilfe. »Zuerst musst du die Ecken hochziehen!«, belehrt er mich. »Und dann erst die Mitte ausfüllen.« Bald habe ich den Kniff raus und werde routiniert. Nur wenn die Jungs gleichzeitig von zwei Seiten Heu auf mich werfen, begraben sie mich darunter. Bei der Arbeit ist es heiß und staubig, aber auch lustig. Fünf bis acht Schober schaffen wir am Tag, je nach Entfernung. Die Schober
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werden dann zum Heulager transportiert und dort zu langen Diemen zusammengesetzt. Das Heulager ist ein offener Platz, etwa 1,5 Kilometer vom Fluss entfernt. Als Brandschutz umgibt diesen Platz ein drei Meter breiter, frisch umgepflügter Streifen. Am Abend sind wir zum Umfallen müde, müssen uns aber erst den Staub vom Körper waschen und zu Abend essen. Gleich beim ersten Abendbrot wird die Köchin von den Burschen beschimpft, weil sie dreckiges Besteck auf den Tisch gelegt hat. Am nächsten Tag schelten sie ihr erneut, weil einer von ihnen ein langes schwarzes Haar aus dem Borschtsch gefischt hat. Die Köchin wird ärgerlich, verlässt uns und geht in den fünf Kilometer entfernten Aul. »Kümmert euch doch selbst ums Essen, wenn ich es euch nicht recht machen kann!«, wirft sie uns zum Abschied noch zu. Daraufhin taucht der Brigadier auf: »Wenn einer von euch kochen muss, werdet ihr nicht so zimperlich sein. Ihr werdet sehen, dass es unter den gegebenen Umständen, unter freiem Himmel bei Wind und Regen, nicht optimal sauber sein kann ...« Unsere Walja übernimmt die Küche. Am Abend schmerzen alle Glieder und man spürt jeden Muskel. Da ziehen wir uns nach Sonnenuntergang in unsere steinzeitliche Behausung zurück, lassen uns aufs duftige Heu, über das Decken gelegt sind, fallen und sind froh, uns ausruhen zu können. Die »Fledermaus« zünden wir nicht an. Wer braucht hier schon Licht? Es geht bei uns ganz sittlich zu: Keine Mutterflüche und zotigen Witze sind zu hören. Vor dem Einschlafen plaudern wir noch über dies und das, jeder erzählt etwas aus seinem Leben. Manchmal schaltet Wysotschin sein kleines Radiogerät ein und wir hören Musik vom Majak-Sender, manchmal singen wir auch selbst. Später, als wir uns an die physische Arbeit gewöhnt haben und unsere Glieder nicht mehr so schmerzen, spielen wir nach dem Abendessen ab und zu Ball.
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Es ist still und dunkel, alle sind dabei einzuschlafen. Da macht Walja plötzlich einen höllischen Krach, sie kreischt wie am Spieß. Ich stoße sie mit dem Ellbogen an: »Was ist los? Hör doch auf, lass uns schlafen!« Sie kann sich aber nicht beruhigen: »Da ist etwas über meine Beine gelaufen! Eine Maus vielleicht oder eine Kröte ...« Jetzt winseln auch Galja und Ljuda – sie haben Angst vor Mäusen. Die Burschen lachen. Ich stehe auf, mache Licht und wir tasten unser Schlaflager ab: »Hier sind keine Mäuse, und Kröten schon gar nicht – für die ist es hier viel zu trocken. Die hocken im Gestrüpp am Ufer.« Die Mädchen beruhigen sich und ich lösche die »Fledermaus«. Eben will ich einschlafen, da fängt der Lärm wieder an. Jetzt schimpfe ich mit Walja herum: Ihr leichtsinniges Benehmen und ihr lautes, blödes Lachen gehen mir auf die Nerven. Da hören wir Wysotschins verschlafene Stimme: »Ajdaschew, wenn du nicht aufhörst, das Biest zu kitzeln, verhaue ich dich.« Alle lachen. Das ist es also – mit einer Rute hat er ihre Beine gekitzelt. Zwischen Ajdaschew und Walja ist nämlich als Trennwand nur eine Decke aufgehängt. Schließlich schlafen alle ein. Morgens müssen wir früh aufstehen. Es regnet einen ganzen Tag hindurch, und die Traktoristen mit ihren Schleppern lassen sich nicht sehen. Da bleiben auch wir in unserer Hütte. Ich spiele Schach mit Robert Ajdaschew und die anderen spielen Karten. Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben Karten und will wissen, was »das rote Herzchen und das schwarze Herz mit Stiel« bedeuten, womit ich den Burschen ein unvorstellbares Vergnügen bereite. Sie können es nicht fassen, wollen es mir nicht glauben, dass ein erwachsener Mensch nicht weiß, wie Karten aussehen. Sie machen sich begeistert daran, diese »Lücke in meiner Entwicklung« zu schließen, und erklären mir alle gleichzeitig, wie das bekannteste Kartenspiel »Duratschok« geht. Nachdem ich die
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Grundregeln begriffen habe, darf ich mitspielen, wobei die Burschen gnadenlos schummeln und vor Lachen fast vergehen. Nur der kleine Robert Ajdaschew zupft an mir herum: »Lass doch. Dieses Spiel ist uninteressant. Du versäumst nichts, wenn du nicht Karten spielen kannst. Komm, wir spielen Schach. Das ist spannend.« So hat uns der Regen unverhofft einen Ruhetag geschenkt. Nur unsere Walja muss sich um das Essen kümmern: In einem großen Aluminiumkessel bringt sie heißen Tee in die Hütte. Wir trinken ihn aus großen Aluminiumbechern und essen weißes, gut durchgebackenes Brot mit Butter dazu. - Auch das hat es in meinem Leben noch nicht oft gegeben. Am nächsten Morgen scheint die Sonne, die Heuhocken trocknen schnell und wir machen uns wieder an die Arbeit. Die Zeit vergeht und es bleiben nur noch drei Tage bis zum Ende unseres Einsatzes. Wir haben fast alles Heu eingebracht. Nur einige wenige Hocken, die am weitesten entfernt liegen, sind noch übrig. Als wir am Abend in unser Lager kommen, treffen wir unsere Walja nicht an. Komisch, wo kann sie sein? Vielleicht ist sie zum Fluss gegangen, um dort mit Sand das Geschirr zu scheuern? Wir waschen uns, ruhen uns aus. Sie kommt nicht. Ist sie etwa ins Dorf gegangen, um etwas für morgen zu besorgen? Wir haben Hunger, stellen einen Kessel mit Wasser auf und brühen uns Tee an. Als es dunkel wird und sie noch immer nicht kommt, nehmen Galja und ich die »Fledermaus« und gehen zum Wohnwagen. Er ist nicht abgeschlossen. Wir gehen hinein, um Butter, Brot und Zucker zu holen. Da finden wir hinter dem Zuckersack Waljas blaue Sporthose und karierte Bluse, die sie am Tag getragen hat. Die Sachen sind dreckig, zerrissen und ohne Knöpfe. Da muss etwas passiert sein! Sie kann nicht nur zum Laden gegangen sein ... Wir essen zu Abend und überlegen, was wir unternehmen können und wo wir sie suchen sollen. Uns wird klar, dass wir nachts nichts anfangen können und deshalb gehen wir schlafen. Bei Tagesanbruch hören wir einen Motor rattern. Für die Schlepper ist es noch zu früh. Es ist ein motorisierter Milizionär, begleitet von
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einem älteren Kasachen. Sie wollen wissen, ob hier nicht jemand mit einem grünen Motorrad Marke »Jawa« vorbeigekommen wäre. Es sei nämlich gestern in der Zentralsiedlung gestohlen worden. Wir berichten, dass wir niemanden gesehen hätten, bei uns aber sei ein Mädchen verschwunden. Der Milizonär notiert sich unsere Aussagen und meint, zwischen dem gestohlenen Motorrad und dem verschwundenen Mädchen könnte ein Zusammenhang bestehen. Es ist unser letzter Arbeitstag. Wir schaffen die letzten Heuhocken auf den Lagerplatz und kehren zu unserer Hütte zurück. Am späten Nachmittag kommt ein kleiner Bus, aus dem unser Brigadier und ein Lehrer aus dem Institut aussteigen. Von dem Lehrer erfahren wir, dass Walja vergewaltigt worden sei. Erst hätten die Motorraddiebe sie blau geschlagen und halb erwürgt. Sie sei in einem schlimmen Zustand in den Aul gekommen, von wo man sie zum Arzt in die Zentralsiedlung der Sowchose gebracht habe. Die Täter, vermutlich vagabundierende Neulandsiedler, würden von der Miliz gesucht. Der Brigadier will uns überreden, noch für ein paar Tage in eine andere Brigade zu fahren. Wir lehnen ab: Schon drei Wochen lang haben wir kein heißes Bad mehr genommen und keine Möglichkeit gehabt, uns wenigstens das Haar zu waschen. Wir steigen in den Bus und fahren nach Akmolinsk. Als wir auf dem Institutsgelände aussteigen, ist es Abend und ich stehe unschlüssig da. Die meisten, die ich bei der Heuernte kennengelernt habe, sind Einheimische und eilen nach Hause. Die anderen sind im Studentenheim untergebracht oder sie haben sich wie Galja schon früher eine Ecke in einem Privathaus gemietet. Ich möchte eigentlich ins Studentenheim, weiß aber nicht, ob es dort noch freie Plätze gibt und ob zu dieser späten Stunde jemand da sein wird, der mich einweisen und Bettsachen an mich ausgeben kann. Da kommt ein junger Mann auf mich zu und fragt: »Bist du Neufeld? Kommst du aus Balkaschino?« »Ja, ich bin Neufeld. In Balkaschino bin ich zur Schule gegangen, bin da aber schon lange nicht mehr gewesen«, antworte ich.
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»Dann habe ich mich nicht geirrt – du bist wirklich Neufeld. Dein Gesicht kam mir gleich so bekannt vor.« Er reicht mir die Hand und stellt sich vor: »Sergej Tschalych. Ich war mit deiner Schwester Martha in einer Klasse. Hier studiere ich schon im dritten Semester und bin Sekretär der Komsomolorganisation des Instituts. Hör mal, wenn du willst, bringe ich dich zu einer deutschen Lehrerin, bei der du dich einquartieren kannst. Ins Studentenheim kannst du später immer noch gehen, aber ich würde es dir nicht raten.« Er nimmt meinen Koffer und wir gehen durch die Straßen. Ich frage ihn, woher er diese Lehrerin kenne. Er sagt, er sei bei ihrer Schwester, die in unserem Institut Deutsch unterrichtet, einquartiert. Sie habe ihn gebeten, ihr eine Studentin als Mieterin zu vermitteln, damit ihr minderjähriger Sohn nicht so oft allein sein müsse, wenn sie auf Arbeit sei. So plaudernd kommen wir zu einem kleinen, niedrigen Häuschen ohne Dach und mit kleinen Fenstern. Er klopft an die Haustür. Die Lehrerin öffnet, lässt uns herein und stellt sich vor. Sie heißt Klara Jewgenjewna, ist freundlich, energisch und sympathisch, wenn auch nicht gerade eine Schönheit. Ihr 10-jähriger Sohn Viktor hüpft begeistert um mich herum und erzählt mir sofort alles über sein junges Leben: »Ich besuche die 3. Klasse. Da bin ich gut. Und in der Musikschule spiele ich Violine. Das mach ich nicht gern, es ist langweilig. Ich möchte lieber Fußball spielen. Violine spiele ich, weil Mama es so will ...« »Du spielst Violine? Toll! Ich werde meine Mandoline mitbringen, dann haben wir fast ein Orchester.« Sergej verabschiedet sich. Viktor macht seine Hausaufgaben. Klara Jewgenjewna stellt Tee auf und bereitet für mich ein Bad. Das Haus besteht aus zwei Räumen: Im Durchgangszimmer steht mein Bett und eine kleine Nachtkiste. Dieses Zimmer dient auch als Küche. Das zweite Zimmer ist das Schlaf- und Wohnzimmer meiner Wirtin. Dort stehen ein Sofa, auf dem Viktor schläft, ein Bett, ein
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Tisch mit vier Stühlen und – als einziger Reichtum – ein Schrank mit Büchern. Beim Baden sprüht mir Klara Jewgenjewna eine stinkende Flüssigkeit in die Haare – ich könnte ja Läuse mitgebracht haben, meint sie, was ich auch selbst vermute. Nach dem Abendessen schickt sie ihren Sohn ins Bett und wir sitzen noch lange in der Küche, schlürfen heißen Tee und unterhalten uns. Sie erzählt von sich. Auf der Krim sei sie geboren und da habe sie auch die 10. Klasse beendet, kurz bevor der Krieg ausbrach. »Du gehörst schon zu einer anderen Generation. Du bist jünger und dir wird es besser gehen. Die Kommandantur hat man abgeschafft, sogar studieren dürfen wir wieder. Aber in meinem Leben kann man kaum mehr etwas gutmachen. Die Jugend ist dahin, die kann man mir nicht zurückgeben. Ich war 17 Jahre jung, als wir in Viehwagen gestopft und abtransportiert wurden. Unter menschenunwürdigen Umständen ging das vor sich: überfüllte Wagen, keine Aborte, unregelmäßige Verpflegung. Man ließ uns keine Zeit, etwas einzupacken, und die Reise dauerte fast drei Wochen. Wir wurden in einen kleinen Aul gebracht, wo wir aufatmen konnten: Gut oder schlecht – den Transport hatten wir überstanden. Aber wir freuten uns zu früh. Mein Vater, mein Schwager und ich wurden bald darauf in die Trudarmee, das Heer der internierten Zwangsarbeiter, geholt. Da ging es fast noch brutaler zu als bei der Vertreibung von der Krim: Junge Mütter wurden weggeschleppt und die an ihren Röcken und Schürzen hängenden Kinder hat man mit Gewehrkolben und Stiefeln zurückgestoßen. Wer wird diese Schuld und die mit ihr verbundenen Leiden jemals ermessen und verstehen? Da war ich froh, dass ich keine Kinder hatte. Und meine Schwester durfte bei ihren Kindern und unserer kranken Mutter bleiben. 14 Jahre lang war ich im Lager bei Krasnoturinsk. Die ersten Jahre war ich beim Holzfällen, -ästen und -schwemmen. Bin fast umgekommen bei der schweren Arbeit und der knappen Essensration. Nur um zu überleben habe ich mich mit einem Berufssoldaten von der Lagerverwaltung eingelassen. Wir haben sozusagen geheiratet, aber es war keine richtige Ehe. Aufs
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Standesamt mit mir zu gehen, traute er sich nicht. Als ich schwanger war, wurde ich nicht mehr in den Wald geschickt, sondern durfte in der Lagerwäscherei arbeiten. Dort war es auch nicht leicht, aber ich bin jedenfalls am Leben geblieben. Dann kam 1955/56 die Amnestie. Fast alle überlebenden Deutschen wurden nach Mittelasien in die Verbannung »entlassen«, wenn sie Verwandte hatten. Da habe ich noch Glück gehabt: Meine Mutter war inzwischen gestorben, aber ich konnte Briefe von meiner Schwester vorzeigen. Mein Vater ist in der Trudarmee umgekommen. Das Lager wurde aufgelöst, die restlichen Häftlinge in andere Lager verlegt. Mein Mann wurde demobilisiert und begleitete mich hierher. Wir kauften dieses Häuschen, aber er blieb nur einen Monat hier, dann gab er vor, er wolle seine Mutter in der Ukraine besuchen, werde nach einem Monat zurück sein. Drei Jahre sind seitdem vergangen. Er schickte mir eine Postkarte, in der er schrieb, er wolle in der Ukraine bleiben, sehe aber keine Möglichkeit, mich und unseren Sohn auch dorthin kommen zu lassen. Ich möge ihm verzeihen. Ich habe mich damit abgefunden. Es war ja keine richtige Liebe. Was Liebe ist, habe ich nie erfahren. Meinen Sohn liebe ich wirklich, habe aber Schuldgefühle ihm gegenüber, weil ich zu wenig Zeit für ihn aufbringe und er daher sehr oft allein ist. Und dabei möchte ich ihn doch gut erziehen und ihm vieles ersparen, was uns nicht erspart blieb.« Im Fernstudium in Almaty versuche sie nun, das Diplom eines Deutschlehrers zu erwerben. Aber die Arbeit in der Schule, das Studium, der Haushalt und der Sohn ließen sich schwer unter einen Hut bringen. Entweder vernachlässige sie ihren Jungen oder komme mit dem Studium nicht klar. »Als Sergej mich fragte, ob ich nicht eine Studentin, ein deutsches Mädel, zu mir nehmen möchte, da habe ich mich gefreut und habe sofort zugesagt. Man fühlt sich ja so einsam ...« Wir sitzen fast die ganze Nacht beisammen und unterhalten uns. Alte Wunden brechen auf: Nichts ist vergessen oder verziehen, nichts ist wiedergutzumachen. Es bittet ja auch niemand um Verzeihung und niemand versucht, et-
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was rückgängig zu machen. Man bereut nichts, weil man der Reue nicht gewachsen ist. Bevor ich einschlafe, kommt mir da so ein Gedanke: »Sergej soll gefragt haben, ob er mich mitbringen darf? Nicht umgekehrt? Komisch ... etwas passt hier nicht zusammen. Wir trafen uns doch zufällig, als ich aus dem Bus ausstieg? Oder doch nicht?« Ich bin zu müde, um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, und schlafe ein.
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Doktoren und Professoren
Am nächsten Morgen komme ich fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn in den Hörsaal, wo lange schwarze Tische und braune Bänke in zwei Reihen aufgestellt sind, zwischen denen ein etwa zwei Meter breiter Gang verläuft. Alle Plätze sind besetzt, außer in der vordersten Reihe. Ich gehe nach vorne und nehme dort Platz. Neben mir setzen sich Ajdaschew und zwei Kasachen. Wer zu spät kommt, muss vorne sitzen, das ist ein ungeschriebenes Gesetz aller Studenten. Aber mir gefällt es hier zu sitzen, weil ich hier von niemandem abgelenkt oder gestört werde. Schon früher in der Lehrerbildungsanstalt hatte ich das Gefühl, eine Berufung zu haben: Ich dürfe mein Leben nicht einfach so verschwenden, sondern sei mit einem bestimmten Ziel geboren, hätte eine gewisse Rolle zu erfüllen. Welche Rolle, in wessen Auftrag – das war mir nicht klar. Jetzt mache ich mich mit großem Interesse ans Lernen. Ein zusätzlicher Antrieb hierzu ist für mich die Tatsache, dass der schwerhörige Robert Ajdaschew in allen Vorlesungen, im praktischen Unterricht und in den Seminaren neben mir sitzt, ständig in meine Notizen schaut, mich manchmal mit dem Ellbogen anstößt, fragend ansieht und meint: »Was hat er gesagt?« oder »Was soll das bedeuten?« Er ist fast fünf Jahre jünger als ich. Und ich kommandiere ihn herum und behandle ihn wie meinen jüngeren Bruder. Er ist humorvoll, gutmütig und lässt sich alles gefallen. Als der erste Schnee fällt, haben wir im Sportunterricht die erste Skistunde im Stadtpark. Der deutsche Sportlehrer treibt uns ununterbrochen im Kreis herum. Am Ende des Unterrichts fragt er mich, woher ich käme, wo und wann ich das Skilaufen gelernt hätte. Er schreibt mich für die Skimannschaft des Instituts ein und fordert mich auf, zweimal in der Woche zum Training zu kommen. Ich bekomme Skier, Schuhe und einen Trainingsanzug ausgehändigt und
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gehöre nun zur Skimannschaft, die die Sportehre des Instituts zu verteidigen hat. Wir haben gute Professoren, die nicht verbannt, sondern aus freien Stücken aus russischen Großstädten nach Kasachstan gekommen sind. Ich habe bis dahin noch keinen Kandidaten der Wissenschaft, keinen Doktor oder Professor gesehen. Diese hier haben in richtigen Universitäten studiert und Dissertationen geschrieben. Es wird gesagt, an der landwirtschaftlichen Akademie in Odessa habe man die Fakultät für Flurbereinigung und Kataster geschlossen und den Professoren vorgeschlagen, nach Akmolinsk zu gehen und hier die Fakultät für rationelle Bodennutzung zu gründen. Deshalb kommt Professor Hendelman, Doktor der ökonomischen Wissenschaften, aus Odessa. Er ist Jude. Mit ihm ist eine Reihe seiner jüngeren Kollegen, sämtlich Kandidaten der landwirtschaftlichen oder ökonomischen Wissenschaften, gekommen: Spektor, Tschornyj und Schojchet, die ebenfalls Juden sind, Schewtschenko und Pastuschenko, beide Ukrainer, sowie die Russen Sorin und Lavrentjew. Aus dem Moskauer Institut für rationelle Bodennutzung kommt unser Dekan, Katharina Dmitriewna Tichomirowa, eine Russin und Kandidat der ökonomischen Wissenschaften. Kurz gesagt: »Von der Dorfgemeinschaft einen Faden, dem Nackten ein Hemd«, wie ein russisches Sprichwort lautet. Dann gibt es da noch einen Kandidaten der technischen Wissenschaften, eine russische Dame namens Plotnikowa, die uns in Geodäsie unterrichtet, und einen Kandidaten der Geschichtswiss enschaften, den Juden Portnoj, der sich der Geschichte der KPdSU verschrieben hat. Aus welchen Städten diese zwei kommen, welche Institute uns diesen »Zimmermann« und diesen »Schneider«, was ihre Namen ins Deutsche übersetzt bedeuten, gespendet haben, weiß ich nicht. Von allen unseren Lehrern kann ich nur Portnoj nicht leiden – nicht wegen seiner ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, sondern wegen des Faches, das er unterrichtet und wegen seiner Unterrichtsmethoden. Wenn er am Katheder steht und mit flam-
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mendem Blick und energischen Gesten die Heldentaten der KPdSU rühmt, wird mir übel. So gibt er zum Beispiel folgende Tirade von sich: »Die Feinde des Sozialismus hofften, unser Staat würde nach Stalins Tod zusammenbrechen, wie ein Kartenhaus. Da haben sie sich aber gewaltig geirrt: Das Sowjetvolk hat sich noch enger und fester um die glorreiche Kommunistische Partei geschlossen! Die Partei fürchtet keine Schwierigkeiten und macht sich, die Ärmel hochgekrempelt, daran, die Fehler des Personenkults wiedergutzumachen ...« »Und die Toten in den Massengräbern zu erwecken! ...«, falle ich ihm laut ergänzend ins Wort, jede Beherrschung verlierend. Er stolpert wie über eine unsichtbare Barriere und sieht entsetzt in den Saal: »Wer war das?«, fragt er mit vor Aufregung heiserer Stimme. Ich stehe auf. »Neufeld?! ... Sie sind zu spät zur Welt gekommen ...«, stößt er keuchend hervor. »Sicher! Deshalb bin ich hier und nicht im Massengrab bei meinem Vater! Nicht wahr?« »Mit Ihnen werde ich mich außerhalb des Unterrichts befassen. Sie sind mir schon lange verdächtig!« Es läutet. Die Vorlesung ist aus. In der Studentenkantine setzt sich Sabine Nuß, die einzige Deutsche in unserem Kursus, zu mir an den Tisch. Sie ist langbeinig, vollbusig, hat eine Bienentaille und trägt ihre langen blonden Zöpfe um den Kopf gewickelt. Diese Zöpfe schimmern goldig, sehen aus wie eine Krone und geben ihrem Äußeren etwas Stolzes und Majestätisches. Ich habe sie schon vorher bemerkt – es ist unmöglich, sie zu übersehen. Ein jeder bemerkt sie sofort. Bisher hatte ich aber keine Gelegenheit, sie näher kennen zu lernen. Sie ist in einer anderen Gruppe, wohnt im Studentenheim und ist immer von Burschen umschwärmt: Alles Männliche, was asiatisch und schwarz ist in unserem Kursus, folgt ihr auf Schritt und Tritt und betet sie an. Jetzt setzt sie sich an meinen Tisch und fragt unvermittelt:
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»Worüber hast du mit dem Portnoj gestritten? Weißt du, ich sitze ganz hinten und da hört man nichts. Die Burschen neben mir spielten Karten und ich beschäftigte mich mit einem Kreuzworträtsel. Deshalb habe ich nicht mitbekommen, was der Portnoj von dir wollte.« »Ich bin selbst schuld, ich hätte den Mund halten sollen. Aber dieser ›Schneider‹ ist ein Ideologe der Machthaber, verstehst du? Er ist ein Handlanger der Henker! Seine Vorlesungen sind zum Kotzen! Kaum auszuhalten ... Zu Stalins Zeiten ist er wohl genauso ans Katheder getreten und hat den Diktator gerühmt.« »Warum regt dich das so auf?«, fragt sie. »Ist das so schwer zu verstehen? Ich wundere mich sehr, wieso sich die anderen nicht aufregen! Millionen haben die Kommunisten ums Leben gebracht und jetzt behaupten sie, die Fehler des Personenkults wiedergutzumachen. Das ist ja Hohn! Was kann man Ermordeten gegenüber gutmachen? Kann man ihnen ein zweites Leben schenken? Wenn man ihnen wenigstens ein Denkmal errichten und ein ewiges Feuer anzünden würde. Mein Vater und seine Brüder wurden noch vor dem Zweiten Weltkrieg verhaftet und keiner von ihnen hat überlebt.« Verständnislos fällt sie mir ins Wort: »Na und? Mein Vater war Feldscher und ist während des Krieges verschollen. Ich war eben erst geboren und kenne ihn überhaupt nicht. Warum sollte ich ihm also nachtrauern? Jeder hat sein Schicksal. Ein Trinker und Schürzenjäger soll er gewesen sein.« Sie lacht. »Lustig und fröhlich habe er gelebt, sagt meine Mutter. Sie behauptet, ich hätte seinen lebenslustigen und leichten Charakter geerbt.« Wir essen und gehen uns unterhaltend in den Lesesaal: »Wenn wir uns nicht für das Leben unserer Väter interessieren, kann sich das Ganze wiederholen. Wir oder unsere Kinder können genauso in den Tod getrieben werden. Ein Volk, dass seine Vergangenheit vergisst, hat keine Zukunft. Du sagst ›Schicksal‹ – ein weit gehendes Wort, mit dem man jedes Verbrechen rechtfertigen kann. Dann hat die ermordeten Juden vielleicht auch nur ihr Schicksal getrof-
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fen? Trotzdem werden jeder Einzelne und alle zusammen beweint und besungen. Wie viele Bücher und Epen hat man schon über sie geschrieben, Opern aufgeführt, Denkmäler errichtet. Damit es sich nicht wiederhole! Und der gewaltsame Tod unserer Väter wird von den Kommunisten verharmlost. Dazu werden solche Portnojs gebraucht, die unverfroren von ›Fehlern des Personenkults‹ sprechen, anstatt von Verbrechen und Völkermord! Portnojs Aufgabe ist es, uns die Geschichte vernebelt vorzutragen, die Wahrheit mit einer dicken Schicht der Lüge zu verdecken. Aber unsere Aufgabe wäre es, das nicht zuzulassen.« »Wie willst du das anstellen? Was meinst du damit?« »Ihm einfach jedesmal sagen, dass er lügt ...« »Dann wirft man dich aus dem Institut hinaus.« »Stimmt. Ein Sprichwort besagt: Mit einer Peitsche bricht man den Beilrücken nicht.« Beim Training der Skimannschaft treffen wir uns wieder und, obwohl wir so verschieden sind, werden wir bald gute Freundinnen. Da wir Anfang Januar Prüfungen haben, fahre ich zu Neujahr nicht nach Hause. Meine Wirtin lädt mich ein, mit ihr und ihrem Sohn bei ihrer Schwester Silvester zu feiern. Wir verstehen uns inzwischen sehr gut. Ich helfe Viktor bei den Hausaufgaben und es gefällt ihm, wenn wir gemeinsam musizieren. Ich habe meine Mandoline mitgebracht und spiele seine Hausaufgabe in Musik erst mal auf der Mandoline. Jetzt macht ihm die Musik mehr Spaß. Für die Silvesterfeier haben wir ein kleines Lied eingeübt, womit wir die anderen überraschen wollen. Unsere Deutschlehrerin, Viktors Tante Minna Jewgenjewna hat eine kleine Tochter, die in der 2. Klasse ist und Klavierunterricht bekommt. Im Winter wird es früh dunkel und wir gehen schon um 6 Uhr abends los. Das Haus von Minna Jewgenjewna ist größer als das ihrer Schwester. Das große Durchgangszimmer ist zugleich Küche, Ess- und Wohnzimmer. Von hier aus führt eine Tür links ins Schlafzimmer der Lehrerin und ihrer Tochter und eine andere Tür führt rechts in ein Zimmer, das an zwei Studenten vermietet ist. Hier
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wohnt der mir schon bekannte Komsomolsekretär Sergej mit seinem Freund. Die Silvesterfeier spielt sich im Wohnzimmer ab, wo lustiges Feuer im Kamin flackert und es warm und behaglich ist. Am Fenster steht ein weiß gedeckter Tisch, an der Wand ein altes Klavier und vor dem Fenster in der Ecke ein geschmückter Tannenbaum. Wir machen ein kleines Konzert. Zuerst spielen Viktor und ich das eingeübte Stück, dann singen die Kinder und ich die Lieder »A, a, a, der Winter, der ist da«, »Weiße Flocken fallen vom Himmel«, »Das Tannenbäumchen« und das »Neujahrslied«, wobei wir von Minna Jewgenjewna auf dem Klavier begleitet werden. Die Burschen freuen sich: »Da haben wir Deutschunterricht am Silvesterabend!« Das Lied vom Tannenbäumchen singen wir allerdings auf Russisch. Dann sagen die Kinder Neujahrsgedichte auf und machen Musik: Viktor spielt Violine und seine Cousine Klavier. Klara Jewgenjewna kocht Pelmeni – mit Fleisch gefüllte Teigtaschen – und stellt sie auf den Tisch, der schon reich gedeckt ist: Da ist ein russischer Gemüsesalat, Kartoffelsalat und Sauerkraut, Weißbrot und eine Flasche Krimsekt. Wir stoßen auf ein glückliches neues Jahr an und machen uns an die heißen Pelmeni. Nach dem Essen spielt Minna Jewgenjewna einen Walzer, dann eine Hopsapolka und wir sind wirklich lustig und vergnügt. Die Kinder entdecken »zufällig« unter dem Tannenbaum ihre Geschenke: Ich habe für jeden einen lustigen bunten Hampelmann gebastelt. Wenn man unten an einem Faden zieht, hüpft er hoch. Außerdem habe ich für jeden eine Buntpapiersammlung zusammengeheftet. Zu diesen armen Zeiten gibt es in Kasachstan noch kein Buntpapier zu kaufen. Deshalb habe ich rosa, grüne, blaue und gelbe Heftumschläge gesammelt. Die Kinder freuen sich, denn »Opa Frost«, wie der Nikolaus hier heißt, hat ihnen auch Tüten mit Süßigkeiten gebracht, in denen sogar jeweils ein Apfel ist. Sie sind glücklich, setzen sich auf das Sofa und beginnen, aus dem Buntpapier Kleidungsstücke für die Hampelmänner auszuschneiden. Es ist inzwischen 21 Uhr geworden. Die Burschen wollen ins Institut gehen. Dort wird ein
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Tanzabend veranstaltet und das neue Jahr empfangen. Sie wollen auch mich mitnehmen, aber ich lehne ab: »Bei 40 Grad Frost jagt man nicht einmal einen Hund aus dem Haus. Hört doch, wie die Fensterscheiben knacken und die Stromund Radioleitungen vor Frost summen ...« »Das schon«, gibt Sergej zu, »aber ich bin Komsomolsekretär und als solcher für den Abend verantwortlich ...« Sie gehen. Klara Jewgenjewna beschäftigt sich mit den Kindern und geht mit ihnen bald ins Schlafzimmer mit einem Märchenbuch in der Hand. Minna Jewgenjewna und ich räumen den Tisch ab. Sie ist eine sehr intelligente Frau. In ihrem Bücherschrank stehen Bücher in deutscher, russischer, kasachischer, englischer und französischer Sprache. Ich frage sie, ob sie auch Kasachisch liest. »Natürlich!«, sagt sie. »Ich habe ja 14 Jahre lang in einem Aul gelebt. Die ganzen Kriegsjahre habe ich mit den Ochsen auf den Feldern verbracht. Furchtbar schwere Arbeiten haben wir Frauen da machen müssen. Wir haben gepflügt, geeggt, gesät, gemäht, gedroschen ... Wie oft haben wir uns vor eine Egge oder Pflug spannen müssen, weil die Ochsen es nicht schafften. Wir waren wie Arbeitsvieh und auch kaum noch Frauen ähnlich: ausgehungert, ausgemergelt, verlumpt ... Im Winter habe ich das Kolchosvieh versorgt. Immer in wattierter Hose und Steppjacke, mit einem großen Kopftuch und in Filzstiefeln. Bei der Kälte geht es ja nicht anders. Da war ich froh, dass ich in meiner Jugend doch noch so viel Gutes mitbekommen hatte, das mich jetzt aufrecht hielt. Immer, wenn ich am verzweifeln war, erinnerte ich mich an das Operntheater in Odessa. Es gibt doch noch ein anderes Leben, dachte ich. Und irgendwann werde auch ich zu diesem anderen Leben zurückkehren. Ich hatte in der Ukraine meine Ausbildung an einer deutschen Lehrerbildungsanstalt abgeschlossen und studierte Englisch am pädagogischen Institut in Odessa. Vom Operntheater war ich wirklich begeistert, hab fast keine Vorführung versäumt, obwohl es nicht billig war. Diese Ausgaben habe ich nie bereut. Was ich da gesehen und erlebt habe, war dann viele Jahre lang mein einziger Trost. Bei einem Theaterbesuch
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habe ich dann auch meinen Mann kennen gelernt. Er war ein junger Eisenbahningenieur. Wir waren glücklich miteinander, bekamen zwei Töchter und versäumten auch später kaum eine Oper, Operette oder ein Ballett. Hier im Aul habe ich dann schwer gearbeitet, meine Mutter beerdigt, meine Töchter großgezogen. Nebenbei habe ich Kasachisch gelernt. Deutsch, Englisch und Russisch konnte ich gut. Französisch war die zweite Fremdsprache beim Studium. Ich lese französische Bücher, aber die Grammatik kenne ich nicht so gut. Nach dem Krieg wurde es dem kasachischen Kolchosvorsitzenden doch zu dumm, was sich da abspielte: Die Kinder in der Schule wurden von Leuten unterrichtet, die selbst acht oder zehn Klassen besucht hatten, Fremdsprachenunterricht gab es nicht, weil man keinen Lehrer hatte. Und da lief auf den Feldern jahrelang eine Sprachlehrerin herum und hütete die Ochsen. Dem Vorsitzenden und dem Schuldirektor, die beide nur sieben Klassen besucht hatten, ging es natürlich nicht um mich, sondern um die Schüler. Und so setzten sie durch, dass ich in der Schule unterrichten durfte. 1949 kam mein Mann aus der Trudarmee. All diese schweren Jahre hatte ich auf diesen Augenblick gewartet und gehofft ... Aber da fing mein neues Unglück an: Es war nicht mehr der Mann, den ich einst geliebt hatte. Es war ein völlig anderer Mensch. Ich konnte nicht zu ihm durchdringen, wir konnten nicht zueinander zurückfinden. Der jahrelange Kampf ums Überleben, Lüge und Brutalität, Hunger und schwere Arbeit hatten seinen Intellekt völlig zerstört. Sein ganzes Interesse galt nur noch dem Alkohol. Ich brachte für ihn so viel Verständnis wie nur möglich auf, aber gegen den Alkohol kämpfte ich mit all meiner Kraft. Und ich habe verloren: Er verließ mich und die Kinder und ging zu einer Russin, mit der er auch jetzt noch zusammen lebt und trinkt. Ja, er lebt hier in Akmolinsk und arbeitet bei der Bahn als Lastenträger. Als Fachmann ist er wegen der Alkoholabhängigkeit nicht mehr zu gebrauchen. Meine Töchter sind beide verheiratet. Die eine ist Grundschullehrerin, die andere Krankenschwester. Die Jüngste kam zur Welt, als er eben zu der Russin fortgegangen war.
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Einmal habe ich versucht, ihn zurückzuholen. Ich bin einfach in die Wohnung dieser Frau gegangen. Das war so erniedrigend, dass ich es nie wieder versucht habe. Es gibt da einen bestimmten Typ von Russenweib, gegen den eine anständige deutsche Frau nicht ankommt...« Klara Jewgenjewna kommt aus dem Schlafzimmer, trägt Tee auf, zu dem wir selbstgebackene Plätzchen essen. Um Mitternacht gießen wir den Rest des Sekts in unsere Gläser und stoßen an: »Auf eine glückliche Zukunft!« »Viel Glück im neuen Jahr!« Die Zeit eilt dahin: Unterricht, Skilaufen, Prüfungen ... Das erste Studienjahr geht dem Ende zu. Da es in der Bibliothek für manche Fächer keine Lehrbücher gibt und sie in anderen Fächern nur in ungenügender Zahl vorhanden sind, ziehe ich im Frühling ins Studentenheim um. Ich hoffe, hier würde es leichter sein, mich auf die Prüfungen vorzubereiten. Der Abschied von meinen Wirten, besonders von Viktor, ist traurig, da wir einander lieb gewonnen haben. Aber jeder Abschied bedeutet einen neuen Anfang, neue Begegnungen, und daraus besteht ja das Leben.
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Glückseligkeit und Träume
Ende der 50er Anfang der 60er Jahre entwickeln sich Technik und Wirtschaft rasant. Die Neulanderschließung wird fortgesetzt. In Turkmenien wird ein Kanal von etwa 500 Kilometer Länge erbaut, der das Wasser der Amudarja durch die Sandwüste Karakum bis zum Murgab und Tedschen führt. Diese Flüsse, die aus den Bergen Afghanistans entspringen und im Sand der Wüste versickern, sollen durch das Wasser der Amudarja neu belebt werden. Die Eingriffe in die Natur wirken sich verheerend auf die ganze Region aus. Am sibirischen Fluß Angara entsteht eine ganze Kaskade von Wasserkraftwerken, die 11-mal so viel Strom erzeugen sollen wie das berühmte »Grand-Kuli« in den USA. Östlich der Angara, am Wasserkraftwerk Krasnojarsk, werden mächtige Wasserturbinen mit je 500.000 Kilowatt Leistung montiert. Für diese Projekte werden große Flächen und viele Siedlungen unter Wasser gesetzt. Leute werden aus ihren Häusern vertrieben. Viele verlieren ihre Existenzgrundlage. Am 13. April 1961 macht Jurij Gagarin seinen 1½ -stündigen Heldensprung in den Kosmos. Ja, die Errungenschaften, die Erfolge der UdSSR in Technik und Wirtschaft bringen die ganze Welt zum Staunen. Die Arroganz und Menschenverachtung der Machthaber werden dabei übersehen. Je rasanter die technische Entwicklung, desto krasser die Widersprüche, desto unbegreiflicher die Versklavung des Volkes, desto unerträglicher die Unterdrückung der geistigen Freiheit. Zu der Zeit, als der Kanal in der Wüste Karakum errichtet wird, stehen die Frauen im ganzen Imperium stundenlang Schlange, um für ihre Kinder 200 Gramm Butter und einen Liter Milch zu kaufen. In der Stunde, in der sich Gagarin stolz in den Kosmos schwingt, wird A. Solschenizyn vom Schriftstellerverband gehetzt, vom KGB verfolgt und unterdrückt.
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Während die sibirischen Flüsse gezähmt werden, greift die Christenverfolgung immer weiter um sich. Für die Sowjetregierung sind dies keine Widersprüche – nein, es sind Glieder einer Kette. Der Ministerpräsident Nikita Chruschtschow hat dem Volk versprochen, in etwa 20 Jahren sei die materielle Basis für den Kommunismus geschaffen und man werde im kommunistischen Paradies leben. Allerdings müsse bis dahin mit der Religion und den Gläubigen völlig aufgeräumt sein. Der Kommunismus sei undenkbar, solange es im Lande Gläubige gebe. Es soll ein dem Kommunismus konformer Menschentyp gezüchtet und das Denken der Menschen standardisiert werden. Die Rollen sind ein für allemal verteilt: Die meisten haben zu arbeiten und den Mund zu halten, einige haben das große Konzentrationslager UdSSR nach innen und außen zu bewachen und wenige Machthaber denken für alle und erziehen den richtigen Menschentyp – den Menschen der Zukunft. Jeder hat sich in sein Schicksal zu fügen. Wer aus der Reihe tanzt und nicht wie vorgeschrieben denkt und handelt, der hat eben Pech ... In dieser Zeit studiere ich am Institut und es sind die glücklichsten Jahre meines bisherigen Lebens. Glücklich macht mich meine Liebe, denn ich glaube, den Mann meiner Träume getroffen zu haben. Als unsere Skimannschaft im Dezember 1960 den 1. Preis im Wettkampf der Mannschaften unseres Gebiets gewinnt und wir im Studentenheim hoch gefeiert werden, mit Tee, Kekse und Piroggen, ist da ein junger Mann, der mir zum Erfolg gratuliert und sich als Viktor Bode vorstellt. Sein Händedruck ist wie ein Kurzschluss. Ich bin wie vom Blitz getroffen: Das ist »er«, der lang erwartete und heiß ersehnte ... Er ist groß gewachsen, braungebrannt, mit dunklem Haar und hellen Augen. Ich freue mich, als er mich für den nächsten Tag zum Schlittschuhlaufen in das Eisstadion einlädt und in der Woche darauf mit Eintrittskarten für das Stadttheater bei mir auftaucht. Er ist ein Deutscher aus Selz bei Odessa, ist 32 Jahre alt, also neun Jahre älter als ich. Er kommt aus den Kohlengruben Karagandas, wo
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er zehn Jahre unter Tage gearbeitet hat. Jetzt freut er sich besonders, den blauen Himmel über dem Kopf zu haben und frische Luft atmen zu dürfen. Er studiert Landwirtschaftstechnik und ist im 3. Kursus. Er ist geschieden und hat eine Tochter. Diesem Menschen vertraue ich bald mein ganzes Leben an. Ihm vertraue ich mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt. In unserem Studentenleben gibt es nichts Beständiges, alles ändert sich wie in einem Kaleidoskop – bei der kleinsten Berührung. Mal haben wir Unterricht oder fahren ins Praktikum, mal schickt man uns zu Land- oder Bauarbeiten. Viktor und ich kommen uns näher, obwohl wir einander selten sehen. Wenn wir uns nach langer Zeit wieder treffen, haben wir einander so viel zu erzählen. Ich liebe diesen Mann. Und er liebt mich auch ... sagt er zumindest. In den Zeitungen erscheinen antireligiöse Artikel oder Berichte aus den Gerichtssälen, in denen die Gläubigen verschiedener Konfessionen der unglaublichsten Verbrechen beschuldigt werden. Einmal heißt es, der Älteste einer Mennonitengemeinde, der als Baumeister arbeitet, habe Baumaterialien gestohlen und damit der Volkswirtschaft einen großen Schaden zugefügt. Er geht ins Gefängnis und sein Eigentum wird konfisziert. Ein anderes Mal wird behauptet, die Zeugen Jehovas hätten ein Kind geopfert und getötet. Folge? Fort mit diesen Schädlingen! Über die Gefängnisse und Lager des ganzen Landes werden sie verstreut ... Dann kommen die hiesigen Lutheraner dran: Ihr Pastor sei ein Trinker und Kinderschänder! Die lutherische Gemeinde teilt das Schicksal der Zeugen Jehovas. Es sind Schauprozesse. So hofft man zum einen mit den Gläubigen Schluss zu machen und zum anderen die Bevölkerung gegen sie aufzubringen. Das Schlimmste für mich ist, dass diese Publikationen im praktischen Unterricht in den Gesellschaftsfächern besprochen werden. Da sind wir verpflichtet, die Artikel und Berichte zu lesen und uns darüber zu äußern. Es ist klar, dass jeder dieser Beiträge eine dicke Lüge enthält. Ich frage mich: Wie kann ich zu meiner Überzeugung stehen, ohne dabei den erfolgreichen Abschluss meines Studiums zu gefährden?
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Fünf Jahre meines Studiums sind ein Balanceakt auf Messers Schneide, ein Tanz auf dem Vulkan. Ich will zwar studieren, aber nicht um jeden Preis. Ein Preis wäre mir dafür zu hoch: Der Verrat an meinen Mitmenschen, an meiner persönlichen Einstellung zur Meinungsfreiheit und meiner Weltanschauung. Ich weiß genau: Würde man mich fest an die Wand drücken, so wäre das Ergebnis dasselbe wie im Frühjahr 1957. Deshalb versuche ich, mich nicht in die Enge treiben zu lassen. Solange es im Unterricht um prinzipielle Fragen geht, mache ich aktiv mit. Sofern man sich aber an die Zeitungsartikel macht, demonstriere ich Langeweile: Ich gähne, spiele mit Ajdaschew »Kreuze und Nullen« oder wir beschäftigen uns mit einem Kreuzworträtsel. Wenn ich direkt zur Antwort aufgefordert werde, entschuldige ich mich, ich hätte die Frage überhört. Einmal wiederholt Portnoj die Frage: »Was halten Sie von den Zeugen Jehovas?« »Ich kenne diese Leute nicht«, zucke ich mit den Schultern. »Deshalb kann ich keine persönliche Meinung über sie haben.« »Aber hier im Artikel steht, dass sie ein Kind getötet haben!«, versucht Portnoj den Dialog in die richtigen Bahnen zu leiten. »Was halten Sie davon?« »Der Artikelschreiber wird wohl wissen, was er da behauptet. Ich kann nichts hinzufügen.« Portnoj winkt hoffnungslos mit der Hand und lässt mich in Ruhe. Mich gehen die Zeugen Jehovas nichts an, aber die Lüge, die dicke undurchdringliche, alles umhüllende Lüge! Sie ist wie stinkender grauer Schlamm, in dem jeder Gedanke erstickt. Nach solchem Unterricht flüchte ich zu meinem Freund, Viktor Bode, falls er nicht gerade zu Bau- oder Landarbeiten geschickt wurde und für mich erreichbar ist. Oh, wie gut ist es, sich aussprechen zu können! Mich beruhigt der Gedanke, dass es da jemanden gibt, der mich so gut versteht, einen Gleichgesinnten. Portnoj lässt mich in der Prüfung durchfallen. Ja! Nachdem ich die schwierigsten Prüfungen in höherer Mathematik und Geodäsie mit
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»gut« und »ausgezeichnet« bestanden habe, bekomme ich von ihm in »Geschichte der KPdSU« ein »ungenügend«! Er lässt mich in der Prüfung gar nicht zu Wort kommen und hält mir stattdessen eine Standpauke über die großen Errungenschaften unseres Landes – die Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit der Völker, die Gewissensund Glaubensfreiheit und dergleichen. Ich höre mir das alles an und schweige, denn ich werde ja nicht gefragt. Während er mir diesen Vortrag hält, schreibt er eine dicke 2 – ungenügend also – in die Liste neben meinen Namen und sagt dann freundlich: »Denken Sie darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe. Überlegen Sie es sich gut und dann, wenn Sie sich auf die Prüfung gründlicher vorbereitet haben, können Sie wiederkommen. Sagen wir, übermorgen? Auf Wiedersehen!« Er weiß genau, was er da macht: Heute ist offiziell der letzte Prüfungstag. Das heißt, um die Prüfung übermorgen wiederholen zu dürfen, brauche ich eine extra Genehmigung des Dekans und bleibe somit das nächste Semester ohne Stipendium ... Als ich dann zwei Tage später wiederkomme, darf ich die Fragen, die in meinem Prüfungsbillett stehen, beantworten. Ich bin aber mit der ersten Frage noch nicht fertig, als er mir eine 3 – ausreichend – in die Liste einträgt, mein Studienbuch nimmt und diese Note auch dort verzeichnet. »Und weiter? Haben Sie es vergessen?«, fragt er, als ich schweige. »Nein, ich vergesse nichts, Towarischtsch Portnoj, nur sehe ich, dass ich Ihnen für eine Drei schon genug erzählt habe ...« Sabine Nuß ist an Grippe erkrankt, hat hohes Fieber, Nasenbluten und kann nicht zur Prüfung in Geodäsie erscheinen. Ich melde sie krank, da ich aber keine ärztliche Bescheinigung vorlegen kann, darf sie die Prüfung später nur als »Wiederholung« ablegen und so bleibt sie ebenfalls ohne Stipendium. Jetzt sitzen wir in einem Boot und machen uns nach den Winterferien auf Arbeitsuche, da unsere Angehörigen uns bei unserem Studium nicht materiell unterstützen können. Ein halbes Jahr verdienen wir uns unseren spärlichen Unterhalt, indem wir in einem Kindergarten Wäsche waschen.
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Die Waschküche befindet sich in einem Betonkeller, ohne Fenster und Lüftung, ohne Wasserleitung oder Kanalisation. In dem etwa 20 Quadratmeter großen Raum stehen ein Ofen mit einem großen eingemauerten Siedekessel, eine emaillierte Wanne, ein Holzbottich und ein langer Tisch mit zwei nicht elektrischen Bügeleisen. Wir arbeiten hier zweimal in der Woche, je drei bis vier Stunden und verdienen zusammen 600 Rubel. Von der Hitze und dem vielen Dampf habe ich ständig Halsschmerzen und bin heiser. Sabines Hände sehen aus, als hätte sie Ekzeme – die kalzinierte Soda, die uns als Waschmittel zu Verfügung steht, bekommt ihrer Haut schlecht. Die Frühjahrsprüfungen bestehen wir gut, werden also im nächsten Semester das Stipendium erhalten und sind unheimlich froh, diese Waschküche verlassen zu dürfen. Da wir nicht in derselben Gruppe sind, werden wir im praktischen Semester zu verschiedenen Kataster-Expeditionen eingeteilt. Mit zwölf meiner Studienkollegen komme ich als einziges Mädchen nach Karaganda. Von dort werden wir auf verschiedene Kreise verteilt. In Karaganda sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein richtiges Ballett, und nicht irgendeines, sondern den »Schwanensee« von Pjotr Tschaikowsky. Welches Licht- und Schattenspiel! Welche Farben! Welche bezaubernden Töne! – Traumhaft ... Am nächsten Tag komme ich mit sechs Burschen ins Kreiszentrum Kijewka. Weiter geht’s allein in den Sowchos Uroshajnyj. Hier ist bislang eine Technikerin der Expedition, Fräulein Diana Starzewa, alleine mit der Umsetzung des Projekts »rationelle Bodennutzung« beschäftigt. Meine Aufgabe ist es, ihr dabei zu helfen. Gleich am ersten Abend gehen Diana und ich durch die breiten Dorfstraßen, um für mich eine Unterkunft zu suchen. Dabei klärt sie mich kurz über die Lage auf: Dieser Sowchos ist ein Großbetrieb mit etwa 50.000 Hektar Land, davon sind 35.000 Hektar Ackerland und die restlichen 15.000 Hektar Grünland. Zum Sowchos gehören zwei Siedlungen. Die Zentralsiedlung ist ein deutsches Dorf, in dem es nur zwei russische Familien gibt – die des Direktors und des
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Parteisekretärs. Hier leben etwa 1.500 bis1.800 Personen, die mit Ackerbau, Milchproduktion sowie Schweine- und Geflügelzucht beschäftigt sind. Gemüse, Melonen und Futterpflanzen werden nur für den eigenen Bedarf angebaut. Die zweite Siedlung ist ein kleiner Kasachenaul mit etwa 120 bis 150 Einwohnern. Dort werden Pferde-, Rinder- und Schafzucht betrieben. Am nächsten Morgen fahre ich mit Diana auf die Felder hinaus und helfe ihr bei der Arbeit. Mit den Zeichnungen und den Details des Projekts mache ich mich an den Abenden vertraut. Der Hauptgedanke, die Hauptaufgabe des Projekts ist, die extensive Bodenbewirtschaftung durch eine intensivere zu ersetzen, um höhere Erträge zu erzielen. Da die Möglichkeiten zur Erweiterung der Ackerflächen in dieser Sowchose erschöpft sind, soll die weitere Intensivierung der Landwirtschaft mit folgenden Mitteln erreicht werden: Die optimale Größe des Betriebes und seiner Abteilungen wird ermittelt und überprüft, die extensive Fruchtfolge wird durch den intensiveren Fruchtwechsel ersetzt, jedes Feld wird 3 Jahre lang zum Getreideanbau und im vierten Jahr zum Anbau von Hackfrüchten benutzt. Im fünften Jahr liegt es brach. Die natürliche Grünlandwirtschaft soll durch ein »grünes Fließband« ersetzt werden, das heißt planmäßige Ausnutzung der Weiden in Kombination mit dem Anbau von Futterpflanzen für die kontinuierliche Versorgung der Viehzucht. Die Notwendigkeit und Möglichkeit der Verwendung von Düngemitteln wird festgestellt. Das Projekt macht Vorschläge zur Aufforstung als Feld- und Pflanzenschutzmaßnahme. Die Möglichkeiten und Methoden der Bodenverbesserung und Bewässerung werden ermittelt. Außerdem werden im Projekt Form und Größe der Felder bestimmt, das System der Feldwege wird geordnet, die Siedlungsgrenzen werden festgelegt. Wie ich beobachten kann, leiden die Bauern der Zentralsiedlung keinerlei materielle Not, sondern leben in einem relativen Wohlstand:
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Das Dorf hat zwei breite saubere Straßen, die Häuser der Bauern sind geräumig, haben weiß gestrichene Wände und mit Schiefer gedeckte Dächer. Fast jede Familie besitzt ein Motorrad. Im Dorf wird ein seltsamer deutscher Dialekt gesprochen, dem man Elemente des Bayerischen, Schwäbischen und Sächsischen entnehmen kann. Dieses Deutsch wird reichlich mit russischen Mutterflüchen gewürzt. Die Einwohner sind meiner Ansicht nach recht rückständige Leute, die zwar sehr fleißig und sauber sind, deren Interessen aber den Rahmen der Arbeit und der Sexualität nicht überschreiten. Wenn sich ein paar Frauen im Laden oder am Brunnen treffen, so tauschen sie Informationen darüber aus, wer wann, wo und mit wem schläft, wer wie viel verdient, wessen Kuh gekalbt hat und wessen Schwein krepiert ist. Außereheliche Affären sind hier keine Seltenheit und daraus wird auch kein Geheimnis gemacht. Die Sowchosverwaltung hat uns einen Lastwagen mit Chauffeur und zwei Arbeiter mit Brecheisen und Spaten zur Verfügung gestellt. Erst machen wir die nötigen Vermessungen mit dem Theodolit, fluchten Zwischenpunkte ein und messen dann pro Tag mehrere Kilometer mit Messband und Zählnadeln. Die Ecken der Felder werden mit Pfosten gekennzeichnet, die die Burschen eingraben müssen. Die Pfosten haben bestimmte Maße und der Hügel um jeden Pfosten wird mit vorschriftsmäßigem Durchmesser und einer bestimmten Höhe angelegt. Während wir viele Stunden auf dem Feld verbringen, hören wir von den Burschen so manche Dorfgeschichte. Der eine erzählt, seine Mutter habe seinen Vater bei einem Seitensprung erwischt, ihn mit der Peitsche aus dem Bett ihrer Rivalin geholt und in Unterhose durchs Dorf getrieben. Sie habe ihm so den Hintern versohlt, dass der alte »Kater« drei Tage lang stöhnend auf dem Bauch liegen musste. Sie finden es komisch und lachen sich krumm. Während der Fahrt durch die Felder beklagt sich Diana, sie sei schon zwei Monate von zu Hause weg und fragt mich, was es in Karaganda Neues gebe.
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Ich erzähle ihr vom Ballett »Schwanensee«. Sie stöhnt: »Ach, wie schade, dass ich es nicht habe sehen können!« Unser Chauffeur fragt: »Was ist das, ein Ballett? Und wer ist Tschaikowsky?« Als ich in der Mittagspause in einem Poesieband von Jesenin blättere, sagt Diana: »Schade um den Sergej, der hätte noch viele schöne Gedichte schreiben können, wenn er sich nicht erhängt hätte ...« Der Chauffeur fragt abermals: »Wer ist dieser Sergej? Dein Freund? Und warum hat er sich erhängt?« Es ist nicht zu fassen! Er weiß nicht, wer Jesenin ist und von Goethe oder Schiller hat er auch noch nie gehört. Hier werden keine Bücher und Zeitungen gelesen. Niemand interessiert sich für Politik oder Nachrichten. Die Leute leben in ihrer kleinen Welt und sind recht einfältig. Vielleicht ist es auch gut so? Vielleicht ist in dieser Ruhe und Unbeschwertheit die höchste Weisheit des Lebens? Die Frauen gebären und erziehen Kinder. Die Männer trinken Wodka und erzählen sich Weibergeschichten. Die Burschen sind alle gleichermaßen in die Technik vernarrt. Die Jugendlichen verbringen ihre Zeit im »Klub«. Da sehen sie einmal im Monat einen alten Film, tanzen manchmal, spielen Billard oder Domino. Hier ist keine Spur von geistigem oder geistlichem Leben zu entdecken. Der alte Agronom, den wir ab und zu auf unseren Wegen treffen, hat ein schwarzes Gesicht, übersät mit tiefen Furchen. Man könnte meinen, er sei aus dem Boden hervorgegangen und ein organischer Bestandteil dieser Felder. Einmal komme ich mit ihm zufällig über das Projekt, das wir hier umsetzen, ins Gespräch. Ich will wissen, was er davon hält, ob die Grundlagen des Projekts zweckmäßig und seiner Ansicht nach richtig seien. »Dass ihr die Felder neu aufteilt und die Feldwege ordnet, ist ja gut. Auch dass es in Zukunft nur drei anstatt fünf Abteilungen geben soll, geht in Ordnung. Nur die Richtigkeit der Berechnungen, die
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dem Projekt zu Grunde liegen, bezweifle ich. Da wird angenommen, wir könnten doppelt so viel Vieh durchfüttern wie bisher. Das ist nicht richtig. Sogar in den besten Jahren, als im Boden jahrhundertelang gespeicherte Fruchtbarkeit war, bekamen wir bei günstigen Wetterverhältnissen höchstens 15 Doppelzentner Getreide je Hektar. Im Projekt sind aber im Durchschnitt 20 Doppelzentner vorgesehen. Woher soll eine so hohe Ernte kommen? Man muss doch realistisch bleiben!« »Aber das Projekt sieht eine Änderung der Anbaustruktur und einen anderen Fruchtwechsel vor. Es sollen mehr Düngemittel verwendet und Pflanzenschutzmaßnahmen durchgeführt werden ...« Er schüttelt energisch den Kopf: »Was im Projekt Intensivierung der Wirtschaft genannt wird, nenne ich Raubbau! Auf unserem Boden mit seiner lockeren Zusammensetzung kann man nicht Hackfrüchte anbauen. Ebenso bringt auch das Brachlegen der Felder keinen Nutzen, weil bei der intensiven Bodenbearbeitung die Struktur der schwachen Humusschicht zerstört wird. Sie beträgt nur fünf bis sieben Zentimeter und ruht auf sandigem Untergrund. Bei geringen Niederschlägen und häufiger Bearbeitung sind unsere Felder der Winderosion ausgeliefert.« »Ja, gegen die Winderosion ist die Feldschutz-Aufforstung vorgesehen. Und auch die Bewässerungsmöglichkeiten werden im Projekt erwogen«, wende ich ein. Er lässt sich aber nicht beeindrucken: »Solange das alles auf dem Papier steht, werden sich die Erträge nicht verdoppeln. Und haben Sie schon mal nachgedacht, wie viel Arbeit, Wasser und Zeit es uns kosten wird, bis die so genannte Feldschutz-Aufforstung wirksam wird?« »Natürlich werden die geplanten Maßnahmen nicht sofort greifen. Die Projektperiode beträgt ja auch 25 Jahre. Schritt für Schritt soll das Projekt umgesetzt werden. Aber die Richtung stimmt, oder?« Lächelnd schüttelt er den Kopf. »Sie sind also skeptisch?«, frage ich ihn. Er lacht:
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»Warum sollte ich? Wir haben ja Nikita Sergejewitsch, der für uns denkt. Und früher hatten wir Josef Stalin. Was kann uns schon passieren?« »Gibt es Ihrer Meinung nach andere Wege und Methoden der Landbewirtschaftung, mit denen sich die Agrarproduktion steigern ließe? Wie ich beobachte, wächst auf dem Hofland der Bauern alles: Blumen und Gemüse, Obst und Beeren ... Woran mag das liegen? Es hat doch seinen Grund?« »Nun ja, die großen mechanisierten Betriebe haben sowohl eine positive als auch eine negative Seite. Die Erledigung von Aufgaben wie der Erschließung von Millionen Hektar Neuland, der Anlage der Feldschutz-Aufforstung und der Errichtung gigantischer Bewässerungssysteme durch den Familienbetrieb wäre undenkbar. Dazu sind die mechanisierten Großbetriebe mit ihrer leistungsfähigen Technik gut geeignet. Andererseits aber geht bei solcher Wirtschaftsform die persönliche Beziehung des Bauern zum Boden verloren. Um den Boden wirklich intensiv und sinnvoll zu nutzen, sollte man ihn so kennen und lieben wie seine eigene Frau. Und das fehlt unseren Bauern, weil der Boden ihnen nicht gehört und von seiner richtigen Bearbeitung nicht das Glück und Leben ihrer Kinder abhängt.« »Und was könnte man da machen?« »Oh, wenn mich das der Landwirtschaftsminister fragen würde, könnte ich ihm ein paar praktische Ratschläge geben. Natürlich nicht für das ganze Land, sondern nur bezüglich unserer hiesigen Wirtschaft.« »Und was wären das für praktische Ratschläge?« »Zum Beispiel könnte der Staat das erschlossene und bewässerte Land langfristig an die Bauern verpachten und ihnen gleichzeitig eine Reihe von elektrischen und mechanischen Kleingeräten zum Kauf auf Kredit anbieten. Dann würde der einzelne Bauer an seiner Arbeit interessiert sein und ich schwöre Ihnen, in 20 bis 30 Jahren würden diese Steppen in einen blühenden Garten verwandelt sein ... Dies sind nur Träume, die nie verwirklicht werden können. Es
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gibt da so viele Wenn und Aber. Und das Volk ist auch schon so oft enttäuscht worden, dass es an nichts mehr glaubt. Außerdem hat ja Chruschtschow mit den Bauern und mit der Landwirtschaft etwas anderes vor.« Diese Unterhaltung ist für mich sehr interessant und aufschlussreich. Der Sommer ist vergangen, es ist inzwischen Herbst geworden. Die letzten zwei Wochen verbringen Diana und ich im Kasachenaul, wo wir die Umsetzung des Projekts beenden. Am ersten Abend werden wir mit saurer Stutenmilch bewirtet und mir fallen vor Müdigkeit die Augen zu. Unsere Wirtin, eine Kasachenfrau, lacht: »Kumys ist sehr gesund, sehr gut für den Magen. Aber er enthält Alkohol, drei bis vier Prozent.« Als wir zwei Tage später zum Mittagessen kommen, treffen wir unsere Wirtin in Tränen an. Im Hof sind zwei Milizionäre, der Vorsitzende des Dorfsowjets und zwei seiner Begleiter in Zivil. Sie haben bei unserem Wirt eine Hausdurchsuchung vorgenommen und im Lagerraum drei Säcke frischen Weizen und ein Rind entdeckt und beschlagnahmt. Die Säcke werden auf einen Wagen geladen, das Rind hinten angebunden, der Wirt verhaftet. Er beteuert, den Weizen gekauft zu haben, will aber nicht sagen, bei wem. Da man von der neuen Ernte noch niemandem Weizen zugeteilt hat, wird der alte Kasache beschuldigt, ihn gestohlen oder einem Dieb abgekauft zu haben. »Und das Rind soll er wohl auch gestohlen haben?«, frage ich die Wirtin, nachdem die Männer den Hof verlassen haben. »Nein, es ist unser Rind. Wir sollten es dem Staat sehr billig verkaufen, aber wir wollten es für uns behalten und im Winter schlachten. Sie sagten, wir hätten zu viel Vieh und haben das Rind einfach mitgenommen.« Nachts kann die Wirtin nicht schlafen. Sie wälzt sich auf ihrem Lager von einer Seite auf die andere, seufzt, schluchzt, schimpft über die »Oryssen« wie sie die Russen nennt und betet zu Allah. Diese letzte
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Szene will nicht recht zu der Ruhe, der Unbeschwertheit und den Träumen hier passen. Aber so ist nun mal das Leben – der scheinbar schönste Apfel hat einen Wurm. »Aus einem Lied kann kein Wort entfernt werden«, sagt ein russisches Sprichwort. Außerdem gehört diese Szene zu den Träumen des Ministerpräsidenten Chruschtschow, der versprochen hat, die Lebensart der Bauern der städtischen anzugleichen. Wenn die Frauen in der Stadt Schlange stehen, um Fleisch und Milch zu kaufen, wieso sollen einer Bäuerin diese Sorgen erspart bleiben? Sie will man doch auch zu einem kommunistischen Einheitsmenschen der Zukunft erziehen! Die Zugvögel fliegen und mich befällt eine große Sehnsucht. Mein Praktikum geht dem Ende zu. Diana schreibt mir eine Beurteilung, in der sie betont, ich hätte mich mit großem Interesse für die Arbeit eingesetzt. Der Chef der Expedition kommt, unterschreibt mein Tagebuch und die Beurteilung, zahlt mir meinen Verdienst aus und nimmt mich mit nach Karaganda. Dort steige ich in den Zug und fahre in die Ferien. Diana muss noch dableiben und warten, bis ihr unsere Arbeit von einer Kommission offiziell abgenommen wird.
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Sehnsucht und Enttäuschungen
Ein Jahr später, im Juli 1962, werden wir nach dem 3. Kursus zum Praktikum in Luftbildgeodäsie in eine Expedition in der Tatarischen Autonomen Republik geschickt. Wir fahren mit einem Personenzug fast 40 Stunden lang in Richtung Westen. Viele Stunden schaue ich zum Fenster hinaus und sehe nur öde Steppe, auf der ab und zu ein Hirtenzelt oder eine Schafherde auftauchen. Allmählich ändert sich das Bild: Immer öfter muss die Steppe vor größeren Siedlungen zurückweichen. Kleine Obstgärten, Birkenwäldchen und Waldstreifen huschen vorüber. Am nächsten Morgen kleben wir alle an den geöffneten Fenstern des Zuges: Wir überqueren das Ural-Gebirge, sehen zum ersten Mal den europäischen Teil der UdSSR und staunen über die Üppigkeit der Natur. Berge, Flüsse, Wälder – das alles kennen wir nur aus Erzählungen. In der Hauptstadt Kasan angekommen, melden wir uns in der Verwaltung für Geodäsie und Kartographie und werden nach Bugulma weitergeschickt. Hier an der luftbildgeodätischen Expedition erklärt man uns die Aufgabe und das Ziel unseres Praktikums: Zwei Monate lang sollen wir uns mit Dechiffrierung, das heißt mit der Auswertung von Luftbildern, beschäftigen. Man will eine Luftbildkarte der Tatarischen ASSR herstellen. Für zwei Wochen Einarbeitungszeit wird jeder von uns einem Mitarbeiter der Expedition zugeteilt. Ich fahre nach Schugurowo und mache mich mit meiner Ausbilderin, einer Technikerin, bekannt. Wie in der UdSSR üblich, sprechen wir einander sofort mit Vornamen an. Sie heißt Schura. Als sie meinen Namen hört, fragt sie: »Bist du eine Deutsche? Hier an der Wolga soll es mal eine Deutsche Republik gegeben haben. Stammst du von da?«
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Dann legt sie mir einen Stoß Luftaufnahmen im Format von ungefähr 15 mal 15 Zentimeter vor und beginnt, mir die Regeln der Dechiffrierung zu erklären: »Am Abend schauen wir uns die Aufnahmen genau an und ordnen die Bilder der Reihe nach. Vieles kann man auf den Bildern sofort erkennen. Schau mal, hier ist eine Siedlung, die soll besonders sorgfältig dechiffriert werden. Dazu gehen wir mit der Aufnahme in der Hand die Straßen entlang und vermerken Brunnen, Wohngebäude, Stallungen, Gemeinschaftsgebäude usw. Und hier« – sie zeigt mir ein anderes Luftbild – »hier sind nur Felder und Wald, da ist nicht viel zu dechiffrieren. Trotzdem fahren wir hin, sehen uns den Wald an und vermerken auf dem Foto mit Zeichen, ob es Nadel-, Lauboder Mischwald ist und um welche Baumarten es sich handelt.« Die Theorie habe ich schon im Institut gelernt, jetzt setze ich sie in die Praxis um. Wir fahren mit einem Pferdewagen durch Felder, Wälder und Siedlungen. Schura erzählt viel und gerne über ihr Leben, über ihr Volk und die Republik. Sie ist eine Tatarin, schon fast zehn Jahre verheiratet, ihr Mann arbeitet auch bei der Expedition. Ihr Sohn ist den ganzen Sommer bei ihren Schwiegereltern. Ich sage, ihr Familienname klinge eher russisch als tatarisch, und frage, ob ihr Mann ein Russe sei. Nein, er sei auch ein Tatar. »Du wirst bald merken, dass es in unserer Republik fast nichts Tatarisches mehr gibt. Schon die Zarenregierung hat unsere Ahnen mit Gewalt gezwungen, ihre muslimische Religion aufzugeben und der Orthodoxen Kirche beizutreten. So wurden unsere Vorfahren dann auf verschiedene russische Namen getauft: Winogradow, Jemeljanow usw. Wir werden ja auch ›getaufte Tataren‹ genannt. Und in den letzten Jahrzehnten haben wir immer mehr unsere Sprache verloren, unsere Sitten und Bräuche vergessen. Nur noch die alten Leute in den Dörfern sprechen die Sprache unserer Ahnen. Die Jugendlichen wollen studieren und müssen deshalb gut Russisch können. Daher sprechen unsere Gebildeten nur Russisch und können die tatarische Literatur und Kultur gar nicht fördern und weiterent-
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wickeln. Im Laufe eines halben Jahrhunderts werden wir als Nation verschwunden sein ...« Nach den zwei Wochen Einarbeitung bei Schura beginne ich selbständig zu dechiffrieren. Den ganzen Sommer über bade ich mich im trüben Wasser des Flusses Ik und ziehe mit einem Pferdegespann durch die Siedlungen und Felder der Tatarischen Republik: Erst bin ich in Bawly, dann in Urussu, Tumutuk, Musljumowo ... Die Natur ist im Gegensatz zu Kasachstan schön und üppig. In den Wäldern wachsen Pilze, Beeren und Haselnüsse in großer Menge. Aber wie armselig sehen die Siedlungen aus: kleine, in den Boden eingesunkene Hütten mit dunklen Strohdächern. Wie wehmütig und langweilig verläuft hier das Leben. Kein Lachen, kein frohes Lied und keine Harmonika hört man am Abend. Ich sehne mich nach meinen Freunden Sabine und Viktor und nach meiner Familie. Deshalb bin ich froh, die »tatarische Verbannung«, wie unsere Burschen scherzen, wieder verlassen zu dürfen. Nach den kurzen Ferien erwartet uns im Institut eine Überraschung: Man hat weitere Fakultäten gegründet. Jetzt sollen noch Elektroingenieure, Tierärzte und Buchhalter ausgebildet werden. Außerdem sollen die Grundlagen für die Ausbildung von Siedlungsplanern und Architekten geschaffen werden. In der allgemeinen Versammlung der Studenten des angehenden 4. Kurses hält unser Rektor, Professor Hendelman, folgende Rede: »Im Programm der KPdSU ist vorgesehen, in den kommenden Jahrzehnten die Wohnungsnot zu beseitigen. In 20 Jahren soll jede Familie eine abgeschlossene komfortable Wohnung haben, wobei der Wohnungsfonds bis dahin verdreifacht werden soll. Seit Beginn der Neulanderschließung sind viele neue Siedlungen entstanden und es wird immer mehr gebaut. Insgesamt sollen in die Entwicklung der Produktionsmittel des Neulandgebietes neun bis zehn Milliarden Rubel investiert werden. Um diese Mittel richtig einzusetzen, ist es sehr wichtig, die optimale Größe und Bebauung der Siedlungen sowie ihre beste Lage im Raum zu bestimmen. Ihr, die ihr in zwei Jahren als Ingenieure für rationelle Bodennutzung
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aufs Land kommt, werdet unvermeidlich mit den Fragen der rationellen Planung und Bebauung der neuen Siedlungen konfrontiert werden. Wir haben den Auftrag des Ministerrates unserer Republik, im nächsten Jahr eine Fakultät für Dorfarchitekten zu eröffnen. Dafür sollen schon in diesem Jahr die Grundlagen geschaffen werden, und ein Drittel eures Kurses soll auf Siedlungsplanung spezialisiert werden. Morgen findet in diesem Raum eine Prüfung in Malen und Zeichnen statt, nach deren Ergebnis eine Gruppe von Siedlungsplanern gegründet wird. Sie sind alle zu dieser Prüfung eingeladen.« Diese Gruppe aus 24 Studenten, zu der nach bestandener Prüfung auch Sabine und ich gehören, wird in den letzten zwei Studienjahren intensiv auf Städtebau, Architektur und Bauwesen getrimmt. Sabine und ich wohnen jetzt im neuen Studentenheim in einem Zimmer und im Unterricht sitzen wir ständig nebeneinander. Ajdaschew, den ich bis dahin ständig an meiner Seite hatte, und Iwaschin, ein buckliger, sehr kluger und sympathischer Russe, der mehrere Jahre Sabines Schatten war, sind jetzt in anderen Gruppen. Es scheint, als sei der Himmel uns wohlgesinnt. Das Studium ist interessant. Wir bestehen die Prüfungen gut und bekommen Stipendien. Unsere Skimannschaft ist erfolgreich. Mit Viktor Bode verbindet mich eine heiße Liebe und mit Sabine gute Freundschaft. Sie hat auch einen deutschen Freund von der Agrarfakultät. Wir gehen oft zusammen ins Theater oder zum Schlittschuhlaufen. Eines Tages wird plötzlich ein drittes Bett in unser 2-Bett-Zimmer hineingezwängt und Emma Gumarowa, eine Tatarin, zieht bei uns ein. Das ist seltsam und macht mich stutzig, denn während nicht alle wirklich Bedürftigen einen Platz im Wohnheim bekommen, hat es diese Studentin gar nicht nötig, im Heim zu wohnen. Sie hat ein eigenes Zimmer im Hause ihres Vaters, nur etwa 500 Meter vom Institut entfernt. Auf unsere Fragen erklärt sie, sie hätte mit ihrer Stiefmutter Krach gehabt und sei deshalb ausgezogen. Sie hat einen Schlüssel für unser Zimmer bekommen, übernachtet aber äußerst selten bei uns. Letzten Endes beschäftigt uns das nicht weiter.
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Am Ende des 4. Kurses sollen wir ein Praktikum in Siedlungsplanung machen. Im Frühjahr 1963 schreibt Viktor Bode seine Diplomarbeit, ich lege Prüfungen ab und bereite mich auf das Praktikum vor. Wir sehen uns sehr selten, weil jeder von uns viel zu tun hat. Manchmal besucht er mich im Studentenheim und wir gehen ins Kino, schlendern einfach durch die Straßen oder ruhen uns aus. Viktor sieht zunehmend bedrückt und müde aus, was er mit Schwierigkeiten bei der Diplomarbeit erklärt. Schon früher haben wir beschlossen, dass er nach dem Studium in der Stadt bleibt und wir dann heiraten. Ich habe noch ein Jahr zu studieren. Als ich zum Praktikum nach Pawlodar fahren will, kommt er zum Bahnhof, um sich von mir zu verabschieden. Er sieht aus wie sieben Tage Regenwetter und eröffnet mir, dass er nach dem Studium nicht in Zelinograd bleibe, sondern in einen Sowchos im Gebiet Karaganda fahre. Auf meine Frage, was passiert sei, warum er seine Pläne geändert habe, antwortet er gereizt: »Was soll schon passiert sein? Ich habe es mir eben anders überlegt. Dort wird die Arbeit interessanter sein, der Sowchosdirektor ist mein Schwager, ich bekomme sofort eine Wohnung und kann meine Tochter zu mir nehmen.« »Soll ich zum Fernstudium übergehen?« »Auf keinen Fall! Meinetwegen sollst du nicht das Institut verlassen. Meine Tochter ist nicht dein Problem, Mädel. Du wirst hier in Ruhe das Studium beenden und in einem Jahr kommst du zu mir.« Diese Wendung überrascht mich völlig. Ich bin traurig, kann es aber nicht ändern und bitte Viktor, mir wenigstens ein Foto von sich zu schenken. Daraufhin stupst er mit seinem Zeigefinger auf meine Nasenspitze und sagt: »Fotos schenke ich, wenn ich mich von jemandem für immer verabschiede. Ich habe aber nicht vor, mich von dir zu trennen.« Der Zug fährt los, ich muss einsteigen und er bleibt auf dem Bahnsteig alleine zurück. Diesmal haben wir zwei Monate Praktikum in Projektinstituten. Als
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wir in Pawlodar ankommen, läuft dort gerade ein Gerichtsverfahren. Führende Kräfte aus der Verwaltung des Schlachthofes und der Fleischverarbeitung sind wegen Diebstahls angeklagt. Der Direktor, sein Stellvertreter, der Parteisekretär und Chefbuchhalter sollen unter einer Decke stecken und dem Staat insgesamt einen Schaden von einer halben Million Rubel zugefügt haben. Chauffeure und Arbeiter sagen teils als Zeugen, teils als mutmaßliche Mittäter aus und decken auf, wie die Gangster es schafften, sich fremdes Eigentum anzueignen. Sie haben nicht nur den Staat, sondern ganz konkret auch einzelne Mitbürger bestohlen, indem sie die Güteklasse des von den Sowchosen und Kolchosen angelieferten Viehs willkürlich herabsetzten, den Wirtschaften dieses Vieh zum niedrigsten Preis abnahmen und das so erworbene Fleisch nicht in den Lebensmittelgeschäften nach der staatlichen Vorgabe für 1,90 Rubel pro Kilogramm verkauften, sondern auf dem Markt für einen Wucherpreis von fünf bis sechs Rubel pro Kilo anboten. Die Drahtzieher werden schließlich verurteilt. Hier hat man den Dieben das Handwerk gelegt. In vielen Fällen bleiben sie jedoch unbestraft. Das ganze System ist korrupt: Wer hoch oben sitzt und Zugang zu Gemeingütern hat, der versäumt es nicht, sich zu bereichern. Zwei Wochen später findet in der Stadt eine Feier statt, bei der die Kosmonauten Nikolajew und Tereschkowa nach ihrer Rückkehr auf die Erde begrüßt werden. Sie sind im Süden des Gebietes gelandet und nach Pawlodar gebracht worden, von wo aus sie nach Moskau fliegen. Der Sommer ist außerordentlich heiß. Tag für Tag steht die Sonne am wolkenlosen Himmel und die Temperatur steigt im Schatten bis auf 40 Grad. Eine Familie kehrt vorzeitig aus ihrem Urlaub zurück. Sie war im Süden Kasachstans, in den »Bunten Bergen« am Issiksee. Ein Gletscher sei in den Issik gerutscht und habe eine herrliche Erholungsstätte mit den Restaurants und Kinderheimen, den Pavillons und Autostraßen zerstört. Ein Schlammstrom aus Sand, Steinen, Wasser und Eisblöcken habe das Wasser des Sees so weit
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steigen lassen, dass es zu Überschwemmungen gekommen sei. Hunderte von Toten und Verletzten habe es gegeben. Sie seien gerade in Almaty gewesen, um mit den Kindern den Tiergarten zu besuchen und Obst und Melonen zu kaufen. So seien sie durch Zufall dem Unglück entgangen. Die Nachricht über die Katastrophe in Medeo verbreitet sich schnell. In den Zeitungen erscheint erst Tage später eine kurze Notiz darüber, wobei geleugnet wird, dass es auch Tote gegeben habe. Im ersten Monat des Praktikums beschäftige ich mich mit dem Vorentwurf für die Erweiterung und Umstrukturierung einer Siedlung, in der zur Zeit 840 Menschen leben und deren Einwohnerzahl sich in naher Zukunft verdoppeln soll. Ich entwerfe vier verschiedene Bebauungsvarianten und vergleiche sie nach technischen und ökonomischen Merkmalen. Sabine muss einen Kasachenaul zu einem modernen Dorf umplanen. Als auch sie mit ihren Varianten und deren Vergleich fertig ist, machen wir uns daran, unsere Entwürfe den zuständigen Sowchosverwaltungen vorzulegen und Aufträge für Bebauungspläne zu bekommen. Die Steppe und die Felder sind schwarz, jede Pflanze ist von der Sonne verbrannt. Der Wind hat die Humusschicht abgetragen. Alles sieht trostlos, wüst und öde aus. Sabine und ich kommen in den Kasachenaul, melden uns beim Direktor und bitten ihn, eine Versammlung der Verantwortlichen einzuberufen. Der Direktor ist ein Kasache. Schweißgebadet und gereizt empfängt er uns. Er blättert in Sabines Vorentwurf, schaut sich kurz die Zeichnungen an und winkt ab: »Sie wollen unseren Zentralhof umgestalten? Kommt nicht in Frage! Es kommt Ihnen chaotisch vor? Hier ist alles so gut durchdacht wie Sie nie fähig sein werden, es zu durchdenken. Unsere Ahnen kannten und liebten diese Steppe und sie haben uns ihre Baukunst und Bauweise überliefert.« Dann zeigt er mit dem Finger auf eine Zahlenreihe: »Bedeutet das, wir sollen unseren Viehbestand verdoppeln?! Aber dazu fehlt uns die Futterbasis! Woher soll ich Futter für das Vieh nehmen, wenn es sogar jetzt im Sommer nichts
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zum Fressen findet? Ihr Oryssen habt unsere Weiden umgeackert und unser Land zerstört! Die Fruchtbarkeit, die der Boden jahrhundertelang gespeichert hatte, habt ihr in wenigen Jahren buchstäblich in den Wind geblasen! Jetzt müssen wir gegen die Winderosion ankämpfen. Geht mir aus den Augen mit euren schwachsinnigen Projekten!« Wir versuchen, ihn zu trösten: »Die durch die Winderosion zerstörten Äcker werden abgeschrieben. Auch die Steuern werden Ihnen erlassen.« Der Direktor nickt skeptisch: »Ja, ja. Das bringt mich aber nicht weiter. Woher nehme ich Futter für das Vieh? Wie bezahle ich meine Arbeiter? Wenn wir auf unserem Land vernünftig wirtschaften dürften, dann wäre uns geholfen. Aber nein, man kann uns nicht in Ruhe lassen! Immer kommen diese blödsinnigen Nichtstuer und kommandieren hier herum!« Uns gehen die Argumente aus, wir nehmen all seine Verbitterung über die schwachsinnigen und aufgeblasenen Oryssen entgegen und fahren unverrichteter Dinge in den nächsten Sowchos, eine gemischte russisch-deutsch-kasachische Siedlung. Hier sind die Ernteaussichten ebenso schlecht wie bei den Nachbarn. Der Direktor ist ein alter, hagerer Russe. Als ich ihm meinen Vorentwurf vorlege, sagt er: »Aber wir haben doch schon einen Bebauungsplan für unsere Zentralsiedlung. Euer Institut hat ihn vor vier Jahren erarbeitet. Seht mal her, hier steht das Modell des Projekts. Es gefällt mir sehr. Nach diesem Plan haben wir in den vergangenen Jahren die Schule, den Kindergarten und die Schweinefarm gebaut.« Er zeigt mit dem Finger: »Und diese Straße besteht aus Eigentumshäusern. Wir brauchen dringend einen Klub, sonst laufen mir die letzten Jugendlichen davon. Was soll ich in der Wirtschaft mit lauter alten Weibern anfangen?« Wir kehren nach Pawlodar zurück, wo der Abteilungschef an uns seine Wut auslässt. Wir versuchen, uns zu verteidigen. »Aber wenn die Verwaltung einen guten, gültigen Bebauungsplan hat, mit dem sie zufrieden ist und nach dem gebaut wird, warum soll
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ich ihr dann einen neuen Plan aufzwingen?«, frage ich meinen Chef. Sabine versucht, den erfahrenen Kasachen zu verteidigen, indem sie behauptet: »Er braucht wirklich keine neue Viehfarm, wenn die Futtergrundlage es nicht erlaubt, den Viehbestand zu vergrößern. Wozu soll er Rinderställe bauen, wenn er keine Rinder hat, die er hineinstellen könnte?« Unser Chef ist da anderer Ansicht. »Wenn wir uns solche Überlegungen zu Eigen machen, dann sitzen wir bald alle ohne Arbeit da. Ich werde euch eine Lehre erteilen und zeigen, wie man von den Verwaltungen Planungsaufträge bekommt.« Er fährt mit uns in dieselben Siedlungen. Mit dem Kasachen hat unser Chef leichtes Spiel. »Sind Ihnen die Beschlüsse der Partei und der Regierung über die Beseitigung der Unterschiede der Lebensart in Stadt und Land und die Intensivierung der Landwirtschaft bekannt? Entweder unterschreiben Sie den Projektauftrag oder die Erklärung, dass Ihnen die Partei- und Regierungsbeschlüsse nicht gefallen.« Der Kasache kneift seine ohnehin schmalen schwarzen Augen zusammen und unterschreibt den Projektauftrag, ohne ein Wort zu sagen. Im Nachbarsowchos ist es etwas schwieriger, dem Direktor einen Bären aufzubinden. Hier geht unser Chef diplomatisch vor: »Die Grundlagen des alten Projekts werden im neuen beibehalten. Auch alle schon vorhandenen Bauten werden berücksichtigt. Aber ein neues Projekt muss sein, da sich in den letzten Jahren so vieles geändert hat. Man hat neue Gebäudetypen entwickelt. Anstelle der Milchviehfarm wird im neuen Projekt ein voll automatisierter Komplex geplant, was die Betreuung des Viehbestandes wesentlich vereinfachen wird.« »Aber neue Gebäudetypen können wir doch auch ohne einen neuen Bebauungsplan verwenden? Das Geld für einen neuen Generalplan könnten wir sparen und dafür zum Beispiel einen Park anlegen«, entgegnet der Direktor schwach und unterschreibt schließlich den Projektauftrag.
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Liebeskummer
In den folgenden Monaten schreibe ich oft Briefe an Viktor Bode, bekomme von ihm aber nur zweimal Antwort. Ich erkläre es mir damit, dass er viel mit der Diplomarbeit zu tun hat und ihm wenig Zeit für anderes bleibt. Am 4. Juli 1963 werde ich vom Fernmeldeamt schriftlich zur Entgegennahme eines angekündigten Telefonats benachrichtigt. Am Abend gehe ich dorthin und höre am Telefon die fröhliche Stimme meines Freundes: »Hallo!? Guten Abend, Liebste! Wie geht es dir? Musst hart arbeiten? Und ich bin jetzt frei! Kannst mir zum Erfolg gratulieren. Meine Diplomarbeit habe ich abgegeben und in der mündlichen Prüfung mit hervorragendem Ergebnis verteidigt! Jetzt gerade haben wir unsere Abschlussfeier! Ich habe mich davongeschlichen, um mit dir zu sprechen. Morgen fahre ich zu meiner Mutter und in drei Wochen beginnt die Arbeit. Meine neue Anschrift bekommst du sofort nach dem Urlaub. Mach’s gut! Auf Wiedersehen!« Es vergeht eine Woche. Ich warte vergebens auf einen Brief von ihm, bin beleidigt und denke: »Jetzt hast du doch genug Zeit und könntest mir mal schreiben. Na warte, das werde ich dir heimzahlen! Ich werde dich auch auf meine Briefe warten lassen ...« Plötzlich bekomme ich einen Brief von meinen Kolleginnen, die ihr Praktikum im Projektinstitut in Zelinograd machen. Sie berichten mir unter anderem, Viktor Bode habe geheiratet – noch vor der Diplomierung! Ungefähr vor einem Monat sei eine Lehrerin der Agrarfakultät mit ihrem 5-jährigen Sohn ins Studentenheim gezogen. Jeden Abend habe sie eine Tasche voll Lebensmittel gepackt und zusammen mit einer Flasche Wodka oder Wein zu ihrem Freund mitgenommen. Ihren Sohn habe sie dann immer den Studentinnen anvertraut, die dadurch im Bilde seien. Sie hätten nur nicht gewusst,
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wer der Mann sei, zu dem diese Frau jeden Abend ging, bis sie all ihre Sachen gepackt und gesagt habe: »Mein Freund hat sein Diplom bekommen. Jetzt fahren wir zusammen zur Arbeit in einen Sowchos im Gebiet Karaganda.« Als es dann soweit gewesen sei, dass ihre Sachen herausgetragen werden mussten, sei ihr Freund hereingekommen und es sei kein anderer gewesen als mein geliebter Viktor Bode! Diese Nachricht trifft mich wie ein Dolchstoß unter das Schulterblatt: Ein unerträglicher, stechender Schmerz fährt in mein Herz. Ich kann nicht durchatmen ... Sabine hat den Brief auch gelesen, sitzt lange schweigend da und sagt dann leise: »Da trifft man einen Menschen und glaubt, er sei etwas Besonderes. Jetzt stellt sich heraus, dass er ein besonders großer und schöner Dreckhaufen ist.« Sie hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert, ist ernster geworden. Ich kann weder essen noch schlafen und versuche zu begreifen, was mir da passiert ist, aber meine Gedanken überschlagen sich. Ich bin in meinen tiefsten Gefühlen verletzt, weil mich mein bester Freund verraten hat. Eine Woche später kommt uns unsere Frau Dekan besuchen. Es gehört sich so: Während des Praktikums werden alle Studenten einmal von ihren Professoren besucht, die nach dem Rechten sehen und zu Hilfe kommen, wenn es nötig ist. Sie ist nur einen Tag bei uns, sieht sich unsere Arbeit an und spricht mit unserem Abteilungsleiter. Dann sagt sie zu mir: »Heute abend fahre ich weiter nach Petro-Pawlowsk. Könntest du mich vielleicht zum Bahnhof begleiten?« Auf dem Weg zum Bahnhof fragt sie mich: »Geht es dir nicht gut? Bist du krank? Du siehst nicht gut aus, hast so dunkle Ringe unter den Augen.« »Nein, ich bin nicht krank. Aber besonders gut geht es mir auch nicht. Sagen Sie mir bitte, wer ist Chabanowa?«
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»Chabanowa? Das war eine Lehrerin an der Agrarfakultät. Man hat sie entlassen. Aber warum fragst du? Was geht dich dieses Luderweib an?« »Wenn sie ein Luderweib ist, wie Sie sagen, dann sollte eine jede von uns ein Luderweib werden, um mehr Glück in der Liebe zu haben. Mein Freund soll diese Chabanowa geheiratet haben und mich hat er sitzen lassen«, schluchze ich plötzlich. »Nun mal langsam. Ich werde dir erzählen, was ich darüber weiß. Vielleicht wird dich das beruhigen. Die Chabanowa war geschieden und hatte einen Sohn, als sie vor zwei Jahren in unser Institut kam. Hier hat sie noch zweimal geheiratet, sich aber jeweils nach kurzer Zeit wieder scheiden lassen. Im vergangenen Winter hatte sie sexuelle Verhältnisse mit mehreren Studenten, die sie abwechselnd in ihrer Wohnung besuchten. Als dies bekannt wurde, wies der pädagogische Rat sie darauf hin, dass ein derartiger Lebenswandel für eine Pädagogin verboten sei und man sie deshalb nach Abschluss des Schuljahres entlassen werde. Letzten Monat musste sie das Institut verlassen.« »Kann sein. Aber jetzt hat Viktor Bode sie geheiratet und in den Sowchos mitgenommen.« »Mitgenommen mag er sie haben, aber geheiratet hat er sie nicht.« »Das ändert doch nichts! Ich liebe ihn und habe ihn verloren.« Ich bin zornig und weine, weil sie mich nicht versteht. »Ich habe dich oft mit Bode gesehen, bin aber nie auf die Idee gekommen, dass da etwas Ernstes sein könnte. Er ist doch viel älter als du?! Da hätte ich eher ein Liebesverhältnis zwischen dir und Ajdaschew oder Iwaschin vermutet ...« Ich höre ihr zu und unterbreche sie verärgert: »Wie kommen Sie denn darauf? Ajdaschew, Iwaschin – die sind ja nie in Frage gekommen. Ich bin in unserem Kursus so eine Art Samariterin: Zu mir kommt ein jeder, der Hilfe braucht. Und Bode war ein Mensch, zu dem ich gehen konnte.« »Das ist ganz natürlich. Du bist eine richtige Frau geworden.« »Es geht mir doch nicht nur um die Sexualität. Es geht auch nicht um irgendeinen Mann. Sondern um das Vertrauen. Um den einzi-
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gen Mann, den ich liebe. Drei Jahre kenne ich ihn. Wir haben so viel Schönes gemeinsam erlebt und hatten nie einen Grund für einen Streit. Jetzt verfolgt mich der Gedanke, alles sei nur Lüge gewesen. Er hat gelogen, als er von Liebe sprach. Sich über mein Vertrauen lustig gemacht. Wie konnte ich nur so blind sein vor Liebe?« »Nein, da irrst du dich. Die Männer sind einfach anders als wir Frauen. Was ein Mann sagt, stimmt nur in dem Augenblick, in dem er es sagt. Im nächsten Moment schon kann er anders denken und fühlen. Mit Lüge hat das wenig zu tun.« »Ja wie denn? Wenn er mich am 4. Juli anruft, aber schon vorher mit der Chabanowa zusammen war?! Ist denn das keine Lüge?« »Ich schätze, du bist ihm zu kompliziert. Mit der Chabanowa kommt ihm alles einfacher vor. Mit der braucht er nicht aufs Standesamt zu gehen. Um die braucht er sich nicht zu kümmern. Im Gegenteil – sie kümmert sich um ihn. Und das wird ihm wohl am meisten imponieren. Ich könnte mir vorstellen, dass er später wieder zu dir kommt. Aber dann, hoffe ich, bist du klug genug, um nicht nochmal auf ihn hereinzufallen. Ein Mann, der kommt und geht, wann es ihm gefällt, kann einer Frau das ganze Leben versauen. So einen Mann wünsche ich dir nicht. Weißt du, ich bin jetzt 40 und habe keine Familie, weil ich nie den richtigen Mann getroffen habe. Ich war 20 Jahre jung und Medizinstudentin im 3. Kursus, als der Krieg ausbrach. Wir wurden aus dem Hörsaal direkt aufs Schlachtfeld gebracht und als Sanitäter eingesetzt. Da war meine Jugend vorbei, ohne je richtig begonnen zu haben. Die ganzen Kriegsjahre habe ich dem Tod direkt ins Auge gesehen, mit Blut und Verstümmelung zu tun gehabt. Zu jener Zeit habe ich auch meine erste und einzige Liebe erlebt und verloren. Es ging mir, wie jetzt wohl auch dir, ein unerträglicher Schmerz durch die Brust.« »Aber wie kann man das ertragen? Wie soll ich leben? Ich kann nicht schlafen und kriege keine Luft. Bin fast am ersticken!« »Da gibt es keinen Trost. Nur die Zeit kann solche Wunden heilen. Ich habe nach dem Krieg studiert, es gab für uns Vergünstigungen. An den Hochschulen wurden wir bevorzugt immatrikuliert. Die aus
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dem Krieg zurückgekehrten Burschen wurden als Helden gefeiert. Sie trugen stolz ihre Uniformen mit blanken Orden und Medaillen. Sie wurden von jungen Mädchen umschwärmt. Die Mädchen, die in den ersten Nachkriegsjahren an die Hochschulen kamen, waren meistens Töchter reicher Eltern. Sie trugen Seidenstrümpfe und schöne Kleider und im Vergleich zu ihnen war ich eine graue Maus. Noch Jahre nach dem Krieg kam ich nicht aus meiner Uniform heraus, da ich kein Geld für andere Kleidung hatte. Kein Wunder, dass die Liebe an mir vorbeiging: Die Männer waren müde vom Dreck, vom Blut und von der Brutalität des Krieges und suchten bei den Frauen Entspannung. Dafür waren die schönen jungen Dinger besser geeignet als ich. Ich fühlte mich erniedrigt, beleidigt, gekränkt. Ich fand keine guten Freunde und interessierte mich nur für mein Studium und fürs Theater. Aber du brauchst dich nicht zurückzuziehen. Du bist nicht schlechter, sondern in vielem besser als manch eine deiner Kolleginnen. Du bist mir gleich im ersten Studienjahr ans Herz gewachsen, als der Geheimdienst begann, sich für dich zu interessieren.« Jetzt spitze ich die Ohren. Sie spricht weiter: »Der Rektor und ich, wir haben uns dafür eingesetzt, dass man dich in Ruhe lässt. Einfach war das nicht, denn nicht alle Professoren sind mit unseren Methoden einverstanden.« »Portnoj und Sorin!«, falle ich ihr ins Wort. »Woher weißt du?«, fragt sie überrascht. »Ich hab’s gespürt. Mein siebter Sinn ist nicht immer so stumpf wie in Liebesdingen.« »Ja, all diese Jahre wurdest du beobachtet. Das war das Einzige, was wir nicht verhindern konnten. Aber du hast zum Glück keinen Anlass zu Komplikationen gegeben. Es wäre furchtbar schade, wenn du jetzt nach all den Mühen aus irgendeinem Grund das Studium abbrechen würdest. Ich werde mich erkundigen, wo Bode jetzt ist, und dir seine Adresse mitteilen. Versprich mir aber, dass du nicht den Kopf verlieren und ihm nachjagen wirst!« »Keine Bange, das kommt nicht in Frage. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich anbiedern oder aufdrängen, sondern zu denen, die
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umworben sein wollen. Wenn er von sich aus zu mir zurückkommen würde, könnte ich ihm verzeihen und alles vergessen. Aber das wird er nicht tun, dafür kenne ich ihn doch zu gut.« »So, jetzt wird es Zeit für mich. Mein Zug fährt in zehn Minuten ab.« Sie gibt mir noch einen Kuss auf die Wange. Als der Zug weg ist, denke ich über ihre Worte nach. Wieso spricht sie vom Geheimdienst, wenn es um meine Liebe geht? Ich sehe da keinen Zusammenhang. Man hat mich all diese Jahre beobachtet? Ich habe einfach froh und glücklich dahingelebt, wie ein kleiner Vogel. Dass man mich bespitzeln könnte, daran habe ich nicht gedacht. Und das war ziemlich dumm von mir. Ich hätte es mir doch denken können. Schon bei den Aufnahmeprüfungen fing es an: Der Komsomolsekretär aus Eska?! Während ich zurückdenke, versuche ich mir vorzustellen, wer mich wann bespitzelt hat: Sergej Tschalych, Mischa Iwaschin, Emma Gumarowa ...? Wer weiß, wer da noch alles seine Finger im Spiel hatte. Eine Woche später bin ich am Ende meiner Kräfte und werde bei der Arbeit ohnmächtig. Sabine nimmt mich bei der Hand und geht mit mir zum Arzt: »So, jetzt langt’s aber! Du sagst dem Arzt, dass du keinen Appetit hast. Er soll dir etwas verschreiben.« Ich werde von einer älteren Ärztin empfangen. Während ich ihr den Grund meines Besuches erkläre, misst sie meinen Blutdruck und fragt: »Verheiratet? Kinder? Schwanger?« Ich schüttle den Kopf. »Haben Sie vielleicht Liebeskummer?« Ich nicke. Sie lächelt breit: »Mein Fräulein, gegen Liebeskummer gibt es kein Medikament! Sie sollten froh sein, dass Sie jung und verliebt sind! Mehr Bewegung und frische Luft, dann kommt der Appetit wieder. Diese Krankheit werden Sie ohne ärtzliche Hilfe überwinden müssen.« Ich gehe. »Überwinden müssen ... überwinden müssen ...«, hallt es in meinen Ohren und der Schmerz steckt in meinem Herzen wie ein Splitter. In meinem weiteren Leben habe ich diesen Schmerz niemals ganz überwinden können. Ein spürbarer Rest ist für immer in mir geblieben.
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Das Praktikum geht dem Ende zu. Sabine und ich verabschieden uns voneinander für einen Monat Ferien. Kaum bin ich zu Hause angekommen, da schlägt meine Mutter erschrocken die Hände zusammen: »Kind, wie siehst du aus? Bist du krank? Ist dir etwas passiert?« »Was kann mir schon passieren? Du vergisst, dass ich kein Kind mehr bin. Im Herbst werde ich 25!« Wie einsam ist doch eine Frau in ihrem Liebeskummer. Da kann ihr niemand helfen, kein Arzt, kein Lehrer, keine Freunde oder Verwandten. Meine Mutter ahnt etwas, aber ich verschließe mich vor ihr. Meine enttäuschte Liebe ist das einzige Thema, über das ich mit ihr nicht sprechen kann. Sie fragt mich: »Wie geht es Sabine? Hat sie die Prüfungen gut bestanden? Werdet ihr Stipendien bekommen?« »Ja, es ist alles in Ordnung. Es geht ihr gut. Sie ist jetzt bei ihrer Mutter in den Ferien.« »Und Bode? Hat er seine Arbeit erfolgreich verteidigt? Wo ist er jetzt?« »Wo der steckt, weiß ich nicht. Ich vermute aber, es geht ihm glänzend. Warum hast du mich so schlecht erzogen? Du hast mich vieles gelehrt, aber nicht, wie ich glücklich werden kann. Auf die Liebe, den Schmerz und den Verrat muss man auch vorbereitet sein! Und ich hab von niemandem auch nur ein einziges müdes Wort darüber gehört! Man lehrt einen Menschen laufen, sprechen, lesen, schwimmen. Warum lehrt man ihn nicht lieben und leiden, wo davon doch das Glück abhängt?« Mutter schaut mich stumm an und fragt nichts mehr. Sie kennt Sabine und auch Viktor, die mich zu verschiedener Zeit in den Ferien hier zu Hause besucht haben. Meine beiden Schwestern haben inzwischen geheiratet und leben in eigenen Häusern in derselben Straße. Siegrid hat gerade ihr zweites Kind geboren und Mutter besucht sie jeden Tag. Zu Hause ist es still und ruhig, aber diese Stille macht mich wahnsinnig! Ein Lastwagen bringt bestellte Kohle und lädt sie vor der Haustür ab. Ich trage sie in den Stall. Bernhard hackt Holz für den Winter
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und ich staple es drinnen auf. Dann verputze ich das Haus von außen und streiche es frisch an. Ich lenke mich ab so gut es nur geht, aber meine Gedanken kreisen immer um ein und dieselbe Frage: Warum? Ich erinnere mich an alles, was ich über die Kriegszeit gelesen und gehört habe. Aber jetzt ist doch nicht Krieg. Warum also dieser Schmerz? Ich versuche mich damit zu trösten, dass es anderen auch schon mal ähnlich ergangen sein muss wie mir. Der Freund meiner Schwester ging nach der LBA ins pädagogische Institut, verliebte sich dort in eine Russin und heiratete sie. Allerdings ist meine Schwester vorher nicht wie ich nach dem »Prinzip des fallenden Butterbrots« mit der Nase in den Staub gefallen. In einem anderen Fall wurde sich ein verlobtes Paar aus irgendeinem Grund uneinig. Seiner Braut zum Trotz heiratete der junge Mann eine Woche später eine Russin, die er vorher kaum gekannt hatte. Kurze Zeit darauf tat es ihm leid, er wollte sich scheiden lassen, aber es ging nicht: Seine junge Frau beklagte sich, auf ihre Schwangerschaft pochend, beim Parteisekretär des Instituts, in dem der Mann studierte. Der Student wurde vom Parteisekretär vorgeladen und bedroht: Falls er seine Frau verlasse, müsse er sein Studium wegen »unsittlichen Benehmens« abbrechen. Irgendwann habe ich eine Novelle gelesen, die von einem Traktoristen und einer Buchhaltergehilfin handelt, die miteinander verlobt sind. Ihren Namen nach – Rudolf und Frieda – müssen sie Deutsche sein, was im Text aber nicht ausdrücklich gesagt wird. Ihre Hochzeit ist für Silvester geplant. Mitte Dezember soll Rudolf mit seinem Traktor Heu vom entlegenen Lager bringen. Er fährt los und kehrt nicht zum erwarteten Zeitpunkt zurück, da er in ein großes Schneegestöber gerät, vom Weg abkommt und so lange in der Steppe umherirrt, bis der Tank leer ist, der Motor ausgeht und der Traktor im Schnee stecken bleibt. Er wird mehrere Tage lang ergebnislos gesucht, dann wird die Suche eingestellt. Rudolfs Lage scheint aussichtslos: Der Wind heult und treibt Schneewolken mit sich, es wird dunkel, die Temperatur sinkt. Bald ist es auch in
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der Fahrerkabine so kalt wie draußen. Er spürt seine angefrorenen Hände und Füße nicht mehr, entschließt sich, den Traktor zu verlassen, und versucht zu Fuß sein Leben zu retten. Nach stundenlangem, zähem Marsch hört er Hunde bellen. Hungrig, erfroren und erschöpft wie er ist, kriecht er auf allen Vieren diesem Bellen entgegen, erreicht im Morgengrauen eine abgelegene Schaffarm und verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, liegt er in einem Bett und spürt neben sich einen Körper, der sich an ihn schmiegt und ihn wärmt. Es ist die Schafzüchterin Tamara, die ganz allein auf dieser Farm des Nachbarsowchos lebt. Erst nach Neujahr taucht Rudolf wieder in seinem Dorf auf. Seiner ehemaligen Verlobten Frieda sagt er nur noch, dass er jetzt mit Tamara verheiratet sei. Ich kann mir jetzt vorstellen, wie dieser Frieda zu Mute gewesen sein muss. Über ihren Schmerz und ihre Enttäuschung steht in der Novelle aber nichts zu lesen. Fünf Jahre später reißt auf der Schaffarm irgendeine Trosse, schlägt der Tamara den Schädel ein und sie ist tot. Der verzweifelte Rudolf bleibt mit drei kleinen Kindern allein und weiß nicht mehr ein noch aus. Als er eines Tages von der Arbeit nach Hause kommt, berichten ihm die Kinder begeistert, dass »Tante« Frieda da gewesen sei, ihnen zu Mittag gekocht und die Wäsche gewaschen habe. Auf einmal fühlt er, dass er ihr eine Erklärung schuldig ist, besucht sie und sie fallen sich wortlos in die Arme. Schlicht, bescheiden, wehrlos und selbstlos sind die deutschen Frauen in der geistigen Wüste dieses Landes. Ich erinnere mich, wie eine meiner Lehrerinnen einst zu mir sagte: »Eine anständige deutsche Frau, die innerlich nicht auf Schweinereien vorbereitet und eingestellt ist, wird gegenüber einem Luderweib immer den Kürzeren ziehen und gegen eine freche Russin niemals ankommen. Ja, unsere Männer können sie uns wegschnappen, aber unsere geistige Überlegenheit, die Würde und innere Harmonie können sie uns nicht nehmen.« Letzteres bezweifle ich sehr. Man kann uns sehr leicht unglücklich machen, weil wir nicht um unser Glück zu kämpfen und es auch nicht zu verteidigen wissen. Und was ist am Unglück schon harmonisch oder würdevoll?
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Während ich darüber grüble wird mir klar, dass mir eigentlich nichts Außergewöhnliches widerfahren ist – so etwas kann einer jeden Deutschen in diesem Lande passieren und vermutlich passiert es auch jeder zweiten oder dritten. Es bleibt aber das »Warum?« Warum können wir nicht um unser Glück kämpfen? Warum stehen wir da wie Lämmer im Schlachthof? Wir sind die erste Generation der Russlanddeutschen, die nicht in geschlossenen Gemeinden und Siedlungen, sondern unter anderen Völkern verstreut über das ganze Land aufgewachsen ist. In den Schulen, wo man so manches lernt, werden wir in sexueller Hinsicht nicht aufgeklärt. In Liebesfragen werden uns da ein paar klassische Beispiele wie die der Katharina aus Ostrowskijs »Gewitter«, der Tatjana aus Puschkins »Eugen Onegin« oder der Anna aus Tolstojs »Anna Karenina« präsentiert. Wir wachsen überwiegend in unvollständigen Familien heran, da zu 90 Prozent die Ehemänner und Väter fehlen, und können daher von Haus aus auch kaum Beziehungen zwischen Mann und Frau beobachten. In dieser Hinsicht haben die deutschen Mädchen und Burschen das gleiche Schicksal – wie Nichtschwimmer werden sie ins kalte Wasser gestoßen. Unsere Mütter erziehen uns zu Güte und Gerechtigkeit, Anstand und Bescheidenheit, Wärme und Liebe. Auf die Mentalität und das Verhalten eines bestimmten Typus der russischen Frau treffen wir völlig unvorbereitet. Einem deutschen Burschen steigt es zu Kopf, wenn sich ihm mehrere Russinnen buchstäblich an den Hals werfen. Hat er eine deutsche Verlobte und sollte die irgendwelche Ansprüche an ihn stellen, bekommt sie ungefähr Folgendes zu hören: »Was? Dir gefällt es nicht, dass ich angetrunken bin? Warte nur, ich werde dir zeigen, wie gefragt ich bin! Du wirst noch um mich weinen!« Und dann »zeigt er es ihr« – eine Woche später ist er mit einer Russin verheiratet, mit der er froh und munter nicht nur gemeinsam trinken, sondern richtig saufen kann. Manchmal kommt dann doch die Reue, aber meistens zu spät. Nicht, dass die deutschen Frauen in der UdSSR nicht gefragt wären oder keine Ehemänner bekämen. Im Gegenteil: Sie können sich, wie
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meine Freundin Sabine Nuß, vor Verehrern manchmal kaum noch retten. Aber meistens findet man unter diesen »Vielen« dann doch nicht den »Einzigen«, den gewünschten Partner. Die gemischten deutsch-russischen Ehen sind mit wenigen Ausnahmen nicht glücklich. Sie sind meistens typisch russisch, was unter anderem heißt, dass man für die deutsche Sprache, Literatur und Kultur nichts übrig hat. Ich erinnere mich da an eine Mischehe, in der die 7-jährige Tochter, als sie in die erste Klasse ging, nicht wusste, dass sie einen deutschen Vater hat. Als ich dem Mann auf der Straße begegne, fragt er mich: »Haben Sie meiner Tochter gesagt, dass ich ein Deutscher bin?« »Sie hat mir erzählt, ihr Papa heiße Ernst. Ich sagte daraufhin, ihr Papa habe einen sehr schönen deutschen Namen. Entschuldigen Sie bitte, ich wusste ja nicht, dass Sie da vor Ihrer Tochter ein Geheimnis haben.« »Es ist nicht gerade ein Geheimnis, aber ich bin mit meiner Kleinen noch nie auf dieses Thema zu sprechen gekommen.« Kein Wunder. Wir sollen ja als Nation aufgelöst werden und diesem Ziel dient ein bestimmter Typ Russin als aktives »Lösemittel«. Unsere Mütter können uns nicht auf einen individuellen Kampf vorbereiten, da sie in dieser Hinsicht keine Erfahrung haben. Außerdem sind wir, wie mein Dekan mir sagte, die ersten sowjetdeutschen Nachkriegsingenieure, weshalb uns auch von Seiten des Geheimdienstes besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Jeder Einzelne wird unter die Lupe genommen: Inwiefern ist er noch deutsch? Inwieweit ist er schon sowjetisch? In welchem Maße kann man ihm vertrauen? Diese Ferien stärken mich geistig so weit, dass ich den Gedanken an Selbstmord endgültig verwerfe, obwohl der Schmerz kaum kleiner geworden ist. Ich denke: »Das fehlte meiner Mutter noch, dass ihre missratene Tochter sich das Leben nimmt. Sie hat uns ihr Bestes gegeben. Während sie zu Hause einen behinderten Sohn hatte, ich an Tuberkulose erkrankt war und operiert
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wurde und wir kläglich in der LBA scheiterten, hat sie nicht gestöhnt, geklagt oder gejammert, sondern gesungen. Ja, sie hat mit uns gesungen und einige Zeit sogar den Gemeindechor in unserem Städtchen geleitet. Und wenn es mir jetzt an etwas fehlt, so ist es nicht ihre Schuld: Man kann einem anderen nicht geben, was man selbst nicht hat. Und wenn ich zu naiv bin, dann muss ich eben noch vieles lernen ...« »Fröhlich und dankbar, mutig und tapfer dem heutigen Tag ins Auge schauen. Glück und Leid der Vergangenheit im Herzen begraben und die Zukunft Gott dem Herren befehlen – das ist die rechte Lebenskunst«, sagt meine Mutter mir zum Abschied. »Versuch mal, dich in dieser Lebenskunst zu üben. Und glaub mir, nichts kommt von ungefähr. Alles ist vorbestimmt, alles ist zu irgendetwas gut.«
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Der Abschluss
Das letzte Studienjahr verläuft wie alle anderen zuvor: Unterricht, Arbeit, Skilaufen, Prüfungen. Der Unterricht in Siedlungsplanung beginnt damit, dass jeder von uns einen ausführlichen Bericht über das Praktikum schreiben muss. Die meisten berichten, welch großartigen Projekte sie erarbeitet haben, ohne auf die Regeln und Grundlagen der Siedlungsplanung einzugehen. Als Sabine Nuß an der Reihe ist, gibt es Komplikationen. Sie befestigt eine Skizze an der Tafel, erläutert die Windrose und erklärt, der Bebauung einer typischen Hirtensiedlung der Kasachen – der Bebauung eines Auls also - würden sinnvolle Überlegungen zu Grunde liegen. »Aerodynamik und Kompaktheit – das sind hier die Hauptgedanken«, sagt sie. »Nur auf den ersten Blick sieht ein Aul chaotisch aus, weil es da keine eigentlichen Straßen gibt. Das ist aber kein Zufall, sondern so gewollt, weil dadurch bestimmte städtebauliche Vorteile entstehen. Zum einen kann jeder Baukörper optimal der Windrose angepaßt werden, zum anderen entsteht eine kompakte Bebauung ohne Hofland und ohne breite und gerade Straßen. Eine hohe Aerodynamik wird dadurch erreicht, dass alle Bauten eines Bauernhofes durch einen gedeckten Hof zu einem Baukörper zusammengefügt werden. Durch diese Grundregeln werden die Eigenarten des Bodens und des Klimas berücksichtigt.« Sie meint weiter, diese Prinzipien der Bebauung könnten auch in anderen Siedlungen dieser Klimazone Anwendung finden. Auf jeden Fall aber müssten sie beim Umbau der alten Aule beibehalten werden. Auf diese Weise würde in den Siedlungen der natürliche Pflanzenbestand erhalten bleiben und der Boden vor Winderosion geschützt werden. Der Dozent lehnt ab: »Ihr Studenten seid nicht befugt, neue Entwurfsregeln zu erfinden. Die Regeln und Prinzipien bringe ich euch bei und nicht umgekehrt.«
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»Aber dem Aul liegt eine bestimmte Logik und Weisheit des Volkes zu Grunde«, erwidert Sabine. »Warum sollen wir sie verwerfen? Es handelt sich nicht um neue Regeln, sondern um die Besinnung auf das Alte und Bewährte. Warum sollen alle Siedlungen unserer Gegend einander gleichen, wie Zwillinge? Wir könnten ihnen ja bei der Umgestaltung ihre nationale Eigenart erhalten.« »In den Behausungen des Steinzeitmenschen ist auch eine bestimmte Logik, die nicht unbedingt von uns ins 20. Jahrhundert mitgeschleppt werden muss«, sagt der Dozent. Aus der Reihe zu tanzen ist also nicht gestattet! Es gibt darüber auch keine Diskussion. Kritisch wird es, als ich dran bin und meine Zweifel an der Richtigkeit des so genannten Prinzips »75 und 16« äußere. Dabei handelt es sich um die Regel für die Berechnung des Viehbestandes und der Fleischproduktion. Ministerpräsident Chruschtschow hat irgendwo in einer Rede behauptet, man könne je 100 Hektar Ackerland 75 und je 100 Hektar Grünland 16 Doppelzentner Fleisch produzieren. Hat er diese Zahlen nach der Futtergrundlage berechnet oder aus der Luft gegriffen? Jedenfalls sollen sie ausnahmslos in allen Projekten Anwendung finden. Dadurch machen wir uns mit unseren Berechnungen und Entwürfen auf dem Lande einfach lächerlich. Der Dozent ärgert sich: »Wissen Sie auch, dass unser Ministerpräsident Nikita Sergejewitsch höchstpersönlich dieses Prinzip vorgeschlagen hat? Glauben Sie etwa, klüger als Chruschtschow zu sein?« »Die Regel ›75 und 16‹ mag vielleicht gut sein für die Ukraine, wo anderer Grund und Boden ist und es mehr Niederschläge gibt. Aber für das Gebiet Pawlodar, wo die Winderosion die Felder zerstört hat, taugt diese Regel nicht!«, beharre ich. Meine Aussage wird auch von anderen Studenten bestätigt, die in anderen Gebieten Nordkasachstans dasselbe beobachtet haben. »Ihr seid nicht dazu berufen, die Partei- und Regierungsbeschlüsse zu kritisieren. Eure Aufgabe wird es in Zukunft sein, diese Beschlüsse zu realisieren«, weist uns der Dozent zurecht.
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(Nebenbei im Voraus gesagt: Ein Jahr später, sofort nach Chruschtschows Sturz wurde diese Regel vergessen, als ob es sie nie gegeben hätte). Kurz darauf bemüht sich ein anderer Dozent im Fach »Grundlagen des wissenschaftlichen Kommunismus« uns von den Vorzügen des sozialistischen Landwirtschaftssystems zu überzeugen. Er überschlägt sich vor Eifer und Patriotismus: »Kein kapitalistisches Land kann ein solches Entwicklungstempo vorweisen, wie wir es bei der Neulanderschließung an den Tag gelegt haben! Die Erschließung Amerikas hat 200 Jahre gedauert! Das hochentwickelte Kanada mit seiner privaten Landwirtschaft auf Farmbasis hätte mindestens 40 bis 50 Jahre für das gebraucht, was wir in einem Jahrzehnt geschafft haben.« Ihn unterbrechen Stimmen: »Langsam, aber sicher ...« »Wir hobeln, dass noch zehn Jahre später Späne fallen ...« »Wer war das?«, empört sich der Dozent. »Wer sagte ›langsam aber sicher‹? Seht ihr denn die Vorzüge der sozialistischen Landwirtschaft nicht? Bei uns ist der Bauer nicht auf sich selbst angewiesen und der Willkür der Natur ausgeliefert.« »Aber der Willkür der Partei!«, ruft wieder eine Stimme dazwischen. »Ihr seid unbelehrbar! Eine apolitische Gruppe! Das habe ich schon von meinen Kollegen gehört. Ihr seid pro-westlich gestimmt.« Und er wendet sich an unseren Klassensprecher: »Ihr solltet über die falsche Einstellung mancher Studenten in einer Komsomolversammlung sprechen. Schon ein einziges schwarzes Schaf verdirbt die ganze Herde.« Unser Klassensprecher versucht die Gruppe zu verteidigen: »Wie sollten wir denn pro-westlich gestimmt sein? Wir haben den Westen nie gesehen und können uns daher keine eigene Meinung über ihn bilden. Doch was wir im Praktikum mit eigenen Augen gesehen haben, darüber machen wir uns Gedanken und diskutieren wir. In einem Jahr bekommen wir Ingenieurdiplome und werden als
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landwirtschaftliche Führungskräfte eingesetzt, sagt man uns. Ist uns denn das Denken nicht gestattet?« In diesem Jahr wird das Stipendiengesetz geändert. Die Stipendien werden erhöht, sie liegen jetzt zwischen 35 und 44 Rubel, womit sie in etwa dem Verdienst eines ungelernten Arbeiters entsprechen. Außerdem muss man jetzt nicht nur gute Noten haben, um ein Stipendium zu erhalten, sondern auch nachweisen, dass man aus einer einkommensschwachen Familie stammt. Also besorge ich mir drei Bescheinigungen, von denen die erste besagt, dass zu meiner Familie meine Mutter und mein Bruder gehören. Die zweite Bescheinigung bestätigt, dass meine Mutter eine Witwenrente von 9 Rubel und 30 Kopeken bekommt und die dritte zeigt, dass mein Bruder »Arbeitsinvalide 2. Gruppe« ist und ebenfalls eine Rente von 9 Rubel und 30 Kopeken erhält. Die Rentner, Studenten und ungelernten Arbeiter sind in der UdSSR die sozial Schwachen. In der UdSSR werden alle Preise vom Staat bestimmt und sind für den größten Teil des Landes einheitlich. Die Kaufkraft, die das sowjetische Geld zu dieser Zeit hat, ist aus folgenden Preisen vom Winter 1963/64 zu ersehen: Mischbrot 1 kg 0,15 Rubel Weißbrot 1 kg 0,24 Rubel Butter (je nach Sorte) 1 kg 2,80 bis 3,62 Rubel Rindfleisch 1 kg 1,90 Rubel Hühnerfleisch 1 kg 2,50 Rubel Zucker (je nach Qualität) 1 kg 0,78 bis 0,95 Rubel An diesen Zahlen erkennt man sofort, dass ein Rentner, obwohl die Brotpreise sehr niedrig gehalten werden, von seiner Rente unmöglich existieren kann. Das Einkommen der Studenten und ungelernten Arbeiter ist drei- bis fünfmal so hoch wie das der Rentner. In diesem Winter herrscht ein besonders starker Mangel an Lebensmitteln. Vor den Lebensmittelgeschäften bilden sich lange Schlangen. Weißbrot ist aus dem Handel verschwunden. Es gibt nur schweres, schlecht durchgebackenes Mischbrot aus Roggen und Mais.
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In Zelinograd bricht eine Gelbsuchtepidemie aus. Die ersten erkennbaren Fälle werden sofort in die Krankenhäuser eingeliefert. Die Bevölkerung wird prophylaktisch geimpft. Trotzdem greift die Seuche um sich und die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand. Es reisen Ärzte aus Leningrad, Moskau, Kiew und Almaty an. Die Krankenhäuser sind überfüllt und daher werden in verschiedenen Stadtteilen provisorisch Lazarette in sechs 5-geschossigen Neubauten eingerichtet. Dennoch können die Kranken nicht vorschriftsmäßig 42 Tage lang stationär behandelt werden, sondern sie werden nach 21 Tagen, wenn sie für die Umgebung wieder ungefährlich sind, entlassen. Von acht Studentinnen unseres Kurses, die in drei Zimmern des Studentenheimes untergebracht sind, bleiben nur zwei auf den Beinen. Sechs Kolleginnen sind in vier verschiedene Krankenhäuser eingewiesen worden. Die Verpflegung der Kranken bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Ihre Nahrung besteht hauptsächlich aus Hirseoder Haferbrei und Kartoffeln. Die Verwandten der Patienten werden aufgefordert, dafür aufzukommen. Die Studenten sind schlimm dran, denn nur wenige von ihnen haben Verwandte in der Stadt. Als ich Sabine ins Krankenhaus begleite, empfiehlt mir die Ärztin, ihr etwas Kräftiges zum Essen zu beschaffen. Die Kranken sollen eine bestimmte Diät einhalten: Sie dürfen nichts Fettes, Gebratenes oder stark Gewürztes zu sich nehmen. Erlaubt sind Obst, Gemüse und mageres Rind- oder Geflügelfleisch. Ich gehe in mehrere Lebensmittelgeschäfte. Überall dasselbe Trauerspiel: Viele Menschen, aber keine Spur von Obst, Rindfleisch oder Geflügel. Kartoffeln, Kraut und Karotten gibt es zu kaufen, aber die Ware ist dreckig, glitschig und halb verfault. Ich sehe die verzweifelten, besorgten Gesichter der anstehenden Frauen und mir wird zum ersten Mal so richtig bewusst, wie gut es mir eigentlich geht, da ich mich nur um mich selbst kümmern muss und keine Familie mit Kleinkindern zu versorgen habe. Ich denke, wie privilegiert wir doch sind, indem wir die Studentenkantine in Anspruch nehmen dürfen. Meine Kollegin, deren Schwester auch im Krankenhaus ist, fährt zu ihren Eltern in den Kolchos und bringt von dort vier gefrore-
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ne Hähnchen und einen Rucksack mit Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten mit. Täglich schmoren oder kochen wir sparsam Hähnchen mit Gemüse, teilen es in sechs Portionen und versorgen unsere Erkrankten, die in vier verschiedenen Krankenhäusern liegen. Das ist mühsam, denn die Busse gehen unregelmäßig und sind überfüllt. Die Prüfungen beginnen und nur etwa ein Drittel unserer Gruppe erscheint. So stark hat die Gelbsucht unsere Reihen gelichtet. Am letzten Prüfungstag wird Sabine aus dem Krankenhaus entlassen. Darüber freue ich mich sehr. Ich kann ihr wenigstens noch ihre Kleidung bringen und sie abholen, denn am nächsten Tag schon muss ich zum Diplompraktikum fahren. Sabine ist noch nicht gesund, sie hat Tabletten mitbekommen, die sie dreimal täglich einnehmen soll. Außerdem hat man ihr eine Bescheinigung gegeben, mit der sie als Kranke Anspruch auf ein halbes Kilo Weißbrot täglich hat. Sie ist sehr mager, ihr Gesicht ist gelb und ihre Schönheit ist erst einmal dahin. Sie beginnt sofort, sich auf die Prüfungen vorzubereiten und kommt schließlich mit einer zweiwöchigen Verspätung zu mir nach Kokschetau ins Praktikum, das insgesamt drei Monate dauert. Wir bemühen uns, genügend Material für unsere Diplomarbeit zu sammeln und nicht aus der Reihe zu tanzen ... Während des Praktikums ereignet sich nichts Interessantes außer folgender Begegnung: Da sitzen wir in einem Raum mit einem ungewöhnlichen Typen, der Architekt ist und uns stolz erzählt, er habe vier Jahre Architektur in Weimar studiert. Er ist der erste und einzige Sowjetbürger, den wir treffen, der Deutschland und die Deutschen persönlich kennen gelernt hat und viel Gutes und Wissenswertes über sie erzählt. Vor einer Mittagspause fragt Sabine mich leise: »Wo essen wir heute?« Sie fragt es auf Deutsch und ich antworte ihr ebenfalls auf Deutsch. Der Architekt hört das und dreht sich ruckartig um: »Ihr sprecht Deutsch?« »Entschuldigen Sie, bitte. Wir tun das ganz leise, um kein Aufsehen oder Anstoß zu erregen.« »Woher könnt ihr Deutsch?«
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»Wir sind Deutsche, das wissen Sie doch. Warum wundern Sie sich also? Glauben Sie uns etwa nicht? Unsere Familiennamen beweisen es schließlich.« »Ich weiß. Aber ihr seid doch keine richtigen Deutschen?! Ich habe schon viele Leute mit solchen Namen getroffen, die aber kein Wort Deutsch sprachen. Dort, im Nachbarzimmer sitzt Alexander Sagorodnyj, der hat eine Russin geheiratet und auch ihren Familiennamen angenommen. Er war Deutscher und hieß Harder. Jetzt ist er Russe und heißt Sagorodnyj.« »Das ist seine Sache«, sagt Sabine. »So etwas soll es geben, aber nicht sehr oft«, meine ich. »Woher könnt ihr denn Deutsch?«, fragt er weiter. »Seid ihr je in Deutschland gewesen?« »Wir hatten in der Schule und in der Hochschule Deutsch als Fremdsprache«, erklärt Sabine. »Macht mir doch nichts vor! Dort erlernt man die Sprache nicht so, dass man sie wie ihr fließend sprechen könnte!«, sagt er. »Nun ja, wir haben zusätzlich unsere eigenen Universitäten, wie Maxim Gorkij. - Wir lernen unsere Muttersprache bei unseren Müttern und Großmüttern.« Wir klären ihn über das Phänomen der Sowjetdeutschen auf. Er wundert sich sehr und behauptet, nie etwas von einem Volk gehört zu haben, das in der UdSSR ausgelöscht werden soll. Er erzählt uns die Geschichte der Stadt Weimar, von ihren Architekturdenkmälern und Museen. Es sei, wie er sagt, die Goethe-Stadt und er weiß auch aus seinen Werken und Gedichten zu zitieren. Besonders viel erzählt er über das Studentenleben. »Die Deutschen sind ganz anders als wir Russen. Es gibt Lokale und Bierstuben, wo die Studenten ihre Freizeit verbringen. Und da wird kein Wodka getrunken, sondern Bier und Kaffee. Es wird diskutiert, gesungen und getanzt. Die Deutschen können auch ohne Alkohol lustig sein und sich amüsieren, wir Russen können das nicht.« Wir merken bald, dass er unter seinen Kollegen, Absolventen des Moskauer Architekturinstituts, nicht beliebt ist. Sie bespötteln sein
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Äußeres, denn er kleidet sich nach dem Vorbild westlicher Mode und fällt dadurch auf. Er trägt enge Hosen, einen grellen Pulli mit einem auffallend großen Rollkragen und Schuhe mit Absätzen. Er hat einen Bart und auch sein Haarschnitt entspricht nicht dem des sowjetischen Typen der Zukunft – die Haare fallen ihm auf die Schultern. Die Bemerkungen seiner Kollegen beachtet er nicht. Aber einmal kommt ihm die Galle hoch: »Ihr könnt mir den Bart nicht verbieten und euren Haarschnitt nicht aufzwingen. Ich kleide mich so, wie sich jetzt schon die halbe Welt kleidet. Ihr aber werdet das erst in vier bis fünf Jahren tun.« Das war zu viel gesagt und er wird kurz darauf zu einer Komsomolversammlung zitiert, in der »das Äußere und das Benehmen des Architekten Romanko« zur Diskussion stehen. Er ärgert sich, dass er noch nicht 28 Jahre alt ist und noch immer dem Komsomol angehört. Er sucht alle deutschen Schimpfworte zusammen, die es in seinem Wortschatz gibt, und genießt es, dass seine Peiniger ihn nicht verstehen können. Als wir wegfahren, erklärt er uns noch, dass er sich hier wie in der Verbannung fühle, weil er diese Stadt drei Jahre lang nicht verlassen dürfe. In der Arbeit werde er benachteiligt: Den Pionierpalast und die Schulen planten andere und ihm würden nur immer Milchvieh- und Schweinefarmen untergeschoben. Man wolle ihm beweisen, dass er in der DDR nichts Gescheites gelernt habe. »Wie bekamen Sie denn überhaupt die Erlaubnis, dort zu studieren?«, wollen wir wissen. »An das Moskauer Architekturinstitut kam aus der DDR der Vorschlag, einen Studentenaustausch durchzuführen. Die Wahl fiel auf mich, da ich dem Geheimdienst besonders zuverlässig erschien. Mein Vater ist im Zweiten Weltkrieg gefallen und mein Stiefvater ist in der Ukraine ein hohes Tier in der Partei. Da hat man mich geschult, wie ich mich zu benehmen habe, welche Fragen ich wie beantworten soll und dergleichen. Aber als ich zurückkam, gab ich dem KGB auf seine zahlreiche Fragen keine vernünftigen Antworten und wurde deswegen hierher zur Besserung geschickt.« Er lacht.
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»Jetzt bessere ich mich hier, befürchte nur, den Funktionären könnte es einfallen, mich wegen des Bartes und der Schuhe mit Absatz im Gefängnis bessern zu lassen.« Wir hören uns seine Klagen an, aber ich kann für ihn kein echtes Mitgefühl empfinden. Sabine klopft ihm lachend auf die Schulter: »Ist ja prima, dass sie manchmal auch den eigenen Leuten an den Kragen gehen. Nur so lernt ihr, uns zu verstehen.« Wir verlassen Kokschetau und er schreibt mir noch zwei Jahre lang Klagebriefe, bis seine Mitteilsamkeit verebbt. Gleich nach dem Praktikum fangen wir mit unseren Diplomarbeiten an. Es ist Sommer 1964 und Ministerpräsident Chruschtschow macht eine Reise durch Nordkasachstan, wobei er auch unsere Stadt besucht. Auf seiner Route werden »Potemkinsche Dörfer« errichtet. Im Gebiet Pawlodar zeigt man ihm eine der zwei vorhandenen deutschen Kolchosen, auf deren Feldern das Getreide besonders gut steht. Man verschweigt ihm aber, dass es sich um eine deutsche Wirtschaft handelt. In der Kurzbeschreibung, die man ihm aushändigt, liest er, die Siedlung sei 1905 von russischen Umsiedlern gegründet worden und 82 Prozent der heutigen Kolchosniks seien Russen. Tatsächlich wurde die Siedlung 1905 von Deutschen gegründet und 82 Prozent der Einwohner sind Deutsche. Im Gebiet Kokschetau verläuft Chruschtschows Route zwischen gewaltigen Weizenfeldern, in denen hier und da ein Büschel Wermut oder eine blaue Kornblume zu sehen ist. Zwei Tage vor seiner Ankunft kommt eine Schar Schulkinder, um die Felder zu jäten. Sie trampeln dabei den Weizen in den Boden. Als Chruschtschow kurz darauf vorbeifährt, sieht er frisch umgepflügten Acker und ihm wird erklärt, es seien Brachfelder. Im Gebiet Zelinograd will man ihm eine Brigade im Neulandsowchos zeigen. Man bereitet sich gründlich auf den Empfang vor: Aus der Lehmhütte, die als Brigadeunterkunft dient, werden die Pritschen und das Stroh entfernt. Es wird frisch gestrichen und schöne, teure Federbetten und Spiegelschränke werden auf das Feld geschafft und in dieser Hütte aufgestellt. Doch die Mühe ist umsonst, denn
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Chruschtschow lässt sich nicht zu dem Häuschen lenken. Er ist begeistert von den großen Ernteaussichten, verreibt ein paar Ähren auf seiner Handfläche und berechnet, wie viele Körner durchschnittlich in einer Ähre sind. In Zelinograd wird extra zu seinem Besuch die Hauptstraße »Prospekt des Friedens« nicht nur neu asphaltiert, sondern in Stahlbeton gekleidet. Unter den Fenstern unseres neuen Unterrichtsgebäudes und des Studentenheimes brummen und stöhnen eine Woche lang rund um die Uhr Großkipper und Schaufelbagger. In der letzten Nacht wird es still und ruhig. Bei Scheinwerferlicht und Mondschein werden blühende Stiefmütterchen gepflanzt. Acht Stunden später werden alle Studenten aufgefordert, sich auf die Straße zu begeben und auf beiden Seiten der Straße eine dichte, zweireihige Mauer zu bilden. Wir werden sogar aufgefordert, uns fest an den Händen zu fassen, damit aus dem hinter uns stehenden »unorganisierten Volk« niemand auf die Straße laufen und Chruschtschow eine Klage oder Bittschrift überreichen könne. Sabine und ich schauen uns wortlos an. Gibt es denn wirklich noch Menschen, die da glauben, der Ministerpräsident könne und werde ihnen helfen? Wir tun, was uns befohlen wurde, stehen Schulter an Schulter und drücken einander die Hände, als Chruschtschow mit seiner Ehreneskorte aus Dienstwagen und Motorrädern langsam vorbeifährt. Er winkt dem Volk wohlwollend zu. Dann wird uns befohlen, in den »Neulandpalast« zu gehen und den Saal zu besetzen – er soll überwiegend von Studenten gefüllt werden, damit das »unorganisierte Volk« draußen bleibt. Das ist uns zu dumm und nach einer Weile verdrücken wir uns über die Hinterhöfe und kehren in unser Studentenheim zurück. Wir beschäftigen uns mit unseren Diplomarbeiten, hören Nikitas Rede im Radio und unterhalten uns. »Kann denn das Volk wirklich nicht ohne Kulte leben? Kaum hat man den alten abgeschafft, schon legt man sich einen neuen zu. Stalin hat das Volk gewürgt, und wurde trotzdem von ihm angebetet. Der neue Kult ist offensichtlich blöd und niemand merkt, dass der König nackt ist«, sagt Sabine. »Ja, das Volk schafft sich Götzen und betet sie an.«
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In diesem Augenblick hören wir im Radio Nikitas Stimme: »Die Erschließung des Neulands ist mein größter Erfolg! Und dafür danke ich euch, meine Freunde! Meine Feinde hofften, dieses ganze Unternehmen würde scheitern und mit ihm auch ich. Heute feiere ich meinen Sieg und sage ihnen: Tschto, Wykusili?! Pokasal ja wam Kuskinu Mat?!« Sabine lacht: »Da haben wir es! Ist es nicht ausgesprochen blöde, sich in der Öffentlichkeit solcher Redensarten zu bedienen? Sie bedeuten nichts und sind in keine andere Sprache übersetzbar. Hat denn ein Präsident irgendeines zivilisierten Landes solche Ausdrücke in seinem Wortschatz? Diese Redensarten klingen fast wie Mutterflüche. Und das wird auch noch im Radio übertragen!« »Reg dich nicht auf. Er ist der Richtige für dieses Land ... Hör doch, das Volk klatscht und jubelt ihm zu. Er hat einen stürmischen Applaus geerntet.« Bald darauf geben wir unsere Diplomarbeiten ab, verteidigen sie erfolgreich in der mündlichen Prüfung und bekommen dafür beide die Note »ausgezeichnet«. Außerdem hat die Prüfungskommission noch einen Punkt über mich ins Protokoll geschrieben, der am Diplomierungstag vorgelesen wird. Die Kommission findet, ich sei für Forschungsarbeiten geeignet und empfiehlt mir, meine Ausbildung in der Aspirantur fortzusetzen. Ich weiß nicht einmal, was das Wort bedeutet, begreife nur, dass ich weiterlernen soll, und lehne vorläufig ab. Ich bin müde vom Lernen und vom Hungern. Alles, was in diesem letzten Studienjahr passiert, geht irgendwie an mir vorbei, ohne meine Seele und meine Gefühle zu berühren. In diesem Jahr bekomme ich auch noch zwei Liebeserklärungen, die ich sofort mit folgenden Worten ablehne: »Schon gut, schon gut. Das hab ich alles schon einmal gehört. Könntest dir was Neues einfallen lassen.« und »Liebe ist ein großes Talent. Alle sprechen von ihr, aber nur wenige erleben sie wirklich.« Als Sabine sich kurz vor dem Abschluss entschließt, einen Koreaner zu heiraten, bin ich empört und rede auf sie ein, sie sollte das lieber
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nicht tun. Sie werde sich ins Unglück stürzen. Sabine ist jetzt 23 und meint, sie sei für eine Ehe schon bald zu alt. »Ein Mensch ist nie alt genug, um sich unglücklich zu machen, sagt meine Mutter«, gebe ich ihr zu bedenken. Sie hört nicht auf mich: »Lass mich mit deinen Weisheiten in Ruhe.« Sabine geht zum Standesamt. Ich weigere mich, sie zu begleiten. Es regnet. Sie kommt ganz nass zurück. Ich gratuliere ihr nicht und kümmere mich auch nicht um sie. »Hör mal«, sagt sie irgendwie schuldbewußt. »Sei mir nicht böse. Aus der Eheschließung ist nichts geworden. Mein Pass ist nicht mehr gültig. Ich soll erst einen neuen beantragen, und bis der fertig ist, vergehen mindestens 4 bis 6 Wochen.« »Hoffentlich überlegst du es dir in dieser Zeit anders«, sage ich erleichtert. Bei der Abschlussfeier werden zehn Studenten, darunter auch mir, für ihre Verdienste um die Neulanderschließung feierlich Medaillen überreicht. Ich freue mich nicht besonders, Ingenieurin geworden zu sein und mein Ziel erreicht zu haben. Deutlich spüre ich, dass mein »Ich« sich geteilt hat, gespalten ist. Der eine Teil lebt dieses äußere Leben, der andere Teil ist ein kalter, distanzierter Beobachter, der alles sieht, analysiert, fixiert... Nach einem Monat Urlaub fahre ich nach Jesil zu meinem ersten Arbeitseinsatz und erfahre im Zug, dass Chruschtschow all seiner Posten enthoben wurde, während er sich in Sotschi zur Erholung befand.
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Die Kloake
Nach dem Abschluss arbeite ich zwei Jahre lang als Kreisarchitekt in der Stadt Jesil. Ich leite die Abteilung für Bauwesen und Architektur im Exekutivkomitee des Kreisrates der Deputierten, wo es außer mir noch zwei Mitarbeiter gibt. Wir haben insgesamt 31 Siedlungen zu betreuen, darunter die Eisenbahnsiedlung Surgan, 18 Zentralhöfe von Sowchosen, 3 Zentralsiedlungen von Kolchosen. Unsere Aufgabe ist es, für alle Bauvorhaben im Kreis die Baugenehmigung vorzubereiten, den Bauleitern beim Abstecken zu helfen, den Bau zu überwachen, die Baufinanzierungen zu prüfen und die Kommission für Bauabnahme zu leiten. Das Klima ist extrem kontinental und trocken, das Gebiet gehört zur Zone der trockenen Steppe. Die Sowchosen wurden alle während der Neulanderschließung in den Jahren 1954 bis 1956 auf Ländereien des staatlichen Bodenfonds gegründet. Die Stadt Jesil, die etwa fünf Kilometer vom Fluss Ischim entfernt liegt, ist schon früher als Eisenbahnsiedlung entstanden. Jetzt zählt sie etwa 30.000 Einwohner, hat keine asphaltierten Straßen, ist staubig und besteht aus einem Haufen niedriger Lehmhütten mit flachen Dächern. Nur das Stadtzentrum, das an den Bahnhof grenzt, ist mit öffentlichen und zwei- bis vierstöckigen Wohnhäusern bebaut. Die Eisenbahnlinie teilt die Stadt in zwei nicht miteinander verbundene Teile auf. Der Boden ist salpetrig und Grünanlagen sind sehr rar. Im Kreis herrscht eine chronische Wohnungsnot. In den Dörfern beträgt die Wohnfläche weniger als acht Quadratmeter pro Person. Nur 2,7 Prozent der Wohnungen haben fließendes Wasser und 64 Prozent haben Stromanschluss (12, S. 72). In der Stadt, wo der Andrang von Arbeitskräften aus Zentralrussland besonders groß ist, dürfte die Wohnfläche pro Person sechs Quadratmeter kaum überschreiten. Gleich am Tag meiner Ankunft melde ich mich beim Vorsitzenden des Kreisrates, einem soliden Kasachen, der mich unfreundlich empfängt:
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»Wir haben bisher keinen Architekten gehabt, obwohl im Kreis viel gebaut wird. Das Gehalt des Architekten hat bisher mein Chauffeur bekommen. Er hat mich gefahren und was können Sie? Können Sie Auto fahren?« »Nein, ich bin kein Chauffeur. Ich bin Ingenieurin für rationelle Bodennutzung, auf Siedlungsplanung spezialisiert. Ich kann nur das, was ich studiert habe.« Am liebsten wäre ich sofort wieder abgereist. Als ich ins Hotel zurück komme, entdecke ich, dass ich bestohlen worden bin und von meinen 30 Rubel nur noch die 3 übrig sind, die ich in meinem Geldbeutel habe. Ich kann nicht einmal das Hotel bezahlen. Aber an wen soll ich mich wenden? Ich erzähle es meiner Kollegin Walja und bitte sie, mir Geld zu leihen. Sie lädt mich ein, zu ihr ins Nebengebäude zu ziehen, das eine Art Sommerküche darstellt und nur aus einem Raum besteht. Was bleibt mir übrig? Am nächsten Tag gehe ich zu ihr, streiche den Raum an und dichte die Fenster ab. Plötzlich packt mich jemand von hinten an den Ellbogen und beginnt, mich am Hals zu küssen. Es ist Waljas Ehemann. Ich wehre mich, versuche mich loszureißen, wobei ich ihm mit meinen Haarspangen so das Gesicht zerkratze, dass Blut fließt, und mit meinen Händen beschmiere ich seine Kleidung mit Fensterkitt. Schließlich gelingt es mir, mich zu befreien und auf die Straße zu laufen, wobei der Hund, der im Hof angekettet ist, auch noch versucht, mich an den Fersen zu packen. Na, das fängt ja gut an! Das kann hier heiter werden. Von meiner Gleichgültigkeit meinem Schicksal gegenüber und meiner Melancholie spüre ich nichts mehr. Hier heißt es kämpfen, um nicht unterzugehen. Heute muss ich mein Gepäck bei der Aufbewahrung abholen, weil sonst Gebühren entstehen, und Geld habe ich ja nicht. Ich suche Walja an ihrem Arbeitsplatz auf und wünsche sie zu sprechen. »Du weißt, meine Lage ist ausweglos und doch bezweifle ich, ob ich von deinem Angebot, ins Nebenhaus zu ziehen, Gebrauch machen kann«, sage ich und erzähle ihr von dem Vorfall mit ihrem Mann.
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»Er sagte noch, wenn ich es dir erzähle, würdet ihr beiden mir das Leben zur Hölle machen und ich könnte hier dann nicht in Ruhe arbeiten. Du würdest mir natürlich sowieso nicht glauben, dass er so hungrig sei...« Sie errötet: »Ich kenne meinen Mann nur zu gut, um dir die Schuld zu geben. Ich schäme mich so für ihn!« Wir holen zusammen mein Gepäck aus der Aufbewahrung und ich wohne zunächst anderthalb Monate in dem Nebenhaus. Ich bin zu dieser Zeit viel unterwegs, um mir alle Siedlungen des Kreises anzuschauen. Manche Dörfer haben einen Bebauungsplan, in anderen wird ohne gebaut. Im November ist es bereits ziemlich kalt, jedoch liegt noch fast kein Schnee. Eines Tages kehre ich um Mitternacht von einer Dienstreise zurück. In meiner Behausung ist es so kalt, dass das Wasser im Eimer und im Teekessel gefroren ist. Das Thermometer an der Wand zeigt minus 9 Grad. Ich lege mich im Skianzug, in Wollsocken und mit einem warmen Kopftuch ins Bett und versuche zu schlafen. Am Morgen gehe ich zu Seken Ramasanowitsch, dem Vorsitzenden des Kreisrates, und sage kategorisch: »Entweder besorgen Sie mir eine vernünftige Wohnmöglichkeit oder Sie bestätigen mir auf meiner Einweisung, dass Stadt und Kreis Jesil keinen Architekten brauchen. Dann wird mir mein Vorgesetzter in Zelinograd einen anderen Arbeitsplatz zuweisen.« Es wirkt. Am nächsten Tag ziehe ich in eine Wohnung, die dem Kreiskrankenhaus gehört und in der drei junge Krankenschwestern – Lettinnen aus Riga - wohnen. Die Wohnung hat Zentralheizung sowie Wasserund Kanalanschluß. Nur heißes Wasser fehlt. Die drei Mädchen heben sich von den Einheimischen sehr ab: Sie sind modern und mit Geschmack gekleidet, verwenden Schminke und Parfüm, sind lustig und aufgeschlossen. Zwei von ihnen, Walja und Galja, sind erst 19 Jahre jung. Sie sind groß und schlank und arbeiten im Krankenhaus im Schichtdienst. Die Dritte, Lenka, eine sehr kleine Blondine, ist 21 und arbeitet als Inspektorin der Sanitätsstation. Sie muss wie auch ich jetzt fast zwei Kilometer durch die Stadt zu ihrem Arbeitsplatz laufen.
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Die Wohnung besteht aus zwei Zimmern, einer Küche und einem Bad mit WC. Im größeren Durchgangszimmer schlafen Walja und Galja, ins kleinere Zimmer, wo bisher nur Lenka geschlafen hat, stelle ich mein Klappbett, eine kleine Kommode und zwei Stühle, die ich mir schon angeschafft habe. Den Winter verbringen wir friedlich und harmonisch. Die Mädchen gehen oft in den Klub zum Tanzen, kommen manchmal mit jungen Männern zurück, legen Platten auf und tanzen zu Hause weiter. Es sind meist 17 bis 19-jährige Burschen aus der Abendschule, die zwar viel Lärm machen, sich aber doch recht anständig benehmen. Ich habe mir eine Handnähmaschine gekauft und lerne jetzt Zuschneiden und Nähen. Der Kreisrat hat für mich die Zeitschrift »Architektur der UdSSR« abonniert. Ich selbst bestelle noch zwei Zeitschriften aus der DDR – »Deutsche Architektur« und »Bauen auf dem Lande«. Somit ist für genügend Lesestoff gesorgt. An den zwei Zeitschriften aus Ostdeutschland interessiert mich nicht nur der Inhalt, sondern auch das technische Deutsch. Das beherrsche ich nur sehr mangelhaft. Die Briefe meiner Mutter und meiner Geschwister sind in dieser Zeit meine einzige Verbindung zur deutschen Volksminderheit. Kontakt zu meinen Kollegen habe ich nur noch durch meine Briefwechsel mit Sabine Nuß und dem Architekten Romanko. Meinen Geliebten Viktor habe ich keineswegs vergessen, nur gibt er ja kein Lebenszeichen von sich. Seine Adresse teilte mir mein Dekan schon vor langer Zeit mit. Jetzt, da ich in Jesil bin, halte ich es für möglich ihm zu schreiben, ohne den Verdacht zu wecken, mich an ihn zu klammern. Im ersten Brief berichte ich ihm, ich hätte meine Diplomarbeit mit Erfolg verteidigt und arbeite jetzt als Kreisarchitekt. Ich erinnere ihn an mein Versprechen, das ich ihm gegeben habe: Was auch immer passieren möge, er würde immer erfahren, wo ich stecke und wie es mir gehe. Dieses Versprechen wolle ich jetzt einlösen. Ich erwarte keine Antwort und bekomme sie auch nicht. Einen zweiten Brief schreibe ich ihm ein halbes Jahr später, nachdem ich einen seltsamen Traum hatte. Ich träume oft von meinem
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einstigen Freund, und so verschieden die Träume auch sein mögen, sie enden alle gleich: Er kehrt mir plötzlich den Rücken zu und geht weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Diesmal jedoch sehe ich ihn im Traum eine breite, mit Gras bewachsene Dorfstraße entlangkommen. Ich eile ihm entgegen, er streckt seine Arme aus und ruft meinen Namen. »Er ist ja blind! Er sieht mich gar nicht!«, durchfährt mich ein schrecklicher Gedanke und ... ich wache auf. »Träume sind Schäume«, denke ich. Doch in den Jahren meiner Beziehung mit Viktor habe ich seine Gedanken trotz weiter Entfernung zu lesen vermocht. Ich habe oft genau gewusst wo er ist und was er macht. Ich staune und wundere mich über dieses Phänomen, habe es aber vielfach getestet und es hat immer gestimmt. Seit er mich vor einem Jahr verließ, glaube ich, diese Fähigkeit verloren zu haben. Dieser seltsame Traum bringt mich dennoch auf den Gedanken, ihm könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein. In meinem zweiten und letzten Brief schreibe ich ihm, er könne immer auf meine Liebe und Freundschaft zählen, falls er sie je brauchen würde. Auch dieser Brief bleibt ohne Antwort. Ich ahne nicht, dass meine Liebesgeschichte eine eigenartige Fortsetzung haben wird... Vorläufig wohne ich mit den drei Krankenschwestern in einer Wohnung und versuche, mein Dasein in größtmöglichem Einklang mit meinem inneren Kompass zu gestalten. Wenn es an den Abenden oder Wochenenden im Nebenzimmer zu laut wird und ich mich nicht mit meinen Angelegenheiten beschäftigen kann, gehe ich in die Küche, stelle Tee auf und lade die ganze Sippe an den Tisch ein. Unter den Freunden der Mädchen sind ein paar Ärzte, mit denen sie über ihre Arbeit diskutieren. Wenn wir an freien Abenden allein sind und es bei uns still und behaglich ist, zausen die Mädchen gerne an meinem Kopf herum, bauen verschiedene komplizierte Frisuren auf, probieren verschiedene Lippen- und Lidstifte an mir aus und können sich nicht einig werden, was mir besser steht. Im Frühjahr nimmt unsere Idylle ein unverhofftes Ende. Ein fünftes Bett wird in die Wohnung gestellt und eine weitere Krankenschwester
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bei uns einquartiert. Es ist eine etwa 30-jährige Russin, die einen schmuddeligen Eindruck macht. Sie raucht, ist geschwätzig, und erzählt uns sofort über sich, obwohl sie von niemandem gefragt wird. Sie sei geschieden, komme aus Dnepropetrowsk, wo ihre Mutter und ihr 10-jähriger Sohn lebten. Sie sagt, ihre Mutter habe einen unerträglichen Charakter, deshalb sei sie gezwungen gewesen, wegzugehen. »Mit meiner Alten ist nicht auszukommen. Ich hätte schon lange heiraten können, aber sie vereitelt immer alles. Sie schlägt sofort Alarm, wenn ich mit jemandem schlafe, und das lasse ich mir nicht gefallen. Soll sie jetzt sehen, wie sie ohne mich zurechtkommt. Hier habe ich einen Freund und ich hoffe, ihr werdet nichts dagegen haben, wenn ich mich mal mit ihm treffe.« In den folgenden Tagen stellt es sich heraus, sie hat nicht nur einen Freund, sondern mehrere und jeden Abend andere Freunde. Sie angelt sich in der ganzen Stadt Männer verschiedenen Alters und bringt sie in unsere Wohnung. Hier wird dann aufgetischt, Wodka getrunken und im Bett nebenan alles Mögliche getrieben, wofür sie sich mit Geld oder Geschenken bezahlen lässt. Diese Frau kümmert sich nicht um ihre Mitbewohnerinnen. Ihr ist es egal, ob die anderen zu Hause sind, ob sie schlafen, lesen oder Musik hören wollen. Sie nimmt ungefragt unser Geschirr und unsere Lebensmittel. So geht das bei uns etwa zwei Monate lang. Eines Nachts sind Lenka und ich allein zu Hause, da alle anderen im Krankenhaus Nachtschicht haben. »Adina, Dinka, hier ist jemand?«, schreit Lenka und ich wache auf. »Ach was, wer soll denn hier sein? Du hast vielleicht geträumt?!«, antworte ich. »Nein, hier auf meiner Bettkante sitzt jemand. Hilfe, Hilfe!«, schreit sie plötzlich. Ich springe auf, mache Licht und sehe mich im Schlafanzug einem fremden jungen Mann gegenüber. »Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«, frage ich. »Beruhige dich doch und geh wieder schlafen. Ich bin zu deiner Freundin gekommen, sie hat mich eingeladen.« Grinsend löscht er das Licht.
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»Das stimmt nicht, ich kenne ihn nicht. Glaub ihm nicht, hilf mir!«, schreit Lenka verzweifelt. Ich weiß, dass sie wegen der großen Sommerhitze nackt schläft und sich daher fürchtet, die Decke loszulassen. Ich reiche ihr das Nachthemd, in das sie unter der Decke schnell hineinschlüpft, mache wieder Licht und fordere den Mann auf, sofort die Wohnung zu verlassen, anderenfalls werde ich die Miliz rufen. Das beeindruckt ihn wenig. Es ist 3 Uhr nachts. Ich streife mir einen Mantel über und gehe hinaus zur nächsten Telefonzelle. Als der diensthabende Milizionär eintrifft, sieht er sich die demolierte Wohnungstür ruhig an und stellt fest: »Der Sachschaden ist nicht der Rede wert.« Dann begrüßt er den Eindringling freundlich: »Hallo! Bist etwas spät unterwegs, was? Solltest deine Visiten früher beenden. Na, dann mach’s gut.« Er scheint unseren ungebetenen Gast gut zu kennen, klopft ihm sogar auf die Schulter und verlässt die Wohnung. Ich gehe ihm nach und sage: »Morgen werde ich gegen Sie und diesen Mann Anzeige erstatten. Er hat die Tür eingedrückt, durch den so entstandenen Spalt seinen Arm geschoben, den Schlüssel aus dem Schloss gezogen und ist so in unsere Wohnung eingedrungen. Ihnen aber fällt nichts Besseres ein, als ihn bei diesen Straftaten zu unterstützen und ihm auch noch auf die Schulter zu klopfen!« Auf meinen Protest reagiert er überhaupt nicht. Als ich ins Zimmer zurückkehre, sehe ich Lenka noch immer verzweifelt kämpfen. Ihr Nachthemd ist mittlerweile von oben bis unten aufgerissen. Da packe ich einen Stuhl und gehe entschlossen auf den Burschen los: »Hau ab, du Hundesohn, sonst bringe ich dich um!« Ich schleudere den Stuhl in seine Richtung und treffe ihn. Endlich sieht er ein, dass es uns ernst ist, und läuft zur Tür hinaus. »Verrückte Weiber! Der Teufel soll euch holen!«, schreit er zum Abschied. Lenka weint:
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»Und wenn du ihn erschlagen hättest, dann hätte man uns auch noch die Schuld gegeben?!« »Nein, bei Gewalttaten ist Notwehr erlaubt. Trotzdem möchte ich niemanden umbringen.« Am nächsten Morgen gehe ich zu meinem Vorgesetzten, Seken Ramasanowitsch. Ich erzähle ihm, dass ich in der vergangenen Nacht fast zur Mörderin geworden sei und beklage mich: »Wir sind alleinstehende Frauen. Ist denn das ein Grund, ungestraft in unsere Wohnung einzudringen? Der Milizionär hat den Burschen geradezu ermutigt!« Mein Chef ruft die Milizbehörde an und lässt sich vom Vorfall der letzten Nacht berichten. Lenka wird vorgeladen und befragt, ob sie den Mann kenne und eingeladen hätte, was sie energisch verneint. Seken Ramasanowitsch sagt: »Für Vergewaltigung sieht das Gesetz bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug vor. Da kann der Bursche froh sein, dass es ihm nicht gelungen ist, sich diese Strafe zu verdienen. Ihr braucht euch so etwas nicht gefallen zu lassen.« »Wir geben diesem Burschen Gelegenheit, über sein Benehmen nachzudenken«, verspricht der Chef der Miliz. »Den sperren wir für 15 Tage ein und er wird die Straßen kehren. Diese Strafe hat er sich redlich verdient.« Tatsächlich fegt der Unhold in den folgenden zwei Wochen jeden Morgen die Straße, wobei Lenka und ich ihm im Vorbeigehen freundlich einen guten Morgen wünschen. Er aber tut so, als hätte er uns beide noch nie gesehen. Der negative Einfluss unserer neuen Mitbewohnerin macht sich bei den zwei Jüngeren sehr bald bemerkbar. Oft sitzen auch sie bis spät in die Nacht am Tisch und trinken Wodka. Bei einer von ihnen übernachtet auch schon ein Mann. An einem Samstag gehen Lenka und ich einkaufen. Wir bereiten zu Hause das Mittagessen vor und gehen danach ins öffentliche Bad, da es bei uns ja kein heißes Wasser gibt. Als wir wieder zurückkommen, treffen wir am Tisch eine lustige Gesellschaft an. In der
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Küche finden wir nur dreckiges Geschirr vor – unsere Buletten mit Bratkartoffeln und Salat sind verschwunden. »Wenn sie uns wenigstens die Semmeln gelassen hätten«, flüstert Lenka enttäuscht und seufzt. »Jetzt reicht es mir aber!«, schimpfe ich und gehe ins Zimmer. Ich wende mich an die am Tisch sitzenden Männer und fordere sie auf, unsere Wohnung sofort zu verlassen, die doch keine Gaststätte sei und auch keine andere öffentliche Einrichtung. »Wie Sie sicher bemerkt haben, hängt über unserem Eingang keine rote Laterne«, fahre ich fort. Die Männer erheben sich mit verlegenen und enttäuschten Mienen. Das russische Luder hält sie zurück: »Ihr wollt doch nicht wirklich gehen? Wegen dieser Verrückten?! Die ist ja völlig übergeschnappt.« Ich sage ihr energisch die Meinung: »Lenka und ich haben nicht eingekauft und gekocht, damit du dieses Rudel abfüttern kannst, sondern um selbst satt zu werden. Wenn du es noch einmal wagst, dich an unserem Geschirr und unseren Lebensmitteln zu bedienen, bringe ich dich in eine Heilanstalt oder ins Gefängnis – je nachdem, wo du hingehörst!« Die Männer verlassen unsere Wohnung. Sie pöbelt mich an: »Ha, ha, schau mal in den Spiegel, wie du aussiehst mit deinen nassen Haaren. Du bist ja nur neidisch auf meinen Erfolg, auf die vielen Liebhaber. Dich schaut doch kein Mann an!« »Es würde mich ekeln, wenn mich einer von deinen Männern auch nur ansähe. War deine Mutter etwa auch neidisch auf deine vielen Verehrer? Seid ihr deshalb nicht miteinander ausgekommen?« Jetzt flucht sie auf eine ganz entsetzliche und ordinäre Weise. »Auf eine wie dich sind wir nicht vorbereitet. Uns ist ja ständig vorgegaukelt worden, so etwas gebe es in der sozialistischen Gesellschaft nicht. In Büchern und Filmen wird behauptet, Menschen wie du gehörten der Vergangenheit an. Woher kommst du denn so plötzlich? Vom Mond? Oder aus Amerika?« Im Stadtzentrum wird ein Wohnhaus mit 48 Wohnungen gebaut. In eine dieser Wohnungen werden Lenka und ich einziehen, - das hat mein Vorgesetzter mir versprochen. Es wird allerdings noch zwei bis
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drei Wochen dauern bis das Haus bezugsfertig ist. Das Russenweib widert mich jedoch derart an, dass ich es überhaupt nicht mehr sehen möchte. Ich besuche eine Bekannte. Sie ist Hydrotechnikerin, und ich habe mit ihr schon öfter dienstlich zu tun gehabt. Ich klage ihr mein Leid, und sie lädt mich ein, die nächsten drei Wochen bei ihr zu wohnen. Als ich nach Hause gehe, um ein paar Sachen zu holen, erzählen mir die Mädchen triumphierend, sie hätten das Weib aus unserer Wohnung vertrieben. »Kinder, das könnt ihr doch nicht machen! Das gibt Ärger. Die Wohnung gehört dem Krankenhaus und der Chefarzt hat sie bei uns einquartiert. Wenn sie sich nun beschwert?!« »Keine Bange. Das wird sie nicht. Der Chefarzt hat hier eine Krankenschwester eingewiesen und keine Prostituierte. Wenn sie sich beklagt, erzählen wir ihm alles. Das haben wir ihr angedroht.« Sie kommt tatsächlich nicht mehr zurück. Manchmal treffe ich sie noch auf der Straße. Wenig später ziehen Lenka und ich in die neue Wohnung um. Wir richten uns ganz nach unserem Geschmack ein. Nach dem Umzug gehen wir öfter in den Klub, der jetzt nur etwa 150 Meter entfernt ist. Auf dem Hin- und Rückweg müssen wir immer durch eine kleine Grünanlage laufen, die unser Haus vom Klub trennt. Dort steigen wir buchstäblich über die verschlungenen Beine der hier unter fast jedem Baum und Busch liegenden Pärchen. Der Park verwandelt sich nämlich nachts in ein großes »Schlafzimmer unter freiem Himmel« ... Leonid Breshnjew hat zehn Jahre später vermutlich genau das damit gemeint (10, S. 36): »Es ging uns um die Planung des Menschenglücks ...«, als zur Erschließung des Neulands Mädchen und Frauen mobilisiert wurden. Nur hatte man bei dieser »Glücksplanung« vergessen, entsprechende Räume zur Verfügung zu stellen. Viele Leute treiben es daher im Freien, im Gebüsch – wie Hasen und Füchse. Wenn man wie Klaus Mehnert über die UdSSR schreibt (3, S. 74) »Die Prostitution tritt, soweit sie überhaupt vorhanden ist, kaum
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in Erscheinung«, könnte im Westen der Eindruck entstehen, der Sowjetregierung sei es gelungen, mit einem einfachen Verbot die Prostitution aus der Welt zu schaffen. Dem ist aber beileibe nicht so. Durch das Verbot ist sie lediglich in die Hinterhöfe gedrängt worden. Mit der Untersagung der Prostitution sind in der UdSSR die Vernachlässigung der Sexualhygiene und die Ablehnung der Sexualpädagogik eng verknüpft. Aus diesem Grund hat das Verbot zu einer dramatischen Zunahme der Geschlechtskrankheiten und Sittlichkeitsverbrechen geführt.
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Architekt in Jesil
Ich stürze mich in die Arbeit. Als Architekt muss ich mich in Jesil erst noch bewähren. Als ich zum ersten Mal eine Abnahmekommission leiten soll, wird mir übel mitgespielt: Ilja, einer meiner Mitarbeiter, ist irgendwo in den Dörfern unterwegs und macht Absteckungen, und Waljas kleine Tochter ist erkrankt. Walja fehlt deshalb schon mehrere Tage am Arbeitsplatz. Da sagt Seken Ramasanowitsch, man müsse dringend die Abnahmekommission einberufen und dem Chef der Bauverwaltung ein Wohngebäude mit acht Wohnungen abnehmen. »Aha, abnehmen?!«, denke ich, »Leicht gesagt, aber wie macht man das? Wir haben an den Projektinstituten an Praktika teilgenommen und sind mit Messgeräten auf Feldern herumgelaufen. Hätte man uns lieber beigebracht, wie man ein Bauobjekt ›abnimmt‹.« Mir bleibt keine Wahl – ich muss ins kalte Wasser stürzen. Ich telefoniere mit dem Brandschutzinspektor und einem Beamten der Sanitätsbehörde, die beide zur Abnahmekommission gehören. Insgesamt werden an der Abnahme sieben Personen teilnehmen, von denen ich bislang nur Markelov, den hiesigen Chef des staatlichen Baumontagebetriebs SMU, kenne. Wir kommen zur Baustelle. Als Erstes notiere ich mir, dass der Bauschutt noch nicht weggeräumt ist, das Grundstück noch keine Zufahrt hat, Grünanlagen, Bänke, Müllbehälter und die Außenbeleuchtung fehlen. »Das kommt alles noch, das kommt alles noch«, beteuert Markelov. »Heute wollen wir nur das Gebäude abstoßen!« »Aha, abstoßen?!«, denke ich, »Und was bedeutet das?« Gleich in der ersten Wohnung sage ich der einzigen anwesenden Frau, auf die Wand deutend: »Der Verputz ist aber von sehr schlechter Qualität. Sehen Sie mal, mit welch grobem Sand der Mörtel hergestellt ist.«
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»Alles nach GOST, nach Standard«, erwidert sie ruhig. »Die Sandkörner sind ja sieben bis zehn Millimeter groß, wo gibt es denn so einen Standard?« Die scheinen hier alle unter einer Decke zu stecken, denke ich ärgerlich, während ich mir die schlechte Qualität des Verputzes notiere. Dann entdecke ich, dass die meisten Kippfenster nicht eingehängt, sondern angenagelt sind und sich nicht öffnen lassen. Somit können sie ihre Funktion der Belüftung gar nicht erfüllen. Der Bretterfußboden hat in den meisten Räumen kein Lüftungsgitter. Als ich im Erdgeschoss in einer Küche den Wasserhahn öffne, fließt das Wasser sehr schwach, man könnte fast sagen, es tröpfelt. Im Obergeschoss kommt überhaupt keines. Ich notiere mir alles, aber Markelov und die anderen haben für alles Erklärungen, Argumente und Entschuldigungen: »Ach, in unserer trockenen Zone fault der Fußboden nicht. Wozu also sollte man die Konstruktion lüften können?!« »Die Bewohner werden schon wissen, was sie mit den Kippfenstern anzufangen haben.« »Ja, wenn Sie eine Ingenieurin sind, dann sollten Sie schon bemerkt haben, dass der Druck in der örtlichen Wasserleitung viel zu gering ist, um das Wasser ins Obergeschoss zu heben.« Darauf ich: »Aber den Unterlagen nach sollte der Fußboden gelüftet werden können, sollten die Klappfenster eingehängt und alle Wohnungen mit Wasser versorgt sein. Wieso weichen Sie vom Plan ab? Haben Sie dafür eine Genehmigung?« Ich schaue fragend und Hilfe suchend die beiden Inspektoren an, aber die interessieren sich nur für ihre Spezialfragen. Der Hygieneinspektor überprüft, ob alle Küchen und Badezimmer gelüftet werden können, also ob es dort Lüftungsgitter gibt. Der Brandschutzinspektor steigt auf den Dachboden, wohin ich ihm folge. Da notiert er sich, dass alle Teile des Dachstuhls aus konserviertem Holz hergestellt und für den Brandschutz dick gekalkt sind. Außerdem erkundigt er sich, ob eine Feuerleiter, ein Sandkasten,
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mehrere Eimer und Schaufeln vorhanden seien. Alles wird bejaht und er ist zufrieden. Jetzt fahren wir ins Kontor der SMU, wo die Abnahmeakten in fünffacher Ausfertigung unterschrieben werden sollen. Alle unterschreiben flott. Nur ich weigere mich, das zu tun. Markelov sagt: »Adina Petrowna, Sie können die Akten ruhig unterschreiben, und all Ihre Bedenken fixieren wir in einem Protokoll, das jedem Akt beigefügt wird.« Erst nachdem in die Akten ein Hinweis auf das Protokoll der zu beseitigenden Mängel aufgenommen und im Protokoll die Frist festgelegt ist, unterschreibe auch ich alle Akten. Ich will ja nicht den Bösewicht spielen! Ein Exemplar der ausgefertigten Papiere nehme ich mit. Am Morgen darauf werde ich zum Vorsitzenden vorgeladen. Als ich in sein Büro komme, sitzt dort auf dem Sofa ein Mann. Ich begrüße sie beide. Seken Ramasanowitsch fragt: »Na, Adina Petrowna, wie ging es Ihnen gestern? War alles in Ordnung? Haben Sie Markelov das Haus abgenommen?« Ich bejahe, weise aber darauf hin, dass es da einige zu beseitigende Mängel gebe. »Und wie sieht es mit den sanitären Einrichtungen aus? Wasserleitung, Kanalisation – alles in Ordnung?« »Ja. Nur der Druck in der Wasserleitung ist zu gering, deshalb kommt im Obergeschoss kein Wasser ...« Ich werde vom Lachen des Mannes, der auf dem Sofa sitzt, unterbrochen. »In der Schule neben dem Neubau funktioniert das WC im dritten Stock, der Druck reicht aus!«, erklärt er. »Aber Markelov sagte ...« »Markelov ist nicht zu trauen. Der lügt wie gedruckt, wenn es darum geht, ein Bauobjekt abzustoßen. Ich hätte Sie vorher aufklären sollen. Niemand ist so sehr daran interessiert, dass in den abgenommenen Objekten alles stimmt, wie Sie und ich. Und wissen Sie auch warum? Hier sitzt der Schuldirektor, seine Lehrer werden morgen oder übermorgen in das neue Haus einziehen und entdecken, dass
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die Wasserleitung nicht funktioniert. Was werden sie tun? Werden sie zu Markelov gehen? Mitnichten! Sie werden zu mir kommen, um sich zu beklagen. Hier, der Schuldirektor ist heute schon gekommen. Und was mache ich dann? Ich schicke die Leute zu Ihnen, Adina Petrowna, und Sie werden sehen müssen, wie Sie in Zukunft mit ihnen zurechtkommen. Verstehen Sie?« »Ja, Seken Ramasanowitsch. Aber Markelov hat ein Protokoll unterschrieben, in dem er sich verpflichtet hat, alle aufgezählten Mängel zu beseitigen. In diesem Protokoll habe ich auch auf die schlechte Qualität des Verputzes hingewiesen, obwohl man das jetzt nicht mehr ausbessern kann. Aber von der Wasserleitung habe ich nichts hineingeschrieben, weil ich mich mit seiner Erklärung über den Wasserdruck zufrieden gab.« »Gut, Adina Petrowna. Sie sind neu hier, und Markelov nutzt diesen Umstand aus. Versuchen Sie jetzt mal, die Sache zurecht zu biegen und kommen dann nochmal bei mir vorbei.« Ich schäme mich und über Markelov bin ich verärgert. »Was sagte der?«, überlege ich. » ›Wenn Sie eine Ingenieurin sind?‹ Na warte, dir werde ich schon zeigen, dass ich eine Ingenieurin bin!« Ich nehme das Nachschlagewerk für Bauwesen, beschaffe mir alle nötigen Daten und berechne den Druckabfall in der Wasserleitung unter Berücksichtigung der Höhe des Wasserturms und der Entfernung zum Neubau. Das Ergebnis zeigt, dass der Druck in der Leitung genügt, um das Wasser mindestens in eine Höhe von 12 bis 15 Meter zu fördern und nicht nur bis zu den lumpigen 3 bis 4 Metern dieses zweistöckigen Wohngebäudes. Ich begebe mich zu besagtem Bauobjekt. Dort treffe ich den Baumeister an. Als ich ihn auf die Wasserversorgung anspreche, berichtet er mir freudig: »Ist doch schon alles in Ordnung! Sehen Sie selbst – in allen Küchen fließt das Wasser. War ja auch nichts Schlimmes: Im Revisionsschacht war das Ventil nicht weit genug geöffnet. Markelov weiß noch nicht, dass ich die Ursache gefunden und beseitigt habe.«
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Wir fahren zusammen ins Kontor der SMU. Dort lege ich Markelov meine Berechnung vor und darf mir von ihm noch ein paar Minuten lang weitere Lügen anhören. Dann tritt der Baumeister vor und berichtet ihm, was Sache sei. »Sind Sie immer so schnell mit Lügen? Warum fragen Sie nicht Ihren Baumeister, wenn Sie selbst kein Ingenieur sind und sich nicht auskennen? Es ist nicht schwer, mich zu betrügen – ich bin erst seit drei Wochen hier. Nur haben Sie nicht bedacht, dass wir uns nicht zum letzten Mal gesehen haben. - Jetzt weiß ich, was auf mich zukommt, wenn Sie ein Gebäude abstoßen ... « Er ist verlegen und versucht, sich zu rechtfertigen. Noch am selben Tag berichte ich dem Vorsitzenden, dass mit dem Haus nun alles in Ordnung sei. Kurz darauf bekomme ich von ihm den Auftrag, Berichte über den Bauablauf der wichtigsten Objekte vorzubereiten. »Als Vorsitzender des Kreisrates werde ich mit den verschiedensten Dingen konfrontiert. Ich kann aber nicht in allen Bereichen gleich gut beschlagen sein. Von Beruf bin ich Lehrer, deshalb ist alles, was mit Bildung, Erziehung und Kultur zu tun hat, für mich einfach. Aber Industrie, Bauwesen und Architektur sind für mich kompliziert. Jetzt soll ich nach Zelinograd fahren und dort einen Bericht über den Bauablauf unserer wichtigsten Objekte erstatten. Sie sind Fachmann im Bauwesen, deshalb möchte ich die Bauobjekte mit Ihren Augen sehen und den Bericht mit Ihren Worten verfassen. Verstehen Sie?« Seine Einstellung gefällt mir, ich finde sie vernünftig und mache mich daran, seinen Auftrag auszuführen. Zu den wichtigsten Bauobjekten des Kreises gehören eine Bierbrauerei, ein Werk für Betonfertigteile und ein großes Getreidesilo. Ich schreibe für jedes Bauobjekt einen separaten Bericht nach einem bestimmten Schema. Zuerst sehe ich mir die Bauzeichnungen und die Kostenschätzung an. Daraus entnehme ich das Bauvolumen und die Gesamtkosten, aufgeteilt in Bau- und Ausrüstungskosten. Dann setzte ich mich mit der örtlichen Abteilung der Investitionsbank der UdSSR in
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Verbindung und erfrage, welcher Teil der Gesamtkosten für das laufende Jahr vorgemerkt und wie viel davon bereits investiert wurde. Jetzt suche ich die entsprechende Baustelle auf, sehe mir an, was schon ausgeführt ist und woran momentan gearbeitet wird. Ich notiere, wer der ausführende Bauunternehmer ist, wie viele Leute auf dem Bau arbeiten und welche Technik eingesetzt wird. Ich unterhalte mich – je nachdem, wen ich gerade antreffe – mit dem Bauleiter, Vorarbeiter oder Polier über die Arbeitsbedingungen, über die Sicherheitstechnik und die vorhandenen Mängel. Meistens beklagen sie sich über die schlechte Versorgung mit Baumaterial. Dadurch werde die Arbeit immer wieder verzögert. Als ich Ramasanow diese Berichte vorlege, zeigt er sich beeindruckt und gibt mir noch einen Auftrag. Er möchte einen ähnlichen Bericht über die Ziegelbrennerei haben, die ihm sehr am Herzen liegt, deren Finanzierung aber vor zwei Jahren nach einem Unfall mit Verlusten an Menschenleben eingestellt worden ist. Er will in Zelinograd die Gelegenheit nutzen und auf die Baufortsetzung der Ziegelfabrik drängen, da die Stadt und der Kreis dringend Baumaterial in großen Mengen brauchen. Es sei unvernünftig, Ziegelsteine von weit her zu transportieren, wo es doch an Ort und Stelle alle nötigen Rohstoffe in mehr als ausreichendem Maße gebe. Damit der Bericht überzeugend ist, soll er Beispiele enthalten, wie viele Mittelschulen, Kindergärten, Wohnungen oder Industriegebäude man aus den 12,5 Millionen Ziegeln, die dem Projekt nach jährlich erzeugt werden sollen, hergestellt werden könnten. Auf Anhieb kann ich ihm das nicht sagen, so gescheit bin ich nicht, doch nach etlichen Überlegungen und Berechnungen kriege ich auch diesen Bericht zu seiner vollen Zufriedenheit hin. Von nun an habe ich seine Achtung gewonnen. Und er sieht, dass ich das Gehalt eines Architekten wert bin, obwohl er mich nicht als Chauffeur einsetzen kann ... Ich bin kaum mit meiner letzten Arbeit fertig, da flattern schon neue wichtige Aufgaben ins Haus und fallen auf meinen Tisch. Die Abteilung für Bauwesen und Architektur des Exekutivkomitees in Zelinograd schickt mir die Anweisung, dass alle an der Errichtung
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des Getreidesilos beteiligten Fachkräfte einer Prüfung unterzogen werden sollen. Mir fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, den Vorsitz der Prüfungskommission zu übernehmen. Der Anweisung ist auch ein Fragebogen beigefügt, der mich in größte Panik versetzt. Wie soll ich Bauingenieure prüfen, wo ich doch selbst nur wenig vom »bewehrten Ortbeton in Gleitschalung« verstehe. Jetzt heißt es Pauken! Ich habe das Gefühl, mich auf diese Prüfung ernsthafter und gründlicher vorzubereiten als auf die Examina, die ich in meinem Studium zu bestehen hatte. Ich will ja nicht mein Gesicht verlieren! In unserer neuen Wohnung stört mich niemand an meinen Vorbereitungen. Da die Stadt Jesil keinen Bebauungsplan hat, wird er von einem Projektinstitut in Kiew erarbeitet. Als der Plan dem Vorsitzenden per Post zugestellt wird, gibt er ihn an mich weiter. Ich soll mich mit dem Material gründlich auseinandersetzen, alle Vor- und Nachteile genau herausarbeiten, da die Vertreter des Projektinstituts in etwa einem Monat kommen wollen und wir ihnen bis dahin ein Gutachten über ihre Arbeit erstellen müssen. Das Projekt gefällt mir nicht, denn es enthält mehr Negatives als Positives. Dem Plan nach soll die Stadt durch die Bahnstrecke geteilt bleiben, da keine Unter- oder Überführungen vorgesehen sind. Nicht einmal eine Fußgängerbrücke soll errichtet werden und so werden die Leute auch weiterhin mit ihren Kindern und den Einkaufstaschen unter den Zügen durchkriechen müssen. Der Transitverkehr soll weiterhin quer durch die Stadt fahren, da keine Umgehung eingeplant ist. Als die Projektautoren aus Kiew eintreffen, werden der Kreisvorstand sowie alle Fachleute und Parteifunktionäre zur Beratung eingeladen. Die Gäste, zwei Damen und ein Herr, sind ihren Namen nach jüdischer Abstammung. Bei der Präsentation ihres Projekts hängen sie mehrere eindrucksvolle, bunte Zeichnungen aus. Die ältere der beiden Damen hält einen Vortrag über die verwendete Methode der Demographie, das städtebauliche Konzept und die funktionellen Zusammenhänge verschiedener Stadtteile. Dann ist die zweite Dame an der Reihe. Sie erzählt uns, wie die Gesamtwohnfläche
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ermittelt wurde, welche Gebäudetypen vorgesehen und welche betrieblichen Komplexe geplant sind. Der Herr berichtet schließlich über die Wasserversorgung, die Ortsentwässerung, die Gas- und Stromleitungen und andere technische Einrichtungen. Ich frage die ältere Dame, welche Projektperiode vorgesehen ist und wie oft sie aus Kiew nach Jesil gekommen seien, um sich die hier vorhandene Bebauung anzusehen und sie zu berücksichtigen. Sie antwortet, das Vorhaben sei in 25 Jahren abzuwickeln. Leider hätten sie nicht die Möglichkeit gehabt, Jesil aufzusuchen, wozu es aber auch keinen besonderen Anlass gegeben habe. Ihnen sei auch so alles klar, da gebe es nichts Besonderes zu berücksichtigen. Die andere Dame bitte ich, mir auf dem Bebauungsplan ganz konkret zu zeigen, wo das Industriegebiet und der Wohnungsbau vorgesehen seien, in welche Bereiche sich die Wohnsiedlung gliedere und wo die Höhendominanz der Stadt liege. Den Herrschaften aus Kiew werden noch Fragen über die Norm der Wohnfläche pro Person und über die Entwicklung des Transports sowie der Bauund Versorgungsindustrie gestellt. Dann erteilt Ramasanow mir das Wort. »Wir alle freuen uns auf das Projekt und hoffen, in Zukunft in einer modernen Stadt zu leben. Die Zeichnungen sind professionell und eindrucksvoll gefertigt. Nur bei näherer Betrachtung lässt der Bebauungsplan zu wünschen übrig. Damit Sie alle eine richtige Vorstellung vom Planinhalt bekommen, will ich sachlich, aber offen sein. Erstens bleiben die durch die Eisenbahn getrennten Stadtteile auch weiterhin ohne jegliche Verbindung, obwohl sie funktionell eng verflochten sind. Zweitens sieht der Plan keine Umleitung für den Transitverkehr vor ...« »Wo denken Sie hin? Das wäre viel zu teuer!«, unterbricht mich die ältere Dame. Ich fahre unbeirrt fort: »Drittens sollen, obwohl das vorhandene Straßennetz beibehalten wird, alle Straßen erweitert werden, wozu man mindestens 80 Prozent der vorhandenen Privathäuser abreißen müsste.« Geflüster und Geräusche der Empörung ziehen durch den Raum:
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»Das ist unmöglich, das können wir nicht ...« »Ohne den privaten Wohnungsbestand kommen wir nicht aus...« Und wieder ergreift die ältere Dame das Wort: »Sie brauchen ihn ja nicht abzutragen. Er kann bis zur vollen Amortisation bleiben.« Darauf ich: »Aber seine volle Amortisation liegt jenseits der 25 Jahre. Außerdem werden vom Projekt bedauerlicherweise mehrere unserer Neubauten nicht berücksichtigt. Zum Beispiel müsste, um dieser Querstraße die geplante Breite zu verschaffen, die neue Mittelschule aus dem Weg geräumt werden, denn sie liegt innerhalb des Straßenprofils. Und jene zwei Querstraßen können in den kommenden 25 Jahren auch nicht angelegt werden, weil die eine über den existierenden Friedhof führen würde ...« Die ältere Dame unterbricht mich abermals: »Wir schließen den Friedhof und sehen für ihn einen neuen Platz außerhalb der Stadt vor.« Hierzu erkläre ich: »Selbst wenn wir den Friedhof heute schließen, so müssen die bestehenden Gräber nach den geltenden Vorschriften noch 25 Jahre lang erhalten bleiben. Wir dürfen sie nicht einebnen und eine Straße über den Friedhof führen. Wir können ihn allenfalls in eine Grünanlage verwandeln. Und eine andere der vorgesehenen Querstraßen soll dort verlaufen, wo seit kurzem unser neuer Krankenhauskomplex steht. Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, ihn bald wieder abzureißen. Aus den genannten Gründen kann das Straßennetz in den kommenden 25 Jahren nach diesem Entwurf nicht realisiert werden. Vom Straßennetz hängt jedoch die gesamte Bebauung und Erschließung ab ....« »Das stimmt nicht. Wir machen Ihnen keine Vorschriften. Sie können bauen wo Sie wollen. Der Plan ist nicht verbindlich ...« »Wie bitte? Nicht verbindlich?! Wozu dann all diese schönen Zeichnungen, wenn man nach ihnen nicht bauen kann? Und bei der Planung der Wohnviertel hätten unsere Freunde aus Kiew sich wirklich etwas mehr Mühe geben können. Die Hauptstraße soll ih-
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rer ganzen Länge nach, etwa zwei Kilometer, nur mit zweigeschossigen Sektionswohnblöcken nach Typenentwürfen bebaut werden. Diese würden einen eintönigen, langweiligen Korridor bilden, ohne Rhythmik, Dominante, Ensemble oder anderer Abwechslung. Völlig geistlos, trostlos und einförmig!« Die jüngere der beiden Damen kontert: »Sie können ja andere Häusertypen verwenden und sie anders in den Raum stellen!« Darauf ich: »Ein Kollektiv hochgebildeter und gut bezahlter Leute erarbeitet in geraumer Zeit ein untaugliches Projekt und behauptet, jemand könne ja alles anders und besser machen! Wer denn? Wann? Und wie? Wäre es nicht Ihre Aufgabe und Pflicht gewesen?« »Was verstehst denn du davon?! Was bildest du dir ein?! Wer bist du überhaupt?!«, pöbelt mich die ältere Dame an und schäumt vor Wut. Seken Ramasanowitsch mischt sich ein: »Haben Sie Geduld, Sofja Abramowna! Bitte haben Sie Geduld. Wir haben Sie doch auch angehört. Adina Petrowna ist unsere junge Spezialistin. Mag sein, dass sie sich nicht immer diplomatisch genug ausdrückt, aber in der Sache hat sie recht.« Dann treten die Chefs der verschiedenen Bauunternehmen auf, sprechen über die Wohnungsnot, den Bedarf an Kindergärten, vom Straßenbau, vom Transitverkehr usw. Zusammenfassend sagt Ramasanow, das Projekt sei gut, aber im Protokoll würden die vom Kreisarchitekten genannten Mängel vermerkt und die Ingenieure würden gebeten, diese Mängel zu beseitigen. Zum Schluss bedankt sich Ramasanow bei den Anwesenden für die aktive Teilnahme an der Besprechung. Am Ausgang faucht mich die ältere Dame wie eine Katze an: »Du bist zu spät zur Welt gekommen! Wärst du mir früher begegnet, dir hätte ich’s gezeigt!« Ich gehe an ihr vorbei und denke: »Da ist sie schon wieder, die unbewältigte Vergangenheit. Sie alle trauern ihr nach und bedienen sich sogar derselben Ausdrücke. ›Zu spät zur Welt gekommen‹ – genau das sagte auch Portnoj.«
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Am nächsten Tag erscheinen die Projektautoren mit einem vorgefertigen Protokoll und die ältere Dame legt es mir vor, damit ich es unterschreibe. Ich lese und staune. Nur Lobgesang, Dankbarkeit an das Projektkollektiv und die hohe Qualität des Entwurfs werden betont. »Und die zu beseitigenden Mängel? Warum sind die hier nicht aufgeführt?«, frage ich. »Es gibt keine Mängel, das Projekt ist ausgezeichnet. Ihre private Meinung können Sie für sich behalten!« Ich unterschreibe nicht und sage: »Es ist immerhin die Meinung des Kreisarchitekten, der hier für alle Fragen der Bebauung zuständig ist.« »Das Protokoll ist auch ohne ihre Unterschrift gültig!«, meint die Dame. »Hauptsache, wir bekommen die Unterschrift des Vorsitzenden. Wir gehen jetzt zum Parteikomitee, ich werde mit Genosse Schendrik von Kommunist zu Kommunist reden, und Sie werden sehen, wer gewinnt«, wirft Sofja Abramowna mir zu. Und sie gewinnen tatsächlich. Zwei Stunden später verabschieden Sie sich von Seken Ramasanowitsch und mein Kollege Ryvkin begleitet sie zum Bahnhof. Ich bin zutiefst enttäuscht und sage dem Vorsitzenden: »Ich bemühe mich, der Stadt einen interessanten und brauchbaren Bebauungsplan zu verschaffen, und Sie unterschreiben so ein Halbfabrikat. Ich dachte, Sie seien ein Patriot und Chosjain dieser Stadt. Sagten Sie nicht, Sie möchten die Bauprojekte mit meinen Augen sehen? Habe ich Sie da etwa falsch verstanden?« Er ist verlegen: »Genosse Schendrik, der erste Parteisekretär, hat mich angerufen ... Es gibt da einen Parteiethos, der es nicht zulässt, dass man diesen Leuten ... die Prämie streicht.« »Wie bitte?! Prämie?! Dafür, dass sie Kommunisten sind, sollen diese Leute Prämien bekommen?«, ich bin fassungslos. »Sie lassen sich über den Tisch ziehen, zahlen diesen Ingenieuren gutes Geld für unausgegorene Pläne und nennen das Parteiethos?! Die Prämie sollten sich diese Leute verdienen, indem sie wirklich gute Arbeit leisten!«
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Daran ist nichts mehr zu ändern. Nach diesem Besuch aus Kiew haben sich mein Elan und meine Freude an der Arbeit verflüchtigt. Wo Arroganz und Borniertheit das Sagen haben, braucht man keine Fachkräfte. Von nun an betrachte ich meine Anwesenheit hier als völlig überflüssig.
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Substanz aus der Wüste
Lenka kehrt von einer ihrer Inspektionsfahrten zurück. Sie packt ihre Tasche aus. Es kommen Fleischkonserven, Wurst, Butter, Schokolade und andere Lebensmittel zum Vorschein, die in den Geschäften von Jesil nicht zu kaufen sind. Sie erzählt begeistert, im Sowchos Kalatschewskij gebe es die Geologensiedlung Stepnogorsk, wo man im Laden alles kaufen könne, was das Herz begehrt. Ich wundere mich: »Wie sagst du, heißt die Siedlung? Stepnogorsk? Aber solch eine Siedlung gibt es in meiner Liste nicht. Wenn sie zum Kreis Jesil gehört, sollte sie doch in meiner Liste aufgeführt sein?!« »Ich sag dir ja, es ist eine Geologensiedlung, die direkt einem Ministerium und nicht dem Kreis untersteht. Deshalb ist sie nicht in deiner Liste und deshalb ist dort die Versorgung auch so gut.« Ein paar Tage später erschüttert ein schreckliches Ereignis die kleine Stadt. Lenka geht morgens zur Arbeit und kommt wild erregt zurück: »Dinka, kanntest du den Arzt Kolpikov?« Ich schaue sie verwundert an. Hinter ihr steht ein Milizionär. »Wieso kannte? Ich kenne ihn: Gestern haben wir uns im Vorbeigehen einen guten Tag gewünscht.« »Wir haben eine Leiche gefunden. Vermutlich ist es der Arzt Kolpikov. Falls Sie ihn gekannt haben, nehme ich Sie zur Identifizierung mit!«, sagt der Milizionär. Ich lehne ab: »Meine Bekanntschaft mit den Ärzten beschränkt sich aufs Begrüßen auf der Straße. Da werden Ihnen seine Kollegen, die Ärzte und Krankenschwestern, nützlicher sein können.« Lenka nimmt ihren Pass und begleitet den Milizionär. Vier Wochen lang wirkt die Stadt wie ein aufgeschreckter Bienenschwarm. Überall wird nur über diesen Mord gesprochen, bis schließlich im Klub drei Tage lang ein öffentliches Gerichtsverfahren stattfindet. Es stellt sich heraus, dass sechs Männer – vier Ärzte, ein Zahntechniker und ein Feldscher – den 27. Geburtstag des Arztes Tschub
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gefeiert haben. Da der Sommer sehr heiß ist und die Lebensmittel in Jesil sehr knapp sind, weigert sich die schwangere Frau des Geburtstagskindes, den Tisch zu decken und sie schlägt ihrem Mann vor, mit seinen Freunden ins Restaurant zu gehen. Sie streiten sich, woraufhin die Frau allein zu Hause bleibt und er mit seinen Freunden in der Wohnung nebenan seinen Geburtstag feiert. Dort sind die Herren unter sich und es kommt nur wenig zu Essen auf den Tisch: Fischkonserven, Pellkartoffeln und Brot. Aber alkoholische Getränke sind in Hülle und Fülle da: Wodka, Cognac, Wein, Bier. Bald sind sie alle betrunken. Einer schläft ein und ein anderer geht in die Wohnung nebenan, wo Tschubs Frau ganz allein sitzt und sich Schallplatten anhört. Am Tisch sind vier Männer geblieben. Sie fangen an zu streiten und es kommt zu einer Schlägerei. Sie dreschen zu dritt auf Kolpikov ein, der sie angeblich alle beleidigt hat. Als er sich schließlich nicht mehr wehrt und regungslos in einer Blutlache am Boden liegt, lassen sie von ihm und gehen hinaus an die frische Nachtluft. Sie machen einen Spaziergang. Halb ernüchtert kehren sie zurück und sehen Kolpikov noch immer in der Blutlache liegen. Sie wollen sich um ihn kümmern, müssen aber feststellen, dass er tot ist, und werden endgültig nüchtern. Das Gericht wertet ihre Tat als fahrlässige Tötung, als Schlägerei mit tödlichem Ausgang. Das Geburtstagskind wird zu 10 Jahren, der 30-jährige Zahntechniker zu 6 und der jüngste von ihnen, der 23-jährige Feldscher, zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt. »Tschub kommt ins Straflager nach Stepnogorsk, seine Kameraden werden nach Zelinograd ins Gefängnis geschickt«, wird gesagt. »Hör mal!«, wende ich mich an meine Nachbarin, die ein Stockwerk über uns wohnt. Sie studiert an der Universität in Almaty im letzten Semester Jura und arbeitet am Volksgericht Jesil. »Warum soll Tschub nach Stepnogorsk kommen? Ich habe gehört, Stepnogorsk sei eine Geologensiedlung?« »Ja, das stimmt. Aber da gibt es auch ein Straflager, in dem die schlimmsten Verbrecher ihre Höchststrafen abbüßen. Da kommt keiner lebend heraus, es ist ein Todeslager!«, antwortet sie.
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Eines Abends kehren Lenka und ich spät von unseren Dienstreisen zurück. Wir sind sehr hungrig, finden aber in unserer Küche keine Vorräte. Um unseren Hunger zu stillen, müssen wir in das einzige Restaurant der Stadt gehen. Auf der Treppe vor dem Restaurant stehen angetrunkene Männer, die rauchen und fluchen. Wir müssen an ihnen vorbei. Plötzlich packen sie uns und zerren uns in verschiedene Richtungen. Wir halten uns aneinander fest und brüllen aus Leibeskräften. Da kommt jemand aus dem Restaurant heraus und ruft: »He! Seht ihr denn nicht? Die Mädchen wollen nicht mit euch gehen! Lasst sie sofort los!« Unser Retter wird angegriffen und fällt zu Boden. Wir werden losgelassen. Vom Parkplatz des Restaurants fahren mehrere Lastautos weg. Der Mann, der vor uns auf der Treppe liegt, ist der Arzt Sdolyni, der einzige Chirurg im Kreis Jesil. Wir erkennen, dass in seinem Bauch ein Messer steckt, laufen ins Restaurant und schreien: »Hilfe! Hilfe! Man hat auf Sdolyni eingestochen! Er liegt da draußen!« Ein Krankenwagen und die Miliz werden herbeigerufen. Wir können der Miliz keine vernünftige Auskunft geben, da wegen der Dunkelheit die Gesichter der Täter und die Kennzeichen ihrer Lastwagen nicht deutlich genug zu erkennen waren. »Nachts sind alle Katzen grau. Die Lastwagen waren alle mit irgendwelchen rechteckigen Dingern beladen. Es könnten Container sein«, gebe ich vage Auskunft. Der Arzt ist zum Glück am Leben. Einer seiner Kollegen, ein Berufsanfänger, operiert ihn, führt den vergleichsweise komplizierteren Eingriff aber nicht fachgerecht aus und so schwebt der Verletzte mehrere Wochen in Lebensgefahr. Kurz nach diesem Vorfall kommen drei Männer zu mir in die Abteilung für Bauwesen und Architektur, weisen sich als Vertreter der obersten Bergbaubehörde der Republik aus, und unterbreiten mir ihr Anliegen: Der Bau einer Bahntrasse, die Stepnogorsk mit Jesil verbinden soll, sei geplant. Und ich müsse entscheiden, wo der
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Anschluss an das bestehende Bahnnetz zu erfolgen habe. Wir schauen auf die Karte von Jesil und ich zeige mit dem Finger: »Hier, nördlich der Stadt, könnte man den Anschluss machen.« »Nein, nein«, lehnen die Männer ab, »die Güter müssen nach Süden transportiert werden. Der Anschluss sollte also südlich der Stadt liegen, damit wir die Fracht nicht durch die Siedlung zu fahren brauchen.« Ich frage: »Was ist das für eine Fracht, die da transportiert werden soll?« Sie schauen einander an und der eine sagt: »Das ist ein Staatsgeheimnis, aber Ihnen können wir es ja sagen. Im Sowchos Kalatschewskij wird Uranerz gewonnen und zum Anreicherungsbetrieb transportiert. Bis jetzt hat man das Erz in Containern mit Lastwagen nach Jesil gefahren und hier mit einem Portalkran auf Güterwaggons umgeladen. Aber auf die Dauer wird das zu teuer. Der Bahntransport direkt an den Bestimmungsort wäre da viel günstiger.« Ich fahre mit den Männern nach Stepnogorsk: Es ist eine neue Siedlung, die aus zwei- bis fünfgeschossigen Wohngebäuden besteht und meiner Schätzung nach etwa 800 bis 1000 Einwohner hat. Am Ortsrand stehen zahlreiche zweigeschossige Militärkasernen und weiter draußen, auf einer kahlen Anhöhe mit dunklem Felsboden, sehe ich lange niedrige Häftlingsbaracken. Ich zähle zwölf davon, bin mir aber nicht sicher, ob ich alle gesehen habe oder ob es davon nicht noch mehr gibt. Das Lager ist von einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben und wird von Soldaten, die auf Wachttürmen stehen, streng bewacht. Ich kann nicht schätzen, wie viele Soldaten und Sträflinge hier sind. Von der Erzgrube ist an der Erdoberfläche nichts zu sehen. Am Fuß der Anhöhe steht ein etwa fünf mal fünf Meter großes Ziegelgebäude, das mit dem Lager durch einen schmalen, steilen und steinigen Pfad verbunden ist. Leider komme ich nicht dazu, mich hier genauer umzusehen. Ich werde von den Männern zu einem Ladeplatz gebracht, auf dem ein großer Schuppen und eine noch größere Garage stehen. »Hier soll die Bahnabzweigung enden«, erklärt man mir. »Dann wären die Garage, all die Lastwagen mit ihren Fahrern und das Umladen überflüssig und die Erzbeförderung wäre billiger.«
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In Jesil bereite ich eine Zeichnung des Anschlusses der Bahnabzweigung vor, wobei ich auf Ortsbenennungen verzichten muss. Mir wird gesagt: »Wir wissen ja, welche Siedlungen diese Abzweigung verbinden soll. Schreiben Sie einfach ›eine 40 Kilometer lange Bahnverbindung zwischen J und S‹.« Die Männer bekommen von mir, was sie brauchen und verschwinden. Bei den kurz darauf stattfindenden Wahlen habe ich Telefondienst im Kreisrat und muss die Wahlergebnisse entgegennehmen. Bei dieser Gelegenheit bemerke ich, dass die Siedlung Stepnogorsk in den Wahllisten ganz harmlos unter der Bezeichnung »Dorfrat Sonne« geführt wird. Post erhalten die Einwohner von Stepnogorsk unter der Adresse »Briefkasten Nr. ...«. An einem Wochenende spricht mich ein Nachbar, der unter uns im Erdgeschoss wohnt, an: »Entschuldigen Sie bitte, ich bin Fernstudent und habe Schwierigkeiten mit einer Kontrollarbeit in Vermessungskunde. Könnten Sie mir bitte helfen?« »Ja, gern, aber nicht jetzt.« Ich schaue auf die Uhr: »Nach 15 Uhr, wenn es Ihnen passt.« Unter uns wohnen zwei Kaukasier. Der eine arbeitet als Elektroingenieur in der Verwaltung der Landwirtschaft. Sein Freund, der Fernstudent, ist am Bau tätig. Als Lenka und ich wieder einmal hungrig nach Hause kommen, gehe ich, während Lenka den Tee aufstellt, zu unseren Nachbarn, um ein Stück Brot und ein paar Eier zu borgen. »Eier und Brot haben wir nicht«, sagt Gilani, der Student. »Gehen wir vielleicht ins Restaurant, wo wir vernünftig essen könnten?« Ich schüttle energisch den Kopf. »Lieber verhungern wir, als ins Restaurant zu gehen. Da trauen wir uns nicht mal mehr am Tag hinein.« »Aber wenn ich mitkomme, habt ihr beide nichts zu befürchten«, sagt er und zeigt mir sein krummes Messer, das er immer bei sich trägt.
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»Wie im Wilden Westen!«, scherze ich. »Aber das beruhigt mich nicht. Ich will keine Messerstecherei mehr erleben.« »Na, wenn Sie nicht ins Restaurant gehen wollen, dann müssen Sie hungrig bleiben. Ich kann Ihnen nur noch ein Päckchen Kekse anbieten.« Er ist breitschultrig und hat grüne, glänzende Augen, wodurch er ein wenig einer großen Wildkatze ähnelt. Ich nehme die Kekse, bedanke mich und gehe. Zwischen uns entwickelt sich eine nette Bekanntschaft. Von nun an werde ich am Abend nach der Arbeit erwartet. Er macht sich Sorgen um mich und kümmert sich darum, dass ich auch etwas zu Essen habe. Seine Fürsorge tut mir gut. Er trägt mich auf Händen und ich lasse es geschehen. Wie alle Männer, will auch er als solcher behandelt und geschätzt werden. Ich bin eine erwachsene, normale Frau und habe nichts gegen normale zwischenmenschliche Beziehungen. Warum nicht? Er trinkt keinen Alkohol und man kann mit ihm über alles sprechen. Im Dezember 1964 wird ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 veröffentlicht. Dieses Dekret ändert das »Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 über die Umsiedlung der an der Wolga lebenden Deutschen«. Im Sommer 1965 schickt mir meine Mutter einen Brief mit einer Abschrift des neuen Dekrets, in dem unter Punkt 1 angeordnet wird, das Dekret vom 28. August 1941 in den Teilen aufzuheben, die allgemeine Beschuldigungen gegenüber den Wolgadeutschen enthalten. Unter Punkt 2 wird den Deutschen verordnet, auch weiterhin in den Verbannungsorten zu bleiben, weil sie sich dort eingelebt hätten und die Rayons ihrer früheren Wohnorte besiedelt seien. Ich empöre mich zutiefst über diese halbherzige Maßnahme und die Kaltschnäuzigkeit der Machthaber. Mit meiner Empörung bin ich aber nicht allein. Ende 1965 schickt mir meine Mutter einen weiteren Brief. Am 15. Juni 1965 sei eine Delegation von 30 Sowjetdeutschen in Moskau eingetroffen, um die Wiederherstellung der Autonomie der Deutschen an der Wolga und die volle Rehabilitierung aller Sowjetdeutschen
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zu beantragen. Die Delegierten werden von mehreren Vertretern des Zentralkomitees der KPdSU empfangen, denen sie ihr Anliegen unterbreiten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, legen die Delegierten eine Liste mit vielen Unterschriften vor und wünschen, vom Ministerpräsidenten Leonid Breshnjew empfangen zu werden. Dies wird vom Komitee abgelehnt: »Wir werden der Führung Ihre Wünsche überbringen. Aber diese Frage hat die Regierung schon erörtert, bevor das Dekret vom 29. August 1964 erlassen wurde, das die Sowjetdeutschen von allen politischen Anschuldigungen freispricht. Eine Massenumsiedlung verlangt einen großen Aufwand, fügt der Volkswirtschaft einen erheblichen Schaden zu und ist daher nicht zweckmäßig!« Ein anderer Vertreter des Zentralkomitees fügt hinzu: »Der Fleiß der Deutschen ist uns bekannt, aber man muss eine Reihe von Faktoren in Betracht ziehen. Das Territorium der ehemaligen Autonomen Republik an der Wolga ist besiedelt. Wenn wir eine Massenumsiedlung planen, müssen wir auch an neue Arbeitsplätze denken ...« Unverrichteter Dinge kehren die Delegierten nach Kasachstan zurück, doch sie geben nicht auf. Schon am 7. Juli 1965 fährt eine neue Delegation von 13 Personen nach Moskau und wird von Anastas J. Mikojan, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, empfangen. Im Verlauf von einer Stunde und vierzig Minuten sprechen neun Delegierte. In seiner Antwort sagt Mikojan, das Streben der Sowjetdeutschen nach Autonomie sei verständlich und die Wiederherstellung ihrer Republik wäre die einfachste Lösung des Problems. Aber das sei unmöglich, weil die Deutschen dort gebraucht würden, wo sie jetzt lebten. Ihre Abwanderung würde die Wirtschaft in manchen entlegenen Gebieten zum Erliegen bringen. Auch die zweite Delegation kehrt ohne Erfolg zurück und die Delegierten schreiben Mikojan einen Brief: »Wir sind keineswegs mit anderen Sowjetvölkern gleichberechtigt. Das Dekret vom 29. August 1964 hat uns zwar politisch rehabilitiert,
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setzt aber die Strafe nicht außer Kraft. Ebenso könnte man einem Menschen, der wegen eines schweren Verbrechens verurteilt ist und schon 23 Jahre im Gefängnis sitzt, sagen: ›Du bist unschuldig. Wir haben dich aus Versehen verurteilt. Da du dich aber im Gefängnis gut eingelebt hast und wir dich hier dringend brauchen, sollst du auch weiterhin hier bleiben‹.« Dieser Kampf der deutschen Volksminderheit um ihre Rechte bleibt ergebnislos. Die Delegierten halten den Verlauf und das Resultat der Verhandlungen schriftlich fest und verbreiten dieses Protokoll unter den Russlanddeutschen. Eine Abschrift erreicht auch mich. An einem Sonntag treffe ich auf der Straße eine Bekannte, die als Bauingenieurin bei der SMU arbeitet, und begrüße sie. »Guten Tag, Renata Michajlowna!« »Guten Tag! Sie haben sich meinen Namen gemerkt?«, fragt sie überrascht. »Ich habe einen seltsamen Namen, den sich eigentlich niemand merken kann!« »Sie haben einen deutschen Namen und ich bin eine Deutsche, warum sollte ich ihn mir nicht merken? Für die Russen klingt er vielleicht seltsam, aber nicht für mich.« Wir setzen uns auf eine Bank und ihre kleine Tochter hüpft daneben auf dem Bürgersteig herum. »Sie sind eine Deutsche? Sie wissen wenigstens, wer Sie sind und wo Sie hingehören. Ich bin im Kinderheim aufgewachsen und erinnere mich nicht einmal daran«, sagt sie traurig. »Na, wo ich hingehöre, das weiß ich auch nicht so recht. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass ich nicht hierher gehöre. Ich sollte Jesil verlassen. Aber wohin soll ich gehen? Wenn mir das jemand sagen könnte.« Sie lacht: »Das Gefühl, nicht hierher zu gehören, habe ich schon seit meiner Kindheit. Als ich älter wurde, erklärte ich es mir damit, dass ein Kind in eine Familie gehört und nicht in ein Kinderheim. Später heiratete ich und freute mich auf eine eigene Familie. Aber sehr bald stellte ich fest, dass ich auch dort fehl am Platz war. Mein Mann begann bald zu trinken und sich herumzutreiben. Als ich mich darüber
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beklagte und ihn zur Rede stellte, verprügelte er mich. Da habe ich meine Koffer gepackt und mir gesagt: ›Da gehöre ich nicht hin!‹. Und so lebe ich jetzt allein mit meiner Tochter.« Wir verabschieden uns, ich gehe und denke: »Wir sind entwurzelt, haben keine festen Bindungen zu Orten und Menschen. Wir leben ohne Hoffnungen, ohne Träume und ohne Ansprüche. Wir vergessen, wer wir sind und woher wir stammen. Wir lösen uns auf, indem wir die Sitten, den Glauben und die Sprache unseres Volkes verlieren.« Zu Hause erwartet mich ein Brief von Sabine. In einem ihrer letzten Briefe schrieb sie mir, sie hätte einen Deutschen geheiratet, und jetzt im Dezember 1965 bekomme ich die Nachricht, dass sie einen Sohn geboren hat. – Ein freudiger Lichtblick im Dunkel und Grau ... Mit meinem Freund, dem Tschetschenen Gilani, spreche ich über alles, was mich bewegt. Er hat Verständnis für meine nationalen Probleme und Gedanken. In seiner Gegenwart lese ich auch das Neue Testament, ein Geschenk meiner Mutter, und werde von ihm nicht mit antireligiöser Propaganda überfallen. Er gefällt mir ganz gut, aber als er mir einen Heiratsantrag macht, weise ich ihn zurück: »Heiraten bedeutet, eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen. Ich habe keine Heimat, weiß aber, dass ich eine Deutsche bin. Unsere Kinder würden nicht einmal wissen, zu welchem Volk sie gehören. – Das ist doch grauenhaft!« Er stimmt mir nicht zu: »Meine Heimat wird auch deine werden, und da werden auch unsere Kinder hingehören.« »Soll ich aufhören, eine Deutsche zu sein?« »Was denn sonst? Hoffst du etwa, dass ein deutscher Prinz kommt und dich mitnimmt? Da kannst du lange warten! Bin ich etwa schlechter als ein Deutscher?« Er wird aufdringlich und ungeduldig. Schließlich verfolgt er mich und terrorisiert mich mit seiner Eifersucht. Die nette Bekanntschaft ist zu Ende. Der Gedanke an Viktor hat mich vor dieser Ehe bewahrt und in mir wächst der Entschluss, so schnell wie möglich meine
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Arbeit aufzugeben und diese Stadt samt ihren Menschen zu verlassen. Aber wohin? Ich habe kein Sitzfleisch. Warum bin ich nur so unruhig? Ich kann mich keinem Menschen unterordnen, an keine Stadt gewöhnen. Im April 1966 bekomme ich die Einladung zur Teilnahme an einer wissenschaftlichen Konferenz in Zelinograd, der ich folge. Dort sehe ich viele meiner Studienkollegen wieder. Wir haben uns viel zu erzählen. Auf dem Weg ins Hotel treffe ich Viktor Bode. Er sieht müde und bedrückt aus. Wir begrüßen uns. Ich freue mich und hoffe, ihn bei der Konferenz zu sehen und mich mit ihm unterhalten zu können. Doch er erscheint dort nicht. Hier in Zelinograd fasse ich den Entschluss, in eine Aspirantur einzutreten. Das ist momentan die einzige Möglichkeit, Jesil nach nunmehr zwei Jahren zu verlassen. Eigentlich müsste ich als »junge Spezialistin« drei Jahre lang an dem mir zugewiesenen Ort verbleiben. Erst danach dürfte ich meinen Arbeitsplatz frei wählen. Gilani studiert in Zelinograd, und könnte mir hierher folgen. Da muss ich mir etwas einfallen lassen ... Einen Monat später lese ich in der Fachzeitschrift für das Bauwesen ein Inserat. Die Aspirantur des staatlichen Forschungsinstituts von Aprelewka im Gebiet Moskau schreibt unter anderem auch in der Fachrichtung Siedlungsplanung Stellen aus. Ich bewerbe mich und werde zu einer Aufnahmeprüfung nach Moskau eingeladen, an der ich im September teilnehme. Ende Oktober wird mir das Ergebnis mitgeteilt: Die Prüfungskommission habe meine Kenntnisse positiv bewertet und mich als Vollaspirantin eingeschrieben. Der Kurs beginne am 10. November. Während der letzten Monate meines Wirkens in Jesil bin ich mit der Planung eines Parks beschäftigt, da ich nach meiner Ankunft in der Stadt auch sofort die Vorsitzende der Gesellschaft für Umwelt- und Denkmalschutz wurde. Es gibt hier weder Wald noch Denkmäler – was also soll ich schützen? Während ich den Park entwerfe darf ich meine Phantasie spielen lassen, aber es macht mir wenig Spaß. Innerlich habe ich mich von meiner Arbeit, von dieser Stadt und ihren Menschen völlig distanziert.
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Auf meiner letzten Dienstreise gehe ich im Sowchos Dalnij außerhalb der Siedlung zu einer Anhöhe über dem Fluss Shanyspaj. Dort sind ein Grabhügel und ein grauer Grabstein eingezäunt. Es ist das einzige Denkmal im Kreis. Auf dem Grabstein steht der Name Daniil Nesterenko. Von diesem Grabstein habe ich schon gehört. Der Legende nach sei ein Traktorist den Heldentod gestorben. Er habe mit seinem Traktor versucht, den zugefrorenen Fluss zu überqueren, sei dabei eingebrochen und ertrunken. Neben dem Denkmal sehe ich einen alten Kasachen mit grauem Steppmantel und Fuchsdreieck. Er hütet Schafe. Auf einen Stock gestützt, steht er in Gedanken versunken wie ein Denkmal regungslos da. Er kaut etwas, schielt zu mir herüber und spuckt aus. »Salam olejkum, Aksakal!«, begrüße ich freundlich den ehrwürdigen Greis, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, womit aber meine Kasachischkenntnisse schon erschöpft sind. »Haben Sie den Menschen gekannt, der da begraben liegt?« Er sieht mich mit seinen schmalen, tränenden Augen an und spuckt wieder verächtlich aus: »Plochoj tschelowek, sowsem plochoj. Pjanyj sobaka, sato utonul.«, meint er, was heißt: »Schlechter Mensch, ganz schlecht. Besoffener Hund, deshalb ertrunken.« Die Version, dass Nesterenko in trunkenem Zustand aus Übermut mit dem Traktor aufs Eis gefahren und ertrunken sei, habe ich auch schon gehört. So schlagen die Kommunisten sogar aus der Trunksucht Kapital: Aus einem Säufer wird ein Held der Neulanderschließung, der für die gute Sache sein Leben ließ. Sogar Leonid Breshnjew schreibt von diesem Nesterenko wie von einem Helden (10, S. 42). Meine letzten Tage in Jesil sind gekommen und ich verabschiede mich von allen. Gilani belüge ich nicht, ich erzähle ihm von Viktor und meiner großen Liebe zu ihm. »Typisch deutsch!«, sagt er verächtlich. »Da nimmt er dich und wirft dich einfach weg! Wir Kaukasier machen so etwas mit unseren Frauen nicht. Und du? Du solltest ihn verachten und hassen, und nicht ihm nachtrauern, ihn lieben und ihm treu sein!«
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Am letzten Tag, als alles erledigt ist, gehe ich in die Kantine, um zu Mittag zu essen, und treffe einen von Viktors Studienkollegen, der in Jesil auf einer Dienstreise ist. Ich habe mich immer geschämt, jemanden nach Viktor zu fragen, wie er denn lebe und wie es ihm gehe. Jetzt aber, da mir ein weiter Weg bevorsteht, frage ich nach ihm. Der Mann sieht mich verständnislos an und sagt: »Den gibt es doch nicht mehr, der ist ums Leben gekommen.« Ich begreife nicht, was ich da höre, und wiederhole meine Frage: »Wie geht es Viktor? Ist er zufrieden mit seiner Arbeit, seinem Leben und sich selbst?« »Hast wohl schon länger nichts mehr von ihm gehört? Der ist doch schon vor einem halben Jahr umgekommen!« Es trifft mich viel härter als ich es jemals hätte vermuten können. Ein paar Stunden später sitze ich im Zug und fahre nach Zelinograd. Das Flugzeug nach Moskau geht in vier Stunden. So habe ich noch Zeit, um ins Institut zu gehen. Ich treffe meinen Dekan – die Lehrerin, die ich vor drei Jahren nach der Chabanowa fragte. Auf meine Frage, ob es wahr sei, dass Viktor Bode nicht mehr lebe, antwortet sie: »Ja! Anfang Mai soll er umgekommen sein. Und das hast du nicht gewusst? Als ich es hörte, erinnerte ich mich sofort an dich. Wie hast du vor drei Jahren um ihn geweint! Man könnte fast meinen, sein Tod sei eine Art Vergeltung.« Ich kann es nicht fassen: »Vergeltung?! Was heißt das? Wieso? ...« Einzelheiten erfahre ich nicht, weil sie nicht weiß, unter welchen Umständen Viktor umgekommen ist und wo er beerdigt wurde. Ich fahre zum Flughafen, kaufe ein Ticket nach Moskau und suche mir im Wartesaal einen Platz. Nach einer Stunde höre ich eine Lautsprecherdurchsage: »Der Flug nach Moskau wird wegen ungünstiger Witterungsverhältnisse um drei Stunden verschoben!« Und dann noch einmal um drei Stunden ... Die ganze Nacht sitze ich im Sessel. Ich habe genügend Zeit nachzudenken, und die Tränen fließen ununterbrochen über mein Gesicht. Mit diesen Tränen löst sich allmählich der Schmerz, der Stunden zuvor in mich fuhr. Ruhe und Stille kehren ein. Mein Gefühl sagt
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mir, dass meine Liebe nun endlich in Sicherheit sei und niemand ihr noch etwas antun könne. Ich bin jetzt frei von allen Bindungen und verlasse den Schmeltiegel Kasachstan als neue Substanz.
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3. Teil: Ich grabe meinen Brunnen Moskau – die »belokamennaja« Hauptstadt
24 Stunden sind vergangen, seit ich Jesil verlassen habe. Ich sitze im Flugzeug, einer IL-18, und lege den Gurt an, als Gilani plötzlich vor mir auftaucht und sagt: »Bitte, überleg es dir nochmal, fahr nicht nach Moskau. Bleib bei mir. Ich kann ohne dich nicht leben. Ich liebe dich so, wie niemand dich in deinem Leben je lieben wird. Bitte, bleib!« Ich bin so überrascht, dass ich nicht die richtigen Worte finde: »Wie kommst du hierher? Du musst doch in Jesil sein und zur Arbeit gehen?!« »Ich bleibe nicht in Jesil. Nicht ohne dich. Ich fahre zu meinen Eltern in den Kaukasus. Komm mit mir, du wirst es nicht bereuen.« Die Stewardess erscheint neben ihm: »Warum stehen Sie hier herum, Genosse? Bitte, nehmen Sie Ihren Platz ein. ... Was?! Sie fliegen nicht mit? Was machen Sie dann hier? Schnell aussteigen, die Treppe wird schon weggerollt!« Das Flugzeug rollt langsam zur Startbahn und ich sehe durch das kleine runde Fenster neben mir Gilanis einsame Gestalt. Er tut mir leid, aber ich selbst tue mir auch leid und so weine ich wieder. Ein paar Stunden später müssen wir in Kustanaj notlanden. Der Flughafen von Moskau ist gesperrt, da ein gewaltiges Schneegestöber tobt und die Start- und Landebedingungen sehr schlecht sind. Eigentlich habe ich mich für die Reise mit dem Flugzeug entschieden, weil ich mich ohnehin schon fast eine Woche verspäte und die Fahrt nach Moskau mit dem Zug knapp 50 Stunden dauert. Und nun all diese Verzögerungen und Unterbrechungen. Aber ich kann nichts tun ... In Kustanaj hat man Start- und Landebahnen für große Flugzeuge gebaut. Daneben steht ein kleines Dienstgebäude. Ein neues Flug-
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hafengebäude ist geplant und bis zum alten sind es fünf Kilometer. Wir landen nachts. Eine halbe Stunde vor uns ist schon eine IL-18 aus Karaganda mit ebenfalls 98 Fluggästen hier angekommen. Es hat minus 25 Grad und das Schneegestöber hält an. Nicht alle Fluggäste haben im Dienstgebäude Platz. Die Männer stehen eng zusammengedrängt im Flur oder im Freien auf der Treppe. Frauen und Kinder sitzen in zwei kleinen Zimmern auf den wenigen Stühlen und Tischen sowie auf dem Fußboden. Ich sitze in einer Ecke hinter der Eingangstür und habe nur eine kleine Handtasche bei mir. Hätte ich den Zug genommen, dann wäre ich jetzt schon bald da. Zur Aufnahmeprüfung fuhr ich mit dem Zug und habe durchs Fenster die Städte, Dörfer, Landschaften und Wege des europäischen Teils von Russland bewundert. Als ich mich auf die Prüfungen vorbereitete, wollte Gilani mich davon abbringen. Er sprach dabei aber nicht von Liebe, sondern versuchte einfach, mich zu verunsichern. »Was? Nach Moskau willst du? Bist wohl nicht ganz bei Trost?! Männer aus der ganzen Sowjetunion wollen an der Moskauer Aspirantur Forschungsarbeit betreiben. Gegen die kommst du nicht an. - Die sind viel gescheiter als du«, sagte er. Oder »Du hast in der Provinz an einem lumpigen Institut studiert und glaubst, die Prüfungen an der Aspirantur der Hauptstadt zu bestehen?! Hat vielleicht dein Vater einen Haufen Geld oder ist dein Onkel Justizminister?« oder »Vergiss nicht, dass du eine Deutsche bist. Dich wird man mit Absicht bei der Prüfung durchfallen lassen.« Ich ließ mich von ihm nicht entmutigen und gab schlagfertig heraus: »Wenn ich durchfalle, dann habe ich wenigstens Moskau gesehen. Ich will nicht hier in der Wüste versauern, ohne das richtige Leben gesehen und wenigstens daran geschnuppert zu haben.« oder »Bestehe ich nicht, so bin ich wenigstens frei und darf den Arbeitsplatz selbst wählen. Dann gehe ich zum Beispiel nach Kokschetau ins Projektinstitut. Da wird die Arbeit interessanter sein als hier.« oder »Sollte ich es nicht schaffen, dann weiß ich auf jeden Fall, woran ich bin: Entweder traue ich mir zu viel zu oder ich werde
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diskriminiert. Diese Erkenntnis ist mir die Mühe wert.« oder »Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts! Zurückkommen und für den Rest meines Lebens Kreisarchitektin sein kann ich ja immer noch.« Ich sitze unbequem, kann nicht schlafen und die Gedanken fließen in einem endlosen Strom. Meine ersten Erfahrungen und Entdeckungen in Moskau habe ich gemacht, als ich wegen der Aufnahmeprüfung dort war. Ich hatte immer die Vorstellung, in Moskau müssten die klügsten und vornehmsten Sowjetbürger leben. Als ich dann am Kasanskij Bahnhof ankam und zum ersten Mal den Boden der viel besungenen und umschwärmten Hauptstadt betrat, blieb mir fast die Spucke weg – vor Entsetzen: Grau waren die Leute, dreckig grau die Fassaden aller Gebäude. Ich erinnerte mich, dass die Dichter Moskau als »belokamennaja« – Hauptstadt aus weißem Stein – umschreiben. Na ja, der Bahnhof war ja noch nicht die ganze Welt. Außerdem nieselte es. Um 21 Uhr kam ich in Aprelewka an und musste feststellen, dass es in diesem Städtchen kein Hotel und keine Gaststätte gab. Ich übernachtete im Bahnhofsgebäude und wurde dort von jungen Burschen belästigt. Am Morgen ging ich mit meinem kleinen Koffer in der Hand die Hauptstraße entlang und suchte die Hausnummer 65. An einen Zaun gelehnt, schlief im hohen, nassen Unkraut ein Betrunkener. Sein Freund hatte es sich noch bequemer gemacht: Er lag im Straßengraben, bis an die Hüfte im Wasser und hatte den Kopf auf den Gehweg gelegt. Im Institut wurde ich von einer freundlichen Dame empfangen und bekam von ihr eine Einweisung ins »Hotel der ständigen Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft« in Moskau, kurz »Hotel WDNCH« genannt. Also musste ich nach Moskau zurückfahren. Im Hotel war ich zwei Tage allein in einem Zweibettzimmer. Die Dame, für die das zweite Bett reserviert war, kam nicht. Auf dem Flur traf ich eine laute, lustige und bunte Gruppe Jugendlicher, die Deutsch sprachen. Ich begrüßte sie genau so laut und lustig: »Hallo! Guten Tag! Woher kommen Sie?« »Aus der DDR. Wir sind Touristen und wollen die Ausstellung besichtigen. Und Sie? Kommen Sie aus der Bundesrepublik?«
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»Ach wo, ich bin eine Einheimische.« »Eine Einheimische? Gibt es denn hier Deutsche?« »Ja, jede Menge! Die genaue Zahl ist mir unbekannt, aber es müssen etwa zwei Millionen sein.« »Darüber haben wir nie etwas gehört. Wo leben die denn alle?« »In Kasachstan und anderen Unionsrepubliken Mittelasiens. Wir leben sehr verstreut.« Ich wurde mit Fragen überschüttet, aber die Diensthabende kam schon den langen Gang entlang gelaufen und fuchtelte mit den Armen: »Gehen Sie, gehen Sie, der Bus wartet schon.« Dann fuhr sie mich barsch an: »Was fällt Ihnen ein, sich mit Ausländern zu unterhalten? Sie sind doch ein Sowjetbürger?!« »Na und? Ich verbreite ja nicht die Pest, wenn ich mich mit diesen Leuten unterhalte. Es sind Touristen aus der DDR und ich bin eine Deutsche aus Kasachstan. Wir sprechen dieselbe Sprache, verstehen Sie?« Nein, sie verstand nicht und belehrte mich: »Ein Sowjetbürger hat sich nicht mit Ausländern zu unterhalten – egal in welcher Sprache!« In den folgenden Tagen war sie, was mich betraf, besonders aufmerksam. Das zweite Bett in meinem Zimmer wurde durch eine große, kräftige Frau aus Weißrussland belegt, die mir ausführlich erklärte, dass sie Metalldreherin sei und Drehautomaten betreue. Sie und zwei ihrer Kollegen hätten sehr komplizierte Werkzeugmaschinen zur Ausstellung gebracht und hier montiert. Am nächsten Abend sagte sie, sie seien sehr froh, ihre Aufgabe ohne Schwierigkeiten erledigt zu haben, und möchten ihren Erfolg in diesem Zimmer, an diesem Tisch begießen. Das hieß, ich sollte meine Bücher sofort vom Tisch räumen, denn ihre Kollegen – zwei Männer mit roten Nasen – standen schon im Zimmer. Ich zog mich mit meinen Büchern aufs Bett zurück und sie holten aus einer Einkaufstasche Wodka, Konserven, Äpfel und Brot heraus.
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»Hör mal, leg deine Bücher zur Seite und komm mit uns feiern.« Ich bedankte mich und versuchte weiterzulesen, denn ich hatte am nächsten Tag die Prüfung in Geschichte der KPdSU zu bestehen. Sie ließen mich aber nicht in Ruhe. Immer wieder musste ich ihre Fragen beantworten – wer ich sei, woher ich käme, warum und was ich so fleißig lese. »Warum willst du mit uns nicht auf unseren Erfolg mit Wodka anstossen? Verachtest du uns? Man merkt, dass du keine Russin bist, sonst wärst du gastfreundlicher.« Ich machte das Buch zu. »Ich verachte Sie nicht, aber ich mag keinen Wodka und habe morgen eine schwierige Prüfung«, sagte ich und ging aus dem Zimmer. Eine Weile schaute ich auf dem Korridor zum Fenster hinaus auf die Straße, beobachtete den Verkehr und staunte über die großen Lichtreklamen. Die einzigen Großstädte, die ich zuvor gesehen hatte, waren Karaganda und Omsk. Ich setzte mich aufs Fensterbrett hinter einem schweren roten Plüschvorhang und entspannte mich, in Gedanken versunken. Eine halbe Stunde später blieben zwei Männer ausgerechnet an diesem Fenster stehen. Sie sahen mich nicht, rauchten und unterhielten sich. »Die Kleine gefällt mir ganz gut. Hat eine Figur wie geschnitzt, nicht wie unsere fetten Weiber!«, sagte der eine. »Für meinen Geschmack zu dürr«, kam die Antwort. »Und sie lügt wie gedruckt. Man sieht doch sofort, dass sie aus dem Westen und nicht aus Kasachstan kommt.« Er fluchte. Ich sprang vom Fensterbrett und versuchte, an ihnen vorbeizukommen. Sie waren betrunken und verärgert: »Da bist du ja! Und wir suchen dich überall. Wieso versteckst du dich? Wolltest uns wohl belauschen?« »Woher hätte ich wissen sollen, dass Sie an dieses Fenster kommen würden? Außerdem ist Ihr Fluchen ja nicht zu überhören!« Bis Mitternacht taumelten sie im Zimmer herum, rülpsten, rauchten und quatschten allerlei Unsinn.
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Die Konsultationen und Prüfungen für alle Aspiranten Moskaus in Bauwesen und Architektur wurden am Forschungsinstitut für Stahlbeton durchgeführt. Bei der ersten Konsultation sah ich Männer aller Nationen der UdSSR: Letten, Georgier, Ukrainer, Kasachen, Koreaner, Russen, Juden, Burjaten und Usbeken. Nur drei Frauen waren vertreten – darunter ich, die einzige Deutsche. Mir wurde klar, dass es ein Meisterstück sein würde, mir in dieser Gesellschaft einen Platz zu erkämpfen. Gilani hatte Recht. Als ich den Entschluss fasste hierher zu kommen, war ich wohl von allen guten Geistern verlassen. Unter den Bewerbern für die Aspirantur waren solche Angeber, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Ein Lette zum Beispiel erzählte allen, seine Dissertation sei schon geschrieben, er hätte schon genügend Veröffentlichungen zu seinem Thema und all diese Prüfungen seien für ihn nur eine Formalität, eine Notwendigkeit, ohne die nun mal die Dissertation nicht abgegeben und verteidigt werden könne. Der Koreaner stammte aus Almaty – der Hauptstadt von Kasachstan und reagierte auf meine Anwesenheit allergisch. Er saß oder stand ständig neben mir und ging mir mit seinen unangebrachten Fragen und Äußerungen auf die Nerven: »Was hat Lenin über die Religion gesagt? Wann hat Lenin ›Staat und Revolution‹ geschrieben?« »Ich weiß nicht. Lassen Sie mich in Ruhe!« »Was?! Du weißt das nicht?! Wie willst du denn die Prüfung bestehen? Du wirst bestimmt durchfallen.« Während der Konsultation wurde der Professor gefragt, was man über Stalins Personenkult sagen dürfe und wie Chruschtschows Politik zu bewerten sei. Es ging nicht darum, was man darüber weiß und davon hält, sondern darum, was die Prüfer hören wollten und was man sagen müsse und dürfe, um eine gute Note zu bekommen. Bei der ersten Prüfung fielen die größten Prahler, der Koreaner und der Lette, durch und ich bestand sie unerwartet gut, bekam eine Vier und dachte: »Wenn man mich als Deutsche durchfallen lassen wollte, dann hat man die beste Gelegenheit vertan, denn in Deutsch und Fachtheorie
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fühle ich mich sicher und für die Prüfer wird es nicht einfach sein, mir unauffällig eine schlechte Note zu geben.« Dies alles lasse ich mir durch den Kopf gehen, während ich in Kustanaj auf dem eingeschneiten Flughafen bin und die Nacht im Dienstgebäude auf dem Fußboden kauernd verbringe. Morgens werden alle Fluggäste mit dem Bus abgeholt und zum Flughafengebäude gebracht, wo es Toiletten, Waschmöglichkeiten und eine Cafeteria gibt. In der Cafeteria esse ich ein belegtes Brötchen und trinke einen scheußlichen, aber heißen Kaffee. Später schlafe ich ein paar Stunden, in einem Sessel sitzend. Es ist ein frostiger und sonniger Wintermorgen. Der Sturm hat sich gelegt und um 10 Uhr wird der Flug nach Moskau fortgesetzt. Wenig später gibt es in Gorkij abermals eine Notlandung. Hier geben die meisten Fluggäste ihre Flugkarten an der Kasse zurück und fahren mit dem Zug weiter. Um 15 Uhr bin ich endlich in Aprelewka. In der Aspirantur erfahre ich, dass für mich im Hotel in Naro-Fominsk ein Bett reserviert sei. Also wieder zurück zum Bahnhof und weiterfahren! Völlig erschöpft komme ich in diesem Ort an, begebe mich zum Hotel und erlebe eine große Enttäuschung: »Wir haben keine Betten frei«, sagt eine ältere Frau an der Rezeption. »Reserviert? Wir können Betten nicht länger als fünf Tage reserviert halten. Das würde Ihnen so passen! Sie treiben sich irgendwo im Lande herum, und hier würde wochenlang ein Bett auf Sie warten!« Ich flehe sie an: »Ich war 56 Stunden unterwegs, habe in dieser Zeit höchstens vier bis fünf Stunden geschlafen. Dann habe ich auch noch unerwartet meine Monatsblutung bekommen. Ich muss mich waschen und ausschlafen. Bitte, verjagen sie mich nicht. Können Sie vielleicht irgendwo im Korridor ein Klappbett für mich aufstellen?« Eine zweite Frau kommt hinzu, sie flüstern miteinander und erbarmen sich meiner: »Wir haben für zwei andere Ingenieure Betten reserviert, aber bei diesem Wetter kommen die vielleicht heute nicht. Und wenn sie doch kommen, werden wir schon einen Weg finden.«
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Ich bekomme den Schlüssel von einem Zimmer, esse am Büfett, nehme ein Bad und falle ins Bett. 18 Stunden lang schlafe ich ununterbrochen, wache am Samstag gegen Mittag auf und freue mich, die Strapazen dieser Reise hinter mich gebracht zu haben.
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»Ninka von der Ordynka«
In den nächsten Wochen besuche ich den Unterricht in Deutsch und Philosophie im Forschungsinstitut für Eisenbeton in Moskau. Die Deutschlehrerin Jelisaweta Grigorjewna Shurawlöwa, die den Lehrstuhl für Fremdsprachen innehat und Doktorin der Philologie ist, sagt mir schon in der zweiten Unterrichtsstunde, ich könne die Kandidatenprüfung in Deutsch vorzeitig ablegen, meine Deutschkenntnisse würden genügen. Ich lehne zunächst ab: »Ich möchte gerne etwas dazulernen. Ich kann nur so viel Deutsch, wie meine Mutter mir bis zu meinem siebten Lebensjahr beibrachte. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn das schon für die Kandidatenprüfung ausreichen würde!« Dann vereinbaren wir, dass ich es nach Neujahr versuchen werde. Sie meint, es hätte für mich keinen Sinn und wäre reine Zeitverschwendung, den Deutschunterricht zu besuchen. Für den vierten Januar werde ich zu einer letzten Konsultation bestellt. Anfang Dezember werden wir in ein Wohnheim in Aprelewka umquartiert, wo ich fortan mit zwei Kolleginnen in einer Einzimmerwohnung mit Küche und Bad untergebracht bin. Die eine ist Ukrainerin, heißt Sweta, und kommt aus Dnepropetrowsk. Die andere, Tatjana, kommt aus Rostow am Don und behauptet, Russin zu sein. Ich kenne sie schon seit der Aufnahmeprüfung, in deren Verlauf ich entdeckte, dass sie eigentlich keine Russin, sondern Jüdin ist. In einer Konsultation unterhielt sie sich mit anderen Bewerbern über die Begrenzung der Zahl der Juden in der Aspirantur und dass man dieses Problem umgehen könne, indem man den Dokumenten nach eben kein Jude sei. Vor Neujahr wird unser Aspirantenheim fast leer. Die meisten fahren nach Hause zu ihren Familien. Meine Kolleginnen Sweta und Tatjana fahren nach Moskau zu ihren Verwandten. Der Koreaner Li, der wie ich aus Kasachstan kommt und dessen Familie in Almaty lebt, hat Freunde im Patris-Lumumba-Institut. Ich bleibe allein, be-
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schäftige mich mit der bevorstehenden Deutschprüfung und lese fleißig deutsche Fachzeitschriften und Zeitungen. Für den 31. Dezember 1966, den Silvesterabend, habe ich mir eine Eintrittskarte fürs Bolschoitheater besorgt, wo die Oper »Pique Dame« von Tschaikowsky nach Puschkins gleichnamigen Werk aufgeführt wird. Vorher bemühe ich mich vergebens, passende Schuhe mit Absätzen zu finden. Mehrere Tage verbringe ich in den größten Warenhäusern Moskaus, die abgekürzt GUM und ZUM genannt werden. Da ich in meiner Größe nichts Passendes finde, muss ich in meinen alten Schuhen ins Theater gehen, wodurch ich mir den Spaß aber nicht verderben lasse. Das große Staatstheater beeindruckt mich durch seine pompöse Ausstattung: Nussholz, Goldfarbe, roter Samt und eine sehr kostbar anmutende Hängeleuchte. Solchen Glanz und Reichtum habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Eine Oper besuche ich auch zum ersten Mal. Ich nehme meinen Platz hoch oben in einer Loge ein, es wird dunkel und die Vorstellung beginnt. Ich schaue gespannt auf die Bühne, befürchte, etwas nicht mitzubekommen, und höre hinter mir jemanden auf Deutsch sagen: »Bitte, hier ist Ihr Platz.« Kurz darauf zieht jemand energisch an dem samtbezogenen Hocker neben mir. »Sie werden wohl darübersteigen müssen«, sage ich auf Deutsch, ohne mich umzusehen. Ein Mann bedankt sich, steigt über den Hocker und nimmt Platz. »So ein Mist, ich habe mich verspätet und kein Programm gekauft«, ärgert er sich. »Sie können meines haben«, erwidere ich. Eine halbe Stunde später geht bei einem Szenenwechsel das Licht an, ich reiche meinem Nachbarn das Programm und falle vor Überraschung fast vom Stuhl – vor mir sitzt ein Schwarzer. »Stimmt etwas nicht?«, fragt er breit lächelnd. »Wo ist denn der Deutsche geblieben, mit dem ich eben gesprochen habe?« »Sie haben mit mir gesprochen. Wir gehören wohl zu derselben Gruppe? Sind Sie auch ausgerissen? Mir gefallen die russischen
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Theater so sehr, dass ich zu der blöden Silvesterfeier im Restaurant gar nicht gehen wollte.« Er schaut flüchtig ins Programm: »Aber das ist ja alles auf Russisch geschrieben ...« »Natürlich! Sie wünschen sich wohl ein Programm in Deutsch? Das gibt es hier leider nicht.« »Aber ich kann kein Russisch. Können Sie etwa? ... und woher?« »Ich werde es Ihnen übersetzen«, biete ich ihm an und bemühe mich so schnell und gut wie nur möglich, ihm das Programm von »Pique Dame« auf Deutsch zu erläutern. Das Licht geht aus, die Pause ist zu Ende. In der großen Pause, als das Publikum den Saal verlässt, sagt mein Nachbar: »Ich bin Araber aus Jemen und studiere Chemie an der Uni in WestBerlin. Ich bin schon immer sehr neugierig auf alles Sowjetische gewesen, aber man findet hier ja keinen Kontakt. Jetzt bin ich mit einer Touristengruppe aus der Bundesrepublik unterwegs. Eine Woche lang waren wir in Leningrad. Dort hat man uns die wundervolle Architektur, die Museen und Theater gezeigt. Nur den Sowjetmenschen konnte man nicht kennen lernen. Jetzt sind wir hier: Heute die Silvesterfeier im Restaurant, morgen ein freier Tag, und dann – Moskau besichtigen. Am 5. Januar sollen wir nach Odessa weiterreisen. Morgen könnte ich etwas unternehmen, aber am 1. Januar ist ja Feiertag und alles hat geschlossen. Und wer sind Sie? Woher können Sie Russisch? Ich glaubte, Sie würden zu unserer Touristengruppe gehören.« »Nein. Ich bin eine Sowjetbürgerin. Vor zwei Jahren habe ich an einem Institut mein Studium beendet. Jetzt bin ich in Moskau an einer Aspirantur, weil ich eine Dissertation schreiben und den Kandidatengrad erwerben will.« »Aber wenn Sie Sowjetbürgerin sind, woher können Sie dann so gut Deutsch? Sie haben einen preußischen Akzent. Sind Sie je in Preußen gewesen?« »Aber nein. Meine Ahnen stammen aus Preußen. Ich bin eine Deutsche. Deshalb kann ich Deutsch. Und ich lebe in Russland. Deshalb spreche ich Russisch. Klar?«
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Nach der Vorstellung bittet er mich, morgen mit ihm einen Bummel durch Moskau zu machen und ihm die Stadt zu zeigen. Ich kenne sie jedoch selbst noch nicht gut und bei so großem Frost wird es auch keinen Spaß machen. Daher sage ich: »Ich habe für morgen etwas anderes vor. Ich will nämlich die Ausstellung ›Architektur der Bundesrepublik‹ besuchen. Ich war zwar schon einmal dort, aber es gibt so vieles zu sehen, dass ich nochmal hingehen möchte. Ich habe mich extra erkundigt – am 1. Januar ist die Ausstellung geöffnet!« »Das ist gut. Ich würde gerne mitkommen, wenn Sie einverstanden sind.« Wir verabreden, uns um 10.00 Uhr morgens unten in der SwerdlowaU-Bahnstation zu treffen. »In der U-Bahn sind so viele Leute, es könnte passieren, dass wir uns da übersehen«, sagt er. »Sollte das der Fall sein, kommen Sie bitte um 10.30 Uhr ins Hotel Armenia, Korp 2, Zimmer 305. Ich heiße ...«, und er nennt seinen Namen. Am nächsten Morgen bin ich pünktlich in der U-Bahnstation Swerdlowa und halte vergebens nach dem Araber Ausschau. Es ist halb elf, meine Füße frieren und ich gehe zum Hotel Armenia. Am Eingang sitzt eine Frau und strickt. Sie fragt mich, was ich hier wolle. Ich bitte sie, den Hotelgast aus Zimmer 305 anzurufen. Sie nickt: »Der Genosse hier wird Sie begleiten!« Vor mir steht ein schmächtiges, unscheinbares Männlein und sagt lispelnd: »Zimmer 305? Bitte folgen Sie mir.« Wir gehen eine breite Marmortreppe hinauf und er fragt unterdessen: »Sie haben doch gestern mit diesem Ausländer Silvester gefeiert, nicht wahr?« »Nein, ich war gestern im Bolschoitheater und habe ihn dort kennen gelernt. Heute wollte er mich zu einer Ausstellung begleiten. Ich bin hierher gekommen, um ihn abzuholen.« Er öffnet eine Tür und lädt mich mit einer Geste ein, den Raum dahinter zu betreten. Ich gehe hinein, höre hinter mir die Tür ins Schloss fallen und sehe, wie er den Schlüssel zweimal herumdreht und ihn dann in seine Hosentasche steckt. Ich wundere mich zwar,
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zeige aber keinerlei Angst. Der Raum liegt am Ende des Ganges, ist schmal und hat keine Fenster. Die Tür ist mit Eisen beschlagen. Ich schaue mich um: Der Gesichtsausdruck meines Begleiters hat sich verändert. Er schaut mich triumphierend und prüfend an. »Na, was sagen Sie jetzt?«, fragt er schließlich. »Nichts. Sie wollten mich ins Zimmer 305 begleiten, stattdessen schließen Sie mich hier ein. Ich hoffe, dass Sie mir jetzt die Gründe dafür erklären werden.« »Nehmen Sie bitte Platz!« Er zeigt auf einen Stuhl am Tisch und setzt sich auf einen anderen Stuhl mir gegenüber. »Können Sie sich ausweisen? Ich meine, haben Sie Ihren Pass dabei?« »Nein, ich pflege meinen Pass nicht ständig mit mir herumzutragen ...« »Schade. Dann muss ich Sie eben festnehmen ...« Er hebt den Hörer ab um anzurufen. »Moment mal, wieso wollen Sie mich festnehmen?« »Gestern hat diese Touristengruppe aus dem Westen im Restaurant Silvester gefeiert. Dabei waren mehrere unserer Mädchen. Verstehen Sie? Unsere russischen Prostituierten machen unserem Volk und Vaterland eine große Schande, indem sie sich mit Ausländern einlassen!« »Mag sein, aber was hat das mit mir zu tun?« »Die Mädchen, die unserem Vaterland solche Schande bereiten, müssen bestraft werden. Wir sollen sie jetzt ausfindig machen. Sie sind vielleicht eine von ihnen, weil Sie nach einem von diesen Ausländern fragen.« »Was sagen Sie da?! Ich soll eine Prostituierte sein? Ich bin eine Aspirantin am Forschungsinstitut in Aprelewka!« »Das kann ja jeder behaupten! Und bei Ermittlungen stellt sich dann heraus, dass Sie keinen Beruf, keine Arbeit und keine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau haben. Nichts. Wenn Sie sich nicht ausweisen können, schicke ich Sie in die Isolierzelle. Nach den Feiertagen wird man klären, wer Sie sind.«
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»Wie ich Ihnen schon sagte, war ich gestern Abend im Bolschoitheater und habe mir die Oper ›Pique Dame‹ angesehen. Dort saß der Ausländer neben mir. Das ist doch kein Verbrechen und keine Schande fürs Vaterland, oder? Und heute will ich noch zu einer Ausstellung und der Tourist wollte mit. Ich verliere hier mit Ihnen ganz unnütz meine Zeit. Sehen Sie her, da ist meine Theaterkarte, hier steht schwarz auf weiß geschrieben: 31. Dezember 1966, Beginn der Vorstellung um 19.00 Uhr. Ich kann doch nicht gleichzeitig im Theater und im Restaurant gewesen sein?« »Sie lügen! Wie konnte der Tourist im Theater sein, wenn er Silvester im Restaurant feierte?« »Das ist seine Angelegenheit. Fragen Sie doch ihn!« »Tja, die Gruppe ist schon abgereist. Die Kapitalisten kennen kein gutes Benehmen. Sie haben sich besoffen und dann unsere Mädchen mit sich auf ihre Zimmer genommen. Man hat die Gruppe vorzeitig aus Moskau abgeschoben. Aber jetzt zu Ihnen. Die Theaterkarte ist kein Dokument!« Ich wühle in meiner Handtasche. »Da, mein Leserausweis für die Lenin-Bibliothek. Hat denn jede Prostituierte in Moskau Zugang zu dieser Bibliothek?« Ich wühle weiter in meiner Tasche, denn ich weiß genau, dass ich da meinen Aspirantenausweis habe. Da ich nun auf jeden Fall zu spät zur Ausstellung komme, hat es keinen Sinn mehr, dass ich mich beeile. Er schaut den Leserausweis gar nicht erst an und macht eine verwerfende Handbewegung: »Kein Dokument. Könnte gestohlen sein ...« Ich tue so, als suchte ich weiter und erkläre währenddessen: »Wissen Sie, ich bin eine Deutsche. Bald muss ich eine Kandidatenprüfung in Deutsch ablegen und deshalb freue ich mich über jeden Gesprächspartner ...« Er springt so hastig auf, dass sein Stuhl krachend umfällt. »Sie sind Deutsche?! Und das sagen Sie jetzt erst? Entschuldigen Sie mich bitte ... Sie müssen Verständnis haben!«, stammelt er. »Das alles hier gehört zu meinen Pflichten. Ich bin ein Angestellter der Sicherheitsbehörde ... Dieser Vorfall bleibt unter uns, ja?!«
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Er hält mir seinen Ausweis unter die Nase. Ich bin durch die plötzliche Wandlung in seinem Benehmen so überrascht, dass ich nicht genau hinsehe, sage aber: »Kein Dokument, könnte gestohlen sein!« Er spricht weiter: »Beklagen Sie sich bitte nicht bei Ihrer Botschaft ... Na gut, ich werde mich persönlich bei Ihrer Botschaft entschuldigen. Woher kommen Sie? Aus Österreich? Aus der Bundesrepublik oder aus der DDR?« »Aus Kasachstan«, sage ich und lache ihm ins Gesicht. Mir geht ein Licht auf: Er fürchtet, an eine Ausländerin geraten zu sein. »Wo ist denn das?«, lispelt er erschrocken. »Kasachstan ist eine Unionsrepublik in Mittelasien. Sie sind in Geografie aber sehr schwach beschlagen. Setzen Sie sich bitte, Sie brauchen nicht herumzuhüpfen. Und bei meiner Botschaft müssen Sie sich auch nicht entschuldigen. Sehen Sie, wie bequem es ist, mit einfachen Sowjetbürgern zu tun zu haben!« »Warum führen Sie mich an der Nase herum?«, fragt er böse, hebt seinen Stuhl auf, setzt sich und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Erst sagen Sie, Sie seien eine Ausländerin, und dann, Sie seien Sowjetbürgerin. Was stimmt denn nun?« »Hier ist mein Aspirantenausweis, falls er für Sie ein Dokument ist«, sage ich. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie an der Nase herumzuführen. Ich sagte zwar, dass ich Deutsche sei, habe aber nie behauptet, eine Ausländerin zu sein!« Er schaut blöd in meinen Ausweis und lächelt idiotisch: »Sie haben tatsächlich einen ausländischen Namen.« »Sehr scharfsinnig von Ihnen. Wenn ich sage, ich sei Deutsche, dann ist mein Name natürlich ausländisch. Sie glaubten wohl, ich sei die Ninka von der Ordynka?« In Moskau ist zu dieser Zeit ein Ganovenlied im Umlauf, das von einer Prostituierten im Stadtteil Ordynka handelt, und dessen Refrain sinngemäß so übersetzt werden kann: »Was mach ich nur mit dieser Ninka, Sie treibt es mit der ganzen Ordynka.
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Man sagt, sie halte zu den Dieben. Mir ist’s egal, weil ich sie liebe.« Der Agent ist derart froh, nicht wirklich in Gefahr zu sein, dass er meine sarkastischen Bemerkungen einfach überhört. »Natürlich ist der Aspirantenausweis ein Dokument. Er hat ja Nummer, Datum, Unterschrift, Stempel und Foto – alles in Ordnung. Aber wie ist denn das möglich: Eine Deutsche und Sowjetbürgerin zu sein?«, fragt er und notiert sich meine Daten. »Na, wissen Sie, das ist sehr einfach. Wenn ein deutscher Mann und eine deutsche Frau Kinder haben, dann sind es deutsche Kinder.« »Ja, ja. Aber wie kommen Sie dann in die UdSSR, nach Kasachstan?« »Oh, oh!«, schüttle ich den Kopf. »Ich sehe schon, in Geschichte sind Sie noch weniger bewandert als in Geografie. Meine Ahnen sind vor 200 Jahren auf Einladung der Zarin Katharina hin aus Deutschland nach Russland gekommen.« Ich halte ihm einen Kurzvortrag über die Geschichte der Russlanddeutschen und füge hinzu: »Überlegen Sie mal, ob Sie nicht lieber einen anständigen Beruf erlernen und zum Beispiel Ingenieur oder Lehrer werden sollten, als hier herumzulungern und ehrliche Bürger zu belästigen?« »Ich und lernen?«, wundert er sich aufrichtig. »Ich bin doch nicht blöd und lasse mein Gehirn austrocknen, wo ich doch so eine gute Stelle habe. Meine Arbeit ist sauber, gut bezahlt und ich lebe in der Hauptstadt. Und was hätte ich von einem Ingenieur- oder Lehrerdiplom?! In der Peripherie leben mit einem Spottgehalt? Nein, danke! Das ist nichts für mich.« Ich schaue auf die Uhr und seufze: »Den halben Tag habe ich Ihnen geopfert. Ich tröste mich nur damit, dass es mir vielleicht gelungen ist, Sie ein wenig aufzuklären. Immerhin haben Sie von mir so manches erfahren.« Ich verabschiede mich und er begleitet mich bis zum Ausgang des Hotels. Ein paar Tage später begrüßt mich im Institut der alte Leiter der Aspirantenabteilung und droht mir scherzhaft mit dem Finger:
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»Hallo, kleiner Sperling aus der Wüste! Sie tun nur so unschuldig, haben es aber faustdick hinter den Ohren.« »Was meinen Sie? Wieso ... hinter den Ohren?« »Ja, das möchte ich Sie fragen. Wie kommen Sie dazu, sich mit dem Geheimdienst anzulegen? Man hat mich angerufen und gefragt, ob es bei uns tatsächlich einen weiblichen, deutschen Aspiranten aus Kasachstan gäbe, oder ob sich jemand einen Scherz mit dem Geheimdienst erlaubt hätte. Was haben Sie denn ausgefressen?« »Nichts. Es genügt, eine Deutsche aus Kasachstan in Moskau zu sein – das ist schon skandalös genug.«
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Aspirant – eine objektive Realität
Nach den Regeln der Aspirantenausbildung, mit denen wir vertraut gemacht werden, dauert der Lehrgang drei Jahre. Im ersten Jahr müssen wir drei Kandidatenprüfungen – in Fachtheorie, Philosophie und einer Fremdsprache – ablegen, ein Thema auswählen, die Auswahl schriftlich begründen, einen Chef finden sowie Thema und Chef vom Gelehrtenrat bestätigen lassen. Im zweiten Jahr ist die eigentliche Arbeit zu machen: Literarische Quellen auswerten, auf Dienstreisen Material sammeln, Experimente durchführen und Veröffentlichungen machen. Als Veröffentlichungen gelten sowohl Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen als auch Artikel in Fachzeitschriften und den Sammelbänden der Hochschulen. Im dritten Jahr soll schließlich die Dissertation geschrieben, entsprechend gestaltet und verteidigt werden. Zu diesen offiziellen Regeln haben mehrere Generationen von Aspiranten Scherzregeln verfasst, die jedem Neuankömmling ausgehändigt werden. In diesen Scherzregeln heißt es unter Punkt 1: »Was ist ein Aspirant? Ein Aspirant ist eine objektive Realität, die an der Oberfläche der Wissenschaft planscht und paddelt und einmal im Leben in ihre Tiefe taucht, um den Kandidatengrad zu erwerben.« Zum Umfang der Dissertation wird unter einem anderen Punkt ausgeführt: »Schreib nicht zu lang, denn du bist nicht Leo Tolstoj! Schreib nicht zu kurz, denn du bist kein Genie!« Hinsichtlich des Inhalts wird in den Scherzregeln empfohlen, man solle überwiegend die Gedanken der Gelehrten, die im Rat sitzen, zitieren, nicht aber die ihrer wissenschaftlichen Gegner. Die eigenen Gedanken sollten nur ganz knapp zum Vorschein kommen, wie ein paar kleine Rosinen: »Sei nicht zu klug, denn der Gelehrtenrat ist eitel und würde deinen Scharfsinn nicht verwinden.« Als ich am 4. Januar 1967 zu bestimmter Stunde zur Konsultation in Deutsch komme, ist dort eine Gruppe von Fernaspiranten, die sich
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ebenfalls auf die Kandidatenprüfung vorbereiten wollen. Es sind lauter Männer, darunter mehrere Kaukasier. Ich kenne keinen von ihnen und nehme am letzten noch freien Tisch Platz. Die Inhaberin des Lehrstuhls für Fremdsprachen, Jelisaweta Grigorjewna, kommt kurz herein und teilt technische Zeitschriften aus – über Stahlbeton, Konstruktionen aus Schichtholz und Städtebau. Mir schiebt sie eine aufgeschlagene Ausgabe von »Deutsche Architektur« zu und zeigt mit dem Finger auf einen Artikel: »Lesen Sie bitte diesen Artikel über Berlins Hauptstraße ›Unter den Linden‹. Der muss interessant sein!« Dann entschuldigt sie sich bei der Gruppe, die Lehrerberatung werde noch eine halbe Stunde dauern, man solle aber keine Zeit verlieren, sondern fleißig lesen. Ich lese den Artikel und unterstreiche zwei Wörter, die ich nur umschreiben, aber nicht direkt übersetzen kann, da es zusammengesetzte Wörter sind. Manche der Anwesenden lesen ebenfalls, die meisten aber gehen auf den Gang und rauchen. Da kommt eine der Deutschdozentinnen, eine sehr kleine Brünette, herein, die ich in Gedanken sofort »Quecksilber« nenne, denn sie ist beweglich, energisch und freundlich. Sie bittet die im Gang stehenden Männer, Platz zu nehmen. »Wollen Sie denn nicht hören, wie eine Kandidatenprüfung abgelegt wird?«, fragt sie. »Interessant«, denke ich, »wer wird denn heute geprüft?« Sie fragt mich, ob ich mit dem Text Schwierigkeiten hätte, und bittet mich, nach vorne zu kommen und neben ihr Platz zu nehmen. In der Annahme, dass mit der von ihr erwähnten Prüfung auf die Rückkehr der Grigorjewna gewartet wird und vorläufig nur die Konsultation beginnt, setze ich mich neben Quecksilber und frage sie, was die zwei zusammengesetzten Begriffe bedeuten sollen. Ich kann ihre Bestandteile wörtlich übersetzen, weiß aber nicht, was sie im Ganzen heißen. Sie erklärt es mir. Dann lese und übersetze ich den Text. Inzwischen kommt auch Jelisaweta Grigorjewna. Schließlich sitze ich zwischen den beiden und beantworte ihre Fragen zum Text. Eine von beiden fragt mich: »Gefällt Ihnen Moskau?«
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»Nein!«, sage ich. »Es gibt hier viel Interessantes zu sehen, aber leben möchte ich hier nicht. Moskau ist zu groß. Ich fühle mich hier unbehaglich und empfinde eine große Enge.« Sie sind überrascht: »Warum sind Sie dann hergekommen?« »Aus Neugierde. Die Theater, Museen und Ausstellungen – das alles kriegt man ja anderswo nicht zu sehen.« »Wo leben Sie jetzt?« »In Aprelewka. Das ist eine Trabantenstadt Moskaus mit etwa 30.000 Einwohnern. Dort ist es ruhig, grün und gemütlich. Alles ist auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmt.« Nach dieser kurzen Unterhaltung soll ich einen Artikel politischen Inhalts aus der Zeitung »Neues Leben« lesen. Nach dem zweiten Satz sage ich: »Was für ein Kauderwelsch! Ein Radebrechen! Das ist kein Deutsch. Es sind lauter russische Wörter mit deutschen Vorund Nachsilben. Will man so die deutsche Sprache ergänzen und weiterentwickeln?« Sie lachen: »Sie lesen also keine Zeitungen? Interessieren Sie sich nicht für Politik?« »Wenn ich mich über die Politik informieren will, schalte ich das Radio ein oder lese die ›Prawda‹ und die ›Iswestija‹.« Nach Aufforderung nehme ich einen beliebigen der etwa 15 vor mir auf dem Tisch liegenden Zettel, wodurch ich das Gesprächsthema »Im Warenhaus« wähle. »Sie gehen bestimmt gerne in Warenhäuser. Erzählen Sie bitte: In welchen Warenhäusern Moskaus waren Sie schon, was haben Sie dort gekauft und was hat Ihnen besonders gefallen?« »Warenhäuser und Märkte sind ein notwendiges Übel. Man kommt ohne sie nicht aus, deshalb muss man sie ab und zu aufsuchen. Ein Vergnügen ist das nicht. Ich war in Moskau nur in zwei Warenhäusern – im GUM und im ZUM. Es sind Monstren von Kaufhäusern! Da gibt es sehr viele Abteilungen und verschiedene Waren, zum Beispiel Galanterie, Stoffe, Fertigkleidung für Damen-, Herren- und Kinder, Wäsche, Geschirr, Radios, Fernseher und Haushaltsgeräte.
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Dort muss man mindestens einen ganzen Tag verbringen, sich sehr anstrengen und Kopfschmerzen bekommen, nur um festzustellen, dass es ausgerechnet die Kleinigkeit, die man sucht und dringend braucht, nicht gibt. Na ja, dann hat man wenigstens eine höchst anspruchsvolle Beschäftigung, denn man ist ja gezwungen, das Ganze an einem anderen Tag in einem anderen Warenhaus zu wiederholen.« Quecksilber lacht und fragt: »Was haben Sie denn gesucht? Was ist das für eine Kleinigkeit, die es bei GUM und ZUM nicht gibt?« »Schuhe habe ich gesucht. Ich kam aus der Wüste hierher, besuchte am Silvesterabend zum ersten Mal in meinem Leben eine Oper im Bolschoitheater und wollte dort halbwegs feierlich erscheinen – in neuen Schuhen mit Absätzen. Aber ich musste feststellen, dass es bei GUM und ZUM für mich keine passenden Schuhe gibt!« »Welche Größe tragen Sie?« »Vierunddreißig oder fünfunddreißig – je nach Modell. Die Schuhe, die es in dieser Größe gibt, sind Modelle für Schulmädchen, und die Schuhe mit Absätzen sind mir alle zu groß.« »Ich habe dasselbe Problem.«, sagt Quecksilber. Sollten Sie irgendwo ordentliche Schuhe in dieser Größe sehen, rufen Sie mich bitte an.« Sie gibt mir ihre Telefonnummer. »Aber dieses schöne rote Kostüm, das Sie tragen und das Ihnen so gut passt, das haben Sie doch bestimmt in einem Warenhaus gekauft?« »Nein, ich habe es mir selbst genäht, deshalb sitzt es auch so gut.« »Und woher haben Sie den Stoff?« »Den Stoff habe ich im Warenhaus in Jesil für sieben Rubel den Meter gekauft.« »Also sind Warenhäuser schon irgendwie gut?! Manchmal kann man dort eben doch etwas Brauchbares finden.« »Nun, das Warenhaus in Jesil ist ja auch kein Monster. Es handelt sich um ein zweigeschossiges Gebäude, und wenn man im Erdgeschoss hinein geht, sieht man sofort, wo alles ist: rechts das Spielzeug, geradeaus die Kurzwaren und Schmuck, links - die
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Textilien. Im Obergeschoss hat man auch gleich den Überblick: rechts die Schuhe, geradeaus die Wäsche und links Bekleidung. In dieses Warenhaus bin ich zweimal am Tag gegangen, um nachzusehen, ob nicht neue Waren eingetroffen sind. Und nie bekam ich dabei Kopfschmerzen.« »Ausgezeichnet!«, sagt Jelisaweta Grigorjewna. »Sie haben die Kandidatenprüfung mit Bravour bestanden und können in etwa drei Tagen den Prüfungsnachweis abholen.« Quecksilber wendet sich an die Anwesenden: »Haben Sie gehört, Genossen, wie man Deutsch sprechen muss, um die Prüfung ohne Schwierigkeiten zu bestehen?« Ich bin überrascht: »Ich hab doch keine Prüfung abgelegt?! Ich bin nur zur Konsultation gekommen und wollte noch einige Fragen klären. Wenn ich gewusst hätte, dass ich geprüft werde, hätte ich bestimmt nicht darüber geplaudert, was mir gefällt und was nicht.« Jelisaweta Grigorjewna lacht: »Es war schon gut so. In der Prüfung sind die Leute für gewöhnlich gehemmt und so haben Sie frei und offen gesagt, was Ihnen gerade einfiel.« Nach drei Tagen hole ich den schriftlichen Nachweis über die bestandene Prüfung bei Jelisaweta Grigorjewna ab. Sie ist allein und fragt mich, ob es in Kasachstan wirklich so schlimm sei. »Na, ein Paradies ist es nicht gerade, aber wir haben überlebt und hoffen, dass das Schlimmste vorbei ist.« Sie sagt, sie sei eine Plattdeutsche aus der Ukraine, aber ihr russischer Familienname, den Sie von ihrem im Krieg gefallenen Ehemann habe, hätte sie vor der Deportation nach Mittelasien bewahrt. Ich verabschiede mich und denke dabei: »Wo gibt es in der Sowjetunion eigentlich keine deutschen Frauen? Überall stehen sie ihren ›Mann‹, ob bei der Viehzucht in Kasachstan oder in den Hochschulen Moskaus!« So habe ich, ohne es zu ahnen, vorzeitig eine Kandidatenprüfung abgelegt. Ansonsten verläuft bei mir alles streng nach Programm:
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Ich lege die restlichen zwei Prüfungen ab und wähle das Thema »Planung von Betriebskomplexen bei der spezialisierten Schafzucht in Kasachstan«. Mein Chef, ein Tatar, ist ein Kandidat der Architektur, der im Moskauer Institut für Rationelle Bodennutzung Architektur unterrichtet. In dieser Zeit bin ich oft in der Lenin-Bibliothek, um Veröffentlichungen, die für mein Thema von Bedeutung sind, auszuwerten. Dort finde ich hilfreiche Beiträge über die Erforschung der Klimazonen der Republik, die landwirtschaftliche Erschließung der Wüste, Schafarten, die hier traditionell gezüchtet werden, sowie Bauten und technische Einrichtungen, die auf der ganzen Welt in der Schafzucht verwendet werden. Ich erfahre, dass in Kasachstan für die Schafe bis vor kurzer Zeit keinerlei Deckung gebaut und kein Futtervorrat angelegt wurde. Die Tiere waren in der Halbwüste und Wüste das ganze Jahr über nur auf den Weiden, wo sie Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert waren. Wenn es einen sehr kalten Winter mit viel Schnee gab, begann für die Schafe der Wettlauf mit dem Tod. Für die Menschen war das eine wirtschaftliche Katastrophe, die sich im Durchschnitt alle zehn Jahre wiederholte. In den letzten 10 bis 20 Jahren hat man die Notwendigkeit erkannt, für den Schafbestand Deckungen zu bauen und Futtervorräte für den Winter anzulegen. Diese Erkenntnis müsste im Rahmen einer groß angelegten staatlichen Maßnahme flächendeckend umgesetzt werden, da es den einzelnen Wirtschaften unmöglich ist, diese Aufgabe aus eigenen Kräften zu lösen. In meiner Dissertation beschäftige ich mich mit den Fragen, welche Deckungen man in den verschiedenen Klimazonen bauen müsse, wie groß die einzelnen Schaffarmen auf den Saisonweiden sein könnten, wo man diese Farmen bauen und wie das Siedlungssystem aussehen sollte. Um Lösungsansätze zu finden, gehe ich oft in die Lenin-Bibliothek, da sie die größte staatliche Bibliothek der UdSSR ist und meines Erachtens zu den wenigen Zivilobjekten des Landes gehört, die wirklich einwandfrei funktionieren. Zur LeninBibliothek haben alle Aspiranten der UdSSR Zugang, deshalb ist
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der Andrang dort ziemlich groß, und wenn man nicht gleich morgens zur Öffnungszeit da ist, muss man stundenlang warten, bis man im entsprechenden Lesesaal einen Platz findet. Diese Bibliothek verleiht ihre Bücher grundsätzlich nicht, sondern stellt sie für die Lektüre in den Lesesälen zur Verfügung. Am Eingang steht man Schlange, um seine Oberbekleidung an der Garderobe abzugeben. Dann geht man an einer Diensthabenden vorbei und zeigt ihr den Leserausweis. Im Erdgeschoss befinden sich die Kataloge und der Lesesaal der humanitären Wissenschaften. Im ersten Stock befindet sich der Lesesaal der technischen Wissenschaften, zu denen auch Bauwesen und Architektur zählen. Dies ist der größte Lesesaal der Bibliothek. Im zweiten Stock findet man den Lesesaal der Kunst und Räume, in denen man mit Kopfhörern Musik hören kann. Die Lenin-Bibliothek ist die einzige mir bekannte Einrichtung, in der es extra Raucherzimmer gibt und die Raucher nicht in den Treppenhäusern und Gängen rauchen. Im zweiten Stock befindet sich das Zimmer für die Raucher zwischen den Damen- und Herrentoiletten. Da die Be- und Entlüftung im ganzen Gebäude sehr mangelhaft funktioniert, riecht es jedoch in allen Räumen nach altem, kaltem Rauch. Im Kellergeschoss ist eine sehr große, relativ billige und gute Speisehalle. Um aus Aprelewka in die Bibliothek zu kommen, brauche ich etwa zwei Stunden Zeit. Dann bleibe ich hier den ganzen Tag. Mittags unterbreche ich meine Recherchen und gehe in die Kantine zum Essen. Wenn ich abends die Bibliothek verlasse, muss ich einem am Ausgang stehenden Milizionär meine geöffnete Handtasche vorzeigen. Man will Diebstählen vorbeugen. Aprelewka ist eine kleine Stadt, die nur drei einigermaßen bedeutende Objekte hat, und zwar ein Schallplattenwerk, ein Projektinstitut für Wärmeanlagen und -leitungen und unser Projektund Forschungsinstitut für Bauen auf dem Lande. Neben jedem dieser drei Objekte gibt es eine kleine Wohnanlage mit mehrstöckigen Gebäuden. Der größte Teil der Stadt besteht aus Privathäusern. Die Stadt liegt von Moskau 45 Bahnkilometer in Richtung Kiew entfernt. Die meisten Berufstätigen hier sind in Moskau beschäftigt. In
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Aprelewka gibt es kein Theater und auch keine anderen öffentlichen Einrichtungen, die der Unterhaltung oder Erholung dienen. Wenn wir uns entspannen wollen, machen wir einen Spaziergang im Wald hinter der Bahnlinie. Dieser Wald ist in 1 bis 1 ½ Hektar große, eingezäunte Parzellen aufgeteilt. Auf diesen Grundstücken stehen unter den hundertjährigen, kerzengeraden Tannen und Fichten geräumige Häuser, die aus Baumstämmen gebaut und mit Holzschnitzereien verziert sind. Es wird gesagt, es seien Sommerhäuser der Generäle. An Feiertagen und Wochenenden besichtige ich Moskau. Ich mache eine Busrundfahrt durch die Stadt und gehe bei jeder Gelegenheit ins Theater. Ich besuche die Gemäldegalerie, die Wirtschaftsausstellung, besichtige den Kreml, den Zoopark und den Botanischen Garten. Die Aspiranten erhalten für die Dauer ihrer Ausbildung ein Stipendium in Höhe ihres letzten Gehalts, aber nicht mehr als 100 Rubel pro Monat. In Jesil habe ich als Kreisarchitekt im ersten Jahr 95 Rubel monatlich verdient und später wurde mein Gehalt auf 120 Rubel pro Monat erhöht. Die 100 Rubel Stipendium, die ich jetzt bekomme, reichen mir zum Leben und manchmal kann ich davon sogar etwas für Pakete an meine Angehörigen abzweigen. Meinen Schwestern schicke ich hauptsächlich Kleidung für ihre Kinder: Strampel- und Strumpfhosen für die Kleinen, Sportanzüge und Pullis für die Größeren. Eintrittskarten für das Theater kosten zwei bis drei Rubel, was für mich nicht billig ist. Trotzdem ist mir das Geld dafür nicht zu schade. Ich gehe ins Puschkin-, Majakowski- und Gogoltheater, ins Theater der Sowjetarmee und andere. Nur ein Problem habe ich dabei: Die Vorstellungen enden spät und ich fürchte mich, mit dem Zug nach Aprelewka zu fahren und allein durch die dunkle Stadt zu gehen. Deshalb freue ich mich, wenn ich einen Begleiter oder eine Begleiterin für den Theaterbesuch finde. Manchmal gehe ich mit meiner Kollegin Sweta, die mich aber meistens allein nach Hause fahren lässt und selbst bei ihrer Tante übernachtet. In den Tschaikowsky-Konzertsaal gehe ich mit einem Kollegen, der im 3. Ausbildungsjahr ist und mir häufig von seinen jüdischen Ahnen er-
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zählt. Sie seien vor 200 Jahren nach Russland gekommen, hätten sich im Süden des Reiches niedergelassen und so manchen Pogrom miterlebt. Nur sein Großvater väterlicherseits sei ein Russe gewesen, woher auch sein russischer Familienname komme. Er selbst sei ein »illegaler« Jude, weil er seinen Dokumenten nach ein Russe sei. Die meisten meiner Kollegen sind legale oder illegale Juden. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel, geben einander Empfehlungen und Ratschläge. In meiner Gegenwart sprechen sie offen über »nützliche Bekanntschaften«. Von anderen erwarten sie, dass sie ehrlich, aufrichtig, großzügig und mutig sind, aber sie selbst handeln nach dem Prinzip »Der Zweck heiligt die Mittel«. Um ihr Ziel zu erreichen und den Kandidatengrad zu bekommen, sind sie nach ihren eigenen Worten zu allem bereit: Beziehungen spielen zu lassen, die entsprechende Frau zu heiraten, Schmiergelder zu zahlen, der KPdSU beizutreten oder ihre nationale und religiöse Zugehörigkeit zu leugnen. Warum nicht, wenn es anders nicht geht?! Ich werde gefragt, warum die Deutschen die Juden so hassen. Ich sage, das sei eine Unterstellung und Verallgemeinerung. »Und was ist mit Hitlers Vernichtungspolitik, bei der alle mitmachten?«, meinen sie. »Für diese Auswüchse könnt ihr nicht alle Deutschen verantwortlich machen. Wenn ihr wegen Hitler und seinen Schergen vergesst, dass Bach und Goethe auch Deutsche waren, dann seid ihr im Grunde nicht besser als die Nazis! Kein Volk besteht nur aus Engeln oder Schurken. Das gilt für die Deutschen wie für die Juden.« Wir diskutieren. Ich erzähle ihnen von meinen ermordeten Verwandten. Soll ich dafür alle Russen hassen? Ich rede über Keksel und Pratt. Soll ich mich ihretwegen meines Deutschtums schämen? Ich erzähle auch von Portnoj und Sofja Abramowna. »Wollt ihr behaupten, es gäbe bei euch keine schwarzen Schafe? Ihr wisst es besser als ich, was es bei euch alles gibt.« Sie schauen einander betreten an. Einer sagt: »Man versucht ja immer wieder, uns gegeneinander auszuspielen, aber wir sitzen hier praktisch alle in einem Boot.« Ein anderer meint:
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»In diesem Land haben wir mehr Grund zusammenzuhalten als uns gegenseitig zu verraten.« Im Bereich der politischen Bildung sind sie mir hoch überlegen. Von diesen meinen Kollegen höre ich zum ersten Mal über die Dissidentenbewegung, das heißt über die Künstleropposition in Leningrad und Moskau. Sie sprechen über Walerij Tarsis, der den Zweiten Weltkrieg als Korrespondent im Rang eines Kapitäns erlebte und dessen kritische Einstellung zur sowjetischen Wirklichkeit durch seine Veröffentlichung über die Stalin-Ära »Das Schöne und sein Schatten« bekannt wurde. Er trat aus der Partei und dem Schriftstellerverband aus und schaffte seine kritischen Werke ins Ausland. Dann begann seine Verfolgung: Zuerst sperrte man ihn in eine psychiatrische Heilanstalt und Jahre später wurde er ausgebürgert. Meine Kollegen nennen die Namen mehrerer sowjetischer Regimekritiker. Anscheinend sind unsere Aspiranten mit manchen dieser Oppositionellen persönlich bekannt, denn sie wissen in jeder Hinsicht über sie Bescheid. Ich erfahre auch etwas über die Schwierigkeiten von Juden, die ausreisen wollen. Meine Mitbewohnerin Tatjana erzählt einen Witz, den sie in Moskau gehört hat: »Zwei Russinnen treffen sich auf der Straße. ›Hallo! Wie geht’s? Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.‹ – ›Danke, gut. Ich habe mir ein Fortbewegungsmittel angeschafft.‹ – ›Was? Hast du dir etwa ein Auto gekauft?‹ – ›Nein, ich habe einen Juden geheiratet.‹ « Im Frühjahr 1967 bekomme ich unerwartet einen Brief aus Kirgisien von einer Frau namens Elsa, die sich als Schwester meines geliebten Viktor Bode vorstellt. Jetzt, ein Jahr nach Viktors Tod, will sie wissen, warum wir uns getrennt haben. Ich antworte ihr und schreibe, dass Viktor und ich niemals von Trennung gesprochen hätten. Warum es dann trotzdem dazu gekommen sei, dafür hätte ich keine Erklärung. Aus dem weiteren Briefwechsel mit Elsa erfahre ich etliche Einzelheiten aus den letzten drei Lebensjahren meines Freundes. In den letzten Winterferien
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habe er seiner Mutter gesagt, dass er nach Abschluss seines Studiums heiraten würde und seine Verlobte eine Deutsche sei. Er habe auch meinen Namen genannt. Von seiner Heirat mit der Russin habe die Familie lange nichts gewusst, bis die Eltern ihn einmal besucht hätten. Mit seiner Frau habe er sich nicht gut verstanden, sie hätten ständig miteinander gestritten und sich sogar geschlagen – und das in Anwesenheit des Besuchs. Sein Vater sei empört gewesen: »Viktor, am liebsten würde ich den Riemen nehmen und dich verhauen, weil du dir so eine Frau genommen hast und so ein Hundeleben führst.« Seine Mutter habe ihn unter Tränen gefragt: »Du warst doch mit einer Deutschen verlobt!? Wo ist sie? Wollte sie dich nicht haben?« Er soll geantwortet haben: »Ach, ihr versteht das nicht! Es ging nicht anders. Ich musste diese Frau heiraten, sonst hätte ich mein Diplom nicht bekommen.« Viktors Schwester schreibt, sie hätten sich darauf keinen Reim machen können, und fragt, ob ich das nicht erklären könne. Nein, auch ich habe leider keine Ahnung. Weiter berichtet mir Elsa, ihr Bruder habe auch im Beruf mit Problemen zu kämpfen gehabt. Zum Beispiel sei die Werkstatt abgebrannt und die Schuld dafür ihm als Ingenieur wegen einer angeblich defekten Elektroleitung zugewiesen worden. Später habe es sich geklärt: Der Nachtwächter hätte in trunkenem Zustand geraucht und dabei den Brand ausgelöst. Zu jener Zeit habe ihn sein Vater nochmals besucht und einen meiner Briefe gelesen, der geöffnet und akkurat zusammengefaltet auf dem Tisch gelegen hätte. »Mit der wärst du glücklich geworden!« »Woher willst du das wissen?! Du kennst sie ja gar nicht. Die ist mir böse und würde mir nie verzeihen!« »Eine Frau, die dir solche Briefe schreibt, liebt dich und kann dir nicht böse sein. Und ob sie dir verzeiht, das hängt ja auch von dir ab. Du musst sie um Verzeihung bitten, mit ihr reden und ihr alles erklären.« Gestorben ist er am 1. Mai 1966 gegen Abend durch einen Autounfall. Er verblutete, da die Helfer zu spät eintrafen. Man fand in seiner
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Tasche Fotos von seiner Tochter und seinen Entlassungsantrag. Er wollte weg und hatte schon die Zustimmung seines Chefs, der damit einverstanden war, ihn nach der Aussaat zu entlassen. Seine Ehefrau wusste von seinen Plänen nichts. Ich liebe ihn noch immer! Ich liebe ihn, obwohl ich weiß, dass ich mir vieles nur eingebildet habe. Er war nicht so stark, stolz und selbstbewusst wie er mir vorkam. Er fühlte sich missverstanden, wurde gehetzt und verfolgt und war in einem Netz aus Lügen gefangen. Er hätte meine Hilfe brauchen können, aber ich begriff nichts und konnte auch nichts begreifen. Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Warum nur? Ich löse mich fast in Tränen auf. Der Tod dieses Menschen hinterlässt zu viele offene Fragen, Ungereimtheiten und scheinbare Zufälle, als dass alles mit rechten Dingen hätte zugehen können. Die Ferien verbringe ich zu Hause bei meiner Mutter. Als ich ihr von Viktors Tod erzähle, tröstet sie mich: »Deshalb musste er dich verlassen. Nicht du, sondern eine andere sollte Witwe werden. Siehst du? - Alles ist vorbestimmt. Alles ist Schicksal. Es gibt keinen Zufall.«
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Unruhe im Lande
Die folgenden zwei Jahre sind für mich sehr abwechslungsreich. Ich mache sehr viele Dienstreisen, werte ihre Ergebnisse im Institut an meinem Arbeitstisch aus, gehe in die Lenin-Bibliothek, nehme an wissenschaftlichen Konferenzen teil, halte Vorträge und veröffentliche Artikel zum Thema meiner Dissertation. Auf meinen Dienstreisen komme ich in alle Teile der UdSSR, wo man sich mit Schafzucht beschäftigt. In jeder Stadt nehme ich mit der Leitung eines Projektinstituts Kontakt auf. In freien Stunden nehme ich an Stadtrundfahrten teil, besuche Theater, Museen und Ausstellungen. Ich esse in Kantinen, Gaststätten und Restaurants. Zunächst komme ich in die Städte Woronesh, Gorkij, Krasnodar, Stawropol, Grosnyj, Rostow am Don, Kischinjöw, Lwow und Kiew, wodurch ich Zentral- und Südrussland, die Ukraine und Moldavien kennen lerne. Sobald ich mich mit den Bauplänen von Schaffarmen und aller Gebäude der Schafzucht vertraut gemacht und Kopien davon erhalten habe, erfahre ich in der Landwirtschaftsverwaltung die Anzahl der Wirtschaften, die Schafe züchten, suche manche von ihnen auf, rede mit den Direktoren, Buchhaltern, Zootechnikern und Baumeistern, fotografiere einzelne Bauten und Einrichtungen. Je öfter ich auf Reisen bin, umso mehr habe ich den Eindruck, das Projektwesen im europäischen Teil der UdSSR sei ein jüdisches Monopol. Die Direktoren der Projektorganisationen sind zwar Russen oder Ukrainer, aber ihre Stellvertreter, die Chefingenieure und Chefarchitekten, die Projektleiter, Gruppenleiter und 40 bis 50 Prozent aller anderen Mitarbeiter sind Juden. Demnach müssen in diesen Städten viele Juden leben. Ich frage mich, wer dann in ihrem autonomen Gebiet Birobidschan im Fernen Osten lebt? Als mich eine Dienstreise nach Rostow am Don führt, gibt meine Kollegin Tanja mir die Adresse ihrer Eltern. »In Rostow ist es sehr
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schwer, einen Platz im Hotel zu bekommen. Geh zu meinen Eltern, die werden sich über deinen Besuch freuen.« Ihre Eltern kenne ich inzwischen schon, denn die Mutter hat Tanja schon zweimal besucht und ihr Vater war bei uns, als er nach Moskau zu einer Operation musste. Ich mache von Tanjas Angebot Gebrauch und werde von ihren Eltern sehr freundlich empfangen. Für meine Begriffe sind sie »reich«: Sie haben eine komfortable 4-ZimmerWohnung in günstiger und ruhiger Lage. In der Wohnung stehen Mahagonimöbel, wie ich sie noch nie gesehen habe. Die Eheleute haben einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, einen Staubsauger und einen Fernsehapparat. Sie sind beide Ingenieure und arbeiten in zwei verschiedenen Projektinstituten. Wenn Tanja mir auch nie offen gestanden hat, dass sie jüdischer Abstammung sei, so machen ihre Eltern daraus kein Geheimnis. Am Abend sitzen wir im Wohnzimmer und hören Nachrichten über die gespannte Lage im Nahen Osten. Da sagt der Vater, der Antisemitismus nehme wieder zu. Er sei ja schon zu Zeiten des Zaren immer wieder durchs Land gezogen und habe viele Opfer gefordert. Auch seine Großeltern seien bei einem Pogrom ums Leben gekommen. Immer wenn es den Russen politisch in den Kram passe, würden die Juden für alle Missstände im Land verantwortlich gemacht. »Auch unter der Sowjetregierung hat sich nicht viel geändert. Erinnern Sie sich an eine der letzten antisemitischen Kampagnen, die so genannte ›Ärzteaffäre‹, die sich ereignete als Stalin im Sterben lag? Da haben wir große Angst ausgestanden und ständig darauf gewartet, dass die alte Parole ›Bej shidow – spasaj Rossiju‹ – ›Erschlagt die Juden – rettet Russland‹ – wieder laut wird.« Er fragt nach meinen Eltern und ich erkläre, dass sie beide aus Bauernfamilien stammten. Mutter habe als Lehrerin gearbeitet und lebe jetzt in Kasachstan. Vater sei Buchhalter gewesen, 1937 verhaftet worden und nicht zurückgekehrt. Sie hätten in der Ukraine im Gebiet Saporoshje gelebt. Ich sage, die deutsche Volksminderheit kämpfe um die Wiederherstellung der Autonomen Republik an der
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Wolga, um ihr Volkstum bewahren zu können, aber sie, die jüdische Volksminderheit, habe doch Birobidschan und lebe trotzdem verstreut über das ganze Land. Ich frage ihn, woran das wohl liege. Er erzählt, Birobidschan sei von den Sowjets 1928 zum jüdischen Gebiet erklärt worden, mit dem Ziel, ein Gegenstück zu Israel zu schaffen, dem Land der jüdischen Verheißung. Sie, die Sowjetjuden, hätten sich sehr gefreut und sich aufrichtig bemüht, das Land bewohnbar und landwirtschaftlich urbar zu machen. Aber sowohl die ökonomischen als auch die klimatischen Bedingungen seien dort menschenfeindlich, so dass die Leute ständig Not litten. Es gebe dort auch keine jüdischen Schulen und keinen Unterricht in der Muttersprache. Da bleibe nichts mehr übrig von ihrem Glauben, ihrer Sprache, von ihrer völkischen und kulturellen Identität, denn die Juden bildeten in diesem Gebiet eine Minderheit von etwa fünf Prozent. Deshalb habe ihre Emigration nach Israel begonnen. Andererseits verursache die zunehmende Auswanderung eine Verschärfung des Antisemitismus – es sei ein Teufelskreis, dem nur schwer zu entkommen sei. Die folgenden Tage verbringe ich mit meinem Fotoapparat in zwei Schafzuchtkolchosen im östlichen Teil des Gebietes. Als ich zurückkehre, treffe ich Tanja an, die in die Ferien gekommen ist. Sie wird von ihren Eltern »Tata« genannt. Am Abend gehe ich mit ihr und ihren Eltern in ein Restaurant. Tanja fährt morgen ans Schwarze Meer, wo sie Urlaub machen will. Und ich fahre erst nach Aprelewka und danach zu meinen Verwandten nach Kasachstan. Beim Essen scherzt Tanja: »Weißt du, Vater, Adina ist zwar eine Deutsche, aber sie ist so rückständig, so eine graue Maus, dass sie noch nicht einmal am Meer gewesen ist.« Ich schenke ihr nichts und sage ihrer Mutter: »Wissen Sie, Nina Iwanowna, Ihre Tochter ist so rückständig und beschränkt, die hat noch nie Wanderdünen gesehen! Und vom Karakulfell glaubt sie, es wüchse auf Bäumen.« Alle lachen. Eine andere Dienstreise führt mich durch Semipalatinsk, Pawlodar, Kokschetau, Zelinograd, Karaganda, Kustanaj, Aktjubinsk, Gurjew,
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Uralsk und Almaty. So habe ich reichlich Gelegenheit, Kasachstan kennen zu lernen. In jeder dieser Städte leben sehr viele Deutsche, die auch in den Projektinstituten anzutreffen sind. Nur bringt es niemand von ihnen weiter als zum Gruppenleiter und auch das nur, wenn er Mitglied der KPdSU ist, eine Mischehe eingeht oder auf andere Weise den Verzicht auf seine deutsche Identität unter Beweis stellt. Juden sind in Kasachstan nur in gehobenen Positionen als Chefärzte oder Professoren und Dozenten der Hochschulen anzutreffen. Als ich auf einer meiner Dienstreisen ein Wochenende bei meiner Studienkollegin Sabine verbringe, fühle ich, wie sehr ich sie um ihre Familie beneide. Ihr zweijähriger Sohn geht schon in den Kindergarten. Ihr Mann ist Deutscher und arbeitet als Vorarbeiter am Bau. Sie selbst ist Ingenieurin im Projektinstitut. Am Mittagstisch werde ich von ihrem Mann mit zwei Männern bekanntgemacht. Der eine ist sein Bruder, der andere sein Freund. Sie sehen beide gut aus und arbeiten als Elektromonteure für das Hochspannungsnetz. Sie sind Angeber, aber Sabine kühlt ihren Eifer etwas ab, indem sie sagt: »Plustert euch bloß nicht so auf wie ein paar Truthähne. Ihr habt doch nichts zu bieten außer euren schönen blauen Augen, und was die wert sind, weiß man ja inzwischen.« Als wir in der Küche das Geschirr abspülen, erzählt sie mir von ihrem Familienleben, dass es nicht so interessant und problemlos sei, wie sie es sich gewünscht habe. Die Kinderkrankheiten ihres Sohnes bescherten ihr so manche schlaflose Nacht. Ihr Ehemann komme am Abend nicht immer pünktlich und nüchtern nach Hause, worüber sie sich Sorgen mache. Außerdem sei die Lebensmittelversorgung in der Stadt miserabel und sie müsse daher viel Zeit in Geschäften verschwenden, um einzukaufen. Sie meint: »Dein Leben ist viel interessanter. Du kommst im ganzen Land herum, siehst so viele verschiedene Leute, deine Arbeit ist spannend. Und ich muss ständig für andere da sein.« »Aber du bist nie allein!«, entgegne ich. »Selbst wenn sich dein Mann zu oft mit seinen Freunden die Zeit vertreibt, so weißt du
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doch, dass dein Söhnchen dich braucht. Du weißt, wohin du gehörst und was du zu tun hast.« »So ein Familienglück, wie ich es habe, kannst du auch jederzeit bekommen. Wenn du damit zufrieden sein könntest, dann brauchst du ja nur zuzugreifen. Da, sieh dir die zwei an, die verdrehen sich ja die Augen nach dir. Von diesem Schlag gibt es hier noch mehr. Nur trinken sie alle, die einen weniger, die anderen mehr. Mein Schwager zum Beispiel ist ein hoffnungsloser Fall. Es vergeht kein Tag, an dem er sich nicht betrinkt. Seine Mutter wünscht sich, dass ihm endlich jemand das Ehejoch um den Hals wirft und ihn zur Räson bringt. Nur, ich denke, an dem wird sich kaum noch eine vergreifen. Der andere, Jochen, fing erst an zu trinken, als er plötzlich allein dastand. Sein Vater ist seit dem Krieg in Deutschland und seine Mutter durfte vor zwei Monaten zu ihm ausreisen. Seine drei Schwestern sind verheiratet und haben alle ihre eigenen Familien. Er wollte mit der Mutter weg nach Deutschland, aber nur sie bekam die Ausreiseerlaubnis und ihm wurde sie verweigert. Jetzt ist er verunsichert, weiß mit sich nichts anzufangen und verbringt immer mehr Zeit mit meinem Schwager. Ob das gut enden wird?« So lerne ich in Aktjubinsk die ersten Deutschen kennen, die persönlich mit Ausreiseangelegenheiten zu tun haben und schon ihre Erfahrungen mit dem Verfahren der Sowjetbehörden gemacht haben. Ich setze meine Dienstreise fort und als ich wieder nach Aprelewka komme, erwartet mich da schon ein Brief von diesem Jochen, der einen klangvollen Namen und blaue Augen hat und dessen Eltern in der Bundesrepublik Deutschland leben. Im Winter nehme ich an zwei wissenschaftlichen Konferenzen teil. Bei der einen, die im Moskauer Institut für Rationelle Bodennutzung stattfindet, halte ich einen Vortrag zum Thema meiner Dissertation, der auch veröffentlicht wird. Bei der anderen, die zum Thema »Zwischenbehördliche Beratung über die Geographie der Bevölkerung« abgehalten wird und in der Lomonosow-Universität stattfindet, bin ich nur ein Zuhörer. An dieser »Beratung« neh-
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men Wissenschaftler aus Nowosibirsk und Riga, aus Leningrad und Tbilissi teil. Es sind sogar ausländische Teilnehmer aus Polen, Bulgarien und der Tschechoslowakei da. Die Berichte und Vorträge behandeln die Landflucht, die Land-Stadt-Migrationen, die Verstädterung und die Notwendigkeit, das Wachstum der Millionenstädte zu bremsen. In jedem Vortrag werden Vergleiche mit den Entwicklungen in kapitalistischen Ländern zugunsten des Sozialismus gezogen. Dann wird das Wort dem Professor Urlanis, einem Doktor der Soziologie aus Riga, erteilt. Er ist energisch, sympathisch, im Vergleich zu den Moskauer Greisen jung, trägt einen schwarzen Schnurr- und Spitzbart, hat dunkles Haar, und was er sagt ist unglaublich! Er spricht über die Probleme des Bevölkerungswachstums, der Migration und die Notwendigkeit der Bevölkerungsplanung. Wenn sich, so meint er, die Bevölkerung der Erde weiterhin im jetzigen Tempo vermehre, dann werde sie im Jahr 2000 auf mindestens sechs Milliarden Menschen gestiegen sein. Er zählt auf, welche kaum zu bewältigenden Probleme das mit sich bringen würde. Er wirft Fragen auf: ob die Erde beziehungsweise die Natur diese Menschenmenge verkraften würde, ob überhaupt alle Menschen mit Unterkünften und Lebensmitteln versorgt werden könnten und wenn nicht, wie groß die Wohnungsnot und der Mangel an Nahrungsmitteln sein würden. Er behauptet, die Mobilisierung aller technologischen Mittel zur Ernährung der ständig wachsenden Weltbevölkerung verschmutze die Umwelt zwangsläufig immer mehr, wodurch die Überlebenschance der Menschheit stark reduziert würde. Wenn die Erde überbevölkert werde, käme es zu einem Überlebenskampf aller gegen alle, wodurch die Menschheit vernichtet würde. Er sagt außerdem: »Diese Probleme treffen die sozialistische Welt ebenso wie die bürgerliche. Es ist unklug, sie als bürgerliche Hirngespinste abzutun und zu behaupten, für unsere sozialistische Planwirtschaft träfe all das nicht zu. Die Verdrängung der Probleme schafft sie leider nicht aus der Welt, und beweist nur unsere Unwissenheit und Borniertheit. Wir sollten in diesen Belangen mit dem Rest der Welt solidarisch
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denken und handeln, anstatt wahnwitzig und hirnverbrannt damit zu spekulieren, dass sich bei weiterem Wachstum der Bevölkerung schon eine Lösung finden werde, wie zum Beispiel die Umsiedlung auf den Meeresgrund, den Mond oder den Mars. Unsere offizielle Position in diesen Fragen macht uns vor der ganzen Welt lächerlich! Wir gleichen einem Nichtreiter, der verkehrt herum auf einem Pferd sitzt, immer weiter zum Schwanz rutscht und schließlich abstürzt. Um aber seine Blamage nicht einzugestehen, macht er eine stolze Geste und verlangt ein nächstes Pferd, denn dieses sei »alle« und fertig, - er hätte es schon ganz zugeritten.« Ich staune über das, was sich dieser Mann alles zu sagen traut. Als ich zwei Monate später die Veröffentlichungen zu dieser Konferenz erhalte, suche ich vergeblich nach dem Vortrag des Professors. Nicht einmal sein Name wird hier erwähnt, als habe es ihn und seine Rede nie gegeben. Ich erfahre nichts über das weitere Schicksal dieses Menschen. Jedenfalls hat er es gewagt, wenigstens einmal in seinem Leben von einer Tribüne herunter seine Meinung zu sagen. Ein Kollege im Wohnheim hat sich einen kleinen Fernsehapparat gekauft, an dem sich jetzt zu bestimmter Stunde unsere ganze Besatzung versammelt. In der Sendung »Musikalischer Kiosk« präsentiert eine schöne junge Lettin eine neue Sammlung lettischer Volkslieder. Sie erklärt unter anderem, dass den Autoren einige wesentliche Fehler unterlaufen seien, indem sie estnische und litauische Lieder als lettische qualifiziert hätten. Zum Schluss sagt Sie: »Die Moskowiter hätten diese Arbeit lieber unseren Fachleuten überlassen sollen. Schließlich wissen wir ja über unsere Volkslieder besser Bescheid als irgendjemand Anderer. Außerdem erkennen wir auch den Unterschied zwischen unseren Liedern und denen unserer Nachbarn!« Die baltischen Völker machen den Russen das Herrschen nicht gerade leicht, merke ich mir. Da ich an Feiertagen und Wochenenden so oft allein bleibe, entschließe ich mich, ein Radiogerät zu kaufen, damit ich wenigstens Nachrichten und Musik hören kann. Da ich von Radios nichts ver-
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stehe, bitte ich einen meiner Kollegen, mir bei der Auswahl behilflich zu sein. Im Geschäft zeigt er mir eine unscheinbare grau-grüne Metallkiste mit einer kleinen Skala und einem grün leuchtenden magischen Auge: »Das ist das beste Gerät, das ich dir empfehlen kann!« »Aber das sieht doch scheußlich aus. Tanja wird schimpfen, wenn ich so ein Ding in die Wohnung bringe. Ich hatte an so etwas gedacht«, sage ich und zeige auf ein Radiogerät mit grell leuchtender Skala und eingebautem Plattenspieler, das auf eleganten Beinen in der Ecke steht. Mein Kollege ärgert sich: »Wenn du Möbel kaufen willst, hättest du mich nicht mitzunehmen brauchen. Dieses scheußliche Ding, wie du es nennst, ist kein gewöhnlicher Radioapparat, sondern ein Empfangsgerät mit drei zusätzlichen Kurzwellenkanälen, die es bei keinem offiziell zugelassenem Radio gibt! Verstehst du?« »Ist dieses Gerät denn nicht zugelassen? Womöglich käme ich deswegen ins Kittchen?!« »Ach nein, wenn man es hier verkauft, dann ist es nicht verboten. Du kaufst es ja aus zweiter Hand. Siehst du diese Kratzer? Womöglich hat man es in einer Polarstation auf driftender Eisscholle verwendet. Es ist ja auch Jahrgang 1956 – ein altes Ding. Aber es ist ein kostbares Stück, weil es UKW-Empfang von 21, 19 und sogar 17 Meter hat. Und alle anderen Apparate empfangen nur Wellen von mindestens 24 Meter.« Er überzeugt mich und ich kaufe das Ding, welches TPS-56 heißt, wobei TPS für »technisches Empfangsgerät« steht. Am Abend sagt Tanja genau das, was ich von ihr erwartet habe: »Du kommst zwar aus der Wüste, Petrowna, aber ich hätte dich trotzdem für eine zivilisierte Dame gehalten, wenn du nicht wie ein Straßenbub alte Metallschachteln ins Haus bringen würdest!« Fortan versammeln sich unsere Kollegen mal vor dem kleinen Fernseher, mal vor meinem TPS-56, mit dem sie die Stimme Amerikas, Radio Freies Europa und andere westliche Sender empfangen.
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Das Jahr 1968 hat man zum internationalen Jahr der Menschenrechte erklärt. Verschiedene Gruppen des Sowjetvolkes kämpfen um die Wiedererlangung ihrer verlorenen Rechte. Außerdem gibt es Leute, die es wagen, das Ausland über verschiedene Ereignisse im Sowjetimperium zu informieren. Durch die Stimme Amerikas erfahre ich zum ersten Mal vom Kampf der Krimtataren und vom Schicksal ihres Vertreters Musthafa Dshemiljöw, der 1966 verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde. Wir hören, dass einige junge Leute am 25. August 1968 auf dem Roten Platz in Moskau gegen den Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei demonstriert haben und sofort »wegen groben Unfugs« verhaftet werden. Die westlichen Sender berichten von mehreren Fällen der Zwangseinlieferung Andersdenkender in psychiatrische Heilanstalten »zur Behandlung«, damit sie »für die Gemeinschaft ungefährlich« würden. Ich denke dabei sofort an meinen Bruder, den man auch »für die Gemeinschaft ungefährlich« gemacht hat. Meine Kollegen wissen genau, wann und wie sie die westlichen Sender empfangen können. Wenn ich selbst es versuche, stoße ich immer nur auf die Musik vom Majak-Sender. Wenn die Aspiranten sich die Nachrichten angehört haben, diskutieren sie oftmals noch darüber. Mir ist klar, dass ich in Aprelewka vom ersten Tage an Schritt für Schritt, Stunde für Stunde beobachtet und bespitzelt werde. Dafür bekommt man im Laufe der Zeit ein Gefühl. Nur weiß ich nicht immer, von wem ich beobachtet werde. Deshalb halte ich mich meistens aus den Diskussionen heraus, höre aber aufmerksam zu und lerne sehr viel dabei. Einmal werde ich gefragt, was ich von der Dissidentenbewegung halte. Ich antworte, ich fände es großartig, dass es Leute gäbe, die kein Blatt vor den Mund nähmen und es wagten, die Weltöffentlichkeit zu informieren. Nur würde ich an dem Kampf für die Demokratie und die Freiheit des Geistes so, wie er geführt werde, nie teilnehmen können, weil ich eine Deutsche sei. Sollte ich in diese Sache verwickelt wer-
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den, gäbe es sofort ein unvorstellbares Getöse: Man würde vom westlichen Einfluss sprechen, der die Sowjetbürger zur Auflehnung bringe, und mich mindestens als Spion der Bundesrepublik Deutschland abstempeln, verhaften und bestrafen. Meinen heimlichen Beobachter stellt diese Antwort scheinbar zufrieden. Im Frühjahr 1968 beginnen wieder meine Dienstreisen nach Kasachstan. Am 5. Mai treffe ich in Aktjubinsk auf dem Flughafen ein, wo ich von Jochen, mit dem ich ein halbes Jahr korrespondiert habe, empfangen werde. Er habe aus Deutschland ein Telegramm mit dem Text »Mama liegt im Sterben! Sie will dich noch einmal sehen. Komm zu Besuch!« erhalten, sich sofort an die zuständige Behörde gewandt und um Erlaubnis gebeten, die Mutter vor ihrem Tod noch besuchen zu dürfen. Man hätte ihn aber gar nicht anhören wollen. Ich erledige meine Arbeiten im Projektinstitut und in der Landwirtschaftsverwaltung. Am Abend treffe ich mich mit Jochen. Wir gehen zusammen essen, ins Kino und bummeln durch die Stadt. Er erzählt von seinen Eltern, die vor dem Krieg bei Odessa in Perwomaisk gelebt hätten. Sein Vater sei während der Verhaftungswelle im Jahr 1937 untergetaucht und erst Jahre später zurückgekehrt. Er sei zur deutschen Armee gegangen und habe bei der SS gedient. Zu Weihnachten 1943 habe er im Warthegau die Familie das letzte Mal besucht. Er, Jochen, sei damals schon zehn Jahre alt gewesen und könne sich ganz genau daran erinnern. Nach dem Krieg, im Frühjahr 1945 seien sie aus dem Warthegau nach Kasachstan in den Sowchos Sibirjak im Gebiet Aktjubinsk verschleppt worden. Seine Mutter habe hier schwer gearbeitet und sei oft krank gewesen. Er, das älteste von vier Kindern, hätte als Schafhirte gearbeitet. Seine Mutter und er hätten es nicht geschafft, die drei jüngeren Schwestern zu ernähren. Seine Schwestern seien in den Jahren von 1946 bis 1948 in einem Kinderheim gewesen. Um sich irgendwie durchzuschlagen, habe seine Mutter nach der regulären Arbeit noch für die Russen genäht und Wäsche gewaschen. Im Winter 1948 habe die Mutter durch ihre ukrainische Schwägerin er-
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fahren, dass ihr Mann am Leben sei und in Stuttgart wohne. Seitdem habe sie hartnäckig um ihre Ausreise nach Deutschland gerungen, wobei zu jener Zeit selbst der Gedanke daran als kriminell betrachtet worden sei. Bei der monatlichen Meldung beim Kommandanten habe sie ihm gesagt, man solle sie nach Deutschland zu ihrem Mann lassen, weil sie ihre Kinder hier nicht vor dem Hungertod retten könne. Sie habe den Kommandanten gebeten: »Sagen Sie mir bitte, was ich tun muss und an wen ich mich wenden soll, um die Ausreiseerlaubnis zu bekommen.« »Sind Sie wahnsinnig geworden? Halten Sie den Mund, sonst muss ich Sie verhaften und Ihre Kinder bleiben als Waisen zurück.« »Verhaften wollen Sie mich? Kann es mir denn im Gefängnis schlimmer gehen als jetzt? Meine Kinder sind im Waisenhaus, weil ich sie nicht ernähren kann. Was nütze ich ihnen?!« Seit sie Vaters Adresse gehabt habe, habe sie von ihm und vom Deutschen Roten Kreuz regelmäßig Hilfspakete erhalten, den Inhalt verkauft und vom Erlös die Kinder ernährt. Als dann 1956 der deutsche Diplomat Haas nach Moskau gekommen sei, habe man Listen der ausreisewilligen Deutschen erstellt und nach Moskau gebracht. Auch Jochens Mutter habe sich mit ihren vier Kindern in eine dieser Listen eintragen lassen. Die Deutschen, die ich in Aktjubinsk kennen lerne, sind so ganz anders als alle, die ich bisher auf meinen Wegen getroffen habe. Sie haben offiziell die katholische oder evangelisch-lutherische Konfession, halten aber im Gegensatz zu den Mennoniten und Baptisten von der Religion nicht sehr viel. Sie sind relativ gebildet: Die meisten haben zehn Klassen Schule oder ein Technikum beendet und sind als Facharbeiter geschätzt. Sie stammen aus der Südukraine und sind im Zweiten Weltkrieg in den Westen geflüchtet. Im Gegensatz zu anderen Gruppen von Deutschen sind sie politisch interessiert und kämpfen aktiv um die Familienzusammenführung. Für mich ist das etwas Neues und ich wundere mich: Darf man das denn? Wird man für solche Aktivitäten nicht sofort ins Gefängnis geworfen?
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Erlebnisse in Ehe und Familie
Am 8. Mai 1968 bekommt Jochen noch ein Telegramm von seinem Vater: »Mutter ist gestorben. Komm zur Beerdigung ...« Aber in der Gebietsverwaltung für Innere Angelegenheiten macht man ihm keine Hoffnung: »Sie brauchen gar nicht erst einen Antrag zu stellen. Bis zur Entscheidung würden mindestens anderthalb Monate vergehen und wer wird schon so lange mit einer Beerdigung warten?!« Er schimpft mit ihnen und verlangt, man solle seinen Antrag eben schneller bearbeiten, wenn man schon selbst wisse, dass mit der Beerdigung nicht lange gewartet werden könne. Aber es hilft nichts, es bleibt bei einem sturen russischen »Nein!« – »Njet!«. Am Abend sind wir bei Sabine. Jochen trinkt mit ihrem Mann Wodka und beweint seine arme Mutter, die 20 Jahre um die Ausreise gekämpft hat und nach 10 Monaten Freiheit sterben musste. Er schimpft über das verkommene Russenpack, das keine menschliche Züge besitze und keine Vernunft aufbringen könne. Am nächsten Tag, dem 9. Mai, der in der UdSSR als Siegestag im Zweiten Weltkrieg hoch gefeiert wird, fahren wir zu Sabines Schwiegereltern in einen Kolchos und helfen ihnen, den Kartoffelgarten zu bestellen. Diese Alten haben Jochens Mutter gut gekannt und waren mit ihr eng befreundet. Ihr Tod wird auch von ihnen sehr bedauert. Sabines Schwiegervater fragt: »Jochen, was willst du jetzt weiter machen? Immer noch um die Ausreise kämpfen?« »Nein, ich will jetzt erst heiraten«, sagt er und klammert sich in seiner Verzweiflung an mich. »Verlass mich nicht, Adina. Bleib bitte bei mir. Geh nicht weg. Wissen Sie«, wendet er sich wieder an den Vater, »ich denke, Gott hat mir eine Frau genommen und eine andere gegeben!« »Weißt du, ich mag keine Trinker, ich kann sie einfach nicht ausste-
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hen!«, sage ich. Er verspricht, nicht mehr zu trinken, wenn ich seine Frau werde. Es ist für mich eine sehr schwere Entscheidung. Am liebsten würde ich davonlaufen, um keine Verantwortung auf mich nehmen zu müssen. Ich überlege mir immer wieder alle Wenn und Aber. Ich kenne ihn kaum. Aber ich liebe ja auch keinen anderen. Wenn ich es mir lange überlege und ihn erst besser kennen lerne, sage ich bestimmt nein. Ich bin jetzt 30 Jahre alt, er ist 34. Es wird ja auch künftig noch Gelegenheiten zum Heiraten geben, aber es könnte zu spät sein, um Kinder zu bekommen. Wenn es schon die Leute, die ich lieben könnte, offenbar nicht gibt, so muss ich wohl dafür sorgen, dass sie auf die Welt kommen. Also darf ich meine Verehelichung nicht mehr lange aufschieben. Wenn ich aufrichtig bin, so empfinde ich für diesen Menschen nur Mitleid. Man könnte mir dann sagen, Mitleid sei nicht die richtige Grundlage für eine glückliche Ehe. Das mag sein. Dann gehöre ich halt nicht zu den Glücklichen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Gedicht von Irina Snegina: »Bei uns wird gesagt, er liebt sie, und sehr ... Er trägt sie auf Händen, vergöttert, verwöhnt sie und betet sie an. Die Nachbarin-Greisin sagt schlicht und bescheiden, wie früher in Dörfern man sagte, dass er mitleiden kann.« Am nächsten Tag stelle ich Jochen zwei Bedingungen: Zum einen möchte ich meine Forschungsarbeit zu Ende führen und nicht jetzt wegen der Heirat abbrechen; zum anderen werden wir nur so lange zusammenbleiben, wie es von beiden gewünscht wird und wenn die Ehe schlecht laufen sollte, trennen wir uns ohne großen Krach. Nachdem Jochen alles akzeptiert hat, gehen wir aufs Standesamt und reichen einen Antrag auf Eheschließung ein. Dort will man uns aber einen Monat Bedenkzeit geben. Ich sage:
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»Das geht nicht. In zehn Tagen muss ich wieder in Aprelewka sein.« Die Bedenkzeit wird auf eine Woche verkürzt. Ich erfülle noch die Aufgaben meiner Dienstreise und fahre in zwei Sowchosen. Am 18. Mai wird unsere Ehe auf dem Standesamt registriert, eine Trauung gibt es nicht. Anschließend feiern wir unsere Hochzeit mit Jochens Freunden in einem Restaurant. Sehr bescheiden. Wir verbringen drei Tage und Nächte zusammen und ich kehre mit einem Gefühl des Unbehagens nach Aprelewka zurück. Ich habe das Gefühl, einen unverzeihlichen Fehler begangen zu haben, versuche es aber zu verdrängen. Als meine Kollegen meinen Trauring sehen, gratulieren sie mir. »Hör mal, du siehst nicht froh und glücklich aus – als ob du mit dir unzufrieden wärst!«, sagt Nikolaj, ein Russe, der vor einem halben Jahr seine Dissertation abgeschlossen und das Kandidatendiplom bekommen hat. »Ich bin ja auch unzufrieden. Am liebsten hätte ich mit dem Heiraten noch 30 Jahre gewartet, aber ich fürchte, dass sogar du mich dann nicht mehr hättest haben wollen«, sage ich. Er stellt mir nämlich schon längere Zeit nach und glaubt, er müsse mich unbedingt bekommen. Jetzt ist er enttäuscht. Tanja äußert sich dazu wie folgt: »Du machst es dir einfach, Petrowna. Fährst in die Wüste und nimmst dir einen Schafhirten, einen Tschaban. Hättest dich vielleicht doch lieber für den Nikolaj entscheiden sollen?! Der hat eine Wohnung, verdient 350 Rubel im Monat und könnte dir die Aufenthaltsgenehmigung in Aprelewka verschaffen. Was brauchst du noch? Und was erwartest du von deinem Jochen? Was kann dieser Mann dir geben?« »Nichts. Er braucht mich und ich werde in Zukunft nie mehr allein sein. Das ist alles. Aber ich bringe in diese Ehe ja auch nichts mit, außer meinem Ingenieurdiplom und den von meiner Mutter geerbten Humor. Damit hoffe ich durchs Leben zu kommen.« Der Leiter des Labors für die Planung von landwirtschaftlichen Betriebskomplexen schickt mich schnell noch für einen Monat
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auf eine Dienstreise nach Almaty, bevor meine schönen großen Sommerferien beginnen. Das Labor arbeitet im Auftrag des Ministeriums für Ländliches Bauen an einem großen Projekt, der »Entwicklung und Stationierung der ländlichen Bauwirtschaft«, das bereits in einzelnen Unionsrepubliken durchgeführt wird. Ich soll mich auf dieser Dienstreise sowohl mit dem Thema des Labors als auch mit dem meiner Dissertation beschäftigen. Ich vermute eine Schwangerschaft und habe Angst, das Kind zu verlieren, finde aber keinen Grund meine Dienstreise abzusagen. Ich spreche darüber mit einer verheirateten Frau aus dem Labor und suche bei ihr Rat. Sie meint, ich könne die Dienstreise ruhig antreten, und wenn ich Schmerzen im Unterleib bekäme, dann solle ich mich sofort an einen Arzt wenden. Die 4.640 Kilometer zwischen Moskau und Almaty lege ich in einer IL-18 zurück. Der Flug dauert etwa fünf Stunden. Als ich in Moskau ins Flugzeug steige, ist es dort knapp 14 Grad kühl, beim Aussteigen in Almaty aber schlägt mir eine Hitze von 35 Grad im Schatten entgegen. Ich habe Kopfschmerzen und mein Hinterkopf ist schwer wie Blei. Ich melde mich erst beim Ministerium für Ländliches Bauen, wo ich die Adresse des Hotels erfahre, in dem man für mich einen Platz reserviert hat. Ich hoffe, dass ein erfrischendes Bad, gutes Abendbrot und gesunder Schlaf meine Kopfschmerzen lindern werden. Zwei Wochen lang arbeite ich täglich im Ministerium und in der Freizeit bewundere ich die Stadt: die Wirtschaftsausstellung, den Freizeitpark, den Lenin-Palast. Am Wochenende fahre ich mit einem Bus in die Medeo-Schlucht – das ist ein herrlicher Erholungsort in den »Bunten Bergen«, der vor fünf Jahren von einem Schlammrutsch verwüstet wurde. Inzwischen sind alle Spuren des damaligen Unglücks beseitigt. Was ich auch tue, wohin ich auch gehe – meine Kopfschmerzen wollen nicht vergehen. Wenn ich abends ins Hotel zurückkehre, nehme ich mir jedes Mal vor, am Morgen unbedingt Tabletten gegen Kopfschmerzen zu kaufen, komme aber immer nicht dazu. Schließlich nehme ich meine Arbeit mit ins Hotel. Ich
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habe vor, endlich etwas gegen meine unerträglich gewordenen Kopfschmerzen zu unternehmen. Aber dazu kommt es nicht: In der Nacht bekomme ich eine Blutung, die von großen Schmerzen im Unterleib begleitet wird. Am Morgen erkundige ich mich bei der Diensthabenden, wo und wie ein Zugereister ärztliche Hilfe bekommen könne. Sie gibt mir einen Zettel mit einer Adresse und händigt mir auch meinen Pass aus, da ich, wie sie mir erklärt, ohne ihn nicht behandelt würde. Die Ärztin untersucht mich, stellt eine Schwangerschaft in der fünften bis sechsten Woche fest und fügt die Diagnose »drohende Fehlgeburt« hinzu. Ich sitze noch mindestens eine Stunde im Wartezimmer. Dann kommt ein Krankenwagen, der mich in ein Krankenhaus nach dem anderen bringt, bis schließlich eines gefunden wird, das mich als Zugereiste aufzunehmen berechtigt ist. Bei der Aufnahme werde ich wieder untersucht und die Ärztin fragt, ob sie die Schwangerschaft unterbrechen solle oder ob ich das Kind behalten wolle. Ich äußere den Willen, das Baby zu bekommen, und werde in die Abteilung der Schwangerschaftspathologie eingewiesen. Es ist ein relativ gutes Krankenhaus, denn in jedem Krankensaal stehen nicht wie gewöhnlich acht bis zwölf Betten, sondern nur vier. In meinem Zimmer ist es sauber, still und hell. Ein ganzes Wochenende liege ich ruhig da und nehme Tabletten. Das Essen besteht nur aus Gries-, Reis- oder Haferflockenbrei und Tee, aber das stört mich nicht, weil ich sowieso keinen Appetit habe. Links von mir liegt eine sympathische, freundliche Kasachin, die Studentin an der Universität ist und wegen ihrer zu niedrigen Hämoglobinwerte ins Krankenhaus musste. Rechts von mir liegt eine etwa 27 bis 28-jährige Russin, die in einem Warenhaus als Verkäuferin arbeitet. Gegenüber liegt eine Englischlehrerin, die im fünften Monat ihrer Schwangerschaft eine Fehlgeburt hatte, nachdem sie mit ihrem Mann auf einem Motorrad ins Pionierlager gefahren war, um dort ihren Sohn zu besuchen. Sie ist sehr traurig darüber, dass sie das Mädchen verloren hat, denn sie hatten es sich wirklich gewünscht. Nach der Behandlung muss sie jetzt noch eine Woche hier bleiben.
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Meine Zimmernachbarn bekommen häufig Besuch von ihren Verwandten, mit denen sie sich immer lange unterhalten. Die Studentin wird täglich von ihrem Mann und von ihren Studienkollegen besucht. Als die Mutter und die zwei Söhne der Verkäuferin erscheinen, sehen wir, dass ihre Kinder dunkle Haut haben. Später wird sie von der Lehrerin gefragt, ob ihr Mann Afrikaner sei. Sie antwortet ganz offen: »Ich bin nicht verheiratet. Der Vater meiner Kinder ist ein Militärpilot, der hier in der Nähe von Almaty zur Ausbildung war. Dann ist er in sein Land zurückgegangen, wo er eine Familie hat. Aber auch mich vergisst er nicht, und er ist ein sehr zärtlicher und fürsorglicher Vater. Er schickt uns sehr schicke Sachen, wie man sie hier nirgends kaufen kann.« Die Lehrerin bleibt neugierig: »Und wie kommt es, dass Sie jetzt wieder schwanger sind?« »Meinen Sie etwa, dieser Schwarze war der Einzige? Er ist weg und kommt nie wieder. Ich hab jetzt wieder einen wie ihn als Freund. Früher war ich zwei Jahre lang mit einem Russen verheiratet, aber der taugte nichts. Sein Gehalt war gering, er hat viel gesoffen und dass unsere Männer nichts von Zärtlichkeit und Sex verstehen, wissen Sie wohl selbst. Eine richtige Frau wurde ich erst, als ich mich mit den Schwarzen anfreundete.« Die Lehrerin zeigt sich schockiert. Diese Verkäuferin ist jedoch mit ihrer Gesinnung nicht allein und die Afrikaner, die in der UdSSR illegal zu Militärpiloten ausgebildet werden, brauchen sich nicht zu langweilen. Die Russinnen sind großzügig. Das beweisen die zahlreichen dunkelhäutigen Kinder, die auf den Straßen der Vororte von Almaty anzutreffen sind. An ihrer Herkunft ist nicht zu zweifeln, denn sie tragen die Hinterlassenschaft ihrer Väter im Gesicht. Später bekommt die Englischlehrerin Besuch von ihrem Mann, der ihr einen schönen Blumenstrauß mitbringt, um sie ein wenig über den Verlust zu trösten. Ihr ist eine gewisse Genugtuung anzusehen und sie wirft der Verkäuferin triumphierende Blicke zu, als wolle sie sagen: »Na, und wo sind deine Verehrer? Wer von ihnen bringt dir Blumen?« Ich beneide sie um den Strauß. Am darauf folgenden
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Tag kommt ihre Nichte sie besuchen und bringt eine anmutige, feine Porzellanfigur einer Ballettänzerin mit. Der Sockel der kleinen Figur ist mit einer Inschrift aus Goldfaden verziert. Das Mädel bittet die Lehrerin: »Übersetz mir bitte, was da auf Englisch geschrieben steht.« Und stolz erzählt sie, ihr Freund habe unverhofft zu einem Einsatz müssen. Er wisse selbst noch nicht, wohin er abkommandiert werde, ob nach Indochina oder nach Afrika. Die Lehrerin nennt die angebliche Übersetzung und gibt ihr den Rat, das Ding niemandem zu zeigen und den Freund am besten zu vergessen. Als die anderen in den Fernsehraum gehen und ich mit der Lehrerin allein im Zimmer bin, frage ich sie, was die goldfarbene Inschrift bedeute. Sie antwortet mürrisch: »So eine Unverschämtheit! Man bringt diese Leute ins Land, gibt ihnen kostenlos eine Ausbildung, macht sie sozusagen zu Menschen und was machen die?! Sie verführen unsere Mädchen und machen sich auch noch über sie lustig. Auf dem Sockel steht: ›Einer russischen Prostituierten von einem zivilisierten Neger‹. Ich wollte das nicht vor allen Zeugen hier aussprechen. Sie ist schließlich meine Nichte. Aber zu Hause werde ich ihr die Wahrheit sagen!« Am dritten Tag meines Krankenhausaufenthaltes werde ich von der Chefärztin untersucht, die danach nur kurz sagt: »Ausschaben - da ist nichts mehr zu retten!« Als ich versuche, etwas einzuwenden, meint sie kategorisch: »Wir werden Sie noch heute ausschaben. Die Frucht wird abgestoßen. Eine weitere Verzögerung könnte zur Blutvergiftung führen.« Der Eingriff wird ohne jegliches Schmerz- oder Betäubungsmittel durchgeführt. Hier fühlt sich eine Frau wie ein hilfloses Stück Vieh, denn sie muss sich fügen, alles aushalten und sich alles anhören. Ich habe zwar nicht viel Gutes von meiner Ehe erwartet, aber damit, dass ich gleich so vielen Problemen, Schmerzen und Enttäuschungen ausgesetzt sein würde, habe ich doch nicht gerechnet. Ich frage die Ärztin nach der Ursache dieser Fehlgeburt. Sie erklärt etwas gereizt: »Wenn man ein gesundes Kind zur Welt bringen will, braucht man den Körper einer Frau. Sehen Sie sich mal an: Ihr Gesamtgewicht
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beträgt knapp 45 Kilo. Ihr Körper gleicht dem eines 15-jährigen Mädchens! Außerdem haben Sie da eine Entzündung, die behandelt werden muss, bevor Sie nochmal versuchen, ein Kind zu bekommen. Und noch ein Letztes: Wer begibt sich denn in schwangerem Zustand auf eine Dienstreise und schwebt fünf Stunden lang zwischen Himmel und Erde?!« Meine ersten Urlaubstage verbringe ich in Aktjubinsk bei meinem Mann und als auch er Urlaub bekommt, fahren wir gemeinsam für zwei Wochen zu meiner Mutter – ich muss ihr doch ihren Schwiegersohn vorstellen. Als Mutter und ich kurz Gelegenheit haben, offen zu sprechen, schaut sie mich ungläubig an und fragt: »Warum hast du das getan?« Ich weiche aus: »Gefällt er dir nicht? Er sieht gut aus und ist ein Deutscher. Würdest du zufrieden sein, wenn ich einen Tschetschenen, Tataren oder Russen genommen hätte?« »Er passt nicht zu dir. Ihr seid so verschieden.« »Und wo ist der, der zu mir passt? Ich kann doch nicht auf Männersuche gehen! Es stimmt – wir sind sehr verschieden, aber womöglich ergänzen wir einander?!« »Also, warum?«, lässt sie nicht locker. »Aus Verzweiflung! Ich bin 30 und will nicht mehr allein sein. Ich wüsste nicht, auf wen ich noch warten sollte.« »Man ist nie alt genug, um unglücklich zu sein. Merk dir das!« »Wenn’s schlecht läuft, lassen wir uns scheiden. Ich werde aber ein Kind haben und dann bestimmt nie mehr allein sein.« »Das fehlte gerade noch!«, ruft sie entsetzt aus. Als Mennonitin ist sie wohl noch nie auf solche Gedanken gekommen und kann sich so eine Situation kaum vorstellen. Den ganzen Winter mache ich keine Dienstreisen mehr, weil ich für meine Dissertation genügend Material gesammelt habe. Ich bin wieder schwanger, sitze ruhig und gemütlich in meinem Zimmer, ordne das Material, fertige viele schöne Zeichnungen an und schicke noch vier Aufsätze und Artikel an die Fachzeitschrift »Ländliches Bauen« in Moskau und an den monatlichen Sammelband »Hilfe für
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den Siedlungsplaner« in Kiew. Gewöhnlich schreibe ich bis Mittag, mache dann einen Spaziergang, gehe ins Laboratorium zu meinen Kollegen, in die Bibliothek oder mache Einkäufe. Meist komme ich nach zwei bis drei Stunden zurück und arbeite weiter – lese, zeichne, schreibe. Jeden Abend kommen zu einer bestimmten Zeit einige meiner Kollegen, um sich die Nachrichten anzuhören. Tanja und ich mussten inzwischen in eine andere Wohnung umziehen, in der wir zusammen ein Zimmer haben, jedoch die Küche mit einem Ehepaar teilen. Die meiste Zeit verbringt Tanja in Moskau. Sie arbeitet kaum noch an ihrer Dissertation, sondern sucht eine Möglichkeit, nach der Aspirantenausbildung in Moskau zu bleiben. In letzter Zeit ist sie sehr deprimiert. Manchmal taucht sie in Aprelewka völlig betrunken auf, manchmal bringt sie eine Wodkaflasche mit, trinkt, raucht und weint in der Küche. Sie klagt über ihr angeblich zerstörtes Leben, was ich nicht verstehen kann. Sie fordert mich auf, mit ihr Wodka zu trinken. Doch ich lehne ab: Ich bin schwanger und möchte meinem kleinen unbekannten Freund keine Schwierigkeiten machen. Geheimnisvolle Ruhe, Fröhlichkeit und Zuversicht erfüllen mich und ich empfinde eine nie gekannte Neugierde auf mich selbst. Wenn ich allein bin und mir das Mittagessen koche, in der Wohnung aufräume oder Wäsche wasche, singe ich deutsche und russische Lieder. Jetzt begreife ich, warum man von einer Schwangeren sagt, sie sei guter Hoffnung. Mein Mann schreibt mir oft von seiner Sehnsucht und Liebe. In diesem Winter schaffe ich es, meine Dissertation zu schreiben und passend zu gestalten: 150 Maschine geschriebene Seiten – Vorwort, drei Kapitel mit insgesamt 18 Illustrationen, Folgerungen und Bibliografie. – Nicht schlecht! Ich bin zufrieden. Im siebten Monat der Schwangerschaft werde ich für vier Monate in den Mutterschaftsurlaub geschickt, an den ich noch zwei Monate regulären Urlaub anhänge. Ich fahre mit dem Zug zu meinem Mann nach Aktjubinsk, bin fast drei Tage unterwegs und als ich aussteige, sind meine Beine bis an die Knie angeschwollen. Als ich mich vier Tage später bei einer Frauenärztin melde, schlägt die sofort
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Alarm und stellt mir eine Einweisung für das Krankenhaus aus, da ihr meine angeschwollenen Beine und mein Blutdruck nicht gefallen. Nicht dass der Blutdruck zu hoch wäre, erklärt sie, aber wenn er steige, dann ruckartig, wie sie meiner Schwangerenkarte entnehmen könne. Und das finde sie beunruhigend. Ich möchte nicht ins Krankenhaus, denn ich habe für mein Baby noch nichts vorbereitet und wollte das eigentlich im Urlaub tun. Ein paar Tage später wird mir aber extrem schwindelig und so gehe ich doch ins Krankenhaus. Zunächst heißt es, ich solle dort nur für relativ kurze Zeit zur Kontrolle, Untersuchung und Beobachtung bleiben. Zu dieser Zeit ahne ich noch nicht, dass ich erst nach 48 Tagen mit meinem Baby auf den Armen wieder herauskommen werde. 32 Tage verbringe ich in der Abteilung für Schwangerschaftspathologie. Wer je in der Peripherie der UdSSR im Sommer in einem Krankenhaus liegen musste, der weiß, was das bedeutet! Bei einer Hitze von 30 bis 35 Grad im Schatten gibt es in den Krankenzimmern keine Lüftung außer einem kleinen Klappfenster, wegen dem die Frauen sich unendlich streiten: Die einen machen es auf und schnappen frische Luft, die anderen befürchten, sich im Durchzug zu erkälten und klappen es wieder zu. Ich liege in einem Zimmer mit acht Betten, von denen fünf mit Kasachinnen aus den Aulen belegt sind und zwei mit ständig wechselnden Patientinnen, die zur Abtreibung eingewiesen und in diese Abteilung gelegt werden, weil es in der Gynäkologie an Betten mangelt. Nach jeder Mahlzeit schalten die Kasachinnen einen Elektroteekessel ein und trinken dann lange genussvoll heißen Tee, wozu sie auch ihre Landsleute aus den Nachbarzimmern einladen. Sie trinken eine Tasse voll, wischen sich den Schweiß aus dem Gesicht und trinken die nächste Tasse. Dabei unterhalten sie sich ununterbrochen. Ihre Unterhaltung ist eine Geräuschkulisse, die mich weniger stört als das laute, quietschende Lachen der Russinnen, die hier nach dem Abort einen Tag liegen und sich beeilen, alle Neuigkeiten zu erfahren und weiterzutratschen. Meistens geht es in ihren Gesprächen um die Methoden der Abtreibung, wer, wann, wo und wie abgetrieben hat, wo und um welchen Preis man
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Defizitwaren erstehen kann, wer wie viel verdient usw. Die Frauen wechseln jeden Tag, aber ihr Verhalten und die Unterhaltungsthemen sind stets dieselben. In den ersten Tagen meines Aufenthalts im Krankenhaus nehme ich all meine seelischen Kräfte zusammen, übe mich in Geduld und versuche, mich von der Umgebung durch Lesen zu isolieren. Ich lese ein Buch über Goethe von Emil Ludwig aus der Reihe »Leben berühmter Persönlichkeiten«. Aber nach einer Woche bin ich am Ende meiner Kräfte und bitte die zwei Russinnen so höflich ich nur kann, ihre Unterhaltung für eine halbe Stunde zu unterbrechen. Meine Bitte löst bei ihnen eine unerwartete Fröhlichkeit aus, sie lachen laut und quietschend: »Sieh mal einer an, man will uns den Mund stopfen! Du sprichst selbst mit niemandem und willst, dass wir auch still sind? Wir hindern dich doch nicht am Lesen. Lies nur weiter, aber lass uns in Ruhe!« Wenn sie glauben, jemand trete ihnen zu nahe, wetzen sie ihre Zungen unendlich. Mir wird schwarz vor Augen und ich habe einen stechenden Schmerz in den Schläfen. Ich bitte eine junge Kasachin, die auf meiner Bettkante sitzt und ihren Tee schlürft, die diensthabende Krankenschwester zu rufen, da mir übel sei. Es kommt nicht nur die Krankenschwester, sondern auch meine Ärztin gelaufen und sie messen meinen Blutdruck. Der »Besuch« aus den anderen Zimmern verzieht sich diplomatisch, nur die zwei Schlangen in der Ecke lassen sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie kommen auf ein neues Thema: Wie schlimm es sei, wenn bei einer Schwangerschaft der Blutdruck nicht in Ordnung sei, und was jeweils passieren könne, wenn er zu hoch oder zu niedrig sei. Die Ärztin ordnet an, beide Fenster im Zimmer mit Decken zu verhängen und mich auf das Bett in der Ecke zu verlegen. Ich bitte sie ganz leise, den beiden Frauen das viele Schwatzen zu verbieten, weil ich sonst wahnsinnig würde. Sie sagt allen, man solle sich ruhig verhalten, in den Betten liegen bleiben, sich nicht in anderen Zimmern herumtreiben oder bei sich Besuch empfangen, denn hier sei kein Basar, sondern ein
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Krankenhaus und es gebe hier Schwerkranke, die – sie zeigt auf mich – Ruhe bräuchten. Mir wird ab sofort regelmäßig Magnesium gespritzt, was schlimmer ist als alles, was ich bisher erlebt habe. Die Injektionen lösen äußerst schmerzhafte Muskelkrämpfe aus, die Schleimhaut im Mund wird trocken und die Zunge schwillt an. Ich darf aber nichts trinken. Gleich nach der Einweisung ist mir eine salzlose Diät bei maximal 500 Gramm Flüssigkeit am Tag verordnet worden, was bei diesen Sommertemperaturen schon schwer genug zu verkraften war. Jetzt, bei der Behandlung mit Magnesium, verliere ich jede Vorstellung von der Zeit. Ich weiß nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist. Ich lebe nur von Spritze zu Spritze. Diese Spritzen bekomme ich sechs Tage lang, erst alle vier Stunden, dann alle fünf usw. Im Verlauf des Krankenhausaufenthalts bekomme ich insgesamt über 90 Spritzen und tröste mich damit, dass es für mein Baby nötig sei, wie die Ärztin behauptet. Außerdem sind nicht alle Spritzen in gleichem Maße schmerzhaft. Das Publikum ändert sich allmählich. Mein Mann besucht mich täglich. Das wenige, was ich brauchen könnte, kann er mir nicht bringen. Die Ärztin sagt, mir fehlten Bienenhonig, Zitronen und täglich ein halber Liter Kefir, der bei dieser Hitze den Durst am besten stillt. Aber Zitronen und Honig sind in der Wüste nicht zu bekommen. Schließlich fährt Jochen zum Flughafen und kauft dort im Restaurant bei einem Ober zwei Zitronen für 15 Rubel. Honig hat sogar der Ober nicht. Kefir gibt es zwar zu kaufen, doch den kann mir mein Mann nicht besorgen, weil er morgens zur Arbeit geht bevor die Geschäfte geöffnet werden. Abends sind sie zwar noch nicht geschlossen, aber Milchprodukte gibt es im Handel nur zwischen 10 und 12 Uhr vormittags. Eines Nachts werde ich durch ein lautes Geräusch aus dem Schlaf geholt. Meine Nachbarin hat Wehen, ruft nach Hilfe, aber niemand hört sie. Sie kriecht auf allen Vieren bis zur Tür, stößt sie auf und ruft in den Korridor. Dieser Schrei weckt mich. Eine Sanitäterin und die Nachtschwester eilen herbei, heben die Frau aus der Blutlache,
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in der sie liegt, und legen sie zurück in ihr blutgetränktes Bett. Zwischen ihren Beinen steckt ihr totes Kind. Die Ärztin kommt erst viel später hinzu und versucht sich zu rechtfertigen: »Nachts muss ich mich allein um zwei Abteilungen kümmern. Ich kann nicht gleichzeitig im Entbindungsaal im zweiten Stock und hier bei Ihnen sein!« Am nächsten Tag beklage ich mich bei Jochen und drohe ihm an, vor Hunger zu sterben, wenn ich nicht bald Kartoffel-Wareniki bekäme. Das ist ein ukrainisches Gericht – eine Art von Klößen, gefüllt mit Kartoffelbrei. Jochen sagt: »Sei doch vernünftig. Ich kann sie dir nicht machen. Ich verstehe davon nichts und habe auch kein Mehl!« »Dann bitte deine Schwester oder meine Freundin Sabine, für mich Wareniki zu kochen. Ich habe ihnen aus Moskau eine Menge Pakete mit Kindersachen geschickt. Mir war keine Mühe zu groß, um für ihre Kinder Strampel- und Strumpfhosen, Mützen, Kniestrümpfe und Strickjacken zu besorgen. Selbst als meine Beine schon geschwollen waren und es mir zur Qual wurde, meine Zeit in den Warenhäusern zu verbringen, habe ich ihre Bestellungen erfüllt. Warum kommen sie mich jetzt nicht einmal besuchen? Ich liege hier schon 30 Tage! Wissen die überhaupt, dass ich im Krankenhaus bin? Hast du es ihnen gesagt?« »Ja, natürlich wissen sie das. Aber die arbeiten doch, haben Kinder und ...« »Was hast du nur für Verwandte und Freunde, die uns nur dann kennen, wenn sie uns brauchen?!« Ich weiß, meine Vorwürfe sind völlig ungerecht, aber ich habe so großen Hunger nach Wareniki mit Butter, dass ich mich nicht beherrschen kann und anfange zu heulen. Wo ist meine Vernunft geblieben? Jochen verspricht mir, morgen unbedingt welche zu bringen. Am nächsten Tag darf ich mich duschen und bekomme auch ein sauberes Hemd ausgehändigt. Man darf ja ins Krankenhaus keine eigene Wäsche oder Hausschuhe mitbringen. Vor dem Duschen schnei-
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det mir eine junge Friseurin, die im gleichen Zimmer untergebracht ist wie ich, das Haar. Danach macht sie mir eine schicke Frisur und ich fühle mich wie ein Geburtstagskind! Kaum zu glauben, wie wenig ein Mensch unter solchen Umständen braucht, um zufrieden zu sein! Ich spreche die Ärztin darauf an, ob es nicht möglich sei, mich vor der Niederkunft noch wenigstens für eine Woche zu entlassen, damit ich ein paar Windeln anschaffen könne. Sonst werde mein Mann ein Leintuch mitbringen müssen, wenn er das Kind und mich abholen komme. Sie lacht, entläßt mich aber nicht. Am Abend kommen Jochen und Sabines Mann und bringen ein Literglas mit heißen Kartoffel-Wareniki mit. Ich bitte die Ärztin, mich wenigstens für eine halbe Stunde in den Hof zu lassen, weil ich hier sonst nicht nur verhungern und verdursten, sondern auch ersticken müsse! Sie erlaubt es mir. Herrlich! Zum ersten Mal nach 32 Tagen sitze ich im Hof auf einer Bank unter einer staubigen Pappel, esse Kartoffel-Wareniki und höre mir an, was mir zwei Deutsche Herren zu sagen haben. Es ist kühl, der Himmel ist klar, und man sieht die Sterne. Aber die Luft ist trotzdem nicht frisch – es ist staubig und riecht nach Rauch, der vom Legierungswerk kommt und ständig über der Stadt hängt. Fast glücklich kehre ich ins Zimmer zurück und lege mich schlafen. Zwei Stunden später wache ich auf und erschrecke sehr: Ich liege im Wasser, das ganze Bett ist nass, aber ich spüre keine Schmerzen. Um 12 Uhr nachts werde ich nach oben in den Entbindungssaal gebracht und es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Ich bekomme erst eine Spritze in den Arm, dann eine in den Schenkel, und muss schließlich Sauerstoff aus einem Kissen tief einatmen. Diese Behandlung nennt man »Triade« und wiederholt sie im Verlauf dieser Nacht drei Mal. Ich darf mich nicht bewegen, sondern muss ruhig auf dem Rücken liegen. Die Ärztin erklärt, das Fruchtwasser sei abgegangen und daher bestehe die Gefahr, dass das Kind ersticke oder in eine falsche, ungünstige Lage komme, falls ich mich bewege. Meine Schmerzen sind kaum auszuhalten und ich bitte die Ärztin, mir beim Sterben zu helfen ... Sie empört sich und schimpft unbändig.
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Sonntag morgen, um 7.30 Uhr, bringe ich ein kleines Mädchen zur Welt, das nur 2,3 Kilogramm wiegt. Die Ärztin sagt erleichtert: »Na, Gott sei Dank, das haben wir überstanden! Sehen Sie mal, was für ein nettes, süßes Ding wir da haben. Und Sie wollten sterben. Sie haben mir richtig Angst gemacht, denn ihr Blutdruck war katastrophal hoch!« »Ist das Kind nicht ein wenig zu klein?« »Ach, wozu sollten Sie viel Fleisch zur Welt bringen? Es genügt, wenn die Knochen da sind. Fleisch wächst später drauf.« Nach drei Tagen bringt man mir meine Tochter endlich zum Stillen, aber sie nimmt meine Brust nicht an. Sie leckt und riecht nicht einmal daran! Von nun an ist dieser kleine Mensch der Mittelpunkt meines Lebens: Ihm gilt all meine Zeit, Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit und Mühe. Nach der Geburt erhöht sich meine Temperatur, mit meinem Blutdruck stimmt wieder etwas nicht, und ich muss noch 16 Tage in der Klinik bleiben. In dieser Zeit kommt meine Schwester Martha mich besuchen – sie hat Urlaub. Wie schön, dass endlich ein vernünftiger Mensch da ist, der seinen Verstand nicht mit Wodka vernebelt und auch ein wenig Zeit mitbringt, weil er keine eigenen Kinder hat und momentan nicht ständig zur Arbeit eilen muss. Als ich mit meiner Tochter aus dem Krankenhaus entlassen werde und in die Baracke komme, in der Jochen wohnt, stelle ich zu meiner Freude fest, dass er sich gründlich auf die Ankunft unseres neuen Familienmitglieds vorbereitet hat: Sein Zimmer ist frisch gestrichen und vorher wurden noch Maßnahmen gegen das Ungeziefer, die Wanzen und Küchenschaben, ergriffen. Es ist wirklich sauber und angenehm! Außerdem hat er neue Möbel gekauft und in das bisher fast leere Zimmer gestellt. Aber das Wichtigste ist, dass er einen Kühlschrank erstanden hat. Das ist gar nicht so einfach, denn solche Geräte stehen hier nicht in Geschäften herum und warten auf den Kunden. Man muss in dieser Gegend schon ein gewisses Organisationstalent haben, um einen Kühlschrank zu ergattern. Bei der Hitze, die hier herrscht und in der alles so schnell verdirbt, ist ein Kühlschrank besonders wertvoll.
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Unsere Tochter nimmt die Brust noch immer nicht und unter diesen Umständen ist es sehr schwer, ein Kind großzuziehen. Dieses Kind ist für meinen Mann und mich das erste große gemeinsame Erlebnis, das uns für eine Zeit einander wesentlich näher bringt. In der Stadt herrscht große Wohnungsnot und daher freue ich mich, dass wir dieses Zimmer in der Baracke haben, denn so brauche ich das Wasser nicht von einem Brunnen, sondern nur aus der nahen Gemeinschaftsküche zu holen und das dreckige Wasser nicht hinaus, sondern nur ins gemeinsame WC zu tragen. In diesem Zimmer lebten Jochens Mutter und seine Geschwister viele Jahre lang, bis er schließlich allein blieb. Die Baracke steht in einer Reihe mit fünf anderen ähnlichen Baracken neben einem Bahnübergang. Fast rund um die Uhr, mit nur vier Stunden Unterbrechung, quietschen hier die Bremsen von schwerbeladenen Lastern. Die Lebensmittelversorgung vor Ort ist schlechter als schlecht: Viele Stunden gehe ich in der größten Hitze mit dem Kinderwagen von einem Geschäft ins andere und stehe lange an, bis ich endlich etwas Milch, Gemüse, Fett, Brot, sehr selten auch Fleisch oder Wurst eingekauft habe. An einem Morgen des späten September bekomme ich die schriftliche Erinnerung von meinem Laborchef in Aprelewka, dass mein Urlaub in einem halben Monat ablaufe und ich mich entscheiden müsse, was ich weiter machen wolle. Es sei, so meint er, an der Zeit, zurückzukehren. Ich freue mich über diesen Brief, weil ich beinahe vergessen habe, dass es eine Möglichkeit gibt, dem Leben in dieser Baracke zu entkommen. Ich will darüber mit Jochen sprechen, der in den Laden gegangen ist, um Brot und Tomatenketchup zu kaufen. Es ist Sonntag und er hat frei. Ich habe das Zimmer aufgeräumt und koche zu Mittag Borschtsch, wozu ich das Tomatenketchup brauche. Die Stunden vergehen, es wird Mittag, aber er kommt nicht. Die Kleine ist aufgewacht und bekommt ihr Fläschchen. Ich warte mit dem Essen auf Jochen. Ich warte unendlich lange, ärgere mich und denke: »Man hat diesem Menschen nicht einmal die einfachsten Anstands- und Ordnungsregeln beigebracht!« Schließlich esse ich
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allein zu Mittag und meine Tränen tropfen in den Teller. Um 10 Uhr abends kommt er endlich über die Türschwelle gestolpert und fällt ins Zimmer auf den Boden – besoffen, wie ich ihn noch nie gesehen habe! Er lallt: »Du wolltest Ketchup, Liebste. Da, ich habe es dir gebracht!« Es ist unmöglich, mit ihm zu sprechen. Ich ziehe ihm die Schuhe aus und schaffe ihn mit großer Mühe auf das Sofa. Tags darauf erwarte ich ihn umsonst bis 7 Uhr abends von der Arbeit zurück. Es ist 9 Uhr, als die Kleine nach dem Baden und Essen einschläft. Ich bin gerade dabei, das Badewasser hinauszutragen und die Badewanne aufzuräumen, als Jochen mit dem Fuss die Tür aufstößt und über die Schwelle zu meinen Füßen fällt. Wieder besoffen. Heute ist er aber nicht so friedlich wie gestern. Er schlägt um sich, schimpft, bekommt einen Schluckauf und übergibt sich. Ich nehme den Kinderwagen und gehe in den Hof hinaus, laufe ein paarmal um die Baracken herum und überlege, wohin ich gehen und was ich tun soll. Solch ein Leben habe ich nie gewollt, mir nie gewünscht und ich werde es auch nicht dulden. Wegen diesem Menschen hätte ich fast meine Forschungsarbeit aufgegeben! Verdient er dieses Opfer? Nein! Nach zwei Stunden fasse ich den Entschluss, sofort nach Aprelewka zurückzukehren, und gehe wieder hinein. Am liebsten würde ich Jochen in seinem Dreck liegen lassen, damit er sich am Morgen vor sich selbst ekelt. Es stinkt aber zu sehr! Ich kann es mir und meiner lieben Tochter nicht zumuten, unter diesen Umständen neben ihm in einem Raum zu schlafen. Fast die halbe Nacht verbringe ich damit, meinen Mann aus seiner dreckigen Kleidung zu holen, ihn auf das Sofa zu zerren, den Fußboden zu putzen, die Kleidung zu waschen und draußen an die Leine zu hängen. Als er morgens weg zur Arbeit ist, verkaufe ich einer Nachbarin meinen Regenmantel, den mein Schwiegervater mir aus Deutschland geschickt hat. Auf diese Weise verschaffe ich mir das nötige Geld für die Reise nach Moskau. Dann gebe ich meine schlafende Tochter für zwei Stunden in die Obhut dieser Nachbarin, fahre zum Flughafen und kaufe mir eine Flugkarte nach Moskau.
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Am Abend kommt mein Mann nüchtern, aber mit großen Kopfschmerzen nach Hause. Nach dem Abendbrot teile ich ihm meinen Entschluss mit, über den er sich sehr wundert: »Wieso willst du fort? Du gehörst zu mir. Du bist meine Frau! Und was soll aus unserer Tochter werden?« Ich bleibe hart: »Ich bin deine Frau, aber nicht deine Magd. Zu dir gehöre ich nur so lange, wie ich es will und du es verdienst. Und unserer Tochter wird es ohne Vater besser gehen als mit einem Vater wie dir. Ich werde versuchen, den Kandidatengrad zu bekommen, und du wirst in der Zwischenzeit nachdenken, ob du zu früh geheiratet hast und ob dir deine Freunde und die Wodkaflasche lieber sind als deine Familie. Solltest du mir nach Aprelewka folgen wollen, dann wirst du von deinen Gewohnheiten lassen und ein anderer Mensch werden müssen. Einen Trinker kann ich nicht brauchen.«
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Volkszählung 1970 – Deutsche in Aprelewka
Die Aspirantenausbildung ist im November 1969 abgeschlossen. Die meisten Aspiranten meines Jahrgangs werden vom Ministerium für Ländliches Bauen für die Arbeit im selben Forschungsinstitut belassen. Das Institut übernimmt und stellt alle ein. Nur drei, darunter Tanja, werden entlassen, da sie nur im ersten Jahr die Kandidatenprüfungen abgelegt, jedoch ihre Dissertation nicht in Angriff genommen haben und auch keine Veröffentlichungen zu ihrem Dissertationsthema vorlegen können. Tanja hat durch Beziehungen eine Stelle in Moskau bekommen und ihre Eigentumswohnung in Rostow am Don gegen ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung in Moskau getauscht. Sie zieht um. Mich hat das Ministerium für eine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Aprelewka eingeteilt. Außerdem wird mir die Frist für die Fertigstellung meiner Dissertation um die Dauer des Mutterschaftsurlaubs verlängert. Also habe ich noch bis zum 26. März 1970 Zeit, um die Dissertation in eine druckreife Endfassung zu bringen. Ich lege meine Dissertation im Labor vor, berichte bei einer Beratung allen Mitarbeitern, welche Arbeit ich mit welchen Forschungsmethoden ausgeführt habe und wie das Ergebnis aussieht. Bei dieser Beratung wird meine Arbeit positiv bewertet und einige Tage später überreicht mir der Laborchef ein Gutachten. Das positive Gutachten des Labors, eine Liste meiner Veröffentlichungen und eine Annotation, die eine kurze Inhaltsangabe der Arbeit darstellt, übergebe ich dem Direktor und bitte um ein Gutachten der Gelehrten unseres Instituts. Es wird von drei Kandidaten der ökonomischen Wissenschaften erstellt, fällt positiv aus und enthält die Empfehlung an den Gelehrtenrat, die Arbeit zur Hauptprüfung, der so genannten Verteidigung, zuzulassen. Jetzt muss sie nur noch einer Expertise unterzogen wer-
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den, die bestätigen soll, dass alle verwendeten Materialien keine Staatsgeheimnisse enthalten und daher zur Veröffentlichung zugelassen sind. Als ich auch diese letzte Hürde genommen habe, schreibe ich noch das Referat für die Verteidigung, in dem der Inhalt der Dissertation auf 28 Seiten zusammengefasst wird. Da es in unserem Forschungsinstitut keinen Gelehrtenrat gibt, der die Hauptprüfung durchführen und die Kandidatendiplome vergeben darf, muss ich in Moskau einen Rat suchen, der mich zur Prüfung zulässt und sie bei mir durchführt. Mit meiner Arbeit, allen dazugehörigen Papieren und einem Schreiben unseres Direktors klappere ich in Moskau sechs Institute ab, die einen Gelehrtenrat haben. Alles vergebens. Dann wende ich mich aus zwei Gründen an das Institut für Rationelle Bodennutzung: Zum einen bin ich eine Ingenieurin für rationelle Bodennutzung und zum anderen arbeitet mein Chef in dieser Hochschule. Dort werde ich von der Sekretärin des Gelehrtenrates, einer sehr kleinen, mageren Dame unbestimmbaren Alters, ausgesprochen feindselig empfangen: »Wir können Sie hier mit ihrer Arbeit nicht zur Prüfung zulassen. Wir haben genug mit eigenen Aspiranten zu tun!« Ich beharre: »Mit den Eigenen? Und wohin kann ich dann gehen? Soll ich meine Dissertation etwa im Ausland prüfen lassen?« Sie wird böse: »Warum wollen Sie Ihre krummen Sachen ausgerechnet bei uns abwickeln? Sie können dafür ja auch ein anderes Institut wählen!« »Welche krummen Sachen? Ich habe eine Dissertation geschrieben und will die Hauptprüfung ablegen. Sollen das krumme Sachen sein? Ich werde zu Ihrem Vorgesetzten gehen!« Ich bitte meinen Chef um Hilfe und er geht mit mir zum Direktor dieses Instituts, der aber wiederum die zornige Sekretärin um Rat fragt: »Könnten wir unserer Genossin nicht helfen und ihre Arbeit zur Verteidigung annehmen?« »Nein, das geht nicht. Diese Genossin hat noch nicht die entsprechenden Kandidatenprüfungen abgelegt«, lautet ihre nach meiner Überzeugung völlig unzutreffende Antwort.
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»Was sagen Sie da?!«, empöre ich mich. »Da sind die Protokolle von allen drei Prüfungen. Was wollen Sie noch?« »Ja wissen Sie«, erklärt die Sekretärin dem Direktor, meinem Chef und mir, »die Gesetze haben sich inzwischen geändert. Es muss zusätzlich eine Prüfung in politischer Ökonomie abgelegt werden. Außerdem bestand die Prüfungskommission, vor der diese Bewerberin die Kandidatenprüfung in Fachtheorie abgelegt hat, nur aus fünf Kandidaten der Wissenschaft. Es hätte jedoch mindestens ein Doktor vertreten sein müssen. Deshalb kann diese Prüfung nicht als gültig anerkannt werden.« Nichts dergleichen habe ich bis dahin gehört, was ich dem Direktor sage: »Die Prüfungskommission habe ich mir nicht selbst ausgewählt, sondern sie wurde vom dortigen Direktor einberufen. Empfehlen Sie mir bitte eine andere Kommission, die Sie für befugt halten, bei mir die Kandidatenprüfung abzunehmen.« Die Sekretärin mischt sich ein: »Zunächst müssen Sie die Kandidatenprüfung in politischer Ökonomie ablegen. Dann erst können Sie sich um die Prüfung in Fachtheorie bemühen.« Total entmutigt verlasse ich das Zimmer des Direktors. Von nun an versuche ich hartnäckig, eine Kommission zu finden, die bereit ist, mir die Kandidatenprüfung in politischer Ökonomie abzunehmen. Ich probiere es elfmal, und elfmal wird mir mit der gleichen Begründung abgesagt: »Sie sind nicht unser Aspirant. Wir haben genug mit den eigenen zu tun.« Inzwischen ist mein Mann zu mir nach Aprelewka gekommen. Er hat eine Arbeit als Elektromonteur in der Wohnungsverwaltung gefunden. Nebenher studiert er im Technikum nach dem Abendprogramm. Der Unterricht findet dreimal wöchentlich in Moskau statt. Bei uns hält der graue Alltag Einzug und erst jetzt begreife ich so richtig, was ich mir da aufgebürdet habe. Mein Mann ist kein Kämpfer. Hat er Ärger am Arbeitsplatz oder fühlt er sich beleidigt, erinnert
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ihn etwas an seine Mutter oder kommt ein Brief vom Vater aus Deutschland – bei jeder dieser Gelegenheiten weint und schluchzt er hilflos. Ich muss in unserer Ehe die Stärkere sein und ihn trösten. Außerdem stelle ich sehr bald fest, wie schwer es für mich ist, mit ihm über irgendetwas zu reden. Die einfachsten Zusammenhänge, die für mich eine Selbstverständlichkeit sind, muss ich ihm immer und immer wieder ausführlich erklären, und über jede Kleinigkeit will er ewig lange debattieren. Bald gebe ich es auf und spreche mit ihm nur noch über die alltäglichen Dinge: Essen, Einkaufen und Aufräumen. In seinem Eigensinn ist er nicht zu übertreffen. Dieser äußert sich meistens in den Worten »Ich will ...«. Wenn er etwas haben will, dann muss er es kriegen – koste es, was es wolle und sei es noch so unvernünftig. Er schafft sich teuere Sachen an, die wir in unserem Haushalt nicht brauchen können. So schafft er eine Wasserpumpe und einen Schlauch zum Sprengen an, obwohl wir keinen Garten haben. Dann kauft er zwei Fotoapparate, mit denen er nicht umzugehen weiß. Dadurch wird unser Geld zeitweise so knapp, dass wir nicht einmal mehr Milch und Brot kaufen können. Mit dem Wohnungsproblem, der Verlängerung der polizeilichen Anmeldung, die man uns versagt, den Kinderkrankheiten unserer Tochter und den Versorgungsengpässen muss ich ganz allein fertig werden. Er ist für mich keine Hilfe, keine Stütze und kein Freund, den ich um Rat bitten könnte. Er ist ein Kreuz, das ich mitschleppen muss. Dieses Kreuz ist der Preis für das große Glück meiner Mutterschaft. Die erste Zeit gebe ich mir große Mühe, opfere meine Zeit und Interessen, um ihm näher zu kommen. Er mag keine Musik, kein Theater, und ich gebe mein Hobby ihm zuliebe auf. Er liest keine Bücher, und ich selbst wage es kaum noch. Wenn ich ein Buch in die Hand nehme, heißt es sofort: »Warum hockst du herum? Hast wohl nichts zu tun?« Bei seinen Arbeiten für das Abendstudium muss ich ihm ständig helfen. An den Wochenenden trinke ich sogar immer öfter Wein mit ihm, weil er mir vorwirft, meinetwegen seine Freunde in Aktjubinsk
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aufgegeben zu haben. Er trinkt zwar keinen Wodka mehr, ist aber oft bedrückt, hat schlechte Laune und brummt wehmütig: »Der Durst ist schlimmer als Heimweh!« Das Schlimmste von allem: Er ist von dem Gedanken besessen, nach Deutschland zu seinem Vater zu fahren. Diesen Willen kann er aber nicht durchsetzen und ich kann ihm dabei auch nicht helfen. Es wird mir zu dumm, mich nach seinem Maß zu strecken und seinem Geschmack anzupassen. Ich könnte mich bis zu einem Affen, bis in die Höhle zurückentwickeln und würde doch keine Dankbarkeit von ihm bekommen. Ich versuche nicht mehr, ihn umzuerziehen und auf ein anderes Niveau zu hieven. Ich akzeptiere ihn wie er ist. Aber ich selbst will auch das bleiben dürfen, was ich bin. Ab nun leben wir nicht miteinander, sondern nebeneinander. Soweit mir die Zeit reicht, mache ich das, was mir Spaß macht. Jochen merkt nicht einmal, dass in unserer Ehe etwas nicht stimmt. Für mich beginnt eine schreckliche Einsamkeit – die Einsamkeit neben einem Menschen, mit dem ich nicht reden kann. All meine Liebe und Zärtlichkeit gelten nur meiner kleinen Tochter. Ich bin mir mittlerweile sicher, dass es Männer, die mir gefallen, für mich interessant sein und zu mir passen würden, einfach nicht gibt. Diejenigen, die ich kenne, sind einfältig, egoistisch und oft borniert. Man sollte gar nicht erst viel Zeit und Kraft darauf verwenden, etwas zu suchen, was es nicht gibt. Diese Überzeugung ist die Basis, die es mir erlaubt, mit Humor über all meine Schwierigkeiten hinweg zu kommen. Anfang Januar 1970, an einem Sonntag, schleppt sich einer meiner Kollegen, der erkrankt ist, zu uns. Es ist derselbe Mann, der mir bei der Auswahl des Radiogerätes behilflich war. Er bringt ein schlecht gerupftes Huhn mit und bittet mich, ihm eine Hühnersuppe mit Nudeln zu kochen. Ich tue es gern. Der Kranke macht es sich zunächst auf unserem Sofa bequem, dann hilft er meinem Mann bei einer Kontrollarbeit. Er fotografiert unsere kleine Tochter, schaltet das Radiogerät an und stellt es auf die Stimme Amerikas ein. Als seine Hühnersuppe und auch unser Mittagessen fertig sind, gehen
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wir alle gemeinsam zu Tisch. Er verbringt den ganzen Sonntag bei uns und erzählt, dass er seinen Wehrdienst im hohen Norden habe ableisten müssen – dort, wo sich im permanent gefrorenen Boden die Atomwaffenlager befänden. Er und noch drei seiner Kollegen seien aus Versehen der radioaktiven Strahlung ausgesetzt und daraufhin vorzeitig entlassen worden. Sie hätten allerdings unterschreiben müssen, dass sie davon niemandem erzählen würden. Es bricht aus ihm heraus: »Zum Teufel mit diesen Geheimnissen! Ich muss endlich jemandem sagen, dass ich wegen einer Blutkrankheit dahinsieche, die durch diese Bestrahlung entstanden ist!« Ich habe Tanja schon lange nicht gesehen und frage meinen Kollegen, ob er wisse, wo sie sei und wie es ihr gehe. »Ja, hast du denn noch nicht gehört, dass deine Freundin in einer Irrenanstalt ist? Ich habe sie einmal besucht, aber sie hat es mir verboten, jemandem zu verraten, wo sie sich aufhält. Sie schämt sich so sehr!« »Mein Gott, das ist doch kein Grund, sich zu schämen. Krank zu sein ist doch keine Schande. Ich möchte sie besuchen.« Er gibt mir aber die Adresse der psychiatrischen Klinik nicht und erklärt, Tanja habe an einer Demonstration am Puschkin-Denkmal in Moskau teilgenommen und sei von da aus direkt in die Anstalt gebracht worden. Ich kann es nicht fassen und mir stehen vor Schreck die Haare zu Berge. »Wieso hat sie demonstriert? Was fehlt ihr denn? Ist sie von allen guten Geistern verlassen? Mein Vater und seine Brüder haben nie demonstriert und dennoch sind sie spurlos verschwunden!« Dies sind die ersten Gedanken, die mir kommen. Dann frage ich weiter: »Wenn jemand demonstriert, wird er wohl seine Gründe haben. Aber warum bringt man sie zur Strafe in eine Irrenanstalt? Man will wohl sagen, es hätten Verrückte demonstriert oder wer demonstriert, der könne nur verrückt sein?!« Mein Kollege kann mir dazu nichts Weiteres sagen. Meine Tochter ist zart, fein und zerbrechlich. Im Januar 1970 er-
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krankt sie an einer Lungenentzündung und ich werde mit ihr ins Krankenhaus eingewiesen. Dort erlebe ich die Volkszählung. Eines Tages kommt eine Dame ins Krankenzimmer und füllt für jeden Anwesenden einen Bogen aus, wobei sie zahlreiche Fragen stellt. Als ich an der Reihe bin, muss ich zuerst Name, Vor- und Vatersname sowie Geburtsdatum und -ort angeben. Dann werde ich nach meiner Nationalität gefragt und antworte mit »deutsch«. »Hä?«, meint die Dame. »Wie können Sie eine Deutsche sein?« »Ganz einfach. Ich habe deutsche Eltern.« »Aber das genügt nicht!«, belehrt sie mich. »Um Deutsche zu sein, muss man nicht nur deutsche Eltern haben, sondern auch die Sprache beherrschen.« »Mit wem soll ich denn sprechen?«, sage ich auf Deutsch. «Mit Ihnen, mein Fräulein? Darf ich Ihnen sämtliche Fragen auf Deutsch beantworten? Ich bin bereit!« »Schon gut, schon gut!«, winkt sie mit beiden Händen ab. » Hören Sie auf! Ich schreibe ja schon, dass Sie eine Deutsche sind.« Sie macht eine Eintragung im Bogen und brummt dabei: »So eine Frechheit! In Moskau leben und Deutsche sein wollen! Verjagen sollte man Sie von hier!« Damit ist die Sache aber noch nicht ausgestanden, denn jetzt macht die Dame sich daran, einen Bogen für meine Kleine auszufüllen und als sie bei ihr zur Frage der Nationalität kommt, meint sie schnippisch: »Sie werden wohl nicht behaupten, dass Ihre Tochter auch Deutsch kann?« »Nein, mit ihren sieben Monaten spricht sie vorläufig nur die internationale Kindersprache. Aber ich werde dafür sorgen, dass sie Deutsch spricht. Sie hat deutsche Eltern und kann daher keine Chinesin oder sonst was sein!« »Wie ich Ihnen schon erklärt habe, sind die Eltern nicht allein maßgebend. Es kommt auf die Sprache an! « »Sperren Sie mal eine Katze in einen Hundezwinger. Was meinen Sie, wird die bellen? Nur weil wir in Russland leben, sind wir noch lange keine Russen.«
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»Hol Sie der Teufel, ich will mit Ihnen nicht streiten!«, sagt die Dame und trägt als Nationalität meiner Tochter »deutsch« ein. So wird während der Volkszählung 1970 in Bezug auf die Nationalität ein gewisser Druck ausgeübt. Wir sind nicht die einzigen Deutschen in Aprelewka. Da gibt es noch Viktor Götz, Kurt Müller, Waldemar Star und Immanuel Retter. Sie haben jedoch alle vier Mischehen geschlossen. Viktor Götz hat eine russische Frau. Vor zwei Jahren hat er die Aspirantenausbildung abgeschlossen, und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor für Bauphysik wird er hoch geschätzt. Seine Dissertation hat er noch nicht verteidigt, weshalb er nur ein sehr niedriges Gehalt bezieht. Kurt Müller ist Aspirant im Forschungsinstitut für Theorie und Geschichte der Architektur. Seine Frau leitet unser Wohnheim. Seine roten Haare haben ihm den Spitznamen »der Rostige« eingebracht. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen werde, treffe ich seine Frau und spreche sie auf die Volkszählung an. Sie sagt: »Kurt habe ich als Deutschen eintragen lassen. Aber unser Sohn Michael und ich – wir sind Russen. Sieh mal, ich weiß ja selbst nicht, wer oder was ich bin. In mir haben sich russisches, jüdisches, deutsches und moldawisches Blut vermischt. Und ich spreche nur Russisch.« »Aber Name und Vatersname eures Sohnes – Müller Michael Kurtowitsch – klingen nicht sehr russisch. Wie wird der Junge später mal mit diesen Namen als Russe durchs Leben kommen?« Sie lacht: »Das ist seine Sache. Sobald er erwachsen ist, soll er selbst entscheiden, wer oder was er ist.« Waldemar Star hat dieAspirantur am Forschungsinstitut für Stahlbeton beendet, dort seine Dissertation verteidigt und den Kandidatengrad bekommen. In unserem Forschungsinstitut ist er Laborleiter. Mit seiner Frau war ich eine Zeit lang gut befreundet. Sie kommt aus Duschanbe. Ihr Vater war Russe und ihre Mutter Tadschikin. Star ist im ganzen Institut mein einziger Gesprächspartner, der wie auch ich jede Gelegenheit wahrnimmt, um ein paar Worte Deutsch zu spre-
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chen. Als ich ihn frage, ob die Volkszählung schon bei ihm gewesen sei, meint er: »Ach, mit dem Weib wollte ich mich nicht anlegen. Ich wollte sie nicht ärgern und sagte, sie könne als Nationalität eintragen, was sie wolle. Das ändere doch nichts. Ich bliebe doch das, was ich sei!« Immanuel Retter ist Doktor der technischen Wissenschaften und Leiter des Labors für Bauphysik. Er ist ein solider Herr von etwa 60 bis 65 Jahren, den ich nie auf die Volkszählung anzusprechen gewagt hätte, wenn mir nicht der Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Meine Aspirantenzeit ist am 26. März zu Ende gegangen und ich arbeite nun als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Informationsabteilung. Als die Deutschübersetzerin für ein Jahr in Mutterschaftsurlaub geht, übernehme ich alle anfallenden Übersetzungen, die zum Fachgebiet Bauwesen gehören. Gewöhnlich sind es Texte aus den Fachzeitschriften der DDR. Aber einmal landet auf meinem Tisch ein ungewöhnlicher Auftrag – fünf getippte DINA4-Seiten, die ich aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen soll. Es ist ein Bericht von Retter, mit dem er bei einer wissenschaftlichen Konferenz in der DDR auftreten will. Ich wundere mich: Kann ein Doktor der technischen Wissenschaften seinen Bericht denn nicht besser ins Deutsche übersetzen als ich, wo ihm doch die deutsche Schreibweise der Fachausdrücke bekannt sein müsste? Für mich ist das nicht ganz einfach, da ich in technischem Deutsch nur wenig beschlagen bin und mir auch nur deutsch-russische und keine russischdeutschen Wörterbücher zur Verfügung stehen. Dennoch mache ich mich an die Arbeit, wobei ich auf zwei Ausdrücke stoße, für die ich im Deutschen keine adäquaten Begriffe finde. Ich unterstreiche die Stellen im Original und umschreibe sie in der Übersetzung. Dann gehe ich zum Genossen Retter, bringe ihm die Übersetzung und will ihm den Grund für die Unterstreichungen erklären: »Ich habe diese Ausdrücke sinngemäß übersetzt. Ich weiß nicht, ob es für sie im Deutschen eigene technische Termini gibt.« Während meiner Erklärung gehe ich von der russischen zur deutschen Sprache über. »Sie könnten vielleicht auf der Konferenz einen Ihrer deut-
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schen Kollegen nach den passenden Ausdrücken fragen!?« Er hebt den Kopf, sieht mich erstaunt an und sagt auf Russisch: »Wieso sprechen Sie mit mir Deutsch? Ich bin kein Deutscher, sondern ein Russe.« Mir zittern die Knie. Da stehe ich, eine kleine Aspirantin, vor einem echten russischen Doktor der Wissenschaften, und gebe ihm zu verstehen, dass ich ihn für einen Deutschen halte. »Entschuldigen Sie bitte! Ihr Name – Immanuel Retter – so dachte ich, könne unmöglich ein russischer sein«, stammle ich. Er nimmt seine Brille ab, putzt sie umständlich und sagt: »Ja, wissen Sie, eigentlich liegen Sie schon richtig. Meine Eltern waren Deutsche. Man hatte mich nach Westsibirien verbannt, wo ich zehn Jahre lang den Wald roden musste und mich nicht mit wissenschaftlichen Fragen befassen konnte. Jetzt ist es mir egal, wie man mich in den Listen führt, wenn ich nur in Ruhe gelassen werde.« Er bleibt beim Russischen, spricht kein Wort Deutsch, wobei ich nicht glauben kann, dass er die Sprache seiner Kindheit ganz vergessen hat. Er ist mindestens 30 Jahre älter als ich und muss noch die deutschen Schulen in Russland erlebt haben. In diesem Jahr verteidigen zwei meiner Kollegen ihre Dissertationen ausgerechnet in dem Institut, in dem mich die böse Sekretärin mit meiner Arbeit abgewiesen hat. Der eine ist der Russe mit der Blutkrankheit, der andere ist ein illegaler Jude. Für sie hat sich das Gesetz offenbar nicht geändert, denn sie brauchen keine zusätzliche Kandidatenprüfung in politischer Ökonomie abzulegen. Bei ihnen wird auch nicht moniert, dass sie in Fachtheorie wie ich von der Kommission geprüft wurden, der kein Doktor, sondern ausschließlich Kandidaten der Wissenschaft angehörten. Während ich immer noch vergebens nach einer Kommission suche, die mich in politischer Ökonomie prüfen würde, bekommen meine Kollegen ohne großen Aufwand ihre Kandidatendiplome. Ich spreche darüber mit dem Chef des Labors, in dem ich als Aspirantin gearbeitet habe. Er hat den Kandidatengrad erst vor etwa einem Jahr bekommen, obwohl er die Aspirantur schon vor sechs Jahren beendet hat. Er ist ein
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legaler Jude, hat allerdings eine russische Frau und ist auch Mitglied der KPdSU geworden. Ich sage: »Die Sekretärin Kosyrewa versprüht unendlich viel Hass. Ich glaube, sie hat etwas gegen mich persönlich, denn meine Kollegen hat sie gnädiger und gütiger behandelt. Ich habe sieben Veröffentlichungen und meine Kollegen nur jeweils zwei bis drei. In den Kandidatenprüfungen, die wir am gleichen Tag vor ein- und derselben Kommission abgelegt haben, erhielt ich bessere Noten. Trotzdem dürfen sie ihre Arbeiten verteidigen und ich meine nicht.« Er erwidert: »Ja, die Kosyrewa hasst die ganze Welt, aber ganz besonders glückliche Frauen. Die kann sie einfach nicht ausstehen!« »Wie bitte? Bin ich etwa ... eine glückliche Frau?«, wundere ich mich. »Natürlich! Sie sind Ingenieurin, haben eine Familie und wollen den Kandidatengrad erwerben. Das ist zu viel für die Kosyrewa, weil ihr selbst all das versagt geblieben ist. Ihre Eltern sind im besetzten Kiew umgekommen. Im Krieg hat sie gesundheitliche Schäden davongetragen, deshalb ist sie so mager und gelb. Sie hat keine Hochschulbildung und weder Mann noch Kinder. Wie sollte die eine wie Sie leiden können?!« »Es mag schon sein, dass sie mich hasst. Aber in anderen Instituten hat man meine Arbeit auch abgelehnt, ohne sie zu lesen. Wenn die Arbeit schlecht wäre, hätte ich sie doch nicht veröffentlichen können?!«, denke ich laut nach. »Tja, Sie haben sich diese Schwierigkeiten selbst eingebrockt. Sie hätten sich mit Ihrer Eheschließung nicht so beeilen sollen. Jetzt müssen Sie die Konsequenzen tragen!«, sagt er. »Beeilen, sagen Sie? Ich habe mit 30 und nicht mit 17 Jahren geheiratet. Das nennen Sie ›beeilen‹?! Und was hat denn meine Ehe mit meiner Arbeit zu tun? Die Dissertation war doch rechtzeitig fertig.« »Darum geht es ja gar nicht. Wer von Ihren Kollegen hat wie Sie einen Schwiegervater in Westdeutschland?« »Das ist an den Haaren herangezogen! - Mein Schwiegervater hat nun wirklich nichts mit meiner Dissertation zu tun. Ich habe ihn au-
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ßerdem noch nie gesehen. Er schreibt nur seinem Sohn ab und zu Briefe.« »Das glauben Sie, dass er mit Ihnen und Ihrer Arbeit nichts zu tun hat. Irgendwo ist man offenbar anderer Meinung. Hätten Sie zum Beispiel unseren Nikolaj geheiratet – ich schwöre, all diese Schwierigkeiten wären Ihnen erspart geblieben.« »Meinen Sie wirklich, ich hätte es mit ihm einfacher gehabt? Und wenn ja, warum?« Er nickt und wird deutlicher: »Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft. So haben wir es doch gelernt, nicht wahr? Die Familie soll durchschaubar und kontrollierbar sein. Und Ihre ist es nicht – da liegt der Hase im Pfeffer!« »Mein Gott, ich lebe im Wohnheim! Was könnte ich da schon verbergen, selbst wenn ich es wollte?! Ich hätte also ... bei Ihnen lernen können, wie man den Kandidatengrad erwirbt?« Er nickt wieder. Ich fahre fort: »Sie haben mich doch einmal gefragt, wodurch sich unsere Völker - die Deutschen und die Juden - denn so sehr unterscheiden, erinnern Sie sich? Und hier haben Sie die Antwort: Ich habe eine andere Mentalität als Sie! Die Juden in der UdSSR greifen zu jedem Mittel, um ihr Ziel zu erreichen. Wir Deutschen wollen, dass man uns so akzeptiert, wie wir sind. Ich urteile nicht, was besser und was schlechter ist. Ich sage nur: Wir sind anders. Wir wollen, dass man unsere Leistungen anerkennt, egal zu welcher Nationalität, Sprache und Glauben wir uns bekennen, egal wer und wo unsere Verwandten sind, egal mit wem wir verheiratet sind. Verstehen Sie? Ein anderes Leben, glaube ich, möchte ich gar nicht haben.« An einem Wochenende besucht mich Tanja. Wir fallen einander weinend um den Hals. »Tanetschka, wie siehst du aus und wo warst du so lange? Warum wolltest du nicht, dass ich dich besuche?«, frage ich. Ihre Figur hat sich verändert und ihr Gesicht sieht angeschwollen aus. »Ach, Petrowna, frag mich lieber nichts. Über mein zerstörtes Leben kann ich nur noch weinen.«
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Ich frage sie dennoch, ob denn die Geschichte von der Demonstration stimme. Sie erzählt, ein Bekannter habe sie zum Puschkin-Platz mitgenommen. Noch ehe sie begriffen habe, was überhaupt vor sich gehe, da sei der Platz schon von Milizionären umstellt gewesen und sie alle seien verhaftet worden. Weil sie nicht im Stande gewesen sei, die Fragen der Beamten zu beantworten, habe man sie nicht ins Gefängnis, sondern in die Nervenklinik eingeliefert, wo man bei ihr die Diagnose ›Schizophrenie‹ gestellt, sie fast fünf Monate festgehalten und ihr zahlreiche Injektionen verabreicht habe. Sie schaut zu meiner Tochter in den Kinderwagen und kitzelt die Kleine mit dem Finger. Edith lacht, packt den Finger, kräht vergnügt und strampelt mit den Beinen. »So ein lustiges Mädel«, sagt Tanja nachdenklich. »Und schön ist sie! Ihre Augen strahlen wie Sterne. Wo hast du die schönen Kindersachen her, Petrowna?« »Jochens Vater hat aus Deutschland ein Paket mit Kindersachen geschickt.« »Du hast Verwandte in Deutschland?! Dann kannst du ja dieses Land verlassen!« »Ach, Tanja, so einfach ist das nicht!«, sagt Jochen traurig. »Meine Mutter hat 20 Jahre gebraucht, um nach Deutschland auszureisen. Wenn ich meinen Vater wenigstens besuchen dürfte. Nach 25 Jahren möchte ich endlich meinen Vater wieder sehen!« »Ich persönlich habe nichts dagegen, dass du deinen Vater besuchst. Versuch es doch mal. Wenn man es dir erlaubt, kannst du gerne zu ihm fahren. Meine Dissertation werde ich anscheinend sowieso nicht verteidigen können. Dazu hätte ich, wie sich jetzt herausgestellt hat, den passenden Mann heiraten müssen!« Ich erzähle Tanja von meinem Leidensweg bei der Verteidigung meiner Arbeit. »Sei nicht traurig, Petrowna. Du hast ganz gut geheiratet. Dieser Tschaban aus der Wüste wird dich eines Tages aus diesem großen Gefängnis herausbringen. Außerdem hast du so ein süßes Kind!«, tröstet mich Tanja.
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»Ja, das Mädchen ist mein größter Trost. Es war der glücklichste Augenblick, als man sie mir gleich nach der Geburt zeigte. Ich konnte es kaum glauben, dass ich es geschafft hatte. Vom ersten Augenblick an sprach ich mit ihr nur Deutsch. Instinktiv, weißt du. Sie ist mein einziger Gesprächspartner. Ich habe das Gefühl, sie sei noch zu klein, um Fremdsprachen zu lernen. Deutsch aber versteht sie, weil es ihre Muttersprache ist.« Jochen und ich baden unsere Kleine und Tanja schaut zu. Edith badet gerne, sie strampelt lustig mit den Beinchen und plantscht im Wasser herum. Ich spreche auf Deutsch sanft auf sie ein. Sie lächelt. Nach dem Baden wird sie gefüttert, wobei ich ihr ein wehmütiges russisches Lied, von einem Postkutscher, der auf der Steppe erfriert, vorsinge. Kaum habe ich angefangen zu singen, da macht sich das Kind steif. Ich singe weiter. Edith hört auf zu essen, lässt ihr Fläschchen los, spitzt die Lippen und beginnt laut zu weinen. Als ich mit dem Singen aufhöre, beruhigt sie sich und isst wieder. »Siehst du, Tanja, sie mag keine traurigen Lieder. So reagiert sie jedesmal, wenn bestimmte Lieder ertönen. Ich war während meiner Schwangerschaft oft allein und habe diese dann häufig gesungen. Ob es da einen Zusammenhang gibt?« Später singe ich »Hopp! Hopp! Hopp! Pferdchen lauf Galopp!«, und dabei hüpft die Kleine fröhlich auf meinen Knien. Da stimmt Tanja hinter Ediths Rücken wieder das Lied vom Postkutscher an. Edith hört auf zu hüpfen, sieht sich verängstigt um, spitzt die Lippen und weint. Wir lachen. Jochen nimmt mir die Kleine weg und schimpft: »Das Kind ist doch kein Spielzeug! Macht ruhig eure Späße, aber nicht auf Kosten meiner Tochter.« Ich bin stolz auf meine Kleine und erzähle Tanja, sie sei ein Sonntagskind, mit nur 2,3 Kilogramm Gewicht und 45 Zentimeter klein zur Welt gekommen. Aber sie sei ausgesprochen intelligent und entwickle sich ganz normal.
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Sklavenpsychologie der Herren
Das ganze Jahr 1970 über leiden wir darunter, dass wir keine polizeiliche Anmeldung, die sogenannte Propiska, haben. Neun meiner Kollegen bekommen sie und allein ich nicht. Ich gehe in die Kaderabteilung und erkundige mich nach dem Grund. Die Abteilungsleiterin, eine Russin, herrscht mich an: »Was? Sie wollen eine Anmeldung? Wo waren Sie denn, als ich die Liste unserer neuen Mitarbeiter nach Moskau weiterleitete?« »Wenn Sie mir sagen, wann Sie die Liste weitergegeben haben, dann kann ich Ihnen sagen, wo ich war.« »Ihre Kollegen haben sich bereits im November vorigen Jahres um ihre Anmeldungen gekümmert und sie jetzt bekommen. Sie waren nicht auf der Liste!« »Moment mal. Wer hat die Liste angefertigt? Sie? Dann waren Sie es, die es vergaß, mich in die Liste einzutragen, und jetzt werden Sie Ihren Fehler korrigieren müssen. Ich kann es ja nicht für Sie tun!«, sage ich. »Ich habe die Liste keineswegs erstellt! Sie wurde mir vom Chef der Aspirantenabteilung vorgelegt.« »Im November hat das Ministerium für Ländliches Bauen meine Aspirantenzeit bis März verlängert und mich zur Arbeit in diesem Institut eingeteilt. Dann habe ich mit dem Chef der Aspirantur über die Verlängerung der polizeilichen Anmeldung gesprochen. Er sagte, alles sei in Ordnung, und zeigte mir sogar die Kopie einer Liste, in der auch ich aufgeführt war. Also, wer hat meinen Namen gestrichen und aus welchem Grund?«, frage ich. »Na, hören Sie mal! Sie wollen doch wohl nicht mich für Ihr Missgeschick verantwortlich machen? Ich habe die Liste so weitergeleitet, wie sie mir gegeben wurde«, verteidigt sie sich. Die Situation ist absurd: Einerseits hat mich das Ministerium diesem Institut zugewiesen und daher bin ich verpflichtet, hier zu ar-
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beiten. Andererseits bekomme ich die Propiska nicht und habe deswegen offiziell kein Recht, mich hier aufzuhalten. Daraus ergeben sich wesentliche Nachteile. Im Gegensatz zu meinen Kollegen bekomme ich keine Wohnung. Mein Mann steht in einem befristeten Arbeitsverhältnis, das nur nach Maßgabe der Propiska verlängert wird. Es ist nervtötend! Dann folgen auch noch Geldstrafen. Zweimal bekomme ich an der Kasse fünf Rubel weniger Gehalt ausbezahlt. Ich gehe zur Buchhalterin und erkundige mich nach der Ursache. Sie erklärt: »Gegen Sie wurde eine Geldstrafe verhängt, weil Sie ohne polizeiliche Anmeldung bei uns beschäftigt sind. Diese Geldstrafe mussten wir von Ihrem Gehalt abziehen.« »Sagen Sie bitte: Bin ich die Einzige, die vorübergehend ohne polizeiliche Anmeldung hier arbeitet?«, frage ich. »Nein!«, schüttelt sie den Kopf. »Wir haben noch sechs bis acht andere, die auch nicht angemeldet sind.« »Wurde außer mir noch jemandem eine Geldstrafe auferlegt?« »Nein, nur Ihnen!«, sagt sie. »Warum? Können Sie mir das erklären? Zuerst wird mir die Aufenthaltsgenehmigung verweigert und dann werde ich auch noch dafür bestraft? Habe ich denn Schuld daran, dass ich die Anmeldung nicht bekomme?« »Ich kann Ihnen diese Fragen nicht beantworten. Wenden Sie sich doch an unseren Direktor, der muss die Antwort kennen«, gibt mir diese Armenierin den Rat, dem ich folge. Ich richte ein Schreiben an den Direktor, das ich jeweils in Kopie auch der Parteiorganisation des Instituts und der Gewerkschaftsleitung zukommen lasse. In diesem Schreiben schildere ich meinen Leidensweg, der mit der polizeilichen Anmeldung verbunden ist, und frage ganz direkt, ob man mich wegen meiner nationalen Zugehörigkeit schikaniere und hinausekeln wolle. Im Übrigen teile ich mit, dass ich bereit sei, nach Kasachstan an den Verbannungsort der Deutschen zurückzukehren, wenn man mir klipp und klar sage, dass ich kein gleichberechtigter Sowjetbürger und als Deutsche hier unerwünscht sei.
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Wenn man den Stier bei den Hörnern packt, dann wirkt es. Ich werde ins Kabinett des Direktors vorgeladen, wo außer ihm auch der Sekretär der Parteiorganisation, der Gewerkschaftsleiter, die Buchhalterin und die Chefs der Kader- und Aspirantenabteilungen anwesend sind. Der Direktor spricht: »Wir haben Ihr herausforderndes Schreiben erhalten. Ich frage mich, wie Sie auf solche absurden Gedanken kommen. Ich nehme an, aus Verzweiflung. Sie klopfen an verschiedene Türen, bekommen keine positive Entscheidung und ziehen falsche Schlüsse. Es ist selbstverständlich nicht Ihre Schuld, dass Ihre polizeiliche Anmeldung noch immer nicht verlängert wurde. Unseren Kollegen ist da ein Fehler unterlaufen, den sie wieder gutmachen werden. Das braucht allerdings Zeit. Sie werden sich noch etwas gedulden müssen. Weil Sie während der Wohnungszuteilung nun doch nicht angemeldet waren, konnten wir Ihnen keine Wohnung zuteilen – das wäre gegen das Gesetz gewesen. Das müssen Sie verstehen! Wenn Sie denn endlich angemeldet sind, können Sie sofort einen Antrag auf Zuteilung einer Wohnung stellen. Die Geldstrafe werde ich natürlich aus dem Direktorfond bezahlen, da es ja keinen Grund gab, Sie zu bestrafen. Sie sind eine gewissenhafte Mitarbeiterin und haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Es ist alles nur ein Mißverständnis. Sie sollten sich nicht verletzt fühlen.« Im Dezember 1971 habe ich Urlaub und versuche nochmals, die fehlende Prüfung in politischer Ökonomie abzulegen – abermals vergeblich. Dann schreibe ich meinem ehemaligen Dekan und frage, ob ich nicht noch irgendwie zum landwirtschaftlichen Institut gehöre, und nicht bei Professor Hendelman in Zelinograd die Prüfung ablegen könnte. Die Antwort kommt promt: Der Professor sei einverstanden, die Prüfung solle Ende Dezember stattfinden. Ich besorge mir sofort eine Flugkarte und begebe mich am 10. Dezember zum Flughafen Scheremetjewo, wo das Flugzeug um 23 Uhr starten soll. Edith nehme ich mit, weil ich sie für die Dauer meines Urlaubs bei meiner Mutter lassen will. Der Abflug wird wegen schlechter Witterungsverhältnisse zunächst für drei Stunden
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verschoben. Es gelingt mir, meine Tochter im Kinderzimmer für wartende Reisende unterzubringen, wo ihr ein kleines Bett und mir ein Stuhl zur Verfügung stehen. Letzten Endes müssen wir sieben Stunden warten und ich bin froh, dass Edith schläft und ich sie nicht auf den Armen halten muss. Jochen steht die ganze Zeit im überfüllten Wartesaal herum, weil es nachts keine Möglichkeit gibt, den Flughafen zu verlassen. Um 6 Uhr morgens fliegen wir los, müssen aber wenig später in Uljanowsk zwischenlanden. Das riesengroße Land liegt wie ein Monstrum unter einer Schneedecke und über ihm tobt ein Schneesturm. Aus diesem Grund sind alle Flughäfen Sibiriens und Nordkasachstans gesperrt. Bevor wir aussteigen, wird bekannt gemacht, dass die Passagiere den Flughafen nicht verlassen dürften, da die Reise so bald wie möglich fortgesetzt werde. Ich bin in Verlegenheit, denn das Handgepäck darf nicht im Flugzeug gelassen werden und ich kann nicht gleichzeitig mein schlafendes Kind und den Koffer tragen. Da kommt mir ein großer Mann, der in Filzstiefel, einen weißen Schafspelz und eine Fellmütze gekleidet ist, zu Hilfe. Er nimmt mir das Kind ab und drückt es fest an seinen Mantel, um es vor dem Sturm zu schützen. Unser Aufenthalt in Uljanowsk wird ganze zwölf Stunden dauern. Zunächst essen wir im Restaurant. Dann bringe ich Edith zum Schlafen ins Kinderzimmer und nehme nebenan im Wartesaal Platz, um die Durchsage für die Weiterreise nicht zu verpassen. Der hilfsbereite Russe hat Mantel und Mütze abgelegt und schwitzt trotzdem, weil er beim Mittagessen 200 Gramm Wodka zu sich genommen hat. Er sitzt neben mir und spricht ununterbrochen. Anscheinend will er mich als junge, gutaussehende Moskowitin mit seinen Erfolgen beeindrucken. Als er sagt, er arbeite bei den »Organen« wie im Volksmund der Geheimdienst umschrieben wird, und sein Sohn diene in der DDR, spitze ich die Ohren – das könnte interessant werden. Er erzählt, wie es ihm gelungen sei, zu einem eigenen Haus und einer herrlichen Datscha zu kommen, wie gut er verdiene und wie sie, die Mitarbeiter der »Organe«, bevorzugt versorgt würden. Dennoch beklagt er sich über das schwere Schicksal der Russen:
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»Wir Russen haben das Sowjetsystem aufgebaut. Alle Lasten und Schwierigkeiten ruhen auf unseren Schultern. Wo es Probleme und Ärger gibt, da werden zuallererst Russen eingesetzt. Im Krieg haben wir Russen mehr geleistet als alle anderen Völker der UdSSR und deshalb sind wir auch die »Ersten unter den Gleichen«! Die anderen Völker bestehen nur aus Faulenzern und Drückebergern, denen man nicht vertrauen kann und die man ständig überwachen und zurechtweisen muss. Und wissen Sie, wie viel Ärger uns manche Volksminderheiten auch jetzt in friedlichen Zeiten machen? Oho! Das weiß keiner, das sieht niemand. Unsere Arbeit bleibt verborgen. Nehmen wir zum Beispiel die Juden. Ich gebe ja zu, dass manche von ihnen sehr begabt sind, aber lässt man auch nur einen aus den Augen, schon erhebt sich der jüdische Nationalismus. Die Juden waren ja wie Ungeziefer in alle Ritzen, Spalten und Löcher unseres Systems geschlüpft, bis man schließlich die Geduld verlor und sie zurechtwies ...« Er schweigt eine Weile und fährt dann im selben gleichmäßigen Ton fort: »Oder betrachten wir die Deutschen. Die hatten wir ja ganz gut im Griff, aber nach Stalins Tod fiel es Nikita ein, sie von der Kommandantur zu befreien und zu gleichberechtigten Sowjetbürgern zu machen. Stellen Sie sich diesen Unsinn nur mal vor! All die Faschisten und Verräter ... Und was machen die? Anstatt dankbar zu sein für ihre Freiheit, beklagen die sich über Diskriminierungen und verlangen, entweder ihre Republik an der Wolga wiederherzustellen oder sie nach Deutschland auswandern zu lassen. Wie gefällt Ihnen diese Frechheit? Wie man den Wolf auch füttern mag, er sehnt sich doch nach dem Wald. Nein, ich sage, Nikita hat es mit den Deutschen überstürzt. Die hätten noch gute 20 Jahre unter der Kommandantur bleiben sollen, dann wäre ihnen das Rebellieren, das sich Auflehnen vergangen. Sie hätten einfach vergessen, wer sie sind – für immer. Und jetzt müssen wir fast jeden Einzelnen überwachen. Was glauben Sie, welchen Aufwand das erfordert? Oho! Das kann sich ein einfacher Sowjetbürger kaum vorstellen. Und die
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Kasachen und andere Schlitzaugen? Meinen Sie, die sind besser? Mitnichten! Hinterlistig und faul sind sie. Man muss sie zur Arbeit antreiben. Am liebsten würden sie den ganzen Tag Tee schlürfen und Beschparmak fressen. Und rückständig sind die – kaum zu glauben! Sogar die Kommunisten unter ihnen glauben an ihren Allah mehr als an den Kommunismus. Sie gebrauchen russische Mutterflüche und behaupten, Allah werde sie dafür nicht bestrafen, weil er kein Russisch kenne. Aber ihre Sprache sei dazu da, um sich mit Allah zu verständigen. Oder nehmen sie die Kaukasier und Balten. Sind die zuverlässig? Keineswegs! Wir haben sie befreit, aber die können uns Russen nicht leiden und nennen uns Besetzer und Unterdrücker. Wie gefällt Ihnen das? Ja, wir Russen haben es nicht leicht. Die ganze Ordnung im Lande liegt in unserer Verantwortung. Sollten wir je eine Schwäche zeigen, so würde man uns wegfegen! Deshalb müssen wir stark sein. Ich lebe strikt nach dem kommunistischen Prinzip: Ich leiste was ich kann und nehme was ich brauche! Ich fahre einen Wagen vom Typ ›Wolga‹. Um Wurst und Butter braucht meine Frau nicht anzustehen – Lebensmittel werden ihr ins Haus geliefert. Jeden Urlaub verbringen wir in Sotschi. Alles gehört uns Russen. Wir sind die rechtmäßigen Herren ...« Er spricht noch lange in diesem Sinne, bis ihn die Müdigkeit überfällt, er einschläft und zu schnarchen beginnt. Ich hänge meinen Gedanken nach. Wird die Stunde der Gerechtigkeit und Wahrheit jemals kommen? Werden unsere »Befreier und Beschützer« eines Tages den gerechten Lohn für ihre »Mühe« erhalten? Wenn ja, wann? Wird es dann für die meisten Völker nicht zu spät sein? Die Gesprächigkeit der Reisenden ist in der Sowjetunion ein Phänomen, das den Russen als Ausgleich zu ihrem alltäglichen Leben dient. Die Geschichte hat sie gelehrt, misstrauisch zu sein und ihre Gedanken niemandem anzuvertrauen. Nur während der langen Reisen durch das riesige Land, wenn er glaubt, anonym bleiben zu können, wird der Russe besonders redselig und verrät Dinge, die er unter anderen Umständen auch unter Folter nie preisgeben würde. Ich erinnere mich an die Geschichte meiner Familie, an meinen
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kranken Bruder und an Tanjas Aufenthalt im Irrenhaus. Diese Erinnerungen tauchen immer wieder plötzlich in wirrer Folge auf und machen mich müde. Ich weiß, man könnte sie ordnen, es sei in meinen Kräften, alles zu klären und im Chaos des Leidens die Gesetzmäßigkeit, den Leitfaden zu finden und die Hintergründe zu erkennen. Nur ist es noch nicht an der Zeit. Ich muss noch die Natur des Monstrums erforschen und erkennen, bevor es mich verschlingt, wie es vor mir Millionen spurlos verschlungen hat. Meine Tochter hat sich ausgeschlafen, ist munter und lebhaft. Sie macht es sich auf meinem Fuß bequem und fordert mich auf, sie zu schaukeln. Sie ruft mir lustig auf Deutsch zu: »Komm schon, Mami! Hoj-da- hoj-da! Komm schon!« Ich schaukle sie und singe leise: »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß. Hat ein Brieflein im Schnabel ...« Edith jauchzt vor Vergnügen. Plötzlich fühle ich den aufmerksamen Blick unseres Reisegefährten auf mich gerichtet. Er schläft nicht mehr, sondern beobachtet uns mit eng zusammengekniffenen Augen. »Was singen Sie da?«, fragt er. »Ein deutsches Kinderlied«, sage ich breit lächelnd. Er wirft sich seinen Pelzmantel um die Schultern, spuckt mir vor die Füße und geht davon, ohne sich zu verabschieden. Wir fliegen weiter. Spät abends folgt eine weitere Zwischenlandung in Kokschetau, denn in Zelinograd lässt der Sturm noch immer nicht nach. Die Passagiere verlassen die Wärme des Flugzeuges und begeben sich hinaus in die dunkle und schneidende Kälte. Der Wind schleudert uns stechende Schneenadeln entgegen. Die Hälfte des noch nicht fertig gestellten Flughafengebäudes ist hell beleuchtet, aber weiter als über die Schwelle komme ich nicht: Der Aufenthaltsraum ist so überfüllt, dass da kein Apfel mehr hätte auf den Boden fallen können. Es macht für mich keinen Sinn, weiter auf das Flugzeug zu warten. Von Kokschetau aus ist es zu meiner Mutter sogar näher als von Zelinograd.
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Mir gelingt es, mit einer Taxe vom Flughafen zum Busbahnhof zu gelangen, wo ich am Morgen bei der ersten Fahrt dabei sein will. Der große Wartesaal ist hell beleuchtet, aber nicht beheizt. Ich habe vergebens gehofft, mit meiner Tochter im Zimmer für »Mutter und Kind« unterzukommen. An seiner Tür hängt ein großes Schloss. Sechs weitere Gästezimmer sind ebenfalls abgeschlossen und so müssen die Fahrgäste zusammengekauert auf dem dreckigen Betonboden liegen. »Alles im Namen des Menschen, alles zum Wohle des Menschen!«, wurde uns im Ökonomie- und Philosophieunterricht ständig gepredigt. Es sollte eher heißen: »Alles auf Kosten des Menschen, alles gegen den Menschen!« Die Errichtung dieses Gebäudes erforderte viel Geld, Baumaterial und Energie. Warum hat man es überhaupt gebaut, wenn es im Dezember, bei 25 Grad Frost und Schneesturm, nicht beheizt wird? Und warum sind die wichtigsten Räume für die Gäste unzugänglich? Ist diese sinnwidrige Verfahrensweise ... ein Eckstein der politischen Ökonomie, in der ich jetzt geprüft werden soll? Ich könnte Gift und Galle spucken ... Ich gehe mit meiner Kleinen durch den Wartesaal bis in eine Ecke, wo ein freier Stuhl steht. Eben habe ich mich gesetzt, da merke ich auch schon, warum der Stuhl frei ist: Das große Buntglasfenster neben mir hat ein handgroßes Loch, durch das Wind bläst. Hier kann man unmöglich die Nacht verbringen, wenn man sich nicht den Tod holen will! Ich nehme meiner Tochter ihren Schal vom Hals und stopfe das Loch damit zu. Ich bin erschöpft und habe noch eine lange, schlaflose Winternacht vor mir. Die Glaswand stöhnt und dröhnt unter dem Druck des heulenden Windes. Ich drücke meine Tochter an meine Brust, schaukle sie, singe leise und versuche, sie so in den Schlaf zu wiegen. Aber die ist munter wie Quecksilber, läuft durch den Wartesaal, bleibt bei den Schlafenden stehen, flirtet mit Männern, lächelt sie an und lässt sich von ihnen schaukeln. Ich muss ständig hinter ihr her sein, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie steigt die Treppe auf die Galerie hinauf, wo sich all die verschlossenen Türen befinden, und ich folge ihr. Auf der Galerie
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gibt es keine Sitzgelegenheit, aber dort ist es wärmer und man hat mehr Platz, da nur wenige »Herren« auf dem Betonboden schlafen. In einer Ecke sitzt auf einem alten Autoreifen eine graue männliche Gestalt unbestimmbaren Alters. Nach etwa einer Stunde erinnere ich mich an meinen Koffer, der unten bei dem kaputten Fenster steht. Ich sollte ihn sofort holen, bevor er mir abhanden kommt. Ich bitte den grauen Mann in der Ecke, ein wenig auf das Kind aufzupassen, damit es nicht von der Galerie fällt oder die Treppe hinabstürzt. Er nickt. Als ich die Treppe erreicht habe, höre ich die silberne Stimme meiner Tochter, die sagt: »Ich heiße Edith.« »Wie?«, fragt der Mann. »Edith? Was ist denn das für ein Name?« »Ich bin Faschistin, deshalb heiße ich Edith«, sagt die Kleine klar und deutlich. Ich eile zu ihr. »Was ist los, Edith? Woher hast du dieses Wort? Kind, wer hat das gesagt?«, dränge ich. »Tante Walja sagte, ich bin Faschistin.« »Warum denn? War sie böse auf dich? Hat sie dich geschimpft?« frage ich weiter. »Sie war böse, weil ich mich nicht schnell anziehen kann!« »Wer ist diese Tante Walja, die ein Kind mit solchen Worten beschimpft?«, fragt der Graue. »Eine Erzieherin im Kindergarten«, antworte ich. »In welchem Bärenwinkel leben Sie denn, wo so etwas möglich ist?«, wundert er sich. »Wir leben nicht in einem Bärenwinkel, sondern in Aprelewka – nur 45 Kilometer vom Herzen des Landes entfernt. Tante Walja ist nicht nur die Erzieherin meiner Tochter, sondern auch unsere Nachbarin und häufig unser Gast.« Meiner Tochter erkläre ich: »Edith, du sagst das nie wieder, ja?! Das ist ein schlechtes Wort. Wir sind Deutsche, aber keine Faschisten. Tante Walja hat das falsch gesagt!« Als ich mit meinem Koffer zurück komme, singt der Graue leise ein Wiegenlied und Edith schläft in seinen Armen.
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»Wie ist Ihnen das gelungen?«, frage ich dankbar und nehme ihm das Kind ab. »Ich bin schon zum Umfallen müde, und sie konnte sich immer noch nicht beruhigen.« Ich setze mich neben diesen Mann auf den Autoreifen. »Ganz einfach. Ich habe ihr das Lieblingslied meines Sohnes vorgesungen und sie hat sofort die Augen zugemacht.« »Sie haben einen Sohn?« »Ja, mein Sohn ist das Einzige was ich habe«, sagt er seufzend. »Außer ihn habe ich nichts und niemanden.« »Wie alt ist denn Ihr Sohn?« »Sechs«, antwortet er und erzählt mir seine Lebensgeschichte. Er sei Physiker und in einem Kinderheim bei Magadan im hohen Norden aufgewachsen. Seine Eltern kenne er nicht, habe auch nie etwas von ihnen gehört. Nach der 7. Klasse seien die Kinder in ein Technikum für Physik überführt worden. Nach 4-jähriger Ausbildung habe er begonnen dort zu arbeiten, wo die Raumschiffe starten. »In Baikonur?«, frage ich. Er schüttelt den Kopf: »Baikonur ist eine Täuschung für die Journalisten und die Öffentlichkeit. Es ist ein gewöhnlicher Kasachenaul und besteht nur aus Lehmhütten. Die wirkliche Werkstätte befindet sich in ... ach, es ist ja nicht so wichtig, wo sie sich befindet. Meinetwegen nennen wir den Ort ›Baikonur‹. Meine Kameraden und ich waren sehr begeistert, als wir erfuhren, wo wir gelandet sind. Einen Beitrag zur Eroberung, Erforschung und Erschließung des Weltalls leisten zu dürfen – das ist doch eine große Ehre. Nach zwei Jahren kam Nachschub aus dem Technikum. Darunter war ein Mädchen, blond und schön wie die Morgensonne. Ich habe mich sofort verliebt. Sie war wie ich ein Waisenkind. Wir waren sehr froh, einander gefunden zu haben und nicht mehr allein sein zu müssen. Unsere Arbeit war interessant, aber sehr gefährlich. Wir heirateten und bekamen unseren Tolik. Nachdem ich Ehemann und Vater geworden war und mein Leben endlich einen besonderen Wert und Sinn bekommen hatte, wurde ich mir plötzlich der täglichen Gefahr bewusst. Wir waren glücklich zu dritt, es war aber ein unruhiges und kurzes Glück ...«
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»Warum sprechen Sie über Ihr Leben nur in der Vergangenheit? Wie alt sind Sie eigentlich? Noch keine 30, oder?«, unterbreche ich sein Schweigen. »Nein, 30 bin ich noch nicht. Aber ich lebe nur in der Vergangenheit ... Meine Frau starb vor vier Jahren, als sie knapp 21 Jahre alt war. Sie war an ihrem Arbeitsplatz bestrahlt worden und ließ mich einfach mit unserem Sohn allein.« »Werden bei solchen Arbeiten denn nicht entsprechende Maßnahmen ergriffen, um den Körper vor den schädlichen Strahlen zu schützen?« Er sieht mich an, als spreche er mit einem Kind und sagt dann ruhig und überzeugt: »Einen jeden kleinen Techniker mit einem Schutzanzug ausstatten? Das wäre für den Staat viel zu teuer!« »Und Ihre Frau? Dachte die auch so?« »Meine Lydia? Ich durfte sie im Krankenhaus besuchen, bevor sie in eine Klinik nach Moskau gebracht wurde. Sie verriet mir, dass sie bestrahlt worden sei und sterben müsse. Natürlich wollte sie nicht sterben. Sie war so jung und schön! Nach zwei Monaten war alles vorbei. ›Blutkrebs‹ heißt es in der Sterbeurkunde. Und ein Jahr später wurde ich von einer Kommission pensioniert.« »Sie sind in Rente? So jung?« »Ja. Ich habe etwa 700 Röntgen abbekommen. Mit dieser Strahlendosis hoffe ich noch mindestens zehn Jahre zu leben, wenn ich Glück habe. Mein einziger Wunsch ist, so lange bei meinem Sohn bleiben zu können, bis er 16 Jahre alt ist und nicht mehr ›Staatseigentum‹ werden kann ...« »Das ist entsetzlich, was Sie da erzählen. Aber Sie sprechen so ruhig darüber, als ob es nicht um Ihr Leben und die Leben Ihrer Lieben ginge. Sind Sie denn nicht empört? Empfinden Sie keinen Hass gegen die Schuldigen? Protestieren Sie nicht – wenigstens in Gedanken?« »Hassen – das ist nicht so einfach! Wen sollte ich hassen? Vielleicht meine Eltern, die mich in die Welt gesetzt und sich danach nicht mehr um mich gekümmert haben?«
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»Nein, Ihre Eltern sind bestimmt nicht schuld daran. Vielleicht waren sie auch ... ›Staatseigentum‹, irgendwo hinter Gittern oder in einem Straflager? Vielleicht hat man Sie ins Waisenhaus gegeben, um Ihnen das Leben zu retten. Aber ein Staat, der wissend so etwas tut ... Das Menschen verschlingende Monstrum – es opfert seine eigenen Kinder!« »Ich bin nicht allein. Ich habe Leidensgenossen. Schauen Sie mal in den Wartesaal hinunter. Sehen Sie den Mann auf dem dritten Stuhl von links? Sieht der krank aus? Er ist auch einer von uns und war einer wesentlich höheren Strahlung ausgesetzt als ich. Spricht er mit jemandem darüber? Nein! Und warum nicht? Nun, man hat uns das Maul mit einer guten Rente gestopft. Und wen interessieren schon unsere Leiden, Sorgen und Gedanken an den Tod? Ich musste schriftlich versichern, dass ich niemandem davon erzählen würde. Wie überflüssig! Wem sollte man so etwas erzählen? Wer hört uns zu? Wir haben auch keine Verwandten, die nach uns fragen könnten. Wie dem auch sei, mein Leben war doch sehr interessant. Wer kann schon sagen, er sei dabei gewesen, als der erste Mensch in den Kosmos flog! Ich war dabei: Ein kleiner Hebel hier, eine kleine Schraube dort ...« Die Nacht ist schier unendlich. Man möchte fast meinen, dass es eine ewige, undurchdringliche Nacht ist, die sich über das Leben eines großen Volkes gelegt hat – eine Nacht ohne Sterne und ohne Hoffnung. Er ist Russe, ich bin Deutsche. Beide sind wir rechtlos. Wir unterscheiden uns nur dadurch, dass ich gegen die Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit mit allen Kräften meiner Seele protestiere, während er stolz ist, für das Monstrum, den allmächtigen Staat leise winselnd sterben zu dürfen. Wer die UdSSR kennenlernen will, sollte mit den Reisenden sprechen.
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Eine Stadt in der Halbwüste
Die Prüfung in politischer Ökonomie bestehe ich ohne Schwierigkeiten und Anfang Januar 1972 kehre ich nach Aprelewka zurück. Zwei Monate später bestehe ich auch die fünfte Kandidatenprüfung in Fachtheorie erfolgreich, aber diesmal vor einer Kommission, der ein Doktor aus dem entsprechenden Zweig angehört. Alles vergebens. Die Köchin, die den Staat regiert, bleibt unbeeindruckt – die Hass versprühende Sekretärin lässt meine Dissertation dennoch nicht zur Verteidigung zu. Es scheint niemanden über ihr zu geben, sie ist offenbar die letzte und höchste Instanz. Im Frühjahr 1972 bekommt Jochen ein Telegramm von seinem Vater, der ihn zu einem Besuch einlädt. Kurz zuvor hatten wir einen Gast aus der Bundesrepublik. Eine entfernte Verwandte von Jochen besuchte in Taschkent ihre alte Mutter und in Aktjubinsk ihre Brüder. Auf dem Rückweg schaute sie in Begleitung ihrer Brüder auch bei uns vorbei. Sie erklärte mir, dass sie meinem Schwiegervater versprochen habe, seinen Sohn aufzusuchen. Wir leben immer noch im Wohnheim und es kostet mich ziemliche Mühe, dort für die Nacht drei Personen unterzubringen. Und dieser Besuch kann auch nicht geheim gehalten werden. Obwohl ich niemandem davon erzähle, ist es ein offenes Geheimnis und allgemeines Gesprächsthema. Jochen möchte seinen Vater in der Bundesrepublik Deutschland besuchen und fährt nach Moskau, um bei der Gebietsverwaltung des Inneren einen entsprechenden Antrag zu stellen. Man gibt ihm nicht einmal ein Antragsformular und begründet dies damit, dass man im Gebiet Moskau ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung keinen solchen Antrag stellen könne. So schließt sich der Kreis! Als mir ein Fernaspirant wenig später den Vorschlag macht, nach Kasachstan umzusiedeln, um in Pawlodar im industriellen Institut Architektur zu unterrichten, kommt mir dieser Gedanke gar nicht
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so abwegig vor. Ich bewerbe mich dort um eine ausgeschriebene Dozentenstelle, bekomme sie und werde aufgefordert, nach Pawlodar zu kommen, um eine schlüsselfertige, komfortable 3Zimmer-Wohnung in Empfang zu nehmen. Zur selben Zeit bekommt Jochens Schwester in Aktjubinsk die Erlaubnis, zu ihrem Vater nach Deutschland auszureisen. Dadurch erkennen wir, dass es doch die reelle Möglichkeit der Ausreise gibt. Wir ziehen vorläufig nach Pawlodar um. Die Republik Kasachstan erstreckt sich etwa 3.000 Kilometer vom Unterlauf der Wolga und dem Kaspischen Meer im Westen bis an den Altai und die Grenze Chinas im Osten. Von Norden nach Süden beträgt ihre Ausdehnung etwa 1500 Kilometer, wobei Steppe, Halbwüste und Wüste aufeinander folgen. Letztere zieht sich im Süden bis zum Hochgebirge Ala-Tau hin. Als der in der Bundesrepublik lebende Tierfreund und Schriftsteller Bernhard Grzimek die Erlaubnis bekommt, auf der Suche nach den Saiga-Antilopen Kasachstan zu durchqueren, wundert er sich und schreibt: »Man könnte in die Republik Kasachstan ganz England, Schweden, Norwegen, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Holland, Dänemark und die Bundesrepublik Deutschland hineinsetzen, und es bliebe immer noch ein Stück davon übrig.« Kasachstans Gesamtbevölkerung beläuft sich auf 14,68 Millionen Einwohner, darunter sind laut Volkszählung 1979 etwa 30 Prozent Kasachen und 6 Prozent Deutsche. Die Stadt Pawlodar befindet sich in der Halbwüste und liegt am rechten Ufer des Irtysch, 93 bis 95 Meter über dem Meeresspiegel. Von Pawlodar bis zur Grenze nach Sibirien sind es nur 70 Kilometer. In der Stadt herrscht ein raues Kontinentalklima. Der Winter dauert sechs Monate, und die Lufttemperatur sinkt dann bis minus 45 Grad Celsius hinab. In den kalten Dezember- und Januarnächten zerbersten daher laut schallend zahlreiche Fensterscheiben. Der Sommer hält nur drei Monate an und ist sehr heiß, wobei die Temperatur im Schatten bis plus 40 Grad Celsius ansteigt. Der Himmel ist weiß vor Hitze. Die Sonne ähnelt einer verschwommenen glühenden
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Metallkugel. Der heiße Wind spielt mit dem staubigen Laub der kargen Grünanlagen. Der Asphalt wird weich und alle Lebewesen verschwinden von den Straßen. Nur die Menschen sind auch in diesen heißen Stunden gezwungen, ihren Pflichten nachzukommen. Die Niederschläge übersteigen nicht 220 Millimeter pro Jahr. Das ganze Jahr hindurch ist es windig. Die Windstärke liegt im Bereich zwischen 4 und 35 Meter pro Sekunde, ganz windstille Tage gibt es nicht. Im Spätherbst und im Frühjahr kommen so große Staub- und Sandstürme vor, dass Tag und Nacht nicht zu unterscheiden sind. Die Pflanzenwelt ist spärlich. Berge und Wälder gibt es in dieser Gegend nicht. Nur das schmale Flusstal bildet eine Oase mit relativ üppiger Flora. Pawlodar wurde 1731 als russische Militärsiedlung gegründet und zählt heute etwa 280.000 Einwohner, von denen etwa 60 Prozent Verbannte und ehemalige Verbannte verschiedenster Nationalität sowie deren Nachkommen sind. Die Stadt und das gleichnamige Gebiet sind seit 200 Jahren ein Verbannungsort. Das Durchgangsgefängnis in Pawlodar und die Sonderlager Pestschanyi und Ekibastus sind vom russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn (7, Band 3) ausführlich beschrieben. In Pawlodar verbringe ich mit meiner Familie ganze acht Jahre. In der Stadt gibt es drei Industriekraftwerke und drei große Betriebe, die alle eine bestimmte militärische Bedeutung haben: Ein Traktorenwerk, das binnen 24 Stunden auf die Produktion von Panzern umgestellt werden kann; ein Aluminiumwerk, in dem der Rohstoff für den Flugzeug- und Raketenbau gewonnen wird; ein Chemiekombinat, dessen Arbeiter Nitroglyzerin für Sprengstoff herstellen. Es gibt auch noch eine ganze Reihe kleinerer Betriebe wie eine Pappkartonfabrik, ein Schienenreparaturwerk, eine Molkerei, ein Fleischkombinat und ein Getreidesilo. Im südlichen Teil des Gebietes, der an die Gebiete Semipalatinsk und Karaganda grenzt, werden Atomwaffen getestet. Für ausländische Besucher ist die Stadt nebst ihrer Umgebung Sperrgebiet. Im Volksmund geht ein Witz um, der wie folgt lautet:
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Breshnew, im Flugzeug sitzend, zeigt einer ausländischen Delegation von oben die sibirischen Städte. Er sagt: »Das hier ist Omsk, eine sehr alte russische Stadt. Und dort vorne sehen Sie Nowosibirsk, wo sich das sibirische Forschungszentrum befindet.« – »Und was ist das dort rechts, unter den Staubwolken?«, will ein Ausländer wissen. »Das ist Pawlodar, eine Experimentierstadt.« – »Welche Experimente machen Sie da?«, wollen die Gäste wissen. »Nun ja«, rückt Breshnew heraus, »die Bevölkerung dieser Stadt ist sehr ausdauernd und genügsam. Fleisch und Fleischwaren gibt es im Handel schon seit Jahren nicht mehr und die Leute haben überlebt. Vor einiger Zeit haben wir ihnen Butter, Milchprodukte und Reis entzogen und sie leben immer noch. Ohne frische Luft leben sie in den Rauch- und Staubwolken schon lange. Jetzt soll die Stadt von der Luft aus mit DDT bearbeitet werden. Sollten die Leute auch das überleben, werden sie in der ganzen Sowjetunion angesiedelt – ein sehr resistenter Stamm!« Dieser »Witz« enthält bittere Ironie und ist sehr treffend: Die Lebensverhältnisse in der Stadt und im Gebiet Pawlodar sind absolut lebensfeindlich. In Ekibastus werden 1971 etwa 50 Millionen Tonnen minderwertiger Braunkohle gewonnen. Der größte Teil der Kohle wird von den Industriekraftwerken in Pawlodar, Jermak und Ekibastus in elektrische Energie umgewandelt, die an Industriegebiete im europäischen Teil der UdSSR weitergeleitet wird. Der Rest wird in Nord- und Ostkasachstan als billiger Brennstoff verwendet. Diese Kohle hat jedoch den Nachteil, dass sie bei der Verbrennung 38 bis 40 Prozent ihrer Substanz als Asche und Schlacke hinterlässt. Die Asche wird von den heißen Abgasen hoch in die Luft hinausgetragen. Im Gebiet Pawlodar reinigt sich die vergiftete Luft wegen der spärlichen Flora und der geringen Niederschläge jedoch überhaupt nicht, was für die Bevölkerung sehr schädlich ist. Hals- und Lungenerkrankungen wie Tansilitis, Laringitis, Tuberkulose, Pleuritis und Silikose kommen hier daher besonders häufig vor. Das ganze Leben im Gebiet, die Landwirtschaft und die Industrie sind vom Wasser abhängig. Wo kein Wasser ist, da ist kein
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Leben. Es gibt hier 1.200 Seen, die eine Gesamtfläche von 2.360 Quadratkilometern einnehmen. Von den Seen haben 384 Süßwasser. Außerdem sind da etwa 130 Flüsse und Ströme, von denen einige nur zeitweise Wasser führen und im Sommer austrocknen. Der Irtysch ist und bleibt die wichtigste Quelle der Wasserversorgung. Er führt im Durchschnitt 934 Kubikmeter Wasser pro Sekunde und seine Bedeutung für dieses Gebiet ist enorm, da mehr als 40 Prozent der Bevölkerung an den Ufern des Flusses leben und sein Wasser trinken. Auch die Industriebetriebe bekommen das nötige Wasser hauptsächlich aus dem Irtysch, der jedoch über alle Maße verunreinigt wird. Das Industrieabwasser fließt fast ungeklärt ab, im Frühling trägt das Schmelzwasser von den Straßen der an den Ufern liegenden Siedlungen viel Unrat mit sich und die Personenschiffe pumpen ihr Abwasser ungereinigt in den Fluss. Den größten Schaden fügt dem Irtysch jedoch die Kanalisation der Stadt Pawlodar zu, die fehlerhaft geplant und gebaut wurde. Im Jahr 1957 in Betrieb genommen, fehlen ihr bis heute zuverlässige Reinigungs- und Entseuchungsanlagen. Unter den Menschen, die mit Trinkwasser aus dem Irtysch versorgt werden, nimmt die Anzahl der Erkrankungen ständig zu. Es kommt periodisch zu Epidemien wie Gelbsucht, Unterleibstyphus, Dysenterie und anderen Seuchen. Das geistige Leben der Stadt sieht ganz bunt aus. Am besten kann es an Feiertagen beobachtet werden. Die offiziellen Feiertage in der Sowjetunion haben – außer Neujahr – alle einen politischen Hintergrund. So werden zum Beispiel der Jahrestag der Revolution am 7. November, der Internationale Frauentag am 8. März, der Tag der Internationalen Solidarität der Werktätigen am 1. Mai und der Siegestag im Zweiten Weltkrieg am 9. Mai mit viel Pomp und Getöse gefeiert. Die Propagandamaschinerie ist bemüht, die Bevölkerung in eine hurrapatriotische Stimmung zu bringen – in den Zeitungen werden euphorische Artikel veröffentlicht, in Funk und Fernsehen patriotische Sendungen übertragen. Sie handeln von der Eroberung des Kosmos, vom kommunistischen Aufbau, von den Vorteilen der sowjetischen Lebensweise gegenüber der westlichen und von der
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schweren Lage der Fremdarbeiter und der Arbeitslosen im Westen. So wird die Aufmerksamkeit der Werktätigen von ihren eigenen Problemen und Schwierigkeiten abgelenkt. In den Betrieben der Stadt werden hervorragende Arbeitsleistungen gemeldet, die es oft überhaupt nicht gibt, und die »Helden der Arbeit« werden gefeiert. Es wird sehr viel über den Fünfjahresplan gesprochen und geschrieben. Die Werktätigen werden zum »Wettbewerb« aufgerufen, was im Klartext bedeutet, dass sie unbezahlte Überstunden leisten müssen. Am 1. Mai und am 7. November werden staatlich organisierte Demonstrationen der »Kraft und Einheit des Volkes« durchgeführt, an denen alle teilzunehmen haben. Die Überstunden vor den Feiertagen und die Pflichtdemonstrationen machen die Leute unzufrieden, denn sie werden dadurch ihrer gesetzlichen Ruhezeit beraubt. Außerdem macht das ganze patriotische Getue und Gerede über das angeblich so glückliche Leben die Menschen nicht satt. Da es in den Geschäften nicht genügend Lebensmittel gibt, gehen die Werktätigen nach jeder offiziellen Feier besorgt und bedrückt auseinander und überlegen, wo und mit Hilfe welcher Bekannten sie durch Bestechungen für ihr Festmahl etwas Fleisch, Wurst, Obst und Gemüse kaufen könnten. Die eigentliche Feier spielt sich dann am Esstisch im Wohnzimmer ab, wo die Menschen je nach Sympathie, Vertrauen, Verwandtschaft, Nationalität oder Alter in kleinen Gruppen zusammenkommen. Die Kasachen sind die Einheimischen, deren Verwandtschaft in der Nähe lebt. So haben sie die Möglichkeit, einander zu treffen. Bei den Kasachen wird an den Feiertagen viel gesungen, oft bis spät in die Nacht hinein. Die Deutschen musizieren und dikutieren mehr und bei den Russen wird am meisten getrunken und getanzt. In gemischten Gemeinschaften, wo sich Nachbarn oder Arbeitskollegen begegnen, findet alles statt: Trinken, Diskutieren, Singen, Musizieren, Tanzen. Das geistige Leben in Pawlodar ist aber nicht so einfältig, einfach und einheitlich, wie die kommunistischen Ideologen es sich wünschen. Es hat in dieser Stadt zwar nie unerwünschte Demonstrationen gegen die Umweltverschmutzung, die schlechte
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Versorgung mit Lebensmitteln, die Aufrüstung oder die Einmärsche in die Tschechoslowakei und in Afghanistan gegeben, aber die Bevölkerung bekämpft die offizielle Lüge indirekt. Die Jugendlichen können sich nicht mit dem erlaubten geistigen Fraß begnügen. Sie suchen nach Ergänzung oder Abwechslung und protestieren bewusst oder unbewusst durch Alkoholkonsum, zunehmende Kriminalität, Religiosität oder Ausreisebemühungen – abhängig von den Familienverhältnissen, aus denen sie kommen. Die Prostitution ist verboten und da es keine Berufsprostituierten gibt, verdienen sich die Laienprostituierten, oft Studentinnen, gelegentlich drei Rubel. In Pawlodar gibt es eine geschlossene Sonderschule für minderjährige Prostituierte. Die Verhältnisse in dieser »Schule« – hohe Mauer mit Stacheldraht, Wachttürme mit bewaffneten Posten – erinnern eher an ein Gefängnis als an eine Erziehungsanstalt. Hier werden die jungen Frauen »umerzogen«, obwohl sie es ausschließlich mit Sowjetbürgern zu tun hatten und nie einen Ausländer gesehen haben. Da auch die Pornografie verboten ist, wird sie durch Mutterflüche ersetzt, von denen es in der russischen Sprache reichlich gibt und die in allen in der Sowjetunion gebräuchlichen Sprachen verwendet werden. Wenn in der UdSSR auch keine Kriminalitätsstatistiken veröffentlicht werden, so kann man doch feststellen, das die Kriminalität in Pawlodar sehr hoch ist, denn in der Bevölkerung sprechen sich häufig Fälle von Kindesentführung, -vergewaltigung und -ermordung sowie von entsprechenden Gewalttaten an Erwachsenen herum. Meine Nachbarin, eine Kasachin, schickt ihre 8-jährige Tochter in den Laden, um Milch zu holen. Das Mädchen kommt nicht zurück, es bleibt spurlos verschwunden. In einer Wohnung werden an einem Tag zwei Mädchen im Alter von sechs und acht Jahren vergewaltigt und erstochen. Als ihre Nachbarin in die offenstehende Wohnung hineinschaut und die Kinder auffindet, lebt eines noch und sagt »Mutters Liebhaber«. In Ekibastus wird beim Auspumpen des Bahnhofsklosetts ein ermordetes Kind gefunden. Eine Schülerin
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der 10. Klasse wird tot im Schulgarten gefunden. Die Täter, allesamt Schulkameraden, gestehen vor Gericht, sie hätten das Mädchen nicht umbringen, sondern »nur vergewaltigen« wollen. Ein demobilisierter Soldat geht am Abend, etwa um 21 Uhr, am Gelände des industriellen Instituts vorbei, wo er von drei Burschen überfallen wird. Ihm werden zahlreiche Messerstiche versetzt und in diese Wunden wird geschmolzener Kunststoff von einem Kamm hineingetröpfelt – ausgesprochener Sadismus. Die minderjährigen Täter kommen in eine »Erziehungsanstalt«. Meine Kollegin, eine Dozentin des industriellen Instituts, geht nach dem Abendunterricht zur Bushaltestelle und wird überfallen. Ein junger Mann springt aus dem Gebüsch, packt sie und zerrt sie in die Dunkelheit. Sie brüllt aus Leibeskräften und ihr eilen mehrere Abendstudenten zu Hilfe. Einer von ihnen stürzt mit einem Messer in der Brust nieder, zwei weitere verfolgen den Täter, und die anderen laufen zur Telefonzelle, um einen Rettungswagen und die Miliz herbei zu rufen. Eine meiner Bekannten, die Deutsche ist und als Kinderpflegerin im Kindergarten arbeitet, geht um 21 Uhr aus ihrem Haus in Richtung Bushaltestelle. Sie will ihre 17 und 19 Jahre jungen Töchter, die ins Kino gegangen sind, dort abholen und wird überfallen. Ein Mann mit wildem Blick und wüstem Bart zerrt und reißt an ihrem Mantel, dass alle Knöpfe wegspringen. Sie schreit und klammert sich an einen Zaun. Von der Haltestelle her kommen zwei Männer gelaufen. Der Wüstling lässt sein Opfer los und läuft weg. Er hat ihr einen Daumen ausgerenkt, so dass die ganze Hand geschwollen und blau ist. Sie kann am nächsten Tag nicht zur Arbeit gehen und muss einen Arzt aufsuchen. Sie erstattet bei der Miliz Anzeige und kurz darauf wird der Mann am Tatort, wo er sich offenbar ständig herumtreibt, festgenommen. Ein paar Tage später erzählt sie mir empört, sie hätte öfters am frühen Morgen auf dem Weg zur Arbeit an den Büschen Büstenhalter und Slips hängen sehen. Schon so manche Frau sei da anscheinend überfallen worden, nur habe sich bisher wohl keine getraut, Anzeige
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zu erstatten. Und ihr habe selbst der Untersuchungsrichter empfohlen, sich nicht lächerlich zu machen und die Anzeige zurückzuziehen. Sie sagt: »Ich habe meine Anzeige nicht zurückgenommen. Dem Untersuchungsrichter sagte ich, wenn ich es dem Kerl heute verzeihe, überfällt er morgen meine Töchter.« Die Aufzählung solcher Fälle könnte unendlich fortgesetzt werden. Trotz der Behauptung, der Alkoholismus habe im sozialistischen System keinen Nährboden, keine sozialen Wurzeln und sei ein Überbleibsel der bürgerlichen Vergangenheit, erfreut er sich bei immer mehr Menschen außerordentlicher Beliebtheit. Wie könnte es auch anders sein, wenn der Alkohol die einzige Belohnung für die Arbeit ist und die einzige Möglichkeit, dem tristen Alltag zu entfliehen und sich dadurch ein Stück weit zu »befreien«. Wenn ich am frühen Morgen aufstehe und das Radio einschalte, um die Wettervorhersage zu hören, wird anschließend fast immer einund dieselbe euphorische Sendung übertragen, in der es heißt, wie frei und glücklich doch das Sowjetvolk lebe, wie frei und glücklich, weil emanzipiert und gleichberechtigt, doch die Sowjetfrau sei. Wenn man eine Lüge 100-mal am Tag hört, fängt man irgendwann an, sie für die Wahrheit zu halten. Doch »das Sein bestimmt das Bewusstsein«. Ich werde nachdenklich und frage mich eines Tages: »Bin ich glücklich, dass ich in Kasachstan, in Pawlodar leben darf? Bin ich zufrieden?« Und gebe mir selbst die Antwort: »Nein! Ein Sein unter diesen Bedingungen und ständigem Zwang macht mich weder zufrieden noch glücklich. Doch was kann ich dagegen tun? Kann ich etwas ändern?« Auf diese letzte Frage habe ich keine Antwort, obwohl ich immer öfter und intensiver darüber nachdenke. Ich bringe im Trab meine Tochter in den Kindergarten und eile zu meinem Arbeitsplatz. Jede Mittagspause gehe ich in das nächste Lebensmittelgeschäft, um für meine Familie etwas Essbares zu ergattern. Und jeden Tag sehe ich an ein- und derselben Stelle einen alten Mann sitzen. Sein
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Kopf ist mit langen grauen Haaren bedeckt und macht einen ungepflegten Eindruck. Ebenso grau und ungepflegt ist auch sein langer Bart. Seine Augen schauen trübe, und seine Hände, die den vorbeieilenden Frauen eine alte Kappe hinhalten, zittern. Seine Kleidung ist so grau wie sein Kopf- und Barthaar. Es ist, als sei der Alte ein Bestandteil des Ladens, vor dem er sitzt, als könnte das Geschäft ohne ihn nicht existieren. Solche alten Bettler sind eine typische Erscheinung der mittelasiatischen Städte. Man trifft sie vor jedem Lebensmittelgeschäft, jeder Gaststätte und jedem Bahnhof an. Einmal nach Feierabend stehe ich mit meiner Tochter, die ich aus dem Kindergarten abgeholt habe, in einer langen Schlange an, um Lebensmittel zu kaufen. Da beobachte ich folgenden Vorfall: Zwei junge Männer streiten sich. Worum es geht, weiß ich nicht, aber sie geraten ins Raufen, wobei dem einen eine Wodkaflasche aus der Tasche fällt und zerschlägt. Blitzschnell wirft sich ein Alter auf den Bauch und schlürft die feurige Flüssigkeit vom dreckigen Boden auf. Meine Tochter zupft mich am Ärmel und fragt: »Mutti, was macht der Opa? Ist er ein Hund?« Am 8. Mai 1980 komme ich in der Mittagspause wie gewöhnlich in das Geschäft nebenan. Der graue Kittel des Alten ist mit einem blanken »Heldenstern« geschmückt. Die Frauen stellen sich in langen Schlangen in der Hoffnung an, man würde vor dem Feiertag vielleicht Butter, Wurst, Fleisch oder gar Geflügel verkaufen. Der Alte ist an diesem Tag ungeduldig und aufgeregt. Plötzlich fängt er an, laut zu reden: »Morgen ist der 9. Mai – der Siegestag! Ich bin ein Held des vaterländischen Krieges! Ich habe für euch die lichte Zukunft und die Freiheit erkämpft ...« »Halt’s Maul!«, unterbricht ihn grob eine der Frauen und fährt, Geld in seine Kappe werfend, fort: »Welche Zukunft? Wovon sprichst du?« Eine andere schimpft: »Bist wohl schon angetrunken, was? Dir sollte man überhaupt nichts geben!« Der Alte spricht mit Tränen in den Augen und klagender Stimme weiter:
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»Meine Söhne sind gefallen! Sie haben ihre jungen Leben für euch und fürs Vaterland hingegeben!« »Warum hockst du dann hier? Warum kümmert sich das Vaterland nicht um dich?«, brüllt ihn ein drittes Weib an. Die Frauen schimpfen zwar, werfen aber Geld in seine Kappe. Ich eile die leeren Regale entlang, ohne jemanden anzuschauen. Meine Mittagspause ist zu Ende. Mit leerer Einkaufstasche gehe ich zu meinem Arbeitsplatz zurück und überlege, was ich wohl meiner Kinder zum Abendessen geben könne: »Öl und Kartoffeln habe ich. Auch eine Flasche Kefir steht noch im Kühlschrank ... also Bratkartoffeln und Kefir.« Am Nachmittag wird es so dunkel, als ob es schon später Abend wäre, und es bricht ein gewaltiger Sandsturm los. So ein Sturm überfällt die Stadt jeden Frühling, wenn der Schnee schon geschmolzen, aber das Gras noch nicht stark genug ist, dem Wind zu widerstehen. Dann heben sich ganze Sandwolken in die Luft. Im vorigen Frühling hat der Sturm ein paar Tage ununterbrochen getobt. Nach Feierabend eile ich zur Bushaltestelle, um meine Tochter vom Kindergarten abzuholen, und komme an dem Geschäft vorbei, in dem ich in der Mittagspause war. Da sehe ich vor der Eingangstür den Alten leblos im Staub liegen. Neben ihm rollen ein paar leere umgestoßene Wein- und Wodkaflaschen hin und her. Die trüben Augen des Alten starren den staubigen Himmel an. In der alles umschlingenden Staubwolke erglänzt auf seiner Brust der goldene Heldenstern. Endlich ist der Sieger frei und glücklich ... Im Stadttheater werden überwiegend Stücke zeitgenössischer Dichter über die sibirischen Bauten und Neulanderschließung aufgeführt. Wenn diese Aufführungen keinen Erfolg haben und die Theaterkasse leer bleibt, dann kommen Klassiker wie »Der Maskenball« von Michael Lermontov oder sogar Stücke unerwünschter Schriftsteller wie Wassilij Schukschins »Am Morgen erwachten sie ...« auf die Bühne. Die Handlung des letztgenannten Stückes spielt sich in einer Ernüchterungszelle ab. Am Morgen erwachen die Insassen und müssen, wie sie sind – nackt, in weiße Laken gehüllt, mit einer
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Nummer am rechten Fuß –, einem Soziologieforscher die Gründe ihrer Trunkenheit mitteilen. So werden dem Publikum alle sozialen Gründe des Alkoholismus in der UdSSR gezeigt. Der Zuschauerraum ist übervoll – die Menschen finden es offenbar lustig, sich auf der Bühne wiederzuerkennen. Man könnte ja auch darüber lachen, wenn die Realität nicht so traurig wäre.
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Dort, wo kein Gras wächst
September 1972. Eben hat das neue Schuljahr begonnen, ich habe den Lehrstuhl für Architektur übernommen und meine ersten Vorlesungen in Städtebau und Gestaltung von Industriegebäuden und -anlagen gehalten. Eines Tages sitze ich im Institut allein in meinem Arbeitszimmer und beschäftige mich mit den Lehrplänen für die Voll-, Abend- und Fernstudenten. Da geht die Tür auf, ein junger Mann tritt ein, geht energisch auf mich zu, reicht mir die Hand und stellt sich vor: »Tabaksblatt, Lasar Sigismundowitsch ...« »Typisch jüdisch«, sage ich, reiche ihm ebenfalls die Hand und stelle mich vor. »Bin ich ja auch. Will ja auch nichts anderes sein«, meint er und erzählt, er sei Kandidat der Wissenschaft, Dozent und unterrichte in diesem Institut Geologie. »Sind Sie auch ... meiner Nationalität oder sind Sie eine Russin?«, fragt er vorsichtig. »Ich bin weder Jüdin noch Russin, sondern eine Deutsche. Und ich will seltsamerweise auch nichts anderes sein. Könnte ich jetzt auch noch den Grund Ihrer Visite erfahren?« »Ja, ich wollte Sie einfach kennen lernen. Ich habe gehört, Sie sollen freiwillig«, sagt er mit Nachdruck, »freiwillig das Gebiet Moskau verlassen haben und hergekommen sein.« »Sie sagen das so, als ob im Gebiet Moskau zu leben so viel bedeute wie vor dem Tor zum Paradies zu stehen. Nicht der Platz schmückt den Menschen, sondern umgekehrt, wie ein Sprichwort sagt. Moskau kann mir gestohlen bleiben«, antworte ich lachend. »Aber hier wächst ja nicht mal Gras! Und Sie kommen freiwillig her, obwohl Sie niemand in die Verbannung schickt?! Da hab ich mir gedacht, die Dame muss ich mir ansehen, weil es für ihr Kommen nur zwei mögliche Erklärungen gibt.«
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»Aha, und welche wären das?« »Entweder sind Sie hoffnungslos verrückt oder Sie führen etwas im Schilde. So einfach verlässt kein Schwein seinen sicheren Platz am Futtertrog. Ich bemühe mich schon seit Jahren, aus Birobidschan ins europäische Russland zu kommen. Auch hier bin ich nur vorübergehend, bis sich mir eine Möglichkeit bietet, meine Wohnung zu tauschen.« Ich traue ihm nicht und schweige mich aus, aber er spricht weiter: »Eigentlich würde ich gerne dieses Land verlassen. Ich bin hier ja doch nur immer der listige und geizige Shid. Aber wo soll ich hin? Die Sprache meiner Ahnen beherrsche ich nicht. Und sollte ich jemals nach Israel kommen, so würde ich dort einfach als Russe und Kommunist abgestempelt werden. Das ist doch wohl klar?! Kennen Sie schon den Witz über den Juden, der ausreisen wollte? Nein? Dann muss ich ihn Ihnen unbedingt erzählen! Also, ein Jude hat jahrelang Ausreiseanträge gestellt. Schließlich erhält er die Genehmigung und fährt nach Israel. Nach nur sechs Monaten kommt er zurück, und nach einem weiteren halben Jahr stellt er wieder einen Ausreiseantrag. Die Beamten stutzen: ›Du warst doch schon in Israel? Willst du nun dort oder hier leben?‹ Er antwortet: ›Dort ist’s beschissen und hier ist’s beschissen – nur unterwegs fühle ich mich wohl!« Wir lachen beide herzlich. Dann fragt er: »Wie gefällt Ihnen dieser Witz? Treffend, nicht wahr? Wir Juden erzählen gerne Witze über uns selbst. Wir belustigen uns auf eigene Kosten und warten nicht, bis andere sich über uns lustig machen. Und Sie? Wollen Sie nicht ausreisen?«, fragt er unerwartet. »Diese Frage ... können wir nicht hier und jetzt diskutieren. Entschuldigen Sie mich, ich muss jetzt wieder arbeiten.« Er sucht mich künftig öfter auf und ich zweifle, ob er wirklich nur ein einsamer Mensch ist, der jemanden für einen Gedankenaustausch sucht, oder – ein Spitzel. Ich bin schon so oft und von verschiedenen Leuten bespitzelt und verraten worden, dass ich extrem misstrauisch geworden bin. Als ich im Dezember einer Studentengruppe die Prüfung abnehme, kommt er in den Leersaal, nimmt neben mir Platz und sagt:
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»Was machen Sie denn so lange? Ich bin mit meiner Gruppe schon fertig. Wozu hören Sie sich den ganzen Unsinn an, den Ihnen die Studenten erzählen? Das ist reine Zeitverschwendung! Was haben Ihnen diese Alkoholikerkinder denn schon zu sagen? Allenfalls die Hälfte von dem, was Sie ihnen in den Vorlesungen beigebracht haben. Ist doch klar! Bei mir bekommt jeder, der zur Prüfung erscheint, für seine Tapferkeit eine Drei. Mehr verdient auch keiner von diesen Debilen! Die können ja nicht einmal vernünftig, kurz und bündig reden. Die lallen doch nur. Sparen Sie sich die Mühe und tun Sie das, was ich Ihnen rate.« Er verschwindet. Der Stellvertreter des Dekans der Baufakultät ist eine resolute Dame, eine alleinstehende Russin, die eine Tochter hat. Als sie einmal bemerkt, dass Tabaksblatt sich mit mir unterhält, fragt sie mich hinterher: »Was wollte Lasar von Ihnen?« »Nichts, er hat mich nur begrüßt.« »Hat er Ihnen noch nicht gesagt, dass wir Russen alle Alkoholikerkinder und deshalb Debile seien? Dieser Shid kann uns nicht leiden!« »Nein, so etwas hat er mir nicht gesagt. Wenn er schimpft, meint er vielleicht nicht die Russen, sondern die faulen Studenten, die sich zu wenig Mühe geben, in seinem Fach zu lernen. Unter den Studenten sind ja nicht nur Russen, sondern auch Kasachen, Juden und Deutsche.« Ich merke, dass sie ihm nachstellt und auf mich eifersüchtig ist, weil er ihr aus dem Weg geht und meine Nähe sucht. »Vor dieser Schlange müssen Sie sich in Acht nehmen. Die beißt und gibt dann Honig drauf«, warnt mich Tabaksblatt. »Können Sie diese Dame nicht leiden?« »Sie will, dass ich sie heirate. Aber ich bin doch nicht blöd! Ich habe mich nicht scheiden lassen, nur um mir wieder ein Joch anzulegen. Ich will fort von hier. Hier wächst kein Gras! Ich habe richtige Sehnsucht nach grünem Rasen. Ich möchte barfuß über den Rasen laufen und mich auf ihm wälzen – es ist zum Heulen.«
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Meine Vorlesung bei den Vollstudenten wird unerwartet von einer Kommission besucht, die aus vier Dozenten verschiedener Fachrichtungen besteht. Ich führe den Unterricht wie gewöhnlich. Erst wird kurz der Stoff der letzten Vorlesung wiederholt, dann diktiere ich die Fragen, die in diesem Unterricht behandelt werden sollen. Ich hänge Anschauungsmaterial aus und beginne zu erzählen, wobei ich die wichtigsten Zahlen und Stichworte an die Tafel schreibe. Nach dem Unterricht wird von der Kommission im Lehrstuhlraum analysiert, was in meiner Vorlesung gut oder mangelhaft erklärt worden sei. Es wird ein Protokoll erstellt, welches ich aufmerksam durchlese, bevor ich es unterschreibe. Ich wundere mich über einen Satz am Schluss des Protokolls, in dem es heißt, der Unterricht sei zwar auf hohem technisch-wissenschaftlichem Niveau, aber mit ungenügendem politischen Bewusstsein geführt worden. »Genossen, wie wollen Sie denn über mein politisches Bewusstsein urteilen, während ich ein rein technisches Thema über die Typen und Gestaltung von Getreidespeichern behandle? Falls es Ihnen entgangen sein sollte, so muss ich Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass es kein Unterricht in Geschichte der KPdSU und auch nicht in Geschichte der Architektur war!« Ich bin verärgert. Mir wird aber klargemacht, dass für die patriotische Schulung der Studenten in jedem Unterricht Platz und Zeit sein müssten und ich den Studenten zum Beispiel die Vorteile der sozialistischen Architektur im Vergleich zur kapitalistischen hätte darlegen können. Ich bin sprachlos. Der Unterricht mit den Abendstudenten bringt mir mehr Genugtuung. Mit ihnen ist es manchmal richtig gemütlich, weil es im Saal ihrer nicht 180 bis 200, sondern nur 25 bis 30 sind und ich mich beim Sprechen nicht so sehr anzustrengen brauche. Es sind erwachsene Leute, die Bautechnikums oder Berufsschulen besucht und praktische Erfahrungen gesammelt haben. Sie sind am Unterricht wirklich interessiert und nehmen lebhaft an ihm teil. Als wir die Besonderheiten der Gestaltung von Gebäuden für die seismischen Regionen Südkasachstans durchnehmen, werde ich ge-
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fragt, was eigentlich ein schaukelndes Fundament sei und wie seine Konstruktion aussehe. Einmal habe ich einen kurzen Bericht über Experimente mit schaukelnden Fundamenten gelesen, dem aber keine Grafik beigefügt war. Ich verspreche den Studenten, mich über die Konstruktion zu informieren und im nächsten Unterricht darauf zurückzukommen. Am nächsten Tag werden mir vom Dekan der Baufakultät, auf dessen Anregung ich in dieses Institut gekommen und mit dem ich eigentlich befreundet bin, Vorwürfe gemacht. »Wie konnten Sie, Adina Petrowna, den Studenten nur sagen, dass Sie etwas nicht wissen! Das ist ja unerhört! Die Studenten müssen immer den Eindruck haben, die Dozenten wüssten alles, obwohl niemand alles wissen kann. Sie hätten sagen können, die Zeit sei zu knapp, um auf diese Frage einzugehen!« Ich rechtfertige mich: »Das sind erwachsene Leute. Weshalb sollte ich ihnen vormachen, ich sei ein Genie, wo ich es doch nicht bin? Warum soll ich in der Vorlesung ununterbrochen von oben auf die Studenten einhämmern, wenn sie sich auf andere Weise besser am Unterricht beteiligen können und so wenigstens nicht einschlafen. Sie kommen doch abends nach der Arbeit in den Unterricht und sind müde.« Er schüttelt empört den Kopf: »Ich kann solche Methoden nicht akzeptieren. Und niemand wird sie je akzeptieren. Der Dozent ist dazu da, um von oben auf die Studenten einzuwirken. Eine Vorlesung ist ein Monolog und kein Dialog!« »Woher wissen Sie überhaupt, wie und worüber ich mich mit den Studenten unterhalte?«, besinne ich mich plötzlich. »Na hören Sie mal, so etwas spricht sich doch herum ...« »Ja? Wirklich?! Aber ich erfahre nicht, worüber Sie oder andere Dozenten im Unterricht sprechen. Woran liegt das?« Er wird verlegen: »Machen Sie kein Theater. Überprüfen Sie sorgfältig Ihre Unterrichtsmethoden ... « »Was ist da zu überprüfen? Ich weiß nicht, was man an mir auszusetzen hat. Die einen verlangen, ich soll in jedem Unterricht mein
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politisches Bewusstsein zum Vorschein bringen. Sie wiederum verlangen, dass ich mit den Studenten in keinerlei Kontakt trete. Ich finde, dass von mir Unmögliches erwartet wird ...« »Ja und mit Ihren Kollegen am Lehrstuhl sollten Sie sich nicht beraten, sondern Sie sollten sie anführen und leiten. Verstehen Sie?«, unterbricht er mich. »Ein kollegialer Führungsstil ist hier nicht angebracht. Verhalten Sie sich lieber autoritär!« Irgendwie hat er recht. Die Lehrkräfte am Lehrstuhl für Architektur sind mangelhaft ausgebildet, vier von ihnen haben vor ein bis zwei Jahren an diesem Institut ihre Ausbildung beendet und einer – der einzige Kasache – hat in Leningrad Architektur studiert. Von meinen vier jungen Kolleginnen und Kollegen sind drei Russen und eine ist Deutsche, die einen Russen geheiratet hat. Sie sind sich uneinig, es gibt unentwegt Streit zwischen ihnen, sie werfen sich gegenseitig Faulheit vor, beklagen sich bei mir übereinander und tun doch so, als wären sie die besten Freunde. Außerdem schikanieren die Russen den Kasachen wegen seiner mangelhaften Kenntnisse der russischen Sprache. Er spricht mit Akzent und wird von den anderen nicht ernst genommen, sondern nachgeahmt, ausgelacht und beleidigt. Ich nehme ihn in Schutz, versuche auch den anderen gerecht zu werden, aber das Ganze stinkt mir gewaltig. Im Frühjahr 1973 sitze ich mit acht anderen Dozenten in der Prüfungskommission, vor der die Studenten ihre Diplomarbeiten verteidigen. Zu der Kommission gehören nur zwei Frauen: Jelena Pawlowna Worotjagina, Inhaber des Lehrstuhls für Geodäsie und ich. Bei der Verteidigung sitzen wir nebeneinander. Diese einfache, redselige Russin sucht mich öfters im Arbeitsraum des Lehrstuhls auf und dann plaudern wir über die Unterrichtsmethoden oder auch über private Angelegenheiten. Eines Tages, als der Vorsitzende der Prüfungskommission – der Direktor des größten Projektinstituts dieser Stadt – nicht erscheint, und die Verteidigung von seinem Stellvertreter, dem Inhaber des Lehrstuhls für Konstruktion, Genosse Oroschilow, geleitet wird, erlebe ich etwas ganz Seltsames. Wir prüfen mehrere Fernstudenten,
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die zwar gute Bauzeichnungen aushängen und auch eindrucksvolle erklärende Begleitschriften vorlegen, aber keine Fragen zu ihren Arbeiten beantworten können. Irgendwie ähneln sie sich alle: Es sind große, solide Russen mit einer frechen, herrischen Haltung und leeren, ausdruckslosen Augen. Es ist hoffnungslos, von ihnen irgendwelche vernünftigen Antworten selbst auf die einfachsten Fragen zu bekommen. Ich bin überrascht und vergebe die ersten schlechten Noten. Als alle zehn für den heutigen Tag vorgesehenen Verteidigungen beendet sind und die Kommissionsmitglieder sich zu beraten beginnen, spricht der Vorsitzende barsch auf mich ein: »Sie können diesem Genossen doch keine schlechte Note geben! Er ist seit zehn Jahren in Kokschetau Bauinstruktor im Gebietskomitee der Partei! Sie würden mit dieser schlechten Bewertung die Autorität der Parteiorgane untergraben.« »Soll dieser Genosse sich doch bemühen, eine gute Note zu bekommen, um nicht selbst die Autorität der Parteiorgane zu untergraben. Von mir aus kann er seit 30 Jahren Bauminister sein. Wenn er von der Architektur keinen blassen Schimmer hat, bekommt er bei mir keine gute Zensur.« Während dieser Auseinandersetzung merke ich, wie Worotjagina die von ihr notierten schlechten Noten in Geodäsie in Dreier verbessert, so dass all diese Parteihengste doch noch die rettende Durchschnittsnote bekommen. Damit ist die mündliche Prüfung der Absolventen für heute beendet. Nach der Mittagspause prüfe und korrigiere ich in meinem Arbeitszimmer irgendwelche Zeichnungen. Da überstürzen sich die Ereignisse. Genosse Oroschilow, der heutige Vorsitzende der Prüfungskommission, stürmt herein und droht mir: »Wenn Sie so weitermachen, Adina Petrowna, werde ich dafür sorgen, dass alle 28 an ihrem Lehrstuhl zu diplomierenden Studenten bei der Verteidigung durchfallen.« Ich kann seine Wut nicht verstehen. »Warum liegen Ihnen diese Faulenzer so am Herzen, als wären es Ihre Söhne? Als ob Sie ihnen gegenüber persönliche Verpflichtungen
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hätten? Sollen die Studenten doch lernen. Ich habe ja nicht vor, Sie, Genosse Oroschilov, persönlich zu verletzen. Und was meine 28 Diplomanden betrifft, so muss ich Sie enttäuschen: 10 von ihnen haben die Verteidigung hinter sich und keiner ist durchgefallen. Die Zensuren sollen gerecht sein. Jeder soll bekommen, was er verdient.« »Sie haben sich heute Feinde gemacht! Diese Männer haben solchen Einfluss, solche Beziehungen! – Die sind sogar mit der Unterwelt verbunden, mit den Kriminellen! Sie haben doch eine kleine Tochter? Was wäre, wenn ihr etwas zustoßen würde?« »In diesem Ton können Sie mich nicht beeinflussen! Aus Respekt vor Ihren grauen Haaren wollte ich eigentlich nicht unhöflich werden. Jetzt aber zwingen Sie mich leider dazu: Verschwinden Sie – sofort!« Als ich dann so ganz allein dasitze und nachgrüble, kommt der Dekan herein, sieht sich verlegen um und sagt ohne jegliche Einführung: »Vertrauen Sie der Worotjagina nicht!« Ich richte verwundert meine Augen auf ihn. In diesem Augenblick betritt die Worotjagina den Raum. Der Dekan Milowidow zuckt nur mit den Schultern und geht zur Tür. »Was wollte denn Milowidow hier?«, fragt sie erstaunt. »Wieso hat er Sie aufgesucht?« Es ist alles so überraschend, dass ich keine Zeit habe zu überlegen und sage: »Ich weiß nicht, wieso er zu mir gekommen ist. Offenbar nur, um mir zu sagen, dass man Ihnen nicht trauen darf.« Eben habe ich diese Worte ausgesprochen, und schon tut es mir furchtbar leid, als ich sehe, wie sie bleich wird und schwankt. »Wieso ... darf man mir ... nicht trauen?«, stammelt sie. »Ach, setzen Sie sich doch, Jelena Pawlowna. Ich denke, Oroschilow hat sich beim Dekan über mein unmögliches Benehmen bei der heutigen Verteidigung beklagt«. Ich erzähle ihr von Oroschilows Besuch und seinen Drohungen. Sie kann sich aber nicht beruhigen, kommt immer wieder auf den Dekan zu sprechen, und fragt dann ohne sichtlichen Zusammenhang, war-
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um ich mit meiner Familie überhaupt nach Pawlodar gekommen sei und wo wir vor hätten, den bevorstehenden Urlaub zu verbringen. Wir gehen hinaus und setzen uns auf eine Bank. Da kommt ein Kandidat der technischen Wissenschaft auf uns zu, der Bodenmechanik unterrichtet. Er wird von seinen Kollegen und auch von der Leitung des Instituts nicht ernst genommen – wegen seiner Trunksucht. Auch jetzt ist er stark angetrunken, schwankt und torkelt. Seine Zunge gehorcht ihm nicht und er lallt: »Ihr zwei habt dem Oroschilow sein ganzes Geschäft verdorben.« Er erhebt drohend einen Zeigefinger. »Das Geschäft ist immer gut gelaufen und ihr habt alles versaut ... Der Papa hat aus dem Archiv Diplomarbeiten geholt, sein Sohn und sein Neffe haben sie überarbeitet und an zuverlässige Fernstudenten, an Kommunisten in sicherer Position für zwei- bis dreihundert Rubelchen verschachert! Papa garantierte eine reibungslose Verteidigung ohne große Anstrengungen. Und jetzt kann Papa nichts mehr garantieren und es wird sogar Geld zurückverlangt. Ha, ha! Und alles nur wegen zwei so hübschen Damen ...« »Schon gut. Gehen Sie jetzt lieber schlafen. Es ist nicht gut, wenn die Studenten Sie so sehen!«, sage ich, aber er gehorcht nicht. »Du tust mir besonders leid ... Du bringst Sand ins Getriebe und verstehst nicht, was hier gespielt wird. Alle werden bespitzelt – alle! Das kotzt mich an! Du bist anders ... dich werden sie herausekeln ... Es kotzt mich an! Aber ich liebe alle, alle – die ganze Welt.« Er taumelt die lange Pappelallee entlang. »Ich habe ihn noch nie nüchtern gesehen«, sagt Worotjagina. »Warum man ihn überhaupt noch hält?! - Vielleicht, weil nicht so einfach ein anderer Fachmann für Bodenmechanik zu finden ist?« Gleich in den ersten Tagen meiner Anwesenheit hier hat man mir den Posten der ehrenamtlichen Vorsitzenden des wissenschaftlichtechnischen Vereins aufgebrummt. Nun bin ich damit beschäftigt, Beiträge zu sammeln und die Herausgabe eines wissenschaftlichen Sammelbandes vorzubereiten. Schließlich gehen mehr Beiträge ein als nötig und ich weiß nicht, für welche ich mich entscheiden soll.
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Über diese Frage will ich mich mit dem Dekan beraten. Nach dem Unterricht sehe ich ihn aus einem Unterrichtsgebäude ins andere gehen. Er sieht mich nicht, wie mir scheint, und ich rufe ihn beim Namen. Doch ... er hört mich nicht ... Oder will er mich nicht sehen und hören? Ich wundere mich und kann sein Benehmen nicht verstehen. Zwei Tage später drängen sich mehrere Dozenten vor der Anschlagtafel. Auch ich bleibe stehen und höre wie eine Stimme die Bekanntmachung vorliest: » ... Genosse Milowidow wird von den Kandidaten der KPdSU ausgeschlossen und auch seines Dekanpostens enthoben ...« Gründe werden nicht genannt, wir bekommen einfach einen neuen Dekan. Doch mir geht ein Licht auf! Ich glaube, die Gründe zu kennen ... und die Schamröte schießt mir in die Wangen. »Oroschilow, Worotjagina – sie haben mich aufs Glatteis geführt! Die Parteiethik ...«, in Panik laufe ich davon. »Ich habe mich verstrickt ... Ich bin zum Verräter geworden ... zum Handlanger. Dem KGB ist es bitter ernst, der kennt keinen Spaß, hat keinen Humor.« Zweimal versuche ich, mit Milowidow ins Gespräch zu kommen, ihm die Situation und die Zusammenhänge zu erklären, und ihn um Verzeihung zu bitten. Doch er lehnt jedes Gespräch ab und geht mir konsequent aus dem Weg. Ja, Schaden macht klug, aber nicht reich – diesen Freund habe ich aus purem Leichtsinn verloren. Leider lässt sich daran nichts mehr ändern. Jochen will seinen Vater in der Bundesrepublik Deutschland besuchen und stellt einen entsprechenden Antrag. Ein halbes Jahr später bekommt er eine Absage und einen weiteren Monat später kommt unser zweites Kind, unser Sohn Alexander, zur Welt. Dieses Kind macht mir in der Schwangerschaft und bei der Niederkunft weniger Probleme als mein Erstling, und so verbringe ich im Entbindungsheim nur sechs Tage. Wir sind neun Frauen in einem Krankensaal: zwei Deutsche, zwei Kasachinnen, eine Zigeunerin und vier Russinnen.
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Für jeweils zwei benachbarte Betten gibt es ein gemeinsames Nachtkästchen. Dadurch kommen sich zwei Frauen über den Bogen. Eine Russin kreischt ihre kasachische Nachbarin an: »Du stinkende Kalbitka, leg deine Sachen nicht auf mein Regal!« Die Kasachin ist auch nicht auf den Mund gefallen und gibt zurück: »Wenn wir Kasachen stinken, warum hast du dann einen Kasachen geheiratet? Dich hat wohl kein Russe haben wollen?! Warum lebst du in Kasachstan? Geh doch in dein Russland!« Sie geraten sich wie zwei Furien in die Haare. Die anderen Frauen gehen dazwischen. Dann ist es Zeit, die Kinder zu füttern: Wir bereiten uns vor und sitzen da, mit einer Mullmaske vor Nase und Mund, mit entblößten gewaschenen Brüsten und sauberen Händen. Eine nach der anderen bekommt ihr Baby in die Arme gedrückt und beschäftigt sich mit ihm. Jetzt entsteht eine ruhige, halblaute Unterhaltung. Es stellt sich heraus, dass keine der vier russischen Frauen einen russischen Mann hat. Zwei von ihnen sind mit Kasachen verheiratet, die Dritte mit einem Tataren und die Vierte mit einem Deutschen. Die Frage nach dem »Warum?« steht jetzt zur Diskussion. »Wir sind keine Nationalisten. Ist doch egal, wen eine jede von uns heiratet. Unsere Familien sind doch immer Russisch!«, sagt eine. »Lieber heirate ich einen ordentlichen Fremden als einen trinkenden Russen«, meint eine andere. »Wir, die russischen Frauen, sind die Hauptstütze des ganzen Systems«, behauptet die Dritte stolz. »Für die Volkswirtschaft sind wir unentbehrlich. In der Familie spielen wir die Hauptrolle, indem wir den Haushalt führen und die Kinder erziehen. Das gesamte Erziehungssystem und das Gesundheitswesen sind in unseren Händen.« »Wie können Sie das behaupten, wo doch so viele Frauen anderer Nationalitäten in den entsprechenden Berufen beschäftigt sind? Es sind eben Frauenberufe!«, weiß die deutsche Frau, eine Lehrerin, einzuwenden.
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»Natürlich sind es Frauenberufe, aber wir Russinnen bilden doch den Grundstock, wir sind das führende und tragende Element. Ohne uns geht es nicht. Die Volksminderheiten sind politisch unreif, sie müssen erzogen werden!« »So, so!«, denke ich. »Sie sind sich ihrer Mission sehr wohl bewusst.« Ich bin unendlich müde vom ewigen Bespitzeltwerden sowie vom ständigen Sich-in-Acht-nehmen und koste daher meinen Mutterschaftsurlaub aus. In einer komfortablen Wohnung mit fließendem kalten und heißen Wasser ist es ein richtiger Genuss, ein Baby zu haben. Ich würde gerne eine Zeit lang nur Frau und Mutter sein und mich vom Berufsleben erholen. Aber das kommt nicht in Frage, denn von Jochens Gehalt allein können wir nicht leben. Nach dem Mutterschaftsurlaub trete ich meinen Dienst wieder an. Jochen stellt erneut einen Antrag auf Besuch des Vaters in der Bundesrepublik. Monate vergehen. Noch bevor er irgendeine Antwort auf seinen Antrag bekommt, trifft die Nachricht von Jochens Schwester aus Deutschland ein, sein Vater sei gestorben. Seit seinem 12. Lebensjahr hat Jochen den Gedanken gehegt, seinen Vater einmal wiederzusehen. Jetzt bleibt ihm nur noch die Hoffnung, zu seinem Begräbnis fahren zu dürfen. Ich begleite ihn zur Verwaltung des Inneren, um einen entsprechenden Antrag zu stellen. Ich muss die schriftliche Erklärung abgeben, dass ich mit seiner Fahrt einverstanden bin. Uns wird versprochen, dass die Angelegenheit in kürzester Zeit erledigt werde. Er solle in drei Tagen wieder vorbeischauen. Nach drei Tagen heißt es wieder in drei Tagen, dann wieder in drei Tagen und so weiter. So vergehen zwei Wochen. Dann wird meinem Mann gesagt, zu fahren habe keinen Sinn, zur Bestattung werde er doch schon zu spät kommen. Jetzt verliert Jochen jegliche Kontrolle. Ich habe ihn noch nie so toben sehen. Er brüllt den fetten Kasachen, den Oberst Mametbekow, so an, dass der erschrocken zusammenzuckt: »Schweinehunde! Ihr habt die Entscheidung mit Absicht so lange herausgezögert, bis es zu spät war! Ich fühle mich wie ein Hund an der
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Kette! Ich ersticke! ... in euren eisernen brüderlichen Umarmungen! Ihr seid keine Menschen, sondern wilde Tiere. Ich hasse euch! Und werde euch immer hassen, solange ich lebe!« Mein Mann, der viel trinkt und oft weint, bäumt sich plötzlich mit einer so gewaltigen Kraft auf, dass ich ihn nicht wiedererkenne. »Bitte, reiß dich zusammen! Du weißt doch, mit wem wir es zu tun haben. Die werden dich verhaften und mich mit den Kindern aus der Wohnung werfen, wie meine Mutter anno 1937«, versuche ich ihn zu beruhigen. Ich sage es Deutsch, damit der Oberst mich nicht versteht. Unser Alexander weint auf meinen Armen und sein Heulen bringt Jochen zur Besinnung. Mein Mann schweigt mehrere Tage lang bedrückt, dann erklärt er mir, er könne so einfach nicht mehr weiterleben. Den einzigen Ausweg sehe er im Kampf um die Ausreise. Und sollten wir in diesem Kampf zugrunde gehen, so sei es immer noch besser, als so weiterzuleben. »Wer hat gesagt: Lieber stehend sterben, als auf Knien leben?«, fragt er mich. Jochen, für den ich immer die Stärkere sein muss, hat plötzlich ein klares Ziel, dem er sich mit aller Kraft widmet. Und so gefällt er mir.
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Erziehungsfragen
In der Stadt Pawlodar leben etwa 28.000 bis 30.000 Deutsche, die überall anzutreffen sind. Obwohl die Deutschen hier als gewissenhafte Arbeitskräfte hochgeschätzt sind, ist es für sie nicht leicht, sich unter den hier gegebenen Umständen als Deutsche zu behaupten und ihre Mentalität und Sprache zu bewahren. Deutsche Schulen gibt es nicht. Der »muttersprachliche Deutschunterricht« soll dem Gesetz nach allen deutschen Schulkindern zuteil werden. In Wirklichkeit gibt es ihn aber nur in Siedlungen, in denen die deutsche Bevölkerung die Mehrheit bildet. So gibt es im Gebiet Pawlodar, wo etwa 81.500 Deutsche leben, zwei Dörfer, deren Bevölkerung zu mehr als 80 Prozent aus Deutschen besteht. Nur in diesen zwei Dörfern, in denen es insgesamt ca. 7.000 Deutsche gibt, findet ab der 2. Klasse der »muttersprachliche Deutschunterricht« mit zwei Unterrichtsstunden pro Woche statt. Dies bedeutet, dass nur etwa 8 Prozent aller deutschen Schulkinder an diesem Unterricht teilnehmen können. Außerdem sind zwei Wochenstunden viel zu wenig, um die Muttersprache richtig zu beherrschen. Da aber die Sprache das wichtigste Instrument für die nationale Selbstbehauptung ist, sind die Deutschen darauf angewiesen, sie im engsten Familienkreis zu erlernen und zu gebrauchen. In der Stadt gibt es eine Spezialschule mit erweitertem Fremdsprachenunterricht. Solche Schulen gibt es außerdem in Zelinograd, in Aktjubinsk und vermutlich auch in anderen Städten Kasachstans. Diese Spezialschulen sind keineswegs für Kinder deutscher Nationalität gedacht, sondern für Kinder der herrschenden Schicht, der Elite, die in Zukunft gehobene und auserwählte Berufe ergreifen sollen, für die gute Kenntnisse in einer Fremdsprache erforderlich sind. Ein deutsches Kind kann nur ausnahmsweise durch die gehobene Stellung seiner Eltern oder deren Beziehungen in eine solche Schule kommen. Und wenn die Eltern es geschafft haben, ihr Kind
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dort unterzubringen, dann kommt es »zufällig« in eine Klasse, in der nur Englisch oder Französisch als Fremdsprache unterrichtet wird. Der Sohn meiner Freundin besucht die Spezialschule in Aktjubinsk, wird dort aber nicht in Deutsch, sondern in Englisch unterrichtet. In Pawlodar kenne ich einen Fall, in dem ein Schüler nur deshalb in eine Klasse mit Deutschunterricht versetzt wurde, weil sein Vater – ein Mediziner mit Namen, Stellung und Verbindungen – ein entsprechendes Gesuch an den Direktor richtete, seine ganze Autorität ins Spiel brachte und erklärte, er könne seinem Sohn Nachhilfeunterricht in Deutsch erteilen und in Englisch leider nicht. Besagte »Zufälle« sind ganz offensichtlich die Regel, denn ich erinnere mich, in der deutschsprachigen Zeitung »Freundschaft« einen Artikel unter dem Titel »Warum lernt Rudolf Schwarz Französisch?« gelesen zu haben. Na, warum wohl? - Da die deutsche Klasse überfüllt ist, muss natürlich ausgerechnet der einzige Deutsche in eine Klasse mit Französischunterricht eingeteilt werden. »Ist doch egal«, heißt es als Begründung und Entschuldigung. »Wir sind objektiv – uns ist es egal, welcher Schüler in welche Klasse kommt ... Die Kinder sind doch alle gleich ...« Ganz »egal« und »gleich« ist das Ganze scheinbar doch nicht. So verliert die jetzige Generation der Deutschen zwangsläufig ihre Muttersprache und ist der zunehmenden Assimilierung ausgesetzt. Durch Mischehen nimmt die Zahl der Deutschen ab. Aus einer privaten Auszählung in meinem Familien- und Bekanntenkreis ist Folgendes zu ersehen: Unter 83 geschlossenen Ehen gibt es 15 Mischehen, was 18 Prozent entspricht, wobei auf dem Lande von 39 Ehen nur 2 Mischehen sind, also etwa 5 Prozent, während in der Stadt bei 44 Ehen der Anteil der Mischehen 13 beträgt und somit knapp 30 Prozent ausmacht. Bei den Mennoniten sind Mischehen selten (2 von 28, also nur wenig mehr als 7 Prozent), während sie bei anderen Konfessionen häufiger vorkommen (13 von 55, das heißt ca. 24 Prozent). Natürlich ist eine Auswahl von 83 Ehen aus einer Population von zwei Millionen Menschen nicht repräsentativ, jedoch lassen die genannten Zahlen gewisse Tendenzen erkennen.
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Die ersten drei Jahre meines Aufenthaltes in Pawlodar bin ich Inhaberin eines Lehrstuhls und unterrichte im industriellen Institut an der Baufakultät Architektur. Ich habe dort täglich mit Studenten zu tun und erziehe überdies meine eigenen Kinder. Dadurch werde ich in besonders hohem Maß mit Erziehungsfragen konfrontiert. Der »richtigen Erziehung« der Jugend wird in der UdSSR sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das heißt nichts anderes, als dass man das »System der Volksbildung« in ein »System der Volksverdummung« verwandelt hat. Im Eifer der patriotischen Erziehung nimmt eine Sportlehrerin, eine wahre Kommunistin, in den Winterferien 30 der erfolgreichsten Schüler aus den 6. und 7. Klassen zu einer Skiexkursion durch die »Lenin-Stätten« mit. Sie fahren mit dem Zug bis Uljanowsk an der Wolga, wo der mehrtägige Skiausflug beginnen soll. Die Lehrerin hat die Kräfte und den Orientierungssinn der Kinder überschätzt, einfach auf gutes Wetter gehofft, die Sache schlecht organisiert und so wird die Exkursion zur Katastrophe. Während die Kinder unterwegs sind, kommt ein starker Wind auf. Die Gruppe fährt einen steilen Hang hinunter auf das Eis der Wolga, in der Hoffnung, hier vor dem Wind geschützt zu sein und schneller voranzukommen. Doch auf dem Fluss ist ihnen die Sicht auf die Umgebung verdeckt und so verfehlen sie ihr Ziel, eine am hohen Ufer liegende Siedlung. Es wird Abend. Die Temperatur sinkt, die Kinder sind erschöpft und nirgends ist eine Spur von einer menschlichen Behausung zu sehen. Jetzt ist ihnen klar, dass sie sich verlaufen haben. Sie machen Rast. Ihnen steht eine Nacht auf dem Eis bevor, wozu ihre Kleidung nicht geeignet ist. Zwei der Kinder arbeiten sich mühsam den steilen Hang hinauf und machen sich auf den Weg, um Hilfe zu suchen. Sie haben Glück und stoßen auf die Hütten von Waldarbeitern. Um 4 Uhr in der Früh werden die Kinder mit Lastautos vom Eis der Wolga abgeholt. Allerdings kommt die Hilfe für manche von ihnen zu spät: Ein Mädchen ist an Unterkühlung gestorben und alle anderen, auch der Sohn der Sportlehrerin, haben gefährliche Erfrierungen an Händen, Füßen und im Gesicht. Die Kinder ver-
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bringen viele Tage im Krankenhaus, bis sie schließlich nach Hause kommen. In der örtlichen Zeitung erscheint ein Artikel, der das traurige Ereignis ins »rechte« Licht rückt. Er schildert, wie tapfer unsere junge Generation unerwartete Schwierigkeiten meistere, wie selbstlos die jungen Pioniere seien, wie diszipliniert sie alle gehandelt und wie gut sie sich umeinander gekümmert hätten. Die Mutter eines Jungen, der auch dabei war und schlimme Erfrierungen davongetragen hat, erzählt an ihrem Arbeitsplatz: »Mein Sohn hat diesen Artikel gelesen und gefragt, ob die Zeitungen grundsätzlich nicht die Wahrheit drucken dürften. Es sei doch in Wirklichkeit ganz anders gewesen: Geweint und geheult hätten sie vor Todesangst. Ein jeder sei in der Dunkelheit irgendwohin gekrochen, nur um sich zu bewegen und nicht zu erfrieren. Die Waldarbeiter hätten die Kinder in einem Umkreis von einem Kilometer aufgelesen. Die meisten von ihnen seien bewusstlos gewesen und hätten im Krankenhaus vor Schmerz gebrüllt, als ihre erfrorenen Ohren und Gliedmaßen massiert wurden und sich zu erwärmen begannen. Ein großer Schock sei das Ganze für sie alle gewesen. Eine Schülerin sei ja nun tot und mehreren Kindern habe man Zehen und Finger amputieren müssen. Er hat mich gefragt, warum ... warum man nicht die Wahrheit schreibe, sondern eine so böse Lüge verbreite. Ja, was hätte ich ihm darauf sagen sollen?! Ich weiß ja selbst nicht warum ...« Von klein auf werden die Kinder belogen und lernen auch selbst zu lügen. Die Erziehung ist durchweg antireligiös und ausgesprochen fremdenfeindlich. Den Kindern soll auf keinen Fall selbständiges und kritisches Denken anerzogen werden. Sie werden zu bedingungslosem Gehorsam gedrillt – zuerst gegenüber den Pionier- und Komsomol- Organisationen sowie den Lehrern, und dann gegenüber der Partei, den Vorgesetzten, der Obrigkeit und der Regierung. So wachsen geistige Sklaven heran, die unfähig sind, in irgendwelchen Fragen eine eigene Meinung zu haben und zu vertreten. Der Hass auf andere Völker, insbesondere auf die Deutschen, wird auf allen Ebenen des Bildungs- und Erziehungssystems ständig ge-
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schürt. Den Deutschen werden alle möglichen und unmöglichen Verbrechen in die Schuhe geschoben. Im Kindergarten erklärt die Erzieherin den Kindern, darunter auch meiner 4-jährigen Tochter: »Die Deutschen sind unsere Feinde, denn eine von ihnen, Fanny Kaplan, hat unseren Opa Lenin erschossen.« Zum einen war die Attentäterin eine Jüdin, und zum anderen hatte das Attentat nichts mit ihrer Nationalität oder Konfession, sondern nur mit ihrer politischen Überzeugung zu tun, denn sie gehörte einer Partei an, die den Kommunisten Feind war. Aber die Erzieherin meint es ernst und ehrlich, weil sie selbst keine anderen Informationen bekommen hat. Sie ist auch belogen worden und belügt jetzt die Kinder. So wird die Geschichtsfälschung aufrechterhalten. In unserem Wohnhaus leben wir mit zwei anderen Familien Tür an Tür – einer kasachischen und einer russischen. In jeder Familie gibt es ein Mädchen und einen jüngeren Buben, so dass Kontakte mit diesen Familien unvermeidlich sind. Die beiden Frauen arbeiten in demselben Institut, wo auch ich beschäftigt bin. Edith spielt oft mit den Mädchen und geht auch mit ihnen in den Kindergarten. Mit der Kasachin Elmira ist sie in einer Gruppe. Die Russin Lera ist zwei Jahre älter. Einmal holen meine russische Nachbarin und ich zusammen unsere Kinder ab. Da fragt die Nachbarin meine Tochter: »Edith, woher hast du diese schönen warmen Stiefel? Hat deine Mama sie dir gekauft?« »Nein. Diese Stiefel hat mir mein Opa aus Deutschland geschickt«, antwortet meine Tochter. »Dein Opa ist ein Faschist!«, sagt Lera, das Russenmädchen. Ihre Mutter lächelt schweigend. »Lera, wieso meinst du, dass unser Opa ein Faschist ist?«, frage ich das Kind. »Weil in Deutschland die Faschisten leben«, erwidert die Kleine und ihre hochgebildete Mutter weist sie nicht zurecht und hat auch nichts zu erklären. Zwei Jahre später, während Edith noch immer im Kindergarten ist, besucht Lera schon die zweite Klasse Grundschule. Sie spielen
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trotzdem nach wie vor gerne zusammen. Als Lera wieder einmal bei uns zu Besuch ist, sage ich am Mittagstisch: »Schau mal Edith, wir haben so schönes frisches Brot. Du musst die Suppe mit Brot essen!« »Mama, sag nicht Brot! Sag Chleb. Brot ist ein schlechtes Wort«, antwortet Edith mir auf Russisch. Es stellt sich heraus, dass Lera ihr aus einem Lesebuch für die 2. Klasse ein Gedicht von Sergej Michalkow vorgelesen hat: »Njet! – skasali my faschistam, »Nein! – sagten wir den Faschisten, ne poterpit nasch narod, unser Volk lässt das nicht zu, tschtoby russkij chleb duschistyj dass das russisch duftende Chleb nasywalsja slowom ›Brot‹. mit dem Wort ›Brot‹ bezeichnet wird. Ne opischesch w etoj byli In dieser wahren Geschichte wsech bojöw kakije byli. können nicht alle Kämpfe beschrieben werden. Nemzew bili tam i tut, Wir schlugen die Deutschen hier und da, kak pobili – tak saljut!« nach dem Sieg – gab es Salut!« Die Deutschen werden mit dem Faschismus identifiziert und die deutsche Sprache wird verteufelt, weil sie die Sprache der Faschisten war. Als meine Tochter in die 1. Klasse geht, erklärt die Lehrerin im Politunterricht: »Ihr habt die schönste Kindheit, die man sich vorstellen kann. Eure Altersgenossen in Deutschland, Frankreich und Italien können nicht lernen, weil sie arbeiten müssen, um ihre arbeitslosen Eltern zu unterstützen. Und viele Menschen sterben in diesen Ländern vor Hunger.«
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Ihr ist nicht klar, dass ihre Aussage falsch ist. Sie weiß es nicht besser, denn sie glaubt den sowjetischen Zeitungen. Sie hat nie die Möglichkeit gehabt, in den Westen zu reisen und mit eigenen Augen zu sehen, wie die Leute dort leben. Jochen und Edith sind vor zwei Monaten in Sotschi gewesen, wo sie sich mit Verwandten aus der Bundesrepublik Deutschland getroffen haben. Von Haus aus nie zur Lüge angehalten und auch nicht auf den Mund gefallen, platzt Edith heraus: »Aber meine Tante lebt in Deutschland gut. Sie arbeitet, hat ein eigenes Haus und auch ein Auto. Meine Cousinen gehen zur Schule und lernen ...« »In welchem Deutschland leben denn deine Verwandten?«, wird sie von der Lehrerin überrumpelt. »Ich ... ich weiß nicht«, stammelt die Kleine. »Aber sie leben gut. Sie haben uns so viele schöne Geschenke mitgebracht!« »Dann leben sie also in der Deutschen Demokratischen Republik. Ihr müsst wissen, Kinder, dass es zwei deutsche Staaten gibt. In dem einen, in der DDR, regieren die guten Deutschen – die Werktätigen, die Arbeiter und Bauern. Und im anderen Deutschland, in der FRG, da herrschen die Kapitalisten und Militaristen. Dort geht es dem Volk sehr schlecht.« Im nächsten Schuljahr wird Edith eines Tages während des Politunterrichts der Klasse verwiesen und nach der Mutter geschickt. Ich soll jetzt also mit meiner Tochter in die Schule kommen. »Na, was ist denn passiert? Was hast du gemacht?«, will ich wissen. »Nichts habe ich gemacht. Aber ich mag die Lehrerin nicht, weil sie lügt. Immer sagt sie, alles Gute sei russisch, und alles Schlechte deutsch. Sie lügt! Sie lügt!«, schluchzt sie. Ich gehe in die Schule und unterhalte mich mit der Lehrerin, die mich regelrecht überfällt: »Wie erziehen Sie eigentlich Ihre Tochter? Es ist unerhört, was die hier von sich gibt!« »Was gibt sie denn von sich? Erzählen Sie es mir von Anfang an«, bitte ich.
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»Ich erkläre den Kindern, dass unser Land von Feinden umringt sei, die amerikanischen und deutschen Militaristen wie die Geier über uns kreisen und zu jeder Zeit bereit seien, uns zu überfallen. Deshalb müsse unser Land sich rüsten und bereit sein, nötigenfalls Widerstand zu leisten. Wir seien ein friedliches Land. Unser Volk habe noch nie jemanden überfallen. Da fällt mir Ihre Tochter ins Wort und sagt: Wieso schimpfen Sie immer über die Deutschen? Ihr Russen habt im Kaukasus 25 Jahre lang gekämpft, bis ihr ihn besiegt habt. Die Ohren welken einem, wenn man so etwas hört! Und sie sagt es laut mit ihrem Silberstimmchen. Ich erkläre ihr, dass das nicht stimme, aber sie bleibt hartnäckig: Ihre Mama habe das gesagt und die wisse es genau.« »Ja und? Das stimmt doch! Der Kaukasische Krieg dauerte 25 Jahre und das Ergebnis war die Unterwerfung der Kaukasier. Weshalb welken Ihre zarten Ohren? Was empört Sie an diesem Vorfall? Dass die Silberstimme die Wahrheit sagt?« »Woher haben Sie denn solche Information? Die Kaukasier hatten den russischen Zaren um Hilfe, um Schutz vor den Türken gebeten. Sie schlossen sich dem Zarenreich freiwillig an!«, erklärt sie. »Ja, nachdem sie 25 Jahre lang um ihre Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft hatten!«, falle ich ihr ins Wort. »Die kaukasischen Völker waren ausgeblutet, ergaben sich schließlich, baten um Hilfe, Schutz und Gnade. Als Sie und ich noch Schulkinder waren, haben wir es doch so gelernt. Haben Sie denn die Geschichte vergessen? Als Grundschullehrerin kennen Sie aber sicher die Kinderliteratur. Erinnern Sie sich an Puschkins Märchen von der toten Prinzessin und den sieben Recken? Puschkin schreibt: Die Recken-Brüder reiten aus, um Enten zu schiessen, den Sorotschin vom Pferd zu reißen, den Tataren zu köpfen oder den Tscherkessen aus dem Wald zu hetzen«. Ich sage diesen kurzen Abschnitt auf und frage die Lehrerin: »Worüber schreibt Puschkin? Was machen die russischen Heldenbrüder im Kaukasus? Sammeln sie vielleicht Pilze? Nein! Sie vergnügen sich damit, dass sie die Kaukasier verfolgen.« Sie lacht: »Ach, Puschkin! Das ist doch nur ein Märchen ...«
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»Gut. Und was ist mit Leo Tolstojs Erzählung ›Kaukasischer Gefangener‹? Wieso hielten die Kaukasier Shilin und Kostylin gefangen, wenn die Russen mit ihnen nicht Krieg führten, sondern sie vor den Türken schützten? Seltsam, nicht wahr? Sie steckten ihre Beschützer in einen tiefen Brunnen. Sie wollten von ihnen offenbar nicht beschützt werden!« »Nun, ich will mit Ihnen nicht streiten. Ihre Einstellung zu diesem Thema ist klar. Aber vergiften Sie mit Ihrer falschen Weltanschauung wenigstens nicht Ihre Kinder.« »Kinderseelen werden durch Lügen vergiftet. Ich belüge meine Kinder nie. Von mir werden sie nicht das Lügen lernen. Und ich werde dafür sorgen, dass sie Gut und Böse, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden wissen. Was wäre ich denn für eine Mutter, wenn ich das nicht täte?!« »Aus Ihren Kindern können keine guten Sowjetbürger werden, bei dieser Erziehung! Man sollte Ihnen das elterliche Sorgerecht entziehen! Sie lehren ja die Kinder, uns Russen zu hassen!« »Auf keinen Fall! Ich erziehe Sie zu Liebe und Wahrheit und würde mich freuen, wenn Sie in der Schule dasselbe täten. Ist es für die knapp 8-Jährigen nicht zu früh, über die amerikanischen und deutschen Kapitalisten und Militaristen informiert zu werden? Ich denke, es wäre für die Kinder nützlicher und interessanter, wenn Sie mit ihnen Andersens und Grimms Märchen lesen würden. Die Seele eines Kindes ist wie ein Schwamm. Sie saugt alles in sich auf – da sollte man besonders behutsam sein. Da sitzen zum Beispiel mein Mann und ich vor dem Fernseher, hören uns Nachrichten über die gespannte Lage im Nahen Osten an, und unterhalten uns dabei. Mein Mann sagt: ›Was haben die Juden mit den Palästinensern nur vor? Das dauert jetzt schon 20 bis 25 Jahre? Können die sich denn nicht einig werden?‹ Darauf ich: »Aus der Geschichte sind schon andere Kriege bekannt, die mehrere Jahrzehnte dauerten. Zum Beispiel der Dreißigjährige Krieg in Deutschland und der Rosenkrieg in England. Auch der Kaukasische Krieg dauerte 25 Jahre.‹ Unsere Tochter ist gerade hereingekommen, weil sie einen Zeichentrickfilm sehen will,
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und hört unsere Unterhaltung. Sofort stellt sie Fragen: ›Wer hat denn im Kaukasus gekämpft? Und wer hat den Krieg gewonnen?‹ Und schon am nächsten Tag gibt sie die aufgeschnappte Information an Sie weiter ...« Bald werde ich von der Lehrerin wieder in die Schule bestellt. Sie erklärt besorgt: »Ich habe die Kasachenkinder in den muttersprachlichen Kasachischunterricht geschickt und ihnen gesagt, sie müssten sich dazu zweimal wöchentlich am Nachmittag im Klassenzimmer Nr. 9 einfinden. Da kommt in der Pause Ihre Edith zu mir und fragt, wann und wo denn der Deutschunterricht stattfinden würde. Man staunt, wie dieses Kind überhaupt darauf kommt, solche Fragen zu stellen und diesen Unterricht zu wollen. Es muss da einen nationalistischen Einfluss geben – anders kann ich mir das nicht erklären.« »Einen Einfluss gibt es meinerseits bestimmt, und darauf bin ich stolz. Nur warum sprechen Sie dabei von Nationalismus? Ich würde eher sagen, dass es um Logik geht. Sie erklären den Kindern, in der UdSSR lebten etwa 100 Nationen in brüderlicher Einheit und alle hätten die gleichen Rechte und Pflichten. Meine Tochter nimmt Sie beim Wort: Wenn ihre Freundin Elmira jetzt Kasachisch lernen wird, so will sie Deutsch lernen. Das ist doch logisch!?« »Wir haben mehrere deutsche Kinder in der Schule, aber nur Ihre Tochter stellt derartige Fragen. Woher kommt dieses Interesse?« »Sie kennt viele deutsche Märchen, die ihr sehr gefallen, und möchte sie selbst lesen können.« »Na, dann bringen Sie ihr doch die deutsche Sprache bei! Die Schule kann nicht auf jede Laune eingehen!« Ungefähr ein halbes Jahr später stirbt ganz unerwartet die Tochter dieser Lehrerin – ein erwachsenes Fräulein, das Studentin eines Konservatoriums ist. Als ich sie einige Monate später auf der Straße treffe, sieht sie besorgt und vergrämt aus. Wir sprechen zunächst über die Gesundheit und die schulischen Erfolge meiner Tochter. Dann teilt sie mir plötzlich mit, dass sie sich große Sorgen um ihren Sohn mache, der in
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Afghanistan diene. Es möge ihm doch bitte nichts passieren, denn sie würde es nicht verkraften, auch noch ihr zweites Kind zu verlieren. Mir liegt es auf der Zunge zu sagen, Afghanistan sei wohl gerade dabei, sich freiwillig der Sowjetunion anzuschließen. Was könne ihrem Sohn da schon passieren?! Aber ich sage es nicht. Wenn sie auch eine linientreue Russin und Kommunistin ist, so ist sie doch eine Mutter, die Kummer hat. – Ich wünsche ihr nichts Schlechtes. In den Hochschulen hat man im Laufe der Jahre die Diskriminierung der Deutschen nicht vermindert. Dem Dekan unserer Baufakultät wird im Jahr 1976, 20 Jahre nach Aufhebung der Kommandantur, von einem Vertreter des Hochschulministeriums der Kasachischen Republik folgende Frage gestellt: »Wie viele Kasachen studieren an Ihrer Fakultät?« »Ihr Anteil beträgt 36 Prozent«, lautet die Antwort des Dekans. »So wenig?!«, meint der Ministerialbeamte. »Und wie viele Deutsche?« »10 Prozent der Studentenschaft.« »So viele?! Besobrasije! Empörend!« Der hohe Gast aus Almaty ist ein Kasache. Weiß er, dass sein Gesprächspartner, ein Kandidat der technischen Wissenschaft im Bereich der theoretischen Mechanik, Deutscher ist? Im Zivilschutzunterricht der Studenten des industriellen Instituts sagt der Oberst des »Lehrstuhls für Krieg«, den es in jeder Hochschule der UdSSR gibt: »Nur wenn wir die Deutschen richtig hassen lernen, werden wir sie endgültig besiegen.« Man fragt sich, wo hier die gutnachbarlichen, friedlichen Absichten sind, von denen auf höchster Ebene so viel »getrommelt« wird. Unter den Zuhörern sind zwei deutsche Studenten. Einer von ihnen will wissen: »Herr Oberst, warum sollen wir die Deutschen hassen lernen? Warum nicht zum Beispiel die Chinesen, die angeblich immer wieder die Grenzen der UdSSR bedrohen? Vielleicht sollte man den Feind hassen, wenn er eine wirkliche Bedrohung darstellt?«
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»Die Deutschen sind und bleiben unsere größten Feinde! Aber damit meine ich nicht unsere Sowjetdeutschen, die übrigens schon keine richtigen Deutschen mehr sind.« So werden die Deutschen unerbittlich vor die Wahl gestellt, sich entweder als Deutsche zu behaupten und deswegen wie Feinde behandelt zu werden oder sich als Freunde zu präsentieren, wodurch sie nicht als Deutsche akzeptiert werden. Eine dritte Alternative gibt es nicht! Die Kinder und Jugendlichen werden zum Verrat an ihren Freunden, Nachbarn und Eltern angehalten, was als Beweis für Patriotismus und Heldentum gilt. Im Winter 1975/76 werden die Gruppenleiter des Komsomol im industriellen Institut aufgefordert, ihre Mitstudenten zu bespitzeln. Der Komsomolsekretär Schibanow will wissen, wer von den Studenten ausländische Radiosender hört und darüber mit Freunden diskutiert. »Die Deutsche Welle, das Freie Europa, die Stimme Amerikas und andere Sender«, erklärt er, »verbreiten schwarze Lügen über unser fortschrittliches System. Und der KGB muss wissen, wer von unseren Jugendlichen ihnen Glauben schenkt und prowestlich orientiert ist.« Und die Komsorgi machen, was ihnen befohlen wird. Selbständiges und kritisches Denken haben sie ja nicht gelernt. Sie wissen es eben nicht besser, als das verlogene System, in dem sie aufgewachsen sind, zu unterstützen.
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Im Auftrag des Gewissens
Ich sehe täglich, wie die Kinderseelen verstümmelt werden, und mir bricht es fast das Herz. Ich kann nicht ruhig mit ansehen, dass die deutschen Kinder und Jugendlichen heranwachsen, ohne ihre Muttersprache kennen zu lernen, dass sie die deutsche Kultur, die deutschen Bräuche und Sitten nicht nur nicht kennen, sondern sie gering schätzen oder gar verachten und bewusst verwerfen. Ich mache mir darüber Gedanken und Sorgen. Wie hat meine Mutter ihre Erziehungsaufgabe gemeistert? Es muss für sie bestimmt nicht einfach gewesen sein, uns alle ohne Vater aufzuziehen. Ich erinnere mich an meine Kindheit und Jugend. Was hat man mir auf meinen Lebensweg mitgegeben? Welche geistigen Schätze und moralischen Werte? Worin finde ich den Halt? Zu den Schätzen und Werten, die mir jetzt den Halt geben, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin, gehören die Muttersprache und der christliche Glaube. Meiner Meinung nach sind das die wichtigsten Mittel und Instrumente, die es einem Menschen ermöglichen, in bestimmter Hinsicht anders als seine Umgebung zu sein. Ja, aber wir hatten noch unsere Großmutter und unsere Tante, die meiner Mutter in der Erziehungsarbeit beistanden. Wie soll ich es allein schaffen, meinen Kindern Halt zu geben? Meine Mutter hat, wie ich mich erinnere, viel gesungen, und dieses Singen machte auf mich persönlich einen großen Eindruck. Später habe ich selbst im Chor gesungen. Was hat Mutter eigentlich alles mit uns gesungen? Ich suche mein Liederheft der Jahre 1956/57 heraus, das meine Mutter mir bei ihrem letzten Besuch in Pawlodar mitgebracht hat. Sie sagte: »Nun hast du eine eigene Familie, ein eigenes Heim und kannst deine Fotoalben und Liederhefte selbst aufbewahren. Du wirst sie vielleicht einmal brauchen.« Jetzt brauche ich sie tatsächlich. Ich blättere in meinem Liederheft und finde da ein Lied, von der Hand meiner Mutter geschrieben. Es
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heißt »Das Mutterlied«: Ihr Mütter singt, denn Singen – das ist Leben! Und weh dem Haus, wo nie ein Lied erschallt! Sehr bald erstirbt da alles edle Streben. Rauh, mürrisch wird der Geist, das Herz wird kalt. Doch wohl dem Heim, durch dessen Räume zieht ein Mutterlied! Ihr Mütter singt, am Bettchen, an dem kleinen. Singt eurem Kind ein sanftes Schlaflied zu. Bald wird es ruhig, bald verstummt sein Weinen, und friedlich schlummert es in süßer Ruh. Was stillte es, so aufgeregt und müd? – Das Mutterlied! Ihr Mütter singt! Das Kindlein lernt verstehen und glaubet fest und innig eurem Wort. Singt ihm von reiner Himmelslüfte Wehen, von Gottes Liebe, von dem Freudenort. Pflanzt in das Kind ein freudiges Gemüt – das Mutterlied! Ihr Mütter singt! Schon oftmals ward bezwungen Durch ’s schlichte Mutterwort der Fürst der Welt. Und hätte manche Mutter mehr gesungen, dann wäre mancher Jüngling mehr ein Held. Doch ach, mit manchem Armen ging nicht mit – das Mutterlied! Ihr Mütter singt! Lasst euer Lied ertönen von Kraft und Zärtlichkeit, von Treu und Redlichkeit, von allem wahrhaft Guten, Edlen, Schönen, von hohem Liebesglück, von holder Jugendzeit. Sei ’s ein Gebet, sei es ein schönes Lied – tön, Mutterlied! Ihr Mütter singt! Und noch nach langen Jahren, wenn euren Leib man längst hinabgesenkt, wenn euer Kind durch Stürme und Gefahren sein Lebensschifflein durch die Fluten lenkt,
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dann macht ihm Mut und gibt ihm Trost und Fried das längst verklungene Mutterlied! An diesem Lied sehe ich, dass meine Mutter bewusst gesungen hat – in der Überzeugung, ihren Kindern singend mehr auf den Lebensweg mitgeben zu können. Das war wohl ihre persönliche Erziehungsmethode. Da steht das Datum »17.03.1965«, also hat meine Mutter dieses Lied vor zehn Jahren in mein Heft geschrieben. Als ich in der Kloake von Jesil steckte und im Gebiet Moskau lebte, machte sie sich meinetwegen Sorgen. Wir sahen uns zu jener Zeit selten und sie ahnte wohl, dass ich damals für dieses Lied noch nicht reif genug war. Deshalb hat sie vorgesorgt, in der Hoffnung, ich würde es schon finden, wenn erst die Zeit käme, wo ich es brauchen könnte. Sie hatte recht, wie schon so oft. Woher dieses Lied stammt, wer den Text gedichtet hat, ob es zu dem Text auch Noten gibt – das alles weiß ich nicht. Aber ich finde das Lied sehr interessant und wichtig. Vorläufig, denke ich, bin ich mit der Erziehung meiner Kinder auf dem richtigen Weg: Jeden Abend vor dem Schlafengehen singen wir und ich erzähle Märchen. Unsere Tochter Edith besucht seit ihrem 7. Lebensjahr die Musikschule und das ist ganz ohne mein Zutun passiert. Sie kam einmal aus dem Kindergarten und sagte begeistert: »Mami! Ich habe ein Examen bestanden und werde die Musikschule besuchen.« Es ist seltsam, aus dem Munde eines kleinen Kindes das Wort »Examen« zu hören. Ich lese den Zettel, den sie mir gegeben hat. Da steht geschrieben, sie habe eine Aufnahmeprüfung bestanden und sei jetzt Schülerin der städtischen Musikschule in der Klasse für Geige. Der Unterricht beginne am 30. August. So hat das angefangen. Dann hat sie mir unendlich viele Fragen gestellt: »Was ist Andante? Allegro? Wer ist Mozart?« »Allegro bedeutet schnell, also sollst du zügig spielen. Und Mozart ist der Name des Mannes, der dieses schöne Frühlingslied komponiert hat«, erkläre ich. »Hat denn jedes Lied jemand komponiert?«, fragt sie staunend.
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»Natürlich. So wie jedes Buch und jedes Gedicht von jemandem geschrieben wurde, damit andere es lesen können.« »Und ich dachte, die Musik ist einfach da, wie die Luft, die Sonne und die Sterne.« »Das stimmt, die Musik ist eine Naturerscheinung, aber nicht jeder kann sie aus der Natur heraus hören. Nur die musikalisch begabtesten Leute, die Komponisten, können das. Sie greifen die Musik aus ihrer Umgebung und schreiben sie in Noten auf, damit andere die Melodien singen oder spielen können.« »Ist Mozart ein Komponist? Wo lebt er?« »Er war ein deutscher Komponist, lebte in Österreich und ist schon vor langer Zeit gestorben.« Später kommen noch viele andere Fragen. Edith blättert in ihrem Notenheft, drückt ihren Finger fest an die Seiten und fragt: »Wer ist Bach? Wer ist Beethoven? Und Händel? Wann und wo haben sie gelebt?« Meine Kenntnisse reichen nicht aus. »Bach und Beethoven waren deutsche Komponisten. Wann und wo sie gelebt haben, weiß ich leider nicht. Das solltest du deine Lehrerin fragen.« »Alles klar: Alle Komponisten sind Deutsche«, zieht sie eine falsche Schlussfolgerung. »Nein, Kind, das stimmt nicht. Jedes Volk hat seine Komponisten. Frédéric Chopin zum Beispiel war Pole.« Wir blättern in ihrem Notenbuch weiter: »Borodin und Tschaikowsky waren russische Komponisten. Chatschaturjan war ein Armenier«. Ich freue mich, dass die Musik meine Tochter so begeistert. Sie hält mich dadurch aber auf Trab. Ich muss so manches lesen, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. Darüber berate ich mich mit der Musiklehrerin. Sie rät mir, das Kind nicht auf den späteren Theorieunterricht zu vertrösten, sondern alle Fragen jetzt zu beantworten, während das Interesse wach ist. Sie meint, man solle das Eisen schmieden, solange es heiß sei. Ich bekomme von ihr etliche Fachbücher geliehen und bemühe mich, ihren pädagogischen Ratschlägen zu folgen.
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Sie ist eine junge deutsche Frau, etwa zehn bis zwölf Jahre jünger als ich. Da wir so viele gemeinsame Interessen haben, freunden wir uns trotz des Altersunterschiedes bald an. Einmal unterhalten wir uns über Bachs Kirchenmusik, worüber sie viel zu erzählen weiß. Später fragt Edith mich: »Mami, was ist Kirchenmusik?« Ich versuche, es ihr zu erklären. »Aber meine Lehrerin in der Schule, die Walentina Iwanowna, hat gesagt, die Religion ist eine Lüge, die von der Kirche verbreitet wird.« Ich bin sprachlos. Was soll ich ihr sagen? »Ja, weißt du, es gibt da keine einheitliche Meinung, kein Rezept für alle. Die Religion und die Wissenschaft sind sich in manchen Fragen nicht einig. Deshalb gibt es auch unter den Menschen verschiedene Meinungen. Bach hat an Gott geglaubt, er war ein Christ und hat sehr schöne Kirchenmusik komponiert. Und deine Lehrerin glaubt nicht an Gott, deshalb ist für sie die ganze Religion eine Lüge. Aber das ändert ja nichts an der Sache. Jeder darf denken, was er will. Es ist für dich schwierig zu verstehen, aber wenn du erst größer bist, reden wir darüber nochmal.« Ich kann ihr nicht sagen, dass die Lehrerin im Unrecht ist, denn sie würde es in der Schule sofort vorbringen. Das könnte für mich schlimm enden. Der Entzug meiner Elternrechte wäre das Mindeste, was ich zu erwarten hätte. Andererseits kann ich von meiner Tochter nicht verlangen, dass sie heuchelt oder lügt. Das wäre für sie eine zu große Belastung. Meine Kinder sollen zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht sowie Wahrheit und Lüge unterscheiden lernen. Um ihnen diese Fähigkeit zu vermitteln, ist die Religion unentbehrlich. Ich habe schon bemerkt, dass die Jugendlichen, die in der Familie wenigstens einen Funken, einen Hauch von religiöser Erziehung bekommen haben, die Kraft besitzen, sich von Alkohol, Prostitution, Drogen und Kriminalität weitgehend fernzuhalten. Obwohl die Religion von den Kommunisten als »Opium fürs Volk« und »Überbleibsel aus der Vergangenheit« abgetan wird, sehen viele Jugendlichen in ihr eine Alternative zur alles umfassenden Lüge.
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In Pawlodar gibt es eine Moschee, eine orthodoxe Kirche, ein lutherisches Bethaus und ein Gemeindehaus der evangelischen Christen Baptisten. Die zwei Letztgenannten gibt es seit zehn Jahren und sie wurden erst auf Drängen der Bevölkerung erlaubt. Auch wenn die Kreise der Gläubigen von KGB-Agenten durchsetzt sind und bespitzelt werden, auch wenn die Prediger und Laien verfolgt und zu härtesten Strafen für angebliche Verbrechen verurteilt werden, so ist die Kirche für die Jugend nicht weniger attraktiv. An religiösen Feiertagen sind die Kirchen voll, obwohl immer wieder Maßnahmen ergriffen werden, um das zu verhindern. So werden in den Schulen, Technikums und Instituten ausgerechnet zu Ostern und Weihnachten Pflichtarbeiten durchgeführt. Wer studieren oder Karriere machen will, der darf seinen Glauben an Gott nicht öffentlich bekennen und in die Kirche gehen. Obwohl immer wieder heuchlerisch behauptet wird, es gebe in der UdSSR die Gewissensfreiheit, ist es in Wirklichkeit immer noch nicht so. Gläubige werden aus den Instituten vertrieben und an den Arbeitsplätzen geschmäht. Am Weihnachtsabend des Jahres 1979 versammeln sich im Studentenheim heimlich in einem Zimmer sechs 21- bis 24-jährige Burschen. Sie alle sind Deutsche, wobei ihre Deutschkenntnisse mangelhaft sind. Sie stammen aus katholischen und lutherischen Familien und haben an diesem Abend einfach das Bedürfnis, zusammen zu sein. Das Radio schalten sie auf die »Deutsche Welle« und hören sich die Kirchenmusik von J.-S. Bach an. Und als sie die Ansprache »Dorogije Sootetschestwenniki sa Rubeshom ... – Werte Landsleute im Ausland, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gratuliert ... und wünscht ...« hören, glauben sie, damit auch gemeint zu sein. Einer von ihnen sagt »Mzyri« von M. Lermontov auf, ein Gedicht, das von einem Jungen handelt, der sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht hat und von nichts anderem träumt, als frei zu sein. Der Student fügt hinzu, er hätte so große Sehnsucht nach einem anderen Leben, die er am besten mit diesen Versen ausdrücken könne. Ein anderer von ihnen kann Gotisch lesen. Er nimmt die Bibel, liest daraus und versucht, seinen Freunden etwas zu erklären:
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»Gott wird machen, dass die Sachen gehen, wie es heilsam ist. Und er braucht einen jeden von uns auf dem Platz, auf den er ihn gestellt hat.« Dann singen sie noch halblaut »Stille Nacht, heilige Nacht«. Seltsam – dieses Lied kennen und können sie alle. Einmal werde ich von den Studenten zu einem kleinen Gottesdienst eingeladen, da sie mir vertrauen und, wie sie erklären, Besuch von zwei Wanderpredigern erwarten. Es ist Ende Januar 1980. Ein klarer, bitterkalter Abend. Mein Mann bleibt bei den Kindern. In Filzstiefeln, vermummt in einen warmen Pelz, eine Mütze und ein großes Kopftuch obendrein, mache ich mich auf den Weg. Sechs Burschen, zwei Mädchen und ich sind die Zuhörer. Der eine Prediger ist 70, der andere etwa 30 bis 32 Jahre alt. Sie kommen aus der südlich liegenden Republik Kirgisien und sind 1.500 Kilometer gereist, um uns das Wort Gottes zu verkünden. Wir hören aufmerksam zu. Nach einem gemeinsamen Gebet beginnt der Jüngere: »Wir gehören zur Gemeinde der Heiligen ...«, und er erläutert den Gemeindebegriff, spricht lange über die Gemeindezucht, wobei er mit besonderem Nachdruck betont, in den Häusern der Gläubigen gebe es keine Fernseher, denn sie seien Teufelswerk! Echte Christen sollten nie ins Kino gehen, denn da hätten sie nichts zu suchen! Rauchen, Wein und Bier trinken komme für Gläubige nicht in Frage! Bei der Kleidung richte man sich nach dem Wort der Bibel in Römer 12, Vers 2: »Stellet euch nicht dieser Welt gleich.« Er schielt in Richtung der zwei Studentinnen und sagt: »Gläubige Frauen und Mädchen dürfen nicht Männerkleidung tragen. Dem lieben Gott gefällt es auch nicht, wenn ihr Frauen Miniröcke tragt und eure Zöpfe abschneidet.« Die in Jeans gekleideten Mädchen erröten bis zu den Haarwurzeln. Ich bin so empört, dass ich seine »Predigt« nicht weiter verfolgen kann und meinen Gedanken nachhänge: »Solche Analphabeten maßen sich an zu predigen! Sie wollen bestimmen, wie die Jugend sich zu kleiden hat und wie der Haarschnitt der Mädchen sein soll! Es ist abstoßend, wenn das Wort Gottes durch
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willkürliche Verbote ersetzt wird! Mit solchen ›Predigten‹ kann man nur das Gegenteil erreichen – die Jugendlichen wollen davon nichts wissen, wenn man ihnen Borniertheit aufzwingen und aufdrängen will.« Er spricht indessen weiter: »... keine weltlichen Lieder singen, nicht tanzen und nicht studieren. Wozu auch? Das ist alles Teufelswerk! Ich habe nur vier Jahre lang die Schule besucht. Mir hat man in der Kindheit nie Märchen erzählt, sondern nur Geschichten aus der Bibel von Adam und Eva, Noah, Moses, Hiob und von Jesus Christus. Das ist christliche Kindererziehung ...« Als er mit seiner Predigt fertig ist, kann ich mich nicht zurückhalten und frage ihn, ob er bei sich zu Hause einen Kühlschrank hätte. »Selbstverständlich! Warum fragen Sie?«, meint er erstaunt. »Weil ein Kühlschrank ebenfalls Teufelswerk ist! Der Kühlschrank wurde von gebildeten Leuten, die studiert haben, erfunden. Wenn alle nur vier Jahre zur Schule gingen, würde die Menschheit bis heute in Höhlen leben! Heißt es in der Bibel nicht: ›Macht euch die Erde untertan‹?« Solchen Worten ist er nicht gewachsen, sie sind für ihn wie Chinesisch. Er fordert uns zum Gebet auf. Dann spricht der Zweite, der aus dem Neuen Testament, Johannes 13, die Verse 4 bis 17 vorliest und über die Bedeutung der rituellen Fußwaschung spricht. Warum habe Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen? Weil er seine Demut zum Ausdruck habe bringen wollen. Er liest Vers 16: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch der Apostel größer als der, der ihn gesandt hat.« Zum selben Thema heißt es in Philipper 2, Vers 3: »Tut nichts aus Zank oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst.« Soweit ist alles in Ordnung, aber plötzlich platzt er heraus: »Demut ist die Aspirantur des christlichen Glaubens! Und das Gebet ist die Dissertation...« Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und versuche vergebens zu verstehen, worauf er hinauswill. Solche Worte, wie Aspirantur und Dissertation,
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klingen seltsam und fremd aus dem Munde dieses Greises, der mit Mühe lesen kann. Er fährt fort: »Nur der Glaube unserer Gemeinde ist der richtige, denn er ist der einzige, bei dem auch die Fußwaschung praktiziert wird. Alle anderen Konfessionen nehmen aus der Bibel, was ihnen passt und lassen manches weg, was ihnen nicht gefällt ...« Nach dem Ende des Gottesdienstes, bei Kaffee und Kuchen, gibt es noch einen freien Meinungsaustausch. Da ich weiß, dass unter den Anwesenden verschiedene Konfessionen vertreten sind wie Katholiken, Lutheraner, Mennoniten und Baptisten, frage ich den älteren Prediger, worin denn die Besonderheiten seines Glaubens bestünden? Er gibt zur Antwort: »Zunächst einmal in der richtigen Taufe durch den Heiligen Geist, dann im Glauben an Wunder und außerdem in der Fußwaschung. Wir halten uns in allem an die Bibel, sogar was die Kleidung betrifft.« »Aber Sie tragen einen modernen Anzug mit Knöpfen und Taschen. Sie sind nicht in ein Gewand gewickelt, wie es zu Jesu Zeiten der Brauch war. Und was bedeutet ›die richtige Taufe‹? Die Mennoniten und Baptisten haben ja auch die Taufe auf den Glauben?« »Ja, aber bei uns folgt der Wassertaufe noch die Taufe durch den Heiligen Geist, indem sich eine Feuerflamme auf den Kopf des Getauften niederlässt.« Er kann mir leider nicht erklären, wie das vor sich geht. Dann verabschieden wir uns und wollen uns auf den Heimweg machen. Alle ziehen sich an und unterhalten sich dabei über die Bedeutung der Träume. Wir stehen im Flur herum und ich merke, wie sich der alte Herr mit dem Zubinden seiner Schnürsenkel abplagt. Er hat sich auf eine Bank gesetzt, hebt den Fuß auf das Knie, aber wegen seines dicken Bauches rutscht der Fuß immer wieder ab. Ich sage: »Darf ich Ihnen helfen?«, gehe in die Hocke und binde ihm die Senkel zu. Niemand bemerkt es, wie mir scheint. So, jetzt sind wir alle fertig und verlassen gleichzeitig das Haus. Alle gehen in Richtung der Bushaltestelle, nur ein Student und ich müssen in eine andere Richtung. Der Student ist aufgeregt:
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»Was meinen Sie, Adina Petrowna, soll ich mich nochmal taufen lassen? Ich bin Lutheraner, mich hat man als Baby getauft. Ich hoffte, unter dem Flügel des Höchsten zu sein. Aber wenn das alles ungültig sein soll!?« »Lassen Sie sich nicht irritieren. Ich denke, die Taufe ist ein Symbol der Zugehörigkeit zum Christentum. Sie hat verschiedene Formen, aber auf die Form kommt es doch nicht an, sondern auf den Sinn. Babys werden auf den Glauben der Eltern getauft. Wären Ihre Eltern ungläubig, hätte man Sie nicht getauft. Wenn Sie konfirmiert sind und sich zum Glauben bekennen, dann sind Sie ein Christ. Die Fußwaschung soll ein Symbol der Demut sein, die man auf ganz verschiedene Weise zum Ausdruck bringen kann. Sehen Sie mal, der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat in seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ die so genannten »Gottesbeweise« zerstört, aber zum Schluss soll er gesagt haben, wenn es tatsächlich keinen Gott gäbe, dann sollte man ihn schleunigst erfinden, denn die Menschheit brauche ihn. Deshalb wird Kant ja auch von den Kommunisten so heftig kritisiert. Hat man Ihnen im Philosophieunterricht noch nicht gesagt, Kant habe den lieben Gott zwar vor die Paradetür gesetzt, aber durch die Hinterpforte wieder hereingelassen? Nein? Na, dann kommt das sicher noch. Für mich ist Gott nicht ein allmächtiges altes Männlein mit einem langen weißen Bart, das über den Wolken schwebt, die Welt regiert, und bestimmt, wie lang die Röcke und Haare der Mädchen sein sollen. Für mich ist Gott gleichzusetzen mit der höheren Vernunft, den höheren Prinzipien und insbesondere der Gerechtigkeit. An Gott zu glauben heißt für mich, ein Gewissen zu haben und die Menschen und das Leben zu lieben. Die Atheisten haben kein Gewissen und sie hassen die Menschen, deshalb sind für sie Raub, Mord und andere Ungerechtigkeiten eine Selbstverständlichkeit. So empfinde ich es. Allerdings passt meine Auffassung in kein religiöses Konzept.« Am nächsten Tag kommen die Veranstalter des gestrigen Gottesdienstes zu mir, um mit mir zu sprechen. Ich komme ihnen zuvor: »Kinder, es tut mir leid, wenn ich eure Gäste mit meinen Fragen verletzt habe. Das war auf keinen Fall meine Absicht. Aber was
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ich da zu hören bekam, das kann ich nicht vertreten: Glaube – ja, Borniertheit – nein!« »Aber Sie haben die Gäste nicht verletzt, Sie haben sie beeindruckt. Die haben uns vorher gefragt, wer da kommen würde. Wir sagten, Studenten und eine Dozentin, die in Moskau die Aspirantur beendet und eine Dissertation geschrieben habe. Wann haben Sie denn dem älteren Herren die Schnürsenkel zugebunden? Wir haben davon nichts bemerkt. Er war hinterher ganz bestürzt und rief aus: Dieser Frau wollte ich Demut predigen?! Ich alter Esel!« Im Frühjahr besuche ich mit meinen Kindern meine Mutter und meine Schwestern. Meine Neffen sprechen so gut Deutsch, dass ich neidisch bin. Ich leihe mir bei meiner Schwester das Buch »Hausmärchen der Brüder Grimm« mit etwa 500 Seiten aus und lese meinen Kindern jeden Abend daraus vor, damit die deutsche Sprache für sie wenigstens nicht so fremd klingt. Allerdings muss ich ihnen die Märchen übersetzen, denn sie sind ja seit ihrem ersten Lebensjahr im Kindergarten, meine Tochter geht schon zur Schule, und so sind sie tagsüber in russischer Umgebung. Dann kaufe ich ab und zu in der Buchhandlung deutsche Bücher, die bei meinem Nachwuchs große Freude auslösen. Allmählich sammeln sich bei uns 19 Märchenbücher in deutscher Sprache an, von denen die bunt und grell bebilderten Exemplare von Nora Pfeffer, Dietrich Rempel und Nelly Wacker besonders beliebt sind. Wenn ich mit einem neuen Buch von Nora Pfeffer ankomme, vergessen meine Kinder sogar ihren Hunger, klatschen in die Hände und jubeln: »Oma Nora! Oma Nora erzählt Märchen!« Man hat mir gesagt, sie lebe in Almaty und schreibe die Märchen für ihren Enkel Otar. Deshalb nennen meine Kinder sie Oma. Möge sie es uns verzeihen, falls sie sich nicht als Oma aller russlanddeutscher Kinder fühlt. Die Auflage dieser Märchenbücher ist relativ klein, sie liegt zwischen 3.000 und 25.000 Exemplaren und daher sind sie immer schnell vergriffen. Ansonsten gibt es manchmal auch Märchenbücher aus der DDR zu kaufen. Als bei meinen Kindern auf diese Weise das Interesse an der deutschen Sprache geweckt ist, mache ich mich daran, ihnen das Sprechen und Lesen beizubringen.
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Wir basteln uns eine bunte ABC-Liste zusammen, auf der in jedes Feld nicht nur der Buchstabe hineingeschrieben, sondern auch einfache Zeichnungen eingetragen werden. So sind zum Beispiel im ersten Feld »A, a« geschrieben und ein Auge und ein Auto gemalt. Wir spielen jeden Abend ein Rätselspiel, mit Buchstaben und Wörtern. Die Sache wird leichter, als es mir gelingt, einen farbigen Alphabet Bogen, herausgegeben in Kiew mit einer Auflage von 100.000 Stück, zu kaufen. Als ich dann von meiner Schwester das »Tier-ABC«, ein altes Buch ohne Umschlag mit 220 Seiten, geschenkt bekomme, ist die Freude meiner Kinder groß: Unser Spiel wird noch vielfältiger und interessanter. In der Folgezeit erstehe ich auch einige deutsche Lesebücher für die 2. bis zur 10. Klasse, die teils in kleineren und teils in größeren Auflagen erscheinen. Man kann den Wortschatz, die Themen und den Stil dieser Bücher kritisieren, aber wir haben genügend geeignetes Material, um Lesen zu lernen. Dabei drängt sich folgende Frage auf: Wenn es in den Schulen so gut wie keinen muttersprachlichen Deutschunterricht gibt, warum werden dann Lesebücher für verschiedene Klassen herausgegeben? Sind das nicht nutzlos vergeudete Mittel? Nein, diese Bücher bleiben nicht auf den Regalen liegen, sie verstauben auch nicht in den Lagerräumen, sondern sind sofort vergriffen. Teilweise werden sie für den fremdsprachlichen Deutschunterricht benutzt, zum größten Teil aber von deutschen Eltern gekauft, die ihren Kindern damit die Muttersprache beibringen. In Pawlodar lebt die deutschsprachige Dichterin Nelly Wacker, eine Deutschlehrerin im Ruhestand, die unter anderem folgende Zeilen geschrieben hat: »Als seltsam Glück hat mir das Leben zwei Muttersprachen einst gegeben. Die eine ich bei Mutter fand, die and’re spricht mein Vaterland.« Allerdings fand sie die deutsche Sprache nicht nur bei ihrer Mutter, sondern sie hatte das Glück, noch vor dem Krieg eine deutsche
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Schule zu besuchen. Und das »Vaterland«? ... Na ja, ihre Gedichte werden ab und zu als Sammelbändchen vom Verlag Progress in Moskau herausgegeben – allerdings jeweils in einer winzigen Auflage, wie zum Beispiel »Bekenntnis«, herausgegeben 1978 in einer Auflage von 2.570 Exemplaren. Ich sehe, dass ich mit den Erziehungsproblemen nicht allein bin. Andere machen sich dieselben Gedanken und suchen nach Alternativen. Ob die deutschsprachigen Schriftsteller der UdSSR talentiert und konsequent sind oder nicht – darüber kann man streiten. Sie tun jedenfalls für ihre Volksgruppe, was sie können, was machbar ist, und dafür sollte man ihnen dankbar sein. Abseits stehen und andere kritisieren ist leichter als selbst etwas zu tun. Mit Hilfe der Musik, des häuslichen Deutsch- und vorsichtigen Religionsunterrichts gelingt es mir, in unserer Wohnung eine heitere, lustige Atmosphäre zu schaffen und die Erziehung meiner Kinder auf ganz bestimmte Gleise zu führen. Sie singen deutsche Lieder, mögen deutsche Märchen und beschäftigen sich begeistert mit dem »Kleinen Rätselbuch«. Was sie zu Hause von mir lernen, soll das ergänzen und ausgleichen, was ihnen im Kindergarten und in der Schule beigebracht wird.
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Da scheiden sich die Geister
Das Verhalten der Deutschen untereinander und ihrer Umgebung gegenüber hat sich nach Inkrafttreten des Moskauer Vertrages 1972 und besonders nach der Unterschreibung der Schlussakte von Helsinki 1975 wesentlich verändert. Das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen wird durch diese Dokumente in besonderer Weise gestärkt, wozu die Sendungen der Deutschen Welle in erheblichem Maße beigetragen haben. Diese und auch andere Sendungen, wie von der Stimme Amerikas und dem Freien Europa sind für die Bevölkerung der UdSSR von großer Bedeutung, da man nur auf diese Weise über viele Vorgänge in der Welt und vor allem innerhalb des Landes etwas erfahren kann. 30 Jahre lang wird uns direkt oder indirekt vorgehalten, dass wir einem »Verbrechervolk« angehören. Um diese Diskriminierung zu vermeiden und in Ruhe gelassen zu werden, ziehen es manche Leute vor, sich nicht auf ihr Deutschtum zu berufen. Nach dem Moskauer Vertrag und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fühlt man sich wieder als Angehöriger eines europäischen Volkes und will sich dazu auch bekennen. In vielen Deutschen ist das freudige Gefühl zu erkennen: »Man hat uns nicht vergessen! Obwohl wir verbannt und verdammt sind, hat man sich an uns erinnert.« Damit ist hauptsächlich die Tatsache zu erklären, dass sich bei der Volkszählung 1979 viel mehr Sowjetbürger zum Deutschtum bekannt haben, als es nach dem Ergebnis der Volkszählung 1970 unter Berücksichtigung des natürlichen Zuwachses und der Auswanderer rechnerisch hätten sein können. In der UdSSR gibt es kaum einen Wirtschaftszweig, in dem keine Deutschen tätig wären. Die Rolle der Deutschen im wirtschaftlichen Leben Sibiriens, Kasachstans und der mittelasiatischen Republiken kann nicht hoch genug geschätzt werden. Es wird erzählt, nachdem
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Parteichef Breshnew die Schlussakte in Helsinki unterschrieben hatte, soll Kunajew, der Parteichef von Kasachstan, gesagt haben: »Wenn ich alle Deutschen ziehen lassen soll, kann ich die Verantwortung für die Landwirtschaft in Kasachstan nicht mehr tragen.« Die Ausreisewelle greift immer weiter um sich. Unter den Deutschen wird die Ausreisefrage heiß diskutiert und Informationen über dieses problematische Thema werden illegal unter der Hand weitergegeben. Wir erfahren, welche Schwierigkeiten ein Ausreiseantrag mit sich bringen kann: Lehrer und Ärzte verlieren ihre Arbeitsplätze, Kinder von Ausreisewilligen werden von den Lehranstalten, Technikums, Instituten und Universitäten verwiesen und die Söhne vieler Ausreisewilliger werden gesetzwidrig zum Wehrdienst eingezogen. Vor diesem allgemein negativen Hintergrund fällt ein Einzelfall besonders auf: Bekannte von uns bekommen ohne jegliche Komplikationen auf den ersten Ausreiseantrag die Erlaubnis, in die Bundesrepublik auszuwandern. Die Betroffenen führen eine Mischehe, sie sind beide Lehrer, die Frau ist eine Russin sowie Mitglied des Komsomol, und ihr Vater, ein Mitglied der KPdSU, ist in Almaty Deputierter des Stadtrates. Jochen brennt vor Ungeduld, einen Ausreiseantrag zu stellen, aber ich habe Angst. In dieser Hinsicht bin ich die Schwache. Ich habe entsetzliche Angst vor den Behörden, vor der Verwaltung des Inneren und vor dem KGB. Wir führen außerdem keine Mischehe und sind auch keine Komsomol- und Parteimitglieder. Uns wird man nicht so einfach gehen lassen. Als Inhaberin eines Lehrstuhls erachte ich es für besonders gefährlich, einen Ausreiseantrag zu stellen. Ich befürchte, man könnte mich verhaften und meine Kinder in ein Heim stecken. Eine deutsche Frau, die Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Fremdsprachen ist, erzählt mir, wie man ihrem Mann in Moskau vor der Verteidigung seiner Dissertation vorgeschlagen habe, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden. Er sei darauf eingegangen und habe dann schließlich auch das Kandidatendiplom bekommen.
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Allerdings, könne er der Partei jetzt auch keine Bitte abschlagen – wer »A« sage, müsse auch »B« sagen. »Hat man Ihnen denn keinen solchen Vorschlag gemacht? Nein? Interessant, warum nicht?«, fragt sie. »Meiner Familie hat man zu viel angetan. Sieben Männer aus meiner Verwandtschaft sind umgekommen, obwohl sie Pazifisten waren und der russischen Bevölkerung ausnahmslos das Bild eines friedlichen, gutmütigen deutschen Bauern und Christen vermittelten. Nein, die Kommunisten wissen nur zu gut, was sie an uns verbrochen haben, als das einer von ihnen an der Farbe meiner Leber zweifeln könnte.« Ich gebe die Hoffnung auf die Verteidigung meiner Dissertation endgültig auf und entschließe mich, den Arbeitsplatz zu wechseln. Da treffe ich die Stellvertreterin des Dekans, die resolute Russin. Sie beklagt sich: »Haben Sie gehört? Lasar Sigismundowitsch hat seine Zweizimmerwohnung hier gegen eine Einzimmerwohnung in Swerdlowsk eingetauscht. So eine Unverschämtheit! Ein Shid bleibt immer ein Shid! Wenn Sie ihn gesehen hätten, als er aus dem Fernen Osten zu uns kam – mager und grau sah er aus, wie ein gerupftes Huhn! Unser Dekan und ich hatten Mitleid mit ihm. Wir haben ihm geholfen, hier Fuß zu fassen, Arbeit und Wohnung zu bekommen. Wir haben ihn aufgepäppelt! Und der haut einfach ab! Hitler hat mit diesen Leuten schon das Richtige gemacht. Eine andere Sprache verstehen die ja nicht!« »Aber seinen Wohnort zu wechseln ist doch sein gutes Recht. Warum sollte er das nicht, wenn es ihm hier nicht gefällt?« »Ach, wem erzähl ich das! Sie verstehen mich ja doch nicht!«, meint Sie ärgerlich und läuft davon. Bald darauf kommt Tabaksblatt, um sich von mir zu verabschieden. »Gratuliere! Sie sind ein gutes Stück vorangekommen. Swerdlowsk ist zwar noch nicht Europa, aber immerhin liegt es westlicher. Dort muss es jedenfalls grünen Rasen geben«, komme ich ihm zuvor. Er ist ganz aus dem Häuschen:
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»Und ob es westlicher liegt! Gute anderthalbtausend Kilometer! Aber ich will weiter. Und Sie sollten es auch wollen. Hier in der Wüste erstickt ja jeder Gedanke! Weglaufen sollten Sie, so schnell und so weit es nur geht. Warum tun Sie es nicht? In der Welt ist so vieles los! Die Dissidenten kämpfen und ich will dabei sein!« »Sprechen Sie nicht so laut, Lasar Sigismundowitsch, die Wände haben Ohren!«, warne ich ihn. »Ich habe keine Angst, verdammt nochmal! Ich will keine Angst mehr haben, sondern für eine offene demokratische Gesellschaft kämpfen!« »Aber ich habe Angst – um meine Kinder! Wir Deutschen dürfen nicht kämpfen, weil man uns sofort Spionage und Verrat unterstellen würde. Ich kann nur zusehen wie andere kämpfen. Sie sind der einzige mir bekannte Jude, der mir nicht von vornherein Judenhass unterstellt. Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Warum wollen die meisten Juden keine Juden sein?« »Das ist ja gerade unser Verhängnis, dass wir immer etwas anderes sein wollen als wir sind! In Deutschland wollten wir Deutsche sein und den Staat mitregieren. In Russland und auch in der UdSSR möchten wir Russen sein und in allen gesellschaftlichen Bereichen das große Wort führen. Aber die anderen Völker lassen sich das nicht gefallen. Der Judenhass ist kein deutsches Phänomen. Haben Sie von den Pogromen in der Ukraine zur Zeit der Zaren gehört? Ich finde, dieser Hass hat seine Ursachen, denn ohne Feuer gibt es ja keinen Rauch. Die nationalen Ideen finde ich logisch. Jeder soll sein, wer er ist, und dabei sehen, wie sich sein Leben einrichten lässt. Und in unserem multinationalen Staat sollten die Türen offen stehen, damit jeder zu jeder Zeit das Land verlassen kann, wenn er will. Hören Sie sich die Sendungen der Deutschen Welle und der Stimme Amerikas an: Sacharow, Solschenizyn, Kowaljöw, Twerdochlebow – mit Leib und Seele bin ich mit ihnen. Auf Wiedersehen!« Ich verabschiede mich ebenfalls und füge hinzu: »Hoffentlich landen Sie nicht im Gefängnis, wo die zwei Letzteren schon sind.«
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»Sie haben es also gehört? Jetzt haben Sie sich verraten!«, er lacht schallend. Kurz darauf verlasse ich meinen Lehrstuhl und wechsle ins Projektinstitut über, wo unter etwa 550 Beschäftigten auch viele Deutsche sind. Hier werde ich als Chefingenieurin für das Projekt in die Werkstatt Nr. 4 eingestellt. Anfang April 1976 reiche ich beim Direktor des Projektinstituts ein Gesuch ein, in dem ich darum bitte, mir eine Charakteristik für einen Ausreiseantrag auszustellen. Zwei Tage später sehe ich, was ich damit angerichtet habe. Ich werde ins Arbeitszimmer des Direktors beordert und als ich mich bei ihm einfinde, brüllt er mich an. Die Parteisekretärin und die Vorsitzende der Gewerkschaft – zwei grob geschnitzte, ordinäre und einfältige Russenfrauen – sind auch anwesend. Sie sitzen mir gegenüber und sehen mich mit eng zusammengekniffenen, hasserfüllten Augen an. »Wie zwei Schlangen, die ein Kaninchen vor sich haben«, denke ich. Der Direktor wirft mir vor, ich hätte mich ins Institut eingeschlichen, in die Position einer Chefingenieurin für das Projekt eingeschmuggelt und mir auf diesem Wege geheime Informationen beschafft. Jetzt stelle sich heraus, dass ich ein Vaterlandsverräter sei und mit dem feindlichen Ausland in Verbindung stehe! Schockiert sehe ich ihn wortlos ein paar Augenblicke lang an. Ich habe ihn für einen intelligenten Mann gehalten und daher überrascht mich seine Engstirnigkeit. Ich kenne ihn seit drei Jahren. Jeden Frühling war er Vorsitzender der Prüfungskommission im industriellen Institut. Man hat mir erzählt, sein Vater sei Offizier der weißen Garde des letzten Zaren gewesen und während des Bürgerkrieges ins Ausland geflohen. In Jugoslawien habe er eine Serbin geheiratet und nach Stalins Tod, während des politischen »Tauwetters«, sei die ganze Familie – die Eheleute mit ihren drei Söhnen, den Schwiegertöchtern und Enkeln – in die UdSSR zurückgekehrt. Unser Direktor sei der älteste der drei Söhne des Offiziers und habe im Ausland Architektur studiert. Es wird gesagt, solche Heimkehrer
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aus Bulgarien, Ungarn, Jugoslawien und China hätten nicht das Recht, ihren Wohnort frei zu wählen, sondern seien verpflichtet, in Kasachstan zu bleiben. All dies geht mir durch den Kopf, während ich ihm zuhöre. Seine Anschuldigungen lasse ich nicht auf mir sitzen: »Ich habe mich nicht eingeschlichen, sondern wurde vom Chefarchitekten Rosenberg eingeladen, dem bekannt war, dass ich Verwandte in Deutschland habe. Bei den angeblichen Kontakten zum feindlichen Ausland handelt es sich um harmlosen Briefwechsel mit Verwandten. Und um welche geheime Information Sie sich sorgen verstehe ich schon gar nicht. Glauben Sie tatsächlich, in Deutschland könnte sich jemand dafür interessieren, wie hier Dörfer geplant werden und wie groß die Vieh-, Schweine- und Schafställe sind?« »Und wie man sich dort dafür interessiert! Man wird Sie ausquetschen, ehe Sie sich dessen versehen. Jedenfalls können Sie nicht Chefingenieurin des Projekts bleiben, wenn Sie derartige Anträge stellen.« »Heißt das, Sie wollen mich entlassen?« »Oh, nein! Ich will Sie nicht auf die Straße werfen. Sie werden freiwillig, auf eigenes Ersuchen, den Posten der Chefingenieurin des Projekts aufgeben und sich niedriger einstufen lassen – sagen wir wegen familiärer Angelegenheiten. Ja, so wäre es richtig formuliert.« »Freiwillig? Ich verstehe! Und wie will ich mir Ihrer Meinung nach in Zukunft mein Brot verdienen? Können Sie mir das auch sagen? Vielleicht als Zeichnerin? Oder im Kellergeschoss als Buchbinderin?« »Nein, nein! Wir wollen kein Gesetz verletzen. Bei uns hat jeder Recht auf Arbeit entsprechend seinem Beruf und seiner Ausbildung. Als Oberingenieurin könnten Sie in der Werkstatt Nr. 4 bleiben, allerdings ohne Zugang zum Spezialarchiv – das ist in Ihrem Interesse!« »Und wieviel werde ich als Oberingenieurin verdienen?« »Das Minimalgehalt eines Oberingenieurs – 135 Rubel monatlich.«
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»Jetzt verdiene ich 220 Rubel im Monat. Hab ich denn nicht das Recht, entsprechend meiner Ausbildung bezahlt zu werden?« »Sie sind ja keine vollwertige Ingenieurin mehr, wenn man Ihnen nicht jedes Projekt anvertrauen kann. Wollen Sie nun freiwillig den Posten der Chefingenieurin aufgeben oder nicht?« »Ich muss es mir überlegen und mich mit meinem Ehemann beraten. In zwei Stunden bekommen Sie meine Antwort.« Ich rufe Jochen an und wir treffen uns. Er ist furchtbar aufgebracht und schimpft: »Diese Marionette! So ein Schweinehund! Er will sich beim KGB verdient machen. Der tut alles, was man ihm befiehlt. Der würde auf Befehl auch morden können!« »Hör auf! Beruhige dich. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir um die Ausreise kämpfen oder nicht?« »Natürlich wollen wir das! Aber was hat das mit deiner Arbeit zu tun?« »Moment mal! Wenn wir weg wollen, nehmen wir jedes Opfer auf uns, das uns abverlangt wird. Hauptsache, wir bleiben am Leben und erreichen unser Ziel. Außerdem hätte es ja schlimmer kommen können. Man wirft mich ja nicht hinaus. Wir können noch dankbar sein. Vor 20 Jahren zwang man mich mit Berufsverbot, ›freiwillig‹ die LBA zu verlassen. Daran bin ich fast zerbrochen. Ich möchte es diesmal nicht so weit kommen lassen.« Ich gehe ins Projektinstitut zurück, um das entsprechende Gesuch einzureichen. Da begegnet mir auf der Treppe meine jüdische Kollegin, auch eine Chefingenieurin des Projekts, und richtet folgende Worte an mich: »Sie sahen ganz verstört aus, als Sie aus dem Büro des Direktors kamen. Wie können Sie sich nur so aufregen? Sie wissen hoffentlich, worauf Sie sich da einlassen?! Da müssen Sie auf manches gefasst sein.« »Ja, danke, ich werde damit schon fertig. Nur das Benehmen unseres Direktors ist für mich so überraschend – seine Engstirnigkeit. Wie man sich in den Leuten täuschen kann! Aber mein Mann meint, der
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Direktor handle auf Befehl. Das wäre eine Erklärung, das könnte ich verstehen. Schließlich hat er ja auch eine Familie und muss leben.« »Richtig! Behalten Sie einen klaren Kopf.« Wir verlieren auf einen Schlag alle unsere Freunde und Bekannten. Niemand kommt mehr zu Besuch. Auf der Straße werden wir von ihnen nicht mehr gegrüßt. Ein junger Kollege meines Mannes ist so frei, es ihm zu erklären: »Ja, ihr fahrt weg, und ich muss bleiben. Ich tue nur, was von mir verlangt wird. Ihr sollt isoliert werden. Das gehört zum Plan eurer Umerziehung.« Mit der Isolierung klappt es nicht so richtig, denn unerwartet finden sich bei uns nach und nach Leute ein, die wir bisher nicht gekannt haben. Es sind Deutsche und Juden, die auf die eine oder andere Weise mit den Problemen der Ausreise konfrontiert werden. Ihre Namen darf ich hier nicht nennen. An meinem Arbeitsplatz bin ich täglich kleinen Schikanen ausgesetzt. Einmal entwerfe ich den Bebauungsplan einer Siedlung, wozu ich mir den Band mit den Ausgangsdaten im offenen Archiv, zu dem ich Zugang habe, hole und auf meinen Namen eintragen lasse. Bald kommt eine blonde Schönheit zu mir – Marja Iwanowna Igonina – eine Russin, die Gruppenleiterin der Santechniker, und sagt: »Haben Sie die Ausgangsdaten? Ich muss sie ein sehen.« Ich lege den Band auf den Tisch, sie nimmt neben mir Platz und blättert ein paar Minuten darin herum. »Ich muss mir ein paar Daten herausschreiben. Darf ich den Band an meinen Arbeitsplatz mitnehmen?« »Ja, aber vergessen Sie bitte nicht, ihn mir zurückzugeben!« Sie geht in ihr Zimmer. Zwei Tage später kommt eine andere Mitarbeiterin derselben Gruppe mit derselben Bitte. »Den Band hat Marja Iwanowna ...« »Igonina?! Aber die schickt mich ja zu Ihnen, weil ich ihr die Ausgangsdaten besorgen soll.« »Vor zwei Tagen hat sie den Band bei mir abgeholt. Sie hat es wohl vergessen.«
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Ein paar Stunden später kommt noch jemand und verlangt von mir die Ausgangsdaten. Dann treten noch Leute aus der Elektrikergruppe mit dieser Bitte an mich heran. Ich schicke sie alle zur Igonina. Die aber schickt alle zu mir zurück. Ich gehe schließlich zu ihr. »Marja Iwanowna, Sie haben mir die Ausgangsdaten nicht zurückgebracht ...« »Weil ich sie bei Ihnen nie genommen habe, Adina Petrowna!«, fällt sie mir ins Wort. »Sie haben den Band offenbar verlegt und sollten ihn daher schnellstens suchen.« »Darf ich in Ihrem Tisch nachsehen?«, frage ich. »Wieso in meinem Tisch? Sind Sie verrückt?! Wie sollte das Material wohl in meinen Tisch kommen?« Zwei Wochen lang kommt täglich jemand zu mir und erkundigt sich, ob das verlorene Stück wieder aufgetaucht sei. Ich weiß, dass es wirklich von allen beteiligten Gruppen dringend gebraucht wird. Schließlich fasse ich den Mut, offen auszusprechen, was hier meines Erachtens in der Luft hängt: »Ich bin überzeugt, dass niemand Piroggen oder Fisch in das Material eingewickelt hat. Nur ist jemand daran interessiert, mich zu schikanieren, und benutzt dazu euch alle. Ich kann nicht einfach im Tisch der Igonina nachsehen und sie selbst tut es nicht. Aber zwei oder drei von euch könnten es gemeinsam tun.« Zwei meiner ehemaligen Studenten aus dem industriellen Institut, die inzwischen Ingenieure geworden sind, erklären sich bereit, das zu machen, und schreiten sofort zur Tat. Kurz darauf kommen sie zurück und legen triumphierend den lange gesuchten Band auf meinen Tisch. »Marja Iwanowna ist nicht da, sie ist in einer Besprechung. Wir haben ihren Tisch aufgemacht und ganz vorne lag obenauf der Band. Da haben wir gar nicht zu suchen brauchen.« Wir gehen sofort ins Archiv, wo ich den Band abgebe und aus meiner Benutzerkarte streichen lasse. Einer der beiden jungen Ingenieure lässt den Band auf seinen Namen eintragen und nimmt ihn mit. Als ich kurz darauf auf dem Gang die Igonina treffe, sagt sie lächelnd:
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»Ich habe gehört, Adina Petrowna, Sie hätten die Ausgangsdaten wiedergefunden? Wo waren Sie denn?« Darauf ich, ebenso lächelnd: »In Ihrem Tisch, Marja Iwanowna!« »Was? Sie haben in meinen Sachen gewühlt?« »Nein, das haben andere besorgt. Und man brauchte gar nicht erst zu wühlen. Der Band lag ganz oben!« »Ach, diese Schufterei ist zum Verrücktwerden! Da verliert man glatt die Übersicht«, seufzt sie. »Vielleicht auch das Gewissen?«, frage ich. Seither nehme ich nichts mehr aus dem Archiv mit. Das besorgen jetzt andere für mich – Gott sei Dank habe ich hier auch Freunde. Aber die Schikane wird auf verschiedene Art fortgesetzt. Ein weiteres Beispiel: Ich mache eine sehr dringende Arbeit, werde von meiner Gruppenleiterin ständig angetrieben, mich zu beeilen, und muss ihr sogar versprechen, am kommenden Wochenende Überstunden zu machen. Da kommt der Werkstattchef herein und ordnet an, ich solle mit mehreren jungen Zeichnerinnen aus anderen Werkstätten mitgehen und die Straße kehren. Meine Gruppenleiterin will eingreifen und sagt: »Adina Petrowna arbeitet doch an dem brandeiligen Projekt ...« Sie wird unterbrochen: »Adina Petrowna kann keine verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut werden! Sie ist gerade noch gut genug fürs Straßenkehren.« Ich hebe lachend den Kopf über dem Reißbrett und sage: »Mit Vergnügen verlasse ich diese muffige Atmosphäre und gehe an die frische Luft! Allerdings werde ich am Wochenende nicht arbeiten, weil das Projekt anscheinend doch nicht so dringend ist, wie behauptet wird.« Als ich drei Stunden später zurückkomme, führen meine jungen Kollegen aufgeregt eine Diskussion. »Sie hätten sich das nicht gefallen lassen sollen. Das ist doch eine Erniedrigung!«
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»Erniedrigung? Je nachdem, wie man es sieht«, sage ich. »Als im vorigen Jahrhundert die Dekabristen in der Verbannung die Straßen von Irkutsk schneefrei schaufelten, lief die Bevölkerung zusammen, um das zu sehen. Es waren immerhin Gardeoffiziere und ihre adeligen Frauen. Für die war das vielleicht eine Erniedrigung, denn die hatten ja eine Standesehre, die man verletzen konnte. Aber ich bin keine Gräfin. Und die Ehre eines Sowjetbürgers sieht ganz anders aus. Heutzutage werden alle Städte der UdSSR von Ingenieuren, Ärzten und Professoren gefegt und gereinigt. Da bin ich doch in guter Gesellschaft und fühle mich direkt geehrt! Ich kann nur dem Dichter Majakowskij zustimmen, der schreibt: ›Ich bin Latrinenund Trinkwasserfuhrmann, Von der Revolution mobilisiert und berufen.‹ « »Wie schlagfertig Sie immer sind! Da muss man direkt staunen«, äußert die Gruppenleiterin. Als Gipfel der Schikane empfinde ich das Benehmen unseres Direktors. An einem Arbeitstag wird bekannt gegeben, in der Aula finde ein Unterricht in Zivilschutz statt. Die Anwesenheit aller sei Pflicht. Ich gehe auch hinauf in die Aula und nehme Platz. Der Saal ist voll und der Direktor beginnt seine Vorlesung. Plötzlich unterbricht er seinen Vortrag und spricht in den Saal: »Adina Petrowna, Sie dürfen den Saal verlassen. Sie brauchen diesem Unterricht nicht beizuwohnen.« In der Aula kommt alles in Bewegung: Die Leute flüstern, kichern und schauen sich um. »Warum soll ich den Saal verlassen? Bin ich keine Zivilperson? Bin ich etwa ein NATO-General?«, frage ich empört und bleibe sitzen. »Dieser Schlaumeier! Er meint wohl, seine Vorlesung enthalte Staatsgeheimnisse?! Ja, ausgerechnet ihm würde man Geheimnisse anvertrauen!«, mache ich zu Hause meinem Ärger Luft. Am nächsten Tag nehme ich die Ausgabe der Prawda mit, in der die KSZESchlussakte von Helsinki vom 01.08.1975 veröffentlicht wurde und
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die wir sorgfältig aufbewahren. Gleich am Morgen werde ich zum Werkstattchef vorgeladen, der mir sagt, der Direktor habe mich in meinem eigenen Interesse des Saales verweisen wollen. Ich solle mich nicht beleidigt fühlen. »Der Direktor hat eine merkwürdige Vorstellung von meinen Interessen. Wenn ich irgendwo nicht dabei sein soll, sollte er es mich gefälligst vorher wissen lassen. Ich komme zu derartigen Veranstaltungen nicht aus Neugierde, denn was könnte unser Direktor mir schon Neues erzählen! Ich komme einzig und allein der Ordnung halber, damit Sie mir nicht einen Mangel an Disziplin vorwerfen können.« Ich lege die Prawda vor ihm auf den Tisch und zeige mit dem Finger auf ein paar unterstrichene Zeilen: »Da, lesen Sie: Die Sowjetunion bestätigt, dass die Einreichung von Ausreisegesuchen zu keiner Veränderung der Rechte und Pflichten der Antragsteller führen wird. Die KSZE-Schlussakte hat Ministerpräsident und Parteioberhaupt Leonid Iljitsch Breshnew persönlich unterschrieben. Wenn Sie oder unser Direktor mit der Politik der Partei und der Regierung nicht einverstanden sind, so sollten Sie nicht mich schikanieren, sondern sich an Breshnew persönlich wenden. Bitte, informieren Sie unseren Direktor über meine Meinung, und falls er mich zu sprechen wünscht, stehe ich zur Verfügung.« Unter solchen Umständen zu arbeiten ist aufreibend, es kostet viel Geduld und Nerven. Meine »Freunde« sind in Schikanen unendlich erfinderisch – das muss ich ihnen lassen. Ihnen fällt täglich etwas Neues ein. Ich könnte noch unzählige Beispiele nennen. All diese Erlebnisse haben etwas Wesentliches gemeinsam: Die an den Schikanen Beteiligten sind ausschließlich Russen. Kein Kasache, Tatar, Jude oder Deutscher spielt da mit! Nein, ich will damit nicht sagen, dass alle Russen uns schikanieren, sondern umgekehrt – alle, die uns schikanieren, sind Russen. Das ist eine Tatsache, an der keiner vorbeikommt.
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Vertrauen und Verrat
Die letzten fünf Jahre, die wir uns in Pawlodar aufhalten, hören Jochen und ich uns regelmäßig die Sendungen der Deutschen Welle und der Stimme Amerikas an. Es ist für uns das Schlüsselloch, durch das wir versuchen in die weite Welt hinauszugucken. Nur sehr selten haben wir die Gelegenheit, beide gleichzeitig vor dem Radio zu sitzen, und daher liegen daneben in einem geheimen Fach immer ein Block und ein Kugelschreiber bereit. Derjenige von uns beiden, der gerade die Sendungen hört, notiert das Wichtigste in Stichworten, damit es auch der andere mitbekommt. Um uns bildet sich allmählich ein kleiner Kreis von Vertrauten, an den wir die Informationen weitergeben und von dem wir auch interessante Neuigkeiten erfahren. Das läuft in etwa folgendermaßen ab: Es kommen nie alle Personen auf einmal zusammen, einige kennen einander überhaupt nicht. Von manchen Ehepaaren werden wir zu bestimmten Anlässen besucht und dann tauschen wir Informationen aus. Sie wiederum geben diese an ihre Bekannten und Verwandten weiter. Zu anderen gehen wir zu Besuch und dort geschieht dasselbe. Mit weiteren Leuten treffen wir uns am Arbeitsplatz, im Kindergarten, in Wartezimmern von Ärzten, beim Schlange stehen in Lebensmittelgeschäften, im Bus oder in der Straßenbahn. So drängt sich beispielsweise jemand am frühen Morgen in den überfüllten Bus, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, und sieht sich unvermittelt fest an einen seiner Freunde gepresst. Sie wünschen einander einen guten Morgen. Da sagt einer von ihnen leise: »Haben Sie gehört? Leonid Pluschtsch ist in der Psychiatrie?« oder »Tante Welle sagte gestern, Gelij Snegirjöw sei abgeholt worden.« oder »Mustapha Dshamiljöw ist in Hungerstreik getreten!« Wir tauschen Informationen über die Dissidentenbewegung und ihre Verfolgung, die Ausreisebemühungen von Sowjetbürgern jüdischer und deutscher Nationalität, das raffinierte Spitzelsystem des
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KGB und politische Gerichtsverfahren aus. Weitergegeben werden nicht nur Nachrichten, die man im Radio gehört hat, sondern auch Mitteilungen von Verwandten, die in anderen Städten und Republiken leben. So erfahren wir unter anderem von den Verhaftungen zweier deutscher Ausreisewilliger in Eska: Nikolaj Jäger und Daniel Klatt werden wegen Besitzes religiöser Literatur, herausgegeben vom »Untergrundverlag Christ« jeweils zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Zur gleichen Zeit werden auch in anderen Städten Ausreisewillige verhaftet: In Karaganda Rudolf Klassen, in Zelinograd Katharina Kalmus, in Aktjubinsk drei Brüder Peters. Drei Deutsche aus dem Gebiet Pawlodar kommen ums Leben, als sie mit Bibeln des Untergrundverlages Christ unterwegs sind. Die ausreisewilligen Deutschen werden mit allen Mitteln eingeschüchtert. Und wer sich nicht einschüchtern lässt, den versucht man anzuwerben, um aus ihm einen KGB-Agenten zu machen. Nur mit der Anwerbung der Deutschen hat der Geheimdienst schon immer seine liebe Not gehabt. Und wenn ein Deutscher endlich angeworben ist, so kann man ihm dennoch nicht trauen – vielleicht spielt er ein doppeltes Spiel und muss daher genau überwacht werden. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein paar Geschichten, die mir zu Ohren gekommen sind. Während des politischen »Tauwetters« nach Stalins Tod werden zwei deutsche Burschen, meine ehemaligen Schulkameraden, aus einem Kolchos zum Wehrdienst eingezogen. Einer von ihnen ist Jürgen Wiebe. Seine Mutter ist während des Zweiten Weltkrieges in der Verbannung verhungert. Sein Vater hat in Deutschland vor kurzer Zeit die Anschrift seines Sohnes durch das Rote Kreuz erfahren und schreibt ihm seitdem Briefe. Am Sammelpunkt in Swerdlowsk werden die Rekruten gemustert, kahl geschoren, geimpft, uniformiert, in Viehwaggons verfrachtet und mit der Bahn in den Altaj geschickt. Dort setzt man sie bei der Einbringung der Ernte ein. Monate später werden sie – verdreckt, verlaust und verkommen wie sie sind – wieder in Viehwaggons gesteckt und in den Fernen Osten
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an den Amur bei Sawitinsk gebracht. Der Dienst in Pioniertruppen im Fernen Osten ist auch heute noch der schwerste, den es in der UdSSR gibt: Hier werden Sümpfe trockengelegt und wird der Wald gerodet. Die Jungs arbeiten mit Traktoren, Großraumkippern und Baggerladern. Die Verpflegung ist knapp und schlecht, meistens gibt es nur Fischsuppe und ein wenig Brot. Ihre von Fett durchtränkte Kleidung wärmt nicht und ist so dreckig, dass sie am Körper klebt. In diesen Pioniertruppen dienen eigentlich Soldaten, die straffällig geworden sind: Wenn sich jemand während der Dienstzeit etwas zuschulden kommen lässt, vom Gericht zu bis zu fünf Jahren verurteilt wird und seine Zeit abgesessen hat, kommt er zum weiteren Dienst in solche Truppen. Mittlerweile werden auch die vor kurzem von der Kommandantur befreiten deutschen Burschen in die Pioniertruppen eingezogen, die eigentlich Sträflingseinheiten sind. Selbstverständlich wird die Freundschaft meiner Kameraden durch den schweren Militärdienst noch fester. Irgendwann merkt Jürgen Wiebe, dass sein Freund besonders bedrückt ist, und erfährt auch bald die Ursache: Der Hauptmann habe ihn vorgeladen und sich mit ihm über Jürgen unterhalten. Erst habe der Hauptmann lange über Vaterlandsfeinde, Spionage und Diversionen gesprochen, und ihm dann den Auftrag erteilt, Jürgen Wiebe zu überwachen. »Alles, was er denkt, sagt und tut, muss der ersten Abteilung gemeldet werden«, habe er gesagt. »Aber Soldat Wiebe ist kein Diversant, er ist mein Freund«, habe der Bursche erwidert. »Um so besser. Wem würde er wohl seine geheimen Gedanken, Gefühle und Absichten verraten, wenn nicht seinem besten Freund. Sie sind sein Freund, aber auch Soldat. Ihre Pflicht ist es, das Wohl des Vaterlandes höher zu schätzen als die Freundschaft mit einem Menschen, der nach Westen schielt und uns in Zukunft viel Ärger machen kann!« »Welche Diversionen sind denn hier in diesen Sümpfen schon zu befürchten?« »Ideologische natürlich! Wir müssen unsere Soldaten vor der feindlichen Ideologie des Westens schützen!«
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Die Burschen treffen eine Vereinbarung. Stellt der Hauptmann dem einen Fragen über Jürgen Wiebe, beraten sich die Freunde und formulieren gemeinsam die Antworten im positiven Sinne der sowjetischen Ideologie. Dieses Spiel treiben sie fast zwei Jahre lang und lachen sich dabei ins Fäustchen. Es wäre zu komisch, wenn es nicht tragisch geendet hätte. Da schickt der Vater des Soldaten Wiebe seinem Sohn aus Deutschland einen Wysow, das heißt eine Aufforderung zu ihm zu kommen, woraufhin Jürgen versucht, einen Ausreiseantrag zu stellen. So eine Frechheit! Der Vater verlangt, seinen Sohn nicht nur aus den Sümpfen, sondern auch aus dem Paradies der Arbeiter und Bauern freizugeben. Die »erste Abteilung«, also das Komitee der Staatssicherheit, empfindet diese Aufforderung als Ohrfeige und reagiert entsprechend: Soldat Wiebe wird noch weiter nach Osten verlegt, noch tiefer in die Sümpfe geschickt. Sein Freund bleibt allein und kommt kurz darauf ums Leben – angeblich durch einen Unfall. Er hatte das Pech, keinen Vater in Westdeutschland zu haben. In den folgenden Jahren wagen es immer mehr Deutsche, den angebotenen Spitzeldienst zu verweigern, wozu man allerdings Mut braucht und Opfer bringen muss. Anfang der 60er Jahre studiert ein Deutscher Physik an der Universität in Saratow. Von ihm wird verlangt, dass er seine Nachbarn im Studentenheim bespitzelt. Man will wissen, mit wem sie verkehren, worüber sie sich unterhalten, wann sie am Abend ins Studentenheim kommen und dergleichen. Der Student denkt nach: »Wer sind meine Zimmernachbarn? – Juden. Mit wem verkehren sie? – Mit anderen Studenten und Professoren dieser Uni, die ebenfalls jüdischer Abstammung sind. Worüber unterhalten sie sich? – Klar, über ihre gemeinsamen Probleme, die niemanden etwas angehen.« Ihm ist klar, dass man aus ihm einen kleinen, gemeinen Zuträger machen will, und lehnt ab. Die »Auftraggeber« sind so zudringlich, dass der Student, nur um sie loszuwerden, sein Studium aufgibt. Anfang der 70er Jahre werden zwei Deutsche mit Hochschulbildung umworben. Der eine ist auf beiden Augen sehr kurzsichtig und lehnt
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den angebotenen Dienst ab, mit der Begründung, dass er ja fast nichts sehen könne und schon froh sei, seine eigentliche Arbeit einigermaßen richtig machen zu können. »Sie brauchen ja nichts zu sehen, es genügt, wenn Sie gut hören«, sagt man ihm. Später erzählt er mir, wie schwer es gewesen sei, diese Leute loszuwerden, und dass er dabei sogar krank geworden sei. Immer, wenn sie sich bei ihm angekündigt, ihn angerufen oder vorgeladen hätten oder zu ihm gekommen seien, habe sein ganzer Körper angefangen zu jucken. Er hätte schließlich in einer Nervenklinik behandelt werden müssen. Den anderen Akademiker, der von Beruf Chemiker ist, versucht man anlässlich seiner Ausreisebemühungen anzuwerben. Als er ablehnt, wird ihm gesagt, er werde nie, unter keinen Umständen, lebend dieses Land verlassen. (Erst 1991 ist er mit seiner Familie nach Deutschland gekommen). Ende der 70er Jahre dienen zwei Deutsche, die beide Verwandte in Deutschland haben, in der Sowjetarmee. Vor der Entlassung wird der eine gefragt, wie er dazu stehe, dass seine Eltern nach Deutschland ausreisen wollen. Er antwortet: »Ich möchte mit ihnen mit, was soll ich hier allein?« »Würdest du mit uns zusammenarbeiten?« »Was heißt zusammenarbeiten? Und mit wem? Mit der Armee, dem Sicherheitsdienst oder mit der Miliz?« »Wir sind vom Sicherheitsdienst.« »Nein, mit dem KGB will ich nichts zu tun haben.« »Warum denn nicht? Gefalle ich dir nicht?« »Sie persönlich kenne ich nicht. Aber vom KGB wird im Volke nichts Gutes erzählt!« Der andere wird vor seinem Ausscheiden ebenfalls zu einer Unterhaltung vorgeladen. Vor ihm sitzt ein grauhaariger, sympathischer und gutmütiger Mann und fragt ihn mit müder, fast väterlicher Stimme, was er nach der Entlassung wohl anfangen wolle, welche Pläne er für die Zukunft habe.
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»Ich möchte meinen Vater gerne kennen lernen«, kommt die schüchterne Antwort. »Ihren Vater? Der lebt doch in Deutschland? Ja, das ist ein edles Ziel. Sie sind ein guter Mensch. Ich wäre glücklich, einen solchen Sohn zu haben. Ich habe bis jetzt Ihre Akte geführt und weiß alles über Sie. Nun verabschieden wir uns beide von der Armee: Ich gehe in den Ruhestand und Sie – ins große Leben hinaus. Sie sind jung und kräftig, vor Ihnen liegt noch Ihr ganzes Leben: Wagen Sie etwas! Haben Sie Mut! Ihnen, der jetzigen Generation, steht alles offen – Hochschulbildung, Ehe, Familie. Möchten Sie studieren? Haben Sie eine Braut? Nein? Na, die werden Sie bestimmt finden. Und dann könnten Sie auch Ihren Vater kennen lernen. Nichts ist unmöglich!. Ich wünsche Ihnen viel Glück!« Sie verabschieden sich voneinander. Nach der Entlassung wird der Bursche Student an der Uni in Almaty und ein halbes Jahr später heiratet er ... »Seitdem habe ich nie mehr bemerkt, dass ich beschattet oder bespitzelt werde«, sagt er mir heute. Ich verrate an dieser Stelle ein Geheimnis: Er hat eine Russin geheiratet und, wie bekannt, sieht man im eigenen Auge den Balken nicht. Wenn man die unbelehrbaren Deutschen nicht anwerben kann, muss man sich auf andere Weise helfen! Der einzige Weg ist, so viele Russenfrauen wie nur möglich »an den deutschen Mann« zu bringen. Gleich nach dem Studium ist er mit seiner Familie in die Bundesrepublik ausgewandert – ohne Schwierigkeiten, versteht sich! So viel ist der Glückwunsch eines KGB-Offiziers wert. All diese Vorgänge zeigen, wie schwierig es für den KGB ist, zuverlässige Mitarbeiter deutscher Nationalität zu finden. Umso eifriger dienen ihm die russischen Zuträger. In welchem Ausmaß wir zu jener Zeit bespitzelt werden, ist kaum zu beschreiben! Am Arbeitsplatz spüre ich ständig den bohrenden Blick der Gruppenleiterin Födorowa in meinem Nacken. Sie beobachtet jeden meiner Schritte, jede Geste, jedes Wort. Ständig liegt sie auf der Lauer, ist sie mir auf den Fersen und hat dadurch kaum noch
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Zeit für ihre offizielle Arbeit. Es scheint, als werde sie für meine Überwachung bezahlt und habe keine anderen Aufgaben. Als ich in einer Mittagspause einen Melonenkürbis kaufe und mich mit einer deutschen Kollegin über ein Kochrezept unterhalte, fragt sie hinterher meine Kollegin: »Worüber habt ihr euch denn so lebhaft unterhalten?« Und bekommt die Antwort: »Über Kochrezepte mit Melonenkürbissen. Sie meinen wohl, dass hier in den Mittagspausen eine Revolution geplant wird?!« Als die Födorowa mir im Laufe ihres Schlangendienstes einmal ihr heuchlerisches Mitleid bekundet, kommt es zwischen uns zu folgendem Gespräch: »Ja, Sie haben es jetzt schwer. Aber Sie haben es sich ja selbst eingebrockt. Wenn Sie nicht plötzlich nach Deutschland hätten ausreisen wollen! .... « »Ich bin glücklich, dass ich es will. So erfahren ich und andere wenigstens, wie weit Theorie und Praxis des Kommunismus auseinander klaffen! Unsere Regierung ist bemüht, in der Weltöffentlichkeit ein menschliches Gesicht zu bewahren und unterschreibt verschiedene Dokumente über die Menschenrechte. Wenn aber Sowjetbürger von diesen Rechten Gebrauch machen wollen, so sehen sie Menschenfresser vor sich! Man wird schikaniert und bespitzelt, dass einem die Luft weg bleibt und die Lebenslust vergeht ...« »Von wem denn?«, tut sie sehr erstaunt. »Von Ihnen zum Beispiel. Denken Sie ja nicht, dass ich blind bin, Genossin Födorowa. Ich habe in diesen Fragen Erfahrung – mein Leben lang werde ich schon bespitzelt und beobachte meinerseits die Schlangen, die das tun.« »Sie machen was?! Sie ...«, vor Staunen und Empörung bleibt ihr fast die Luft weg. »Ja, ja, Sie haben richtig gehört: Ich beobachte meine Beobachter. Warum nicht? Es ist doch interessant zu wissen, wer und wie sie sind und warum sie es tun? Wollen Sie das Ergebnis meiner Beobachtungen hören? – Es sind in aller Regel keine Parteimitglieder
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und fast immer Russenweiber, sehr selten Männer, die, ohne besondere Leistungen in ihrem Beruf vorweisen zu können, einen gut dotierten Posten haben. So wie Sie. Und ich habe auch herausbekommen, warum sie es tun!« »Hören Sie auf! Sie sind verrückt!« »Verrückt?! Das würde Ihnen so passen! Trifft leider nicht zu!« Unsere Kollegen haben sich um uns versammelt. Wütend, mit hochrotem Kopf, verlässt Sie den Raum. Nach ihr werde ich abwechselnd von Tamara Sokolowa, Wera Filatowa und Lidia Timoschina bespitzelt. Es sind alles gut bezahlte Russinnen mit Hühnerverstand. Sie ärgern mich, reizen mich bis aufs Blut. Sie provozieren mich so sehr, dass mir Sehen und Hören vergeht! Ich habe diese Frauen Tag für Tag um mich, werde von ihnen auf Schritt und Tritt verfolgt. Es gibt für mich kein Entkommen. Am Ende des langen, dunklen Tunnels ist kein Licht in Sicht. Ich empfinde Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung. Wie lange noch? Wie lange?! Manchmal raffe ich mich auf und führe meine Spitzelmeute nach Belieben an der Nase herum. Auf der Straße werde ich ständig von kriminell aussehenden Typen verfolgt und im überfüllten Bus wird öfters der Inhalt meiner Handtasche kontrolliert, das heißt – ich werde bestohlen. Als ich einmal aus dem Bus aussteige, begegne ich einer deutschen Rentnerin, mit der ich gut befreundet bin. Wir gehen einige Schritte nebeneinander, dann bleiben wir vor ihrem Hauseingang stehen, um uns voneinander zu verabschieden. Da sagt sie plötzlich: »Schauen Sie sich nicht um! Da steht ein Typ, der Ihnen vom Bus her gefolgt ist. Jetzt raucht er und wartet.« Ich gehe in den Kindergarten, um meinen Sohn abzuholen, und der Kerl aus dem Bus folgt mir. Meine Freundin beobachtet es. Am nächsten Tag wiederholt sich das Ganze. Mein »Schutzengel« steht eindeutig im Dienste des KGB! Im Kindergarten treffe ich eine mir bekannte Russin, die als Agronom arbeitet. Sie soll eine Blumenausstellung gestalten und fragt mich um Rat. Wir unterhal-
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ten uns. Unsere Kinder laufen gemeinsam zur Rutsche. Da sagt sie plötzlich: »Wartet der Mann auf Sie? Der geht uns schon die ganze Zeit nach!« »Ach, lassen Sie ihn doch! Ich habe jetzt ständig so eine Art Ehreneskorte und gewöhne mich schon langsam daran. Das sind meine Schutzengel vom KGB.« »Was Sie nicht sagen! Hätte ich es nicht selbst gesehen, würde ich nie glauben, dass bei uns so etwas möglich ist.« Zu Hause kommt unsere russische Nachbarin mehrmals täglich zu »Besuch«, ohne eingeladen worden zu sein. An den Wochenenden läuft das in etwa wie folgt ab: Es läutet an unserer Tür, ich öffne und die Nachbarin steht vor mir. Sie grüßt mich, lächelt blendend und bittet mich um etwas Salz (oder zwei Eier oder ein Glas Zucker oder einen halben Laib Brot oder ...). Während ich in die Küche gehe, schaut sie in unser Wohnzimmer hinein und sagt: »Oh, du hast Besuch?« Sie begrüßt die Anwesenden, nimmt von mir die Tasse mit Salz entgegen und geht. Bald darauf kommt sie wieder und fragt nach ihrer Tochter, ob sie bei uns sei, denn es sei ja Mittagszeit. Sie lässt sich ständig etwas Neues einfallen. Man muss doch schließlich auf dem Laufenden sein und genau wissen, wer wann gekommen und gegangen ist. Abends kommt sie immer, um zu sehen, ob wir daheim sind oder ob wir Besuch haben. Einmal holt sie um 20 Uhr ihre Tochter ab und fragt: »Du bist wohl allein? Wo ist denn dein Mann?« »Der ist noch nicht von der Arbeit zurück.« »So spät? Machst du dir nicht Sorgen?« »Nein. Er hat angerufen und gesagt, es könnte spät werden, weil er nach Jermak fahren müsse.« Eine Stunde später kommt sie und bringt zwei Eier, die sie sich am Tag zuvor geliehen hat. Um 22 Uhr, als die Kinder schon schlafen, kommt sie mit einem Fotoapparat in der Hand und bittet: »Kannst du mir helfen? Ich wollte den Film entwickeln, aber die Öffnung klemmt!«
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»Tut mir leid, aber ich verstehe nichts von Fotoapparaten.« »Und Jochen? Vielleicht könnte er mir helfen?« »Der schläft schon. Er muss morgen früh aufstehen.« An einem Sommertag, nachdem ich meinen Sohn aus dem Kindergarten abgeholt und eingekauft habe, lasse ich mich im Hof unserer Wohnanlage müde auf eine Bank nieder. Schon sitzt meine Nachbarin neben mir. Unsere Söhne spielen im Sand und unsere Töchter breiten neben uns auf einem Tisch ihre Schätze aus – sie sammeln Abzeichen und Anstecknadeln und führen damit einen regen Tausch. Lera, das Russenkind, prahlt: »Diese zwei Abzeichen hat mir mein Papa von einer Dienstreise mitgebracht, aber ich kann sie dir nicht geben, weil ich von jedem nur eins habe.« Meine Tochter kontert: »Mein Papa wird auf eine Dienstreise nach Moskau fahren und mir zehn so schöne Abzeichen mitbringen!« Die Frau fragt mich: »Geht dein Mann auf Dienstreise nach Moskau?« »Ich weiß nicht. Jemand soll fahren, aber wer, das weiß ich nicht. Das steht noch nicht fest.« Kurz darauf wird Jochen für zehn Tage in einen Kolchos geschickt, wo er bei der Getreideernte eingesetzt wird. Nach Moskau fährt sein Chef an seiner Stelle. Wir sitzen wieder einmal auf der Bank im Hof und unsere Kinder spielen neben uns. Da sagt meine Nachbarin plötzlich: »Warum belügst du mich?« »Ich? Wieso meinst du das?«, staune ich. »Sagtest du nicht gestern, Jochen wäre für zehn Tage weg?« »Ja, in einen Kolchos, zur Getreideernte.« »Aber da kommt er ja!« Mein Mann kommt tatsächlich durch den Hof gegangen. Ich rufe ihn herbei und frage: »Sollten es nicht zehn Tage sein? Es sind kaum vier vergangen! Hast wohl schon Heimweh?«
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»Zum baden hat man uns nach Hause gebracht. Morgens um fünf Uhr werde ich wieder abgeholt.« »Bist du zufrieden?«, frage ich meine Nachbarin und gehe das Abendessen machen. Damit ist die Sache aber nicht erledigt: Zwei Wochen später bekomme ich einen Brief von meiner Freundin und ehemaligen Nachbarin aus Aprelewka im Gebiet Moskau. Unter anderem fragt sie, was bei uns los sei, denn ein junger Polizist habe meinen Mann bei ihnen gesucht. Als sie versichert hätten, meinen Mann schon sehr lange nicht mehr gesehen zu haben, habe der Polizist sein Notizbuch aus der Tasche gezogen und gefragt, wo Jochen sich aufhalten könnte, falls er doch in Aprelewka sei. Und er habe aus seinem Notizbuch alle Namen meiner ehemaligen Kollegen aus der Aspirantur aufgezählt. Ha ha! Falscher Alarm beim KGB! Schadenfreude bei uns. Später überführe ich meine Nachbarin noch öfters. Jochen ärgert sich und verlangt, ich solle ihr sagen, dass wir wüssten, welches Spiel sie treibe. Ich lehne das ab: »Der Födorowa habe ich es gesagt und was hatte ich davon? Sie wurde von der Sokolowa abgelöst, mit der ich es viel schwerer habe, weil sie klüger ist. Nein, weißt du, es ist sehr wichtig, seinen Schatten zu kennen, dann kann man den Geheimdienst nötigenfalls mit beliebigen Meldungen abspeisen.« Soweit mir meine »Schatten« bekannt sind, handelt es sich durchweg um Russenfrauen. Im Spitzeldienst unter der Zivilbevölkerung steht die Russenfrau ehrlich und redlich ihren Mann! Die wenigsten von ihnen tun es in der Überzeugung, dem Vaterland einen guten Dienst zu leisten und es vor Feinden zu schützen. Die meisten tun es für materielle Vergütungen: Man erhält eine Prämie am 7. November, zu Neujahr oder am 1. Mai, man bekommt eine staatliche, komfortable Wohnung, man wird befördert und erhält eine Lohnerhöhung, man wird bevorzugt in Listen für den Erwerb von Teppichen, Möbelgarnituren und Autos eingetragen und kostenlos zur Kur geschickt. Den KGB-Agenten werden auch Auslandsreisen als Touristen zugestanden. Soweit ich die Sache überblicken kann,
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sind die KGB-Agenten in ihrer überwiegenden Mehrheit Russen. Wer da sagt: »Die kommunistische Diktatur lehne ich ab, aber ich liebe das russische Volk, denn es ist ja dasselbe geblieben!«, der ist im Irrtum. Ich kann den Leuten diese Wunschvorstellung einfach nicht lassen, weil sie nicht der Wahrheit entspricht. Die russische Sprache und klassische Literatur sind dieselben geblieben, nicht aber das Volk! Fast 70 Jahre schon dient dieses Volk der Diktatur als Werkzeug der Gewalt, Unterdrückung und Lüge. Es kann ja gar nicht dasselbe geblieben sein! Unter dem Druck der kommunistischen Propaganda verliert dieses Volk immer mehr seine edlen Charakterzüge wie Würde und Barmherzigkeit, und verfällt immer mehr der Trunksucht, Habgier und Käuflichkeit. Die Moral des russischen Volkes ist derart gesunken, dass Spitzeldienst und Verrat von Freunden als Heldentum gelten. Nicht allzu viele Russen haben die Kraft und den Mut, sich der Diktatur zu widersetzen. Diese wenigen werden als Abschaum, Außenseiter und Sonderlinge abgetan und fristen ihr Dasein in Gefängnissen und psychiatrischen Heilanstalten, schmoren irgendwo in der Peripherie still vor sich hin oder fliehen ins Ausland. Die Mehrheit des russischen Volkes hat keinen moralischen Halt und steht der Diktatur bei der Durchführung ihrer menschenfeindlichen Politik im In- und Ausland uneingeschränkt zur Verfügung. Hasse ich die Russen? Nein, ich hasse sie nicht. Ich habe nur leider keinen Anlass gefunden, ihnen eine Liebeserklärung zu machen. Sieben Männer in meiner Verwandtschaft wurden von Russen umgebracht. Bis zur Ausreise im Jahre 1980 wurden wir diskriminiert, schikaniert und bespitzelt. Und keiner der verantwortlichen Russen hat jemals seine Taten bereut – diese Leute sind der Reue einfach nicht gewachsen, dazu fehlt ihnen die moralische Größe. Was ich in diesem Buch über die Russen habe sagen müssen, macht mich unendlich traurig. Ich kann ihnen leider nicht helfen und muss sie ihrem eigenen Gewissen und Schicksal überlassen.
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Nachwort
Am 18.August 1980, um 2 Uhr am Morgen, steigen wir in Braunschweig aus dem Zug und atmen erleichtert auf: »Geschafft! Wir haben es geschafft! Jetzt sind unsere Kinder in Sicherheit!« Jochen umarmt mich und meint: »Du warst ganz schön tapfer!« Ich sage in Tränen aufgelöst: »Aber so viele stecken noch in der Kloake, führen einen aussichtslosen Kampf oder haben ihn aufgegeben.« Plötzlich höre ich die Kinder schreien: »Mami, Mami, schau mal, hier wachsen Blumen!« Die Ärmsten. Sie kommen ja aus der Wüste und haben in ihrem Leben noch so wenige Blumen gesehen – und schon gar nicht an Bahnhöfen! Es ist Nacht und ich sage den Kindern: »Schreit nicht so laut, sonst bekommen die Deutschen Angst und werden rufen: ›Hilfe, Hilfe, die Russen sind da!‹ « Im Morgengrauen treffen wir in Friedland ein, wo wir von RotKreuz-Schwestern empfangen werden. In Friedland läuten die Glocken ... herrlich ... schauerlich ... schön. Mein Mann und ich schauen uns betroffen an – aus dem tiefsten Inneren und von weit her kommt die Erinnerung: Wir haben dieses »liebliche Geläute« schon mal gehört. Unsere Kinder hören es zum ersten Mal. Unsere Edith hält ihre Geige fest an sich gedrückt und sieht sich schüchtern um. Der 6-jährige Alexander hüpft frech auf den Bahnsteig, nimmt seine Plastik-MP vom Hals und schießt. Das Ding macht einen fürchterlichen Krach, der von einem blinkenden Licht begleitet wird. Ich sage den entsetzten Schwestern: »Entschuldigen Sie ihn bitte. Er hat schon zwei Nächte nicht ordentlich geschlafen und ist jetzt ziemlich aufgekratzt. Die Maschinenpistole
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hat ihm die Erzieherin im Kindergarten als Andenken geschenkt, und er lässt sie sich vorläufig nicht wegnehmen. Aber das kriegen wir schon hin, wir sind ja schließlich Pazifisten.« »Woher können sie so gut Deutsch?«, werde ich gefragt. »Ich hatte eine singende Mutter ... Ich will damit sagen, meine Mutter hat mit uns regelmäßig auf Deutsch gesungen und gebetet.« Wir werden registriert. Am Abend lese ich meinen Kindern ein asiatisches Märchen vor, in dem es heißt, derjenige habe nicht umsonst gelebt, der einen Sohn großgezogen, einen Baum gepflanzt und einen Brunnen gegraben habe. »Mutti, erzähl nochmal das Märchen von unserem Opa Peter«, bittet meine Tochter. »Auch ich will! Auch mir! Vom Peter!«, ruft mein Sohn. »Später, Kinder, wenn ihr groß seid, denn das Märchen von eurem Opa Peter ist eine Geschichte für Erwachsene.« Ich bringe die Kinder ins Bett und sitze müde da. Ich bin krank und äußerst erschöpft. Mir bleibt, so fürchte ich, nur wenig Zeit, um den Erwachsenen das »Märchen« von meinem Vater, seinen Brüdern und vielen anderen Russlanddeutschen zu erzählen. Ich fange sofort damit an. Der Sammelprozess hat solche Ausmaße angenommen, dass ich unter der ganzen Menge und Last der Informationen in meinem Kopf fast zusammenbreche. Ich muss die gespeicherte Information zu Papier bringen, um mich zu befreien. Noch immer grabe ich meinen Brunnen ... »Die Demütigen leitet er nach seinem Recht, die Gebeugten lehrt er seinen Weg.« Psalm 25,9
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Bibliographie
1. Konsalik, Heinz G.: Arzt von Stalingrad; Lichtenberg Verlag, München, 1974 2. Scholmer, Joseph: Arzt in Workuta – Bericht aus einem sowjetischen Straflager; Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 1963 3. Mehnert, Klaus: Der Sowjetmensch – Versuch eines Porträts; Deutsche Verlags Anstalt GmbH, Stuttgart, 1958 4. Specovius, Günter: Die Russen sind anders – Mensch und Gesellschaft im Sowjetstaat; ECON Verlag GmbH, Düsseldorf - Wien, 1963 5. Schifrin, Avraham: Das Verhör – Die Arbeitslager in der UdSSR; Stephanus Verlag GmbH, Uhldigen, 1977 6. Hartfeld, Hermann: Glaube, trotz »KGB« – Christen in der UdSSR heute; Stephanus Edition, Seewis - Uhldingen, 1978 7. Solschenizyn, Alexander: Der Archipel GULAG (in 3 Bänden); Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg, 1978 8. Kopelew, Lew: Aufbewahren für alle Zeit!; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1976 9. Kant, Immanuel: Werke (6 Bände, russisch), Moskau, 1966 10. Breshnew, L. I.: Neuland (russisch); Moskau, 1979 11. Slowar’ sowremennogo russkogo literaturnogo jazyka, Band 4 (russisch), Moskwa - Leningrad, 1955 12. Hendelman, M. A., Tichomirowa, E. D. und Spektor, M. D.: Planirowka zelinnych selskochosjajstwennych rajonov (russisch); Verlag »Koloss«, Moskwa - Zelinograd, 1964
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