JON LAND
Im Labyrinth des Todes Polit-Thriller
Prolog Lübeck hielt sich das Fernglas vor die Augen. Der Schweiß auf s...
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JON LAND
Im Labyrinth des Todes Polit-Thriller
Prolog Lübeck hielt sich das Fernglas vor die Augen. Der Schweiß auf seiner Stirn beschlug die Linsen, er mußte sie mit dem Ärmel sauberwischen. Die südamerikanische Sonne brannte ihm auf den bloßen Schädel. Er hatte das Gefühl, sein eigenes Fleisch unter der Hitze schmoren zu hören. Doch er konnte sich jetzt nicht damit befassen. Er preßte das Glas noch näher an die Augen. Er fragte sich, ob die Männer auf dem Truck ihn nicht ihrerseits ebenfalls durch Ferngläser beobachteten. Er drehte an der Scharfeinstellung. Es waren jetzt drei Trucks. Einer war offenbar aufgegeben worden, der sengenden Sonne überlassen. Die Soldaten dieses Trucks waren offenbar auf die beiden anderen verteilt worden und zwängten sich zusätzlich auf die Ladefläche. Das ganze Kommando war aber noch genau das gleiche wie in Florencia. Die Männer hatten die Gewehre über den Schultern hängen, ließen Zigaretten durch die Reihe wandern und tranken ab und zu einen Schluck Wasser. Lübeck fuhr sich instinktiv mit der Zunge über seinen ausgedörrten Gaumen und faßte nach seiner Feldflasche. Er hatte nur noch wenig kostbares Wasser übrig und durfte nichts davon in einer plötzlichen Laune vergeuden. Auch wenn die Soldaten dort unten sich ganze Kanister voll in den Mund laufen ließen und es dann wieder neben ihre Kampfstiefel ausspuckten. Lübeck lief ein Schauer über den ganzen Körper. Es war ein Wunder, daß er sie überhaupt gefunden hatte. Sein Jeep war vor etwa zehn Meilen stehengeblieben. Nur mit einem Querfeldein-Gewaltmarsch ohne Rast und Pause war es ihm überhaupt gelungen, dem Konvoi auf den Fersen zu bleiben. Wenn auch nur auf Kosten schlimm schmerzender, wundgelaufener Füße, und fast totaler Hitzeerschöpfung. Er wußte immerhin, dass er noch immer in Kolumbien war, wenn auch weit unten in jenem schmalen Zipfel des Dreiländerecks, unweit des Flusses Putumayo, wo das Land an Peru und Brasilien grenzte. Unklar war nur, was ein bewaffneter Konvoi, der kein bestimmtes Land vertrat, hier zu suchen hatte. Es ergab keinen Sinn und war allenfalls ein weiteres Puzzleteil einer Geschichte, die bisher nur aus solchen Fragmenten bestand. Einer der Männer dort unten schien zu ihm heraufzublicken. Lübeck kauerte sich auf seine Ellbogen nieder und preßte das Fernglas eng
an die Augen - mit seiner rechten Hand und mit dem Stahlgreifer, der die linke Hand ersetzte. Er staunte immer wieder, was man mit diesem Ding alles anstellen konnte. Ein Wunder der modernen Wissenschaft und Technik . . . Der Unfall hatte ihn von Nam ferngehalten, nicht aber vom Nachrichtendienst und aus der Branche. Im Gegenteil, er wurde der Beste, weil man ihn ständig unterschätzte und nur bemitleidete. Von ihm erwartete man eben nur, er solle - und werde - dasLos eines Krüppels tragen. Aber er selbst hatte hatte sich nie als Krüppel gefühlt. Falls er daran überhaupt dachte, dann war für ihn seine Prothesenhand eine Zusatzausrüstung. Wenn er den Greifer schloß, war dieser auch als tödliche Waffe zu benutzen eine, die immer verfügbar und stets bereit war. Immer. Er erinnerte sich an das erste Mal, da er sie benutzt hatte, vor fast fünfzehn Jahren . . . In Brüssel. Er hatte in einer Bar mit einem Ostagenten zusammengesessen, um Überlaufbedingungen auszuhandeln. Der Mann war hervorragend im Gebrauch von Schußwaffen gewesen, einer der besten. Die Unterhaltung war nicht gut verlaufen. Sie fanden nicht den rechten Umgangston, und der Zeitpunkt war ebenfalls nicht gut gewählt. Noch ehe des Mannes Augen frostig wurden und sein berühmtes blitzartiges Ziehen ankündigten, spürte Lübeck, das sich etwas vorbereitete. Und seine Handzange war dem anderen im Bruchteil einer Sekunde, ehe dessen Hand am Schulterhalfter war, ins Gesicht gefahren. Der Zangengreifer schnitt durch Fleisch wie durch Butter. Lübeck wurde mit ihm zum wahren Meister im Nahkampf. Pistolen, Messer, Hände - seinem Zangengreifer war nichts ebenbürtig. Er hatte keine Gelegenheit mehr, sich auch den verfluchten Vorfall noch einmal in Erinnerung zu rufen, dem er diese eiserne Hand überhaupt zu verdanken hatte. Die Männer auf den Trucks erforderten wieder seine volle Aufmerksamkeit. Sie bestiegen alle wieder die beiden Wagen, und die Fahrer hatten einige Mühe, bis diese ansprangen. Die auf zwei Fahrzeuge zusammengeschrumpfte Kolonne fuhr weiter. Die Straße war so eng, das die Lastwagen nur langsam vorankamen. Lübeck konnte im Laufschritt fast das Tempo mithalten. In der gnadenlosen Hitze ermüdete er freilich rasch. Er trank etwas Wasser und beschränkte sich darauf, so schnell zu bleiben, daß er sie wenigstens nicht außer Sicht verlor, bis sie am Ziel waren.
Die ganze Sache hatte in London mit einem Routineauftrag begonnen, der ihn geärgert hatte, weil er so unglaublich banal erschien. Wenn man einmal Lübecks Level erreicht hatte, konnten einem die Vorgesetzten nicht mehr gut Kleinkram zumuten. Sie hatten einen wenigstens sorgsam und mit Samthandschuhen auf das Unvermeidliche vorzubereiten, ehe es so weit war. Einfach in Pension geschickt zu werden, das gab es sowieso nicht. Statt eine goldene Uhr zu bekommen, wurde man eben Stationschef in einem angenehmen tropischen Land, wo es viel Rum gab und wo man für niemanden erreichbar war und auch selbst niemanden zu fassen bekam. Für Lübeck war London der Beginn eines ruhigeren Lebens gewesen. Das Problem war nur, das er nicht davon überzeugt war, es sei wirklich schon so weit für ihn. Mit anderen Worten, er mußte etwas beweisen. Dann war dieser kolumbianische Diplomat mit seiner unglaublichen Geschichte aufgetaucht. Lübeck hatte ein wenig zu forschen und zu stochern angefangen und war auf eine Spur mit manchen Sackgassen und Umleitungen geraten, und der einzige Wegweiser war nichts als ein Stichwort, das keinerlei Anhaltspunkte bot: TANTALUS. Er hätte sich zum Gespött der ganzen Abteilung gemacht, hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits die Reserven mobilisiert, über die er verfügen konnte. Also folgte er allein und auf eigene Faust dieser seltsamen Spur, die nach Südamerika und zu Truppenkonvoi mit achtzig vollausgerüsteten Kampfsoldaten. Er hatte sie in Bogota aufgespürt und war ihnen dann in dem Jeep, der ihm vor wenigen Stunden unter dm Hintern verreckt war, quer durch ganz Kolumbien gefolgt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er wußte, was sie taten, und damit auch die anderen Puzzleteilchen richtig zusammenpaßten. Er spürte, das er der Antwort nahe war. Er wechselte sein Gepäckbündel von der linken auf die rechte Schulter. Zum Glück war das Radio aus der Station in Bogota klein, kompakt und mit Mikrochips gebaut. Er war dorthin gekommen, ohne ganz genau zu wissen, was er wollte. Der Stationschef hatte ihm aufmerksam zugehört, sich seine Bitten angehört und versprochen, in Bereitschaft zu bleiben. Dann hatte er sich wieder seinem Rum gewidmet. Die Trucks unten rumpelten langsam weiter über die schmale, schlechte Straße. Sie war so schlecht, das die Fahrer fast nur im
Schrittempo fahren konnten. Das ermöglichte es Lübeck, wieder etwas aufzuschließen. Er hätte nun natürlich sein Radio benutzen können, wenn er seine Position gekannt hätte. Es war klar, daß es in dieser Gegend hier nur ein paar kleine, abgelegene, unbedeutende Städtchen und Orte gab, deren Bewohner vorwiegend Bauern waren, und die noch so gut wie im Mittelalter lebten. Wozu um Himmels willen, sollte irgendwer Truppen hierher schicken? Lübecks Nerven wurden allmählich empfindlich. Er wischte sich wieder über die schweißnasse Stirn. Aber sein Ärmel war bereits so nass, das es sinnlos war. Der Schweiß brannte ihm in den Augenwinkeln. Und in seiner Stahlgreifzange hämmerte der Phantomschmerz. Die Trucks verschwanden hinter einer Wegbiegung. Über ihm führte der Bergweg, auf dem er sich befand, in die andere Richtung, und das bedeutete, er mußte nach unten, um dort zuzusehen, das er dranblieb. Er beschleunigte seine Schritte etwas, um nach Möglichkeit zu sehen, wohin der Konvoi sich bewegte, bevor er einen falschen Schritt tat. Fünfzig Meter weiter holte er wieder das Glas hervor und hielt es allein mit seinem Greifer. Die Trucks hatten angehalten. Ein paar Männer, offenbar Offiziere, berieten sich. Ein verwitterter Wegweiser stand am Straßenrand: SAN SEBASTIAN. Das Holz war bereits morsch, die Schrift kaum noch lesbar, aber er konnte sie immerhin noch klar entziffern. Bestimmt eines dieser kleinen Bauernstädtchen. War dies etwa das Ziel der Soldaten? Aus der Stadt kam ihnen tatsächlich ein Jeep entgegengerumpelt. Drei Leute saßen darin. Lübeck richtete sein Fernglas auf sie. Der Fahrer war ein Soldat in der gleichen Uniform wie die Männer im Konvoi. Der Mann neben ihm allerdings schien bedeutender zu sein, obwohl er ebenfalls diese Uniform trug. Sein Haar war lang und gut geschnitten, sein Teint dunkel, die Augen schwarz und glänzend. Von ihm ging eine selbstverständliche Autorität aus, die selbst aus der Entfernung durch ein Glas sichtbar war. Der Jeep blieb vor den Trucks stehen. Lübeck visierte mit dem Feldstecher nun den dritten Passagier an. Er erstarrte fast und fühlte sein Blut stocken. Der Mann stieg aus dem Fond des Jeeps aus und blieb dicht hinter dem dunkeläugigen Anführer. Er war ein Hüne von nahezu zwei Meter zehn und fast ebensoviel Umfang. Er trug einen weißen Anzug, der bei dieser Hitze von über vierzig Grad ziemlich
übertrieben wirkte. Seine Augen standen eng beieinander und hatten einen mandelförmigen asiatischen Schnitt. Offensichtlich ein Orientale, auf jeden Fall Her größte, den Lübeck jemals gesehen hatte. Sein schwarzes Haar war glatt nach hinten gekämmt, die Haut war sehr braun. Chinese, vermutete Lübeck. Er trug einen kleinen Lippenbart über einem offenbar ständig leicht lächelnden Mund. Sie gingen zu zweit auf den Konvoiführer zu, man begrüßte sich mit einem Kopfnicken, aber es gab kein Händeschütteln oder Salutieren. Lübeck versuchte, etwas von den Lippen des Autoritären abzulesen, aber dazu waren sie doch zu weit entfernt. Die Offiziere hörten ihm aufmerksam zu und nickten zustimmend. Das Gespräch war nur kurz. Der Dunkeläugige ging alsbald zu seinem Jeep zurück. Die Offiziere bestiegen ihre Trucks wieder. Der Jeepfahrer stieß zurück und wendete, um dann den Konvoi in die Stadt zu führen. Die Trucks folgten. Hinten im zweiten Truck erkannte Lübeck, wie die Soldaten ihre Waffen überprüften. Eine Ahnung von Furcht überkam ihn, sogar froh darüber, denn sie warnte ihn, auf der Hut und spornte ihn zugleich an, nicht aufzugeben. Die Trucks fuhren wieder im Schrittempo. Er kletterte nach unten und hielt sich immer ein paar hundert Meter hinter ihnen. Er überlegte noch einmal, ob es nicht sinnvoll sei, über Radio Bogota zu rufen, aber er beschloß zu warten, bis er etwas Konkretes mitzuteilen haben würde. Er stieg auf der anderen Bergseite nach oben und hielt sich so zum Konvoi. Die Stadt San Sebastian kam in Sicht. Von staubigen, kaum asphaltierten Straßen stiegen Staubwolken auf und überzogen die Fenster der Häuser, die voller Sprünge waren, mit einer Schmutzschicht. Der Giebelturm einer Kirche ragte über der armseligen Stadt empor, und wenn der Wind durch den Turm blies und den Klöppel der kleinen Glocke bewegte, wehten dünne und leise Töne durch die Luft. Lübeck griff wieder nach seinem Glas. In den Straßen standen noch andere Militärtrucks. Uniformierte gingen, ihre Waffen offen und jederzeit anschlagbereit im Arm, hin und her und widmeten nun allmählich ihre ganze Aufmerksamkeit den Neuankömmlingen. Aber wo waren die eigentlichen Bewohner des Ortes? Lübecks Angst ließ nicht nach. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. San Sebastian, ein einfacher kleiner Bauernort am Ende der Welt . . . Da ging doch etwas vor? Die ankommenden Trucks hielten. Die Soldaten sprangen von ihnen herunter und stellten sich in Gruppen auf. Der
Dunkeläugige schrie ihnen auf spanisch Befehle zu. An Lübecks Ohr drangen noch genug Bruchstücke davon, daß er den Zusammenhang erfassen konnte. »Durchkämmt alle Häuser! Ich will sie alle leer haben. Alle, einschließlich Anbauten und Hütten! Jeder einzelne Raum ist zu durchsuchen! Los jetzt, bewegt euch, rasch!« Drei Viertel der Soldaten verteilten und entfernten sich. »Paßt auf Umherstreunende auf!« rief ihnen der Dunkeläugige noch nach und nickte einer anderen Gruppe zu, die sich nun in Richtung Kirche in Bewegung setzte. Lübeck ließ das Fernglas vor seiner Brust hängen und fing an zu laufen, um einen besseren Blickwinkel zu finden. Sein Mund war ausgetrocknet. So trocken, dass alles Wasser von ganz Kolumbien nicht hätte helfen können. Er hatte nun kaum noch einen Zweifel, worum es ging. Aber nach wie vor tappte er im dunkeln, was den Grund anging. Er blieb auf einem Hügel stehen, der sich auf gleicher Höhe mit der Kirche befand. Er war gerade noch hundert Meter davon entfernt. Eine Gruppe Soldaten begann große Silberkannen von den Trucks in den Jeep umzuladen. Als zehn Kannen im Jeep waren, raste der Jeep los. Ein Mann hinten machte sich an den Schnuten der Kannen zu schaffen. Lübeck richtete das Fernglas auf die Kirche. Sie leerte sich eben. Menschen, die praktisch ausnahmslos in schmutzigweißen Bauernanzügen steckten, strömten auf den Platz vor der Kirche. Die Soldaten trieben sie mit vorgehaltenen Gewehren zu einer dichtgedrängten Masse zusammen und hielten sie in Schach. Die Menge wurde immer größer. Lübeck sah kleine Kinder, die sich an ihre Mütter drängten, und Teenager, die sich mutig neben ihre Väter stellten. Alte Leute stolperten und fielen und wurden von den Soldaten brutal wieder hochgezerrt und weitergestoßen. Selbst aus seiner Entfernung konnte er ihre Bitten und Gebete um Hilfe noch vernehmen. Es gab viele, die knieten und die Hände zum Himmel emporhoben. Stöße mit Gewehrkolben brachten sie rasch zum Schweigen. Aber unablässig stieg aus der Menge und aus ihrem Gemurmel immer wieder weiter das eine Wort hervor: »Porque?« Warum? Aus allen Richtungen trieben Soldaten Leute herbei, die sich offenbar versteckt hatten oder fliehen wollten. Vielleicht waren sie auch einfach nur zu der allgemeinen Versammlung in der Kirche nicht erschienen. Jedenfalls wurden sie nun zu den
anderen getrieben. Alle zusammen mochten mittlerweile etwa zweihundert sein, mindestens ein Drittel von ihnen Kinder. Die Soldaten trieben mit ihren Gewehren die Menschen noch enger zusammen, bis sie als Einzelwesen kaum noch erkennbar kaum noch atmen, geschweige sich bewegen Der Dunkeläugige rief nun wieder Befehle. Die Soldaten bildeten einen Halbkreis um die Menge und hoben ihre Gewehre. Die Menschen begannen zu schreien und zu wimmern, zu flehen, zu bitten, die Arme zum Himmel zu strecken oder mit ihnen zu rudern, um zu fliehen, obwohl es nicht den Hauch einer Chance für sie gab, zu entkommen. Und über das allgemeine Wehgeschrei hinweg schallte der Befehl »Feuer!« Lübeck wollte in diesem Augenblick nur sein Fernglas fallen und die Augen schließen. Aber er konnte nicht. Die feuerten direkt in die Menge, pausenlos, bis ihre rauchten und ihre Mündungsfeuer sich zu einem nicht enden wollenden Blitz vereinten. Die ersten Soldaten wechselten die Magazine aus. Das Feuer ging pausenlos weiter. Die Schreie der Menschen drangen an Lübecks Ohren. Er vermochte das Fernglas noch immer nicht abzusetzen. Die erste Reihe der Menschen war gefallen, der Platz war rot und weiß von ihren blutbespritzten und durchtränkten groben weißen Kleidern. Die nächste Reihe fiel, so weiter, bis die Toten am Ende übereinander auf einen Haufen fielen. Lübecks Stahlgreifer drückte sich durch das Gehäuse des Fernglases. Er beugte sich nach vorne und erbrach sich. Als er wieder auf den Platz hinuntersah, schien der eine einzige Blutlache zu sein. Vom Stapel der Toten kullerte ein kleiner Junge herunter und fiel in die Blutpfütze. Lübeck erbrach sich noch einmal. Auf dem Platz begannen die Soldaten damit, den Inhalt der Kannen, die auf den Jeep geladen worden waren, über die Leichen zu gießen. Inzwischen hatte Lübeck wieder in die Realität zurückgefunden. Das Massaker, das er hatte mitansehen müssen, hatte das Seine dazu getan. Er griff sein Bündel und entfernte sich eiligst. Hundert Meter weiter am Hügel blieb er wieder stehen, wenn es auch nach seinem Geschmack immer noch zu nahe bei der Stadt war. Er mußte dies melden. Doch was und wie genau? Die Station in Bogota konnte unmöglich so rasch reagieren, das es noch irgend etwas nützte oder bewirkte.
Zeit war also nicht das Problem. Seine rechte Hand zitterte. Und sein Stahlgreifer links, bemerkte er, ebenfalls. Er hielt das beschädigte Fernglas wieder an die Augen. Jenseits auf der anderen Bergseite blitzte kurz etwas auf. Irgend etwas Metallisches in der Sonne. Offenbar noch jemand, der Zeuge des Massakers geworden war. Wer konnte das wohl sein? Dann sah er die Jeeps mit den Silberkannen. Sie rasten sternförmig in alle Richtungen. Je ein Mann ließ den Inhalt einer Kanne nach hinten auslaufen. Eine klare Flüssigkeit, die in den Boden sickerte. Das Land! Zur gottverdammten . . . »O Gott!« murmelte Lübeck. Das durfte doch nicht wahr sein. Er zerrte sein Radio aus dem Bündel, ging auf die richtige Frequenz, zog die Antenne aus und hielt sich das Gerät vor den Mund. »Hallo, Station Bogota, bitte melden.« Er bemühte sich, das Gerät ruhig zu halten. »Hier Feldmaus. Hören Sie mich, Station Bogota?« »Wir hören Sie, Feldmaus«, kam eine Männerstimme durch ein ziemlich kräftiges Rauschen. »Aber mit Störungen. Können Sie besser einstellen?« »Negativ«, brüllte Lübeck halb in seiner Atemlosigkeit. »Keine Zeit. Hört nur zu. Nehmt ihr das auf?« »Positiv, Feldmaus, wir nehmen grundsätzlich alle Übermittlungen auf Band. Das ist Standardprozedur . . .« »Steckt euch euren Standard in den Arsch! Quatscht mir hier nicht die Hucke voll, sondern hört zu. Ich bin in San Sebastian. Die ganze Stadt ist ausgelöscht worden.« In der Stadt unten waren andere Soldaten inzwischen dabei, auch die Häuser innen und außen mit der Flüssigkeit zu überschütten. »Alle sind tot, ein Massaker . . ,« »Hallo, Feldmaus, sagten Sie tatsächlich . . .« »Halten Sie die Schnauze, Mann, und hören Sie einfach nur zu, was ich sage! Ich habe jetzt keine Zeit für einen ausführlichen Bericht. Aber ich glaube, ich weiß, warum die Stadt ausgelöscht worden ist.« Lübeck griff mit dem Greifer wieder nach dem Fernglas und hielt es sich vor die Augen, so gut es ging. Es war klar, das sie die ganze Stadt auch noch niederbrennen würden, und das ganze Land rundherum. Und sie hatten in der Tat gute Gründe dafür. »Übermitteln Sie meine Botschaft unverzüglich
nach Washington. Aber entsprechend codiert. Benützen Sie den Gammakanal. Sagen Sie ihnen, das ich die ganzen Einzelheiten nachliefere, sobald es mir möglich ist.« »Bestätigt.« Lübeck schwenkte mit dem Fernglas sein Blickfeld ab. Ja, langsam kam Licht in die Sache. »San Sebastian war eine kleine Bauernstadt. Ich kann von hier aus die ganzen Felder rings um sie herum sehen. Es sieht so aus . . .« aber dann wurde sein Blick starr. Er versuchte das Glas wieder scharf einzustellen, aber mit dem Greifer schaffte er es nicht. »O Gott!« keuchte er in das Funkgerät. »Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Ich sehe direkt auf . . .« Er spürte, das jemand hinter ihm war. Er spürte es gerade noch rechtzeitig, um sich zu ducken. Aber nicht mehr rechtzeitig genug, um dem Schlag ganz ausweichen zu können. Dieser traf ihn noch am Schlüsselbein, das buchstäblich krachend und splitternd brach. Er schrie vor Schmerz auf und fiel zur Seite. Das Funkgerät fiel ihm aus der Hand. »Hallo, Feldmaus, hören Sie? Hören Sie, Feldmaus? Was ist bei Ihnen los?« Lübeck blickte mitten in das grinsende Gesicht des asiatischen Hünen in Weiß. Ganz zweifellos ein Chinese, dachte er. Als wäre das jetzt noch wichtig. Der Riese kam unbewaffnet auf ihn zu und hielt es offensichtlich nicht für nötig, besonders vorsichtig zu sein. Lübeck taumelte wieder auf die Füße, blieb aber in gebückter Haltung, um den Schlüsselbeinschmerz nicht zu vergrößern. Der Riese wollte ihn mit bloßen Händen erledigen. Sehr gut. Schließlich hatte Lübeck seinen Greifer. Er hielt ihn unten und noch auf dem Rücken, damit der Hüne ihn nicht sehen konnte. Wenn er ihn dann sah, war es zu spät, und der Greifer hatte ihm bereits die ganze Seite aufgeschlitzt, so leicht wie das Sperrholz, an dem Lübeck zu üben pflegte. Er beugte sich noch weiter vor, wich etwas zurück, alles, um sich selbst als leichtes Ziel anzubieten. Und der Riese kam mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten. Lübeck lockte ihn durch seine Haltung noch weiter heran, täuschte ein Stolpern vor und hielt seinen Greifer bereit. Der Riese war nun in Reichweite und griff nach ihm.
Aber Lübeck stieß blitzschnell und überraschend seine Greiferhand nach vorne. Er zielte auf den Leib, wollte aber, wenn dieser sich duckte, dem Chinesen an die Kehle. Der grinste noch immer, als ihn der Stahlgreifer traf. Lübeck fühlte, wie er auf etwas stieß und hielt es zuerst für eine Täuschung, weil der Greifer normalerweise so rasch durch Fleisch drang. Aber seine Stahlzange war in gar nichts eingedrungen. Sein ganzer Körper zitterte von dem Abprall wie von Eisen. Sein Stahlgreifer war auf etwas noch Härteres getroffen. Er versuchte noch einmal, den Leib des Chinesen zu treffen, aber sein Schlag war diesmal nur halbherzig und prallte wieder einfach ab. Als er den Greifer zurückzog, ergriff der Riese ihn und drehte ihn herum. Die Prothese riß ab und der Schmerz war so heftig, wie Lübeck es nie für möglich gehalten hatte. Seine Zähne bissen sich durch die eigene Zunge, und im Nu war sein Mund voller Blut. Die ganze Welt verschwand hinter einem Schleier, und er nahm nur noch entfernt wahr, wie die Faust des chinesischen Riesen auf seine Nase krachte, deren Splitter sich in sein Gehirn bohrten. Das Letzte, was er sah, war das grinsende Gesicht des Riesen. »Hallo, Feldmaus, melden Sie sich!« krächzte es fortwährend aus dem Lautsprecher über das Frequenzrauschen hinweg. »Hallo, Feldmaus . . .« Der Riese zerquetschte das Funkgerät mit der Ferse wie ein Insekt. Unten begannen die Flammen das tote San Sebastian zu verbrennen.
Erster Teil Washington Montag Nachmittag Brian Charney stellte seinen Chivas Regal on the Rocks auf dem Kaffeetisch ab, ohne sich um den Untersetzer zu kümmern. Er lehnte sich von seinem Sitz auf der Couch nach vorne und fingerte am Kassettengerät herum. Diese Kassette war der Grund für den Tod eines Mannes und wahrscheinlich Anlaß für «den Tod eines weiteren Menschen. Charney war an diesem Todesurteil beteiligt, und daran änderte auch der Whisky nichts, wie sanft und glatt er auch durch die Kehle rann. Charney trank ihn trotzdem aus. Er war zu Fuß vom State Department in sein Apartment in dem Mietshaus aus braunem Sandstein zurückgekehrt. Er hatte sich gedacht, der Spaziergang würde ihm vielleicht zu einem klaren Kopf verhelfen. Tatsächlich war alles nur noch wirrer geworden. Zu Hause hatte er nur ein Licht eingeschaltet und die Jalousien zugezogen gelassen, damit die helle Frühlingssonne nicht hereindrang. Das schummrige Dämmerlicht war ihm lieber, auch wenn dadurch die Wohnung nicht so zur Geltung kam. Sie war teuer und erlesen eingerichtet. Charney mochte das Haus in Arlington zwar viel lieber, aber das war bei den Scheidungsvereinbarungen Karen und den beiden Jungen zugefallen. Die sah er jedes zweite Wochenende. Manchmal jedenfalls. Er goß sich noch einen ein und rekapitulierte den Tag noch einmal. Von den zwei besten Freunden, die er je gehabt hatte, war einer tot und der andere sollte ihm folgen, das war beschlossene Sache. Charney war früh nach Hause gekommen, weil ihm sein Job alles bedeutete, und weil sein Job eben dies verlangt hatte. Verdammt, wie er diesen Job haßte! Doch er wußte, ohne ihn war er verloren. Er hatte am Morgen lediglich zehn Minuten im Vorzimmer von Unterstaatssekretär Calvin Roy warten müssen, ehe er hineingebeten wurde. Roy war sein direkter Vorgesetzter in Geheimdienstangelegenheiten.
»Ich hoffe, es ist wirklich wichtig«, sagte er in seinem typischen Südstaatenakzent, während er Charney den üblichen Besucherstuhl anbot. »Das ist es«, versicherte Charney. »Junge, ich habe einen Haufen Termine für Sie abgesagt, und ein paar Leute, die deswegen von weit her gekommen sind, werden darüber ziemlich sauer sein. Also.« »Auch das hier kommt von weit her.« Er reichte ihm das Band. Roy richtete sich leicht in seinem Stuhl auf, um es sich anzusehen. Er war ziemlich klein, wurde schon kahl und hatte ein dünnes Lächeln, Ausdruck eines unverbindlichen, oftmals zynischen Verhältnisses zu seiner Position und zur Politik im allgemeinen, umspielte seine Lippen. Mehr als seine jetzige Stellung würde er wohl nie erreichen, und offenbar legte er es auch gar nicht darauf an. Hinter den Kulissen zu arbeiten, reichte ihm völlig. Es gab ihm Platz zum Atmen und zum Manövrieren. Er war Texaner, im Wohlstand aufgewachsen, doch anspruchslos, fast sauertöpfisch. Sein besonderer Vorzug war, daß er niemandem irgend etwas schuldete und niemandem verpflichtet war - selten genug in Washington. Das machte ihn zu einem Mann, der gleichermaßen respektiert und gemieden wurde. Er brauchte keinerlei Rücksichten zu nehmen, deshalb war es ihm auch egal, ob er jemandem auf die Zehen trat, selbst wenn er sie dabei zerquetschte. »Auf dem Band ist Alvin Lübecks letzter Bericht«, sagte Charney, und schob die Kassette in das Abspielgerät auf dem Schreibtisch des Unterstaatssekretärs. »Zwar recht unvollständig, aber trotzdem hochinteressant.« Er schaltete ein. Lübecks Stimme wurde hörbar, überlagert vom atmosphärischen Rauschen. Seine Angst und die Panik bei seinen letzten Worten, waren unüberhörbar. San Sebastian war eine kleine Bauernstadt. Ich kann von hier aus die ganzen Felder rings um sie herum sehen. Es sieht so aus — o Gott . . .! Das kann nicht sein! Ich sehe direkt auf. . . Charney schaltete ab. Roys Gesicht hatte sich verdüstert. »Wenn Sie mir vielleicht sagen möchten, wo San Sebastian ist?« »In der südöstlichsten Ecke Kolumbiens.«
»Lübeck hat dies also an die Station Bogota übermittelt? Haben die dort jemanden nach ihm suchen lassen?« »Ja. Aber der Suchtrupp kam gar nicht bis San Sebastian, nicht mal in die Nähe. Die ganze Gegend ist ein einziger Brand. Sie beten um Regen.« Roy sagte kühl: »Was Lübeck auch immer gesehen hat, es existiert nicht mehr.« »So ist es«, sagte Charney. »Und was schließen Sie daraus, Junge?« »Das jemand das Feuer absichtlich gelegt hat, um etwas zu vertuschen. Und das Lübeck aus demselben Grund aus dem Verkehr gezogen wurde.« »Das hat Lübeck aber zweifellos nicht so einfach mit sich geschehen lassen, oder? Wie kommt es, das er Gast bei dieser Riesengrillparty in einem südamerikanischen Pissland war?« »Er hat von London aus eine Spur verfolgt.« »Was für 'ne Spur?« »Wir hatten ihn beauftragt, sich auf der Welthungerkonferenz etwas umzutun. Sie soll in zwei Wochen in Genf beginnen.« Roy zog die Stirn in Falten. »Ein Auftragsjob, oder?« »Nun ja, seine beste Zeit lag hinter ihm«, sagte Charney schmerzlich. »Wir wollten ihn auf die sanfte Tour pensionieren, aber er tat, als merkte er es nicht.« »Und war offenbar entschlossen, es euch zu zeigen? Und offenbar hat er es euch auch gezeigt? Weiht mich mal in die Feinheiten eurer Personalpolitik ein.« Dann schüttelte er den Kopf und wurde wieder ernst. »Was zum Teufel hat er dort entdeckt, was so wichtig war, das deswegen gleich eine ganze Stadt ausgerottet wurde? Hat er noch mehr berichtet?« Charney verneinte. »Dies hier war das Erste und Letzte, was wir offiziell von ihm hörten. Er wollte wohl erst ganz sicher sein, ehe er berichtete. Und wenn er hinter einem dicken Hund her war, wollte er bestimmt verhindern, das wir ihn abzogen oder ihm die Kavallerie hinterherschickten.« »Scheint eine Sache zu sein, die mächtig zum Himmel stinkt, wie?« sagte der Unterstaatssekretär. Dann wurde sein Blick ernst. »Junge, wir müssen rausfinden, was er da unten gesehen hat und was er wußte.« Charney nickte.
»Nun sind Sie damit aber nicht nach Langley gegangen, sondern zu mir gekommen. Muß doch 'n Grund haben!« »Lübeck hat bei diesem Auftrag nicht in offizieller Mission gehandelt. Ich dachte, Sie sollten das als erster erfahren, Sir.« »Komm, Junge, komm, komm. Kommen Sie mir nicht mit solchem Scheiß.« Charney holte tief Luft. »Nun ja, ich bin der Meinung, Langley ist nicht die richtige Adresse für diese Geschichte. Ich dachte, die ganzen Dreibuchstabenleute sollten da vorerst rausgehalten werden.« »CIA, NSA, et cetera. Muß 'n Grund haben, oder?« »'n ganzen Haufen Gründe. Erstens rühren wir noch mit der Stange im Nebel mm, so das ich nicht wüßte, wo wir offiziell anfangen sollten. Wir setzen die Firma oder die NSA auf Lübecks Spur an, und auf einmal ist da keine Spur mehr. Ist doch alles schon dagewesen. Ich glaube nicht, das Lübeck der Anlaß war, das die in San Sebastian ihre Pläne änderten. Wer immer sie waren. Mir scheint eher, er ist einfach zufällig auf etwas gestoßen und mußte deshalb sterben. Also haben die von der Gegenseite so lange keinen Anlaß, an ihren Plänen etwas zu ändern, bis wir ihnen den Grund liefern, indem wir mit dem Säbel rasseln und Truppen hinschicken. Das eigentliche Problem ist die Zeit. Es ist ja wohl klar, das Lübeck hinter einer Sache her war, die irgend etwas mit dieser Welthungerkonferenz in zwei Wochen zu tun hat.« »Sie scheinen sich dieses Zusammenhangs ziemlich sicher zu sein?« Charney schluckte schwer. »Schauen Sie, Lübeck und ich kannten uns sehr lange. Er war in jeder Beziehung ein Vollprofi wie aus dem Lehrbuch. Er ist niemals einen Fingerbreit von seinem Auftrag abgewichen. Und wenn wir ihn auf die irrsten Himmelfahrtskommandos schickten, er kam wieder und hatte etwas für uns.« »Na schön. Also was machen wir?« »Wir setzen einen einzelnen Mann auf seine Spur an. Vielleicht hat der Glück.« »Junge, auf Glück verlasse ich mich grundsätzlich nicht.« »Es wäre ein Versuch so wie alles andere auch.« Calvin Roy zog die Brauen etwas hoch. »So, so. Ein Einmannspiel also, wie? Und welche Spieler stehen zur Verfügung?«
Das war der Augenblick. »Kein Profi. Ich möchte einen Amateur einsetzen.« »Was denn? Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst?« »Durchaus. Bedenken Sie Folgendes: auf was Lübeck dort auch immer gestoßen ist, es ist eine große Sache. Und wer immer dahinter steckt, ist folglich auch groß. Und organisiert. Also würden die einen Profi in Null Komma nichts erkennen. Sie werden ja inzwischen wissen, daß Lübeck uns mit der Nase auf etwas gestoßen hat und versuchen, ihre Spuren zu verwischen.« »Und?« »Nehmen wir also mal an, sie gehen davon aus, Lübeck sei nicht nach Bogota durchgekommen oder konnte zumindest nicht so viel durchgeben, das wir daraus schlau wurden. Sie ändern also nichts an den Plänen, auf die Lübeck gestoßen ist. Ein Amateur hätte es dann viel leichter, die Spur wieder aufzunehmen.« Roy musterte Charney mit dem leichten Anflug eines amüsierten Lächelns. »Soll ich Ihnen mal was sagen? Bei mir zu Hause gibt es 'ne Redensart. Man sieht es einem Bullen immer an, wenn er was im Schilde führt. Sie haben sich die ganze Geschichte schon fix und fertig überlegt, wie?« Charney lehnte sich zurück. »Sie wissen doch, das Lübeck statt der linken Hand einen Stahlgreifer hatte?« »Mit dem nicht zu spaßen war.« »Wissen Sie auch, wie er dazu kam?« »Ist mit der Hand irgendwo reingeraten, oder so?« »Nein, die Umstände, meine ich.« »Nicht, das ich wüßte, Junge.« »Dann, Sir, werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen.« Charney stemmte sich in seinen Stuhl und versuchte, sich bequem zu setzen. Die Polsterung schien etwas gegen ihn zu haben. »Vor zwanzig Jahren waren Lübeck und ich zusammen im College. An der Brown University oben in Providence, Rhode Island. Da sind wir uns gleich zu Anfang begegnet. Wir waren beide Footballspieler. Da war noch einer, der versuchte, die Mannschaft als Sprungbrett zu benützen, schaffte es aber nicht. Trotzdem wurden wir Freunde, und in den nächsten vier Jahren hingen wir drei wie die Kletten zusammen.« »Sollte ich jetzt Tränen der Rührung vergießen, Junge?« »Er hieß Christopher Locke, und im Augenblick ist er noch Englischprofessor in Georgetown.«
»Im Augenblick noch!« »Er hat seine letzten Habilitationsanhörungen geschmissen. Dies ist sein letztes Semester.« »Das haben Sie überprüft?« »Hab' ich überprüft.« »Ich nehme doch an, das gehört irgendwie zum Thema, oder?« Charneys Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an. »Locke war schuld daran, das Lübeck seine Hand verlor. Es war ein Unfall. An der Akademie, im sechsten Monat unseres Trainings. Wie ich schon sagte, wir hingen dauernd zusammen wie die Kletten. Wir waren die drei Musketiere.« Charney lächelte etwas. »Aber die Details des Unfalls selbst tun an sich nichts zur Sache.« Calvin Roy unterbrach ihn. »Aber dann ist dieser Locke auch kein eigentlicher Amateur . . .?« »Er verließ die Akademie eine Woche nach dem Unfall. Die Ironie an der Sache war, das er der Beste des ganzen Lehrgangs war. An Talent und Begabung übertraf ihn keiner von uns. Nur eines fehlte ihm. Auch schon vor der Geschichte. Er hatte es immer nur im Kopf. Aber nicht im Herzen.« »Und Sie meinen, das hat sich mittlerweile geändert?« »Was sich auf jeden Fall nicht geändert hat, ist sein Schuldgefühl. Er flüchtete damals einfach. Von der Akademie ins Akademische, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und da ist er heute noch. Georgetown ist keineswegs die erste Schule, von der er wieder weggeht. Oder weggegangen wurde. Es sieht so aus, als habe der Unfall Lübecks sein ganzes weiteres Leben bestimmt. Eine Kette von Fehlschlägen und Unvollkommenheiten. Ich nehme an, er hat die Sache nie verwunden. Von wegen, die Zeit heilt alle Wunden. Bei ihm trifft das jedenfalls nicht zu.« Er machte eine kurze Pause. »Aber wir könnten ihm helfen, sie zu heilen.« »Indem wir ihn ins Feld schicken?« »Indem wir ihn den Mann suchen und jagen lassen, der Lübeck umbrachte.« Roy zögerte. »Er ist immerhin ein Amateur.« »Das einzige, was ihn daran hinderte, ein Profi zu werden - und ein sehr guter obendrein -, war nur, das er nie eine Motivation fand, keinen Sinn in dem sah, was er tat. Den bekommt er jetzt. Die Jagd nach Lübecks Killer wird die Motivation seines
Lebens sein. Es wäre ihm unmöglich gewesen, Lübeck mit seiner Prothese jemals wiederzubegegnen. Jetzt, wo Lübeck tot ist, ist auch dieses Problem weggefallen. Herauszufinden, wer ihn tötete, gibt ihm die Chance, mit der Geschichte endlich fertig zu werden. Vergessen Sie nicht, das wahrscheinlich Wichtigste in seinem Leben, seine Freundschaft mit Lübeck und mir, wurde nie beendet, und davor ist er weggelaufen. Er hat das jetzt lange genug in sich reingefressen. Wir können ihm jetzt das Ventil verschaffen, das alles abzulassen.« »Gott, sind wir großzügig und edel.« »Er ist unser Glücksfall«, fuhr Charney unbeirrt fort. »Er ist wie geschaffen für diese Sache und bei weitem allen anderen Kandidaten vorzuziehen. Schon allein angesichts des Zeitdrucks. »Und wieviel erzählen wir unserem Glücksfall?« »Nur, was er unbedingt wissen mus.« Charney überlegte. »Und das heißt: kein Wort über das Massaker.« »Also wir hetzen ihn blind ins Feld und sagen: Renn, Junge, renn.« »Ich werde sein Kontaktmann sein«, sagte Charney leise. »Und sein Auge. Ich bewache jeden seiner Schritte. Anlaufstation, Code, Kontakte - so etwas hat er schon früher gemacht. Das schafft er an einem einzigen Nachmittag. Und wenn es soweit ist, kann man Langley mit einem einzigen Anruf informieren.« »Sie haben sich das wirklich ganz genau ausgedacht.« Charney nickte wieder. Calvin Roys Augen blitzten auf. »Junge, ich komme vom Land, und trotzdem begriff ich nicht, das man Scheiße braucht, damit etwas wachsen kann. Bis ich nach Washington kam. Das alles war wohl nicht leicht für Sie, Brian?« Charney sah ihn nur an. »Gut, Junge, einer Ihrer Freunde ist tot. Warum belassen Sie's nicht dabei? Warum halsen Sie den ganzen Mist nicht einfach denen in Langley auf, wo er hingehört?« »Das raten Sie mir wirklich?« Calvin Roy seufzte. »Schon gut, natürlich nicht. Aber behalten Sie im Auge, das Lübeck ein harter Profi war und trotzdem bei dieser Sache umkam, auf die er da stieß. Und es ist mir ziemlich wurscht, ob der liebe Locke vor zwanzig Jahren in eurem Jahrgang geglänzt hat wie ein Kinderpopo. Das alles allein kann ihm offensichtlich bei dieser gefährlichen Geschichte nicht viel helfen.«
»Ich paß' schon auf ihn auf.« Roy nickte. »Also gut, Junge, dann zu. Sie müssen für den Rest Ihrer Tage damit leben, wenn's schief geht.« Die letzten Worte Roys gingen Charney jetzt bei seinem dritten Chivas Regal noch einmal durch den Kopf. Er konnte damit leben, vermutete er. Noch weniger als ohnehin schon konnte er sich selbst kaum mögen. Er tat, was nötig war, was sein Job verlangte, das mußte reichen. Nur, vielleicht war genau dies sein wirkliches Problem. Er war schon zu lange in Washington und hatte sich von seiner Rolle überrollen lassen. So lange, bis sein Gewissen dabei draufgegangen war. Na und. Locke war der beste Mann für diesen Auftrag, also würde er ihm diesen so schmackhaft machen, das er gar nicht ablehnen konnte. Er wußte, das er in solchen Dingen gut war. Er besaß da Erfahrung. Er rief sich seine frühesten Erlebnisse mit Locke ins Gedächtnis zurück, an der Brown-Universität beim Fußballtraining. Keiner hatte einen härteren Schuß als Locke, keiner lief schneller über die Feldlinien als er, keiner war eifriger bei der Sache als er. Und am Ende unterlag er doch immer gegen gesichtslose einfache Nummern. Das war immer schon seine Tragik gewesen. Eine solche gesichtslose, einfache Nummer war er selbst, Charney, ja auch gewesen. Er war auch einer dieser anonymen Praktiker der Macht geworden. Es machte ihm nicht einmal Spaß, diese Macht zu haben. Aber er lehnte sie auch nicht ab. Sie war Teil seines Jobs, und sein Job und er waren identisch. So war das. Er warf einen Blick auf das Telefon auf dem Kaffeetisch in seiner dämmerigen Wohnung. Ein Anruf und die Räder rollten, waren nicht mehr zu stoppen. Christopher Locke hatte Frau und drei Kinder. Charney wunderte sich, das Calvin Roy ihn danach überhaupt nicht gefragt hatte. Dann begriff er. Logisch, Roy wollte das gar nicht wissen. Je weniger darüber gesprochen wurde, umso besser, glaubte er wohl. Charney sah wieder auf das Telefon. Die tatsächliche Entscheidung blieb so und so an ihm hängen. Er lehnte sich zurück und kniff die Augen zu. Seit einiger Zeit hatte er leichte Kopfschmerzen. Ein Pochen in den Schläfen, noch war es erst ein etwas kräftiger Druck. Aber er wußte, es würde sich zu heftigen Kopfschmerzen auswachsen.
Ich sehe direkt auf. . . Worauf hatte Lübeck direkt gesehen? Der einzige Mann, der das herausfinden konnte, war Christopher Locke. Charney goß sich noch einen Whisky ein. »UND HIER DIE NACHMITTAGSNACHRICHTEN . . . Christopher Locke drehte das Radio ab. Auf der 16. Straße gab es einen Stau, und die Lüftung war wieder einmal hinüber wie üblich, so das er ein Opfer der Frühlingsluft wurde. Er drückte aus reiner Frustration wütend auf die Hupe. Die Nachricht vom Ergebnis seiner letzten Habilitationsanhörung hatte ihn nicht mehr überraschen können. Er hatte das seit Monaten auf sich zukommen gesehen. Alle Anzeichen waren klar und eindeutig. Der Fakultätsdekan mochte seine Lehrmethode nicht. Beliebtheit bei den Studenten zählte schon gar nicht. Natürlich war er beliebt, sagten sie ihm. Schon weil in seinen Kursen regelmäßig die meisten Bestnoten der ganzen Englisch-Abteilung herauskamen. Locke hatte aus Benotungen tatsächlich nie eine besondere Affäre gemacht. Der akademische Druck auf die Studenten in Georgetown, so fand er, war groß genug. Da mußte er nicht auch noch besonders dazu beitragen. Ihm war wichtiger, das sich die Studenten in seinen Vorlesungen eher entspannten und wirklich lernten - und das mit Spaß an der Sache, ohne sich ständig Sorgen über ihre Noten machen zu müssen. Dadurch stand er in dem Ruf, das man bei ihm Examina leichter schaffte als bei anderen. Auch wenn er sonst durchaus als korrekt galt. So überließ er beispielsweise Korrekturen niemals seinen Tutoren. Das alles half ihm bei der Habilitationskommission freilich wenig. Er verkörperte die Ausnahme, nicht die Regel. Kein »ordentlicher« Betrieb legte Wert auf Ausnahmen. Die Regel war gefragt. Kurz, er war wieder einmal ohne Stellung. Jetzt würde er genug Zeit haben, an seinen Romanen zu arbeiten. Doch warum sich etwas vormachen? Tatsache war schließlich, das ihm alle Zeit der Welt nicht helfen konnte. Er war eine Niete. Als Schriftsteller. Und jetzt auch, wie es schien, als Lehrer. Hinter ihm hupte ein anderer wie wild. Er schreckte auf. Er hatte nicht bemerkt, das es weiterging. Er winkte entschuldigend nach hinten und schloß in der Kolonne auf. Mittlerweile klebte sein schweißnasses Hemd an der Rückenlehne.
Am Ende, dachte er, läuft alles auf Sicherheit hinaus. Man arbeitet sein ganzes Leben lang, um ein Stadium zu erreichen, in dem einen keine Existenzsorgen mehr quälen, in dem man zumindest einen Minimalzustand von Glück und Zufriedenheit erreicht hat und das mit einem Minimum an lästigem Aufwand. Was würde mit dieser Sicherheit jetzt passieren, ohne das Gehalt und alle die anderen Vorteile aus Georgetown? Wie sollte er seine Familie unterhalten? Das meiste seiner Ersparnisse war für das Studium der Kinder reserviert. Und die Hypothek auf sein Haus in Silver Spring lief noch. Und was an laufenden Rechnungen ständig hereinkam, konnte er auch nur abdecken, weil seine Frau wieder arbeitete, in einem Immobilienbüro. Ihre gesamte Existenz hing, genau genommen, an einem seidenen Faden. Und das alles würde jetzt noch schwieriger werden. Wie sollte er seiner Familie seine neuerliche Entlassung^ beibringen? Beth würde ihn nur wieder einmal mit verdächtiger Ruhe daran erinnern, wie oft sie ihn nun schon dazu gedrängt habe, sich ins Geschäftsleben zu begeben. Aber er hatte das mit der Begründung, er ziehe das akademische Leben nun einmal vor, stets zurückgewiesen. Mit ihrer praktischen Veranlagung, wie sie nun einmal war, hatte sie noch nie verstanden, was ihn denn wirklich davon abhielt, das College zugunsten einer »richtigen Arbeit« zu verlassen. Von seinen älteren Kindern, dem Jungen von inzwischen siebzehn, der Tochter von fünfzehn Jahren, wußte er von Tag zu Tag weniger, wollte auch gar nichts wissen, und war jetzt nur besorgt, wie sie wohl die schlechte Nachricht aufnehmen würden. Nur noch bei seinem jüngsten Sohn konnte er damit rechnen, die Liebe und den Beistand zu finden, deren er jetzt so sehr bedurfte. Greg war gerade zwölf geworden und seines Vaters ganzer Stolz. Am liebsten hätte er ihn in dem Alter, in dem er jetzt war, eingefroren. Um ihn immer so zu bewahren. Ihn für ewig von dem schrecklichen Alter fernzuhalten, das mit der Pubertät einsetzte und in dem sich die Kinder von einem zurückzogen und einem, statt wie bisher mit liebe- und vertrauensvollem Lächeln, mit muffelnden Gesichtern, Aufsässigkeit und ständiger Opposition begegneten. Er wäre, dachte er, gern ein besserer Vater gewesen, genauso wie er gern ein besserer Autor, Professor und Ehemann gewesen
wäre. Es war leicht zu sehen, warum alle Leute so fanatisch »für ihre Kinder« lebten: weil dies sie für alle ihre eigenen Niederlagen, Fehlschläge und verpassten Gelegenheiten entschädigte. Er für seinen Teil jedenfalls hatte nicht die Absicht, sich da etwas vorzumachen. Seine älteren Kinder waren mittlerweile Fremde für ihn, und auch vom Jüngsten konnte er nicht erwarten, das er ewig so blieb wie jetzt. Bis er zu Hause in Silver Spring war, hatten sich diese ganzen Überlegungen bereits zu einem drückenden Knoten in seinem Magen verdichtet. Er blieb noch eine Weile ruhig sitzen, ehe er ausstieg. Heftiges Herzklopfen hatte ihn mit einem Mal befallen. Aber als er ins Haus trat, begrüßte ihn Whitney liebevoll, ließ das Telefon im Flur, an dem sie gerade gehangen hatte, einfach an der Strippe herunterhängen und umarmte ihn. »Hi, Daddy!« »Tag, Kind.« Sie schien überhaupt nicht zu bemerken, das er etwas abwesend und gedrückter Stimmung war, und wußte vielmehr absolut aufregende Dinge zu berichten von einer Einladung in den Tanzkurs durch einen tollen Jungen, aus der Klasse über ihr, denk' mal an, wo er absolute Spitze war, und den sie schon lange auf sich aufmerksam zu machen versucht hatte . . . Locke betrachtete seine einzige Tochter, wie sie da völlig hingebungsvoll und pausenlos plapperte, während sie mit seltsam abwesendem Blick zum Telefon zurückging. Sie trug ausgewaschene Jeans, was sonst, und hatte das Haar zu einem Knoten aufgesteckt, das trug man im Augenblick offenbar so. Es war etwas von frischer, natürlicher Schönheit an ihr. Also auch eigentlich gar kein Wunder, wenn die Jungs anfingen, sich um sie zu reißen. Kam sie damit zurecht? Er hätte wirklich gerne einmal mit ihr über alle diese Dinge gesprochen. Aber es war völlig klar, das sie sich sofort ins Schneckenhaus zurückziehen würde, wenn er es tatsächlich versuchte. »Ich brauche aber ein Tanzkleid dafür«, sagte sie genau mit dem sanften Schnurren, das Töchter wie von selbst zur Verfügung haben, wenn sie etwas vom Vater wollen. »Du hast doch zu Weihnachten eines bekommen, das dafür bestens geeignet ist?« »Aber Daddy, das alte Ding? Wirklich, ich kann das doch nicht schon wieder anziehen! Niemand macht so was!«
»Ach, meinst du, irgendwer weiß, was du zu Weihnachten anhattest?« Und da waren sogleich die Stirnfalten und der Schmollmund und das Hineinkriechen in den Telefonhörer, das Gemurmel und Geflüster. »Kann ich zu Debbie zum Essen heute Abend?« »Hast du schon mit Mama darüber gesprochen?« »Heute ist doch Montag, Dad. Mama arbeitet.« Wie könnte ich das vergessen? fragte sich Locke selbst. »Also gut.« »O vielen Dank, Dad, tausend Dank!« Und in der nächsten Sekunde war sie wieder völlig in ihre Telefonkonversation vertieft. Was sind Väter? Er blätterte die Post durch, sortierte die Rechnungen aus und ging während dessen in die Küche. Plötzlich merkte er, das er sehr durstig war. In der Küche saß Bob mit übergeschlagenen Beinen und nuckelte an einer Coca-Cola, dabei blätterte er die neueste RockZeitschrift durch. »Na, Paps?« Locke seufzte. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, das Bobby angefangen hatte, ihn Paps zu nennen. Irgendwie war das Wort herabsetzend. Er setzte sich zu ihm. »Wie geht's in der Schule?« »Na ja«, sagte Bobby, ohne ein Auge von seiner Zeitschrift zu wenden. »Der übliche Quatsch.« »Hast du nochmal über unser Gespräch nachgedacht?« »Wegen des College, meinst du? Nein, noch nicht. Werd' ich aber schon noch, mach' dir keine Sorgen. Aber wir sind gerade so mit unserer Band beschäftigt, das fängt jetzt an, was zu werden, da hab' ich noch keine Zeit gehabt. Wir haben zwei Termine bekommen, an denen wir spielen sollen. Bringt nicht sehr viel, aber es ist ein Anfang für uns. Das ist natürlich toll, das sich was tut.« »Freut mich für euch«, sagte Locke. »Freut mich wirklich.« Aber es klang wenig überzeugt. Er bemerkte, das Bobby sein übliches Stirnband nicht trug, so das sein langes lockiges Haar ihm fast bis in die Augen fiel. Ein Sportstyp war Bobby ja nie gewesen, und selbst jetzt, da er größer wurde, besaß er immer noch seine knabenhafte Hübschheit. Die Mähne war für einen kommenden Rock-Star offenbar unvermeidlich. So wie der eine Ohrring. Im linken Ohr. Und auch er: selbstredend ausgewaschene Jeans und eine ebenso verblichene Jeansjacke, alles schon leicht brüchig und da und dort bereits mit Nadeln zusammengehalten. Auf dem Jackenrücken ein
Eingestickter Adler, das Symbol irgendeiner Band, die er mal angehimmelt hatte. Nun ja, das alles mußte wohl so sein. Dagegen konnte man wohl wenig machen. Bobby sagte, und vermied es dabei angelegentlich, ihn anzuschauen: »Ich habe mir überlegt, ob ich nicht ein Jahr pausieren soll, damit ich mich voll auf die Band konzentrieren kann.« Obwohl das wirklich kaum eine Überraschung für ihn sein konnte, riss Locke diese Mitteilung nun doch hoch. Wie war das? Sein Sohn überlegte ernsthaft, einfach den Weg aufs College zu unterbrechen? Undenkbar. Aber er beherrschte sich noch. Wenn er zu aggressiv reagierte, würde Bobby erst recht losstürmen und auf der Stelle fortrennen. Ruhig Blut, sagte er sich. »Hast du da etwa schon genauere Pläne?« Es gelang, ihm, scheinbar ganz ruhig zu sein. Bobby machte Ausflüchte, schien Beistand zu suchen. »Ich dachte — ich wollte an die Westküste rüber. Da passiert es schließlich alles. Mit Platten und so, meine ich.« »Und wovon willst du da leben?« Bobby schien überrascht darüber zu sein, das das Gespräch überhaupt so weit gediehen war. »Tja, ich habe mir gedacht, Dad . . .«, sagte er, und da wußte Locke bereits sehr genau, was nun kam. »Dad« nannte Bobby ihn nur, wenn er etwas von ihm wollte. »Es ist doch so«, sagte Bobby, »selbst wenn du in Georgetown weniger zahlen mußt, weil du da schließlich selbst unterrichtest, dann kostet dich mein College doch immerhin mindestens fünf Riesen, oder? Und wenn du mir statt dessen nun eine Art Vorschuß geben würdest, als Art Kredit, meine ich . . . Damit käme ich dann schon zurecht.« »Mit fünftausend könntest du da drüben im Westen nicht mal die Miete zahlen, ist dir das nicht klar?« »Ich würde natürlich ganz billig leben. Außerdem sind wir eine ganze Clique. Da kann man sich alle Kosten teilen.« »Und was wäre nach diesem Jahr?« »Bis dahin haben wir es längst geschafft. Jeder sagt, wir haben das Zeug zum großen Erfolg. Jeder sagt . . .« Die zuknallende Küchentür unterbrach ihn. Beth kam hereingestürmt, hinter ihr Greg in seinem Baseball-Dreß. Sie warf einen schnellen Blick auf Bobby. »Hast du's ihm gesagt?« »Was gesagt?« fragte Locke. »Sag' es ihm, los!« Aber Bobby sagte nichts. Beth wandte sich an ihren Mann: »Unser stolzer Erstgeborener hier ist heute aus der Schule geflogen.« »Was?« »Sie haben ihn beim Rauchen auf dem Parkplatz erwischt!« »Ich dachte, sie erlaubten euch Zigaretten?« »Wer redet von Zigaretten? Pot! Marihuana!« »O mein Gott . . .«
»Der Stellvertreter des Schuldirektors hat mich im Büro angerufen. Ich war mitten in einer Kundenbesprechung. Gott, war das peinlich! Ich habe ihn also nach Hause geschickt und ihm gesagt, das wir uns mit der Sache später beschäftigen würden, weil ich nicht einfach vom Büro wegkonnte.« Beth war ehrlich zornig. »Und ich sagte ihm auch noch: du kannst den Wagen nehmen, aber hol deinen Bruder vom Baseballtrainig ab.« Greg versuchte instinktiv seinem Bruder beizustehen. »Ach, Mam, es war ja nicht so schlimm. Ich hätte auch zu Fuß nach Haus kommen können. Oder jemand hätte mich mitgenommen.« »Mitgenommen?« Beth war außer sich. »Hast du das gehört, Chris? Hast du das gehört? Jedenfalls, der Herr Sohn holt ihn nicht ab und was passiert? Ich werde wieder angerufen, diesmal vom Baseballtrainer: das Training ist zu Ende, und warum ihn niemand abholt. Ich muß mir also Sallys Auto ausborgen und schnell hinfahren und Greg holen, dabei bin ich ohnehin schon zu spät dran für einen anderen Termin!« Sie stieß den Zeigefinger so hart vor, das Bobby erschreckt zurückwich. »Verdammt noch mal, verdammt, ich habe es jetzt satt, junger Mann!« Sie wandte sich an Locke: »Vielleicht wäre ein Internat das einzig Richtige für ihn.« Mit zehntausend im Jahr, dachte Locke automatisch. »Chris, wir müssen jetzt endlich einmal miteinander reden! So geht das nicht weiter. Ich sehe die anderen Frauen schon jetzt beim nächsten Fakultätsessen tuscheln!« Locke war nahe dran, ihr bereits jetzt zu sagen, das dies mittlerweile kein aktuelles Problem mehr war. »Ich habe es wirklich satt«, schimpfte Beth aufgebracht weiter. »Sobald ich nach Hause komme, muß darüber geredet werden. Ich muß jetzt noch einmal weg. Bin ohnehin schon viel zu spät dran für diesen Termin. Außerdem muß ich Sally ihren Wagen zurückbringen.« Als sie fort war, herrschte langes Schweigen. Locke wandte sich langsam wieder Bobby zu und suchte nach einem geeigneten Anfang für die passenden Worte, die nun ja wohl unvermeidlich waren. Aber ehe er dazu kam, war Bobby weggerannt, die Treppe hinauf und schloß sich in seinem Zimmer ein. Und in der nächsten Sekunde röhrte sein Plattenspieler in voller Lautstärke im RockRhythmus los. Damit war eine dicke, unüberwindliche Wand zwischen Bobby und denn Rest der Welt. »Stell den Mist ab, du Blödian!« kreischte Whitney von irgendwoher. Locke stützte am Küchentisch aufseufzend das Gesicht in seine Hände. Greg faßte ihn an der
Schulter. »Hast du was, Dad?« »Ist schon gut, mein Junge. Ich hab' nur einen schweren Tag gehabt.« Greg runzelte die Stirn. »Mam ist ganz schön sauer, nicht?« »Ja. « »Du auch?« Locke versuchte zu lächeln. Er tätschelte Greg die Wange und strich ihm über das widerspenstige Haar. »Aber nicht auf dich. Tja, sieht so aus, als wären wir beide die einzigen zum Essen.« Greg wiederholte seines Vaters Geste an ihm und streichelte ihn liebevoll. »McDonald's?« fragte er hoffnungsvoll. »Überredet«, sagte Locke. Sie fuhren los und er bestellte die üblichen zwei Viertelpfünder für sie, nur mit Ketchup. Er kriegte seinen allerdings kaum herunter, während Greg seinen Big Mac mitsamt den Pommesfrites wie nichts wegputzte, dazu eine große Cola. Und Locke schob alle Gedanken, das Greg jemals größer werden und ihre augenblicklichen Gewohnheiten einmal aufhören könnten, mit Gewalt von sich. Er wollte, das es mit ihm immer so wie jetzt bleiben sollte. Heute war Greg an der Reihe, zu bezahlen. Er tat es routiniert, indem er das Geld aus der Tasche zog und versuchte, mit Kleingeld den genauen Betrag zusammenzubekommen. Und es ging genau auf. Sie spielten dieses Spiel immer. Greg war wild darauf, zu bezahlen, wenn sie zu McDonald's gingen, um zu beweisen, wie selbständig er schon war. Und Locke hatte ihn auch immer dazu ermutigt. Später am Abend, wenn Greg bereits schlief, würde er wie üblich in sein Zimmer schleichen und ihm das Geld für die Rechnung wieder in den Strumpf legen, in dem er seine Finanzen vor allen streng geheim hielt - mit Ausnahme seines Vaters. Vielleicht wußte er es und spielte seinerseits das Spiel mit, oder auch nicht, was spielte das für eine Rolle. Als sie zurückkamen und er eben den Familienkombi in die Garage fahren wollte, klingelte im Haus das Telefon. Er eilte hin und griff sich den Hörer, obwohl er eigentlich sicher war, das der Anrufer inzwischen bestimmt aufgelegt hatte. Aber das hatte er nicht. »Hallo, Chris? Hier ist Brian Charney.« Sie verabredeten sich zum Lunch im THE TOMBS; frühzeitig, denn Dienstag war Lockes Seminartag, da war er immer den ganzen Nachmittag beschäftigt. Der frühe Termin war aber auch insofern günstig, weil man im THE TOMBS mit dessen prominenter Politikerklientel nach zwölf ohnehin nur sehr schwer einen Platz bekam.
Locke war als erster da und wurde an einen Tisch ganz hinten in der Ecke geführt, etwas abseits vom Geplapper und Geschnatter der übrigen Gäste, in einer Ecke, die eher seriösen und ruhigen Chefs vorbehalten war. Er hatte Brian Charney zum letzten Mal vor einem halben Jahr gesehen, aber auch nur ganz kurz während eines Empfangs in Georgetown. Ihre Unterhaltung war sehr gezwungen gewesen. Es stand noch zu viel zwischen ihnen. Und es hatte keinen Sinn, harmlos zu tun. Kurze Zeit später erschien Brian Charney, entdeckte Locke sofort und kam auf ihn zu. Chris stand zu seiner Begrüßung auf. Wie immer, war er beeindruckt von Brians Erscheinung. Die Jahre hatten ihn nur stattlicher gemacht. Natürlich hatten sich mittlerweile Falten in sein Gesicht gegraben, und etwas in seinem Blick war sehr fremd. Aber meistens sah er doch zehn Jahre jünger aus als die zweiundvierzig, die er tatsächlich war. Er selbst hatte sich mit der Zeit dazu gebracht, eisern seine drei Bewegungs- und Trainingsstunden pro Woche in Georgetowns Sporthalle einzuhalten. Er mußte sich freilich jedesmal wieder dazu überwinden, wenigstens soviel zu tun, das er nicht ganz einrostete. Seine Muskeln waren nicht mehr so geschmeidig; und eigentlich hatte er hinterher immer einen Muskelkater. »Schön, dich mal wieder zu sehen, Bri«, sagte er und versuchte, ehrlich zu klingen. Charney nahm seine ausgestreckte Hand mit einem leichten Lächeln. »Gleichfalls, Chris, gleichfalls. Schon 'ne Weile her.« Sie setzten sich. »Ich hoffe, der Tisch gefällt dir«, meinte Charney. »Ich dachte, ein wenig Abgeschiedenheit wäre ganz nützlich.« »Ach, du hast den extra bestellt?« sagte Locke, ohne seine Überraschung zu verbergen. »Da mußt du ja ziemlich einflußreich sein. Die Regierung scheint gut zu dir gewesen zu sein. Was machst du jetzt? Immer noch CIA?« »Ach, seit Jahren schon nicht mehr«, sagte Charney. »Nanu? Du sagtest mir aber doch . . .?« »Ich habe dir gar nichts gesagt. Überhaupt nichts und nie. Ich habe höchstens genickt und jede Menge Ausflüchte gemacht. Das sind nur deine eigenen Schlußfolgerungen.« »Na schön. Aber für wen arbeitest du nun tatsächlich?« »Das ist viel zu kompliziert, um es zu erklären. Ich bin eine Art Verbindungsmann zwischen dem Außenministerium und verschiedenen Sparten der Geheimdienste. Die Firma ist nur eine davon. Im Grunde bin ich lediglich ein einfacher Bürokrat.« »Nun,
einfache Bürokraten pflegen normalerweise keine Spezialtische im THE TOMBS reserviert zu bekommen.« »Du vergißt, das wir in der Stadt der Bürokratie sind.« Eine Bedienung kam und sie bestellten ihre Drinks. Perrier mit Schuß für Locke, Gin-Tonic für Charney. »Und wie geht es dir so?« fragte Charney. »Ehrlich, meinst du?« Und plötzlich war da wieder ein Hauch davon, als wären sie noch immer — oder wieder — die besten Freunde. Locke fühlte, daß er offen reden konnte. »Nicht besonders«, sagte er, »und das ist noch eine Untertreibung. Ich habe drei Kinder, von denen mir zwei fremd geworden sind, und eine Frau, mit der ich einen Hausbesichtigungstermin vereinbaren muß, falls ich mal mit ihr sprechen möchte. Ich habe zwei ungedruckte Romane in der Schublade liegen, aus der sie vermutlich nie herauskommen. Gar nicht zu reden davon, das ich mit der Direktion in Georgetown, sagen wir mal, nicht auf allerbestem Fußstehe.« Das er bereits entlassen war, wollte er lieber verschweigen. Fehlschläge im Privatleben einzuräumen war erheblich leichter als im Beruf, jedenfalls jemandem von Charneys Position gegenüber. »Irgendwie ist es etwas Tolles, in die Vierziger zu kommen, Bri. Zum ersten Mal merkt man, das man von jetzt an nicht mehr ganz von vorne anfangen kann, wenn alles schief gegangen ist. Trotzdem hört man nicht auf, es doch zu versuchen. Ich jedenfalls nicht.« »Das nennt sich Midlife Crisis«, sagte Charney leichthin. »Ach Gott, geschenkt! Meine Midlife Crisis hat schon angefangen, als ich fünfundzwanzig war. Das ist noch schlimmer.« Locke sagte das mit schwachem Lächeln, und Charney lächelte ebenso schwach zurück. Ja, er war immer noch derselbe, sein engster Freund im College, wo sie nicht nur ein Zimmer, sondern ihr ganzes Leben geteilt hatten. Er hatte eigentlich gedacht, dies alles beiseite lassen zu können. Immerhin lag es zwanzig Jahre zurück und in zwanzig Jahren verändert sich vieles, man selbst ändert sich auch. Dennoch, im Grunde waren sie beide in Wirklichkeit die gleichen geblieben, dieselben wie damals. Und genau dies würde seinen Auftrag hier so schwierig machen, das wußte Charney genau. Er hatte seitdem mehr als einen Mann in den Tod geschickt, gewiß. Aber noch nie einen alten Freund. »Ich weiß über dein Verfahren Bescheid«, sagte er nun unvermittelt, seine Chance wahrnehmend. Er mußte jetzt angreifen, wenn er
die Sache durchbringen wollte. »Du weißt was?« rief Locke. »Ich habe noch gestern den ganzen Bericht darüber durchgelesen.« »Aber der ist doch streng vertraulich!« »In der Tat.« »Und trotzdem hast du ihn gelesen?« »Mußte sein. Und Muß bricht Vertraulichkeit.« »Nun mal langsam, Bri. Sonst wird dies der kürzeste Lunch aller Zeiten.« Die Bedienung kam mit den Drinks. »Paß auf«, sagte Charney und nippte an seinem Gin-Tonic, »Das dämmert mir allmählich auch.« »Ich brauche deine Hilfe, Chris. Dafür kann ich dir dann vielleicht auch helfen.« »Aha.« »Unser Lube ist tot.« Locke fiel der Unterkiefer herunter. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Das Glas fiel ihm fast aus der Hand. Er wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Die grimmige Endgültigkeit in Charneys Mitteilung hatte jede mögliche Entgegnung unmöglich gemacht. »Er ist am vergangenen Wochenende umgebracht worden«, erläuterte Charney. »Wie?« »Wir wissen es nicht genau.« »In Ausübung seiner Pflicht?« »So sieht es aus.« »Wo?« »In Kolumbien unten.« »O Gott.« Locke fuhr sich zweimal mit der Hand über das Gesicht. »Wieso dort?« »Wieso nicht dort? Irgendwo ist es immer. Und dabei sollte es überhaupt sein letzter Auftrag sein.« »Nicht doch. Unser Lube hätte sich doch niemals zur Ruhe gesetzt.« »Er sich nicht, aber wir ihn«, sagte Charney. »Das gibt es doch nicht . . .!« »Er war in unserem Alter, Chris. Denk' daran, was du mir eben über dein Leben gesagt hast. Alle die Fragen, alle die Zweifel. Du fängst an, die Schatten zu sehen. Der gute Lube auch. Nur, das man in unserem Geschäft, wenn das passiert, umkommt. Manchmal
zusammen mit anderen. Er wußte das von Anfang an, Chris.« Ihre Augen begegneten sich, er sah Locke fest an und gab seinen Worten gerade so viel Nachdruck, wie er für nötig hielt. »Das haben wir drei doch damals zusammen alles gelernt.« »Aber der Lube hat seine Lektion anscheinend nicht gut genug gelernt.« »Nein«, bestätigte Charney, »das hat er wohl nicht. Er konnte das in seinem eigenen Fall einfach nicht akzeptieren. Er wußte ganz genau, was kam, und war doch nur besessen davon, uns zu beweisen, das wir im Unrecht wären. Nun ja, fürs angenehme Leben in der Sonne war er nicht geschaffen. Noch nie. Er hatte eine Spur gefunden und konnte nicht mehr von ihr ablassen. Es war eine große Sache, das war klar, aber er hatte keine Chance mehr, uns zu sagen, was genau es war.« »Warum erzählst du mir das eigentlich alles, Bri? Zweifellos ist das doch alles geheim? Und einer in deiner Position plappert so was doch nicht leichtfertig aus?« »Richtig, Chris. Ich möchte, das du für ihn weitermachst.« Locke blieb der Mund offen stehen. »Hast du sie nicht alle?« »Doch, doch. Wir glauben, das die Sache, hinter der unser Lube her war, irgendwas mit der Welthungerkonferenz zu tun hat. Sie beginnt in genau dreizehn Tagen. Viel Zeit haben wir also nicht. Wenn wir Profis losschicken, können wir die gerade so gut Hier! schreien lassen. Aber ich glaube — wir glauben -, du könntest unbemerkt bleiben. Dich würde keiner verdächtigen.« »Weil ich sechs glorreiche Monate an der Akademie zugebracht habe, meinst du das?« »Nein, sondern weil du ein ganz persönliches Interesse hast. Weil unser Lube dein bester Freund war. Und weil du ihm . . . was schuldig bist.« Locke wurde augenblicklich steif. Sein Gesicht lief rot an. Eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf: ein Erdloch, dessen Seiten zusammenrutschten und ihn zu zerquetschen drohten, und aus dem Lube ihn zog. »Falls du es darauf abgesehen hast, mich wütend zu machen«, sagte er mühsam, »ist dir dies hervorragend gelungen.« »Mir ist alles recht, wenn ich dich nur dazu bringe, anzunehmen.« Die Bedienung kam wieder und nahm ihre Bestellungen für das Essen auf. Zwei Truthahn-Sandwiches, Tombs-Spezial,
obwohl beiden mittlerweile nicht mehr sehr nach Essen zumute war. Charney bestellte noch einen Gin-Tonic, »Mit viel Tonic, diesmal!« Als die Bedienung wieder fort war, sprach er bedächtig weiter: »Selbstverständlich erwartet niemand, das du es umsonst machst.« »Kannst du mir auch mein Leben wiedergeben?« »Beruflich gesehen können wir das, ja. Du kannst die Zusage erhalten, eine gut dotierte Stellung an einer Universität deiner Wahl zu bekommen.« »Das ist eine Menge.« »Und noch mehr, Chris. Was deine beiden ungedruckten Romane in der Schublade angeht — wir haben da zwei Verlage an der Hand, die sie gerne herausbringen würden, Und nicht nur als Taschenbücher. Und mit allerlei Vergünstigungen. Und mit einem Optionsvertrag samt großzügigem Vorschuß für zwei weitere.« »Sag' mal, willst du mich kaufen?« »Chris, dies ist kein Kaffeeklatsch, wir reden übers Geschäft. Zeig' mir den, der nicht zu kaufen ist und der sich nicht verkauft hat, auf diese oder jene Weise. Das ist nun mal so im Leben, es gehört dazu. Es kommt allein auf die Ebene an, auf der es stattfindet. Ich spreche ganz konkret davon, dir deine Lebensträume zu erfüllen.« »Diesmal hast du nicht >wir< dazugesagt.« »Ich habe Spielraum für persönliche Initiative.« »Und offenbar ziemliche Macht?« »Es kommt nur darauf an, das man sie vernünftig einsetzt.« Locke musterte ihn. »Bei dieser Schulstunde muß ich seinerzeit gefehlt haben.« Er zögerte und war plötzlich unsicher. »Habe ich sonst noch viel versäumt? Wie zum Teufel soll ich mich nach zwanzig Jahren an all das noch erinnern?« »Du wirst bei dem Job nicht alleingelassen. Ich beschatte dich persönlich auf Schritt und Tritt. Und die reitende Kavallerie wird nie weiter als einen Telefonanruf entfernt sein.« Er unterbrach sich wieder, bis der zweite Gin-Tonic serviert war. »Du brauchst nicht auf dich allein gestellt zu arbeiten. Du sollst höchstens zwei Wochen lang der Köder für die Mistkerle sein, die unseren Lube auf dem Gewissen haben.« »Als Köder war ich nie gut. Wenn du dich an meine kurze FootballKarriere erinnerst . . . Bri, ehrlich, du mutest mir da eine
mächtig riskante Sache zu.« »Das ist mir vollkommen klar, Chris.« »Ich weiß nicht, alter Kumpel. Ich weiß wirklich nicht.« Charney hatte noch ein As im Ärmel, und gehofft, er müsse es nicht ausspielen. »Du bist nicht hier im Land geboren, Chris.« »Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht.« »In deinen Akten steht, dein Vater hat dich während des Zweiten Weltkriegs von England herübergebracht, wo deine Mutter bei einem Luftangriff umgekommen ist.« Locke schwieg und wartete, das Charney fortfuhr. Dessen Augen wurden kalt. »Ich weiß auch darüber die Wahrheit. Sie stammte aus Deutschland und war eine Spionin. Dein Vater kam nach Amerika, weil er sich entsetzlich schämte, als das bekannt wurde.« »Hör auf.« »Ruhig Blut. Ich bin noch nicht fertig. Tatsache ist doch, nicht wahr, das sie keineswegs im Luft-Blitzkrieg umkam? Sondern euch verließ, als sie aufflog, und versuchte sich nach Deutschland durchzuschlagen. Sie wurde geschnappt, und eure Engländer hängten sie.« Locke sagte: »Wir hatten unsere Personalien völlig geändert.« »Ja, aber man kann die Wahrheit nicht wirklich begraben, Chris. Es gibt immer irgendwen, der bereit ist, so tief wie nötig zu graben, um sie wieder auszubuddeln. Das weißt du doch selbst. Dieses Land hat deinen Vater und dich damals aufgenommen und euch ein neues Leben ermöglicht. Du bist ihm dafür vielleicht auch etwas schuldig.« »Und jetzt soll ich zahlen, meinst du?« »Zum Beispiel.« Christopher Locke sah seinen einstigen Schulfreund lange wortlos an. Er hatte ja recht. Niemals konnte man sogenannte alte Geschichten einfach begraben. Aber durfte Charney ihn damit und auf diese Weise erpressen? »Hör zu, alter Freund. Ich werde dir jetzt ein für allemal etwas sagen. Wenn ich mache, was du von mir verlangst, dann einzig und allein wegen der Bastarde, die unseren Lube auf dem Gewissen haben. Sonst gibt es keinen Grund. Damit das völlig klar ist.« »In Ordnung«, sagte Charney. Er wußte, er hatte gewonnen. »Du hast mir noch immer nicht gesagt, hinter was genau Lube her war«, sagte Locke. »Wir wissen es auch nur ungefähr. Sicher ist nur, es hat etwas mit Lebensmitteln zu tun.« »Lebensmittel?«
»Es ging um die Welthungerkonferenz, wie ich schon sagte. Und er kam in einem Bauerndorf um.« Charney brach ab. Er hatte ausdrücklich nichts von dem Massaker erwähnen wollen, um Locke nicht noch kopfscheu zu machen. »Er hat dort noch während seines letzten Funkberichts auf den Feldern irgendwas entdeckt, und das hat ihn zu Tode erschreckt. Ich spiele dir das Band noch vor.« »Und ihr wißt nicht, was es war?« Charney schüttelte nur den Kopf. »Was hält euch davon ab, einfach Leute hinzuschicken und es herauszufinden?« »Wir . . . versuchen es ja.« Locke suchte Charneys Blick. »Irgendwas verschweigst du mir doch.« »Glaub' mir, nur etwas, was du besser nicht erfährst.« »Deine Theorie mit den Lebensmitteln ist ein bißchen arg dünn.« »Mehr haben wir nicht.« »Was soll ich also tun?« »Wir haben den Weg rekonstruiert, den unser Lube nach Kolumbien genommen hat. Wir wissen auch ungefähr mit welchen Leuten er sprach. Und wir möchten, das du ganz au denselben Weg noch einmal machst. Die Einzelheiten erfährst du rechtzeitig.« Lockes Gesichtsmuskeln spannten sich. »Augenblick, mein Lieber. Schritt für Schritt Lubes Weg nachgehen, ja? Sehr schön. Irgendwann muß ich aber dann ja wohl auch seine letzte Station erreichen? Auf die bin ich jedoch kein bißchen scharf. Und versuche nicht, mir weiszumachen, das diese Möglichkeit nicht existiert.« »Nun ja . . .« »Nur, wenn Vorsorgen für den Fall getroffen werden, das ich nicht zurückkomme.« »Zum Beispiel?« »Meine Familie muß versorgt sein.« Charney nickte nur. »Das versteht sich von selbst, Chris.« »Nein, der Meinung bin ich nicht.« Er war jetzt sehr entschieden. »Ich will einen von der Regierung garantierten Barscheck über fünfhunderttausend Dollar, zu hinterlegen bei meinem Anwalt in einem verschlossenen Umschlag, und zu öffnen, im Falle meines Todes.« »Das klingt, als vertrautest du mir nicht, Chris.« »Sehr viel Anlaß dazu hast du mir nicht gegeben.« Die Club-Sandwichs kamen,
aber sie ließen sie beide unberührt. »Gut, ich regle das heute nachmittag«, sagte Charney schließlich. »Das Geld ist steuerfrei.« »Das bitte ich mir auch aus.« »Es wird niemals ausbezahlt werden müssen, Chris. Denn du kommst wieder.« »Lieber Bri, damit das ganz klar ist: ich tue das nicht für mich und schon gar nicht für dich oder für den verdammten Verein, für den du arbeitest. Ich tue es allein für meine Familie. Und für unseren Lube.« Und weil er das Gefühl hatte, nach dieser entschlossenen Erklärung einen entschlossenen Schlußpunkt setzen zu müssen, griff er sich entschlossen sein Sandwich, zog mit einem Ruck das Stäbchen heraus und biss wild entschlossen hinein. »Und wann fange ich an?« »Du fliegst morgen abend nach London«, sagte Charney ruhig und unterdrückte gewaltsam das Schuldgefühl, das, hartnäckig in ihm aufsteigen wollte. Der nächste Tag war für Locke überaus hektisch. Es waren eine Menge Dinge zu regeln. Sein Paß war abgelaufen und mußte erneuert werden. Aber in einem Tag einen neuen zu bekommen, hätte sich als unmöglich erwiesen, wäre nicht Charney . gewesen, der versprach, sich um alles zu kümmern. Er brauchte ihm lediglich die Paßfotos zu bringen. Komplizierter war schon der restliche Papierkrieg. Das gewaltige Räderwerk der Bürokratie von Georgetown mußte in Bewegung gesetzt werden, um eine eilige Sofortbeurlaubung zu erwirken. Er schuldete Georgetown mittlerweile nichts mehr und hatte deshalb keinerlei Bedenken oder Hemmungen, mitten im Semester einfach zwei Wochen Urlaub zu beantragen. Wenn er es überhaupt bedauerte, dann allenfalls seiner Studenten wegen. Seine Klassen mußten von Kollegen übernommen werden oder ganz ausfallen. Er stellte seinen Antrag offiziell aus gesundheitlichen Gründen, ohne sich näher zu erklären. Nach seinem Vertrag, der im Mai ohnehin enden würde, war er dazu auch nicht ausdrück-ich verpflichtet. Er gab sich überall sehr gelassen und überlegen und fühlte sich auch wirklich so. Brian Charney konnte und mußte ihm, ihrer Abmachung gemäß, jederzeit seinen Job wiederbeschaffen, wenn nicht überhaupt eine noch bessere Position woanders. Je weiter der Tag fortschritt, desto erregter, ja ekstatischer wurde er. Für zwei Wochen seiner Zeit hatte er Charney einen hohen Preis
abgerungen. Über die Gefahren machte er sich weiter keine Gedanken. Ein besonderes Risiko konnte mit seinem Auftrag überhaupt nicht verbunden sein, andernfalls hätte es sich eine Regierungsbehörde auf keinen Fall erlauben können, einen reinen Amateur damit zu befassen. Genau betrachtet, war dies in jeder Hinsicht sogar seine goldene Chance. Charney hatte ihm als Gegenleistung genau das zu ; verschaffen, was er am meisten begehrte, und die Mörder von Lube ausfindig zu machen, war es allein schon wert. Als sein Freund Lube noch am Leben war, hatte er ihm nie seine Trauer und sein Bedauern auszudrücken vermocht. Dies hier war, auch wenn Lube nun tot war, seine Gelegenheit, es jetzt noch zu tun. Später am Nachmittag überlegte er, wie er das alles seiner Familie beibringen sollte. Nachdem er noch kein Wort von seiner Entlassung in Georgetown gesagt hatte, würden sie einen doppelten Schock zu verkraften haben. Doch vielleicht war dies auch nützlich. Der Schock würde sie davon abhalten, allzu viele Fragen zu stellen. Er beschloß, es zuerst Beth zu sagen und den Kindern später. Zunächst würde er erklären, er verließe Georgetown auf eigenen Wunsch, weil man ihm dort das Leben unerträglich gemacht habe. Andere Angebote lägen bereits vor und er reise jetzt erst einmal zwei Wochen nach Europa, um einen klaren Kopf zu bekommen und sich über seine endgültigen Entscheidungen klar zu werden. Die ganze Wahrheit konnte er seiner Frau nicht sagen. Die würde sie ganz und gar nicht verstehen. Er war ja nicht einmal sicher, ob er selbst sie verstand. Auf dem Weg zu Charneys Büro im Außenministerium fuhr er noch bei seinem Rechtsanwalt vorbei. Kaum zu glauben, der bewußte Umschlag war tatsächlich dort eingetroffen, alles wie besprochen, der Scheck in der vereinbarten Höhe. Er legte ihn zurück in den Umschlag und versiegelte diesen zusammen mit einem Brief, den er noch in Georgetown geschrieben hatte, in einem zweiten, größeren. Der Brief an seine Familie war rein sachlich und enthielt nur die erforderlichen Informationen für den Fall, daß ihm etwas zustieß; er hatte ihn eigentlich auch in der Erwartung geschrieben, ihn nach seiner Rückkehr ungele-sen selbst wieder in Empfang nehmen zu können.
Charney erwartete ihn bereits. Sie setzten sich und kamen! ohne weitere Vorreden oder Höflichkeitsfloskeln sofort zum Thema. »Wir setzen noch immer die letzten Mosaiksteinchen von Lübecks letzten Tagen zusammen«, sagte Charney. »Er fing, wie gesagt, in London an, wo er einen Diplomaten der kolumbianischen Botschaft namens Juan Alvaredejo traf.« »Kolumbier«, wiederholte Locke automatisch. In Kolumbien war Lube umgekommen. »Wißt ihr, warum?« Sie hatten früher schon mal zusammengearbeitet. Alvaredejo war der Delegierte seines Landes für die Welthungerkonferenz. Wahrscheinlich wollte unser Lube nur einige allgemeine Informationen von ihm und stieß dabei auf etwas viel Größeres.« »Und das soll ich von Alvaredejo herauskriegen?« »Versuch einfach nur herauszukriegen, über was er mit Lube gesprochen hat. Wir müssen die Verbindung herausfinden, die da besteht.« »Und danach?« »Deine nächsten Stationen sind dann Liechtenstein und Florenz.« »Der gute Lube ist scheinbar ziemlich herumgekommen.« »Ja, aber genau wissen wir nur, was er in London gemacht hat. Und das ist auch vorläufig nur für dich von Bedeutung. Den Rest deiner Route liefere ich dir sukzessive nach, mit allen Namen. Du wohnst im Dorchester.« »Ihr laßt euch das was kosten, wie?« »Was sein muß, muß sein. Außerdem ist das für deine Tarnung besser.« »Ah? Bisher wußte ich nicht, das ich überhaupt eine brauche.« »Wahrscheinlich brauchst du auch wirklich keine. Reine Vorsorgemaßnahme. Und wir gehen genau nach Textbuch vor. Du bist auf einer Informationsreise für dein nächstes Buch.« Locke nickte. »Das paßt wirklich nicht schlecht. Also auch keine Decknamen, geheimen Treffs und diese Art Sachen?« »Nur eines«, sagte Charney und schlug die Beine übereinander. »Wir brauchen eine Abmachung, wie du mich, falls nötig, jederzeit erreichen kannst. Ich gebe dir also eine Telefonnummer, unter der ich erreichbar bin. Du rufst sie an, hinterläßt deine eigene Nummer, und ich werde mich innerhalb von zwei Minuten dort melden.« »Soll das heißen, du läßt mich gar nicht pausenlos überwachen?«
»Pausenlos? Nein, das ist ganz unmöglich. Falls irgend and sich für deine Reiseroute interessieren sollte, wäre es schlimmste Fehler, dich ständig zu beschatten, weil der andere das natürlich sofort bemerken würde und die Schlüsse daraus zöge, an denen uns ganz und gar nicht gelegen sein könnte. Es würde deine Risiken nur unnötig erhöhen statt verringern. Ich halte es so für besser. Solltest du wirklich in Schwierigkeiten geraten, kannst du mich, wie gesagt, von jedem Telefon aus in zwei Minuten erreichen. Du mußt dich allenfalls mit dem englischen System der anrufbaren Telefonzellen vertraut machen.« »Das kenne ich. Ich war schon mal in England. Auch seitdem, meine ich.« »Ach ja, richtig.« Das hatte Charney fast vergessen. »Deine Tickets und das Reisegeld bringe ich dir mit, wenn wir zum Flughafen fahren. Was wirst du übrigens deiner Frau sagen?« »Ich weiß es noch nicht genau.« »Erzähle ihr auf jeden Fall nicht zu viel. Es wäre nicht gut, wenn sie jemandem, der eventuell auf deine Spur gesetzt wird, unabsichtlich Hilfestellung gäbe.« »Allmählich fängst du an, mir Angst einzujagen, Bri.« »Keine Bange. Alles reine Routinemaßnahmen, vorläufig. Wir wissen ja nicht, womit oder mit wem wir es da zu tun haben. Und solange das so ist, gehen wir einfach ganz auf Nummer Sicher. Du bist erst mal voll abgeschirmt. Berufliche Informationsreise, wie gesagt.« »Ja, aber wie komme ich an diesen Alvaredejo überhaupt heran? Welchen Grund soll ich ihm nennen, wenn ich ihn sprechen will?« »Ganz einfach: Lube. Nenne ihm seinen Namen und du bist drin. Er wird dir sofort alles Nötige sagen. Zeit, Ort, alles. Laß ihn einfach machen. Er wird ebenfalls ganz auf Nummer Sicher gehen wollen.« »Kann ich ihm von unserer Verbindung erzählen? Von der mit deinem Verein, meine ich?« »Wird nicht nötig sein. Vermutlich wird er solche Dinge ganz bewußt gar nicht wissen wollen.« Sie besprachen noch eineinhalb Stunden lang Details dieser Art. Locke erinnerte sich an seine Intensivschulung vor zwanzig Jahren und ging in die kleinsten Einzelheiten. Charney beantwortete alles geduldig, wenn auch mit dem ständigen Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Aber er war njcht unbeeindruckt von Lockes fast professioneller Präzision. Dieser blieb mit Bedacht kühl, sachlich, leidenschaftslos und bemühte sich, seine tatsächlich durchaus widerstreitenden Emotionen zu verbergen. Er hatte einerseits das Gefühl, wieder in den alten Tagen mit Bri und Lube zusammen in
einem Lehrgang zu sein. Andererseits stand auch jetzt ständig Lubes tragischer Unfall wieder vor seinen Augen, den er in der Vergangenheit zumindest zeitweise hatte verdrängen können, jetzt aber mit Macht wieder nach vorne und in sein bewußtsein drängte. Sie hatten damals die Standardlehrgänge für fortgeschrittene Agenten mitgemacht, dazu mehrmals Überlebenstraining im Disneyland« der MilitärAkademie, das war ein großes Waldgelände mit allerlei eingebauten Schikanen gewesen. Es darum gegangen, die Serpentinenpfade so sicher und mit »wenigen Zwischenfällen wie möglich hinter sich zu bringen, und Zweck der Sache bestanden darin, Agentenschüler Lockes und Lubes Kaliber mit den Risiken und Gefahren deren Bewältigung vertraut zu machen. Die Instinkte Uten geweckt und geschult werden. Im Ernstfall nämlich de es keine zweiten Versuche geben. Das Überlebenstraining sollte, mit seinem harten Drill, dieser Tatsache Rechnung tragen. Nach drei Tagen einer Übung hatte Locke einmal einen Weg gewählt, der eine Abkürzung durch einen bestimmten Teil des Geländes darstellte. Je schneller sie durch waren, desto eher die Übung zu Ende. Lübeck wollte nicht, er drängte zur sieht. Locke hörte nicht auf ihn und ging los. Er war gewappnet und auf alles gefaßt. Glaubte er. Aber nach dreißig Metern tat sich hinter ihm die Erde auf wie ei einem heftigen Erdbeben. Es war eine Erdfalle, er rutschte ein und sah mit Entsetzen, das sie sich wieder zu schließen begann und ihn zerquetschen würde, wenn er nicht rasch auskam. Da griff Lübeck ein, packte ihn am Kragen und zog hoch. Er war vor Schrecken wie gelähmt gewesen und atmete jetzt befreit auf. Er war in Sicherheit. Glaubte er jedenfalls. Bis die sich schließende Falle noch seinen Fuß erfaßte. Er schrie vor Schmerz auf, während Lübeck heruntergriff und seine schon eingequetschte Wade und seinen Fuß zu befreien versuchte, während die Falle sich immer weiter schloß und sein Bein noch einmal erfaßte. Sein Fuß war immer noch eingeklemmt. Mit letzter Kraft zog Lübeck ihn schließlich heraus. Dann aber hallte ein zweiter Schrei durch den Wald, diesmal von Lübeck. Seine linke Hand, die ihn, Locke, eben noch herausgezogen hatte, geriet in die sich schließende Falle. Locke zog wie wild, um Lube zu befreien, obwohl keine Spalte mehr vorhanden zu sein schien, durch die er die Hand noch herausbekommen konnte. Dann fand er noch eine und zog mit aller Macht. Lübeck schrie wie ein Tier, die Ohren dröhnten ihm davon. Seine Hand war zwar frei, aber nur noch eine zerquetschte Masse aus
Knochen und Fleisch, mit Stellen, wo die Haut völlig abgefetzt war. Er wickelte die Hand sofort in seinen Reservepullover ein. Lübeck hatte einen Schmerzschock erlitten und fiel in tiefe Bewußtlosigkeit, aus der er in den folgenden eineinhalb Tagen nur gelegentlich und für kurze Zeit erwachte, während Locke ihn durch den Irrgarten des Waldes schleppte und Hindernis um Hindernis überwand. Als er endlich im Lager ankam, wurde Lübeck eilig ins Lazarett geschafft, aber die Hand war nicht mehr zu retten. Die Ärzte sagten, sie seien froh, das sie ihm wenigstens das Leben retten konnten. Eine Woche darauf verließ Locke die Akademie. Er hatte jeglichen Antrieb verloren. Statt dessen quälten ihn Entschlußlosigkeit und Schuldgefühle. Er sank zurück in die ewig gleichbleibende, unklompizierte Welt des Colleges und der akademischen Routine, um seine Abschlüsse und später seinen Doktor zu machen. Er fand sich hinter den efeubewachsenen Mauern von Schulen besser aufgehoben als draußen in der Welt, von der er sich zu isolieren suchte - das war der einzige Grund. Es folgte eine lange Reihe von Lehranstalten, in denen er Stellungen fand. Er fand nirgendwo das, was er suchte. Nirgends war er zufrieden oder fand Ruhe. Und so folgte ein Wechsel auf den anderen, der eine freiwillig, der andere gezwungenermaßen. In seiner dritten Stellung lernte er Beth kennen, die dort gerade ihren Abschluß machte. Zwei Monate danach heiratete er sie. Anfangs war das Leben verhältnismäßig leicht und einfach. Die drei Kinder kamen. Doch danach war ihre Ehe allmählich erstarrt und in eine Sackgasse geraten. Und er hatte keine Möglichkeit mehr gesehen, etwas dagegen zu unternehmen. Sie entfremdeten sich langsam, aber sicher. Ganz allmählich. Fast unmerklich. Ohne irgendwelche dramatischen Vorfälle oder Ereignisse. Nach achtzehn Jahren waren sie beide längst nicht mehr die, die sich einmal in einem Kurs über amerikanische Literatur begegnet waren. Sie waren wie Fremde. Die Fassade blieb aufrechterhalten, und sie richteten sich mit ihrer Lebenslüge ein und fühlten sich sogar einigermaßen vom Glück begünstigt, das es so blieb. Immerhin, er mußte einräumen, daß es Beth gewesen war, durch die er zur Ruhe gekommen war, zu Disziplin und Ausdauer, ohne die er die Stellung in Georgetown nie erhalten hätte. Er hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob er sie eigentlich jemals
wirklich geliebt hatte. Aber er wußte, das sie Wärme in sein Leben gebracht hatte — zu einer Zeit, da er in der ihn umgebenden Kälte zu erfrieren drohte. Wenn er sie nicht geliebt hatte, so hatte er sie zumindest dringend gebraucht - und war das am Ende, genau besehen, nicht dasselbe? Beths Auto stand in der Einfahrt, als er mit seinem LTD ankam. Die Kinder waren fort. »Wir müssen reden«, sagte er. Sie hatte es sich auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht und studierte die Prospekte der neuesten Kücheneinrichtungen. »Ich muß gleich zur Arbeit los. Hat das nicht Zeit?« »Nein, keine Minute«, sagte er. Es hatte keinen Sinn, noch lange darum herumzureden. »Ich verlasse die Universität.« Sie sah ihn völlig perplex an. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst?« »Mein voller.« Er setzte sich neben sie. Es war erstaunlich, das man mit einem Menschen so lange zusammenleben und ihn doch so wenig kennen konnte. »Es ist unerträglich geworden, wie sie mich unter Druck gesetzt haben. Sie haben eine Situation geschaffen, die für mich unmöglich wurde.« »Und du wirfst einfach alles hin und machst es damit nur noch unmöglicher.« »Hör mir erst mal zu. Ich habe andere Angebote erhalten.« Er unterbrach sich und versuchte seine Gedanken zu ordnen und überzeugend zu wirken. »Ich habe das schon seit längerem kommen sehen und mich darauf eingestellt. Andere Universitäten haben sich bereits interessiert gezeigt.« »Welche? Was sind das für Universitäten?« »Da und dort, überall.« »Jedenfalls nicht in Washington, entnehme ich daraus. Wir sollen also wieder einmal umziehen? Wieder die ganze Familie verpflanzen? Denk doch auch einmal an die Kinder, Chris! Ist das ihnen gegenüber fair?« »Mein Gott, andere Kinder passen sich auch einer neuen Umgebung an. Warum sollten unsere das nicht können? Sie sind doch ganz normal.« »Wir hätten darüber reden müssen.« »Jetzt reden wir ja darüber.« »Und was ist mit mir, meinst du? Ich habe hier eine Stellung!« »Es gibt auch anderswo Immobilienfirmen.« »Ach, und das genügt dir als Ausrede?« fuhr Beth unvermittelt auf.
Locke wußte, das seine Strategie nicht funktioniert hatte. Er mußte mit mehr herausrücken. »Es muß nicht unbedingt ein Umzug damit verbunden sein. Es gibt auch neues Interesse an meinen Romanen und wenn alles klappt, kann ich den Beruf ohnehin aufgeben, zumindest für eine Weile, und mich vielleicht mit George Washington wegen einer Teilzeitarbeit arrangieren.« Beth musterte ihn mißtrauisch. »Ich dachte, die Manuskripte liegen nach wie vor in deiner Schublade?« »Ich habe neue Kopien verschickt.« »Welcher Verlag interessiert sich dafür?« »Beth, du weißt, das ich über ungelegte Eier nicht sprechen mag, solange nichts definitiv entschieden ist.« Er holte Atem. Jedenfalls ist der betreffende Verlag interessiert genug, um mir zwei Wochen Europa zu finanzieren.« Tatsächlich?« Beths Gesicht hellte sich auf. »Wann?« Locke wurde sich klar, das Beth selbstverständlich annahm, sie käme mit. »Es ist so«, stotterte er etwas, »Sie wollen nur mich allein losschicken. Für diesmal jedenfalls. Es ist ohnehin nur eine reine Vorbereitungsreise für zwei Wochen, für ein Buch. Besichtigungen, Lokalkolorit und so etwas. Ich soll einen neuen Schauplatz für mein drittes Buch finden.« Das Schauplätze für deine Bücher so wichtig sind, höre ich zum ersten Mal.« Je aktueller und bedeutender ein Buch werden soll, um so wichtiger werden sie. Für mich ist das eine einmalige Chance, Beth. Die will ich nutzen.« Beths Brauen zogen sich zusammen, und er hatte das Gefühl, ihre Gedanken lesen zu können. Die Vorstellung, die Frau es anerkannten Autors zu sein, gefiel ihr durchaus. Und wann soll das sein?« fragte sie. Heute Abend.« Was?« Es hat sich alles sehr schnell ergeben. Mein Flugzeug geht halb acht.« Und dann bist du zwei Wochen weg? Und was ist mit dem wichtigen Dinner am Freitag in einer Woche?« Du mußt mich eben entschuldigen.« Ich hoffe nur, es ist zu deinem Besten.« Das ist es ganz bestimmt.« Sie saßen eine ganze Weile schweigend da, und eine deutliche Spannung hing zwischen ihnen. Irgendwie wünschte er. das sie ihm mehr Fragen stellte, Erklärungen forderte, die eingehender waren als die dürren Eröffnungen, die er ihr gemacht
hatte. Es war ganz klar, die Kluft zwischen ihnen war noch größer geworden; und sie ließ erkennen, das sie das entweder gar nicht bemerkte oder das es ihr gleichgültig war. Seit sechs Monaten hatte sich schon nichts mehr zwischen ihnen abgespielt, und er hatte bereits angefangen, sich an das Leben ohne Sex zu gewöhnen. Mehr als das machte ihm ohnehin das Leben ohne Liebe zu schaffen. »Soll ich dich zum Flughafen fahren?« bot Beth ohne viel Nachdruck an. »Ich werde abgeholt«, sagte er. »Trotzdem danke.« Er war eben damit fertig, seine Koffer nach unten zu tragen und vor die Haustür zu stellen, als Brian Charney angefahren kam. »Wir sind spät dran«, sagte Locke. »Wir müssen uns beeilen.« »Keine Sorge, das Flugzeug wartet, wenn nötig.« Als sie seine Koffer einluden, sah Locke, das Charney kein Gepäck bei sich hatte. »Du kommst nicht mit? »Nicht in deiner Maschine, Chris. Viel zu riskant. Ich komme später nach. Wir müssen auch die entfernteste direkte Verbindung vermeiden, auch wenn wir in London sind. Wenn die anderen auf Draht sind, wissen sie, das Lube für mich gearbeitet hat, folglich werden sie mich im Auge behalten. Schon deshalb könnte ich die Spur nicht selbst verfolgen.« »Ich bin also in London ganz auf mich selbst gestellt?« »Geh einfach vor, wie wir es besprochen haben. Du ziehst ins Dorchester und telefonierst sofort mit Alvaredejo. Dann rufst du unsere Kontaktnummer an und hinterläßt, wie ihr verblieben seid. Ich komme bereits eine Stunde nach dir in London an.« Auf dem Dulles-Airport herrschte lebhafter Abendbetrieb. Das war Charney nur recht. In der Menge konnte man sich besser verstecken als in halbleeren Flughafenhallen. Er verabschiedete sich, sobald Locke eingescheckt hatte, und niemand konnte dahinter mehr vermuten, als daß einer seinen alten Schulfreund zum Flughafen gebracht hatte. Als Locke sich mit seinem Handgepäck zum Flugsteig begab, ging in der Halle ein Mann in einem Sportsakko zu einem Münztelefon und wählte eine Nummer in Übersee. »Er steigt gerade in sein Flugzeug«, sagte er und hängte sofort wieder auf.
Zweiter Teil Paris und London Donnerstag morgen Ross Dogans Blicke schössen rasch hin und her, während er sich, auf der Place du Tertre herumschlendernd, den Anschein eines ganz normalen Touristen zu geben versuchte. Der Russe hatte auf einem öffentlichen Ort für sein Überlaufen bestanden, und Dogan hatte diesen Platz ausgewählt, weil er zweifellos zwar sehr öffentlich war, aber dennoch auch in sich geschlossen und überschaubar. Die Tische des Straßencafes standen auf dem alten Kopfsteinpflaster des Platzes. Künstler verkauften ihre Bilder an Ständen. Einige waren bereits bei Sonnenaufgang erschienen, um sich einen günstigen Standort an einem Baum oder vor einem Laden zu sichern. Andere arbeiteten dort und schufen so eine zusätzliche Touristenattraktion. Die Place du Tertre war alles andere als eine moderne Fußgängerzone. Geschäftsinhaber und Straßenverkäufer hielten gleichermaßen eine Atmosphäre der Ruhe und Behaglichkeit aufrecht, in der die Besucher unbedrängt und ohne Hast nach Belieben bummeln, flanieren, essen und trinken und ein wenig Sonne genießen konnten. Dies war kein Platz für Eile. Dogan fand Keyes an einem der vielen Tische mit rotkarierten Tischdecken und setzte sich zu ihm. »Alles bereit?« fragte er. Keyes sah ihn mit einer gewissen Ehrerbietung an. »Ja, Sir.« »Nennen Sie mich nicht Sir.« »Bitte sehr. Ja, es ist alles bereit.« Keyes griff an das Miniatur Walkie-talkie -in einer Brusttasche. »Alle Einheiten an ihrem Platz. Ich habe je vier Mann am vorderen und hinteren Ende der Straße stehen, das dürfte ein ausreichender Schutz sein. Außerdem sind noch ein Dutzend weiterer Leute in der näheren Umgebung des Treffpunktes postiert.« »Hier.« »Hier«, bestätigte Keyes. Er war fünfzehn Jahre jünger als Dogan, einer aus der jungen Agentengeneration — der ersten übrigens, die ihre Grundausbildung nicht mehr in Südostasien erworben hatte. Langley hatte versucht, dieses verlorene
Übungsgebiet durch sporadische Unternehmungen in Südamerika und Afrika zu ersetzen, aber heutzutage waren auch die Medien informierter und wachsamer, also mußte man sich "mehr zurückhalten als je zuvor. Dessenungeachtet waren die Außendienstagenten von heute auch selbstbewußter und risikofreudiger denn je. Und die CIA war inzwischen auch wieder ziemlich »in«. Dogan bestellte Cafe au lait und musterte Keyes. Einszweiundachtzig groß, tadellose Figur, imstande, jederzeit zu töten, gleich, ob mit der Waffe oder mit den eigenen Händen. Was den jungen Spunden der »Firma« an Erfahrung fehlte, machten sie auf jeden Fall an Training wett. Jedenfalls war das ihre Überzeugung. Doch Dogan hatte keine Geduld mit Leuten wie Keyes. In dieser Branche hatte man auf die Dauer nur Erfolg, wenn man auch geschmeidig war und nachgeben konnte, statt immer nur »auf sie mit Gebrüll« zu praktizieren. Die jungen Kerle von heute hatten gerade dafür kein Gespür. Für sie war alles entweder schwarz oder weiß. Ihr alles beherrschendes Motiv war ausschließlich, zu »punkten«, wie sie das im Sportjargon nannten. Pluspunkte bei den Vorgesetzten sammeln, um vorwärtszukommen. Unwichtig, ob es der Operation auch wirklich und auf lange Sicht nützte oder nicht. Nein, auch Keyes war in dieser Beziehung genau wie alle anderen. Und für keinen von ihnen hatte Dogan viel übrig. Da Nam ausfiel, war es an erfahrenen alten Hasen wie Dogan hängen geblieben, die Nachwuchsleute für die Abteilung Sechs der »Firma« unter sogenannten Echtbedingungen zu führen. Die Abteilung Sechs war die tatsächlich existierende US-Version der mehr fiktiven Doppel-Null-Agenten-Abteilung von MI-5 in England. Für sie vermochten sich nur ganz außerordentlich wenige Agentenanwärter zu qualifizieren. Keyes war einer von ihnen. Trotzdem hatte Dogan seine Zweifel. Der Junge hatte noch zu viele ungeschliffene Kanten, angefangen von der Art, wie er sein kurzgeschorenes schwarzes Haar trug, bis zu seinen sorgfältig manikürten Fingernägeln, und wie er ständig die Fäuste ballte und wieder öffnete. Der junge Mann hatte noch eine ziemliche Blickverengung. Er mußte erst noch seine Scheuklappen ablegen. »Gestatten Sie mir eine Frage?« sagte Keyes plötzlich. Dogan hielt in seinem ununterbrochenen beobachtenden Rundblick über die ganze Place du Ter'tre, auf der der Überläufer erwartet wurde, inne. »Ja?«
»Wissen Sie alles über diesen Russen?« »Chef der Abteilung Waffenforschung, soviel ich weiß. Bringt einen Mikrofilm mit, auf dem alle möglichen Planzeichnungen und Konstruktionspläne sein sollen. Ich versuche, bei Details möglichst wenig hinzuhören. Das ist nur hinderlich für den Job.« »Sie scheinen nicht sehr beeindruckt von ihm zu sein.« Dogan sah den jungen Agenten eindringlich an. »Wissen Sie, mein Junge, ich bin schon lange in dem Geschäft und habe schon so viele angebliche Überläufer gesehen, die uns hinterher hereingelegt und in die Pfanne gehauen haben . . . In der Regel haben wir uns mit solchen Burschen am Ende mehr Nachteile als Vorteile eingehandelt. Die Russen sind auf dem Gebiet schlicht und einfach cleverer als wir. Wenn Sie da drüben bei denen auch nur den Fotokopierer ohne Erlaubnis benützen, hacken die Ihnen einen oder zwei Finger ab und Sie finden sich in Sibirien wieder, ohne Rückfahrkarte. Also. Im Klartext: die meisten sind falsche Fuffziger und ganz offiziell ausgeschickt.« »Der hier auch?« »Kann man frühestens nach den ersten Vernehmungen sagen.« Keyes zögerte. »Darf ich Sie noch etwas fragen?« Dogan sah sich um. »Von mir aus. Wir haben Zeit.« »Ihr Code-Name ist doch Grendel? Haben Sie sich den selbst ausgesucht?« »Er wurde mir zugeteilt.« »Grendel war doch so ein Monster, das Menschenfleisch fraß, nicht?« »Und die Leute auf dem Land terrorisierte«, ergänzte Dogan sachlich. »Die Leute lebten in Angst und Schrecken vor ihm. Niemand wagte, sich ihm entgegenzustellen.« »Und so sind Sie auch?« wollte Keyes wissen und sah zu Dogan mit der Art Blick auf, wie C-Klassen-Spieler zu einem großen Profistar. »Nur so geht's. Einschüchterung ist alles. Die Gegenseite fürchtet sich, dir die Killer auf den Hals zu hetzen, weil ein Fehlschlag bedeutet, daß du den Spieß umdrehen mußt und deine Killer hinter ihnen herschickst. Und dieser Preis ist jedem zu hoch. Also will niemand Eskalation oder, daß die Leute einander gegenseitig wegen persönlicher Dinge umlegen. Leute wie Waslow und ich sind in erster Linie Profis.«
»Waslow«, murmelte Keyes. »Ich habe das Dossier über ihn gelesen.« »Exzellenter Mann. Mein Amtskollege auf der anderen Seite bei den Sowjets.« »Das klingt, als mögen Sie ihn.« »Respekt ist das bessere Wort. Wir respektieren einander. Er ist genauso lange im Geschäft wie ich, ich glaube sogar, noch länger. Wir beide sind inzwischen Anachronismen. Ich habe keinen Zweifel, daß er das genauso sieht wie ich.« »Haben Sie je mit ihm gesprochen?« Dogan musterte Keyes noch einmal abschätzend. Groß, stark, clever. Doch, doch, die Firma suchte sich nicht die schlechtesten Leute aus. Nur, er — Dogan — war nicht bereit, solchen Leuten wie diesem jungen Mann die Sicherheit des Landes anzuvertrauen. Dieser Art Burschen fehlte bei all ihren Qualitäten etwas Entscheidendes. Die wirkliche Überzeugung bei dem, was sie taten. Das, was es zu mehr als einem Karriere-Job machte. Und das Verständnis und die Übersicht. So ähnlich empfand er es, ganz exakt konnte Dogan es nicht formulieren. Das Walkie-talkie von Keyes begann leise zu quäken. Ich übernehme das«, sagte Dogan kurz und streckte die Hand fordernd aus. Keyes reichte ihm das kleine Gerät nur wiederstrebend und mit einem beleidigten Blick von der Art Das wollte ich doch selber machen. Dogan ignorierte das einfach und hielt sich das kleine Ding vor den Mund. »Grendel hier.« Grendel?« knallte eine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Leute an den Nachbartischen blickten auf. Können Sie vielleicht noch lauter brüllen?« zischte Dogan in das Gerät. Die Stimme sprach leise und gedämpft weiter. »Entschuldigung. Person hat Platz von Sacre-Coeur aus betreten.« Das bedeutete, er mußte genau auf ihn zukommen, überlegte Dogan. »Ist er allein?« »Allein.« »Kleidung?« »Schwarzer Mantel, offen. Brauner Anzug.« Scheiße noch mal! dachte Dogan. Fünfundzwanzig Grad, und dieser russische Affe läuft im
Mantel herum! Denkt wohl, er ist ner noch in Moskau. Damit er ja richtig auffällt hier! Man mußte ihn abschirmen. »Schicken Sie zwei Ihrer Leute direkt hinter ihn. Klar?« »Verstanden, Grendel. Zwei Mann zum Beschatten.« »Quatsch! Nicht zu nahe. Wenn wir ihn zu offensichtlich abschotten, fällt er noch mehr auf. Er soll nicht merken, daß sie da sind.« Dogan spürte, wie ihm Schweiß den Rücken hinunterrann und sein Hemd durchnäßte. Er fühlte sich klebrig. Verdammt nochmal, irgendwas stank, ziemlich sogar. Er suchte mit flinken Augen die ganze Place du Tertre ab, bis hin in die einmündenden Straßen mit ihren Geschäften. Aber alles sah völlig normal aus. »Ist was?« fragte Keyes. »Schnauze!« knurrte Dogan nur. Seine Augen flogen weiter hin und her von den Malern mit ihren Leinwänden, Farben und Pinseln, über die neugierigen Touristen, die ihre potentielle Kundschaft waren, bis zu dem blinden Bettler an der Ecke. In einer der Seitenstraßen kam ein vereinzeltes altes Auto angefahren, mit einer alten Frau am Steuer. Sie hielt an und ließ zwei Männer, die Kinderwagen schoben, über die Straße, um dann den Motor abzuwürgen. Sie versuchte, ihn wieder anzukriegen, während hinter ihr ein Hupkonzert losging. »Wo ist er?« fragte Dogan hastig ins Walkie-talkie. »Halb die Straße runter«, kam die Antwort. »Müßte bereits in Ihrem Blickfeld sein.« »Irgendwer außer uns hinter ihm her?« »Sieht nicht so aus. Soll ich den Rest meiner Leute einsetzen?« »Auf keinen Fall!« befahl Dogan. »Ihr rührt euch nicht von der Stelle, bis ich weitere Anweisungen gebe. Behaltet ausschließlich das Straßenende vorne im Auge. Wir sind noch lange nicht aus dem Schneider.« Er sah sich noch einmal auf dem Platz selbst um. Der Mann im schwarzen Mantel bahnte sich seinen Weg durch die Menge, und die beiden Agenten hinter ihm waren allzu; sichtlich bemüht, an ihm dran zu bleiben. Der Überläufer blieb am Stand eines der Maler stehen. Die beiden Männer mit den Kinderwagen, die wie Butler angezogen waren, begannen auf die Tische mit den rotgewürfelten Decken zuzukommen. »Wir hauen ab«, sagte Dogan zu Keyes. Die Kinderwagen näherten sich rasch.
Der junge Agent sah verwirrt aus. »Das ist nicht nach Plan.« »Schnappt ihn euch!« schrie Dogan Keyes an und zugleich ins Sprechgerät, während er selbst aufsprang. Die Kinderwagen waren direkt hinter ihm. Das Walkie-talkie plärrte. Dogan hatte keine Zeit mehr, weiter darauf zu achten, warf sich genau überlegt im richtigen Moment auf sie und hatte die beiden Butler im nächsten Moment am Boden. Er hielt fest, damit sie nicht an ihre Waffen konnten. Einer der Kinderwagen schleuderte und fiel um. Ein Baby kullerte heraus und schrie, mehr aus Schock als vor Schmerz Dogan sah auf die Butler. Sie hatten Angst im Blick und brabbelten französisch. »Hallo, Grendel, Grendel, kommen! Ich ziehe meine Leute ab, wiederhole, ziehe meine Leute ab!« Nein!!« schrie Dogan so laut, als könne der Mann vorne am Ende der Straße ihn hören, während er die beiden Butler hochzog und ihnen wieder auf die Beine half. Wo war das verdammte Walkie-talkie? Wo hatte er es verloren? Er entdeckte es neben einem der nächsten Tische. Er griff es sich hastig und hielt es sich vor den Mund. Mit einem Schlag war ihm das ganze Doppelspiel klar. »Nein! Hören Sie mich? Sie bleiben, wo Sie sind, verstanden! Wiederhole, Sie bleiben unbedingt und rühren sich nicht von Stelle! Wir sind hereingelegt worden. Bleiben Sie, wo Sie sind!« Aber es kam keine Antwort mehr. Der Idiot hatte seine Leute bereits abgezogen. »Scheiße, verdammte!« Und dann rannte er los, sprang über einen der Tische und rannte durch die Menschengruppen. Am Stand des Malers zogen Keyes und ein paar andere den Mann im schwarzen Mantel eiligst mit sich fort. »Mir nach!« schrie Dogan im Vorbeirennen. Keyes zögerte eine Sekunde, kam dann aber rasch mit. Er hatte Dogan fast eingeholt, als der Mann mit dem Walkie-talkie zu ihnen stieß und keuchend stehen blieb. »Arschlöcher!« schimpfte Dogan wütend. Sie waren fast schon ganz vorne am Ende der Place du Tertre, die Basilika Sacre-Coeur ins Blickfeld kam. Und ein weißhaariger Mann. Der der Zwilling des anderen hätte sein können, welchen hinten bei dem Maler die Agenten eben wegzerrten. Nur, daß dieser hier keinen Mantel anhatte. Dogan mußte, weil er noch zu weit weg war, tatenlos zusehen, wie ein gutkleideter Herr diesen Mann an beiden Ellbogen faßte
und zu einem wartenden Peugeot geleitete. Und der echte Überläufer - denn das war er - zögerte nur kurz, ehe er nachgab, darauf brauste der Peugeot davon, Dogans Blick fiel auf den blinden Bettler von der Ecke, der lieh fünfzehn Meter vor ihm und ganz offensichtlich auch nicht mehr blind war. Er grüßte sogar kurz, an seine Mütze tippend. Waslow! Ganz unwillkürlich machte Dogan eine Andeutung einer Erwiderung dieses Kollegengrußes. Er zog nicht einmal in Erwägung, die Pistole zu ziehen. Inzwischen kam Keyes hinter ihm herbeigesaust, blieb nach Luft ringend bei ihm stehen und zeigte mit dem Finger hinter dem enteilenden Bettler her. »Das ist Waslow!« schrie er. »Waslow!« Bettler Waslow verließ gerade die Place du Tertre und verschwand in der Menge. »Und Sie lassen ihn einfach laufen!« Keyes wollte hinter ihm her und zog bereits seine Pistole. Mordskanone, dachte Dogan. »Lassen Sie ihn gehen!« befahl er. »Lassen Sie ihn!« Aber Keyes hörte schon nicht mehr und war bereits an der Einmündung der Straße. Er ging in Anschlag, um bei erster Gelegenheit in die Menge zu schießen, unter die der Bettler sich gemischt hatte. Der junge Blödian mißachtete einen klaren Befehl! Aber mit Dogan konnte so einer das nicht machen. Zugegeben, der Junge hatte den Profiriecher. Er hatte immerhin Waslow nach den Fotos im Dossier sofort erkannt. Er war offenbar gut. Viel besser, als Dogan ihn eingeschätzt hatte. Aber er war noch zu grün hinter den Ohren, um alles zu begreifen. Passanten, die Keyes Waffe sahen, begannen zu schreien. Dogan stürzte auf ihn zu und stieß ihn zur Seite. Aber der impertinente Bursche, heiß, im Jagdeifer, stieß einfach zurück und leistete Widerstand! Er hielt die Pistole weiter schußbereit im Anschlag. »Ich sagte, Sie sollen ihn gehen lassen!« zischte Dogan in kaltem plötzlichem Zorn. Er packte Keyes am Handgelenk und drehte es ihm hart herum. Keyes schrie vor Schmerz auf. Er holte mit der freien Hand gegen Dogan aus. Doch Dogans| Abwehr war genauso schnell. Er blockierte den Schlag mühelos ab und hieb dem Jüngeren die Faust glashart ans Kinn. Er fiel sofort um. K. o. Vermutlich würde sein Unterkiefer nie mehr richtig funktionieren. Und mit dem Töten mit bloßen Händen und dem blitzschnellen
Ziehen war es fortan für ihn wohl ebenfalls vorbei. Zehn Sekunden heller Zorn Dogans hatten dafür genügt. Inzwischen waren die übrigen Agenten herbeigekommen. Zwei hielten noch immer den falschen Überläufer, den ihnen Waslow zugespielt hatte. Passanten blieben neugierig stehen fand wollten sehen, wie sich zwei Männer um einen bewußtlosen dritten bemühten. »Rufen Sie eine Ambulanz«, sagte Dogan. Er wußte, daß er wegen dieser Geschichte Ärger bekommen «würde. Dieser junge Schnösel Keyes stellte immerhin eine erhebliche Investition der Firma für die Zukunft dar, und die hatte er hier, einfach so, ruiniert. Auch wenn er ihnen damit wahrscheinlich am Ende nur einen Gefallen getan hatte, würden sie das sicher nicht so sehen. Er ging angewidert weg und fragte sich, ob Waslow ihn noch immer beobachtete. Locke hatte versucht, während des Flugs zu schlafen, aber er konnte nicht. Er kehrte zurück nach England, das sein Geburtsland, aber nie seine Heimat gewesen war. Seine Erinnerungen an England waren nur noch sehr verschwommen. Er versuchte, während die 747, in der er saß, den Atlantik überquerte, sich die bruchstückhaften Erinnerungen ins Gedächtnis zurückzurufen, zum tausendsten Mal übrigens, indem er die eigenen wenigen Erinnerungsbilder mit zusammenfügte, was er im Lauf der Jahre seinem Vater am hatte entlocken können, der erst vor einem Jahr, achzigjährig, in einem Altersheim in Virginia gestorben war. Erst in seinen allerletzten Tagen war er etwas gesprächiger vorden, was ihre Jahre in London und den Flug nach Amerika betraf. Er hatte vor sich hingebrabbelt, wirr und zusmmenhangslos, zwischen den Jahren hin- und herspringend. Aber Locke konnte sich dennoch manches daraus zusammenreimen. Sein Vater war im diplomatischen Dienst gewesen und hatte sich Mitte der dreißiger Jahre in Deutschland aufgehalten. In wenigen Monaten vermochte er dort die Lage einzuschätzen und zu erkennen, was kommen würde. Man nahm seine Berichte auch durchaus zur Kenntnis. Aber gehandelt wurde nicht. Er heiratete ein junges deutsches Mädchen und brachte sie heim nach England, als die diplomatischen Verbindungen abrissen und Hitlers Kriegsmaschine sich in Bewegung setzte. Sohn Christopher wurde 1942 in London geboren, mitten in der für das Land schlimmsten Kriegszeit. Zu dieser Zeit war sein Vater bereits Ratgeber in Churchills
Kriegskabinett, was automatisch mit sich brachte, daß er oft tagelang verschwunden blieb, ehe er in die Arme seiner liebenden Gattin zurückkehrte, die er anbetete. Und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Chris hatte ganz konkrete, wenn auch vage Erinnerungen an die liebevollen Umarmungen seiner Eltern. Noch auf seinem Totenbett hatte sein Vater unter Tränen den Schmerz beschrieben, den ihm die Erinnerung an all dies noch im nachhinein bereitet hatte - als er erst wußte, daß die ganze , liebevolle Zuwendung seiner Frau nur Tarnung gewesen war. Seit Jahren existierte ein gutorganisiertes deutsches Spionagenetz in England, dem sie angehörte. Er hatte von alledem keinerlei Ahnung gehabt. Was um so schlimmer war, als es ausdrückliche Anweisungen, Instruktionen und Vorkehrungen gab, vor allem für Regierungsmitglieder und ihre Umgebung, sich vor Anfälligkeit gegen Spione oder sogar direkte Infiltration durch sie zu schützen. Um so schlimmer und entsetzlicher hatte ihn dann die Entdeckung getroffen. Es schien, als versuche er, sich am Ende seines Lebens von dieser Last noch zu befreien. Er sprach davon, wie allmählich der erste leise Verdacht in ihm aufkeimte, als Rosa immer häufiger seltsame Nachtspaziergänge unternahm, wenn sie ihn schlafend glaubte. Und wie er eines Nachts vorgegeben hatte, an einer dringenden Kabinettssitzung teilnehmen zu müssen, während er in Wirklichkeit vor dem Haus wartete. Tatsächlich war sie kurz danach in dunklen Kleidern aus dem Haus gegangen, und er war ihr gefolgt; zu einem Treffen in einer dunklen abgelegenen Lagerhalle mit mehreren Leuten, die ausschließlich deutsch sprachen und wo sie offensichtlich das Kommando führte, die Vorgesetzte war. war nach Hause zurückgekehrt und hatte seine Pistole rausgeholt, fest entschlossen, erst seine Frau und dann sich selbst zu töten. Nur der Anblick des Jungen, der friedlich in seinem Bett schlief, hielt ihn davon ab. Er hatte bezweifelt, daß er es fertigbringen würde, seine Frau zu erschießen, die er trotz allem nach wie vor heftig liebte. Aber so wie er sie liebte, liebte — andererseits auch sein Land. Er gab ihr also, als sie zurückkam, nur mit knappen, geflüsterten Worten, damit das Kind nicht aufwachte, zwei Stunden Zeit. Sie verstand auf der Stelle, machte keinerlei Umstände und verschwand mit einem kleinen Koffer. Er wartete die versprochenen zwei Stunden, rief dann die Polizei an und weinte danach bis zum Morgengrauen. So sehr er gehofft hatte, die zwei Stunden würden ihr genügen, außer Landes zu kommen, auch wenn ihm dies in doppelter
Hinsicht das Herz brach, sie wurde noch gefaßt, als auf ein deutsches U-Boot wartete, das sie abholen sollte, Binnen drei Tagen wurde gegen sie verhandelt, das Urteil gefällt und vollstreckt. Er war der einzige Mensch bei ihrem Begräbnis gewesen, aber er lehnte es ab, ihr einen Grabstein setzen zu lassen. Er beweinte sie, aber er zwang sich, sie zu vergessen. Als sich das Ereignis herumsprach, bestand keine Chance mehr, im Lande zu bleiben, obwohl er sich persönlich nichts vorzuwerfen hatte. Die Regierung, die das ebenfalls klar erkannte, verhalf ihm schließlich zu einer neuen Identität und Auswanderung nach Amerika, damit er dort mit seinem Sohn ein neues Leben beginnen konnte. Der Schlag jedoch war zu schlimm für ihn gewesen. Er erholte sich nie mehr davon, zog sich in sich zurück und kapselte sich ab. So sehr, daß auch sein heranwachsender Sohn außer der finanziellen jede emotionale Sicherheit entbehrte. Der Vater ertränkte den Kummer es Lebens in Alkohol, bis er sich damit zerstört hatte, noch das Herz nicht mehr mitmachte. Die letzten zehn Jahre es Lebens waren für Charles Locke ein einziges Leiden, aber eben dies schien er bewußt zu suchen. Erst in den letzten paar Tagen seines Lebens empfand Christopher mehr für ihn als die bisherige Bitterkeit und Fremdheit. Lange zuvor schon hatte er beschlossen, seinen Kindern ein besserer Vater zu sein. Aber da hatte er die Gründe noch nicht gekannt, warum sein Vater der Mann geworden war als den er ihn kennengelernt hatte. Seine eigenen Kinder sollten rückhaltloses Vertrauen zu ihm haben können, anders als er zu seinem Vater. Er wollte all das für seine Kinder und seine Familie sein, was, wie er damals geglaubt hatte, Charles Locke für ihn nie gewesen war. Doch gerade, weil er das so verbissen anstrebte, gelang es nicht, kippte ins Gegenteil um. Das Motto der Akademie Man bekommt immer nur eine Chance war ihm durchaus bekannt und geläufig, so akzeptierte er den Fehlschlag seines Lebens, als er ihn erkannt hatte, wenn auch gebrochen, so doch ohne Klagen. Das Flugzeug landete rumpelnd und polternd. Die Triebwerke heulten donnernd auf, als die Maschine abgebremst wurde. Immer nur eine Chance. Genau dies war doch wohl das eigentliche, fast unbewußte Motiv gewesen, Charneys Angebot anzunehmen. Natürlich war das Geld, das damit verbunden war, ein gewichtiges Argument gewesen. Aber dennoch bei seiner Entscheidung nicht ausschlaggebend.
Locke versuchte gerade seine Gedanken abzuschütteln und in die Wirklichkeit zurückzufinden, als die Passagiere die letzten Anweisungen erhielten. Es war halb acht Uhr morgens Londoner Ortszeit. Er war hundemüde. Und dabei standen noch die Gepäckabfertigung und die Einreise- und Zollformalitäten bevor. Das alles zog sich in der langen Warteschlange schier endlos hin. Aber dann sprach ihn plötzlich jemand an. »Mr. Locke?« Er drehte sich herum. Ein tadellos uniformierter Zollbeamter stand vor ihm. »Ja? « »Robert Trevor, Sir.« Der britische Akzent des Mannes traf ihn ganz unvorbereitet und kam ihm komisch vor, so selbstverständlich er hier in London doch war. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich habe den Auftrag, sie abzuholen und Ihnen behilflich zu sein.« Er führte ihn in ein Büro, bat um den Paß und erledigte die nötigen Stempel. »Ihr Gepäck steht ebenfalls bereits zur Verfügung. Ein Wagen wartet auf Sie.« »Sehr freundlich«, murmelte Locke. »Ihre Suite im Dorchester steht bereit, soll ich Ihnen ausrichten. Im Auftrag von Mr. Charney. Und dann sollen Sie auch noch dies hier bekommen.« Trevor entnahm einem Wandschrank in dem fensterlosen Büro eine 45er Standard-Armeepistole. Locke nahm die Waffe zögernd und überrascht. Über Waffen war bisher mit Charney nicht gesprochen worden. Was hatte sich geändert? Brian hätte ihn doch sicher nicht mit einer Waffe versorgt, wenn nicht die Möglichkeit bestand, daß er sie brauchte. Irgend etwas stimmte nicht. Es waren inzwischen offenbar neue Umstände eingetreten, die vorher gar nicht zur Debatte gestanden hatten. Andererseits war es jetzt und hier zu spät, umzukehren. Trotzdem, die Sache blieb merkwürdig — auch, daß man ihm die Waffe durch einen untergeordneten, fremden Zöllner überreichen ließ. Das sah so gar nicht nach Bri Charney aus. Aber bei ihm war man auch nie vor Überraschungen sicher. Und schließlich, hätte er schon zu Hause von Waffen gesprochen, hätte er natürlich gar nicht erst weiterzusprechen brauchen. Weil er, Locke, sich dann von vorneherein nie darauf eingelassen hätte. Dies hatte selbstverständlich auch Bri genau gewußt. Trevor kümmerte sich auch noch zuvorkommend um ein Taxi, wünschte guten Aufenthalt und sah ihm noch eine ganze Weile nach, als er abfuhr. Ein wirklich ausnehmend freundlicher Zöllner, konnte Locke nicht umhin zu denken. Wieso eigentlich? War er von solcher
VIP-Bedeutung? Brian Charney war ja wirklich rührend um ihn besorgt. Die Fahrt vom Flughafen Heathrow ins Dorchester in der City kam ihm länger vor als erwartet. Aber vielleicht, dachte er, war er auch nur zu ungeduldig und unruhig. Alles, was er wollte, war ankommen, sich erfrischen und vielleicht ein Stündchen Schlaf, ehe er Kontakt zu diesem Alvaradejo in der Kolumbianischen Botschaft aufnahm. Es war genau Viertel nach acht, als er in seine Suite geführt wurde. Sie war renoviert und in Braun und Apricot gehalten. Es gab eine Zimmerbar und einen Kühlschrank. Er zog die Vorhänge zurück, um die wenige Sonne einzulassen, die an diesem Londoner Morgen schien. Es war, genau genommen, kein strahlender Tag, die Temperatur kaum über zehn Grad, mit wenig Aussicht, daß sie noch stieg. Typisches Londoner Frühlingswetter. Jeder Sonnenstrahl eine Zugabe. Er ließ sich in einen der komfortablen, weichen Sessel fallen und fühlte sich etwas unwirklich. Dies war wie ein Traum. Christopher Locke, kleiner, erfolgloser amerikanischer Schullehrer, in einem der besten Londoner Hotels, obendrein in einer Luxussuite . . . Da gehörte er doch nicht hin, dies alles hier war für andere Leute als ihn gemacht. Er war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er entschloß sich, statt dessen lieber zu duschen. Vielleicht erreichte er, wenn er damit fertig war und frische Kleider anhatte, Charney bereits unter der Kontaktnummer. Das gäbe ihm gewiß mehr Sicherheit. Er ließ sich das heiße Wasser über den Körper strömen, eingehüllt in Dampf, und spürte, wie das in der Tat die Reisemüdigkeit von ihm spülte. Er blieb volle zwanzig Minuten unter der Dusche, bis er ganz erfrischt war. Er sah in den Spiegel und stellte fest, daß er eine Rasur gut vertragen konnte, und auch dies beschäftigte ihn und ließ die Zeit vergehen. Danach versuchte er sich durch penibles Auspacken von seiner wachsenden Unsicherheit und der ungewohnten, einschüchternden Umgebung abzulenken, warf dann aber mittendrin alles hin und ging zum Telefon, um seine Kontaktnummer zu wählen. »Ja, bitte?« fragte jemand. »Ich, äh . . . Brian Charney, bitte.« Er war ärgerlich, daß er stammelte. »Ihr Name und Ihre Nummer?« sagte die Stimme teilnahmslos und mechanisch. »Christopher Locke.« Er gab die Telefonnummer des Dorche-ster und seine Zimmernummer an. »Mr.
Charney ist leider nicht erreichbar.« »Dann rufe ich später noch einmal an.« Er legte auf. Auch wenn Charney noch nicht in London angekommen war, hatte ihm dieser Anruf etwas mehr Sicherheit verliehen. Diese Kontakt-Telefonnummer, so anonym sie war, gab ihm das Gefühl, weniger allein und verlassen zu sein. Als sei er Teil von etwas Größerem, Glied einer Gemeinschaft, die ihn schützte. Er erinnerte sich an Charneys Worte, den Kontakt mit Alvaradejo unverzüglich aufzunehmen und dazu keineswegs zu warten, bis er, Charney, in London eingetroffen sei. Es war fast neun Uhr. In der Botschaft wurde sicher bereits gearbeitet. Er ließ sich verbinden und verlangte Juan Alvaradejo. »Wen bitte soll ich melden?« fragte die Telefonistin in spanisch gefärbtem Englisch. »Christopher Locke. Senor Alvaradejo kennt mich nicht, ich habe jedoch eine wichtige Nachricht für ihn.« Er zögerte etwas. »Ich rufe auf Empfehlung eines Freundes an.« »Augenblick, bitte.« Es dauerte etwas. Dann meldete sich eine Stimme. »Hier ist Juan Alvaradejo. Was kann ich für Sie tun?« Locke erinnerte sich an Charneys Anweisung, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. »Ich muß Sie treffen, Mr. Alvaradejo. Es betrifft Ihr Gespräch mit Alvin Lübeck.« Es blieb still am anderen Ende der Leitung. Nur ein etwas nervöses Atmen, wie Locke fand, war hörbar. »Mr. Alvaradejo? Sind Sie noch da?« »Ja, ja, Senor. Also Sie möchten mich treffen.« »Sobald wie möglich, Senor. Ich habe eine lange Reise deshalb hinter mir.« »Und Sie waren ein Mitarbeiter von Mr. Lübeck?« »Ein Freund.« »Wo wohnen Sie, Senor?« »Im Dorchester.« Alvaradejo dachte etwas nach. »Kennen Sie London!« »Ein wenig.« »Erwarten Sie mich in einer Stunde an der Achillesstatue im Hydepark.« »Wie erkenne ich Sie?« »Stellen Sie sich einfach neben die Statue, Senor. Ich werde S i e erkennen.« »Gut, also dann in einer Stunde. Ich . . .« Aber Alvaradejo hatte bereits aufgelegt. Das Dorchester befand sich direkt am Hydepark, und man hatte von dort aus einen guten Überblick über die weiten Park-und Rasenflächen, dem einstigen Jagdrevier von Henry VII. Bis zu dieser Statue war es nicht weit, vielleicht eine Viertelstunde zu Fuß. Er mußte also noch eine Dreiviertelstunde totschlagen. Er rief den Zimmerservice an und bestellte sich ein leichtes Frühstück. Es
kam, als er eben mit dem Anziehen fertig war. Er aß und wartete dann bis zur letztmöglichen Minute, um noch einmal die Kontaktnummer anzuwählen. »Kann ich etwas bestellen!« fragte die gleiche ausdruckslose, automatenartige Stimme wie vorhin. »Ich möchte Brian Charney sprechen.« »Ihr Name und Ihre Nummer, bitte.« Er wiederholte die Prozedur von vorhin. »Mr. Charney ist noch immer nicht zu sprechen.« »Dann bestellen Sie ihm, wenn er kommt: Das Treffen findet jetzt statt und ich werde in Kürze darüber berichten. Ja, und . . . richten Sie ihm meinen Dank aus. Für das . . . Geschenk.« »Wird erledigt.« Und schon war am anderen Ende der Leitung wieder aufgelegt. Es war draußen so frisch, daß man einen Mantel vertragen konnte. Das war ganz günstig; so fiel seine 45er unter der Jacke nicht auf. Locke selbst hatte allerdings das Gefühl, jedermann auf der Straße starrte dorthin und wisse, daß er bewaffnet war. Er blickte häufig nach unten, um sich zu vergewissern, daß die Waffe auch wirklich nicht zu sehen war. Natürlich war sie das nicht. Er hatte immerhin gelernt, wie man eine Pistole so in den Gürtel steckt, daß sie nicht sichtbar war — selbst, wenn man nur einen Pullover darüber trug. Himmel nochmal, wieso fallt mir das gerade jetzt ein? Er blieb noch einige Augenblicke vor dem Eingang des Dorchester stehen, um in den Morgen zu schnuppern. Falls es zuvor noch nach etwas Sonne ausgesehen hatte, so war diese Hoffnung inzwischen vorbei. Der Himmel hatte sich bedeckt, es war neblig trüb. Er schlug den Mantelkragen hoch und ging über die Park Lane zum Hydepark. Die Park Lane bestand eigentlich aus zwei Straßen, die nebeneinander lagen, jede einbahnig in entgegengesetzte Richtungen. Er schaffte es bis zum Mittelstreifen, der sie trennte, und mußte ziemlich lange warten, bis die Ampeln umschalteten und er auf die Hydepark-Seite gelangte, auf einen der vielen Wege, die durch den Park führten. Er nahm die Richtung zur Serpentine Road, der größten Straße innerhalb des Parks, und bog dann nach links ab zur Achillesstatue an der berühmten Carriage Road. Er lehnte sich an den Sockel des Denkmals und sah auf die Uhr. Er war pünktlich. Weit und breit war niemand zu sehen. Er rieb sich die Hände und wünschte, er hätte Handschuhe angezogen. Es war doch
ziemlich frisch. Minuten vergingen. Nichts passierte. Nirgends eine Spur von Jüan Alvaradejo. Er wurde langsam nervös. Durch sein akademisches Berufsleben war er an Ordnung und Pünktlichkeit gewöhnt, an präzise, immer gleiche Abläufe. Alles verlief nach Plan. Er war ran gewöhnt, daß die Minuten so vergingen, wie es vorgesehen war. Alvaradejo hatte Ort und Zeit bestimmt, also wo war er? Sein Unbehagen wuchs. »Ich wußte, Sie würden kommen, Senor«, sagte dann plötzlich eine Stimme von der anderen Seite der Statue, der Seite Carriage Road. Es war unverkennbar Alvaradejos Stimme. »Ich wußte, sie würden jemand schicken.« Locke wandte sich um, verblüfft über diesen überraschenden Auftritt. Aber er sah nur in die Mündung einer Pistole. »Carniceros!« rief der Kolumbianer. »Schlächter! Tiere! Ihr werdet dafür bezahlen! Alle werdet ihr bezahlen! Als Rache für die Toten von San Sebastian!« Er hob die Pistole. Im Bruchteil einer Sekunde rasten tausend Erinnerungen und Gedanken zugleich durch Lockes Gehirn. Doch keiner bewegte ihn vorwärts. Dafür übernahm lange trainierter, aber längst auch wieder verschütteter Instinkt das Kommando. Der endlose und bis zum Überdruß wiederholte Drill von einst erwachte wieder. Renn los und hör nicht auf zu rennen. Ein fliehendes Ziel ist schwierig für einen in Panik geratenen Schützen . . . Die Pistole des Kolumbinaers knallte einmal, zweimal, die Kugeln prallten singend vom Asphalt ab. Sie hatten Lockes Kopf nur knapp verfehlt. Er stürzte hart zu Boden, rollte sich zweimal um die eigene Achse und versuchte, hinter die Statue zu gelangen. Noch einmal spritzten Asphaltpartikel hoch. »Bastarde!« fluchte Alvaradejo. »Mörder! Asesinosl« Locke riß seine 45er aus dem Gürtel. Überleben war jetzt alles. Er hatte keine Zeit, über das was er tat, nachzudenken. Er wälzte sich vor einem neuen Schuß noch einmal weg, ins Gras. Alvaradejo zielte schimpfend und fluchend noch immer auf ihn. »Asesi . , .« Aber da hatte Locke den Abzug durchgedrückt. Es ging überraschend leicht, und der Rückstoß war kaum merkbar. Er schoß dreimal schnell hintereinander, sein Finger bewegte sich völlig automatisch. Die erste Kugel traf den Kolumbianer in den Leib, die
zweite riß ihm die Brust auf, die dritte traf ihn nicht mehr, weil er bereits zurücktaumelte. Locke sprang auf, alles an ihm zitterte. Er ging wie in Trance auf den Mann zu, dessen Hände und Füße sich im Todeskampf verdrehten. Die ganze Szene war absolut unwirklich. Absolut unmöglich, fand er. Der ganze Ablauf, alles. Ein Mann hatte ihn zu erschießen versucht, aber er hatte ihn erschossen . . . Unmöglich, das alles! Er mußte endlich aufwachen! Das war nur ein böser Traum. Aber Alvaradejo blieb tot vor ihm liegen. Aus seiner Brust lief Blut. Auch aus seinem weit geöffneten Mund. Erst näherkommende Laufschritte brachten ihn in die Wirklichkeit zurück. Seine Sinne waren mit einem Schlag wieder scharf. Alvaradejo hatte versucht ihn umzubringen. Vielleicht war er gar nicht allein gekommen? Es war der reine Reflex. Er schob die Pistole in den Gürtel und rannte los, weg von den sich nähernden Schritten, hinüber zur Carriage Road, über sie hinweg. Er warf nur einmal einen kurzen Blick zurück. Sein Herzschlag dröhnte im ganzen Körper. Er rannte geradeaus weiter auf den Verkehrslärm der Park Lane zu. Dort in der Menge war er in Sicherheit. Jedenfalls fand er dort Deckung. Auch das eine Lektion von einst. Ein freies Taxi stand an der Ecke. Er sah sich noch einmal um. Falls andere da waren, konnte er sie nicht entdecken. Er mußte sofort ins Dorchester zurück, außer Sicht. Kontakt mit Charney aufnehmen. Er rannte auf das Taxi zu und ließ sich atemlos auf den Rücksitz fallen. Der Taxifahrer sah sich verwundert nach ihm um. »Geht's Ihnen nicht gut?« »Fahren Sie los, sonst nichts!« Der Fahrer stellte die Uhr an. »Wohin?« »Einfach erst mal los!« Der Taxifahrer fuhr los. Locke versuchte in Ruhe zu überlegen und sich zu beruhigen. Er war noch immer atemlos und keuchte. Das war alles zuviel. Zu schnell zuviel. Zu unerwartet zuviel. Und die Wirklichkeit traf ihn jetzt wieder, nachdem der erste Schock der Panik allmählich wich.
Die Waffe steckte in seiner Tasche, noch immer heiß. Er hatte einen Menschen erschossen! Kein Training konnte jemals eine solche Erfahrung hervorrufen, das Gefühl im Magen simulieren, das er nun hatte. Aber schließlich hatte dieser Kolumbianer versucht, ihn zu ermorden! Das mußte er sich immer vergegenwärtigen! Er hatte schließlich in Notwehr gehandelt, nur sein eigenes Leben gerettet. Ein Wahnsinn! Charney mußte ihn da herausholen. Zum Glück hatte er ihn, sein guter Freund, mit dieser Pistole versorgt. Andernfalls . . . »Fahren Sie mich zum Dorchester«, sagte er schließlich zu dem Taxifahrer. »Sind wir grade dran vorbeigefahren, Mister.« Locke holte eine Fünfpfundnote heraus. »Dann fahren Sie zurück, Mann.« Der Fahrer ergriff den Schein. »Klar, Mister.« Etwas an der Stimme dieses Fahrers störte ihn, irgend etwas kam ihm vertraut vor. Aber was, wer, wo? Klar, Mister. Der Akzent war nicht eigentlich britisch, das klang eher nach . . . Locke erstarrte. Der Akzent war spanisch! Er beugte sich vor und suchte nach der Taxilizenz, sah aber keine. Nun ja. Schließlich war dies hier nicht New York oder Washington. Er hatte keine Ahnung, ob es hier in London ebenso Vorschrift war, die Lizenz sichtbar auszuhängen, oder nicht. Hier, wo selbst das verdammte Steuerrad auf der falschen Seite war. Ruhe. Wahrscheinlich ging nur seine aufgescheuchte Phantasie mit ihm durch. Der Schock und alles. Ein spanischsprechender Mann hatte ihn umzubringen versucht, und jetzt hörte er überall einen spanischen Akzent heraus. Ruhe, Mann, Ruhe. Aber es gelang ihm nicht, Ruhe zu bewahren. Der Taxifahrer fuhr langsam im Verkehrsstrom weiter die Park Lane an der HydeparkSeite entlang, entfernte sich immer mehr vom Hotel. Er sah ab und zu prüfend in den Rückspiegel. Locke spürte, daß er ihn beobachtete. Sobald eraufsah, blickte der Fahrer rasch wieder nach vorn auf die Straße. Genug damit! kommandierte er sich selbst. Doch dieses Gefühl: etwas stimmt nicht, blieb trotzdem. Er griff nach der 45er im Gürtel. Das Taxi hielt an einer Ampel an. Locke warf einen Blick hinter sich. Das Dorchester war etwa vier Blocks entfernt. Rausspringen, das war es. Rausspringen und lossprinten, solange das Taxi noch stand. Er griff zur Tür. Sie war verschlossen. Er suchte nach dem Türgriff. Er war entfernt, es gab keinen. Er saß in der Falle!
Der Motor lief im Leerlauf, er sah auf. Der Taxifahrer hatte nur eine Hand am Steuer, die andere hielt er an der Seite. Die Ampel sprang auf Grün. Er sah plötzlich, wie sich des Fahrers Schulter bewegte. Ehe er es bewußt wahrnehmen und begreifen konnte, hatte sein alter Instinkt wieder reagiert. Er warf sich automatisch nach vorne und hieb dem Fahrer die Hand ins Genick. Der flog mit dem Gesicht auf das Steuerrad. Das Taxi schlitterte in die Kreuzung und drehte sich schleudernd. Locke sah die Pistole in der Hand des Taxifahrers und versuchte, ihn am Gelenk festzuhalten. Dann spürte er jedoch, wie eine Hand auf sein Nasenbein krachte. Ein heftiger Schmerz explodierte in seinem Kopf. Seine Augen füllten sich mit Wasser. Er konnte kaum noch etwas sehen. Er sah die Pistole nicht mehr, vergaß auch seine eigene und griff verzweifelt um sich. Da kam die Pistole bereits auf ihn zu. Sie füllte sein gesamtes Blickfeld. Er versuchte sie mit aller Macht abzuwehren. »Mörder!« schrie der Taxifahrer. »Carcinero! Asesino!« Die gleichen Worte, die auch Alvaradejo gebraucht hatte. Das Taxi schleuderte und schlitterte immer noch weiter, mittlerweile völlig außer Kontrolle. Es rammte einen Bus, prallte ab und gegen einen Lichtmasten. Locke wurde in die Windschutzscheibe geschleudert, mit dem Rücken voraus. Der Kopf des Fahrers knallte hart gegen das Armaturenbrett und prallte zerschunden und blutig zurück. Die Tür war bei dem Anprall von allein aufgesprungen. Locke warf sich ins Freie. Die Hupe plärrte, sie hatte sich verklemmt. Er fiel aus dem Taxi auf das Pflaster. Menschen versammelten sich. Man half ihm auf die Füße, aber seine Beine waren wacklig und seine Knie weich. Es schien ihm, als gehorchten seine Beine den Befehlen des Gehirns nicht mehr. Sein Hinterkopf schmerzte heftig, auch sein Genick. Aber wunderbarerweise war es kein stechender scharfer Schmerz von der Art, die anzeigte, daß etwas gebrochen war. Da ist er! Da ist er! Das wurde auf spanisch gerufen, und wieder hörte er dazu näherkommende Laufschritte aus der Richtung, aus der sie mit dem Taxi gekommen waren. Wie viele waren sie eigentlich? Zuerst Alvaradejo, dann der falsche Taxifahrer, und jetzt . . . Ebenso plötzlich wie verzweifelt riß er sich von den Leuten, die sich um ihn bemüht hatten, los und fing an zu laufen. Er
hörte hinter sich noch weitere Anweisungen, die auf spanisch gerufen wurden, und hörte, daß er wieder verfolgt wurde. Sein Kopf und seine Schultern schmerzten wie verrückt. Seine Füße trampelten auf das Trottoir, und bei jedem Auftreten durchfuhr ihn ein stechender Schmerz das ganze Rückgrat hinauf. Er fühlte sich schwindlig, aber er wußte, daß er nicht stehenbleiben durfte. Er wagte nicht, sich umzusehen. Er wußte, was er dann sehen würde: seine Verfolger, die zweifellos bewaffnet waren. Alvaradejo hatte eine Pistole gehabt, der Taxifahrer ebenso . . . Seine einzige Hoffnung bestand darin, daß viele Menschen auf der Straße waren und es also auch viele Augenzeugen gäbe, falls geschossen würde. Er brach sich brutal Bahn durch die Menge, im vollen Bewußtsein, daß aller Augen auf ihm ruhten. Er rannte, so schnell er konnte, in Richtung Dorchester. Noch waren mehrere Straßen zu überqueren, und er war ohnehin auf der ganzen Strecke ein leichtes Ziel. Aber er hatte keine Wahl. Trotz der starken Schmerzen, die ihm jeder Schritt bereitete und den Wunsch in ihm immer stärker werden ließen, einfach aufzugeben. Er dachte daran, nach der Pistole zu greifen und einfach stehenzubleiben. Aber die 45er war weg! Er mußte sie bei dem Kampf im Taxi verloren haben. Hinter sich hörte er noch immer spanische Rufe. Er wandte sich kurz um. Ja, sie waren hinter ihm her. Drei, glaubte er zu sehen. Er rannte am Dorchester vorbei, bekam kaum noch Luft, und spürte erste Krämpfe in den Beinen. Dann sah er den Doppeldeckerbus, der an der Ecke Park Lane und Curzon Street hielt. Er brach rücksichtslos durch Menschenmengen und hektisches Verkehrsgewühl und versuchte den Bus zu erreichen, ehe der weiterfuhr. Er hoffte verzweifelt, die kurze Schlange der Wartenden würde so lange zum Einsteigen brauchen, bis er dort war. Einen Augenblick lang sah es nicht so aus. Dann ließ eine Frau ihre Handtasche fallen und beugte sich hinunter, um sie aufzuheben. Der Fahrer mußte warten, ehe er die Tür schließen konnte. Locke kam genau in dem Moment am Bus an, als die Frau ihre Tasche aufhob. Er sprang hinein und direkt hinter ihm schlössen sich die automatischen Türen mit leisem Zischen.
Der Fahrer fuhr los. Er blieb fast eine Stunde im Bus. Die genaue Zeit konnte er nicht feststellen. Seine Uhr war zerbrochen, als es ihn gegen die Windschutzscheibe geschleudert hatte. Aber die Fahrt gab ihm Gelegenheit, sich wieder zu beruhigen und seine Situation zu überdenken. Seine Muskeln konnten sich etwas entspannen, und die Schmerzen ließen nach. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er keine schweren Verletzungen. Nichts Ernsthaftes. Schnitte und Schrammen, im wesentlichen. Vom Nasenbein abgesehen, auf das die zuschlagende Hand des Taxifahrers getroffen hatte. War es gebrochen oder nicht? Er vermochte es nicht zu sagen. Es tat jedenfalls höllisch weh. Als er schließlich eine der roten Telefonzellen kommen sah, griff er nach der Klingelleine, um den Bus anhalten zu lassen. Seine Muskeln gehorchten nur widerwillig, aber wenigstens ohne Schmerzen. Er stieg in der Mitte aus und stolperte mit weichen Knien über den Gehsteig zur Telefonzelle. Zum Glück fand er einige passende Münzen. Aber die Nummer! Verdammt, wie war noch die Nummer? Er zwang sich, sein Gedächtnis nach der Telefonnummer zu durchforschen. Es gelang. »Ja, bitte?« meldete sich die bereits bekannte ausdruckslose Männerstimme wieder, aber für seine Ohren war sie nun der reinste Engelschor. »Charney«, sagte er nur. »Ich muß mit Briari Charney sprechen. Sofort.« »Ihr Name und Ihre Nummer bitte?« Er sagte wieder seinen Namen und las die Nummer der Telefonzelle ab. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Warten Sie auf den Rückruf.« Es klickte. Er legte sofort den Hörer auf. Fast unmittelbar danach klingelte es. Er hob zitternd ab. Brian? Hallo, Chris, ich versuche bereits dauernd, dich zu erreichen. Wo zum Teufel steckst du die ganze Zeit und was ist das mit der. . « Locke fand seine Stimme wieder und unterbrach ihn abrupt. »Ich habe Alvaradejo erschossen.« »Du hast was?« »In Notwehr, Brian. Er versuchte mich umzubringen. Ich habe ihn, wie wir besprochen haben, Zeit und Ort des Treffens
bestimmen lassen. Und dort hat er sofort auf mich geschossen. Hätte ich nicht die Waffe gehabt, die du mir . . .« »Augenblick, Augenblick. Welche Waffe?« »Die mir der Zöllner am Flughafen in deinem Auftrag übergab!« »Hab ich nie veranlaßt.« »Was soll das heißen?« »Also das war das Geschenk, das du in deiner Nachricht an mich erwähnt hast. O Gott! Und damit hast du Alvaradejo erschossen? « »Verdammt, ich sagte dir doch, in Notwehr, weil er zuerst geschossen hat!« »Ruhe, Junge, Ruhe. Ich glaub's dir ja. Ich versuche ja nur, das Puzzle zusammenzusetzen. Also, jemand hat dich benutzt.« »Ich brauche Hilfe, Brian. Du mußt mich da rausholen. Da war noch einer, auch einer mit einer Waffe. Ein Taxifahrer, der auf mich wartete. Und noch ein paar, die hinter mir her waren. Lauter spanisches Geschrei.« »Was zum Beispiel?« »Was, was?« »Das spanische Geschrei.« »Viel Abwechslung war nicht drin. Schlächter, Killer, Mörder, Tier, alles Singular und Plural. Und Alvaradejo sagte etwas von Rache für die Toten von San Sebastian.« Darauf trat Stille ein. »Brian? Bist du noch da?« »Ja, ja, natürlich. Bist du sicher, das er San Sebastian sagte?« »Ganz sicher. Sagt dir das was?« »Möglicherweise.« Locke sah sich um. Er fühlte sich unbehaglich. Er war schon zu lange an der gleichen Stelle. Seine Schuhe stießen nervös und ganz unwillkürlich gegen die Gehsteigplatten. »Wie geht das nun weiter hier? Brian, die suchen noch immer nach mir. Ich kann es vielleicht bis zurück ins Hotel schaffen, wenn . . .« »Auf keinen Fall!« fiel ihm Charney ins Wort. »Gerade dort warten sie doch auf dich. Geh' nicht einmal in die Nähe des Dorchester, hörst du? Wir treffen uns irgendwo anders.« »Wo denn, wann?« »Es wird eine Weile dauern. Ich muß telefonieren, mir einen Überblick verschaffen. Sagen wir um fünf.«
»In fünf Stunden?« »Viereinhalb, ganz genau. Glaub' mir, das muß sein. Ich habe solche Situationen schon durchgemacht.« Er überlegte etwas. »Kennst du den St. James Park?« »War schon mal dort.« »Da ist eine Brücke über den chinesischen Teich.« »Ja, kenne ich.« »Warte mitten auf ihr auf mich, genau um fünf. Ich brauche so viel Zeit.« »Wozu?« »Um die Kavallerie herbeizurufen.« Der hochgewachsene Mann sah sein Ziel aus der Telefonzelle kommen und eine Weile regungslos an ihr lehnen, sei es aus Erleichterung oder aus Erschöpfung. Sie hatten ihn im Park verfehlt, und in den Straßen der Stadt ebenfalls. Es war höchste Zeit, diese Mißgeschicke zu korrigieren. Er beschleunigte seine Schritte. Seine Hand griff nach dem Kolben des Revolvers unter seiner Jacke. Er hatte schon viele Menschen getötet, oft und meistens ordentlich. Dies hier würde eine leichte Aufgabe sein. Und besonders befriedigend, angesichts der Tatsache, daß die anderen alle versagt hatten. Sein Ziel an der Telefonzelle bewegte sich. Er zog die Waffe heraus. Er mußte nur zu ihm auf schließen, einmal direkt am Körper des Opfers abdrücken, was schalldämpfend wirken würde, und sich dann rasch entfernen. Ganz einfach, zumal die Gegend praktisch menschenleer war. Er machte sich langsam an sein Ziel heran. Da stolperte von hinten eine Frau mit langem, blonden Haar und stieß ihn an. Ihr Einkaufskorb fiel zu Boden, alles fiel heraus. Er war wütend; einen albernen Zwischenfall wie diesen konnte er ausgerechnet jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Er versuchte die Frau einfach zur Seite zu schieben. Zu seiner größten Verblüffung ergriff sie jedoch blitzschnell seinen Arm, in dem er den Revolver noch halb verborgen hielt, und drehte ihn ihm nach hinten. Dann sah er das Messer. Es fuhr nach oben und zur Seite. So schnell, dachte der großgewachsene Mann noch, daß sie ihn, kaum zu glauben, verfehlt hatte. Bis er das warme Blut aus dem Schnitt in seiner Kehle fließen spürte. Er sank in sich zusammen, noch im Augenblick seines eintretenden Todes verwundert. Die Frau mit dem langen blonden Haar erhob sich ruhig, ließ ihn und den Einkaufskorb einfach liegen und ging weg.
Locke war immer noch nervös, aber nicht mehr so in Panik als er den Hörer aufhängte. Charney hatte ihn in diese verdammte Situation gebracht, und er mußte und würde ihn da auch wieder herausholen. Jetzt mußte er allerdings erst einmal fast fünf Stunden Zeit totschlagen. Er verließ die Telefonzelle und kehrte zurück in den, hier etwas spärlich fließenden Strom der Passanten. Er zwang sich, einfach weiterzugehen. Er war an der Vauxhall Bridge an der Themse. Sein Ziel war das Zentrum mit seinem Trubel, wo er in der Menge untertauchen konnte. Zu Fuß hingehen kam allerdings nicht in Frage. Was Taxis anging, hatte er zumindest für heute die Nase voll. Blieb nur die U-Bahn übrig. Er sah weiter vorne den Eingang zu einer U-Bahn-Station und ging bedächtig darauf zu. Er nahm sich Zeit, sich in Ruhe über die verschiedenen Linien zu informieren. Er hatte es schließlich überhaupt nicht eilig. Er entschied sich für die Nordlinie und stieg am Soho Square aus. Der Nebeldunst war inzwischen einem unangenehmen Nieselregen gewichen. Er fröstelte. Er überlegte, was er anfangen solle. Vier Stunden bei diesem Wetter im Freien zu verbringen, war unmöglich. Bereits jetzt dehnten sich die Minuten endlos. Er ging an den Läden und Restaurants vorbei, die hier in großer Zahl vorhanden waren und fand sich schließlich auf der pulsierenden, hektischen Oxford Street wieder, wo er die Lösung seines Problems beim Anblick einiger Kinos fand. Zwei Filme würden ihm wohl die Zeit bis zum Treffen mit Charney vertreiben. Er kaufte sich gleich Tickets für beide im voraus, um nicht Schlange stehen zu müssen. Die Filme selbst spielten keine Rolle. Egal, was er sehen würde, ihn würden sie so oder so nicht besonders interessieren. Auf seinem Platz im dunklen, fast leeren Kino fühlte er sich allmählich wieder ruhig und sicher. Er streckte bequem die Beine aus, massierte sie etwas und knetete sich auch Nacken und Schultern. Danach lehnte er sich enstpannt zurück und schloß die Augen. Müdigkeit kroch an ihm herauf. Nach einer Weile schreckte er hoch und bemerkte, daß er eingedöst war. Das wiederholte sich noch mehrmals. In der Pause kaufte er sich deshalb zwei Coca-Cola, da er keinen Kaffee bekommen konnte,
und hoffte, daß ihn wenigstens das bißchen Coffeiii in der Limonade ein wenig aufwecken würde. Es weckte freilich hauptsächlich seinen Hunger, und so kaufte er noch drei Packungen Popcorn. Etwas später ging er auf die Toilette und betrachtete dort im Spiegel prüfend seine Gesichtsverletzungen. Sie waren zu auffallend und das war von Nachteil. Zum Glück war es nicht allzu schlimm. Einige Eiswürfel, die er sich am Erfrischungsstand erbat, und mit denen er sein Gesicht behandelte, ließen es schon etwas abschwellen. Gegen halb fünf fühlte er sich wieder einigermaßen fit. Es war jetzt Zeit, sich zu dem Treffen mit Charney aufzumachen. Bald würde dieser ganze Alptraum vorbei sein. Gut, er hatte von vorneherein gewußt, daß die Sache mit gewissen Risiken verbunden war. Aber auf diese Art von Risiken wie er sie heute morgen erlebt hatte, war er doch nicht gefaßt gewesen. Schon gar nicht darauf, daß er gleich zu Beginn, um sein eigenes Leben zu retten, einen Menschen töten mußte. Damals, vor vielen Jahren, in den Lehrgängen hatte man ihn mit dieser Möglichkeit vertraut gemacht. Aber das war Theorie gewesen. Außerdem eine andere Zeit und ein anderes Lebensalter. Damals hatten sie versucht, einen psychologisch fit zu machen. Das Schuldgefühl war der eigentliche Feind, hatte man ihnen eingebleut, nicht die Kugeln: Schuldgefühl lahmt dich, läßt dich zögern. Er hatte diese Art von Gehirnwäsche nie akzeptiert. Sie war, im Gegenteil,- einer der Gründe gewesen, warum er aufgehört hatte und ausgestiegen war. Die Erinnerungen daran waren ihm unbehaglich. Er versuchte sie zu verscheuchen, indem er sich darauf konzentrierte, die Ereignisse von heute mittag noch einmal zu rekapitulieren. Aber es blieben nur lauter Fragen übrig. Wenn dieser Alvaradejo auf Lübecks Seite gewesen war, warum hatte er versucht, ihn umzubringen? Wo er doch ausdrücklich Lübecks Namen als Parole benutzt hatte? Irgend etwas paßte da nicht zusammen. Und dann die Sache mit der Pistole. Wenn sie nicht von Charney stammte, von wem war sie dann? Und warum und wozu? Alles ziemlich verrückt. Und was war das mit diesem San Sebastian oder wie das hieß? Und welche Geschichte war das? Und vor allem, wer waren die Leute, die da hinter ihm her waren und ihm nach dem Leben trachteten? Die Antworten konnte ihm wohl nur Charney
geben. Er fuhr mit der Underground zum St. James Park und kam dort zehn vor fünf an, wie die Uhr in der Station anzeigte. Er ließ sich Zeit, von dort aus bis zu der verabredeten Brücke zu gehen und lief noch etwas herum, um genau pünktlich am Treffpunkt anzukommen. Charney war nirgendwo zu sehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Panik stieg erneut in ihm auf. Man hatte ihn heute schon einmal an einem Treffpunkt warten lassen. Der ständige kräftige Nieselregen durchnäßte ihn rasch. Nun war es neblig geworden, nicht mehr nur dunstig wie am Morgen. Der Park war vollkommen menschenleer. Dann hörte er Schritte. Sie kamen näher. Aus nördlicher Richtung. Er wandte sich rasch um und ließ das Geländer los, an dem er sich festgehalten hatte. Brian Charney kam mit schnellen Schritten näher, äußerlich gelassen und ruhig, sah aus wie ein Mann, der seinen üblichen Nachmittagsspaziergang absolvierte, egal ob die Sonne schien oder ob es in Strömen regnete. Er tat so als kenne er Locke nicht. Locke wollte etwas sagen, ließ es aber sein. Es war Charneys Sache, das Kontaktzeichen zu geben. Er wollte keine neuen Risiken eingehen. Charney blieb stehen und bückte sich, um seinen Schnürsenkel zu binden, als er an der Brücke war. »Geh los«, sagte er. »Geh ganz normal und ruhig. Ich bleibe immer ein paar Meter hinter dir.« »Was?« »Tu, was ich sage, und halt den Schnabel. Geh ganz ruhig und gemächlich, und sieh' dich nicht um. Hast du gehört, nicht umschauen. Ich werde beobachtet.« Locke ging los und behielt die Hand auf dem Geländer, um deutlich sichtbar zu machen, wie absichtslos er spazierenging. Aber seine Finger zitterten. »Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, Chris«, hörte er Charney hinter sich mit gedämpfter Stimme sagen, er konnte ihn kaum verstehen. »Ich habe dir von Anfang an etwas vorgemacht. Du warst von vorneherein als Köder bestimmt. Als Kanonenfutter sogar. Wir haben . . . ich sollte sagen: ich habe keinen Augenblick geglaubt, daß du hier wieder lebend rauskommen würdest.«
Locke hörte es fassungslos. Ein jäher, mächtiger Zorn wallte in ihm auf. »Was zum Teufel . . .« »Geh weiter, verdammt. Du sollst dich nicht umdrehen, habe ich gesagt. Schau mich nicht an. Ich versuche, dich da rauszuholen. Und mich dazu, wenn du es genau wissen willst. Es ist ein Scheißspiel, Chris. Ein Scheißspiel, sag' ich dir. Tausendmal schlimmer, als ich selbst geahnt habe.« »Was denn?« »Die ganze Geschichte dreht sich um dieses Massaker. Ich hätte es wirklich wissen und voraussehen müssen.« »Was für ein Massaker?« »Das in San Sebastian.« »San Sebastian. Davon hast du mir kein Sterbenswörtchen . . .« »Ja, natürlich nicht, Mann. Und behalt deine Scheißnase vorne, verdammt! Oder ich nehme unseren lieben Freunden ihre Arbeit ab und blas' dir den Kopf von den Schultern!« »Wo sind sie?« »Weiß nicht. Jedenfalls nicht weit weg. Ich hab' sie nicht abschütteln können.« »Und was ist mit der Kavallerie?« »Nichts. Gibt keine. Jedenfalls nicht für uns und nicht hier. Ich weiß nicht einmal mehr, auf wen ich mich noch verlassen kann, und wie weit das alles reicht.« Locke konnte die Panik in Charneys Stimme durchaus wahrnehmen. Er spürte, wie sie auf ihn selbst übergriff. »Hör zu, Brian . . .« »Ich kann nicht weiterreden. Geh in dein Hotel zurück und warte dort auf mich.« »Du hast mir doch selbst gesagt, daß ich dort nicht sicher bin.« »Nirgendwo ist es sicher. Was Besseres können wir im Augenblick jedenfalls auch nicht tun. Sie sind hinter dir her und hinter mir auch und damit hat sich's. Nichts dazwischen.« »Wer ist hinter uns her, zum Teufel?« »Nicht jetzt. Schließ dich in dein Hotelzimmer ein. Warte dort auf mich. Mach kein Licht an. Antworte nicht, wenn das Telefon klingelt. Ich versuch' sie abzuschütteln und komm' dann zu dir. Halte dich bereit, in aller Eile aufzubrechen.« »Na gut.« Sie waren am Ende der Brücke angelangt. »Ich gehe jetzt nach rechts weg. Geh du weiter geradeaus. Mische dich in eine Menschenmenge und laufe so eine Weile durch die
Gegend, zur Sicherheit, ehe du ins Hotel gehst.« Locke drehte die Schultern etwas. »Und behalt deine verdammte Nase vorne!« zischte Chanrey sofort wieder. »Ich versuche, deinen Kopf zu retten, das habe ich dir doch gesagt. Also tu, was ich sage. Und stell jetzt keine Fragen, tu mir den Gefallen!« Dann war er weg. Locke hatte die Dringlichkeit seiner Worte verstanden. Er ging ruhig weiter, sah sich nicht um und ging auf der Hauptstraße bis Piccadilly. Was für ein Alptraum, dachte er immer nur. Und er geriet offenbar immer tiefer da hinein. Was ihm Charney da erzählt hatte und vor allem wie, schien zu beweisen, daß er selbst in der Klemme steckte. Obwohl er, Locke, nach wie vor so gut wie nichts verstand. Nur soviel war offenbar klar: Sein Leben war in akuter Gefahr. Das Nieseln war mittlerweile in kräftigen Strichregen überge-• gangen. Er war weit und breit der einzige ohne Regenschirm. Er fiel also schon allein dadurch auf. Er setzte sich seitwärts in einige kleinere, unbelebtere Straßen ab und schlängelte sich so bis zum Dorchester durch. Er brauchte eine Viertelstunde, war aber dann ziemlich sicher, daß er nicht direkt verfolgt wurde. Unter der Markise vor dem Haupteingang blieb er erst eine Weile stehen, um sich unauffällig einen Überblick über die Hotelhalle zu verschaffen. Innen an der Drehtür standen zwei Männer, die jeden Mann beobachteten, der aus- und einging. Nur die Männer. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, aber ihre Absicht war desto deutlicher erkennbar. Sie suchten jemanden. Ihn, vermutlich, nein, sogar bestimmt. Er wandte sich rasch ab und folgte den Pfeilen zur Hoteltiefgarage. Er ging die Rampe hinunter, Verbotsschilder für Fußgänger nicht beachtend. Tatsächlich bekam er Ärger mit dem Fahrer eines Wagens, der mit quietschenden Reifen gerade hinausfahren wollte. Er drückte sich an die Wand, ließ sich anschreien, sich den Vogel zeigen, und ging weiter. Ungehindert kam er zu den Aufzügen und mit einem von ihnen fuhr er hinauf in den achten Stock. Der Korridor war leer. Er versuchte, auf raschestem Wege zu seinem Zimmer zu kommen, wobei er darauf achtete, jeden Vorsprung und jede Nische zum Anhalten und Sichern zu benützen. Er holte den Zimmerschlüssel aus der Tasche und sperrte hastig auf. Was sich ihm bot, als er eintrat, war ein Chaos. Die ganze Suite war ein einziges Durcheinander. Kleider waren überall verstreut, die
Matratze des Bettes herausgerissen und umgedreht, Schubladen herausgezogen und entleert. Sein Koffer war buchstäblich in seine Einzelteile zerlegt worden. Sie hatten ihn offenbar auf Geheimfächer untersucht. Aber wonach, verdammt, hatten sie gesucht? Er zog die Tür hinter sich zu, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte, und zog, gerade noch rechtzeitig, bevor er automatisch das Licht anknipste, die Hand vom Schalter zurück. Angesichts dessen, was er da vor sich sah, schnürte ihm die nackte Angst die Kehle zu. Dies war kein Ausflug mehr, und es handelte sich auch nicht mehr um ein kleines Abenteuer. Dies war vielmehr eine systematische Jagd auf ihn. Warum? Seine Kleider waren in Fetzen gerissen. Sie hatten nichts ausgelassen. Selbst das Bad hatten sie auseinandergenommen. In der Ecke des Salons war der Schreibtisch zur Seite gerückt. Er rannte hin, voll böser Ahnungen. Wie er befürchtet hatte. Sein Paß war weg. Und das ganze Geld. Er hatte jetzt nur noch das, was er bei sich gehabt hatte. Draußen klatschte der Regen heftig gegen die Fensterscheiben. Über London brach eine trübe Nacht herein. Er drückte sich gegen die Wand, als habe er Angst, selbst hier oben noch von draußen beobachtet zu werden. Vielleicht durch ein Fernglas von irgendwoher. Vielleicht durch ein Zielfernrohr an einem Gewehr . . .? Das Telefon klingelte. Erschreckend laut. Erschreckend hartnäckig und bösartig, schien es. Diese zwei kurzen Klingelstöße, endlos wiederholt . . . zum Verrücktwerden. Er ließ sich zu Boden sinken und kroch zum Telefon. Erst im letzten Moment widerstand er dem schier übermächtigen Verlangen, abzuheben. Angenommen, es war etwas schief gelaufen und Brian rief an, um ihn zu warnen? Wie konnte er dessen sicher sein? Aber es war klar, er mußte sich an die Instruktionen halten, so oder so. Das Läuten des Telefons hörte auf. Er blieb auf dem Boden liegen und war jetzt ganz in Panik geraten. Seine Muskeln verkrampften sich. Er streckte sie vorsichtig und langsam, als verriete jede hastige Bewegung ihn denen, die hier Kleinholz aus seiner Suite gemacht hatten. Den beiden, die da unten in der Halle an der Drehtür warteten, möglicherweise. Oder ihren Freunden. Wer waren sie? Tiere . . .! Carniceros! Was hatte diesen Alvaradejo veranlaßt, ihm die anklagenden Worte entgegenzuschleudern, ohne auch nur ein Wort mit ihm gesprochen
zu haben? Für wen hatte der Kolumbianer ihn gehalten? Was hatte er seiner Meinung nach verbrochen? Rache für die Toten von San Sebastian! Wie hing das alles zusammen? Er blieb starr und stocksteif am Boden liegen. Minuten vergingen. Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Wo blieb Brian Charney so lange? Er lag im Dunkeln, das nur vom Widerschein der Lichter der Skyline der Stadt etwas erhellt wurde. Draußen die Londoner Regennacht. Alles war höchst unwirklich. Ein kaum hörbares Klopfen an der Tür machte ihn aufmerksam. Er kroch langsam zur Tür und zog sich vorsichtig hoch, um durch den Türspion zu sehen. Brian Charney. Er klopfte noch einmal leise. Er öffnete lautlos. Dann erst sah er das Blut. Er war über und über voll Blut. Man hatte auf ihn geschossen. Mehrmals, offensichtlich. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und zitterte am ganzen Leib. Auch aus seinem Mund tropfte Blut. Sein Gesicht war geisterbleich, die Augen irrten flackernd umher. Sein Freund war am Sterben. Er stützte den Kopf des Freundes in seinen Schoß. »Tut mir leid, Chris«, murmelte Charney mit letzter Kraft. »O Gott, wirklich, es tut mir leid.« »Sprich jetzt nicht«, sagte Locke. Es fiel ihm nichts anderes ein. »Ich weiß, wie schwer es mich erwischt hat«, flüsterte Charney dennoch mit rasselndem Atem. »Es gibt jetzt wichtigere Dinge. Lübeck wußte alles. Deshalb mußte er sterben.« Er faßte unvermittelt mit sich verkrampfender Hand nach Lockes Arm. Seine Augen blitzten noch einmal auf. »Man muß ihnen das Handwerk legen.« »Wem?« »Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem. Lübeck hat es gesehen. Er wußte alles. Sie werden die Welt regieren, wenn man ihnen nicht das Handwerk legt.« »Wer denn?« Charneys Augen verloren ihren Halt. Seine Finger wurden kraftlos und glitten von Lockes Arm ab, in den sie sich verkrallt hatten. Sie hingen schlaff in der Luft. »Ich habe dich als Köder benutzt. Aber jemand anderer ebenfalls. Alvaradejo mußte sterben, dann die anderen . . . Verbindungsleute auch.« Ein Blutsturz unterbrach ihn. »O Gott, meine Kinder! Was wird aus meinen Kindern?«
»Ich gehe zur Amerikanischen Botschaft und erzähle dort alles«, versprach Locke. »Alles.« Doch da wurden Charneys Augen noch einmal lebendig. Noch einmal verkrallten sich seine Finger in seinen Arm. »Nein. Nein. Auf keinen Fall. Tu das nicht. Vertraue keinem. Ich weiß . . . nicht . . ., wie tief das alles geht. Sie sind nicht davor zurückgeschreckt, eine ganze Stadt auszurotten. Wie kannst du da irgend etwas für sicher halten?« »Was für sicher?« Es war ganz offensichtlich, Charney war nicht mehr imstande, klar und zusammenhängend zu sprechen. Locke hatte keine Ahnung, was ihm die Kraft gab, noch immer zu reden und durchzuhalten. »Liechtenstein«, murmelte er, nach Atem ringend. »Felderberg war Lübecks nächste Station. Der Makler. Finde ihn. Finde ihn.« Charney seufzte etwas. »Meine Tasche . . .« Locke zog ein blutgetränktes Blatt Papier aus der Jacke seines sterbenden Freundes. Es war etwas darauf geschrieben. »Fahr nach Cornwall«, flüsterte Charney, »finde Burgess. Er wird dich . . . zu . . .« Mehr konnte Charney nicht mehr sagen. Er war tot. Sein letzter Atemzug kam wie ein verwehender Hauch, dann brachen seine Augen und wurden starr. Locke ließ Charneys Kopf auf den Teppichboden sinken und stand auf. Starr und bewegungslos stand er da, unfähig, etwas zu tun. Er wünschte, er könnte jetzt zusammenbrechen und seinen Freund — und sich selbst - eine Weile beweinen, dann einfach noch eine Zeitlang sitzen bleiben, dann alles aufgeben und hinter sich lassen. Aber er konnte nicht. Die Mörder Charneys, wurde ihm klar, waren nahe. Womöglich sogar hier in diesem Hotel. Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Vielleicht schon auf dem Weg in seine Suite. Er mußte rasch handeln, kein Zweifel. Doch sein Kopf spielte nicht mit. Er war unfähig, etwas zu tun. Es war einfach zu viel. Alle Erinnerungen an diesen entsetzlichen Unfall vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren tauchten wieder vor seinen Augen auf. Wie er hilflos zusehen mußte, als die Ärzte den bewußtlosen Lübeck auf die Bahre legten und ihm den Kampfanzug aufrissen, um sich die zerquetschten Überreste seiner Hand und seines Armes anzusehen. Nie seither
hatte er diesem Alptraum ganz entrinnen können. Und jetzt war er wieder da, so als wäre er lebendige Gegenwart. Sein Alptraum hatte sich verdoppelt. Er hatte zwei Freunde in seinem Leben gehabt. Den einen hatte er als Krüppel gesehen, der andere lag hier tot vor ihm, und der eine, der verkrüppelte, war ebenfalls tot. Und jetzt war er also allein, gottverdammt allein . . . Er mußte handeln, er mußte etwas tun. Der Selbsterhaltungs trieb meldete sich. Brian Charney meldete sich. Die Lehrgänge von einst meldeten sich. Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem.
Wer, wo? Wovon hatte Charney gesprochen? Seine Gedanken drehten sich allmählich wie in einem Wirbel, rundherum, mahlend, immer stärker. Er mußte handeln. Er mußte fliehen. Er mußte überleben. Er hatte keinen Paß mehr und kein Geld. Alles, was er hatte, war eine Adresse. Er besah sich das blutdurchtränkte Blatt Papier, das er aus Charneys Tasche gezogen hatte. Colin Burgess, Bruggar House, Cadgwith Cove, Cornwall. Krampfhaft versuchte er sich an die englische Geographie zu erinnern. Cadgwith Cove, Cadgwith Cove, Cadgwith Cove. Ein schmaler Landstrich am südöstlichsten Ende Englands, genannt Lizard. Leicht erreichbar mit der Eisenbahn. Ich brauche also als erstes ein Taxi zum Bahnhof. Augenblick. Die Kleider sind blutig. Ich muß mich erst umziehen. Er zog sich aus und suchte sich am Boden aus dem Durcheinander zusammen, was noch brauchbar war, entnahm aus den alten Sachen alles Geld, das er bei sich gehabt hatte und das nun seine gesamte Barschaft darstellte. Er steckte sich auch Charneys Papiere ein, warf einen letzten Blick auf den toten Freund und ging zur Tür. Was konnte er noch für ihn tun? Eigentlich mußte es noch etwas geben. Er konnte ihn doch nicht einfach hier so liegen lassen. Irgendwie war das nicht recht. Doch was hatte er für eine Wahl? Er trat hinaus auf den Korridor und bewegte sich vorsichtig und langsam bis zum nächsten Korridor. Wohin, seitlich oder geradeaus?
Er brauchte nicht lange zu zögern. Die beiden Männer, die vorhin unten an der Drehtür am Eingang gewartet hatten, kamen vorne um die Ecke. Er rannte den Seitenkorridor entlang bis zur nächsten Ecke. Hatten sie ihn noch gesehen? Er wußte es nicht. Auf jeden Fall machte ihr Auftauchen klar, daß noch andere da waren. Einen Ausweg. Er brauchte einen Ausweg. Klaren Kopf bewahren, keine Panik. Er mußte verschwinden. Aber wie? Er hatte den Ausweg direkt vor sich. Natürlich. Hier in Augenhöhe war er. Er schlug zu und drückte. Augenblicklich jaulte der Feueralarm los. Zu dieser verhältnismäßig frühen Abendstunde waren die meisten Gäste auf ihren Zimmern, um sich für das Dinner umzuziehen. In Sekundenschnelle waren die Korridore voller verwirrter Menschen, die ziellos und aufgeregt herumliefen und gegenseitig voneinander Erklärungen forderten oder den Rauch des Feuers zu erschnüppern versuchten. Die Aufzüge hatten sich automatisch geschlossen und waren stehengeblieben. Acht Treppen abwärts mußten zurückgelegt werden, während sich die aufgeregten Hotelgäste zu den nächsten Ausgängen drängelten. Locke ließ sich von dieser Menge aufsaugen und mitnehmen, die desto langsamer vorankam, je weiter nach unten sie gelangten, weil dort in jedem Stockwerk neue Menschen voller Aufregung und Panik dazudrängten. Erst im fünften Stock merkte Locke, daß niemand mehr von hinten nachdrängte. Erleichtert kam er endlich inmitten anderer Leute unten in der Halle an, wo die Leute ratlos und aufgeregt herumliefen, während diejenigen, für die kein Platz mehr war, nach draußen auf die Straße gedrängt wurden. Zu ihnen ließ auch er sich treiben, immer darauf bedacht, in der Menge zu bleiben, während er ein Taxi suchte. Vertraue absolut niemandem.
Es drängte ihn eigentlich schon, direkt zur Amerikanischen Botschaft zu fahren und dort die ganze Geschichte zu erzählen. Aber Charneys entschiedenes Abraten hielt ihn zurück. Wer wußte wirklich, wie weit dies alles ging? In Washington hatte ihm Charney erklärt, eine ganze Armee stehe hinter ihm, und die Hilfe sei nur einen Telefonanruf entfernt. Wo also war diese Armee gewesen, als er sie gebraucht hatte? Warum hatten sie
sich nicht bemerkbar gemacht, gemeldet, ein Zeichen gegeben? Es war wohl so: sein Freund war Mächten begegnet, auf die er nicht gefaßt und gegen die er nicht ausreichend gerüstet gewesen war. Wenn es sich so verhielt, welche Chance hatte er, Locke, dann noch gegen sie? Dogan hatte den Anruf seines Commanders eigentlich schon den ganzen Tag erwartet. Als er dann tatsächlich kam, war er eher erleichtert als überrascht. Solche Dinge brachte man immer am besten so rasch wie möglich hinter sich. Operationen der Abteilung Sechs gingen nur selten schief, aber wenn, dann war der Teufel los. Und Dogan hatte sich einen dicken Hund geleistet. Der Commander verlangte ein Treffen abends um neun in seinem Lieblings-Straßencafe auf den Champs-Elysees. Dogan war es recht. Er hatte sich bereits gewappnet, den Anschiß mit stoischer Fassung hinter sich bringen; wenn es sein mußte, auch mit zusammengebissenen Zähnen. Aber dann mußte wieder Ruhe eintreten. Der Commander erwartete ihn bereits an einem etwas abseits stehenden kleinen Zweiertisch in der hinteren Ecke. Mit seinem dünner werdenden Haar, der randlosen Brille und einem dicken Schnauzbart, der nicht einmal bis zu den Mundwinkeln reichte und hart abgeschnitten war, sah er eher wie ein Franzose aus. Wie üblich, las er Zeitung. Sein Ton würde ganz neutral sein und auch seine Augen würden völlig teilnahmslos bleiben. Der Mann konnte einen runterputzen, ohne einen auch nur einmal scharf anzusehen. Einfach nur durch diese Haltung, so als sei man seiner Aufmerksamkeit gar nicht würdig. Dogan konnte sich nicht erklären, wie dieser Mann Chef der Abteilung Sechs, Sektion Europa, geworden war. Aber was das anging, so konnte er sich in letzter Zeit so manches nicht erklären. »Guten Abend, Grendel«, sagte der Commander, ohne auch nur von seiner Zeitung aufzusehen. »Setzen Sie sich doch.« Dogan setzte sich. »Sehr unangenehm, das alles.« »Hab'schon Schlimmeres erlebt.« »Aber nur selten, hoffe ich doch. Ich habe inzwischen den medizinischen Bericht über Keyes. Sieht so aus, daß er den Rest seiner Karriere am Schreibtisch verbringen wird. Das Handgelenk.« »Dort ist er auch am besten aufgehoben.«
»Dafür haben wir allerdings nicht so viel Geld für seine Ausbildung aufgewendet.« »War eben eine Fehlinvestition.« »Ein Bericht hätte vollauf genügt. Ihn gleich derart fertigzumachen, dazu gab es keinen Anlaß.« Dogan spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. »Er hat einen direkten und ausdrücklichen Befehl mißachtet.« »Ja, Grendel«, antwortete der Commander nachsichtig, »Ich habe die Berichte alle gelesen, auch die der anderen. Sie haben ihm ausdrücklich und direkt befohlen, Waslow laufen zu lassen, nicht?« »Richtig.« »Den von uns meistgesuchten KGB-Mann. Und Sie befehlen, ihn laufen zu lassen. Keyes macht geltend, er habe ihn schußbereit im Visier gehabt.« »Es war absolut keine Schußsituation. Die ganze Gegend war voller Passanten. Hätte ich den Knaben losballern lassen, wären unschuldige Leute reihenweise zu Boden gesunken.« »Aber doch wohl zusammen mit Waslow?« »Schon möglich. Jedenfalls war das Risiko zu groß. Unakzeptabel.« Dogan bemühte sich zu seiner eigenen Verwunderung nachdrücklich, sich zu rechtfertigen. Obwohl die Wahrheit sehr viel einfacher war. Waslow hatte ihn diesmal geschlagen, also nach den Spielregeln das Recht auf freien Abzug gehabt. Aber er sagte: »Commander, solche Ballereien auf Western-Art sind aus der Mode, wie Sie selbst wissen. Weil Sie es waren, der es mir bei mehr als einer Gelegenheit gesagt hat.« Der Commander sah nun doch kurz hoch. »Darum geht es hier nicht. Und bitte erläutern Sie mir nicht meine eigenen Ansichten. Der springende Punkt ist, daß Sie Keyes nicht einfach nur davon abgehalten haben, übereifrig in eine Menschenmenge zu ballern. Sondern Sie haben ihm gleich das Handgelenk kaputtgeschlagen, und das derart, daß er für den Rest seines Lebens Schwierigkeiten haben wird, auch nur einen Telefonhörer zu halten. Begeistert ist er nicht darüber. Und die Abteilung ebenfalls nicht.« «Sie erwarten hoffentlich nicht von mir, daß ich Tränen der Reue vergieße.«
»Was würde das nützen. Sie haben heute morgen eine Grundregel unserer Branche verletzt: Sie haben ihren Zorn an einem anderen ausgelassen.« »Nicht Zorn, Commander. Das richtige Wort ist Frustration. Sie haben mir einen halben Kindergarten zugeteilt, der nicht mal imstande war, bei einer einfachen Routine-Übernahme-Aktion normale Arbeit zu leisten und klare Anweisungen auszuführen.« »Augenblick, Grendel. Es war Ihre Operation. Also ist es auch Ihre Verantwortung, daß sie schiefgelaufen ist.« »Vor der Verantwortung drücke ich mich gar nicht. Nur, die Aktion hätte klappen müssen. Sie war sauber und ordentlich vorbereitet.« »Das Resultat zeigt etwas anderes.« »Das liegt daran, daß Waslow und seine Russen uns für diesmal geschlagen haben. Ihr Spiel war einfach besser. Sie sind uns überlegen, weil es bei ihnen nicht daraum geht, daß jeder einzelne sein Ego befriedigt und besonders glänzt. Bei denen heißt es: das ist der Job, und der wird gemacht. Aus.« »Und Ihnen haben Sie einen falschen Oberläufer geschickt. Aber außerdem auch noch ein halbes Dutzend andere Ablenkungsmanöver veranstaltet, die uns mattgesetzt haben. Ein abgewürgtes Auto, ein paar Kinderwagen, ein blinder Mann —alles seine Inszenierung.« Der Commander blätterte die Zeitung um. »Erzählen Sie mir mal die Einzelheiten.« »Der Überläufer hat uns über seine Kontaktleute Zeit und Ort mitgeteilt. Er war ungeduldig. Er hielt sich schon zwei Wochen lang in Paris versteckt und wollte raus.« »Da muß man wohl annehmen, daß Waslow selbst ebenfalls von dem Plan wußte.« »Wahrscheinlich nur in vagen Umrissen. Aber das war ihm genug. Der Kontaktmann des Überläufers hat wohl ein bißchen zuviel erzählt. Also hat Waslow sich für einen Doppelgänger des Überläufers entschieden und es so durchgezogen. Wir wurden nach Kräften abgelenkt und als wir auf den Köder anbissen, konnten seine Leute den echten Mann in aller Ruhe kassieren. Schlicht und einfach: wir haben verloren. Wie ich schon sagte.«
Des Commanders Zeitung raschelte, als eine frische Abendbrise aufkam. Zum ersten Mal sah er Dogan voll an. »Ganz so schlicht möchte ich das nicht sehen, Grendel. Vielleicht sind Sie auch einfach nur leicht berechenbar geworden?« »Angesichts der Mittel und Möglichkeiten, mit denen ich zurechtkommen muß, tue ich das Bestmögliche. Die Leute, gegen die wir heute verloren haben, sind ebenbürtige Profis.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wie wir es einmal waren.« »Aha«, sagte der Commander. »Hab' schon verstanden.« Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Dogan faßte ihn hart am Oberarm. Der Commander spannte zwar reflexartig die Muskeln an, machte sich aber nicht die Mühe, sich loszureißen. Nur sein Blick drückte aus, daß er sich belästigt fühlte. »Das glaube ich nun wieder nicht, Sir«, sagte Dogan angriffslustig. »Ich würde Ihnen das gerne erklären. Leute wie dieser Keyes beispielsweise haben nicht die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie haben nicht den Instinkt, den nächsten Zug ihres Gegners vorauszusehen. Alles muß genau abgezirkelt, nach Plan verlaufen, durchdiskutiert sein. Doch draußen im Einsatz, in der Wirklichkeit, spielt sich das alles ganz anders ab. Anders ausgedrückt, wir gewöhnen uns besser daran, mehr oder weniger ständig gegen die Russen zu verlieren.« »Eine interessante Erklärung für Ihr Versagen von heute morgen.« »Das können Sie nennen, wie Sie wollen.« »Wenn Sie jetzt gütigst meinen Arm loslassen würden.« Dogan ließ los, der Commander strich sich demonstrativ den Ärmel glatt. »Wenn Sie schon mal beim Erläutern sind, Grendel, dann erläutern Sie doch als nächstes bitte den tatsächlichen Grund, warum Sie es vorzogen, statt Waslow einen Kollegen außer Gefecht zu setzen.« »Er hatte uns ausgespielt, wir hatten verloren. Es gab keinen Grund, noch alle möglichen sinnlosen Rückzugsgefechte zu liefern. Davon abgesehen, weiß zumindest ich genau, was ich von Waslow zu halten habe. Das ist bei unseren eigenen Leuten keineswegs mehr selbstverständlich.« Der Commander ließ seine Zeitung sinken. Wirklich sinken. »Das ist ein Vorwurf, der sich gewaschen hat.« »Das haben Sie gesagt. Aber bedenken Sie auch dies: Hätte ich heute zugelassen, daß Keyes Waslow erledigt, was wäre die
Folge gewesen? Die Russen hätten Waslow durch einen neuen Mann ersetzt. Und mit dem hätte ich es fortan zu tun. Mit einem Mann, den ich nicht kenne, an dessen Methoden ich mich erst gewöhnen muß. Den ganzen Bürokratiekram, mit dem wir ja auch zu tun haben, eingerechnet, hätte uns das insgesamt viel weiter zurückgeworfen als den KGB. Ich kenne Waslow. Und ich kann gut und gerne darauf verzichten, mich auf ganz neue Leute und Methoden des KGB einstellen zu müssen, wenn es keinen zwingenden Anlaß dafür gibt.« »Nur hat Ihnen auch die Tatsache, daß Sie Waslow so gut kennen, heute morgen nicht viel geholfen.« Der Commander saß bewgungslos auf der anderen Seite des Tisches und bemühte sich längst nicht mehr, die Zeitung gegen den aufgekommenen Wind ruhig zu halten. »Tatsache ist doch, werter Grendel, daß das Fiasko von heute morgen weit über eine gewisse Peinlichkeit hinaus eskaliert ist. Es hat mittlerweile das Stadium eines sogenannten Vorfalls erreicht. Herzliche Gratulation, Grendel.« Dogan schwieg. »Ich hätte gute Lust«, redete sich nun der Commander seinerseits warm, aber seine Augen waren eiskalt und starrten ihn an, »Sie vor einen Disziplinarausschuß zu bringen. Nur haben wir leider keinen solchen. Bei uns gibt es kein Gericht, daß sich derartiger Fälle annimmt. Sie haben hier soeben die Firma und die Abteilung beschuldigt, ihren Professionalismus zu verlieren. Könnte nicht eben dies Ihr ganz persönliches Problem sein? Die Zeiten haben sich geändert. Die Tage der einsamen Jäger sind vorüber. Tatsache ist, Sie sind kein Mannschaftsspieler, Grendel. Ganz klar ausgedrückt, Sie passen nicht mehr in die Landschaft.« Der Commander zögerte ein wenig. »Suchen Sie sich ein schönes Land aus. Was Warmes, Tropisches vielleicht.« »Haben Sie die goldene Uhr dabei, Commander?« »Sie kennen die Prozedur, Grendel. Sie ist überaus großzügig, wie ich hinzufügen darf.« Dogan spürte wieder heftigen Zorn in sich aufsteigen.
Des Commanders rechte Hand verschwand unter dem Tisch. Doch nicht etwa zu einer Waffe? dachte Dogan. Na und wenn schon. Jeder mußte wissen, wie weit er gehen konnte. Und was das anging, wußte der Commander ja wohl genau, daß er ihm mit einem Handkantenschlag an die Kehle fahren konnte, bevor dieser noch die Zeit hatte, den Abzug durchzudrücken. Der Gedanke tröstete ihn seltsamerweise etwas und das drückte sich in seinem Blick aus. Die Hand des Commanders kam wieder nach oben und durchblätterte weiter die Zeitungsseiten. »M-m«, sagte Dogan kopfschüttelnd. »Ich habe noch keine Lust auf die warmen Tropen.« »Das war kein Auswahlangebot.« »Während Sie sich selbst eine offen ließen, nicht wahr, Commander? Wie viele Leute beobachten uns hier? Wie viele Waffen sind auf mich gerichtet? Natürlich warten alle auf Ihr Signal. Sie werden das Zeichen geben, falls ich widerspenstig bleibe und nicht still und ohne Aufsehen gehe.« Er lehnte sich zurück. »Na, dann geben Sie mal Ihr Signal, Commander. Sie wissen ebenfalls ganz genau, daß Sie keine Chance haben, das zu tun, ohne daß Sie zuerst dran glauben müssen, ehe die anderen mich erwischen. Denken Sie darüber nach, sonst fahren wir gemeinsam in die Ewigkeit. Wenn auch in entgegengesetzten Richtungen, wie ich vermute.« Der Commander schluckte. »Natürlich können Sie mich für diesmal auch laufen lassen, damit die Burschen den Job dann später erledigen. Wer weiß, vielleicht sogar erfolgreich. Wenn ich auch in dieser Hinsicht kaum etwas befürchte, denn sie sind alle Typen wie der kleine Keyes. Und für jeden, den Sie dazu zwingen, den Versuch zu machen, mich umzulegen, reiße ich Ihnen zuvor ein Bein oder einen Arm aus. Sie kriegen kein Dutzend von denen zusammen, die mit mir fertig würden, bevor ich nicht bereits mit Ihnen fertig wäre. Und das wissen Sie auch.« Der Commander nahm seine randlose Brille ab und putzte sie umständlich. Dann sagte er: »Ich ziehe mein Angebot zurück. Sie sind draußen, Grendel, schlicht und einfach rausgeschmissen.« »So ganz ohne Abschiedsparty und alles? Gott, wie weit ist es mit der Welt gekommen!«
Der Commander schüttelte den Kopf. »Sie hätten es auf die sanfte Tour haben können, Grendel. Sie hätten einfach nur den Schreibtischstuhl anzunehmen brauchen, den wir Ihnen angeboten haben. Man muß wissen, wann seine Zeit um ist.« Dogan stand auf. »Keine Bange, ich werde das schon wissen, wenn es wirklich so weit ist.« Er drehte sich um und ging. Was ließ er hinter sich zurück? Einen großen Müllhaufen, der Leben hieß. Er hatte immer gewußt, daß dieser Tag kommen würde, unausweichlich. Aber er fragte sich jetzt doch, ob er nicht etwas hätte sagen können, was den Commander umgestimmt hätte. Schließlich bedeutete die »Branche« ihm alles. Ohne sie war sein ganzes Leben ohne Sinn und Zweck. Gut, er konnte sich immer noch frei verdingen, und das war auch durchaus lukrativ. Aber bei solcher Söldner- und Legionärsarbeit mußte man seine eigene Identität verleugnen. Dazu war er zu lange im Geschäft gewesen. Es war klar, der Commander würde ihn beschatten lassen und unverzüglich Schritte unternehmen, ihn eliminieren zu lassen. Er sah sie nicht, aber selbstverständlich waren sie da. Vermutlich war mehr als einer dabei, den er selbst ausgebildet hatte. Doch ein guter Lehrer gibt nie sein allerletztes Wissen preis. Sie abzuschütteln, bereitete ihm keine Mühe. Er spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, dem Commander, einfach so als Gag, einen von den Burschen verschnürt und verpackt ins Bett zu legen. . Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, bis er schließlich den Place de la Concorde erreichte und an der Stelle stehenblieb, an der Ludwig XVI öffentlich guillotiniert worden war. Der große Brunnen warf majestätische Fontänen in die Luft. Im Wasser spiegelten sich die Lichter des nächtlichen Paris, ein Kaleidoskop der Lebensfreude von beängstigender Schönheit. Doch heute nacht bemerkte Dogan die Schönheit nicht. Sein Lebensinhalt war die Abteilung gewesen, und nun hatte man ihm die Abteilung genommen. Es gab niemanden, der ranghöher war, als der Commander, und dem er seinen Fall vortragen konnte — wenn es überhaupt so etwas wie einen Fall gab. Der Alte war der einzige, dem er verantwortlich war. Für die übrigen Männer der Firma war er lediglich ein Name in einer Geheimakte. Dogan warf einen Blick empor zu den nackten
Marmorfiguren, die sich im Wasser räkelten und erwischte sich bei dem Gedanken, wie Ludwig sich wohl gefühlt haben mochte, als der kalte Stahl seinen Kopf in den Weidenkorb springen ließ. Das Gefühl schien ihm vertraut. Er setzte sich auf eine Bank und richtete den Blick auf die perfekte Symmetrie des Musters, das vom Pflaster des Place de la Concorde gebildet wurde. Ein Anachronismus, genau wie er auch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen, Genösse?« Dogan blickte auf und sah, daß Waslow vor ihm stand. Irgendwie hatte er so etwas geahnt. »Bitte sehr.« Waslow nahm neben ihm Platz. Er trug einen schicken Anzug, französisches Fabrikat, der seine feingeschnittenen Züge noch unterstrich. Seine elegante Frisur hatte westlichen Chic, und seine Augen glänzten hell und lebendig. »Wie haben Sie mich gefunden?« fragte Dogan. »Weil ich Ihnen natürlich gefolgt bin. Wunderbare Arbeit, übrigens, wie Sie sie abgeschüttelt haben.« »Sie jedenfalls nicht.« Der Russe machte eine Kopibewegung, die bedeuten mochte, daß das ja wohl etwas anderes sei. »Dann haben Sie wohl auch mein Treffen mit dem Comman-der verfolgt?« Waslow nickte. »War auch nicht schwer, zu erkennen, wie es verlief. Wundert mich nicht. Sie hätten den jungen Mann heute morgen schießen lassen sollen.« »Nein, nicht mein Stil.« »Tut es Ihnen gar nicht leid?« »Höchstens, daß ich dem Knilch nicht auch noch die Stimmbänder ruiniert habe.« Waslow lehnte sich zurück und lachte belustigt. »Schauen Sie sich das an. Da hocken wir nun, wir zwei. Zwei kalte Krieger in herrlicher französischer Umgebung. Ich hätte dran denken und Wein mitbringen sollen.« »Da hätten wir auf Ihren heutigen Erfolg anstoßen können. Gekonnte Arbeit, muß ich schon sagen.« »Na, Sie haben mich auch mal ausgetrickst. Auf ähnliche Art. In Prag. Wann war das noch, 77? 78?« »79. Im Winter.« »Also, Sie wissen es noch?«
»Ich weiß noch, wie saukalt es war.« Er dachte eine Weile nach. »Sie haben mich damals davonkommen lassen. So wie ich Sie heute.« »Aus gutem Grund, lieber Freund. Wenn wir erst einmal unseren Stil verloren haben, was sind wir dann noch? Nichts weiter als simple Mörder, keine hehren Ritter im Kampf zu Ehren unserer Länder mehr.« »Romantisch.« »Haben Sie Nachsicht, Freund. Mir gefällt unsere Rivalität. Weil sie eine ständige Herausforderung ist. Ständig höchste Perfektion verlangt. Ich hätte mir diesen Überläufer auch gestern schon ganz still und ohne Aufsehen schnappen und nach Moskau zurückschaffen können. Die ganze Show heute war an sich völlig überflüssig. Aber das hätte mich um das Vergnügen eines neuen Waffengangs in unserem Dauer-Turnier gebracht.« »Dafür sind Sie aber ein ziemliches Risiko eingegangen.« »Das war es wert. Was haben wir denn am Ende schon außer uns selbst und unser Spiel? Heute war ich mit dem Gewinnen dran. Ein anderes Mal mag's wieder anders sein.« »Mit Sicherheit. Von morgen an spielen Sie nämlich allein.« Waslow seufzte. »Also, man hat Sie rausgeschmissen, lieber Freund?« »Ja, aber ich war nicht ganz schuldlos daran.« »Heute morgen?« »Und vor allem vorhin.« »Die sind Idioten, Freund. Genau wie meine Vorgesetzten im Kreml. Nur daß ich manchmal glaube, die im Kreml wissen wenigstens, daß sie Idioten sind, und lassen mich deshalb auch in Ruhe und meine Arbeit so machen, wie ich sie für richtig halte.« »Da haben Sie Glück, Freund.« Seltsam, es fiel ihm überhaupt nicht schwer, Waslow ebenfalls »Freund« zu nennen. Das hier war die längste Unterhaltung, die sie jemals miteinander geführt hatten. In all den Jahren hatten sie Gemeinsamkeiten entwickelt, die größer waren als man in Worten ausdrücken konnte. »Ich wußte natürlich, daß Sie Schwierigkeiten bekommen würden«, sagte Waslow etwas ernster. »Und mir war klar, daß Sie künftig viel Zeit haben werden. Da trifft es sich gut, daß ich ein Projekt an der Hand habe, dem Sie vielleicht einen Teil dieser Zeit widmen können.« »Sie meinen, für Sie arbeiten?« »Nicht eigentlich. Mal angenommen, wir hätten einen gemeinsamen Feind. Einen, der sämtliche Ideale, für die wir beide so hingebungsvoll kämpfen - zusammen mit unseren jeweiligen Völkern natürlich -, zerstören könnte.« In Dogans dichtem braunem Haar spielte der Nachtwind. »Meinen Sie da etwas ganz
Bestimmtes?« »Im Augenblick wird erst darüber geredet. Es gibt einzelne Puzzleteilchen, aus denen noch niemand so recht schlau wird. Aber irgend etwas ist im Gange, soviel weiß ich. Unsere beiden Länder sind stark und mächtig, aber gerade deshalb auch verwundbar. Durch Dritte, die genau wissen, wo die schwachen Stellen sind.« »Ein anderes Land?« »Glaube ich nicht«, sagte Waslow. Er zögerte und schlug die Beine übereinander. »Haben Sie schon mal was vom Komitee gehört?« »Nur Gerüchte. Keiner weiß, ob es überhaupt existiert.« »Genau das ist seine Stärke. Keiner glaubt daran, also macht sich auch keiner die Mühe, den Mitgliedern das Handwerk zu legen.« »Bei uns heißt es, daß die Geschichte Falschinformation ist, ausgestreut von euch.« »Eben. Bei uns genau dasselbe, umgekehrt. Beide jagen wir unserem eigenen Schwanz hinterher, und inzwischen kochen die völlig ungestört ihr Süppchen und das direkt vor unseren Augen. Habe ich recht?« »Vermutlich.« »Dann sagen Sie mir mal, was Sie über dieses sogenannte Komitee wissen.« »Alles, was ich bisher herausgekriegt habe, ist, daß es sich um eine internationale Organisation handelt, die sich die Weltherrschaft durch wirtschaftliche Manipulationen sichern will.« Waslow nickte. »Auf ihrem eigenen Sektor jedenfalls. Es läuft wie immer alles auf die Verwundbarkeit hinaus. Wenn sie über unsere Schwächen ausreichend Bescheid wissen, können sie das auf eine Weise gegen uns verwenden, die wirksamer wäre als jede Bombe.« »Ja, das ist denkbar. Es gibt Leute, die behaupten, daß dieses Komitee Terroristen und andere Spezialisten für subversive Aktivitäten auf seiner Gehaltsliste hat. Man beabsichtigt, Regierungen ins Wanken zu bringen und die wirtschaftliche Struktur des jeweiligen Landes zu schwächen und zu unterminieren - um dann auf den Plan zu treten und die Märkte zu besetzen, vielleicht sogar das gesamte Land zu kontrollieren.« »Die übrigen werden nacheinander ebenfalls fallen. Nach der Dominotheorie. Stößt man nur einen an, fallen alle nacheinander.« »Weiß ich nicht. Falls nämlich dieses Komitee tatsächlich existieren sollte, hätten die Leute, aus denen es sich zusammensetzt, längst erkannt, daß die Geschichte gar nicht funktionieren kann. Der ganze Prozeß ist viel.zu umständlich und langwierig. Man kann die Weltherrschaft nicht scheibchenweise erringen. Weil kleine
Scheibchen gar nichts bringen.« »Und wie, lieber Freund, ist es mit den großen Scheiben? Angenommen, das Komitee hat Mittel und Wege gefunden, die Länder lahmzulegen, auf die es ihm am meisten ankommt?« »Unsere beiden Länder? USA, Sowjetunion?« »Genau, Freund. Das Komitee ist wohl geduldig, aber Sie haben recht, nach der Dominomethode dauert es viel zu lange, bis alle Steine gefallen sind. Und die Welt verändert sich heutzutage sehr rasch. Es kann auch sein, daß Hindernisse vor die Dominosteine fallen und sie blockieren. Also mußte das Komitee einen Weg finden, unsere Länder direkt zu treffen.« »Sie sprechen plötzlich in der Vergangenheitsform.« »Richtig. Weil ich davon überzeugt bin, daß es diesen Weg tatsächlich schon gefunden hat und praktiziert.« »Wi e? « »Es wird dies und das geredet. Es sind Leute sang- und klanglos verschwunden, und vor allem spurlos. Erhebliche Geldmittel wurden gesammelt. Unvorstellbare Summen wandern von Hand zu Hand. Und das alles deutet meiner Überzeugung nach auf einen gleichzeitigen Schlag gegen unsere beiden Länder hin.« Einige Böen wehten Wasser von den Brunnenfontänen zu ihnen herüber. Dogan machte sich nicht einmal die Mühe, sich die Tropfen vom Gesicht zu wischen. »Atomgeschichten?« fragte er. »Um einen Krieg zwischen uns zu provozieren, meinen Sie? Nein, Grendel. Eine Welt, in der Kriege toben, wäre nicht das, was die Business-orientierten Leute, aus denen das Komitee besteht, sich wünschten. Deren Ideale beschränken sich auf das Wirtschaftsleben. Ihnen kommt es auf die Weltherrschaft durch vollständige Kontrolle über die Rohstoffe und Produktionsmittel an. Daher weht der Wind.« »Ja, aber das alles sagt uns noch nicht sehr viel.« Waslow dachte kurz nach, dann wägte er seine Worte sorgfältig ab. »Worin ihr erster Schlag auch bestehen mag, sicher ist, er wird sich gegen etwas richten, das für unsere beiden Länder von Bedeutung ist, gegen eine Stelle, an der wir beide gleichermaßen verwundbar sind. Denn wir, die beiden Supermächte, stehen ihnen im Wege. Wollen sie die Weltherrschaft erreichen, muß unsere Macht neutralisiert werden. Militärisch sind wir nicht verwundbar. Wir nicht, und ihr auch nicht. Der Schlag muß also wirtschaftlicher Art sein. Da, wo unsere kurzsichtigen, auf militärische Stärke fixierten Politiker die Türen
für alle möglichen Gegenstrategien offen gelassen haben.« Dogan merkte, daß sein Mund trocken war. »Eine ganz schöne Schreckensvision, die Sie da entstehen lassen, mein Lieber. Aber es alles ist viel zu vage und zu wenig handfest.« »Weil das Komitee genau dies anstrebt, mein Freund. Aber diesmal wäre es möglich, daß sie sich eine entscheidende Blöße gegeben haben, die uns auf ihre Spur führen könnte. Unsere Waffe wird die Entdeckung des Komplotts sein. Einmal bekannt geworden, kann die Sache nicht mehr funktionieren.« »Und wo ist die entscheidende Blöße?« »In Kolumbien. In einer Stadt namens San Sebastian.« . ..
Dritter Teil Cadgwith Cove Freitag morgen Die Fahrt nach Cadgwith Cove, Bruggar House, zu Colin Burgess dauerte für Locke die halbe Nacht. Bei seiner Ankunft war es deshalb rechtschaffen müde. Er hatte vor dem Dorchester ein Taxi gefunden und sich von ihm zur Paddington Station fahren lassen, wo er einen Zug nach Südengland nahm. Es war ein normaler Personenzug, der fast überall hielt — in Reading, Somerset, Taunton, Exeter und Newton Abbot, das ging einem ganz schön auf die Nerven, zumal es sich als unmöglich erwies, die Fahrt einfach zu verschlafen, besonders zwischen Exeter und Newton Abbot. Da rumpelte der Zug in Dartmoor über uralte, höchst unebene Geleise. Außerdem mußte er noch in Plymouth umsteigen, bevor er endlich in Truro ankam. Vor dem Bahnhof stand ein einziges Taxi. Mit ihm fuhr er die letzte Strecke durch Helston und Lizard und kam nach einer Stunde endlich in das entlegene Dorf Cadgwith Cove. Es war zwei Uhr morgens, als das Taxi in die Kieseinfahrt des ansehnlichen alten Herrenhauses einbog, das als Bruggar House bekannt war. Von unten war die heftige Brandung der See gegen die Felsen zu hören und Locke spürte die salzige Seeluft. Er stieg aus, bezahlte den Taxifahrer, der sofort wendete und wieder davonfuhr. Nun stand er vor dem Haus, in dem sofort ein entsetzliches Hundegebell losging. Er ging auf die Tür zu mit dem Gefühl, sich plötzlich in grauer Vorzeit wiederzufinden. Dieses Bruggar House war mindestens einige Jahrhunderte alt, massiv, aus Granit, majestätisch erhob es sich über den Klippen, in der Mitte mit einem Turm, der sich in den Nachthimmel emporreckte. Er konnte nur hoffen, daß er nicht vergeblich gekommen war. Was, wenn Burgess, der ihm völlig fremd war, ihn abwies? Oder, schlimmer noch, wenn er gar nicht da war? Locke war an der Tür und griff nach dem schweren Messingtürklopfer. Er klopfte dreimal damit. Die Antwort war ein wütendes Knurren und Bellen der Hunde, die zur Tür gerannt kamen. Gerade wollte er ein viertes Mal klopfen, als drinnen ein Riegel zurückgeschoben wurde und die Tür sich knarrend öffnete.
»Ja?« fragte eine heisere, müde Stimme. Ein Mann in gebückter Haltung war durch den Türspalt zu sehen. Es stellte sich heraus, daß der Rest einfach war. Die Nennung des Namens Brian Charneys genügte, und die Tür öffnete sich weit. Noch im Foyer, belauert von den hechelnden Hunden trug er seine Geschichte vor. Er konnte sich kurz fassen. Wenige Worte genügten, Mr. Burgess von seiner echten Verzweiflung über die Ereignisse und seine Lage zu überzeugen. Dieser lehnte sogar ausdrücklich ab, vor dem nächsten Morgen Einzelheiten zu hören, zumal auch Locke inzwischen so erschöpft war, daß er kaum noch eine zusammenhängende Schilderung zustandebrachte. Gegen ein paar Stunden Schlaf hatte auch er nichts einzuwenden. Er war in der Tat eingeschlafen, sobald sein Kopf auf dem Kissen des Bettes lag, zu dem ihn sein Gastgeber geführt hatte. Er erwachte erst, als ihn das Gebell der Hunde weckte, als am Morgen der Postbote kam. Er stand auf, schlüpfte in seine Kleider und ging nach unten. Der Geruch von starkem Kaffee erfüllte das ganze Haus. »Ich hörte Sie aufstehen«, sagte Burgess. »Haben Sie gut geschlafen?« »Wie ein Murmeltier, ja. Verblüffenderweise.« »So verblüffend ist das nicht. Der Körper nimmt sich sein Recht, wenn er es nicht bekommt. Das weiß man als alter Soldat wie ich.« »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Der alte Engländer sah ihn an. »Das ist schon in Ordnung. Ich schuldete Brian Charney noch größeren Dank.« Locke schätzte Burgess auf etwa Mitte sechzig. Er hatte dichtes weißes Haar. Lebenserfahrung und Zeit hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Auch einige Narben, übrigens. Die sichtbarste zog sich von der Stirn mitten durch die linke Augenbraue. Seine Finger strichen ständig darüber. Große Finger mit den Spuren der Landarbeit daran. Trotzdem aber von einer gewissen Sanftheit, die auch durch die eisblauen Augen schimmerte. Augen eines Mannes, dessen Jugendjahre zwar lange zurücklagen, in denen aber die Ideale der Jugend noch keineswegs erloschen waren. Das Alter hatte ihn bereits etwas gebeugt, wenn auch erst wenig. Früher mußte er ein Hüne von einem Mann gewesen sein, vermutete Locke, einer, der eine Menge Stürme
durchgestanden hatte. Auch heute noch füllte er den Stuhl ganz aus, auf dem er saß. Er erhob sich etwas, um seinem Gast Kaffee einzuschenken, und ließ sich dann wieder zurücksinken. Er hatte harte Augen, aber sie waren jetzt zugleich auch traurig. »Junger Freund, ich schwöre Ihnen, die Burschen, die Brian auf dem Gewissen haben, kriegen es mit mir zu tun.« »Wir waren alte Freunde.« »Um so besser, dann jagen wir die Scheißkerle gemeinsam, abgemacht?« »Für den Augenblick allerdings will ich nichts als möglichst schnell nach Hause.« »Sie sagten was von Liechtenstein heute nacht.« Locke trank etwas Kaffee. Es war erstaunlich, wie ihn dieser fast sofort belebte. »Ja, da will ich zuvor noch hin. Brian meinte, Sie könnten mir dabei helfen.« »Worauf Sie sich verlassen können. Sofern es das Ländchen noch gibt. Ich schaffe Sie persönlich bis zur Grenze. Und der Teufel soll jeden holen, der mich daran hindern will. Wüßte allerdings gern, was Sie da zu tun haben. Wofür Brian eigentlich starb.« »Ich auch. Aber Genaues weiß ich selbst nicht.« »Ich wette, Sie wissen mehr, als Sie selbst glauben, junger Freund. Kommt immer nur darauf an, die einzelnen Teile eines Puzzles richtig zusammenzusetzen. Lassen Sie uns das mal versuchen. Erzählen Sie mal der Reihe nach, alles. Wie Sie da reingekommen sind.« Und Locke erzählte ihm die Geschichte von Anfang an. Von Brians Angebot bis zu dem falschen Zöllner am Flughafen, von der seltsamen Begegnung mit Alvaradejo bis zu den letzten Worten Brians. »Erkennen Sie in alledem einen Zusammenhang und Sinn, Sir?« fragte er, als er fertig war. Seine eigene Rekapitulation der Ereignisse hatte ihn wieder verwirrt und frustriert. »Genug Sinn, daß es ausreicht, junger Freund. Aber das ist keineswegs angenehm.« Locke zögerte etwas. Er hatte das Bedürfnis, sich weiter zu rechtfertigen. »Er hatte von Anfang an die Absicht, mich bei der Geschichte hops gehen zu lassen.«
»Die Absicht wohl nicht. Allenfalls kalkulierte er dies als Risiko mit ein. Er hat auf Sie gesetzt, Junge. Schließlich hatten .Sie ja auch die Ausbildung hinter sich.« »Gott, vor zwanzig Jahren. Und niemals abgeschlossen.« »Immerhin haben Sie sich gestern an das erinnert, was Sie damals gelernt haben, oder? Lieber Freund, Profis wie Brian und ich tun uns was darauf zugute, die Fähigkeiten eines Mannes mobilisieren zu können. Die Tatsache, daß Sie es immerhin bis zu mir hierher geschafft haben, zeigt zur Genüge, daß Brian Sie durchaus richtig einschätzte. Er hat nur seine Arbeit getan, mein Lieber. Und das macht ihn nicht weniger zu einem Freund. Ich habe die ganzen siebziger Jahre mit ihm zusammengearbeitet, und ich habe nie einen Mann erlebt, der sein Land so liebte wie er.« Burgess strich sich mit dem Ärmel schnell über die Augen und räusperte sich. »Also gut, analysieren wir mal alles, was gestern passierte. Von Anfang an. Der vermeintliche Zöllner hat Ihnen also eine Waffe übergeben.« »Angeblich im Auftrag von Brian. Aber der wußte von nichts.« »Und dieser Kolumbianer war Ihr erster Kontakt hier, so wie seinerzeit auch für Lübeck.« »Ja, bei ihm beginnt die Spur.« »Und Lübeck ist in Kolumbien umgekommen.« »In einer Stadt namens San Sebastian.« Rache für die Toten von San Sebastian . . . »Er hat dort ein Massaker mitangesehen.« Burgess schüttelte nachdenklich den Kopf. Sein Mund wurde zu einem dünnen Strich. »Junger Freund, wir haben es da mit Kreaturen zu tun, die buchstäblich vor nichts zurückschrecken. Tiere sind das. Die haben absolut nichts zu verlieren. Aber offenbar eine ganze Menge zu gewinnen.« ' Locke krampfte sich der Magen zusammen. Wie oft hatte er gestern das Wort Tiere gehört? »Die Leute von San Sebastian waren also Augenzeugen von irgend etwas«, fuhr Burgess fort, »das so schlimm war, daß sie deshalb alle sterben mußten.« Er legte seine Stirn in Falten. »Hat dieser Botschaftsmensch damals von sich aus den Kontakt zu Lübeck aufgenommen?« »Weiß ich nicht.« »Dann wollen wir das mal annehmen, junger Freund. Er hat offenbar irgendwas gewußt, irgendwas gehört, und deswegen
Lübeck alarmiert. Was es auch war, es führte Lübeck dann als erstes nach Liechtenstein. Diese Kreaturen erfuhren, daß er eine Spur dorthin aufgenommen hatte. Nur wußten sie nicht, worum es ging. Und jetzt erscheinen auch noch Sie auf der Bildfläche. Offenbar, um dieser Spur noch einmal nachzugehen.« »Augenblick«, unterbrach ihn Locke. »Die Frage ist doch, woher sie überhaupt irgend etwas von mir wußten. Mein Einsatz war schließlich absolut geheime Kommandosache.« »Nun ja. Einsätze dieser Art müssen zwangsläufig vorher bestimmte Kanäle passieren. Und den Kanal, der kein Leck hat, gibt es nicht. Unsere lieben Freunde scheinen gute Verbindungen zu haben.« Er beugte eich etwas vor und stützte sich auf seine Ellbogen. »Sie tauchen also auf und die sehen eine wunderbare Gelegenheit, die von Lübeck aufgegrabene Spur wieder zuzuschütten. Mit Ihnen als Schaufel sozusagen. Alles, was sie tun müssen, so sagen die sich, ist, diesem Kolumbianer einzuflüstern, daß die Menschen, die seine Stadt auslöschten und Lübeck umbrachten, jetzt hinter ihm her sind und ihm einen Killer schicken.« »Nämlich mich«, zog Locke nickend die Schlußfolgerung. »Deshalb arrangierte man die Geschichte mit der Waffe für Sie; man konnte darauf bauen, daß Sie das Schießeisen benutzen würden, wenn man Sie dazu zwang.« »Alvaradejo hat mich für ein Rädchen in einer großen Maschinerie gehalten. Er sprach immer nur in der Mehrzahl. Aber was wäre passiert, wenn ich nicht davongekommen wäre?« »Dann wären Sie jetzt tot. Diese Kreaturen hätten Alvaradejo selbst liquidiert und sich anschließend etwas anderes ausgedacht, um Lübecks Spur zu verwischen.« »Schon«, überlegte Locke. »Aber Alvaradejo muß ja seinerseits Teil einer größeren Organisation gewesen sein. Die Burschen, die mich jagten, sprachen spanisch wie er und gebrauchten dieselben Anklagen und Wörter wie er.« Burgess strich beim Nachdenken wieder über seine Stirnnarbe. »Eine Organisation, ja. Der Taxifahrer. Und ihn so geschickt zu plazieren. Das ist keine Amateurarbeit.« »Also haben wir es mit zwei Gegnern zu tun.« »Mindestens, junger Freund, mindestens. Aber mit den üblen Gestalten müssen wir uns wohl vordringlich beschäftigen. Die
anderen — Alvaradejos Leute — sind zwar auch gefährlich, aber sie arbeiten nicht annähernd so professionell. Echte Profis schreien nicht auf der Straße herum.« Locke fragte zögernd, und ein Kloß saß ihm im Hals: »Und Brian?« Die Augen des Engländers wurden hart. »Zwischen Ihren verzweifelten Kontaktanrufen und Ihrem Treffen im Park hat er fieberhaft nach Antworten gesucht. Offensichtlich aber haben die Antworten ihn zuerst gefunden.« Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem . . . »Er sagte: sie seien überall. Und daß sie die Welt beherrschen würden, wenn man sie nicht aufhielte. Ist Ihnen klar, daß die mich jederzeit hätten aus dem Weg räumen können?« »Aber sie zogen es vor, Sie statt dessen zu benutzen. Ihr Freund Lübeck hat eine Spur entdeckt, die durch seinen Tod wieder verschüttet ist. Doch es kann weiterhin gefährlich für diese Kreaturen sein, wenn ein anderer kommt und sie wieder finden will. Sie begann bei Alvaradejo und sie führt weiter nach Liechtenstein. Indem man Sie verfolgt, verwischt man die Spur.« »Wer waren aber dann die Burschen im Hotel?« »Vermutlich weitere Leute des Kolumbianers. Trotzdem waren es wohl die anderen, die Charney auf dem Gewissen haben. Vermutlich, weil er ihnen schon zu nahe auf die Pelle gerückt war.« Locke trank seinen Kaffee aus. Das Koffein belebte ihn zwar, aber seine Angst und das Gefühl von Hilflosigkeit wuchsen, als Burgess seine Kombinationen und Erläuterungen fortsetzte. »Wenn ich also nach Liechtenstein gehe«, überlegte er, »nutze ich im Grunde nur der Sache derer, die nach Brians Worten eigentlich aufgehalten werden müssen.« Burgess schüttelte energisch den Kopf. »Vorher vielleicht, jetzt nicht mehr.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust. »Jetzt haben Sie mich an Ihrer Seite. Ich werde Ihnen sagen, was Sie zu tun haben, um immer einen Schritt voraus zu sein. Die krümmen Ihnen kein Haar, solange Sie nützlich für Sie sind. Das müssen wir ausnützen, Freund. Außerdem haben die keine Ahnung, was Ihr nächstes Ziel sein wird. Mit anderen Worten, die Zeit arbeitet für uns und auch das müssen wir ausnutzen.« Er setzte sich mit verschränkten Armen zurück. »Sie haben erwähnt, daß Brian einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen herzustellen versuchte.«
»Aber es kam nicht viel dabei heraus«, sagte Locke. »Er war .der Ansicht, der Schlüssel zu der ganzen Geschichte seien Nahrungsmittel.« »Was?« »Lübeck hatte etwas wegen dieser Welthungerkonferenz zu recherchieren. In diesem Zusammenhang traf er sich mit Alvaradejo. Später starb er dann dort in Kolumbien, weil er Augenzeuge irgendeiner Geschichte auf den Feldern dort wurde. Das Letzte, was er sagte als er noch lebte, bezog sich darauf.« »Ohne daß er es vollenden konnte. Und was sagte Brian in bezug auf Liechtenstein?« »Ich solle dorthin reisen und einen gewissen Felderberg suchen. Mehr nicht.« »Felderberg?« rief der Engländer erstaunt. »Kennen Sie ihn?« »Jeder, der in unserer Branche zu tun hat, kennt ihn. Oder genauer gesagt: weiß, daß es ihn gibt. Ich werde Ihnen etwas sagen, mein Lieber. Glauben Sie nicht alles, was man Ihnen über die Schweiz erzählt. Finanzhochburg der Welt, und das alles. Gut, die Leute schaffen ihr Geld nach wie vor dorthin auf Nummernkonten, weil es nirgendwo diskreter zu verstecken ist. Aber wer mit seinem Geld arbeiten und herumjonglieren will, der geht nicht in die Schweiz, der geht nach Liechtenstein. Dort spielen sich die Geschäfte ab. Die großen, die halbseidenen, und die windigen. Dorthin werden Summen transferiert, vor deren Höhe Ihnen schwindlig würde. Und warum? Dort ist alles machbar und das mit äußerster Diskretion, ohne daß irgendeine Regierung, geschweige denn ein Finanzamt, etwas davon erfährt. Und wissen Sie, wer in dem ganzen Netz als dicke Spinne in der Mitte sitzt, als Mittelsmann und Makler? Richtig. Ein gewisser Claus Felderberg. Wer immer einen Strohmann braucht, einen diskreten Vermittler, ein Rangiergleis: Claus Felderberg ist die Adresse, an die man sich wenden muß. Er hat sozusagen alles im Blick, sein Ruf gründet sich vor allem auf absolute Diskretion.« »Mit dem hat Lübeck sich also getroffen«, sagte Locke. »Der ist das nächste Glied in der Kette?« »Ohne daß wir wissen, wohin er uns führen wird, Junge. Denn was hat ein internationaler Finanzmakler mit einem brutalen Massaker in einer gottverlassenen kolumbianischen Stadt am Ende der Welt zu tun?« »Das wußte vermutlich nur Lübeck.«
»Also müssen auch wir es ausknobeln. Sie sind schon an der richtigen Adresse. Ich bin Brian Charney das schuldig. Und noch viel mehr.« Er unterbrach sich und fragte Locke, ob er nicht hungrig sei, packte ihm ein gewaltiges Frühstück, bestehend aus Steak und Eiern, Tomaten und Würstchen auf den Teller und goß ihm noch einmal Kaffee ein. Während sie gemeinsam aßen, erzählte Burgess ihm von sich. Er hatte sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges freiwillig gemeldet und das Ende, dreimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet, an der deutschen Front erlebt. Er hatte zwei Verwundungen überstanden und sich beide Male nicht heimschicken, sondern wieder zurück an die Front versetzen lassen. Erst die dritte Verwundung brachte ihm dann die unwiderrufliche Fahrkarte nach Hause ein. Es war wirklich nichts mehr zu machen. Er hatte eine Ladung Granatsplitter abbekommen. Einige saßen so tief, daß sie nicht mehr zu entfernen waren. »Sah so aus, als ob ich für den Rest meiner Tage in diese Plastikpäckchen scheißen müßte, verstehen Sie, die Dinger die sie einem in solchen Fällen umhängen.« Aber er hatte sich überraschend gut erholt. Das einzige Überbleibsel war, daß er seitdem hinkte. Dazu kam, daß er keine abrupten Bewegungen mehr machen konnte. Man fand also eine andere Beschäftigung für ihn. Im britischen Oberkommando. Wichtiger als der Frontkampf und interessanter. Er kam zur OSS, Abteilung Aufspüren und Entlarven von Spionen. Nach dem Krieg setzte er diese Art Tätigkeit bei der MI-6 fort, dem britischen Pendant zur bald danach entstandenen amerikanischen CIA. Dreißig Jahre lang. Dabei lernte er Brian Charney kennen und arbeitete des öfteren mit ihm zusammen. Das letzte Mal in Ost-Berlin. Es lief nicht gut. Sie tappten in eine Falle, und Burgess bekam zwei Kugeln in die Seite ab. Charney erledigte die beiden Angreifer und schleppte ihn dann mühsam drei Meilen weit zu einem Treffpunkt an der Mauer, während KGB-Agenten sie jagten. Von da an waren sie ständig miteinander in Kontakt geblieben, wobei der altgediente englische Kämpe zu einer Art Vaterfigur für den jungen amerikanischen Wunderknaben wurde und ihm alle Tricks der freien Wildbahn beibrachte, von denen man im Ausbildungslehrgang keinen Ton hörte, geschweige denn sie lernte. Auch als Burgess dann in Pension ging, holte Charney sich oft Rat von ihm. Er sprach von
dem stämmigen Briten immer als seinem wahren Mentor. »Er war für mich wie ein Mitglied meiner Familie«, sagte Burgess bitter. »Den Kerl, der ihn auf dem Gewissen hat, schnappe ich mir, darauf können Sie sich verlassen.« Bei diesen Worten krampfte sich Lockes Magen zusammen. »A propos Familie«, sagte er. »Was ist mit meiner? Ich muß mich mit ihr in Verbindung setzen, und sie muß in Sicherheit gebracht werden.« Burgess nickte und überlegte. »Ich kümmere mich darum.« »Aber Charney hämmerte mir ausdrücklich ein, mich auf niemanden zu verlassen - auf absolut niemanden.« »Bei seiner Regierung vielleicht. Nicht bei meiner. Ich habe noch genug Kontakte, auch inoffizielle. Inoffiziell läßt sich so etwas ohnehin am besten arrangieren. Verlassen Sie sich darauf, innerhalb von acht Stunden ist das erledigt und Ihre Familie unter Beobachtung und Bewachung. Machen Sie sich keine Sorgen, was das betrifft.« Locke schüttelte schwer den Kopf. »Es geht nicht allein darum. Tatsache ist, ich bin nicht sicher, ob ich das weitermachen kann. Ob ich das durchstehe.« Burgess sah ihn intensiv an. »Aber ich, Junge. Sehen Sie, Brian Charney war keiner, der irgend etwas dem Zufall überließ. Er hat mich noch gestern nachmittag angerufen und mir gesagt, es sei möglich, daß ich von Ihnen hörte. Wenn aber, dann bedeute es, daß er tot sei. Er informierte mich über einige Details aus Ihrer Personalakte, die ich wissen sollte, wie er meinte. Und eben diese haben mich davon überzeugt, daß Sie durchaus der Mann sind und das Zeug dazu haben, diese Sache zu erledigen und sie an seiner Stelle zu Ende zu bringen. Daß Sie herausbekommen können, was hinter der ganzen Geschichte eigentlich steckt. Was tatsächlich passiert ist. Und verhindern können, was möglicherweise noch geplant ist. Denn Sie haben das im Blut.« Locke sah überrascht auf. Dann begriff er. »Sie wissen das von meiner Mutter, wie?« »Mehr als das, Junge«, sagte Burgess ohne Anzeichen von Emotion in der Stimme. »Ich war es, der sie geschnappt hat.« »Was wir hier vor uns haben Gentlemen«, sagte Calvin Roy, der Unterstaatssekretär, hart, »ist ein Misthaufen, der mehr stinkt als jeder Getreideacker vor der Aussaat.« Er beugte sich vor und fixierte die beiden Männer auf der anderen Seite seines Büroschreibtisches: Louis Auschmann, stellvertretender
Nationaler Sicherheitsberater, und Major Peter Kennally, Direktor der CIA. »Charneys Autopsieberichte sind gerade gekommen«, sagte Roy. »Vier Kugeln haben sie ihm reingepumpt. Und der Mann, den er vorgeschickt hat, ist wie vom Erdboden verschwunden.« »Man hätte mich über die Geschichte informieren müssen«, sagte Kennally trocken. »Es geht einfach nicht, Amateure ohne offizielle Genehmigung und Rückendeckung als Kanonenfutter einzusetzen.« »Ach, versprühen Sie Ihre Jauche doch woanders«, fuhr ihm Roy über den Mund. »Charney hatte volle Genehmigung für gottverdammt alles, samt einer unbeschränkten Generalvollmacht, wenn Sie's genau wissen wollen. Darum geht es doch nicht. Er war ausschließlich seiner eigenen Behörde verantwortlich und ich persönlich habe seinem Vorschlag für seine . . . Personen wähl zugestimmt. Übrigens der Minister ebenfalls.« »Mit dem tollen Ergebnis, daß eure . . . Personenwahl jetzt wie ein Hase auf der Treibjagd durch London gehetzt wird! Weil er einen kolumbianischen Diplomaten über den Haufen schoß und zusätzlich auch noch fast einen Taxifahrer umgebracht hätte.« »Ist ja gut, ja. Ich bin ziemlich sicher, daß er dafür einen Grund hatte, Charneys Tod bestätigt das nur.« »Vorausgesetzt, daß er nicht auch derjenige ist, der Charney erledigt hat. Kann doch von vornherein ein faules Ei gewesen sein. Es muß geklärt werden, ob sie uns den Burschen nicht von Anfang an gezielt ins Nest gesetzt haben.« »Nun, die Kugeln, die man in dem Kolumbianer fand, und die, die Charney umbrachten, sind jedenfalls nicht vom gleichen Kaliber«, gab Auschmann zu bedenken. »Na, wenn schon«, sagte Kennally. »Das gehört doch zur Grundausbildung, daß Anfängern klargemacht wird, daß sie nicht zweimal die gleiche Waffe verwenden dürfen.« »Lieber Major«, polterte der bodenständige Texaner Roy wieder grimmig los, »stecken Sie sich Ihre Vorschriften doch in Ihren Arsch! Ich habe Sie hergebeten, mir zu helfen, damit wir rauskriegen, was da vorgefallen ist, nicht, damit Sie uns die Paragraphen des Handbuchs für Spione rezitieren. Haben Sie denn meinen Bericht, den ich Ihnen über Charney und seine Vermutungen schickte, nicht gelesen?« »Natürlich«, nickte Kennally ungerührt, »Und alles, was ich daraus entnehmen konnte, war, daß nicht viel Konkretes hinter diesen Vermutungen zu stecken schien.«
»Zu der Zeit vielleicht nicht, zugegeben. Aber nach dem, was inzwischen passiert ist, sieht die Sache ja wohl erheblich anders aus; oder etwa nicht? Und ich bin der Ansicht, daß wir verdammt noch mal was unternehmen sollten, und zwar schnell, ehe wir noch mehr Beerdigungen arrangieren müssen. Charney war bekanntlich durch und durch Profi. Er hat schließlich lange genug für Sie gearbeitet, so daß Sie das wissen müßten.« »Das ändert nichts daran, daß das meiste an seinem Bericht über Lübeck eben nur Vermutungen sind.« »Na, was? Sie haben doch Lübecks Tonband auch gehört? Wie sollte er da mehr Konkretes herausholen?« »Also Sie jedenfalls sind der Ansicht, daß es einen Zusammenhang zwischen Lübecks und Charneys Tod gibt.« Roy warf demonstrativ die Arme in die Luft. »Lieber Gott, da haben wir ja eine richtige Intelligenzbestie unter uns. Der merkt tatsächlich alles.« »Und wie paßt dieser Locke da ins Bild?« »Im Augenblick, werter Major, überhaupt nicht. Weit und breit ist er in diesem Bild nicht zu sehen. So steht's!« »Und San Sebastian, was ist damit?« »Seit gestern abend haben sie das Feuer endgültig gelöscht. Der erste Bericht von der Mannschaft, die da hingeschickt wurde, kam ebenfalls gerade erst. Im Umkreis von zwanzig Meilen ist auch nicht der kleinste Grashalm übriggeblieben, der uns was verraten könnte. Allenfalls jede Menge Menschenknochen, allerdings ganz verkohlt, so wie die ganze Stadt, total abgebrannt.« »Ganz offensichtlich also«, meldete sich Auschmann pedantisch zu Wort, »da hat irgend jemand große Mühe und Sorgfalt darauf verwendet, jede Spur zu vernichten.« »Ich weiß, Louie«, raunzte Roy wieder sarkastisch-grob, »daß ich immer auf Sie zählen kann, wenn wir jemanden brauchen, der ordentlich zusammenfaßt, was ohnehin schon auf dem Tisch liegt. Aber wie war's, wenn Sie mir zur Abwechslung auch mal etwas weniger Offensichtliches erzählen würden? Beispielsweise, was in Dreiteufelsnamen mit Charney passiert ist?« »Was meinen Sie damit?« »Er hat sich mit niemandem in Verbindung gesetzt, das meine ich. Statt die üblichen Kanäle zu benutzen und dann einen
Notruf loszulassen, was tut er? Er läßt sich abknallen, während er versucht, seine Nachricht unserem lieben Professor Locke weiterzugeben.« »Es gibt keine Meldung darüber, daß er gestern zu irgendeinem Zeitpunkt Hilfe verlangt hätte«, berichtete Auschmann. »Auch mit unseren Leuten in der Botschaft hat er keinerlei Kontakt aufgenommen.« »Schon seltsam«, bemerkte Major Kennally, »Charney war nie der Solo-Typ.« »Also, was kann er für einen Grund gehabt haben, sich in dem Punkt anders als gewohnt zu verhalten?« fragte Roy. »Kann es sein, daß er die >üblichen Kanäle< nicht beansprucht hat, weil er fürchtete, sie brächen ein?« »Undichte Stellen, meinen Sie?« forschte Kennally. »Vielleicht.« Roy dachte nach. »Womöglich was viel Schlimmeres als bloß ein Leck.« »Zum Beispiel«, bot Auschmann an, »die Entdeckung, daß bestimmte Kräfte in unserer Regierung an dem, was er aufdeckte beteiligt sind?« »Genau das meine ich. Er muß rausgefunden haben, daß die Spur der Scheiße, die er an bestimmten Schuhen fand, bis zu unserer eigenen Tür führt.« »Also meldete er nichts, weil er fürchten mußte, daß er an die verkehrte Adresse geraten könnte«, folgerte Auschmann unverdrossen mit Eifer. Er war einer dieser klugen jungen Männer Anfang Dreißig, mit Harvardabschluß und großen Karrierehoffnungen. »Vermutlich war er auch unter Zeitdruck und mußte schon deshalb alleine handeln.« »Aber zu Locke ging er«, sagte Kennally. »Weil er der einzige war, von dem er wußte, daß er ihm vertrauen konnte, als sie in die Klemme gerieten.« »Durch wen in die Klemme gerieten, meine Herren?« fragte Roy mit erhobener Stimme. »Das interessiert uns doch wohl vor allem. Herrschaften, ich habe hier auf dem Tisch einen toten Agenten und einen Collegeprofessor, der im Augenblick in England herumrennt und wegen Mordes gesucht wird.« »Was ist mit Scotland Yard, kooperieren die?« wollte Kennally wissen.
»Ach, diese Blödmänner, die würden doch einen Scheißhaufen nicht finden, selbst wenn sie knieftief drinstünden. Übers ganze Dorchester haben sie ein Riesennetz geworfen, sagen sie. Trotzdem ist ihnen der Amateur Locke ungesehen durch die Maschen geschlüpft. Das haben sie erst gemerkt, bis ihnen endlich einfiel, sie könnten einen Mann in seinem Zimmer plazieren. Dort fanden sie dann den toten Charney und Hinweise darauf, daß der liebe Professor grade eben rausspaziert sein mußte. Die Spur war noch heiß, aber ehe sie ihr folgen konnten, löste irgendwer diesen Scheißfeueralarm aus.« »Vielleicht Locke selbst«, schlug Auschmann vor. »Was hieße, daß er erheblich cleverer ist, als wir annahmen. Es sei denn, Major, ihr lehrt das bei der Grundausbildung eurer Akademie.« »Tun wir nicht«, gab Kennally zurück, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Und jetzt ist der Bursche allein.« »Vielleicht nicht«, überlegte Roy. »Kann mir nicht vorstellen, daß Charney ihn nicht zu irgendwem schickte. Der arme Hund hat sich doch nicht für nichts und wieder nichts mit vier Kugeln im Bauch noch da raufgeschleppt, in Lockes Zimmer, nur um dort malerisch auf dem Teppich zu sterben. Nein, nein, er tat das, um Locke noch irgendwas zu sagen. Und zwar vermutlich wesentlich mehr, als wir bis jetzt wissen.« »Worauf warten wir dann noch?« sagte Kennally, durch nichts aus seiner distanzierten Ruhe zu bringen. »Der Mann ist die Lösung. Ihn müssen wir finden.« Er lehnte sich zurück. »Die Frage ist natürlich, wo fangen wir an? Charney kann ihn weiß Gott wo hingeschickt haben.« »Eben nicht«, konterte der clevere Auschmann, »eben nicht weiß Gott wohin. Nachdem er weder mit einer Niederlassung unserer Regierung noch mit der Botschaft Kontakt aufgenommen hat, wird er auch Locke in eine andere Richtung geschickt haben.« Roy sah ihn aufmerksam an und verschränkte die Finger. »Da ist was dran«, räumte er nickend ein. »Forsten Sie Charneys Akte durch, Louie, und zwar mit der Lupe. Brian Charney hatte eine Menge Kontakte in England. Picken Sie uns den raus, zu dem er Locke vermutlich geschickt hat.« »Wieso gerade in England?« »Weil Charney ein Profi war und wußte, daß Locke keiner ist. Also sind für Locke auch Entfernungen ein Problem. Mit anderen
Worten, er mußte und wollte ihm auf jeden Fall eine längere Reise ersparen.« »Nachdem Locke sich bisher nicht gemeldet hat«, sagte Kennally wieder, »besteht die Möglichkeit, ja sogar Wahrscheinlichkeit, daß Charney ihm auftrug, seinen eigenen Platz einzunehmen.« »Was ihn für Charneys . . . und Lübecks . . . Mörder hochinteressant machen würde«, faßte Auschmann zusammen. »Sofern wir ihn nicht vor denen aufspüren«, sagte Roy. »Und genau das, Herrschaften, werden wir tun. Damit das klar ist.« Der Einäugige betrat ruhig die Bar. Er tat sein Bestes, nicht weiter aufzufallen, was freilich nicht ganz leicht war. Er war ein Hüne, mit breiten Schultern, finsterem Gesicht, schwarzem Haar und stechendem Blick. Die Leute gingen ihm automatisch aus dem Weg und sahen unsicher weg. Er ging zu einem Tisch weiter hinten, an dem eine dunkelhaarige Frau allein saß, kettenrauchend ein halbes Glas voller geschmolzener Eiswürfel vor sich. »Er ist uns entwischt«, sagte die Frau. »Das dachte ich mir schon«, antwortete der Mann und setzte sich. »An deinem Bericht irritiert mich etwas. Du sagst, der Amerikaner kam allein in den Park?« »Ja.« »Das kann nicht sein. Es müssen andere dabei gewesen sein.« »Gott, sie glaubten, nur Alvaradejo käme. Da waren keine anderen nötig.« Der Einäugige zog seinen Stuhl etwas näher. »Dann berichtest du, der Amerikaner lief aus dem Park hinaus. Wie würdest du dieses Laufen beschreiben. Als panikartig?« »Verzweifelt vielleicht. So drückte sich unser Mann im Taxi aus.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Er wird übrigens bald wieder auf dem Damm sein.« »Seit Wann drehen Profis durch? Was zu erwarten gewesen wäre, ist, daß der Amerikaner seine Waffe ins Gebüsch wirft und ganz ruhig davongeht. Statt dessen rennt er davon, als habe ihn etwas völlig Unerwartetes überrascht.« »Nun, Alvaradejo schoß schließlich auf ihn.« »Das müßte er doch einkalkuliert haben.« »Jedenfalls schoß der Amerikaner wie ein Profi«, sagte die Frau und zündete sich schon wieder eine Zigarette an. »Das heißt gar nichts. Aus der kurzen Entfernung.«
»Er könnte von unserer Taxifalle etwas gewußt oder es geahnt haben. Seine Panik könnte gespielt gewesen sein, um die Aufmerksamkeit unseres Mannes abzulenken. Hat ja auch bestens funktioniert, so wie es aussieht.« Der Einäugige war noch nicht überzeugt. »Warum wartet er dann, ohne etwas zu tun, bis unser Mann die Waffe zieht?« »Show vielleicht. Die Amerikaner müssen doch immer Cowboy spielen, wer zieht am schnellsten, und dieser Quatsch. Als es dann soweit war, hat er ja auch wirklich keine schlechte Schau abgezogen, das muß man ihm lassen.« »Und hat unseren Mann am Leben gelassen. Kein Profi würde so etwas tun. Und kein Profi würde mitten auf der Straße anfangen davonzurennen, nur um noch mehr Chaos zu verursachen.« »Wenn das nicht auch Teil der Show war. Oder des Plans. Und auch seine Falle hat bestens funktioniert. Arturo ist voll hineingetappt. Seine Finger waren noch am Abzug, als sie ihn fanden. Nur ein Profi kann so schnell sein.« Der Einäugige zuckte mit den Schultern und wedelte den Rauch weg. »Noch so ein Punkt, der nicht ins Bild paßt. Eine so perfekte Liquidierung ohne jeden Zeugen . . .« »Ich sagte ja, Profiarbeit«, erwiderte die Frau und drückte ihre Zigarette aus, um den anderen nicht mit ihrem Rauch zu belästigen. »Das läßt sich nicht leugnen«, bestätigte er. In seinem Gesicht zuckte es nervös. »Und es war der Amerikaner, der sich um das Treffen mit Alvradejo bemühte?« »Genau, wie man uns mitgeteilt hat. Sie haben ihn auf Lübecks Spur gesetzt. Er sollte alle liquidieren, mit denen Lübeck zu tun hatte und die zu viel wußten.« »Ein College-Professor . . .« »Ja, aber mit einem sechsmonatigem CIA-Lehrgang im Lebenslauf«, sagte die Frau. »Sie behaupten zwar, er sei damals abgesprungen. Aber eine idealere Tarnung hätten sie doch gar nicht finden können.« »Aber warum steht dann diese Ausbildung noch in seinem Dossier?« »Spielt keine Rolle. Ganz offensichtlich führt dieser Locke ein Doppelleben. Seine Lehrtätigkeit läßt ihm ausreichend Zeit für anderes. Niemand findet es ungewöhnlich, wenn ein Lehrer häufig reist. Es ist eine perfekte Tarnung. Und meinst du etwa, es
ist ganz und gar Zufall, daß er ausgerechnet an dieser GeorgetownUniversität ist — in Washington?« Der Einäugige sagte nichts. »Paßt alles zusammen«, erklärte die Frau kühn. »Dieser Locke ist einer von der schlimmsten Profi-Sorte. Unkalkulierbar, mit anscheinend ungezügelten Emotionen, während in Wirklichkeit jeder Schritt.aufs raffinierteste ausgeklügelt ist.« Sie dachte ein wenig nach. »Ich habe Arturos Leiche gesehen. Der Schnitt an seiner Kehle stammt von keinem Amateur, soviel steht fest. Unser Problem ist jetzt, daß wir Locke überhaupt erst auf uns aufmerksam gemacht haben. Jetzt ist er gewarnt und erwartet unseren nächsten Zug. Und er ist gut. Unser Vorteil ist dahin.« »Wer weiß. Wo hatte Alvaradejo Lübeck hingeschickt?« »Zu Claus Felderberg nach Liechtenstein.« »Dann müssen wir unsere Strategie wohl ein wenig ändern . . .« Der Schock war groß für Christopher Locke. Er traf ihn wie eine Ohrfeige. Der Mann, der seine Mutter auf dem Gewissen hatte!
»Ich habe sie gerade noch erwischt, kurz vor Tagesanbruch am Strand«, erläuterte Burgess. »Eine halbe Meile draußen auf See tauchte bereits das U-Boot auf, das sie abholen sollte. Als man uns ausmachte, tauchte es wieder ab. Ihre Mutter leistete keinerlei Widerstand. Sie wußte, daß es vorbei war.« Er suchte Lockes Augen und zögerte. »Profis wissen so etwas.« »Die Welt ist klein, wie?« sagte Locke mit einer Ruhe, die ihn selbst überraschte. Burgess nickte. »Und meistens nicht besonders erfreulich. Sie haben natürlich das Recht, nun gegen mich voreingenommen zu sein, junger Freund.« Locke sah ihn nachdenklich an. »Ja, aber ich kann nicht. Ich empfinde nichts. Das ist alles vorbei und weit weg. Wichtiger ist das Jetzt. Brian ist tot, und Sie sind der einzige, den ich habe. Die Vergangenheit liegt weit hinter uns.« Aber schon während er das sagte, wußte er, daß es nicht die volle Wahrheit war. Denn wie tief in seinem Gedächtnis diese Vergangenheit auch vergraben sein mochte, sie blieb fest mit der Gegenwart verwoben. Daß er überhaupt hier saß, hing ja schon mit seiner Mutter zusammen. Er konnte es leichter ertragen, weil er zu erkennen glaubte, daß sich hier der lange vorbestimmte Lauf des
Schicksals zeigte, dem man nicht entrinnen konnte. Und als Burgess noch hinzufügte: »Das Leben macht uns alle zu Waisen«, war ihm klar, daß dies die Wahrheit sein mußte, die sein Leben bestimmte. Burgess verließ kurz danach das Haus, nachdem er sich noch Lockes Maße hatte geben lassen. Er brauchte neue Kleider und mußte in der nächsten Zeit viel reisen. Es mußten Arrangements getroffen und Informationen eingeholt werden. Felderberg war ein mächtiger Mann. Locke konnte ihn nicht einfach anrufen, wie etwa Alvaradejo, um einen Termin auszumachen. Es mußte eine passende Tarnung gefunden werden und ein Weg für die Kontaktaufnahme. Und vor allem war Eile geboten. Dieser letzte Punkt machte Locke zu schaffen. Lübeck hatte zweifellos alles getan, was er konnte, und noch ein bißchen mehr dazu. Und trotzdem hatten sie ihn gekriegt, den alten Lube. Konnte er, Locke, bei realistischer Betrachtung irgend etwas anderes erwarten? London? Da hatte er ganz einfach Glück gehabt. Unerhört viel Glück. Aber Glück hatte man allenfalls dann und wann. Nicht regelmäßig. Schon gar nicht immer. Und ausschließlich auf Glück angewiesen zu sein . . . Er versuchte, sich zu beruhigen, etwas zu schlafen. Es ging nicht. Binnen so kurzer Zeit ein zweites Mal mit seiner Mutter, ihrer für sein ganzes Leben so traumatischen Rolle, und ihrem Schicksal konfrontiert zu sein, trug dazu sicherlich sein Teil bei. Dazu seine eigene Verwundbarkeit in seiner jetzigen Lage. Er war längst keine beliebige Wachsfigur mehr. Er war zur entscheidenden Figur geworden, die ihre Züge ganz allein und unabhängig bestimmen mußte. Jedenfalls, sobald er Liechtenstein erreicht hatte. Ehe Burgess aus dem Haus ging, bat Locke ihn noch darum, Kontakt mit seiner Familie aufnehmen zu dürfen. »Die Idee ist nicht gut, Junge«, sagte Burgess entschieden. »Wird viel zuviel abgehört heutzutage. Sie könnten damit allzuleicht Ihren Aufenthaltsort verraten und würden damit Ihren einzigen derzeitigen Vorteil verlieren.« »Über eine abhörsichere Leitung ginge es doch?« »Unmöglich, hier draußen eine zu installieren.« »Meine Angehörigen warten auf Nachricht von mir«, beharrte Locke. »Sie werden in Panik geraten, wenn sie nichts hören, und selbst anfangen herumzutelefonieren, und sich möglicherweise eben dadurch in Gefahr bringen. Das halte ich nicht aus.« »Dann, lieber Freund, machen Sie sich besser gleich mit dem Gedanken vertraut, nicht mehr lange zu leben. Denn genau das wird Ihnen passieren, wenn Sie unbedingt überflüssige Risiken eingehen
wollen. Warten Sie wenigstens ein paar Tage. Bis sie in Liechtenstein sind, vielleicht.« Er fügte sich diesen Argumenten schließlich. Nach vier Stunden kündigte das freudige Gebell der Hunde die Rückkehr von Burgess an. Locke sah ihn vom oberen Stockwerk aus kommen und ging hinunter zur Tür, um ihm zu öffnen. »Wie ging es?« Burgess wiegte den Kopf und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Er sah müde aus. »Ich bin das alles nicht mehr gewöhnt«, sagte er. »Ich bin zu alt für das Geschäft.« Er atmete tief durch. »Ich habe alles für Sie arrangiert, aber leicht war es nicht. Zu viele Leute mußten eingeschaltet werden, und das erhöht die Risiken, daß irgend etwas durchsickert und an die falsche Adresse gerät.« »Aber Sie haben jedenfalls alles?« Burgess klopfte an seine Brusttasche. »Alles da drin. Inklusive ein neuer Paß für Sie. Ich habe auch einen Koffer mit Kleidern und Reiseutensilien im Auto. Die Tricks kenne ich alle noch, mein Lieber. Und wir werden sie, verdammt, alle nötig haben, wenn wir das Spielchen gewinnen wollen.« Er holte noch einmal Luft. »Sie fahren heute abend um neun nach Liechtenstein. Ich hatte keine Zeit mehr, einen Sondertransport zu arrangieren. Ist wahrscheinlich auch besser so. So was erregt oft nur mehr Aufmerksamkeit, als gut ist. Sie reisen durchgehend mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und es wird ziemlich strapaziös und hektisch werden, darauf können Sie sich schon mal einstellen. Die anderen werden überall nach Ihnen Auschau halten. Wir müssen Ihnen was zu tun geben.« Er sah ihn intensiv an. »Nicht nur der anderen Seite. Ich habe gehört, daß auch die Polizei im ganzen Land fieberhaft nach einem Amerikaner sucht, der einen kolumbianischen Diplomaten ermordet hat.« »Was? Aber das war doch kein Mord!« »Mein lieber junger Freund, Macht besteht, unter anderem, auch darin, daß man alles so aussehen lassen kann, wie man will. Ihre wirklichen Gegenspieler haben verständlicherweise kein Interesse daran, daß Ihnen Ihre eigene Regierung als Verbündeter zur Seite steht. Falls es Sie interessiert: man sucht Sie ganz offiziell. Zum Zwecke der Einvernahme im Zusammenhang mit der Ermordung eines Verbindungsbeamten des amerikanischen Außenministeriums.« »Man will mir auch Brian . . .?«
». . . in die Schuhe schieben, ja. Auch seinen Tod wird man Ihnen anhängen.« . »Aber das ist doch . . .« »Damit müssen Sie leben, mein Lieber. Wenn unsere Gegner so stark sind, wie Sie sie mir geschildert haben, dann ist es auch sehr wahrscheinlich, daß ihr Einfluß überall bis in höchste Kreise reicht. Ermittlungen lassen sich jederzeit in jede beliebige Richtung dirigieren. Entscheidend ist im Augenblick nur die Tatsache, daß eine ganze Menge Leute nach Ihnen sucht, wir Sie also nicht auf dem direktesten Weg nach Liechtenstein transportieren können. Also. Sie werden mit der Eisenbahnfähre nach Frankreich fahren, bis Paris. Von dort aus fliegen Sie nach Genf, über zwei Etappen mit wechselnden Flugzeugen, und dann nehmen Sie wieder den Zug, bis Liechtenstein. Dort kommen Sie etwa morgen Mittag an.« Locke hatte sich Burgess gegenüber gesetzt. »Und dann?« Burgess zog den neuen Paß aus seiner Jackentasche. »Hier. Sie reisen als amerikanischer Geschäftsmann Sam Babbit und haben in dem Ländchen eine größere Finanztransaktion vor. Dazu haben Sie als Makler, aus Gründen der Diskretion und seiner Bereitschaft wegen, auch kurzfristig tätig zu werden, Mr. Felderberg auserkoren. Für eine exorbitante Provision, übrigens.« »Die ich aber auch zur Verfügung haben muß, wenn das Manöver klappen soll.« »Haben Sie«, nickte Burgess. »Einer wie Sam Babbit muß selbstverständlich das Geld packenweise in der Tasche herumtragen und großzügig unter die Leute bringen. Wäre er einer, der Angst vor Spesen hat, brauchte er gar nicht erst nach Liechtenstein zu fahren. Keine Bange, das Geld ist da. Ich habe so an die fünfundsiebzigtausend Pfund mitgebracht.« Er klopfte wieder an seine Brieftasche. »Von wem kommt das?« »Ganz einfach von meinem eigenen Bankkonto, lieber Freund.« Sein Gesicht spannte sich etwas an. »Brian war mein Freund, und was ich ihm schuldig bin, läßt sich nicht in Geldbeträgen ausdrücken. Also genug davon. Sie kommen jedenfalls morgen in Vaduz an und haben reichlich Zeit, sich in Ihrem Hotel auszuruhen und frisch zu machen, ehe Sie Felderberg treffen. Er erwartet Sie um vier Uhr nachmittags in einem Restaurant in der Nähe des Schlosses. Es liegt auf einem steilen Berg und ist nur
mit einer Seilbahn erreichbar. Sie brauchen nur dort hinzufahren, alles andere ist arrangiert.« »Und was erzähle ich dem Mann?« »Das müssen Sie sich allerdings selbst einfallen lassen. Er wird ohnehin sehr rasch dahinterkommen, daß Sie nicht der sind, als der Sie sich ausgeben. Ein internationaler Finanzmakler wie er ist schon von Berufs wegen ein sehr geschulter Menschenkenner. Seien Sie ganz direkt, aber erzählen Sie ihm nicht zu viel auf einmal. Denken Sie daran, es ist sehr wohl möglich, daß er zur Gegenseite gehört.« Lockes Augen wurden groß. »Oh, daran habe ich überhaupt nicht gedacht . . .« »Dann machen Sie sich darüber auch jetzt keine Sorgen. Es ist sowieso unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Lübeck hätte sich ganz bestimmt nicht die Mühe gemacht, bis .San Sebastian zu reisen, wäre Felderberg einer von der anderen Seite.« »Er hat wohl auch Leibwächter, oder?« »Sicher, mehrere. Aber das Restaurant Hauser hält auch immer ein privates Nebenzimmer für ihn reserviert. Dort trifft er seine Kunden grundsätzlich unter vier Augen. Diskretion ist schließlich ein wesentlicher Teil seines Geschäfts. Sie werden also ebenfalls ganz allein mit ihm sein, sofern er keine anderen Anweisungen gegeben hat.« Burgess sah ihn eindringlich an. »Ich will Ihnen nichts vormachen, Freund, ungefährlich ist es keineswegs. Ganz im Gegenteil, offen gesagt. Aber Felderberg ist nun mal für uns der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Sache. Der Schlüssel zu dem, was Lübeck entdeckt hat. Gern schicke ich Sie nicht ganz allein in die Schlacht, aber . . .«Er zuckte mit den Schultern. »Immerhin können Sie darauf vertrauen, daß auch ich nur einen Telefonanruf weg bin.« »Sie haben doch überhaupt kein Telefon hier!« »Sie bekommen die Nummer einer jungen Dame, die in wenigen Minuten mit mir Kontakt aufnehmen kann. In dringenden Notfällen sagen Sie ihr einfach, Sie möchten Onkel Colin sprechen.« »Und?« »Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, das Mädchen fragt nach Ihrer Nummer und ruft sofort zurück, um Ihre Nachricht aufzunehmen. Oder sie sagt, Onkel Colin ist beim Fischen. Das bedeutet dann, sie haben mich geschnappt und Sie
müssen allein weitermachen.« »Wie geht es nach dem Treffen mit Felderberg weiter?« »Ganz einfach, Sie fahren exakt dorthin, wo er auch Ihren Freund Lübeck hinschickte. Das ist das nächste Glied in der Kette. Dogan erhielt die Nachricht seines Commanders am späten Freitagabend. Seine erste Reaktion war Ablehnung. Schließlich schuldete er dem Kerl nichts mehr. Aber es wurde dann doch rasch eine schlaflose Nacht. Vielleicht hatte sein Ex-Boß es sich doch noch einmal überlegt und wollte die Entscheidung vom Donnerstag rückgängig machen? Nicht, daß er bei der Vorstellung wieder zur Abteilung Sechs zurückzukehren in Ekstase geraten wäre. Die Voraussetzungen wären nun ohnehin völlig anders. Um eine leitende Stellung wie bisher würde es mit Sicherheit nicht mehr gehen, das war völlig klar. Also, was sollte es. Doch Tatsache war schließlich: was sonst sollte er anfangen? Seine bisherige Arbeit war sein ganzes Leben. Die »Branche«, der Ehrenkodex, der ihn mit Leuten wie Waslow verband. Das alles hatte er im Blut, und daran konnte auch keine Transfusion irgend etwas ändern. Er stellte keinen Wecker und ließ sich auch nicht vom Auftragsdienst wecken. Er erwachte automatisch immer um sieben, da konnte kommen, was wollte. Nach einer raschen Dusche begab er sich zu den Champs-Elysees. Der Commander saß bereits an seinem Tisch. Wie üblich, blickte er auch nicht einmal von seiner Zeitung auf, als Dogan kam, und nahm keinerlei Notiz von ihm, bis er ihm gegenübersaß und ihm die Sonne verdeckte. »Schön, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »War ganz zufällig in der Gegend.« Ein kurzer amüsierter blinzelnder Blick gegen die Sonne war die Reaktion. »Frühstück, lieber Grendel? Ein Croissant vielleicht, oder zwei?« Er deutete auf den Korb auf dem Tisch, der mit einer gewürfelten Serviette zugedeckt war. »Cafe au lait?« »Gern.« Der Commander goß ihm fürsorglich eine Tasse Kaffee ein und schoß ihm einen kurzen Blick über den Tisch zu. »Man hat es sich überlegt«, sagte er nur. »Was?« »Lieber Freund Grendel! Als wenn Dummstellen zu Ihnen paßte! Man hat eingehend über Ihre Wiedereinstellung nachgedacht.«
»Und womit habe ich mir in den letzten sechsunddreißig Stunden diese hohe Ehre verdient?« »Bisher noch durch gar nichts. Aber Sie werden sie sich verdienen.« Dogan war etwas unsicher. Er wartete. »Wir brauchen jemanden, der so geräuschlos wie möglich einen Mann aus dem Wege räumt.« »Und warum nehmen Sie dazu nicht einen Ihrer neuen Superstars? So einen aus der Musterknaben-Klasse von Keyes?« Der Commander zögerte und blätterte nervös eine Zeitungsseite um. Es sah nicht so aus, als lese er die Zeitung sehr intensiv. »Für diesen Auftrag«, sagte er schließlich, »bedarf es einer . . . sehr taktvollen Methode. Nichts darf offiziell geschehen, keine Spur darf zu uns führen.« »Völlig klar. Ich gehöre nicht mehr zu Ihrer Abteilung, also bin ich der perfekte Mann für den Job. Wissen Sie . . .« »Ich sagte bereits, wenn Sie diesen Job für uns erledigen, kann dieser Zustand als vorübergehend angesehen werden.« »Wer oder was garantiert mir das?« »Würde Sie so etwas vielleicht weniger mißtrauisch machen? Ganz einfach, die Abteilung braucht Sie. Sie haben da durchaus Ihre Spuren hinterlassen.« »Die aber leicht meine Grabinschrift werden könnten, weil es sich womöglich um ein Himmelfahrtskommando gegen irgendeinen Dritte-Welt-Bonzen handelt! Ghaddhafi vielleicht? Oder Khomeini?« Der Commander schüttelte den Kopf und hob den Blick. Seine Augen hinter der Brille sahen ihn scharf an. »Leider handelt es sich um etwas weniger Ausgefallenes. Gestern ist ein Geheimdienstmann vom Außenministerium namens Brian Charney von einem seiner eigenen wildgewordenen Agenten umgelegt worden. Der Mann sucht Käufer bestimmter Informationen. Sehr delikater Informationen, die in seinem Besitz sind, und die uns erheblichen Schaden zufügen, wenn sie in die falschen Hände geraten. Wie Sie mit Ihrer Erfahrung jetzt bereits wissen, erfordert dies schnelles Handeln ebenso wie äußerste Diskretion des Vorgehens.« »Sie haben doch sicher ein Dossier über die Zielperson?« Der Commander nickte nur knapp und holte einen Aktenordner von seinem Schoß auf den Tisch. »Ein gewisser Christopher
Locke.« »Weiß man etwas, wer ihn im Augenblick an der Leine hat?« »Nein, aber das spielt auch keine Rolle. Wir wollen ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen haben. Wir wissen lediglich, daß er auf dem Weg zu einem Treffen in Liechtenstein ist. Und im nächsten Flugzeug dorthin sollten Sie sitzen.« »Noch habe ich überhaupt nicht zugesagt«, erklärte Dogan, um nach einer kurzen Pause zu fragen: »Was will er da, in Liechtenstein? Mit wem trifft er sich da?« »Mit Claus Felderberg. Ich habe Ihnen die ganzen Details zusammenstellen lassen. Sie können Sie später studieren.« Er schob einen Umschlag über den Tisch. »Felderberg«, sinnierte Dogan. »Dieser Finanzier. Der handelt mit Dollars, nicht mit Informationen. Klingt merkwürdig, daß er sich den ausgesucht haben sollte.« Der Commander räusperte sich nervös. »Keine Fragen, Grendel. Tun Sie's oder tun Sie's nicht?« Dogan riß ein Croissant in der Mitte auseinander und stand auf, ohne seinen Kaffee angerührt zu haben. Er griff nach dem Umschlag. »Ich schreibe Ihnen eine Postkarte. Aus Liechtenstein.«
Vierter Teil Liechtenstein und Österreich Samstag nachmittag Er kam planmäßig in Genf an und nahm dort den Arlberg-Expreß, der ohne Halt durch das ganze kleine Land bis zur Grenzstation St. Gallen fuhr. Von dort aus brachte ihn ein Taxi in einer knappen Viertelstunde nach Liechtenstein in die Hauptstadt Vaduz. Er war überrascht, daß keinerlei Kontrollen und Formalitäten stattfanden, obwohl er eine Grenze überschritt. Um so besser. Die Schönheit der Landschaft überwältigte ihn. Die schmale Straße wand sich sanft durch das obere Rheintal, wo eben die Frühlingsblüte begann. Auf den Bergen oben lag noch Schnee. Es war kühl, kaum mehr als zehn Grad. Er wünschte, er hätte einen wärmeren Mantel an. Aber die Landschaft lenkte ihn von der Kälte ab. Das Taxi setzte ihn in der malerischen Stadt Vaduz genau um halb drei Uhr vor dem Hotel Sonnenhof ab. Er bezahlte mit den Schweizer Franken, die er in Genf umgetauscht hatte, und gab ein großzügiges Trinkgeld dazu. Ein Page kam vom Hotel herbeigeeilt und kümmerte sich um sein Gepäck. Locke blieb einen Augenblick
stehen, um sich das Schloß anzusehen, das auf dem Berg hinter dem Hotel emporragte. Unterhalb des Schlosses, als dunkler Schatten im überall sich ausbreitenden Grün, lag das Restaurant Hauser, das schloß er aus der Beschreibung, die er bekommen hatte. In etwas mehr als einer Stunde sollte er dort Felderberg treffen. Die Seilbahn, die dort hinauffuhr, war von hier aus nicht zu sehen. Sie mußte hinter den Bäumen verborgen sein. Er hatte Zeit genug, sie zu finden. Der Portier hielt ihm die Tür auf. Er erhielt ein ebenso großzügiges Trinkgeld wie der Taxifahrer. Es war wichtig, daß sich seine Großzügigkeit, das viele Geld, über das er verfügte, rasch herumsprachen. Man würde sich gewiß nach ihm und über ihn erkundigen, würde ihn vielleicht sogar beobachten lassen. Der amerikanische Geschäftsmann Sam Babbit mußte unbedingt den Eindruck hinterlassen, den man von ihm erwartete. Auf seinem ganzen Weg von der Rezeption bis in seine Suite verteilte er weiterhin großzügig Trinkgelder. Zur Suite gehörte eine Sonnenterrasse, und Locke ließ sich erst einmal auf einen Stuhl fallen, das Gesicht der Sonne zugewandt. Es wehte ein kalter Wind, aber nach der langen, ermüdenden Reise brauchte er frische Luft. Es war jetzt fast drei Uhr, er hatte noch eine Stunde Zeit bis zu seinem Treffen mit Felderberg. Chris fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er hatte nicht nur eine anstrengende Reise hinter sich, er befand sich in einem fremden Land, unter falschem Namen, sollte eine Zusammenkunft mit einem mächtigen Mann haben, der auf irgendeine Weise Teil einer geheimnisvollen, noch undurchschaubaren Verschwörung war. Wenn ihm jemand das alles erzählt hätte, hätte er es vielleicht komisch gefunden; er fühlte sich elender als je zuvor. Auch Lübeck war bei diesem Felderberg gewesen. Und war jetzt tot . . . Er fröstelte, ging zurück ins Zimmer, schloß die Terrassentür, und ließ sich von der Hotelzentrale mit der Kontaktnummer verbinden, über die er Burgess erreichen konnte. Er hatte zuletzt von Genf aus angerufen. Onkel Colin ist beim Fischen . . . Alles, nur das nicht, betete Locke. »Hallo«, meldete sich die freundliche Frauenstimme mit dem starken britischen Akzent. »Ich möchte Onkel Colin sprechen.« »Wie ist Ihre Nummer, bitte?« Er gab ihr die Hotelnummer. »Sofort, Sir. Ich rufe zurück.« Er legte auf. Drei Minuten später rief sie zurück. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie. »Ich habe eine weitere Nachricht für Ihren Onkel.« »Bitte.«
»Richten Sie ihm aus, ich sei in Vaduz angekommen und alles schiene gut zu verlaufen. Ich werde mich mit Fei ..« »Nennen Sie bitte keine Namen«, unterbrach ihn die Frau. ». . . wie geplant treffen.« Er überlegte einen Augenblick. »Besteht die Möglichkeit, Colin direkt zu erreichen?« »Ich könnte ihm ausrichten, er möge Sie selbst unter der angegebenen Nummer anrufen. Doch das könnte ein Weilchen dauern.« Er mußte spätestens in einer halben Stunde das Hotel verlassen, um Felderberg zu treffen. »Lassen wir das vorerst. Ich rufe nach dem Treffen noch einmal an.« Er zögerte noch einmal. »Es geht ihm doch gut, oder?« »Alles in Ordnung, Sir. Er beachtet alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen.« »Sehr schön.« Er legte auf, etwas nagte an ihm. Was bedeutete das: alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen? Hieß das, jemand war hinter Burgess her? Der Gedanke, völlig auf sich allein gestellt zu sein, war ihm fast unerträglich. Burgess war jetzt seine einzige Hoffnung und sein einziger Verbündeter, falls ihm etwas zustieß . . . Er legte sich auf das Bett und zwang sich dazu, an etwas anderes zu denken. Die Sache in London hatte ihn gelehrt, daß Hotels keineswegs immer sichere Aufenthaltsorte waren. Auch hier war es schließlich jederzeit möglich, daß unerwartete Ereignisse dort oben auf dem Berg eine Rückkehr ins Hotel nicht erlaubten. Er mußte also Vorkehrungen treffen, daß er Kleider, Reiseutensilien und seinen Paß im Notfall von einem sicheren Ort wieder abholen konnte. Er konnte nicht alles bei sich tragen, aber hier im Hotelzimmer wollte er es auch nicht lassen. Angestrengt versuchte er sich an das zu erinnern, was man ihnen in den Lehrgängen beigebracht hatte. Immer wieder hatte man es ihnen eingehämmert: Wenn du dich verbergen mußt, halte dich an öffentlichen Orten auf, dort, wo ständig Menschen sind. Das beste sind Bahnhöfe, Busstationen, Flughäfen. Benutze ein Schließfach. Der Bahnhof von Vaduz. Bestimmt waren dort Schließfächer. Er zog sich um und packte zwei Kleidergarnituren zum Wechseln, Toiletteartikel, seinen Paß, und für alle Fälle, einige Utensilien zur Tarnung und Verkleidung, die ihm Burgess besorgt hatte, zusammen. Es waren noch vierzig Minuten bis zum vereinbarten Treffen mit Felderberg. Er ließ sich ein Taxi rufen und fuhr zum Bahnhof, wo er den Fahrer warten ließ. Im Bahnhof gab es eine ganze Wand mit Schließfächern. Allerdings mußte man sich die Schlüssel an einem Schalter holen, wo man eine Vorauszahlung zu
leisten hatte. Das war schlecht. Es bedeutete, daß man sich möglicherweise Aufmerksamkeit und Beobachtung aussetzte. Er zögerte. Andererseits war das Schließfach wichtig und auch ein gewisses Risiko wert. Ein Fach kostete fünfzehn Franken pro Tag. Man bekam keinen Schlüssel, sondern eine Karte, gegen die ein stets anwesender Beamter das Schließfach auf Verlangen öffnete, nachdem die Gebühren bezahlt waren. Umständlicher als das übliche Schlüssel-MünzenSystem, doch da er keine andere Wahl hatte, mußte er es in Kauf nehmen, wie es war. Das Taxi brachte ihn bis zur Seilbahn, die auf den Berg führte. Er kam eine Viertelstunde vor dem Treffen an der Station an. Die Skisaison war zu Ende, deshalb herrschte wenig Betrieb. Es waren zwei Beamte da, einer, der die Fahrkarten an die wenigen Touristen verkaufte, die Vaduz aus der Vogelperspektive betrachten wollten, ein anderer, der ihnen in die kleinen grünen Kabinen half. Locke bekam eine für sich allein. Die Tür verschloß sich automatisch. Die Kabine glitt aufwärts. Die Kabel quietschten leicht. Die Kabine ruckelte etwas, wenn die Rollen über die Stützmasten fuhren. Auf halbem Wege war das Restaurant Hauser bereits gut erkennbar. Es war gar nicht groß, aber hochherrschaftlich. Wie eine kleinere Nachbildung des darüber liegenden Schlosses. Es mochte einst als Marstall oder Gästehaus für das Schloß gedient haben. In den sechziger Jahren hatte man es zum Restaurant umgebaut, um so aus dem blühenden Tourismus besser Nutzen ziehen zu können. Von der Bergstation der Seilbahn führte ein Fußweg zum Restaurant. Er wollte gerade losgehen, als ein Mann ihn ansprach, der von zwei anderen flankiert wurde. »Mr. Babbit?« »Ja? « Der Mann hatte eisblaue Augen, welliges blondes Haar und einen Nacken, der so breit wie sein Kopf war. »Wir sind hier, um Sie zu Ihrem Treffen mit Mr. Felderberg abzuholen. Sind Sie allein?« Er warf einen Blick auf die Kabine der Seilbahn. »So war es abgemacht.« »Wir möchten nur sicher gehen, Vorsichtsmaßnahmen, Sie verstehen doch?« »Gewiß.« Der Mann schien unter einer gewissen Anspannung zu stehen, stellte Locke fest. Als sei er augenblicklich sprungbereit. Er lächelte nicht, sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Irgendwie kam er Locke bekannt vor, und erst als sie schon am Restaurant angekommen waren, wußte er warum. Vor zwanzig Jahren, bei den Lehrgängen auf der Akademie, war er buchstäblich Hunderten dieser Typen
begegnet: eiskalt, mit der Fähigkeit und Bereitschaft, ohne Zögern zu töten. Dieser Felderberg ging offensichtlich keinerlei Risiko ein. Der Blonde geleitete ihn ins Haus. Dort herrschte dämmriges Licht, es war kaum besucht, doch Einrichtung und Stil waren beeindruckend. Man hatte hier den Versuch gemacht, mit dicken, schweren Holztischen und offenen Kaminen einen Landgasthof aus dem 17. Jahrhundert nachzubilden. In der Mitte des Erdgeschosses war eine gewaltige Bar, in Regalen standen dort riesige Krüge mit dem Wappen von Liechtenstein. Nur wenige Restauranttische waren besetzt, und auch an der Bar saßen nur drei Personen. Ein Mann, der dort saß, mit dichtem Haar, sah aus, als sei er Amerikaner. Er begegnete seinem Blick kurz im Vorübergehen. Irgend etwas veranlaßte Chris, sich noch einmal nach ihm umzudrehen, aber der Mann hatte sich bereits wieder seinem Bierkrug zugewandt. »Hier entlang bitte«, sagte der gesichtslose Blonde. Locke folgte ihm. Hinter ihnen bildeten die beiden Begleiter den Abschluß. Sie kamen in einen langen Korridor, wo vor einer schweren Holztüre mit Messingklopfer zwei weitere Leibwächter standen. »Wir müssen Sie durchsuchen«, sagte der Blonde. Er wurde nach verborgenen Waffen abgetastet. Dann hob der Blonde den schweren Türklopfer und schlug ihn an. Danach öffnete er sofort, ohne zu warten, und ließ Locke eintreten. »Vielen Dank, Peale«, sagte jemand. Er stand dem legendären Felderberg gegenüber. Hinter ihm schloß sich die Tür. Sie waren allein. Felderberg erhob sich vom Tisch und trat näher, um Locke zu begrüßen. Sie trafen sich auf halbem Wege. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Babbit.« »Ganz meinerseits.« Er nahm die ausgestreckte Hand. Die Hand war kalt und feucht, Felderberg war dick, hatte ein fleischiges Gesicht und ein Dreifachkinn. Sein dunkelblauer Maßanzug war teuer und erstklassig, das wenige Haar, das er noch besaß, war quer über den Kopf gezogen, um die kahlen Stellen zu verdecken und es fülliger aussehen zu lassen. Am auffallendsten an seinem Gesicht war der dicke Schnurrbart; nicht zuletzt deshalb, weil er rötlich schimmerte. Felderbergs Atem ging schwer und hörbar durch die Nase. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Zusammenkunft«, sagte Locke.
»Keine Ursache. Aber setzen wir uns doch.« »Ich meine, ich weiß, wie knapp Ihre Zeit ist. Ich weiß das zu schätzen.« Wie aufs Stichwort zog Felderberg seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf, während sie sich zum Tisch begaben. »Etwas Zeit habe ich, Mr. Babbit. In der Tat aber ist sie knapp. Überall herrscht Wirtschaftsaufschwung und der bringt es mit sich, daß viel Kapital transferiert werden muß.« Eine interessante Ausführung, dachte Locke. Sie setzten sich einander gegenüber. »Wie ich bereits sagte«, erklärte Felderberg schließlich geschäftsmäßig, »ist meine Zeit knapp. Sie sind darum sicher einverstanden, wenn wir auf Formalitäten verzichten. Nur soviel: mein linker Fuß steht im Augenblick auf einem Druckknopf. Sobald ich darauf drücke, leuchtet draußen ein Signal auf und ruft meine Leute auf den Plan. Sie werden dafür bezahlt, daß sie in solchen Fällen ebenso rasch, wie nachdrücklich, wie unauffällig reagieren.« »Ich verstehe.« »Das glaube ich nicht, Mr. Babbit. Sehen Sie, in meinem Geschäft sind Vorsichtsmaßnahmen unerläßlich. Die persönliche Sicherheit steht über allem. Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen. Und wenn Ihre Antwort mich nicht befriedigt, trete ich auf diesen Knopf und dann werden meine Leibwächter sich um Sie kümmern.« Locke hörte Furcht in Felderbergs Stimme. Dessen Augen bohrten sich in die seinen. »Wer sind Sie?« »Sam . . .« »Nicht doch. Sie heißen nicht Sam Babbit und Ihre Anwesenheit hier hat nichts mit finanziellen Transaktionen zu tun, wie man mich glauben machen wollte.« Locke war wie gelähmt. Die Sache war aufgeflogen. Es war sinnlos, damit fortzufahren. Es gelang ihm ein Lächeln. »Ich gratuliere Ihnen zu ihrem feinen Gespür.« »Mit Gespür hat das weniger zu tun«, sagte Felderberg. »Ich habe sie im Hotel beobachten lassen. Ihre großzügige Verteilung von Trinkgeld war eindrucksvoll, doch kein Mann in der Position, die zu haben Sie vorgeben, würde seine Hotelrechnung bar
bezahlen. Sie haben nicht eine einzige Kreditkarte in Ihrer Brieftasche, wie mir Peale bei Ihrem Eintreten signalisiert hat. Meine Klienten pflegen die stapelweise mit sich herumzutragen. Außerdem haben Sie auf dem Weg hierher am Bahnhof angehalten.« Locke machte eine anerkennende Geste. »Ihre Gründlichkeit ist beeindruckend.« »Ich habe viele Feinde. Es wäre nicht das erste Mal, daß man mir einen Killer auf den Hals hetzt.« »Für einen solchen halten Sie mich aber nicht.« Felderberg zuckte die Achseln. »Mein Fuß steht nach wie vor auf dem Alarmknopf«, sagte er. »Aber, nun ja, ich bin eigentlich nicht der Meinung, daß Sie Gewalt im Sinn haben. Ihre Tarnung war dünn, reichlich billig. Killer kommen mit makellosen Referenzen und ganzen Bergen von Empfehlungen. Peale erkennt sie auf Anhieb, er hat einen Blick dafür und wird spielend mit ihnen fertig.« »Das bezweifle ich nicht.« »Jeder einzelne Ihrer Schritte hat mir verraten, daß Sie es nicht auf mein Leben abgesehen haben. Das fängt schon bei der seltsamen Vereinbarung für dieses Treffen an.« »Warum haben Sie mich dann überhaupt empfangen?« »Neugier, wahrscheinlich. Da ich wußte, daß Sie nicht von meinen Feinden angeheuert sein konnten, blieb die Frage, wer sie tatsächlich sind und was Sie wollen. Exakter ausgedrückt, welche verzweifelte Situation Sie zu mir führte.« »Verzweifelte Situation . . . Das trifft es ziemlich gut.« »Wer sind Sie?« »Mein Name ist Christopher Locke, und Sie haben in einem Punkt absolut recht: ich bin kein professioneller Killer. Ich war mal College-Professor. Was ich im Augenblick bin, weiß ich, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, selbst nicht so genau.« »Aber der Anlaß Ihres Besuches ist auch nicht der, daß Sie sich von mir über die Finanzierung Ihrer Pension beraten lassen wollen?« »Was meine Pension betrifft, so habe ich im Augenblick nur die Sorge, ob ich überhaupt jemals in ihren Genuß komme. Ein Freund von mir hat es nicht geschafft. Ein gewisser Alvin Lübeck. Er war erst vor kurzem bei Ihnen, soweit ich informiert bin.« Fslderbergs schweres Atmen hörte mit einem Schlag auf. Er leckte sich über die Lippen. Sie zuckten ganz deutlich.
»Ich bin hier, um herauszufinden, was Sie ihm gesagt haben«, fuhr Locke fort. »In wessen Auftrag?« »Sie meinen, an wessen Leine ich laufe? Das ist doch der Ausdruck, den Spione benutzen, nicht? Na, spielt keine Rolle. Die Antwort ist: in niemandes Auftrag. Ich bin in eigener Verantwortung hier. Es gab noch jemanden, bis vor zwei Tagen, aber auch er wurde getötet. Und soviel ich inzwischen mitbekommen habe, gibt es eine Menge Leute, denen nichts lieber wäre, als wenn ich möglichst bald der Dritte im Bunde wäre.« Felderberg atmete noch schwerer als vorher. Über seinen Brauen standen feine Schweißperlen. »Wer war dieser andere?« »Ein Geheimdienstmann vom US-Außenministerium, der einmal mein bester Freund war. Er hatte mich gebeten, Lübecks Spur nachzugehen. Er war der Ansicht, ich könnte am besten und unauffälligsten herauskriegen, was Lübeck entdeckt hat. Und ich habe tatsächlich offenbar eine sehr heiße Spur erwischt. Allerdings hat sie ihn das Leben gekostet. Doch zuvor hat er mich an Sie verwiesen. Ein englischer Kollege von ihm hat die Arrangements für meinen Besuch hier bei Ihnen getroffen.« »Erzählen Sie mir alles. Von Anfang an.« Locke gab sich Mühe und brauchte dazu zwanzig Minuten. Gelegentlich mußte er fast lachen, so unglaublich war seine Geschichte. »Sehen Sie vielleicht einen Sinn dahinter?« fragte er zum Schluß. »Doch«, antwortete Felderberg. »Einigermaßen, ja. Ausreichend jedenfalls. Ich weiß zwar nichts von diesen spanischsprechenden Leuten, die versucht haben, Sie zu töten, aber die anderen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, die, die Sie und Ihr Freund >Gegner< nennen, das sind die, derentwegen Lübeck zu mir kam.« »Und wie kam er zu Ihnen?« »Durch Peale, interessanterweise. Sie hatten einige Male zusammengearbeitet, ehe Peale in meine Dienste trat. Er hatte sich mit diesem kolumbianischen Diplomaten getroffen, der Sie zu erschießen versuchte. Das Treffen hatte bestimmte Fragen aufgeworfen, die ich glaubte, beantworten zu können.« »Und? Konnten Sie sie tatsächlich beantworten?« »Einigermaßen.« Felderberg beugte sich vor und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. »Dieser Diplomat war der Delegierte seines Landes bei der Welthungerkonferenz. Als er erfuhr, daß
Lübeck mit einer Routine-Sicherheitsüberprüfung beauftragt war, nahm er Kontakt mit ihm auf und behauptete, er wisse, daß es eine sehr mächtige Person oder Gruppe gebe, die diese Konferenz zu sabotieren versuche . . . und daß diese Leute durch rücksichtslose Manipulationen praktisch Eigentümer von ganz Kolumbien geworden waren.« »Eines ganzen Landes?« »Was überrascht Sie daran? Woraus besteht ein Land, wenn nicht aus Grund und Boden? Und Grund und Boden kann man kaufen — wenn man den angemessenen Preis dafür zahlt. Glauben Sie etwa, in Ihrem Land verhält sich das anders? Sehen Sie sich doch einmal an, wohin heutzutage das ganze arabische Geld fließt! Bei weitem die größten Investitionen der heutigen Zeit betreffen Grundbesitz; das ist das einzige Mittel, sich vor Rezessionen und Inflationen zu schützen.« »Dieser Alvaradejo muß Lübeck aber auf etwas gebracht haben, was sehr viel bedeutsamer ist als lediglich geschickte Geldanlage.« »Ganz zweifellos. Was ich über diese mächtige Gruppe sagte, die buchstäblich in den Besitz Kolumbiens gelangt ist, war vielleicht ein wenig irreführend, Mr. Locke. Dieser Mann oder diese Leute sind ausschließlich an großen Flächen kultivierbaren Landes interessiert, also an Land, das für landwirtschaftliche Nutzung geeignet, besser noch: ideal dafür ist. Das dürfte alles in allem freilich nicht mehr als zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent des gesamten Staatsgebiets ausmachen. Andererseits ist fast das gesamte restliche Gebiet unfruchtbar. Anders augedrückt, wer diese fünfundzwanzig Prozent besitzt, kontrolliert das ganze Land.« »Wieso?« »Weil sich dort die gesamte Entwicklung, die ganze Industrie und aller Reichtum konzentrieren wird.« Locke nickte verstehend. »Und Alvaradejo hat Lübeck zu Ihnen geschickt, weil Sie der Makler waren, der alle diese Aufkäufe kolumbianischen Landes für diese unbekannte . . . Gruppe getätigt hat.« »Ja, das stimmt«, bestätigte Felderberg. »Aber es ging keineswegs nur um Kolumbien. Es ist kein Fleckchen nutzbaren Landes in ganz Südamerika davon ausgenommen. Es geht immer nach dem gleichen Schema vor sich. Es werden genaue Pläne ausgearbeitet, wie man bestimmte Fonds in Milliarden höhe umleiten kann, bis durch endloses Herumjonglieren niemand mehr durchblickt und niemand mehr erkennen kann, daß eine einzige Gruppe oder sogar nur ein einziger Mann am Ende die ausschließliche Kontrolle darüber hat.
Diese Art Arbeit und Geschäfte betreibe ich bereits seit zwanzig Jahren, Mr. Locke. Nur habe selbst ich noch nie zuvor etwas Derartiges erlebt wie hier. In einer solch gigantischen Größenordnung.« Es klopfte leise an die Tür. »Der Kellner«, sagte Felderberg und rief: »Ja, bitte?« Die Tür öffnete sich. An Peales Seite erschien der Kellner. »Etwas Wein vor dem Essen, Mr. Locke?« »Ja, gern.« Felderberg bestellte einen bestimmten Wein, der Ober notierte es auf einem Block und verschwand wieder. Locke spürte, wie seine Magennerven zu zittern begannen. Es war die Erregung. Ganz allmählich ahnte er, worum es bei der ganzen Sache, in der er längst drinsteckte, eigentlich ging. »Der gemeinsame Nenner bei all den Ländern und Geschäften, für die und bei denen Sie tätig wurden, war also landwirtschaftlich nutzbares Land?« faßte er zusammen. »Ein großer Teil davon ist noch völlig unentwickelt, verstehen Sie? In südamerikanischen Ländern ist es ziemlich selten, daß sinnvoll und vernünftig mit dem Boden umgegangen wird. Aber das Potential ist da. Hunderte von Bodenproben aus hunderten von Regionen in vielleicht einem Dutzend Länder sind über meinen Schreibtisch gegangen. Das ist auch ein gemeinsamer Nenner.« »Kurz, Ihr Kunde kauft im großen Stil Farmland zusammen.« »So ist es.« Felderberg sah ihn eindringlich an. »Das interessiert Sie sichtlich sehr.« »Charney war der Ansicht, daß der Schlüssel zu der ganzen Geschichte Nahrungsmittel seien, wie er sagte. Und Lübeck ebenfalls.« Felderberg nickte und lehnte sich zurück. »Und das alles begann mit Alvaradejo. Er nahm Kontakt mit Lübeck auf und schickte ihn zu mir.« Weil er fürchtete, jemand kaufe sein ganzes Land auf?« »Nicht ganz«, sagte Felderberg. »Er fürchtete, jemand sei dabei, es zu vernichten.« »Zerstören?« sagte Locke ungläubig. Felderbergs Wort hatte ihn wie ein Schlag in den Magen getroffen. »Nicht das Land an sich, meine ich. Alvaradejos Befürchtungen gründeten sich auf die Überzeugung, mein — Klient würde sein Volk zu Sklaven machen und es von dem Land vertreiben, das es für sein eigenes hielt, und alle Menschen dort der Armut preisgeben.«"
»Es paßt aber«, sagte Locke. »Ich habe Ihnen von San Sebastian erzählt.« »Was paßt da?« wollte Felderberg wissen. »Entschuldigen Sie meine Unverblümtheit, aber in meiner Position ist die Kontrolle über die Lage allesentscheidend. Und in diesem Falle habe ich sie offenbar verloren. Sie haben mir ein Massaker beschrieben, bei dem Hunderte von Menschen ohne jeden Grund abgeschlachtet worden sind.« »Es sei denn, der Grund war, daß sie etwas wußten oder gesehen haben.« »Etwas, auf das auch Ihr Freund Lübeck stieß . . .« »Die Felder«, sagte Locke. »Damit muß es zu tun haben. Er war über irgend etwas, das er dort sah, entsetzt. Und die Leute dieser Stadt wußten es ebenfalls, waren Augenzeugen, so wie Lübeck dann einer wurde.« »Ja, aber was sahen und wußten sie und Lübeck?« »Ihr Klient tat irgend etwas auf diesem Land. Vielleicht testete er eine neue Waffe oder etwas dergleichen.« »Die dann in diesem Riesenfeuer verbrannt wurde, meinen Sie?« »Nein, das Feuer verbrannte nur die Spuren davon, so scheint es jedenfalls.« Felderberg schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Das Land ist der entscheidende Faktor im Zusammenhang mit Nahrung.« »Aber man rottet doch nicht eine ganze Stadt wegen Nahrungsmitteln aus.« »Es sei denn, Mr. Locke, daß irgend etwas diese Stadt zur Miniaturausgabe einer sehr viel größeren Szenerie machte.« »Wie beispielsweise ganz Südamerika, vielleicht . . .?« »Oder zumindest die Teile davon, die mein Klient aufgekauft hat.« Locke dachte eine Weile nach. »War Lübeck bereits zu einem dieser Schlüsse gekommen!« »Nein. Er hatte, als ich mit ihm zusammentraf, lediglich ganz vage Ahnungen. Das Massaker von San Sebastian war ja noch nicht geschehen. Ich bin ganz sicher, daß dieses Ereignis irgendwie der Schlüssel zu allem ist.« »Zusammen mit dem Stichwort Nahrungsmittel.« Locke strich sich über das Gesicht. »Aber was für eine Rolle spielt es? Wo liegt die Bedeutung für Ihren Klienten?« Felderberg sah ihn mit einiger Nachsicht an. »Hören Sie, die Hälfte der Menschheit geht jeden Abend hungrig zu Bett! Für die
meisten dieser Menschen ist das ein Dauerzustand. Ein so mächtiges Land wie die Sowjetunion kann es sich leisten, seine Versorgungsprobleme durch teure Käufe der Überschüsse aus den USA zu lösen. Bei der Ölkrise lösten die Ingenieure in den Industriestaaten das Problem einfach dadurch, daß sie Wagen mit niedrigerem Benzinverbrauch bauten. Aber was machen arme Länder, wenn sie unter Nahrungsmittelknappheit zu leiden haben? Die Mägen der Menschen lassen sich nicht auf geringeren Verbrauch umkonstruieren.« »Sie sagten wenn, nicht falls.« »Ja, sicher. Weil die Eskalation unvermeidlich ist. Ein paar schlechte Ernten der Sowjets hintereinander, Kriege in den Agrarländern, ein Wechsel des politischen Klimas in Ihrem Land — jede einzelne oder alle dieser Ursachen, können eine Krise auslösen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Mit einer weltweiten Revolution als Folge. Und deren Folgen wären schlicht katastrophal.« »Das begreife ich nicht . . .« »Natürlich nicht!« rief Felderberg mit rotem Gesicht. »Niemand begreift es. Das ist ja das Problem! Glauben Sie wirklich, Plutonium sei der wichtigste und wertvollste Rohstoff der Welt? Oder Gold? Oder Diamanten? Oder das Öl? Pah! Der bei weitem wichtigste und wertvollste >Rohstoff< für die Welt sind die Nahrungsmittel, so sieht es aus. Und gerade auf diesem Sektor wird, mehr als auf jedem anderen, Mißwirtschaft getrieben, und die Planung ist geradezu miserabel. Sehen Sie sich Ihr eigenes Land an! Was da für ein sinnloser Raubbau mit dem Land getrieben wird! Immer noch mehr und noch schnellere Rekordernten! Gigantische Monokultur. Der Boden wird so ausgelaugt, daß er sich nicht mehr erholen kann. Die Natur braucht ein Jahrtausend, um zweieinhalb Zentimeter Humusschicht zu bilden. Die sogenannte moderne Landwirtschaftstechnik der USA aber verbraucht mit ihren exzessiven Anbaumethoden eben diese Humusschicht in atemraübenden fünfundvierzig Jahren! Wundert es Sie da, daß mein Klient mit einer solchen Krise rechnet?« »Aber glauben Sie tatsächlich, daß man mit dem Aufkauf von Brachland eine landwirtschaftliche Macht begründen kann?« Felderberg zog die Stirn in Falten. »Ich gebe zu, es erklärt nicht die Geheimnistuerei bei dieser ganzen Aktion, auch nicht diese
Hast. Landwirtschaftliche Produkte, vor allem, wenn sie hochwertig und zum Export geeignet sein sollen, brauchen Monate und Jahre intensiver Arbeit. Die Motive meiner Klienten sind mir in der Tat auch nicht klar. Hinter was sind sie her? Was lohnt die Investition von Milliarden?« Sie blickten einander an. Keiner wußte eine Antwort. Schließlich sagte Locke: »Vielleicht würde es weiterhelfen, wenn ich erführe, wer dieser — Klient ist.« Felderberg stieß ein kurzes Lachen aus, aber darin war keine Spur von Amüsiertheit. »Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß diese Leute angesichts einer Situation wie dieser ihre wirkliche Identität preisgeben würden? Nicht doch! Das spielt sich selbstverständlich über Mittelsmänner ab; meistens Anwälte und Briefkastenfirmen. Aber alles spielte sich stets völlig korrekt ab. Außerdem sind meine Provisionen stets prompt und ordnungsgemäß bezahlt worden. Es gab also keinerlei Notwendigkeit für weitere Fragen oder Überlegungen.« »Aber die scheinen Sie sich doch zu stellen, Mr. Felderberg. Sie haben heute mit großem Aufwand Nachforschungen über mich angestellt. Deshalb muß ich doch annehmen, daß das bei Ihnen zum normalen Geschäftsgebaren gehört.« »In gewissen Grenzen. Die Leute, die hinter diesem südamerikanischen Landkauf und damit wohl auch hinter dem Massaker von San Sebastian stehen, haben ihrerseits keine Mühen gescheut, ihre Identität zu verbergen.« Er überlegte etwas. »Es gibt natürlich gewisse Hinweise und Spuren. Wenig genug, zusammengenommen; aber immerhin . . .« »Ja? « »Beispielsweise sind alle meine Provisionen von der Wiener Bank bezahlt worden.« »Aha.« »Ja, aber so besonders aufschlußreich ist das auch noch nicht. Allenfalls, daß die Wiener Bank dafür bekannt ist, eine besondere Bereitschaft für ganz außergewöhnlich große Finanzierungsgeschäfte zu besitzen.« »Eigentlich werden solche Geschäfte in der Regel doch von Schweizer Banken abgewickelt, nicht wahr?« »Nicht mehr so ausschließlich wie früher mal. Politischer Druck aus dem Ausland hat die Schweizer Banken gezwungen, restriktiver zu werden und nicht mehr so absolut verschwiegen, wie das einst ihrem Ruf entsprach. Folglich müssen sich Leute, die sehr große
Finanztransaktionen planen, heute anderswo umsehen.« Felderberg räusperte sich und drehte sein Weinglas zwischen den Fingern. »Damals wurde offenbar, seit wann mein Klient sein Konto bei der Wiener Bank schon unterhielt. Ich besaß die Kontonummer und wußte, es mußte Mittel und Wege geben, mit ihrer Hilfe die Informationen zu bekommen, die ich haben wollte.« »Die meisten Banken treffen aber doch Vorkehrungen, um eben so etwas zu verhindern.« »Bis zu einem gewissen Grad, sicher. Aber irgendwo müssen sie sich alle den Erfordernissen beugen, die besonders die Computerisierung mit sich brachte. Die Kontonummern muß ten für den Computer kodifiziert werden. Es hat viel Zeit und Mühe gekostet, aber die sorgfältige Analyse der Kontonummer und der Vergleich mit anderen, deren Inhaber mir bekannt waren, führten schließlich dazu, daß wir herausbekamen, daß das fragliche Konto seit siebzehn Jahren existiert.« »Und besteht irgendeine Chance, auch den Kontoinhaber zu ermitteln?« »Jedenfalls nicht auf Wegen, die mir zur Verfügung stehen.« »Das heißt also, alles, was wir als einigermaßen sicher annehmen können, ist: Ihr Klient sitzt in Wien, wenigstens in Österreich, und zwar schon seit längerer Zeit.« »Noch etwas. Ein Memorandum, das ich erhielt, enthielt noch Spuren eines Stempels. Zwar nur die obere Hälfte und kaum noch sichtbar. Etwa so, als sei der eigentliche Stempel von einer darunterliegenden Seite nur leicht durchgeschlagen. Ich ließ das vergrößern und verstärken und habe eigens Detektive aus Zürich darauf angesetzt, es zu entziffern. Mit dem Ergebnis, daß die Spur bis in meine Nähe führte: zu einer Firma Sanii in Schaan. Das ist keine zwanzig Kilometer von hier entfernt.« »Und was macht die Firma Sanii?« »High-Tech, Erprobung und Entwicklung.« »Waffen?« »Nehme ich an.« »Damit wären wir wieder in San Sebastian und bei dem, was die Leute dort sahen, ehe sie umgebracht wurden.« »Nein, nein, das dort hatte nichts mit irgendeiner Waffe zu tun, Mr. Locke. Das Stichwort ist >Nahrungsmittel<, da bin ich ganz sicher. Die Firma Sanii gehört zu einer amerikanischen Gruppe. Obwohl die Besitzverhältnisse natürlich verdeckt sein können, ebenso wie Kapital.« »Aber das deutet doch darauf hin, daß die Eigner dieser Firma auch hinter der Sache in San Sebastian stecken. Alles deutet darauf hin. Und, daß es sich um eine gewaltige Macht handelt.«
»Das wohl ja«, stimmte Felderberg zu. »Ich habe zuerst auch gedacht, es müsse sich um die Machenschaften eines Entwicklungslandes mit starken Agrarinteressen handeln. Doch das paßte nicht. Alles wurde viel zu sorgfältig geheim gehalten. Ein Land oder eine Regierung könnten unmöglich derart verdeckt agieren. Das ist allein von der Technik und von den Abläufen her ganz undenkbar. Außerdem ist auch die Sache mit diesem Konto bei der Wiener Bank ein ganz klarer Hinweis in eine andere Richtung. Nein, nein. Mein Klient hat nichts mit irgendeiner Behörde oder Regierung zu tun. Hier geht es um rein privatwirtschaftliche Interessen.« »Die Verschwörung oder der Plan, was immer es ist, existiert jedenfalls nach wie vor.« »Herauszufinden, wer dahinter steckt, würde auch schon bedeuten, diese Verschwörung oder diesen Plan aufzudecken«, meinte Felderberg und zögerte ein wenig, ehe er sagte: »Ich habe Ihren Freund Lübeck zum >Zwerg< geschickt.« »Zu wem?« »Ich mäkle große Finanztransaktionen, Mr. Locke. Der >Zwerg< mäkelt große Informationstransaktionen. Er unterhält Spione und Informanten in der ganzen Welt. Jeder offizielle Geheimdienst kann ihn um dieses Netz nur beneiden. Seine Provisionen sind oft noch höher als die meinen, und das will etwas heißen. Nichts von dieser Größenordnung könnte seiner Aufmerksamkeit entgehen.« »Wieso haben Sie nicht schon selbst Kontakt zu ihm aufgenommen?« Felderberg lächelte. »Das gehört zu den Dingen, die man nicht tut, Mr. Locke. Unsere Interessen sind oft entgegengesetzter Natur. Wir haben Respekt voreinander, aber wir sind wohl kaum Verbündete. Nein, nein, das geht nicht. Sie müssen sich schon selbst um diesen Kontakt bemühen und den >Zwerg< aufsuchen. Genau wie Lübeck. Er lebt in Florenz. Sie finden ihn dort . . .« Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Der Ober kam mit einer Flasche Wein, hinter ihm trat Peale ein und ließ den Ober mit verschränkten Armen keine Sekunde aus den Augen, als er die Flasche öffnete, Felderberg den Korken zur Begutachtung reichte, der genießerisch daran schnüffelte, und auf Felderbergs Nicken hin den Probeschluck eingoß. Diesen kostete jedoch nicht etwa Felderberg selbst, sondern Peale. Als Peale nickte, konnte der Ober endlich die Gläser füllen. »So ist Peale also auch Vorkoster?« fragte Locke. Felderberg blieb ganz ernst. »Ja. Für den Fall, daß man einen Giftanschlag auf mich plant.« »O Gott!«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein, Mr. Locke. Und ich verlange Loyalität von meinen Leuten. Ihre Stellungen sind zweifellos mit Risiken verbunden. Aber dafür werden sie auch besonders gut bezahlt.« Er nippte an seinem Wein und fuhr fort: »Also, wie ich sagte, Sie erreichen den >Zwerg< über . . .« Aber er sprach nicht weiter. Sein Gesicht verkrampfte sich, aus seinem offenen Mund floß Speichel und er rang nach Luft. Locke war aufgesprungen, um ihm zu Hilfe zu kommen, als ein heftiger Krampf Felderberg zurückwarf, dann fiel er vornüber auf den Tisch, stieß das Weinglas um, dessen Inhalt sich über das Tischtuch ergoß, und das den Korken der Flasche traf, der danach durch die Luft flog. Der Korken! Locke begriff sofort. Es mußte ein Gift gewesen sein, das er eingeatmet hatte! Er hob Felderbergs Kopf. Er war dunkelrot angelaufen. Seine Augen quollen hervor, die Adern traten heraus. Der ganze Leib wurde von krampfartigen Zuckungen geschüttelt, und er rang verzweifelt nach Atem. Eine Lähmung überfiel ihn, er hörte auf zu atmen, die Augen starr geöffnet. Er schüttelte den Finanzier ungläubig, um ihn wieder zu sich zu bringen, und überlegte, ob er ihm durch eine Mund-zuMundBeatmung helfen könnte, als der Körper sich ein letztes Mal aufbäumte. Damit löste er den Alarmknopf unter seinem Fuß aus. Locke bog ihm eben den Kopf zurück, um ihn zu beatmen, da flog die Tür auf und Peale kam hereingestürzt, hinter ihm einer der Leibwächter. Es blieb nicht einmal Zeit für den Versuch einer Erklärung. Der blonde Hüne hatte ihn bereits mit so kräftigem Griff gefaßt, wie er es nie zuvor erlebt hatte, und schleuderte ihn gegen die Wand. Er knallte direkt mit dem Kopf gegen die Mauer. Er sah Sterne, in seinem Schädel blitzte etwas auf, und dann wurde es dunkel. Zeit verging, ob Minuten oder Sekunden, wußte er nicht. Er nahm Männer wahr, die im Raum standen. »Er ist tot«, sagte eine Stimme neben Felderberg. »Scheiße, verdammte«, zischte Peale und kam auf Locke zu, der spürte, wie er hochgezogen wurde. Noch immer drehte sich alles um ihn. »Wer hat Sie geschickt?« herrschte ihn Peale an. »Von wem sind Sie angeheuert worden?« Locke machte den Mund auf, aber er brachte kein Wort hervor. Peale schlug ihm so heftig die Faust in den Leib, daß er sich vor Schmerz,
der in ihm förmlich explodierte, zusammenkrümmte. Er bekam keine Luft mehr und spürte, wie ihm die Galle hochkam. Ein heftiger Brechreiz würgte ihn. Er krümmte sich zusammen, aber im gleichen Moment riß ihm Peale den Kopf hoch und hieb ihm noch einmal die Faust in den Magen. »Für wen Sie arbeiten, will ich wissen!« schrie er. »Nicht . . . ich«, stammelte Locke. Er suchte verzweifelt mit den Augen nach dem Korken, dem Beweisstück. »Der Korken, der Kellner . . .« Peale schlug erneut zu, diesmal war es ein genauer Kinnhaken. Locke ging kunstgerecht k. o. »Schafft ihn hinunter ins Büro«, kommandierte Peale. »Er wird reden, das garantiere ich, und wenn ich es aus ihm herausprügeln muß.« Zwei seiner Leute zogen Locke hoch und schleppten ihn weg. Er versuchte zu stehen, aber seine Knie waren weich. »Ich war das nicht«, murmelte er und bemühte sich, die Worte zu artikulieren, und wußte nicht, ob irgendwer sie überhaupt hörte. »Ihr müßt euch den Kellner schnappen. Der Kellner war es.« »Was murmelt er?« fragte Peale. »Nicht zu verstehen«, sagte einer der beiden, die ihn schleppten. »Wir haben genug Zeit«, sagte Peale. »Eine Ewigkeit. Zuerst müssen wir uns um den Chef kümmern.« Er sagte es voll echten Bedauerns, aber auch mit der verwunderten Bitterkeit eines Mannes, der an Niederlagen nicht gewöhnt ist. Irgendwer mußte dafür büßen, dachte Locke. Vermutlich er selbst. Peale war einer von denen, die alles persönlich nahmen. Er spürte, daß er wieder stehen konnte, fand es aber klüger, das nicht zu zeigen und sich weiter schleppen zu lassen. Vielleicht ergab sich eine Chance zur Flucht. Sie hielten ihn dicht an sich. Er konnte ihre Pistolen unter den Jacken spüren. Es war also nicht allein damit getan, sie zu überrumpeln und sich von ihnen loszureißen. Er mußte sie auch entwaffnen. Sie schleppten ihn quer durch das Restaurant, ohne sich um die verwunderten Blicke der wenigen Gäste des Hauses zu kümmern. Der Mann mit dem dichten Haar saß noch immer an der Bar. Ihre Augen trafen sich. Er hätte schwören können, in denen des Mannes mehr als nur Überraschung und Verblüffung zu erkennen. Dann waren sie draußen auf dem Pfad hinunter zur Seilbahn. Er mußte schnell handeln. In der engen Gondel war sein winziger Vorteil vorbei. Denke nach!
Nein, denke nicht nach. Es kostet zu viel Zeit. Erinnere dich an das Training. Das Training . . . Reagiere! Handle! Packe jede Gelegenheit beim Schöpf und nutze sie zu deinen Gunsten.
Sie hatten ihn bereits an der Einstiegplattform, um auf die nächste Gondel zu warten. Ein einziger Mann saß an der Sperre. Dann ging alles blitzschnell. Er war nicht sicher, was der Auslöser war. Vielleicht die sich nähernde Gondel. Ein Stoß und dem Mann rechts von ihm krachte der Stahlrahmen der Gondel an den Hinterkopf, daß er zur Mauer taumelte. Fast gleichzeitig preßte er sich gegen seinen Bewacher zur Linken und blockierte ihm so den Arm, daß er die Waffe nicht aus dem Halfter ziehen konnte. Aber der reagierte blitzartig und im nächsten Augenblick fuhr ihm seine linke Faust in den Magen. Während Locke sich krümmte, sich sofort aber wieder aufrichtete, griff er nach seiner Pistole. Doch Locke nutzte diesen Augenblick blitzschnell, fuhr ihm mit der Hand ins Gesicht und stieß ihn rückwärts, so daß er gegen einen Pfosten der Plattform knallte. Der Mann versuchte, sich aufzurappeln und sich sofort wieder auf ihn zu stürzen, aber Locke fing ihn ab und schmetterte ihn noch einmal gegen den Pfosten, an dem nun Blut herabrann. Mit einem dritten Hieb schickte er den Mann endgültig zu Boden. Er bückte sich zu ihm hinunter und entwand ihm die Pistole, um sich sofort nach hinten abzusichern. Der andere aber lehnte noch immer bewußtlos, halb aufrecht an der Mauer. Seine Augen waren geschlossen. Dafür war der Mann an der Sperre bereits dabei, eine ganze Reihe roter Alarmknöpfe zu drücken. Locke war mit einem Satz bei ihm, schlug ihm die Hände weg und hielt ihm den Revolver an die Schläfe. »Ist das Ihre einzige Möglichkeit, mit der Talstation in Verbindung zu treten?« Dem Mann stand der Angstschweiß im Gesicht. Er nickte nach einigem Zögern. »Können Sie die Bahn von hier oben aus anhalten?« Der Mann nickte wieder. »Mit dem Notschalter. D-dem hier.« Er deutete auf einen Sicherungskasten an der Wand über dem ersten k. o.-gegangenen Wächter. Locke riß den Hörer aus der Telefonzelle. Dann ging er zum Sicherungskasten, aus dem zwei Kabel führten. Er riß sie mit einem Ruck heraus. Er warf einen schnellen Blick auf den Pfad vom Restaurant, auf dem Peale und seine übrigen Leute jeden Augenblick erscheinen konnten. Er mußte weg hier.
Er ließ den verdatterten Techniker stehen, setzte sich in die nächste Gondel, die vorbeikam, und schloß die Tür. Auf der Fahrt ins Tal sah er nach hinten. Der Techniker lief den Pfad hinauf zum Restaurant. Peale und seine Leute waren immer noch nicht auf der Plattform erschienen, die aus seinem Blickfeld verschwand, als die Gondel über den nächsten Tragemasten rollte und steil nach unten sank. Er atmete tief durch und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er war entkommen, gut, aber noch war er nicht in Sicherheit. Er würde fortan überhaupt nicht mehr sicher sein. Sein Gespräch mit dem Finanzier Felderberg war am Ende noch sehr instruktiv verlaufen, gewiß. Doch würde es ihm jetzt noch gelingen, sein Wissen Burgess oder sonstwem mitzuteilen? Irgend jemand in Österreich war die Schlüsselfigur, und von ihm oder ihnen aus gab es eine Verbindung zu dieser Firma Sanii in Schaan. Dann war da noch der sogenannte Zwerg, ein Makler in Informationen mit Sitz in Florenz; der Mann, der möglicherweise über die letzten noch fehlenden Puzzleteile verfügte. Er mußte ihn finden, und zwar bald. Zuvor allerdings war noch in Schaan zu recherchieren — jetzt gleich, sobald er aus der Seilbahn ausstieg und Vaduz verließ. Die Bahn war auf halbem Weg ins Tal. Er blickte noch einmal zurück und glaubte auf der Plattform oben Gestalten auszumachen. Stiegen sie in eine Gondel? Wenn schon. Mehr als fünfzehn Meter lagen zwischen jeder Gondel und er war ihnen fünfzehn Gondeln voraus, vielleicht sogar zwanzig. Das konnte niemand einholen, zumal er die Möglichkeit unterbunden hatte, die Bahn von oben aus anzuhalten oder in die Talstation hinunter zu telefonieren. Falls nicht — falls nicht vom Restaurant aus ins Tal telefoniert worden war. Er prüfte nach, ob die Pistole in seinem Gürtel noch da war. Er war froh, daß er nicht gezwungen gewesen war, sie zu benutzen. Er wollte, sobald er unten war, Burgess unter seiner Kontaktnummer in Falmouth anrufen. Damit er nicht zu lange an einem Ort bleiben mußte, würde er der jungen Frau sagen, Burgess solle auf seinen nächsten Anruf eine halbe Stunde später warten. Diese professionelle Art, die Dinge zu handhaben, würde Burgess zweifellos gutheißen. Hinter dem nächsten Trägermast nach einer Zwischenstation blieb die Bahn plötzlich mit einem Ruck stehen.
Angst durchfuhr Locke. Er konnte nur hoffen, daß dies ein normaler Vorgang war, ein kurzes Anhalten. Doch die Bahn setzte sich nicht wieder in Bewegung. Die Gondeln schwangen im Wind. Locke sah nach oben zur Bergstation. Auf einem Grasweg, der genau unter der Seilbahn verlief, kamen drei Gestalten talwärts gelaufen. Also hatte es doch eine Möglichkeit gegeben, die Bahn zu stoppen oder zur Talstation zu telefonieren. Sie hatten ihn in der Falle. Er hing hier in der Luft als bequeme Zielscheibe. Drei zweifellos gute Schützen waren unterwegs. Er schätzte die Höhe seiner Gondel über dem Boden. Mehr als fünfzehn Meter. Mindestens. Keine Chance. Dann fiel es ihm ein. Sie hatten das dutzende Male geübt, damals, bei den Übungen in der Akademie. An Seilen, die zwischen Bäumen oder über Wasserläufe gespannt waren. Er hatte zwar nicht die nötige Ausrüstung dafür, aber . . . Einen Gürtel hatte er. Der Gürtel, ja. Er schnallte den Gürtel auf und zog ihn aus den Schlaufen, dann nahm er ihn zwischen die Zähne, öffnete die Tür der Gondel, stellte sich in die Türöffnung und schaukelte die Gondel in Fahrtrichtung. Er war nicht weit vom nächsten Trägermast entfernt. Schließlich bekam er, als die Gondel fast wie eine Schiffschaukel auf dem Rummelplatz schwang, eine der Streben zu fassen und hangelte sich hinüber zum Mast, wo er sich festhielt und sich erst einmal umsah. Die Verfolger oben waren auf etwa hundert Meter herangekommen. Einer blieb stehen und zielte mit einer Waffe. Locke dachte und wußte nicht, was zuerst kam, der Knall oder das Splittern des Holzes, als die Kugel dicht neben seinem Kopf im Mast einschlug? Jetzt galt es keine Zeit zu verlieren. Er warf den Ledergürtel über das Seil und wickelte sich die beiden Enden fest um die Hände. Dann stieß er sich, so kraftvoll es nur ging, ab. Er war in keiner Weise darauf gefaßt gewesen, daß er so schnell abwärts gleiten würde, wie es nun der Fall war. Der Wind pfiff ihm nur so um die Ohren. Viel zu rasch kam die nächste Gondel auf ihn zu. Er versuchte abzubremsen, es bestand keine Chance. Er streckte die Beine nach vorne, um den Aufprall abzufangen. Aber er knallte trotzdem heftig gegen die Gondel. Er rang nach Atem, zog sich dann auf das Dach der Gondel hoch, während ihm von unten die Kugeln um die Ohren pfiffen, dann
legte er auf der Talseite dieser Gondel den Gürtel wieder über das Seil, um bis zur nächsten zu rutschen. Diesmal stieß er sich nicht so heftig ab und versuchte, die Geschwindigkeit von vorneherein zu drosseln, um nicht ein zweites Mal krachend gegen die Gondel zu prallen. Es ging mit Gewichtsverlagerungen und regulierenden Bewegungen verhältnismäßig gut. Die zweite Gondel überkletterte er fast schon routiniert und bei der folgenden ging es noch besser. Er hatte noch acht Gondeln vor sich. Peale und seine Leute liefen unten inzwischen weiter, aber er vermochte jetzt den Abstand zu halten. Als nur noch drei Gondeln übrig waren, und der Abstand zum Boden etwa sieben Meter betrug, konnte er kaum noch. Das Hängen an dem Ledergürtel hatte nicht nur viel Kraft gekostet, so daß er sich inzwischen kaum noch zu halten vermochte, seine Hände waren zudem aufgeschürft und schweißnaß, so daß er sich schon deshalb nicht mehr sehr sicher festhalten konnte. Er konnte es aber auch nicht riskieren, eine Pause zu machen, oder auch nur langsamer zu werden. Er hatte nicht einmal die Zeit, sich die Hände trockenzuwischen. Die Verfolger waren zu nahe, von ihren Kugeln ganz zu schweigen. Nach der letzten Gondel folgte noch eine längere, etwa vierzig Meter lange Strecke, die langsam abflachte, ehe die Gondeln auf die Plattform der Talstation fuhren. Er versuchte, genug Schwung zu behalten, um diese ganze Strecke noch zu gleiten, aber er spürte, wie er langsamer wurde. Und er war auch mit seiner Kraft am Ende. Fünfzehn Meter vor der Einfahrt in die Talstation, etwa sechs Meter über dem Boden, rutschte er endgültig ab, der Gürtel entglitt ihm, als sei er geölt. Er versuchte sofort sich abzurollen, wie er es einst gelernt hatte, als er nach dem Sturz den Boden erreichte. Trotzdem knickte ihm ein Fuß ein und er rollte den Hügel hinunter auf die Talstation zu. Zum Glück warteten dort kaum Touristen. Der Himmel hatte sich inzwischen bewölkt. Schließlich blieb er liegen und versuchte, auf die Füße zu kommen, mußte aber wegen des verstauchten Knöchels, der verteufelt weh tat, hinken. Er humpelte eilig los, stolperte und fiel, rappelte sich erneut hoch und blickte sich um. Sie waren bis auf fünfzig Meter herangekommen. Er lief, so schnell es unter den Umständen ging. Wieder pfiffen ihm
Kugeln um die Ohren, sie hatten ihn fast, er wandte sich um und feuerte einige Schüsse nach hinten ab. Die drei Verfolger stoben auseinander und gingen in Deckung. Er mußte nun rasch handeln, um seine Chance zu nützen. Er rannte um das Gebäude der Talstation herum auf den Vorplatz. Gebe Gott, daß da ein Taxi stand'! Er rannte um die Ecke. Aber sogleich pfiffen ihm wieder Kugeln um die Ohren. Tatsächlich fuhr gerade ein frustrierter Taxifahrer auf Kundensuche langsam an der Talstation vorbei. »He!« schrie Locke, »hierher!« und rannte auf das Taxi zu, während er seine letzten Reserven mobilisierte. Das Taxi rollte noch einige Meter weiter, ehe die Bremslichter endlich angingen. Locke erreichte die Tür, als auf der anderen Seite Peale und seine beiden Gorillas eben um die Ecke bogen. Er warf sich hinein, ehe sie auf ihn anlegen konnten, und schrie: »Los! Weg hier!« Der Fahrer hatte noch nicht begriffen, was vor sich ging. Ein verrückter Tourist. Von denen gab es viele. »Wohin?« fragte er und trat aufs Gas. »Nur raus aus diesem Alptraum«, war Lockes erste Versuchung zu antworten. Statt dessen sagte er einfach nur: »Zum Bahnhof.« Er stieg zwar am Bahnhof aus, aber er ging nicht hinein. Felderberg hatte gewußt, daß er dort gewesen war und etwas deponiert hatte. Also wußte Peale es auch, denn von ihm hatte es Felderberg erst erfahren. Er wurde zweifellos auch jetzt beobachtet. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Auf der anderen Seite stand ein Taxi. Andere Automarke, andere Taxifirma, andere Farbe. Es stand vorne in einer Reihe wartender Taxis. Er humpelte hinüber und stieg ein. »Fahren Sie einfach eine Weile herum«, sagte er und reichte zehn Franken nach vorne. Der Fahrer brummte etwas, was sich zustimmend anhörte. Locke lehnte sich ganz in eine Ecke und machte sich so klein wie möglich, um nicht gesehen, auf keinen Fall aber erkannt zu werden. Sein Knöchel schmerzte heftig und schwoll an. Doch es war klar, daß die Verletzung harmlos war. Es konnte nichts gebrochen sein. Er versuchte noch einmal, die Informationen Felderbergs zu durchdenken. Es gab kaum noch einen Zweifel darüber, daß sich
die ganze Affäre wirklich um Nahrungsmittel drehte. Jemand - oder eine Gruppe - kaufte in ungeheurem Ausmaß landwirtschaftlich nutzbares Land in Südamerika auf. Aus einem Grund, über den Lübeck in San Sebastian gestolpert war. Die Hintermänner, wer immer sie waren, saßen in Östereich, und irgendwie war die High-Tech-Fabrik der Firma Sana in Schaan in die Geschichte verwickelt. Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem . . . Charneys Worte klangen immer prophetischer. Felderberg war auf überaus raffinierte Weise mit einem vergifteten Korken umgebracht worden, hatte ihm freilich noch Lübecks nächste Station mitteilen können: den »Zwerg« in Florenz. Ihn selbst, Locke, hatte man dazu benutzt, in London Alvaradejo aus dem Weg zu räumen, ihn dann aber bis zu Felderberg »entkommen« lassen, um dann auch diesen zu beseitigen. Jetzt warteten sie zweifellos darauf, daß er sie nach Florenz zu diesem »Zwerg« führte . . . Er ließ sich zum nächsten Cafe fahren, um von dort aus zu telefonieren. Er mußte sich mit Burgess besprechen. »Wie lange dauert es, bis Sie Ihren Onkel ans Telefon bekommen?« fragte er, als sich'seine Kontaktnummer meldete. »Eine halbe Stunde, vielleicht auch etwas mehr.« »Eine halbe Stunde, mehr nicht. Sagen Sie, es ist dringend. Ich rufe zurück. Sagen Sie ihm, er soll vorsichtig sein. Es ist äußerst dringend.« Er verließ das Cafe mit einem Eiswürfel in der Hand, den er sich hatte geben lassen. Er drückte sich wieder in die Ecke des Taxis, ließ weiterfahren, und preßte das Eis gegen den geschwollenen Knöchel. »Fahren Sie ein wenig in Vaduz und der Umgebung herum«, sagte er dem Fahrer. »Und versuchen Sie, keine Straße zweimal zu fahren.« »Das ist bei uns in Vaduz ein bißchen schwierig«, sagte der Taxifahrer. Das Eis milderte die Schmerzen etwas, er konnte besser überlegen. Er mußte zum Bahnhof zurück, um an seinen Paß zu kommen und Burgess noch einmal anzurufen. Doch Peale hatte inzwischen mit Sicherheit überall seine Leute postiert. Ein Auslandsgespräch von einer offenen Telefonzelle aus war jedoch völlig ausgeschlossen. Er mußte versuchen, sich die nächste
halbe Stunde einfach herumfahren zu lassen, um dann Burgess wieder von einem Lokal aus anzurufen. Danach konnte er versuchen, zur lebhaftesten Zeit am späten Nachmittag, wenn schon nicht ungesehen, so jedenfalls inmitten der Menge, unbehelligt in den Bahnhof zu gelangen. Draußen begann es bereits zu dämmern, die ersten Autos schalteten die Scheinwerfer ein. Wenn er zum Bahnhof zurückkam, war es wahrscheinlich bereits dunkel, was ebenfalls günstig für ihn wäre. Hätte er nicht unbedingt seinen Paß gebraucht, wäre es am einfachsten gewesen, mit dem Taxi gleich nach Schaan zu fahren. Doch sein Plan, der am frühen Nachmittag noch sehr umsichtig zu sein schien, erwies sich nun als überaus kompliziert. Er schalt sich selbst deswegen. Zu ändern war freilich nichts mehr. Der Fahrer hatte die Stadt inzwischen verlassen. Locke ließ ihn an einem Berggasthof, an dem sie vorbeikamen, anhalten. Er sah abgelegen genug aus, um ein Telefonat von hier aus riskieren zu können. Die halbe Stunde, nach der er wieder anrufen wollte, war nahezu um. Er ging hinein. An der Rezeption saß eine ältere Frau. »Ein Zimmer, der Herr?« fragte sie hoffnungsvoll. »Wie sind die Preise?« fragte er dagegen. »Wir haben einen günstigen Dreitagetarif für hundertzwan-zig Franken.« Er zog einen Fünziger aus der Tasche. »-Hier, ich zahle dies für ein paar Minuten. Ich brauche nur für kurze Zeit ein Zimmer. Ich muß in Ruhe telefonieren. Ich gebe Ihnen weitere fünfzig, wenn Sie mir ein direktes Amt geben, davon können sie die Kosten des Gesprächs abziehen.« »Bitte sehr«, sagte die Frau. »Sie sind Gast des Hauses.« Sie reichte ihm einen Zimmerschlüssel. »Zimmer elf, direkt dort den Gang hinunter.« Er ging in sein Zimmer und verschloß es. Er ließ sich das Amt geben und brauchte fast fünf Minuten, bis er durchkam. Die bekannte Frauenstimme meldete sich. »Ist er jetzt da?« fragte er ohne weitere Umschweife. »Augenblick.« Burgess meldete sich. »Hallo, junger Freund. Was ist los, was ist so dringend?« »Felderberg ist tot.«
»O Gott . . . nicht auch er von Ihrer Hand, hoffe ich.« » Nein. Aber seine Gorillas sind dieser Meinung. Sie jagen mich.« Er berichtete kurz. »Korken, sagen Sie? Verdammt, die Burschen sind clever,, das muß man ihnen lassen. Wir müssen uns vorsehen!« »Aber ich habe eine Adresse. Die Firma Sanü direkt hier in Schaan.« »Kenne ich nicht.« »High-Tech. Vermutlich alles mögliche mit Zukunftstechnologie. Irgendwie hängen die in der Sache mit drin. Ich bin sicher, es gibt dort Interessantes zu erfahren.« »Um so riskanter und gefährlicher wird es sein, dort aufzutauchen. Ich würde an Ihrer Stelle da wegbleiben, Junge.« »Nun bin ich schon mal da.« »Denken Sie an Ihre Familie, Junge. Man soll sein Glück nicht überstrapazieren. Alte Spielerweisheit.« »Charney hatte recht, wissen Sie. Diese Geschichte ist eine mächtige Sache. Viel größer, als wir uns träumen ließen. Wenn ich jetzt aussteige, kriegen sie mich zwar morgen nicht. Aber was ist übermorgen oder nächsten Monat? Irgendwann kriegen sie mich doch. Solange werden sie mich jagen. Da kann ich genausogut auch jetzt dranbleiben.« Er dachte einen Augenblick nach. »Sie haben auch Felderberg gekriegt. Und der war sehr viel besser geschützt als ich es jemals sein kann. Meine einzige Chance ist, diese Sache aufzudecken. Und ich bin auch der einzige, der das kann, so wie es jetzt aussieht.« Nun, als er es so direkt und unumwunden aussprach, erkannte er, wie exponiert er tatsächlich war und in welchem Maße hier seine ganze Existenz auf dem Spiel stand. Ein Zittern der Erregung durchlief ihn und ließ sich schwer unter Kontrolle bringen. »Hat Ihnen das Gespräch mit Felderberg etwas genutzt?« »Eine Menge. Er hat bestätigt, daß sich alles um das Stichwort Nahrungsmittel dreht. In Südamerika werden Riesenflächen Bauernland aufgekauft.« »In Kolumbien?« fragte Burgess. »Bei San Sebastian?« »Richtig. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt uns aber immerhin einen Einstieg, wo wir anfangen können. Felderberg hat Lübeck nach Florenz geschickt, zu jemandem, der unter dem Namen Der Zwerg bekannt ist. Haben Sie schon mal von dem Mann gehört?«
»Sie machen mir Spaß, junger Freund«, sagte Burgess. »Das ist etwa so, als fragten Sie einen Amerikaner, ob er schon mal was von seinem Präsidenten gehört hat. Hätte MI-6 ihn auf der Gehaltsliste, hätten wir keinen einzigen Überläufer verloren. Der Mann ist die Informationsquelle schlechthin. Was er nicht weiß, existiert nicht.« »Warum nennt man ihn den Zwerg?« »Weil er einer ist, genau deshalb. Er ist kaum einen Meter dreißig groß, und das meiste davon ist Kopf. Und was für ejn Kopf! Auf seine Art der beste der Welt. So leicht werden Sie ihn nicht finden. Ich kann Ihnen dabei auch nicht viel helfen.« »Ich finde ihn. Ich bin sehr vorsichtig.« »Selbst wenn Sie vorsichtig sind, wird das auf keinen Fall reichen. Nicht gegen die Leute, die Sie aufgeschreckt haben und die sich nun für Sie interessieren.« Burgess atmete tief. »Hören Sie zu, ich gebe Ihnen jetzt die Adresse des Mädchens hier, das unsere Gespräche vermittelt. Wenn mir irgend etwas zustößt und Sie sich absetzen müssen, dann flüchten Sie zu ihr. Dort sind Sie sicher. Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand?« »Nein. Aber ich präge es mir ein. Sagen Sie es mir.« »Zwo-Null-Fünf Longfield in Falmouth, Cornwall. Haben Sie das?« »Alles klar. Ich rufe morgen wieder an.« »Viel Glück, Junge.« »Augenblick, warten Sie. Was ist mit meiner Familie?« »Ein Freund von mir in Amerika wird sie informieren. Telefonieren ist zu riskant. Etwas Gefährlicheres könnte man im Augenblick gar nicht tun. Bei Ihren Leuten ist alles in Ordnung, glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.« Burgess hatte aufgelegt. Locke widerstand nur mit Mühe dem schier übermächtigen Bedürfnis, seine Frau trotzdem auf der Stelle anzurufen. Gleichfalls nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, sich auf das bequeme Bett sinken zu lassen und die Augen zu schließen, um einfach nur zu schlafen. Er war müde. Seinem Fußknöchel ging es zwar inzwischen schon wieder etwas besser, aber eigentlich vor allem deshalb, weil er sich darauf konzentrierte, die Schmerzen zu ignorieren. Er blieb noch eine ganze Weile unschlüssig vor dem Telefon sitzen, ehe er sich losriß, aufstand, und das Zimmer wieder verließ. Er bezahlte die versprochenen fünfzig Franken und ging zu seinem Taxi zurück. Es war inzwischen dunkel geworden. Die Nacht schien sehr
klar zu werden. Das Thermometer würde wohl stark fallen. Es war Zeit, zum Bahnhof zurückzukehren. Am Bahnhof angekommen, bezahlte er das Taxi und ging hinein. Jetzt herrschte Hochbetrieb. Wie es aussah, wartete bei den Schließfächern niemand auf ihn. Falls er beobachtet wurde, geschah es sehr verdeckt. Er kaufte sich eine Zeitung und setzte sich auf eine der Bänke im Wartesaal. Er hielt sich die Zeitung vor das Gesicht, so als lese er intensiv. Er brauchte Zeit, um sich zu orientieren und sicherzugehen, daß er nicht beobachtet wurde. Es war sinnlos, vorher etwas zu unternehmen. Ein Mann mit einer zerlesenen Zeitung setzte sich neben ihn. Ihre Blicke begegneten sich. Der andere war etwa fünfzig, sah unrasiert aus und lächelte. Locke kam plötzlich eine Idee. »Sprechen Sie englisch?« fragte er. »Aber natürlich«, sagte der Mann. Sein Akzent war schlicht grausam. »Wie meine Muttersprache. Yeees, Sir.« O Gott, dachte Locke. »Ich habe eine Bitte«, sagte er. »Wollen Sie sich etwas Geld verdienen?« »Wieviel?« fragte der Mann. »Hundert Franken.« »Was soll ich tun?« Sein Englisch war wirklich zum Steinerweichen. Locke griff in die Tasche, holte die Schließfachkarte und gab sie ihm. »Gehen Sie damit zum Schalter und sagen Sie, Sie wollen . . .« »Ja, ja«, sagte der Mann. »Ich weiß, wie das geht.« Er schien so etwas nicht zum ersten Mal zu machen. »Im Schließfach liegt ein kleines Bündel. Bringen Sie es mir zum Gleis 2.« Der nächste Zug nach Schaan, hatte er festgestellt, ging in einer Viertelstunde von dort ab. »Ist das alles?« Sein Englischgestammel war kaum noch zu ertragen. »Ja. Das und keine Fragen.« Der Mann nickte. »Und das Geld?« Locke gab ihm die hundert Franken. »Dann gehe ich jetzt«, sagte der. Mann und stand auf. Er sah Locke noch einmal an und blinzelte vertraulich. »Sie in Trabbel, wie?« »Ein klein wenig.« »Weib?« »Keine Fragen, habe ich gesagt.« Der Mann hob eine Hand des totalen Einverständnisses. »Ich verstehe schon. Sie sich verlassen — auf mich.« Er ging. Locke
stand auf und ging ruhig durch die Halle zum Gleis 2. Er versuchte, sich immer in der Menge zu halten und nicht aufzufallen. Als er am Eingang zu den Gleisen war, war sein Beauftragter mit dem Beamten gerade bei den Schließfächern angekommen. Im gleichen Moment, als der Beamte den Schlüssel eingesteckt hatte, waren beide wie aus dem Nichts von einer ganzen Schar Männer umringt. Der völlig verblüffte Beamte wurde weggedrängt, sein Bote zu Boden gestoßen und festgehalten. Er fing an laut zu schreien, aber sie schleppten ihn ebenso wie den Beamten schnell und entschlossen weg. Immerhin entstand Unruhe und neugierige Aufregung. Sie zu nutzen, war Lockes Chance. Er würde also nicht an seine Sachen und vor allem nicht an seinen Paß kommen. Aber immerhin konnte er entkommen. Selbst das war unter diesen Umständen etwas. Er wandte sich rasch um. Er stolperte fast über eine schmutzige Landstreicherin. Sie faßte ihn sogleich an der Jacke und streckte die Hand aus. »Haben Sie Geld, Amerikaner?« Locke schob sie ungeduldig zur Seite. Er mußte aufmerksam bleiben und feststellen, ob man ihn gesehen hatte. Die Alte ließ jedoch nicht los. »Sie haben doch Geld, Amerikaner. Geben Sie mir etwas. Ich habe Hunger.« Locke versuchte sich ungehalten, ihrer zu entledigen. Aber dann fühlte er, wie sich unter dem dicken Pullover der Alten etwas in seine Rippen drückte. »Keine Bewegung und kein Wort«, zischte sie, »oder Sie sind ein toter Mann.« Er versuchte etwas zu sagen, aber sie drückte ihm ihren Pistolenlauf noch fester in die Seite. »Gehen Sie ganz normal zum Bahnsteig«, meinte sie. Er folgte der Aufforderung widerstandslos und ging zum Bahnsteig, auf dem eine ganze Menge Leute auf den Zug nach Schaan warteten. Es hatte keinen Sinn, etwas zu unternehmen. Selbst wenn es gelänge, der Alten die Waffe durch eine rasche Bewegung wegzuschlagen, würde unvermeidlich Aufsehen entstehen, das konnte er im Augenblick am allerwenigsten gebrauchen. Noch war der Bahnhof sicherlich voll von Peales Leuten. »Versuchen Sie nicht stehenzubleiben«, sagte die Frau. Sie hielt sich weiterhin dicht bei ihm, und es bestand kein Zweifel daran, daß ihre Waffe nach wie vor auf ihn gerichtet war. Locke überlegte verwirrt, wer sie wohl sein mochte, vor allem, von wem sie kam. Zu Felderbergs Leuten gehörte sie gewiß nicht, sonst hätte sie ihn wohl nicht zum Zug geführt, sondern zurück in den Bahnhof gebracht.
Sie dirigierte ihn an der wartenden Menge vorbei und in einen Tunnel mit einem fünfsprachigen Schild am Eingang: KEIN DURCHGANG FÜR REISENDE. Er war nur sehr schwach und in unregelmäßigen Abständen von einigen nackten Glühbirnen beleuchtet, und feucht. Jetzt war es klar, die Frau hinter ihm führte ihn an die berühmte »abgelegene Stelle«, um ihn dort zu erledigen. Doch er wagte nicht, etwas zu unternehmen, solange sie noch in Hörweite des Bahnsteigs waren. Die Frau in der Pennerverkleidung hinter ihm ging langsamer und suchte nach einer geeigneten Stelle. Das war der Augenblick. Er warf sich herum und schlug als erstes die Mündung ihrer Waffe zur Seite. Ein heftiger Ruck und der Lauf riß durch das brüchige Material des alten Sweaters. Mit der anderen Hand war er bereits an ihrer Kehle. Sie wich aus, versuchte ihre Waffe wieder in den Griff zu bekommen und biß ihn im nächsten Augenblick in die Hand. Er riß den Mund auf, konnte den Schmerzensschrei aber eben noch unterdrücken, der das unliebsame Aufsehen, welches er unter allen Umständen vermeiden mußte, doch noch erregt hätte. Sie ließ nicht los, sondern biß noch fester zu und versuchte gleichzeitig, ihm mit der freien Hand das Gesicht zu zerkratzen. Er versuchte sich zu befreien, indem er sich seitwärts gegen die Mauer warf, aber das hatte vor allem den Effekt, daß ihm ihre Fingernägel buchstäblich Furchen ins Gesicht zogen. Er konnte mit der linken Hand kurz noch einmal den Lauf ihrer Waffe festhalten und wegdrücken. Ein Schuß löste sich, prallte am Betonboden ab und spritzte Schmutz und Steinpartikel hoch. Locke riß seine Hand aus dem Biß der Frau los und schlug sie ihr hart ins Gesicht. Sie stöhnte auf, taumelte etwas, warf sich aber sofort wieder auf ihn. Sie versuchte mit ihren Fingernägeln seine Augen zu zerkratzen. Es gelang ihm, mit einer Seitwärtsbewegung auszuweichen und ihre Hand umzudrehen. Sie konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, trat mit ihren Beinen nach ihm. Er sprang zur Seite, doch ihre Schuhspitzen hatten ihn bereits schmerzhaft an den Fesseln getroffen. Er versuchte noch immer verzweifelt, ihr die unter dem Sweater verborgene Pistole zu entreißen. Doch die Frau war zäh und verblüffend kräftig. Ihr Griff war eisern. In ihren Augen funkelte Zorn. Er ließ ihre Finger los, nachdem er sie ihr umgebogen hatte, und schlug ihr die Faust direkt auf die Nase. Wieder schrie sie vor Schmerz auf, Blut floß ihr aus den Nasenlöchern. Ihre Hand schoß
nach vorne und nach unten und ein wilder Schmerz in den Leisten durchfuhr ihn im nächsten Moment. Es raubte ihm buchstäblich den Atem. Er krümmte sich. Die Frau schrie wie wild und drückte, so stark sie konnte. Er versuchte ihre Hand wegzureißen, es ging nicht. Es tat entsetzlich weh. Als der Schmerz kaum noch zu ertragen war, verlieh er ihm so viel verzweifelte Kraft, daß er, sich wild aufbäumend, mit beiden übereinandergelegten Händen die Pistole durch ihren Pullover reißen konnte. Die Augen der Frau weiteten sich in entsetztem Erkennen. Sie versuchte die Situation zu retten, indem sie mit ihrer Hand in seiner Leiste noch heftiger zudrückte. Es gab nun keine Möglichkeit mehr, den wahnsinnigen Schmerzensschrei zu unterdrücken, den dieser so schamlose wie brutale Griff auslöste. Gleichzeitig riß er mit einer einzigen heftigen Bewegung die Pistole hoch und schlug sie ihr voll ins Gesicht. Sie flog aufstöhnend und blutend zur Seite. Locke sank selbst an der Wand zu Boden und war kaum noch bei Bewußtsein, so wild schmerzte es zwischen seinen Beinen. Er hatte das Gefühl, als habe sie ihm die Hoden zu Brei zerquetscht. Mit zitternden Händen hielt er die Pistole umklammert. Ihm wurde übel, er beugte sich vor und spuckte sich die Seele aus dem Leib. Es schmerzte, als sei er mitten entzwei gerissen worden. Die Frau versuchte das auszunutzen und sich, noch kniend, erneut auf ihn zu stürzen. Locke richtete die Waffe auf sie und entsicherte. Sie hielt inne. »Wer sind Sie?« stöhnte er atemlos. Er rappelte sich hoch. Sie spuckte nur nach ihm. »Ich werde sie ganz langsam erledigen«, drohte er. »Hier eine Kugel, dort eine. Ich habe Ihnen verdammt große Schmerzen zu verdanken.« Sie spuckte wieder. »Bastard! Sie haben anderen genug Schmerzen zugefügt.« »Was habe ich? Wovon sprechen Sie überhaupt?« »Sie schreien nach Rache! Alle die Kinder, die Sie umgebracht haben. Sie sind der Abschaum der Menschheit!« Jetzt begriff er. »Also zu den Leuten in London gehören Sie, die mich dort schon zu töten versucht haben.« Sie spuckte ihn ein drittes Mal an. »San Sebastian wird niemals vergessen werden. Ihr werdet alle dafür bezahlen!« Es donnerte im Tunnel. Ein Zug fuhr ein. »Also schießen Sie schon«, schrie sie. »Was spielt das für eine Rolle. Andere werden für mich kommen. Wir sind viele, und wir werden euch noch in der Hölle braten sehen!« Der Zug kam näher.
Die Frau richtete sich auf. Sie achtete nicht auf das Blut, das ihr über das Gesicht rann. Er ging auf sie zu. Sie wich zurück. »Wer seid ihr?« fragte Locke. »Sagen Sie mir doch, wer Sie schickt. Und für wen halten Sie mich? Bitte, sagen Sie es mir!« »Sie werden sterben! Rache für San Sebastian!« war ihre einzige Antwort. Der Zug donnerte näher. Seine Scheinwerfer erfaßten sie beide. Die Frau wandte sich um und lächelte. »Nein!!« schrie Locke, der begriff, was sie vor hatte. Er sprang vor, um sie zurückzureißen. »Nein, nein!!« Aber es war-zu spät. Die Frau stieß einen entsetzlichen Schrei aus und sprang direkt vor den Zug, der nun herangekommen war. Er donnerte vorbei, die Frau war verschwunden. Locke starrte auf den Fleck, wo sie eben noch gestanden hatte. Ihm wurde übel. Er beugte sich vor und erbrach sich wieder. Töten Sie mich. Es spielt keine Rolle. Wir sind viele, und wir sehen euch noch alle in der Hölle braten. Sie hatten ihm alle nach dem Leben getrachtet, weil sie ihn für einen von denen hielten, hinter denen er selbst her war. Damit war er, so verrückt es war, auf ihrer Seite. Nur wußten sie das nicht. Und er wußte nicht, wer sie waren. Wohin er sich auch wandte, fand er Puzzleteilchen, die nicht ins Bild paßten. Langsam und noch immer hinkend ging er zum Bahnsteig zurück. Es war Zeit für den Zug nach Schaan. Vielleicht fand er bei der Firma Sanii einige Antworten. Gegenüber dem Bahnhof von Schaan wartete Peale im Halbschatten eines Hauses. Der kleine Bahnhof hatte nur einen einzigen Ausgang. Er wußte also genau, wann sein Mann herauskommen würde. Er zog den Schalldämpfer an seiner Browning noch einmal fest und legte ihn, um ruhig und sicher zielen zu können, über seinen linken Unterarm, den er aufstützte. Er kniff ein Auge zu und zielte. Inzwischen wußte er, daß Locke nicht zu unterschätzen war. Von der Bandaufzeichnung seines Gespräches mit Felderberg wußte er auch, daß Locke zu Sanii nach Schaan fahren würde, über die Motive oder Absichten, die dahintersteckten, machte er sich weiter keine Gedanken. Der Mann hatte seinen Chef umgebracht und das genügte. Peale war noch keiner entkommen, und das würde sich nicht ändern, soviel stand für ihn fest. Er hatte die Mentalität eines Soldaten, fragte nicht nach dem Warum. Das Leben war einfacher so.
Aus dem Bahnhof kamen die ersten Leute. Er wartete. Vor kaum einer halben Stunde hatte er noch mit seinen Leuten in Vaduz gesprochen und von ihnen erfahren, daß Locke ihnen entkommen war. Damit hatte Peale fast gerechnet. Er umfaßte seine Pistole fester und duckte sich in der Dunkelheit. Dann kam Locke. Er sah sich suchend nach einem Taxi um. Im Augenblick war keines da, also mußte er gehen. Peale bemerkte, daß er humpelte. Gut. Das ermöglichte mehr als einen Schuß, falls es nötig werden sollte. Peale zielte. Der Finger lag am Abzug. Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Er sah die Silhouette einer Gestalt und sah etwas aufblitzen. Ein seltsames Zucken oder Kitzeln fuhr durch sein Handgelenk. Langes blondes Haar tanzte vor seinen Augen. Eine Frau! Er riß die Pistole hoch. Aber die Pistole war nicht mehr in seiner Hand. Es war nicht einmal eine . . . Hand da. Er starrte ungläubig hin und wußte plötzlich, daß das seltsame Gefühl der Schnitt einer rasiermesserscharfen Klinge gewesen war, die seine Hand mit einem einzigen Schnitt . . . Er schrie wie ein Wahnsinniger auf, als dieses blitzende Etwas bereits zum zweiten Mal auf ihn zukam und in seine Schulter oder seinen Hals oder . . . Er wußte sofort, daß dies der Tod war. Doch wenn, wollte er seine Mörderin mitnehmen. Er warf sich nach vorne. Nur um zu erkennen, daß sie zwei Messer hatte. In jeder Hand eines. KuMri-Klingen! Die Waffen der indischen Gurkas. Er stürzte und fiel direkt vor seine abgetrennte Hand, die dort lag und noch immer die Pistole umklammerte. Er riß die Waffe mit seiner verbliebenen Hand los und taumelte noch einmal hoch, brüllend, in Agonie und Schmerz. Doch da saßen ihm die beiden Kukhri-Klingen bereits in der Brust und rissen sie buchstäblich auf. Das Letzte, was er in seinem Leben sah, waren die Augen der Blondine. Es waren die härtesten und kältesten Augen, die er gesehen hatte. Die Konferenz begann mit Verspätung. Die meisten Teilnehmer waren darüber nicht glücklich. Sie waren von weither angereist und besonders darauf bedacht, daß ihre Abwesenheit in ihren Heimatorten auf keinen Fall bemerkt und registriert wurde. Sie waren aus allen Himmelsrichtungen gekommen. Ihr Ziel war das kleine österreichische Dorf Greifenstein an der Donau gewesen. Von dort aus waren sie abgeholt und auf einer schmalen Bergstraße zum nahegelegenen Schloß Kreuzenstein
hinaufgefahren worden. Dieses Schloß hatte die Frau, die den Vorsitz ihrer Runde führte, vor einigen Jahren gekauft und vollständig renovieren lassen. Das Schloß, eigentlich eine alte Burg, war das Symbol ihres Kreises geworden. Seine Türme und Zinnen erinnerte sie alle stets an die Länder, die sie repräsentierten, deren Zerstörung jedoch ihr Ziel war. Die Burg Kreuzenstein war achthundert Jahre alt und hatte in dieser ganzen Zeit nur ein einziges Mal neu aufgebaut werden müssen, nach der Zerstörung durch die Schweden im Dreißig jährigen Krieg. Die Burg hatte zahllosen Stürmen und Belagerungen getrotzt, hatte als Zuflucht vor dem Schwarzen Tod — der Beulenpest - gedient. Sie war im Zweiten Weltkrieg Kommandozentrale gewesen, als überall Bomben fielen, nur hier nicht. Die Mitglieder der Konferenz betrachteten das als göttliche Vorsehung. Die Wahl dieser Burg zu ihrem Hauptquartier war durchaus kein Zufall. An diesem Tag waren vier Personen, alle Mitglieder des Vorstandes, anwesend. Nur der britische Delegierte fehlte. Sie trafen sich im gewaltigen, hohen Burgsaal, der einst Königen und Fürsten für glanzvolle Feste zu Ehren ihrer königlichen Gäste gedient hatte. Der riesige Eichentisch in der Mitte, an dem alle hundert Delegierten der Gesellschaft Platz hatten, wurde auch jetzt benutzt, da die Dame, die nicht nur die Gastgeberin war, sondern auch das waghalsigste Projekt entworfen hatte, das sie je in Angriff genommen hatten, legte aus Gründen der Tradition großen Wert darauf. Sie hatten sich in gedämpftem Ton bereits etwa zwanzig Minuten lang — mit wachsender Ungeduld — unterhalten, als, draußen hinter den Fenstern ging die Sonne bereits unter, die große Flügeltür endlich aufging und Audra St.Clair ihren majestätischen Auftritt hatte. Die vier Herren erhoben sich, ebenso aus Höflichkeit wie aus Respekt. Audra St.Clair hatte die siebzig bereits überschritten, sah jedoch mindestens zwanzig Jahre jünger aus. Ihr silberweißes Haar war konservativ frisiert. Der graue Hut darüber paßte genau zu ihrem eleganten Tweedkostüm, das ihre sorgfältig in Form gehaltene Figur ausgezeichnet betonte. Ihr Gesicht war fast faltenlos. Sie sah aus, als verliehe die Macht ihr die Kraft, über Zeit und Alter zu triumphieren.
»Es gibt viel zu besprechen, meine Herren«, sagte sie, und nahm ihren Platz am Kopfende des Tisches ein. »Ich bitte um Entschuldigung für meine Verspätung. Aber eben ist noch ein Bericht von unserem Agenten eingegangen, den ich nach Liechtenstein geschickt habe, um das Chaos zu beseitigen, das Mr. Mandala dort leider angerichtet hat. Beginnen wir also am besten mit der Erörterung dieser ungeschickten Handlungsweise, die unsere Sicherheit erheblich gefährdet hat.« Mr. Mandala beugte sich vor. Er war von auffallend dunkler Gesichtsfarbe, als besitze er eine dauerhafte Sonnenbräune. Sein Haar war sorgfältig bis über die Ohrenspitzen frisiert. Seine langen Zähne blitzten makellos. Am auffallendsten aber waren seine schwarzen und stechenden Augen. »Ich habe mich, Madame, genau nach den Anweisungen gerichtet, das möchte ich doch klarstellen«, sagte er. »Ich sehe keinen Anlaß für Entschuldigungen.« »Die erwarte ich auch gar nicht«, sagte Frau St.Clair spitz. »Entschuldigungen sind für das Komitee bedeutungslos.« Mandala lehnte sich zurück. Er antwortete nicht darauf, aber es war unschwer zu erkennen, daß ihn das Mühe kostete. Er war es keineswegs gewöhnt, getadelt oder kritisiert zu werden. Es gab Männer und Frauen, die für sehr viel weniger als die scharfzüngigen Bemerkungen der alten Hexe mit ihrem Leben bezahlt hatte. Doch im Augenblick schien es ihm nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen. Seine Zeit würde kommen. Statt dessen setzte er sein charmantestes Lächeln auf, durch das er bereits zahllose Freunde gewonnen hatte, Einfluß — und Frauen. Damit demonstrierte er, daß er die Kritik der St.Clair akzeptierte. Sie fuhr fort: »Die Angelegenheit in San Sebastian war grobschlächtig und überzogen. Sie haben mit der Eliminierung dieser Stadt schlechthin alles gefährdet.« »Nun ja«, mischte sich der amerikanische Delegierte beschwichtigend ein. Er war ein silberhaariger Mann, der mit Hilfe des Komitees eine sehr hohe Stellung in der amerikanischen Regierung einnahm. »Immerhin lag es nur am völlig unerwarteten Auftauchen dieses amerikanischen Agenten, daß das Massaker zum Problem wurde.« »Tatsache ist jedenfalls«, sagte Frau St.Clair, »daß es geschehen ist und uns gezwungen hat, unsere ganze Strategie zu
ändern.« »Was jedoch nur nützlich sein konnte, alles in allem«, bemerkte der deutsche Delegierte Werenmauser, ein großer, bulliger Mann. »Dank San Sebastian kam dieser Locke ins Spiel. Und mit seiner Hilfe sind wir jetzt in der Lage, die Löcher zu stopfen, die sich auf unserem langen Weg gebildet haben.« »Und es hat uns«, sprang ihm der kraushaarige russische Delegierte Kresowlowski bei, »obendrein die Gelegenheit gegeben, unseren geheimnisvollen Feind erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Ein Feind, der sein Äußerstes tat, uns monatelang unser Unternehmen Südamerika zu erschweren.« »So von Angesicht zu Angesicht auch wieder nicht«, widersprach Audra St.Clair, »schließlich wissen wir nach wie vor nicht, um wen es sich handelt.« »Die Personalien des Mannes, den Ihr Agent in London zur Strecke brachte, können doch wohl erheblich dazu beitragen.« »Wie denn? Er hatte keinerlei Papiere bei sich. Absolut nichts. Seine Identität ist völlig unklar. Es gibt keine direkten Hinweise. Und seine Leiche wird uns auch nichts verraten, fürchte ich. Meine Herren, wenn uns überhaupt einer auf die Spur bringen oder sogar direkt zu unserem Gegner führen kann, dann dieser Locke.« Der Amerikaner wiegte nervös den Kopf. »Es ist aber ein sehr großes, vielleicht sogar zu großes Risiko, ihn am Leben zu lassen. Er ist längst zu gefährlich geworden, als daß wir in ihm weiterhin einen Vorteil sehen könnten.« »Nur keine Übertreibungen«, sagte Audra St.Clair wegwerfend. »Der Mann ist nach wie vor nichts weiter als eine Marionette.« Das flackernde Kerzenlicht tanzte über ihr Gesicht. »Wir können ihn nach wie vor nach Belieben lenken. Ich würde es für einen sehr großen Fehler halten, seine Marionettenschnüre jetzt schon durchzuschneiden.« Der Amerikaner schüttelte hartnäckig den Kopf. »Nein. Sie scheinen meine Lage nicht zu verstehen. Für die übrigen Mitglieder dieses Komitees ist es sehr viel einfacher, die Tatsache zu verbergen, daß sie dem Komitee angehören. Ich werde ständig überwacht. Allein meine Anwesenheit hier ist ein ungeheures Risiko. Wenn es Locke gelingt, sich unserer Kontrolle zu entziehen, bin ich der erste, der auffliegt.«
»Mr. van Dam«, sagte die Vorsitzende nun bereits einigermaßen ungeduldig und nicht ohne Schärfe, »ich fürchte eher, Sie sind derjenige, der nicht versteht. Dieser Locke ist das einzige Bindeglied zwischen uns und jenen nicht unbedeutenden Kräften, die allein imstande sein könnten, das Projekt Tantalus zu gefährden. Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als ihn beständig im Auge zu behalten. Um nämlich die Löcher, die er uns zeigt, zu stopfen. Wir haben die Chance, daß er uns am Ende sogar vielleicht auch direkt., zu unserem bislang unsichtbaren Feind führt.« »Und wo genau hält er sich im Augenblick auf, Madame, können Sie mir das auch sagen?« fragte van Dam seinerseits nicht ohne Schärfe zurück. »Ich werde Ihnen etwas sagen. Da gibt es beispielsweise einen Mann namens Calvin Roy im amerikanischen Außenministerium. Ein Mann mit einer Nase wie ein Bluthund. Er hat Lockes Einsatz gutgeheißen und genehmigt, und er könnte ihn früher oder später überraschend wieder aus dem Verkehr ziehen und ihn unserer Reichweite entziehen.« »Dann muß er sich allerdings sehr beeilen, Mr. van Dam. Die Operation Tantalus beginnt in genau acht Tagen. Mr. Kresowlowski, Ihr Bericht bitte.« Der Russe räusperte sich und schlug einen Aktendeckel auf, den er vor sich liegen hatte. »Die Produktion der Kanister wird im Laufe der Woche planmäßig abgeschlossen sein. Ihr Transport zum Ziel Alpha ist bereits in die Wege geleitet. Sie sind genau nach den Anweisungen Mr. Mandalas hergestellt.« Mandala ergänzte: »Alles erforderliche Material und Personal wird zum geplanten Zeitpunkt zuverlässig zur Verfügung stehen. Es läuft alles nach Plan, einschließlich der Vorbeu-gungs- und Abwehrmaßnahmen für den Fall vorzeitiger Entdeckung oder potentieller Gegenmaßnahmen. Ich habe für eine sehr sorgfältig ausgesuchte und bestens ausgerüstete Sicherheitsgruppe gesorgt. Es gibt keinerlei Probleme auf diesem Sektor.« »Wann sind nennenswerte Resultate zu erwarten?« fragte Frau St.Clair. Kresowlowski antwortete: »Auf Grund der Daten aus dem Experiment San Sebastian läßt sich sagen: nach etwa vier Tagen im Areal Maria, nach einer Woche in den Arealen Peter und Paul, nach zehn Tagen in Markus und Matthäus, und höchstens zwei Wochen in Lukas.« »Gut. Nun zu Mr. Werenmauser.« Der Deutsche rieb sich die dicken Wangen. »Auch bei mir ist alles in den Startlöchern. Die letzten Experimente laufen in diesen Tagen in
Schaan, um die optimale Verpackungsart zu ermitteln. Nach unserer Schätzung kann der Versand an die Adressen Delta, Gamma, Sigma und Zeta in zehn Tagen beginnen. Schwierigkeiten oder Komplikationen zeichnen sich keine ab.« »Was ist mit unserem Personal?« »Es empfiehlt sich, es solange nicht in Bewegung zu setzen, bis die ersten Auswirkungen von Tantalus in Amerika sichtbar geworden sind. Dann kann die entsprechende Verwirrung, das Chaos, das sich ergibt, eine günstige Ablenkung für die überraschende Einschleusung von Personal nach Südamerika sein, was normalerweise einige Aufregung verursachen und zu allerlei hartnäckigen Fragen führen würde. Es ist entscheidend, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem die vollen Auswirkungen von Tantalus offenkundig werden, alles definitiv etabliert ist und keine Macht der Erde mehr etwas dagegen unternehmen kann.« Audra St.Clair lehnte sich zurück. »Es scheint also, meine Herren, vom rein technischen Aspekt aus betrachtet, alles aufs beste zu laufen. Ich möchte mich deshalb jetzt noch besonders dem Thema Sicherheit zuwenden. Mr. Mandala, zu welchen Schlußfolgerungen sind Sie gekommen was unseren unsichtbaren Feind angeht?« »Er ist wohlorganisiert, wenn auch nicht sehr mächtig oder rein zahlenmäßig besonders stark«, antwortete Mandala präzise. Er gab sich kooperativ und bereitwillig. Wenn sein eigener Plan funktionieren sollte, durfte er auf keinen Fall den Arger oder sogar den Verdacht der alten Hexe auf sich lenken. »Es scheint, daß er nicht direkt Regierungen oder vergleichbare offizielle Körperschaften repräsentiert. Sonst hätte man versucht, uns direkt zu entlarven und sich nicht auf dieses läppische Katz-und-Maus-Spiel eingelassen.« »Es mag läppisch sein«, widersprach die Vorsitzende, »aber es hat sie immerhin näher an uns herangeführt, als es im Laufe einer ganzen Generation jeder anderen Gruppe gelang.« »Was das betrifft, so wird das bald geregelt sein. Und zwar könnte ich das genausogut auch ohne diesen Locke erledigen. Ich bin nach wie vor der Meinung, wir sollten ihn aus dem Verkehr ziehen, solange wir ihn noch unter Kontrolle haben.« »Das werden wir nicht«, sagte Frau St.Clair mit scharfer Stimme. »Locke bleibt solange am Leben, bis ich etwas anderes anordne.«
»Dann darf ich Sie darauf hinweisen, daß dies eine Verletzung Ihrer eigenen Grundsätze für die Sicherheit ist«, sagte Mandala. »Und der des ganzen Komitees, im übrigen.« Die Frau Vorsitzende beugte sich vor, und ihre Augen verengten sich in mühsam beherrschtem Zorn. »Belehren Sie mich gefälligst nicht über die Politik des Komitees, Mr. Mandala. Sie sind nicht sehr viel mehr als ein angestellter Killer, wenn ich Sie darauf hinweisen darf. Wir existieren seit fünfundzwanzig Jahren, weil wir uns Typen Ihrer Art rechtzeitig entledigt und auf subtilere Methoden gesetzt haben!« »Sehen Sie, wohin ihre subtilen Methoden Sie gebracht haben! Meine Methoden waren es, die uns vor das Ziel Ihres größten und ehrgeizigsten Projekts gebracht haben.« In ihrer Stimme war glatte Verachtung; und gefährlicher Hochmut: »Sie, Mr. Mandala, sind hier bei uns lediglich ein Söldner und Legionär. Ein Soldat. Nichts weiter. So ist die Lage!« Wenn die alte Hexe etwa glaubte, ihn auf diese Weise provozieren zu können, dachte Mandala, sollte sie sich getäuscht haben. Sie sollte wissen, daß er hart argumentieren konnte. Aber sie würde es nicht schaffen, ihn zu unbedachten emotionellen Ausbrüchen zu veranlassen. »Es waren immerhin die Übersicht und das strategische Denken eines - Soldaten nötig«, konterte er deshalb kühl, »einen Aufmarschplan, den Sie allenfalls in groben Umrissen zu zeichnen imstande waren, in die Tat umzusetzen.« Er blickte sich demonstrativ in dem kostbar möblierten Saal um. »Sie zitieren mich hochmütig hierher und erwarten vielleicht, daß ich von allen Ihren schönen Möbeln und Gemälden hier ganz überwältigt bin. Während Sie sich in den Jahren elegant und souverän auf Konferenzen in wohlklimatisierten Sälen aufgehalten haben, habe ich auf Schlachtfeldern gekämpft, die nach Tod stanken, um die Welt aus den Angeln zu heben, damit Sie sie danach kontrollieren können. Übersehen Sie nur die Tatsache nicht, daß Sie zu mir gekommen sind - nicht ich zu Ihnen -, als Sie jemanden brauchten, der Pläne, die vorläufig nur "im Kopf existierten, auch in Realität umsetzen kann. Seitdem war ich Ihnen stets willkommen und unentbehrlich, wenn Sie jemanden brauchten, der sich für Sie die Hände schmutzig machte. Gut, aber mokieren Sie sich jetzt gefälligst auch nicht darüber, daß meine Hände nicht sauber sind!« »Mr. Mandala«, sagte die Dame, nun doch etwas sanfter, »wir tolerieren Ihre Methoden. Aber wir akzeptieren sie nicht.« »Madame, wir sollten uns nicht naiv stellen. Wir haben bis jetzt die
Aktion Tantalus ausschließlich operationeil diskutiert: wann, wo, wie, direkte Auswirkungen. Aber was kommt danach? Die Welt wird dann äußerst instabil, also verwundbar sein. Das heißt, wir können die ganze Welt in die Knie zwingen, nicht allein die USA!« »Auf den Knien können die Menschen die Bankschalter nicht erreichen, Mr. Mandala. Sie übersehen, daß wir keine militärische und politische, sondern eine wirtschaftlich orientierte Organisation sind. Politik ist für uns nur Mittel zum Zweck, wenn wir sie für unsere wirtschaftlichen Absichten einsetzen. Die Operation Tantalus wird, verlassen Sie sich darauf, die USA, und damit die ganze Welt, durchaus in die Knie zwingen. Nur kommt es uns darauf an, daß sie danach wieder aufstehen kann. Nur mit unserer Hilfe, versteht sich.« »Macht, Madame, besteht darin, die Menschen zu kontrollieren, nicht ihre Bankkonten.« »Ach, Mr. Mandala! Die Menschen, das sind ihre Bankkonten!« »Wir haben die Möglichkeit, das totale Chaos zu verursachen und die alles bestimmende Ordnungsmacht zu werden.« »Eben das turt wir ja. Wirtschaftlich.« »Politisch wäre es sehr effektiver und weitreichender. Und es würde die wirtschaftliche Kontrolle automatisch einschließen.« »Sie sehen die ganze Sache falsch, Mr. Mandala«, sagte Frau St.Clair belehrend. »Wirtschaft und Politik sind zwei völlig untrennbare Gebiete. Politik ist nichts als eine Funktion der Wirtschaft. Das politische Urteil der Menschen hängt immer nur davon ab, wie voll ihre Brieftasche ist. Die Operation Tantalus wird uns die Möglichkeit eröffnen, eben diesen Faktor ganz nach unseren Wünschen zu kontrollieren.« Mandala nickte nur noch. Er zwang sich zur Zurückhaltung. Dies war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, die alte Hexe doch noch mißtrauisch zu machen. Hinsichtlich des Planes nämlich, vor dessen unmittelbarer Ausführung er stand. Niemand fand Mandalas Schweigen ungewöhnlich. Schweigen zu den Belehrungen der alten Dame war im Gegenteil alte Tradition in diesem Kreise. »Kommen wir auf die Angelegenheit Locke zurück«, sagte van Dam schließlich. »Falls er also nicht aus dem Weg geräumt werden soll, muß auf andere Weise sichergestellt werden, daß er uns nicht aus dem Ruder läuft.« »Ich bin dabei, Vorkehrungen zu treffen«, sagte Mandala. »Nehmen wir mal an, es funktioniert nicht«, sagte van Dam, »was dann? Wenn es ihm gelingt, Kontakt zu mächtigen Leuten aufzunehmen, die uns gefährlich werden können, ohne daß wir es
erfahren oder verhindern können? Ich fürchte beispielsweise, daß Charney mich so gut wie enttarnt hatte. Es ist immer denkbar, daß er Locke noch darüber informieren konnte. Oder sonst jemanden, zumindest andeutungsweise. Jede Stunde, die wir ihn noch am Leben lassen, vergrößert die Gefahr, daß ich auffliege. Sie müssen meine Position verstehen«, wiederholte er. und wandte sich dabei vor allem an die Vorsitzende. »Ich wußte nicht, welche bedeutende Rolle dieser' Mann plötzlich in unseren Plänen spielt. Ich war der Meinung, seine - Nützlichkeit wäre längst beendet. Ich kann dieses Risiko einfach nicht eingehen. Ich kann nicht!« »Was haben Sie unternommen?« fragte ihn Frau St.Clair mit plötzlichem Argwohn. »Ich habe jemanden beauftragt, ihn zu eliminieren.« Sie starrte ihn an. »Rufen Sie den Mann augenblicklich zurück, Sie Narr!« »Zu spät«, sagte van Dam.
Fünfter Teil Schaan Montag vormittag »Wir kommen jetzt in die Abteilung, in der die Firma Sanii neue Technologien für die Entnahme von Erdproben auf anderen Planeten entwickelt hat«, sagte die Besucherführerin. Locke ließ seine Augen umherschweifen. Am Samstagabend hatte er ein einfaches Berggasthaus gefunden, das ein Zimmer frei hatte. Den Gedanken, jemanden gegen Bezahlung Kleider für ihn kaufen zu lassen, hatte er aufgegeben. Der Portier am Empfang hatte ihn auf eine bessere Idee gebracht. Er hatte ungefähr seine Figur, vielleicht etwas kleiner und stämmiger. Besonders gut würden ihm dessen Sachen nicht passen, aber immerhin, es würde gehen. Der Portier hatte keine Fragen gestellt, als er Bargeld sah. Einige zusätzliche Scheine verschafften Locke auch Salben und Binden für seine von den Bissen der angeblichen Landstreicherin mitgenommenen Hände, sowie ein herzhaftes Essen. Da die Firma Sanii am Sonntag geschlossen hatte, blieb ihm ein ganzer Tag, sich auszuschlafen und ein wenig zu kurieren. Er schlief bis zum Nachmittag und erfuhr dann vom Portier, daß die Führungen bei Sanii jeden Montag um zehn Uhr begannen. Sanii war eine der wenigen großen Firmen, die auch ihre eigenen Anlagen in Liechtenstein hatten, und also eine der BesucherSehenswürdigkeiten; zumal sie auf Zukunfts-High-Tech spezialisiert waren. Das bedeutete zweifellos auch eine landwirtschaftliche Versuchsabteilung. Gut möglich, daß er dort den gesuchten Hinweis auf die südamerikanischen Landkäufer fand, mit denen Felderberg zu tun gehabt hatte. »Es ist heute möglich«, sagte die Führerin eben, während die Besucher durch die Glaswand auf Miniaturmodelle seltsamer Bodenbearbeitungsmaschinen blickten, »Robotersonden selbst Millionen Kilometer ins Weltall zu schicken, damit sie dort auf fremden Himmelskörpern automatisch Bodenproben entnehmen und damit wieder zur Erde zurückkehren. Sanii-Wissen-schaftler haben nun eine neue Möglichkeit entdeckt . . .« Lockes Augen wanderten wieder umher. Kein Zweifel, er war in der richtigen Abteilung. Er spürte es geradezu. Hier ging es um
Bodenproben, Landwirtschaftliche Experimente mußten ganz in der Nähe gemacht werden. Er war früh genug dagewesen, um sich in aller Ruhe noch das ganze Firmengelände anzusehen. Es war von eindrucksvoller Größe. Vier getrennte Gebäudekomplexe. Einer so riesig, daß er fast die gesamte Länge des Geländes einnahm. Neben ihm, an der Schmalseite, ein kleiner, der fast dahinter verschwand. Der dritte quer dazu ganz hinten und mindestens halb so lang wie der große Hauptkomplex. Der vierte ein verspiegelter Bürokomplex, wo die Verwaltung und Büros untergebracht waren. Die Führung begann im großen Gebäude, auf dessen Dach in riesiger Leuchtschrift der Firmenname prangte. Eine Stelle dieses Dachs war flach. Von dort waren die charakteristischen Geräusche einer riesigen Belüftungs- und Klimaanlage zu hören, mit der in den verschiedenen Abteilungen auch jeweils nötigen klimatischen Verhältnisse für Agrarexperimente erzeugt werden konnten. Die Führerin hatte ihre Erklärungen zum Thema Entnahme von Bodenproben aus fremden Himmelskörpern beendet, als Locke noch die Hand hob. »Ja, bitte, Sie haben noch eine Frage?« »Ich interessiere mich für Agrarexperimente, die nicht so weit von der Erde entfernt sind. Werden hier auch solche gemacht?« Die Fremdenführerin sah etwas verwirrt drein. »Sicher, wir haben eine Agrarversuchsabteilung für Standardexperimente. Sie befindet sich hinten im kleinen Gebäudekomplex, ist aber von wenig allgemeinem Interesse. Bitte, meine Herrschaften, hier entlang . . .« Ja, das war es. Da hatte er seine Antwort, dachte Locke. Jedenfalls eine Stelle, wo man ansetzen konnte. Als sich die Besuchergruppe um die nächste Ecke begab, blieb er unauffällig zurück und setzte sich ab. Er ging zurück zum Eingang. Ein Aufseher befragte ihn, und er gab Übelkeit vor: er brauche frische Luft. Der Aufseher wünschte gute Besserung, gab ihm seinen Besucherausweis wieder und hielt ihm die Tür auf. Locke sah sich rasch nach rechts und links um und ging, so schnell es eben möglich war, auf das kleine, parallel zum Haupttrakt liegende Gebäude zu. Er hoffte, niemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Am Eingang des kleinen Gebäudes stand das übliche Schild: UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT VERBOTEN. Um das zu unterstreichen, standen innen, hinter der Glastür des Eingangs, zwei
Wächter. Keine Chance also hier durch den Eingang hineinzugelangen. Er ging selbstsicher weiter. Auf der anderen Seite des Gebäudes gab es zwei große Garagentore. Sie standen offen. Arbeiter luden eben sackweise irgend etwas ab und trugen es in ein großes Lager hinein. Er schätzte sich glücklich, vom Portier seines Gasthofes einheimische Arbeitskleidung bekommen zu haben, und stellte sich mit der größten Selbstverständlichkeit ans Ende der Schlange. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Die Wachposten der Firma Sanii hielten ihn wahrscheinlich für einen der Arbeiter, und diese dachten vermutlich umgekehrt. Nur vorsichtshalber bemühte Locke sich, die Säcke, die er auf die Schultern gepackt bekam, so zu halten, daß sein Gesicht nicht zu erkennen war, und vermied es, irgendwen direkt anzusehen. Als drinnen so viele Säcke gestapelt waren, daß man hinter ihnen verschwinden konnte, tat er das in einem unbeobachteten Moment und ging ohne sich aufzuhalten auf der Rückseite der Lagerhalle zur nächsten Tür hinaus. Sie führte direkt in das eigentliche Gebäude. Er befand sich nun in einem langen, weißen, hellerleuchteten Korridor. Jemand, der herumgeht, kann Aufmerksamkeit erregen, aber jemand, der herumsteht, erregt sie mit Sicherheit. Er erinnerte sich auch an diesen Satz.aus den einstigen Lehrgängen sehr gut. Er ging also ganz selbstverständlich und mit festen, sicheren Schritten weiter, bevor er es sich anders überlegen konnte. Im Korridor war zum Glück kein Mensch. Doch das war sicherlich nur ein vorübergehender Zustand. Er kam an eine Kreuzung und versuchte sich zu orientieren, wohin der quer zu seinem Gang verlaufende Weg führte. Rechts lag ein Raum mit Spinden. Er entschloß sich, dort hinein zu gehen. Vielleicht fand er etwas, das ihm weiterhelfen konnte. Er kam in einen typischen Umkleideraum. Kabinen, Duschgeräusche und Dampf, Holzbänke. Zwei Männer kamen ihm entgegen. Er ging an ihnen vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Nur gut, daß dies ein großer Betrieb mit vielen Beschäftigten war. Draußen auf den Parkplätzen hatten mindestens 750 Autos gestanden. Es war kurz vor Mittag, also Zeit für die allgemeine Mittagspause, die hier vermutlich in Schichten ablief. Der Umkleideraum war tatsächlich bereits voller Leute. Er ging rasch in die Toilette und schloß sich in einer Kabine ein.
Er setzte sich auf den Toilettensitz und versuchte ruhig durchzuatmen. Seine Nerven würden ihn eher als alles andere verraten, verdammt. Ein ruhiges Äußeres war die beste Tarnung. Tarnung. Natürlich. Die beiden Männer, denen er am Eingang begegnet war, hatten einfach weiße Labormäntel getragen. Wenn er einen solchen trüge, würde ihn kein Mensch behelligen. Er strengte sein Gedächtnis an. An den Labormänteln waren Plaketten gewesen, Identitätskarten mit Fotos. Er mußte sicherstellen, daß ihn niemand zu nahe unter die Lupe nahm. Er zog die Toilettenspülung und ging hinaus, stellte sich irgendwo, an eines der Waschbecken zwischen die anderen Männer und wusch sich die Hände. Dann trat er ganz normal und unauffällig zurück und nahm sich aus dem nächsten offenen Spind den dort hängenden weißen Laborkittel, schlüpfte hinein und ging hinaus, zurück in den Korridor. Der Kittel paßte schlecht. Viel zu kurze Ärmel. Das Foto auf der Plakette sah ihm überhaupt nicht ähnlich, abgesehen von der Haarfarbe. Vielleicht genügte das, um durchzukommen. Er mußte es darauf ankommen lassen und ging weiter. Kurze Zeit später stand er am Eingang eines riesigen Gewächshauses. Eine Menge Leute waren überall damit beschäftigt, Wässerungsleitungen zu überprüfen und nachzustellen oder Eintragungen in Listen und Karteikarten zu machen, die sich bei jeder der zahllosen Einzelpflanzen oder Pflanzengruppen befanden. Er schien sich in einer Abteilung zu befinden, die damit befaßt war, dafür zu sorgen, daß auch wirklich keine einzige Pflanze dieser Erde ausstarb. Er ging zügig weiter und kam zu einer Doppeltür, die gerade breit genug war, daß das Warnschild auf ihr Platz hatte: GESCHLOSSENE SICHERHEITSZONE, EINTRITT NUR MIT ROTER KARTE. Er sah auf seine Karte. Nicht zu fassen: sie war rot. Er versuchte durch die Schwingtür zu gehen. Aber sie öffnete sich nicht. Jetzt erst sah er den stählernen Schlitz an der Wand rechts. Eine eigene Einsteckkarte war also erforderlich, damit die Tür aufging. Er begann in den Taschen seines Kittels zu suchen. »Gibt's Probleme?« sagte jemand hinter ihm. Er drehte sich um. Ein Mann mit Schnurrbart, ungefähr sein Alter. »Na«, sagte er geistesgegenwärtig. »Die blöde Karte funktioniert schon mal wieder nicht. Hat wahrscheinlich in der Brieftasche einen Knick gekriegt.«
»Ich geh' sowieso grade rein«, sagte der andere in akzentfreiem Englisch, das offenbar ohnehin die offizielle Sprache in dieser Firma war. Er steckte seine Karte in den Schlitz. Sie kam kurz danach wieder heraus. Ein Summzeichen ertönte und das Türschloß schnappte auf. »Bitte, Kollege«, sagte der Mann und ließ ihn zuerst hineingehen. »Vielen Dank, Kollege«, antwortete er. Er war selbst überrascht, wie kühl und geistesgegenwärtig er bisher gehandelt und die Situation gemeistert hatte. Nichts war vorausgeplant oder überlegt gewesen. Alles hatte sich spontan aus der augenblicklichen Situation ergeben, schnell und sicher, wie ein Schauspieler hatte er seine Rolle gespielt. Dies stärkte seine Zuversicht, mit der Situation fertig zu werden. Er kam an einem großen Fenster vorbei, hinter dem ein etwa zehn Quadratmeter großer Raum lag. Darin waren seltsame strauchartige Gewächse, jedes unter einer speziellen Leuchtröhre. An der Wand hing, an einer leichten Kette befestigt, eine Notizenklemmtafel aus Metall. Locke tat, als studiere er sie, um sicherzugehen, daß niemand in unmittelbarer Nähe war, und riß sie dann mit kurzem Ruck von der Kette ab. Er trug sie in der rechten Hand und ging ruhig weiter. Wenn er nur eine Ahnung gehabt hätte, wohin er ging! Schön, er war mit viel Glück in diesen geheimen Sicherheitsbereich gelangt. Aber schließlich gab es hier noch Dutzende von Korridoren, Fluren, Labors, Räumen. Was suchte er? Und wo konnte er es finden? Er begegnete ständig irgendwelchen Leuten in gleichen Kitteln wie er. Er beachtete sie nicht, und niemand beachtete ihn. Ein Labor reihte sich an das andere, und an jeder Labortür hing neben dem Eingang die Bezeichnung. Dann kam eine Tür, neben der es kein Hinweisschild gab, dafür stand unübersehbar ein Wächter davor. Er spürte, wie es in seinem Magen kribbelte. Er mußte da hinein. Er beugte sich über einen Trinkbrunnen und ließ sich viel Zeit. Inzwischen kam eine Gruppe Wissenschaftler raschen Schrittes den Gang herunter. Als sie an ihm vorbeikam, sah er, daß ihre Ansteckkarten alle rot waren, allerdings alle mit einem schwarzen Kreuz darüber. Auf seiner Karte war kein Kreuz, dennoch schloß er sich der Gruppe einfach an. »Guten Morgen, Professor«, begrüßte der Wächter an der Tür den bärtigen Mann, der vorausging, und hielt die Tür auf, bis
alle durchgegangen waren. Er nickte jedem einzeln zu. Locke ging als letzter einfach mit. Er drehte nur seine Schulter etwas, so daß der Wächter seinen Anstecker nicht ganz sehen konnte. Voller Spannung hielt er den Atem an. Jetzt mußte ihn der Mann anhalten. Aber er tat nichts dergleichen und ließ ihn ungefragt durchgehen. Hinter ihnen ging die Tür zu. Sie verursachte ein Echo. Locke löste sich wieder von der Gruppe, mit der er gekommen war, und ging einfach in eine andere Richtung, immer festen, zügigen, selbstsicheren Schrittes. Er befand sich in einem riesigen Terrarium mit vier Reihen verschiedener Getreidearten. Er erkannte sie auch ohne die Beschriftung: Mais, Hafer, Weizen und Gerste. Doch welche Unterschiede in den Größen! Ein Teil war offensichtlich ausgewachsen und erntereif, ein anderer fing gerade eben erst an zu sprießen. Er ging einfach aufs Geratewohl eine der Reihen entlang und besah sich die einzelnen Beschriftungstäfelchen vor jeder Pflanze. Er überflog sie freilich nur. Er wollte es nicht riskieren, irgendwo länger stehenzubleiben. Es waren zu viele Leute anwesend. Auf keinen Fall durfte er sich Fragen stellen lassen oder sich gar in Gespräche verwickeln lassen. Es war ihm klar, daß er hier irgend etwas sah, was ein bestimmtes Muster ergab, das er jedoch nicht erkennen konnte. Er war am Ende der Reihe, wo sich die größten Weizenpflanzen befanden, als ihn etwas stutzig machte. Er las nicht weniger als sechsmal, was auf dem Täfeichen stand, ehe er es glaubte. Aussaat: 26. März. Unmöglich. Diese Weizenhalme waren in 21 Tagen bis zur Erntereife hochgewachsen? Er ging völlig perplex zum Anfang der Reihe zurück. Jedes der etwas mehr als drei Quadratmeter großen Felder dokumentierte ein anderes Aussaatdatum — unterteilt in sieben Dreitageperioden. Wenn die Angaben auf den Tafeln und Blättern stimmten, dann war hier das Getreidewachstum in einem geradezu unglaublichen Maße beschleunigt worden. Das war von ungeheurer Bedeutung! Er versuchte zu rekonstruieren, was ihm Felderberg bei ihren Gespräch in Vaduz erzählt hatte, doch es hatte keinen Zweck. Er konnte sich jetzt nicht darauf konzentrieren. Er mußte das später versuchen. Wenn er hier wieder raus war.
Er ging noch einmal bis ans Ende der Reihe. Als er sich umwandte, war ihm der Weg versperrt. Der bärtige Professor Stand vor ihm. »Wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie gesehen.« Sein Blick fiel auf den Anstecker am Kittel. »Moment mal. Sie gehören doch überhaupt nicht . . .« Locke hatte sich bereits umgedreht und begann zu laufen. »Haltet den Mann!« rief der Professor aufgeregt. »Haltet den Mann fest!« Einer seiner Gruppe stellte sich Locke in den Weg. Dieser zögerte keinen Augenblick, hob die metallene Notizenklemmtafel und hieb sie dem verblüfften Mann ins Gesicht; er fiel hintenüber zu Boden. Locke ließ die Tafel fallen und begann quer durch die Miniaturkornfelder zu rennen, vom Weizen in den Hafer, von dort in den Mais. Er sah bereits die rettende Tür vor sich. Aber da stand auch der Wächter, der schon dabei war, seine Waffe zu ziehen. Es war eine Sache von Sekunden. Der Wächter hatte die Waffe kaum gezogen, als sich Locke mit einem mächtigen Sprung seitwärts mit den Schultern voraus auf ihn warf, so daß er taumelte und die Balance verlor. Er stolperte überrascht und fiel und ließ dabei die Waffe fallen. Locke raste den Korridor entlang. Hinter ihm waren die Schritte seiner Verfolger zu hören, nachdem der Wächter Alarm geschlagen hatte. Er rannte weiter, versuchte, sich zu orientieren und daran zu erinnern, wie er hereingekommen war, und den nächsten Ausgang zu finden. Bei der nächsten Kreuzung von Korridoren rannte er nach rechts. Da kam ihm bereits ein ganzer Trupp Wächter entgegen. Er blieb stehen und lief einen anderen Gang hinunter. Offenbar war es jetzt Zeit für die zweite Mittagsschicht, denn zahlreiche Leute in weißen Kitteln waren hier unterwegs. So unauffällig wie möglich mischte er sich unter sie. Er mußte bei ihnen bleiben, solange es nur ging, um einen günstigen Augenblick zum Entkommen abzuwarten. Über einer Tür am Ende des Korridors war ein rotes Schild NOTAUSGANG. Sein Herz schlug heftig, als er sich schneller durch die Menge drängte, um einen kostbaren Vorsprung vor seinen Verfolgern zu bekommen. Er griff nach dem Türhebel, zog ihn
hoch, stieß die Tür auf und lief hinaus ins helle Tageslicht. Die Sonne schien, und es war plötzlich so hell, daß er blinzeln und seine Augen bedecken mußte. Aber er blieb nicht stehen. Die Wächter würden nicht lange brauchen, um hinter ihm herzukommen. Zum Glück hatte er einen günstigen Zeitpunkt erwischt. Es war viel Betrieb, die Menge bewegte sich dicht aber auch gemächlich, so daß es für die Wächter schwierig war, sich rasch einen Weg durch sie hindurch zu bahnen. Er ging zügig, aber nicht zu schnell. Er durfte nicht auffallen. Er ging auf den großen Parkplatz zu. Vielleicht gab es dort ein Taxi, einen Bus oder einen Angstellten oder Arbeiter, der ihn mitnahm. Er wurde nun doch schneller, gab seiner Ungeduld nach, wagte nicht, sich umzusehen, ob die Wächter vielleicht schon hinter ihm waren. Und dann stand plötzlich jemand vor ihm, groß, mit dichtem Haarwuchs, und mit einer Pistole im Anschlag. »O nein!« rief Locke und wußte zugleich, daß es schon zu spät war. Da schoß der Mann auch schon. Locke taumelte instinktiv nach hinten, hatte das Gefühl bereits den Schlag zu spüren, den der Schuß ihm versetzen mußte. Statt dessen hörte er hinter sich ein kurzes Aufstöhnen und gleich darauf einen dumpfen Fall. Er drehte sich um. Am Boden lag ein Hüne von einem Wächter mit blutender Schulter, eine Pistole war ihm aus der Hand gefallen und lag nun außerhalb seiner Reichweite am Boden. Überall schrien Menschen auf, liefen durcheinander, riefen um Hilfe. Und der Mann mit der noch rauchenden Pistolenmündung faßte nach Locke. »Los!« rief er. »Raus hier. Aber schnell.« Dogan war am Samstagabend in Vaduz auf dem Bahnhof angekommen. Er hatte sogleich versucht, die Spur seines Mannes aufzunehmen. Statt dessen lief ihm jemand anderer über den Weg. Zuerst erkannte er ihn gar nicht. Der Mann saß mit einer Zeitung im Schoß auf einer der Holzbänke und lächelte ihn an. Als er näher kam, mußte er ebenfalls lächeln. »Hallo, Grendel«, sagte der andere. »Ich habe schon auf Sie gewartet. Was führt Sie nach Liechtenstein, mein Lieber?« Dogan machte eine Kopfbewegung. Er setzte sich neben den Russen. Die Bahnhofshalle war sehr belebt. »Geschäfte. Ich soll
einen Mann aus dem Weg räumen.« »Ja, weiß ich«, sagte Waslow nickend. »Christopher Locke.« Dogan machte gar nicht erst den Versuch, seine Überraschung zu verbergen. »Mein Lieber, Sie verblüffen mich immer wieder.« »Na ja, unsere Leute haben den richtigen Riecher gehabt«, sagte Waslow. »Mich haben sie hergeschickt, um dafür zu sorgen, daß Sie genau das nicht tun.« Dogan sah ihn mit hochgezogener Stirn fragend an. »Man benutzt Sie nur, mein Lieber«, sagte Waslow. »Nicht Ihre Regierung will diesen Locke aus dem Weg haben. Sondern jemand vom Komitee.« »Augenblick. Wovon reden Sie eigentlich, sagen Sie?« »Locke ist der Schlüssel, Freund und Genösse. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen von San Sebastian erzählt habe? Wir haben die Übermittlung einer Botschaft von einem Band aufgefangen, die ein Agent eurer Seite gesendet hat. Ein gewisser Lübeck. Wir glauben, daß er auf der Spur des Komitees war. Als er zusammen mit der ganzen Stadt eliminiert wurde, heuerte man diesen Locke an, die Spur wiederaufzunehmen.« »Sagen Sie mal, Waslow, gibt es auch etwas von meiner Regierung, das Sie zufälllig nicht wissen?« »Man lernt mit der Zeit, wie Sie wissen, sich aus kleinen Stücken und Fragmenten ein Bild zusammenzusetzen, Schlüsse zu ziehen, zu kombinieren. Ich glaube, in diesem Fall liege ich im großen und ganzen richtig, auch wenn ich den genauen Reiseplan Lockes natürlich nicht kenne. Daß er beispielsweise in London war, erfuhr auch ich erst, als es Berichte gab, die ihn des Mordes an einem kolumbianischen Diplomaten beschuldigten.« »Mir hat man nicht einmal das gesagt.« »Weil Sie dann angefangen hätten, unerwünschte Fragen zu stellen. Ihnen hat man lediglich mitgeteilt, daß er einen Attache des State Departments erschossen habe. Tatsächlich war dieser Mann sein direkter Auftraggeber. Sie brauchten Locke als in der Branche nicht bekannten Einzelgänger, um ihn so besser führen zu können. Die ganze Geschichte ergab für mich solange keinen Sinn, bis ich erfuhr, mit wem dieser Locke sich hier treffen sollte.« »Felderberg, meinen Sie?«
Waslow nickte. »Wir wissen aus neueren Informationen, daß er der finanzielle Mittelsmann des Komitees ist.« »War.« »Richtig, lieber Freund. Sie waren ja da. Und trotzdem haben Sie Ihren Auftrag nicht ausgeführt, als sich die Gelegenheit dazu ergab.« »Irgendwas an der Geschichte hat von Anfang an gestunken«, sagte Dogan. »Man hat mich benutzt und das hat mir gar nicht gefallen. Die Geschichte im Hauser kam mir komisch vor. Wenn Locke dort war, um Felderberg etwas zu verkaufen, dann hatte er überhaupt keinen Grund ihn umzubringen. Als Felderbergs Gorillas ihn hinausführten, habe ich mich ein bißchen schlau gemacht. Man hat Felderberg mit einem vergifteten Korken umgebracht; dafür kam Locke jedoch überhaupt nicht in Frage.« »Ja«, warf Waslow ein, »ich habe die Methode auch schon einige Male mit Erfolg angewandt. Ihr habt sie auch bei Fidel Castro versucht, bis ihr herausfandet, daß der ausschließlich Bier trank.« »Locke hatte man nur vorgeschickt«, sagte Dogan, »und das bedeutet, mich auch.« »Und sie drehten Felderbergs Tod so hin, daß es aussah, als sei es Locke gewesen. Auch das hat wieder das Komitee inszeniert. Sie benutzen ihn ihrerseits. Indem er der Spur seines Vorgängers bis San Sebastian folgt, zeigt er ihnen, wie sie genau diese Spur hinter ihm wieder verwischen können.« »Mag alles sein. Aber warum eliminieren sie ihren eigenen Mittelsmann?« »Felderberg hatte ausgedient. Das bedeutet natürlich zugleich, daß ihr großer Abschlußcoup kurz bevorsteht.« Waslow zuckte mit den Achseln. »Dabei hatte ich gehofft, Felderberg zu uns herüberziehen zu können.« »Und jetzt kann er uns nichts mehr erzählen.« »Dafür haben wir einen anderen.« »Locke, ja.« Waslow schlug die Beine übereinander und legte seine Zeitung neben sich auf die Bank. »Und deshalb ist es so wichtig, daß wir ihn unter allen Umständen am Leben halten. Wir haben mittlerweile nicht nur die eindeutige Gewißheit über die Existenz
des Komitees, sondern wissen auch, daß es.schon für die allernächste Zeit eine große Aktion plant. Dieser Christopher Locke könnte der einzige Mensch sein, der weiß, was da alles daranhängt.« »Oder aber er weiß überhaupt nichts.« »Lieber Freund: wie lange war er bei Felderberg?« »Halbe Stunde. Vielleicht ein paar Minuten länger.« »Also. Genug Zeit für Felderberg, ihm eine Menge zu erzählen, zumindest so viel wie seinem Vorgänger, dem Mann von San Sebastian. Nein, nein/ Locke weiß etwas. Was er wahrscheinlich nicht kennt, sind die Zusammenhänge.« »Die wir kennen.« »Die wir kennen«, nickte Waslow wieder. »Allerdings gibt es da ein paar Dinge, die nicht zusammenpassen. Zuerst einmal ist das Verhalten des Komitees alles andere als konsequent. Man räumt in London Lockes Hintermann aus dem Weg, um Locke für die eigenen Zwecke gefügig zu machen. Und gleich danach werden Sie angeheuert, um den gleichen Locke aus dem Verkehr zu ziehen.« »Vielleicht ist jemand nervös geworden.« »Genau das glaube ich auch. Irgend jemand ist in Panik geraten, weil dieser Locke noch frei herumturnt. Der Comman-der hat von höherer Stelle Weisung bekommen. So paßt es ins Bild.« »Was ist mit den anderen Dingen, die nicht zusammenpassen?« »Die zweite Sache ist ein bißchen komplizierter. Vorhin hat einer meiner Leute beobachtet, wie Locke von einer Frau wegeskortiert wurde, die als Auftragsmörderin bekannt ist. Er hat sich nicht eingemischt, weil er strikte Anweisung hatte, nur zu beobachten. Inzwischen hat er gemeldet, daß ein paar Überreste der Dame auf dem Gleis gefunden wurden.« »Sie meinen, Locke hat sie erledigt?« »Ja, aber sie hatte zuvor offensichtlich die gleiche Absicht. Der springende Punkt ist: wenn sie von Felderbergs Leuten angeheuert gewesen wäre, hätte sie Locke denen zugeführt, nicht von ihnen weggebracht.« »Mit anderen Worten, es gibt noch jemanden, der unseren Professor gerne aus dem Weg haben möchte.« »Würde ich so sagen, ja, Grendel. Und um das herauszufinden, müssen wir wissen, zu welchem Verein die Dame gehörte. Und das wiederum weiß ich genau. Ich habe mich der Dame in der Pennerinnen-Maske selbst ein paarmal bedient. Ich werde die Spur zu
ihren Kontaktleuten aufnehmen, sobald wir uns hier getrennt haben.« »Noch ein kritischer Punkt?« »Nummer drei, ja. Eigentlich der irritierendste. So sehr manche Locke tot zu sehen wünschen, so sehr ist irgendwer daran interessiert, daß ihm kein Haar gekrümmt wird.« Er sah Dogan an, der gespannt auf seine Erklärung wartete. »Nachdem er die Alte los war, fuhr Locke nach Schaan. Und dort vor dem Bahnhof fand man Felderbergs Sicherheitschef mit aufgeschlitztem Brustkasten.« Dogan nickte. »Schaan ist schön um diese Jahreszeit.« »Muß Locke auch gefunden haben.« Dogan stand auf. »Na gut, ich muß los. Arbeiten.« Waslow zog eine blaue Sporttasche unter der Bank hervor. »Hier. Geben Sie Locke seine Sachen, wenn Sie ihn finden. Sein Paß ist dabei. Er wird ihn brauchen.« »Nanu? Wie kommen Sie denn daran?« »Er hat mir hundert Franken dafür bezahlt, daß ich sie ihm abhole.« Er drehte seine schmerzenden Schultern. »Felderbergs Leute haben mich spüren lassen, daß ich nicht mehr der Allerjüngste bin. Aber es war mir am Ende eine Freude, Mr. Locke zu Diensten zu sein.« Der Unbekannte führte Locke zu einem, halb auf dem Gras zwischen den Reihen der anderen abgestellten Autos, geparkten Audi. Sie sprangen hinein und rasten mit quietschenden Reifen los. Locke sah den Fahrer an und versuchte sich zu erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen habe. »Im Hauser!« rief er dann, als der Audi aus dem Werksgelände hinausjagte. »Natürlich, im Häuser habe ich Sie gesehen. Wer sind Sie? Wieso haben Sie mich da rausgeholt?« Dogan beobachtete inzwischen angespannt die Straße vor sich und über den Rückspiegel die Gegend hinter sich. »Eins nach dem anderen«, sagte er dazwischen. »Dogan heiße ich. ROSS Dogan. Von der einstmals stolzen CIA.« »Da Sie bereits im Hauser waren, sind Sie offenbar schon eine ganze Weile hinter mir her?« »Lieber Locke, was glauben Sie eigentlich, warum ich im Hauser saß, ehe Sie dort waren? Wie kann ich da hinter Ihnen her sein? Ich bin vor Ihnen her. Mit sechs Monaten Akademie sollten Sie doch genug über die Branche wissen.« Locke starrte ihn an. »Woher wissen Sie so gut über mich Bescheid?«
»Hauptsächlich deshalb, weil ich nach Liechtenstein geschickt wurde, um Sie abzuknallen.« »Wie bitte??« »Immer mit der Ruhe. Eine sorgfältige Analyse der Situation in Vaduz verlangte eine Änderung des Plans.« Dogan jagte den Audi mit Höchstgeschwindigkeit die zweispurige Straße hinunter. An der nächsten Kreuzung bog er quietschend nach rechts ab. »Wieso schickt die CIA Sie los, um mich abzuknallen, möchte ich wissen?« »Nicht die CIA direkt. Mehr eine Unterorganisation namens Abteilung Sechs, schon mal gehört? Lassen Sie sich nicht verwirren. Die Firma hat mehr versteckte Schubladen als das Haus einer reichen Witwe. Es fing damit an, daß Sie einen Mann des State Department namens Charney umgebügelt hatten.« »Aber nein! Er war doch derjenige, der mich überhaupt in die ganze Geschichte hineinbugsiert hat. Aber ich habe ihn nicht getötet. Das war jemand anders.« »Weiß ich ja«, nickte Dogan. »Charney war denen zu nahe auf die Pelle gerückt. Seine Beseitigung diente nicht nur dazu, eine akute Bedrohung auszuschalten, sondern auch dazu, Sie zu isolieren.« »Wem war er zu nahe auf die Pelle gerückt?« »Geduld, Geduld«, sagte Dogan. »Zuerst mal möchte ich wissen, wer Sie nach Liechtenstein und zu Felderberg geschickt hat.« »Na, Charney. Mit seinen letzten Worten.« »War Felderberg auch Lübecks zweite Station?« »Verdammt, woher wissen Sie denn etwas von Lübeck?« »Mann, fragen Sie doch nicht so viel! Ich weiß es eben. Viel wichtiger ist, was Sie wissen. Was hat Ihnen Felderberg erzählt?« »Brian — Charney, mein alter Schulfreund, aber das wissen Sie dann vermutlich auch - hat mir gesagt, das Stichwort hieße >Nahrungsmittel<. Und Felderberg hat mir genau das bestätigt. Irgendwer kauft systematisch Millionen und Millionen Hektar Agrarland in Südamerika auf, und Milliarden Dollar werden eingesetzt. Wer immer diese Leute sind, jedenfalls versuchen Sie, am Ende den ganzen Kontinent unter ihre Kontrolle zu bringen. Genaueres wußte auch Felderberg nicht.« »Er hat Sie hierher zu Sanii geschickt, wie?« »Ja, weil da seiner Ansicht nach eine Verbindung bestand; zwischen diesem Betrieb und seinen Klienten.
Und da ist tatsächlich etwas; in ihrem streng geheimen AgrarVersuchstrakt.« Er überlegte kurz. »Wissen Sie, was die da haben? Versuchsfelder mit Weizen, Mais, Hafer, Gerste. Das Zeug wächst dort in weniger als drei Wochen bis zur Reife!« »Gentechnik«, nickte Dogan. »Daran arbeiten sie auch bei uns schon seit Jahren. Nur haben sie bisher den Durchbruch nicht geschafft.« »Diese Sana-Leute aber haben ihn offenbar geschafft. Wer sind die?« fragte Locke. Er wunderte sich, daß er inzwischen schon wieder so ruhig und gelassen war. »Sie nennen sich selbst das Komitee«, sagte Dogan, ohne seine Aufmerksamkeit von der Straße abzuwenden. »Wir kennen natürlich alle schon ewig diese Geschichten von den paar Wahnsinnigen, die pausenlos die Weltherrschaft zu erringen versuchen. Normalerweise sind sie Phantasiepro dukte von Autoren oder Spinnern oder Leuten mit ausgeprägtem Verfolgungswahn. Doch das Komitee ist die Ausnahme. Es existiert tatsächlich. Es verfolgt seit vielen Jahren das Ziel, die wirtschaftliche Weltherrschaft zu erobern. Es arbeitet im Verborgenen. Nur ab und zu wird ein Schatten sichtbar. Das Komitee hat mit keiner Regierung zu tun. Zu seinen Mitgliedern gehören Vertreter aller Rassen, aller Nationalitäten, aller Länder, alle bekleiden offiziell hohe Positionen, die ihnen Zugang zu besonderen Informationen und direkten Einfluß auf die Politik sichern, den sie zugunsten der Ziele des Komitees benutzen.« »Sie meinen also im Ernst, es gibt tatsächlich eine Gruppe, die, zumindest auf einem bestimmten Gebiet, die Weltherrschaft anstrebt?« fragte Locke, den der Gedanke und die Bedeutung dessen, was er gerade gehört hatte, zunehmend schockierte. »Und die Regierungen haben keine offiziellen Möglichkeiten, sich über das Maß des Einflusses dieser Kräfte auf die Politik Klarheit zu verschaffen. Dabei ist dieser Einfluß bereits überall spürbar. Erinnern Sie sich an die sogenannte Ölkrise der frühen siebziger Jahre? Da haben Sie ein Beispiel. Jedenfalls nach Meinung der Leute, die glauben, über das Komitee Bescheid zu wissen. Wie hieß denn das, schon damals? Wer die Ölfelder kontrolliert, kontrolliert die Weltwirtschaft. Nur, weil Amerika eingriff, mußten sie den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten wieder verlagern.« »Auf Nahrungsmittel?« »Ein Gebiet, das für alle Länder von gleich großer Wichtigkeit ist. Die Verteilung von Wasser und Luft läßt sich nicht gut kontrollieren. Aber sehr wohl die Verteilung der Nahrungsmittel.«
»Ja, aber diese ganze Landentwicklung in Südamerika kann doch bei weitem nicht zur totalen Kontrolle führen? Es kann den Einfluß verstärken, den Warenumschlag vergrößern, einen bedeutenden neuen Anbieter auf dem Markt etablieren, gut. Aber totale Weltherrschaft?« »Schon richtig«, sagte Dogan, »doch das ist auch gar nicht die Stoßrichtung der Geschichte. Diese Formulierung von der angestrebten Weltherrschaft des Komitees ist keineswegs eine Phantasie-Übertreibung. Es läuft darauf hinaus, daß es ziemlich schwierig ist, eine Weltherrschaft ohne oder sogar gegen die beiden existierenden Supermächte zu etablieren, mit denen obendrein jeweils die anderen Länder, auf die eine oder andere Art, verbunden sind. Das Wichtigste ist folglich die Überlegung, wie man diese beiden Supermächte neutralisieren, das heißt dazu bringen kann, sich gegenseitig zu blockieren. Die USA und die Sowjetunion.« »Sie meinen zum Beispiel durch Marktverdrängung, durch Dumpingkonkurrenz gegen unsere Agrarexporte?« »Nein, nein.« Dogan schüttelte den Kopf. »Das wäre viel zu unsicher. Und auch eine viel zu konservative Methode. So naiv sind die meiner Überzeugung nach auch gar nicht.« Er blickte wieder in den Rückspiegel. Es waren keine Verfolger zu sehen, und sie waren inzwischen auch lange und weit genug gefahren, um diese unmittelbare Gefahr ausschließen zu können. Gleich mußte die schweizerische Grenze kommen. In Zürich konnten sie vorübergehend untertauchen. »In diesem sogenannten Komitee«, fuhr Dogan fort und nahm den Faden wieder auf, »gibt es auch eine gute Portion reiner Machtgier. Die Leute haben durchaus mehr im Sinn als einfach nur eine starke Position auf dem Weltmarkt.« Chris Locke beobachtete den Mann neben sich eine Weile. Sein Gesicht wirkte entschlossen. Wenn er nicht sprach, biß er die Zähne aufeinander. Er strahlte Stärke und Mut aus. Neben ihm zu sitzen war, als befinde man sich in der Nähe eines Vulkans, der jeden Moment ausbrechen kann. »Und wieso ist nie jemand gegen dieses Komitee vorgegangen?« fragte er. »Ist man ja. Inoffiziell jedenfalls. Das Problem besteht darin, daß man nicht weiß, wo man ansetzen muß und was genau man ermitteln soll. Das Komitee hinterläßt niemals Spuren.« »Bis jetzt.«
»Eine Menge Leute mußten schon dran glauben. San Sebastian, zum Beispiel. Felderberg hat einen kleinen Teil dessen, was vorgeht, ausgeplaudert. Und Sie haben das bei Sanii bestätigt gefunden. Doch immer noch kennen wir erst einen kleinen Teil.« Locke dachte an sein Gespräch mit Felderberg. »Felderberg schickte Lübeck nach Florenz. Zu einem Mann, der als >Der Zwerg* bekannt sein soll.« Dogan nickte zustimmend. »Ja, sieht so aus, als stecke er mit in der Sache drin.« »Felderberg nannte ihn einen Makler in Informationen.« »Wenn man Waffen nicht mitrechnet, Erpressung, Nötigung und was sonst noch für Geld zu haben ist. Ich habe schon mit ihm zu tun gehabt. Ein aalglatter Bursche. Ich gehe jede Wette ein, daß der sich mittlerweile längst dünngemacht hat. Was nicht heißt, daß es keine Möglichkeiten gäbe, ihn aufzuspüren.« Locke überlegte rasch. »Passen Sie auf, da ist noch jemand mit im Spiel. Ein Engländer namens Burgess. Alter Freund von Charney, der mich auch zu ihm geschickt hat. Er hat mir den Weg nach Liechtenstein geebnet. Sollen wir ihn verständigen?« »Ich bezweifle sehr, daß er uns viel helfen kann«, sagte Dogan mißtrauisch. »Sie müssen mir das noch genau erzählen. Könnte ein Mann des Komitees sein.« »Das würde wenig Sinn ergeben«, meinte Locke. »Der Mann ist in Ordnung.« »Um so schlimmer, das sieht für seine Versicherungsgesellschaft schlecht aus. Dann steht er über kurz oder lang beim Komitee auf der Abschußliste.« »Er ist hartgesottener Bursche. So einfach kriegt den keiner.« »Machen Sie sich da nur keine Illusionen. Das Komitee kriegt jeden, den es haben will. Da können Sie jede Wette eingehen. Die haben ihre Mittel und Wege.« »Wenn Sie meinen. Aber was machen wir inzwischen? Wie stehen unsere Chancen?« »So schlecht nicht, würde ich sagen. Erstens sind wir ihnen entwischt. Noch wichtiger, sie haben bis jetzt keine Ahnung, daß ich mittlerweile im Spiel bin. Noch liegt ihnen daran, daß Ihnen nichts widerfährt. Sie sollen denen ja die Spur zeigen, die Lübeck aufdeckte.« Er zögerte ein wenig. »Einer von Felderbergs Leuten wartete am Bahnhof in Schaan.auf Sie, als
Sie ankamen. Doch jemand hat ihn dabei buchstäblich in Stücke geschnitten.« »Und es gibt noch andere Leute, die mich tot sehen wollen.« »Sie meinen die Alte im Bahnhof in Vaduz?« »Ja! Das wissen Sie auch? Woher wissen Sie so etwas?« »Spielt doch keine Rolle. Die Dame war eine bekannte Auftragsmörderin. Hatte einen guten Ruf auf ihrem Gebiet, falls man das so nennen kann. Sie haben eine Menge Glück, daß Sie noch leben, wissen Sie das?« »Das hatte ich auch zuvor schon zweimal.« Er erzählte Dogan kurz die Ereignisse seines Treffens mit Alvaradejo, und was danach folgte. »Wer es also auch sein mag«, schloß er, »wer diese ganzen Killer in der Weltgeschichte herumschickt, muß zu den Leuten gehören, die am Anfang Alvaradejo dazu benutzten, Lübeck zu alarmieren. Das hieße doch, daß sie auf unserer Seite stehen. Mein, oder unser, Problem ist nur, daß sie das nicht wissen. Für sie sieht es so aus, als sei ich ein Werkzeug des Komitees, und deshalb versuchen sie, mich zu eliminieren.« Dogan nickte nur, etwas verblüfft über Lockes scharfsinnige Schlußfolgerungen. »Und das bedeutet«, sagte er, »daß diese mysteriösen Dritten genau wußten, was das Komitee in San Sebastian vorhatte — und anrichtete. Warum also gingen sie das Problem durch Lübeck an? Warum deckten sie die ganze Machenschaft nicht selbst auf?« »Vielleicht aus Angst vor Vergeltung.« »Nein, nein, das paßt nicht ins Bild. Warum hätten sie sonst so viel Mühe darauf verwenden sollen, Sie aus dem Weg zu räumen? Was war es noch, was die Alte im Bahnhof zu Ihnen sagte?« »Daß es egal sei, ob ich Sie töte oder nicht. Weil andere an ihre Stelle treten würden. Daß sie viele seien. Und sie uns alle noch in der Hölle braten sähen.« »Wobei >uns< das Komitee,bedeutete.« »Sieht so aus, ja. Aber einen spanischen Akzent hatte sie nicht.« »Das ist nicht uninteressant. Diese unbekannte Gruppe besteht offensichtlich nicht nur aus ein paar spanischsprechen Fanatikern. Es sind spezielle Teams, oder einzelne, die zu KamikazeAktionen bereit sind. Himmelfahrtkommandos, meine ich.«
»Dann frage ich Sie noch einmal: wozu war dann überhaupt Lübeck nötig?« »Das frage ich Sie, lieber Freund. Welchen Vorteil konnten sie von Lübeck haben?« »Legitimität vielleicht?« überlegte Locke. »Genau das«, sagte Dogan. »Unsere unbekannten Verbündeten, denen nicht klar ist, daß sie es tatsächlich sind, können es unter keinen Umständen riskieren, sich zu erkennen zu geben. So wenig wie das Komitee.« »Anders ausgedrückt, auch sie sind ein Ableger von irgcndwem oder -was.« »Mit der Möglichkeit und Absicht, ihre Flagge nach Belieben und Nützlichkeit immer einmal kurz zu zeigen: hier sind wir. Doch das kriegen wir raus. Ein Freund von mir ist der Dame schon auf der Spur. Wenn wir wissen, wer sie angeheuert hat, haben wir die Antwort.« »Eine der Antworten, wollen Sie wohl sagen«, korrigierte Locke. Er rekapitulierte zum tausendsten Male, leicht abwesend: »Lübeck hat auf den Feldern von San Sebastian etwas gesehen, was bei ihm blankes Entsetzen hervorrief, kurz darauf starb er. Und alles dreht sich immer wieder um Land . . . und um genetisch manipuliertes Getreidewachstum . . .« »Ihr Lübeck«, präzisierte Dogan, »hat ganz offensichtlich eine Menge mehr als nur genetisch manipuliertes Getreide gesehen. Und was das war, müssen wir herausfinden, darum geht es. Das ist der Schlüssel zu dem ganzen Mist.« Sie hatten inzwischen die Grenze zur Schweiz überquert, aber das bedeutete wenig. Zweifellos hatte man Möglichkeiten, ihnen auch in der Schweiz Schwierigkeiten zu machen. »Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?« fragte Locke plötzlich. »Indem ich mich in Ihre Lage versetzte«, erklärte Dogan, »und die paar Gasthäuser und Hotels in Schaan abklapperte, in denen ich abgestiegen wäre, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Ich habe auch tatsächlich bis heute morgen gebraucht, bis ich das richtige Gasthaus gefunden hatte. Dann war es nicht mehr schwierig, Ihnen bis zur Firma Sanii zu folgen und draußen auf Sie zu warten, um Ihnen beizuspringen, falls es nötig würde.« »Was es tatsächlich wurde.« »Ich sagte Ihnen ja, Sie sind ein Glückspilz.« Er warf ihm einen Blick zu. »Obwohl - dieser Charney war ein ganz schöner
Bastard, Sie da hineinzuziehen.« «Was blieb ihm übrig.« »Ach, Quatsch. Seit wann holt man sich in unserem Gewerbe Amateure. Eisernes Gesetz: niemals Amateure.« »Ich hatte immerhin sechs Monate Ausbildung, wie Sie wissen.« »Und die wenigsten, die ihr Leben lang in unserem Beruf sind, hätten es so lange durchgestanden wie Sie.« Er mußte an einer Kreuzung halten. Er musterte Locke scharf. »Die normale Reaktion wäre Abhauen gewesen.« »Mag sein. Aber ich hatte von einem bestimmten Zeitpunkt an beschlossen, das durchzustehen.« Er dachte nach. »Ich würde ja gerne sagen aus Patriotismus. Aber das war nicht der Grund. Diese Scheißkerle haben meine beiden besten Freunde umgelegt, die einzigen, die ich in meinem ganzen Leben hatte. Das ist ein Grund. Der andere Grund, der wahrscheinlich noch entscheidender war, ist die Angst. Sehen Sie, ich hatte im Grunde in meinem ganzen Leben immer Angst. Man hat mir in meinem Leben viel Angst eingejagt, doch ich wurde nicht damit fertig, weil diese Angst für mich nicht greifbar war. Das ist jetzt zum ersten Mal anders. Sie ist da, sie lauert an jeder Ecke auf mich, ich weiß es, sie ist allgegenwärtig. Und wenn ich es schaffe, mich nicht von ihr lahmen zu lassen wie das Kaninchen von der Schlange, bedeuten künftig die anderen Ängste meines Lebens nicht mehr so viel und ich werde endlich in den Spiegel sehen können, ohne mich zu schämen. Ein Versager zu sein, ist nicht das Schlimmste. Viel schlimmer ist, das mit zweiundvierzig zum ersten Mal ganz klar und deutlich zu erkennen.« Dogan schwieg. Er verstand ihn sehr gut, gerade jetzt. Mehr, als Locke ahnen konnte. Sie waren ja alle beide dabei, endlich mit dem Davonlaufen aufzuhören. Aber es wäre natürlich zu kompliziert gewesen, darüber jetzt mit Locke ein Gespräch zu führen. So beschränkte er sich auf die Notwendigkeiten des Augenblicks. »Sobald wir in Zürich sind, werde ich alles Nötige arrangieren, daß Sie nach Florenz fahren und den Zwerg treffen können. Das ist kein Problem. Er schuldet mir einen großen Gefallen.« »Und was machen Sie?« »Ich begebe mich dorthin, wo alle Antworten zu finden sind.« »Sie meinen, nach Südamerika?«
»Nach San Sebastian, um ganz genau zu sein.« »Ich grüße Sie, lieber Freund.« »Warten Sie erst mal ab, was ich für Neuigkeiten habe.« Dogan hatte sogleich nach seiner Ankunft im Staadhof, im Zentrum von Zürich, Waslow angerufen. »Sie klingen müde«, bemerkte Waslow. »Und ich habe Angst. Ich habe Locke aufgespürt.« »Ich habe nichts anderes erwartet.« »Ja, aber sein Treffen mit Felderberg verlief sehr viel informativer, als wir beide uns träumen ließen.« Er informierte Waslow in großen Zügen über das, was er selbst von Locke erfahren hatte. »Sie sehen, Ihre Befürchtungen waren begründet«, schloß er. »Das Komitee ist in der Tat dabei, unsere beiden Länder gegeneinander auszuspielen, und das Instrument dazu ist tatsächlich das Stich wort > Nahrungsmittel. Die einzige konkrete Frage, die noch bleibt, ist, wie sie zuzuschlagen beabsichtigen.« »Ein besseres Gebiet hätten sie sich nicht aussuchen können, was, lieber Freund? Nahrungsmittel, der Schlüssel zu jeder Art von Kontrolle. Wir sind auf Ihre Erzeugung angewiesen, ihr auf eure Exporte an uns. Aber ich bin auch der Überzeugung, dass hier noch viel mehr im Spiel ist als lediglich neue Gentechniken für Getreideanbau, die Locke bei Sanii entdeckt hat. Das Problem besteht immer noch darin herauszufinden, was dieses andere, Zusätzliche ist,« »Locke hat erfahren, daß das Komitee von Österreich aus operiert. Kann uns das weiterhelfen?« »Ich werde einmal ein wenig bohren, ob sich ein Ansatzpunkt findet. Vielleicht geben die KGB-Computer etwas her. Möglicherweise wiederholte Reisen bestimmter Leute nach Österreich, etwas in dieser Richtung. Vielleicht bringt uns das auf die Spur zu Mitgliedern des Komitees.« »Wird wohl eine langwierige Arbeit werden.« »Fürchte ich auch«, bestätigte Waslow. »Vor allem, weil wir im Grunde keine Zeit mehr haben. Da ist die Tatsache - die Sie gar nicht erwähnt haben —, daß in einer Woche- diese Welthungerkonferenz beginnt.« »Ich hielt sie nicht für so bedeutsam in diesem Zusammenhang.« »Das ist sie aber ganz entschieden. Nehmen Sie einmal an, alle unsere Spekulationen über die Absicht des Komitees, einen massiven Schlag gegen unsere beiden Länder zu führen, träfen zu. Was wäre dann das Schlimmste, was ihnen in die Quere kommen könnte?«
Dogan dachte kurz nach. »Irgendein Pakt vermutlich. Zwischen unseren Ländern. Aber das scheint doch ziemlich unvorstellbar.« »Militärisch vielleicht, aber warum wirtschaftlich? Nach dem, was ich in letzter Zeit erfahren habe, ist genau das ohnehin der Zweck dieser ganzen Welthungerkonferenz: ein Handelsabkommen UdSSRUSA, in einer Größenordnung, wie es bisher gar nicht denkbar war. Ihr Präsident hat das sogar sehr klar erkannt und ausgesprochen: daß der Weg zur Vermeidung von Krieg über den Magen führt. Es soll, mit anderen Worten, der Weg für offenen Handel mit allem - mit Ausnahme lediglich des Bereichs der hochentwickelten Computertechnik — geöffnet werden. Im Austausch gegen bestimmte politische Konzessionen - einschließlich des langsamen Rückzugs aus Afghani stan — soll der Sowjetunion dabei sogar ein besonders bevorzugter Status eingeräumt werden.« »Eine kräftige Mixtur: Ernährung und Politik.« »Das ist noch nicht alles. Auf dieser Konferenz sollen unsere beiden Länder ein Memorandum vorlegen, das sich mit der gemeinsamen Hungerhilfe für die dritte Welt befaßt. Man setzt auf unsere Zusammenarbeit, da wir zusammen praktisch alles zuwege bringen können. Und das könnte durchaus stimmen. Man wird neue Versorgungskanäle schaffen, gemeinsame Aktionen zur Landurbarmachung und -kultivierung starten, um dort Getreide ernten zu können, wo noch nie welches gewachsen ist.« »Das wäre natürlich ein tödlicher Schlag für die Projekte des Komitees in Südamerika.« »Wenn nicht, wie wir wissen, lieber Freund, dabei viel bedeutendere Süppchen gekocht würden. Das Komitee hat den Zeitpunkt, zu dem es zuschlagen will, mit Sicherheit nicht rein zufällig gewählt. Der einscheidende Zeitpunkt ist auch dort diese Hungerkonferenz.« »Wobei eine einige Front von USA und Sowjetunion für das Komitee eine Katastrophe wäre.« »Vermutlich. Aber noch wissen wir nicht alles. Vor allem nicht, welche Mittel und Möglichkeiten es hat.« »Es läßt sich vermuten, daß eines ihrer Ziele ist, diese Konferenz zu torpedieren.« »Ja. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie sich des Terrorismus bedienen. Daß diese großartige Nachricht in den Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt wird, kann nicht in ihrem Sinne sein.« »Nicht im Sinne des Komitees, aber was ist mit den Interessen der anderen, die die ganze Zeit schon mit im Spiel sind?
Wissen Sie schon irgend etwas über die Hintermänner der Frau in der Pennermaske?« »Nicht sehr viel«, räumte Waslow ein. »Und das Wenige, das ich erfahren habe, macht die Geschichte noch verwirrender. Die Spur führt nach Südamerika.« - »Gibt es Namen, Orte?« »Nichts Genaues, nein. Lediglich, daß die Kommunikations kanäle in erster Linie von Terroristengruppen benutzt werden.« »Soll das heißen, hinter den wiederholten Anschlägen auf Lockes Leben steckt eine südamerikanische Terroristenorganisation?« »Weiß ich nicht. Aber es gibt bestimmte Hinweise und Anzeichen dafür. Alles paßt.« Der Russe klang etwas frustriert. »Trotzdem ergibt das Ganze keinen Sinn. Meine Leute in Moskau, die sich nur mit dem Terrorismus befassen und jede noch so kleine Gruppe im entlegensten Winkel der Welt kennen, schwören Stein und Bein, daß keine der bekannten Terroristengruppen dahinter steckt. Das ist genau untersucht worden. Negativ.« »Untersuchungen, die von vornherein überflüssig gewesen wären, wenn man diese Gruppe schon als Teil des internationalen Terrorismus gekannt hätte, meinen Sie?« »Richtig. Aber das alles bringt uns ja nicht weiter.« »Nun, es bringt uns wieder nach San Sebastian.« »Das nicht mehr existiert.« »Ja, aber die Antwort liegt dort. Darüber gibt es keinen Zweifel, oder? Ich fliege heute noch nach Kolumbien.« »Das ist ein Schuß ins Blaue, Freund.« »Was bleibt mir übrig.?« »Schauen Sie, wir sind alle frustriert, aber Sie offenbar ganz besonders.« Waslow zögerte etwas. »Ihr Bericht ist seit Tagen überfällig, Ihre Vorgesetzten, die Sie so großmütig wieder eingestellt haben, sind sich der Tatsache bewußt, daß Sie nicht beabsichtigen, den erteilten Auftrag auszuführen. Und es wird kaum noch lange dauern, bis man erfährt, daß Sie genau dem Mann, den Sie eigentlich ausschalten sollten, zu Hilfe gekommen sind. Was, mein lieber Grendel, glauben Sie wohl, wird man dann unternehmen?« Dogan wagte es nicht, daran zu denken. Die Sondersitzung des Komitees begann um zehn Uhr auf Schloß Kreuzenstein. »Sie haben uns da eine schlimme Geschichte eingebrockt, Mr. van Dam«, fuhr Audra St.Clair den amerikanischen Delegierten
direkt an. Wieder waren in dem nur schwach beleuchteten Saal die gleichen fünf Personen anwesend, die bereits am Samstag zusammengetroffen waren. Diesmal war auch der sechste Stuhl besetzt, der bei der letzten Sitzung leer geblieben war, der britische Delegierte nahm heute an der Sitzung teil. Van Dams Mund zuckte. »Ich mußte meine eigene Sicherheit im Auge behalten.« »Mit dem Ergebnis, daß unser aller Sicherheit jetzt gefährdet ist«, gab die Vorsitzende zurück. »Mr. Mandala, wollen Sie uns bitte die Schadensliste vortragen?« Mandala beugte sich vor und vermied es auffällig, den Amerikaner anzusehen. »Locke ist wie erwartet in die Fabrik gekommen. Unser Plan war es, ihn dort gefangenzuhalten, ihm dann aber die Flucht zu ermöglichen, damit er uns zum >Zwerg< führt. Ein Mann, der später als ROSS Dogan identifiziert wurde, in der Branche bekannt als Grendel, half ihm zu entkommen.« »Und das war genau der Mann, der den Auftrag hatte, Locke zu töten, Mr. van Dam«, sagte Audra St.Clair. »Wollen Sie mir das zum Vorwurf machen? Konnte ich das etwa voraussehen? Ich habe lediglich die Anweisung erteilt. Die Ausführung, einschließlich der Auswahl des Mannes, war nicht meine Sache.« »Was ich sagte, war keine Frage, sondern eine Feststellung. Grendel war der Mann, der ausgeschickt wurde, und wir kennen seinen Ruf alle. Soweit ich sehe, gibt es nur einen Grund, warum er einfach seinen Auftrag mißachtete. Er muß erfahren haben, daß Locke nur ein winziges Rädchen in einem großen Getriebe ist. Und das ist schlecht für uns, Mr. van Dam. Sehr schlecht. Wie Sie es auch drehen, Sie haben das zu verantworten. Locke hat jetzt einen Top-Agenten als Helfer und Partner, der ihm nun die Informationen zukommen läßt, die er bisher von uns erhielt - im Glauben und in der Absicht, daraus Nutzen zu ziehen. Die Szene hat sich nun dramatisch verändert. Wir können Lockes Bewegung jetzt nicht mehr kontrollieren, geschweige denn, überhaupt bestimmen. Gren del hat sich an unsere Stelle gesetzt.« Sie wandte sich an den britischen Delegierten. »Wieviel könnte Felderberg ausgeplaudert haben?« Der Engländer zuckte mit den Schultern. »Hauptsächlich die Angelegenheit der Landkäufe. Aber nichts, was Locke zu einem
klaren Bild verhelfen könnte. Vor allem konnte er ihm keinen Hinweis auf Tantalus geben.« »Was ist mit Grendel? Bedenken Sie, daß er jetzt auch alles erfährt, was Locke weiß. Das könnte g'anz besonders gefährlich werden.« »Nur, wenn er dadurch von unserer Existenz erfährt«, sagte der Engländer. »Bisher kann er nur mit Gerüchten und vagen Kombinationen arbeiten.« »Geben Sie sich da keinen Illusionen hin«, sagte Audra St.Clair, »er wird dahinter kommen, darauf ist er spezialisiert. Was mich beunruhigt, ist auch gar nicht der Schaden, den er persönlich anrichten könnte, sondern, daß der Verdacht, dem er nachgeht, auch bis in hohe Ränge der amerikanischen Regierung reicht.« »Damit«, warf van Dam ein, »ließe sich fertigwerden. Seine Weigerung, den erteilten Auftrag auszuführen, reicht aus, ihn kaltzustellen. Er wurde dadurch zum Paria, das sollte ausreichen, daß er keinen Schaden mehr anrichten kann.« »Der einzige Weg, das wirklich sicherzustellen«, sagte Mandala, »ist die Eliminierung.« »Das versteht sich, für den Fall, daß ich die Anweisung erteile, ihn abzulösen. Inoffiziell, selbstverständlich, verstehen Sie?« »Ich verstehe sehr gut, und trotzdem sind Ihre Vesicherun-gen keinen Pfifferling wert, Mr. van Dam.« Mandala schoß blitzende Blicke in die Runde, ehe er sich an die Vorsitzende wandte. »Grendel ist ein zu ausgebuffter Mann, als daß ihm mit den üblichen Mitteln beizukommen wäre. So rasch kommt keiner an ihn heran. Und Töten macht ihm überhaupt nichts aus, es gehört zu seinem Geschäft. Ich schlage vor, wir unterstützen Mr. van Dams Vorschlag der inoffiziellen Ablösung. Ich werde dann dafür sorgen, daß die Eliminierung zum frühesten Zeitpunkt erfolgt.« Er wartete ein wenig, ehe er mit einem kleinen Lächeln hinzufügte: »Ich habe genau den richtigen Mann für diese Aufgabe.« »Zunächst einmal«, bremste ihn Audra St.Clair, »müssen wir Dogan natürlich finden. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo man beginnen könnte?« »In der Schweiz«, schlug der britische Delegierte vor. »Dogan hat dort eine Menge Kontakte. Und die Nähe zu Liechtenstein spricht dafür, daß er sich dort aufhält. Er wird natürlich ständig seinen
Aufenthaltsort wechseln. Schon weil Lockes Informationen Nachforschungen notwendig machen.« »Dann ist es auch wahrscheinlich, daß wir ihn über Locke aufspüren können«, vermutete Mandala. »Und den aufzuspüren, ist bestimmt viel leichter. Ich habe die Mittel, dafür zu sorgen, daß er voll und wissentlich mit uns kooperiert. Sobald er seine Funktion erfüllt hat, kann er dann ebenfalls eliminiert werden.« »Das halte ich nicht für sinnvoll«, wandte die Vorsitzende ein. »Wir müssen herausfinden, ob er noch irgendwelche anderen Kontakte aufgenommen hat. Von Grendel werden wir kein Sterbenswörtchen erfahren, selbst wenn wir ihn lebend schnappen. Also muß Locke vor jeder Gefahr beschützt und hierhergeschafft werden. Ist das klar, Mr. Mandala?« Mandala nickte, so überzeugend er es nur vermochte, wenn er auch nicht die mindeste Absicht hatte, den Anweisungen der alten Hexe zu folgen. Jedenfalls dann nicht, wenn sie seinen eigenen Plänen zuwiderliefen. Ihre Herrschaft im Komitee neigte sich ohnehin dem Ende zu. Dann kam seine Zeit. Mandala unterdrückte beim Gedanken daran nur mühsam ein Lächeln. »Also gut«, sagte Audra St.Clair, »alle verfügbaren Mittel werden aufgeboten, alle unsere Kontaktleute eingesetzt und verständigt, speziell die schweizerischen.« Sie sah sich in der Runde um. »Die Welt ist klein, meine Herren. Wir werden auch dieses Problem bald gelöst haben.« Calvin Roy preßte die Finger an seine Stirn, als könnten die Druckstellen, die er damit erzeugte, seine Frustrationen der vergangen fünf Tage vertreiben. »Verflucht und zugenäht, Major, ist das vielleicht alles, was Sie zu bieten haben? Das ist genausoviel wie am Anfang!« »Aus Liechtenstein kamen die Informationen nur langsam herein. Jedenfalls wissen wir jetzt, daß Locke ein Ferngespräch geführt hat. Er wählte eine Nummer in England — in Falmouth, um genau zu sein. Wir hören diesen Anschluß ab und halten das Haus unter Bewachung.« »Und? Hat er noch öfter dort angerufen, unser abtrünniger Professor?« »Nein.« »Und bei sich zu Hause?« »Auch nicht.« Major Kennally schüttelte den Kopf. »Und ich habe Liechtenstein mit Agenten geradezu übersät. Aber wir können ihn nicht finden. Vorausgesetzt, er ist noch immer dort.«
»Major, sind Sie schon mal nachts über ein frisch bestelltes Feld gegangen? Es stinkt überall infernalisch nach Jauche und es kommt darauf an, in keinen der Scheißhaufen hineinzutreten. Und das geht. Weil es mehr Stellen gibt, wo keine liegen, als Stellen, wo welche liegen. Nur, in der Regel pflegt man ausgerechnet da hinzutreten, wo eine ist. Verstehen Sie, was ich meine? Genauso ist es mit diesem Locke. Wir müssen dem Burschen einfach auf der Spur bleiben.« »Ja, nur hat er keine hinterlassen.« Roy schien das gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Hat sich irgend etwas Ungewöhnliches ereignet, bevor er nach England telefonierte?« »So könnte man das nennen, ja. Ein Mord«, sagte der CIA-Chef. »Aber noch wissen wir davon nur in groben Zügen.« »Na, und wie war's damit?« »Ein Finanzmakler namens Felderberg ist umgebracht worden. Die Behörden in Liechtenstein sind noch sehr zurückhaltend, aber es scheint ziemlich klar zu sein, daß man Locke die Sache nicht anhängen kann.« Calvin Roy lächelte und strich sich über seinen kahlen Schädel. »Mir scheint, Major, daß Locke und Felderberg zusammenhängen wie Stierhoden. Ich weiß nur noch nicht wodurch.« »Nun«, stellte Louie Auschmann fest, »Locke ist auf Lübecks Spur losgezogen. Und wir wissen, daß Lübeck irgendwann vor San Sebastian in Liechtenstein war. Wenn Locke nun Lübecks Spur immer noch folgt? Das würde erklären, warum er nicht auftaucht und sich meldet.« »Nur, Louie, da er Charney nicht mehr hat, der ihn führt und leitet, braucht er doch Hilfe. Was ist übrigens aus der Überprüfung von Charneys Kontakten in England geworden?« »Negativ.« »Gibt's doch nicht. Leuchtet mir nicht ein. Da muß was sein. Haben Sie die Akte noch, Louie?« »In meinem Büro.« »Bringen Sie sie mir doch bei Gelegenheit vorbei.« »Meinen Sie, wir hätten etwas übersehen?« »Vielleicht«, sagte Roy. »Wissen wir irgendwas darüber, wo Locke nach Liechtenstein hin will?« »Nach Florenz. Vorausgesetzt, er folgt weiter Lübecks Spur. Aber wir haben keine Möglichkeit, festzustellen, was er dort will.« »Dann«, sagte Calvin Roy, »lassen Sie jeden verfügbaren Mann der ersten Kategorie, nach Florenz schaffen, Major Pete. Alle die wir
haben. Ich gehe jede Wette ein, daß Locke in Florenz auftaucht.« »Vorausgesetzt, er lebt noch«, sagte Kennally sachlich. »Zumindest lebt seine Familie noch. Haben Sie sie von der Bildfläche verschwinden lassen, wie ich angeordnet habe?« Kennally zögerte. »Da hat es — eine Komplikation gegeben.« Calvin Roy runzelte die Stirn. »Aha. Na, dann putzen Sie die Ackerscheiße mal von Ihren Schuhen, Major, und erzählen Sie's mir.« Die Frau stieg hinten in das wartende Auto ein, in dem der VIann mit der Augenklappe saß. »Wir finden ihn nicht«, sagte sie. Sie sprach spanisch. »Wie war das möglich? Die Alte war doch wirklich erste Garnitur.« »Er wird es uns büßen«, sagte die Frau. »Auch ihren Tod.« »Nun ja«, sagte der Man, »Selbstverteidigung und Notwehr kann man keinem übelnehmen.« »Du verteidigst ihn? Ausgerechnet du?« »Irgend etwas an- der ganzen Geschichte stimmt nicht. Von Anfang an. Mich hat schon London irritiert. Alvaradejo hatte vier Schuß Vorsprung, ehe Locke ihn kriegte. Und auch der Taxifahrer sagte, daß es eigentlich nur der Unfall war, der Locke rettete, nicht seine eigenen Aktivitäten.« »Ja, aber Pablos Kehle war ganz professionell durchgeschnitten.« »Du kennst den Autopsiebericht nicht. Der Schnitt wurde von unten her geführt. Von jemandem, der kaum einssechzig groß gewesen sein kann. Locke ist einsfünfundachtzig groß.« »Du meinst — er hat noch einen Helfer?« fragte die Frau ungläubig. Der große Mann schüttelte den Kopf und fingerte an seiner Augenklappe herum. »Nein, das würde nicht ins Bild passen. Locke war genauso gut, wie er sein mußte, um mit diesem Auftrag betraut zu werden. Andere wären da völlig fehl am Platze gewesen, und überflüssig. Immer vorausgesetzt, die ganze Sache war nicht von Hause aus ein Täuschungsmanöver.« »Verstehe ich nicht.« »Man hat uns verladen. Locke ist nichts weiter als eine Ablenkung. Wir müssen rasch handeln. Es könnte bereits zu spät sein.« »Du meinst, sie wissen, wer wir sind?« fragte die Frau in aufkeimender Sorge. »Sobald sie es wissen, sind wir erledigt«, sagte er.
»Wie sollen sie es wissen? Von den Toten war keiner mehr zu identifizieren.« »Sie haben sich anderer Methoden bedient, um uns auf die Spur zu kommen. Sie haben uns die Marionette Locke hingehalten und ihn an den Schnüren wieder hochgezogen, sobald wir ihm auf den Pelz rückten. Sie haben uns lange genug abgelenkt, um selbst Zeit zu gewinnen. Wenn sie herausbekommen, wer wir sind, spielt Zeit aber keine Rolle mehr. Weil dann wir die Gejagten sein werden.« »O Gott . . .« »Noch sind wir nicht erledigt«, beruhigte er sie. Sein gesundes Auge wurde schmal. »Unsere Basis in Spanien ist sicher, unsere noch übriggebliebenen Kämpfer sind es ebenfalls. Wir werden unsere Aufmerksamkeit jetzt auf die Konferenz richten und dort zuschlagen.« »Und dann?« »Wenn es ein Fehlschlag wird, gibt es auch kein mnd dann< mehr«, sagte er sachlich. »Für uns jedenfalls nicht. Und für Südamerika.« Der Commander legte seine Zeitung an seinem üblichen Tisch in seinem üblichen Cafe auf den Champs-Elysees beiseite und sagte: »Sie haben sich bewunderswert erholt.« Keyes auf dem Stuhl gegenüber knurrte zustimmend. Das Sprechen fiel ihm schwer. Aus seinem verletzten Kehlkopf kam kaum ein verständliches Wort. Die Silben flössen nur blubbernd aus dem Mund, so, als habe er den ständig voll Wasser. »Ich hätte da einen Auftrag für Sie«, sagte der Commander. »Trauen Sie sich das zu?« Keyes nickte. »Behindert Ihre Hand Sie nicht?« Keyes blickte auf den Handschuh, den er über seiner von Dogan so malträtierten Hand trug. Es würde seine Zeit dauern, hatten die Ärzte gesagt. Scheißzeit, dachte Keyes. Er Schüttelte den Kopf. Nein, die Hand sollte ihn nicht behindern. »Finden Sie Grendel und liquidieren Sie ihn«, sagte der Commander. »Er hat sich selbst disqualifiziert, und wir wollen ihn vom Hals haben.« Er musterte den jungen Mann und genoß die Tatsache, daß er für diese Aufgabe keinen Besseren
hätte auswählen können als Keyes. Es war bereits durchgesik-kert, daß Dogan auf der schwarzen Liste stand. Der Commander wußte jedoch, daß das nicht ausreichte. »Ich dachte mir, Sie würden diesen Auftrag gern übernehmen?« Er lächelte. »Selbstverständlich ist alles inoffiziell. Kein Bericht oder ähnliches. Dinge dieser Art fallen nicht jeden Tag an. Sie werden deshalb auch keine Rechenschaft über irgend etwas ablegen müssen, was Sie im Verlauf Ihrer Mission unternehmen. Sie können also völlig frei und selbständig handeln, so lange sie es schnell tun. Das ist die einzige Bedingung. Noch Fragen?« Keyes schüttelte den Kopf und lächelte nur.
Sechster Teil Florenz und San Sebastian Dienstag nachmittag Locke konnte es überhaupt nicht glauben, als Dogan am Montag abend seinen Paß brachte. »Ein russischer Freund hat die Sachen aus dem Bahnhof in Vaduz herausgeholt«, war alles, was Dogan sagte. »Ohne den Paß wäre es schwierig für Sie zu reisen.« »Ich dachte, ihr Burschen habt so weltweite Kontakte, daß ihr im Handumdrehen einen neuen besorgen könntet?« »Ja, besonders jetzt, wo alle Welt nur darauf wartet, daß ich genau das versuche!« »Das heißt also, ich bin laut Paß auch weiterhin Sam Babbit.« »Nachdem Felderberg der einzige war, der Sie unter diesem Namen kannte, dürfte das kein Sicherheitsrisiko sein.« »Auch Burgess weiß es«, erinnerte ihn Locke. »Er hat mir diese Papiere überhaupt erst verschafft. Und Sie haben doch bestimmte Vorbehalte gegen ihn geltend gemacht.« »Nach dem, was Sie mir erzählten, glaube ich nicht, daß wir von ihm wirklich etwas zu befürchten haben. Abgesehen davon bleibt uns sowieso nichts anderes übrig.« »Dann sollte ich aber vielleicht doch die Kontaktnummer anrufen und ihm Bescheid sagen.« »Nein, das nicht. Vermutlich hat irgend jemand inzwischen seine Kontakte zu Charney schon ermittelt. Was bedeutet, daß er bereits überwacht wird. Sie bringen ihn also nur in noch größere Gefahr und verraten sich gleichzeitig selbst.« Locke sah auf den gefliesten Boden des Balkons, der zu seinem Zimmer gehörte. »Das gilt wohl auch für Kontakte mit meiner Familie, wie?« »Mehr denn je«, sagte Dogan sanft und versuchte ihn damit zu trösten, so gut es ging. »Ihre Angehörigen würden Ihnen unweigerlich Fragen stellen, die Sie nicht beantworten könnten. Sie um Erklärungen bitten, die Sie unmöglich geben können. Mehr noch, mit ihr jetzt in Kontakt zu treten, wäre für Ihre Familie lebensgefährlich.« »Und wenn das längst der Fall ist?« fragte Locke plötzlich. »Das Komitee schreckt vor nichts zurück, haben Sie mir selbst gesagt. Meine Familienmitglieder bieten sich als Geiseln geradezu an.«
»Ja, aber nur als Druckmittel gegen Sie, und das war ja bis gestern noch gar nicht nötig. Und vorläufig bedeutet das gar nichts, weil das Komitee nicht weiß, wo Sie stecken. Es schreckt vor nichts zurück, richtig. Aber es unternimmt auch nichts Sinnloses. Darauf können Sie sich verlassen.« »Seien Sie mir nicht böse, wenn ich es trotzdem nicht tue«, sagte Locke müde. »Mein Gott, diese ganze Geschichte ist so verrückt. Noch vor einer Woche habe ich mein Leben gehaßt. Ein einziger Zusammenbruch. Ich war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen, um den Kopf über Wasser zu halten. Das war vermutlich auch der Hauptgrund, warum ich mich auf Charneys Angebot überhaupt einließ. Aber wo stehe ich jetzt? In einem Labyrinth. Darin tappe ich nun herum, und wohin ich auch gehe, ich stoße gegen Wände. So bescheuert es klingen mag, aber jetzt habe ich das Gefühl, meine früheren Sorgen waren gar nicht so schlimm, und meine häuslichen Probleme waren kaum gravierender als die, die jeder hat.« »Ich kann Sie gut verstehen.« »Wirklich? Haben Sie zu Hause in den Staaten ein Leben, in das Sie vermutlich nie mehr zurückkehren werden?« fragte Locke herausfordernd. Im gleichen Augenblick bereits tat es ihm leid; noch ehe er sah, daß er Dogan damit wirklich verletzt hatte. Dogan blickte zur Seite. »Nun, ich habe nie eine Familie gehabt. Ich glaubte immer, sie wäre mir nur hinderlich. Es ginge ja auch wirklich nicht, in meinem Geschäft, nicht?« »Brian Charney hat es versucht. Es ging tatsächlich nicht.« »Es geht meistens nicht. Man muß den Beruf in diesem Geschäft über alles andere stellen. Sonst kann man es gleich bleiben lassen.« Ein bitterer Ton war in Dogans Stimme vernehmbar. »Das galt ganz besonders für mich. Weil ich der beste Mann war. Aber was hat man davon, der Beste zu sein? Letzten Endes nur, daß man zu einem ganz besonderen Zielobjekt wird. Für die Gegenseite wie für die eigenen Leute. Die eigenen Leute sind sogar noch schlimmer als die von der anderen Seite. Denn wenn man zu gut wird, bekommen sie Angst, sie glauben, man hat eine zu hohe Machtposition inne. Das ist dann der Punkt, an dem man ihnen lästig wird. Man hat sein ganzes Berufsleben gearbeitet und gekämpft, etwas zu erreichen. Und wenn man es dann hat, nehmen sie es einem weg. Weil man für sie nur eine Maschine ist - nein, weniger als eine Maschine; eine Nummer. Eine Nummer, die sich mit einem einzigen Tastendruck aus dem Computer löschen läßt. Und dann existiert man nicht mehr. Weil
man das möglicherweise schon von Anfang nicht tat.« Dogan atmete ganz ungewöhnlich schwer. Locke mußte lächeln. »Da sitzen wir nun und weinen uns aus, einer an des ändern Schulter.« Auch Dogan lachte kurz auf und sah dann auf seine Uhr. »Ja. Während ich eigentlich mein Flugzeug kriegen muß. Ich fliege in einer Stunde nach Bogota. Ihr Flugzeug nach Rom geht morgen früh. Anschließend haben Sie eine wunderschöne Fahrt mit dem Zug nach Florenz vor sich. Ich habe mit den Leuten des >Zwergs< schon Kontakt aufgenommen. Er erwartet Sie.« »Sie meinen, ich marschiere einfach in sein Büro und sage, Sie hätten mich geschickt . . .?« »Nicht gerade. Irgend etwas scheint den kleinen Mann heftig verschreckt zu haben, und das hat ihn veranlaßt unterzutauchen. Sie können davon ausgehen, daß es einigermaßen umständlich sein wird, zu ihm zu gelangen. Und er wird Sie eingehend überprüfen lassen. Es könnte leicht ein sehr langer Nachmittag werden.« »Florenz soll zu dieser Jahreszeit sehr schön sein.« »Um so besser, denn Sie werden notgedrungen eine Menge Florenz zu sehen bekommen. Es ist allgemein üblich, jemanden in dieser Situation eine ganze Weile herumlaufen und herumfahren zu lassen, bis man sicher ist, daß er auch wirklich allein ist. Und außerdem nicht beobachtet wird. Befolgen Sie auf jeden Fall alle Anweisungen. Der Zwerg trifft seine Vorsichtsmaßnahmen, aber wenn Sie kooperieren, wird er sich am Ende mit Ihnen treffen.« »Und danach?« »Danach fahren Sie nach Rom zurück, ins Hilton. Da ist bereits für Sie ein Zimmer reserviert. Von dort rühren Sie sich nicht weg, bis Sie von mir hören. Der Kontakt wird über den Hotelmanager gehen, per Code. Ich habe mit dem Mann schon zusammengearbeitet. Er ist sehr zuverlässig. Wenn er nichts anderes signalisiert, weiß ich, daß die Luft rein ist und dann kann ich kommen. Ich nehme nicht an, daß ich lange in San Sebastian bleiben werde. Wenn alles glatt läuft, möchte ich am Mittwochabend in Rom sein.« »Sehr viel ist bisher nicht glatt gelaufen.« »Aber immerhin leben wir noch, Freund. Und das ist ja auch schon etwas.« Calvin Roy las nun schon zum sechsten Mal Brian Charneys Personalakte durch. Nach wie vor hatte er das untrügliche Gefühl, daß etwas fehlte. Er hatte bereits rotentzündete, brennende Augen vor Müdigkeit, aber er blätterte dennoch zum siebten Mal das Dossier durch.
Er war ganz sicher, daß das, was er suchte, darin zu finden war. Er mußte es nur finden. Erkennen. Ein Beweis, daß an einer Personalakte mit höchster Sicherheitsstufe manipuliert worden war, hätte seine — und Charneys - schlimmsten Befürchungen bestätigt: nämlich die, daß die ganze Sache weit in USRegierungskreise hineinreichte. Er las und las. Charney mußte Locke zu jemandem in England geschickt haben, zu jemandem, dessen Name irgendwo in der Personal akte des toten Agenten stehen mußte. Das war der Schlüssel, der die Antwort liefern würde. Aber wo war er? Und dann erstarrte er plötzlich. Er las den Absatz noch einmal. Und ein drittes Mal. Er nahm die Seite heraus und besah sie sich genau. Das war es. Er hatte es. Ganz einwandfrei, im Dossier war herumgepfuscht worden. Kein Zweifel. Ganz offensichtlich. Aber warum? Und von wem? Etwas stank da ganz gewaltig, und der unschuldige College-Professor steckte mitten in der Scheiße. Er griff nach dem Telefon und drückte auf einen Knopf. »Roy hier. Geben Sie mir den Außenminister über die abhörsichere Leitung. Wo immer er ist. Und zwar dalli.« Locke kam mit dem Zug um vier Uhr nachmittags am Bahnhof Florenz an. Es war eine etwas hektische Reise gewesen, aber, so unglaublich es war, nichts war passiert. Er nahm sich ein Taxi und ließ sich zum Palazzo Vecchio fahren, wo er hinbestellt war. Er fühlte sich auf alles vorbereitet und gefaßt. Der Palast, auch Palazzo della Signoria genannt, war ein mächtiges Gebäude auf der majestätischen Piazza della Signoria im Herzen der Stadt. Sein Turm, der Torre di Arnolfo, praktisch das Wahrzeichen der Stadt, ragte hoch zum Himmel empor — er war genau 94 Meter hoch — und hatte eine große alte Uhr mit lateinischen Zahlen auf dem Zifferblatt. Vor dem Palast standen Statuen in verschiedenen Größen und in eingebauten Nischen befanden sich zahlreiche Wappentafeln. In seinem Inneren beherbergte er Kunstschätze, die die Jahrhunderte überdauert hatten. Lockes Instruktionen lauteten, daß er draußen bei den Statuen, Tauben und Pferdekutschen warten sollte. Er gesellte sich zu den Einheimischen und den Touristen. Er sollte sich, wenn auch unauffällig, nur zeigen, und abwarten. Neben ihm kam eine Pferdekutsche heran und wurde etwas langsamer. »Kutsche, Mister?« fragte der Kutscher in gebrochenem Englisch. »Nein, danke«, sagte Locke und wandte sich ab. Aber der Kutscher blieb hartnäckig. »Kutsche, Mister?« »Nicht jetzt«, sagte Locke so höflich er konnte. Der Kutscher lächelte schwach und streckte seinen rechten Arm aus, während er die Zügel nur mit der linken Hand hielt. »Kutsche, Mister?« wiederholte er zum dritten Mal. »Hören Sie, ich sagte doch . . .«
Sein Blick fiel auf den ausgestreckten Unterarm des Kutschers. Eine Tätowierung. Ein kleiner Mann der zwischen zwei sehr großen Männern stand. Ein sehr kleiner Mann. Ein Zwerg. Locke sah den Kutscher verblüfft an. Der zwinkerte ihm leicht zu. »Kutsche, Mister?« »Also gut«, sagte Locke, für alle Fälle, und stieg ein. Das Pferd trottete langsam durch die Altstadt von Florenz. Es ließ sich auch nicht durch das drängelnde Auffahren der vielen kleinen Autos mit ihren lauten und ständig tönenden Hupen aus der Ruhe bringen. Es trabte weiter, als gehöre die ganze Straße ihm, und als seien die Autos nur lästige Eindringlinge. Sie kamen schließlich in die gesperrte Zone mit den engen Straßen dorthin, wo Autoverkehr nicht mehr zugelassen war. Fünf Minuten danach blieb die Kutsche auf einem Platz vor einem Bauwerk stehen, das Locke sofort als das berühmte Baptisterium erkannte. Eines der ältesten Bauwerke von Florenz. Der Kutscher zog die Zügel hart an. Das Pferd blieb abrupt stehen. Locke wurde fast nach vorne geschleudert. Der Kutscher bedeutete ihm auszusteigen. Er griff in die Tasche und suchte nach einigen Lire, die er schon in Zürich eingewechselt hatte. Aber der Kutscher winkte ab, nahm die Zügel, damit das Pferd wieder antrabte, und fuhr davon. Locke lief auf dem Platz herum. Das Baptisterium war ein ganz ungewöhnliches, achteckiges Gebäude aus verschiedenfarbigem Marmor und bogentragen-den Pilastern rundum. Er ging darauf zu und versuchte, keine der vielen Tauben zu treten, die auf dem Platz herumliefen, ohne sich groß um die vielen Menschen zu kümmern, die hier so gut wie immer herumliefen, und von denen sie mit Brotkrumen gefüttert wurden. Eine alte weißhaarige Frau warf ihnen händeweise Körnerfutter hin und sie folgten jeder ihrer Bewegungen. Er ging an der Frau vorbei, da fiel eine Handvoll Brotkrumen auf seinen Fuß, woraufhin sofort und ohne jede Scheu einige Tauben herbeihüpften, um sie ihm buchstäblich vom Schuh zu picken. Die alte Frau entfernte sich rasch. Zu seinen Füßen lag ein gerolltes Stück Papier. Er bückte sich vorsichtig, um es aufzuheben und verbarg das Papier in der Hand, als er es aufrollte und las: Uffizien, Thronende Madonna. Die Uffizien an der Piazza delle Uffizi, unmittelbar neben der Piazza della Signoria mit dem Palazzo Vecchio, an dem die Reise durch Florenz ihren Anfang genommen hatte! Eine der großen Gemäldegalerien der Welt. Unter anderem hing dort die Madonna von Giotto; offiziell die Maesta oder Madonna in der Glorie; zusammen mit den beiden anderen, fast gleichen Maestas/Thronenden Madonnen von Duccio und Cimabue . . . Der »Zwerg« war offenbar ein Kunstliebhaber. Der Weg war zwar nur kurz, aber er kannte ihn nicht und konnte auch die Entfernungen nicht abschätzen. Er winkte sich ein Taxi heran, um sich zu den Uffizien fahren zu lassen. Es mußte der gesperrten Zone wegen lange Umwege durch dichten Verkehr fahren und brauchte zehn Minuten. Zu Fuß hätte es keine fünf gedauert . . . Es waren an diesem Tag erstaunlich wenige Besucher da, und er hatte keine Mühe, die riesige Giotti-Moesta zu finden, die eine ganze Wand für sich
allein beanspruchte. Im Augenblick hielt sich niemand vor diesem Bild auf. Er erwartete, daß ihm irgend jemand auf die Schulter klopfte oder ihm etwas in die Tasche schob. Statt dessen entdeckte er, daß in der Beschriftungstafel neben dem Rahmen des Bildes unten etwas steckte. Er tat, als wolle er die Beschriftung aus der Nähe lesen, und zog es heraus. Ein gefalteter Zettel! Er sah sich um, ob er von niemandem beobachtet werde, und entfaltete ihn.
Ponte Vecchio, Westseite, weißer Alfa Romeo. Der Weg über die mittelalterliche Brücke mit ihren Verkaufsläden und -ständen bis zur Westseite nahm kaum zehn Minuten in Anspruch, aber es kam ihm viel länger vor. Die Frühlingswärme der Toskana machte sich inzwischen bemerkbar. Sein Hemd war durchgeschwitzt, und er widerstand der immer größer werdenden Versuchung, seine Jacke auszuziehen und über den Arm zu legen, aus Angst, die Leute des »Zwergs« könnten ihn in der dichten Menschenmenge dann aus den Augen verlieren. Sein Mund war trocken. Er war ziemlich durstig. Zuletzt hatte er an einem Brunnen in Rom kurz vor Abfahrt des Zuges einen Schluck Wasser getrunken. Als er am Ende des Fönte Vecchio angekommen war, hörte er irgendwo einen Motor starten. Er drehte sich sofort suchend herum. Da war bereits der weiße Alfa Romeo, der sich zentimeterweise den Weg durch den Verkehr bahnte. Er blieb direkt neben ihm stehen. Durch die getönten Scheiben konnte er nicht erkennen, wer am Steuer saß; aber er öffnete einfach die hintere Tür und stieg ein. »Guten Tag, Mr. Locke«, sagte der Mann am Steuer sofort. »Wir freuen uns, daß Sie wirklich der sind, der zu sein Sie vorgaben, und daß Sie allein gekommen sind.« Der Fahrer sprach ein korrektes Englisch. Locke wollte eben etwas erwidern, als er weitersprach: »Ich bringe Sie nun zum >Zwerg<.« Er fuhr die gewundene Straße am Arno entlang, bog dann ab zu den Hügeln über der Altstadt und fuhr die lange Serpentinenstraße mit ihrem frischen, reichen Grün der Bäume zu beiden Seiten hinauf. Die Straße war eng, und entgegenkommende Fahrzeuge huschten zentimeternah an ihnen vorbei. Bald erreichten sie eine Privatstraße mit dem Wegweiser PORTE DI BELVEDERE. Das sich darunter befindende Sperrschild CHIUSO IN RESTAURO schien den Fahrer nicht weiter zu kümmern. Er fuhr weiter bis zu einem von nicht weniger als vier bewaffneten Posten bewachten Tor des alten Forts Belvedere, die dazu da waren, alle Touristen, die die
Warnung des Durchfahrtverbotes nicht beachtet hatten, endgültig anzuhalten. Einer der Posten sprach kurz mit dem Fahrer, hängte dann die Sperrkette aus, und sie fuhren in den Innenhof der einst uneinnehmbaren, vierhundert Jahre alten Festung, die jetzt eine der schönsten Aussichten über Florenz und die Hügel bot. Dieses alte Fort mit seinem einzigen großen Gebäude hatte' der »Zwerg« offensichtlich eher wegen seiner strategischen als seiner ästhetischen Vorzüge ausgewählt. Der Alfa hielt direkt vor einem Behelfs-Zelt, das mitten auf dem Hof des Forts aufgestellt war. Daraus äugte ihn ein kleiner Mann an. Links und rechts flankierten ihn zwei buchstäbliche Riesen. Locke stieg aus. Ein lächelnder, sonnengebräunter Mann mit über die Schulter gehängtem Gewehr empfing ihn. »Willkommen in Florenz, Mr. Locke. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen unsere Vorsichtsmaßnahmen bereitet haben mögen. Ich muß Sie auch jetzt noch einmal um Verständnis dafür bitten, daß wir Sie durchsuchen müssen.« Während er sorgfältig abgetastet wurde, bemerkte er noch weitere Vorkehrungsmaßnahmen. Ringsherum war eine ganze Anzahl bewaffneter Männer postiert. Wachhäuschen mit Sandsackbarrieren davor befanden sich an den beiden Ausfahrten, beide mit schweren MGs auf Dreifuß ausgerüstet. Wachtposten waren buchstäblich überall, selbst oben auf dem Dach des Hauptgebäudes und im Campanile. Lieber Gott, dachte Locke, der Zwerg scheint einen Generalangriff zu befürchten. »Sagt Ihnen die Wahl meiner Zuflucht zu, Mr. Locke?« Er wandte sich um und sah sich einem kleinen Mann gegenüber. »Sehr erfreut, Ihnen zu Diensten sein zu können«, sagte der »Zwerg« und streckte seine kleine dicke Hand aus. Sein Händedruck war erstaunlich fest. Die Gesichtszüge dieses Liliputaners waren in keinster Weise verzerrt oder entstellt. Er trug einen überaus gepflegten Lippen- und Spitzbart. Die Augen waren voll und groß, wirkten müde. Er trug graue Slacks und ein blaues Sporthemd. »Ich bin beeindruckt«, sagte Locke und sah sich um. Der Zwerg folgte seinen Augen. »Diese Anlage wurde ursprünglich zum Schutz des Großherzogs Ferdinand erbaut. Ich habe sie vor einiger Zeit erworben, weil sie nach wie vor als Verteidigungsfestung hervorragend geeignet ist. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.«
»Besonders, wenn man über Informationen verfügt, wie Sie es tun.« Der Blick des Zwerges verschleierte sich etwas. »Ich besitze in der Tat viele Informationen, Mr. Locke, und jede einzelne davon macht mich zwangsläufig zu irgend jemandes Feind. In meinem Geschäft hat man keine Freunde, allenfalls Partner. Mir macht das nichts aus. Ich habe von Menschen noch nie etwas anderes erfahren als Geringschätzung und Verachtung. Ich habe mich statt dessen den Künsten und der Geschichte zugewandt. Dort spielen Körpergröße und Vorurteile keine Rolle. Ich zeige Ihnen gerne mein Haus, Mr. Locke. Die beträchtlichen Summen, die ich verdiene, stecke ich zum großen Teil in seine ständig kostbarer werdende Ausstattung mit echten Kunstschätzen. Es gibt Zeiten, wo ich buchstäblich tagelang nichts anderes tue als sie zu betfachten, um sie zu verstehen und ihre phantastische Schönheit zu bewundern. Sie sind zeitlos und einzigartig. Und mir teuer auch als Abwechslung zum unvermeidlichen Umgang mit den Menschen.« Er holte tief Atem. »Aber entschuldigen Sie. Sie sind natürlich nicht hierhergekommen, um sich meine Ansichten über das Leben und die Kunst anzuhören. Lassen Sie uns aus dieser Sonnenhitze gehen. Sie sehen durstig aus.« Locke ging langsam, um dem Zwerg zu ermöglichen, Schritt mit ihm zu halten. Er hatte von den Knien an die typischen Beine der Liliputaner, und Locke sah auch, daß jeder seiner Schritte von einer Grimasse begleitet war; er hatte offensichtlich Gehbeschwerden, äußerte sich aber nicht darüber. Sie traten in den kühlen Schatten des Bauzeltes und setzten sich an einen Tisch, der dort aufgestellt war. Die Wachen zogen sich etwas zurück, blieben aber anwesend und wachsam. »Was darf ich Ihnen anbieten?« fragte der Zwerg mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ganz gleich, nur kalt und ohne Alkohol.« »Zwei Eistees«, rief der Zwerg. »Bringt gleich eine Karaffe mit.« Er wandte sich wieder Locke zu. »Sie haben nichts von meinen Wachen zu befürchten. Sie sind ausschließlich da, um gewaltsame Attacken von Seiten des Komitees abzuwehren.« Locke versuchte seine Lippen anzufeuchten, doch auch seine Zunge war völlig trocken. »Sie wissen natürlich, daß ich genau deshalb zu Ihnen komme.«
»Soviel hat Dogan angedeutet, ja. Aber ganz sicher bin ich erst, seit ich bei der Erwähnung des Komitees Angst in Ihren Augen aufflackern sah. Das Komitee versteht es gut, Angst in den Seelen und damit den Augen der Menschen hervorzurufen. Wenn auch nur wenige Menschen lange genug leben, um diese Angst zeigen zu können. Ich beglückwünsche Sie, Mr. Locke, was Ihr Überleben bisher betrifft.« Chris nahm das Kompliment mit einer Geste zur Kenntnis. »Felderberg war der Überzeugung, Sie wüßten eine Menge über diese Leute. Er hat mich an Sie verwiesen, so wie zuvor schon meinen Freund Lübeck.« »Und mittlerweile sind sie beide tot. Ein wenig glückliches Vermächtnis.« »Ich habe keine Absicht, ihnen zu folgen, wenn Sie das meinen.« »Sollen und werden Sie auch nicht, solange ich es verhindern kann. Aber informieren Sie mich doch zuerst einmal zusammenfassend über Ihren bisherigen Kenntnisstand.« Als Locke damit fertig war, nickte der Zwerg. »Sehr umsichtig gehandelt, Mr. Locke. Mein Kompliment. Ich werde Ihnen jetzt genau das gleiche mitteilen, was ich auch schon Ihrem Freund mitgeteilt habe. Aber Vorsicht vor Informationen! Sie sind wie ein Anker. Nachdem man ihn gelichtet und eingeholt hat, muß man ihn ständig mit sich herumtragen!« Locke verspürte eigenartigerweise weder Furcht noch Beklemmung. Die Worte des Zwerges verstärkten seine Entschlossenheit noch. »Man kann das Gewicht verteilen, wenn man damit umzugehen weiß.« Der Zwerg schien beeindruckt zu sein. »Klug formuliert.« »Ich war mal College-Professor«, entgegnete Locke, »das muß eine Ewigkeit her sein.« »Ich weiß«, sagte der Zwerg mit der Andeutung eines Lächelns. Ein stämmiger Mann kam und setzte ein Tablett auf den Tisch. Es standen zwei Gläser und eine Karaffe mit Eistee darauf. Er schenkte ein und ließ einige Eiswürfel in jedes Glas gleiten. »Sehen Sie, ich hatte mit dem Komitee noch nie direkt zu tun«, sagte der Zwerg. »Es benutzte mich lediglich in einer bestimmten Angelegenheit als Mittelsmann. Genau gesagt, für die Beschaffung von Informationen über einige Führungspersönlichkeiten Südamerikas.« »Für Erpressungszwecke?« »Und Attentate. Früher oder später mußten die Landkäufe Felderbergs in ihrem Ausmaß bekannt werden. An diesem Punkt aber fangen Regierungen an, konkrete Fragen zu stellen, Barrieren
aufzurichten und sonstige Schwierigkeiten aller Art zu bereiten.« Er nippte an seinem Eistee. »Wie Sie vermutlich wissen, Mr. Locke, versucht das Komitee in Südamerika zu vollbringen, was bisher noch nie jemand in Angriff zu nehmen wagte: die Entwicklung des landwirtschaftlichen Anbaus im größtmöglichen Umfang. Doch das Land ist riesig, die angekauften Ländereien liegen weit auseinander, viele davon völlig abgelegen. Für die angestrebte optimale Produktivität — den optimalen Export eingeschlossen! - war es entscheidend, eine starke, zentral gesteuerte Organisation aufzubauen, die außerhalb und ohne jede Einmischung der Regierungen der einzelnen Länder arbeitet. Mit anderen Worten, die absolute Kontrolle.« »Also wurden bestimmte Führungspersönlichkeiten ausgeschaltet.« »Ganze Regierungen wurden entfernt und ausgetauscht. Sie brauchen sich nur einmal die terroristischen Aktivitäten in diesem Teil der Welt anzusehen. Das war alles zu präzise aufeinander abgestimmt, zu wohlorganisiert, um Zufall zu sein.« »Organisiert von der Sowjetunion, nach allgemeiner Ansicht.« »Genau das sollte tatsächlich die allgemeine Ansicht und Überzeugung sein. Die Sowjets hatten wirklich in zu vielen Dingen dieser Art ihre Finger, und sie pflegen ohnehin immer alles erst einmal abzustreiten. Das Komitee hat sich dies für eine gezielte Kampagne zunutze gemacht. Das erklärt auch, warum alles so lange unbemerkt bleiben konnte. Die meisten der sozialen Unruhen in Südamerika waren vom Komitee kunstvoll in Szene gesetzt. Um von den wirklichen Geschehnissen abzulenken.« »Und um Marionetten in die Führungspositionen zu schleusen, mit deren Hilfe man Entscheidungen manipulieren und direkteren Einfluß auf die Politik nehmen konnte.« »Dies alles führt zu dem Großprojekt, in das Sie mehr oder weniger zufällig hineingestolperl sind«, vollendete der Zwerg. »Stimmt, Mr. Locke. Ich bin erstaunt, über welche Kenntnisse Sie verfügen.« Chris Locke trank hastig mehrere Schlucke des eisgekühlten Tees und griff nach der Karaffe. »Ach wissen Sie«, sagte er, »Not macht nicht nur erfinderisch, sondern ist auch der beste Lehrmeister. Ein besserer jedenfalls, als es ich je war.« Der Zwerg beugte sich vor. »Und dies bringt uns zur wichtigsten Lektion überhaupt: Was für eine Absicht verfolgt das Komitee mit Südamerika? Sie haben Millionen Hektar urbaren Landes und die Mittel und Möglichkeiten, daraus über Nacht Rekordernten zu holen. Aber die USA stellen ein
schier unüberwindliches Hindernis dar. Denn wie sollte das Komitee wirklich mit dem mächtigsten und größten Agrar-Erzeuger der Welt konkurrieren? Da fehlte etwas.« »Zweifellos etwas, was direkt mit den USA zu tun hatte, vermute ich.« »Gewiß«, sagte der Zwerg. »Ihre wirtschaftliche Zerstörung.« Locke entglitt sein Eisteeglas und fiel um. Einige Eiswürfel fielen über den Rand des Tisches zu Boden. »Verstehen Sie mich recht, Mr. Locke«, sagte der Zwerg, »ich kann das nicht direkt beweisen. Es ist nur eine Vermutung. Eine Spekulation. Aber es gibt genug Hinweise darauf, sogar in überwältigender Anzahl. Da ist in erster Linie die Tatsache, daß das Komitee nun schon seit geraumer Zeit seine gesamten, erheblichen Geldmittel von den US-Banken abzieht. Zeitlich so gedehnt allerdings, daß es kein Aufsehen erregt. Dennoch sind es mittlerweile Milliardenbeträge, die entweder ganz vom USMarkt abgezogen oder zumindest verlagert wurden. Ein guter Teil davon ist auf dem europäischen Dollartransfermarkt aufgetaucht, und auf neuen Konten in England und der Schweiz. Der größte Teil jedoch wurde in Gold- und Diamantenkäufen, in Silber und in Ölrechten — und eben in l ungeheuren Landkäufen in der ganzen Welt angelegt.« »Alles natürliche Ressourcen . . .« »Als stehe ein totaler Zusammenbruch der Wirtschaft auf Dollarbasis unmittelbar bevor.« »Der unausweichlich ist, weil das Komitee lange genug darauf hingearbeitet hat. Aber wie soll das gehen?« »Ich weiß es auch nicht«, antwortete der Zwerg. »Ich weiß nur, daß es ein Codewort dafür gibt, das einer meiner Leute eher zufällig aufgeschnappt hat. Tantalus.« Locke zog die Brauen hoch. »Aus der griechischen Mythologie . . .« »Die Tantalussage«, nickte der Zwerg. »Die Götter bestraften Tantalus für seine Verbrechen. Er mußte in knietiefem Wasser stehen, aber Durst leiden, weil es zurückwich, sobald er trinken wollte. Über ihm hing das herrlichste Obst, aber außerhalb seiner Reichweite. Er mußte entsetzlichen Durst und Hunger leiden. Die Tantalusqualen sind sprichwörtlich geworden.« »Soweit ich mich erinnere«, ergänzte der Zwerg nickend, »war es eine Strafe >auf ewig<.« »Ohne jede Chance auf Aufhebung. Was sagt uns das über den Plan des Komitees?«
»Nun, die ganzen finanziellen Transaktionen der letzten Zeit deuten doch wohl auf einen Plan hin, die Vereinigten Staaten in eine ebenso hilflose Lage wie Tantalus zu versetzen.« »Nahrungsmittel«, murmelte Locke. »Da ist es wieder, darauf läuft alles hinaus. Wer die Ernährung kontrolliert, kontrolliert alles . . .« ». . . auf ewig«, vollendete der Zwerg. Locke kehrte noch am selben Abend mit einem Privatflugzeug, das ihm der Zwerg zur Verfügung gestellt hatte, nach Rom zurück. Die Dinge, mit denen er es zu tun hatte, hatten inzwischen einigermaßen Gestalt angenommen. Das konnte seine Furcht nur vergrößern. Tantalus . . . So wie der Zwerg es geschildert hatte, schien das Komitee unverwundbar zu sein. Die wirklich erste absolut perfekte kriminelle Organisation. Eine Organisation, die ihre Verbrechen nicht in Gewaltakten beging, sondern in Form nahezu unvorstellbarer, weltumspannender Manipulationen. So raffiniert eingefädelt, so geschickt ausgeführt, daß man schon eine ganze Anzahl Schleier lüften mußte, ehe man sie überhaupt erkennen konnte. Im Taxi auf der Fahrt vom Flughafen zum Hilton in Rom dachte Locke daran, daß Dogan mittlerweile in San Sebastian eingetroffen sein mußte. Aber wo war seine eigene Familie? Gott weiß wo. Es war gerade Nachmittag in Washington. Falls alles seinen üblichen Gang ging, saß Greg eben in der letzten Schulstunde und dachte längst an sein Baseballtraining. Whitney bekam wahrscheinlich eben die Mathematik-Noten heraus. Bobby hackte mit Sicherheit Akkorde auf seiner Gitarre. Und Beth? Beth zeigte irgend jemanden, der ein Haus kaufen wollte, Häuser in Bethseda . . . Gebe Gott, daß es wirklich so ist, dachte er. Das würde bedeuten, daß das Komitee noch nicht hinter ihnen her war . . . Ich werde es so und so bald erfahren, dachte er. Ich werde bald wieder zu Hause sein. Er war fest entschlossen, Dogan, sobald er wieder in Rom war, seine Pläne auseinanderzusetzen. Und sich vor allem auf keinen Fall mehr umstimmen zu lassen. Charney hatte ihn gewarnt, absolut niemandem zu trauen. Das war ganz plausibel gewesen, solange alles noch nebelhaft und anonym war. Jetzt, da die Sache Konturen annahm, die erschreckend waren, war das so einfach nicht mehr. Irgendwen mußte er in Washington dazu bringen, ihn anzuhören. Alle die Informationen, die er von dem Zwerg und von Felderberg hatte, ließen sich schließlich nachprüfen. Es durfte einfach nicht
geschehen, daß dieses Komitee die ganze Welt zum Schicksal des Tantalus verurteilte. Er verlangte im Hilton sein reserviertes Zimmer und wollte nichts, als möglichst rasch ausgiebig duschen, die Klimaanlage voll aufdrehen und lange schlafen. Da er nur seine Reisetasche und kein weiteres Gepäck hatte, verzichtete er auf einen Gepäckträger. War auch klüger, dachte er. Je weniger Leute ihn sahen, desto besser. Sein Zimmer lag im sechsten Stock. Er war hundemüde und wählte zuerst irrtümlich den zweiten Stock, bis er schließlich noch vier Stockwerke höher fuhr und nach seinem Zimmer suchte. Er steckte den Schlüssel hinein. Die Tür ging sanft auf, glitt über den dicken Teppich, mit dem der Boden ausgelegt war. In einer Ecke des Zimmers brannte Licht. Eine Gestalt saß daneben. »Guten Abend, Mr. Locke«, sagte die Gestalt. Panik überfiel ihn. Er wandte sich zur Tür um — nur um ungefähr dem größten Mann, den er je erblickt hatte, gegenüberzustehen. Der Riese machte einen Schritt nach vorne. Locke wich zurück. Der Hüne war ein grinsender Chinese in einem weißen Anzug. Er schloß die Tür und verriegelte sie. »Wir haben etwas Geschäftliches mit Ihnen zu besprechen, Mr. Locke«, sagte die Gestalt neben der Stehlampe und erhob sich. Ein ebenfalls hochgewachsener Mann mit sorgfältig geschnittener Frisur. Pechschwarzes Haar. Dunkle Augen, Zigarette in einer goldenen Spitze in der rechten Hand. Er drückte die Zigarette sorgfältig in einem Aschenbecher aus. Ein schwer einzuordnender Typ. Weder Amerikaner, noch Europäer oder Orientale. Irgendwie eine Mischung aus allen dreien. »Wer sind Sie?« »Ah.« Der Mann lächelte. Locke spürte, wie der chinesische Hüne hinter ihm näher kam. »Immer dieselbe Frage. Was tut das schon zur Sache, wer ich bin? Es genügt doch wohL daß Sie - wie ich annehmen möchte - ahnen, wo ich herkomme und wen ich vertrete.« Locke sagte nichts. Der Fremde sagte: »Das Komitee ist einigermaßen unglücklich über diesen Kreuzzeug, den Sie da in Bewegung gesetzt haben, Mr. Locke. Wir waren der Meinung, wir sollten Ihnen die Möglichkeit geben, einem kleinen geschäftlichen Arrangement zuzustimmen.« Locke wartete. »Sie besitzen einige Informationen, die wir gerne ankaufen würden.« Locke bemühte sich, unbeweglich stehen zu bleiben, und ballte die Fäuste, damit seine Finger nicht zitterten. An ein Entkommen war
überhaupt nicht zu denken. Er hatte nur die Möglichkeit Ruhe zu bewahren, falls ihm das gelang. »Eine Kaufabsicht bedeutet, daß Sie etwas anzubieten haben«, sagte er mit aller Kühle, deren er fähig war. »Ganz recht«, sagte der Fremde und wanderte mit seinen Augen zu seinem Begleiter. »Zeig es ihm, Shang.« Locke wandte sich dem chinesischen Hünen zu, der sogleich ein Taschentuch herauszog. Es war an den Ecken eingelegt. Er faltete es sorgsam auseinander und hielt es Locke hin, damit dieser sehen konnte, was sich darin befand. Das erste, was Locke sah, war das verkrustete Blut. Und dann erkannte er, was es war. Eine Welle von Hitze und Übelkeit stieg in ihm hoch. Es war ein kleiner Finger mit . . . »O Gott!« stöhnte er atemlos. . . . mit einem Ring. Gregs Meisterring aus der Kleinen Liga. »Das Angebot ist das Leben Ihres kleinen Jungen«, sagte Mandala sachlich. Aber Locke war bereits in die Knie gesunken und hatte den Mund zu einem Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung geöffnet, den der Chinese allerdings noch rechtzeitig verhinderte, indem er ihm sofort den Mund zudrückte. Der Jeep kroch die letzte Strecke der verlassenen Straße in Richtung des einstigen San Sebastian hinauf. Dogan konnte noch immer den Brandgeruch riechen. Und der Tod war hier beinahe körperlich zu spüren. Je mehr sie sich dem Schauplatz des Massakers näherten, desto unbehaglicher wurde ihm. Am Steuer saß Marna Colby. Sie war eine CIA-Mitarbeiterin, die die letzten vier Jahre in verschiedenen Außenstationen in Südamerika zugebracht und davor sechs Jahre lang unter Dogan in der Abteilung Sechs gedient hatte. Es hatte in seinem ganzen Leben genau vier Frauen gegeben, von denen er sich hatte becircen lassen. Marna war eine von ihnen. Vor allem deshalb, weil sie Zärtlichkeit durch Stärke mäßigte. Er hatte immer mehr auf .starke Frauen angesprochen. Von allen Mitarbeitern, die er je gehabt hatte, war Marna die Beste gewesen, und er war ehrlich traurig, als sie wegging — sowohl wegen ihrer Talente im Beruf wie im Bett. Sex hatte Dogan nur selten wirklich erfüllt und befriedigt. Marna war eine der Ausnahmen. Wenngleich Sex jetzt so ziemlich das Letzte war, an das sie dachten.
Der Jeep war wie ein treues und folgsames Tier über Stock und Stein gerumpelt und über den ganzen Schutt, den das große Feuer hinterlassen hatte. Erst eine knappe Meile vor dem Ort, an dem sich die Stadt einmal befunden hatte, blieb er stehen, weil es endgültig nicht mehr weiterging. Große Äste blockierten den Weg, machten ihn unüberwindbar. Sie waren zu Holzkohle verglimmt und schwarz. Sie stiegen aus und gingen zu Fuß weiter. »Warum hat die Abteilung eigentlich so großes Interesse an einer nicht mehr existierenden Stadt?« forschte Marna. »Ich weiß ja, daß wir hier unten die Letzten sind, die etwas erfahren. Aber wenn San Sebastian wirklich so wichtig wäre, hätte man mich doch informiert, möchte ich annehmen.« »Das Interesse kommt nicht von der Abteilung, sondern es ist mein persönliches. Und es besteht darin, daß ich hoffe, die Toten können mir erzählen, was ich von den Lebenden nicht erfahren kann.« »Na, wenigstens erhoffst du dir keine Überlebenden hier. Du würdest auch keine finden. Nicht einen. Das große Feuer hat sie alle mitgenommen.« »Nicht das Feuer, Marna. Jemand anderer. Das Feuer war nur eine Tarnung.« Sein grimmiger Ton und das, was er sagte, waren deutlich genug. Marna antwortete nicht. Sie gingen weiter. Dogan spürte seine Erregung bei jedem Schritt größer werden. An den • Tod konnte man sich niemals gewöhnen. Die grausame Agonie derer, die hier hingeschlachtet worden waren — in dem Kugelhagel, den Lübeck noch beschrieben hatte —, lag, so schien es ihm, noch in der Luft. Vielleicht schwebten ihre Geister über das verwüstete Land. Und vielleicht konnten die ihm sagen, was das hier alles, zum Teufel, bedeutet hatte. Sie kamen schließlich an der leergebrannten Stätte an, die einmal San Sebastian gewesen war. Die Reste einer Kirchenglocke hatten sich halb in den Boden gegraben, die einfachen Fundamente der in sich zusammengefallenen Häuser waren jetzt Gräber. Dogan ging bis zur einstigen Mitte der Stadt. Marna blieb einige Schritte hinter ihm. Die Behörden hatten die Leichen bereits weggeschafft. Aber das machte keinen Unterschied. Die ganze Luft war angefüllt von Grauen.
»Hier war es also«, sagte er geistesabwesend. »Hier spielte es sich ab, das Massaker.« »Massaker?« sagte Marna. »Welches Massaker?« Falls Dogan ihre Worte wahrnahm, zeigte er es nicht. Er ging langsam herum, da und dort mit der Fußspitze etwas anstoßend oder umdrehend, gelegentlich ein verkohltes Stück Holz aufhebend und prüfend, als erwarte er, daß es redete, oder einen Überlebenden verberge. »Lübeck muß dort oben auf einem dieser Hügel gewesen sein«, sagte er und deutete auf die Berge. »Vermutlich mit dem Rücken zur Sonne — von der jeder, der dort hinaufsah, geblendet wurde. Er hat alles mitangesehen. Er hat gesehen, wie sie niedergemäht wurden.« »Niedergemäht?« Marna starrte ihn an. »Ich weiß davon nichts. Mann, du sprichst hier von einem Ort mit zweihundert-fünfzig Einwohnern! Ich dachte, du sagtest, die Abteilung interessiert das alles gar nicht?« »Tut es auch nicht.« »Ja, aber warum . . .« Dogan drehte sich zu ihr herum und sein starrer Blick ließ sie mitten im Satz abbrechen. »Marna, dies hier gehört zu einer Geschichte, die ganz unvorstellbare Dimensionen angenommen hat. Tatsächlich könnte ganz Südamerika auf dem Spiel stehen.« Sie sah ihn mißtrauisch an. »Du redest wie Masvidal.« »Wer ist das?« »Der große Einäugige. Anführer einer Terroristenbande, die sich als Robin Hood fühlen. Jedenfalls reden sie dauernd davon, sie seien die Retter des Kontinents.« »Terroristen?« sagte Dogan leise und nachdenklich, und auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte sie gefunden! Die mysteriöse dritte Partei im Spiel! Die so verzweifelt hinter Christopher Locke her war! »Wer sind die, Marna?« fragte er. »Wie nennen sie sich?« »Sie nennen sich SAS-Ultras. SAS bedeutet Südamerikanische Solidarität. Sie widmen sich, oder jedenfalls behaupten sie das, der Befreiung der Länder Südamerikas von jeglicher fremden Macht. Die Carter-Doktrin war geradezu Öl in ihr Feuer, was nicht
heißt, daß sie nicht auch einen ausgewachsenen Haß auf die Russen und Kubaner kultivieren. Man könnte sagen, sie haben sich ihre Feinde ohne jegliches Vorurteil ausgesucht.« »Gehören sie zur internationalen Terroristenszene?« Marna verneinte. »Sie sind das Extremste, was man sich an revolutionären Isolationisten vorstellen kann. Selbst Publicity verabscheuen sie. Ich kenne sie auch nur aus den Ermittlungen im Zusammenhang mit der Zerstörung von Ölfeldern in Paraguay. Unterm Strich blieben mehr Fragen als Antworten. Ich habe bisher nicht einmal genug Material, um einen Bericht zusammenstellen zu können.« »Was ist mit Interpol oder den CIA-Datenbanken?« Marna schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Offiziell existiert SAS-Ultra überhaupt nicht.« Kein Wunder, dachte Dogan, daß auch Waslow keine Spur von ihnen entdeckt hatte. Der Wind fegte über das Land, sein Heulen glich dem Weinen von Kindern. Oder hörte er buchstäblich Gespenster . . .? Ein Schauer überlief ihn. Marna verschränkte die Arme. »Wie gibt es das?« fragte er. »Eine Gruppe mit einem so weiten Tätigkeitsfeld benötigt doch eine zentrale Organisation?« »Das liegt vor allem an Masvidal«, sagte Marna. »Aber falls du meinst, er und seine Leute hätten mit dem hier —« sie blickte über das tote, leere Land hin, »— etwas zu tun, kannst du das vergessen. Die Leute, die diesem Massaker hier, wie du sagst, zum Opfer fielen, sind ja die, für die SAS-Ultra kämpft. Nicht gegen sie. Sofern ich nicht ganz falsch informiert bin.« Dogan dachte nach. »Ja, aber wie, glaubst du, würden sie reagieren, wenn irgend jemand, der so mächtig ist wie ein ganzes Land, käme und - « er suchte nach dem rechten Wort » - die Dinge manipulierte? Leute verschleppte, sich riesige Ländereien aneignete, alles um des eigenen Profits willen?« Marna zögerte keinen Augenblick. »Sie würden sich ihnen sofort entgegenstellen. Und zwar mit allem, was sie nur haben.« Ja, das war logisch, fand Dogan. Diese SAS-Ultras hatten nichts mit dieser San-Sebastian-Geschichte direkt zu tun. Aber im größeren Zusammenhang paßten sie ins Bild. Du kannst mich töten. Aber ein anderer wird an meine Stelle treten. Das war die Drohung der Frau in Schaan gewesen. Das war es. Die SAS-Ultras hatten ein unerschöpfliches Potential von fanatischen
Anhängern, wenn nicht aus ihrer eigenen Mitte, dann in der ganzen Welt angeheuert. Das Komitee hatte Locke die ganze Zeit zu dem Zweck benutzt, ihnen auf die Spur zu kommen, und die Antwort der SAS-Ultras war der Versuch gewesen, einen unschuldigen, unbedarften Professor zu beseitigen, den man ihnen als angeblichen Erzfeind präsentiert hatte. Früher oder später fand das Komitee ihre Spur und vernichtete sie. Über den Hügeln hing eine gewaltige Staubwolke. Der Friedhof der Ernte der Stadt ebenso wie der ihrer Bewohner. Er ging schweigend darauf zu. Marna folgte ihm. Er ging bis ins Zentrum der Staubwolke, die der Wind aufwirbelte. Er mußte blinzeln, um überhaupt noch sehen zu können. Der Boden war hart und festgetreten. Es wurde ihm flau im Magen. Er stand an dem Fleck, wo der Schlüssel zu allem lag, das fehlende Teilchen des Puzzles. Wenn er nur wüßte, was für schreckliche Dinge sich hier noch vor dem Massaker ereignet hatten! Plötzlich war Marna neben ihm und faßte ihn am Arm. »Da oben, ganz oben auf dem Hügel.« Dogan hielt sich eine Hand über die Augen, um nicht direkt in die Sonne blicken zu müssen. Er sah so etwas wie eine kleine Hütte, die gut getarnt in der wenigen Vegetation, die noch übrig war, stand. »Eine alte Hütte«, sagte er. »Was ist mit ihr?« »Das dürfte nicht allzu schwierig werden«, sagte Mandala ruhig, während der chinesische Hüne Locke auf einen Sessel an einem runden Tisch in einer anderen Ecke des Zimmers hob. Die Schiebetür zum Balkon war etwas geöffnet und ließ eine kühle Abendbrise herein, die Locke wieder zu sich brachte, zurück in den Alptraum des Schreckens. Sie haben Greg. O Gott, sie haben Greg! Der Gedanke an den abgetrennten Finger des Jungen mit dem Ring, der noch daran war, ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen. Er zitterte. Mandala nickte Shang zu. Der Hüne ging aus dem Zimmer. Auf dem Weg nahm er noch etwas vom Toilettentisch. Mandala zog seine Pistole. Locke bemerkte jetzt erst, daß alle Lichter im Raum mit Ausnahme eines starken Punktstrahlers an der Decke gelöscht waren. »Bedauerlicherweise«, sagte Mandala ohne Umschweife, »sind Sie uns ziemlich lästig geworden. Sie können das wiedergutmachen. Ihr Sohn wird freigelassen. Sie ebenfalls. Alles, was Sie dafür zu tun haben, ist, ein paar Fragen zu
beantworten.« Locke blickte ihn nicht an. Er spielte mit dem Gedanken, ihn anzuspringen, während der chinesische Hüne abwesend war. Aber er verwarf das angesichts der Pistole sofort wieder. Der Mann hatte die Waffe fest im Griff und war etwas zu weit entfernt, als daß man sie ihm überraschend hätte entwinden können. Ganz abgesehen davon, daß er ein Profi und nicht so ohne weiteres einfach zu überrumpeln war. »Nun kommen Sie schon, Mr. Locke. Sie wollen sich doch sicherlich nicht noch mehr Unannehmlichkeiten bereiten, als Sie ohnehin schon haben? Weiterer Widerstand hat doch keinen Sinn mehr. Sie können uns jetzt nicht mehr schaden. Niemand kann uns mehr aufhalten. Es sind lediglich noch einige kleine Löcher zu stopfen. Und die sollen Sie uns zeigen.« Locke schwieg. »Wollen Sie etwa zusätzliche Garantien, daß Ihr Sohn freigelassen wird? Die kann ich Ihnen leider nicht geben. Ich kann Ihnen dafür allerdings die Versicherung geben, daß sein Finger auch nur der Anfang ist. Wenn Sie sich nicht kooperativ zeigen, dann zersäbeln wir ihn Stückchen für Stückchen.« Die Tür ging auf. Shang kam wieder, mit einem weißen Plastikeimer. Mandala steckte seine Pistole wieder in den Gürtel. Die Anwesenheit des Hünen schien ein zuverlässigeres Abschreckungsmittel zu sein als jede Kugel. »Sehen Sie, Mr. Locke«, fuhr Mandala fort, »Ihr Sohn ist im Gewahrsam eines Teams, das über ähnliche Überredungskünste verfügt wie Shang hier. Alles Folterexperten. Sie verstehen es, einem Opfer jedes beliebige Körperglied abzutrennen, ohne daß das Opfer auch nur bewußtlos wird. Erstaunlich, nicht wahr? Es handelt sich um alte Künste der Tong-Brüderschaft. Zu der gehörte Shang früher.« Der Hüne Shang stellte den Plastikeimer auf den Tisch. Er war voller Eiswürfel. Locke bemühte sich, ruhig zu bleiben, konnte aber nicht verhindern, daß sich auf seinem Gesicht Entsetzen zeigte. Er mußte sie davon überzeugen, daß er nachgab. Dann mußte irgendwann eine Gelegenheit kommen, die er nutzen konnte. Dazu mußte er seine Gegner zuerst dazu bringen, ihn zu unterschätzen . . . Shang lächelte maliziös.
»Shang ist selbst Folterexperte, Mr. Locke. Er rindet sogar ausgesprochenen Gefallen daran. Nun sind zivilisierte Leute wie wir aber doch wohl nicht darauf angewiesen, oder? Einfache Antworten auf einfache Fragen, Mr. Locke, und Shang wird nichts zu tun bekommen.« Mandala setzte sich in seinem Sessel zurecht. »Fangen wir also an. Sie haben den Zwerg in Florenz besucht. Wo verbirgt er sich?« Locke schluckte schwer, sagte aber nichts. »Mr. Locke, wo verbirgt er sich?« Immer noch keine Antwort. Mandala schüttelte wie in schwerer Enttäuschung den Kopf. »Mr. Locke! Wir wissen doch, daß Sie bei ihm waren! Also, Locke biß sich auf die Lippen, um sein Zittern zu unterdrücken. »Shang!« Und im nächsten Augenblick hatte der Chinese sich auch schon über Lockes Schulter gebeugt und seine wegen der Bißwunden der Alten in Vaduz noch immer verbundene Hand hochgerissen. Mit einem Ruck hatte er den Verband abgerissen und preßte ihren kleinen Finger zwischen seinen mächtigen Pranken. »Schmerz, Mr. Locke«, sagte Mandala sanft, »hat große Überzeugungskraft. Am wirksamsten ist er, wenn er leicht beginnt und man ihn dann allmählich steigert. Es scheint, daß Sie eines Beispiels bedürfen.« Er nickte. Shang bog Lockes kleinen Finger mit einem Ruck nach hinten, bis das Gelenk knackte. Ein wahnsinniger Schmerz durchfuhr Locke. Er biß sich in die eigene Zunge. Ehe er schreien konnte, hatte Shang ihm den Mund schon zugehalten und ihm buchstäblich die Luft abgeschnürt. Er spürte ein Rauschen in den Ohren. Seine linke Hand zitterte heftig. Sein kleiner Finger hing von der Hand herunter, als gehöre er nicht dazu. Der Schmerz blieb und ließ nicht nach. Er versuchte, sich, so sehr er nur konnte, gegen ihn aufzulehnen. »Wie ich schon sagte, Mr. Locke: nur ein kleines Beispiel«, sagte Mandala. »Von jetzt an wird es härter werden.« Er faßte Lockes schmerzende Hand fast zärtlich und steckte sie in den Eiseimer, wo er den gebrochenen Finger mit Eiswürfeln zudeckte. Das Toben ließ fast augenblicklich nach, der Schmerz klang ab. »Sehen Sie, so einfach bekommt man Erleichterung. Sie kann noch größer werden. Aber auch Ihre Schmerzen können größer werden. Also, warum nicht einfach die Frage beantworten? Wo ist der Zwerg?«
Alles drängte Locke, die Antwort zu geben. Aber da war etwas, das es ihm unmöglich machte, schwach zu werden. Er versuchte sich auf Greg zu konzentrieren und auf das, was sie ihm angetan hatten, um seinen Zorn und damit seine Widerstandskraft wachzuhalten. »Gut, Mr. Locke, ich will also vorläufig zu Ihren Gunsten entscheiden«, meinte Mandala geduldig. »Dann wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit einmal wichtigeren Themen zu. Wo ist Grendel?« Locke schwieg. »Wo ist der Mann, Mr. Locke, den Sie als ROSS Dogan kennen?« Locke feuchtete sich die zitternden Lippen an. »Sie wollen sich hier mit ihm wieder treffen, stimmt's? Also brauchen wir nichts weiter zu tun, als hier zu warten, bis er zur Tür hereinkommt.« Locke sah zur Seite. Ich bringe euch um für das, was ihr Greg angetan habt. Irgendwie, irgendwann . . . »Aber vorerst«, sprach Mandala weiter, »ist er irgendwohin. Nicht wahr? Er versucht irgendwelche Beweise für das zu finden, was vorgeht. Sagen Sie uns, Mr. Locke, wo er ist. Sagen Sie es uns.« Locke starrte geradeaus ins Leere. Mandala nickte rasch. Shang riß Lockes Hand brutal aus dem Eis und hieb sie auf den Tisch, um sie dort mit eisernem Griff festzuhalten. Wie ein Sturmwind kehrten die rasenden Schmerzen zurück. Sie schienen seine geschwollene Hand explodieren zu lassen. Der Hüne griff sich jetzt den Ringfinger. »Wo können wir Grendel finden?« Als Locke weiter schwieg, nickte Mandala wieder. Locke schloß die Augen, während er spürte, wie Shang seine Hand hob und härter zugriff. Das folgende Knacken klang wie brechendes Glas. Diesmal zerriß ihn der Schmerz im ganzen Körper. Ein Kaleidoskop von Farben zerbarst vor seinen geschlossenen Augen. Er öffnete sie und sah silberene Blitze. Wie ein Vulkanausbruch drängte ein gewaltiger gepeinigter Schrei in ihm nach oben. Aber der Chinese unterdrückte ihn sofort, indem er ihm den Mund zuhielt und ihn nahezu erstickte.
Locke keuchte schwer und sah auf seine beiden kaputten Finger. Beide waren sauber an den Gelenken gebrochen. Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte, tobte in seinem Kopf. Mandala schien seine Gedanken zu lesen. »Ja, es tut entsetzlich weh, nicht wahr, Mr. Locke? Dabei fangen wir erst an. Würden Sie vielleicht gerne hören, was passiert, wenn Sie uneinsichtig bleiben? Wir werden zunächst das Ganze mit zwei Fingern Ihrer rechten Hand wiederholen. Wenn Sie dann immer noch Widerstand leisten, sind wir natürlich gezwungen, anschließend zu etwas - nachdrücklicheren Mitteln zu greifen.« Und wie zur Illustration dieser Worte brachte Shang ein Messer zum Vorschein. »Sie haben sicher schon einmal von dieser chinesischen Praxis gehört, Finger gliedweise abzutrennen. Shang mag eine etwas härtere Variante lieber. Das Messer, das er da in der Hand hält, ist eine Art verfeinertes, und schärferes, Küchenmesser, Mr. Locke. Damit säbelt er Ihnen einen Finger in dünnen Scheibchen der Länge nach ab, wie Lachsscheiben. Bis es auf dem Knochen ist. Er ist ein wahrer Spezialist in dieser Technik. Finger für Finger. Und er macht es so, daß sie dabei nicht einmal ohnmächtig werden. Darauf achtet er sorgfältig, Mr. Locke.« Locke überlief wieder ein kalter Schauer, den nur steigende Angst eindämmte. Diese Leute waren Tiere, brutale Killer von Frauen und Kindern, Folterknechte. Hatte ihm Dogan das Komitee nicht als durchaus zivilisierte Leute beschrieben, die ihr Ziel nicht mit Gewalt zu erreichen versuchten, sondern durch wirtschaftliche Mittel? Nun, vielleicht fühlten sich die führenden Leute diesem Credo verpflichtet. Die Leute jedenfalls, die in ihren Diensten standen, waren da offensichtlich anders. Locke wußte, daß er etwas tun mußte, solange er noch einigermaßen seine Sinne unter Kontrolle hatte. Noch weitere Torturen würden seine Fähigkeit, klar zu denken und Entschlüsse zu fassen, mit Sicherheit beeinträchtigen, wenn nicht überhaupt zunichte machen. Darauf durfte er es nicht ankommen lassen. Der Dunkelhaarige steckte seine Hand wieder in das wohltuende, schmerznehmende Eis, obwohl es im ersten Moment wie Nadeln in seinem Arm stach, ehe der Effekt der plötzlichen Kühlung den Schmerz abklingen ließ.
Wie Nadeln . . . Doch, das könnte funktionieren! Allerdings, er hatte es mit zwei Männern zu tun. Wenn nur einer mal den Raum verließ, oder zumindest etwas zurückträte! Wenn nur . . . »Wo ist Grendel, Mr. Locke?« fragte Mandala erneut. »Kommen Sie, machen Sie schon. Meine Geduld ist allmählich zu Ende. Weitere Schmerzen werden Sie kaum ertragen. Lassen Sie uns diese Albernheiten hier beenden. Wir finden ihn natürlich auch ohne Ihre Mithilfe. Aber wie können Sie annehmen, Sie könnten uns wirklich entkommen? Mr. Locke, wir sind überall!« Er machte eine Pause, um seine Worte nachwirken zu lassen. Wir sind überall . . . Auch Charney hatte das gesagt. Und plötzlich sah Locke die ilität seiner Situation mit verblüffender Klarheit. Nichts, was er hier sagen konnte oder würde, rettete Gregs Leben. Falls der überhaupt noch am Leben war. Wenn er jedoch entkam, dann mußten sie den Jungen am Leben halten, um später wieder ein Druckmittel gegen ihn zu haben. Es war Zeit zu handeln. Sofort. »Wo ist Grendel, Mr. Locke? Ich frage Sie jetzt zum . . .« Und Locke handelte. Mit Aufbietung aller ihm verbliebenen Kraft faßte er mit einem Ruck den Eiseimer, in dem seine Hand steckte, riß ihn hoch und schleuderte ihn dem chinesischen Hünen ins Gesicht. In der Hoffnung, eine Kante oder Spitze eines der Eiswürfel verletze dem Mann die Augen. Der Chinese taumelte überrascht rückwärts. Während Mandala noch aufzuspringen und seine Waffe zu ergreifen versuchte, war Locke schon auf den Beinen und warf sich ihm in die Seite. Was er als nächstes tat, verblüffte ihn selbst fast mehr als Mandala. Er griff mit seiner verletzten und zerschundenen Hand an — nicht des Überraschungseffekts wegen, sondern einfach, weil sie dem Gegner am nächsten war. Er hieb sie ihm direkt zwischen die Augen auf das Nasenbein. Es war kaum festzustellen, wen der Schlag mehr schmerzte, den Getroffenen oder den, der zuschlug. Locke jedenfalls schrie vor Schmerz laut auf, schaffte es trotzdem noch, die Pistole aus Mandalas Gürtel zu ziehen, ehe dieser zurücktaumelte oder selbst danach greifen konnte. Er richtete sie sofort, herumfahrend, auf Shang, der bereits im Begriff war, ihn anzuspringen.
Er feuerte direkt auf ihn und schoß das ganze Magazin leer. Die Schüsse machten ihn nahezu taub. Der chinesische Hüne fiel auf den Toilettentisch, den er umriß, bevor er auf den Teppich fiel. Da stürzte sich bereits Mandala auf ihn. Aber Locke war schnell. Er war bereits, weil er dies erwartete, herumgefahren und rammte ihm die Waffe zuerst in den Magen und dann ans Kinn. Mandala warf es um und er fiel gegen die Wand. Locke verlor keine Zeit, ließ die Pistole fallen und stürzte zu der einen Spalt offenstehenden Glastür zum Balkon hinter den Vorhängen, um sie soweit aufzuschieben, daß er sich hindurchzwängen konnte. Die frische Luft verschaffte ihm einen klaren Kopf. Er mußte vom Balkon herunter. Die Frage war nur, wie. Auf einen benachbarten Balkon springen? Der Abstand betrug mindestens fünf Meter. Ausgeschlossen. Auf den darunterliegenden hinabspringen? Genausoweit. Vom schwierigen Sprungwinkel ganz abgesehen. Es ging nur, wenn er sich außen an seinen Balkon hing und genug Schwung bekam, ehe er sich fallen ließ. Er faßte mit seiner zerschundenen Hand das Balkongeländer. Es war, als griffe er in Feuer. Der Schmerz war so heftig, daß ihm die Tränen in die Augen schössen. Die Hand war so geschwollen, daß ein festes Zugreifen unmöglich war. Er versuchte es dennoch, so gut es ging und ließ sich nach unten hängen, sechs Stockwerke über der Straße. Er hing mit seinem ganzen Gewicht an den Händen. Der tobende Schmerz in seinen gebrochenen Fingern war schlimmer, als er es sich je hätte vorstellen können. Er versuchte sich zu konzentrieren und fing an vorwärts und rückwärts zu schaukeln, um, wenn er sich fallen ließ, genug Schwung zu haben, damit er, statt ins Bodenlose, auf den unteren Balkon fiel. Kaum zu glauben, aber es schien zu gehen. Er wollte beim nächsten Schwung loslassen. Statt dessen faßte oben am Balkongeländer eine kräftige Hand nach ihm. Er blickte nach oben. Es war der chinesische Hüne. Er traute seinen Augen nicht. Er hatte ihn doch erschossen, mit sechs Kugeln! Aber er lebte immer noch. Auch die schwarzen Spuren auf seinem weißen Anzug bewiesen, daß er keineswegs
danebengeschossen hatte. Allerdings waren keine Blutspuren auf dem weißen Anzug. O mein Gott! Warum bist du nicht tot, Riese? Er war im letzten Schwung gewesen, ehe er loslassen wollte. Der Chinese packte ihn am Haar. Wie im Reflex ließ Locke los. Einen Bruchteil, ehe der Hüne sich so fest in seinem Haar verkrallt hatte, daß er ihn an seinem Schöpf baumeln lassen konnte, entglitt er ihm. Er fiel, ohne in diesem Augenblick zu wissen, ob er wirklich auf dem unteren Balkon landen würde oder erst unten auf der Straße. Er schlug auf den Fliesen des darunterliegenden Balkons auf und versuchte, indem er sich zur Seite rollte, den harten Aufprall abzufangen. Es war wieder seine linke Seite und der Schmerz, der ihn durchfuhr, schien ihn buchstäblich entzweizureißen. Ihm wurde schwarz vor Augen und er nahm gerade noch wahr, daß er auf einen schmiedeeisernen Tisch fiel. Doch er durfte nicht aufgeben. Er mußte an Greg denken und an das, was sie ihm angetan hatten. Er zwang sich mit aller Gewalt, sich sofort aufzurappeln und nicht ohnmächtig zu werden. Er stolperte zur Glastür des Zimmers, das genau unter seinem lag. Sie war verschlossen. Er griff sich einen der schmiedeeisernen Balkonstühle und warf sich mit ihm dagegen. Das Glas zersplitterte in tausend Scherben. Er griff nach der Klinke und öffnete die Tür. Er rannte durch das Zimmer, ohne stehen zu bleiben. Es war völlig dunkel. Allenfalls Umrisse waren erkennbar, und er versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen. Er stolperte fast über einen Fußschemel, der vor dem Bett stand, und überlegte einen Augenblick, ob darin jemand schlief. Und wenn! Im nächsten Augenblick war er bereits draußen auf dem Korridor und hielt den Atem an. Jeden Augenblick konnten Shang und Mandala um die nächste Ecke kommen. Tatsächlich waren im Flur des oberen Stockwerks schwere Laufschritte zu hören. Locke wandte sich um und rannte in die andere Richtung davon, um den nächsten Notausgang zu benutzen. Sahen seine Verfolger ihn? Er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Instinktiv lief er nach oben und nicht nach unten, zurück in das Stockwerk, aus dem
er gekommen war. Das würden sie mit Sicherheit nicht erwarten. Ein Amateur würde selbstverständlich versuchen, nach unten in die Halle zu gelangen, um von dort zu entkommen. Er aber war mittlerweile längst kein Amateur mehr. Doch sie hielten ihn für einen und das war das Beste, was ihm im Augenblick widerfahren konnte. Er kam oben im sechsten Stock an, ohne genau zu wissen, was er als nächstes tun sollte. Er durfte sich nicht zeigen und nicht gesehen werden, also nicht auf dem Korridor bleiben. Der Dunkelhaarige hatte womöglich Leute an den Ausgängen postiert und andere, die bereits das ganze Hotel durchkämmten. Dann hatten sie ihn schnell. Ein Zimmer also. Er mußte in ein Zimmer. Aber wie? Wenn Sie Probleme haben, wenden Sie sich an den Hotelmanager. Sagen Sie ihm. Sie arbeiten für die Firma Grendel und seien mit Ihrem Zimmer nicht zufrieden. Das hatte ihm Dogan noch beim Abschied gesagt. Nur, um an ein Telefon zu kommen, mußte er zuerst in ein Zimmer hineinkommen. Er war also genau so weit wie zuvor. Er blieb nicht stehen sondern lief weiter, auf der Suche nach irgendwas, von dem er selbst nicht wußte, was es war. Ein Zimmermädchen, das einen Wagen mit Handtüchern hinter sich her zog, kam ihm entgegen. Zweifellos machte sie gerade die Abendrunde, deckte die Betten auf und wechselte die Handtücher. Ja, das ging! Er schob sich hastig sein heraushängendes Hemd in die Hose, im Moment ganz seine zerschundene Hand vergessend. Der heftige Schmerz durchfuhr ihn sofort wie ein Messer. Er ließ, die Zähne zusammenbeißend, langsam seine Hose los und ordnete das Hemd mit der rechten Hand. Dann ging er mit dem leisen Pfeifen eines sorglosen Touristen weiter. Das Zimmermädchen stand eben vor einem Zimmer und schloß auf. »Das trifft sich aber gut«, sagte Locke mit einer Bewegung, als wolle er selbst eben den Schlüssel aus der Tasche holen, »ich brauche zwei Gläser.« Das Zimmermädchen sah ihn fragend an. Verstand offenbar kein Englisch. »Glä-ser«, wiederholte Locke langsam und pantomimisch, während er auf den Wagen deutete, auf dem auch in Papier
gewickelte Gläserstapel lagen. Er warf einen unauffälligen Blick den Korridor hinauf und hinunter. Sie hatte verstanden, nickte und reichte ihm zwei Gläser. »Noch einen Wunsch?« versuchte sie sich verständlich zu machen. Er schüttelte dankend den Kopf und war bereits ins Zimmer getreten, um die Tür hinter sich zu schließen. Er sah sich rasch in dem Raum um, ob jemand da war. Aber er war allein. Er eilte sofort zum Telefon. Seine linke Hand schmerzte noch immer wild, und er spürte, daß ihm Schweißtropfen auf der Stirn standen. »Rezeption.« »Geben Sie mir den Hotelmanager.« »Tut mir leid, er hat im Moment keine Zeit. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« »Nein, ich muß den Manager persönlich sprechen.« »Wenn Sie mir Ihren Namen und die Zimmernummer hinterlassen, werde ich . . .« »Es ist dringend und ein Notfall, gottverdammt nochmal!« Der Portier zögerte. »Augenblick bitte«, sagte er schließlich. Die Sekunden verrannen zäh wie erstarrende Lava. Er ließ die Augen nicht von der Tür. Es hätte ihn keine Sekunde lang gewundert, wenn sie jeden Augenblick aufgeflogen und Shang in ihr gestanden wäre. »Ja, hier ist der Hotelmanager«, kam eine Stimme aus dem Telefonhörer. Der italienische Akzent war unüberhörbar. »Mein Name ist Locke. Ich arbeite für die Firma Grendel, und ich bin mit meinem Zimmer nicht zufrieden.« Es gab eine kurze Pause. »In welchem Zimmer sind Sie, Mr. Locke?« Locke sah auf das Telefon, auf dem die Zimmernummer stand. »Sechs-siebenundzwanzig.« Es gab wieder eine, diesmal etwas längere Pause. »Nach meinen Unterlagen ist das aber nicht Ihr Zimmer.« »Die Umstände zwangen mich, es zu wechseln.« »Gut. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich komme sofort nach oben.« Locke versuchte sich durch tiefes Atmen zu beruhigen. Das Toben seiner Hand ließ nicht nach. Sein Blick fiel auf seine gebrochenen Finger. Das brachte seine Erinnerung wieder auf Greg, und was die Bastarde ihm angetan hatten.
Zeig' es ihm, Shang. Ein Ring der Schülerliga an einem Kinderfinger, blutverkrustet. Welcher Mann konnte so etwas ertragen! Er ließ sich einfach auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Er verspürte das heftige Bedürfnis, zu weinen. Als könnten Tränen seine Gefühle fortspülen. Aber er hatte keine Tränen. Er war längst jenseits von Tränen. Jenseits von allem. Sie hatten seinen Sohn verstümmelt! Er merkte wie er bewußtlos wurde, da klopfte es an der Tür. Er war sofort da und öffnete, ohne durch den Spion zu sehen. Ein ernstblickender hagerer Mann mit olivfarbenem Teint und schwarzem Haar, vermutlich Ende dreißig, stand vor ihm und trat sofort ein. Er hinkte leicht und zog ein Bein nach. »Ich heiße Forenzo, Mr. Locke«, sagte er und schloß die Tür hinter sich. »Ich bin der Hotelmanager. Was ist geschehen?« »Vor einer Stunde, als ich in mein Zimmer kam, erwarteten mich dort zwei Männer. Sie . . . folterten mich, um bestimmte Informationen aus mir herauszupressen.« »Arbeiten Sie an diesem Fall mit Mr. Dogan zusammen?« »Ja.« »Was haben sie mit Ihnen gemacht?« Locke hielt ihm wortlos seine linke Hand hin. »O mein Gott«, sagte Forenzo. »Der Hotelarzt muß sich sofort darum kümmern. Sie können mir den Rest später erzählen.« Locke schüttelte den Kopf. »Kein Arzt. Mein Bedarf an Fremden ist für den heutigen Abend gedeckt.« »Aber Mr. Locke, ich bitte Sie. Ich bin in solchen Dingen nicht unerfahren. Unserem Arzt können Sie vertrauen. Außerdem muß Ihre Hand behandelt werden, und zwar schnellstens. Wenn die Knochen nicht schnell und sorgfältig gerichtet werden, kann ein bleibender Schaden entstehen. Wir sind hier im Hotel bestens eingerichtet. Glauben Sie mir, alles kann hier im Hause geschehen.« »Die beiden Männer sind noch im Haus.« »Beschreiben Sie sie mir. Ich werde sie überwachen lassen.« »Dann rüsten Sie Ihre Leute lieber gleich mit Panzerfäusten aus«, sagte Locke, der sich noch immer darüber wunderte, daß die sechs Kugeln den Chinesen nicht getötet hatten. »Wie meinten Sie?«
»Ach, nichts.« Forenzo räusperte sich. »Als erstes müssen wir Sie in einem anderen Zimmer unterbringen. Sobald der Arzt Sie versorgt hat, müssen wir zusehen, daß wir Sie sicher aus dem Haus schaffen.« »Ich soll aber hier auf Dogan warten.« »Ausgeschlossen, es geht um Ihre Sicherheit. Wo könnte es sicher für Sie sein?« Mit dieser Frage hatte Locke sich noch nicht befassen können. Aber jetzt war die Antwort nicht schwer. Colin Burgess, England! Er konnte die Kontaktnummer anrufen und der Frau Bescheid sagen. Burgess würde sich auch jetzt wieder, wie schon einmal, um ihn kümmern, das war klar. Gemeinsam konnten- sie sich mit Dogan verbünden. Vielleicht konnte der Mann, der einmal so erfolgreich deutsche Spione gejagt hatte, auch die Bastarde aufspüren, die seinen Sohn hatten. Ja, der Engländer war die Antwort! »In England«, sagte er also. »Wie ist es mit Ihrem Paß, soll ich ihn aus Ihrem bisherigen Zimmer holen lassen?« »Ja, sicher . . . das heißt, nein. Nein. Diese Leute, die mich dort schon erwarteten, müssen den Namen auf dem Paß gekannt haben. Unter diesem Namen wird man wohl auch am Flughafen nach mir fahnden. Können Sie mir einen neuen Paß verschaffen?« Forenzo versuchte ein schwaches Lächeln. »Ich bin nur Hotelmanager, Mr. Locke. Ich verfüge über solche Möglichkeiten nicht. Jedenfalls nicht derartig kurzfristig.« Er dachte nach. »Das heißt nach England wollen Sie, sagten Sie?« »Ja. « »Es gibt mehrmals täglich Charterflüge von Rom nach London. Bei Charterpassagieren sind die Behörden zuweilen etwas laxer mit den Paßkontrollen. Weil es sonst zu große Verzögerungen gäbe, begnügt man sich meistens mit Stichproben. Unsere Behörden überlassen das Problem lieber den Leuten selbst. Doch, ja, das könnte eine Möglichkeit sein, Sie auch ohne Paß aus Rom herauszuschaffen. Was Sie dann in London nach der Ankunft machen, bleibt Ihnen überlassen . . .« »Gut, das lassen Sie in der Tat meine Sorge sein. Ich bin schon zufrieden, wenn Sie sich darum kümmern, daß ich bis heute
abend noch am Leben bleibe, und mich dann mit einem Ticket zum Flughafen schaffen.« »Das läßt sich arrangieren. Mr. Dogan ist ein Ehrengast dieses Hauses. Und seine Freunde . . .« »A propos Dogan, Mr. Forenzo. Er sagte mir, Sie würden ihn warnen, falls irgend etwas nicht in Ordnung sei.« »Das ist richtig. Wann erwarten Sie ihn zurück?« »Morgen abend, wann genau, weiß ich nicht.« »Ich werde die Augen offen halten und entsprechende Zeichen aufstellen.« Forenzo ging zur Tür. »Ich kümmere mich jetzt um den Arzt und um Ihre Reise. Es wird eine lange Nacht werden.« Lockes neues Zimmer war im zehnten Stockwerk. Sobald er die Kette vor die Tür gelegt hatte, ging er zum Telefon und studierte die Instruktionen für Auslandstelefonate. Sein Zimmer hatte eine eigene Amtsleitung, die nicht über die Hotelzentrale lief. Niemand konnte also mithören oder kontrollieren, aus welchem Zimmer gesprochen wurde. Er wählte die Kontaktnummer aus dem Gedächtnis. »Hallo«, sagte die vertraute Frauenstimme zögernd. »Ich bin in Schwierigkeiten. Ich brauche Colin.« Sie antwortete nicht. »Hallo! Was ist? Ich bin es, Locke. Ich brauche Colin dringend und unbedingt.« Der verwirrte Atem der Frau am anderen Ende der Leitung war deutlich hörbar, ehe sie wieder etwas sagte. »Onkel Colin ist fischen gegangen.« Dann hängte sie ein. Christopher Locke hatte ein Gefühl, als kämen die Wände auf ihn zu. Dogan und Marna stiegen gemeinsam den Hügel hinauf, ohne die Hütte einen Moment aus den Augen zu lassen. »Sieht verlassen aus«, sagte Dogan, als sie auf Schußweite seiner Heckler und Koch P-9 waren. »Ist es aber nicht«, sagte Marna mit großer Sicherheit. Dogan versicherte sich noch einmal, daß die P-9 schußbereit war und er sie jeden Augenblick ziehen konnte. Er wünschte, er hätte doch lieber die Mac-10-MP mitgenommen. Deren 9-mm-Kaliber mit 30 Schuß pro Magazin hätte ihm sehr viel mehr Selbstsicherheit gegeben. Sie waren eben über die Kuppe eines kleineren Hügels noch knapp dreißig Meter von der Hütte gekommen, als der erste-Schuß krachte.
Sie warfen sich instinktiv zu Boden und gingen in Deckung. »Alles okay?« fragte Dogan. »Bißchen erschrocken, sonst ist alles in Ordnung«, antwortete Marna. »Was war das, meinst du?« »Klang nach einem doppelläufigen Jagdgewehr. Aber ein besonders guter Schütze ist das nicht.« Ein weiterer Schuß knallte, offensichtlich aber auf niemanden direkt gezielt. »Meinst du, sie versuchen uns einfach nur wegzuscheu-chen?« fragte Marna. »Scheint so. Wenn sie es wirklich auf uns abgesehen hätten, hätten sie ja warten können, bis wir ganz nahe heran gewesen wären, um dann sicher zielen zu können.« »Wer zum Teufel kann das denn sein?« Dogan stand bereits auf. »Wir finden es schon heraus«, sagte er. »Ross!« rief Marna entsetzt, so laut sie es wagte. Aber es war ohnehin zu spät. Er hatte sich bereits voll aufgerichtet und die Hände, die Pistole gut sichtbar, über den Kopf gehoben. »Ich werfe die Waffe weg«, rief er auf die Hütte zu. Er warf die P-9 zur Seite: Sie fiel in den Schmutz. »Ich bin jetzt unbewaffnet«, sagte er ruhig und hielt die Hände weiter über den Kopf. »Wir haben keine feindseligen Absichten. Wir wollen nur einige Fragen stellen.« Er wartete etwas. »Wir können Ihnen helfen.« Nichts geschah. »Ich gehe jetzt langsam vorwärts. Geben Sie mir bitte ein Zeichen, wenn Sie einverstanden sind.« Er begann zu gehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Er war darauf gefaßt, beim Anblick eines Gewehrlaufes in Deckung zu springen. Was er da tat, widersprach den einfachsten Grundregeln. Es war so ungefähr das Letzte, was ein Agent tun durfte. Aber er ließ sich nun von seinem Instinkt leiten. Langsam ging er weiter, bis er fast vor der Hütte stand. Jetzt erkannte er, daß sie einfach und primitiv und fast vollständig aus verkohlten Holzbohlen zusammengefügt war. Jemand bewegte sich drinnen. Ein lautes Knarren war zu hören. Dogan erstarrte. Dann ging die Tür auf. Aber Dogan konnte im Innern nichts erkennen. Er ging nun sehr langsam, darauf gefaßt, jeden Augenblick in Deckung springen zu müssen. Doch nichts geschah. Er mußte sich leicht bücken, um eintreten zu können. Er versuchte sich an das in der Hütte herrschende Dunkel zu gewöhnen. Er wollte sich wieder aufrichten, als er von hinten einen Stoß bekam, der ihn zu Boden taumeln ließ. »Sagen Sie der, mit der Sie gekommen sind, sie soll auch kommen!« sagte eine Stimme in gebrochenem Englisch. Dogan sah hoch. Seine Augen hatten sich inzwischen an das
Halbdunkel des Raumes gewöhnt. Er sah einen Jungen von wahrscheinlich kaum dreizehn Jahren vor sich, der in seinen zitternden Händen ein Jagdgewehr hielt. Dogan sagte: »Ich stehe jetzt auf. Hab keine Angst, ich will dir nichts tun.« Er stand entschlossen auf und ging zur Tür. Er hätte dem Jungen problemlos das Gewehr abnehmen können, aber er fand es wichtiger, sein Vertrauen zu gewinnen. »Alles in Ordnung«, rief er Marna zu. »Du kannst kommen. Und bring meine Pistole mit.« Der Junge wurde bleich, als er das hörte. »Du kannst ja weiter auf mich zielen, wenn du willst«, sagte er begütigend. Und in diesem Augenblick hörte er die anderen. Sie kamen aus dem dunklen Hintergrund der Hütte. Zwei Mädchen und noch ein Junge. Das älteste Mädchen mochte elf Jahre alt sein, höchstens zwölf. Sie hielt das andere Mädchen, das ungefähr drei Jahre jünger sein mochte, von hinten an den Schultern. Der andere Junge war der jüngste der vier Kinder. Vielleicht vier Jahre. Die kleine Hütte stank entsetzlich. Nach Schmutz, Schweiß, und vor allem Angst. »Ross, ist alles . . .« Marna brach verblüfft ab, als sie hereinkam. »Wer sind diese Kinder?« »Genau das möchte ich auch wissen. Wie gut ist dein Spanisch?« »Ziemlich gut.« »Sehr schön. Dann sage ihnen, daß sie keine Furcht zu haben brauchen und daß wir gekommen sind, ihnen zu helfen.« Das ältere Mädchen begann bei diesen Worten loszukrei-schen. Dogan verstand nichts. »Was sagt sie?« In Mamas Augen war plötzlich Angst. »Daß die anderen das auch gesagt hätten, dann aber die ganze Stadt ausrotteten.« »Frag sie, wen sie mit >die anderen meint.« Ehe Marna das noch tun konnte, sprach der Junge mit dem Gewehr in gebrochenem Englisch. »Männer, Senor, viele Männer. Böse Männer von weither, mit Gewehren.« In seine Augen traten Tränen. Der Kontrast zwischen den schwitzenden Händen, die entschlossen das Gewehr hielten, und den schreckensstarren Augen war grotesk. »Mein Papa hat ihnen nicht geglaubt. Als das . . . anfing, schickte er uns weg. Jetzt können wir nie mehr zurück.« Er ließ das Gewehr fallen und sank weinend auf die Knie. Ein Mitgefühl, wie er es seit Jahren nicht mehr für irgend jemanden empfunden hatte, überkam Dogan. Er ging zu dem Jungen und hob ihn auf. »Wir werden dir helfen. Euch allen. Wir bringen euch von hier fort. Wo diese Männer euch nicht mehr finden. Aber ihr müßt uns erzählen, was passiert ist. Kannst du das?«
Der Junge nickte und verbarg sein Gesicht, als schämte er sich, geweint zu haben. »Aber so gut englisch kann ich nicht.« »Das mußt du auch nicht. Das hier ist meine Freundin Marna. Sie versteht deine Sprache sehr gut. Aber sprich trotzdem langsam, und mach Pausen, damit sie es mir erklären und übersetzen kann. Ich heiße übrigens Ross.« Der Junge machte sich von Dogan los und wich bis zur Wand zurück. Dogan setzte sich einfach wieder auf den kalten Boden. »Ich heiße Jüan, Senor«, sagte der Junge, noch immer in seinem besten Englisch. »Aber meine padres nannten mich John, weil ich später in die Estados Unidos gehen sollte, um dort besser zu leben als sie.« »Sind das da deine Geschwister?« »Die Mädchen, ja. Aber der da ist mein primo.« Dogan sah Marna an. »Vetter«, erklärte sie. Dogan blickte Jüan freundlich an, um ihm alle Furcht zu nehmen und ihn davon zu überzeugen, daß er sich jetzt nicht mehr zu fürchten brauche. »Jüan«, sagte er, »oder John, erzähl uns jetzt alles, was passiert ist und was du weißt. Ganz von Anfang an. Und laß dir Zeit.« Aber die Worte sprudelten nur so aus dem Mund des Jungen, der sich offenbar von einer großen Last befreite und froh war, mit jemandem sprechen zu können. Marna kam kaum mit dem Übersetzen nach. Dogan war schnell klar, daß es wenig Sinn hätte, ihn zu unterbrechen, um Fragen zu stellen. Das würde nur seinen Gedankenfluß unterbrechen, und es mußte einfach erst einmal alles aus ihm heraus. Die meisten Fragen, das zeigte sich ohnehin, erledigten sich im Laufe der Erzählung von selbst. Es hatte vor Monaten begonnen, etwa vor einem halben Jahr. Anfangs waren nur einige Männer gekommen. Dann wurden es immer mehr. Sie sagten, sie könnten helfen. Sie wüßten, wie die Ernten schneller und reicher wüchsen, so daß das Wetter ;« nicht mehr so gefährden könnte wie bisher. Und daß die relder auch nicht mehr so viel Wasser benötigten. Die Dorfältesten erklärten sich bereit, darauf einzugehen, und daraufhin kamen noch viel mehr Männer mit langen Lastwagenkolonnen, auf denen sie Geräte und Säcke und Saatgut hatten, das sofort gepflanzt wurde. Und wie durch ein Wunder begann die Saat bereits am nächsten oder übernächsten Tag zu sprießen . . . »Das Korn war voll ausgereift in . . .« Der Junge sprach weiter, aber Marna brach ihre Übersetzung ab. »Was ist? Was sagt er?« forschte Dogan. »Da kann etwas nicht
stimmen«, sagte sie irritiert. »Was hat er denn gesagt?« Der Junge hatte inzwischen aufgehört zu sprechen. Marna holte tief Luft. »Daß die Ernte in nur drei Wochen reif war.« »Sag ihm, er soll weitererzählen«, sagte Dogan. »Ja, aber hast du nicht verstanden, ROSS? Er meint, in nicht mehr als drei Wochen wächst eine ganze . . .« »Sag ihm, er soll weitererzählen.« »Die älteren Leute«, übersetzte Marna schließlich zögernd und irritiert weiter, »fingen an Fragen zu stellen. Wann denn nun geerntet werde.« Wenn es so weit ist, antworteten die fremden Männer; wenn es so weit ist. Aber das Getreide war längst ausgereift. Es waren zwar erst drei Wochen vergangen. Aber das Getreide war erntereif. Jeder sah das. Doch niemand durfte an das Getreide heran. Im Dorf kam Unmut auf. Die Vorräte, wurden bereits knapp und es gab keine andere Möglichkeit, sie aufzufüllen. Keiner durfte mehr den Ort verlassen. Überall standen schwerbewaffnete Posten. Die Leute waren ungehalten, aber sie bekamen auch Angst. »Viele saßen den ganzen Tag nur noch da und starrten das reife Getreide an, das in nur drei Wochen gewachsen war. Aber sie hatten nichts davon, weil sie es nicht anrühren durften. Es war wie ein Traum: man kann alles sehen, aber man fühlt es nicht, schmeckt es nicht, kann es nicht anfassen . . . Die Erwachsenen, jedenfalls manche, begannen offen zu protestieren. Sie . . . verschwanden.« Der Junge hatte an dieser Stelle wieder große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Es war zu sehen und zu spüren, wie er sich zwang, stark zu bleiben und nicht zu weinen. Wie ein Mann zu handeln. Aber er hatte mehr Tote gesehen als die meisten Männer in ihrem Leben sehen. Da hatte er das Recht auf Tränen. Auf viele Tränen. »Dann kamen noch mehr bewaffnete Männer. Ein ganzer Lastwagen voll. Und auf einmal wurden die Leute von San .Sebastian wie die Schafe behandelt. Man trieb alle Einwohner wie eine Herde in die Kirche und dort mußten sie bleiben, auch zum Essen und Schlafen. Zum Waschen oder auf die Toilette durften sie nur schichtweise und zu bestimmten Zeiten. Die Verpflegung war allerdings sehr gut, und deshalb wurden die meisten Leute wieder ganz ruhig und machten sich auch keine Sorgen mehr.« Andere, die Intelligenteren offenbar, aber fürchteten das Schlimmste. Der Junge schluckte schwer und bemühte sich verzweifelt, die Fassung zu behalten. »Mein Vater war einer von diesen.« Eines Nachts weckte er die vier Kinder auf, als es schon sehr spät war und
das Zirpen der Grillen am lautesten. Zu dieser Zeit hielten nur zwei Posten Wache, die nicht sehr aufmerksam waren. Der Vater führte die Kinder kriechend über die anderen schlafenden Leute hinweg in einen geheimen Raum hinter der Kirche, in dem es eine verborgene Falltür gab, die zu einem Tunnel hinab führte. Dieser Tunnel mündete bei den Hügeln außerhalb des Ortes. Dem Jungen rannen die Tränen über die Wangen. Er ließ sie jetzt achtlos laufen. »Und er schickte uns durch diesen Tunnel weg. Wir wollten nicht, aber er befahl es uns.« Er sagte, er käme später nach, übersetzte Marna weiter. Jetzt müsse er erst noch dableiben, weil das Fehlen von Erwachsenen den Wachen auffiele, während Kinder leichter verschwinden konnten. Der Junge verlor erneut die Beherrschung und weinte und wimmerte, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. »Am nächsten Morgen kam ein Jeep, in dem zwei Männer saßen. Einer war wie ein Soldat angezogen, obwohl er nicht aussah wie ein Soldat. Der andere war groß wie ein Riese, hatte Schlitzaugen und trug einen weißen Anzug. Der Riese holte eine Stahlkiste vom Rücksitz. Der neue Mann redete mit dem Anführer der Truppen, die San Sebastian zum Gefängnis gemacht hatten. Kurz danach kam der große Mann aus dem Haus. Er war angezogen wie ein Astronaut, mit einem grauen Anzug, der in der Sonne glitzerte. Und er hatte eine ganz komisch aussehende Spritze auf dem Rücken. Er holte so eine Dose aus der Stahlkiste und steckte sie in diese Spritze. Und dann ging er hinaus auf die Felder. Da, wo das Getreide war. Und darüber sprühte er nun einen grauen Nebel. Nur ein paar Sekunden lang. Und dann auf einmal . . .« Wieder sprach zwar der Junge weiter, aber Marna übersetzte nicht mehr. »Was ist los?« forschte Dogan. »Ich scheine wieder etwas nicht richtig verstanden zu haben«, sagte sie und rieb sich die Nase, aber ihre Finger zitterten. Sie fragte den Jungen. Dann wiederholte sie: »Ich muß ihn offenbar mißverstehen.« »Was ist denn?« fragte Dogan ungeduldig. »Er sagt, nach nur ein paar Minuten sei das ganze Getreide quasi rückwärts gewachsen. Geschrumpft. Zurück in den Boden.« Dogan unterdrückte einen Schauer der Beklemmung, der in ihm aufkommen wollte. »Weiter! Was hat er noch gesagt?« »Daß das Getreide zurückging, Reihe um Reihe. Als zöge etwas im Boden es in diesen zurück.« In Marnas Blick war Panik. »Ross, sag mir, was hier vorgeht!«
»O Gott!« stöhnte Dogan statt dessen nun und stand auf. Das war schlimmer, unerwarteter, phantastischer als alles, was er sich hatte träumen lassen. Da war es, das fehlende Glied! Das Komitee hatte nicht nur Mittel und Wege gefunden, das Getreidewachstum durch genetische Manipulation enorm zu beschleunigen. Es hatte auch Möglichkeiten gefunden, ganze Ernten wieder zu vernichten. Fast in Sekundenschnelle. Der Junge hatte es gesagt: kaum ein paar Sekunden, nachdem der graue Nebel darüber gesprüht worden war. Unglaublich. Absolut unglaublich. Kein Wunder, daß San Sebastian verbrannt wurde. Jeder Beweis für das, was dort experimentell erprobt worden war, mußte beseitigt werden. Mit einem Schlag wurde der Sinn des entsetzlichen Massakers Völlig klar und lag offen zutage. Alles fügte sich ins Bild, Das Komitee konnte die gesamte Ernte der USA vernichten und dann den Markt mit seinen in Südamerika, auf den von ihm erworbenen Ländereien, genetisch beschleunigten Ernten übernehmen und völlig kontrollieren! Sich diese Möglichkeit nur zu überlegen, genügte bereits, ihm einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken zu jagen. Er konnte es nicht unterdrücken. »Der Junge soll weitererzählen«, sagte er schließlich nur. »Stimmt das alles, was er da erzählt, Ross? Du mußt mir das alles genau berichten.« »Später, Marna«, drängte Dogan. »Erst muß ich den Rest der Geschichte des Jungen hören.« Der Junge erzählte weiter, Marna übersetzte es ihm, so rasch sie es nur vermochte. Nur noch ein winziger Rest der Ernte war übrig, als die Lastwagen kamen, von denen schwer bewaffnete Soldaten kletterten. Sie nahmen ihre Gewehre von den Schultern, schwärmten aus und trieben die Ortsbewohner aus der Kirche heraus. Eine sengende, blendende Sonne stand am Himmel. Jüan versuchte oben von den Hügeln in der Menge verzweifelt seine Eltern zu erkennen, aber es war unmöglich, schon wegen der gleichen Kleidung, die sie alle trugen. Ein Kommando trieb die Leute zusammen, die versucht hatten, auszureißen oder sich zu verstecken. Die Menschen schrien, weinten, flehten. »Es war schrecklich, schrecklich! Und dann schössen die Soldaten mit ihren Gewehren. Und das Schreien der Menschen wurde
immer weniger und immer leiser, je mehr Menschen-tot umfielen. Und alles war überall voller Blut. Ich wollte weinen, aber es ging nicht, so wie ich atmen wollte und es ging nicht. Und dann stapelten sie die toten Leute wie Holz auf einen Haufen. Manche kullerten von oben herab. Und dann . . .« Der Junge unterbrach sich erneut und sein Blick war sehr fern, wie hypnotisiert. »Dann habe ich meine Eltern gesehen. Sie lagen nebeneinander und ihre Augen standen offen, aber sie sahen mich nicht. Und da sagte ich zu mir, ich muß tapfer sein, wie es mein Vater gewollt hätte, und ich nahm die anderen und führte sie weit hinauf in die Berge, während immer neue Soldaten kamen und auf die Felder und über die ganze Stadt eine Feuerflüssigkeit schütteten, damit alles verbrannte. Ich wußte, daß sie das tun wollten, als ich es sah, und wir gingen deshalb noch weiter hinauf in die Berge, wo der Wind ist, damit uns das Feuer nicht erreichen konnte. Es brannte drei Tage lang und unsere Haut wurde von der Hitze, die bis zu uns kam, heiß und rot.« Dann war der Regen gekommen und hatte das große Feuer gelöscht, und danach waren die vier Kinder wieder etwas weiter nach unten gezogen und hatten sich an einer Stelle, wo sie den Platz sehen konnten, auf dem sich einst ihr Heimatort befand und wo jetzt das Grab ihrer Eltern war, diese Hütte zusammengetragen. Der Junge war in der Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse, die er mit angesehen hatte, völlig außer sich. Seine Stimme war immer lauter geworden, beinahe hysterisch. So laut, daß Dogan kaum den Schuß hörte, der plötzlich durch eine Lichtluke der Hütte abgefeuert wurde. Er fuhr splitternd in das Holz über seinem Kopf. Er fuhr herum und sah Marna an, die noch immer seine eigene Pistole in ihrem Gürtel stecken hatte. Aber sie hatte bereits ihre eigene Waffe gezogen und feuerte aus einer Deckung, die sie gesucht hatte. Doch da wurde sie fast im gleichen Moment von drei Kugeln getroffen, die ihr die Brust zerfetzten und von ihrem Gesicht, an der Stelle, wo eben noch Augen und Nase gewesen waren, nur noch einen blutigen Brei hinterließen. Sie wurde nach hinten geschleudert und zuckte in Todesagonie.
Eine Welle von Zorn und Empörung stieg in ihm hoch. Er warf sich nach vorne, um Marnas Gürtel zu erreichen, in dem seine P-9 steckte. Eine Kugel schlug genau dort ein, wo er eben noch gewesen war. Der Junge schrie in Panik auf. Dogan wußte nicht, ob er noch lebte oder ebenfalls schon tot war. Die anderen drei Kinder schrien angstvoll und übertönten die nächsten Schüsse, die Holzsplitter und Dreckfontänen hochjagten. Dogan rollte sich herum, hatte die P-9 jetzt fest im Griff und kniete sich in Schußposition mit Ziel auf die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Eine ganze Salve von Schüssen durchlöcherte die Balken der Wand hinter ihnen, und unmittelbar danach brach eine große Gestalt durch sie herein. Dogan schoß ihn mit drei Kugeln auf der Stelle nieder. Hinter ihm kamen zwei weitere Gestalten hereingestürmt. Den ersten traf Dogan mit einem glatten Kopfschuß, den zweiten mitten ins Herz. Sie fielen wie Säcke übereinander. Ihr Blut spritzte an die Wand. Dogan hielt seine P-9 weiter im Anschlag und versuchte rasch zu überlegen, wie viele Schüsse er noch im Magazin hatte. Aber er fand sich nur auf die Waffe starren und wußte, daß es ihm in Wirklichkeit völlig egal war, ob und wieviel Munition er noch hatte. Die Kinder schrien noch immer in hellem Entsetzen, nur Jüan stöhnte leise auf dem Boden. Auf dem Fetzen, den er als Hemd trug, breitete sich ein nasser roter Fleck aus. Dogan sprang auf, um nach ihm zu sehen, als die Frau durch das Loch in der Wand hereinsprang und, ohne genau zu zielen, schoß. Die Kugel pfiff knapp an Dogans Haar vorbei. Sie stolperte, fiel zu Boden, flog vorbei wie ein Schemen. Er hätte sie mit einer raschen Reaktion zweifellos sofort erledigen können, wenn ihm im Augenblick nicht wichtiger gewesen wäre, den Jungen abzuschirmen. Es gelang ihm, einen Schuß abzufeuern, aber nur einen schlechtgezielten. Und im nächsten Moment hatte sich die Frau das ältere Mädchen geschnappt und hielt es als Schutzschild vor sich. Dogan hob seine Waffe. Die Frau ebenfalls. Es war die klassische Gegenüberstellung. Die Frau war an der linken Schulter verwundet. Ein Streifschuß nur, aber sie verlor viel Blut. Sie zog sich mit dem Mädchen langsam zu dem Loch in der Wand zurück. »Sie kommen hier nicht mehr raus«, zischte sie.
»Sie jedenfalls werden mich nicht aufhalten«, sagte Dogan. Er versuchte fieberhaft, zu erraten, wer sie und ihre Begleiter wohl waren,und woher sie kamen. Und von wem. Vom Komitee? Oder von den SAS-Ultras? »Sagen Sie mir, wer Sie schickt«, sagte er, »und ich lasse Sie am Leben.« Die Antwort der Frau bestand darin, ihrer Geisel die Pistole an die Schläfe zu drücken. »Sie sind nicht in der Position, Ultimaten zu stellen.« »Komitee oder Masvidal?« Die Frau sah ihn nur schwer atmend an. »Das Komitee, nicht wahr? Die SAS-Ultras können nicht gewußt haben, daß ich hier bin. Und sie hätten auch keinen Grund . . .« Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Augenblick mal . . . ihr seid ja gar nicht hinter mir her! Ihr seid gekommen, die Kinder zu töten! Ihr gottverfluchtes Drecksvolk . . .!« »Es werden noch viele Kinder wie diese sterben«, sagte die Frau mit seltsamer Ruhe, obwohl Blut und Schweiß auf ihrem Gesicht standen. »Und wenn es sein muß, die Kinder der ganzen Welt!« »Eine Bande von Leuten, die krank im Kopf sind, seid ihr alle offenbar nur! Was für einen Sinn hätte selbst für das Komitee eine Welt ohne Kinder?« In den Augen flackerte der blanke, blinde Fanatismus auf. »Das Komitee verändert sich, und Sie können daran überhaupt nichts mehr ändern. Dazu ist es zu spät. Ihre Worte täuschen mich nicht mehr. Ich weiß, daß Sie von denen geschickt sind.« Die Frau zog sich zum Fenster zurück, immer hinter dem Kind, sich duckend, um vollständig von dem kleinen Mädchen geschützt zu werden, wobei sie mit ihrem Arm den Hals des Kindes umklammerte. Sie war sich jetzt offenbar ziemlich sicher, daß der Mann ihr gegenüber, falls er einen Schuß hätte riskieren wollen, das längst getan hätte. »Es ist alles so gut wie gelaufen«, sagte sie. »Das ist es«, sagte Dogan und feuerte aus der Hüfte. Die Kugel fuhr der Frau in das Genick und riß es fast völlig weg. Sie flog gegen die Überreste der einstigen Wand. Das Kind, das sie umklammert gehalten hatte, sank, vor Entsetzen wimmernd, zu Boden.
Er wollte noch einmal nach dem Jungen sehen, aber sein Blick fiel zuerst auf Marna. Er fühlte die Tränen in sich aufsteigen. Sein Name war Grendel, wie das Monster, das Menschenfleisch fraß. Und nun weinte er und verfluchte die Welt. . . Das Stöhnen des Jungen brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er ging zu ihm, hob ihn hoch und trug ihn auf seinen Armen hinaus. Er hatte eine Menge Blut verloren, aber es sah nicht so aus, als seien lebenswichtige Organe verletzt. Der Junge konnte sicher überleben. »Es tut sehr weh! Lassen Sie mich nicht allein! Nicht allein . . .« »Ich bin ja da«, sagte Dogan sanft und wiegte den Jungen und drückte ihn an sich. Wenn er das doch nur für Marna noch tun könnte! dachte er. Dann sagte er noch einmal: »Ich bin ja da.« Wenn auch nur jetzt. Was die Frau gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn. Was bedeutete das? Doch hier und jetzt hatte er keine Gelegenheit, das herauszufinden. Später. Später war Zeit genug. Er hatte viele Reisen vor sich. Er mußte sich Ziele setzen, ein Ventil finden für den Zorn und die Frustrationen, die in ihm wüteten. Gewalt gegen Gewalt. Tod gegen Tod.
Siebter Teil Rom und London Mittwoch vormittag Locke schlief fast die ganze Nacht nicht. Der Arzt hatte die gebrochenen Knochen so gut gerichtet, wie es ging, und mit Erste-Hilfe-Verbänden und Klebebändern aus seinem Sanitätskasten bandagiert. Ohne fachgerechte Krankenhausbehandlung, die Locke ablehnte, könne er jedoch nicht für den Erfolg garantieren, hatte er gemeint. Locke konnte darauf im Augenblick keine Rücksicht nehmen. Er hatte sich lediglich schmerzstillende Mittel geben lassen, die wenig halfen. Der heftige Schmerz bei jeder falschen Bewegung, bei jedem Druck war geblieben. Er lag da und starrte an die Decke des dunklen Zimmers, immer kurz vor dem Einschlafen, das dann doch nicht gelang. Nach der bestürzenden Nachricht von Burgess hatte er schließlich doch zu Hause in Silver Spring angerufen. Weitere Vorsichtsmaßnahmen in dieser Hinsicht erschienen ihm mittlerweile sinnlos. Schließlich hatten sie Greg längst. Burgess' schützender Arm hatte offensichtlich nicht so weit gereicht. Bei jedem der drei Male, die das Telefon klingelte, krampfte sich sein Magen mehr zusammen. »Hallo«, sagte dann eine männliche Stimme, die er nicht kannte. Er drückte den Hörer an das Ohr. »Ja?« fragte die Stimme noch einmal. Er hängte in Panik auf und rang nach Atem. An seinem Telefon zu Hause war ein Fremder. Einer mit amerikanischem Akzent. Wenn es keiner von Burgess Leuten war, wer war es dann? Mit einem Mal war ihm klar, wie sehr er sich wünschte, er könne diese ganze fürchterliche Geschichte hier einfach hinter sich lassen und nach Hause fahren. Obgleich, das war klar, sein Zuhause nie mehr das sein würde, was es gewesen war. Mehr noch, er mußte jetzt damit rechnen, daß es bereits überhaupt nicht mehr existierte. Das Komitee konnte sich inzwischen seiner ganzen Familie bemächtigt haben. Gregs Finger war vielleicht nur der Anfang dieses wahnsinnigen Wütens gewesen. Wohin also konnte er noch heimkehren? Onkel Colin ist fischen gegangen.
Sie hatten also Burgess ebenfalls. Der große Brite hatte sich als kein ernsthaftes Hindernis für das Komitee erwiesen. Aber die Frau am Telefon war noch da. Bedeutete das, daß ihr Haus nach wie vor als seine Zuflucht dienen konnte? Er selbst hatte im Augenblick kein weiteres Ziel vor sich. Er konnte also ebensogut nach Falmouth zurückkehren und dort seine weiteren Entscheidungen treffen. Was war die Alternative? Die amerikanische Botschaft vielleicht. Viele Möglichkeiten blieben ihm ohnehin nicht. Er mußte nur sicherstellen, daß mehr als eine Person anwesend war, wenn er dort seine Geschichte erzählte. Irgendwer mußte ihn anhören, irgend jemand mußte etwas unternehmen. Das Komitee konnte nicht gut die gesamte Botschaft unterwandert haben. Jedenfalls versuchte er sich das einzureden und sich selbst davon zu überzeugen. Sonst blieb ihm nur die Möglichkeit, trotz allem in Rom zu bleiben und auf Dogan zu warten. Doch solange der Dunkelhaarige mit seinem anscheinend unverwundbaren chinesischen Hünen noch hinter ihm her war, war daran nicht zu denken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Land schnellstens zu verlassen. Mit Dogan konnte er, wie Forenzo vorgeschlagen hatte, später wieder Kontakt aufnehmen. Der Hotelmanager hatte ihm ein Rückflugticket für einen Charterflug nach London und einen Wagen für die Fahrt zum Flughafen am nächsten Morgen beschafft. Selbst einen amerikanischen Paß hatte er aufgetrieben, wenn auch das Bild darin ihm nicht annähernd glich. Aber der Ausweis würde ausrei chen, um ihn bei der Ausreisekontrolle in Rom vorzuzeigen. In London war es etwas anderes. Er kam mit seiner Reisetasche ungehindert am Flughafen an. Er durchquerte die Flughafenhalle, so rasch es ging, um schnell durch den Flugsteig seines Charterflugs zu verschwinden. Je schneller das ging, desto weniger Zeit hatten die anderen, ihn zu entdecken. Das würde ihnen nicht schwer fallen. Ein Mann, ganz allein, mit einer Reisetasche und einer bandagierten Hand, fiel von selbst auf. Auf dem Weg zum Flugsteig hielt er sich in einer Gruppe Passagiere, die offensichtlich ebenfalls zu seinem Charterflug gehörte. Er gab sich große Mühe, in ihrer Mitte zu bleiben und sich so zu verhalten, als gehöre er wirklich dazu, ohne dabei allzuviel Aufmerksamkeit zu erregen. Vor ihm mühte sich ein Mädchen in Jeans mit einer Menge Tragetüten ab. Eine fiel ihr herunter, der ganze Inhalt kullerte heraus, dem Anschein nach lauter Souvenirs.
»Mist«, schimpfte sie und stellte feuerrot ihre übrigen Tragetüten auf den Boden. Sie hatte eben begonnen, ihre Siebensachen wieder zusammenzusuchen, als Locke bei ihr ankam. »Kann ich Ihnen helfen?« sagte er ganz automatisch, aber auch, um einen Ansprechpartner für die nächsten Stunden zu haben. »Gern«, sagte das Mädchen und sah zu ihm hoch. Sie mochte um die fünfundzwanzig sein und hatte blondes Haar, das auf ihre Schultern fiel, und blaue Augen. Sie war überaus attraktiv. Er zögerte plötzlich, tat aber schließlich sein Bestes, ihr mit seiner unverletzten Hand beim Aufsammeln ihres italienischen Krimskrams behilflich zu sein. »Was haben Sie denn da?« fragte sie. »Treppe runtergefallen«, sagte er und versuchte, so auszusehen, als sei ihm dieses Geständnis sehr peinlich. »Wir sind gegen diese Art Sachen versichert«, erklärte sie. »Steht in der Broschüre.« Sie suchte in ihrer Tasche danach. »Ich habe sie irgendwo.« »Machen Sie sich keine Umstände. Das ist bereits alles geregelt. Ich will nur schnellstens nach Hause zu meinem eigenen Arzt.« Er steckte das letzte Stück in ihre Tragetasche. »Zu Hause scheint auch für Sie Amerika zu sein, wie?« fragte das Mädchen. »Ja.« »Ich bin froh, wieder heimzukommen«, sagte sie mißmutig. »Scheißeuropa. Stinklangweilig überall, das sage ich Ihnen.« Sie waren inzwischen weitergegangen und er bemerkte, daß er unwillkürlich im gleichen Schritt mit dem Mädchen ging. Sie waren fast an der Paßkontrolle. »Wie heißen Sie?« fragte sie. »Chris.« Sie streckte ihm die Hand hin, und ihre Souvenirtüte fiel fast wieder zu Boden. »Hallo, Chris. Ich bin Nikki. Sitzen Sie schon neben jemandem?« »Nein, eigentlich nicht«, sagte Locke und war froh über sein Glück. »Das freut mich«, sagte Nikki und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, so habe ich das natürlich nicht gemeint. Ich dachte nur, da könnten wir uns ja zusammensetzen.« »Aber gern«, sagte Chris. Sie gingen durch den Schalter, wo eine Frau die Pässe recht nachlässig kontrollierte. Locke griff in seine Tasche, in die er seinen Paß von Forenzo und sein Flugticket gesteckt hatte. »Wo zum Teufel habe ich das Ding hingesteckt?« murmelte Nikki inzwischen und stellte ihre sämtlichen Tragetüten auf den Boden. Sie suchte in ihrer Handtasche und dann in ihrer Jeansjacke, die dieselbe verwaschene Farbe wie die Hose hatte. »Na, da ist er doch!« sagte
sie endlich erleichtert. »Stellen Sie sich vor, man vergißt sowas im Hotel oder so!« Sie sah ihn dramatisch an. »Ist mir alles schon passiert«, sagte er und reichte seinen Paß zusammen mit ihrem der Frau im Schalter. »Schon ein paarmal sogar.« Der Aufruf des Fluges kam überraschend pünktlich nach zehn Minuten. Locke trug wie selbstverständlich bereits eine von Nikkis Tüten, als sie zum Flugzeug gingen. Das Mädchen hatte ihm der Himmel geschickt. Ein Paar, auch wenn es nur scheinbar eines ist, erregt auf Reisen so gut wie keine Aufmerksamkeit. Falls das Komitee seine Leute hinter ihm hergeschickt hatte, hatten diese es nun bedeutend schwerer, ihn zu erkennen und ausfindig zu machen. Sobald sie im Flugzeug auf ihren Plätzen saßen, ände/te sich sein Verhalten dem Mädchen gegenüber jedoch abrupt wieder. Sie hatte ihren Zweck erfüllt und eigentlich wollte er jetzt während des Fluges nur noch in Ruhe gelassen werden. Anfangs versuchte er ihr pausenloses Geschnatter durch konstantes Lächeln zu neutralisieren, allenfalls gelegentlich, aus Höflichkeit, das eine oder andere entgegnend. Doch nach einiger Zeit wurde er ungehalten und ungeduldig. Und nachdem die ersten Drinks serviert worden waren, fuhr er sie richtiggehend an. Sie war beleidigt und setzte den Kopfhörer auf. Er nickte kurz ein, dann riß ihn ein plötzlicher Gedanke schier hoch. Und wenn diese Nikki nun auf ihn angesetzt war? Ihn vielleicht sogar während des Fluges ermorden sollte? Zweifellos hatten Leute, die wußten, daß und wie man einen Weinkorken als Mordwaffe benützen kann, auch Mittel und Wege dafür. Er beobachtete sie hinter halbgeschlossenen Augen eine Weile, entschlossen, während des ganzen Restes des Flugs wachsam zu bleiben. Und er brauchte eine Waffe; eine Waffe, für den Fall, daß . . . O nein! Nein! Ein Schauer überlief ihn. Was war aus ihm geworden? Hatte er sich bereits in dem Bemühen, zu überleben, so verändert? Konnte man sich tatsächlich so rasch verändern? Nein. Es sei denn, das alles steckt bereits in einem. Burgess hatte gesagt, er sei genau der Richtige für diesen Auftrag, weil es ihm im Blut stecke. Als Teil des Erbes seiner Mutter. Vielleicht hatte er recht gehabt . . .
Und was war dann mit seinem Sohn? Was konnte er überhaupt tun, seinen Sohn zu retten - vorausgesetzt, er war noch am Leben? Schon beim Gedanken an dies alles verkrampfte sich ihm neuerlich schmerzhaft der Magen. Wo sollte er überhaupt anfangen? So stark schien das Erbe seiner Mutter auch nicht zu sein, jedenfalls reichte es nicht aus. Er preßte sich in seinen Sitz. Die Wirkung der schmerzstillenden Mittel ließ bereits nach. Er hoffte, nicht halb ohnmächtig vor Schmerzen in London anzukommen. Er konnte nichts für Greg tun. Wie er so vieles in seinem Leben nicht hatte tun können. Wenn kein Wunder mehr geschah, mußte er wohl für den Rest seines Lebens mit der Verantwortung für den Tod seines Sohnes leben. Wie war eigentlich Brian Charney mit dieser Belastung fertiggeworden? Wie viele Lasten solcher Art hatte er zu tragen gehabt? Ohne daß sie ihn daran gehindert hätten, sich weitere aufzuladen? Er dachte daran, wie Lübeck, »unser Lube«, mutterseelenallein in einer gottverlassenen südamerikanischen Stadt gestorben, und wie Charneys Blut in den dicken Teppich in einem Zimmer des Dorchester-Hotels gesickert war. Sie waren beide gestorben, dachte er, wie sie gelebt hatten: leer, allein, mit einem Vakuum an der Stelle, wo einmal ihre Moral gewesen war. Mit anderen Worten, er war gar nicht so allein. Er war nicht der einzige, der durch eine solche Krise mußte. Womöglich ging es überhaupt allen Menschen so. Manche konnten lediglich schneller laufen — und entkommen als andere. Man konnte wohl andere narren. Aber nicht sich selbst. »Unser Lube« wollte sich partout nicht pensionieren lassen, denn dann wäre das ewige Laufen zu Ende gewesen. Und alles, was man dabei hinter sich läßt — beispielsweise auch die Wahrheit -, hätte ihn dann eingeholt. Folglich war er bis nach San Sebastian gelaufen und dort gestorben, und vielleicht war dies sogar das Beste. Und dann war er, Locke, nach London gelaufen, nach Liechtenstein und Italien, und war nun wieder auf dem Weg zurück nach London. Wozu? Besser als Sterben war es jedenfalls. Weil er immerhin etwas besaß, das Lübeck nie gehabt und Charney längst verloren hatte: eine Familie. Gut, seine Ehe war nicht besser und nicht schlechter als die meisten Ehen. So war es nun einmal, und wenn er einst anderen Ehrgeiz gehabt
hatte, dann waren das eben Primadonnenallüren gewesen. Und welche Kinder heutzutage wollen nicht von zu Hause und von den Eltern weg und selbständig sein? Der Gedanke an Greg ließ ihn erneut erschauern. War es wirklich so eine gute Idee, die Amerikanische Botschaft einzuschalten, damit sie ihm zu Hilfe käme? Oder würde das Komitee Greg nur solange arn Leben lassen, wie er den Mund hielt? Immer vorausgesetzt, er lebte überhaupt noch, wie gesagt. Nirgends eine Antwort, nur Entscheidungen, die er treffen mußte und die wie Zentnergewichte auf seinen Schultern lasteten! Nirgends etwas Eindeutiges. Nirgends hier schwarz, dort weiß, wonach man sich orientieren konnte. Überall nur grau. Leute wie Dogan waren an dieses Grau gewöhnt. Aber er überhaupt nicht. Ganz und gar nicht. Als der Jet in London landete, lächelte Nikki ihm nur noch kurz und gezwungen zu und legte rasch den größtmöglichen Abstand zwischen sich und ihn. Er fühlte sich schuldbewußt. Weil er sie verdächtigt hatte, von der Gegenseite auf ihn angesetzt zu sein. Während er es wohl eher war, der ihr Leben gefährdet hatte, indem er sich hinter ihr versteckte und sie als Schutzschild mißbrauchte. Er überlegte, ob er sie zurückrufen und sie unauffällig warnen sollte, auf der Hut zu sein. Und ihr zu sagen, daß er sich nur aus Angst um sein Leben so seltsam benommen habe. Aber sie war bereits zu weit weg und zu offensichtlich beleidigt über sein Verhalten. Eine nur schwach verhüllte Warnung würde weitere Fragen nach sich ziehen und dazu führen, daß sie sich, statt normal und unauffällig, fortan besonders auffallend verhalten würde. Nein, es war besser, sie in nichts einzuweihen. Sie verließ das Flugzeug und ging die Rampe entlang in den Flughafen Heathrow, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Sein nächstes Problem stand erst noch bevor. Er mußte durch die Paßkontrolle. Der falsche Paß hatte ihn richtig, wie von Forenzo vorausgesehen, aus Rom herausgebracht. Aber nie und nimmer würde er damit an den sehr viel aufmerksameren Beamten in London vorbeikommen. Er hatte sich auf dem Flug einen Plan zurechtgelegt, wußte aber nicht recht, wie er ihn ausführen sollte. Er mußte die Dinge einfach auf sich zukommen lassen.
Eine Stewardeß der Fluglinie stand am Ausgang, um die Passagiere mit freundlichem Lächeln zu verabschieden, nachdem sie vor dem Ausrollen die in allen Flugzeugen der Welt übliche Formel aufgesagt hatte: ». . . hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug und würden uns freuen, wenn Sie einmal wieder mit uns . . .« Es war ihm bei ihrem Anblick plötzlich klar, wie er vorgehen mußte. Ohne darauf zu warten, später ausgesondert zu werden, ging er direkt auf sie zu. »Ja, Sir, kann ich Ihnen helfen?« »Ja. Ich glaube, man hat mir im Flugzeug meinen Paß gestohlen.« »Gestohlen? Im Flugzeug?« »Jedenfalls ist er, während ich schlief, aus meiner Jacke verschwunden.« »Haben Sie einer meiner Kolleginnen Bescheid gesagt?« »Ja, sie sagte, ich sollte mich nach der Landung an die Chefstewardeß wenden. Das sind Sie doch wohl? Sehr hilfreich fand ich das nicht, wenn ich ehrlich sein soll. Scheint überhaupt nicht die tollste Organisation zu sein hier bei euch.« Zornesröte stieg in das Gesicht der Chef Stewardeß. Dergleichen hatte sie offensichtlich am wenigsten erwartet. Sie beherrschte sich mühsam. »Wenn Sie bitte mitkommen wollen. Wir klären die Angelegenheit wohl besser an einem anderen Ort.« »Ist mir ein Vergnügen.« »Kommen Sie.« Sie gingen an der Warteschlange vor den Paßkontrollen vorbei zu der gleichen Büroflucht, wo er bei seiner ersten Ankunft in London von dem seltsam entgegenkommenden Zöllner hingeführt worden war, der sich als Robert Trevor vorgestellt und ihm, angeblich in Charneys Auftrag, die Pistole übergeben hatte. Wäre interessant, ihm wiederzubegegneh. Aber damit war wohl nicht zu rechnen. Die Stewardeß bat ihn in eines der kleinen Büros und bot ihm einen Stuhl an. »Ich will zusehen, ob ich einen der Inspektoren finde. Ich bin gleich wieder da«, sagte sie. »Die Fluggesellschaft fühlt sich selbstverständlich für Ihr Wohlergehen verantwortlich und wird alle Schritte unternehmen, die erforderlich sind, um Ihre Angelegenheit zu klären und zu bereinigen, Mr. . . .« »Jenkins. Peter Jenkins.« ,
». . . Mr. Jenkins.« Sie war bereits an der Tür. »Augenblick.« Sobald sie draußen war, sprang Locke auf. An den Kontrollen war er auf diese Weise vorbei. Aber noch war er nicht im Lande. Dieses Hindernis war noch zu überwinden. Er hatte nur eine einzige Chance. Er ging aus dem Büro hinaus und den Gang entlang in den Bereich, der als Nicht für Passagiere deklariert war. Er hielt die Augen nach der Stewardeß offen. »Hallo, Sie, was machen Sie denn hier?« Er wandte sich um. Ein uniformierter Zollbeamter kam auf ihn zu. »Das ist eine Zone, zu der Zutritt verboten ist! Haben Sie das nicht gesehen?« Locke tat verwirrt. »Man hat mich hierher geschickt. Mein kleiner Neffe kommt an.« »Da sind Sie aber ganz falsch gegangen, Sir«, sagte der Zöllner. »Ankommende Passagiere kommen hier überhaupt nicht durch.« »Gut, aber . . .« »Sie müssen sich hier sofort entfernen.« »Gewiß, selbstverständlich. Danke schön.« Er ging den Korridor hinab. Es hatte geklappt! Trotzdem, noch immer war nicht alles gewonnen. Er mußte es noch bis Falmouth schaffen, bis in das sichere Haus dort. Wenn die Frau ebenfalls ein Profi war, war sie vorbereitet und erwartete ihn. Wenn Burgess tot war, blieb sie seine einzige Zuflucht. Das war ihr zweifellos auch klar. Er hatte keinen Zweifel daran, daß Burgess ihr für diesen Fall bestimmte Instruktionen hinterlassen hatte. Er hatte sich wohl keine Illusionen darüber gemacht, daß sie ihn früher oder später kriegen würden und hatte entsprechende Vorsorge getroffen. Er ging unwillkürlich schneller, als er in den allgemeinen Publikumsbereich von Heathrow gekommen war. Schnelligkeit war jetzt entscheidend, aber er durfte sich nicht zu offensichtlich beeilen. Das wäre allzu auffällig und verräterisch gewesen. Vor dem Eingang verhandelte er mit drei Taxifahrern, ehe einer zu der Fünfstundenfahrt nach Falmouth bereit war. Locke akzeptierte den exorbitanten Preis. Seine Finanzen erschöpften sich allmählich, aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Geld war zweitrangig und nichts als Mittel zum Zweck. Die Sonne war eben untergegangen, als sie die große NeubauWohnsiedlung erreichten, die sich etwa eine Meile außerhalb von
Falmouth befand. Er ließ sich kurz vor der Adresse 205 Longfield, wo die Frau wohnte, an einer Ecke absetzen, um das letzte Stück zu Fuß zu gehen und, falls das Haus bewacht würde, unauffällig vorbeigehen zu können. Die Häuser sahen alle gleich aus, jedes hatte eine Terrasse und einen kleinen Vorgarten. Das Haus Nummer 205 war mittelbraun verputzt und von den anderen Häusern links und rechts die ganze Straße entlang nur dadurch zu unterscheiden, daß es keinen Vorgarten hatte. Er sah sich vorsichtig, aber gründlich um und ging dreimal daran vorbei, ehe es ihm sicher schien. Die Straße war leer und still. Nur einige Hunde bellten da und dort, und durch das offene Fenster eines Hauses drang Radiomusik. In den wenigen geparkten Autos saß niemand. Schließlich ging er entschlossen zur Haustür von 205. Er läutete. Nichts rührte sich. Er läutete noch einmal. Nichts. Er widerstand der Versuchung, mit der Faust gegen die Tür zu bummern. Das hätte nur Aufmerksamkeit in den Nachbarhäusern erregt. Er hätte nach der Frau gerufen, hätte er ihren Namen gewußt. Er läutete schließlich ein drittes Mal. Mit dem gleichen Ergebnis. Automatisch faßte er nach dem Türgriff und drehte ihn. Die Tür ging auf! Es war einfach offen! Er trat ohne Zögern ein und schloß die Tür hinter sich. Offenbar war die Frau gerade ausgegangen und hatte, weil sie ihn erwartete, die Tür offen gelassen. Vermutlich hatte Burgess sie entsprechend instruiert. Er trat in die Vorhalle. Und erstarrte. Die Frau war keineswegs ausgegangen. Sie hing an der hohen Decke. Splitternackt. Ihre Zehen waren etwa in Löckes Kopfhöhe. Sie waren etwas verdreht. Vermutlich weges des Seiles, das in mehreren Schlingen um ihren Hals lag. Ihr Gesicht war purpurn angelaufen und die Augen traten weit hervor. Sie schienen auf die schwarze, aus dem Mund hängende Zunge zu blicken. Locke taumelte rückwärts und fiel zu Boden. Es blieb ihm buchstäblich der Atem weg. Er konnte den Blick nicht von der Leiche wenden. Es wurde ihm kurz schwarz vor den Augen, ehe er wieder klar sah. Er war eben bis zur Tür zurückgewichen, als sie aufflog. Drei Männer stürmten herein und stürzten sich sogleich auf ihn; so
heftig, daß er zu Boden stürzte. Aber er spürte den Aufprall nicht und kümmerte sich auch gar nicht darum. Er war zu verblüfft und sprachlos. Die Männer gingen ziemlich grob mit ihm um und zerrten und schoben ihn, bis sie ihn wieder auf den Beinen hatten. In diesem Augenblick kam ein vierter Mann zur Tür herein. Er hatte silbergraues Haar und sah müde aus. »Christopher Locke, vermute ich?« sagte er knapp und holte seinen Ausweis aus der Tasche. Locke starrte völlig ungläubig darauf, als er ihm die Karte mit seinem Foto unter die Nase hielt. »MI-6, Mr. Locke«, sagte der silberhaarige Mann. »Mein Name ist Colin Burgess. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen stellen.« »Ich verstehe, glaube ich, nicht ganz.« Der Außenminister blickte auf die Akte, die ihm sein. Staatssekretär Calvin Roy übergeben hatte. »Im Klartext, Boß, heißt es folgendes: Jemand hat in Charneys Personalakte Dünger durch Mist ersetzt. Noch anders gesagt: darin hat jemand herummanipuliert.« »Wie?« »Liegt doch auf der Hand. Da sind sechs Seiten, die detailliert sämtliche Einsätze Charneys enthalten. Nie mehr als zwei Monate Pause. Nur hier nicht.« Roy stand auf und deutete auf eine Stelle der Seite, die der Minister gerade vor sich hatte. »Da plötzlich fehlen sieben Monate! Wenn uns das nichts sagt, dann weiß ich nicht, was uns überhaupt etwas sagen soll.« Der Minister zwinkerte nervös. »Und Sie haben nachgeforscht, was mit den fehlenden sieben Monaten ist?« »Aber sicher doch. Ich habe mir aus Brians alten Spesenabrechnungen die Reisebelege herausgesucht. Hat viel Zeit gekostet, sich am Ende aber gelohnt. Als ich nämlich auf den entscheidenden Punkt stieß: Charney war fast die ganze Zeit über in England!« »Wo wir auch Löckes Spur verloren haben!« »Genau. Weil dort nämlich sämtliche Kontakte Brians überprüft worden sind. Alle — bis auf den einen entscheidenden! Irgendwem war daran gelegen, daß er uns durch die Lappen geht.« »Und haben Sie schon eine Ahnung, wer?« wollte der Minister wissen.
»Der Kontakt, meinen Sie? Dabei bin ich gerade. Wir werden es bald erfahren. Obwohl es keine Rolle mehr spielt. Es ist längst viel zu spät. Tatsache ist, jemand dreht schorS die ganze Zeit an der Geschichte.« »Jemand ziemlich hoch droben«, schloß der Minister. »Und das alles gefällt mir überhaupt nicht. Der Zugang zu dieser Personalakte ist nicht nur beschränkt, er ist ganz eng begrenzt. In der ganzen Stadt kann man die Leute an den Fingern abzählen, die da drankommen.« Der Minister blickte ihn starr an. »Wir müssen natürlich herausfinden, wer das war.« Sein Staatssekretär hielt den Blick aus. »Auch damit bin ich k bereits befaßt.« »Und was ist mit diesem Locke?« »Scheint, daß er auf dem Weg zurück nach England ist. Er hat sowohl von Liechtenstein aus wie aus Rom einige Male eine bestimmte Telefonnummer angerufen. Wir haben die englische MI-6 eingeschaltet. Sie behalten das Haus, in dem dieser Anschluß ist, im Auge. Vermutlich das unverdächtige Haus von einem von Charneys britischen Kontaktleuten, dessen Name aus seiner Personalakte entfernt worden ist.« Der Minister seufzte. »In was, zum Teufel, hat sich dieser Locke da drüben eigentlich eingemischt?« »Nicht er sich. Wir ihn. Und deshalb müssen wir ihn da auch wieder rausholen. Und es geht auch nicht nur um Locke. Ich habe seine Familie von der Bildfläche verschwinden lassen, so rasch es nur ging, aber ganz haben wir es nicht geschafft. Sein Sohn ist verschwunden.« »Also haben wir es mit Profis zu tun.« »Mit Wühlmäusen, mit Maden, mit Parasiten. Irgendwas ziemlich Großes ist am Kochen. Und eine ganze Menge Leute, einschließlich unseres Lübeck, haben schon daran glauben müssen, nur, damit wir nicht erfahren, worum es geht. Verdammt, überall findet man Hinweise darauf, daß etwas vorgehl. Und ich gehe jede Wette ein, daß dieser Locke der einzige ist, der uns Klarheit verschaffen kann.« »Was haben Sie als nächstes vor?« Roy antwortete, ohne eine Sekunde zu zögern: »Ich verfolge penibel die Spur in Charneys Personalakte zurück, bis ich die
Sau habe, die daran gedreht hat. Und dann sind automatisch die anderen dran.« »Und Locke?« »Ich habe in seiner Wohnung einen Mann, der rund um die Uhr am Telefon sitzt. Bis jetzt hat er dort noch nicht angerufen. Könnte bedeuten, daß er schon nicht mehr am Leben ist.« »Dann halten Sie sich besser ran, Cal, ohne Rücksicht auf Verluste.« »Genau das habe ich vor.« Sobald Calvin Roy sein Büro verlassen hatte, griff Außenminister David van Dam zum Telefon. »Wer sind Sie?« Locke hörte sich selbst dem silberhaarigen Mann diese Frage stellen, aber sie drang nicht in sein Bewußtsein. Er fühlte kaum noch Boden unter den Füßen und wäre umgefallen, hätten ihn nicht seine Bewacher an den Schultern festgehalten. Der Mann, der sich Colin Burgess nannte, faßte ihn an den Jackenaufschlägen und zog ihn so dicht an sich heran, daß Locke sein Atem ins Gesicht wehte. »Jetzt hören Sie mal zu, Freundchen. Mir steht der Sinn absolut nicht nach Spielchen, klar? Ich habe hier einige Aufgaben zu erledigen. Und es könnte so sein, daß ich dabei mit Ihnen beginnen muß.« »Nein«, sagte Locke verwirrt, »nein, Sie verstehen mich nicht. Ich dachte, Sie seien tot. Und dann waren Sie es überhaupt nicht. Es war . . .« Burgess schüttelte ihn heftig. »Verdammt nochmal, wovon reden Sie eigentlich, Mann?« »Von dem anderen Colin Burgess! Er hat mir geholfen. Aber es muß wohl eine Falle gewesen sein, damit sie sicher waren, daß ich hinfuhr, wo sie mich haben wollten.« »Jetzt reden Sie gefälligst endlich mal Klartext!« »Brian hat mich zu ihm geschickt - zu Ihnen, meine ich.« Burgess ließ mit einem Schlag los und starrte ihn an. »Brian Charney?« Locke nickte. »Er hat mich angeworben. Als er starb, gab er mir Ihre Adresse. Bruggar House in Cadgwith Cove.« Burgess starrte ihn immer noch an. »Ich war seit dem Tod meiner Frau nicht mehr in Bruggar House. Das ist über ein Jahr her.«
»Das haben sie wohl gewußt und ausgenützt. Ihr habt ja keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben. Sie sind zu allem imstande. Zu allem! O Gott, das muß von Anfang an so geplant gewesen sein!« »Wer ist ‚sie‘?« »Das Komitee.« Burgess sah plötzlich bedrückt aus. »Gehen wir das alles mal von Anfang an durch, Freund.« Sie fuhren durch die trübe Dunkelheit in Richtung Plymouth zum Holiday Inn am Armada Way. Das Restaurant dort hatte Burgess schon oft für Besprechungen genutzt. Er pflegte es als sicher zu bezeichnen. Locke wußte inzwischen freilich, daß nichts sicher war, schon gar nicht, seit der Termin zur Ausführung der Pläne des Komitees immer näher rückte. Sie begannen ihr Gespräch bereits auf den Rücksitzen des Autos. Vorne saßen zwei von Burgess' Leuten, hinter ihnen folgte noch ein Wagen. »Sie haben meinen Sohn«, sagte Locke verzweifelt, »und vielleicht inzwischen meine ganze Familie.« »Nein, nur Ihren Sohn. Jedenfalls nach den letzten Informationen. Ihre übrige Familie steht unter dem Schutz der Regierung. Sie können nachher mit ihnen telefonieren.« »Gott sei Dank«, seufzte Locke erleichtert — zum ersten Mal seit sehr langer Zeit. »Augenblick«, unterbrach er sich dann jedoch, »die letzten Informationen? Was heißt das?« »Lieber Freund, praktisch sämtliche Geheimdienste der gesamten freien Welt sind hinter Ihnen her! Ein Bursche namens Roy bei euch in den Staaten scheint ganz besonders wild darauf zu sein, Sie zu kriegen.« »Ich gehe zu niemandem mehr, bis ich meinen Sohn wiederhabe. Sie müssen mir helfen! Sie müssen!« »Nur Ruhe, Freund, Ruhe; auch ich habe ein persönliches Interesse an der Geschichte«, sagte Burgess grimmig. »Ich habe die Anweisung, Sie auf der Stelle Roys Leuten zu übergeben. Aber zuerst habe ich meinerseits einige Fragen. Folgendes ist klar: die Mörder Brians sind die gleichen, die auch Ihren Sohn entführt haben. Davon müssen wir ausgehen.« »Also stimmt jedenfalls, daß er und Sie tatsächlich Freunde waren.« »Viel mehr als das. Er hat mir damals in Ost-Berlin das Leben gerettet.«
»Und Sie bis zur Mauer getragen.« »Sie sind präzise informiert, wie ich sehe.« »Von dem anderen Burgess, genau gesagt. Das Komitee überläßt absolut nichts dem Zufall.« Burgess sah zum Fenster hinaus. »Sie konfrontieren mich da mit alten Gespenstern, mein Lieber.« »Das Komitee besteht keineswegs aus Gespenstern, kann ich Ihnen versichern. Es ist nur deshalb nicht greifbar, weil das so beabsichtigt und organisiert ist. Sie haben aber von ihm gehört?« »Gerüchte, nur Gerüchte.« »Ja, weil sie es genauso haben wollen, verdammt! Genau deswegen konnten sie so lange unentdeckt bleiben!« Burgess sah ihn wieder an. »Und was ist das, was sie demnächst angeblich vorhaben?« Locke zögerte. Burgess schien seine Gedanken zu erraten. »Sie überlegen, ob Sie mir trauen können, nicht wahr? Und wer nun wirklich wer sein könnte: der andere der Echte oder ich der Falsche? Hier, sehen Sie sich meinen Ausweis noch einmal an. Ich muß irgendwo eine Taschenlampe haben.« Er wollte in seine Jackentasche greifen, aber Locke fiel ihm in den Arm. »Nicht doch, lassen Sie das. Als wenn gefälschte Ausweise für das Komitee mehr wären als ein Kinderspiel.« »Na schön. Wir können auch direkt nach London, nach Whitehall fahren, ins MI-6-Hauptquartier. Oder lieber gleich in die Downing Street zur Premierministerin höchstpersönlich? Oder haben Sie auch noch Angst, daß dort eine falsche Nr. 10 aufgebaut worden ist?« »Wenn Sie es genau wissen wollen: Wundern würde es mich nicht. Nach allem, was ich in dieser vergangenen Woche alles gesehen und erlebt habe, wundert mich überhaupt nichts mehr. Ich glaube Ihnen ja. Weil es alles logisch ist. Die anderen mußten jeden meiner Schritte erkennen, während sie mich gleichzeitig vollständig isoliert hielten. Dieser andere Burgess muß einer von ihnen gewesen sein, das ist mir jetzt klar. Wie hätten die sonst Felderbergs Tod so passend während meiner Anwesenheit arrangieren können?« »Augenblick. Felderberg war da mit drin?« »Indirekt. Als Mittelsmann für das Komitee, aber ohne sich darüber im klaren zu sein.«
Burgess nickte verstehend im Halbdunkel des Fonds. »Ja, das paßt. Er wurde genau an dem Tag ermordet, als Sie in Liechtenstein waren. Erzählen Sie weiter!« »Er hat mir bestätigt, daß es bei der ganzen Sache um Nahrungsmittel geht. Um Getreideanbau, genau gesagt. Das Komitee hat riesige Ländereien in Südamerika aufgekauft.« »Was . . .« »Ich erkläre Ihnen die Einzelheiten später. Felderberg war es nicht klar, was diese ungeheuren Investitionen für einen Sinn hatten. Er hat mich deshalb zum >Zwerg< nach Florenz geschickt. Das Komitee wäre mir auch dorthin auf Schritt und Tritt gefolgt, wenn Dogan nicht aufgetaucht wäre.« »Dogan?« rief Burgess überrascht. »Was hat denn Grendel mit der ganzen Geschichte zu tun?« »Er wurde angeheuert, mich aus dem Weg zu räumen. Aber er hat rechtzeitig gemerkt, was gespielt wurde. Er ist nach Südamerika geflogen, um einer Spur nachzugehen, durch die die ganze Sache ins Rollen kam.« »O mein Gott«, seufzte Burgess. »In was um Himmels willen hat Brian Sie denn da hineingezogen?« »Das weiß ich auch noch nicht, jedenfalls nicht im Detail. Alles dreht sich um irgend etwas, das unter dem Namen Tantalus läuft. Irgendeine Verschwörung, die amerikanische Wirtschaft zu zerstören.« »Wie war das? Zerstören?« »Ganz genau. Das Wort war zerstören. Damit sich das Komitee als führender Agrarlieferant der Welt etablieren kann. Ich war in einem Werk in Liechtenstein, wo es ihnen gelungen ist, das Wachstum von Getreide ganz drastisch zu beschleunigen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« »Und was ist dieser oder dieses Tantalus?« »Liegt leider noch immer völlig im dunkeln. Dogan müßte bald zurück sein und einige Antworten haben, denke ich.« Lockes Muskeln verkrampften sich. »Wir müssen unbedingt Kontakt mit ihm aufnehmen. Wir hatten verabredet, uns in Rom zu treffen. Aber das Komitee ist mir wieder auf die Spur gekommen. Der falsche Burgess hat offenbar den Namen weitergegeben, unter dem ich reiste.« Er blickte den echten Burgess vertrauensvoll an. »Lauter Gründe, weshalb ich meine, ich kann Ihnen vertrauen.«
Burgess nickte. »Auch ich bin nicht aus reinem Zufall auf diese Sache angesetzt worden, Freund. Mir war klar, daß Sie der Schlüssel zu Brians Tod und die Fährte zu seinen Mördern sind. Wir kriegen die Bande, verlassen Sie sich darauf. Spätestens morgen früh rollt die Aktion, vielleicht sogar noch heute abend. Ich muß nur erst völlig klar sehen.« »Sie können nichts gegen sie ausrichten. Die Bande ist zu groß.« »Für den Anfang reicht es, das Spiel aufzudecken. Das verschafft uns dann Zeit zum Handeln.« »Und Dogan?« »Um den kümmere ich mich.« Locke hielt sich seine verletzte Hand. »Die Gegenseite wird nichts unversucht lassen, ihn zu kriegen. Und uns dazu.« Burgess warf einen Blick auf den Verband. »Man hat Ihnen wohl die Finger gebrochen, wie? Ziemlich rüde Methode. Wird gegen Amateure nicht selten angewandt.« Er musterte Locke. »Aber Sie scheint man unterschätzt zu haben.« »Ich habe etwas Glück gehabt.« »So etwas wie Glück gibt es in diesem Geschäft nicht.« Sie waren kurz vor Plymouth. Locke legte den Kopf auf die Rücklehne. »Der andere Burgess sagte mir, er - ich meine, Sie - seien derjenige, der damals meine Mutter verhaftete.« Burgess nickte. »Das stimmt. Das habe ich. Waren schwierige Zeiten, damals. Es war nicht immer einfach, ein Gentleman zu bleiben.« »Nun ja«, sagte Locke und schluckte schwer, »sie hat den Tod wohl verdient für das, was sie tat.« Burgess sah geradeaus. »Sie ist entkommen.« »Sie ist was?« »Sie haben ganz richtig gehört. Wir haben eine andere an ihrer Stelle aufgehängt. Alles andere hätte zuviel Staub aufgewirbelt. Die Siegeszuversicht im Lande war damals ohnehin nicht besonders groß. Die Wahrheit, die zum Glück ohnehin nur ein paar Leute kannten, wäre zu riskant gewesen. Ich selbst habe damals diese falsche Hinrichtung arrangiert. Es war keine öffentliche, es gab also auch keine Zeugen.« »Soll das heißen, sie hat England lebend verlassen?« »Das nicht. Ich sagte ja auch nur, sie wurde nicht gehängt. Wir haben sie wieder geschnappt. In einem Bauernhaus, das uns als
Schlupfwinkel deutscher Agenten bekannt war. Es gab eine ziemliche Schießerei. Keine Überlebenden. Wir haben zum Schluß Sprengstoff eingesetzt. Das ganze Haus ist abgebrannt. Hinterher war kein Stein mehr auf dem anderen.« »Und ihre Leiche?« »Nichts, kein Stäubchen. Ich bin der Letzte, der noch lebt, von denen, die die Wahrheit kannten.« Er schloß die Augen. »Böse Zeiten damals, wie gesagt. Als alles vorbei war, dachte . ich. Schlimmeres könne nun wirklich nie mehr kommen.« Er öffnete die Augen wieder. »Nach dem, was Sie mir erzählen, fange ich an, daran zu zweifeln. Fast augenblicklich, als die beiden Wagen in Plymouth angekommen waren, fühlte Locke sich sicherer. Die Rückkehr in eine große Stadt beruhigte ihn irgendwie. Besonders als er den bekannten Schriftzug des Holiday Inn sah. Es war fast, wie nach Hause zu kommen. Wenn es auch nicht mit dem Dorchester in London zu vergleichen war, so war das Holiday Inn am Armada Way das beste Hotel in Plymouth. Burgess erklärte Locke, daß er dort j zuerst einer Routineüberprüfung unterzogen würde. Das \ Risiko, noch länger mit ihm in der Gegend herumzufahren, sei mittlerweile zu groß. Die Verquickung des Komitees in seinen j Fall verlange nach einer Änderung der Strategie. Zwei seiner Leute warteten draußen, während die anderen beiden Locke und den Mann von MI-6 durch die Halle in das große Restaurant führten. Es war hell erleuchtet und hatte) zahlreiche Fenster. Ein Tisch in einer hinteren Ecke war' reserviert - ganz ähnlich, wie noch vor einer Woche Charneys Tisch in dem Restaurant in Washington. Er lag in einem toten Winkel für Schüsse, die etwa durch eines der Fenster gekommen wären. Die beiden Begleiter blieben am Restauranteingang zurück. Burgess setzte sich mit dem Rücken zur Wand und forderte Locke auf, sich, statt ihm gegenüber, an seine Seite zu setzen. Während er dem herbeieilenden Kellner abwinkte, sagte er: »So, und jetzt die ganze Geschichte. Von Anfang an.« Locke erzählte also seine Geschichte wieder einmal von Anfang an. Er ließ nichts aus und betonte besonders die Informationen, die er von Felderberg und dem »Zwerg« erhalten hatte. Burgess stellte zwischenduröh die eine oder andere Frage. Nach einer
halben Stunde wußte er schließlich alles bis zu dem Augenblick, da Locke sich von dem Taxi in Falmouth in der Nähe des Hauses hatte absetzen lassen, in dem sie sich dann begegnet waren. »Wer war diese Frau am Telefon und in diesem Haus?« fragte er, während Burgess nun den Kellner herbeizitierte. »Niemand besonderer. Irgendwer, den das Komitee an diesen Platz setzte, um Burgess abzuschirmen. Den falschen Burgess, versteht sich.« »Wieso konnte er nicht der direkte Kontaktmann sein?« »Weil Sie eben ausdrücklich nicht direkt an ihn herankommen sollten. Sie hätten eine Menge Fragen gestellt und früher oder später wären Ihnen zwangsläufig Zweifel gekommen.« »Ich stand unter Naturschutz, solange ich nützlich war.« Burgess nickte. »Aber das änderte sich ziemlich abrupt, wie der Zustand Ihrer Hand hier beweist. Es muß also etwas recht Unerwartetes geschehen sein.« »Dogan«, vermutete Locke. »Er hat mich ihnen sozusagen unter ihren Augen weggeschnappt und sich sogar an Stelle des falschen Burgess zu meinem Führer und Beschützer gemacht. Das kam wohl unerwartet. Überhaupt, daß mir jemand zu Hilfe kam und meine Berichte glaubte.« »Und das erklärt alles«, bestätigte Burgess. »Erklärt was?« »Die Gerüchte, die in unserer Branche ausgestreut wurden. Daß Grendel sich selbst disqualifiziert hat. Ein Überläufer. Mit seiner Glaubwürdigkeit ist es aus. Sein eigener Verein hat ihn ausgestoßen. In unserem Geschäft nennt man das Quarantäne. In diesem Falle sogar mit besonderer Restriktion.« »Man muß ihm eine Zuflucht verschaffen.« »Es waren von vornherein nur sehr wenige Leute eingeweiht. Dogans Aufträge waren immer sehr spezielle und besonders vertraulich und geheim. Für eine gewisse Abteilung Sechs ...« »Ja, das sagte er mir.« »Aber diese Abteilung Sechs gibt es offiziell überhaupt nicht, verstehen Sie? Und einen gewissen Grendel auch nicht. Wenn er morgen ins Hauptquartier der CIA käme außer dem Direktor selbst würde ihn kein Mensch kennen.« Der Kellner kam und Burgess gab jetzt die Bestellung für sie beide auf, Locke nickte nur zustimmend.
»Ich hingegen«, fuhr Burgess fort, nachdem der Kellner sich wieder entfernt hatte, »habe die Unterstützung und Hilfe einer ganzen Regierung zu meiner Verfügung.« »Auch das reicht nicht.« »Wie bitte? Um eine kriminelle Vereinigung zur Strecke zu bringen? Na, hören Sie mal!« »Das Komitee ist keine Vereinigung üblicher Art. Es ist bisher so viele Jahre unentdeckt geblieben, weil es imstande ist, jede mögliche Gefahr einfach zu eliminieren.« Burgess lächelte vertraulich. »Lieber Freund, es hat nur noch nicht mit MI-6 zu tun gehabt. Es kostet mich beispielsweise nicht mehr als ein Telefongespräch, um eine ganze Schwadron Spezial-Lufteinheiten zu mobilisieren.« »Um sie wohin zu schicken? Um was zu tun? Nein, nein, da sind Sie auf dem falschen Dampfer. Dieser Feind ist nicht auszumachen. Wie ein Gespenst. Man kann nichts angreifen oder zerstören, was unsichtbar ist.« »Nun, immerhin war der chinesische Hüne, der ihnen Ihre Hand ruiniert hat, doch wohl ziemlich sichtbar, oder nicht? Und die übrigen Leute auch. Auch dieses Komitee besteht letzten Endes aus Menschen. Und Menschen lassen sich eliminieren. Wenn alles andere nicht hilft, gebietet die Notwendigkeit das zwingend.« »Dazu müssen Sie sie aber erst finden.« Burgess nickte. »Sicher. Aber Sie selbst haben uns ja eine ganze Reihe Anhaltspunkte geliefert. Felderberg steuerte das Stichwort Österreich bei. Es sieht in der Tat so aus, als ob die Leute von dort aus operierten. Wir müssen das einfach weiter eingrenzen und lokalisieren. Hinweise gibt es mit Sicherheit, vielleicht sogar in Ihren eigenen Erzählungen, nur habe ich möglicherweise deren Bedeutung bisher nicht erkannt.« Er legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich rufe mal schnell in London an. In einer Stunde ist dieses Hotel hier voll von meinen Leuten. Wir werden unsere Attacke von hier aus organisieren und starten.« Er war im Begriff aufzustehen, aber Locke hielt ihn zurück. »Was wird mit meinem Sohn?« Burgess zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie mich was Leichteres. Der Junge ist das einzige Druckmittel, das die Leute
gegen Sie in der Hand haben. Das ist aber auch immerhin eine gewisse Garantie dafür, daß sie ihn am Leben lassen. »Ein Druckmittel wofür?« fragte Locke. »Damit ich nicht rede? Das habe ich doch längst getan. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Das Druckmittel ist also keinen Pfifferling mehr wert. Folglich doch wohl auch nicht das Leben meines Sohnes.« Burgess beruhigte ihn. »Keine Panik, Mann. Daß wir beide in Kontakt sind, können sie nicht wissen.« »Darauf würde ich nicht wetten. Wer sagt Ihnen denn, daß die anderen das Haus nicht ebenso wie Sie unter Beobachtung hatten? Immerhin ist dort die junge Frau umgebracht worden. Wohl deshalb, weil bekannt war, daß ich dorthin käme. Vielleicht war dieser Mord eine Warnung an mich.« »Sie halten diese ganze Bande wohl für schlechthin perfekt, >.Wie?« »Brian hat mich gewarnt. Sie seien überall, sagte er. Ich fange an, ihn zu verstehen. Tatsache ist, daß diese Leute sämtliche Regierungen unterwandert haben. Und das ist erst der Anfang. Absolut nichts ist diesen Leuten unmöglich.« Burgess stand endgültig auf. Er sah nun doch etwas besorgt ;us. »Ich werde jetzt erst mpl telefonieren.' Ich kann nur hoffen, aß Sie sich irren. Aber selbst wenn Sie recht haben, habe ich Timer noch die richtigen Leute dafür, diesem Spuk ein Ende zu rereiten, glauben Sie mir. Wir räuchern die Brut aus, verlassen ;;e sich darauf.« Er ging hinaus in die Hotelhalle. Seine beiden Leute blieben neben der Tür des Restaurants und rührten sich nicht vom Fleck.. Locke trank sein Mineralwasser und dann auch noch gleich das von Burgess. Seine Gedanken rasten. Nein, zerstören konnte man das Komitee mit den üblichen Mitteln bestimmt nicht. Aber immerhin, es war verwundbar. Andernfalls wäre der Dunkelhaarige nicht mit dem chinesischen Hünen in seinem Hotel aufgetaucht. Das Komitee funktionierte nur dann perfekt, wenn es die totale Kontrolle über alles besaß. Das aber schien nun tatsächlich nicht mehr der Fall zu sein. Er, Locke, hatte sich ihrem Griff entzogen. Und Dogan war auf der Bildfläche erschienen. Vor ihm schienen sie wirklich Angst zu haben. Doch, man konnte die Bande attackieren. Vor allem, wenn Burgess tatsächlich die richtigen Spezialisten aus dem Britischen Geheimdienst zur Verfügung hatte. Sobald er vom Telefonieren zurück war . . .
Er blickte kurz zur Tür des Restaurants. Die beiden Wächter waren nicht mehr da. Augenblicklich krampfte sich in seinem Inneren etwas zusammen. O mein Gott . . . Oder sah er mittlerweile überall nur noch Gespenster? Die beiden konnten einfach nur Burgess gefolgt sein. Auf ihn aufzupassen, war ja wohl auch ihr eigentlicher Job. Nicht auf einen gewissen Christopher Locke. Natürlich. Er wartete. Ein paar Minuten wollte er noch zugeben, ehe er selbst in der Halle nachsah. Der Kellner servierte die Salate, Locke stocherte mit der Gabel in seinem Teller herum. Burgess war noch immer nicht zu sehen. Er strengte sich an, vielleicht draußen in der Halle etwas zu erkennen, während er bereits die Panik erneut in sich hochkriechen spürte. Er senkte den Kopf und massierte sich die Augen. Er wollte die Ruhe nicht verlieren. Als er die Augen wieder öffnete und zum Restauranteingang blickte, sah er ein Mädchen auf sich zukommen. Er erkannte sie sofort. Blond, in Jeans. Nikki. »Na?« sagte sie, als sie an seinem Tisch stand. »Wie man sich so trifft!« »Oh, das ist aber . . .« Doch sie war plötzlich sehr ernst. »Seien Sie ruhig«, sagte sie hastig. Ihr Gesicht hatte mit einem Schlag einen völlig anderen Ausdruck. Sie sah überhaupt verändert aus. Ernster. Älter. »Sagen Sie mal, wer . . .« »Ich sagte, Sie sollen ruhig sein. Hören Sie gut zu. Ihr Freund und seine Leute sind außer Gefecht. Sie haben sie. Aber wir können noch wegkommen, wenn wir uns beeilen. Durch die Küche. Gehen Sie erst los, wenn ich es Ihnen sage.« »Sagen Sie mir, wer Sie sind.« »Ihre gute Fee. Ihr Schutzengel. Ich habe Ihnen jetzt schon zweimal das Leben gerettet, und dies hier ist das dritte Mal. Sie sollten wirklich etwas vorsichtiger sein.« Locke war völlig verwirrt. »Ich dachte, das Komitee hielte seine schützende Hand über mich. Vorläufig.« »Ursprünglich j a . « »Dann sind Sie . . .?« »Richtig.« »Aber warum?«
»Das ist eine lange Geschichte, lieber Freund. Es verändert sich alles sehr rasch. Und vielleicht ist alles schon zu spät. Wir müssen schnell handeln. Sie haben uns bisher unwissentlich geholfen. Von jetzt ab müssen Sie das mit vollem Bewußtsein tun.« »Was macht Sie so sicher, daß ich dazu bereit bin?« »Weil wir nicht wirklich Ihre Gegner sind, jedenfalls nicht alle. Es geht da eine Menge vor sich, das Sie gar nicht verstehen können. Zur gegebenen Zeit werden Sie es. Im Augenblick aber müssen Sie mir einfach glauben und vertrauen.« »Dazu müssen Sie mir aber einen schon sehr überzeugenden Grund liefern.« »Wie wäre es mit dem Leben Ihres Sohnes?« Locke fiel fast vom Stuhl. »Kommen Sie jetzt, es ist Zeit. Ich sagte, kommen Sie! Wenn Sie Ihren Sohn wiederhaben wollen, haben wir keine Zeit zu verlieren!« Er stand wie benommen auf. »Sie wissen, wo man ihn festhält?« Sie nickte. »Unsere nächste Station heißt Bruggar House, Cadgwith Cove.« Dogan versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, als die Stewardeß die Landung auf dem Flughafen Leonardo da Vinci von Rom ankündigte. San Sebastian lastete schwerer und schwerer auf seinem Gemüt. Er hatte den Jungen zum Jeep zurückgetragen und ihn verbunden und gepflegt, so gut es mit dem einfachen Verbandskasten im Auto ging. Eine nervenaufreibende Einein-halb-Stunden-Fahrt bis zur nächsten Stadt mit einem Ar/t war gefolgt. Mehrere Male war der Jeep stehengeblieben und nur mit Mühe wieder angesprungen. Nachdem er alle vier Kinder beim Arzt abgeliefert hatte, führte er eine Anzahl Telefongespräche, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihm die seltsamen Dinge in San Sebastian erklären konnte. Am späten Dienstag abend - noch immer war es drückend heiß hatte er dann schließlich in Bogota im Büro eines für einige Zeit als Berater der kolumbianischen Agrarwirtschaft anwesenden Vertreters des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums gesessen, eines gewissen Tom Halloran, dem sein Auftrag offensichtlich wenig gefiel, ihn sogar langweilte. Er war sehr hellhäutig
und hatte, wenn auch ziemlich vergeblich, alles versucht, der südamerikanischen Sonne aus dem Weg zu gehen. Er sah aus wie geröstet und selbst auf seiner Nase schälte sich die Haut. Sein Gesicht war unentwegt schweißgebadet, was kaum verwunderlich war, da der schwache Ventilator an der Decke kaum mehr schaffte, als die stickige Luft ein wenig durcheinanderzuquirlen. Die Eiswürfel, die sein Kühlschrank erzeugte, schmolzen fast augenblicklich, sobald sie herausgenommen wurden. Als Halloran ihm sein Glas herüberreichte, in das er die Würfel eben erst geworfen hatte, war bereits kaum noch etwas von ihnen zu sehen. »O Mann«, stöhnte der Regierungsvertreter, nachdem Dogan ihm das für ihn Wichtigste der ganzen Sache berichtet hatte, »kein Wunder, daß Sie das vertraulich behandelt haben wollen.« »Wir haben nie miteinander gesprochen, einverstanden?« »Sicher, sicher«, sagte Halloran augenblinzelnd. Er trank seine Cola halb aus und hielt das Glas, weil es noch einigermaßen kühl war, an sein Gesicht. »Ich will damit | sowieso nichts zu tun haben. Stellen Sie Ihre Fragen.« »Dieser Nebel, der das Getreide wegschrumpfen ließ«, sagte Dogan, »was kann das gewesen sein?« »Irgendein Pilz, höchstwahrscheinlich. Die wachsen wie verrückt. Existieren überhaupt nur, um zu wachsen.« »Es scheint aber nur eine ganz geringe Menge von diesem LNebel versprüht worden zu sein. Und doch verschwand das ganze Getreide in nicht einmal einer Stunde vom Erdboden. Als hätte der es verschluckt.« Halloran wedelte mit seinem Unterarm, der bereits vom ständigen Abwischen seines Gesichts völlig naß war, in der Luft herum. »Es handelt sich offenbar um eine Hybride eines Fungus. Der Nebel bestand aus Myriaden von Pilzsporen, die bei der Teilung Toxine entwickeln. Diese Toxine waren es letzten Endes, die das Getreide kaputtmachten, da unten in weiß der Kuckuck wo Sie waren. Und je mehr Sporen durch Teilung entstehen, desto mehr Toxine. Je länger das geht, desto stärker wird der Fungus. Das stellen Sie sich am besten als Milliarden von kleinen Freßmaschinen vor, die sich obendrein bei jedem Happen verdoppeln. Die schlimmste Heuschreckenplage, die Sie sich denken können, ist nichts dagegen.«
»Das würde erklären, warum sie am Ende die ganzen Felder verbrannt haben. Sie mußten die Pilzsporen daran hindern, sich immer weiter auszubreiten.« Halloran blickte zweifelnd. »Feuer kann zwar den meisten Sporen den Garaus machen, weil sie dadurch nichts mehr zu beißen bekommen. Aber diese kleinen Biester sind ja clever. Die lassen sich von den Winden überallhin forttragen. Da muß noch etwas anderes im Spiel gewesen sein.« Er dachte kurz nach. »Wie war das mit der Stadt? Sind da Berge um sie rum?« »Jede Menge. Rundherum.« »Na, sehen Sie. Die Berge können die Winde lange genug abhalten, so daß der ganze Rest der Sporen wegen Nahrungsmangel abstirbt. Wobei natürlich eine entscheidende Rolle spielt, daß nur so wenige ausgesprüht wurden. Etwas mehr von dem Teufelszeug, und es hätte sich mittlerweile über ganz Südamerika ausgebreitet.« »So rasch?« »Das dauert nicht länger als vier bis sechs Tage. Das hängt von den Winden ab, wie gesagt, mit denen sie fliegen . . .« »O Gott!« sagte Dogan. Das ohnehin stickige und heiße Zimmer kam ihm noch stickiger und heißer vor als vorher. Er griff nach seinem Cola-Glas. Aber es war leer. Er hatte ausgetrunken, ohne es überhaupt zu merken. Oben an der Decke surrte lärmend der nutzlose Ventilator. Er atmete tief ein. »Nehmen wir einmal an, dieses Zeug würde zu Hause in den Staaten ausgesprüht?« »Wieviel?« »Eine ganze Menge mehr.« »Wenn alles nach Plan verliefe, wäre nach zehn Tagen im ganzen Land kein einziges Getreidefeld mehr vorhanden.« Er dachte über seine eigenen Worte nach. »Das ist ja wohl eine rein theoretische Frage, oder?« »Selbstverständlich. Aber was passiert dann? Wenn alles Getreide weg ist?« »Zunächst einmal werden eine Menge Leute hungern müssen, und zwar aus allen möglichen Gründen. Die Vereinigten Staaten erzeugen oder kontrollieren über sechzig Prozent der Welternte an Getreide und anderen Nahrungsmitteln. Unser Monopol auf Nahrungsmittelexporte ist größer als das aller OPEC-Staaten zusammen auf Öl. Wenn also unsere Agrarproduktion wegfiele, wäre es nicht übertrieben, wenn man sagt, daß es dann keine Handelsbilanz mehr gäbe. Wir würden mit einem Schlag
zwangsläufig zu einem Nahrungsmittel importierenden Land. Und selbst bei den gewaltigen Vorräten, die wir halten, wäre ein raketenhafter Preisanstieg für alle Agrarprodukte die erste Folge. Binnen kürzester Zeit würde Weißbrot mehr kosten als heute Kaviar.« »Ja, aber würde sich das nicht normalisieren, sobald erst einmal genügend Importe einträfen?« Holloran schüttelte den Kopf. »Woher sollten sie eintreffen? Kein anderes Land hat auch nur annähernd so große Vorräte wie wir, und das Wenige, das sie alle zusammen liefern könnten, würde selbstverständlich sofort Gegenstand von Spekulation und Verteilungskämpfen. Wir sind auf einen solchen Fall rein organisatorisch überhaupt nicht vorbreitet. Welche Kriterien beispielsweise sollten entscheiden, wohin die Nahrungsmittel gehen sollen, und wie? Und überlassen Sie dies dem freien Markt mit seinen dann drastisch erhöhten Preisen, werden es sich rasch nur noch die Reichen leisten können, satt zu werden. Das Gros der Bevölkerung aber wird , buchstäblich unter einer Hungersnot zu leiden haben. So sieht es aus. Sähe es aus, meine ich.« »Und keine Chance der Abhilfe?« Von Hallowans Wangen troff der Schweiß. »Das Schlimmste käme überhaupt erst noch. Es beträfe ja nicht nur die Farmer. Was würde aus all den Molkereien und Butterwerken, was wäre mit der Geflügelindustrie, von den Fleischerzeuger-Farmen gar nicht zu reden? Sie haben vermutlich keine Vorstellung davon, wieviel Futter Tiere brauchen. Und wenn sie nicht mehr genug Futter bekommen, liefern sie auch weniger Fleisch, Hühnchen, Butter, Milch, Käse, und so weiter. Vergessen Sie ferner nicht, ; daß zu den Futterpflanzen auch alle Gräser der Wiesen gehören. „Der Verlust allen Graslandes käme dazu. Den Rest können Sie sich selbst ausmalen.« »Die Preise würden steigen und steigen«, antwortete Dogan, »bis sie kein Mensch mehr bezahlen könnte. Bis also kein Mensch mehr sein tägliches Brot kaufen könnte.« Halloran spann den Faden konsequent weiter. »Die Preise würden ins Astronomische steigen, je mehr die Vorräte abnähmen. Die Staaten in unserem sogenannten Agrargürtel würden als erste bankrott machen. Der sich daraus zwangsläufig ergebende Zusammenbruch des Kreditmarktes hätte eine Panik zur Folge. Der Run auf die Banken würde eine Inflation hervorrufen. Die Regierung wäre gezwungen, Stützungsmaßnahmen für die Währung
einzuleiten, und das würde die Inflation zur Sintflut werden lassen. Unter solchen Voraussetzungen wäre es mit Washingtons Fähigkeit, langfristig Abhilfe zu schaffen, nicht mehr weit her.« »Eine Depression wäre also unvermeidlich«, schloß Dogan. »Aber doch wohl nur kurzfristig? Die Farmer müßten eben einfach wieder bei Null anfangen.« Halloran benützte ein aufgeweichtes Blatt aus einem Notizblock als Schweißtuch. »Eben nicht, und das ist überhaupt der entscheidende Punkt. Ein so verseuchter Boden erodiert sofort. Auf solchem Land würde hundert Jahre oder noch länger gar nichts mehr wachsen. Der Großteil des Binnenlandes der USA würde Sumpf und Moor und vom Regen und den Stürmen weggespült. Und all dieses überdüngte Wasser, zusammen mit den im Boden abgelagerten Unmengen von Pestiziden, flösse schließlich über die großen Wasserwege des Kontinents, nämlich über Ohio, Missouri und Mississippi, in den Golf von Mexiko, der daraufhin mit Algen zuwüchse. Ein undurchdringlicher Teppich läge über hunderten und lausenden Quadratkilometern Meer und erstickte alles Leben darunter. Die gesamte Küstenfischerei käme zum Erliegen, was die Nahrungsmittelknappheit weiter verschärfen würde . . . Eine Kettenreaktion.« »Und dem Rest der Welt ginge es vermutlich nicht viel besser?« »Im Gegenteil, noch schlechter. Ohne ihre Agrarimporte von uns zu Billigpreisen oder überhaupt umsonst, im Rahmen von Hilfsprogrammen, wären die meisten Entwicklungs- und DritteWelt-Länder völlig außerstande, ihre Menschen zu ernähren. Ländern wie England, Frankreich oder Japan würde es nicht sehr viel besser ergehen, ganz abgesehen davon, daß alle diese Auswirkungen keineswegs auf unsere Verbündeten beschränkt blieben. Im vergangenen Jahr haben wir beispielsweise fünfzig Millionen Tonnen Getreide in die Sowjetunion exportiert, weitere zwanzig Millionen Tonnen an Staaten des Warschauer Paktes. Für Menschen, die hungern, macht es keinen Unterschied, ob sie vor oder hinter dem Eisernen Vorhang leben.« «Wenn nun jemand imstande wäre, die Agrarversorgung praktisch der ganzen Welt zu übernehmen?« »Wer sollte das denn sein?« »Sagen wir, eine sehr mächtige Institution hat es vermocht, ganz Südamerika in ein einziges riesiges Agrarexport-Konsor-tium zu verwandeln. Sie hat Mittel und Wege entdeckt, die Ernteerträge
durch genetische Manipulation so gewaltig zu steigern, daß der ganze Subkontinent ein einziges Treibhaus wird.« Halloran blickte Dogan sehr lange an. »Dann wäre diese Institution in der Lage, die ganze Welt zu erpressen. Die Folge davon wäre, daß ihr praktisch die wirtschaftliche Macht der Erde zufiele, und damit auch die politische. Weil die ganze Welt wüßte, woher ihre nächste Mahlzeit kommt - oder eben [nicht.« Er dachte noch einmal nach. »Aber man dürfte sich dabei dennoch keinerlei Illusionen darüber hingeben, daß dann unsere Lage wieder besser würde. Auch dann wäre eine völlige Umgestaltung unserer Wirtschaft unvermeidlich.« »Umgestaltung?« »Aber sicher. Wenn ein System nicht mehr funktioniert, muß man es aufgeben und durch ein anderes ersetzen. Was immer hier in Südamerika geschähe, es änderte nichts daran, daß es auch nicht annähernd mehr eine Wirtschaft der Art gäbe, wie wir sie heute haben und kennen. Kein Handel, keine Versorgung, keine Börse, keine Banken, so wie das alles heute funktioniert. Geld würde immer wertloser werden.« Dogan gab noch ein besonderer Punkt zu denken. »Wie üerhaupt wäre es möglich, in Südamerika riesige Ernten zu erzeugen, wenn doch überall diese unersättlichen Pilzsporen herumflögen? Wie Sie sagen, verbreiten Sie sich doch in Windeseile? Und sogar über die ganze Erde?« »Nicht unbedingt. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, Ihren Mörderpilz chemotroph zu machen, nämlich Sonnenlicht- und sauerstoffempfindlich. Man könnte ihm sozusagen einen Zeitzünder einbauen, auf zehn Tage etwa, ehe er abstirbt. Diese zehn Tage würden aber genügen, inzwischen die USA, Kanada und Teile Mittelamerikas zu ruinieren, während Südamerika und der Rest der Welt unbehelligt blieben. Keine Sorge, schon diese zehn Tage würden vollauf genügen, unsere Bevölkerung an den Bettelstab zu bringen. Ein neues Zweiklassensystem wäre im Handumdrehen entstanden — die, die sich Nahrungsmittel leisten könnten, und die, die es nicht mehr könnten. Dies alles wäre nur noch mit Kriegsrecht und Ausnahmezustand zu bewältigen, mit Ausgangssperren und Masseninhaftierungen und Notquartieren für die Millionen, die praktisch über Nacht mittel- und obdachlos wären. Die Zahl der Arbeitslosen wäre weitaus größer als die derer, die Arbeit haben, und diese Schere würde sich immer noch weiter öffnen, weil ja eines das andere nach sich zöge und alle Rohstoffe, Anstrengungen und alles
Kapital nicht mehr in der Lage wären, diesen Trend wieder umzukehren. Ich könnte das noch ewig fortspinnen. Doch das können Sie selbst. Sie brauchen es nur logisch zu Ende zu denken.« Eben dies hatte Dogan die meiste Zeit während des Fluges getan. Er hatte versucht, es zu Ende zu denken. Wie die Welt aussehen würde, wenn das Komitee sein Ziel erreichte. Jetzt, da die 747 auf die Landebahn sank, wandte er sich aktuelleren Problemen zu. Nach seiner Unterhaltung mit Halloran hatte er in mehreren Telefonaten auf ganz normalem Weg versucht, mit einigen seiner Leute außerhalb der Abteilung , Sechs Kontakt aufzunehmen. Aber er war nicht sehr erfolgreich gewesen. Alle hatten sie gezögert, sich gewunden, waren ausgewichen, und es gab nur eine einzige Erklärung dafür: nachdem er seinen Auftrag nicht befehlsgemäß ausgeführt hatte, war die »Quarantäne« über ihn verhängt worden, wie man das nannte. Im Klartext bedeutete das: er war in Verschiß geraten. Alle Agenten hatten Anweisung, mit ihm nicht mehr zusammenzuarbeiten und den Kontakt abzubrechen. Besonders die, die früher mit ihm gearbeitet hatten. Und wenn die »Quarantäne« auch noch »verschärft« war, wie anzunehmen er allen Anlaß hatte, dann war dies erst der Beginn, er war darüber hinaus sogar vogelfrei. Spezialagenten würden offen auf die Jagd nach ihm ausgeschickt, um ihn »vom Spielfeld zu nehmen«, wie dieser Teil einer solcher. Quarantäneregelung hieß. Wenn das nur alles gewesen wäre. Er hatte sehr deutlich die Worte der Frau in Erinnerung, die er dort oben in der Hütte über dem einstigen San Sebastian hatte töten müssen: Das Komitee verändert sich, und Sie können daran überhaupt nichts mehr m achen . Da z u ist es zu spät. Ihre Wort e tä uschen mich ni cht mehr. Ich weiß, daß Sie von denen geschickt sind. Dieser letzte Satz schien den Vorwurf zu enthalten, daß er zum Komitee gehöre. Aber wenn er so gemeint war, welche Seite hatte sie dann vertreten? Eine Gruppe, die sich vom Komitee abgespalten hatte? Doch was konnte eine solche Gruppe bewirken oder erreichen? Das ganze Unternehmen lief doch bereits. Die Ernten in den USA sollten vernichtet werden, während das Komitee dabei war, Südamerika zum größten Getreideproduzenten der Welt zu machen. Was für eine Notwendigkeit, welcher Anlaß zu einer Änderung sollte also vorliegen? Was konnte er angeblich nicht mehr ändern? Die Räder der 747 setzten auf der Landebahn auf. Er war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und bereit, die Fährte
wieder aufzunehmen. Seine Reise hatte in der Tat alle in Lockes Geschichte noch fehlenden Verbindungsglieder zu Tage «fördert. Er rekapitulierte aus Lockes Erzählung Lübecks letzte Worte auf dem überspielten Tonband. Ich habe von hier aus einen Blick auf die ganzen Felder ringsum. Es sieht so aus — o Gott! Das kann ht sein! Das kann nicht sein! Ich sehe direkt auf. . . Auf was er gesehen hatte, mußte das gewesen sein, worüber dann der Junge berichtet hatte: wie nur noch einige Reihen reifen Getreides inmitten einer Wüste stehen blieben. Der Schock dieses Anblicks war es wohl, der ihn diese letzten Worte seines Lebens stammeln ließ. Lübeck hatte von Anfang an gewußt, daß der Schlüssel zu allem das Stichwort Nahrungsmittel war. Er hatte offensichtlich sofort begriffen, was dies dort in San Sebastian bedeutete. Sein Bericht hätte das zweifellos erläutert, wäre er dazu noch gekommen. Aber zuvor hatten sie ihn sich geschnappt. Ja, es paßte alles zusammen. Nur eines paßte überhaupt nicht in das Bild. Daß noch irgend etwas anderes vor sich ging, den Andeutungen der Frau in der Hütte zufolge. Die 747 rollte aus, die Passagiere waren alle bereits auf und warteten, wie in jedem landenden Flugzeug der Welt, ungeduldig und drängelnd darauf, aussteigen zu können. Er drängelte mit ihnen. Er würde nicht gänzlich isoliert sein. Er wollte sofort Waslow anrufen und ihm von der Terroristengruppe SAS-Ultra berichten. Deren einäugiger Chef mußte gefunden und davon überzeugt werden, daß sein Platz auf der anderen Seite war, um das Komitee zu zerschlagen. Und im Rom Hilton wartete Locke auf ihn. Von dort aus weiterzumachen, war ohnehin das Beste. Der Hotelmanager Forenzo wußte, daß sein alter Freund irgendwann an diesem Abend eintreffen würde. Er durfte auf keinen Fall ins Hotel kommen. Die Leute, die Locke aufgelauert und mißhandelt hatten, waren zweifellos noch immer auf Beobachtungsposten. Diskretion war jetzt oberstes Gebot. Eine Kleinigkeit genügte, um Dogan zu warnen. Er selbst, Forenzo, wollte sich eine solche ausdenken. Dogan würde sich nach ihm umsehen. Er hatte das Signal bereits vorbereitet. Es war nur nötig, daß er ebenfalls in der Halle war, wenn Dogan kam. Es war bereits dunkel geworden, als Forenzo in sein fensterloses Büro zurückkehrte. Der Hotelbeltrieb konnte nicht gut ruhen, während er den Amerikaner erwartete. Er war ohnehin mit seiner Arbeit im Rückstand. Er öffnete die Tür und ging hinein, während er gleichzeitig den Lichtschalter anknipste.
Das Licht ging nicht an. Die Glühbirne war wohl durchgebrannt, dachte er. Er wollte eben wieder hinausgehen, als er sich an den Schultern gefaßt fühlte und herumgedreht wurde Die Tür wurde zugedrückt. Es war absolut finster im Raum. Er wurde grob gegen die Wand gepreßt und wollte eben schreien, als er den Schmerz im Leib spürte, der ihm nur noch ein gurgelndes Röcheln ermöglichte, während die Klinge in ihn hineinfuhr und hochgerissen wurde, was ihn buchstäblich entzweischnitt. Aus seiner Kehle spritzte Blut. Aber da war Forenzo bereits tot. Er sank schlaff zu Boden, in seine eigenen herausquellenden Eingeweide hinein. Einige Minuten später, nachdem er den Toten in einem Stoß gebrauchter Bettwäsche versteckt hatte, ging Shang in ein Zimmer im zehnten Stock und wartete auf Dogan. Audra St.Clair drückte den Hörer noch fester ans Ohr. »Dogan wird noch heute abend eliminiert sein«, hörte sie Mandala sagen. »Und Locke?« Mandala zögerte. »Er ist uns in Plymouth erneut entwischt. Aber er kommt nicht weit.« Die alte Dame atmete erleichtert auf. Sie wußte, daß sie hier mit Dynamit spielte. Aber man stand nicht ein Vierteljahrhundert lang an der Spitze des Komitees, ohne zu wissen, daß auch solche Dinge sein mußten. Die Dinge waren ihnen etwas entglitten, darüber war sie sich inzwischen klar. Auch, daß die Schuld dafür vor allem bei Mandala lag. Er war skrupellos und waghalsig und keineswegs leicht im Zaum zu halten. Aber er war schließlich nicht der erste ernsthafte Konkurrent, den sie ausgeschaltet hatte. Auch mit ihm würde sie fertig werden. »Hat Locke in Rom nicht geredet?« »Ich fürchte, er ist besser, als wir dachten. Wir waren überzeugt davon, er werde zusammenbrechen, wenn er den Finger seines Sohnes sieht. Aber er hielt durch.« »Sie haben ihn sträflich unterschätzt, Mr. Mandala.« » Wir alle.« "Sobald Sie ihn haben, möchte ich ihn hier sehen, und zwar ohne alle weiteren dieser kindischen Mätzchen. Es wird höchste Zeit, daß wir Mr. Locke auf unsere Seite bekommen, statt daß er uns weiter bekämpft. Das heißt, sein Sohn muß augenblicklich freigelassen werden. Ist das klar?« Mandala antwortete nicht. >Ich habe gefragt, ob Sie meine Anweisungen verstanden haben. Ich will, daß der Junge sicher nach Amerika zurückgebracht wird.« »Wie Sie meinen, Madame.«
Mandala hängte auf. Er hoffte, nicht allzu lange mit seiner Antwort gezögert zu haben, damit die alte Hexe nicht etwa mißtrauisch wurde, und sich fragte, was hinter ihrem Rücken vorging. Ihre Anweisungen hatten ihn immerhin erheblich verwirrt. Nicht, daß es eine große Rolle gespielt hätte. Die Anweisung war längst gegeben, Lockes Sohn kurz nach Mitternacht zu töten, sofern kein Gegenbefehl erteilt wurde. Und da er nicht die Absicht hatte, einen solchen zu geben, war der Junge praktisch bereits tot. Es war stockdunkel, als Nikki ihren Wagen in einiger Entfernung von Bruggar House anhielt. »Ich habe noch immer keine Ahnung«, sagte Locke nun, »wer Sie eigentlich sind und welche Rolle Sie in dieser Sache spielen. Offensichtlich gehören Sie zum Komitee, obwohl Sie gegen die Leute handelten, die Burgess und seine Leute dort im Holiday Inn entführt haben.« »Wenn Sie das alles wissen«, sagte Nikki kühl, »dann wissen Sie genug für den Augenblick.« »Woher wußten Sie heute früh am Flughafen, daß ich mit dieser Chartermaschine fliegen würde?« »Ich habe mich extra dafür freigemacht, Ihnen bei Ihrer Flucht behilflich zu sein. Sie haben das sehr geschickt gemacht. Respekt. Ich war sehr beeindruckt.« »Aus Ihnen spricht ein . . .« »Nur ein echter Profi schafft es, das Leben Ihres Jungen zu retten, glauben Sie mir das.« Dies brachte Locke zum Schweigen. Und plötzlich verstand er auch. Nikki war eine Killerin. Genau wie der Dunkelhaarige und der chinesische Hüne. Jetzt vermochte er die Härte ihrer Augen richtig zu deuten. Es war dieselbe Härte, die er in den Augen der beiden Männer gesehen hatte. Und bei Dogan. Nur ihr Aussehen paßte nicht dazu. Das paßte viel besser zu dem lächelnden, harmlosen Mädchen vom Flughafen. Doch er hatte mittlerweile längst begriffen, daß in der Welt, in die er sich hier begeben hatte, nichts so war, wie es aussah. Alle gaben sich nur so, wie es der Augenblick verlangte. Ihre wirkliche Natur kam nur höchst selten zum Vorschein. Er fragte sich, ob er jetzt im Augenblick Nikkis wahre Natur sah oder was sonst. Sie stiegen aus. Ihren Plan hatten sie auf dem Weg hierher bereits bespro chen und die wichtigsten Details mehrmals erörtert. Nikki glaubte, sie würden vier oder fünf Männer in Bruggar House antreffen. Schnelles und lautloses Handeln sei Voraussetzung für den Erfolg. Die Leute hätten zweifellos den Befehl, die Geisel sofort zu töten, wenn sie
angegriffen würden. Sie durften folglich nicht merken, daß sie angegriffen wurden. Nicht, ehe es nicht zu spät für sie war. Nikki hatte aus dem Kofferraum zwei Mac-10-MPs geholt und Locke gereicht. »30er Magazine, neun Millimeter«, erklärte sie. »Eine für jeden von uns. Aber Sie müssen sie beide tragen und außer Sicht bleiben, während ich einsteige. Vermutlich steht eine Wache an einem der Fenster im Oberstock. Das bedeutet, Sie müssen von der Seite her kommen. Mit anderen Worten, Sie müssen eine ziemliche Strecke so schnell es geht zurücklegen.« »Ich schaffe das schon.« »Drinnen müssen Sie mir den Rücken freihalten. Wenn wir ein wenig Glück haben, müssen Sie nicht schießen und es genügt, wenn ich es tue.« Sie steckte sich auch noch zwei in Scheiden steckende Messer ein, die sie ebenfalls aus dem Kofferraum nahm und sich zu beiden Seiten in den Gürtel schob. Locke bemerkte ihre ungewöhnliche Form. Die Klingen standen in einem 45-Grad-Winkel vom Heft ab. »Kukhri-Klingen!« murmelte er. »Die Waffen der legendären GurkaKrieger aus Indien. Wo in aller Welt haben Sie gelernt, mit diesen Dingern umzugehen?« Nikki antwortete ihm nicht. Sie schloß wortlos den Kofferraum und ging los. Er folgte ihr in einigem Abstand auf Brugger House zu, dessen dunkle Silhouette wie eine Felsenklippe aussah. Der Führer der Gruppe, die im Haus den Jungen bewachte, arbeitete nicht gerne mit Schlitzaugen. Zu glibberige Typen. Die beiden, die man ihm diesmal geschickt hatte, waren scheinbar besser als die meisten sonst. Trotzdem würde er auch diesen nicht gerne den Rücken zudrehen. Er war ein Bär von einem Mann mit pockennarbigem Gesicht. Die Pflicht, seine Geisel zu ermorden, hatte er sich persönlich vorbehalten. Ob das den beiden chinesischen Schlitzaugen nun paßte oder nicht. Die konnten ihn gefälligst mal. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die Sache ohnehin längst erledigt. Aber die Instruktionen sagten ausdrücklich: um Mitternacht. Und diese Scheiß-Chinks waren immer so pingelig, was das buchstabengetreue Einhalten von Instruktionen betraf. Er seinerseits wollte den Kontakt mit den beiden nicht unnötig ausdehnen. Sie waren üble Kreaturen. Kleine Kerle, aber unglaublich schnell. Es war endlich gleich Mitternacht, und er drehte den Zylinder seiner Magnum ein. Vor langer Zeit einmal hätte er vielleicht noch Mitleid
mit dem blonden Jungen mit der blutverkrusteten Binde an der Hand gehabt, und es vielleicht sogar bedauert, ihn töten zu müssen. Aber diesmal überwog eher die Faszination dieses Jobs. Und die Bewunderung, wie die Schlitzaugen mit ihren Messern umgegangen waren. Wirklich, ein chirurgisches Meisterwerk. Nun, für irgend etwas mußten ja wohl selbst kleine gelbe Chinesenbastarde gut sein. Locke trennte sich auf halbem Wege von Nikki und lief wie] abgemacht zu den Klippen abseits von Bruggar House. Nik ging weiter direkt auf das Haus zu. Locke behielt sie, solange i ging, im Auge, bis sie in der Dunkelheit verschwunden wa und ging dann selbst weiter auf seinen Platz;. Nikki ging ohne Zögern direkt auf die Haustür zu ur betätigte den Türklopfer. »Hallo? Ist jemand zu Hause? brauche Hilfe! Können Sie mir helfen?« Hinter einem Fenster im Oberstock bewegte sich etwas. Wachposten offensichtlich. Sie klopfte noch einmal vernehmlich. Schritte kamen näher, aber der Schatten oben blieb auf seinem Posten. Das war nicht gut. Wenn er Locke kommen sah, kostete das diesen womöglich das Leben. Die Tür wurde aufgeschlossen, aber kein Licht ging an. Umso besser, dann blieben ihre KHWiri-Klingen im Dunklen. Die Tür ging auf. Ein Gesicht spähte vorsichtig heraus. »Sie werden es nicht glauben«, sagte Nikki laut und in aufgeräumtem Tonfall, »aber ich habe direkt hier vor Ihrem Haus eine Autopanne. Und ich weiß nicht, wo ich überhaupt bin. Ich habe mich glatt verirrt.« Die Tür war immer noch nur einen Spalt offen. »Das mag schon sein. Aber wir können Ihnen leider nicht helfen.« Sie gab sich ein harmloses Aussehen. »Ich würde ja nur gerne mal telefonieren.« Einen kleinen Spalt ging die Tür weiter auf. »Wir haben hier kein Telefon.« Sie runzelte die Stirn und sah mißmutig aus. »Ach, Mist. Können Sie mir dann wenigstens den Weg zeigen, wie ich wieder in die Zivilisation zurückkomme?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kenne mich da auch nicht so aus. Machen Sie, daß Sie wegkommen!« Nikki schüttelte entschieden den Kopf. Sie schob demonstrativ die Daumen in ihre Gürtelschlaufen. Der Sinn der Sache war, das Ziehen der Klingen zu erleichtern. Dann schimpfte sie keifend los. »Na hören Sie mal, was
sind Sie denn für ein blödes Arschloch? Ich rühre mich hier nicht weg, bis ich weiß, wie ich weiterkomme.« Das wirkte. Die Tür flog auf. Der Mann kam heraus. Eine häßliche Pranke fuhr vor, um sie die Treppe hinunterzustoßen. Da war Nikki schon in Bewegung, duckte sich unter den stoßenden Arm, als taumle sie, und hatte bei dieser bewegung bereits eine der Klingen gezogen, die dem Mann durch die Kehle fuhr. Die heftige Vorwärtsbewegung des Mannes direkt in das Messer hinein vertiefte den Schnitt derartig, daß sein Kopf im nächsten Moment grotesk zur Seite kippte, als klappe ein Scharnier auf. Nur noch einige Sehnen im Nacken hielten den Kopf am Rumpf. Einen kurzen Augenblick traten die Augen ganz absurd hervor, ehe sie brachen und ein pulsierender Blutstrahl aus dem Hals des Enthaupteten schoß. Dem Posten oben war die Szene vor der Tür schon vorher nicht recht geheuer vorgekommen. Er war bereits an der Treppe, als Locke in die Tür hineinstürmte, in jeder Hand eine Mac-10. Er sah den Mann mit der Pistole im Anschlag die Treppe herunterlaufen. Er warf sich auf den kalten Steinboden und 'rollte zur Seite, als bereits etwas durch die Luft pfiff. Als er hochsah, traute er seinen Augen nicht. Der Mann stand wie vor den Kopf geschlagen in der Tür und war von einer Kukhri-Klinge in der Mitte aufgeschlitzt. Er schwankte nach hinten, dann nach vorne, und stürzte dann gegen das Geländer und zu Boden. »Verdammt!« zischte Nikki und griff sich eine von Lockes Mac-10. »Was für ein Lärm! Wir sind geliefert!« Sie war bereits an der Treppe, Locke hinter ihr her, mit dem Finger am Abzug. Die Mac-10 war erstaunlich leicht. Dabei hatte sie eine enorme Feuerkraft. Aber seine verbundene Hand bereitete ihm Schwierigkeiten, sie zu halten. Er wollte gar nicht erst daran denken, wie sehr sie ihn am genauen Zielen hindern würde. Oben im ersten Stock kam der Kommandoführer zu seinen beiden Chinesen heraus, während Schritte die Treppe herauftrampelten. Einer der Chinesen hatte bereits ein Magazin ir sein Schnellfeuergewehr gesteckt, richtete den Lauf nach unter und zog durch. Es knallte ohrenbetäubend. Im Treppenhaus flogen Nikki und Locke Splitter um die OhrenTSie ließen sich sofort nach unten fallen und entgingen nur so dem wilden Kugelhagt Locke preßte sich auf den Teppich. Nikki aber blieb Bewegung und schoß unaufhörlich aus ihrer Mac-10, währt sie sich ständig herumrollte. Überall pfiffen Kugeln, aber sie wurde nicht getroffen. Sie schoß pausenlos weiter.
Von oben kamen ein Schrei und ein dumpfer Fall, während das Feuergefecht keine Sekunde nachließ. Der Kommandoführer sah dem nach unten gefallenen Schlitzauge nach und wunderte sich lediglich, wie es der kleine Bastard geschafft hatte, noch drei Garben abzufeuern, als seine Brust bereits durchlöchert war. Blieben zwei gegen zwei, und jetzt war er durchaus dankbar dafür, daß der Mann neben ihm noch einer dieser flinken, zähen »Chinks« war. Locke begann hinter Nikki her wieder die Treppe hinaufzulaufen. Er umklammerte die Mac-10 mit der verbundenen Hand, so fest es nur ging, und bemühte sich, sie ruhig zu halten. Der Kommandoführer sprang aus seiner Deckung hervor und feuerte drei Garben auf die Treppe hinab, damit der Chinese inizwischen mit der M-16 eine bessere Schußposition einnehmen konnte. Der »Chink« wollte sich für die Hilfe revanchieren und seinem Partner seinerseits Feuerschutz geben. Aber es war zu spät. Dessen Magnum hatte geklickt. Sie war leergeschossen. Für den Augenblick blieb ihm nur, sich wegzuducken, als er die Gestalt auf sich zukommen sah. Er spürte einen heißen Schmerz in der Seite und an der Schulter. Er taumelte gegen die Wand und fiel zu Boden. Die Gestalt, die die Treppe heraufgestürmt kam, schien sich buchstäblich durch des Chinesen Kugelhagel durchzuwinden. Er starrte ungläubig. Das gab es doch wohl nicht: ein Weib! Er versuchte, sich wieder auf seine Instruktionen zu besinnen. Instruktionen waren alles, sagte er sich vor. Er atmete heftig. In seinem Mund war Blutgeschmack. Er begann zur Tür zu kriechen. Mit zitternder Hand griff er in seine Tasche nach seinem letzten Magazin. Er schob es ein und schloß den Zylinder. Er war inzwischen bei der Tür, hinter der sich die Geisel befand, aber das Weib war war ein zu leichtes Ziel, um es auszulassen. Er zielte so sorgfältig, er konnte. »runter, Nikki! Runter!« Noch während er seine Warnung schrie, hatte Locke bereits Abzug seiner Mac-10 durchgedrückt und feuerte wilde Garben auf den am Boden kriechenden Mann mit der Pistole in Hand. Aber seine verbundene Hand erlaubte einfach kein ruhiges und sicheres Zielen. Er schoß nur Löcherlinien in die Vertäfelung über dem Mann, der sich weiterzog und in der
Tür verschwand. Locke sprang auf, um ihn zu verfolgen, aber er stolperte über eine blutige Leiche und stürzte darüber. Nikki hate sich auf Lockes Warnung hin zu Boden geworfen. Sie konnte nahezu die Hitze der Kugeln, die nur ganz knapp über sie hinpfiffen und im Holz einschlugen, spüren, während gleichzeitig die andere Gestalt - ein schmächtiger Chinese, wie sie erkannte - aus seiner M-16 wild um sich schießend, auf sie zukam. Da hatte sie bereits ihre Mac-10 hochgerissen. Der Feuerstoß aus ihr fuhr quer über den Chinesen, aus dem Blut wie aus einer Gießkanne zu spritzen begann, der jedoch noch weiterstürmte und schoß. Aber sein Magazin war leer. Es klickte nur noch. Als er es bemerkte, stand in seinen Augen die blanke Todesangst. Er hatte plötzlich eine Klinge in der Hand. Doch Nikki schoß in dieser Sekunde bereits ihr letztes Magazin leer. Ihre Kugeln rissen ihm den halben Schädel weg, während er noch zustieß. Nikki war mit einem Schrei hochgefahren, um den Stoß abzublocken. Aber der Chinese sank bereits in sich zusammen und fiel auf sie. Der Kommandoführer wußte, daß er starb, aber noch gelang es ihm, die Pistole zu heben und auf seinen Gefangenen zu richten, um mit dem Rest seiner noch verbliebenen Kraft den Abzug durchzudrücken. Er begann den Finger zu krümmen. »Neeeeiiiin!« Den Verzweiflungsschrei des mit seiner Maschinenpistole wild um sich schießenden hereinstürmenden Mannes hörte er bereits nicht mehr. Er spürte nur noch, wie der Abzug nachgab und der Schuß sich löste, während der letzte Rest Leben aus ihm selbst wich. Locke ließ den Abzug seiner MP, die noch immer auf den durchlöcherten Toten am Boden zielte, einfach durchgedrückt obwohl das Magazin längst leergeschossen war. Er lief durch das Zimmer, während seine Waffe leer weiterklickte. Gib, daß ich noch rechtzeitig . . . O Gott, bitte . . . Und da saß Greg. Ganz hinten, an einen Stuhl gefesselt, Kopf auf ein schmutziges T-Shirt gesunken. Christopher fühlte sein Herz stehen bleiben, als er sich ihm näherte. Er war tot! Sein Sohn war tot! Er war zu spät gekommen!
Dann erst merkte er, daß das T-Shirt sich bewegte, daß es darunter pochte. Greg atmete! Er lebte! Gott sei Dank. Er nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Er spürte das Seil, mit dem der Junge angebunden war. »Greg«, stammelte er schluchzend, kaum fähig zu sprechen, Crcg, kannst du mich hören?« Der Kopf des Jungen fiel schlaff auf seines Vaters Schulter. Er war ohnmächtig. Aber er lebte. Der Herzschlag seines Jungen an seiner Brust war das überwältigendste Gefühl, das er je erspürt zu haben glaubte. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Shang liebte die Dunkelheit. Sein Training, das ihn zum gefährlichsten Mann ganz Chinas gemacht hatte, hatte sich zu einem beträchtlichen Teil in der Dunkelheit abgespielt. Mittlerweile war sie ihm lieber als das Tageslicht. Er konnte seine Augen sehr rasch an sie gewöhnen und im Dunkeln besser sehen als irgend jemand. Die Dunkelheit war sein Verbündeter. Er hatte sich hinter die Tür gedrückt und gewartet. Er wartete inzwischen schon eine ganze Weile. Aber sein Training hatte auch unendliche Geduld gelehrt. Er hatte die Absicht, den berühmten Grendel in der Dunkelheit mit seinen bloßen Händen zu töten. Endlich wurde der Schlüssel in das Türschloß gesteckt, Shang spannte sich an. Er lauerte völlig bewegungslos, als sich die Tür öffnete. Er sah Dogan eintreten. Er hatte den Schlüssel des Zimmers in der Hand. Er trug Handschuhe. Er suchte nach dem Lichtschalter. Shang glitt vor. Er faßte sein Opfer von hinten am Kopf. Er hatte vor, ihm mit em einzigen heftigen Ruck schnell und einfach das Genick zu brechen. Aber völlig überraschend fuhr Grendels Hand in einer Abblockbewegung hoch, während er sich herumdrehte. Sie standen einander im Dunkeln gegenüber und belauerten sich, ob der Gegner sich eine Blöße gab. Der kleinste Vorteil war entscheidend. Shang merkte, daß Grendel ihm in die Augen zu fahren versuchte. Ein verhängnisvoller Fehler. Es zwang ihn, nach vorne auszufallen, und das gab dem Hünen die Gelegenheit, ihn zu unterlaufen und ihm an die Kehle zu gehen. In diesem
schraubstockartigen Würgegriff stieß Shang seinen Gegner nun rückwärts, bis er gegen eine Wand knallte. Während Dogan stöhnte, sich wand und verzweifelt versuchte, sich zu befreien, verschränkte Shang beide Hände unter Dogans Kinn und riß es mit einem einzigen heftigen Ruck nach oben. Es knackte laut und widerlich. Dogans Körper versteifte sich zuerst, um dann schlaff in sich zusammenzufallen. Sein Kopf fiel hintenüber wie der eines Huhns, dem man den Hals umgedreht hat. Shang sah zu, wie der Amerikaner langsam an der Wand entlang zu Boden rutschte. Dann griff er nach unten und riß seinen Kopf noch einmal hoch. Nur um sicherzugehen, daß seine Aufgabe auch wirklich zuverlässig erledigt war. »Major Pete wird sich ein wenig verspäten, Louie«, sagte Calvin Roy zu Louie Auschmann, dem stellvertretenden Nationalen Sicherheitsberater. »Irgendwas Dringendes ist dazwischengekommen. Wir fangen ohne ihn an. Haben Sie mein Memo gelesen?« Auschmann nickte. »Sie glauben wirklich, der Minister selber ist es?« »Junge, da wo ich herkomme, sagt man, ein Bulle hat sein Hirn in den Eiern und deshalb hat man keine Schwierigkeiten herauszufinden, worauf er scharf ist. Und mit van Dam ist es genau das gleiche. Alles paßt. Wie ich die Sache inzwischen sehe, war Locke schon avisiert, ehe er überhaupt aus Washington raus war. Und im ganzen Ministerium hier war außer Charney und mir van Dam der einzige, der von der Sache überhaupt etwas wußte.« »Das ist aber noch lange kein Beweis.« »Ja, aber es hat mich veranlaßt, nachzudenken. Als ich auch noch feststellte, daß in Charneys Personalakte herumgepfuscht worden war, hat es bei mir geklingelt. Nur jemand, der ganz oben sitzt, kann so etwas drehen. Außerdem war alles eine Spur zu perfekt. Der Computer hat keinerlei Hinweis auf diese Manipulation gegeben. Auch das läßt sich nur von ganz oben bewerkstelligen. Mit einem Wort, von van Dam selbst aus.« »Wenn das so ist, sind' Sie aber ein verdammtes Risiko eingegangen, ihn auch noch mit der Nase draufzustoßen.«
»Ja, doch das mußte sein. Denn das alles ist ja offensichtlich nicht auf seinem Mist gewachsen. Er steckt in einer Sache drin, die viel größer ist. Wenn man die ganze Bagage fangen will, Junge, muß man Köder auslegen. Die ganze Geschichte war von Anfang an perfekt, das hat mich doch überhaupt erst stutzig gemacht. Charney kommt um, und Locke zieht in ganz Europa herum und hinterläßt eine Spur von Leichen, breit wie 'ne Autobahn, ohne daß ihn selbst irgendwer schnappt oder umlegt. Das konnte er unmöglich, wenn das nicht beabsichtigt war.« »Ja, aber warum? Wo ist das Motiv?« »Genau das, hoffe ich, wird uns der Herr Minister erzählen . . . auf die eine oder andere Weise.« »Und was ist mit dem Bericht von MI-6, daß sie Locke aufgegriffen haben?« fragte Auschmann. »Louie, denken Sie dran, Schokolade in der Hose wäscht sich schwer raus. Und genau damit ist diese ganze Geschichte geradezu übersät. Erst haben sie Locke, dann entwischt er ihnen wieder. So geht das pausenlos. Da ist jemand ganz mächtig daran interessiert, daß er nicht geschnappt wird.« Der Staatssekretär klopfte nervös mit einem Kugelschreiber auf seine Schreibtischplatte. »Dann kidnappen sie seinen Jungen, der inzwischen wahrscheinlich schon tot ist, und ich werde das verdammte Gefühl nicht los, daß da immer noch mehr Leute auftauchen, wenn wir den Hahn nicht endlich zudrehen.« Auschmann dachte kurz nach. »Er wird nicht reden.-« »Natürlich nicht. Genau deshalb habe ich mir vom Präsidenten inzwischen bereits die Zustimmung geben lassen, bis auf die letzte Minute zu durchleuchten, was er in den letzten Monaten gemacht hat. So wie ich das sehe, muß er ein paarmal in dem Schlupfwinkel gewesen sein, wo diese ganze Suppe gekocht wird.« »Ja, aber so etwas braucht Zeit.« »Dann muß eben besonderer Druck gemacht werden. Wir müssen auch seine Privatgespräche abhören. Und er muß so überwacht werden, daß wir über jeden Schritt Bescheid wissen, den er tut. Vielleicht führt er uns so zu dem Rattennest.« Das Telefon klingelte. Roy hob ab.
»Kennally hier«, sagte der CIA-Chef. Er rief über die Privatlertung an. »Sie erfahren es natürlich in Kürze auch vom Präsidenten selbst. Aber ich dachte, unter den Umständen ist es das Beste, Sie wissen es als erster. Sie sind eben Außenminister geworden. David van Dam ist tot.« Roy war kein bißchen überrascht. »Hat sich erschossen, wie, Major Pete?« »Falls er die Pistole solange halten konnte, bis er mit einem Dutzend Kugeln vollgepumpt war. Nein, er ist durch ein Attentat umgekommen. Gerade eben.« »Chris, kommen Sie endlich! Wir müssen hier raus!« Nikkis Stimme holte Locke in die Wirklichkeit zurück. Er löste sich von dem noch immer ohnmächtigen Greg. Sein Blick fiel auf den blutverkrusteten Verband an der Hand des Jungen. »Ich lasse den Jungen unter keinen Umständen mehr allein«, sagte er. »Nie mehr.« Ihre Stimme war merkwürdig ruhig. »Er braucht ärztliche Versorgung und Ruhe an einem sicheren Ort. Beides können wir ihm nicht geben.« »Ich lasse ihn nicht allein«, beharrte Locke. »Ich weiß einen Arzt auf dem Land in Devon. Ich war schon mal bei ihm. Er ist zuverlässig und vertrauenswürdig.« Locke war dabei, seinen Sohn von dem Seil zu befreien, mit dem er gefesselt war. »Schön. Fahren wir hin. Aber ich bleibe dort bei Greg.« »Damit riskieren Sie doch nur, daß das Komitee ihn alsbald wiederfindet. Ich kann Sie nicht bis in alle Ewigkeit beschützen.« »Nur noch ein paar Tage, mehr verlange ich ja nicht. Bis wir in die Staaten zurückfliegen können.« »Chris, begreifen Sie das doch endlich. Sie können vor den Leuten nicht mehr davonlaufen. Dafür ist es zu spät.« Locke drehte sich abrupt zu ihr herum. »Augenblick mal. Sie gehören doch selbst zu dem verdammten Komitee, oder nicht?« »Ja und nein. Alles hat sich verändert. Es gibt da eine Splittergruppe, die sich abgespalten hat. Sie wird von dem Mann angeführt, der Ihren Sohn gekidnappt und Sie selbst gefoltert hat. Der Mann ist außer Kontrolle geraten. Wir versuchen, ihm das Handwerk zu legen. Aber das geht nur auf unsere Weise.« »Na großartig. Vergessen Sie nicht, mir eine Ansichtskarte zu schicken, wenn es soweit ist.«
»Gregs Überlebenschance - und die Ihre dazu - besteht darin, daß wir gewinnen. Wir brauchen Sie.« »Wozu?« »Ich . . . kann Ihnen das jetzt nicht erklären. Sie müssen mir vertrauen. Und jetzt bringen wir den Jungen zu dem Doktor in Devon. Da ist er sicher.« Locke war unschlüssig. »Nur wenn Sie zusichern, daß er schwer bewacht wird.« Nikki schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Sinn. Je mehr Leute wir mit hineinziehen, desto größer das Risiko, daß man Ihren Sohn auch dort aufspürt. Der Doktor wird sich um alles kümmern. Er ist in solchen Dingen sehr erfahren.« Und sie wiederholte: »Sie müssen mir einfach vertrauen.« »Ich weiß noch immer nicht, warum ich das sollte.« »Morgen früh wird Ihnen alles klar werden.« »Morgen früh?« Sie nickte. »Wir fahren nach Österreich.« Das Haus des Arztes lag völlig abgelegen und einsam, fern jeder Zivilisation, mitten in der Grafschaft Devon. Der Arzt war ein alter Mann mit einem weisen Gesicht und wehendem Silberhaar. Greg war, als sie ankamen, noch immer nicht wieder bei Bewußtsein, und kam auch während der ersten Untersuchung des Arztes nicht zu sich. Der Arzt versprach, mit seinem eigenen Leben für das des Jungen zu bürgen. Und mit dem Leben seiner Söhne, zweier Jugendlicher, die das Leben auf dem Lande hart gemacht hatte und die beide gut mit Gewehren umgehen konnten. Greg sei absolut sicher, sagte er. Er könne auch solange wie nötig bleiben. Locke instruierte den Arzt in allen Einzelheiten, was zu tun sei, falls er nicht wiederkomme. »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte der alte Doktor. »Sie kommen wieder. Es steht in Ihren Augen. Sie sind ein Mann, den nichts aufhalten kann.« Sie fuhren anschließend zu einem zehn Meilen entfernten Landgasthaus. Sie mußten beide essen und schlafen. Sie trugen sich als Ehepaar ein. Nikki spielte demonstrativ die liebende Ehefrau - bis sie im Zimmer waren. »Wir können kein Risiko eingehen«, erklärte sie ihm. »Wir müssen das glückliche Ehepaar spielen, um nicht zur Zielscheibe zu werden. Ich
weiß, wie unsere Verfolger arbeiten. Wir können keinen Augenblick sicher sein, daß wir nicht beobachtet werden« Sie warf einen Blick auf das breite Doppelbett. »Das bedeutet, daß wir auch zusammen schlafen werden.« »O Licht am Ende des Tunnels . . .« sagte Locke. »Für Spaße besteht kein Anlaß«, wehrte Nikki ab. »Zusammen, sagte ich, nicht miteinander.« »Nur keine Aufregung«, beschwichtigte Locke. »Ich habe wirklich nur Spaß gemacht. Mein Gott, Sie könnten meine Tochter sein! Aber falls es Sie beruhigt, und ohne daß ich irgend etwas gegen Ihre unübersehbaren Reize gesagt haben möchte - Sex ist im Augenblick wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn steht.« »Ich habe es ja nicht so gemeint«, begütigte sie. »Aber Sie verstehen das nicht.« »Was verstehe ich nicht?« Sie blickte zur Seite und antwortete nicht. »Wer sind Sie, Nikki?« »Das wissen Sie doch.« »Ich frage nicht nach Namen. Ich will wissen, wer Sie wirklich sind. Sie haben beispielsweise ganz deutlich einen amerikanischen Akzent. Aber trotzdem scheinen Sie keine Amerikanerin zu sein.« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Und dann diese Kukhri-Klmgen, mit denen Sie so gewandt umgehen. Sie wissen, wie die Gurkas sie benützt haben? Sie hatten einen geradezu legendären Ruf als Krieger. Sie sollen feindlichen Soldaten im Schlaf den Kopf abgeschnitten und ihn dem daneben Schlafenden auf die Brust gelegt haben. Ich erinnerte mich an diese Geschichten, als ich damals während des Falklandkrieges las, daß die Engländer eine Abteilung Gurkas in die Schlacht schicken wollten.« Er unterbrach sich zögernd. »Und wahrscheinlich fiel es mir heute wieder ein, weil Sie wie einer dieser Gurkas zu sein scheinen. Eiskalt und wie ein Todesengel. Nichts kann Sie aufhalten und umstimmen. Nicht wahr?« »Unwichtig.« »Das glaube ich nicht.« Sie sah ihn abrupt an. »Möchten Sie wirklich etwas über die Jahre meiner Ausbildung erfahren? Was ich tat, während
andere Mädchen in meinem Alter noch zur Schule gingen, oder Tanzstunden und Verabredungen ihre einzigen Probleme waren? Es begann vor zwölf Jahren, als ich gerade fünfzehn war. In Trainingslagern in Rußland und Libyen. Später bekam ich Spezialausbildungen von Meistern in einigermaßen ungewöhnlichen Disziplinen.« »Ungewöhnlich und tödlich, sollten Sie sagen.« »Richtig«, nickte sie. »Aber es war eine Sache der Überzeugung. Ich war überzeugt davon, daß wir das Richtige taten. Ich bin mit Idealen aufgewachsen. Unsere Aktionen waren notwendig. Opfer mußten gebracht werden.« »Opfer? Liebes Mädchen, wofür halten Sie sich eigentlich? Heute wäre mein Sohn um ein Haar umgekommen. Und er wird für den ganzen Rest seines Lebens mit einem Finger weniger herumlaufen müssen. Kommen Sie mir nicht mit Ihren blödsinnigen Opfern! In San Sebastian sind mehr als zweihundert Menschen umgekommen, eine Menge davon waren Kinder. Auch die Tatsache, daß Sie mein Leben gerettet haben — vielen Dank! - ändert nichts daran, daß die Leute, in deren Diensten Sie stehen, Tiere sind. Monster. Ja, Monster. Nur Monster ermorden Kinder.« »Ich widerspreche Ihnen ja nicht«, sagte Nikki leise. »Die Zeiten änderten sich, und wir dachten, wir müßten uns mit ihnen ändern. Und wir sind zu weit gegangen, ohne Zweifel. Wir haben uns einen Mann geholt, der Fachmann für Terror und Gewalt ist.« »Ich vermute, Sie sprechen von einem gutaussehenden Dunkelhaarigen mit einem chinesischen Gorilla als Begleiter?« Sie nickte. »Er heißt Mandala.« Chris zeigte ihr seine Hand, von der mittlerweile der Verband halb abgefallen war. Sie sah mit ihren aufgequollenen Fingern noch schlimmer aus als am Tag zuvor. »Ich hatte das Vergnügen bereits, wie Sie wissen.« »Wir vermuten, daß Mandala sich längst von uns abgesetzt hat und seine eigenen Interessen verfolgt. Er hat Tantalus nach seinen Vorstellungen verändert. Wir fangen eben erst an, dies alles zu durchschauen.« »Die beste Strategie von allen wäre ja wohl, die ganze Geschichte aufzugeben.«
»Dazu ist es zu spät. Die Operation hat bereits das Stadium erreicht, in dem Mandala sie ohnehin übernehmen sollte. Wir versuchen darum im Augenblick, gleichzeitig ihn auszuschalten und das Projekt zu retten. Es im jetzigen Stadium aufzugeben, hätte katastrophale Folgen.« Locke sprang auf und ging erregt hin und her. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Was reden Sie denn da? Als wärt ihr auf dem Kreuzzug zur Rettung der Welt! Als reine Philanthroper und Idealisten, natürlich! Was für eine Verblendung! Nein nein, ich habe zuviel gehört und gesehen, um Ihnen diese Ar Geschichten abzunehmen! Das Komitee hat nichts weiter in Sinn als seine eigenen Interessen. Profitgier in Reinkultur darum geht es letztlich!« »Wir bieten der Welt eine neue Ordnung an!« »O ja, selbstverständlich! Ist Machtgier je anders begründet worden?« »Sie verstehen das nicht. Sie versuchen gar nicht es zu verstehen. Sehen Sie sich um, Chris. Die Welt wird so unglaublich miserabel regiert. Und die Menschen leben nur für den Augenblick, ohne einen Gedanken an morgen, geschweige übermorgen zu verschwenden. Die Regierenden haben alle viel zu wenig Zeit für Perspektiven, weil sie fast nur mit der Erhaltung ihrer Macht beschäftigt sind. Ihre Politik ist kurzatmig, nur auf raschen, vordergründigen Erfolg gezielt, der schon dseshalb niemals erreichbar ist. Immer mehr Menschen sind arm, hungern, haben keine Hoffnung und keine Zukunft. Und es wird schlimmer und schlimmer. In zwanzig Jahren wird die Hälfte aller Staaten die Wasserstoffbombe besitzen, und nennen Sie mir einen, der sie nicht einsetzt, wenn seine Versorgung ausbleibt und die Menschen verlangen, daß gehandelt werden müsse! Können Sie wirklich im Ernst behaupten, es sei nicht höchste Zeit, die Stabilität zu schaffen, die wir im Sinn haben?« »Stabilität«, sagte Locke, »ist eine Sache. Aber dieses Versprechen, von dem Sie da reden, ist eine ganz andere. Vergessen Sie nicht, ich weiß, worum es bei >Tantalus< geht. Ihr wollt euch zum größten Agrarerzeuger der Welt machen, richtig?« »Das ist doch nur ein Teil davon.« »Nämlich?« »Ich kann darüber nicht sprechen. Jetzt noch nicht.« »Sie warten lieber, bis ihr die Welt im Sack habt, wie?«
»Zentralisierung ist das entscheidende Wort.« Ich würde es zutreffender Erpressung nennen.« Nikki schüttelte den Kopf. »Sie verstehen das nicht. Mit den Nahrungsmitteln beginnt es doch nur, das ist der allererste Schritt. Alles ist geplant. Unsere Leute sind überall und steigen in einflußreiche Positionen auf. Wir pumpen riesige Summen in Kampagnen auf der Welt, um die Kontrolle über die Parlamente und Senate zu gewinnen. Unsere Politik hat nichts mit der Rhetorik zu tun. Unser Gesetz heißt: endlich handeln!« »Und dazu habt ihr euch beispielsweise Mandala geholt. Und seht jetzt, wohin das führt.« »Der einzige Sinn von >Tantalus< war, Ordnung auf der Welt zu schaffen. Er hat bedauerlicherweise das Gegenteil damit im Sinn gehabt: Chaos zu schaffen.« »Wie das?« »In Österreich wird Ihnen das alles klar werden.« »Ich bin von euch von Anfang an für eure Zwecke benützt worden, nicht wahr?« Sie nickte. »Aber wann immer Sie Hilfe brauchten, war ich zur Stelle. Ich war sogar im Hydepark, als Sie Alvaradejo erschossen. Und ich war auf dem Vaduzer Berg. Für den Fall, daß Felderbergs Leute Sie gefaßt hätten.« »O Gott . . .« »Ohne Sie hätten wir nie von Mandalas Verrat erfahren. Und er hätte uns alle beseitigt.« »Nun, Sie haben selbst schon genug Menschen beseitigt, so scheint es ja wohl. Ich habe dabei meine beiden besten Freunde verloren. Von meinem Sohn gar nicht zu reden . . .« Ihr Blick war distanziert. »Wir haben alle unseren Preis bezahlt.« Er sah sie lange an. »Ich frage mich die ganze Zeit, Nikki«, sagte er schließlich, »wie Sie zu alledem kommen. Woher kommt dieser Fanatismus? Schon mit fünfzehn? Und seitdem ungemindert?« »Warten Sie bis morgen«, antwortete sie leise. »Morgen werden Sie alles verstehen.«
Achter Teil Genf und Österreich Donnerstag vormittag Der plötzliche gleichzeitige Tod mehrerer Mitglieder des Vorstands des Komitees war für Audra St.Clair ein ziemlicher Schock. Sie wußte natürlich, daß Mandala dahintersteckte. Aber niemals hätte sie
gedacht, daß er so weit gehen würde. Offensichtlich glaubte er, die Kontrolle über die rund hundert direkten Repräsentanten des Komitees zu besitzen, um die Macht übernehmen zu können, sobald die anderen - und vor allem sie — ausgeschaltet sein würden. Da würde er sich täuschen; wenn diese Gewißheit sie auch im Augenblick nicht sehr beruhigte. Sie lehnte sich in ihrem Sessel am Kopf des Sitzungstisches zurück und seufzte. Ihre ganze Arbeit, all die vielen Jahre, alle Pläne, und was dazu nötig gewesen war, war in Gefahr. Das Komitee bestand ja nicht nur aus dem Vorstand und hundert Delegierten aus allen großen und emporstrebenden Ländern. Tausende anderer gehörten dazu, die das Komitee in maßgebliche Positionen in aller Welt geschleust hatte. Deshalb konnte Mandala die Tragweite dessen, was er im Schilde führte, garnicht richtig einschätzen. Jedenfalls würde sie, Audra St.Clair, mitten Machenschaften nicht untätig zusehen. Sie war sicher, daß er bereits dabei war, seinen Trumpf auszuspielen. Gut. Aber auch sie hatte Trümpfe in der Hand. Er durfte Schloß Kreuzenstein nicht mehr lebend verlassen. Auch wenn das bedeutete, daß das Projekt Tantalus zurückgestellt werden mußte. Aber damit konnte sie sich später noch, zu gegebener Zeit, beschäftigen. Es wäre einfacher gewesen, Mandala beseitigen zu lassen, bevor er zum Schloß zurückgekommen war. Aber auch unrealistischer. Es war wichtig, daß sie vorher noch erfuhr, welchen Schaden er bereits angerichtet hatte, und wie weit er das ursprüngliche Projekt durch seine Eigenmächtigkeiten bereits verändert hatte. Sie hatte keine Garantie, daß seine Pläne hinfällig waren, sobald er tot war. Nein, sie mußte die Einzelheiten wissen, ehe er aus dem Weg geräumt wurde. Die alte Dame horchte auf. Durch die weite Leere des alten Schlosses hallten näherkommende Schritte. Zwei Personen, schien es. Mandala kam also tatsächlich. Zusammen mit seinem Totschläger. Sie tastete nach dem Knopf unter dem Tisch an ihrem Platz. Wenn sie darauf drückte, strömte aus einem Kanister hinter einem Schlitz in der Wand Gas in den Raum. Für sie lag eine Gasmaske unter dem Tisch bereit, die sie überziehen konnte, während ihm das Gas die Lungen verätzte. Ja, es war zweifellos ein Fehler gewesen, ihn im Komitee aufzunehmen, das sich bis dahin aus seriösen Leuten zusammengesetzt hatte. Dieser Mandala war alles andere als seriös. Ein Landsknecht und Söldner, mehr nicht. Ein Typus, den das Komitee auf der ganzen Welt eigentlich beseitigen wollte. Doc es hatte sich im Laufe der Entwicklung ergeben, daß
Änderur gen der Strategie notwendig geworden waren. An eine: bestimmten Punkt war es unausweichlich erschienen, daß ma sich eines Mannes wie Mandala bediente. Auch wenn man jetzt teuer dafür bezahlen mußte. Die Doppeltüren des Konferenzsaales öffneten sich. Mandala trat ein, seinen chinesischen Hünen im Gefolge, der die Tür| hinter ihm schloß. »Guten Morgen, Madam«, sagte Mandala mit falschen strahlendem Lächeln. Aber Madam ging sofort zur Attacke über. »War das auch die Art, wie Sie van Dam begrüßten und Kresowlowsky und Werenmauser?« sagte sie spitz. Mandala tat sehr überrascht. »Sie verblüffen mich aber sehr alte Dame!« sagte er. »Ich komme hierher, um Ihnen eine Handel anzubieten, und Sie begrüßen mich mit Beschuldigungen! Das ist doch sonst nicht Ihre feine Art?« »Ich handle nicht mit Mördern.« »Ach, Sie altes Weib! Ist Ihnen denn nicht klar, daß ich der einzige bin, mit dem Sie überhaupt noch einen Handel abschließen können? Alle anderen sind tot, oder werden es bald sein. Ich möchte die Liste aller Leute, die unter der Kontrolle des Komitees stehen.« »Und Sie glauben, die gebe ich Ihnen ohne weiteres? Darf ich vielleicht fragen, was Sie dafür zu bieten haben?« Sie mußte ihn reden lassen. Ihr Finger lag auf dem Knopf unter dem Tisch. Mandala kam näher, bis er direkt vor ihr stand. Shang wich wie ein Schatten nicht von ihm. »Ihr Leben, alte Frau«, sagte er kühl. »Ach Gott. In meinem Alter? Da müssen Sie sich schon etwas Interessanteres einfallen lassen. Ich hätte durchaus einen Vorschlag. Weiterhin den Vorsitz des Komitees für mich, zum Beispiel.« »Einem solchen Versprechen würden Sie nie Glauben schnenken, also habe ich es gar nicht erst ins Auge gefaßt. Aber ich will Ihnen immerhin Ihr Leben schenken. Denn schaden können Sie mir nicht mehr. Sie sind draußen, alte Frau. Alle ihre wichtigen Kontakte sind eliminiert. Ihre Zeit ist um.« Sie verlangen eine Menge, aber bieten wenig.« Ach ja, habe ich das Leben Ihrer Tochter noch gar nicht erwähnt?« Audra St.Clair schoß das Blut in die Wangen. Ihre Lippen zitterten. »Na, na, alte Dame«, sagte Mandala zynisch, »Sie haben wohl nicht wirklich geglaubt, Sie könnten das auf Dauer Geheimhalten? Vor mir? Tatsache ist, das Leben des Mädchens jetzt in Ihrer Hand. Sie hat in England Locke vor meinen Leuten herausgehauen. Früher oder
später wird sie ihn herbringen. Ich muß also nur auf sie warten. Mit Ihnen als Geisel.« Sein Blick ging zu seinem Chinesen. »Shang hier steht es hervorragend, aufs Schmerzhafteste mit den Leuten umzugehen. Sie wollen doch ganz gewiß nicht, daß er das an ihrer Tochter praktiziert?« Audra St.Clair spürte, wie Zorn in ihr hochstieg. Es dröhnte ihren Ohren. Aber sie bemühte sich, äußerlich völlig gelassen zu bleiben. »Ich nehme an, wir können uns arrangieren. Ich frage Sie nur, wozu das alles nötig war? Diese ganzen Morde?« »Nun, ich könnte sagen: um Sie völlig überraschend zu treffen, alte Frau. Aber das wäre natürlich nur ein Teil der Wahrheit.« Mandala beugte sich über den riesigen Tisch nach vorne. »Dieses Projekt, meine Liebe, stammte doch in Wirklichkeit nie von Ihnen. Es war von Anfang meins! Und ich habe es nach meinen Vorstellungen abgeändert.« »Wie denn?« »Sehen Sie, alte Frau, ich versage Ihnen ja gar nicht meinen Respekt, was die grundsätzliche Idee angeht. Sie haben immerhin eine Möglichkeit gefunden, Amerika auszuschalten, was Dutzende anderer Länder und Organisationen nicht geschafft haben. Mit der Notwendigkeit eines solchen Unternehmens bin ich voll einverstanden. Nur, danach hätten Sie sich mit Hilfe der genetisch verbesserten Ernten auf den riesigen Ländereien in Südamerika, die Sie aufgekauft haben, an die Stelle dieses Landes gesetzt. Auch brillant, zugegeben. Nur höchst unbefriedigend. Denn damit wäre lediglich ein Regime durch ein anderes ersetzt worden.« »Aber eins, das wegen seiner Ziele gerechtfertigt wäre! Mit Hilfe der südamerikanischen Superernten, von denen wir profitieren könnten, wäre es möglich, entscheidende Positionen für das Komitee in den Regierungen der ganzen Welt zu sichern - mit dem Endziel, daß unsere Leute an deren Spitzen kommen. Und damit die Saat aussäen können, die einst ungleich größere und bedeutendere Ernten hervorbringen wird!« »Was immer noch ein existentes Regime bedeuten würde!« erklärte Mandala. »Und genau dagegen bin ich! Die Herrschaft über die Welt schlechthin muß beseitigt werden, nicht nur eine bestimmte Herrschaft! Was wir brauchen, ist eine wahrhafte Weltrevolution. Die gesamte; Zivilisation muß von Grund auf verändert werden! Tantalus ist das Mittel dazu.«
Audra St.Clair begann zu verstehen. Der Schock dieser Erkenntnis traf sie so unvorbereitet, daß sie völlig abwesend den Finger von dem Druckknopf für das Giftgas unter dem Tisch nahm. »Und die letztlich entscheidende Waffe dafür ist die Ernährung«, fuhr Mandala fort. »Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben, sind sie rasch zur Revolte bereit. Überall. Und dies wird die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systeme zusammenbrechen lassen. Kein Mensch wird dann mehr imstande sein, irgendeine Gesellschaftsordnung, irgendein Regime - wie Sie es sich so sehr wünschen - aufrechtzuerhalten! Eine Welt des totalen Chaos wird übrig bleiben, in dem allein wenige begabte Männer dazu fähig sein werden, die Massen hinter sich zu bringen!« »Wie wollen Sie denn . . .?« »Es liegt doch auf der Hand, alte Frau! Tantalus wird nicht allein in den USA und in Kanada in Aktion gesetzt. Wir werden auch Mittel- und Südamerika damit überziehen! Und sobald in der ganzen Hemisphäre die Panik ausgebrochen ist, kommt der nächste Schritt: über den Atlantik. Und danach Asien!« »O mein Gott!« brachte Audra St.Clair gerade noch hervor. Sie hatte mit einemmal Atemnot. »Millionen Menschen werden verhungern!« »Vielleicht sogar einige Milliarden, alte Frau! Und dann kann die neue Welt entstehen! Es wird keine unterschiedlichen Nationen und Kulturen mehr geben. Die Menschen werden sich denen unterwerfen, die ihnen Nahrung geben können.« »Sie zerstören damit aber doch alles Land!« Die alte Dame fand mit ihrem Finger den Knopf unter der Tischplatte wieder. Sie beschloß spontan, darauf zu drücken und das Gas einströmen zu lassen, ohne selbst die Gasmaske aufzusetzen. Dieser Wahnsinnige mußte aus dem Weg geräumt werden, und wenn ihr eigenes Leben der Preis war. Sie konnte jetzt nichts mehr riskieren. »Nicht alles Land«, sagte Mandala. »Nur so viel, wie nötig« . Und vergessen Sie nicht, ich habe bereits das ganze metisch behandelte Saatgut in meiner Gewalt und kann es nach meinem Plan verwenden.« »Wenn das so ist, Mr. Mandala«, sagte sie, »wozu brauchen Sie dann noch die Liste mit den Namen, die Sie von mir haben wollen?« Mandala stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Dann wandte er sich ihr wieder zu.
»Weil, alte Frau, jeder, der sich auf die kommende Hungersnot einstellen kann, weil er Bescheid weiß, einen enormen Vorteil besitzt. Ein Netz von Leuten, über den ganzen Globus verstreut, die in einer solchen Position sind, stellt die totale Kontrolle über die Menschen sicher. Um sie scharen sie sich wie von selbst: um jeden, der den Menschen Antworten gibt. Und zu essen.« »Sie wollen tatsächlich die Herrschaft über die ganze Welt . . .!« murmelte Audra St.Clair fassungslos. »Wollten Sie sie etwas nicht?« Mandala kam näher, das Gesicht zu einer lächelnden Fratze verzerrt. »Jedes geringere Ziel bei diesem Aufwand wäre Narretei. Der Unterschied ist nur, daß meine künftige Welt nicht nur nichts mit der bisherigen zu tun hat, sondern auch nichts mit der, die Sie und Ihr Komitee anstrebten. Nein, es wird meine Welt sein. Die Welt, in der ich lebe und die ich beherrsche. Eine Welt ohne jede Gesellschaftsordnung, verstehen Sie?« »Außer der Ihren, natürlich«, sagte sie sarkastisch. Wenn sie jetzt auf den Gasknopf drückte, starben sie beide. Denn es war ausgeschlossen, daß sie rechtzeitig ihre Gasmaske erreichen und aufsetzen konnte. Egal. Mandala mußte sterben. Und auch Tantalus mußte sterben. So brillant ihr Projekt war, so genial sie es in die Wege geleitet hatte, sie hatte nicht zu verhindern gewußt, daß es pervertiert wurde. Immerhin, das Komitee würde weiterbestehen. Irgendwer würde es übernehmen und| weiterführen. Mandala lächelte dünn. »Ich bin in Eile, alte Frau. Vierundzwanzig Stunden nach der nordamerikanischen Aktion, die am Sonntagvormittag beginnt, fängt auch die südamerikanische Aktion an. Ich muß noch weit reisen. Also, wenn Sie jetzt die Güte haben möchten, die bewußte Liste herauszugeben? Rufen Sie sie auf einem Ihrer Computerbildschirme ab.« »Fahren Sie zur Hölle«, zischte Audra St.Clair und drückte auf den Knopf, während sie ihre eigene Hinrichtung, die sie damit auslöste, mit Fassung zu ertragen versuchte. Wenigstens würde es ein gnädiger schneller Tod sein. Aber Mandala lachte nur laut und amüsiert auf. Im Hintergrund begann auch Shang sardonisch zu lächeln. Sie drückte noch einmal heftig auf den Knopf. Aber da wußte sie bereits, daß es sinnlos war.
»Ach, altes Weib«, tadelte Mandala sie, »wofür halten Sie mich eigentlich? Für beschränkt? Glauben Sie, ich kenne Ihren kleinen Trick nicht? Selbstverständlich haben wir den Gasschlauch entfernt, ehe wir hier hereinkamen.« Audra St.Clair ließ sich mit dem Anschein völliger Geschlagenheit in ihrem Sessel zurücksinken. Aber noch hatte sie ein As im Ärmel. Ihr Blick ging zu einer Stelle gleich neben der Doppeltür am Eingang. Jede Sekunde mußte . . . Mandala schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wenn Sie es doch einsehen wollten, daß es mit Ihnen aus ist! Zum letzten Mal und angesichts der Tatsache, daß es um das Leben Ihrer Tochter geht: die Liste, Madam« Sie starrte ihn nur an. »Es hat doch wirklich keinen Sinn mehr! nachdem Shang auch Grende beseitigt hat, gibt es keinen mehr, der mich aufhalten könnte!« »Locke wird sie aufhalten«, sagte sie verächtlich. »Der Amateur?« Mandala lachte nur. »Nun, immerhin haben Sie ihn bisher nicht gekriegt, nicht wahr? Er entkommt Ihnen immer wieder. Sie verstehen das einfach nicht. Wie könnten Sie auch.« »Alte Frau, meine Geduld geht zu Ende!« Und da krachte die Tür lärmend auf. Ein weißhaariger Bär von Mann stürmte herein: Clive Thurmond, der britische Vertreter im Vorstand des Komitees. Der Mann, der sich Christopher Locke gegenüber als Colin Burgess ausgegeben hatte. Er richtete seine Pistole zuerst auf Shang, der auf ihn zustürzte. Er schoß fünfmal auf den Leib des chinesischen Hünen. Aber Shang lief ganz unbeeindruckt weiter. Die Kugeln und Gewalt konnten ihn lediglich kurz stoppen, wie eine starke Windbö, mehr nicht. Audra St.Clair drückte nun auf einen zweiten Knopf unter ihrem Tisch. Wenigstens dieser funktionierte. Hinter ihr ging eine Geheimtür auf. Mandala, der im Begriff war, sich ebenfalls auf Thurmond zu stürzen, hörte das Geräusch hinter sich und fuhr herum, seine Pistole schußbereit gezückt. Thurmond hatte inzwischen noch einmal auf Shang gefeuert, als dieser bereits nach vorne griff und mit eisernem Griff die Kehle seines Gegners umfaßte. Er hob ihn scheinbar mühelos hoch. Thurmond rang nach Atem. Seine Augen traten
hervor und Entsetzen und Todesangst standen in ihnen. Audra St.Clair hastete zu ihrer Geheimtür, als sie einen Schlag und einen schneidenden Schmerz in ihrem Rücken fühlte. Sie versuchte weiterzukriechen, aber während sie sich aufrichtete, fuhr ihr eine zweite Kugel in die Hüfte und eine dritte in ein Bein. Sie spürte Blut an sich hinablaufen. Es war seltsamerweise das gleiche Gefühl, als würden die Kleider von strömendem Regen durchnäßt. Sie wußte, daß dies der Tod war, versuchte aber trotzdem noch durch die geheime Tür zu kommen. Den letzten Meter zog sie sich kriechend weiter, während über ihren Kopf hinweg weitere Kugeln pfiffen. Sie schaffte es durch die Wand in den Gang dahinter. Sie erreichte auch noch den Knopf an der Mauer, mit dem die Tür sich wieder schloß und sie vor ihrem Mörder verbarg. Shang hob Thurmond noch höher empor, drückte noch fester zu, und dann gab es ein widerliches Geräusch, als das Genick des Engländers brach. Shang ließ ihn einfach fallen wie eine tote Katze. Mandala war bereits auf dem Weg hinaus. Er hatte keine Zeit mehr, die alte Hexe zu suchen. »Los, Shang, wir müssen fort. Hier ist alles erledigt. Nichts, was sie noch tun könnte, kann uns mehr aufhalten.« Waslow war fast die ganze Nacht aufgewesen. Er verfolgte in einer Suite im Hotel Du Rhone in Genf die Spur einiger wichtiger Informationen. Er sah noch erstaunlich frisch aus und frühstückte mit Genuß, als es an seiner Tür klopfte. Na endlich, dachte er und ging, um zu öffnen. »Kommen Sie herein, mein Freund«, sagte er zu dem Mann, der draußen stand. »Schön, Sie munter und wohlauf zu sehen.« »Ich stecke eben voller Überraschungen«, sagte ROSS Dogan lächelnd und schloß die Tür hinter sich. »Erzählen Sie«, sagte Waslow, »wie Sie das gemacht haben.« Dogan setzte sich und schenkte sich eine Tasse Kaffee von Waslows Frühstück ein. »Schicksal«, sagte er, »ist eine Folge von Umständen, sagt man. Ich hatte überhaupt nichts damit zu tun. Man hatte einen Mann namens Keyes hinter mir hergeschickt, der mich umbringen sollte. Jemand wartete bereits auf ihn, der eigentlich auf mich wartete. Das ist alles.« »Keyes? Das ist doch der junge Mann, vor dem Sie mich in Paris bewahrt haben?« »Eben derselbe.«
»Wie unangenehm«, sagte Waslow, aber es lag kein Bedauern in seiner Stimme. Dogan hatte ihn von Rom aus angerufen, sobald er erfahren hatte, was im Hotel geschehen war. Sie hatten vereinbart, sich hier zu treffen. Dogan war vom Hotel sofort wieder zum Flughafen zurückgefahren, um das nächste Flugzeug nach Genf zu nehmen. Er war vor knapp einer halben Stunde angekommen. »Und Sie sind sicher, lieber Freund, daß Ihnen unsere Freunde vom Komitee nicht hierher gefolgt sind?« wollte Waslow wissen. »Zum Glück glauben sie vermutlich noch, daß ich tot bin. Keyes ist im Dunkeln gestorben. Er hatte ungefähr meine Größe und meine Statur. Der Killer hat mich vermutlich nie zuvor gesehen. Es gibt auch nicht sehr viele Fotos von mir, die in der Weltgeschichte herumschwirren könnten.« »Ich habe eines«, sagte Waslow lächelnd. »Ich habe es letzte Weihnachten meiner Tochter gezeigt. Sie war ganz weg.« Dann wurde er ernst. »Was ist mit Locke?« Dogan senkte den Blick. »Ich bin nicht sicher. Aber ich fürchte, diesmal haben sie ihn gekriegt. Sie waren zu dicht um ihn herum, als daß er ihnen noch einmal hätte entschlüpfen können. Die Leiche meines Kontaktmannes wurde gestern abend im Hotel in Rom gefunden.« »Sehr bedauerlich. Ich hätte schon gerne erfahren, was der Zwerg unserem Collegeprofessor so alles erzählt hat.« »Mehr als ich in San Sebastian erfahren habe, kann es nicht gewesen sein.« »Besonders, was die SAS-Ultras angeht. Ich habe erst gestern erfahren, daß drei Leute von einem anderen KGB-Direktorat sie infiltriert haben. Um sie auf unsere Seite zu ziehen. Von ihnen weiß ich auch, wo sich dieser Masvidal derzeit aufhält.« »Wo?« Dogan war voll Bewunderung für Waslows Fähigkeiten. »Sie werden es nicht glauben, aber hier. Hier in Genf! Im . . .«Er warf einen Blick auf einen Notizzettel, auf dem er etwas aufgeschrieben hatte, » . . . De La Paix. Am anderen Ende der Stadt. Er muß wegen dieser Hungerkonferenz gekommen sein, die am Montag anfängt. Vielleicht hat er seine eigenen Themen vorzuschlagen.« »Ja, aber er kann doch mit seinem Wissen nicht an die Öffentlichkeit gehen. Er ist schließlich ein Terrorist!« »Welche andere Wahl hat er denn schon, lieber Freund? Vielleicht läßt er seine Anliegen durch irgendwelche südamerikanischen Diplomaten vortragen. Oder vielleicht, noch besser, er läßt die Konferenz von seinen Leuten sprengen oder sonstwie stören. Wäre eine ziemliche
Ironie, wenn er auf diese Weise genau das täte, was das Komitee will.« »Nein, nein«, widersprach Dogan, »da haben wir uns geirrt. Das Komitee hatte zu keiner Zeit den Plan, irgend etwas gegen die Hungerkonferenz zu unternehmen. Im Gegenteil, es will, daß sie ungestört über die Bühne geht. Denn das bedeutet, daß die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Genf gerichtet ist darauf, daß die Sowjetunion und die USA gemeinsame Anstrengungen unternehmen, die Probleme zu lösen. Falls ich nicht falsch liege, soll die Aktion des Komitee genau Anfang nächster Woche beginnen, zeitlich zusammentreffend mit dem Beginn der Konferenz. Auf der ganzen Welt, deren Aufmerksamkeit dann auf Möglichkeiten gerichet ist, die Welternährung zu sichern und zu verbessern, wird dann die erste Katastrophenmeldung über massive Erntevernichtungen im Lande des größten Agrarproduzenten der Erde um so stärker beachtet werden, umso größere Wirkung haben. Der Boden kann dann gar nicht besser für eine große Panik vorbereitet sein.« »Und zum Losschlagen für das Komitee . . .« »Und die Erntevernichtung wird unvermindert weitergehen, auch wenn bereits die zweite Phase des Plans begonnen hat, nämlich die Anpflanzung der raschwachsenden Getreide in Südamerika. In drei Monaten werden sie dann in der Lage sein, Getreide zu verschiffen und den Markt zu übernehmen, den Nordamerika bisher beherrschte.« »Und mittlerweile wird die Welt keine andere Wahl haben«, ergänzte Waslow, »als dies zu akzeptieren. Sehr gut durchdacht. Aber wie paßt das ins Bild, was diese.Frau in San Sebastian zu Ihnen sagte, die Sie töteten? Wenn irgend etwas davon stimmt, werden die Dinge nicht ganz so glatt ablaufen.« »Es stimmt mit Sicherheit. Die Frau glaubte, ich sei vom Komitee, was also bedeutet, daß sie eine andere Fraktion des Komitees repräsentierte. Mich beunruhigt auch weniger, was sie sagte, als ihre bloße Anwesenheit dort, zusammen mit ihren anderen Leuten. Sie waren da nicht, um uns aus dem Weg zu räumen. Sie waren längst vor uns da.« »Vielleicht, um auf Sie zu warten?« »Nein, eher ganz allgemein als Wache.« »Dem Erdboden gleichgemachte Städte brauchen eigentlich »keine Wache, lieber Freund.« »Ja, aber dort ist eine ganze Menge los, so tot es auch aussieht. Und zwar etwas, dem ich meinerseits offenbar zu nahe gekommen bin.
Was es auch ist, es hat mit den Plänen der Fraktion des Komitees zu tun, die diese Leute vertreten.« »Das Komitee hat sich also in Fraktionen aufgespalten. Weshalb, zu welchem Zweck? Sind die Leute bei divide et impera, teile und herrsche, angekommen?« »Weiß nicht. Schon deshalb müßte man mit diesem Masvidal sprechen. Die Sache ist zu einem offenen Krieg geworden, und es wäre wichtig, Zugang zu seinen Truppen zu haben. Denn die Zeit wird knapp.« Waslow hob seine buschigen Augenbrauen. »Da könnte ich womöglich helfen. In den letzten sechsunddreißig Stunden hat sich eine ganze Serie offensichtlich sorgfältig geplanter und sehr gekonnt ausgeführter Attentate auf eine Reihe prominenter Leute in aller Welt ereignet. Der amerikanische Außenminister war darunter, und ein hochkarätiger wissenschaftlicher Spezialist unseres KGB. Um reinen Zufall kann es sich nicht gut handeln. Es muß ein Zusammenhang bestehen.« »Das Komitee?« »Wenn Sie die Liquidierung der eigenen Mitglieder dazu zählen wollen.« »Eine Säuberungswelle?« »Alles deutet auf einen gemeinsamen Nenner dieser Leute hin. Und Sie selbst reden ja von einer Fraktionsbildung im Komitee. In solchen Fällen läuft es immer auf den entscheidenden Machtkampf hinaus. Und auf - Säuberungen . . . Die bisher Mächtigen fallen, die Neuen übernehmen. Wie Sie wissen, sind wir Russen in solchen Dingen nicht ganz unerfahren . . .« »Bringt uns das etwas?« »Das ist exakt die Frage, die ich mir vergangene Nacht pausenlos gestellt habe. Wenn es sich bei allen diesen Ermordeten um Mitglieder des Komitees gehandelt haben sollte, mußten sie sich in gewissen Abständen irgendwo getroffen haben.« »Und, haben sie? In Österreich, wie Locke meinte?« »In der Tat. Meine Computer arbeiten im Augenblick wie verrückt daran. Männer von deren Bedeutung können nicht einfach irgendwohin verschwinden. Es wird immer irgendwelche Hinweise und Spuren geben, aus denen man etwas
ableiten kann. Was weiß ich, gefahrene Kilometer mit gemieteten Wagen, Reisetickets, Ankunfts- und Abreisezeiten, tausend Einzelheiten, aus denen man sich ein Bild machen kann. Meine Leute haben mir versichert, daß die Computer schon bald etwas ausspucken werden.« »Das sollten sie besser«, nickte Dogan. Masvidal kam vom Frühstück zurück. Er inspizierte aufs genaueste die elektronischen Sicherungen, die er an der Tür angebracht hatte. Alle waren zerstört. Es war also jemand in seinem Zimmer gewesen. Oder noch darin. Masvidal besah sich die Tür näher. Es konnte erst vor kurzem gewesen sein. Sehr wahrscheinlich, daß der Eindringling noch im Zimmer war. Aber nur ein Amateur konnte alle seine Vorkehrungen übersehen oder einfach mißachtet haben. Er zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter. Jedenfalls starben Amateure auf die gleiche Weise wie Profis. Er schloß möglichst geräuschlos auf und sprang mit einem raschen Satz hinein, die Waffe im Anschlag. Er hoffte, den Eindringling zu überraschen. Aber er überraschte den Eindringling nicht. Es war überhaupt kein Eindringling da. Jedenfalls war keiner zu sehen. Dafür zu hören. »Fallen lassen«, sagte jemand hinter ihm. Masvidal gehorchte. »Nehmen Sie die Hände hoch und drehen Sie sich ganz langsam um.« Dogan stieß die Tür hinter sich mit dem Fuß zu, während sich Masvidal umdrehte und ihn ansah. Irgendwie hatte sich Dogan dessen Blick kälter vorgestellt. Tatsächlich aber verlieh »dem legendären Führer der SAS-Ultras lediglich seine schwarze Augenklappe ein einigermaßen finsteres Aussehen. Er sah müde aus. Wie ein ausgebrannter Boxer, der schon viel zuoft im Ring war. Sein Gesicht war von kleinen Narben übersät. Eine war ziemlich lang und verlief von der linken Wange bis zum Kinn. Sein verbliebenes Auge war eisblau und hatte etwas fast Hypnotisches an sich. »Ich kenne Sie«, sagte Masvidal, während er Dogan scharf musterte. »Sie waren doch heute früh in der Halle. Am Empfang. Wenn Sie gekommen sind, um mich zu töten, hätten Sie es lieber tun sollen, während ich Ihnen noch den
Rücken zuwandte.« »Deshalb bin ich nicht da. Sie müssen mich anhören.« »Ich bin ja wohl nicht in der Lage, das abzulehnen.« »Ich heiße Dogan. Und Sie können Ihre Hände herunternehmen. Aber langsam, bitte.« Masvidal nahm die Arme herunter und war etwas überrascht. »Der berühmte Grendel? Welche Ehre! Wer schickt Sie?« »Niemand. Schubsen Sie Ihre Kanone zu mir rüber.« Masvidal tat es widerspruchslos. »Also arbeiten Sie auf eigene Rechnung. Ich wußte nicht, daß ein so hoher Preis auf mich ausgesetzt ist.« »Nein, ich bin kein Kopfjäger. Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe brauche. Ich bin hier wegen San Sebastian.« Aus Masvidals Gesicht wich augenblicklich alle Farbe. Nur die lange Narbe lief rot an. »Sie wissen von . . .« »Ich komme eben von dort.« »Ich habe geschworen«, sagte Masvidal mit geballten Fäusten, »nicht zu ruhen, bis es gerächt ist.« »Vergessen Sie Ihre Rache. Sie haben keine Ahnung, womit Sie es da zu tun haben.« »Ein wenig wohl doch. Ich weiß von einer Gruppe, die sich das Komitee nennt. Ich weiß, daß es darauf aus ist, ganz Südamerika zu zerstören, weil wir uns zusammengetan haben, dieses Komitee zu vernichten.« »Seien Sie froh, daß Sie soviel geschafft haben. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um viel mehr. San Sebastian war der Schauplatz zweier großer Experimente: beschleunigtes Getreidewachstum und noch schnellere Vernichtung ganzer Ernten.« »Einer unserer Leute war an dem Tag des Massakers Augenzeuge davon. Er wußte nicht, was das alles bedeutete.« »Es bedeutete den Anfang vom Ende Amerikas als führende Wirtschaftsmacht der Welt. Indem es alle die Länder, für die Sie kämpfen, buchstäblich aufkaufte, hat das Komitee das Land erworben, das es benötigt, um den ganzen Weltmarkt zu erobern.« Masvidal sah völlig verblüfft aus. Es war offensichtlich, daß er bisher von diesem Ausmaß der ganzen Angelegenheit keine Ahnung gehabt hatte.
»Ich erfuhr von dem Massaker in San Sebastian«, fuhr Dogan fort, »weil auch ein amerikanischer Agent Augenzeuge davon war und einen Bericht übermittelte. Und dann wurde ein anderer Mann an seiner Stelle ausgeschickt, um die Spur, die er gefunden hatte, weiterzuverfolgen. London. Liechtenstein. Drücke ich mich deutlich genug aus?« »Sie meinen - der Mann, den wir zu beseitigen versuchten . . .! Ich hatte tatsächlich von Anfang an gewisse Vermutungen. Er benahm sich zu unbekümmert für einen Profi. Aber andererseits hat er sich die ganze Zeit sehr gut gehalten.« »Nur, weil das im Interesse der Leute war, die ihn tatsächlich an der Leine führten. Dieselben, die auch hinter der ganzen Affäre San Sebastians und hinter dem Aufkauf Ihrer Länder stehen. Locke war ihr Lockvogel.« »Und diese Leute wußten die ganze Zeit von uns und unserem Kampf gegen sie?« »Sie wußten zumindest, daß es eine organisierte Gruppe in Südamerika gab, die ihren Interessen entgegenstand. Und wieder war Locke als Lockvogel ausersehen, um herauszubekommen, um wen es sich dabei handelt. Da Sie verhältnismäßig neu auf der Bühne sind, und ganz unabhängig, hatte es noch keine Gelegenheit gegeben, Ihre Gruppe wie üblich zu unterwandern. Ich kann mir denken, daß man auf der Gegenseite ihretwegen ziemlich verärgert war. Mittlerweile weiß man dort mit Sicherheit, daß die Feinde die SAS sind.« Warum hat man dann noch nicht gegen uns losgelassen?« Weil man noch auf den richtigen Zeitpunkt wartet. Das Komitee ist kein Amateurverein, der blindlings draufloswütet.« Masvidals Gehirn arbeitete sichtlich fieberhaft. Er versuchte diese Flut von Neuigkeiten, die ihm Dogan erzählte, erst einmal zu verarbeiten. Sie beantworteten ihm viele Fragen der vergangenen Wochen und Monate. Aber ganz überzeugt war er trotzdem noch nicht. »Sie sagten, Sie brauchten meine Hilfe«, forschte er mißtrauisch. Dogan nickte. »Ich habe da einen — Partner, der kurz davor steht, den Ort häufiger Zusammenkünfte des Komitees, vielleicht dessen eigentlichen Sitz, herauszufinden. Ich habe vor, ihn zu stürmen. Dazu brauche ich Leute.« Masvidals Augen wurden eng. »Warum holen Sie sich die nicht von Ihrer eigenen CIA?« »Weil ganz überraschend jemand vom Komitee wollte, daß Locke beseitigt wird, und ich diesen Auftrag bekam. Ich habe aber beschlossen, diesen Auftrag nicht auszuführen. Das hat die falschen Leute auf die Palme gebracht. Meine eigenen Vorgesetzten mußten
mich wegen Befehlsverweigerung bestrafen. Und das Komitee hatte Sorge daß ich mich in Ihre Pläne mischte. Kurz gesagt, ich bin für vogelfrei erklärt und hinausgeworfen worden. Offiziell gibt es mich überhaupt nicht mehr.« »Wie günstig«, bemerkte Masvidal. »Ihre Geschichte klingt sehr überzeugend. Fast zu überzeugend, genau gesagt. Sie haben mich vorhin nicht getötet, Grendel. Vermutlich, weil ich dann die Identität und den Aufenthalt meiner Leute mit ins Grab genommen hätte. Guter Grund, sich eine plausible Geschichte auszudenken, um mich rüberzuziehen. Und dann stünden meine Leute im Tageslicht. Und im Regen obendrein. Sie brauchten nur noch den Sack zuzumachen.« »Ich habe keine Leute.« »Sagen Sie. Seit wann bitten CIA-Agenten Terroristen um Hilfe? Was Sie von mir verlangen, schließt das Risiko des Auffliegens der ganzen SASUltra-Bewegung ein, ist Ihnen das klar?« »Selbstverständlich ist mir das klar«, sagte Dogan. »Und an Ihrer Stelle würde ich mich vermutlich genauso verhalten. Es ist mir klar, daß Worte Sie nicht überzeugen können. Aber vielleicht dies hier.« Er drehte seine Waffe um und warf sie Masvidal zu, der sie überrascht auffing. Dann stieß er ihm mit dem Fuß auch noch seine eigene, die noch immer auf dem Boden lag, wieder hinüber. »So. Die Rollen sind vertauscht. Sie haben die Waffen, ich bin der Gefangene. Ich will nichts weiter, als daß Sie mir zuhören.« Masvidal hielt die Waffe, legte sie aber nicht auf Dogan an. »Also gut.« »Sie sind hier, um auf der Welthungerkonferenz darauf aufmerksam zu machen, was in Südafrika vor sich geht, richtig?« Masvidal antwortete nicht. »Vermutlich lassen Sie es durch Diplomaten Ihres Vertrauens vortragen. Sie verabreden sich mit ihnen und sagen ihnen alles, was Sie wissen, in der Hoffnung, daß die dann bereit sind, alle die entsetzlichen Ungerechtigkeiten der Konferenz vorzutragen. Um also das Komitee zu entlarven, müssen Sie zuerst sich selbst enttarnen. Genau darauf wartet das Komitee, um sofort loszuschlagen, sobald dies geschehen ist. Vermutlich durch genau dieselben Diplomaten, denen Sie glaubten, sich anvertrauen zu können. Es wird zuschlagen, ehe Sie noch eine Chance haben, sich einer noch drastischeren Form der Störung der Konferenz zu bedienen. Sein Arm reicht überall hin. So ist es organisiert.«
»Was Sie von mir verlangen, ist also, daß ich Ihnen mehr vertrauen soll als den Diplomaten, derer ich mich bedienen wollte«, schloß Masvidal. Dogan sagte: »Wozu, meinen Sie, habe ich Ihnen meine Waffe gegeben? Als reine Mutprobe? Ganz im Gegenteil, mein Lieber. Aus Angst! Ich bin den Leuten mittlerweile selbst einige Male nur mit Mühe und Not entkommen. Aber man kann nicht ewig nur Glück haben. Wenn ich unsere Feinde nicht zu fassen kriege, kriegen sie mich. So einfach ist das. Und um sie zu kriegen, brauche ich Sie, Masvidal, und Ihre Leute.« Eben sagten Sie, wir haben keine Chance gegen sie.« »Nicht mit ihren Waffen. Wir müssen die Waffen selbst wählen können.« »Und das hieße, ihr Hauptquartier zu stürmen? Meinen Sie das? Nein, nein. Himmelfahrtskommandos stehen nicht zur Debatte.« »Man wäre auf der Gegenseite nicht auf einen solchen Angriff gefaßt, schon gar nicht darauf vorbereitet. Wir müssen die Einzelheiten der geplanten Aktionen herausfinden, das ist das Entscheidende und der Zweck und Sinn des Unternehmens. Ich glaube zwar nicht, daß wir dort in Österreich noch die ganze Aktion stoppen können. Aber vermutlich können wir erfahren, wann und wo es losgehen soll. Und warum San Sebastian immer noch so wichtig ist.« »San Sebastian existiert nicht mehr.« »Aber vor zwei Tagen waren an diesem nicht mehr existierenden Ort noch schwerbewaffnete Posten. Und um in Österreich herauszufinden, warum das so ist, brauche ich Ihre Hilfe. Bis der Feind ganz besiegt ist, bedarf es vielleicht einer ganzen Armee.« Dogan machte eine Pause. »Ihrer Armee.« »Sie sind ja verrückt, Grendel.« »Ja, aber die anderen auch. Das gleicht es aus.« Masvidal kam auf Dogan zu und gab ihm seine Waffe wieder. Er sah jetzt entspannter aus, nachdenklicher, wenn auch noch immer entschlossen. »Ich bin jetzt schon jahrelang in diesem Krieg«, sagte er. »Schon länger als das Komitee, wahrscheinlich. Nämlich, so lange ich überhaupt denken kann. Schon als kleine Kinder haben wir Steine in die Fenster der kapitalistischen
Eindringlinge geworfen. Wenn uns bewaffnete Soldaten jagten, gingen wir mit Stöcken auf sie los. Solange ich denken kann, waren da Fremde, die unser Land wollten. Sie verweigern uns unsere eigene Identität und die Selbstbestimmung und sehen uns nur als ihre Diener an. Ich bin mit dem Haß auf diese Menschen und ihre Methoden groß geworden. Aber gefürchtet habe ich sie nie.« Er war wieder ziemlich bleich, während seine lange Narbe rot glühte. »Dieses Komitee aber macht mir wirklich Angst. Schon der Gedanke daran läßt mich schaudern. Es verweigert uns nicht nur unsere Identität und Selbstbestimmung, sondern unser schieres Leben. Es verkörpert alles, wogegen ich in all den Jahren gekämpft habe. Jahrelang habe ich gesehen, was es tut. Nie sah man mehr als einen flüchtigen Schatten, dem man nicht nachgehen konnte, um alles zu rächen. Wenn Sie imstande sind, Grendel, diesem flüchtigen Schatten Gestalt zu verleihen, können Sie auf meine Hilfe rechnen, soweit ich dazu in der Lage bin.« Dogan atmete auf. »Wie lange dauert es, bis Sie Ihre Leute mobilisieren können?« »Für einen Ausflug nach Österreich eine Stunde. Da habe ich hier in Genf so meine Möglichkeiten.« Dogan war bereits auf dem Weg zum Telefon. »Dann wollen wir hoffen«, sagte er, »daß wir auch das Ziel finden.« Er rief das Hotel Du Rhone an und ließ sich mit Waslow verbinden. Er hoffte inständig, daß dessen Computer inzwischen etwas zutage gefördert hätten. »Nun?« fragte Waslow. »Wie war es? Hat Masvidal Sie noch nicht ins Jenseits befördert?« »Wir sind zu einer Einigung gekommen.« »Das trifft sich gut, wie ich Ihnen mittlerweile versichern kann.« »Sie haben es?« fragte Grendel atemlos. »Schloß Kreuzenstein«, sagte Waslow. »Hatten Sie je Zweifel daran, daß ich es finden würde?« Als Locke erwachte, hatte Nikki bereits geduscht und sich angezogen. »Wir müssen los«, drängte sie. »Es ist weit bis Österreich.« Locke reckte und streckte sich noch. »Haben Sie schon alles arrangiert?« Sie nickte. »Ich habe einen direkten Charterflug gebucht. Voll ns zum letzten Platz. Das macht es uns leichter, in der Menge unterzutauchen.« »Und dann?«
»Von Wien aus fahren wir mit dem Auto bis zum Schloß. Dort werden Sie über alles aufgeklärt.« Locke bestand nicht auf weitere Details. Sollte Nikki planen. Er war es leid, ständig Entscheidungen treffen zu müssen, zumal ihm diese bisher wenig eingebracht hatten. Er befand sich im Augenblick in ihrer Welt, in der sie sich auskannte und die Gesetze kannte, die dort herrschten. Im Halbdämmer des Zimmers, dessen Vorhänge noch zugezogen waren, kam sie ihm altbekannt und vertraut vor. Er wußte genau, wie sie aussah, obwohl er sie doch nicht kannte. Der Augenblick war vorüber, es war Zeit, sich fertig zu machen. Sie frühstückten in Eile und fuhren den langen Weg bis nach Heathrow. Sie kamen mitten im zweiten Stoßverkehr des Vormittags an. Ihr Flug war übcrbucht und hatte Verspätung. Der Flugsteig war viel zu klein für die drängelnde Menge, die auf das Einsteigen wartete. Locke war etwas nervös geworden, als ihm einfiel, daß er keinen Paß hatte. Doch Nikki zog einen aus ihrer Tasche, mit fremdem Namen, aber mit seinem Bild. Er fragte gar nicht erst, wie sie dazu gekommen sei. Was spielte es für eine Rolle, das zu wissen oder nicht . . . Sie bekamen die letzten beiden Sitze zugewiesen, mußten aber getrennt sitzen; er ganz vorne, sie ganz hinten im Flugzeug. Das hatte den Vorteil, daß Nikki sämtliche Passagiere vor sich hatte und beobachten konnte, ob jemand besonderes Interesse an ihnen zeigte. Chris Lockes Nachbar war ein älterer Mann, der einen grünen, flachen Filzhut trug und während des ganzen Fluges Kreuzworträtsel löste. Er war dankbar dafür. Nach Unterhaltung stand ihm der Sinn wirklich nicht. Das Flugzeug landete in Wien mit mehr als einer Stunde Verspätung. Locke stand auf, lächelte seinem Nachbarn schwach zum Abschied zu und verließ nach ihm das Flugzeug. Es wäre zu auffallend gewesen, auf Nikki zu warten, da sie zu den letzten Passagieren gehörte, die das Flugzeug verließen. Vorsicht war nach wie vor geboten. Nur weil sie unbehelligt aus London abgeflogen waren, mußte das noch nicht bedeuten, daß Mandala sie nicht hier in Wien erwartete. Auf dem Weg zur Ankunftshalle ging sie knapp lächelnd an ihm vorbei wie eine Fremde. Er verstand und blieb etwas hinter ihr zurück. Er hielt sich bei der Gepäckausgabe und bei der? Kontrolle stets in Sichtkontakt zu ihr und schloß erst auf dem Weg zu einem Parkplatz zu ihr auf.
»Sie machen sich«, sagte Nikki. Sie ging voraus zu einem dunkelbraunem Mercedes, den sie erst sorgfältig inspizierte, ehe sie aufschloß und einstieg. »Wie weit ist es bis zum Schloß?« fragte er. »Zwanzig Minuten«, sagte sie. »Das ist weit genug.« Bei der Einfahrt in den halbkreisförmigen Platz vor Schloß Kreuzenstein spannten sich Nikkis Hände plötzlich um das Sie sagte atemlos: »Die Wächter! Wo sind die Wächter?« »Na, vielleicht sind sie . . .« Aber das Knirschen des Kieses unter den Reifen verschluckte den Rest von Lockes Worten, als Nikki auf die Bremse trat. Sie sprang heraus und lief die Granittreppe hinauf. Locke versuchte, so gut es ging, mit ihr Schritt zu halten. Er hatte das Gefühl, fremd und unwillkommen zu sein. Die Türen flogen auf, ehe Nikki noch dort angekommen war. »Was ist los?« fragte sie den Diener, der in der Tür stand. »Etwas Schlimmes, Fräulein, etwas sehr Schlimmes«, sagte der Mann. »Madame wartet auf Sie. Sie hat es abgelehnt, daß der Arzt ihr etwas zum Einschlafen gibt, bevor Sie da sind.« Nikki lief bereits eilig die breite, große teppichbelegte Haupttreppe im Haus hinauf. Eine dramatische Spannung lag fast spürbar hier in diesem alten Gemäuer in der Luft. Im zweiten Obergeschoß lief Nikki einen langen Korridor entlang und rannte in einen großen Raum, der ein Schlafzimmer zu sein schien. Sie murmelte vor sich hin, während sie zu dem Bett eilte, in dem eine alte Frau lag, mehrere Kissen in den Rücken gestützt, ein Arzt horchte sie gerade mit dem Stethoskop ab. »Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit«, sagte der Arzt sanft. »Ist er da?« fragte die alte Frau Nikki, während sie suchend nach ihrer Hand tastete. Locke kam näher und sah das todesbleiche Gesicht und den leeren Blick der alten Frau. Offensichtlich hatte sie ihn erwartet. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Eine schreckliche Ahnung durchzuckte ihn, er wußte nicht, warum. Sein Blick fiel auf die im Bett liegende alte Dame, während er wie durch einen Nebel Nikkis Stimme hörte: »Sie ist deine Mutter.« Locke wurde schwindlig. Er war keiner Bewegung fähig und bekam kaum noch Luft. Er zitterte am ganzen Leib. Er hatte einen Augenblick lang das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Er starrte sie an.
»Komm näher«, forderte ihn die alte Frau auf. »Sie wissen . . . wer ich bin?« Es gelang ihr ein schwaches Nicken, aber bereits dies fiel ihr sichtlich schwer. »Und jetzt weißt du auch, wer . . . ich bin . . . oder war.« Locke war nicht imstande, irgend etwas zu tun. Er stand einfach nur da. »Nun trödle nicht herum und komm endlich näher«, kommandierte die alte Frau mit schwacher Stimme. »Ich kann nicht mehr so laut reden.« Irgendwie setzten sich seine Füße in Bewegung, er trat etwas vor, blieb aber knapp außerhalb der Reichweite der alten Frau stehen. Er sah, daß sie am ganzen Leib verbunden und bandagiert war. Sie sah alt und hinfällig aus. Welch ein Kontrast zu dem Bild von seiner jungen lebenssprühenden Mutter, wie sie ihm zuweilen in seinen Alpträumen erschienen war. »Ich habe nur noch wenig Zeit, Chris«, murmelte die alk Frau. Ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen. »Uni keine Zeit mehr für Erklärungen und Entschuldigungen. Di mußt eine Menge Dinge wissen. Nichts davon ist persönlicher Art. Die Vergangenheit muß ruhen, wenn es noch für irgend jemand eine Zukunft geben soll.« Er wollte etwas sagen. Aber er fand keine Worte. »Es begann alles vor vielen Jahren«, sagte die alte Frau mit brüchiger, schwindender Stimme und in die Ferne schweifenden Augen. »Wenn ich es noch einmal tun könnte, würde ich vieles anders machen. Alles vielleicht sogar. Ich habe deinen Vater wirklich geliebt. Aber es waren so ganz andere Zeiten damals. Wir hatten alle unsere Pflichten. Und diese Pflicht stand für mich an erster Stelle. Er hat das verstanden.« »Nein, das hat er nicht!« War das seine Stimme? Hatte er das gesagt, war es wirklich aus seinem Mund gekommen? »Es war nicht leicht, ihn und dich zu verlassen. Und es war fast noch schwerer, danach niemals wieder den Kontakt zu dir aufzunehmen, nachdem ich entkommen war.« »Sie haben dich in dem Bauernhaus aufgespürt.« »Dort gab es einen Eluchttunnel, den sie nie entdeckt haben, nach war der Krieg für mich zu Ende. Als er ganz vorbei war, habe
ich mich um das Zusammentragen von Geldmitteln gekümmert. Jahre später, als die Zeit dafür gekommen war, wurde dieses Geld für die Gründung des Komitees benützt.« »Das du gegründet hast«, sagte Locke. Und in all den Jahren auch allein führte.« Chris Locke sah auf seine Mutter hinab. Er wollte Bitterkeit und Haß fühlen, Trauer, Verwirrung, selbst Mitgefühl. Aber er fühIte gar nichts. Er stand wie angewurzelt vor ihr und fühlte sich einfach überfordert. Es war zuviel. Zu unerwartet. Wir haben nach Auswegen gesucht«, sagte die alte Dame, die sich Audra St. Clair nannte. »Wir haben von Anfang an nach einem Weg gesucht, wie man an die Macht kommen kann, ohne sie militärisch erringen zu müssen. Nämlich wirtschaftlich. Einige Male waren wir schon ziemlich nahe dran. Die Ölkrise, die Welle des internationalen Terrorismus, die überall Regierungen aus den Angeln hob. Aber erst unsere letzte Operation brachte wirklich die Chance, dieses Ziel zu erreichen.« »Tantalus«, murmelte Locke. Die alte Frau nickte schwach. »Unsere Waffe wurde die Währung. Wir konnten Amerikas Ernten vernichten und in den Genuß der Früchte der Folgen davon kommen — Amerikas zugriff entzogen.« »Und dazu hast du mich benutzt!« sagte er vorwurfsvoll. »Von Anfang an!« »Die Risiken für dich waren gering.« Die sterbenden Augen der alten Frau suchten Nikki, »Nikki war immer zur Stelle und hielt ihre schützende Hand über dich. Sie, mein Kind, entstammt einer kurzen Liebesaffäre vor vielen Jahren. Ich war so dankbar dafür, noch einmal ein Kind haben zu können. Dich aufgeben zu müssen, hatte eine große Leere in meinem Leben hinterlassen.« »Dann ist sie also meine . . .« ». . . deine Halbschwester, richtig.« Sie rang nach Atem. »Als wir vor einigen Wochen von unserem Mann in Washington erfuhren, daß man dich in diese Sache verwickeln würde, haben wir beschlossen, dich zu — benutzen, ja. Aber ich habe Nikki den Auftrag gegeben, auf dich aufzupassen. Auf diese Weise brauchte ich keine Sekunde um dein Leben zu fürchten. Nikki ist hervorragend auf ihrem Gebiet. Ich habe dafür gesorgt, daß sie die bestmögliche Ausbildung erhielt.«
»Du hast eine Killerin aus ihr machen lassen.« »Man tut immer das, was zum Überleben notwendig und wichtig ist.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Du möchtest gerne, daß ich dir zustimme, das alles akzeptiere. Aber das werde ich nicht. Ich habe in diesen letzten Wochen zuviel gesehen und zuviel mitgemacht. Meinem Sohn, deinem, Enkel, wurde ein Finger abgeschnitten, und ich konnte nicht einmal lange genug bei ihm bleiben, als er diesem Alptraum entronnen war, um ihn zu trösten. Nicht, daß ich gewußt hätte, was ich ihm hätte sagen können. Mir scheinen die Erklärungen nicht so leicht zu fallen wie euch allen.« Die Augen der alten Frau wurden feucht. »Das war Mandalas Werk«, sagte sie leise, »nicht meines.« »Und das auch!« Er zeigte ihr seine Hand. Das Gesicht der Sterbenden spannte sich an. »Mich seiner Dienste zu bedienen, war der einzige Fehler, den ich begangen habe. Aber er war der Fachmann auf einem Gebiet, das uns allen fremd war. Wir hatten gehofft, mit seiner Hilfe direkte Auseinandersetzungen mit Behörden und Regierungen vermeiden zu können. Es war unser Schutzschild. Es schien eine vernünftige Strategie zu sein.« »Weil er die Dreck- und Blutarbeit für dich erledigte, damit du dir die Hände nicht selbst schmutzig machen mußtest«, sagte Chris kalt. Seine Empfindungen verwirrten ihn. Es war nicht mehr möglich, die alte Frau wie eine Fremde zusehen, obwohl sie genau das für ihn war. Eine seltsame regung schnürte ihm fast die Kehle zu. »Nein, du verstehst nicht«, sagte sie. »So war das nie beabsichtigt, Mandala hat einfach seine Befugnisse überschritten. Ich hätte dem schon viel früher ein Ende machen müssen, ich hätte voraussehen müssen, was nach dem Massaker kam.« »San Sebastian« »Der Schlüssel zu allem. Aber das sah ich zu der Zeit nicht so klar. Er hat eine ganze Stadt ausgerottet und dabei völlig eigenmächtig gehandelt. Er liebte den Tod und das Töten. Wir wußten das, ließen ihn aber gewähren, weil wir ihn brauchten, er da war noch etwas anderes im Spiel, das er verbarg. Er hat mehr getan als Tantalus nur sabotiert. Er hat das Projekt für seine eigenen Ziele abgeändert. Es war uns außer Kontrolle geraten. Wir hatten ihm selbst den Strick in die
Hand gegeben, mit dem er uns hängen konnte.« »Und mein Land.« »Nicht nur die USA«, sagte sie, und eine letzte Kraft schien in sie zurückzukehren. »Er ist in diesem Augenblick auf dem wege etwas noch Entsetzlicheres anzurichten. Nikki und du, ihr seid die beiden einzigen, die ihn davon abhalten können.« »Wovon?« »Du mußt einiges mehr über Tantalus wissen, um das zu verstehen. Jahrelange aufwendige und mühsame Forschungen haben uns vor einigen Monaten einen Pilz entdecken lassen, der Getreidefelder in verblüffend kurzer Zeit zu zerstören vermag. Ein Toxin, das dieser Pilz produziert, tötet das Getreide nahezu augenblicklich ab. Es wird sowohl durch die Luft als auch im Boden weiter übertragen. Er kann sich in ungeheuer kurzer Zeit über die ganze Erde verbreiten. Bei entsprechenden Windverhältnissen kann innerhalb einer Woche die Ernte in den gesamten USA und in Kanada vernichtet werden. »O mein Gott!« »Nichts kann diesen Fungus mehr stoppen, wenn er einmal ausgesät ist. Er ist unzerstörbar. Ein perfekter Organismus. Er regeneriert und vermehrt sich in atemraubendem Tempo. Wir haben ihn im Vakuum gezogen. Er hat Eigenschaften, die entsetzlich sind. Die einzige Möglichkeit, ihn zu zerstören, wenn die Sporen einmal ausgesetzt sind, ist, ihm die Nahrung zu entziehen - etwa hundert Quadratmeilen für jede Unze der Pilzsporen, die ausgestreut wird.« »Und das ist die Erklärung dafür, warum San Sebastian nur noch als verbrannte Erde übrigbleiben durfte.« »Ja. Und nun rechne es dir aus. Der Nahrungsboden für nur eine einzige Unze. Aber es stehen nicht weniger als tausend Kanister für ganz Nordamerika bereit. Jeder mit hundertzwanzig Unzen des Fungus in Gasform. Um diese Fungusmenge auszuhungern, müßte das ganze Land niedergebrannt werden.« »Ganz Nordamerika . . .« murmelte Locke. »Wie soll das vor sich gehen?« »Durch Düngerflugzeuge. Im Zentrum des Kontinents. Sie starten an einem Ort in Texas namens Keysar Fiats. Als Stafette quer über das ganze Land. Jedes einzelne Flugzeug überfliegt 100 Meilen, landet dann, und übergibt den Rest seiner
Kanister dem nächsten Flugzeug. Jeder Wechel nimmt nicht vielmehr als eine Stunde in Anspruch. In weniger als einem Tag wird die ganze Mitte des Kontinents verseucht sein: der Brotkorb der Nation, der Korngürtel des Landes, wie man sie nennt.« »Und von dort aus wird sich der Fungus mit den Wetterströmungen nach Westen und Osten über das ganze Land fressen . . .« Sie nickte schwach. »Keysar Fiats ist also der entscheidende Ort. Wenn wir Tantalus dort stoppen können, können wir das ganze Unternehmen aufhalten.« Die alte Frau atmete schwer. Ihre Kraft schwand zusehends. Sie krallte sich in die Bettlaken, als wollte sie sich mit Gewalt am Leben festhalten, sich nicht vom Tod mitnehmen lassen. Der Arzt beugte sich noch einmal über sie und legte ihr sein Stethoskop auf die Brust. Sie stieß ihn von sich. »Lassen Sie mich«, konnte sie hervorstammeln. Keuchend sprach sie weiter. »Unser Plan sah lediglich die Zerstörung der Ernten in den USA und in Kanada vor. Aber Mandala ist das nicht genug. Er hat die Aktion erweitert. Am Montag will er den Fungus auch in Südamerika aussetzen.« »Aber dort gehört das Land doch dem Komitee!« »Mandala ist kein Mitglied des Komitees. Wir sind eine zivilisierte Vereinigung. Unser Plan bestand zwar darin, mit Hilfe genetischer Manipulationen den Platz auf dem Weltmarkt zu besetzen, den Nordamerika durch Verlust seiner gesamten Ernten verlieren würde. Aber die Welt sollte danach durchaus weiterexistieren. Lediglich die beiden Supermächte Sowjetunion und USA wären unsere direkten Feinde geworden.« Sie rang schwer nach Atem, ehe sie weitersprach. »In Amerika wäre das Chaos ausgebrochen, aber wir hätten es beseitigt, gleichzeitig die Führungsposition auf der Welt übernommen und eine neue Weltordnung etabliert. Das alles sollte ja nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer viel umfassenderen Neuordnung der Welt sein.« Sie kämpfte immer heftiger gegen den nahenden Tod an. »Wenn aber auch in Südamerika das Land zerstört wird, entfällt die Voraussetzung für unsere Neuordnung. Das Ergebnis wird eine gewaltige Hungersnot auf der ganzen Welt sein. Wirtschaftliches Chaos und Unruhen werden, ganz im Gegensatz zu dem, was beabsichtigt war, auf die ganze Erde übergreifen. Es steht bereits auf
des Messers Schneide. Mandala will seine Alleinherrschaft — selbst um den Preis, von Tantalus den ganzen Globus verseuchen zu lassen.« »Und die ganze Erde zu zerstören«, stammelte Locke in blankem Entsetzen. »Noch ist Zeit«, sagte die alte Frau mit letzter Kraft. »Wenn Nordamerika noch gerettet werden kann, bleibt Hoffnung. Mandalas Flugzeugflotte in Keysar Fiats ist gewiß gut geschützt, aber doch verwundbar, wenn der Angriff geschickt vorbereitet wird.« Sie griff nach Lockes Arm. Er erstarrte, entzog sich ihr aber nicht. »Du und Nikki . . .« Es schien zu Ende zu gehen mit ihr, sie röchelte fast nur noch. » . . . zusammen . . . dorthin gehen . . . Keysar Fiats in Texas . . . die Flugzeuge finden . . . zerstören . . . bevor . . . Kanister geöffnet . . . einzige sichere Mittel, Fungus abzutöten . . . inaktiv in den Kanist . . . Flugzeuge . . . verbrennen . . . sprengen . . .« »Wir könnten uns an die amerikanische Regierung um Hilfe wenden.« »Nein!« rief sie. Sie bäumte sich noch einmal auf. Ihre Finger verkrampften sich in seinen Arm. »Auf keinen Fall! Mandalas Leute . . . überall . . . Regierung . . . zu vertraulich . . . Offizielle Wege . . . zu zeitraubend . . . Könnten direkt seine Leute . . . zu riskant . . . keine Zeit.« Ihr Atem rasselte. Der Arzt versuchte Locke und Nikki aus dem Zimmer zu drängen. »Nein«, wehrte sie ab, und ihre Stimme war kaum noch hörbar. »Noch nicht.« Sie wandte sich erneut an Locke. »Mandala ist . . . gefährlich . . . gehe ihm um jeden Preis . . . aus dem Weg . . . und seinem . . . Chines . . .« Sie war jetzt nur noch zeitweise bei Bewußtsein, lag in den letzten Zügen. »Kugeln . . . können ihn . . . nicht tot . . .« Locke lief ein Schauer über den Rücken. »Er hat meine Hand bereits kaputtgemacht. Ich habe sechsmal auf ihn geschossen. Sechsmal! Und er taumelte kaum!« »Das hat aber nichts mit Zauberei zu tun, sondern mit Weltraumstahl!« kam in diesem Moment eine Stimme von der Tür. Locke fuhr herum und erblickte Dogan. »Ross Dogan!« »Schön, Sie zu sehen, Chris Locke. Und eine ziemliche Überraschung.«
Audra St. Clairs Augen kamen noch einmal ins Leben zurück. »Grendel? Hier? Er lebt?« Dogan kam näher. »Ja, Madame St. Clair, ich bin hier. Und ich bin überaus lebendig.« Sie blickte ihren Sohn an. »Erzähle ihm alles, was ich dir gesagt habe. Er weiß, was getan werden muß. Er weiß . . . wie Mandala . . . das Handwerk . . .« Ihre Stimme versagte, sie fiel zur Seite. Der Arzt eilte zu ihr, fühlte ihr den Puls und hob ihr Augenlid. »Sie lebt noch«, sagte er ernst. Aber es wird nicht mehr lange dauern.« Locke sah zu Nikki hinüber und bemerkte zum ersten Mal die Tränen in ihren Augen. Sie hielt zärtlich die Hand ihrer Mutter. So viele Antworten waren hier gegeben worden. So vieles hatte sich aufgeklärt! Nikki war seine Halbschwester! Kein Wunder, daß sie ihm so bekannt und so vertraut vorkam. Kein Wunder . . . Dogans Hand an seiner Schulter brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Kommen Sie, gehen wir nach unten. Wir haben viel zu besprechen.« Locke wandte sich zum Gehen, um Dogan zu folgen. Sofort ließ Nikki die Hand ihrer Mutter los. »Wolltest du nicht . . . bei ihr bleiben?« fragte er. »Du hast gehört, was sie gesagt hat. Ich soll nicht von deiner Seite weichen«, Sie wandte sich Dogan zu. »Und seiner.« »Mr. Dogan, dies hier ist mein Schutzengel«, sagte Locke, » . . . und meine Schwester.« Auf einmal fiel es Dogan wie Schuppen von den Augen. »Die alte Dame ist also Ihre Mutter?« fragte er leise. Locke nickte nur. Als sie nach unten kamen, gesellte sich ein großer Mann mit einer Augenklappe zu ihnen. Außerdem stand ein Trupp bewaffneter Männer in einem großen Halbkreis vor dem Schloß. »Das hier ist Masvidal«, stellte Dogan vor. »Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, und seine — Kampfkraft zur Verfügung zu stellen.« »Es müssen seine Leute gewesen sein, vor denen ich dich in London beschützte«, erklärte Nikki. »Dieselben, die dir auch die alte Landstreicherin nach Liechtenstein nachschickten.«
Ehe Locke etwas sagen konnte, mischte sich Dogan ein. »Das ist alles Schnee von gestern«, sagte er, dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir stehen jetzt alle auf der gleichen Seite. Nur so können wir gewinnen. Erst möchte ich alles hören, was Ihnen Audra St. Clair gesagt hat.« Als er alles gehört hatte, fielen ihm die Worte der Frau in der Hütte in San Sebastian wieder ein. Sie hatte den Auftrag gehabt, sich dort für die nächste Phase von Mandalas Plan bereit zu halten. Er sagte: »Mandala geht nach San Sebstian zurück!« »Zusammen mit seinem unverwundbaren chinesischen Monster«, vermutete Locke. »Was haben Sie da vorhin von Weltraumstahl gesagt?« »Die Weltraumindustrie hat jahrelang an einer möglichst dünnen und leichten, aber undurchdringlichen Legierung experimentiert, die den Körperformen eines Menschen leicht anpaßbar ist und ihn gegen jeden Schuß — oder Meteoritentreffer - schützt, es sei denn, er würde direkt am Kopf oder im Genick getroffen. Offensichtlich hat dieser Shang sich eine solche Schutzschicht als Unterwäsche zugelegt.« Dogan machte eine Handbewegung. »Aber nicht dieser Gorilla ist unser Problem, sondern Mandala selbst. Wir wollen uns wieder auf ihn konzentrieren.« Sie holten sich eine Karte von Texas herbei und begannen sie zu studieren. Keysar Fiats war eine erstaunlich ausgedehnte Gemarkung. »Lieber Gott«, stöhnte Locke, »das ist ja fast so groß wie der ganze Staat Rhode Island.« Keysar Fiats befand sich im Norden von Texas, an die zweihundert Meilen östlich der Stadt Lubbock, in der Nähe der Bundesstraße 82. Die zentrale Orientierungslinie war der North Wkhita River. »Leicht zu finden werden diese Düngerflugzeuge nicht sein«, sagte Locke. »Sie kriegen Hilfe dabei«, sagte Dogan, »keine Bange.« Er wandte sich an Masvidal. »Wie viele Ihrer Leute können nach Texas?« »Wenn wir zwei Tage Zeit haben, hundertfünfundzwanzig bis hundertfünfzig.« »Und die Ausrüstung und die Waffen?« »Ich lasse sie über Mexiko hinaufbringen. Einige Hubschrauber zu bekommen, dürfte keine Schwierigkeiten bereiten. Mit ihnen wird auch die Suche nach den Flugzeugen leichter sein.« »Leichter ist gut«, sagte Locke. »Es ist die einzige Möglichkeit, sie überhaupt zu entdecken.«
»Sie werden eine Menge Sprengstoff benötigen«, sagte Dogan zu Masvidal, der lächelte: »Das ist sozusagen meine Spezialität.« »Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen?« wollte Locke von Dogan wissen, der ihm einen kurzen Bericht seiner Erlebnisse in San Sebastian gab und die Informationen von VVaslow mitteilte. »Die eigentlichen Planer des Komitees sind nun aus dem Spiel«, schloß er. »Wir können uns voll auf Mandala konzentrieren, er ist der einzige, der übrigblieb. Sie und Nikki, Chris, müssen jetzt auf dem schnellstmöglichen Weg nach Texas. Wir müssen noch einen Treffpunkt für euch mit Masvidals Leuten festlegen, in oder bei Keysar Fiats . . .« Er blickte Masvidal fragend an. Masvidal überlegte kurz. »Ich muß meine Leute auf meiner Basis in Spanien zusammenziehen und einen Transport organisieren. Sagen wir Samstagnachmittag.« »Die Aktion soll irgendwann am Sonntag beginnen«, wandte Locke ein. »Das läßt uns nicht viel Zeit.« »Wir brauchen auch nicht viel«, erklärte Masvidal. »Wir sind bereit. Ich warte seit Jahren auf den Augenblick, in dem ich losschlagen kann.« »Gut, dann ist soweit alles klar«, faßte Dogan zusammen. »Aber sicher, Boß«, sagte Locke mit einigem Sarkasmus, »außer, daß ich noch ganz gerne wüßte, was ich mit meinem Sohn machen soll?« »Ich weiß wirklich nicht, was das . . .« »Mandala wollte in Rom von mir einige Antworten. Er war der Ansicht, wenn er mir einen der Finger des Jungen zeigte, würde das seine Probleme lösen.« Locke setzte sich entschlossen aufrecht. »Nikki hat ihn vorläufig bei einem Arzt in Devon gelassen.« Dogan sah Nikki an. »Ich habe mit dem Mann schon früher zusammengearbeitet«, sagte Nikki. »Nur ich allein. Mandala weiß nicht einmal, daß es ihn gibt.« Dogan sagte zu Locke: »Dann ist Ihr Sohn dort für den Augenblick wohl am sichersten. Sobald dies hier erledigt ist, wird ihn die Regierung nach Hause fliegen. Und zwar in der Air Force One, glauben Sie mir.«
»Es sei denn, unsere Aktion geht schief. Dann wird ihm wohl niemand das Präsidentenflugzeug reservieren.« »Es wird nicht schiefgehen. Weil es nicht schiefgehen darf.« »Mandala gehört mir«, sagte Nikki plötzlich. »Ich habe nichts in Texas zu suchen.« »Sie meinen, Chris soll das alleine erledigen?« Sie zögerte. »Sie haben gesehen, was Mandala mit meiner Muttter gemacht hat. Dafür büßt er mir.« »Ich bin der einzige, der ihn findet«, erklärte Dogan. »Er wird nicht in Texas sein, das ist richtig. Dieser Teil der Operation läuft auch ohne ihn wie ein Uhrwerk ab. Er wird vielmehr in Südamerika sein, um die zweite Phase des Plans in die Wege zu leiten.« »In San Sebastian, meinen Sie?« Dogan nickte. »Das erklärt die Anwesenheit der Wachen dort, mit denen ich es zu tun bekam. Er hat die Stadt niederbrennen lassen, den Ort aber immer als Basis für seine weiteren Aktionen behalten.« Er sah Nikki an. »Ich habe dafür allerdings keine Beweise. Es ist nur meine Vermutung. Es hat keinen Sinn, wenn wir beide möglicherweise Zeit damit verschwenden, dort unten auf ihn zu warten, während er vielleicht gar nicht kommt. Sie sind ein Profi. Weiß Gott, Sie haben das bewiesen. Aber als Profi ist Ihr Platz bei Chris, überlassen Sie Mandala mir.« »Und was ist mit seinem King Kong?« »Der ist auch nicht unverwundbar.« »Was wollen Sie also machen, während wir in Texas sind?« wollte Locke wissen. »Ich werde in Washington versuchen, einigen Leuten Pfeffer in den Arsch zu pusten.« »Meine Mutter hat davor gewarnt. Es wäre ein Fehler, meinte sie«, sagte Nikki. »Für Sie vielleicht. Nicht für mich. Bis letzte Woche habe ich immerhin mein Gehalt aus Washington bekommen. Ich finde schon Leute, die mir zuhören. Ich weiß, auf welche Knöpfe man drücken muß.« Nikki sagte: »Rückversicherung, was?« Dogan antwortete nicht. »Was meint sie damit?« fragte Locke aber. Nikki antwortete selbst. »Ich meine damit, er versucht, eine Art Reserve auf die Beine zu stellen, falls wir es in Keysar Fiats
nicht schaffen.« »Oder einfach eine Unterstützung für Sie«, korrigierte Dogan. »Außerdem muß ja auch etwas in San Sebastian geschehen. Das ist alles einfach viel zu groß, als daß wir paar Leutchen es ganz allein erledigen könnten.« »Warum eigentlich sollen meine Leute nicht nach San Sebastian?« fragte Masvidal dazwischen. »Es ist immerhin mein Revier!« »Aber entscheidend, Masvidal, ist Keysar Fiats. In den USA spielt es sich ab. Darauf müssen wir unsere Kräfte konzentrieren. Außerdem müssen wir, wenn wir Mandala noch stoppen wollen, beide Erfolg haben. Hier wie dort.« Er nickte Locke und Nikki zu. »Ich werde wohl morgen nachmittag etwa zur gleichen Zeit, wenn ihr in Texas ankommt, in Washington sein. Und ich fange mit dem Klinkenputzen an, sobald ich aus dem Flugzeug raus bin.« »Hoffentlich macht jemand auf«, sagte Locke. »Jemand«, ergänzte Nikki, »der Ihnen nicht gleich eine Kugel in den Kopf jagt, sobald er Sie nur sieht.« Ehe Locke und Nikki nach Amerika flogen, gab ihnen Dogan noch eine Telefonnummer, die sie bei der Zwischenlandung in Paris anrufen sollten. Sie sollten auf den automatischen Anrufbeantworter eine Nachricht sprechen und einfach nur knapp in Stichworten erzählen, was sich ereignet hatte. Dogan benötigte Hilfe. Aber es war wichtig, bei der angegebenen Nummer von Paris aus anzurufen, nicht von außerhalb. Bis dahin würde der Anschluß erst installiert sein. Es mußte noch der Treffpunkt mit Masvidals Leuten in Texas am Samstagnachmittag gefunden werden. In einem Reiseführer fanden sie ein Motel an der Bundesstraße 83, das geeignet schien. Dort sollte Masvidal sich mit seinen Leuten zwischen drei Uhr und fünf Uhr nachmittags einfinden. Falls er sich verspäten sollte, sollte er einen Boten schicken. Während Nikki am Flughafen in Wien die Tickets besorgte und sich um das Gepäck kümmerte, beobachtete Locke unauffällig die Leute. Gab es irgend etwas auf der ganzen Welt, das gleichförmiger aussah als Flughäfen, wo der Ablauf sich in jedem Land nach dem gleichen Muster abspielte? Überall dieselbe Grundstruktur, überall dieselbe ungeduldige Hast der Leute, dasselbe Schleppen von Koffern zu den Abfertigungsschaltern . . .
Er beobachtete das kleine Cafe in einer Ecke. Dort saß ein älterer Mann mit spärlichem Haarwuchs an der Theke. Irgend etwas machte Locke stutzig. Ein seltsames Ziehen das Rückgrat hinauf. Ein Gefühl des Wiedererkennens . . . Hatte er den Mann schon einmal gesehen? Er konnte ihn nicht unterbringen. Er starrte und starrte, bis der Mann sich etwas herumdrehte und ihre Blicke sich begegnet wären, hätte Locke nicht rasch weggesehen. Nikki kam. Als er noch einmal zur Kaffeetheke hinüberblickte, war der Mann verschwunden. »Stimmt etwas nicht?« fragte Nikki. »Nein. Nur so ein Gefühl, als hätte ich eben jemanden gesehen, den ich kenne.« »Wir haben noch eine Dreiviertelstunde Zeit«, sagte sie und steckte die Bordkarten ein. »Gehen wir noch etwas trinken?« Sie gingen an die Bar, aber Locke bestellte nur ein Mineralwasser. Sie saßen auf zwei Barhockern ganz am Ende der Theke, von dort aus hatte man den Überblick über die ganze Halle. »Der Flug geht mit Zwischenlandung in Genf nach Paris«, sagte Nikki. »Wir sind am Freitag morgen da.« Er hörte nicht, was sie sagte. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Ein Kopf. Nein, ein Hut. Ein grüner flacher Filzhut. Der Mann von der Kaffeetheke war nur von hinten sichtbar. Er stand an einem Zeitschriftenkiosk. Der Hut erinnerte ihn daran, woher er ihn kannte. Der Mann vom Flug aus London, der so intensiv Kreuzworträtsel gelöst hatte! Er glitt von seinem Barhocker. »Chris!« rief ihm Nikki nach. Aber er war schon weg, drängte sich durch die Menge, auf den Kiosk zu. Was hatte der Mann schon wieder am Flughafen zu tun? Hatte er sie etwa die ganze Zeit beschattet? Aber als er am Kiosk ankam, war der Mann bereits wieder verschwunden. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er fuhr herum wie der Blitz. »Ruhe, Ruhe«, sagte Nikki. »Was ist los?« Er sagte es ihr. »Sicher?« fragte sie. »Nein. Vielleicht täusche ich mich auch.« »Stimmt alles?«
»Ja. Und vor allem der Hut. Der Mantel auch, glaube ich, aber darauf könnte ich nicht schwören.« »Hast du sein Gesicht gesehen?« »Ich war zu weit weg. Deswegen kam ich ja her.« »Vielleicht siehst du schon Gespenster?« »Möglich. Ich glaube trotzdem, er war es.« »Er kann auch harmlos sein, selbst wenn er es war. So ein großer Zufall wäre es auch wieder nicht, wenn er um die gleiche Zeit wieder abfliegt wie wir. Zum Schloß ist uns jedenfalls niemand gefolgt. Da bin ich sicher.« Sie gingen zur Bar zurück. »Du hättest auf dem Schloß bleiben können«, sagte er, als sie wieder saßen. »Bei deiner . . . Mutter.« »Sie ist auch deine Mutter.« »Nein, das war sie nie.« »Aber es ist dir doch ebenso unerträglich wie mir, was Mandala mit ihr gemacht hat, oder?« »Nein. Ich habe sie doch nie gekannt. Und was ich von ihr wußte, hat mir nie sehr gefallen. Sie war nichts als ein Spuk aus meiner Vergangenheit, den ich meine ganze Kindheit hindurch gefürchtet habe. Ich habe damals ja nicht nur sie verloren, sondern zugleich auch meinen Vater.« »Chris . . .« »Laß mich ruhig ausreden. Ich habe nie eine Mutter gehabt, Nikki. Und meinen Vater habe ich ebenfalls nie gekannt. So aufzuwachsen, ist nicht leicht, glaube mir das.« »Ja, ich verstehe es«, sagte sie. »Aber immerhin hat es doch geschmerzt, als dein Vater starb, oder?« »Ja, das hat geschmerzt. Und bei dir?« Er musterte sie eindringlich. »Es war deine Mutter, die wir sterbend auf dem Schloß zurückgelassen haben. Aber nachdem du einige Tränen vergossen hast, hast du doch auch nur einige Male tief Luft geholt und bist mit mir zum Flughafen abgefahren. Du weißt, daß du sie nie mehr sehen wirst, aber ich kann trotzdem keine Veränderung an dir oder an deinem Verhalten erkennen. Tut es dir nicht weh?« »Es tut sogar sehr weh. Aber je mehr Schmerzen man erleidet, um so mehr lernt man sie beherrschen und ertragen Ich habe gelernt, mit Kummer auf meine Weise fertig zu werden.« »Nämlich wie?«
»Das würdest du nicht hören wollen.« Sie versuchte zu gehen. Er hielt sie fest. »Doch, das möchte ich.« Ihr Blick wurde kalt. »Du läßt Schmerz für dich arbeiten. Das ist deine Art, damit fertig zu werden. Du drehst deinen Kummer in der Pfanne herum und fettest deine Pistolenkugeln damit ein. Dein ganzes Denken und Trachten ist nur noch beherrscht davon, dem der ihn verursachte, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und mit ihm abzurechnen. Und damit stillst du deinen Schmerz. Du träumst hundert Mal davon, deinen Peiniger auf alle möglichen Arten umzubringen, und wenn es dir dann am Ende gelungen ist, bist du auch deinen Kummer los.« Locke starrte sie sprachlos an. Wieder traf die Kälte ihrer Worte ihn bis ins Mark. Leute wie sie lebten problemlos mit dem Tod. Probleme hatten sie nur mit dem Leben. Zehn Minuten danach gingen sie durch die Paßkontrolle zu ihrem Flugsteig. Chris blieb an einer Theke stehen, nahm einen Drink und sah sich um. »Er folgt uns«, sagte er. »Wer?« Er faßte sie am Ellbogen. »Sieh dich nicht um. Der von vorhin. Mit dem grünen Hut. Glaubst du mir jetzt? Meinst du, er fliegt mit uns?« »Ich nehme eher an, er will sich davon überzeugen, daß wir tatsächlich fliegen, und wohin. Er weiß ja wohl inzwischen, daß wir nach Genf fliegen. Er braucht also nur seine Nachricht an Mandalas Leute weiterzugeben, damit sie uns erwarten.« Sie besprachen den Fall noch und beobachten, als sie im Flugzeug waren, die einsteigenden Passagiere. Der Mann mit dem grünen Hut war nicht darunter. Als die Maschine zum Start rollte, sah Locke ihn draußen hinter den Glasscheiben des Abfertigungsgebäudes stehen. Ganz eindeutig. Und offen. Etwas in seinem Blick war seltsam. »Er steht da draußen«, sagte er. »Er hat sich davon überzeugt, daß wir wirklich im Flugzeug sind«, meinte Nikki. Locke dachte nach. Etwas irritierte ihn. »Warum war ihm ausdrücklich daran gelegen, daß wir ihn sehen?« »Meinst du?«
»Völlig offen!« sagte er. »Er wollte, daß wir ihn sehen! Und er wollte sicher sein, Nikki, daß wir auch wirklich im Flugzeug sind!« Dann blieb ihm der Mund offen stehen. »Verstehst du nicht?« »Was?« »Sie haben eine Bombe ins Flugzeug praktiziert!« Nikki starrte ihn an. Sie wußte sofort, daß Locke rechthaben mußte. Mandala konnte sie nicht nach Genf entkommen lassen. Der Grünhut war ein Ablenkungsmanöver gewesen! Ablenkung von der Bombe. Vielleicht war es auch seine Aufgabe gewesen, den Zeitzünder einzustellen, nachdem feststand, daß sie an Bord gegangen waren . . . »Wir müssen etwas unternehmen«, murmelte Locke. »Nur keine Panik!« mahnte Nikki. »Es wird uns schon etwas einfallen. Ehe wir in der Luft sind, geht sie auf keinen Fall los. Vermutlich ohnehin erst hinter Zürich.« »Wir müssen das Flugzeug umkehren lassen!« »Das kostet zuviel Zeit. Es wird Schwierigkeiten geben, das zu erklären und durchzusetzen. Selbst wenn der Pilot tatsächlich umkehrt, ist, wenn wir zurückkommen, sofort klar, daß wir es wissen, und wir sind für Mandalas Leute nur erneut eine bequeme Zielscheibe. Außerdem wartet Keysar Fiats auf uns.« »Aber wir müssen etwas tun.« Nikki versuchte, ihn zu beruhigen. Sie dachte nach. »Es gibt natürlich eine Möglichkeit. Aber sie ist riskant.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Wir müssen warten, bis wir fast über der Schweiz sind. Nach zwanzig Minuten ungefähr.« »Und die Bombe? Wenn sie vorher losgeht?« »Das müssen wir riskieren. Nach Wien zurückfliegen, ist keine Möglichkeit.« »Also was?« »Wir entführen das Flugzeug.« Die Zeit verstrich quälend langsam. Locke wurde zunehmend nervöser. Nikki hatte sich zurückgelehnt und tat, als entspannt sie sich. Sie hatte zuvor in ihrer Handtasche gekramt und sich mit einer Arzt Puzzle beschäftigt. Ein Steckpuzzle aus Kunststoffteilen, das eine Pistolenattrappe ergab. Die Einzelteik konnten bei den elektronischen Einstiegskontrollen wede: unter dem Röntgenschirm noch bei der Überprüfung mit dem Metalldetektor auffallen. Die Stewardeß kam mit dem Getränkewagen. Darauf hatte Nikki gewartet. Der Wagen blockierte den Mittelgang. Jeder Passagier, der
den Helden hätte spielen wollen, hatte damit von vorneherein keine Chance, sich einzumischen. Sie sagte leise und so unauffällig wie möglich: »Für den Fall, daß Sicherheitsbeamte an Bord sind: falls Sie mich schnappen, gehe zu ihnen auf und sage, du hättest mich zuvor etwas von einer Bombe sagen hören, du hättest es jedoch für einen Scherz gehalten. Und im übrigen kennst du mich nicht. Du hast mich noch nie gesehen. Benimm dich normal, also aufgeregt wie die anderen.« Dann wandte sie sich der Stewardeß zu, die gerade fragte, welches Getränk sie wünsche. Sie sagte ganz ruhig: »Augenblick, bitte!« und stand auf. Im nächsten Augenblick hatte sie die Stewardeß von hinten an der Kehle und drückte ihr ihre »Pistole« an die Schläfe. »Sobald sich jemand rührt«, schrie sie ins Flugzeug, »ist sie tot.« Die Schreie und der Tumult, der nun entstand, drangen bis in die hinteren Reihen, wo man erst allmählich begriff, daß etwas geschehen war. Manche Leute duckten sich hinter den Vordersitzen. Andere starrten verständnislos. Niemand wagte etwas zu unternehmen. Eine zweite Stewardeß kam gelaufen. »Stehenbleiben!« befahl Nikki ihr. Die Stewardeß blieb auf der Stelle stehen. »Gehen Sie ins Cockpit«, sagte Nikki zu der zweiten Stewardeß, »und sagen Sie dem Kapitän, daß dies eine Flugzeugentführung ist. Er soll in Zürich landen.« Die Stewardeß entfernte sich eilig. Nikki rief den Passagieren zu: »Ich bin nicht allein! Freunde von mir sind im Flugzeug verteilt. Sie werden sich nur zu erkennen geben, wenn jemand Dummheiten macht. Dies ist eine Warnung!« Locke beobachtete Nikki. Es war erstaunlich, mit welcher ".outine sie vorging. Er zwang sich, in Ruhe nachzudenken. •Venn dieses Spiel hier klappte und sie sicher in Zürich Endeten, waren sie erst einmal Mandalas Beobachtung entron-~en; er konnte nicht auf allen Flughäfen der Welt Männer mit .•.inen Hüten postieren. Von Zürich aus war dann jede :ebige Route nach Amerika möglich. Geld spielte keine Rolle. Nikki hatte ihn mit ausreichenden Mitteln für alle Notfälle versorgt. Sie selbst hatte keine Angst vor der unvermeidlichen Inhaftierung. Sie sei, hatte sie ihm versichert, mit ähnlichen Situationen mehr als einmal fertiggeworden. Nach spätestens einigen Tagen werde sie wieder frei sein: »Kümmere dich nicht weiter um mich. Mach einfach allein weiter
wie verabredet.« Die Stimme des Piloten kam durch die Lautsprecher. Er teilte mit, daß das Flugzeug wegen einer gewaltsamen Entführung in Zürich landen werde; keiner der Passagiere sei jedoch in Gefahr. Es folgte eine problemlose Landung in Zürich. Nach dem Ausrollen kam der Kapitän mit erhobenen Händen zu Nikki und ihrer Geisel. »Was fordern Sie?« fragte er. Nikki nahm ihre angebliche Waffe von der Schläfe der Stewardeß und reichte sie ihm. »Hier. Sie ist nicht echt. Ich ergebe mich. Aber sehen Sie zu, daß die Passagiere auf schnellstem Weg aus der Maschine kommen. Es ist eine Bombe an Bord.« Locke war mit den anderen Passagieren ausgestiegen, ohne noch einen Blick mit Nikki zu wechseln. Er überlegte fieberhaft, wie er sich nun verhalten sollte. Paris kam nicht mehr in Frage. Dort erwarteten ihn mit Sicherheit Mandalas Leute. Er mußte sich eine weniger frequentierte Route einfallen lassen. Er ging an den TWA-Schalter und erkundigte sich. In eineinhalb Stunden, stellte sich heraus, ging ein Flug nach Madrid. Das war die Lösung. Er nahm die Maschine nach Madrid. Nach der Ankunft ging er in eine Telefonzelle und rief die Nummer in Paris an, die ihm Dogan gegeben hatte. Es klingelte einmal, dann meldete sich der automatische Anrufbeantworter. Er faßte sich sehr kurz mit seinem Bericht. Doch bereits seine beiden ersten Sätze hätten eigentlich genügt: »Nikki ist raus. Ich bin allein.«
Neunter Teil Washington und Keysar Fiats Sonntag nachmittag Es war Samstagnachmittag. Calvin Roy saß über van Dams Akten. CIA-Direktor Peter Kennally erschien unangemeldet in seinem Büro. »Oh«, sagte Roy, »wem oder was verdanke ich das Vergnügen, Major Pete?« Er sah zu Kennally hoch und nahm die Brille ab. Er rieb sich die müden Augen und strich sich über den kahlen Schädel. »Das Vergnügen hängt von Ihrer Stimmung ab, Cal«, sagte Kennally. »Ich würde gerne meinen Job behalten, auch wenn Sie als Minister in ihr Amt eingesetzt worden sind.« »Was ist? Gibt's einen Grund, warum ich mir einen neuen Mann für Ihren Job suchen sollte?« »Einen ja. Ist grade reingekommen.« Kennally beugte sich über Roys Schreibtisch, setzte sich aber nicht. »Einer unserer Agenten ist auf die schwarze Liste gesetzt worden. Einer von der Abteilung Sechs. Ein gewisser Dogan.« Roy legte theatralisch die Hände auf seine Ohren. »Solche Sachen darf ich gar nicht hören.« »Das hier sollten Sie aber lieber hören. Dieser Dogan war zur selben Zeit in Liechtenstein wie unser Locke. Und es scheint, daß sie sich hinterher in einem Hotel in Rom verabredet haben. L'nd danach ist er von der schwarzen Liste zum Abschluß freigegeben worden. Das heißt, es gibt jemanden, der auf meinen Fall will, daß Dogan hierherkommt.« "Woher wissen Sie das alles?« Kennally seufzte. »Weil einer unserer Agenten in Rom hinter ihm her war und dabei selbst umgekommen ist. Es handelte sich um eben das Hotel, aus dem unser Mann in Lockes Wohnung einen Anruf von ihm bekam. Ich habe in der Sache etwas nachgebohrt. Dieser Dogan war ursprünglich damit beauftragt, Locke zu beseitigen.« »Was? Wer zum Teufel hat das angeordnet?« »Die Bewährungseinheit.« »Van Dam?«
»Könnte von ihm ausgegangen sein. Aber direkt ging es über eine sehr viel niedrigere Ebene. Über den Gruppen-Commander, oder den lokalen Chef, irgend jemanden von denen.« »Verdammt«, knurrte Roy. »Das heißt, einer unserer Agenten bekommt den Auftrag, unseren eigenen Agenten Locke zu beseitigen, macht statt dessen gemeinsame Sache mit ihm, und dann wird auf ihn seinerseits ein Kollege angesetzt . . . Ist das so richtig?« Kennally nickte. »Ich habe ihn von der schwarzen Liste streichen lassen. Aber es dauert immer eine Weile, bis sich so etwas überall herumgesprochen hat.« »Das ist ein Scheißdreck«, knurrte Roy in seiner derben TexasAusdrucksweise. »Du gehst 'ne Kuh melken, und sie pißt dir auf den Kopf.« Kennally war Roys drastische Vergleiche gewöhnt. Er zuckte nur mit den Schultern. »Und genau das«, fuhr der designierte Außenminister fort, »wird dem ganzen Land passieren. Und ich hab' keine Ahnung, wo, wie und wann genau.« Er sah Kennally nachdenklich an. »Ihre Leute hatten also die Genehmigung, diesen Dogan jederzeit abzuknallen?« »Es gibt zweifellos ein paar, die das so interpretiert haben.« »Dann können wir nur hoffen, daß es die sind, die am schlechtesten zielen, Major Pete!« Dogan war noch immer wach, als am Sonntag morgen bereits die Sonne aufging. Er war weder hungrig noch durstig. Er lag einfach nur apathisch da und wartete darauf, daß das Telefon endlich läutete. Wenn nicht, war er praktisch hilflos. Er war auf einer langen und ermüdenden Route nach Washington gekommen. Er hatte vorsichtig sein müssen, um nicht erkannt und geschnappt zu werden. Er hatte mehrmals das Flugzeug gewechselt und kurze Eisenbahn- und Busfahrten dazwischengeschoben. Am schlimmsten hatte er es in Lissabon getroffen. Wegen Nebel hatte er sechs zermürbende Stunden dort warten müssen, ehe er, mit Hilfe von Schmiergeld, einen Platz in der ersten abgehenden Maschine bekam. Er war endlich spät am Samstagabend in Washington angekommen. Daß Locke nun wieder allein war, beunruhigte ihn kaum. Er würde auf jeden Fall inzwischen bei Masvidal eingetroffen sein,
und dort war er gut aufgehoben. Ihr Angriff auf Mandalas Flugzeugflotte in Keysar Fiats begann spätestens in einigen Stunden. Sobald Locke angekommen war, sollte Masvidal Waslow verständigen, der die Botschaft an ihn weitergeben wollte. So war es abgesprochen. Aber bis jetzt hatte noch niemand angerufen. Das zerrte an den Nerven. Er hatte den Rest des Abends und die halbe Nacht telefoniert. Alte Bekannte. Kontakte. Neue Kontakte. Jedes Gespräch mit Vorsicht über einige Ecken. Jeweils nur kurz, um etwaigen Fangschaltungen zu entgehen. Am Ende hatte er einige Termine auf seinem Notizzettel. Zuerst im Landwirtschaftsministerium. Dann in Brian Charneys Büro im Außenministerium. Er brauchte sowohl Verbündete wie Beweismittel für seine Strategie. Selbst wenn Masvidal die Zerstörung der Kanister in Keysar Fiats gelang. Wenn alles nach Plan verlief, konnte er ruhig nach San Sebastian fliegen und mit Mandala verhandeln, der dort, wie die alte Dame in dem Schloß in Österreich versichert hatte — und sie mußte es wissen -, seine sogenannte zweite Phase in Gang setzen wollte. Alles würde da enden, wo es angefangen hatte. Und er, Dogan, würde der sein, der es beendete. Das Telefon läutete. Es riß ihn hoch. Das konnte nur Waslow sein. Niemand sonst wußte, wo er war. Endlich. »Ja?« »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, lieber Freund«, sagte Waslow mit seiner üblichen sanften Stimme. »Aber es hat ein paar Komplikationen gegeben, und es hat seine Zeit gedauert, bis wir damit fertig wurden.« Dogan hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Was?« »Beispielsweise ist das Sanii-Werk in Liechtenstein in die Luft geflogen. Bombenattentat. Eine Menge Tote und Verletzte. Nur noch ein Trümmerhaufen ist übrig.« »Das paßt ins Bild. Mandala verwischt die Spuren des Komitees. Die Forschungsergebnisse sollen keinem anderen in die Hände fallen, damit seine Kreise nicht gestört werden.« »Das ist leider noch nicht alles. Die Bombenleger sind gefaßt worden. Die Polizei spricht von einem entscheidenden Schlag gegen den internationalen Terrorismus.« Dogan wußte, was nun kam, noch ehe Waslow es erzählte. »Unser Freund Masvidal und fünfzig seiner Leute sind in
Spanien verhaftet worden. Nach einem Feuergefecht, das viele Verluste auf beiden Seiten forderte. Dies kam eben mit der letzten AP-Meldung . . . Sind Sie noch da?« »Ja, ja. Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, das zu verdauen.« »Gut, dann rufe ich in einer halben Stunde noch einmal an.« Dogan legte auf. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Masvidal war gescheitert, er hatte es nicht nach Keysar Fiats geschafft. Locke war also nun auch dort völlig auf sich allein gestellt. Es mußte etwas geschehen. Nun hatte er keine Zeit mehr für Vorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen. Das spielte jetzt alles keine Rolle mehr. Er mußte einige eilige Telefonate führen. Seine verabredeten Termine mußten sofort stattfinden, da half nun nichts mehr. Eile war geboten. Und wenn er überall so lange klingeln lassen mußte, bis sich endlich doch jemand meldete; Sonntag oder nicht. Jetzt mußten auf dem schnellsten Wege die Marines nach Keysar Fiats, basta. Er hatte eben den Hörer abgehoben, als krachend die Tür aufflog und eine ganze Flut Männer hereinstürmte, bis an die Zähne bewaffnet, im Sturmanzug. Sein erster ganz automatischer Griff in Richtung Pistole erstarrte mitten in der Bewegung. Er sah sofort, wie sinnlos jeder Versuch in dieser Richtung war. Sie kamen auf ihn zu, Mündungen richteten sich auf ihn und verhießen ihm den Tod. Um sieben Uhr am Samstagabend hatte Locke im Ramrod Roadside Motel die Hoffnung aufgegeben, daß Masvidal mit seinen Leuten noch kommen werde. Eigentlich hätte er, wie vereinbart, auch schon um fünf Uhr aufgeben können, als bis dahin auch kein Bote mit der Nachricht von einer Verspätung eingetroffen war. Aber wenn er bis fünf gewartet hatte, konnte er genausogut auch noch länger warten. Er hatte ohnehin nichts anders zu tun. Und er hatte keine Ahnung, was er als nächstes tun sollte. Wider alle Hoffnung hatte er also weitergewartet. Vielleicht tauchte Masvidal doch noch auf. Er hatte keine Möglichkeit, Kontakt mit Dogan aufzunehmen. Nikki war ebenfalls außer Gefecht, jedenfalls für den entscheidenden — Augenblick. Und offenbar war auch Masvidal etwas dazwischengekommen . . . Den ganzen Tag über hatte es leicht genieselt. Jetzt, gegen sieben, als er auf sein Zimmer zurückging, begann es kräftiger zu regnen. Erst gegen Mitternacht ließ es wieder etwas nach.
Es war mühsam gewesen, bis hierher zu gelangen. Die Anwesenheit des Grünhuts in Wien hatte ihn immer daran gemahnt, vorsichtig zu sein. Jeder, der ihm begegnete, mochte ein potentieller Attentäter sein. Auf dem Flug zwischen Madrid und New York hatte er das halbleere Flugzeug Sitz für Sitz gemustert und alle Passagiere immer wieder genau beobachtet. Zweimal hatte er den Platz gewechselt, um nicht zu lange neben derselben Person zu sitzen. Die Ankunft in den Staaten brachte ihm schmerzlich seine Familie wieder in Erinnerung. Er konnte nur hoffen, daß der echte Colin Burgess mit seiner Versicherung recht gehabt hatte: daß die Regierung sich ihrer angenommen hatte, seit Greg gekidnappt worden war. Aber wer wußte besser als er, daß das Komitee jeden bekam, den es haben wollte? Wenn ihm jetzt in Key sar Fiats etwas zustieß, was würde dann aus seinen Angehörigen? Diese Gedanken peinigten ihn. Er mußte sie verdrängen. Er zwang sich, über Masvidal und die möglichen Gründe nachzudenken, die ihn am vereinbarten Erscheinen hier gehindert haben konnten. Einer spielte so wenig eine Rolle wie der andere. Entscheidend war allein die Tatsache, daß er nicht gekommen war, weder er, noch seine Leute. Es mußte also etwas geschehen sein. Das ließ genau zwei Möglichkeiten zu. Er konnte hier sitzen bleiben und sich nicht von der Stelle rühren, bis irgend etwas geschah. Oder er konnte aufstehen, losgehen und etwas tun. Keysar Fiats war ein ausgedehnter Ort. Aber was hatte er sonst schon zu tun. Er konnte sich in seinen Mietwagen setzen und herumfahren, durch jede Straße, die er sah. Er konnte Ausschau halten nach Düngeflugzeugen. Nach ganzen Geschwadern von ihnen, genau gesagt. Sie wurden zweifellos schwer bewacht. Und das mußte auffallen. Dabei hatte er keine Vorstellung davon, was er tatsächlich tun würde, fände er sie wirklich. Das war auch im Moment gar nicht die Frage. Er konnte auf jeden Fall erst einmal Ausschau halten. Es war ausgeruht, er hatte Zeit, und nichts anders zu tun. Er hatte vierzehn Stunden geschlafen, als er im Ramrod angekommen war. Der Tank des Wagens, den er in Dalla^ gemietet hatte, war voll bis obenhin. Er stand auf und ging zur Tür. Die Situation war im Grunde absurd. So absurd, daß er fast lächeln mußte. Wenn die Götter
selbst Tantalus zu seiner endlosen Qual verurteilt hatten, wie konnte er so vermessen sein, hier an eine Befreiung und Erlösung von seinen Leiden zu denken? Pop Keller saß in einer Ecke des Lonesome Hörne, Bar und Grill vor seinem zweiten Drink dieses noch jungen Tages, einen Special mit dem Geschmack gezuckerten Präriesandes. De Special gestern war ein Jack Daniels mit irgendwas drir gewesen, und das hatte ihm bedeutend besser geschmeckt Und dann vorgestern, da war . . . Er kratzte sich am Kopf. Er wußte nicht mehr, was im Special von vorgestern gewesen war. Schon beachtlich, wie das Gedächtnis nachließ, wenn man älter wurde . . . Er trank einen Schluck und war heilfroh über den dünnen Nebel, der draußen in der Luft hing. Dieser Nebel enthob ihn der Pflicht, sich wieder den ganzen Tag nach einem geeigneten Gelände für seine Flieger-Show Flying Devils umsehen zu müssen. Eigentlich hätten sie vertragsgemäß schon vor einer Woche anfangen sollen. Aber der Dauerregen hatte das verhindert und zudem stand das einzige Gelände, das einigermaßen in Frage gekommen war, nicht mehr zur Verfügung. Pop hatte der Mannschaft Ausgang gegeben. Sie sollten sich Texas ein wenig ansehen. Bevor sie alle hier herumhingen . . Er selbst hatte sich hier im Lonesome Hörn vergraben und die Specials eines jeden Tages durchzuprobieren begonnen. Das heute war der sechste. Oder schon der siebte? Was spielte das schon für eine Rolle. Sie schmeckten alle gleich, im Grunde genommen. Er wäre am liebsten den ganzen Tag vor seinem gezuckerten Präriesand sitzen geblieben. Aber die Jungs sollten mittags ins Lager zurückkommen. Die ewige Warterei hatte sie bereits alle kribbelig gemacht. Die Flying Devils waren einmal die beste Truppe der ganzen Branche gewesen. Sie zogen mit ihren alten Jagdflugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg über die Dörfer und veranstalteten SchauLuftkämpfe. Keine donnernden Jets, auch keine Uraltdoppeldecker mit gymnastiktreibenden Mädchen auf den Tragflächen. Nein, ganz reelle und waghalsige Luftkampfkriegsspiele. Ihre Flugzeuge hatten scharfe Munition in den Bord-MGs und echte Raketen unter den Tragflächen. Pop Keller pflegte persönlich den Höhepunkt der Show vorzuführen. Zielschießen auf dreihundertfünfzig Meter Entfernung. Er konnte eine Fliege vom Ast schießen. Damals jedenfalls, als seine Augen noch gut waren . . . Er hätte schon längst eine Brille gebraucht. Aber wie hätte das ausgesehen, unter der Fliegermütze! Bis er dann vor sieben Jahren
die Augen etwas zusammenzukneifen mußte, als er plötzlich etwas wegsackte und die Tragfläche seines Nebenmannes berührte. Jedenfalls hörte es sich wie ein Schaben an. Was es auch war, jedenfalls riß es dem anderen auf einmal die Tragfläche weg. Eine mäßige Zuschauerkulisse von 1200 Leuten sah ihn, wie einen Stein auf einen Acker fallen. Tot. Am Gefängnis war er damals so gerade noch vorbeigekommen. Aber nicht am Skandal, Die Versicherung machte ihm die Hölle heiß und ein Rattenschwanz von Prozessen . . . Es war so gut wie vorbei mit den Flying Devils. Seine besten Flieger gingen mitsamt ihren Maschinen zur Konkurrenz; zur Confederate Air Force oder zum Valiant Air Command. Nur noch die alten ausgedienten Knacker, die kein anderer mehr wollte, blieben bei ihm. Aber da Fliegen ihr ganzer Lebensinhalt war, flogen sie wenigstens überhaupt mit ihm. Und weil die meisten von ihnen Pensionen oder Renten hatten und eigentlich nur zu ihrem Vergnügen flogen, ohne daß sie darauf angewiesen waren, entlastete Pop Keller dies finanziell beträchtlich. So hatte er den Skandal und seine Folgen überstanden; selbst die Zeitgenossen, die fortan auf allen seinen Plakaten in seinem Namen das erste e mit einem i übermalten: Pop Killer. Irgendwie war es weitergegangen, und mit der Zeit hatte sich alles wieder normalisiert, und jüngere Flieger waren wieder dazugekommen, und die Flying Devils waren inzwischen wieder so gut wie irgendeine ihrer Konkurrenztruppen. Nur der alte Glanz des Namens war verschwunden . . . Die Zeit war irgendwie vorbei. Flugshows waren aus der Mode. Die Leute waren sie leid. In den letzten neun Monaten hatten sie gerade noch sechs Verträge gehabt. Nicht eine Vorstellung hatte tausend Zuschauer oder mehr. Die Ausgaben waren längst höher als die Einnahmen. Wieder ging es nur deshalb weiter, weil die Piloten nichts anders konnten und wollten als fliegen. Er hatte mittlerweile gerade noch sieben-unddreißig Maschinen, und es gab kaum noch einen Tag, an dem mehr als zwanzig davon aufsteigen konnten. In jeder Maschine waren so viele gebrauchte und wieder gebrauchte Ersatzteile, daß man nicht mehr wußte, welches in der wievielten Maschine war. Seine Mechaniker arbeiteten bei der Wartung bald nur noch mit Klebeband und Alleskleber. Er hatte ungefähr ein Dutzend Kredite abzuzahlen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann mußte er notgedrungen den ganzen Krempel an irgendwen losschlagen, der überhaupt noch etwas dafür bot. Alle seine schönen Jäger . . .! Er war verhältnismäßig früh in das Luftkriegsspielgeschäft
eingestiegen. Die meisten seiner Flugzeuge aus alten, ausgemusterten Armeebeständen hatte er in den fünfziger und sechziger Jahren gekauft, als sie für ein Butterbrot zu haben waren. Nicht zu vergleichen mit dem heutigen Nostalgiewert. Nur, mit ihrer Wertsteigerung waren auch die Versicherungsprämien in astronomische Höhen gestiegen. Dann war es überhaupt nur noch gegangen, weil er alle sechs Monate zwei oder drei Maschinen verkaufte, um die laufenden Kosten bezahlen zu können. Immer häufiger mußte er Piloten mit ihren eigenen Maschinen in die Show nehmen; gegen die laufenden Unterhalts- und Wartungskosten und die Versicherungsprämien ihrer Flugzeuge, weil sie sich diese ebenfalls nicht mehr leisten konnten. Dafür zogen sie mit und flogen umsonst. Die ganze Arbeit bestand nur noch aus Kompromissen, so daß er eine Gänsehaut bekam, wenn er nur daran dachte. Zeitweise waren in seiner Truppe mehr Ärzte, Sanitäter und Mechaniker als Piloten. Und es war immer weiter bergab gegangen. Jetzt hatte er gerade noch den harten Kern seiner alten Knaben um sich, die selbst eine Woche Regen und die Absage der Show hier in Keysar Fiats aushielten. Weil sie gar nicht gewußt hätten, was sie sonst tun sollten. Pop besaß immerhin nach wie vor die meisten Flugzeuge der Flugzeugflotte. Einundzwanzig von allen siebenunddreißig. Aber egal wer der Eigentümer war, sie waren alle siebenunddreißig wunderschön. Sechs Einsitzer, Piper L 4, acht Texas Trainers T-6, fünf Mustangs P-51 und ebenso viele Warhawks P-40. Dazu vier Corsair, drei Bearcats F8F und je zwei Spitfire, Trojan und deutsche Messerschmitt. Sie waren alle seine Babys, und er hegte und pflegte sie, sie waren sein ganzer Stolz. Immerhin hatte er einige von ihnen vom Schrottplatz geholt und mit eigenen Händen wieder instandgesetzt und aufpoliert . . . Er trank seinen Drink aus und sah, wie der Nebel draußen aufzubrechen begann. Aber was nützte das schon noch groß. Es gab keine Ersatzteile mehr für die Flugzeuge. Und auch die Piloten waren irgendwie Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. Sie wurden mit jedem Mal, da sie noch starteten, melancholischer. Jedes Mal konnte das letzte Mal sein. Und ihr ewiges Krieg-Spielen machte sie auch traurig. Irgendwie sehnten sie sich alle danach, einmal wieder wirkliche, echte Luftkämpfe zu führen . . .
Es war wohl doch die letzte Station hier, dieses Keysar Fiats. Hier waren sie gestrandet. Keine Show, kein Gelände, nichts als Spesen, und kein Cent Einnahmen . . . Allenfalls noch aus Gewohnheit suchte Pop Keller nach anderen Plätzen. Aber das Wetter spielte ohnehin nicht mit. Also was noch. Aus. Vorbei. Ein Mann in Schwierigkeiten wie Pop Keller riecht einen anderen, der ebenfalls Probleme hat, zehn Meilen gegen den Wind. Am anderen Ende der Bar saß so einer und schüttete sinnlos Kaffee in sich hinein. Sie waren die beiden einzigen Gäste im Lonesome Horn. Pop Keller hatte ein Bedürfnis nach ein wenig Ansprache. Er bewegte seine alten arthritischen Knochen und ging zu dem anderen hinüber. »Haben Sie was dagegen?« Er zeigte auf den Hocker neben ihm. »Nein, gar nicht«, sagte Christopher Locke. Pop Keller bestellte noch einen Special und besah sich seinen " Nachbarn. Dessen Augen waren entzündet und rot, seine Haare hatte der Regen angeklebt. »Bißchen mitgenommen, was?« Locke lächelte fast. »Ob Sie's glauben oder nicht, das ist das Netteste, was seit langer Zeit jemand zu mir gesagt hat.« »Nacht durchgemacht, wie?« »Ja.« »Dachte ich mir schon. Den Blick kenne ich. Ich lad' Sie gerne zu einem Drink ein.« »Nur Kaffee.« »Hungrig?« »Nein, nein, zu essen hab' ich schon, so ist es nicht.« Er starrte in seinen Kaffee und hätte es lieber gehabt, wenn der alte Mann ihn alleingelassen hätte. Er war deprimiert und unglücklich und wollte mit seinem Elend allein sein. Er war die ganze Nacht in Keysar Fiats herumgefahren und hatte sich so oft verfahren, daß er nicht mehr wußte, wo er schon gewesen war und wo nicht. Alles war obendrein vergeblich gewesen. Der Flugplatz mit den Düngefliegern war wohl doch zu gut verborgen. Es war alles vorbei und er hatte verloren. Es gab keine Menschenseele auf der ganzen Welt, die ihm noch helfen konnte. »Manchmal hilft es einem, wenn man mit jemandem reden kann«, schlug der alte Mann vor. »Diesmal nicht.«
»Schauen Sie, mein Lieber, ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge Probleme gehabt, glauben Sie mir das. Ich weiß, wie es einem hilft, wenn man seinen Kummer an jemanden hinquatschen kann. Also los, lassen sie Dampf ab.« Locke sah in des alten Mannes faltendurchzogenes, vom Leben gezeichnetes Gesicht. »Wissen Sie«, sagte er, »was mir helfen würde? Ein Regiment Soldaten oder ein Geschwader der Air Force, startbereit und gleich hier um die Ecke. Das wäre das einzige, was mir helfen könnte. Sonst nichts.« Dogan wunderte sich etwas, daß das Überfallkommando, das ; in sein Hotelzimmer eingedrungen war, ihn am Leben ließ. Sie| faßten ihn etwas hart an, das wohl, legten ihm schließlich Handschellen an und verfrachteten ihn, ohne auf irgendeine seiner Fragen zu antworten, in einem Lieferwagen in ein offenbar sicheres Haus an der Grenze nach Virginia. Dort wurde er in einem kleinen Wohnzimmer eingeschlossen, dessen Fenster vergittert waren. Vor der Tür standen Wachposten. Er verbrachte die folgenden Stunden damit, wie ein Tiger nervös in seinem Käfig auf- und abzulaufen. Was ging hier vor? Was hatten diese Leute hier mit ihm vor? Es mußte bereits auf die Mittagszeit zugehen, als endlich die Tür aufging und ein kleiner, schon kahl werdender Mann mit einer Stahlrahmenbrille hereinkam. »Mein lieber Mann«, sagte er sogleich in völlig unbekümmertem Tonfall mit starkem texanischem Akzent —, »es wäre gescheiter, wenn jemand die ganzen Kanäle dieser Scheißregierung zuschütten und ein paar neue graben würde. Ich wäre schon viel früher gekommen. Aber das dauert vielleicht, bis etwas zu einem durchdringt!« Er kam näher und streckte ihm die Hand hin. »Hi. Ich bin Calvin Roy. Schon was zu essen gekriegt? Ich hab' Hunger. Mein lieber Mann!« Sie fuhren in Pop Kellers altersschwachem Lieferwagen die Bundesstraße 83 nach Norden. »Sind Sie auch sicher, daß die Dinger auf diesem Flugplatz stehen? Wie, sagten Sie nochmal, heißt er?« »Air Force Base Stonewall Jackson. Schon seit fünfzehn Jahren dichtgemacht. Doch die Rollbahnen werden immer noch in Schuß gehalten. Und auch die Hangars und Baracken und die Abstellflächen. Alles da. In Mengen. Können Sie mir glauben. Und ich muß es schließlich wissen. Ich hab' das ganze Scheißgelände vor vier Monaten für unsere Flugshow gemietet. Und dann, vor acht
Tagen, sagen sie mir einfach ab. Ohne irgendeinen Grund zu nennen.« »Seien Sie froh, daß die Sie überhaupt am Leben ließen.« Pop Keller griff das Lenkrad fester und sah schräg zu Locke auf dem Beifahrersitz hinüber. »Ich werd' Ihnen mal was sagen, Mister . . .« »Sie können mich Chris nennen.« »Schön, Chris, dann sag' ich Ihnen was. Ich hab' den ganzen großen Scheiß mitgemacht, vom Anfang bis zum Schluß. Weltkrieg zwo, verstehen Sie. Jede Menge Japaner runtergeschossen, und aus jeder Schlacht ohne Schramme raus. Ich habe nicht die Absicht, das jetzt noch zu ändern.« Locke suchte eine Uhr am Armaturenbrett, aber es gab nirgends eine. »Wie viele Flugzeuge haben Sie?« »Flugzeuge ist gut«, sagte Pop. »Es ist so, meine Jäger sind noch für alles gut. Aber viel hält sie nicht mehr zusammen Wenn Sie's genau wissen wollen. Also jedenfalls, so um die zwanzig rum.« »Ich darf Sie eigentlich nicht bitten, da mitzumachen. Es ist nicht ganz ungefährlich und . . .« »Mann, gefährlich, das sagen Sie mir?« »Aber Ihre Leute . . .« »Die sind wie ich. Wir sind alte Knochen, mein Lieber und träumen seit Jahren davon, noch einmal eine richtige Schlacht zu schlagen. Da red' ich noch gar nicht davon, daß so 'n paar Kunstdüngerbrummer nicht unbedingt ein Gegner für unsereinen sind. Mit den Kisten nimmt es unsere Klapprigste noch allemal auf.« »Vorsicht. Die haben bestimmt Begleitschutz oder irgendwas.« »Geschissen! Wir brummen rein, grade und tief. Die Ärsche wissen nicht mal, was passiert ist, da sind sie schon im Eimer und wir weg.« Locke schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so einfach ist das sicher nicht. Ich kann Sie da nicht reinziehen. Bringen Sie mich einfach nur hin, und ich mach' dort selbst weiter.« »Allein? Lieber Freund, halten Sie das für clever? Nun kommen Sie schon. Sie tun uns nur einen Gefallen. Uns allen hängt es doch zum Halse raus, jedes Wochenende wie die Zirkusclowns rumzuhopsen. Wir haben unsere besten Zeiten hinter uns, und alles, was mir und den anderen Jungs ein bißchen davon zurückbringt, nehmen ,wir mit Handkuß an. Warum, glauben Sie,
sind die alle fnoch bei mir? Weil sie wenigstens fliegen können, oder jedenfalls so tun können, als flögen sie wieder. So eine Chance wie heute, wo man nicht nur so tun muß, sollen wir ausschlagen? Nie im Leben!« Locke zögerte. »Sie sind jedenfalls sicher, daß Stonewall Jackson der richtige Ort ist?« »Jedenfalls ist es weit und breit der einzige Platz, wo das, worüber Sie gesprochen haben, laufen kann. Das weiß ich ganz genau, weil ich in der letzten Zeit nichts anderes getan habe, als in der Gegend nach Flugplätzen zu suchen. Außerdem, was sonst sollte der Grund sein, daß die mich rausschmeißen, obwohl ich vor vier Monaten gemietet habe?« Locke zuckte die Achseln. Was für eine Alternative hatte er schon, als dem alten Mann nachzugeben? »Aber nur Freiwillige, Pop, verstehen Sie? Wir nehmen nur wirkliche Freiwillige, klar?« Keller lächelte ihn verzeihend an. »Was anderes schon gar nicht, Junge!« Das Lager der Flying Devüs war nicht weit vom North Wichita River, fünfzehn Flugminuten von der Air Base Stone wall Jackson entfernt. Als Locke aus Pop Kellers altem Lieferwagen stieg, war ihm, als mache er eine Reise in die Vergangenheit. Die Wohnwagen und Transporter standen wie ein Wanderzirkus im Kreis, in der Mitte unter Planen die Flugzeuge. Wie eine Wagenburg in einem Western, zürn Schutz gegen Indianer dachte Locke. »Gus!« rief Pop Keller einem zahnlosen Mann mit einem Brustkasten wie ein Schrank zu, der an einer Maschine herumwerkelte. »Ruf die Jungs zusammen!« »Was ist, Pop?« »Los, mach schon, sag ich, du Arsch! Mann, heute haben wir einen richtigen Krieg! Sagst'n dazu?« »Ha?« Ein paar Minuten später stand Pop Keller auf dem Dach eines der Wohnwagen, auf dem das Signum der Flying Devüs prangte, und so an die fünfzig Mann standen um ihn herum und blickten zu ihm auf. Er hielt ihnen eine flammende Rede, in der er ihnen mit allerlei Ausschmückungen Chris Lockes Geschichte erzählte. Locke musterte sie der Reihe nach. Da war keiner, der zögerte oder nicht Feuer und Flamme gewesen wäre. Keiner zeigte
Furcht, alle waren entschlossen und bereit. »Wir sind an der Front, Jungs!« rief Keller und kam mit flammenden Worten zum Schluß. »Und wir sind die letzte Bastion zwischen dieser Bande von Verrückten und unserem guten alten Amerika, Jungs! Heute werden wir nochmal wirklich gebraucht, so wie früher, zu unserer Zeit! Wer ist dabei, Jungs?« Sie waren alle dabei und stießen einen begeisterten Schrei aus. »Dann los, Jungs!« Und als wären sie wieder auf ihren alten Flugplätzen in Europa oder im Pazifik oder in Korea oder in Vietnam — wo sie überall gewesen waren -, liefen sie auf ihre Positionen, kannten ihre Plätze, ihre Handgriffe, ihre Kommandos, und waren bereit. Einer gewissen Tragik entbehrte das alles nicht. Sie waren nicht mehr die jungen Burschen von einst. Und beim Anblick ihrer Maschinen sank Lockes Mut. In seiner Phantasie hatte er sich blitzende Warhawks und Cobras in ladellosem Zustand vorgestellt. Das hier jedoch war etwa so, als erwarte man den größten Zirkus der Welt, blitzend und perfekt, und kommt dann in einen schäbigen, billigen kleinen Wanderzirkus. Konnten diese Bruchkisten überhaupt noch fliegen? Und die Piloten? Waren die nicht ebenfalls eher Legenden, mitgerissen von ihren eigenen Erinnerungen, doch nicht mehr fähig, die Aufgabe zu bewältigen, die ihnen hier bevorstand, und die sie vielleicht vor zwanzig oder vierzig Jahren gelöst hätten? War das hier nicht eher eine Farce? Machte er sich nicht nur lächerlich und setzte diese Männer einer Gefahr aus, die unverantwortlich war und sie selbst gar nicht einschätzen konnten? War dies hier nicht einfach absurd? Dann jedoch wurde ihm klar, daß nichts an dem, was diese Männer taten lächerlich und absurd war. Sie waren mit einer Entschlossenheit und Präzision bei der Sache, die verblüffend war. Jeder Handgriff war sicher und wurde ernst und verantwortungsvoll ausgeführt. Es war eine Vorbereitung, als hätten diese Männer seit Jahren nur für diesen Augenblick gelebt. Kanzelfenster wurden geputzt, Waffen geladen, Mechaniker kontrollierten Motoren und Fahrwerke. Und schließlich standen alle Maschinen in Startreihe, ausgerichtet auf die Autobahn. Mit einem Mal schienen die altersschwachen, schäbigen Flugzeuge in neuem Glanz zu strahlen. Als sei auch durch sie noch einmal ein Ruck gegangen. Pop Keller war in
seinem Element und barst vor Aktivität. Wir sind in einer Viertelstunde in der Luft, Chris«, meldete er Locke. Keine Spur mehr von Arthritis, keine Gedanken mehr Schulden oder unausweichlichen Bankrott. Wo wollt ihr starten?« fragte Locke. Pop Keller klopfte ihm strahlend auf die Schulter. »Auf der Autobahn, Mann! Wir blockieren vorne und hinten eine ausreichend lange Strecke mit den Wohnwagen! Gut, was?« Die vier Präriesand-Specw/s in seinem Magen taten offensichtlich Ihre Wirkung. Auch Keller selbst merkte es. Er ging zu den Wasserkanistern, um den verdammten Alkohol zu verdünnen. Er kam zurück. »Wir kriegen vermutlich, wie ich sagte, zwanzig von den Mühlen in die Luft. Und ungefähr die Hälfte haben Raketen am Bauch.« »Wie viele Leute sind in jedem Flugzeug?« »Die meisten sind Zweisitzer, aber alle fliegen solo. Die Kunstdüngerbomber sind sicher nicht die schnellsten Dinger, die es gibt. Aber das heißt nicht, daß wir nicht mächtig aufpassen müssen, damit uns keiner entwischt. Und dazu dürfen unsere Maschinen nicht zu schwer sein.« Alle Motoren liefen bereits, als die Piloten sich noch einmal zu einer letzten Besprechung versammelten. Locke sah sie reihum an. Ein wahrhaftes Veteranentreffen. Die meisten schienen um die fünfundfünfzig zu sein - die übrigen mit Toleranzen bis zu zwanzig Jahren in beiden Richtungen. »Also, Jungs«, sagte Pop Keller, »viel Zeit haben wir nicht. Ihr wißt ja, daß ich kein großer Redner bin, ist auch gar nicht wichtig. Ungefährlich ist es nicht. Und deswegen ist wichtig, daß wir schnell und überraschend zuschlagen und die Ärsche in ihren Unterhosen erwischen. Wenn es so aussieht, daß noch keiner von den Kunstdüngerbombern in der Luft ist, wenn wir ankommen, hauen die Blauen und die Roten rein, was geht. Sind schon einige oben, und das nehme ich an, müssen wir's anders angehen.« Er suchte in der Menge nach jemand. »Mickey O.!« rief er. Ein untersetzter weißhaariger Mann mit ölverschmiertem Hemd meldete sich. »Hier.« »Du führst die Blauen zum Bodenangriff, ich kümmere mich mit den Roten um die Luftkämpfe, sobald einer von den Ärschen wirklich hochkommt. Flieg du mit den anderen Pipers vorneweg. Ihr habt jeder sechs Raketen und außerdem wart ihr im Zielen schon immer gut. Und, Jungs, seid mir alle wirklich vorsichtig! Denn auch wenn
wir sie in Unterhosen erwischen, heißt das noch lange nicht, daß sie sich die Schwänze halten und nichts tun. Sie werden bewacht, seid darauf gefaßt. Und denkt vor allem an das eine: keiner von diesen Arschlöchern darf dazu kommen, einen von diesen Scheißkanistern abzuwerfen.« Die Männer sahen sich an. »Viel verstehe ich von dem Zeug nicht«, sagte Pop Keller, »aber von dem was unser Freund Chris mir erzählt hat, habe ich soviel begriffen, wenn die ihr Zeug runterwerfen, ist es mit unserem guten alten Amerika ziemlich vorbei und da wollen wir doch noch ein Wörtchen mitreden, oder?« Die Flieger ließen einen Kampfschrei zum Himmel aufsteigen. »Also, dann los, Jungs!« Und dann rollten sämtliche Maschinen und sämtliche Wohnwagen und Transporter los. Die Fahrzeuge sollten ebenfalls nach Stonewall Jackson fahren, damit das Bodenpersonal eingreifen konnte; falls nötig. Ohrenbetäubender Lärm donnerte, als die Flugzeuge und alle Bodenfahrzeugo zur Autobahn rollten. »Na, Freund, Sie werden doch wohl Ihre eigene Show nicht versäumen wollen?« rief jemand Locke zu. Er wandte sich um. Pop Keller in Fliegermontur winkte ihm. »Ich hab' Ihnen den zweiten Platz in meiner kleinen Süßen reserviert«, rief er. Kommen Sie!« Sie gingen gemeinsam zu Kellers roter P-40 Warhawk, auf deren Schnauze ein Haimaul aufgemalt war. Zwanzig Meilen davon entfernt herrschte auf einer anderen Gemarkung von Keysar Fiats ähnliche Betriebsamkeit. Fünfzig Düngerstreuflugzeuge rollten nacheinander zu ihren Startpositionen auf der einstigen Air Base in Stonewall Jackson. Alle Kanister waren geladen, und seit zehn Minuten war bereits alles startbereit. Der verantwortliche Kommandierende, Ahmad Hamshi, hatte indessen strikt Anweisungen, den Zeitplan aufs genaueste zu befolgen, und das war für ihn maßgebend. Er war Mandalas leitender Mann für alle Operationen im Mittleren Osten, und einer der ganz wenigen, die sein unbeschränktes Vertrauen besaßen. Mandala hatte ihn mit dem Kommando in Keysar Fiats betraut, weil er wußte, daß er sich auf ihn blind verlassen konnte. Und tatsächlich war bisher alles perfekt abgelaufen. So sollte es bleiben. Sobald die Flugzeugflotte in der Luft war, sollte Hamshi vereinbarungsgemäß eine Nummer in Südamerika anrufen und den Code durchgeben, der dann an Mandala nach San Sebstian weitergeleitet werden würde. Direkter Kontakt war nicht möglich,
ebenso wie eine weitere Kontaktaufnahme ausgeschlossen war, sobald das Codewort einmal rausgegangen war. Zur Sicherung absoluter Geheimhaltung und zur Kontrolle hatte Mandala einen eigenen Plan entwickelt. Sinnigerweise hatte er ihn »Ex und hopp« genannt. Alle Kanister wurden in das Start-Geschwader verladen, das seine Plan-Menge ausstreuen und am ersten Übergabe-Punkt den Rest an die nächste Staffel weitergeben sollte, die ihrerseits wieder ebenso zu verfahren hatte. Es wäre zwar sehr viel schneller gegangen, die Kanister gleichmäßig auf die fünfzehn Etappenpunkte zu verteilen und von den verschiedenen Etappen aus die Flugzeuge gleichzeitig starten zu lassen. Aber der Sicherheits- und Kontrollaufwand wäre nahezu fünfzehnmal größer gewesen. Eine solche Logistik hätte sich kaum durchführen lassen, ohne daß man zusätzliche Schwach- und Angriffspunkte in Kauf nehmen mußte. Nach dem Staffel-Plan hingegen konnte wenig passieren, selbst wenn — wider alles Erwarten — die eine oder andere Staffel-Basis gestürmt würde. Außer in den Flugzeugen war nirgendwo etwas zu finden. Zudem war Schnelligkeit kein entscheidender Faktor. Bei dem Tempo, mit dem die Pilzsporen ihr Werk taten, war die Ernte in ganz Nordamerika so und so in kaum einem Tag zerstört. Das Staffelsystem hatte außerdem den zusätzlichen Vorteil, daß auch ein Ausfall einer Staffel-Basis durch unvorhergesehene Ereignisse den Ablauf und die Kette nicht entscheidend unterbrechen und stören konnte. Die ankommende Staffel flog dann einfach weiter bis zur nächsten und übernahm den Sporenabwurf für die ausgefallene Staffel. Ahmad Hamshi kontrollierte noch einmal die Zeit. Noch eine Minute. Die Piloten ließen bereits ungeduldig immer wieder ihre Motoren aufheulen. Da jede Maschine bis zur vollen Nutzlast mit allen Kanistern für die ganze Operation beladen war, mußte mit einem langsamen Aufstieg gerechnet werden. Der Plan sah etwas mehr als sieben Minuten vor, vom Start bis zur Reiseflughöhe und Bildung der Operationsformation. Erst dann konnten die Klappen für die verderbliche Fracht geöffnet werden. Er hob die Nase in die Luft. Trotz des aufklarenden Himmels war es heiß und feucht. Ideal für die Ausbreitung und Vermehrung der Fungussporen. Mandala würde sich freuen zu hören, daß sogar das Wetter mitgespielt hatte. Als sei Allah selbst auf ihrer Seite.
Er sah wieder auf die Uhr. Es war soweit. Er gab das Signal für das Bodenpersonal. Die Bremsklötze wurden weggezogen, die ersten Maschinen rollten an und hoben ab. Während die beiden nächsten sich zum Starten anschickten, ging er zurück in sein schmuddeliges Büro und schaltete den Sender ein, um auf die Durchsagefrequenz zu eehen. Er gab seinen Erkennungsruf durch. Eine entfernte Stimme antwortete krächzend mit dem Antwortzeichen. Die Vögel sind geflogen«, sagte Hamshi lediglich, wie ausgemacht, und ging wieder hinaus zur Rollbahn. Wir haben gute zweitausend Pferdestärken unterm Hintern, Chris, wissen Sie das?« brüllte Pop Keller durch den Motorenlärm von seinem Pilotensitz nach hinten, wo Locke saß. Was ist?« Sie müssen den Kopfhörer aufsetzen«, rief und deutete er, vor Ihnen muß einer hängen!« Locke bedeutete ihm, daß er verstanden hatte, ich sagte«, wiederholte Pop Keller dann über das Bordmikrophon, »daß wir gute zweitausend PS stark sind. Bei den Stunts, die ich im Programm habe, brauche ich das, und da habe ich den Motor frisieren lassen.« Er rückte sich seinen eigenen Kopfhörer noch einmal zurecht. »Gut. Von jetzt an können Sie den ganzen Sprechverkehr mithören.« Er äugte nach unten. »Das unten ist es. Rechts. Viel Spaß bei unserer Show, meine Damen und Herren!« Das neunte und zehnte Düngerflugzeug hatten eben von der Rollbahn abgehoben, als Hamshi sie kommen sah. Er schloß ungläubig kurz die Augen, um sich zu vergewissern, daß er keine Halluzinationen hatte. Dann war ihm rasch klar, daß dies keineswegs der Fall war. Mit offenem Mund starrte er in den Himmel. Er glaubte es einfach nicht. Was da als Angriffsgeschwader angeflogen kam, war eine kurioses Geschwader alter Weltkrieg-II-Maschinen! Er rannte zu den wartenden Maschinen, von denen eben weitere zwei abhoben, während das Geistergeschwader von oben näherbrauste. »O verdammt!« schrie Pop Keller in sein Bordmikrophon. »Die haben schon ein paar oben! Staffelführer Blau, wie viele siehst du schon oben? Sind uns schon welche entwischt?« »Ich zähle zwölf, Staffelführer Rot«, kam die quäkende Stimme von Mickey Ostrovsky durch die Kopfhörer. »Alle erst beim Aufsteigen. Sehen schwerbeladen aus, kommen nur mühsam hoch.« »Blau«, sagte Keller, »geh mit deinen Pipers runter und jagt so viele von den Kerlen vom Himmel, wie ihr könnt! Die andere Hälfte deiner Staffel soll oben warten, um nachzuputzen, falls nötig.«
»Verstanden, Rot.« Pop Keller rückte sich noch einmal seinen Kopfhörer zurecht. Und dann hatte Locke mit einem Schlag das Gefühl, als fiele ihm buchstäblich der Boden unter dem Sitz weg. »Rot, hier ist Führer Rot. Wir sind ein bißchen spät dran, Jungs. Die Jagd ist auf.« Ahmad Hamshi hatte seinen Piloten eben mit Nachdruck signalisiert, schleunigst zu starten, als die Piper-Staffel angefegt kam. Er sah, wie die kleinen, dünnen Zigarren unter ihren Tragflächen abgeschossen wurden, hörte, wie sie durch die Luft pfiffen, und warf sich, kurz bevor sie einschlugen, platt zu Boden. Die Explosionen folgten laut und heftig. Als zersplitterten Glasscheiben in tausend Stücke. Rauchwolken stiegen auf, aber als er wieder aufstand, sah er, daß offenbar nur zwei seiner Maschinen etwas abbekommen hatten. Aus den Baracken kamen bereits bewaffnete Sturmtruppen gelaufen. Sie rannten zu den geparkten Transportern und zogen die schweren Planen von ihnen ab. Darunter,kamen aufmontierte schwere MGs und Flak-Geschütze zum Vorschein. Sie waren noch nicht fertig mit dem Abziehen der Planen, als eine Piper-Staffel aus der Gegenrichtung den zweiten Angriff flog. Ein Dutzend Raketensprengköpfe fuhren herunter. Diesmal flogen große Zementplatten von der Rollbahn in die Luft und mindestens weitere vier Flugzeuge waren anschließend Wracks. Und noch während die Piper hochzogen, kamen unter ihnen zwei Bearcats angeschossen und überzogen die gesamte Rollbahn mit MG- und Bordkanonenfeuer, so daß Hamshis Leute in alle Richtungen auseinanderstoben. Überall waren Rauch- und Brand wölken. Das erschwerte es Hamshi, die Verluste und Schäden abzuschätzen. Er war völlig perplex. Welch ein Wahnsinn; das war doch verrückt! Der ganze Plan, der ganze Ablauf waren ruiniert! Wegen einer handvoll offensichtlich Verrückter, die hier mit uralten Mühlen herumkurvten und Hasenjagd spielten! Das war doch nicht zu rauben! Er rannte zu den Soldaten, die mittlerweile ihre Geschütze in Position brachten und die Rohre in den Himmel hochkurbelten. »Die Flugzeuge!« schrie er. »Schafft die beschädigten Flugzeuge von der Rollbahn! Sie blockieren alles! Die Rollbahn muß unbedingt frei bleiben!«
Er überlegte bereits, wie der Verlust von sechs Flugzeugen auzugleichen sei. Auch für den Fall, daß es Pannen gab, hatten sie präzise Anweisungen von Mandala. Nun, dies hier waren ja wohl »Pannen«, wenn vielleicht auch nicht welche, wie Mandala sie im Auge gehabt hatte. Die Kanister waren das Entscheidende, hatte Mandala immer wieder betont. Sie mußten, wenn Flugzeuge aus irgendwelchen Gründen ausfielen, sofort auf die anderen weiterverteilt werden. Er rannte wieder zur Rollbahn zurück und sah mit Erleichterung, daß zwei weitere Flugzeuge inzwischen hatten starten können und im Aufsteigen begriffen waren. Doch dann sah er auch den roten Streifen am Himmel. Eine Warhawk, knallrot, mit aufgemaltem Haifischmaul. Sie kam herabgeschossen und feuerte aus allen Rohren ihrer Bordkanonen. Alle beiden aufsteigenden Flugzeuge wackelten taumelnd, schmierten ab, fielen wie Steine zu Boden und explodierten, sobald sie auf der Rollbahn aufschlugen. Der Bastard hatte sie tatsächlich abgeschossen! Und dann war bereits eine ganze rotangemalte Staffel da, raste über den Platz und zog steil hoch, um die anderen, die schon fast oben waren, anzugreifen! Er blickte hinüber zu einem der Hangars und lief quer über das Flugfeld auf ihn zu. Das Bodenpersonal hatte sich dort versammelt. »Wir haben sie, die Hurensöhne! Haben Sie's gesehen, Chris?« schrie Pop Keller triumphierend. Er hatte nach der Attacke seine Maschine abgedreht und zog sie nun nahezu senkrecht nach oben. Locke spürte seinen Magen in den Zehen und konnte nicht glauben, was er da eben mitangesehen hatte. Unfaßbar, wie sicher und selbstverständlich Keller dieses Flugzeug flog und die beiden Düngermaschinen vom Himmel geputzt hatte! »Zwei raus, noch eine Menge übrig!« rief Pop Keller. »Jaaa-huuuh!« Inzwischen tauchte die blaue Staffel zu einem neuen Angriff hinunter, wo mittlerweile die Flakgeschütze und schweren MGs endlich feuerbereit waren. »Ach, du dickes Ei!« murmelte Pop Keller und griff nach seinem Kopfhörer. »Blau, hörst du mich? Hier ist Rot!« »Ich bin da, Rot.« »Ich seh' grade Kanonen da unten. Große.« »Seh' sie auch«, sagte Mickey O. nur. »Die zerfetzen euch in Stücke! Haut ab! Zieht weg, klar?«
Schon waren die dumpfen Abschüsse der Kanonen zu hören und ihr Mündungsfeuer zu sehen . . . »Geht nicht, Rot«, kam Mickey O.'s Stimme, »zu spät zum Abdrehen.« »Der spinnt!« sagte Keller zu Locke. Nur der? dachte Locke. Aber es war nicht der rechte Augenblick, das auch zu sagen. »Führer Rot an Rot«, sagte Pop Keller in sein Mikrophon. »Alles in Angriffsformation! Wir greifen die in der Luft von hinten an! Los, Jungs, gebt es ihnen!« Und wie die abgezirkelte Formation für eine Tanzfigur ordnete sich seine Staffel - zwei Trainer, drei Mustang, zwei Corsair, eine Spitfire, eine Messerschmitt - hinter Keller sofort zu einem V. Sie brausten gegen den Wind, hinter den schwerfälligen, hochsteigenden Düngermaschinen her, zogen sich auseinander und entfernten sich von der Air Base Stonewall Jackson. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Locke, der endlich wieder etwas Luft bekam, wenn auch sein Magen noch immer ziemlich weit unten zu hängen schien. »Brauchen auch nicht viel«, versicherte ihm Keller und gab Gas. Hinter ihnen, über dem Flugplatz, war die Schlacht in vollem Gange. Mickey O. verlor beim ersten Anflug eine Piper und ne Trojan. Und nicht eine seiner eigenen Raketen unter den Tragfläcnen, wahllos abgefeuert, traf. »Blau, hier ist Führer Blau. Alle Piper, die noch da sind, mir nach. Anflug auf die Geschütze, speziell die schweren. Die anderen machen einen Rübenacker aus der Rollbahn!« Mickey O. zog seine Piper in eine Kurve und flog auf die großen Flakgeschütze zu, während die Bearcat, die Mustang und die Trainer T-6 die Rollbahn anflogen. Es war ihm klar, daß sie nicht frontal angreifen konnte. Er mußte sich im Tiefflug ranmogeln und dann versuchen, ihnen in den Rücken zu fallen. Inzwischen hatten drei Maschinen seiner Staffel die Rollbahn beharkt und noch einige der Kunstdüngerbomber erwischt. »Maßarbeit!« lobte Mickey O. sie im stillen. Er war jetzt zweiundsechzig, und irgendwo warteten seit langem Frau und Kinder auf ihn, die er über seiner Fliegerei allein gelassen und vergessen hatte. Mehrere von jeder Sorte, genau gesagt. Über das ganze Land verstreut . . . Er kümmerte sich einfach nicht mehr um sie. Sowenig wie um den Krebs, der seit einiger Zeit seine Innereien
zerfraß. Jetzt im Augenblick schon gleich gar nicht . . . Zur Hölle damit. Genauso wie mit diesen Bastarden hier. Er schoß noch einmal zwei Raketen ab, fast gleichzeitig mit den drei anderen Pipers seiner Staffel. Einer der Lafettentransporter unten flog in die Luft. Aber sonst trafen sie nichts. Sie waren eben doch nicht mehr die Jüngsten, dachte er grimmig. Weder sie, die Piloten, noch ihre Flugzeuge. So schnell anzufliegen, konnte nicht gut gehen. Jetzt hatten die Kerle da unten immer noch ein schweres MG und zwei Flakgeschütze . . . »Hochziehen!« befahl er seiner Staffel. »Und oben sorgfältig den nächsten Anflug vorbereiten!« »Hallo, Führer Blau, Führer Blau! Ich habe einen Treffer bekommen!« »Steig aus! Steig aus, Mann, so schnell . . .« »Kann nicht. Treibstoffleitung zerschossen. Versuche . . .« Der Rest war eine mächtige Explosion. Der Pilot war einer der wenigen ganz jungen Männer bei ihrem Flugzirkus gewesen. Die beiden Flakgeschütze unten feuerten wild und erwischten noch zwei weitere Piper, die Rauchfahnen zogen und wegtrudelten. Der einzige Trost waren die beiden Fallschirme, die kurz danach am Himmel waren und zu Boden schwebten. Vorausgesetzt, die beiden konnten sich dort unten absetzen. Blieben Mickey O. noch fünf Flugzeuge, er selbst eingeschlossen. »Hallo, Führer Rot, Führer Rot, kommen!« »Hier bin ich, Führer Blau.« »Haben Verluste. Wiederhole, Verluste.« »Scheiße! Schlimm?« »Mindestens vier Flugzeuge. Zwei Piloten tot.« »Verdammt nochmal. Du mußt diese Flaks außer Gefecht setzen, Mickey.« »Nicht zu machen, Pop. Unsere Mühlen sind wirklich zu alt dafür, niedrig und schnell genug anzufliegen.« »Dann ruiniere wenigstens die Rollbahn von hoch oben! Von denen darf keiner mehr starten? Sobald wir mit unseren hier fertig sind, kommen wir zurück, dann können wir's zusammen angehen. Okay?« Aber mittlerweile versuchte längst keiner der Kunstdünger Hugzeuge mehr zu starten. Hamshi hatte die noch intakten Engst von der Rollbahn abkommandiert, damit sie sich hinter den schützenden Flakgeschützen sammelten, die Kanister aus den beschädigten Maschinen geborgen und auf die anderen verteilt werden konnten. Oben in der Luft, mittlerweile schon eine ganze Strecke vom Flugfeld entfernt, beobachtete Pop Keller mit zunehmendem Verdruß, daß sich der Abstand zu den Maschinen, hinter denen sie her waren, vergrößerte. »O Scheiße«, knurrte er, »sie hauen uns ab.«
Nein«, widersprach Locke, »sie gehen auf ihre Abwurfhöhe! Wir müssen sie kriegen, und zwar sofort!« »Prost Mahlzeit!« schimpfte Keller. »Hallo, Rot, hier Führer Rot. Verteilt euch und schnappt sie euch. Jeder nimmt sich einen vor. Jagd frei!« Er wandte sich zu Locke um. »Jetzt geht's los.« Wie in ihren besten Zeiten stob die Staffel der Flying Devils in präziser Kunstflugfigur auseinander und nahm die Verfolgung der Kunstdüngerbomber auf. Jede Maschine einen. Die Piloten dort merkten, was sich anbahnte und versuchten verzweifelt, das Letzte an Schnelligkeit aus ihren Flugzeugen herauszuholen. Pop Keller setzte sich dem, den er sich ausgesucht hatte, Direkt ans Heck. »Der kriegt ein Klistier von mir in den Arsch«, brummte er, »daß er noch lange daran denkt. Falls er das noch kann.« Seine Hand spannte sich um den Steuerknüppel und der Daumen über dem roten Bordkanonenknopf oben krümmte sich. Er jagte den alten Jäger mit seinen 2000 PS nach vorne wie einen Jet. Er holte das Letzte aus ihm heraus. »Und damit auf in den Kampf!« Er drückte auf den roten Knopf. Die Kugeln fuhren dem Gegner ins Heck und in die Tragflächen. Keller zog seine Maschine unmittelbar danach steil hoch. Gleich danach explodierte das Flugzeug unter ihnen. Eine hohe Stichflamme schoß aus ihm empor und dann trudelte es heulend und pfeifend, eine dicke, fette schwarze Rauchwolke hinter sich her ziehend, nach unten. »Da ist die Kacke am Dampfen!« brüllte Pop Keller. »Einer weniger. Noch elfe übrig!« Rechts neben ihnen explodierte eine weitere Maschine, und auf der anderen Seite holten mittlerweile zwei von Pop Kellers Corsairs je eine weitere aus der Luft. »Geht zusammen«, befahl ihnen Keller sofort. »Sobald ihr einen weg habt, hängt euch sofort an den, der am nächsten ist und bleibt dran!« Er drehte sich zu Locke um. »Wenn die da unten wirklich noch welche in die Luft kriegen, fliegen sie mit Sicherheit in die andere Richtung weg. Sobald wir mit denen hier fertig sind, müssen wir uns darum kümmern und zurück!« Doch in Stonewall Jackson war keine Maschine mehr gestartet. Mickey O. hatte zusammen mit einer Piper und einer Bearcat
im Tiefflug über den Platz weg dafür gesorgt, daß die, die noch auf der Rollbahn standen, es nicht mehr in den Schutz der Flak schafften. Die allerdings- schoß immer besser und erwischte Mickeys Begleiter mit Volltreffern. Sie waren weg, ehe sie noch nahe genug herangekommen waren, um Schaden anzurichten. Sie schienen sich einfach in Luft aufzulösen und waren von einer Sekunde zur anderen nicht mehr vorhanden. Sie waren gut gewesen, die beiden, dachte Mickey. Verdammt gut. Er rettete sich mit zusammengebissenen Zähnen in einem Steilflug nach oben, während ihm die beiden restlichen Flugzeuge seiner Staffel Feuerschutz gaben. Eine Bearcat und eine Mustang. Beide hatten noch Raketen, aber sie waren nicht in Zielposition. Sie waren hier oben überhaupt in einer ganz beschissenen Situation gegen die Flak da unten. Außerdem standen dort noch immer zwanzig, vielleicht sogar fünfundzwanzig intakte Kunstdüngerbomber, die nur darauf warteten, in einer günstigen Sekunde in aller Eile zu starten. Sie mußten unbedingt außer Gefecht gesetzt werden. Aber wie? »Hallo, Blau, hier Führer Blau. Wir kreisen für eine Weile, bis wir uns gesammelt haben. Wie sieht's mit eurem Treibstoff aus?« Beide Piloten bestätigten, daß dies zumindest kein aktuelles Problem sei. Er war eben dabei, ihnen seinen Plan zu erklären, als er unten neben einem der Hangars etwas sah. Was ihm einen eisigen Schauer durch den ganzen krebszerfressenen Leib jagte. Dort hoben eben vier große, bordkanonenbestückte Kampfhubschrauber ab und stiegen auf. Die Scheißdinger sehen aus wie Rieseninsekten, knurrte er leise vor sich hin. Die MG-Läufe zu beiden Seiten waren ihre Stacheln, die Raketenstarter ihre Fühler . . . »O mein Gott . . .« Die Dinger mußten weg. Sonst schnappten sie sich Pop und ballerten ihn in Stücke. »Hallo, Blau, hier Führer Blau. Stürzt euch auf die Hubschrauber. Wiederhole, die Hubschrauber! Jagt ihnen rein, was ihr nur habt. Ich lenke die Flak solange ab, damit ihr ungehindert rankommt.«
Er flog die Randbezirke des Fluggeländes ab und stürzte sich so schnell nach unten, daß er nicht daran denken konnte, die Raketen abzufeuern. Seine Zähne knirschten und es preßte ihn Macht in seinen Sitz. Der Druck war so stark, daß sein Schultergurt aufsprang. Dann spürte er, wie die Kugeln in sein Leitwerk und in seine Tragflächen fuhren und seine Piper sich in ihre Bestandteile auflöste. Er war plötzlich überall voll Blut. Seine beiden Piloten kämpften inzwischen einen verbissenen Luftkampf gegen die Hubschrauber, die ihnen weder in Schnelligkeit noch Wendigkeit unterlegen waren. Sie trafen zwar, aber nicht entscheidend. Nur ein wirklicher Volltreffer in einen entscheidenden Bereich konnte sie vom Himmel holen. Doch die meisten ihrer Geschosse prallten von der Panzerung der Kampfhubschrauber ab wie Erbsen. Und dann geriet die Bearcat einem der vier direkt vor die Rohre. Eine Rakete zischte heran und im nächsten Augenblick existierte die Maschine nicht mehr. Gleich danach raste die Mustang, die sich vorerst aus dem Staub zu machen versuchte, ins Bordkanonenvisier eines zweiten Hubschraubers. Sie brach buchstäblich auseinander. Mickey O. drückte aufs Gas, was nur ging. Aber es ging nichts mehr. Seine Piper war lahmgeschossen, der Motor begann zu spucken. Er donnerte direkt über die Flak hinweg und versuchte verzweifelt, seine Maschine hochzuziehen. Ein wenig höher schaffte er, dann jedoch hatte die Flak unten ihn wieder mitten im Visier. Ein Splitter fuhr Mickey O. in die Seite, ein zweiter direkt in seinen Leib. Mit letzter Kraft flog er die waidwunde Piper zir den Hügeln hinüber, während die Hubschrauber sich auf die Jagd nach Pop Keller machten. »Hallo, Führer Rot, hier Führer Blau«, ächzte er mit letzter Kraft. Sein Mund füllte sich bereits mit Blut. »Paß hinter dir auf. Die großen Brummer . . . kommen . . .« Aber das hörte niemand. Sein Funkgerät war schon bei der ersten Trefferserie zerschossen worden. Unten auf dem Flugfeld sah Ahmet Hamshi mit einiger Erleichterung den schwarzen Kampfhubschraubern nach, die sich an die Verfolgung der Geisterflieger gemacht hatten. Er hatte noch ungefähr achtundzwanzig startfähige Maschinen. Zehn waren ausgefallen, zwölf bereits in der Luft. Selbst wenn alle zwölf
verloren gingen, genügten die verbliebenen achtundzwanzig immer noch, das Unternehmen planmäßig durchzuführen. Da er keine Möglichkeit hatte, Mandala zu konsultieren, mußte er selbst entscheiden, was zu tun war. Der Staffelplan mußte wohl etwas verändert werden, ebenso wie das Terrain jeder Stafette vergrößert werden mußte. Doch das war mit etwas Flexibilität machbar. Tantalus war keineswegs lahmgelegt. Die Wirkungszeit würde sich etwas verzögern, vielleicht um eine Woche, vielleicht gar nicht einmal so lange Auch Mandala selbst hätte es unter den gegebenen Umständen nicht besser machen können. Jedenfalls würde er keine weiteren Maschinen riskieren, solange die Hubschrauber nicht mit dem Spuk aufgeräumt hatten. Und das konnte ja nicht mehr lange dauern. Pop Keller und seine rote Staffel nahmen die letzten vier Kunstdüngerbomber, die von Stonewall Jackson gestartet waren, ins Visier. Sie waren bis auf Sichtweite heran und schlössen rasch auf. »Feuer frei, sobald ihr soweit seid«, kommandierte er und konzentrierte sich auf das Flugzeug, das er anvisiert hatte. Niedrighängende Wolken erschwerten die Sicht. Die Düngerflieger retteten sich immer wieder in sie hinein und versuchten offenbar mit ihrer Hilfe zu entkommen. Das verdroß Keller. Er , verlor auf diese Weise den Sichtkontakt zu seiner Staffel. Jeder tStaffelkommandeur fürchtet das wie die Pest. Außerdem war er [ungeduldig. Er wollte zum Ende kommen, seine Staffel (sammeln und zurück zum Flugplatz, um nach Mickey O. und iseiner blauen Staffel zu sehen. Eine schwarze Rauchfahne zu seiner Rechten verfärbte eine er Wolken. »Da!« rief Locke und zeigte hin. »Das war eine Messerschmitt!« sagte Keller stolz. »Jede Wette!« Auch links erschien jetzt eine Rauchwolke, die sich mit der Regenwolke mischte. »Und das die Spitfire! Mann!« Er strahlte. »So, mein Freund vorne, und jetzt wachsen wir zusammen. Mach dich auf was gefaßt!« Er drückte auf den roten Knopf über seinem Steuerknüppel pumpte den Kunstdüngerbomber so lange voll Blei, bis er in Flammen aufging.
»Und damit ab zur Hölle, du Arsch!« schrie er im Jagdfieber. Weit rechts wurde ein ähnlich orangeroter Feuerball sichtbar. Die Mustangs dort drüben, offenbar. Sie hatten wohl den vierten ebenfalls erledigt. »Hallo, Führer Rot«, meldete sich einer seiner Piloten, »da kommt was von hinten auf mich zu.« Seine Stimme klang leicht nach Panik. »Ich sehe mich mal um. O Gott — das ist . . .« Danach waren nur noch die Einschläge und Schüsse zu hören. Dann war der Kontakt weg. »Hallo, Rot, was ist passiert? Hallo, Rot, drei, bist du noch da?« Aber Rot drei antwortete nicht mehr. Locke sah sich um. Er erschrak so sehr, daß ihm der Schließmuskel versagte, als er die auf sie zurasenden Riesenhubschrauber erblickte. »O du Scheiße!« war alles, was Pop Keller sagen konnte, nachdem er einen weiten Bogen gezogen hatte und die Bescherung sah. Vier Kampfhubschrauber . . .! »Wir haben da ein kleines Problem, Chris«, sagte er. »Und warum zum Teufel machen Sie dann nicht . . .« Der Rest seiner Frage ging im singenden Aufheulen des Motors unten, als Pop Keller die Maschine abrupt hoch und über die vier Hubschrauber hinwegzog. Doch diese hatten keinerlei Mühe, ebenfalls zu wenden und ihm zu folgen. »Hallo, Rot, hier Führer Rot. Ich habe vier dicke Zecken am Arsch. Ich brauche schnell Hilfe.« Er sprach die Messerschmitt und die Spitfire an: »Versucht es ihnen von hinten zu geben. Die anderen: Bleibt in der Nähe!« »Sie geben es dir bereits von hinten, Führer Rot!« antwortete einer seiner Piloten resigniert. »Das seh' ich selbst, Blödmann«, brummte Pop Keller und zog seine Warhawk noch höher, ließ sie dann nach vorne kippen und drückte das Haifischmaul senkrecht nach unten im Sturzflug. Er mußte die Surrer abschütteln, von denen sich nun zwei lösten, um den Rest seiner Staffel zu verfolgen. »Zumindest haben wir die Kanisterflieger weggeputzt!« brummte Keller. »Bisher machten Sie nicht den Eindruck, Sie seien einer, der leicht aufgibt.« Keller sah ganz verblüfft aus. »Wer hat etwas von aufgeben gesagt? Ich habe nichts als einen Tatbestand festgestellt.«
Neues MG-Feuer verhinderte die Fortsetzung des Gesprächs. Keller tauchte weg, zog dann wieder hoch und gab sich alle Mühe, wenn schon nicht ihrer Reichweite, so doch der Sicht der Hubschrauber zu entkommen. Weiter drüben flogen die beiden Hubschrauber, die sich abgesetzt hatten, gerade den ersten Angriff auf vier seiner Jäger, die ein Ablenkungsmanöver flogen, um der Messermitt und der Spitfire einen Angriff zu ermöglichen. In einem bestimmten Moment tauchten sie gemeinsam alle vier plötzlich weg - als nämlich die beiden anderen aus den Wolken stießen, um sich hinter die Hubschrauber zu setzen. Hallo, Führer Rot, wir sind soweit. Ziel- und Reichweite. »Jetzt!« Aus beiden Maschinen blitzte das Mündungsfeuer auf. Haltet sie am Dampfen, die Kacke!« rief Keller Ihnen ermunternd zu. »Macht sie fertig, die Brüder!« Aber der Spitfire-Pilot meldete gleich darauf: »Negativ, Führer Rot. Volltreffer, aber ohne jede Wirkung.« Pop Keller beugte sich vor. »Die Bande ist gepanzert. Da schlagen unsere Geschosse nicht durch. Mist. Zielt auf den hinteren Rotor!« Der hintere Rotor eines Hubschraubers ist seine Achillesferse. Fällt er aus, hat das Flugzeug keine Stabilisierung mehr. Aber die Messerschmitt und die Spitfire bekamen keine möglichkeit mehr dazu. Ehe sie noch etwas unternehmen konnten, fuhren zwei Raketen aus den Hubschraubern und Trafen mit tödlicher Sicherheit. Nur noch ein Trümmerregen rieselte zu Boden. »Schweinekerle, verdammte. Das büßt ihr mir!« schimpfte Keller. Er zog die Maschine wieder steil hoch, fast rammte er die beiden Kampfhubschrauber, die ihn jagten. Ihre Kugeln mähten quer durch den Rumpf seiner Warhawk. Die Splitter flogen überall herum und verfehlten den Treibstofftank nur knapp. »Komm, altes Mädchen, komm«, beschwor Pop Keller seine Maschine, »fall nicht auseinander. Wir haben noch was zu erledigen.« Er tätschelte sie wie ein Pferd. Dann tauchte er wieder in einen steilen Sturzflug, mitten hinein zwischen die vier Rotor-Rieseninsekten, während er hektisch in sein Mundmikrophon sprach. »Teilt euch, Jungs. Wir nehmen sie in die
Mitte. Rot sieben bis zehn, versucht über sie zu kommen und schießt eure Raketen ab. Vielleicht schafft einer einen Glückstreffer.« Es war ihm durchaus klar, daß die Chancen minimal waren. Praktisch gleich Null. Aber vielleicht würden ihre Manöver die Aufmerksamkeit der Hubschrauberbesatzungen wenigstens so lange in Anspruch nehmen, bis er in voller Angriffsposition direkt von vorne war. »In meinen Bomben ist mehr Feuerwerkzauber als Sprengkraft«, sagte er zu Locke. »Sie sind nicht so explosiv wie echte. Aber für ein großes Durcheinander sind sie allemal gut.« Er zog erneut kurz hoch und war nun wieder über seinen lästigen Widersachern in den gepanzerten Surrkisten, die freilich mit nicht nachlassender Giftigkeit auf ihn schössen, was Keller zu allerlei Ausweichmanövern zwang. Er ließ die Maschine taumeln und wackeln wie betrunken und schaffte es so immerhin, den Hubschrauberbordschützen immer wieder außer Sicht zu kommen. »Scheißspiel, verfluchtes!« brummte er. »So war das ja nicht gemeint, hier! Klemm die Arschbacken zusammen, Chris!« Und ging wieder im Steilflug nach oben, brach ab, drückte die Schnauze der Maschine hinunter und raste auf die beiden Hubschrauber aus allen Rohren ballernd zu. Zur gleichen Zeit drehten die beiden anderen ab, um sich der zwei Mustangs, der Corsair und seiner Trainer zu erwehren, die Keller von der Gegenrichtung zu Hilfe kamen. »Aufpassen, Chris!« schrie Keller und umklammerte seinen Gashebel. Der Frontalzusammenstoß mit einem oder beiden Hubschrauber schien unvermeidlich, als er seine ganzen 2000 PS seines unverwüstlichen »alten Mädchens« in die letzte Attacke warf. Dann schoß er alle seine vier Feuerwerksraketen ab und zog gerade noch hoch. Die Hubschrauber hatten, wie Keller es beabsichtigte, unwillkürlich die Fahrt gedrosselt, und das machte es möglich, daß zumindest zwei seiner Raketen trafen. Es war wahrhaftig ein Feuerwerk, das um das schwere Flugzeug prasselte und sich entzündete. Der Pilot bemühte sich verzweifelt um Balance und darum, seinen Apparat unter Kontrolle zu halten, aber er saß mitten in einer krachenden Rauch- und Splitterwolke, schmierte ab, der Motor blieb stehen. Er fiel wie ein Stein vom Himmel. Als er unten explodierte, gab es noch ein Feuerwerk, diesmal ein grimmigtödliches. Die zwei Kampfhubschrauber, die sich zuvor abgesetzt hatten, erwehrten sich des Angriffs von Pop Kellers Staffel
und erwischten eine der Mustangs schwer. Aber die anderen drei beharkten ihn wütend. Eine ihrer Garben durchschlug die Kanzel und traf den Piloten, der auf der Stelle tot über sein Steuer sank. Das Riesensinsekt drehte sich taumelnd. Sein Begleiter tauchte rasch weg, um sich der Attacke zu entziehen, schoß aber noch eine lasergesteuerte Rakete ab. Die Trainer und die Corsair zerplatzten in einem Funken- und Feuerregen. Die übriggebliebene Mustang gab Fersengeld, zog aber eine schwarze Rauchfahne hinter sich her. »Hallo, Rot sechs und sieben, schaut, daß ihr wegkommt, aber schnell«, schrie Pop Keller, ohne den Blick von dem wütenden Luftkampf abzuwenden, den seine letzten beiden Maschinen mit den beiden Hubschraubern führten. Vor vierzig Jahren hätten sie vermutlich Hackfleisch aus ihren Gegnern gemacht. Aber ihre Mühlen waren inzwischen angsam und schwerfällig geworden. Als sei auch ihre Kraft .erbraucht. Sie waren nicht mehr flott und wendig, so wütend iire Piloten auch weiter schössen. Die Hubschrauber schienen unverwundbar zu sein. Obendrein waren sie erstaunlich wendig und beweglich. Die letzte Mustang ließ sich schließlich abfallen, um sich noch hinter sie setzen zu können. Aber das schafften die Hubschrauber auch. Es war nichts zu machen. Sie gaben sich keine Blöße. Im Gegenteil, sie behielten die Oberhand und schössen auch die letzte Mustang ab. Der Pilot stieg aus. Was blieb ihm übrig? »So, jetzt sind wir noch zwei gegen zwei«, sagte Keller grimmig und jagte die Warhawk vorwärts, um sich einem der Hubschrauber ans Heck zu setzen. Dieser schien senkrecht nach unten zu fallen, als er bemerkte, daß ihn die Corsair von vorne anzugreifen versuchte. Der Corsair-Pilot blieb zwar kaltblütig genug, mitzufallen und zugleich zwei Raketen abzuschießen, aber sie zischten irgendwohin ins Leere. Er versuchte, sich neben Keller zu setzen. Das vereitelte der Hubschrauber, indem er sich seinerseits drehte und plötzlich, wieder aus allen Rohren feuernd, hinter seinem Leitwerk saß. »Sie sitzen mir im Nacken, verdammt!« rief er. »Halt aus«, antwortete ihm Keller. »Ich komme.« »Sie haben mich! Ich bin getroffen!« »Steig aus! Geh raus aus dem Wrack! He, hörst du? He!« Doch es kam keine Antwort mehr. Die Corsair kippte weg und trudelte nach unten. Keller feuchtete sich die Lippen an. »Da waren's nur noch wir beide«, murmelte er nur. Jetzt formierten sich die Hubschrauber und flogen frontal auf die Warhawk zu, um auch den letzten Gegner zu erledigen wie alle
anderen vor ihm, wenn dies auch ein schwieriger Bursche zu sein schien. Das war er in der Tat. Pop Keller hatte schließlich zwanzig Jahre lang die haarsträubendsten Flugmanöver einstudiert und trainiert, um sein Flugshow-Publikum anzulocken, Eintrittskarten zu verkaufen und Spannung und Nervenkitzel zu bieten. Jetzt mußte sein Können ihm und Locke das nackte Leben retten. Seltsamerweise empfand er kaum etwas anderes dabei als bei jeder beliebigen Routine Vorführung. Es lief alles ganz automatisch ab, jeder Handgriff war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er flog perfekt. Sein Flugzeug allerdings nicht mehr. Es war zu alt, es hatte bereits zuviel abbekommen. Es hielt die Anstrengung der vollen 2000 PS des Motors nicht mehr über längere Zeit aus. Die Hubschrauber kamen näher und schienen sich an den letzten vergeblichen Ausreiß- und Ausweichmanöver ihres Opfers zu weiden, bevor sie ihm den letzten entscheidenden Stoß versetzten. Sie hatten es nicht mehr eilig. Es war deutlich zu sehen, daß die altersschwache Mühle vor ihnen es nicht mehr lange machen würde. Und sie bewegte sich vom Flugplatz weg, nicht auf ihn zu. Im Augenblick gab es außerdem keine Düngerflugzeuge am Himmel, die beschützt werden mußten. Sie hatten Zeit genug. Die Bordkanoniere begnügten sich mit gelegentlichen Feuerstößen, während sie der Warhawk immer näher kamen, zuletzt bis auf knapp zweihundert Fuß. Stücke des längst gebrochenen Kanzelglases fielen ab. Locke spürte den Flugwind pfeifen. Es fühlte sich an, als bekäme er Hammerschläge ins Gesicht. Er merkte, daß er an der Schulter blutete. Irgendwann war er von einem Geschoß oder zumindest einem Splitter getroffen worden. Er preßte die Hand drauf und hatte sofort die Finger voller Blut. Pop Keller versuchte weiterhin alle möglichen Flucht- und Ausweichmanöver nach allen Richtungen. Locke spürte, wie ihm allmählich von der ständigen wilden Schaukelei nun auch noch übel wurde. Immerhin war es besser als Kugeln in den Bauch zu bekommen. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß die Blaue Staffel inzwischen sicher den Rest der Kunstdüngerbomber erledigt haben würde. Sie hatten sie zu Kleinholz gemacht, kein Zweifel. Und damit war Tantalus ein für allemal erledigt.
Er hoffte so, wünschte es sich so. Im Grunde seines Herzens war ihm klar, daß keine große Hoffnung bestand. Nicht mit diesen vermaledeiten, unbezwingbaren Kampfhubschraubern . . . D ann e n tde ck t e er da s bli n ke n de rot e Li c ht a n der Tre i bs toffl eitung. Aber auch Pop Keller hatte es bereits gesehen. Er fragte nur mi t grimmiger Ironie: »Sie hätten nicht zufällig ein bißchen Benzin übrig für mich, lieber Freund, nein?« Ahmad Hamshi wußte, daß er die Krise souverän gemeistert hatte. Die ganze verrückte Geister-Flotte war abgeschossen. Er hatte siebenundzwanzig eigene Maschinen gerettet und dazu die Kanister aus sechs weiteren. Die Operation konnte, wenn auch mit einiger Verzögerung, planmäßig forgesetzt werden. Als die Hubschrauber meldeten, daß sie gleich noch den letzten der Angreifer erledigen würden, gab er deshalb das Kommando, die Starts wie vorgesehen wieder aufzunehmen. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Keysar Fiats war zwar abgelegen, aber nicht so fern jeder Zivilisation, daß eine Luftschlacht wie diese völlig unbemerkt bleiben könnte. Sie hatte im Gegenteil mit Sicherheit Aufmerksamkeit ringsum erregt. Bald würden die ersten Neugierigen auftauchen. Von Behörden, Polizei, Armee gar nicht zu reden. Und daß dann die Kanisterflugzeuge — und vor allem ihr Inhalt — gefunden würden, durfte wirklich nicht geschehen. Die Leute an den MGs und Flakgeschützen blieben auf ihren Posten und suchten aufmerksam weiter den Himmel ab. Es konnte immer noch eine neue Angriffswelle unvermutet von irgendwoher auftauchen. Die Motoren der Flugzeuge aber liefen nach und nach alle wieder an. Die ersten beiden Maschinen rollten bereits zur Startbahn. Ahmad Hamshi konnte ein zufriedenes, erleichtertes Lächeln nicht unterdrücken. Es gefror ihm, als die blaue Piper plötzlich über die Hangardächer dahergeflitzt kam. Wie aus dem Nichts. Im donnernden Tiefflug. »Jaaaa - huuuuuu!« schrie Mickey Ostrovsky wild in der Maschine. Eingeweide hingen ihm aus dem Leib, über den Gürtel. Eine klaffende Wunde war dort. Er beobachtete sie einfach nicht. Der Krebs hatte ihn schon lange gelehrt, Schmerzen zu
ertragen, und mehr als zwei Monate hatte er ohnehin nicht mehr zu leben. Hatte der Arzt gesagt. Zwei Monate oder eine Minute, wo war da der Unterschied? Eine Minute war alles, was er noch brauchte in diesem Leben. Er hatte kurz zuvor fast eine Bruchlandung gemacht, aber es geschafft, die Mühle zu halten. Eine Weile war er ohnmächtig gewesen. Dann war er wieder zu sich gekommen, hatte die Kiste wieder in die Luft gehievt und die große Kurve genommen. Millimeterknapp über das Hangardach hinweg. Schnurgerade auf die Geschütze zu. Sie feuerten wie verrückt auf ihn. Eine Garbe durchfuhr seine Brust. Sollten sie doch, was änderte das noch. Er hatte edenfalls seinen Finger auf den Raketenknöpfen. Drei zischten unter seinen Tragflächen weg. Er selbst folgte ihnen und barst Krachend in die Formation der Kanisterflugzeuge hinein, Während seine Raketen deren hintere Reihen erwischten. Im nächsten Augenblick herrschte das totale Chaos in einem verbeulten, ineinandergeschobenen brennenden Trümmerhaufen. Wie bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn. Mickey O. hing zwischen dem Trümmerinferno in seinen Gurten und wartete auf den erlösenden Augenblick der Explosion. Dann kam sie. Nicht eine. Eine ganze Serie von Explosionen, nacheinander, als die Tanks der Flugzeuge wie in einer Kettenreaktion, wie überdimensionale Kracher an einer Schnur, in die Luft flogen. Ahmad Hamshi starrte mit offenem Mund in das Chaos. Das konnte nicht wahr sein. Es war unmöglich. Alles war schon vorüber gewesen! Er rannte hilflos hin und her und schrie Befehle. Aber niemand hörte sie, der Feuersturm und der Lärm der Explosionen übertönte sie. Es war nichts mehr zu retten. Die Überlebenden, die nicht verletzt waren, stoben auseinander und versuchten sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich lief er ebenfalls weg. »Kampflos kriegen sie uns nicht«, knurrte Pop Keller. Er zerschlug das rote Warnlicht mit der bloßen Faust. »Halten Sie sich fest, Chris!« Der Kampfhubschrauber waren kaum noch fünfzig Meter hinter ihnen. Keller kurvte pausenlos hin und her und auf und ab um ihnen kein Ziel zu bieten. Doch das Flugzeug war nicht mehr leistungfähig genug, ihm den Vorteil auch wirklich einzubringen,
den er zu erlangen versuchte. Aber er selbst konnte so nur schlecht schießen. Die Hubschrauber versuchten in aller Ruhe systematisch ihn zu jagen, um dann in die entscheidende Schußposition zu gelangen. Es war ihm völlig klar, daß er keine Chance mehr hatte. Er schoß also einfach so lange, bis alle Magazine leer waren. Und als müßte es so sein, stotterte gerade jetzt auch noch der Motor. Die Hubschrauber machten sich bereit zum entscheidenden Sprung auf die Beute. Sie beschossen die absinkende, trudelnde Warhawk noch mit letzten Garben. Dann machten sie sich zum Gnadenstoß bereit: der letzten Rakete, die dem ungleichen Kampf ein Ende setzen würde. Und dann kam diese ungeheure Explosion. Das ist es, dachte Locke und kniff die Augen zu, um, wenn er sie wieder öffnen würde, den Tunnel am Ende der Welt vor sich zu sehen. Doch er sah etwas völlig anderes. Vom Himmel fielen, sich drehend und brennend, langsam die Trümmer eines Hubschraubers. Er dachte: wie eine Rüstung, die von einem stürzenden Ritter abfällt. Er starrte auf die Trümmer und dann auf den norh übriggebliebenen Hubschrauber. Und wie von seinem Blick getroffen, explodierte in diesem Augenblick auch er. Er dachte: das kann nicht sein; das ist eine Halluzination . . . Doch vor ihm schien Pop Keller in seinem Pilotensitz vor Freude in die Höhe zu springen, obwohl er fest angegurtet war und nach wie vor verzweifelt versuchte, das trudelnde Flugzeug wieder unter Kontrolle zu bekommen. Da sah er sie erst. Zwei F-16. Sie donnerten über sie hinweg und kamen dann in weiter Schleife zurück, um ihnen beizustehen. Chris Locke fühlte plötzlich die Tränen in seinen Augen. Diese beiden Jets waren der schönste Anblick seines Lebens, und er gestikulierte wild mit seinen Armen, bis ihm seine Schmerzen zu Bewußtsein kamen: seine Schulter war verletzt und mußte geschont werden. Er stöhnte auf, und in seinem Stöhnen lag mehr Erleichterung als Schmerz. Obwohl der Schmerz höllisch war. »Ruhe, Freund«, rief Pop Keller. »Noch sind wir nicht aus dem Schneider.« Wie zur Bestätigung stotterte der Motor noch einmal und blieb dann stehen. Der letzte Tropfen Sprit war verbraucht. Pop
Keller versuchte, eine Thermik zu finden, um in einem Gleitflug eine glimpfliche Bauchlandung zu versuchen. Aber die Erde kam schnell auf sie zu. Das letzte, an das Chris Locke sich erinnerte, war, daß er noch automatisch geprüft hatte, ob seine Anschnallgurte festsaßen. Der Aufprall riß ihn nach vorne und schleuderte ihn dann ebenso und heftig zurück. Er knallte mit dem Kopf gegen die Sitzlehne. Ein ungeheurer Sog riß ihn hoch, preßte ihn gegen die Gurte. Und dann war da nur noch das Gefühl, als würde er aus einer Kanone in den leeren Raum katapultiert. Die Warhawk war beim Aufprall auseinandergeborsten. Er war tatsächlich im hohen Bogen durch die Luft geflogen. Landete irgendwo. Der Aufprall verursachte ein Geräusch, als breche jeder einzelne seine Knochen. Er überschlug sich und purzelte endlos weiter. Jede einzelne Stelle seines Körpers schmerzte, und der Schmerz breitete sich aus wie Lava bei einem Vulkanausbruch. Dann kam die Dunkelheit.
Zehnter Teil San Sebastian Montagvormittag ROSS Dogan zog in der Ladebucht der C-160 seine Fallschirm gurte noch einmal fesl. Er stand dort dichtgedrängt zwischen 150 Elitespringern der Armee, die einander Zigaretten und Bonbons weiterreichten. Seit zehn Minuten war es still geworden. Der Absprung stand kurz bevor, und keiner wandte mehr den Blick von dem roten Signallicht ab. Sobald es zu blinken begann, war es soweit. Auch Dogan starrte wie hypnotisiert auf das Licht. Er kämpfte gegen die bleierne Müdigkeit an, die ihn zu überwältigen drohte. Er konnte kaum noch die Augen offenhalten. Aber tatsächlich mußte er die nächsten Stunden in Topform sein. Calvin Roy hatte rasch gehandelt, nachdem er gestern seinen Bericht gehört hatte. Er hatte ihn weder angezweifelt noch durch viele Fragen unterbrochen, sondern kurz entschlossen die beiden F16 nach Keysar Fiats geschickt. Von dort aus kam dann die Nachricht, daß auf der eingemotteten Air Force Base, wo die Kanisterflugzeuge hatten starten wollen, schon vor deren Eintreffen so gut wie alles erledigt war. Sie hatten lediglich noch den letzten Rest zu besorgen. Seltsamerweise schien eine obskure Flugshowtruppe, bestehend aus Veteranen, die Arbeit besorgt zu haben. Genauere Einzelheiten waren noch nicht bekannt. Auch nicht, was mit Christopher Locke geschehen war. Dogan bezweifelte keinen Augenblick, daß dieser bizarre Sturm nur Chris Lockes Werk gewesen sein konnte. Er hoffte nur, daß er mit dem Leben davongekommen war. Einfach verflüffend, dieser Amateur. Es war immer wieder erstaunlich, wie schnell Menschen lernen konnten, wenn sie mußten. Roys erster Gedanke war ein Luftangriff auf San Sebastian, nachdem Aufklärer-Fotos am Ort der ausgelöschten Stadt starke Menschen- und Malerialmassierungen angezeigt hatten. Aber Dogan hatte nachdrücklich davon abgeraten. Zwar würde ein Luftangriff sicherlich die dort gelagerten Kanister zerstören. Aber man konnte nicht wissen, ob Mandala nicht woanders noch Reserven hatte. Nein, ein Bodenangriff war die einzig akzeptable Lösung. Mandala mußte zuverlässig ausgeschaltet
werden. Es durfte keine Chance bekommen, am Tag darauf oder irgendwann, doch noch seinen wahnsinnigen Anschlag auszuführen. Das hatte Roy schließlich überzeugt, und er hatte die schwerfällige Bürokratie auf seine, ihm eigene, deftige Weise auf Trab gebracht, um eine Eliteeinheit der Rangers für eine Auslandsoperation in Marsch zu setzen. Noch am Abend waren die beiden-C-160-Transporter abgeflogen, um neun Uhr, nur mit einer kurzen Zwischenlandung in Panama zum Auftanken, um dann sofort nach Kolumbien weiterzufliegen. Der Plan War die überraschende Umzingelung und Einkreisung Mandalas und seiner Truppen von den Hügel um San Sebastian herab. Bis hierher war alles mit größter Präzision reibungslos abgelaufen. Das rote Licht blinkte. Ohne daß ein Wort gesprochen wurde, stellten sich die Ranger in einer Reihe zum Absprung aus den Luken auf. Dogan reihte sich wie ein jeder andere. Er flog zwar im CIA-Auftrag mit, unterstand aber während der Operation dem Befehl des Kommandeurs der Rangers. Seine Aufgabe war, Mandala selbst zu fangen. Die Ranger hatten sich um den Rest zu kümmern. Er atmete ein, so tief er konnte. Fallschirmabsprünge waren ihm selbst unter optimalen Bedingungen immer ein Greuel gewesen. Als die Reihe an ihm war, schloß er mit weichen Knien die Augen, ehe er sprang. Der Fall war rasch und unangenehm, wozu sein beträchtliches Gepäck einiges beitrug. In seinem Gepäck befanden sich zwei Laws-Raketen - die Miniatur-Panzerfaust der Armee -, eine Mac-10-MP mit vier Reservemagazinen, und seine Lieblingspistole, eine Heckler und Koch P-9. Er hatte Mühe, auf gleicher Höhe mit den anderen.zu bleiben. Er versuchte durch Gewichtsverlagerung und Drehungen, seine Gruppe zu erreichen. Seine Landung war hart. Er rollte sich ab und kam auf die Füße, während oben das schwere Gerät abgeworfen wurde und die Rangers bereits das Feld räumten, auf dem die Last niedergehen sollte. Nach erstaunlich kurzer Zeit - es war kaum eine Stunde vergangen waren sie marschbereit. Sie waren aus Sicherheitsgründen,
damit das Luftlandcmanöver nicht entdeckt wurde, gute dreißig Meilen südlich von San Sebastian abgesprungen, obwohl Dogan nicht glaubte, daß Mandala etwas dergleichen vermutete und entsprechende Wachen aufstellte. Für eine solche Befürchtung gab es keinen Grund. Er konnte davon ausgehen, daß niemand eine Ahnung von diesem seinem End-Spiel hatte. Das Problem hier war der Transport. Das iranische Rettungsunternehmen seinerzeit war wegen des unglücklichen Zusammentreffens von schlechtem Wetter und mangelnder Ausrüstung und Versorgung gescheitert. Hier war das Wetter kein Problem. Aber angesichts der knappen Zeit kam ein Fußmarsch über dreißig Meilen nicht in Frage. Transportmittel mußten also nicht nur verfügbar, sondern auch absolut zuverlässig sein - und zwar, sollte das Unternehmen ein voller Erfolg werden, einschließlich der fahrbaren Artillerie und Flak. Auch nicht ein einziges Flugzeug, auch nicht ein einziger Kanister in diesen Flugzeugen durfte Mandala übrigbehalten. Ein weiteres Problem war die Notwendigkeit, daß Mandala unter keinen Umständen vor dem tatsächlichen Beginn des Sturms von ihrer Anwesenheit etwas erfahren durfte. Er hatte ohne Zweifel überall rund um die einstige Stadt in den Hügeln Wachen postiert. Die Rangers und ihre schwere Ausrüstung ließen sich auf mindestens eine halbe Meile problemlos ausmachen. Dogans Vorschlag wurde schließlich zum offiziellen Plan. Als sie unter der brennenden, drückenden Sonnenhitze auf San Sebastian vorrückten, blieb ihnen nur die Hoffnung, daß er auch wirklich funktionierte. Sie brauchten eineinhalb Stunden bis in die unmittelbare Umgebung der niedergebrannten Stadt. Dort ließen sie ihre Fahrzeuge zurück, um den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Sie näherten sich San Sebastian aus drei Richtungen, die letzten Meilen geduckt oder kriechend und robbend. Alle drei Abteilungen hielten etwa fünfzig Meter vor den Stellen an, wo die ersten Außenposten Mandalas gesichtet worden waren. Dogan nickte dem bärtigen Kommandeur zu und ging allein los. Er robbte auf einen der Hügel, die die frühere Stadt säumten. Da seine Aufgabe darin bestand, sich ungesehen unter den Feind zu mischen und nicht nur die Flugzeuge zu zerstören, sondern auch Mandala selbst auszuschalten, war kein Sturm möglich, ohne daß er zuvor das' Terrain genauestens erkundet hatte. Erst dann konnte er
dem Kommandeur das vereinbarte Signal für den eigentlichen Sturm geben. Er kroch weiter durch Gestrüpp, Trümmer, Brandreste und Schmutz bis vor die erste Verteidigungslinie. Zum Glück waren die Wachen in sehr großen Abständen postiert. Außerdem waren sie bunt zusammengewürfelt und trugen alle möglichen verschiedenen Uniformen, ein Umstand, der Dogan günstig für eine spezielle zusätzliche Nuance seines Operationsplanes zu sein schien. Er robbte sich vorsichtig und langsam so nahe heran, daß er fast den Stiefelgeruch des herankommenden patrouillierenden Postens in der Nase hatte. Der Posten war wenig aufmerksam und richtete seine Augen vor allem zur Stadt hinüber und nicht auf die umliegenden Gebiete. Das traf sich günstig. In dem Augenblick, als er direkt an ihm vorbeging, zog Dogan ihm ein Bein weg und brach ihm, während er noch fiel, mit einem Handkantenschlag das Genick, um dann mit größter Gelassenheit und Selbstverständlichkeit auf und an der Stelle des Toten weiterzugehen. Er holte ein Fernglas aus der Tasche. Als er auf die leere Fläche hinunterblickte, auf der bis vor zwei Wochen noch die Stadt San Sebastian gestanden hatte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Sowie er jetzt stand damals wohl Lübeck irgendwo hier und beobachtete mit dem Fernglas, was dort geschah. Er verscheuchte diese Gedanken, stellte das Glas auf größte Schärfe ein und blickte dann demonstrativ ins Gelände, wo die Ranger im Gebüsch lagen. Aber er konnte auch durch das Glas nicht die kleinste Spur von ihnen entdecken. Schon bemerkenswert. Er wandle sich nach der anderen Seite um, zur einstigen Stadt. Das Gelände war voller Truppen. Besonders zahlreich konzentrierten sie sich an einer Stelle im Norden, wo eine Behelfsrollbahn angelegt worden war. Etwa ein Dutzend Flugzeuge standen dort exakt aufgereiht in Warteposition. Dann erkannte er es erst. Das waren keine einfachen Flugzeuge. Es waren kleine Jets. Jeder von ihnen in der Lage, die Fungussporen-Kanister ganz erheblich weiter zu transportieren als die einfachen »Kunstdüngerbomber« in Keysar Fiats. Mit diesem Dutzend Maschinen war die Operation mühelos zu bewerkstelligen - unter der Voraussetzung, daß Zwischenlandungen zum Auftanken organisiert waren. Und da hatte er keinen Zweifel. Auf dem freien Gelände, dort, wo früher die Stadt war, herrschte reges Treiben. Ein Teil der Uniformierten hantierte mit Schaufeln. In einer langen Reihe wurden von dort aus silbrige Kanister
weitergereicht und auf Jeeps verladen. Das allein erklärte die Wachen, die Mandala hier die ganze Zeit postiert gehabt hatte. Diese Kanister hatte niemand entdecken dürfen. Sie waren dort vergraben gewesen - offenbar schon, bevor die genetisch behandelte Saat gepflanzt worden" war. Also gab es bereits damals schon einen exakten Terminplan! Es war ein perfektes Versteck. Wer hätte schon erwartet, daß Mandala den Boden, unter dem sie vergraben waren, niederbrennen würde? Die Jeeps waren umgeben von einem erstaunlichen Aufgebot kleiner Panzer, leichter Artillerie und MG-Nester hinter Sandsackbarrieren. Die ganze Szenerie ließ darauf schließen, daß Mandala vielleicht keinen Angriff erwartete, aber doch auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Die Umsicht seiner Planung war respekteinflößend. Dogan hatte genug gesehen. Er drückte auf den Senderknopf an seinem Gürtel, der dem Kommandeur der Ranger das verabredete Signal gab. Zwei Minuten später brausten, Kondensstreifen nach sich ziehend, zwei Jets im Niedrigflug, kaum dreihundert Meter hoch, über das Gelände. Panik entstand, ein aufgeregtes Durcheinander, in völliger Überraschung blickten die Leute auf die heranzischenden kleinen Raketen, die explodierten, als sie am Boden auftrafen. Dicke graue Wolken stiegen auf. Da war Dogan bereits unterwegs, den Hügel hinab, stolpernd und hastend und mit verzerrtem Gesicht. Die angreifen den Ranger konnten Gasmasken aufsetzen. Er aber mußte den Weg bis zur Rollbahn hinter sich bringen und während dieser Zeit aus Vorsichtsgründen wie ein Mitglied von Mandalas Truppen aussehen, konnte also nicht gut als einziger von ihnen eine Gasmaske tragen. Außer der Funktion, vom Angriff der Rangers abzulenken, hatte das abgeworfene Gas auf Augen und Atemwege die gleiche Wirkung wie Tränengas. Dogan hustete und seine Augen tränten, aber er mußte so rasch wie möglich die Jets erreichen. Hinter ihm begannen die ersten Feuergefechte. Die Ranger gingen jetzt planmäßig im rücksichtslosen Sturmangriff vor. Sie waren im klaren Zugvorteil und gedachten ihn zu behalten und auszunützen. Dennoch schössen sich Mandalas Artillerie und Panzer ein, und wenn sie auch nur wenige Verluste verursachten, verlangsamten sie doch den Sturm der Ranger, deren eigene Artillerie eben erst in Stellung fuhr und vor allem die Flugzeuge abzuschießen hatte, sobald sie zum Start ansetzten. Dogan rannte geduckt durch die Linien und hielt sich ein Tuch vor den Mund, während Mandalas
Truppen im Gegenangriff an ihm vorbeistürmten. Seine Nase brannte, als hätte er Ammoniak eingeatmet, und seine Augen tränten und waren rot entzündet. Aber er rannte weiter, während der Gefechtslärm hinter ihm immer heftiger wurde. Es war zu erkennen, daß die erste Einheit der Ranger das Stadtgelände erreicht hatte und mit Mandalas vorderster Sturmreihe nun direkt konfrontiert war. Er rannte schneller. Die Mac-10 hielt er inzwischen im Anschlag und fühlte sich mit der Heckler und Koch P-9 an der Hüfte, die er für Notfälle bei sich trug, sicher. Doch sein schwerer Gepäcksack bremste ihn erheblich. Die Ranger gingen nach der Trichterstrategie von zwei Seiten gleichzeitig gegen Mandalas Leute vor und bewegten sich stetig, den Kreis um den strategischen Mittelpunkt immer enger zusammenziehend. Schon deshalb mußte er sich beeilen, so schnell es ging, um nicht selbst in die Schlinge dieser Kampflinie zu geraten. Die Rollbahn lag.ganz am Ende des Geländes. Dort wurde der Gasnebel merklich dünner. Er konnte wieder etwas besser sehen, da seine Augen nicht mehr so stark tränten. Noch immer war der direkte Kampflärm ein gutes Stück hinter ihm. Er hatte sich so sehr auf sein Ziel konzentriert, daß ihn die Schußgarbe vor seine Füße vollkommen überraschte. Er warf sich zu Boden, rollte sich zur Seite und richtete die Mac-10 feuerbereit in die Richtung, aus der geschossen worden war. Es blieb ruhig. Er kroch vorsichtig weiter hinter einen geparkten Jeep. Als er dahinter hervorlugte, erkannte er einige MG-Nester zu beiden Seiten der Rollbahn, die die Jets bewachten, welche jetzt mit fieberhafter Hektik weiter beladen wurden. Die Piloten schienen bereits mit ihren Start-Checks beschäftigt zu sein. Die Ranger würden spätestens in einigen Minuten durch die Abwehrlinie brechen. Das konnte bereits zu spät sein. Die Flak-Artillerie auf den Hügeln konnte auch nicht mit jedem Schuß treffen. Es mußte etwas geschehen. Jetzt gleich. Die Jets durften nicht vom Boden wegkommen. Er nahm seinen Sack von der Schulter und öffnete den Reißverschluß. Er holte drei Handgranaten heraus und eine der Laws-Raketen, außerdem eine von zwanzig Feuerwerksbomben mit Plastiksprengstoff. Er hob sich das Schußrohr der Laws auf die Schulter und stellte das Visier hoch. Er zielte auf den ersten Jet. Das würde der erste sein, der starten würde. Er mußte zumindest erst einmal Verwirrung stiften.
Er schoß die Laws ab. Der Jet explodierte in einem mächtigen Feuerball. Die MG-Besatzungen waren so überrascht, daß sie lange genug abgelenkt waren, ihm ein Aufspringen zu ermöglichen, und zwei bereits abgezogene Handgranaten zu werfen. Sie trafen nicht besondes gut, aber es reichte, die MGs außer Gefecht zu setzen. Noch während sie durch die Luft flogen, zog Dogan eine dritte ab und warf sie hinterher, mitten in die herbeilaufenden Soldaten, was Panik und allgemeine Flucht auslöste. Hinter ihm war der Kampf weiterhin in vollem Gange. Mandalas Leute hatten sich offenbar irgendwie gesammelt. Er rannte hinaus auf die Rollbahn. Er war ungedeckt, aber falls noch irgend jemand da war, der ihn laufen sah und auf ihn hätte schießen können, hielt ihn womöglich die allgemeine Verwirrung davon ab. Ein einzelner Mann ohne Gasmaske rannte auf die Jets zu. Das kohnte auch einer der eigenen Leute mit einem Spezialauftrag oder irgendeiner Hilfsabsicht sein. Er lief hinter den ersten Jet und sah sich um. Er mußte vermeiden, ins Feuer der eigenen näherkommenden Rangers zu geraten. Die dicken Gasschwaden kamen jetzt auf die Rollbahn zugeweht. Es war klar, er mußte nun in aller Eile die Sprengsätze in den Jets anbringen. Er setzte seinen Gepäcksack auf dem ausgetrockneten, kahlen Boden ab uhd holte vier kleine Bomben heraus. Um den ersten Jet brauchte er sich nicht mehr zu kümmern, den hatte bereits die Laws-Rakete geschafft. Er brauchte also nur noch elf Ladungen. Er stellte die Zeitzünder auf vier Minuten ein und schob die erste Ladung ins Heck eines der Lears. Auch die zweite und dritte bereiteten keine Probleme. Doch die vierte hielt nicht. Er war eben dabei, das Klebeband noch einmal zu überprüfen, als der Schlag kam. Nur die Tatsache, daß er etwas seitlich gebeugt gestanden hatte, verhinderte, daß ihn die volle Wucht des Schlages traf - und rettete ihm damit das Leben. Er fuhr herum und sah den chinesischen Hünen Shang vor sich. Die Mac-10 lag bei seinem Gepäcksack. Es blieb nur die Heckler und Koch. Er brauchte nur einen Lidschlag, um sie zu ziehen. Er wußte, daß es ein Kopf- oder Genickschuß sein mußte. Jeder andere Treffer richtete bei Shangs »Stahlunterwäsche« nichts aus. Er feuerte den ersten Schuß ab, während sich noch alles um ihn drehte. Er traf nicht. Shang stürmte bereits auf ihn los. Sein zweiter Schuß traf Shang seitlich am Kopf und riß ihm buchstäblich das Ohr weg, aber der beachtete das gar nicht weiter. Er war über Dogan, ehe dieser ein
drittes Mal zielen und abdrücken konnte, so daß Grendels nächste drei Schüsse an seine Brust fuhren und erwartungsgemäß nichts ausrichteten. Da hatte Shang ihm auch bereits die Pistole aus der Hand geschlagen, und sie flog in den grauen Rauchnebel. Dann holte er zu einem gewaltigen Schwinger aus, der auf Dogans Kopf gezielt war. Aber Dogan vermochte sich gerade noch wegzuducken. Shang schlug nur eine Beule in den metallischen Rumpf des Flugzeugs. Dogan wich zurück. Shang lächelte. Seine Schlitzaugen wurden noch enger. Er kam auf den Mann zu, den er bereits in Rom getötet zu haben glaubte. Dogan entschloß sich selbst zu einem Angriff und wollte dem Hünen in die Beine treten. Aber Shang war so nicht beizukommen. Er ahnte es im voraus und verpaßte Dogan einen Fußtritt, daß dieser zu Boden stürzte. Shang trat ihm gegen den Kopf. Dogan faßte den tretenden Fuß blitzschnell und drehte ihn. Dann stieß das eigene Bein nach oben, dem Hünen in die Leisten. Es war ein mächtiger Tritt. Aber wieder nur gegen den Stahlschutz. Das gab Shang die Chance, seinerseits Dogans Fuß zu fassen und herumzudrehen. Grendel fühlte sich hochgehoben und drehte sich rasch auf den Bauch. Mit einem Beinstoß befreite er sich. Doch da traf ihn bereits Shangs anderer Fuß in den Leib. Gleich danach wurde er hochgerissen und flog zur Seite. Es schmerzte entsetzlich, aber er gab dem Schmerzgefühl nicht nach. Und schon traf ihn der andere Fuß. Doch er packte zu und riß ihn herum. Shang verlor die Balance und taumelte rückwärts. Dogan rappelte sich mühsam hoch und sah, während er sich vor Schmerzen krümmte, die in seinem Leib und in seinen Knien wüteten, den Hünen bereits wieder auf sich zukommen. Zehn Schritte neben ihm lag sein Sack. Wenn er den erreichen konnte ... Dazu gab Shang ihm keine Gelegenheit. Es war unglaublich, daß ein solcher Riese sich so flink und geschmeidig bewegen konnte. Im nächsten Augenblick hatten ihn seine Hände bereits wie Schraubstöcke gefaßt und warfen ihn gegen den Rumpf des Flugzeuges hinter ihm, um gleich danach wieder zuzuschlagen. Ein Schmerz wie ein scharfer Messerschnitt durchfuhr ihn zwischen den Schullerblättern. Dann hob Shang ihn hoch empor in die Luft. Das war die Chance. Er hieb gegen Shangs Schädel - genau dort, wo ihm sein Streifschuß zuvor das Ohr abgerissen hatte. Der Hüne verzog das Gesicht und ließ los. Er stürzte zu Boden, während Shang, aus dessen Wunde ein Blutstrom hervorschoß, der seinen weißen Anzug
rötete, etwas wankte. Doch das stachelte den Zorn des Riesen nur erneut an. Er ging wieder auf Grendel los. Der duckte sich jedoch rasch weg und riß den Ellbogen hoch. Er traf Shang am Hinterkopf, Shang stürzte mit dem Gesicht in den Flugzeugrumpf. Sofort hatte ihn Dogan bei den Haaren gepackt und stieß ihn noch einmal gegen das Metall. Shang fuhr blutüberströmt wie der Blitz herum und schlug einen zornigen Schwinger. Den hatte Dogan erwartet und wich aus. Die Wucht des Schlages riß den Chinesen herum. Als nächstes hieb ihm Dogan seine Handknöchel hart in den Kehlkopf. Shang rang keuchend nach Atem. Seine Augen traten hervor. Dogan setzte zum tödlichen zweiten Schlag in des Hünen Kehle an. Aber noch immer oder schon wieder - hatte Shang die Kraft, ihm in die Parade zu fahren und ihm die eigene Handkante gegen die Finger zu schlagen. Die Wucht dieses Zusammenpralls schien Dogans Handknochen einzeln zu brechen. Er flog förmlich nach hinten und schrie vor Schmerz laut auf. Das wäre das Ende gewesen, hätte es sein müssen - wenn Dogan seinem entsetzlichen Schmerz nachgegeben hätte, statt mit letzter Willenskraft wieder aufzuspringen, während sich Shang bereits über ihn beugte, um ihn endgültig zu erledigen. Er warf sich mit aller Macht nach oben und stieß Shang mit dem Kopf unter das Kinn. Dessen Kopf flog nach hinten. Er reagierte mit einem blindwütigen Gegenhieb. Aber da hatte sich Dogan bereits wieder weggeduckt und rammte ihm die eigene Schulter in den Leib. Der Aufprall gegen die Stahlweste -kam Dogan vor, als flöge er gegen eine Betonwand. Immerhin taumelte Shang rückwärts und flog mit dem Hinterkopf direkt gegen die Schmalkante der Tragfläche des Flugzeugs. Es war etwas benommen und vermochte nichts gegen Dogans Finger zu tun, die ihm in die Augen fuhren. Im instinktiven Reflex schlössen sie sich zwar, aber die Finger drückten sich doch tief ein. Er brüllte vor Schmerz auf und schlug und krallte blindlings vor sich. Doch Dogan war bereits fort und hastete zu seinem Gepäcksack. Während Shang ihm, halbblind, halbgeblendet, die Hand vor den Augen, nachtaumelte und aus der Innenta sehe seiner Jacke eine blitzende Klinge hervorzog, holte Dogan aus seinem Sack die zweite Laws-Rakete, steckte sie auf, entsicherte und hielt die tödliche Waffe in seinen vor Entkräftung bereits zitternden Händen. Shang stürzte, die Klinge zückend, auf ihn zu. Da feuerte er die Laws ab. Sie fuhr mitten durch den Chinesen, und zerriß ihn in Stücke, die danach zusammen mit den Metallsplittern zu Boden regneten. Dogan keuchte erschöpft. Aber er konnte sich jetzt keine Verschnaufpause gönnen. Denn inzwischen hatte sich die Gaswolke
etwas aufgelöst und den Blick auf die Kampflinie freigegeben. Mandalas Leute hatten ihre Stellung nicht nur gehalten, sondern sie leicht gegen die Ranger vorgeschoben. Sie hielten die Linie, um einigen Piloten auf der anderen Seite zu ermöglichen, die Lear-Jets zu erreichen und zu starten. Das waren keine Giftverteiler, erkannte Dogan, sondern nur Kuriere, die die Kanister zu den anderen vorgesehenen Abwurfstellen in ganz Südamerika bringen sollten. Er rappelte sich auf, ergriff die MP mit der unverletzten Hand und seinen Gepäcksack mit der anderen. Er mußte auch die übrigen Maschinen noch außer Gefecht setzen, auch wenn einige von Mandalas Leuten bereits hergerannt kamen, um den Piloten den Weg freizukämpfen. Dogan gab eine Garbe auf sie ab und rannte zum nächsten Flugzeug, während ihm Kugeln um die Ohren pfiffen und singend von den Flugzeugen abprallten. Die Zeitzünder seiner Bomben mußten mittlerweile bis auf weniger als eine Minute abgelaufen sein, so daß ihn für diejenigen, die er jetzt noch anbrachte, gerade noch fünfund-vierzig Sekunden Zeit blieb. Er steckte noch zwei weitere ein, oino dritte, aber bei der vierten fuhr ihm eine Kugel in die Seite und wirbelte ihn herum. Drei Bewaffnete kamen vom Ende der Rollbahn auf ihn zugestürmt. Er duckte sich ab, spürte aber, daß er auch in die Schulter getroffen war. Ein warmer Blutstrom sickerte aus seiner Wunde und durchnäßte die Kleider. Es war seltsamerweise fast wohltuend. Die drei Männer drangen auf ihn ein. Er fiel zu Boden. Noch im Stürzen feuerte er eine Garbe aus der Mac-10. Die drei sanken um. Und jetzt stürmten die Ranger. Mandalas Truppen wurden auf der ganzen Linie zurückgedrängt. Das Netz zog sich enger und enger zusammen. Sie waren fast an der Rollbahn, als Dogan sich wieder erhob und auf weichen Knien noch eine Bombe in ein Flugzeug praktizierte. Drei waren noch übrig, und die Zeit verrann. In weniger als dreißig Sekunden würden die Detonationen beginnen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die nächsten beiden Flugzeuge auszulassen und die drei restlichen Sprengladungen in das letzte Flugzeug zu schieben, um sich dann eiligst zu entfernen. Die Rangers schössen neue Gasgranaten ab, als Mandalas Leute bis zur Startbahn zurückgewichen waren. Dogans Aussehen und seine Verletzungen ließen ihn für Mandalas Leute als eine der ihren erscheinen. Sie kümmerten sich nicht um ihn, als er an ihnen vorbeirannte, über die Startbahn lief und das freie Feld erreichte. Er warf einen Blick zurück, einige Piloten kletterten hastig in ihre Cockpits, um abzufliegen. Die Explosionen würden Schauer von Trümmern durch die
Gegend fliegen lassen. Er mußte Abstand gewinnen, um . . . Die ersten vier Explosionen gingen praktisch im selben Moment los. Sie überdröhnten den Kampfeslärm ohne chwierigkeiten und rissen alle, die noch standen, einschließlich Dogan, von den Füßen. Die nächsten fünf Explosionen folgten in Abständen von wenigen Sekunden hintereinander. Sie hinterließen einen Trümmerhaufen und richteten unter den Kämpfenden ein Butbad an. Dann folgten in einer Kettenreaktion die Explosionen der Treibstofftanks. Ein einziges Flammenmeer stieg zum Himmel auf. Die umherfliegenden Trümmer der Flugzeuge hatten Dogan verschont - und, wie er hoffte, auch die Ranger. Die zur Rollbahn zurückgewichenen Leute Mandalas waren alle tot. Der Kampf war vorüber. Aber wo war Mandala? Er humpelte den vorrückenden Rangern entgegen und hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Dogan, CIA«, sagte er, nach Atem ringend, »ich bin einer von euch.« Drei der Leute kamen mißtrauisch näher, während andere die Leute Mandalas zusammentrieben, die das Ganze überlebt hatten. Einer der Ranger sah ihn genau an. Dann nickte er. »Hinter dem bin ich abgesprungen«, sagte er zu den anderen. »Tolle Leistung da an der Startbahn. Waren Sie, nicht war?« Dogan nickte schwach. »Ihr Typen von der CIA kennt aber auch alle Tricks, Mann.« Der Kommandeur der Rangers ging durch die Reihen der Verwundeten. Dogan humpelte neben ihm. »Er ist nicht dabei«, sagte Grendel. »Wir haben die Toten noch nicht inspiziert«, wandte der Kommandeur ein. »Das können wir uns schenken«, antwortete Dogan. »Der ist genausowenig unter den Toten wie unter den Verwundeten. Da bin ich ziemlich sicher.«
»Wo zum Teufel ist er dann?« Er entfernte sich. Dogan setzte sich kurz auf einen Jeep mitten auf dem Platz, der einmal das Zentrum von San Sebastian gewesen war, und dachte nach. Die Ranger hatten noch immer das ganze Gebiet umzingelt. Da kam niemand durch. Es hatte auch niemand versucht. Alles, was sich noch bewegt hatte, war gefangengenommen worden und wurde bereits verhört. Das hieß, Mandala mußte noch irgendwo sein. Worauf wartete er? Wenn er sich verborgen halten konnte, bis die Ranger abgezogen waren, konnte er seine Flucht organisieren. Nur, wie wollte er das anstellen? Hatte er einen Plan? Ein vorbeikommender Ranger reichte ihm seine Feldflasche, Grendel nahm sie dankbar an und trank einen Schluck. Er war inzwischen bei den Sanitätern gewesen, und hatte sich notdürftig verbinden lassen. Der Durchschuß an der Seite war nicht weiter tragisch. Aber die Schulter würde ihm wohl noch eine
Weile Probleme bereiten. Sie hatten darauf bestanden, daß er eine Armschlinge trug, und ihm eine Novokainspritze verpaßt, um die Schmerzen zu lindern. Als das zu wirken begann, schlüpfte er sofort wieder aus der Schlinge. Keiner seiner Finger schien gebrochen zu sein, aber sie waren schlimm verstaucht und geschwollen. Er konnte nichts mit ihnen ergreifen oder festhalten. Am schimmsten war es mit seinem Knie. Die, Kniescheibe war gebrochen. Er würde nach der Rückkehr nach Hause um eine Operation nicht herumkommen. Die Sanitäter hatten ihn vor heftigen Bewegungen gewarnt, weil das den Zustand des Knies nur verschlimmern würde. Am besten wäre es, hatten sie geraten, wenn er mit dem Bein gar nicht mehr aufträte. Die Burschen hatten leicht reden! Er mußte so lange auftreten, bis Mandala zur Strecke gebracht war, das ließ sich einfach nicht vermeiden. Was für einen Fluchtplan mochte Mandala haben? Die Frage ging ihm nicht aus dem Sinn. Er nahm sich das Fernglas, das in dem Jeep lag, und suchte das ganze Gelände ab, von einem Hügel zum anderen, auf der Suche nach einem möglichen Hinweis oder einer Antwort auf seine Frage. Er ließ seine Augen über die Stelle schweifen, wo die Hütte der Kinder gestanden hatte. Dort hatte damals vor Wochen der Wind die Vegetation und auch die Kinder vor den Flammen der brennenden Stadt bewahrt. Auf einem Plateau etwas oberhalb dieser Stelle blieb sein Blick plötzlich haften. Er setzte das Glas ab und wischte sich über die Augen. Er mußte ganz sicher sein. Er sah noch einmal durch das Glas. Sein Mund war plötzlich trocken. Er hatte sich nicht geirrt. Er sprang auf, kümmerte sich weder um Schulter noch um Kniescheibe, und suchte den Kommandeur. Er fand ihn im provisorischen Lazarett. »Ich brauche Ihre vier besten Leute«, sagte er. »Wozu?« »So eine Idee.« Der Kommandeur war ein alter Haudegen. Er hatte seinerzeit die erste Kampfgruppe in Grenada geführt und war selbst so mancher »Idee« nachgegangen. Außerdem hatte Washington ihm den Befehl gegeben, Grendel jede nur mögliche Unterstützung zu gewähren. Aber auch ohne dies hätte ihn dessen Zielstrebigkeit überzeugt. »Ist in Ordnung. Ich muß allerdings wissen, wozu.« »Jagd«, sagte Dogan nur. »So richtig in Form für eine Jagd sind Sie ja eigentlich nicht, lieber Freund.« »Es ist ja nicht weit.« Es war doch ziemlich mühsam für ihn, lädiert, wie er war. Der Weg die Hügel hinauf strengte ihn in seinem Zustand sehr an. Zudem
hatten sie ihn voller Schmerzmittel gepumpt, und das verlangsamte seine Bewegungen. Er hatte längst beschlossen, alles, was Reaktionsschnelligkeit erforderte, den Rangern zu überlassen. Nur Mandala selbst wollte er persönlich erwischen. Es wäre viel einfacher gewesen, dem Kommandeur mitzuteilen, was er tatsächlich vorhin durch das Fernglas gesehen hatte, und ihm den Rest zu überlassen. Aber Mandala gehörte ihm. Wozu sonst hatte er sich in all dies hineinbegeben? Wozu sonst waren alle die Menschen umgekommen oder zumindest ihr Leben ruiniert oder versehrt worden? Nein, mit Mandala mußte abgerechnet werden. Und kein anderer als er hatte diese Abrechnung abzuschließen. Als sie oben auf dem Plateau angekommen waren, hatte sich die Wirkung des Novokains verflüchtigt. Er schluckte zwei neue schmerzstillende Tabletten. Die Ranger hatten ihre Gewehre, auf der Hut vor einem Hinterhalt, schußbereit im Anschlag. Dogan ging voraus. Das Plateau sah hier oben anders aus als von unten durch das Fernglas. Er fand sich nicht mehr zurecht. Sollte er sich am Ende wirklich geirrt haben? Hatte er etwas gesehen haben, weil er es hatte sehen wollen? Seine Erschöpfung und die Schmerzen ließen ihn immer stärker an sich selbst zweifeln. War es eine Sinnestäuschung gewesen? Hatten ihn seine übermüdeten Augen getrogen? Er versuchte sich das Plateau noch einmal so zu vergegenwärtigen, wie er es von unten durch das Glas gesehen hatte. War es vielleicht ein anderes gewesen als dieses hier? Eines oberhalb, möglicherweise? Der Wind frischte auf, er wurde plötzlich geblendet und mußte die Augen zusammenkneifen. Doch die Sonne war hinter ihm. Woher kam also diese blendende Helle? Das konnte nur eine Sonnenreflektion sein. Von einem Metallgegenstand. Er bewegte sich vorsichtig vorwärts. Mit einem Schlag sah er das, was er von unten aus durch das Fernglas gesehen hatte, wieder vor sich. Er erreichte ein dichtes Gebüsch, griff hinein, fühlte Metall. Schob Zweige und Blätter weg. Das Ende eines Hubschrauberpropellers kam zum Vorschein. Nein, er hatte sich dort unten nicht getäuscht Er räumte die Tarnung weiter beiseite. Der Hubschrauber wurde sichtbar. Mandalas Fluchtmöglichkeit? Womöglich schon vor
Wochen hier installiert? Er rief die Ranger herbei, damit sie ihm halfen. Sie hängten sich die Gewehre um und waren eben dabei zuzupacken, als eine kurze scharfe Garbe sie niederstreckte. Alle vier. Dogan griff nach seiner MP. Dann war die Stimme hinter ihm. »Lassen Sie das, Grendel. Oder ich mähe Sie um wie die da. Drehen Sie sich langsam um, Hände hoch, und treten Sie zur Seite. Aus dem Blickfeld Ihrer Freunde da unten.« Er stand Mandala endlich Auge in Auge gegenüber. Mandala hielt eine schallgedämpfte Uzi im Anschlag, keine zehn Meter von ihm entfernt. Dogan erwog kurz die Möglichkeit, sich überraschend zu Boden zu werfen und dabei seinen Abzug durchzudrücken. Aber das war unrealistisch. Er hatte keine Chance dazu. Schon gar nicht mit seiner geschwächten Kondition. Er tat also, wie ihm geheißen. »Sehr schön, Grendel«, sagte Mandala und kam näher, »Und jetzt lassen Sie Ihre Waffe zu Boden fallen. Und zwar mit beiden Händen am Kolben und am Lauf.« Die MP klapperte zu Boden. »Und jetzt stoßen Sie sie mit dem Fuß weg.« Er tat es. »Drehen Sie sich wieder um, Grendel. Und schön die Hände oben lassen.« Er tat es und fühlte Mandala hinter sich näher kommen. Dann kam der brutale Kolbenstoß in den Rücken. Dogan stürzte wie ein gefällter Baum und glaubte nur noch aus Schmerz zu bestehen, der überall in ihm raste und tobte. Er rollte auf den Rücken und sah Mandala über sich. »Irgendwer hat Sie unten sicher gesehen«, sagte Dogan mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Sie kommen nicht mehr raus.« Mandala trat ihn grob in die Seite. Genau dorthin, wo die Streifschußwunde war. Es tat so weh, daß er sich zusammenkrümmte. Ihm wurde übel. »Irrtum, Grendel. Wer hier nicht mehr rauskommt, sind Sie. Sie bleiben tot hier liegen, und ich verschwinde.« »Sie kommen keine Meile weit, bis man sie abschießt.« Mandala trat noch einmal zu. »Im Dunkeln kann man schlecht zielen.« Er umkreiste Dogan wie ein Habicht seine geschlagene Beute. »Glauben Sie im Ernst, ich hätte vom Fehlschlag in Keysar Fiats nichts erfahren? Alle Etappenpunkte hatten den Auftrag, mir Codewörter durchzufunken. Und für jeden Eventualfall hatte ich
strategische Änderungen vorbereitet.« Er deutete mit dem Finger nach San Sebstian hinunter. »Diese Jets, die Sie da unten zerstört haben, hätten ihre Fracht in die USA geschafft. Nur ein paar wären hiergeblieben, um Südamerika zu verseuchen! Es war mir klar, daß ich es hier mit Ihnen zu tun hatte,-nachdem sich Shangs Irrtum in Rom herausgestellt hatte. Ich bereitete mich sorgfältig darauf vor. Zugegeben, ich hoffte, die Jets dort unten vom Boden zu bekommen, bevor Sie auftauchten. Wenn das aber nicht gelang, dann hatte ich immer noch einen anderen Plan in Reserve.« Er warf einen Blick zu dem versteckten Hubschrauber hinüber. »Falls es Sie interessieren sollte, ich habe noch immer, gut verborgen, weitere fünfhundert Kanister Fungus! Außerdem bin ich im Besitz der Formel, um neue zu züchten! Soviel ich will, wohlgemerkt!« Er lächelte. Ein Wahnsinniger. Ein vom Wahn der totalen Weltherrschaft Besessener. »Die Forschungsarbeit von Sanii ist keineswegs völlig verloren. Zur gegebenen Zeit werde ich diesen Teil der Arbeit des Komitees beenden. Aber nach meinen Plänen. Nach meinen!« Dogan hatte den Schatten hinter dem Hubschrauber bemerkt. Lautlos und geschmeidig kam eine Gestalt dahinter hervorgehuscht. In jeder Hand eine Kukhri-Klinge. Nikki! Wo zum Teufel kam Nikki her? Er mußte Mandala lange genug ablenken, um sie herankommen zu lassen. Sie konnte ihre Messer nicht werfen, das war unter den Umständen zu unsicher, außerdem war es windig. Er starrte Mandala an und versuchte ihn mit seinem Blick festzuhalten. »Sie sind verrückt«, sagte er mühsam. Jede Silbe bereitete ihm Schmerzen. »Sie werden leider keine Gelegenheit mehr haben«, lächelte Mandala zynisch, »zu erleben, daß Sie sich irren. Weil ich mir das Vergnügen, Sie zu erledigen, selbstverständlich hier und jetzt nicht entgehen lassen darf. Wenn ich etwas mehr Zeit hätte, würde ich es langsam und mit Genuß vollziehen, um mich für all das zu entschädigen, was ich Ihnen zu verdanken habe.« Nikki war kaum noch zehn Meter entfernt. Dogan schüttelte den Kopf. Auch dies jagte ihm Schmerzstiche durch den ganzen Körper. »Sie sind fertig, Mandala. Fertig und erledigt, verstehen Sie? Sie sind völlig allein und isoliert. Was haben Sie schon davon, wenn Sie mich umbringen? Was zählt das? Danach sind hundert Länder hinter Ihnen her. So stehen Ihre Aussichten!« Nur noch fünf Meter . . .
Mandalas Augen flackerten zornig und wahnsinnig auf. Er wandte keinen Blick von Dogan. »Ja, Grendel, ich glaube, ich werde Sie jetzt töten.« Er trat einen Schritt zurück und schoß. Das heißt, er versuchte zu schießen. Sein gekrümmter Finger am Abzug aber erstarrte mitten in der Bewegung. Ein Ast hinter ihm hatte geknackt. Er fuhr blitzschnell herum. Ebenso blitzschnell jedoch fuhren ihm Nikkis Klingen gnadenlos und endgültig durch die Kehle und in den Leib. Er sank in seinem eigenen Blut zusammen und war sofort tot. Nikki starrte keuchend auf ihn hinab und ließ die beiden Messer auf ihn fallen. Sie ging zu Dogan, um ihm aufzuhelfen. Er wollte sie fragen, wie sie so schnell aus der Schweiz hierhergekommen war. Aber er brachte kein Wort hervor. Es war ja auch egal. Nikki sagte etwas zu ihm, aber er hörte es nicht. Vom Kopf bis zu den Zehen bestand er nur aus Schmerzen, und weil jetzt alles vorbei war, gab er den Widerstand auf, schloß die Augen, und Nikki versank in dem Nebel, der ihn umfing. Er spürte, daß er getragen wurde. Bergab, auf einer Bahre. Er öffnete die Augen. Neben ihm her ging der Kommandeur der Ranger, der ihm zulächelte. »Na, wieder da? Jetzt haben wir aber alles. Sagenhaft, was Sie mit Mandala gemacht haben.« »War - nicht ich . . .«, murmelte er. Der Kommandeur wandte sich an den Arzt auf der anderen Seite, der eine Blutplasmaflasche in die Höhe hielt, an der Dogan hing. »Was murmelt er?« »Hab's auch nicht verstanden.« »Das Mädchen!« stammelte Dogan, und bemühte sich um eine Stimme. »Das Mädchen!« »Welches Mädchen?« fragte der Kommandeur. »Wir haben kein Mädchen gesehen.« Da lächelte Dogan und ließ sich in die gnädige Dunkelheit zurücksinken.
Epilog »Ich kann Ihnen leider nur Orangensaft anbieten, Mr. Roy.« »Ich heiße Cal, Junge. Wir haben so viel miteinander durchgemacht, daß wir uns beim Vornamen nennen sollten.« Dogan versuchte, sich in seinem Liegestuhl im Marinelazarett Bethseba aufzurichten. Sein linkes Bein war vorn Knie an völlig
eingegipst und sollte es noch zwei Wochen lang bleiben. Auf der anderen Seite des Tisches nippte der designierte Außenminister Calvin Roy an einem Orangensaft aus einem Plastikbecher. »Vielen Dank für den Besuch.« »Gehört sich ja wohl so. Wie ich höre, sind Sie in einem Monat wieder auf dem Damm. Sollte mich nicht wundern. Typen wie Sie genesen schnell. Bei mir zu Hause haben wir eine Redensart.« »Von Bullen und Säcken?« »Genau, Junge. Woher wissen Sie das? Einem richtigen Stier kannst du zwar in den Sack treten. Deswegen zieht er noch lange nicht den Schwanz ein.« »Danke für die Blumen.« »Verschenk' ich nur ganz sparsam, Junge.« Dogan verschränkte die Arme. »Wie ging die Geschichte weiter?« »Sehr viel hat sich nicht ergeben. Das Mädchen, von dem Sie erzählt haben, ist wie vom Erdboden verschwunden. Aus Österreich haben wir die Bestätigung bekommen, daß die Tote, die vor drei Tagen begraben wurde, tatsächlich Audra St. Clair war. Diesmal wirklich und endgültig. Wollen wir hoffen, daß die ganze Tantalus-Geschichte mit ihr beerdigt wurde.« »Irgendwo«, sagte Dogan, »liegen noch fünfhundert von diesen verdammten Kanistern. Mandalas eiserne Reserve. Ich vermute, er allein wußte wo. Aber wahrscheinlich sind sie so gut versteckt, daß wir nicht befürchten müssen, irgend jemand könnte sie jemals finden.« »Das zumindest ist beruhigend, Junge.« »Und die Liste der Komiteemitglieder? Ist sie aufgetaucht?« Roy schüttelte den Kopf. »Nichts. Sie muß in irgendeinem verdammten Computer stecken. Ohne einen Schimmer, wie das Codewort für den Zugang lautet, haben wir keine Chance. Das heißt allerdings, daß Tausende von Leuten, die da mit drin steckten — und die meisten obendrein in hohen Positionen —, noch frei rumlaufen. Solange das so ist, ist das Komitee noch immer eine Bedrohung, so sehe ich das.« Dogan widersprach. »Glaube ich nicht. Sie haben ja keine zentrale Befehlsstelle mehr. Niemand gibt ihnen mehr Anweisungen. Ohne Leitung und Führung hängen sie in der Luft, und keiner kann irgend etwas anstellen. Sie werden fortan ihren normalen Berufen nachgehen, harmlos wie jeder andere, bis sie sterben oder bis ihre Amtszeiten ablaufen. Der Kopf, der denkt und bestimmt, ist weg. Und das war Audra St. Clair. Mit ihr stand und fiel das Komitee. Sie
hat es verkörpert. Ohne sie gibt es kein Komitee mehr.« »Irgendwo läuft ihre Tochter noch herum.« Dogan wehrte ab. »Von Nikki haben wir nichts zu befürchten. Ihre einzige Verbindung zum Komitee war ihre Mutter, und mit deren Beerdigung vor drei Tagen fuhr auch diese Verbindung in die Grube.« »Tolles Mädchen, offenbar, was man so hört. So jemand hätte man gern auf der eigenen Seite.« »Sie war, seit sie sechzehn war, immer auf irgendeiner Seite. Ich glaube, sie hat die Nase voll von Seiten. Roy musterte ihn. »Na, und Sie, Junge?« »Daß die Abteilung mich gerne zurückhaben will, bezweifle ich. Selbst wenn ich zurück wollte.« »Davon rede ich nicht. Die Sache ist die. Gibt so Gerüchte, daß der Präsident mich als Außenminister vorgesehen hat. Nicht, daß mich das übermäßig reizt. Wenn man mal eine gewisse Menge Scheiße gesehen hat, sieht man nur noch braun. Aber ich könnte bei dem Job gut jemanden brauchen, der mir hilft, den Dreck wegzuschaufeln. Den ganzen Dreck. Einen Verbindungsmann zur Branche. Einen wirklichen, meine ich.« »Klingt wie ein Stellenangebot.« »Sie können sich aussuchen, was Sie wollen, Junge. Und wenn Sie sich diesen Russen Waslow als Assistenten holen wollen. Ich will Sie bei mir haben. Diktieren Sie mir die Bedingungen. Ich akzeptiere sie.« »Ich werd's mir überlegen«, sagte Dogan. Er trank etwas Orangensaft mit dem Strohhalm. »Haben Sie schon mit Locke gesprochen?« »Nicht direkt. Aber ich habe veranlaßt, daß man sich um ihn kümmert. Neue Existenz, neuer Name, für ihn und die ganze Familie, sobald sein Sohn aus England heimgebracht wurde. Im sonnigen Kalifornien. Locke hat auch einen ordentlichen Posten in Berkeley erhalten, glaube ich. Charney hatte mir alle Vereinbarungen der beiden in einem Memo hinterlassen. Wir haben alles auf den Buchstaben erfüllt. Sogar die Veröffentlichung seiner beiden Romane wollten wir arrangieren. Aber Locke hat abgewinkt. Das wollte er nicht mehr. Er meinte, er schreibt lieber einen neuen Roman und sucht sich auf dem üblichen Weg einen Verleger dafür.« »Was ist mit dem alten Flieger, der in Keysar Fiats für ihn den Angriff flog?« »Die Regierung hat ihm angeboten, ihm beim Wiederaufbau seiner Truppe zu helfen. Alles zu übernehmen, was nicht von den Versicherungen abgedeckt ist. Er hat sich jedoch entschlossen, statt
dessen ein Luftfahrtmuseum zu gründen. Er sagte zu meinem Mann, er möchte lieber aufhören, solange er noch ganz oben ist.« »Nun ja, wer kann es ihm verdenken. Er hat ja wohl auch die Tat seines Lebens geliefert, oder?« »Genau wie Sie, Junge, wollen das ruhig mal aussprechen. Sie sind immerhin durch die halbe Welt gerannt, mit den eigenen Leuten im Nacken, auf deren Abschußliste sie standen. Ich meine, es war ja nicht mehr sehr schwer herauszufinden, was da gespielt wurde. Selbst für einen Arsch vom Land wie mich. Nachdem erst einmal feststand, wer der Tote in dem Hotelzimmer in Rom war. Ein gewisser Keyes, wie man mir sagte. Mit dem Sie nicht sehr zart umgesprungen waren. Die ganze Abteilung, sage ich Ihnen, ist aus dem Ruder gelaufen. Und man erzählt mir da so Sachen. Daß irgendwer dran geht, die Aufhebung Ihrer Quarantäne — und der von Locke übrigens auch - nicht zur Kenntnis zu nehmen.« Er blickte Dogan ernst an. »Da muß was geschehen, Junge.« Es war kein Zweifel möglich, was er damit meinte. »Wie ist das, haben Sie sich mein Angbot inzwischen überlegt?« Dogan nickte. »Ja, ich denke schon.« Vier Wochen später traf Dogan sich mit Christopher Locke zum Essen in einem kleinen Cafe in der Nähe Berkeley. Der größte Mittagsbetrieb war zwar schon vorbei, aber es war noch immer ziemlich voll von Studenten. Locke war zuerst da, sicherte sich einen Ecktisch und stellte seine Krücke in die Ecke. Einen Arm hatte er noch immer in Gips, und es würde wohl noch einige Monate dauern, bis er ganz schmerzfrei war. Die Bruchlandung der Warhawk hatte ihn insgesamt vier Knochenbrüche gekostet und eine Menge Sehnenund Muskelrisse. Aber es ging ihm mittlerweile wieder einigermaßen. Seit einer Woche unterrichtete er nun auch schon in Berkeley. Dogan kam an den Tisch gehumpelt. Locke stemmte sich hoch, um ihn zu begrüßen. Sie lachten einander an. »Willkommen zum Krüppeltreffen«, sagte Locke. Sie setzten sich. Locke fuhr fort: »In einem Restaurant hat damals für mich alles angefangen. Damals hat sich Brian darum gekümmert, daß wir einen günstigen Ecktisch erhielten. Heute ich.« Dogan rückte seinen Stuhl zurecht. »Das ist gar nicht mehr nötig, Chris. Sie sind sicher hier. Kein Mensch tut Ihnen mehr was.« »Habe ich mir auch gesagt. Aber ich kann nichts dran ändern. Ich bringe es, glaube ich, nie mehr fertig, jemandem den Rücken
zuzudrehen. Auch, was mit meiner Familie passiert ist. Und wenn ich tausend Jahre alt werde, ich lasse keines meiner Kinder jemals mehr allein mit dem Schulbus fahren. Dagegen kann man wohl nichts machen.« Dogan nickte. »Verfolgungswahn, ich weiß. Aber das wird sich geben. Sie werden sehen.« »Wenn sie das dem Mann sagen würden, der ich vor zwei Monaten noch war, würde er ihnen glauben. Aber heute sitze ich an seiner Stelle hier und versuche, sein Leben zu leben.« »Läuft wohl alles nicht so gut?« fragte Dogan. »Eben nicht, das ist es ja. Es läuft im Gegenteil alles viel zu gut. Mein älterer Sohn ist nicht weiter als eine Busfahrt entfernt in L. A., meine Tochter kann sich vor Verehrern kaum retten. Meine Frau hat von euren Leuten einen phantastischen Job im Immobiliengeschäft vermittelt bekommen, und Kalifornien mit seinem Lebensstil ist für sie ohnehin das Tollste überhaupt. Greg hat die Wunder erlebt, die die Medizin vollbringen kann und dieser Roy hat sogar noch für persönliche Bekanntschaften mit ein paar großen Baseballstars gesorgt. Die trainieren jetzt regelmäßig mit ihm. Trotz des Handikaps mit dem fehlenden Finger, was fürs Fangen hinderlich ist. Seine Kindheit ist natürlich im Eimer, die kann ihm keiner zurückbringen. Auch Roy nicht. Wo man hinsieht, alles aufs perfekteste geregelt.« »Nur von einem war noch nicht die Rede.« »Von mir selbst, ja. Ich werde das alles nicht so einfach los, wissen Sie. Ich habe fünfzehn Jahre lang im akademischen Wölkenkuckucksheim gelebt und bin dann ohne jede Vorbereitung mit den häßlichsten und gewalttätigsten Seiten der Welt konfrontiert worden. Und ich bin meiner Mutter begegnet, die ich nie gekannt habe und auch nie kennenlernen wollte.« »Vergessen Sie trotz allem nicht, Chris, daß sie Ihr Leben beschützt hat und am Ende dafür mit ihrem eigenen bezahlte.« »Sie ließ mich nur am Leben, weil es Ihren Plänen nützte. Und wen hat sie mir als Leibwächter zur Seite gestellt? Nikki, die sie in dem Alter, in dem meine Tochter jetzt ist, in die Terroristenausbildung gesteckt hat. Was ist das für eine Welt, Ross, in der wir da leben?« »Immer noch besser als die, die das Komitee für uns plante.« »Mag ja sein.« Locke suchte nach Worten. »Wissen Sie, worauf es am Ende lediglich hinausläuft, alles ? Aufs Davonlaufen. Und wenn man rennt, verwischt sich alles. Ich bin in Europa genug gerannt, weiß Gott. Ich kann nicht mehr laufen. Es ist auch nichts mehr da, vor dem man fortlaufen könnte. Also bin ich stehengeblieben. Und
alles ist auf einmal so verdammt klar und eindeutig. Aber soll ich Ihnen was sagen? Daß vorher alles verwischt war, war mir lieber. Das hat es erträglicher gemacht.« »Wollen Sie damit im Ernst sagen, es sei besser, etwas vorzutäuschen, als wirklich zu laufen? Meinen Sie das?« sagte Dogan "scharf. »In Europa haben Sie mir mal gesagt, Sie fühlten sich wie in einem Labyrinth. Sehen Sie sich an. Wo sind Sie jetzt? Haben Sie sich deshalb aus einem Labyrinth herausgekämpft - und das war eine beachtliche Leitung , nur um sich jetzt freiwillig in ein neues Labyrinth zu begeben, das sie sich selbst gezimmert haben? Mit mindestens ebenso-vielen Sackgassen wie das, in dem sie vorher steckten? Lieber Freund, Ihre einzige Möglichkeit, da herauszukommen, ist, daß Sie die Tatsachen akzeptieren. Nämlich, daß nicht Ihre Frau und Ihre Kinder sich verändert haben oder Ihr Job. Sondern Sie! Nicht an die Welt müssen Sie sich wieder gewöhnen. Sondern an sich selbst.« Locke lächelte nachsichtig. »Sollten Sie mal Ihres Spionagegeschäfts überdrüssig werden - wir könnten Sie prima in unserem philosophischen Seminar gebrauchen!« »Sagen wir lieber so: da wo sie jetzt sind, war ich schon mal. Und deswegen weiß ich so gut, wie das ist. Das Problem in meiner Branche ist nur, daß sie dir das Gehirn rausblasen, wenn du anfängst, zuviel nachzudenken.« Locke wurde ernst. »Damit kommen wir zum Kern, ROSS. Wer, frage ich Sie, garantiert mir denn wirklich, daß nicht morgen früh mir oder meiner Familie doch irgend etwas zustößt? Sie? Ihr Mr. Roy? Oder irgendwer? Wer nimmt mir meine Angst bei jedem Klingeln des Telefons? Jedesmal, wenn die Türglocke geht? Bei jedem Blick eines Fremden, der mich trifft? Wir haben da drüben eine Menge Leute geleimt, die nicht daran gewöhnt waren, geleimt zu werden. Sie selbst haben mir doch eine Menge über diese Abteilung erzählt und wie sie funktioniert und arbeitet. Wer also wüßte besser als Sie, daß keiner von denen etwas zu fürchten hätte, wenn er jetzt hier zur Tür herein käme und uns abknallen würde. Zwei Mann eliminiert, wie vorgesehen, Basta. Erledigt. Zur Tagesordnung.« Dogan stand auf, ohne etwas bestellt zu haben. »Es ist Zeit, daß ich mich wieder an die Arbeit mache.« Der Commander saß an seinem üblichen Platz in dem Cafe auf den Champs-Elysees. Vor ihm, stand ein Körbchen mit Croissants. Wie immer hatte er seine Zeitung vor sich ausgebreitet, während er die
beiden Agenten erwartete, die er zu sich bestellt hatte. Es gab Arbeit. Die Abteilung Sechs mußte unbedingt von jeder sonst üblichen Regierungsüberwachung und Kontrolle freigehalten werden. Immerhin, er hatte schon schlimmere Stürme überlebt als diesen hier. Es mußten einfach, jetzt, wo die Zeit dafür reif war, einige Löcher gestopft werden. Geduld war alles. Nur die Kurzsichtigen überstürzten die Dinge. Er blickte kurz auf, als ein blinder Bettler seine Dose vor ihm klimpern ließ. Er angelte nach ein paar Münzen, um ihn rasch los zu werden. Warum hielt man solches Pack nicht von Gegenden wie den Champs-Elysees fern . . . Mit einem kurzen Blick auf die Dose warf er das Geld hinein und versuchte den Bettler mit einer unwirschen Handbewegung zu verscheuchen. Aber der klimperte noch einmal mit seiner Dose. Er sah erstaunt und unwillig hoch und dem Bettler ins Gesicht. Der Mund blieb ihm offen. »Grendel . . .« ROSS Dogan blinzelte ihm zu. Dann drückte er seine Heckler und Koch mit dem Schalldämpfer, die er unter seinen Lumpen verborgen hielt, zweimal ab. Die Kugeln rissen den Commander so heftig zurück, daß er mit seinem Stuhl umfiel. Erstaunte Kellner kamen gelaufen. Als sie das Blut sahen, das aus der Wunde quoll, riefen sie um Hilfe. Die Leute des Commanders stürzten herbei und fingen sofort an, nach dem Mörder zu suchen. Aber sie sahen nurverschreckte Touristen und aufgescheuchte Spaziergänger. Und einen blinden Bettler, der sich mit seinem Stock klopfend seinen Weg tastete.
ENDE