Geister-
Krimi � Nr. 210 � 210
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Im Kittchen sitzt � ein Geist �
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Geister-
Krimi � Nr. 210 � 210
W.A. Hary �
Im Kittchen sitzt � ein Geist �
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Die Gefangenen der Saarbrücker Strafanstalt Lerchesflur arbeiteten routiniert. Sie hatten sich freiwillig gemeldet und im Laufe der Zeit Übung im Sortieren von Heftromanen und anderen Publikationen erworben. Auf die Titel und bunten Bilder achteten sie kaum. Dafür waren es zu viele. Sie wußten nur, daß die sortierten Druckerzeugnisse anschließend zu den Einzelhändlern gefahren wurden. Was sie also taten, waren die Vorbereitungen für die wöchentliche Auslieferung. Felix Kühn bildete in der Gruppe der hier beschäftigten Strafgefangenen keine Ausnahme. Bis er ein bestimmtes Heft in die Finger bekam. Felix Kühn stutzte. Oben links war ein grinsender Totenschädel abgebildet, dessen linke Seite von einem Spinnennetz zum großen Teil verdeckt wurde. Mitten im Netz lauerte eine fette Spinne. Rechts von der Abbildung schloß sich in großer Schrift an: Geister-Krimi. Auch das bekannte Zeichen des Martin Kelter Verlages fehlte nicht. Das alles war es nicht, was die Aufmerksamkeit von Felix Kühn erregte, sondern das darunter befindliche Bild: eine wunderschöne Frau, Mitte zwanzig, tief dekolletiertes Abendkleid. Sie hielt ein Reagenzglas gegen das Licht einer altmodischen Petroleumlampe und blickte hinein. Der Inhalt des Glases war ein etwa daumengroßer Mann, der tief bestürzt die durchsichtige Wand seines Gefängnisses abtastete. Alles in Felix Kühn wehrte sich dagegen, aber tief im Unterbewußtsein rührte sich eine Erinnerung. Es gelang ihm nicht, sie völlig zurückzudrängen. Je länger er die Abbildung betrachtete, desto stärker wurde sie – bis sie schließlich seinen Verstand überflutete. Mit einem Male wußte er, wer auf diesem Bild dargestellt wurde: Joanna Silver, – geborene Wyler, und David Marshai! 3 �
*
Sie war eine Hexe, und er ihr ehemaliger Geliebter, von dem sie sich im Stich gelassen fühlte und den sie suchte, um Rache an ihm zu üben. Die Illustration nahm das Ergebnis vorweg. Hier hatte die Hexe den verhaßten David Marshai bereits in ihren Fängen. Felix Kühn ließ das Heft fallen und stieß ein ellenlanges Stöhnen aus, das direkt aus einem Grab zu kommen schien. Erstaunt sahen die anderen herüber. Kühn war ein Leidensgenosse. Jeder kannte ihn. Er galt im allgemeinen als ruhig und verschlossen. Was ging mit ihm vor? Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. In den unnatürlich geweiteten Augen flackerte so etwas wie Irrsinn. Er preßte mit beiden Händen gegen seinen Schädel, wie um ihn vor dem Zerspringen zu bewahren. Dann sprang er auf. Wankend stand er da – wie ein Schilfrohr im wehenden Wind. Im nächsten Augenblick geschah das Schreckliche: Die Konturen von Felix Kühn verschwammen. Er verwandelte sich in ein nebelhaftes Gebilde, das hin und her wallte. Die hier Anwesenden hatten die Verwandlung ihres Mithäftlings mitbekommen. Entsetzen spiegelte sich in ihren Gesichtern. Auch die Aufsicht war zu entsetzt, um eingreifen zu können. Ein schauriges Röhren erklang. Das geisterhafte Gebilde festigte sich wieder, wurde sekundenlang zu dem Mann, der auf dem Titelbild des Gruselromans dargestellt war. Der Mann breitete die Arme aus, schrie gellend auf und taumelte vorwärts – genau auf die Kameraden zu. 4 �
Sie wurden vom Grauen auf die Stelle gebannt und vermochten sich nicht zu rühren. Keiner wich aus. Er erreichte sie – und ging einfach durch sie hindurch! »Halt!« rief die Aufsicht außer sich. »Ein Geist«, murmelte einer. Es war leise ausgesprochen, doch jeder hatte es gehört, und die beiden Worte brannten sich in ihre Gehirne wie mit Säure ein. Felix Kühn war gar nicht Felix Kühn. Er war ein Wesen, das ganz offensichtlich nicht aus Fleisch und Blut bestand und für das geltende physikalische Gesetze keine Wirkung hatten. Was hatte dieses Geschöpf dazu veranlaßt, die Maske fallen zu lassen? Niemand wußte es zu sagen. Sie konnten nur mit ungläubigen Blicken das Geschehen weiter verfolgen. Felix Kühn kam zur gegenüberliegenden Wand. Er machte nicht halt davor. Mit den Händen versank er zuerst in dem stabilen Hindernis. Er bewegte sich weiter, als gäbe es überhaupt keine Mauer. Langsam entschwand er aus dem Blickfeld der Zurückgebliebenen. Sie starrten sich an. Ihre Gesichter spiegelten das wider, was sie empfanden. Die Aufsicht blickte zu dem nun leeren Platz von Felix Kühn hinüber Dann gab sie Alarm. Wachtmeister Werner Sertl schaute zufällig in den Gefängnishof hinunter. Er traute seinen Augen nicht, als plötzlich ein Mann aus der Mauer auf der anderen Seite trat. Sertl schüttelte den Kopf, um den Alpdruck loszuwerden. Der Mann trug Sträflingskleidung und bewegte sich wie ein Traumwandler. Jetzt erkannte Sertl den Mann. War das nicht Felix Kühn, der drüben im Gebäude die Wochenauslieferung von Romanheften 5 �
und Zeitschriften für die einzelnen Händler sortierte, gemeinsam mit anderen, die sich ebenfalls für diese Beschäftigung gemeldet hatten? Kaum hatte Werner Sertl das gedacht, als der Gefangene auch schon sein Äußeres veränderte. Seine Konturen waren nie ganz stabil. Das war jetzt deutlich zu erkennen. War es ein Geist? Ein Wesen, das nicht von dieser Welt stammte? Werner Sertl hätte unter normalen Umständen über diesen Verdacht gelacht, aber da gab es plötzlich Alarm, und es brauchte ihm niemand zu sagen, auf wen dieser gemünzt war. Im ganzen Gefängnis wurde man jetzt aufmerksam. Die Sirene heulte ihr scheußliches Lied, eine Alarmglocke schrillte. Alle Wachbeamten eilten auf ihre Plätze. Inzwischen hatte Felix Kühn den Hof halb überquert. Nichts schien ihn aufhalten zu können. Auch als man ihn anrief, reagierte er nicht. Da verlor einer die Nerven und schoß auf ihn. Doch auch das blieb ohne Wirkung! Felix Kühn ging mit wankendem Schritt weiter und erreichte die hohe Außenmauer. * Heinz Grässer bog mit seinem Wagen in die Stieringerstraße ein. Zwischen ihr und dem Lerchesflurweg erstreckt sich die weitläufige Anlage der Saarbrücker Strafanstalt in Alt-Saarbrücken. Heinz Grässer war auf dem Weg zu seinem Schwiegersohn, der in der Stieringerstraße wohnte. Nach etwa hundert Metern kam er zu der hohen Umgrenzungsmauer aus nacktem Sichtbeton, die fast die Straße berührte und dann wieder zurückwich, um der Häuserreihe rechter Hand 6 �
Platz zu machen, in der Bedienstete der Anstalt wohnten. Gegenüber war ein kleines Hotel, dem sich ein paar Hochhäuser anschlössen. Wenn man zwischen ihnen hindurchsah, konnte man einen Großteil der Stadt überblicken, denn die Strafanstalt befand sich auf einem der höchsten Hügel der saarländischen Landeshauptstadt. Aber Heinz Grässer hatte für solche Dinge keinen Blick, denn in diesem Moment ertönte die Alarmglocke, begleitet vom Wimmern der Sirene. Grässers Schwiegersohn arbeitete in der Strafanstalt, und somit wußte er, was es bedeutete: Jemand war ausgerückt! Unwillkürlich bremste Heinz Grässer. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und erstarrte. Soeben trat ein Mann in Anstaltskleidung aus der Betonmauer, als bedeutete sie für ihn überhaupt kein Hindernis! Der Vorgang setzte dem unbescholtenen Mann so sehr zu, daß er beinahe die Böschung hinuntergefahren wäre, die linker Hand steil von der Straße abfiel und in dem Hof vor der Nummer neunzehn endete. Eine schmale Fußgängerbrücke spannte sich von der Stieringerstraße hinüber in die erste Etage des in starker Hanglage errichteten Hochhauses. Gerade im rechten Augenblick noch brachte Grässer sein Fahrzeug zum Stehen. Der Unbekannte, der durch stabile Betonwände gehen konnte, kam direkt auf ihn zu. Heinz Grässer spürte den Impuls zur Flucht in sich, war aber unfähig, ihm zu gehorchen. Das Entsetzen hielt ihn in den Klauen und ließ ihn nicht mehr los. Erstaunlich schnell kam der Unheimliche voran, obwohl er nur langsame Schritte machte. Ein Widerspruch, der durch nichts erklärt werden konnte außer dadurch, daß es hier nicht mit rechten Dingen zuging! Der Unheimliche passierte Heinz Grässer und bewegte sich in 7 �
Pachtung Schutzbergstraße fort. Erst als er diese abschüssige Straße hinuntergegangen und für Heinz Grässer nicht mehr zu sehen war, kam in den älteren Mann wieder Bewegung. Er stieg aus. Seine Knie waren so weich, daß er sich abstützen mußte. Es war schade, daß er den Unheimlichen nicht verfolgt hatte, denn so versäumte er die Beobachtung eines weiteren Phänomens. Felix Kühn – den Augenzeugen seines Ausbruchs später nur noch den Geist nannten –, der im Kittchen gesessen hatte, stolperte und verlor den Boden unter den Füßen. Sein schlaffer Körper, der sich nun nicht mehr von dem eines normalen Menschen unterschied, kugelte über das Kopfsteinpflaster quer durch die Linkskurve und blieb vor den hier befindlichen Garagen liegen. Kein Mensch befand sich auf der Straße. Sekundenlang rührte Felix Kühn sich nicht. Plötzlich richtete er sich auf und blickte sich um. Er griff sich an den Kopf, als wollte er sich an etwas erinnern, was ihm entfallen war. Dann sprang er auf die Beine, barg das Gesicht in den Händen. Während er noch dastand, verwandelte er sich in einen Mitvierziger in unauffälliger Straßenkleidung und bereits leicht ergrauten Schläfen. Er ließ die Hände sinken. Niemand hätte mehr in ihm den entflohenen Strafgefangenen Felix Kühn erkannt. Und doch flackerte in seinen Augen die Angst – die nackte Angst. Er ging weiter, bog in die Metzer Straße ein und hielt nach einer Telefonzelle Ausschau. Ja, er hatte Angst, und sie schnürte ihm die Kehle zu. Aber vielleicht gab es einen Menschen, den er um Hilfe bitten konnte? Felix Kühn hatte an einen bestimmten Menschen gedacht. Er mußte die Metzer Straße hinunter bis zur Vorstadtstraße gehen, bis er endlich die ersehnte Telefonzelle auf dieser Strecke fand. 8 �
Keiner der zahlreichen Kraftfahrer, die an ihm vorbeifuhren, achtete auf ihn. Er erschien völlig unauffällig. Natürlich besaß Felix Kühn keinerlei Geld, doch das brauchte er gar nicht. Er setzte seine besonderen Fähigkeiten ein, um die Deutsche Bundespost ausnahmsweise einmal um ein paar Mark zu hintergehen. Felix Kühn hob den Hörer ab und drückte den Daumen gegen den Einwurfschlitz. Der Automat reagierte, als hätte er eine Münze eingeworfen. Kühn konnte wählen. Wenig später hatte er eine Verbindung mit London. Am anderen Ende der Leitung läutete es. Felix Kühn fieberte dem Moment entgegen, an dem endlich abgehoben wurde. Er mußte sich bis dahin ein wenig gedulden. * Lord Burgess war am Vortag mit seinem Butler nach Schloß Pannymoore abgereist. Zum erstenmal hatte er mir den Vorschlag gemacht, meine Wohnung hier in London aufzugeben und gemeinsam mit meiner Freundin May Harris auf sein Schloß zu ziehen. Die Argumente, die dafür sprachen, waren nicht von der Hand zu weisen. Schloß Pannymoore, einst heimgesucht und von einem schrecklichen Fluch, dem ich ein Ende bereitet hatte, war noch immer aufgeladen mit magischer Energie, die allerdings dem Lord gehorchte. Ich kannte keinen Ort, der sicherer war gegen die Einwirkungen der bösen Kräfte aus dem Jenseitigen, denen ich den Kampf angesagt hatte. Auch Don Cooper sah das ein. Er spielte schon mit dem Gedanken, sein Penthouse zu kündigen und überzusiedeln. Doch gab es auch eine entscheidende Tatsache, die mich letzt9 �
lich dazu veranlaßte, Lord Burgess einen Korb zu geben. Schloß Pannymoore besaß nämlich kein Telefon! Und was war ein Privatdetektiv ohne Fernsprecher? Solange hier keine Änderung eingetreten war, mußte alles wohl oder übel beim alten bleiben. Ich hatte die Nacht in der Wohnung von May Harris verbracht. Sie mochte mein Apartment nicht. Es war ihr zwischen den Dämonenbannern, Teufelsmasken und dergleichen einfach zu unheimlich. Deshalb hatte sie sich vor einiger Zeit eine eigene Bleibe gesucht. Jetzt hielten wir mit dem gemieteten Morris vor dem Apartmenthaus in Bayswater. May Harris hatte sich bereit erklärt, mir beim Reinemachen behilflich zu sein. Sie wußte, wie ungern ich eine solche Arbeit verrichtete. Wir betraten das Haus und gingen zum Fahrstuhl. Unterwegs nach oben sprachen wir kein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich dachte an unser letztes Abenteuer im Kampf gegen das Komplott der sieben Geister. Das Komplott hatte mir arg zugesetzt. Jetzt war es endlich zerschlagen. Doch einem Hauptgegner war die Flucht gelungen: der Hexe Joanna Silver, geborene Wyler! Mit ihr war also noch zu rechnen. Und wozu sie fähig war, hatte sie zur Genüge bewiesen. Als wir den Fahrstuhl verließen, vernahmen wir das Schrillen eines Telefons. Unwillkürlich horchte ich auf Wir befanden uns im fünften Stockwerk. Es gab wie in jeder Etage zehn unterschiedlich große Wohnungen. Meine gehörte zu den kleinsten mit einem Zimmer, einer Kochnische und einem winzigen Bad. Wenn mich nicht alles täuschte, kam das Läuten aus meinem Apartment! Ich lief rasch hin, hob mit einer Routineformel den magischen Türschutz auf und steckte den Schlüssel ins Schloß. 10 �
May Harris drängte gemeinsam mit mir hinein. Sie schloß die Tür hinter mir, während ich abhob und mich meldete: »Mark Täte!« Mein Gesprächspartner schnappte hörbar nach Luft. »Bin ich richtig verbunden mit dem Londoner Privatdetektiv?« »Ganz recht!« bestätigte ich. Meine Nackenmuskeln spannten sich. Ein schlechtes Zeichen, und auf meinen Instinkt konnte ich mich verlassen. Unwillkürlich tastete ich nach dem Schavall, jenem geheimnisvollen Amulett, das die Form eines Auges hatte und an einer Halskette unter meinem Hemd hing. Aber das Amulett, das ich wegen seiner Form auch gern Dämonenauge nannte, verhielt sich neutral. Es erwärmte sich nicht, was ein Zeichen dafür gewesen wäre, daß ich direkt mit magischen Kräften konfrontiert wurde, Kräften, die negativer Natur waren. Ganz verläßlich war der Schavall allerdings nicht, wie ich aus Erfahrung wußte. Oftmals entwickelte er ein gespenstisches Eigenleben und entzog sich meinen ohnedies nur sehr schwachen Einfluß. »Ich – ich rufe aus Deutschland an.« »Deutschland?« Der Anrufer hatte offenbar Scheu, endlich auf den Grund des Anrufes zu sprechen zu kommen. Ich ließ ihn zappeln. Er sollte aus sich selbst heraus mir berichten, was ihn bewegte. »Um es genauer zu sagen, befinde ich mich in der Hauptstadt des Landes Saarland, in Saarbrücken. Ich – ich brauche Ihre Hilfe, Mr. Täte. Sie werden mich zwar nicht kennen, aber ich kenne Sie deshalb um so besser. Ich weiß viel um Ihre Person. Nur Sie allein können jetzt noch etwas für mich tun. Sonst bin ich rettungslos verloren.« Die Sache wurde immer rätselhafter. Das war der Grund, 11 �
warum ich beschloß, meine Passivität aufzugeben und zu fragen: »Um was geht es überhaupt, Mr. – äh, wie war noch Ihr Name?« »Der tut gar nichts zur Sache«, entgegnete der andere scharf. »Bitte, kommen Sie sofort hierher! Nehmen Sie ein Flugzeug und landen Sie auf dem hiesigen Flughafen! Er befindet sich in der Nähe des Ortsteils Ensheim.« »Aber wie komme ich dazu…?« »Ich sage nur eines: Es geht um die Hexe Joanna Silver und um ihren ehemaligen Geliebten David Marshai. Sie halten ihn für tot, nicht wahr?« »Ich halte ihn für gar nichts«, widersprach ich bissig. »Außerdem…« Ich unterbrach mich selbst, denn der andere hatte aufgelegt. Nachdenklich legte ich den Hörer auf die Gabel zurück. »Wer war es denn?« erkundigte sich May an meiner Seite. »Ich würde einiges darum geben, wußte ich das«, murmelte ich geistesabwesend. Felix Kühn verließ die Telefonzelle. Er sicherte nach allen Seiten. Polizeisirenen klangen auf. Ein paar Einsatzfahrzeuge brausten vorbei Die Suche nach dem Entsprungenen lief auf vollen Touren. Und noch immer achtete, niemand auf den unauffälligen Mitvierziger, der aus der Telefonzelle heraustrat und weiterging – in Richtung Stadtzentrum. Die Zeit brannte ihm unter den Nägeln, und doch mußte er Geduld üben. Ob dieser Mark Täte kommen würde? Eigentlich zweifelte Felix Kühn nicht daran. Mark Täte war nicht umsonst Privatdetektiv – einer, der sich auf ungewöhnliche Fälle spezialisiert hatte. Der Anruf würde ihn neugierig gemacht haben. Er würde der Bitte folgen, auch wenn er mit einer Falle rechnen mußte. 12 �
Aber andere Zweifel kamen Felix Kühn. Er wußte nicht, was in der Zwischenzeit alles passiert war – in der Zeit, die er in der Strafanstalt Lerchesflur verbracht hatte. Würde Mark Täte ihm wirklich die Hilfe bringen, die er sieh von ihm erhoffte? Egal, jetzt gab es kein Zurück mehr. Felix Kühn konzentrierte seine Gedanken auf andere Dinge. Es kam darauf an, ein paar Vorbereitungen zu treffen. Ich hatte May Harris kurz informiert. Sie konnte sich auch keinen rechten, Reim auf die Sache machen. »Was gedenkst du zu tun?« fragte sie, »Die Stimme des Anrufers klang verzweifelt. Vielleicht sollten wir Don Cooper zu Rate ziehen?« May Harris schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich mochte wissen, wo da der Zusammenhang ist. Die Hexe entfloh. Niemand weiß, wo sie sich befindet. Sollte sie sich nach Deutschland abgesetzt haben? Aber warum?« »Hm, schon einmal ging mir die Hexe durch die Lappen. Die Sekte der Teufelsanbeter, zu deren Chefin sie sich gemacht hatte, zerfiel, als ihre obersten Mitglieder in der Versammlungshöhle umkamen. Die Höhle stürzte in sich zusammen. Ich hatte das Glück und entrann dem Inferno. Auch der Hexe gelang die Flucht. Hätte sie damals ihren Geliebten David Marshai, der sich auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen sie gewandt hat, mitgenommen, hätten wir es später bestimmt erfahren, wenn Joanna Silver wieder aufgetaucht wäre. Dem war aber nicht so. Wir mußten annehmen, daß Marshai unter den Gesteinsmassen begraben wurde. Und jetzt ruft einer aus dem fernen Saarland an und bittet mich um Hilfe. Dabei gibt er einen Hinweis auf das Gespann Marshai-Hexe.« »Nun, vielleicht hast du recht, und Don Cooper kann uns helfen. Rufst du ihn an?« 13 �
Ich warf einen Blick in die Runde. Die große Reinemacheaktion würde wohl warten müssen. Ich konnte nicht behaupten, daß ich es bedauerte. »Nein«, entschied ich. »Wir fahren sofort zu ihm.« Wenig später saßen wir mit Don Cooper im Wohnzimmer seines Penthouses hoch über London zusammen. Auch er wußte sich keinen Rat, war aber Feuer und Flamme, als ich ihn fragte, ob er mich begleiten würde. Und auch May Harris wollte mit von der Partie sein, obwohl ich mich mit Händen und Füßen dagegen sträubte. Doch sie hatte in der Vergangenheit oft genug bewiesen, daß sie es durchaus verstand, »ihren Mann« zu stehen. Und auch Don Cooper setzte seinen Willen durch, als er vorschlug, ein Flugzeug zu chartern und sich damit auf den Weg zu machen. Er hatte genügend Geld, um sich das leisten zu können, und besaß außerdem eine gültige Pilotenlizenz. Stunden später befanden wir uns in der Luft. Der Londoner Flughafen blieb hinter uns zurück. Flugleiter Heinz David von der Vorfeldkontrolle des Saarbrücker Flughafens saß in seinem Glaskasten. Er machte gerade ein paar Notizen in den Verkehrsbericht, als ihn etwas aufhorchen ließ. Auf der englischen Frequenz meldete sich ein Flugzeug und erbat Landeerlaubnis. Noch während Fluglotse Simon (von seinen Freunden allgemein Jacques genannt – obwohl er mit Vornamen eigentlich Hans hieß) mit dem Engländer sprach, setzte sich Heinz David per Bodenfunk mit dem Einwinker in Verbindung und bat diesen, die ankommende Maschine auf Rasen zu stellen, direkt vor die Terrasse des Flughafenrestaurants, wo die kleineren Maschinen meistens ihren Platz fanden. Heinz David lehnte sich zurück und schaute hinaus. An diesem Nachmittag war es sehr ruhig, obwohl das Wetter zum Flie14 �
gen ausgezeichnet war. Die ungewohnte Ruhe wollte die Flughafenfeuerwehr zu einer Übung nutzen – ausgerechnet zwischen Vorfeld und Landebahn. Die Vorbereitungen waren in vollem Gange. Der Leiter der Aktion fragte beim Tower, ob man beginnen könnte. Fluglotse Jacques Hans Simon funkte zurück: »Da kommt gerade noch eine Maschine aus England. Sie wird in drei Minuten über dem Platz sein. Warten Sie erst noch die Landung ab!« Der Mann von der Feuerwehr bestätigte. Die Übung hätte zwar die Landung des Flugzeuges nicht behindert, da man einen Trockeneinsatz ohne Feuer fahren wollte, aber man konnte kein Risiko eingehen. Die Löschfahrzeuge sollten zur Verfügung stehen, bis sämtliche Eventualitäten ausgeschaltet waren. Heinz David stand auf. Er fühlte sich plötzlich nervös, ohne sich das erklären zu können. War es auf die langjährige Erfahrung als Flugleiter zurückzuführen? Auf jeden Fall lag etwas in der Luft. Er öffnete ein Fenster. Deutlich war das ferne Brummen eines Flugzeugmotors zu hören. Heinz David schaute zum Himmel. Da war die Maschine auch schon. Viel zu hoch, um zur Landung anzusetzen. Tatsächlich, da schien etwas nicht zu stimmen. Jacques Simon meldete sich. »Sie müßten jetzt Sichtkontakt mit dem Flughafen haben«, sagte er auf Englisch. Der Pilot antwortete: »Tut mir leid, aber ich kann nichts sehen.« »Aber, Sie sind doch direkt über uns«, protestierte der Fluglotse. »Die Sicht ist frei.« »Frei?« echote der Pilot. »Wir sehen Bodennebel. Höhe: vierhundert Fuß. Nebel gibt teilweise Sicht frei auf Ackerland. Keine 15 �
Ortschaft.« Der Fluglotse brauchte ein paar Sekunden, um das Gehörte zu verdauen, denn vom Flugzeug aus mußte nicht nur der Flughafen, sondern auch die Landeshauptstadt unverkennbar zu sehen sein. Was war mit den Leuten los? Simon tat das einzig Richtige – wie er glaubte – und ging gar nicht auf den Unsinn ein. Er gab ein paar Fluganweisungen. Prompt flog der Engländer eine weite Kurve und kehrte zurück. Die Feuerwehrleute sahen zum Firmament auf und erkannten, daß der Engländer plötzlich an Höhe verlor. »He, Vorsicht!« schrie in diesem Augenblick der Fluglotse erschrocken, »Nach links abdrehen! Und gib Gas, Mann!« Heinz David hatte das Gefühl, eine eiskalte Faust packe nach seinem Herzen. Der Motor der Maschine spuckte. Der Pilot meldete sich nicht mehr. Im Sturzflug kam die Piper herunter – und sie hielt genau auf die Stelle zu, an der die Feuerwehrleute ihre Spritzenübung abhalten wollten. Der Absturz erschien unaufhaltsam. Aber da gelang es dem Piloten endlich, die Maschine abzufangen. Der Motor brummte wieder los. Nur etwa zwanzig Fuß hoch orgelte das Flugzeug über den Platz. Doch kaum war es über dem Rasen zwischen Vorfeld und Landebahn, als dort eine haushohe Stichflamme empor raste. Keiner der Zuschauer konnte sich erklären, wie sie hatte entstehen können am wenigsten die Feuerwehrleute, die ja ihre Übung völlig ohne Feuer hatten durchführen wollen. Die Piper flog genau in das Flammeninferno hinein. Die Menschen hielten den Atem an. Jeder erwartete, daß das Flugzeug explodierte. 16 �
Aber da kam es wieder zum Vorschein, raste weiter. Das Feuer schien ein eigenes Leben zu haben. Es war deutlich, daß es dem fliehenden Flugzeug folgen wollte. Es bäumte sich auf, wuchs hoher und höher. Stichflammen leckten nach dem Flugzeug, ohne diesem jedoch etwas anhaben zu können. Das Flugzeug ging im Tiefflug über Heckendalheim und entschwand aus dem Sichtbereich. Flugleiter Heinz David erwachte wie aus einem bösen Traum. Jetzt erst hörte er, daß sein Kollege vom Tower Alarm gegeben hatte. Die Sirene heulte, weit über die umliegenden Ortschaften hörbar. Der Fernschreiber von der automatischen Lärmüberwachung hinter Heinz David ratterte los. »Kilo Lima, bitte melden! Kilo Lima bitte melden!« hallte es aus dem Lautsprecher der englischen Frequenz. Aber das Flugzeug antwortete nicht, sosehr sich auch Jacques Simon bemühte. Die Feuerwehrleute zeigten, was sie konnten. Sie kamen zum Einsatz. Die Löschfahrzeuge brausten heran. Schläuche wurden abgewickelt, unter Druck gebracht. Nach genau ausgeklügeltem System wurde das noch, immer hoch lodernde Feuer bekämpft. Was ursprünglich nur Übung bleiben sollte – man hatte einfach ins Gras spritzen wollen – war jetzt zur akuten Gefahr geworden, obwohl niemand wußte, wie sie entstanden war. Heinz David kam ein Gedanke. »Hat der Engländer eine Brandbombe abgeworfen?« sinnierte er laut. Wahrscheinlich gab es in dieser Minute noch mehr Menschen, die diesen schweren Verdacht hegten. Die Feuerwehr bemühte sich wacker, aber alle ihre Bemühungen blieben ohne Erfolg. Das Feuer reagierte allen Naturgesetzen zum Hohn überhaupt nicht auf die Wassermassen. Es loderte nur noch heller und höher. 17 �
Endlich meldete sich die Maschine. »Hier Kilo Lima! Saarbrücken, Tower, bitte melden! Bitte melden!« »Hier Saarbrücken, Tower! Was, zum Teufel, ist passiert? Was ist mit Ihnen los?« Die Erwiderung kam nur zögernd: »Wir wissen es selber nicht. Empfangt ihr Fremde immer so?« Es hatte wohl ein Scherz sein sollen, war aber einer, der in dieser Minute nicht ankam. »Also doch eine Falle, in die uns der Anrufer locken wollte!« sagte Don Cooper keuchend, als wir das Hölleninferno hinter uns hatten. Das Flammenmeer blieb zurück. Schweißperlen standen auf meiner Stirn. Ich gab den Schavall frei, den ich mit den Händen umklammert hielt. Er hatte uns wahrscheinlich das Leben gerettet. Der Anschlag war magischer Natur gewesen. Eine unbekannte Macht hatte uns Trugbilder vorgegaukelt und das Feuer entfacht. Was uns am meisten an dem Vorgang beeindruckte, war die Tatsache, daß man eine solche Macht entfalten konnte, obwohl noch hellichter Tag war. Endlich antwortete Don auf die Anfragen des Towers. Nachdem er seinen mißglückten Scherz hatte anbringen wollen, um dem Ganzen die Schärfe zu nehmen, bat er erneut um Landegenehmigung. Die Antwort kam nicht sofort. »Hoffentlich machen die uns nicht für das Feuer verantwortlich«, sagte ich bestürzt. »Möglicherweise ist das genau die Absicht des Gegners. Wenn es ihm auch nicht gelingt, uns zu vernichten, solange der Schavall uns beschützt, wollen die doch verhindern, daß wir in Saarbrücken landen. Nein, ich für meine Person glaube an keine Falle. Hier sind konträre Kräfte im Spiel!« Ich schaute May an. 18 �
»Was hast du gesagt?« »Der Anrufer lockte uns hierher. Er kann kein Interesse daran haben, daß die Landung verweigert wird.« Ich zuckte die Achseln. Die Landefreigabe wurde erneuert. Als wir uns diesmal wieder über dem Platz befanden, sah alles ganz normal aus. Es gab keine Trugbilder mehr. Nur das Feuer bestand noch. Es loderte hell und war mit Wasser nicht zu löschen – sosehr sich die Flughafenfeuerwehr auch bemühte. Don flog eine Schleife. Obwohl die Spannung an unseren Nerven zerrte, setzte er die Maschine sauber auf den Asphalt der Bahn. Wir rollten aus und steuerten auf den Taxiway zu. Jetzt erhielten wir auch die Freigabe zum Vorfeld. Ich starrte zu dem Flammenmeer hinüber. Wir hatten die Attacken des Bösen relativ spät erkannt. Als ich den Schavall mit beiden Händen umschlossen hatte, war eine Art Schutzschirm um das Flugzeug entstanden. Don hatte die stürzende Maschine abfangen können, und auch das Feuer hatte uns nichts angehabt. Und jetzt sah ich die Flammen und wünschte, daß sie erlöschen würden, doch der Schavall erhörte meinen Wunsch nicht. Er wirkte kalt und leblos und ignorierte die Schwarze Magie, die dort draußen wütete. Aber ich wollte nicht undankbar sein, wo er uns vor Minuten erst das Leben gerettet hatte. Und gerade, als ich das dachte, verschwand das Feuer. Es geschah von einer Sekunde zur anderen. Ich sah einige der Feuerwehrleute wild gestikulieren. Das Wasser wurde abgedreht. Ein paar der Männer liefen auf die Wiese hinaus. Ich wußte, daß sie vergeblich nach irgendwelchen Brandspuren sahen. Die Art Feuer hinterließ keine Spuren! »Hoffentlich reicht das, um die Saarbrücker davon zu überzeugen, daß wir nicht für den Vorgang verantwortlich sein 19 �
können«, sagte Don Cooper. »Auf jeden Fall würde es der Theorie, von May entgegensprechen«, fügte ich hinzu. Sie ging nicht darauf ein. Der Einwinker hatte sich längst in Positur gestellt. Don folgte seinen Zeichen. Auf der Terrasse des Flughafenrestaurants hatte sich eine kleine Menschenmenge gebildet. Sie starrten alle zu uns herüber. Ich fühlte mich unwohl. Es war mir zuwider, im Blickpunkt des Interesses zu stehen. Die Maschine hielt. Don schaltete den Propeller ab. Die plötzliche Ruhe überfiel uns wie ein hungriges Tier und war unangenehm. Wie festgewachsen saßen wir in unseren Sitzen. Jetzt erst wurde uns bewußt, daß wir knapp mit dem Leben davongekommen waren. Aber wir konnten nicht ewig im Flugzeug bleiben. Don Cooper öffnete. Wir stiegen aus. Der reinste Wellensalat herrschte. Die Feuerwehrleute übertrafen sich gegenseitig an Lautstärke. »Das gibt es doch gar nicht!« kommentierte Heinz David und lehnte sich aus dem Fenster. Nein, auf diese Entfernung hin waren absolut keine Spuren des Feuers zu erkennen, und wie die Feuerwehrleute behaupteten, fanden auch sie keine. Nicht einmal angesengt war das Gras. Kopfschüttelnd wandte sich Heinz David ab. Er war auf den Engländer gespannt, der mit so viel Wirbel in Saarbrücken gelandet war. Wie es im Moment aussah, konnte man ihn für die Ereignisse nicht direkt verantwortlich machen. Das schwarze Telefon klingelte. Es war die Direktverbindung zum Tower. Heinz David hob ab und meldete sich. »Sag mal, Jackie, kannst du von oben etwas sehen?« »Wo nichts ist, sehe ich auch nichts«, antwortete Simon tro20 �
cken. »Die Wiese sieht ganz normal aus – nur ein wenig naß. Das widerspricht zwar aller Erfahrung, aber ich kann nichts daran ändern. Etwas anderes, Heinz: hast du schon den Zoll benachrichtigt?« »Verdammt!« entfuhr es David, »das habe ich bei dem Trubel glatt vergessen. Weißt du, wer drüben ist?« »Adolf Gebert, wenn ich nicht irre.« »Aha, der Adi! Okay, ich rufe ihn an.« »Und halte die Engländer ein wenig auf, bis ich unten bin! Hat mich Verdammt neugierig gemacht, das Ganze. Ich werde einen Bericht schreiben müssen. Eben ist Werner Mietke aus der Pause gekommen. Der hält die Stellung, solange ich bei dir bin.« »Roger!« sagte Heinz David und legte auf. Dann benachrichtigte er den Zoll, bat den Zöllner Adolf Gebert allerdings, erst zu ihm zu kommen. Und Adolf Gebert kam. Als ihm Heinz David erzählte, was passiert war, machte er mit seinem schwäbischen Akzent eine recht unfeine Bemerkung, denn er mußte annehmen, daß ihn der Flugleiter auf den Arm nahm. Und das mochte er nicht. * Wir folgten dem schwarzen C auf gelbem Grund und gelangten zur Vorfeldkontrolle, die hier Flugleitung genannt wurde. Ich hatte beschlossen, meine recht guten Deutschkenntnisse gleich zu erproben. Vielleicht würde das die Saarbrücker ein wenig freundlich uns gegenüber stimmen, denn nach Lage der Dinge durften sie eigentlich nicht gut auf uns zu sprechen sein. Drei Männer erwarteten uns in Zollnerkleidung ein mittelgroßer, kräftiger Typ in den Dreißigern, dessen Name – Adolf Gebert – ich später erfahren würde, ein Mann in den Fünfzigern mit buschigem Oberlippenbart und den grauen Schläfen, die 21 �
Frauen angeblich so sehr lieben, und der dritte jüngeren Alters: dunkle Haare, ebenfalls ein buschiger Schnurrbart, dunkelhäutiger, südländisch wirkender Typ, betont lässig gekleidet. Der Zöllner sagte sein übliches Sprüchlein auf und kontrollierte die Pässe. Als das geschehen war, kassierte der ältere, Heinz David, die Landegebühr. Gerade hob der sich lässig gebende Fluglotse zu einer Frage an, als es geschah… Zufällig blickte ich hinaus – zu der Stelle hin, an der die Feuerwehrleute noch immer emsig beschäftigt waren. Um die Leute herum entstand aus dem Nichts ein Flammenring, dem sie nicht entrinnen konnten. Der Ring driftete auf uns zu, kroch wie ein gefräßiges Wesen über das Vorfeld und hinterließ trotzdem keine Spuren. Vor Überraschung hielt ich die Luft an. Jetzt hatten es auch die anderen entdeckt. Ich griff nach meinem Schavall, der sich stark erhitzt hatte, und ging zum offenen Fenster. Fest schloß sich meine linke Hand um das Dämonenauge. »Joanna Silver!« brüllte ich. Mir war es egal, wenn ich damit noch mehr Aufmerksamkeit erregte. Es blieb mir einfach keine andere Wahl, denn mehr und mehr neigte ich der Theorie zu, daß May Harris tatsächlich existierte und daß es sich keineswegs um eine Falle handelte. Der Anrufer hatte es ehrlich gemeint, und anscheinend hatten wir in der Hexe denselben Gegner. »Joanna Silver!« wiederholte ich. Der Flammenring hatte sich ganz über das Vorfeld geschoben und verharrte wenige Yards vor dem Glaskasten der Flugleitung. Die Feuerwehrleute waren darin gefangen. Sie wirkten ziemlich verstört, was kein Wunder war. Plötzlich schoß der Flammenring hoch empor, wurde zu einer 22 �
lodernden Wand, die sich in ein rotierendes Nebelgebilde verwandelte. Das Gebilde formte sich sekundenlang zu einem Antlitz – dem Antlitz der Hexe! Jetzt bedurfte es keines Beweises mehr. »Seht!« rief Heinz David aus. Von einem Augenblick zum anderen verschwand die Erscheinung wieder. Der Fluglotse schnauzte Don Cooper an: »Verdammt, was hat das alles zu bedeuten? Wie machen Sie das?« Adolf Gebert zog seine Dienstwaffe so schnell, wie ich es noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Er bedrohte uns mit der Pistole. In seinen Augen funkelte es. Er war zu allem entschlossen. Das hatte uns noch gefehlt, daß man uns letztlich für die Phänomene doch die Schuld gab! Da ich die deutsche Sprache von uns dreien am besten beherrschte, wollte ich eine Erklärung geben. Es blieb bei der Absicht, denn die Verglasung in der Runde beschlug sich, wurde undurchsichtig. Ein ungeheurer Sog zerrte an uns. Der Boden wankte wie bei einem schweren Erdbeben. Ich befürchtete schon, bei dem entstehenden Durcheinander würde sich ein Schuß aus der Dienstwaffe lösen. Doch der Zöllner konnte offensichtlich gut damit umgehen. Er beherrschte seine Pistole. Es passierte nichts. Und dann materialisierte mitten unter uns ein dicker Wälzer. Er war altertümlich gebunden und wies auf dem Einband eine goldene strahlende Vier. Ich war entsetzt, denn ich erkannte das Buch der Weisheiten sofort. Einst beinhaltete es sieben Geschichten und wurde deshalb das Buch der sieben Weisheiten genannt. Wenn man in das Buch schaute, war man gezwungen, die jeweils aufgeschlagene Geschichte zu lesen. Dadurch wurde 23 �
diese grausame Wirklichkeit. Man versank in dem beschriebenen Geschehen, wurde Teil davon. Durch den Leser entstand eine Sphäre, die auch andere Menschen mit in ihren Bann ziehen konnte, ohne daß sie etwas dagegen zu tun vermochten. Zweimal war mir bisher der geheimnisvolle Autor des Buches begegnet, denn ich war selber schon Gefangener davon. Das Buch stammte ebenso wie mein Schavall von den längst untergegangenen Goriten. Das Wissen um sie und ihre Werke war vergessen. Nur noch wenigen war bekannt, daß sie überhaupt existiert hatten. Ich gehörte zu diesen wenigen, obwohl meine Kenntnisse als nur fragmentarisch bezeichnet werden mußten. Der Geschichtenschreiber hatte all seine magischen Fähigkeiten in sein Werk konzentriert. Einst ein mächtiger Magier, war er dadurch zu einem normalen Menschen geworden, den die anderen Goriten als negativ erkannt und in das Zwischenreich verbannt hatten. So war er zu einer verdammten Seele geworden, die erst Erlösung finden konnte, wenn sein Werk getilgt war. Es hieß, der Schavall wäre eigens zu dem Zweck entstanden, das Buch der Weisheiten zu bekämpfen. Aber es konnte von ihm nur jeweils eine Geschichte gelöscht werden. Erst mit der letzten würde das ganze Buch vergehen. Dreimal waren wir damit konfrontiert worden. Es gab nur noch vier Geschichten, und es sah so aus, als würden wir jetzt die Opfer von einer werden. Gemeinsam verließen wir die Wirklichkeit, gingen wir ein in die unbekannte Sphäre, die vor langer Zeit beschrieben und nunmehr Realität geworden war. Plötzlich löste sich ein Schuß aus der Dienstwaffe. Erschrocken fuhr ich herum. Doch hatte die Kugel keinem von uns gegolten, sondern einem Wesen, das zu der Fabel gehörte, die zu erleben wir gezwungen 24 �
waren. Die Nebel um uns herum hatten sich aufgelöst. Wir standen in einer weiten Savanne. Unbarmherzig brannte die Sonne herab. Das Wesen, das auf uns zupreschte, erinnerte entfernt an einen Elefanten. Es hatte drei Rüssel von riesigen Ausmaßen. Und doch gab es – außer den Rüsseln – ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: die vorderen Gliedmaßen endeten in übergroßen Händen! Es hatte kurz vor uns gestoppt und sich auf die Hinterbeine erhoben. Die Hände griffen nach uns. Adolf Gebert schoß ein zweites Mal. Er tat dies mit der Geschicklichkeit eines Mannes, der jahrelang geübt hatte. Die Kugel fuhr in eines der höllisch glühenden Augen. Diesmal gab es einen Erfolg. Das Ungeheuer kippte rückwärts und wedelte mit den Rüsseln. Dabei stieß es ein infernalisches Röhren aus. »Schavall!« schrie ich und packte das Amulett fester. Es glühte wie verrückt, befreite uns jedoch nicht aus der Sphäre. Warum nicht? War das Buch der Weisheiten diesmal stärker? Adolf Gebert schoß ein drittes Mal und traf das zweite Auge. Starker Wind kam auf, spielte mit unseren Haaren, wehte dem Zöllner fast die Mütze vom Kopf. Und dann ergriff ein Wirbelwind das um sich schlagende Geschöpf der Hölle und trug es davon, als wäre es leicht wie eine Feder. Wir blieben allein zurück und schauten uns an. Ich glaubte, in den Augen der anderen so etwas wie Wahnsinn zu entdecken. Und das verwunderte mich nicht. So wie es aussah, waren wir eine Gruppe von Verlorenen in der Welt des Irrsinns. »Mark«, rief Don Cooper aus. »Warum setzt du nicht den Scha25 �
vall ein?« »Er reagiert überhaupt nicht«, antwortete ich kläglich. »Er hat sich stark erhitzt, verhält sich jedoch neutral. Es ist nichts zu machen.« »Denke an das erste Mal, Mark. Da hat der Schavall auch erst zurückgeschlagen, als du es gefordert hast.« »Wenn es doch nicht geht!« schrie ich ihn an. Es klang eine Spur zu schrill und zu hysterisch. Beschämt hielt ich inne. Der Zöllner wandte sich mir zu. Der Lauf seiner Waffe schwenkte herum. »Vorhin hat Jacques eine Frage gestellt«, flüsterte er mit gepreßter Stimme. »Wie ist das nun? Wollen Sie endlich sagen, was hier vor sich geht?« Ich machte eine hilflose Geste. »Das würde ich gern, wenn ich es selber wüßte!« Aber damit, gab sich der Mann nicht zufrieden. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber der Fluglotse winkte ab. Er wirkte relativ gefaßt, hatte seinen ersten Schrecken anscheinend überwunden. »Halte die drei in Schach, Adi! Ich glaube kaum, daß wir etwas aus denen herauskriegen. Vielleicht sind sie tatsächlich genauso Opfer wie wir?« Der Kölner maß mich von Kopf bis Fuß mit einem abschätzenden Blick. »Du hast recht. Es wäre doch gelacht, wenn wir uns hier nicht zurechtfänden. Du und Heinz, ihr seid jahrelang zur See gefahren und habt die Welt gesehen, und ich war bei der Bundeswehr Panzeraufklärer und habe zusätzlich über achtzig Fallschirmsprünge absolviert. Soll ich auch noch erwähnen, daß ich bei der Truppe auch eine Weile Absetzer spielte?« Heinz David warf einen Blick in die Runde, »Ich habe viel zu Gesicht bekommen, aber hier wirkt alles irgendwie unwirklich. 26 �
Ich möchte wissen, wo wir überhaupt sind.« Die drei erstaunten mich im höchsten Maße. Ich hatte nie erlebt, daß Menschen, die mit dem Unbegreiflichen erstmalig im Leben konfrontiert worden waren, so schnell hatten umdenken können. Jemand berührte meinen Arm. Ich fuhr herum. Es war May Harris. »Was wird da eigentlich gesprochen?« fragte sie auf Englisch. Sie verstand kein Wort Deutsch. Ich übersetzte kurz. Dann wandte ich mich an die drei Flughafenbediensteten. »Wir sitzen alle im selben Boot«, begann ich vorsichtig. »Also müssen wir auch gemeinsam versuchen, ein Kentern zu verhindern.« Adolf Gebert sah mich an, sehr kritisch, wie ich bemerkte. Was er erblickte, schien ihm nicht zu mißfallen. Entschlossen ließ er die Waffe sinken. Dann stellte er sich und die beiden anderen vor. Er zeigte eine spontane Entscheidung, die seiner würdig war. »Achtung!« rief Don Cooper. Er deutete nach hinten. Am Horizont war eine hohe Staubwolke aufgestiegen. Sie wurde ständig neu gespeist. Auch erzitterte der Boden, und wenn man sich konzentrierte, konnte man das ferne Trappeln ungezählter Hufe vernehmen. Was immer da auf uns zukam – es würde uns überrollen. Mir standen die Haare zu Berge, nur als ich daran dachte. Die anderen schickten sich an, die Flucht zu ergreifen. »Halt!« schrie ich. »Wir dürfen uns nicht von der Stelle bewegen. Nur wenn wir hierbleiben, haben wir eine Chance, dort wieder zu materialisieren, wo wir das Diesseits verließen!« Alle gehorchten: Don und May, weil sie aus eigener Erfahrung mit dem magischen 27 �
Werk wußten, daß ich recht hatte, und die drei vom Flughafen, weil sie anscheinend froh waren, daß wenigstens einer etwas konstruktiv zu sagen wußte. Sie schauten mich forschend an – anscheinend in der Hoffnung, daß ich noch mehr Weisheiten von mir gab. Aber ich mußte passen. Don Cooper flüsterte mir zu: »Übrigens, Mark, hast du nicht bemerkt, daß das Buch der Weisheiten gar nicht aufgeblättert war?« Hätte er mir mitten ins Gesicht geboxt, hätte die Wirkung auf mich kaum anders sein können. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Don Cooper hatte recht, und ich schalt mich einen Narren, weil ich nicht selber darauf gekommen war. Das Buch konnte normalerweise nur wirksam werden, wenn es jemanden gab, der in den Bann von einer der Geschichten gezogen wurde. Dazu aber mußte das Werk aufgeschlagen sein! Jetzt wurde mir klar, wieso der Schavall hatte versagen müssen. Ich hatte ihn ganz einfach falsch eingesetzt! Ich warf einen Blick auf die heranrollende Gefahr. Noch begriff ich die Zusammenhänge nicht, aber ich hoffte, aus der Erkenntnis der wahren Situation Kapital schlagen zu können. Durch tägliches Training war ich in der Lage, mich innerhalb von Sekunden in Trance zu versetzen. Vor meinem geistigen Auge tauchte das Innere der Flugleitung auf. Über uns schwebte das Buch – geschlossen. Mein Geist projizierte darüber das Gesicht der Hexe. Ja, von ihr gingen die Impulse aus. War es möglich, daß sie es verstand, das Buch der Weisheiten für sich einzuspannen, ohne in irgendeine Gefahr zu kommen und ohne daß sie das Werk öffnete? Das Bild vor meinem geistigen Auge wurde immer plastischer. 28 �
Ich vergaß meine Umgebung, vergaß alles. Nur noch die Projektion existierte für mich. Und ich nahm den Schavall hoch und hielt ihn der Hexe entgegen. Sie verzog schmerzlich das Gesicht, sagte etwas. Aber kein Ton drang an meine Ohren. Dann ging alles sehr schnell. Wirbelnder Sog entstand wieder, und im nächsten Augenblick war die Savanne verschwunden. Wir standen in der Flugleitung, so wie wir sie verlassen hatten. Ich erwachte aus der Trance, gönnte mir jedoch keine Sekunde Pause. Ehe sich die drei Flughafenbediensteten auf die neue Situation einstellen konnten, handelte ich. Noch immer war der Schavall voll aktiviert. Ausnahmsweise gehorchte er meinem Willen – und dieser Wille richtete sich im positiven Sinne gegen die drei vom Saarbrücker Flughafen. Das heißt, ich setzte sie unter Hypnose. Es war notwendig. Sie durften sich an nichts erinnern, was sich in den letzten Minuten zugetragen hatte. Zu ihrem Besten! Es war einfach zu gefährlich für sie. Die Hexe durfte keine Veranlassung haben, ihr Augenmerk auf sie zu richten. Die Männer hätten den magischen Kräften nichts entgegenzusetzen gehabt, da sie sich mit dem Unbegreiflichen noch nie zuvor beschäftigt hatten. Ich beeinflußte sie und befahl ihnen zu vergessen. Gerade war die Prozedur abgeschlossen und ich wollte die drei aus der Trance wecken, als die Tür aufgerissen wurde. Ein Mann streckte seinen Kopf herein. Er war dunkelhaarig, hatte ausdrucksstarke Augen und einen Schnurrbart, der so lang war, daß seine Spitzen über die Mundwinkel hingen. Mit einem einzigen Blick übersah er die Situation. Offenbar hatte er etwas anderes erwartet, denn er verlor sofort seine zur 29 �
Schau getragene Besorgnis und atmete erleichtert auf. »Ich glaube, ich muß zum Optiker«, sagte er. »Von drüben, vom Restaurant, sah es so aus, als sei die Flugleitung in Nebel gehüllt. Bei dem, was heute schon alles passiert ist, mußte ich mit dem Schlimmsten rechnen.« Ich fragte Heinz David freundlich: »Wer ist dieser Mann eigentlich?« Noch immer war der Flugleiter nicht Herr seiner Sinne. Der Neuankömmling schien es nicht zu bemerken. Sonst benahm Heinz David sich aber völlig normal. Er deutete auf den Bauch des Mannes. »Das kann doch nur ein Wirt sein, oder?« fragte er lachend. »Das ist unser Freund Peter Schröder – eine der führenden Persönlichkeiten des Flughafenrestaurants.« In der Tat war der Bauch recht beachtlich, wenn man bedachte, daß Peter Schröder ansonsten nicht gerade fett zu nennen war. Er schaute mich an. Ein seltsames Glitzern geriet in seine Augen. Ich stutzte. Mit veränderter Stimme stellte er fest: »Sie sind also Mark Täte, nicht wahr?« Ich vermochte nur zu nicken. »Ich möchte Ihnen Grüße ausrichten. Der Anrufer bedauert es, nicht persönlich gekommen zu sein, aber er ist leider gezwungen, unterzutauchen. Fahren Sie bitte in Richtung St. Ingbert! Mieten Sie sich zu diesem Zweck einen Wagen und parken Sie am Ortseingang nach der Autobahnbrücke!« Die Ausstrahlung Schröders war eindeutig. Der unbekannte Anrufer mußte ihn irgendwann im Laufe des Tages beeinflußt haben. Nur, um mir diese Nachricht zu übermitteln? Das war gut möglich. Und warum ausgerechnet den Leiter des Restaurants? Auch das war einleuchtend. Der Anrufer hatte nur unauffällig 30 �
als Gast aufzutreten brauchen. Daß ich mit dieser Annahme richtig lag, zeigte Schröders anschließende Reaktion. Verwirrt schüttelte er den Kopf, als erwache er gerade aus einem Traum. Dann war er wieder wie vordem – ohne sich allerdings an das erinnern zu können, was er eben gesagt hatte. Er winkte seinen Bekannten zu und bemerkte im Hinausgehen: »Ich schaue später noch herein.« Ich konnte mich wieder den drei Flughafenbediensteten widmen und befreite sie aus der Hypnose. * Wenig später verließen May Harris, Don Cooper und ich die Flugleitung – nicht bevor wir uns erkundigt hatten, wo wir uns hier einen Wagen mieten konnten. Wir hatten uns für einen unauffälligen Opel entschieden und befanden uns auf dem Weg nach St. Ingbert. Es ging durch einen Wald. Die Straße schlängelte sich in steilen Serpentinen zu Tal und mündete in einen Autobahnzubringer. Don Cooper hatte das Steuer übernommen. Er verlangsamte die Fahrt und schaute unschlüssig um sich. Nach St. Ingbert mußten wir rechts abbiegen. Etwa hundert Meter nach der Abzweigung sahen wir die bezeichnete Brücke, über die wir fuhren. Linker Hand lag ein Parkplatz. Don Cooper stellte den Wagen ab. Offenbar war der Platz für Ausflügler gedacht, denn es gab Hinweisschilder auf einen Wanderweg, der zu einem Hügel mit Namen Stiefel führte. Es hätte mich interessiert, was es damit auf sich hatte, aber für solche Dinge hatten wir jetzt keine Zeit. 31 �
Wir stiegen aus und blickten uns unschlüssig um. Den Schavall hatte ich in der Hand. Das erschien mir ratsam. Es blieb zu hoffen, daß ein eventueller Anschlag auf uns mit magischen Mitteln erfolgte, denn gegen andere Waffen waren wir durch den Schavall selbstverständlich nicht gefeit. Ich hatte diesen Gedanken kaum zu Ende verfolgt, als ein Wagen heranbrauste und mit quietschenden Reifen einbog. Er kollidierte fast mit unserem. Die Türen wurden aufgestoßen. Zwei Männer sprangen heraus. Jeder von ihnen hielt eine Pistole im Anschlag. Ehe wir noch zur Gegenwehr fähig waren, wurden wir zu dem Auto dirigiert. Man zwang uns, einzusteigen. Noch jemand befand sich im Innern: ein junger Bursche mit maskenhaft starrem Gesicht. Der Gedanke drängte sich mir unwillkürlich auf, daß der Junge besessen war. »Bleiben Sie mir ja mit Ihrem Schavall vom Leibe«, sagte er monoton. Das bestätigte meinen ersten Eindruck. Wir drängten uns im Wagen zusammen. Von Bequemlichkeit konnte keine Rede sein, denn wir waren nun zu sechst. Ich schaute in die Mündungen der Pistolen und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Wie heißen Sie?« wurde ich angeschnauzt. Es war nicht einzusehen, die Frage unbeantwortet zu lassen. »Mark Täte«, knirschte ich. Auch Don Cooper und May Harris mußten ihre Namen nennen. Um sich davon zu überzeugen, daß wir auch nicht logen, nahm man uns die Papiere ab und studierte sie sorgfältig. Mit dem Ergebnis schienen die Leute zufrieden zu sein. Der Besessene meldete sich wieder zu Wort. Er schien sich in meiner Gesellschaft höchst unwohl zu fühlen. »Danke, wir sind zufrieden«, bemerkte er in der gleichen monotonen Art wie vorhin. 32 �
Er gab den beiden Bewaffneten einen Wink. Sie zögerten. »Los, gehen Sie schon! Warten Sie draußen! Die drei sind in Ordnung.« Sie gehorchten, wenn auch nur ungern. Wir blieben mit dem jungen Burschen allein zurück. »Lange Zeit bleibt mir nicht. Der Schavall setzt mir zu sehr zu.« Mich traf ein warnender Blick. »Bitte benutzen Sie ihn nicht gegen mich. Es würde Ihnen wenig nützen, könnte aber meinen Tod bedeuten. Sie bekommen aus mir ohnedies nur das heraus, was ich freiwillig zu sagen bereit bin. Um mich kurz zu fassen: ich bin Felix Kühn. Ich weiß, der Name bedeutet Ihnen nichts. Heute brach ich aus der Saarbrücker Strafanstalt Lerchesflur aus. Anschließend rief ich Sie, Mr. Täte, an.« »Können wir jetzt erfahren, was das Ganze überhaupt soll?« mischte sich Don Cooper ein. Der junge Mann hob beschwichtigend beide Hände. »Ich bitte Sie, Mr. Cooper, lassen Sie mich ausreden. Glauben Sie mir, das Gespräch strengt mich sehr an. Ich bin gezwungen, mich knapp zu fassen. Wir haben einen gemeinsamen Gegner – Joanna Silver, geborene Wyler. Sie sucht nach ihrem ehemaligen Geliebten David Marshai. Ich bin der einzige Mensch, der weiß, wo er sich befindet. Deshalb bin ich so gefährdet.« Jetzt konnte ich mir eine Frage doch nicht verkneifen: »Und was spielen wir darin für eine Rolle?« »Sie müssen den Kampf mit der Hexe aufnehmen. Gottlob ist sie bereits aufmerksam auf Sie geworden. Indem Sie die Hexe bekämpfen, helfen Sie mir.« Ich knirschte mit den Zähnen. Es gefiel mir nicht, wenn ich die Kastanien für andere aus dem Feuer holen mußte – vor allem, wenn ich diese anderen überhaupt nicht kannte. »Hören Sie mir mal gut zu, Felix Kühn oder wie immer Sie auch heißen mögen! Gut, ich werde die Hexe bekämpfen. Das ist 33 �
meine Pflicht. Sie ist eine furchtbare Gefahr für die Menschheit, die nicht einmal etwas von der Bedrohung ahnt. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich auch den Schleier vom Geheimnis, das Sie umgibt, lüften werde.« Damit hob ich den Schavall. Der junge Mann schrie auf. Er riß die Arme hoch, streckte sie abwehrend vor. »Nein, das dürfen Sie nicht tun! Wenn Sie mich töten, erfahren Sie nie etwas!« Das mußte ich einsehen. Außerdem konnte der junge Mann als eine Art Verbündeter gelten. Vielleicht war es doch besser, wenn ich Zurückhaltung übte. Ich steckte den Schavall wieder weg. Schweratmend sank der Junge in seinen Sitz zurück. Offenbar war alles gesagt, was von Wichtigkeit war, denn er öffnete den Mund nicht mehr. Ich stieß den Wagenschlag auf und schickte mich an, auszusteigen. Sofort waren die beiden Bewaffneten zur Stelle. Sie nahmen eine drohende Haltung an. »Kümmert euch um euren Freund«, riet ich ihnen. »Es geht ihm nicht besonders gut – diesem Felix Kühn.« »Wer?« fragte einer dümmlich. Der andere stieß ihm kräftig in die Rippen. Er umrundete den Wagen und blickte von der anderen Seite her hinein. Der Junge gab ihm ein Zeichen. Daraufhin sagte er: »Sie können abhauen!« Ich nickte grimmig. »Das werden wir auch tun. Es dunkelt bereits. Also ist es zu spät, direkt den Rückflug anzutreten. Das wird morgen früh geschehen.« Der Bewaffnete machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann stieg er gemeinsam mit seinem Kumpan ein. Der Wagen 34 �
rollte rückwärts zur Straße und brauste dann in Richtung Stadtmitte davon. Don Cooper wollte zu unserem Mietfahrzeug eilen, um die Verfolgung aufzunehmen, doch ich hielt ihn am Arm zurück. »Glaubst du, das sei sinnvoll?« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Du hast natürlich recht. Erstens sind die Burschen bewaffnet und wir nicht, und zweitens kennen sie sich hier bestens aus, während wir Fremde sind. Eine Kleinigkeit für die, uns abzuhängen.« Er schöpfte tief Atem. »Nun, wo verbringen wir die Nacht?« Ich deutete über die Brücke. Drüben liegt Sengscheidt, wenn ich richtig gelesen habe. Ein beschaulicher Vorort von St. Ingbert. Schlage vor, wir suchen uns dort ein Hotel.« »Du hast Nerven«, murmelte May Harris und kletterte in den Fond des Opels. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das meinte. Don übernahm wieder einmal das Steuer. * Es war eine ganz und gar ereignislose Nacht. Schon früh standen wir auf. Die Spannung hatte uns so sehr zugesetzt, daß wir uns wie gerädert fühlten. Von erfrischendem und erquickendem Schlaf war nicht die Rede gewesen. Nach dem Frühstück reisten wir wieder ab. Wir wollten zum Flughafen. Es war natürlich klar, daß dies kaum im Sinne des unbekannten Anrufers war. Deshalb erwartete ich, daß er sich noch einmal melden würde. Als wir in den Opel stiegen, lenkte Don Cooper das Gespräch auf diese Frage. 35 �
»Das Ganze gefällt mir immer weniger. Erst einmal der Empfang am Flughafen, der im wahrsten Sinne des Wortes heiß war, dann die Begegnung mit diesen wahren Gangstern. Der Junge, der sich mit Felix Kühn vorgestellt hat, erschien mir einfach nicht echt genug. Vielleicht hätten wir die Polizei in Kenntnis setzen sollen? Die Nummer des Fahrzeuges habe ich mir gemerkt. Es geht schließlich nicht an, daß da jemand durch die Gegend fährt Und andere mit der Waffe bedroht.« »Das ist Unsinn«, widersprach May Harris. »Es wäre falsch gewesen. Aber auch der Anrufer hat mit der Begegnung einen Fehler begangen. Ich schließe mich dir an, Don, wenn du behauptest, daß Felix Kühn nicht ganz echt erschien. Die Geschichte war doch oberfaul!« »Wie meint ihr das – nicht echt?« erkundigte ich mich. Don Cooper machte keine Anstalten, loszufahren. Er sah mich an. »Hast du auch nur die Andeutung einer magischen Begabung an unserem Gesprächspartner bemerkt?« »Nein, er erschien wie ein Besessener.« »Genau! Und denke einmal an die Reaktion des Bewaffneten, als der Name Felix Kühn fiel.« Ich winkte ab. »Das ist doch alles Quatsch. Es bleibt doch letztlich egal, ob der Junge nur ein Mittelsmann war oder tatsächlich der Anrufer.« »Nein, das bleibt es nicht – beweist es doch, daß der Unbekannte nicht persönlich in Erscheinung treten will. Möglicherweise deshalb, weil er uns nicht traut?« »Das würde bedeuten, daß er ebenfalls ein Gegner ist – daß sein Wohlwollen uns gegenüber nur so lange andauert, bis der gemeinsame Gegner vernichtet ist,« May Harris hatte diese Vermutung geäußert. 36 �
Ich schüttelte den Kopf. »Ich halte es nach wie vor für sinnlos, solche Spekulationen anzustellen. Wahrscheinlich ist die Lösung ganz simpel und fällt uns gerade deswegen nicht ein. Ich habe auch gar keine Lust, darüber nachzudenken. Wir haben andere Probleme. Außerdem hege ich inzwischen einen schlimmen Verdacht.« »Einen Verdacht?« echote Don Cooper erstaunt. »Nun, es kommt gewiß nicht von ungefähr, daß uns die Hexe die ganze Nacht über in Ruhe ließ.« May Harris tat einen erschreckten Ausruf. »Glaubst du denn, sie hatte anderes zu tun?« »Es ist nicht auszuschließen«, bestätigte ich. »Unser Anrufer mag in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr existieren. Er kann der Hexe bereits zum Opfer gefallen sein. Am besten wäre, wir versuchten zurück nach London zu fliegen. Hindert uns niemand daran, hat die Hexe einen Teilsieg davongetragen und zieht sich vorläufig zurück. Wir können nichts gegen sie unternehmen, solange sie sich neutral verhält. Wir sind darauf angewiesen, daß sie uns angreift.« »Traurig, aber wahr«, kommentierte Don Cooper bitter und startete den Motor. Wir fuhren los. Das Alpha-Hotel blieb hinter uns zurück. Bald bogen wir wieder auf den Autobahnzubringer. Vor uns lagen die steil aufwärts führenden Serpentinen. Wir mußten sie überwinden, um zum Flughafen zu kommen. Jede Sekunde rechneten wir mit einem Zwischenfall – umsonst! Noch immer blieb alles normal. Es war ein freundlicher Morgen. Helles Sonnenlicht lag über den Feldern, als wir den Wald verließen. Die Serpentinen hatten wir hinter uns. Die Straße schlängelte sich über luftige Höhen. Irgendwo würde es eine Abzweigung nach Heckendalheim geben. Ein Kilometer weiter erst begann die weite Anlage des 37 �
internationalen Flughafens. Da stieß May einen Schrei aus. Sie deutete zum Himmel. Don Cooper stoppte den Wagen und folgte ihrem Blick. Ein großer Düsenjet befand sich in der Platzrunde. Er flog somit relativ niedrig. Plötzlich entstand vor ihm in Flugrichtung ein gigantisches Gesicht – das der Hexe. Die Maschine flog direkt in das Gesicht hinein. Es wurde zerfetzt und wirbelte durcheinander. Hinter dem Flugzeug ballte es sich wieder zusammen. Diesmal aber sah es anders aus. Ich erkannte es auf Anhieb und starrte noch hinauf, als sich das Schemen längst aufgelöst hatte. »Wir bleiben hier!« entschied ich. »Wer war es?« bohrte Don Cooper. »Ihr könnt ihn natürlich nicht kennen, da ich den Kampf allein durchführte – den Kampf gegen die Hexe und ihren Geliebten David Marshai. Ja, ich bin der einzige unter uns dreien, der ihn persönlich gesehen hat.« »War er es wirklich?« »Ja, und ich bin sicher, daß dieser Felix Kühn mit ihm eng verbunden ist. Ich kenne die Zusammenhänge noch nicht, habe da aber so eine Ahnung.« »Die wäre?« »Nein, jetzt noch nicht. Es wäre verfrüht. Es fehlen einfach die Beweise zu meiner Annahme.« »Also gut«, seufzte Don Cooper, »wie der Herr befiehlt. Bleiben wir eben im schönen Saarland – diesem bunten Neben – und Durcheinander von Landwirtschaft, Naherholung und umweltverseuchender Schwerindustrie.« »He«, rief ich erstaunt, »woher weißt du so viel über diese Ländchen?« »Jetzt noch nicht«, äffte er mir nach. »Es wäre verfrüht. Es fehlen einfach die Beweise zu meiner Annahme.« 38 �
Wir beschlossen, nach Saarbrücken zu fahren. Auf unserem Weg passierten wir den Flughafen, kamen an dem Vorort Ensheim vorbei und durchquerten abermals ein Waldgebiet. In nicht ganz so steilen Kurven ging es abwärts bis zu dem Vorort Fechingen hinein. Wir folgten der Straßenbeschilderung und erreichten die Halberger Hütte. Und dann, auf der Autobahnauffahrt, geschah es. Wir wollten über die Stadtschnellstraße ins Zentrum. Deshalb hatten wir diese Richtung genommen. Mitten auf der Straße lag ein Mensch. Wir mußten halten, wollten wir nicht über den Mann hinwegfahren. Er rührte sich nicht. »Was soll das schon wieder?« fragte Don Cooper halblaut. Eine rein rhetorische Frage, die keiner Antwort bedurfte. Vorsichtig sahen wir uns um. Ausgerechnet jetzt kam kein einziger Wagen. Wir waren allein. Links neben der Auffahrt erstreckte sich zwar ein großer Supermarkt, aber niemand achtete auf uns oder auch nur auf den regungslos auf der Straße Liegenden. »Es hilft nichts«, sagte ich leise, »ich werde aussteigen und nachsehen. Wir müssen nicht immer und überall irgendwelche Attacken vermuten. Es kann sich auch um einen echten Unglücksfall handeln.« Ich verließ den Wagen und ging mit hölzernen Schritten auf den Unbekannten zu. Er lag auf der Seite, mit dem Rücken zu mir. Ich erreichte ihn und bückte mich. In diesem Augenblick drehte er sich herum. Ich blickte genau in eine grinsende Totenfratze und zuckte zurück. Die Totenfratze verwandelte sich in das Gesicht von David Marshai. Ausdruckslos schaute er mich an. Dann stand er langsam auf. Dabei bemühte er sich, mir nicht zu nahe zu kommen. 39 �
Mit wildem Ingrimm brachte ich den Schavall zum Vorschein. Also handelte es sich doch wieder um eine Attacke der Hexe. Oder hatte David Marshai persönlich seine Hände im Spiel? Wie ich wußte, hatte Marshai ebenfalls beträchtliche magische Fähigkeiten. Wenn er wirklich noch lebte, durfte man ihn nicht unterschätzen. »Guten Tag, Mr. Täte«, sagte er belustigt. »Ja, ich bin es wirklich – David Marshai. Tut mir leid, wenn ich eine solche Szene inszenierte, aber es war notwendig, um Ihnen ein Zeichen zu geben. Ich bitte um Vergebung. Übrigens, was diesen Felix Kühn betrifft – glauben Sie ihm nicht alles. Es war nur eine Finte der Hexe. Sie wollte Sie in die Irre führen – vielleicht sogar, daß Sie wieder von hier verschwinden. Aber wie ich sehe, haben Sie es sich anders überlegt, nicht wahr? Was suchen Sie denn in der Stadt? Warum widmen Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht mehr dem Flughafen?« In meinem Innern schrillte Alarm. Ich wirbelte um die eigene Achse. Hinter mir war alles so eigenartig ruhig geblieben. Weder Don noch May waren ausgestiegen. Und David Marshai war so wortreich, als wollte er mich von irgend etwas ablenken! Ich hatte richtig vermutet. Den Opel hatten diffuse Nebel eingehüllt. Ich glaubte, die verzerrten Gesichter meiner Freunde zu sehen. David Marshai bog sich vor Lachen, doch kam aus seinem Munde das Gelächter einer Frau – einer bestimmten Frau, nämlich Joanna Silver! Ich drückte ihr den Schavall gegen die Stirn. Da stellte sich heraus, daß es sich lediglich um ein Trugbild handelte. Die Gestalt löste sich einfach auf. Ich sprintete zu dem Wagen hinüber, um zu retten, was noch zu retten war. 40 �
Doch ich war viel zu langsam. Zu lange hatte ich gezögert, hatte ich mich ablenken lassen. Ich war noch zwei Schritte von ihm entfernt, als der Wagen meinem Blick entschwand. An seiner Stelle schwebte für den Bruchteil einer Sekunde das magische Buch der vier Weisheiten – bis es ebenfalls verschwand. Ich fand mich allein auf der Autobahnauffahrt, und die Selbstvorwürfe, die ich mir machte, waren recht massiv. Doch dann richtete ich mich auf. Es hatte keinen Zweck, sich in Depressionen zu ergehen. Ich mußte alles tun, um die Freunde wieder zu retten. Jetzt erschien es mir gar nicht mehr so weise, daß wir uns nicht in das Flugzeug gesetzt hatten und davongeflogen waren. Ich stellte mich genau auf den Platz, wo ich zuletzt den Wagen gesehen hatte. Die Hexe hatte ganze Arbeit geleistet. Der Schavall zeigte keinerlei Reaktionen. Ein Auto raste auf mich zu. Der Fahrer hupte und winkte wie verrückt. Ich sprang in Sicherheit. Nachdem er den Wagen zum Stehen gebracht hatte, kurbelte er das Fenster herunter und schrie mich an: »Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Was laufen Sie denn auf der Straße herum? Hier haben Fußgänger nichts verloren!« Ich gab ihm keine Antwort und wandte mich ab. Mein Inneres war leer. Ich wußte nicht mehr weiter. Die Veränderung kam zu plötzlich, als daß sie etwas hätten unternehmen können. * Don Cooper und May Harris sahen Mark Täte zu dem Regungslosen gehen. Kaum hatte er diesen erreicht und sich über ihn � gebeugt, schien ein Vorhang über den Wagen zu fallen. Die Sicht � 41 �
trübte sich ein. Doch schien der Dunst direkt auf den Wagen beschränkt zu bleiben. Mit einem erstickten Ausruf wollte Don Cooper den Wagenschlag aufstoßen. Aber es gelang ihm nicht. Die Tür war wie festgeschweißt. »Mark!« schrie May Harris verzweifelt. Sie klappte die Rückenlehne des Beifahrersitzes nach vorn und versuchte, die Tür auf dieser Seite zu öffnen. Es gelang ihr nicht. »Mark«, rief sie noch einmal. Doch der Privatdetektiv reagierte überhaupt nicht. Als könnte er nichts mehr hören. Immer trüber wurde es draußen. Don Cooper wollte die Scheibe herunterkurbeln. Auch das war unmöglich. Er betätigte die Hupe. Sie blieb stumm! May Harris rüttelte wie besessen am Türgriff. Don legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Es hat keinen Zweck, May, gib es auf! Eher reißt du den Griff ab, als daß deine Bemühungen Erfolg haben.« May Harris schaute ihn verständnislos an. Dann ließ sie sich schwer auf die Rückbank zurückfallen. »Was haben die mit uns vor?« Don Cooper betrachtete sie. Als Mark Täte seine Freundin kennengelernt hatte, war sie eher unscheinbar gewesen. Sie hatte ein Leben in der reinsten Hölle hinter sich: Ihr Mann war das Oberhaupt eines Teufelskultes gewesen und hatte sich mehr und mehr in einen Dämon verwandelt. May war seine Gefangene und Sklavin geworden. Eines Tages hatte sie einen verzweifelten Befreiungsakt versucht und dabei ihren Mann umgebracht. Doch damit war alles nur noch schlimmer geworden. 42 �
Der Ermordete hatte als Untoter sein Grab verlassen, und seine Entwicklung zum furchtbaren Dämon wurde abgeschlossen. In ihrer Not hatte May sich an Mark Täte gewandt, der ihr gemeinsam mit Don Cooper und Chefinspektor Tab Furlong von Scotland Yard geholfen hatte. Danach war May regelrecht aufgeblüht. Sie war kaum wiederzuerkennen, verstand es, sich geschmackvoll anzuziehen, änderte ihre Frisur. Nur die Brille war geblieben – das hieß, wenn sie keine Kontaktlinsen trug, wie im Moment. »Ich weiß nicht, was sie mit uns vorhaben – falls wir überhaupt den Plural benutzen können. Unser Hauptgegner ist und bleibt ohne Zweifel die Hexe Joanna Silver, und ich zweifele nicht daran, daß ihre Macht in der Zwischenzeit sogar noch gestiegen ist. Die Tatsache, daß sie das Buch der Weisheiten zu beherrschen scheint, spricht nur dafür.« »Wie kannst du nur so ruhig sein, Don!« »Bin ich das?« Er schüttelte den Kopf. »Du solltest mich besser kennen. Wir sind alle keine Superhelden, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Das ist aber kein Grund, in Panik auszubrechen, wenn die Situation ausweglos erscheint. Jedes Leben endet mit dem Tode, und wenn es das Schicksal so will, hält es vor dem scheinbar endgültigen Ende immer noch ein Hintertürchen für einen offen. Es gilt, dieses zu finden. Bis es halt keins mehr gibt.« »Danke für die Aufmunterung.« May Harris lehnte sich vor. Mark Täte war nur noch schemenhaft zu erkennen. Jetzt wandte er sich ihnen zu. Abermals riefen Don und May nach ihm, obwohl sie wußten, daß es sinnlos war. Und dann hatte sich die Außenwelt in einen milchigen Brei verwandelt, der zu kochen schien und den Wagen mitsamt Inhalt kräftig durchschüttelte. 43 �
Don und May mußten sich festhalten. Sie befanden sich auf einer Höllenfahrt, und keiner von ihnen hatte eine Ahnung, wohin es ging. Vielleicht in die Sphäre des Buches der Weisheiten? Wurde eine der Geschichten wieder lebendig? Sie würden es bald erfahren. * Ich schlenderte die Autobahnauffahrt hinunter. Über dem Supermarkt zu meiner Rechten stand in großen Lettern: GLOBUS HANDELSHOF. Auf den beiden Parkebenen davor herrschte reges Kommen und Gehen. Auch die Autobahnzuund abfahrt war jetzt stark frequentiert. Dennoch kam ich mir verloren vor. Ich hatte den Güdinger Autobahnzubringer, der hier unter der Autobahn hindurchgeht, nicht ganz erreicht, als vor mir die Luft zu flimmern begann. In den letzten Minuten hatte ich genug erlebt, um sofort in Abwehrstellung zu gehen. Meine Rechte umklammerte den Schavall. Seine Macht war groß, und ich vertraute noch immer darauf, obwohl es die Hexe mehrmals verstanden hatte, den Einfluß des Dämonenauges geschickt zu umgehen. In Augenhöhe glühten zwei Punkte auf. Die Konturen des Schattenwesens, das vor mir entstand, blieben diffus, unbestimmbar. Ein Wagen fuhr am Supermarkt vorbei und bog vom Zubringer ab. Er kam direkt auf mich zu. »Mark Täte!« hörte ich eine verwehende Stimme. Sie schien direkt aus dem Jenseits zu kommen. »Mark Täte!« Das Schattenwesen vibrierte. Es flatterte hin und her, wie vom 44 �
Wind getrieben. Der Wagen näherte sich. Ich sah, daß der Fahrer stutzte. Er schien ebenfalls etwas zu sehen, traute aber offenbar seinen Sinnen nicht. »Mark Täte«, wisperte der Schatten. Er wollte auf mich zudriften, prallte aber vor der Ausstrahlung des Dämonenauges zurück. Der Wagen verlangsamte sein Tempo. Ich wich ein wenig zur Seite. Das konturenlose Wesen blieb über dem Asphalt schweben. »Bleibe, wo du bist, Mark Täte«, flüsterte es, und es schien für das Schattenwesen sehr anstrengend zu sein, zu sprechen. Es schrumpfte deutlich zusammen, blähte sich aber gleich wieder auf. »Bleibe hier!« Der Wagen war heran. Der Fahrer bremste nicht weiter ab, stieß gegen das Wesen. Es zerplatzte wie eine Seifenblase. Lautlos geschah das. Der Fahrer war zutiefst erschrocken. Mit geweiteten Augen schaute er mich an. Ich tat, als wäre nichts geschehen und ging weiter. Hinter mir hörte ich den Motor des Wagens aufheulen. Wie von Furien gehetzt fuhr er davon, um oben auf die Autobahn einzubiegen. Ich war sicher, daß der Mann den gespenstischen Vorgang schnell vergessen haben würde. Es war immer dasselbe. Der Mensch neigte nun mal dazu, alles aus seinem Bewußtsein zu verdrängen, was nicht in sein Weltbild paßte. Es ist eine Art Naturgesetz und wird wahrscheinlich immer so bleiben. Meine Gedanken kreisten um das Geschehene. Eine Botschaft. Von wem und mit welchem Ziel? 45 �
Warum sollte ich hier warten? Auf was? Ich kam zu keinem rechten Schluß. Aber da es sonst keinen Anhaltspunkt gab, beschloß ich, der Aufforderung zu folgen. Ich lehnte mich gegen die Leitplanke und übte mich in Geduld. * Schlagartig war die Sicht wieder klar. Der Wagen kam zur Ruhe. Und da war sie wieder – jene fremdartige, skurile Sphäre, die einst ein abtrünniger Gorite schriftlich fixiert hatte und die nun für May und Don Wirklichkeit geworden war. Sie befanden sich offenbar auf einem Felsplateau. In dunstverhangener Ferne erhoben sich protzige Bergriesen, deren Gipfel bedeckt waren mit ewigem Schnee und Eis. Die steinige Ebene endete in einer Entfernung von etwa dreihundert Yards. Don ließ seinen Blick in die Runde gehen. Hinter ihnen erstreckte sich das Plateau schätzungsweise eine Meile weit, bis es von auftürmenden Felsen eingeengt wurde zu einem schmalen Durchlaß. »Mit einem Auto in jenseitige Gefilde«, philosophierte May Harris. »Welcher Anachronismus!« »Wir dürfen das Fahrzeug niemals verlassen«, bestimmte Don Cooper. »Sobald wir den körperlichen Kontakt damit verlieren, kann es sich nicht mehr hier halten. Es wird diese Welt verlassen, um im Diesseits zu materialisieren.« »Und was passiert, wenn wir damit weiterfahren?« »Das ist nicht ratsam, denn es ist bekannt, daß man auch in der Wirklichkeit Entfernung zurückgelegt, wenn man sich hier bewegt, als würde man sich in einer Parallelebene befinden.« »Ja, sollen wir denn ewig hier stehenbleiben, bis wir verhungert und verdurstet sind?« »Das wird uns schwerlich gelingen. Erfahrungsgemäß legte der 46 �
geheimnisvolle Verfasser des Buches der Weisheiten Wert auf Handlung. Die derzeitige Ruhe kann also nur die Ruhe vor dem Sturm sein.« »Apropos Sturm!« May Harris deutete zum Himmel. Im Wagen war es inzwischen unerträglich heiß geworden. Die Sonne brannte unbarmherzig herunter. Don Cooper folgte mit den Blicken der Richtung, in die May zeigte. Tatsächlich. Über ihnen bildeten sich mit fast beängstigender Schnelligkeit Wolken. Dunstschleier wirbelten umeinander, formierten sich zu einer schwarzen Riesenfaust, die auf sie herunterdrohte. Immer mehr gewann sie an Ausdehnung. Bald würde sie die Sonne verdeckt haben. Und was kam dann? »Diesmal ging der Autor logisch vor. In einer solchen Umgebung ist es denkbar, daß sich in solcher Geschwindigkeit ein Gewitter bildet. Luftmassen stauen sich an der Kante des Plateaus und…« »Es wäre besser, Don, du würdest uns mit meteorologischen Einzelheiten verschonen und lieber nach einem Ausweg suchen. Wir stehen hier ziemlich schutzlos. Was sollen wir tun? Wenn wir keine Deckung suchen, wird uns der Sturm wie ein welkes Blatt in den Abgrund wehen.« Don Cooper wand sich unbehaglich. »Du hast recht, May«, gab er kleinlaut zu. »Sieht so aus, als müßten wir doch mit dem Wagen weiterfahren. Eine andere Möglichkeit bleibt uns nicht.« Er legte den ersten Gang ein. Noch immer tuckerte der Motor. Don Cooper löste die Handbremse. Der erste Windstoß zerrte an der Karosserie. Er bot einen kleinen Vorgeschmack auf das Kommende. Kleinere Luftwirbel erfaßten den Staub der Jahrtausende, der 47 �
sich hier oben abgelagert hatte, und ließen ihn spiralförmig emporfliegen. Stoßweise kam der Wind – wie der Atem eines Ungeheuers. Don Coopers Nackenmuskeln versteiften sich. Er fuhr an. Der Opel rollte über die steinige Ebene. »Wir sollten uns die Stelle gut merken«, riet May Harris. Don Cooper nickte nur. Er steuerte konzentriert. Sein Ziel war der schmale Durchlaß. Er hatte zwar keine Ahnung, was sie dort erwartete, aber im Moment würde er für sie die Rettung sein. Der Sturm gewann an Heftigkeit. Staubwolken verbargen die Sicht. Don mußte die Scheinwerfer einschalten, doch das Licht wurde nach wenigen Schritten schon verschluckt. Don Cooper mußte sich auf seinen Instinkt verlassen. Er wußte noch ungefähr die Richtung. Draußen tobte es. Das Inferno entstand. Es war eine Frage der Zeit, bis der Wagen mitsamt seinen Insassen vom Felsplateau geweht wurde. Dann würde es für sie keine Rettung mehr geben. Und noch immer war der Durchlaß nicht erreicht! * Ich grübelte gerade darüber nach, ob die Stimme des Schattenwesens weiblich oder männlich gewesen war. Hinterher war es nicht mehr feststellbar. Wer hatte mir die Nachricht gegeben? Freund oder Feind? Einige der Autofahrer, die an mir vorbeifuhren, gaben mir eigenartige Blicke. Sie hielten mich wohl für einen Tramper und wunderten sich, warum ich nicht winkte. Wieder bog ein Auto vom großen Autobahnzubringer ab und kam die Auffahrt herauf. Ich achtete kaum auf den Wagen. Aber dann gab der Fahrer plötzlich Vollgas. 48 �
Nein, mit dieser Geschwindigkeit konnte er es unmöglich schaffen, durch die Kurve zu kommen. Geistesgegenwärtig flankte ich über die Leitplanke. Keine Sekunde zu früh. Der Wagen war heran. Ich wich weiter zurück, war jedoch zu langsam. Das Fahrzeug krachte gegen die Leitplanke, die sich unter dem Ansturm verbog, dann allerdings den Wagen ablenkte. Ohrenbetäubender Lärm. Das Kreischen von überbeanspruchtem Metall. Ich erhaschte für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick in das Innere des Fahrzeuges. Es war leer! Dann erst achtete ich auf den Typ und das Nummernschild: Es war identisch mit dem Auto, mit dem May und Don Cooper verschwunden waren! Ein gräßliches Gelächter brandete auf, überflutete mich. Der Schavall war so heiß, als käme er gerade aus einem Hochofen. Und dann war alles vorüber. Der Wagen löste sich auf. Noch einmal das Gelächter. Erstaunt sah ich, daß die Leitplanke in Wirklichkeit völlig unbeschädigt war. Und dann flüsterte eine weibliche Stimme: »Du solltest mich nicht unterschätzen, Mark Täte!« Es war die Hexe selbst gewesen, die zu mir gesprochen hatte. Noch einmal sagte sie etwas, doch es klang so weit weg, daß ich den Sinn der Worte nicht mehr erfassen konnte. Jetzt wußte ich, daß die Aufforderung, hier auszuharren, nur von David Marshai oder von jenem mysteriösen Felix Kühn gekommen sein konnte. Sonst hätte sich die Hexe nicht solche Mühe gegeben, mich zu vertreiben. Ich knirschte mit den Zähnen. »Egal, was du auch unternimmst, Hexe«, murmelte ich vor 49 �
mich hin, »ich bleibe, wo ich bin. Noch hast du Oberwasser, aber fühle dich nicht so sicher! Und mit solchen Gaukeleien kannst du mir wenig imponieren.« Doch ich mußte auf der Hut sein, denn bestimmt war das nicht die letzte Attacke gewesen. Ich war gespannt, was sich die Hexe noch alles einfallen lassen würde. Etwas Gutes konnte es nicht sein. * Da war er auf einmal – der Durchlaß. Er war gerade breit genug, den Wagen hindurchzulassen. Don Cooper steuerte ohne Zögern hinein. Er hatte keine andere Wahl. Der Sturm war so wütend geworden, daß es unter allen Umständen galt, ihm zu entkommen. Kaum waren sie zwischen den sich auftürmenden Felsen, als es schlagartig ruhiger wurde. Don wagte einen kurzen Blick über die Schulter. Hinter ihnen war alles stockfinster, nichts zu erkennen. Mays Gesicht war bleich, ihre Augen rotgerändert. »Wir haben es überstanden«, seufzte Don Cooper. »Da wäre ich nicht so sicher«, widersprach May Harris tonlos. Sie deutete nach vorn. Nach dem Durchlaß ging es ziemlich steil abwärts – geradewegs in einen Tunnel hinein. Der felsige Boden war einigermaßen glatt. Sie würden mit dem Wagen wenig Schwierigkeiten haben. Wie war der Tunnel entstanden? Auf natürliche Weise? Ohne diese Fragen beantworten zu können, fuhr Don Cooper weiter. Er tat es vorsichtig. May Harris kletterte nach vorn und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Don ließ sich davon nicht ablenken. 50 �
»Wohin führt der Weg?« fragte sie. Don ging nicht darauf ein. Das Licht der Scheinwerfer spiegelte sich in unzähligen Kristallen, die aus den schroffen Wänden wie winzige Lichtpunkte glitzerten. »Als wären wir auf einem unbekannten Planeten«, sagte Don halblaut. »Alles ist unwirklich, trist, tot. Es ist danach angetan, einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben.« Plötzlich ebnete sich der Weg. Noch immer diese Finsternis. Vor ihnen öffnete sich eine geräumige Höhle. Blau schimmerten Wände und Decke. Tropfsteinformationen warfen bizarre Schatten, die sich im Licht der Scheinwerfer zu bewegen schienen – erwacht zu gespenstischem Leben. Don Cooper schluckte schwer. May Harris rückte unwillkürlich näher. Sie waren einiges gewohnt, und doch griff die Angst nach ihnen. Sie kamen sich schutzlos, ausgeliefert vor. Das Geräusch des Motors rollte als Donner wider. Don Cooper steuerte das Fahrzeug zwischen den Formationen hindurch. »Achtung!« schrie May. Geistesgegenwärtig trat Don auf die Bremse. Gerade rechtzeitig. Einer der Kalksteinzapfen über ihnen hatte sich gelöst. Er krachte mit ohrenbetäubendem Lärm direkt vor die Kühlerhaube und zersprang in tausend Stücke. Hätte er den Wagen getroffen, wären sie darunter begraben worden. Die entstandenen Erschütterungen setzten sich im Gestein fort, so daß die beiden Menschen befürchten mußten, die ganze Höhle breche in sich zusammen. Doch nichts dergleichen geschah. Die beiden harrten noch ein paar Minuten in atemloser Spannung aus. Sie wagten sich kaum zu rühren. Don schaltete sogar 51 �
den Motor aus. Dann erst wagten sie, den Weg fortzusetzen. Don startete den Motor wieder. Erließ den Wagen rückwärts stoßen, um den Trümmerstücken auszuweichen. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie den Ausgang der Höhle – zu einem Zeitpunkt, an dem Don schon befürchtete, sich in dem Labyrinth verfahren zu haben. Ein dunkler Gang nahm sie auf. Er war so niedrig, daß er fast das Wagendach berührte. Den beiden Menschen wurde wieder das Widersinnige ihrer Situation bewußt, daß sie sich in dieser Umgebung mit dem Wagen unterwegs befanden. Doch noch immer war der Boden glatt genug. Sie kamen ohne Schwierigkeiten voran. Der Gang erweiterte sich trompetenförmig zu einer zweiten Höhle, die so gigantisch war, daß die Strahlen der Scheinwerfer es nicht vermochten, bis ans andere Ende zu gelangen. Hoch über ihnen funkelte und glitzerte es wie Millionen Sterne, aber es war nur eine Felsendecke, die mit Kristallen übersät war. Sie spiegelten das Licht des Wagens. Langsam rollten sie dahin. Mays Hand krallte sich um Don Coopers Oberarm. »Vielleicht sollten wir uns nicht so weit vorwagen«, warnte sie. »Möglicherweise bricht das ganze Gebilde in sich zusammen. Denke an die Tropfsteinhöhle. Außerdem dürfen wir nicht den Eingang zu dieser Höhle aus den Augen verlieren. Es könnte sich als vorteilhaft erweisen.« Zu diesem Zeitpunkt wußte sie noch nicht, daß sie sich irrte – gewaltig irrte. Es würde sogar besser sein, sich möglichst weit von dem Höhleneingang zu entfernen! Glücklicherweise traf Don Cooper die richtige Entscheidung. »Nein, wir fahren weiter. Später können wir uns an den Wänden entlang tasten und so den Eingang wiederfinden.« May sagte daraufhin nichts mehr. 52 �
Don Cooper blickte auf die Kilometeranzeige. Sie hatte schon vierhundert Meter zurückgelegt, ohne daß sie ein Ende erreicht hatten. Immer tiefer drangen sie vor. Erst nach über zwei Kilometern brach sich das Licht an einer steilen Felswand. Sie fuhren an ihr entlang, fanden jedoch keinen zweiten Ausgang. Plötzlich ging ein Zittern durch den Boden, als künde sich ein Erdbeben an. In Wellen durchlief es das Gestein. »Schnell, zurück, Don!« schrie May Harris auf. Don Cooper ließ sich das nicht zweimal sagen. Er wendete in fliegender Hast. Aber sie kamen nicht weit. Plötzlich spritzte eine gewaltige Wasserfontäne auf sie zu. Geistesgegenwärtig riß Don Cooper das Steuer herum und brachte den Wagen außer Reichweite. Eine wahre Sturzflut ergoß sich aus dem Höhleneingang, den sie vorhin verlassen hatten. »Mein Gott!« entfuhr es Don Cooper. Wenn sie nicht weitergefahren wären, wären sie in den Wassermassen umgekommen. Eine wahre Sintflut ergoß sich in die weitläufige Höhle. Innerhalb von einer Minute war das Wasser knöcheltief. Es blieb vorerst auf dieser Höhe, verteilte sich zunächst einmal in der weiten Runde. Es donnerte, daß die beiden Menschen befürchten mußten, das Gehör zu verlieren. »Wo – wo kommt das ganze Wasser denn her?« schrie May durch das Tosen. »Denke an den Sturm oben!« schrie Don Cooper zurück. »Ein urweltliches Gewitter. Gewaltiger Regen geht auf das Plateau nieder. Deshalb war es auch so glatt und so eben. Es scheint nicht das erste Mal zu sein, daß so etwas passiert.« 53 �
Sie sprachen, als wäre die Welt, in der sie gefangen waren, real. »Und was ist mit der Tropfsteinhöhle? Wie konnten sich die Stalagmiten und Stalaktiten unter solchen Umständen bilden?« »Denke an die eigenartige Logik des Autors des Buches der Weisheiten. Eine solche Katastrophe kommt nur sehr selten vor auf dieser Welt und in dieser Gegend. Das Wasser hat im Lauf der Jahrmillionen den Felsenboden glatt gewaschen, und doch reichen die zeitlichen Abstände zwischen den Vorgängen, eine Tropfsteinhöhle entstehen zu lassen. Jetzt wissen wir, wie die Geschichte aussieht. Wir kennen zumindest eine Szene daraus. Menschen gelangen auf das Felsplateau, werden von dem Sturm überrascht und fliehen in eine Mausefalle.« »Aber wie sind die Menschen auf das Plateau gekommen?« »Wir sind praktisch mitten im Fluß des Geschehens materialisiert und doch nicht hundertprozentig integriert. Schließlich haben wir den Wagen und können unabhängig von dem denken, was der Autor einst den handelnden Personen vorschrieb.« »Das ändert nichts an der Tatsache, daß wir hier unser Ende finden können. Das Wasser wird sich rasch in der Höhle verteilt haben – bei den Massen, die nachströmen. Dann wird es unaufhaltsam steigen. Wir wissen nicht, wie hoch. Vielleicht wird es die gesamte Höhle ausfüllen und uns ertränken?« »Es muß einen Ausweg geben!« rief Don Cooper aus. Er war nicht der Mann, der so schnell die Flinte ins Korn warf. Alles würde er versuchen, um seine Haut zu retten – seine und die von May Harris. Er wendete vorsichtig den Wagen. Er durfte nicht zu schnell fahren, damit nicht der Motor Opfer des Wassers wurde. »Wir müssen an der Höhlenwand entlang nach einem Ausgang suchen.« »Ja, glaubst du denn wirklich, daß es einen gibt? Würde in einem solchen Fall nicht das Wasser wieder abfließen können?« 54 �
Don Cooper antwortete ihr nicht. Die Flut strömte immer noch herein. Don Coopers Bemühungen, mit dem Wagen zu entfliehen, blieben vergebens und würden sich wahrscheinlich auch als sinnlos erweisen. »Da!« brüllte May Harris und deutete nach vorn. Auch Don Cooper sah es jetzt – eine Gestalt! Ehe die beiden sie genauer sehen konnten, tauchte sie wieder unter. »Wir sind nicht allein«, rief May Harris und versuchte das Brausen zu übertönen, das sie umgab. Don Cooper verstand sie. »Ja, allein sind wir nicht. Es ist nur die Frage, ob das etwas nutzt. Was sind das für Lebewesen, was für Schauergestalten, die sich dieser wahnsinnige Autor für uns ausgedacht hat?« * Die Minuten tropften endlos dahin. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich nun schon wartete. Es wäre schon viel für mich gewonnen gewesen, hätte ich gewußt, auf was ich harren mußte! Inzwischen fühlte ich mich wie eine Marionette in einem makabren Spiel. Ich mußte zugeben, daß ich das Zepter aus der Hand gelegt hatte. Der Schavall gab sich neutral. Von der Einwirkung magischer Kräfte war keine Spur. Und wo waren May Harris und Don Cooper? Ich dachte fieberhaft über diese Frage nach. Es gab nur eine einzige Antwort, die eine Gültigkeit haben konnte: Die Hexe hatte die Freunde in die Sphäre des Buches der Weisheiten entführt. Sollte ich deshalb hierbleiben? Das blieb dahingestellt. Wichtiger war es, darüber nachzudenken, wie es Joanna geschafft hatte, das Buch für ihre Zwecke einzuspannen. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weiter schien die Lösung 55 �
dieses Geheimnisses in die Feme zu rücken. Oder hing das Ganze am Ende sogar mit dem Schavall zusammen? Ja, es war eine vage Möglichkeit. Joanna hatte es mit einem Trick versucht. Sie war dem Buch der Weisheiten auf die Spur gekommen und ahnte, daß es zwischen ihm und dem Schavall einen Zusammenhang gab. Es gelang ihr, das Buch dorthin zu transportieren, wo ich mich mit dem Schavall befand. Das weitere lief dann fast automatisch ab. Bedeutete das nicht auch, daß die Hexe dann keinen Einfluß mehr auf den folgende Ablauf hatte? Daß sie im Grunde genommen nichts darüber wußte, was May Harris und Don Cooper widerfuhr? Der Gedanke faszinierte mich. Doch sollte ich keine Gelegenheit haben, mich näher damit zu befassen. Wieder passierte ein Fahrzeug meinen Standort. Es hielt plötzlich an und stieß dann auf meine Höhe zurück. Erstaunt schaute ich mich um. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Es waren die drei Männer, denen wir schon am Ortseingang von St. Ingbert begegnete waren! Ein Revolverlauf schob sich in mein Blickfeld. »Hallo, Mr. Täte, Sie haben also tatsächlich ausgeharrt, wie?« »Was wollen Sie von mir?« Der sich uns vormals mit Felix Kühn vorgestellt hatte, stieß den Wagenschlag auf und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie!« Es klang wie ein Befehl und war wahrscheinlich auch so gemeint. Ich schielte nach dem drohenden Revolver. So wie es aussah, hatte ich keine andere Wahl, als zu gehorchen. 56 �
Ich ging auf den Wagen zu. »Was bezwecken Sie mit dem Theater? Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« »Sollte das nicht schon klar geworden sein?« fragte Felix Kühn amüsiert. Ich blickte ihm ins Gesicht. Irgendwie hatte er sich seit unserer letzten Begegnung verändert. Ich konnte allerdings nicht sagen was es war. Ich nahm neben Felix Kühn Platz. Er rückte von mir ab und hob beide Hände mit den Innenflächen zu mir. »Und bleiben Sie mir bitte vom Leib, Mr. Täte! Sie wissen, was ich Ihnen bei unserer ersten Zusammenkunft gesagt habe.« »Was haben Sie mit meinen beiden Freunden gemacht?« fragte ich. Er hob die Augenbrauen. »Wir, Mr. Täte? Nein, diese Frage haben Sie an die falsche Adresse gestellt. Es ist erschreckend, welche Macht die Hexe besitzt. Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist. Aber durch einen Trick muß es ihr gelungen sein, Sie von May Harris und Don Cooper zu trennen. Damit ist es ihr möglich, sich einzig und allein auf Sie zu konzentrieren.« Er gab seinen Begleitern einen Wink. Der Fahrer nickte. Er bog von der Auffahrt herunter und auf den Zubringer. »Wohin geht die Fahrt?« erkundigte ich mich mißtrauisch. Der Mann auf dem Beifahrersitz bedrohte mich mit der Waffe. »Sie werden es sehen, Mr. Täte«, gab Felix Kühn Auskunft. »Zunächst geht es zum Stadtteil Güdingen. Aber wir werden die Ortschaft umfahren, indem wir auf dem Zubringer bleiben. Parallel zur Saar fahren wir, bis nach Kleinblittersdorf. Dann sehen wir weiter.« Er deutete nach rechts. »Wie gefällt Ihnen der Fluß, dem dieses Bundesland den 57 �
Namen verdankt?« Ohne großes Interesse blickte ich hinaus. Grau wälzten sich die Fluten dahin. Das Gewässer war verschmutzt. Wie aus weiter Ferne drang die Stimme Kuhns an mein Ohr: »Wenn jemand darin versenkt wird, kommt er kaum wieder zum Vorschein, obwohl der Fluß nicht sehr tief ist. Man muß nur entsprechende Vorkehrungen treffen, nicht wahr?« Erschrocken sah ich auf. Was hatten die wirklich mit mir vor? Wollten sie mich umbringen? Ich betrachtete Felix Kühn genauer. Und jetzt war mir klar, was mir an ihm aufgefallen war. Beim erstenmal hatte er den Eindruck eines Besessenen gemacht. Jetzt wirkte er völlig normal. Die Kraft, die ihn vordem in der Gewalt gehabt hatte, hatte von ihm abgelassen! Aber – täuschte ich mich auch nicht? Es kam auf einen Versuch an. Wie zufällig spielte ich mit meinem Schavall. Dabei löste ich ihn unbemerkt von der Kette. Ehe der Mann auf dem Beifahrersitz reagieren konnte, streckte ich meine Rechte vor und drückte das Dämonenauge Felix Kühn gegen die Stirn. Er erschrak, riß abwehrend die Arme hoch. Der Schavall zeigte keine Reaktion! Der Mann auf dem Beifahrersitz hob die Waffe und schlug damit zu. Rechtzeitig zog ich meinen Arm zurück. Der Schlag streifte mich nur. »Das nächste Mal kriegst du eins über den Schädel!« drohte er außer sich vor Zorn. Auch Felix Kühn – falls er wirklich so hieß – war jetzt außer sich. »Was sollte das?« 58 �
»Ich wollte mich nur von etwas überzeugen.« � Kühn beherrschte sich schnell wieder. � »Mit welchem Ergebnis?« � »Ich weiß nicht, wer beim erstenmal Ihr Auftraggeber war. � Jedenfalls haben Sie in der Zwischenzeit Ihre Fahne gewechselt. Mußte ich deshalb so lange warten?« Felix Kühn lachte mir ins Gesicht. »Also gut, wenn Sie das Spiel durchschaut haben, können wir die Maske fallen lassen. Wir werden Sie umbringen, Mr. Täte!« Also doch! »Und anschließend wollen Sie mich in der Saar versenken?« »Genau das, Mr. Privatdetektiv. Wissen Sie, wir können Schnüffler nicht ausstehen – ob sie jetzt aus England kommen oder aus dem guten alten Deutschland.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind ein Umweltverschmutzer, Herr Kühn! Leichen gehören nicht in ein offenes Gewässer. Das sollten Sie wissen.« »Die Spaße werden Ihnen schon noch vergehen!« stieß der junge Mann aus. Er winkte dem Fahrer zu. »Los, wir haben es eilig!« »Joanna will offenbar Ergebnisse sehen, wie?« Kühn musterte mich. »Sie kennen sie?« »Zweifelten Sie daran?« »Eine ungewöhnliche Frau. Es lohnt sich, für sie zu arbeiten.« Er geriet tatsächlich ins Schwärmen. »Lohnt es sich auch, einen Mord zu begehen?« Er grinste dreist. »Mehrere Morde sogar, Mr. Täte! Sie sagte, daß sie unsere Hilfe benötigt. Das ist für uns eine Art Gebet, verstehen Sie? Wir werden alles tun, was sie von uns verlangt. May Harris und Don Cooper, ihre Freunde, hat sie selber ausschalten können.« 59 �
»Ich frage mich, ob Sie die ganzen Zusammenhänge begreifen.« »Die sind unwichtig, glauben Sie mir!« Ich blickte hinaus. Linker Hand befand sich das Güdinger Industriegebiet. Ein Hinweisschild auf den Ortsteil Bübingen tauchte auf. Dann näherten wir uns Kleinblittersdorf. Hier sollen ein paar Größen des deutschen Showgeschäfts wohnen. Interessant war das für mich im Moment nicht. Wichtiger erschien die Frage, wie ich der tödlichen Gefahr entrann. Der Fahrer setzte die Geschwindigkeit herab, als wir in den Ort hineinfuhren. Von hier aus war die Saar nicht mehr zu sehen. »Bald haben Sie es überstanden«, versprach Felix Kühn zynisch. Der Mann auf dem Beifahrersitz spielte nervös mit der Waffe. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg. Kühn schien es bemerkt zu haben. »Geben Sie sich keine Mühe, Mr. Täte! Sie haben es ausnahmsweise einmal mit Profis zu tun. Ihr Leben ist keinen Pfifferling mehr wert. Falls Sie einen Ausfall versuchen, wird mein Kumpel das Feuer eröffnen. Es liegt an Ihnen, ob Sie die letzten Minuten noch genießen oder gleich schon den entscheidenden Schritt über den Jordan tun wollen.« Am liebsten hätte ich ihm die Faust mitten ins Gesicht gesetzt. Es blieb mir leider nicht vergönnt. Der Mann auf dem Beifahrersitz schraubte einen Schalldämpfer auf. Erst jetzt bemerkte ich, daß er den Revolver gegen eine Pistole ausgetauscht hatte. Die schienen ein wahres Waffenarsenal mit sich zu führen. »Haben Sie von Anfang an für Joanna gearbeitet?« »Was interessiert Sie das, Täte?« »Ist Ihnen der Name David Marshai ein Begriff?« 60 �
»Na, raten Sie mal!« »Warum reden Sie nicht offen? Ich bin ein Todgeweihter. Ist es mir nicht vergönnt, vor dem Ende etwas zu erfahren?« »Nein!« war die kategorische Antwort. »Was würde es Ihnen noch nutzen?« Auch Felix Kühn zog eine Pistole mit aufgeschraubtem, Schalldämpfer. Er richtete die Mündung auf mich. »Wo haben Sie Ihren Schavall?« Ich zuckte erschrocken zusammen. »Was wollen Sie damit?« »Unsere Auftraggeberin scheint auf das Ding allergisch zu sein. Ich soll den Schavall in hohem Bogen in die Saar werfen – an anderer Stelle natürlich. Als Toter benötigen Sie ihn nicht mehr.« Nach einer Kraftfahrzeugwerkstatt bogen wir rechts ab. Der Wagen rumpelte über einen Bahnübergang. Ich hätte mir gewünscht, die Schranken wären geschlossen gewesen. Doch dieser kleine Aufschub war mir nicht vergönnt. Vor uns lag wieder die Saar. Eine schmale Fußgängerbrücke führte darüber hinweg. »Drüben liegt Frankreich«, erläuterte Felix Kühn zynisch. »Die Grenze geht mitten durch den Fluß, und das kleine Häuschen links vor der Brücke gehört dem Zoll. Wenn Sie jetzt Schwierigkeiten machen, wird der Zöllner ebenfalls sterben müssen. Zeugen brauchen wir keine.« Tatsächlich saß ein Mann in grüner Uniform hinter der Scheibe. Er war durch das spiegelnde Glas nur undeutlich erkennbar. Blickte er nicht herüber? Wilde Hoffnung kam in mir auf, doch erlosch sie sofort wieder. Woher sollte der Beamte wissen, was hier geschah? Die Straße beschrieb vor der Brücke eine Rechtskurve. Linker Hand stand ein Haus. Dahinter schloß sich ein Kinderspielplatz 61 �
an, dann Gestrüpp. Rechts war eine Böschung, die auf dem Bahndamm endete. Der Wagen rollte langsam aus. »Der ideale Platz«, bemerkte Felix Kühn lakonisch. »Finden Sie nicht auch, Mr. Täte?« Ich wollte etwas sagen, aber konnte nicht. Mir war, als ob ich einen Kloß im Halse stecken hatte. Schweiß brach mir aus allen Poren. »Was ist nun mit diesem Schavall?« Er winkte mit der Waffe. Ich öffnete meine rechte Hand. Da lag er. Ein Wagen kam entgegen, passierte, ohne daß der Insasse uns Aufmerksamkeit schenkte. Der Fahrer öffnete die Tür. Ich hörte das leise Gluckern des Wassers. Für immer würde es mein Grab sein. Felix Kühn griff nach dem Schavall. Meine Augen weiteten sich. »Vorsichtig!« rief ich aus. Felix Kühn stutzte. Tatsächlich, der Stein des Dämonenauges erwärmte sich. Er sah aus wie ein roter Rubin. Eine unsichtbare Macht entfachte das Feuer darin. In der Metalleinfassung sah er in der Tat wie ein Auge aus. Der Stein war dabei Augapfel und Pupille. Felix Kühn zauderte, ihn zu übernehmen. »Holen – holen Sie ihn mir aus der Hand!« keuchte ich. »So nehmen Sie ihn doch endlich!« Es klang hysterisch. »Er… er ist plötzlich so heiß!« Gehetzt blickte ich in die Runde. »Joanna, wo bist du? Du bist da, ich weiß es! Der Stein reagiert auf dich.« »Los, aussteigen!« schrie mich Felix Kühn an. Er hatte es plötzlich ganz eilig. An den Schavall verschwendete er keinen Gedanken mehr. 62 �
Er sicherte nach allen Seiten. Jenseits des Bahndamms war der Bahnhof von Kleinbittersdorf. Der Damm war nicht allzu hoch. Von den Häusern aus mußte die Straße teilweise einzusehen sein. Felix Kühn trieb mich aus dem Wagen. »Sie hätten sich einen anderen Ort aussuchen müssen. Glauben Sie, daß die Aktion unbemerkt bleibt?« »Wir hatten keine große Auswahl«, sagte Felix Kühn, biß sich aber sofort auf die Lippen, als hätte er etwas Falsches gesagt. Es war klar, daß ihnen die Zeit unter den Nägeln brannte. Die Hexe hatte es nicht gewagt, sie magisch zu beeinflussen. Sie kannte die Wirksamkeit des Schavans. Was aber war, wenn David Marshai oder ein anderer eingriff? Meine Gedanken wirbelten im Kreis. Wahrscheinlich war Joanna wirklich in der Nähe, sonst wäre der Schavall neutral geblieben. Sie mußte ähnliche Überlegungen wie ich angestellt haben. Wagte es David Marshai, mir zu helfen? Es hätte nichts genützt. Die Hexe hatte ihn in ihrem Bann. Aber sie wollte mich endlich beiseite haben, denn ich war das Hindernis, das sie von ihrem ehemaligen Geliebten fernhielt. »Beeilt euch!« säuselte in diesem Augenblick eine Stimme. Sie schien direkt aus dem Nichts zu kommen. »Also doch – Joanna!« sagte ich. »Ist dein Widersacher und ehemaliger Geliebter unterwegs?« »Was weißt du denn schon?« Für Sekunden materialisierte ein nebelhaftes Gebilde auf dem Fluß. »Hast du eine Spur von ihm entdeckt?« Plötzlich zuckte ein Blitz über das Wasser. Sein Ursprung war nicht zu erkennen. Der Blitz fuhr in die Erscheinung hinein. Ein leiser Aufschrei. Größer war die Wirkung auf die mächtige 63 �
Hexe nicht. »David!« wollte ich rufen, aber es wurde nur ein heiseres Krächzen daraus. Meine Vermutungen waren richtig gewesen. Die Hexe befürchtete die Einmischung ihres ehemaligen Geliebten, obwohl ihr dieser ohne Zweifel unterlegen war und sich mit seinem Verhalten in tödliche Gefahr begab. Aber er wollte anscheinend nicht zulassen, daß ich ein Opfer der Hexe wurde. Außerdem rechnete er sich aus, daß seine Chancen ohne mich nicht mehr so gut standen. Die Hexe keifte zornig. »Bringt ihn um!« zeterte sie. Felix Kühn legte auf mich an. Er kam nicht zum Schuß. Der zweite Blitz zuckte auf, traf ihn. Flammen schlugen aus seinem Körper, drohten ihn zu verzehren. Sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Die Hexe machte nur eine Handbewegung. Sie war jetzt ganz deutlich zu erkennen. Felix Kühn wankte etwas, erholte sich aber rasch. Er hatte den Angriff in Sekundenschnelle überwunden. Die Hexe lachte hämisch. »Du hast einen Fehler gemacht, David. Jetzt wirst du mir nicht mehr entrinnen. Ich banne dich an deinen Platz.« Ein Schrei wehte über das Wasser. Er klang verzweifelt. »Wehre dich nur. Werde Zeuge, wie dein Freund Mark Täte stirbt.« Die Hexe kostete es reichlich aus. Sie trieb ihr grausiges Spiel, feierte sozusagen unsere Niederlage. Das Buch der magischen Weisheiten erschien auf dem Fluß, raste heran, stoppte inmitten der Gruppe. Die drei Killer blickten erschrocken darauf. »Schießt jetzt!« keifte sie die Hexe an. Ihr schönes Gesicht verzerrte sich total, wurde zu einer Gri64 �
masse des Hasses. Ich hatte ihren Werdegang verfolgt und war entsetzt darüber, wie sehr die Schwarze Magie diese Frau verändert hatte. Was war aus der ehemaligen Joanna Silver, geborene Wyler, geworden? Noch war sie nur eine Hexe. Bald würde sie die Schwelle zum Dämonendasein überschritten haben. Dann würde es keine Rettung mehr geben für sie. Unheil würde sie über die Menschheit bringen – als Ausgeburt des Bösen. Die drei Killer waren verwirrt, und für mich war das eine winzige Chance, die es wahrzunehmen galt. Die Hexe hatte den Bogen überspannt. Die Killer waren Menschen, die mit solchen unbegreiflichen Dingen noch nie zuvor in Berührung gekommen waren. Das Spiel überforderte sie. Ich trat nach der Waffe von Felix Kühn. Sie flog im hohen Bogen davon. Sein Kumpan betätigte den Abzug. Die Kugel verfehlte mich knapp. Ich machte einen gewaltigen Satz auf das Buch der magischen Weisheiten zu und hob dabei den Schavall. Die Hexe schrie erschrocken auf. Sie ahnte, was ich vorhatte, reagierte jedoch falsch, indem sie das Buch ausweichen ließ. Es schwebte genau auf die Killer zu. Ein weiterer Schuß. Die beiden, die hoch bewaffnet waren, verhielten sich wie verängstigte Kinder. Sie ballerten sinnlos durch die Gegend, ohne mich zu treffen. Aber auch Zufallstreffer können tödlich sein! Doch dazu kam es nicht mehr. Das Buch hatte sie erreicht. Sie befanden sich in seinem Einflußbereich. Gerade bückte sich Felix Kühn nach seiner Waffe, die ich ihm aus der Hand getreten hatte. Er bewies, daß er die besten Nerven hatte. 65 �
Er riß die Pistole hoch. Im selben Moment begannen ihre Umrisse zu flimmern. Ein Höllenschlund tat sich auf und verschlang sie. Die Kräfte des magischen Buches wurden wirksam. Dagegen konnte die Hexe nichts tun. Sie war für diese Entwicklung selbst verantwortlich, hatte zu früh triumphiert. Das erfüllte sie mit heftigem Zorn. Ich löste meinen Blick von dem Höllenschlund, der sich genauso schnell wieder schloß, wie er sich geöffnet hatte, und wandte mich der Hexe zu. Sie mußte David Marshai aus ihren Klauen lassen. Es war an der Zeit, daß ich von dem ehemaligen Magier über die wahren Zusammenhänge aufgeklärt wurde. Das war aber nur möglich, wenn ich die Hexe verscheuchte. Ich hielt ihr den Schavall entgegen. Sie blickte mit geweiteten Augen darauf. Für den Buchteil einer Sekunde zögerte ich. Dann holte ich aus, um das Dämonenauge nach ihr zu werfen. Ihre Gestalt schwebte über dem Wasser. Ich konnte sie auf normalem Wege nicht erreichen. Falls das Dämonenauge sie berührte, bedeutete es ihr Ende – auch wenn ich anschließend in der wenig einladenden Brühe nach dem Schavall würde tauchen müssen. Es kam anders. Als die Hexe sah, was ich vorhatte, entmaterialisierte sie. Mit ihr verschwand das Buch der Weisheiten. Ich schaute um mich. Aber ich war allein. Da stand der Wagen. Der Motor lief immer noch. Ob man von den Häusern jenseits des Bahndamms etwas beobachtet hatte? Aber es gab keinerlei Reaktionen. Die Schüsse hatte man dank der Schalldämpfer nicht weit hören können. 66 �
Die drei Killer waren eingegangen in die magische Sphäre des Buches, und die Hexe im Nirgendwo verschwunden, um sich zu einem erneuten Angriff zu sammeln. Aber was war mit David Marschal? Ich spähte über den Fluß. Doch da war nichts. Falls David Marshai noch da war, vermied er es, mit mir zusammenzukommen. Warum eigentlich? Traute er mir nicht? Wäre es nicht besser für ihn gewesen, sich direkt mit mir in Verbindung zu setzen? Wüßte ich mehr um die Dinge, fiele es mir leichter, eine Lösung zu finden. Oder irrte ich mich in dieser Beziehung? Alles Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Ich wandte dem Ort den Rücken zu und klemmte mich hinter das Steuer. Ich wollte weg von hier. Am besten würde es sein, ich kehrte zur Autobahnauffahrt zurück. Falls es May Harris und Don Cooper wider Erwarten gelang, die unheimliche Sphäre zu verlassen, dann wäre das ein Treffpunkt. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Ich erreichte die bezeichnete Stelle ohne Zwischenfälle. Den erbeuteten Wagen fuhr ich auf den Parkplatz des Supermarktes. Dann nahm ich meinen Platz an der Leitplanke wieder ein. Ich schaute zur Saar hinüber. Die Autobahn führte darüber hinweg – in zwei Ebenen. Die oberste ging, von hohen Pfeilern getragen, zu dem Hügel schräg auf der anderen Seite. Es war die Strecke nach Metz in Frankreich. Wieder wanderte mein Blick zum Fluß. Beinahe wäre er mein Grab geworden. Obwohl erst Minuten seitdem vergangen waren, kam es mir vor wie ein längst vergangener Alptraum. *
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Die Verzweiflung und die Angst schmiedeten ein stählernes Band um die Brust von Don Cooper – ein Band, das ihn einengte. Ihm war heiß, obwohl es recht kühl in der Höhle war. Das Wasser stieg merklich höher. Sie hatten sich von dem Zustrom so weit entfernt, daß sie das stetige Donnern nur noch in der Ferne hörten. Die Gestalten, die Don Cooper für Horrorwesen aus der Hölle gehalten hatte, waren nicht wiederaufgetaucht. »Es hat keinen Sinn«, sagte May Harris eine Spur zu schrill. »Es gibt keinen Ausweg!« »Ja, ich weiß, sonst würde das Wasser ablaufen. Aber vielleicht fließt es ab – nur nicht schnell genug?« »Was soll das, Don? Warum machst du dir etwas vor?« »Ich will hier nicht untergehen, verstehst du? Das ist alles. Wer keine Hoffnung mehr hat, ist endgültig zum Tode verurteilt. Noch ist es bei mir nicht soweit. Ich suche nach Mitteln und Wegen, hier herauszukommen, solange der Wagen zu fahren in der Lage ist. Aber auch dann setze ich meinen Weg zu Fuß fort. Schwimmen werde ich, bis die Höhle bis zur Decke ausgefüllt ist. Meine Art zu überleben, ist zu kämpfen!« »Hör auf!« schrie ihn May an. Sie konnte einfach nicht mehr. Plötzlich sprang ein Schatten vor den Wagen. Don Cooper trat automatisch auf die Bremse. Seine Augen weiteten sich. Nein, das war keine Horrorgestalt, sondern ein Mensch! Er fuchtelte mit einer Schalldämpferpistole herum und rief etwas. Er war nicht zu verstehen, aber es hatte wohl zu bedeuten, daß Don Cooper stoppen sollte. Dons Schrecksekunde war nur sehr kurz. Er wollte auf das Gaspedal treten. Er hätte den Wegelagerer über den Haufen gefahren – ohne sich vorher zu fragen, woher der Mann plötzlich gekommen war. 68 �
Aber da stieß ein harter Gegenstand gegen die Scheibe auf der Fahrerseite. Don Cooper wandte den Kopf. Noch ein Bewaffneter. Ein dritter trat von rechts an das Auto heran. Sie hatten das Fahrzeug regelrecht umzingelt. Und jetzt erkannten Don Cooper und May Harris die drei Männer. Es waren Felix Kühn und seine beiden Komplizen. Wie waren sie in diese Sphäre gelangt? Felix Kühn klopfte mit dem Lauf seiner Waffe wieder gegen die Scheibe. Don Cooper konnte unter diesen Umständen kaum die Flucht wagen. In diesem Wasser durfte er nur langsam fahren. Weit wäre er nicht gekommen. Er kurbelte das Fenster herunter. »Was wollen Sie?« Felix Kühn griente. »Sind wir nicht Freunde? Auf jeden Fall sitzen wir im gleichen Boot. Wäre doch besser, wenn wir gemeinsam versuchten, das Kentern zu verhindern?« »Ein guter Vergleich, aber was sollen die Waffen?« »Haben Sie nicht eben erst Anstalten gemacht, meinen Kumpel zu überfahren?« »Zugegeben, aber ich habe etwas dagegen, mit vorgehaltener Pistole zu etwas gezwungen zu werden, verstehen Sie? Hätte er unbewaffnet den Wagen zu stoppen versucht, wäre er mir willkommen gewesen.« »Sehr nobel von Ihnen, Mr. Cooper, aber wir wollen uns doch lieber auf unsere kleinen, netten Spielzeuge hier verlassen, nicht wahr?« Felix Kühn wurde energisch. »Na los, worauf warten Sie? Steigen sie aus! Und nehmen Sie die junge Frau gleich mit!« Don Cooper zögerte, aber die Pistolenmündung, die auf ihn 69 �
zeigte, war ein gutes Argument, zu gehorchen. Langsam drückte er die Tür auf und verließ den Wagen. Sofort watete er im Wasser. Es war eiskalt, und die Kälte nagte an seinen Knochen. May Harris folgte ihm. In ihren Augen blitzte es, doch sie sagte nichts. »Und jetzt?« erkundigte sich Don Cooper. Er wechselte mit May Harris einen Blick. Sie verstand und hielt den körperlichen Kontakt mit dem Fahrzeug. »Weg da!« befahl Felix Kühn. »Versuchen Sie Ihr Glück zu Fuß!« »Eine Sekunde noch!« sagte Don Cooper eindringlich. »In dieser Welt, in der wir uns im Moment befinden, herrschen eigene Gesetze. Dinge wie das Auto haben nichts darin zu suchen. Sobald der körperliche Kontakt damit verlorengeht, wird es in die Wirklichkeit zurückkehren!« Die drei Ganoven tauschten Blicke aus. Felix Kühn kratzte sich am Kopf. »Okay, überredet. Beweisen Sie es mir!« »Gut, daß Sie vernünftig sind«, entgegnete Don Cooper eifrig. »Ohne den Wagen sind wir aufgeschmissen, glauben Sie mir.« »Das weiß ich, Mann. Halten Sie hier keine Operetten! Mir ist klar, daß Sie mehr über die Welt hier verstehen als wir. Wie steht es nun mit dem Beweis?« »Sofort, Herr Kühn. Sehen Sie, die Waffen, die Sie bei sich tragen, sind in dieser Welt ebenfalls eine Unmöglichkeit. Es verhält sich genauso wie mit dem Wagen. Sobald Sie die Pistole aus der Hand legen, wird sie verschwinden.« »Wollen Sie uns hier zum Narren halten?« brauste Felix Kühn auf. »Sie wollten einen Beweis, und es wäre schon besser, wenn Sie uns ein wenig vertrauten. Ich weiß zwar nicht, wie ich Sie einordnen soll, aber…« 70 �
»In Ordnung!« unterbrach ihn Felix Kühn. Er trat ein paar Schritte zur Seite. »Wir gehen kein Risiko ein. Fang!« rief er einem seiner Kumpane zu. Dieser steckte seine eigene Waffe weg. Felix Kühn warf. Die Pistole hatte kaum seine Hand verlassen, da entmaterialisierte sie auch schon. Die drei Ganoven sahen sich betroffen an. Felix Kühn schluckte schwer. »Mann, das ist doch nicht möglich.« Er fixierte Don Cooper. »Es würde doch reichen, wenn der Kontakt zwischen uns und dem Auto bestehen bleibt.« »Irrtum«, korrigierte Don Cooper. »Der Wagen ist gemeinsam mit May und mir hierher gelangt.« »Quatsch! Was hat das schon zu sagen.« »Ich würde es nicht auf den Versuch ankommen lassen.« Einer der beiden anderen mahnte: »Der hat recht. Wir sollten uns mit ihnen zusammenschließen. Verloren ist damit nichts. Es muß hier doch einen Ausgang geben.« Don Cooper nickte. »Ja, und ich kenne ihn sogar. Nur haben wir das Pech, daß ausgerechnet von dort die Wassermassen hereinströmen. Der Höhlengang eignet sich also leider nicht zur Flucht. Und einen zweiten Ausgang können wir uns nur herbeiwünschen.« »Alles einsteigen!« befahl Felix Kühn. Er winkte Don Cooper hinter das Steuer. »Hier ist Ihr Platz. Sie scheinen sich bestens auszukeimen.« May setzte sich wieder auf den Beifahrersitz, während die drei Verbrecher in den Fond kletterten. »Eine Warnung, Mr. Cooper – meine Kollegen haben die Waffen sehr locker stecken.« Die gesamte Unterhaltung war auf Deutsch geführt worden. May bat nun Don Cooper um Übersetzung. Er wollte damit 71 �
beginnen. »Moment mal!« rief einer der Verbrecher dazwischen, »was wird denn hier gequatscht?« »Idiot!« wurde er von Felix Kühn angeschnauzt, »Cooper übersetzt doch bloß, was gesprochen worden ist. Kannst du kein Englisch?« Der andere verneinte, und Don Cooper fuhr mit seinen Erklärungen fort. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Die Scheinwerfer tasteten die schroffen Felswände ab. Ergebnislos. »He«, rief Felix Kühn plötzlich, »halten Sie mal an!« Don Cooper gehorchte. Felix Kühn hob lauschend den Kopf. »Ich glaube, das Geräusch des einlaufenden Wassers hat sich verändert.« Don Cooper mußte ihm recht geben. Der Lärm war schwächer geworden. Er blickte hinaus. Der Wasserspiegel war in der Zwischenzeit nicht mehr gestiegen. Es mochte so sein, wie er es vermutet hatte. Es gab zwar einen natürlichen Abfluß, nur schaffte dieser nicht die Masse des einströmenden Wassers. Doch inzwischen war der Nachschub zurückgegangen. Neue Hoffnung stieg in Don Cooper auf. Er hätte fast wieder zufrieden sein können, hätte es nicht zwei wesentliche Probleme gegeben. Das eine hatte die Gestalt von drei bewaffneten Verbrechern, die hinter ihnen saßen und auf jede ihrer Bewegungen achteten. Das andere Problem war, wie sie dieser irrealen Welt entrinnen konnten. Sie hatten erst einen winzigen Teil der eigentlichen Story erlebt. Wer wußte, für wieviel Überraschungen der Autor der verrückten Geschichte noch gesorgt hatte. Ein makabres Spiel. Sie waren die Figuren, die man wie auf einem Schachbrett hin und her schob. 72 �
Don Cooper wandte sich um. »Wir fahren weiter und suchen. Am Ende bleibt uns immer noch der Höhlengang, durch den May und ich hierher gelangt sind.« »Wie steht es eigentlich mit dem Benzin?« Eisiger Schreck durchfuhr Don Cooper. An diese naheliegende Sache hatte er einfach nicht gedacht. Er schaute nach. »Verdammt«, entfuhr es ihm. »Sie haben recht. Weit kommen wir damit nicht mehr. Also ist es besser, wenn wir direkt zurückfahren.« »Hoffentlich finden Sie den Weg!« Don Cooper verzichtete auf eine Entgegnung. In einer weiten Kurve wendete er das Fahrzeug. Der Wasserspiegel hatte fallende Tendenz. Don konnte das nur begrüßen. Dennoch durfte er sich nicht erlauben, zu schnell zu fahren. Langsam rollten sie dahin. Don verließ sich auf seinen Instinkt. Die Höhle war sehr groß. Es war nicht leicht, sich zurechtzufinden. Minuten vergingen. Unterwegs kurbelten sie die Fenster herunter und lauschten gebannt. Fernes Gurgeln war zu hören. Das Rauschen und Brausen des einlaufenden Wassers war vollends verstummt. Felix Kühn deutete hinaus. »Es ist kaum noch etwas da.« Er hatte recht. Es wurde immer besser. Nur noch große Pfützen zeugten von der Katastrophe. Und dann erreichten sie den Höhleneingang. Nur noch ein dünnes Rinnsal war übriggeblieben. Es würde sie nicht aufhalten. »Moment, wohin führt der Weg eigentlich?« »Erst einmal in eine Tropfsteinhöhle«, erläuterte Don Cooper bereitwillig. »Dann steigt der Gang an und endet schließlich auf einem Plateau. Von dort kamen wir.« »Gibt es einen Ausweg von dem Plateau?« 73 �
»Das weiß ich noch nicht. Wir hatten keine Zeit, danach Ausschau zu halten. Plötzlich braute sich ein Sturm zusammen. Wir waren gezwungen, durch den Gang zu fliehen. Anschließend kam das Wasser. Offenbar hat es geregnet.« »Regenwasser?« fragte einer der Ganoven ungläubig. »Vergessen Sie nicht, daß wir uns in einer Phantasiewelt befinden. Hier gelten andere Gesetze – Gesetze, die sich ein magisch begabtes Gehirn ausgedacht hat. Es ist ein besonderer Sadismus, Menschen in eine solche Story zu verstricken.« Felix Kühn lachte grausam. »Warum? Ich finde es interessant. Ich habe in meinem Leben viel gelesen. Wie oft habe ich mir gewünscht, an der Handlung teilnehmen zu können!« »Jetzt können Sie es, sind sogar voll integriert. Die Zukunft wird zeigen, welche Rolle Sie spielen werden. Vielleicht endet Ihre sehr bald tödlich?« Felix Kühn funkelte ihn zornig an, sagte aber nichts mehr. Don Cooper hatte seine Worte zweideutig gemeint. Er fragte sich im stillen tatsächlich, welche Rolle dieser Felix Kühn spielte. War er wirklich aus der Saarbrücker Strafanstalt entflohen? Wie und warum? Was hatte er mit der Hexe zu tun? Wußte er tatsächlich so viel um die Person des Davis Marshai, den sie die ganze Zeit über für tot geglaubt hatten? Und warum benahm er sich wie ein Verbrecher? Die Fragen blieben für ihn genauso ungeklärt wie diese, ob Felix Kühn wirklich der unbekannte Anrufer gewesen war, der Mark Täte und seine Freunde nach Saarbrücken gelockt hatte. Doch, eine Frage konnte Don Cooper stellen. Er tat es auch sofort: »Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich in diese Welt gekommen?« »Wir hatten von David Marshai den Auftrag, uns Mark Tätes anzunehmen. Das taten wir auch. Gemeinsam mit ihm fuhren 74 �
wir nach Kleinblittersdorf, weil wir diese Order bekamen. David Marshai wünschte dort Mark Täte zu treffen. Aber wir tappten direkt in eine Falle der Hexe. Plötzlich befanden wir uns in der Höhle, und das Wasser lief uns in die Schuhe. Ein Glück, daß wir auf Sie gestoßen sind.« »Ja, es ist so, daß man mit jedem Schritt, den man hier zurücklegt, auch Entfernung im Diesseits überwindet«, erwiderte Don Cooper. »Was ist eigentlich aus Mark Täte und David Marshai geworden?« »Keine Ahnung. Es ging alles sehr schnell, müssen Sie wissen.« Für Don Cooper war das viel zu vage. Konnte er den Worten Kuhns vertrauen? Auf der einen Seite erschien der Mann mit seinen Komplizen wie ein Freund, wie ein Verbündeter. Doch wie paßten die Waffen in das Bild – die Waffen, mit denen sie Don und May nach ihrer Ankunft in der Höhle bedroht hatten? Überhaupt nicht! dachte Don Cooper und beschloß, auch weiterhin auf der Hut zu sein. Sie erreichten die Tropfsteinhöhle und durchquerten sie. Don mußte suchen, bis er den zweiten Ausgang fand. Bald stieg der Weg erst sanft und dann immer steiler an. Er war nunmehr naß und glitschig, und Don Cooper befürchtete, daß er es irgendwann nicht mehr machen würde. Doch es ging besser als erwartet. »Wie stehen Sie eigentlich zu David Marshai?« fragte Don Cooper unterwegs. Felix Kühn wich aus. »Er ist unser Auftraggeber – mehr nicht.« Don Cooper faßte den Entschluß, noch weitere Fragen zu stellen, um endlich ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen. Doch Felix Kühn antwortete nur: »Ich möchte nichts mehr darüber sagen, Mr. Cooper. Sie müssen das verstehen. Es steht für 75 �
David Marshai viel auf dem Spiel. Sie wissen selbst am besten, wie mächtig die Hexe ist. Wir dürfen sie nicht unterschätzen. Wer nichts weiß, kann auch nichts verraten.« Don Cooper fügte sich, weil ihm keine andere Wahl blieb. Vor ihnen tauchte ein heller Fleck auf. Hatten sie es geschafft? Plötzlich drehten die Räder durch. Der Wagen schlingerte und drohte auszubrechen. Aber es gelang Don Cooper, der ein geschickter Fahrer war, das Fahrzeug wieder zu fangen. Schließlich fuhren sie durch den schmalen Durchlaß auf das Plateau zurück. In der Ferne hingen schwarze Wolken. Es roch nach feuchter Erde und nach Regen. Aber schon stand wieder die Sonne am Himmel, die mit ihren heißen Strahlen die Spuren des Unwetters trocknete. May Harris seufzte und wandte sich dem Rücksitz zu. »Könnte ich bitte meine Handtasche haben?« bat sie die Männer in englischer Sprache. Felix Kühn war der einzige, der sie verstand. »Wozu brauchen Sie die?« fragte er mißtrauisch. May zuckte die Achseln. »Was glauben Sie, was eine Frau mit ihrer Handtasche macht?« Er zögerte. »Wo ist sie?« »Liegt auf der Hutablage.« Felix Kühn nahm sie an sich und öffnete sie. »He, was soll das?« protestierte May Harris. Felix Kühn grinste über das ganze Gesicht. »Wissen Sie, Mrs. Harris, ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch und will mich vor Überraschungen schützen.« Er durchsuchte die Handtasche und übergab sie ihr dann. »Sie haben Glück gehabt. Es ist keine Waffe darin.« »Was soll eigentlich das Getue?« fuhr Don Cooper auf. »Wir 76 �
sollten unser gegenseitiges Mißtrauen endlich begraben!« »So, meinen Sie?« Felix Kühn lächelte entwaffnend. »Sehen Sie, Mr. Cooper, ich kenne Sie nicht, weiß nur, was ich von David Marshai gehört habe. Wie schon erwähnt – ich bin ein vorsichtiger Mensch.« Don Cooper brummte etwas, was niemand verstand, und wandte sich wieder nach vorn. Er steuerte den Opel über das Plateau. Dabei hatte er ein genaues Ziel vor Augen. Auch diesmal blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf seinen ausgezeichneten Orientierungssinn zu verlassen. Don Cooper war ein reicher Mann und ein Abenteurer. Bevor er sich Mark Täte angeschlossen hatte, um gemeinsam mit ihm gegen die Mächte des Bösen zu kämpfen, hatte er die ganze Welt bereist. Es gab kaum ein Fleckchen Erde, das er noch nicht gesehen hatte. Oft genug war er in unmögliche Situationen geraten. Bisher war er immer gut davongekommen. Er hatte gewisse Qualitäten – Qualitäten, die Mark Täte sehr wohl zu schätzen wußte. In manchen Dingen war er Mark sogar überlegen, und dieser wußte das auch. Die drei Ganoven ahnten es nicht einmal. Und sie hatten auch May Harris hoffnungslos unterschätzt. May war eine blitzgescheite junge Frau. Sie hatte in ihrem Leben Dinge erfahren, die andere nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen erlebten. Sie hatte es mit wachem Verstand überstanden. Aber solches prägt einen Menschen. May Harris war nicht mit normaler Elle zu messen. »Jetzt fängt die auch noch an, sich zu schminken!« lachte einer der Verbrecher verächtlich. »Diese Weiber sind unmöglich. Sie kommen auf die blödsinnigsten Ideen zu den unpassendsten Momenten.« »Laß sie doch!« sagte Felix Kühn wegwerfend. 77 �
Er blickte Don Cooper an. »Nun, mein Freund, was gedenken Sie jetzt zu unternehmen?« »Ich schlage vor, wir stellen den Wagen weit genug von den Felsen ab. Wir wissen schließlich weder, was sich dahinter verbirgt, noch was sich unterhalb des Plateaus befindet. Wir lassen den Wagen also stehen und halten Ausschau. Einer von uns beiden – May oder ich – wird hierbleiben. Meinetwegen können Sie ja eine Wache zurücklassen.« »Das brauchen Sie mir nicht zweimal zu sagen«, spöttelte Felix Kühn. Er wurde Cooper immer unsympathischer, und Don wartete darauf, daß er Kühn das ins Gesicht sagen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, über den Haufen geknallt zu werden. Er warf einen Blick zur Seite. May Harris hantierte noch immer mit dem Lippenstift. Immer wieder begutachtete sie sich im Spiegel. Sie hatten ungefähr die Stelle erreicht, an der sie in diese Welt eingedrungen waren. Verstohlen berührte Don May Harris mit dem Knie. Sie reagierte nicht darauf, als verstünde sie gar nicht. Trotzdem mußte es Don Cooper wagen. Er ließ das Steuer los. Ehe die drei Ganoven wußten, was hier geschah, stieß Don Cooper den Wagenschlag auf und federte hinaus. Er tat dies synchron mit May Harris. Spiegel und Lippenstift hatte sie einfach fallen lassen. Gutes Mädchen! dachte Don Cooper. Er kam mit einer Rolle vorwärts am Boden auf. Eine Kugel zischte über ihn hinweg. Don Cooper fuhr herum. Der Wagen löste sich auf – von einem Augenblick zum anderen. 78 �
Für den Bruchteil einer Sekunde schienen die Gangster in der Luft zu schweben. Zwei schössen gleichzeitig. Die Kugeln wären normalerweise wirkungslos in die Polster gefahren, doch da waren keine Polster mehr. So surrten sie als Querschläger davon – um sich anschließend ebenfalls aufzulösen. Sie waren eine Gefahr für die Realität, aber Don Cooper konnte es nicht ändern. Er sprang auf und hetzte davon. Abermals tat er das synchron mit May Harris. Ihr Ziel waren die Felsen. Die drei Verbrecher landeten unsanft auf dem Boden. Ehe sie sich von ihrem Schrecken erholt hatten, war es May und Don gelungen, einigen Vorsprung zu gewinnen. Felix Kühn faßte sich als erster. Er hatte in der Höhle zwar seine Waffe verloren, besaß aber noch eine zweite. Es handelte sich um einen Revolver ohne Schalldämpfer. Ein Schuß krachte. Der Verzögerungseffekt vor der Entmaterialisierung gab den Handfeuerwaffen eine begrenzte Reichweite. Für May und Don jedoch waren die Kugeln nicht mehr gefährlich. Sie wurden von ihnen nicht mehr erreicht. Mehrmals schössen die Gangster. Erst als sie eingesehen hatten, daß ihre Bemühungen ergebnislos blieben, machten sie sich auf die Verfolgungsjagd. Bis dahin war Dons und Mays Vorsprung fast zu groß. »Schaffen wir es?« fragte May keuchend. »Wir müssen!« gab Don Cooper bitter zurück. »Wenn nicht, werden uns die drei einfangen und umbringen. Jetzt sind wir für sie ohne Wert, denn den Wagen gibt es nicht mehr. Er hat den Weg in die Freiheit gefunden.« »Halt, bleiben Sie stehen!« schrie Felix Kühn hinter ihnen. 79 �
Als sie nicht gehorchten, begann er zu fluchen. Die Felsen rückten näher und näher. Noch erschienen sie endlos weit entfernt. Sie würden eine erhebliche Strecke zurückzulegen haben. Hoffentlich waren die drei Gangster keine schnelleren Läufer! Don Cooper blickte kurz zurück. Seine Hoffnungen schienen sich zu erfüllen. Stiche plagten den hochgewachsenen Mann. May Harris wurde etwas langsamer. Die zierliche Frau hatte weniger Kraftreserven als der sportgestählte Don Cooper. Er mußte auf sie Rücksicht nehmen. »Weiter, May!« Sie krallte ihre Rechte um seinen Oberarm. Er zog sie mit sich. Als er noch einmal einen Blick über die Schulter warf, erkannte er, daß die drei Verbrecher den Anschluß nicht bekommen hatten. Es ging bei ihnen nicht um Leben oder Tod. Deshalb waren sie langsamer. Auch Don und May konnten jetzt das Tempo verringern. Und dann nach einer ihnen endlos erscheinenden Zeit erreichten sie die rettenden Felsen. Rettend? Sie blieben stehen, als wären sie gegen eine Mauer gerannt. Sie hatten sich verkalkuliert! In eine Sackgasse waren sie geraten einer Sackgasse, aus der es kein Entrinnen gab. * Der Wagen entstand praktisch aus dem Nichts. Er rollte noch ein paar Fuß steuerlos und führerlos weiter. Der Motor tuckerte im Leerlauf. Aber die Steigung war zu groß. Der Gang war zwar eingelegt, aber der Motor schaffte es in dieser niedrigen Touren80 �
zahl nicht. Ich sprintete los. Ein Wagen bog auf die Auffahrt. Ich achtete nicht darauf. Der Fahrer hupte wütend. Ich rannte auf den plötzlich erschienenen Opel zu, als gelte es, eine Wette zu gewinnen. Er blieb stehen, wollte zurückrollen. Der Motor wurde abgewürgt. Das Getriebe verhinderte den Rücklauf. Ich erreichte mein Ziel. Die Fahrertür war zu. Ich riß sie auf und warf mich hinter das Steuer, Das andere Fahrzeug war heran. Der Fahrer gestikulierte wild. Er konnte natürlich nicht ahnen, was hier passiert war. Ich zog die Handbremse, startete den Motor wieder und fuhr rechts ran, damit der andere vorbei konnte. Mein Atem ging keuchend. Mit fieberndem Blick schaute ich herum. Der Opel erschien leer. Ich suchte nach irgendeinem Merkmal, nach einem Hinweis, fand aber keinen. Ich blickte hinaus. Da prallte etwas weiter hinten auf den Asphalt. Querschläger zirpten davon. Kleine Staubfontänen pufften empor. Weitere Fahrzeuge bogen ein. Mir standen die Haare zu Berge. Wurde in der unheimlichen Sphäre geschossen und materialisierten die Kugeln im Diesseits, ehe sie ihr Ziel erreichten? Auf jeden Fall waren Unschuldige gefährdet. Die Wagen näherten sich. Ihre Insassen waren ahnungslos. Endlich wurde das Feuer eingestellt, ehe ein Unglück geschehen konnte. Die Schützen im Zwischenreich schienen eingesehen zu haben, daß es keinen Zweck hatte, wenn sie wild in der Gegend herumballerten. Ich wandte mich wieder dem Innern des Opels zu. Am Boden vor dem Beifahrersitz lag ein Lippenstift und ein Spiegel. Auch 81 �
die Handtasche von May fehlte nicht. Ich sah sie erst jetzt und bückte mich danach. Dabei streifte mein Blick das Armaturenbrett. Ich verhielt in der Bewegung. Jemand hatte etwas mit dem Lippenstift daraufgekritzelt. Es war kaum leserlich: Kühn! Bedrohen uns! Zwischenreich! Hilfe! Mehr war es nicht, was da stand, aber alles deutete daraufhin, daß May Harris es unter lebensbedrohenden Umständen hingekritzelt hatte. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Vieles hätte ich in diesen Minuten darum gegeben, hätte ich gewußt, was in der unbekannten Sphäre vorfiel. Allein, es gab weder eine Möglichkeit für mich, es zu erfahren noch helfend einzugreifen. Eines war klar: Kühn und seine Komplizen hatten sich mit Don und May getroffen. Also kam zu den Gefahren, die der längst verstorbene Verfasser des magischen Buches für sie vorgesehen hatte, dieser Umstand noch hinzu. Und ich saß hier, und meine Hände waren gebunden. Zum Auswachsen war das! Ich fuhr an und bog auf die Autobahn. Nein, es war sinnlos, hier auch weiterhin zu warten und der Dinge zu harren, die sich noch ereignen würden. Gebot Nummer eins war, endlich mit diesem David Marshai oder zumindest mit seinem Verbündeten Kontakt aufzunehmen. Ich brauchte mehr Informationen, wollte ich endlich effektiver tätig werden. Ich hatte mir meine Gedanken darüber gemacht. Warum hatte sich David Marshai nicht persönlich mit uns in Verbindung gesetzt? Im Grunde genommen war das leicht zu beantworten. Die Hexe schien uns ständig zu beobachten. Sie tat dies mit ihren besonderen Sinnen, ohne daß 82 �
wir es die ganze Zeit über gemerkt hatten. Sie mußte von dem Hilferuf nach London erfahren haben. Wie, das blieb noch dahingestellt. Jedenfalls hatte sie gehofft, durch uns an David heranzukommen. Nur deshalb war er gezwungen gewesen, stets im Hintergrund zu bleiben. Er hatte diesen Felix Kühn geschickt, doch dieser war ein Opfer der Hexe geworden. Sie hatte es verstanden, ihn aus der Beeinflussung durch David zu befreien und ihn umzufunktionieren, um zu meinem Mörder zu werden. Das waren die Fakten. Sie schlössen die Bereitschaft Davids mit ein, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich mußte die Möglichkeit schaffen, daß er Kontakt mit mir aufnahm. Er selbst hatte mich gebeten, an der Autobahnauffahrt zu warten – ohne dabei zu ahnen, daß es zu einer tödlichen Falle für mich werden würde. Das durfte ich ihm nicht verübeln. Es lag jetzt an mir, den nächsten Schritt zu tun. Ich fuhr über die Stadtautobahn in das Zentrum. An der Wilhelm-Heinrich-Brücke bog ich ab. Es herrschte starker Verkehr. Ich kam in eine Stauung. Im Schrittempo ging es über die Saar. Unten lagen Binnenschiffe verankert. Mein Blick wanderte über die sogenannte Berliner Promenade. Dabei machte ich die Feststellung, daß Saarbrücken eine schöne Stadt war. Jammerschade, daß der Anlaß meines Hierseins weniger schön war. Ich beschloß in diesen Minuten zurückzukehren, falls ich diesen Fall jemals lebend überstand. Ich überquerte mit dem Wagen eine Kreuzung und folgte den Hinweisschildern, um ins Parkhaus des Kaufhofes zu gelangen. Erst im dritten Stockwerk fand ich einen Platz. Durch das riesige Kaufhaus erreichte ich die Bahnhofstraße. Unter den Arkaden der Geschäftshäuser herrschte reger Betrieb. Ich schlenderte langsam dahin. Dabei hoffte ich, daß ich richtig kalkuliert hatte. 83 �
Es gab nur einen einzigen Punkt, an dem David Marshai mit mir relativ gefahrlos in Verbindung treten konnte, und das war hier, inmitten der vielen Menschen. Die Hexe würde es schwer haben, einzugreifen. Und dann plötzlich stand er vor mir. Er war Mitte vierzig, gut aussehend. Er kaufte gerade eine Brezel an einem der vielen Brezelstände, die zu jeder Jahreszeit offen waren. Er war mir völlig unbekannt. Nichts verriet ihn. Als ich mich an ihm vorbeischieben wollte, rempelte er mich an. Ich erwartete eine Entschuldigung und betrachtete ihn erstaunt. Sofort begriff ich und holte als erste Reaktion meinen Schavall hervor. Seine Augen weiteten sich, als er ihn erblickte. Für eine Sekunde schob sich ein zweites Gesicht vor seinen Kopf. Es war durchsichtig, aber klar zu erkennen: David Marshai! Ich packte ihn am Arm. Er zuckte unter meiner Berührung zusammen und befreite sich daraus. »Bitte nicht, Mr. Täte!« bat er erstickt. »Das Höllending setzt mir arg zu.« Ich war verblüfft über diese perfekte Maske. Wie schaffte David Marshai das? War er es denn? Er schien zu bemerken, was mich bewegte, machte aber keine Anstalten, mich aufzuklären. Vielmehr ging er ein paar Schritte weiter. Ich folgte ihm. Wir standen jetzt vor einem Schuhgeschäft. Leute kamen und gingen. Niemand schenkte uns Beachtung. Das war der Puls einer Großstadt. Ich mußte unwillkürlich an den Ausspruch denken, daß man nirgendwo einsamer ist als inmitten einer großen Menschenansammlung. »Sie sind David Marshai?« fragte ich ungläubig. Er wich der 84 �
Frage aus. »Denken Sie, was Sie wollen, Mr. Täte. Ich bin jedenfalls der Mann, der Sie anrief.« »Felix Kühn?« Er musterte mich, nickte dann widerstrebend. »Ja, genau der – und zwar diesmal der echte.« »Was hatte es mit dem anderen auf sich?« »Ich schlage vor, wir gehen irgendwohin, wo wir uns ungestörter unterhalten können. Jetzt, da wir so nahe zusammen sind, wird die Hexe vielleicht nicht angreifen.« Wir führten die Unterhaltung in Deutsch. Es erschien uns unauffälliger. Langsam schlenderten wir weiter. Felix Kühn – wirklich der richtige? – zeigte sich reichlich nervös. Immer wieder sicherte er nach allen Seiten. Auch ich tat das, konnte jedoch nichts Verdächtiges erkennen. Ein uralt erscheinender Mann in total zerlumpter Kleidung schlurfte uns entgegen. Ich betrachtete ihn kurz. Ein Stadtstreicher, wie es schien. Nein, von ihm ging keine Gefahr aus. Sein Blick war trübe. Er kratzte sich ungeniert. Dann waren wir vorbei. Plötzlich schrien meine Sinne Alarm. Weiter vorn, vor dem großen Bekleidungsgeschäft Möller & Schaar, stand eine Frau. Sie tat so, als betrachtete sie aufmerksam die Auslagen. Auch mein Begleiter stutzte. Nicht ohne Grund. Die Frau drehte den Kopf. Das Feuer in ihren Augen schien der Teufel persönlich zu schüren. Sie sah ansonsten recht apart aus. »Die Hexe!« zischte Felix Kühn warnend. »Sie hat das Reagenzglas schon in der Hand – aber noch ist es leer!« 85 �
Ich wurde aus diesen seltsamen Worten nicht klug. Wir näherten uns ihr. Rechts brandete der Verkehr. Ungezählte Passanten hasteten vorüber. Direkt nach dem Bekleidungsgeschäft, vor dem uns die Hexe erwartete, bog eine Straße ab. Als hätte Kühn meine Gedanken erraten, sagte er: »Wir müssen an ihr vorbei. Nach dem Geschäft an der Ecke kommt ein Cafe. Das ist unser Ziel.« Ich schaute ihn von der Seite an. Er konnte Joanna nicht aus den Augen lassen. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Näher und näher rückten wir der Hexe. Sie blickte uns unverwandt entgegen. Ich dachte an die Szene in der unterirdischen Versammlungshöhle des Teufelskultes. Ich war ihr so nahe gewesen wie jetzt und hatte ihr den Schavall zugeschickt. Dabei war ich allerdings abgelenkt worden. Ich hatte nicht sehen können, ob das Dämonenauge sein Ziel erreicht hatte. Einen Fehler hatte ich gemacht, als ich davon ausgegangen war, die Hexe hätte ihr Ende gefunden. Schon bald hatte sie mir bewiesen, daß dem nicht so war. Und jetzt standen wir uns abermals gegenüber. Sie wandte sich ganz vom Schaufenster ab. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre ein wenig verächtlich heruntergezogenen Mundwinkel. »Guten Tag!« sagte sie. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Nur vier Schritte war sie entfernt. Die Hexe machte keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Was hatte das zu bedeuten? Eine neue Teufelei? Jetzt schwitzte auch ich. Bisher hatte ich auf die Wirkungsweise des Schavalls vertraut. Die Hexe benahm sich gerade so, als gäbe es ihn gar nicht. Für mich hatte sie keinen Blick, nur für Felix Kühn. 86 �
»Aha, Sie sind also Herr Kühn. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie streckte doch tatsächlich ihre Rechte aus! Mein Verstand setzte auf einmal aus. Ich riß den Schavall von der Kette. Noch immer keine Reaktion von Seiten der Hexe. Der Schavall jedoch glühte wie verrückt. Seine Hitze hätte mich verbrannt, wäre ich nicht zum großen Teil dagegen immun gewesen. Sie machte einen Schritt auf uns zu. Nur noch drei Meter trennten uns. Ich konnte sie nicht verfehlen, wenn ich das Dämonenauge nach ihr warf. »Sie kennen David, meinen Geliebten?« fragte die Hexe im Plauderton. Ich holte aus mit dem Schavall. Felix Kühn sah es aus den Augenwinkeln. »Nicht!« rief er aus. Ein paar Passanten blickten erstaunt auf. Doch dann gingen sie weiter. Es geschah nichts Interessantes, wie sie glaubten. Welch ein Irrtum! Unwillkürlich gehorchte ich. Da war etwas in der Stimme Kuhns, das mich gehorchen ließ. Der Blick der Hexe ruhte nunmehr auf mir. Sie lächelte ihr spöttisches Lächeln. »Sie sind ein Dummkopf, Mark Täte, wissen Sie das nicht? Sie hätten sich besser auch weiterhin mit Bagatellfällen beschäftigt. Zu mehr taugen Sie als Privatdetektiv kaum. Hat Ihnen das noch niemand gesagt? Oder glauben Sie, seit der Schavall in Ihrem Besitz ist, wären Sie ein Superheld? Ohne ihn sind Sie ein Nichts und mit ihm ein Scharlatan!« Die letzten Worte hatte sie haßerfüllt ausgesprochen. Es sah so aus, als würde sie sich im nächsten Augenblick auf mich werfen. Felix Kühn stand stocksteif neben mir. Ihm muß etwas aufgefallen sein, was mir verborgen geblieben war. Doch er verhielt 87 �
sich abwartend. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich lachte heiser und überbrückte den Rest von Entfernung, der uns trennte – mich und meine derzeit schlimmste Widersacherin. Ich faßte die Hexe unter den Achseln. Kaum hatte ich sie berührt, als ihr Bild einfach verpuffte. Ich blickte ohne Überraschung auf die Schaufensterpuppe in meinem Arm. Sie drohte umzukippen, doch ich hielt sie fest. Der Schavall erlosch. Ein Zeichen, daß sich die Hexe ganz zurückgezogen hatte. Felix Kühn trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Das war knapp gewesen«, sagte er tonlos. Ich nickte grimmig. »Ich habe Ihnen zu danken.« »Heben Sie sich das besser für einen anderen Zeitpunkt auf. Das hier war nur Theater. Ein relativ harmloses Spiel. Der Ernst steht uns noch bevor – und das Finale wird ernst, worauf Sie sich verlassen können!« Sinnierend blickte ich auf die Puppe. »Beinahe hätte ich den Schavall nach ihr geworfen. Das hat die Hexe provoziert. Deshalb das Schauspiel. Ohne das Dämonenauge wären wir ihr schutzlos ausgeliefert gewesen.« »Joanna ist intelligent«, murmelte Kühn flach. »Sie hat ständig neue Überraschungen auf Lager. Und sie ist skrupellos. Ihr Haß auf David Marshai macht sie gefährlicher als jede andere Hexe.« »Sie sind also sicher, daß es dieses Finale gibt?« ' »Ja, das bin ich. Es besteht nur eine einzige Alternative – entweder David Marshai oder sie.« »Wo ist David Marshai?« Er antwortete nicht, sondern ging langsam weiter. Ich schaute ihm nach. Dann lehnte ich die Puppe gegen das Schaufenster 88 �
und folgte ihm. Wir überquerten die Straße. »Es wird Zeit, daß wir mit offenen Karten spielen«, sagte ich zerknirscht. »Sie wissen offenbar alles über mich, aber was weiß ich von Felix Kühn? Schon einmal war ein Mann mit diesem Namen für mich ein Reinfall.« Er tat so, als wäre er plötzlich taub geworden. Ich unterdrückte die aufkommende Wut. Vor dem Cafe sah er mich kurz an. Wir traten ein und suchten uns einen freien Platz. »Sie wissen wirklich nicht, wo David Marshai sich befindet?« fragte er über eine Tasse Kaffee hinweg. Ich grinste ihn an. »Ich ahne es, möchte es aber aus Ihrem Munde erfahren.« »Also gut, Mr. Täte, Felix Kühn und David Marshai sind identisch!« Er trank. Ich tat es ihm gleich. Im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, Säure geschluckt zu haben. Ich japste nach Luft, stierte fassungslos in die Tasse. Etwas schien sich darin zu bewegen. Tausend Sterne tauchten vor meinen Augen auf. Sie tanzten, begannen zu rotieren, bis sie sich in feurige Räder verwandelt hatten. Es schien, als verbrenne mein Inneres, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich brachte nicht einmal einen Ton über meine Lippen. * Don Cooper wirbelte um die eigene Achse. Er blickte den drei Gangstern entgegen. 89 �
Sie kamen bis auf zweihundert Yards heran, blieben ebenfalls stehen. Breitbeinig taten sie das. Die Waffen hielten sie lässig in den Händen. »Kommt nur!« rief Don erbittert. »Geht weiter. Der Tod wartet auch auf euch.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Seht euch an, was mit euch passieren wird!« May Harris stieß einen erstickten Schrei aus. Ihre Augen hatten sich geweitet. Die Felsen erschienen auf den ersten Blick ganz normal. Wenn man die Skelette an ihrem Fuß sah, wurde man stutzig. Nicht einmal das Unwetter hatte sie entfernen können. Eine dünne Glasur bedeckte sie – ebenso wie die Felsen selbst. Was war das für ein Zeug? Die Felsen waren schroff, wild gezackt. Der ewige Wind, der hier oben wehte, hatte sie nicht glattschleifen können. Auch das hatte die Glasur verhindert. Don Cooper nahm einen Stein auf und warf ihn. Das Zeug war nicht etwa hart, wie man vermuten konnte, sondern von weicher Konsistenz. Der Stein hatte es noch nicht ganz erreicht, als sich blitzschnell ein Pseudoglied bildete und danach schnappte. Er wurde einfach verschlungen. Nicht lange, dann spie ihn das amorphe Wesen wieder aus. »Ein wahres Geschöpf der Hölle«, flüsterte May Harris brüchig. »Entsprungen einer krankhaften Phantasie, erschaffen nur, um die Geschichte des Satans spannend zu gestalten. Warum, um alles in der Welt, heißt das Buch der Weisheiten so?« Don Cooper gab die Antwort: »Sein Schöpfer wollte es nicht anders. Er hatte alle seine Energien hineininvestiert, alle seine Fähigkeiten und Weisheiten. Es sind pechschwarze Weisheiten von furchtbarer Natur. Der Autor schuf ein gewaltiges Machtpotential. Nichts in der Welt der Menschen vermag dem etwas ent90 �
gegenzusetzen. Immer wieder in der langen Zeit seit seinem Entstehen schlug es Unschuldige in seinen Bann, ließ sie gegen ihren Willen agieren, laugte sie aus, trank ihre Lebensenergien, bis sie einen Teil dieses Machwerks waren. Längst hat sich das Buch befreit von seinem Schöpfer. Es gibt nur eine einzige Waffe dagegen – eine, die eigens zu diesem Zweck geschaffen wurde – den Schavall. Soviel ist bekannt. Es ist furchtbar genug.« »Vorsicht!« rief May Harris aus. Aber Don Cooper hatte es selber schon bemerkt. Die Gallertmasse, die wie feste Glasur erschien, bewegte sich langsam. Ihre Ränder krochen auf sie zu – dabei immer schneller werdend. Die beiden wichen zurück. »Ob es an die Felsen hier gebunden ist?« »Ich weiß es nicht«, gab Don Cooper zu. »Warum nur ließ es uns durch den schmalen Durchlaß, nachdem das Unwetter begonnen hatte.« »Vielleicht war gerade das Unwetter daran schuld? Das Wesen war verängstigt. Wer weiß, seit wann es existiert – wer weiß, wie es die Story vorsieht. Auf jeden Fall konnte es sich an die letzte Katastrophe nicht erinnern und ließ uns ungeschoren – auch als wir den Höhlengang wieder verließen. Inzwischen ist das anders geworden. Wir sind Gefangene!« Sie mußten rennen, um von dem furchtbaren Wesen nicht eingeholt zu werden. Die drei Gangster verhielten immer noch an ihrem Platz. Jetzt erst erkannten sie, was geschehen war. Einer hatte schon seine Waffe gehoben, um auf die beiden zu schießen, doch jetzt ließ er sie wieder erschrocken sinken. Gegen das Horrorgeschöpf war eine Pistole nutzlos. 91 �
Die drei Gangster warteten, bis May und Don angelangt waren. »Haut ab!« rief ihnen Don zu. »Es hat uns wie eine Bestie gewittert und will uns verschlingen!« In die drei kam Bewegung. Sie schienen den Zwist mit May und Don vergessen zu haben, schlössen sich ihnen wortlos an. Das Ungeheuer hatte offenbar doch Schwierigkeiten, sich ganz von den Felsen zu lösen. Es wurde immer langsamer, bis es schließlich stoppte. Die fünf Menschen blieben wieder stehen. »Weiter kann es nicht«, sagte der falsche Felix Kühn keuchend. »Hier sind wir in Sicherheit.« »Eine äußert trügerische Sicherheit«, versetzte Don Cooper. »Wir sind seine Gefangenen. Es gibt keine Fluchtmöglichkfeit von diesem Plateau.« »Sie sind schuld«, zischte der vermeintliche Felix Kühn. »Hätten wir den Wagen noch…« »Machen Sie sich nichts vor. Auch mit ihm wären wir verloren. Der Durchlaß bleibt uns als Fluchtweg verschlossen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dann nur über den Rand des Plateaus.« Er marschierte los, ohne eine Antwort abzuwarten. Die anderen zögerten. Dann liefen sie hinter ihm her. May Harris holte auf und sagte: »Was Mark nur macht?« Don Cooper sah sie nicht an. »Hoffentlich alles, um uns endlich zu befreien!« »Wie sollte er das können? Aus eigenem Antrieb gelangt er niemals hierher, um das Übel bei der Wurzel zu packen.« »Ich schlage vor, wir zerbrechen uns nicht unnütz den Kopf«, entgegnete Don Cooper hart. Sie schritten weiter. Irgendwann erreichten sie ihr Ziel. Jetzt erst bekamen sie einen Begriff davon, wie hoch das Pla92 �
teau wirklich war. Steil fiel der Felsen vor ihnen ab. Er verlor sich in unergründlichen Tiefen. Dort unten wallten farbige Dunstschleier, die alles verbargen. Wie tief es hinunterging, war nur zu ahnen. Das gesamte Land war von den seltsamen Nebeln bedeckt – so weit das Auge reichte. Und das war bis zu den fernen Bergrücken, die wie erstarrte Riesen wirkten – bereit, einst wieder zu erwachen und über die Menschen herzufallen. Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Sie vernahmen ein Scharren und Schaben. Es stammte zweifellos von dem amorphen Wesen. * Plötzlich klärte sich mein Blick wieder. Verwirrt schaute ich auf. Vor mir stand nicht mehr der Mitvierziger, sondern ein junger Mann um die Dreißig: David Marshai. Sein Gesicht war verzerrt, als habe er große Schmerzen. Der Schavall glühte auf meiner Brust. Das Brennen in meinen Eingeweiden war verschwunden. Was war geschehen? Gerade zog David Marschal die Hand zurück. Er mußte sich an dem Stehtisch festhalten, um nicht umzukippen. »Was – was ist los?« stotterte ich. Es dauerte eine Zeitlang, bis sich David erholt hatte. Er blickte mich mit flackernden Augen an. »Wie ich schon sagte – die Hexe ist nicht zu unterschätzen.« »Gift?« Unwillkürlich warf ich einen Blick in die Runde. »Wie ist es ihr gelungen?« War einer der Menschen, die sich hier befanden, eine Verbündete der Hexe? »Ja, Gift! Mir kann sie mit solchen Dingen nicht schaden, aber 93 �
es hätte Ihren Tod bedeuten können.« Ich erschrak nachträglich, weil ich wußte, daß er recht hatte. Es war immer das gleiche Problem. Der Schavall schützte mich nur gegen die Einflüsse der Schwarzen Magie – wenn überhaupt. Oft genug hatte er mich auch schon im Stich gelassen. Er war und blieb unberechenbar. David fuhr fort: »Ich war gezwungen, meine Maske aufzugeben. Gottlob habe ich inzwischen längst die Sträflingskleidung abgelegt. Ich hätte sonst erheblichen Aufruhr verursacht, wie ich glaube. Wissen Sie, im Moment schützt mich der Schavall zwar ebenfalls, aber er setzt mir gleichzeitig arg zu.« Ich nickte. »Er reagiert auf Schwarze Magie sehr empfindlich. Ich war vor einiger Zeit gezwungen, entsprechende Formeln anzuwenden. Dabei wandte sich das Dämonenauge sofort gegen mich. Ich bin mit knapper Not davongekommen.« »Ja, deshalb gab ich die Maske auf, weil sie durch Schwarze Magie hervorgerufen wurde. Joanna weiß ohnedies, daß es nichts als eine Maske war. Sie hat mich längst erkannt. Ich half Ihnen, gegen das Gift anzukommen. Das gelang mir nur, weil ich inzwischen auch einiges aus dem Bereich der Weißen Magie gelernt habe.« Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Somit bin ich gewissermaßen ein Mischmagier – falls man diesen Ausdruck benutzen kann. Das Dämonenauge behinderte mich bei meiner Hilfsaktion zwar kaum, aber es hat mich als Feind erkannt und eine Menge Kräfte von mir aufgebraucht.« »Sie haben mir noch nicht erzählt, wie und warum Sie als Felix Kühn ins Zuchthaus kamen – und warum Sie ausbrachen«, erinnerte ich ihn. Sein Gesicht verfinsterte sich. Ich schielte nach der Kaffeetasse. Ich hatte nur einen Schluck 94 �
zu mir genommen. Die Wirkung war ungeheuer gewesen. Angewidert schob ich die Tasse von mir. Niemand hatte etwas bemerkt. Das war auch gut so. Eine solche Negativreklame hätte der Kaffeeshop nicht verdient. Die Leute konnten nichts für die Attacken der Hexe Joanna Silver. »Es ist rasch erzählt«, begann David Marshai alias Felix Kühn. »Damals, als die Versammlungshöhle zusammenbrach, gelang mir die Flucht. Das hatte ich meiner Spezialfähigkeit zu verdanken.« Er hob den Blick. »Ich habe die Begabung, durch feste Wände zu gehen – wie ein Geist. Aber ich bin kein Geist, kein Dämon, sondern nur ein Magier. Sie wissen, daß das Oberhaupt des Teufelskultes, dem Joanna und ich angehörten, ein furchtbares Geschöpf gewesen war. Als Sie, Mark Täte, es vernichteten, erreichte es telepathisch Joanna und machte sie zur Erbin. Mr. Täte, Joanna ist nicht wirklich und von Grund auf schlecht. Das, was sie jetzt ist, ist sie durch die Schwarze Magie geworden. Wer sich einmal so intensiv wie sie damit beschäftigt, ist ihr verfallen und wird durch diese schrecklichen Energien des Jenseitigen negativ beeinflußt. Aber, ich sehe schon, daß ich abschweife. Es wurde uns damals allen klar, daß unser Meister es verstanden hatte, von uns Kräfte zu absorbieren und sich selbst nutzbar zu machen. Dadurch konnten sich unsere Fähigkeiten nie entfalten. Als er vergangen war, erweiterte sich unser Horizont schlagartig. Joanna wurde zum Nachfolger des Bösen. Auf dem Höhepunkt des Kampfes zwischen Ihnen und dem Teufelskult fanden Sie in mir einen Verbündeten, obwohl Ihnen das möglicherweise gar nicht recht bewußt geworden ist. Erinnern Sie sich genau. Joanna hatte den schrecklichen Urdämon Kelt aus seinem Gefängnis aus reiner magischer Energie befreit…« 95 �
Ich rief mir den Ablauf des Geschehens ins Gedächtnis zurück: Wieder einmal waren die Führer des Kultes in der Höhle versammelt. Sie erwarteten Ergebnisse – mich betreffend. Um so erstaunter war man, als ich mich plötzlich mitten unter ihnen befand. Augenblicklich stürzten sich die Dämonendiener auf mich. David und Joanna bildeten die einzige Ausnahme. Ich hielt den Angreifern den Schavall entgegen. Das ließ sie nicht zögern. Todesmutig stürmten sie. Blendende Blitze brachen aus dem Dämonenauge. Plötzlich waren die Diener des Satans nicht mehr da. Der Schavall hatte sie vernichtet und einfach absorbiert. Ich schritt auf Joanna und David zu, den Schavall in der vorgestreckten Hand. »Kelt!»schrie die Hexe, und der Urdämon erschien, höhnisch lachend. Einst, als die Dämonen noch über die Erde regierten – bevor die sagenhaften Goriten ihre Herrschaft gebrochen hatten – war Kelt von seinesgleichen verbannt worden. Er war in Ungnade gefallen, weil er seine berüchtigten Spaße getrieben hatte. Eine Sphäre, die nach außen hin wie eine Flasche aussah, wurde für ihn geschaffen. Vernichten konnten sie ihn nicht, doch wurde er Gefangener der Flasche – ein Flaschengeist. Das war eine furchtbare Bestrafung und Demütigung sondergleichen obendrein. Mit einem Fluch wurde Kelt belegt. Er sollte der Sklave desjenigen sein, der ihn befreite. Joanna hatte es getan. Doch es entsprach der Art Kelts, die Aufträge, die sie ihm gab, auf seine Weise auszulegen und sie somit mehr und mehr in seine Abhängigkeit zu bringen. Das war damals geschehen. Joanna hatte Kelt gerufen, und er materialisierte sich – als mächtige Gestalt in einem bunt schillernden Phantasiegewand, wurde einem altertümlichen Derwisch nicht unähnlich. 96 �
In diesem Augenblick wandte sich David Marshai ab und hetzte davon. Ich hielt ihn nicht auf. Er berührte die Wand und brauchte sich nicht einmal sonderlich zu konzentrieren. Der magische Eingang öffnete sich. Die Ereignisse überstürzten sich. Ich hatte die zurückweichende Joanna fast erreicht. Kelt wartete ab, harrte ihrem Befehl. Endlich kam dieser: »Rette mich!« Er packte die junge Frau, und beide wurden transparent. Ich war mir im klaren darüber, daß ich sie nicht mehr rechtzeitig erreichen würde. Deshalb holte ich mit dem Schavall aus, um ihn den beiden nachzuwerfen. Aber ich kam zu spät damit. Ich hatte zu lange gezögert. Ein Fehler, der sich jetzt rächte. Doch da erwies sich, daß David Marshai ein wichtiger Unsicherheitsfaktor im Spiel der Hexe und des Urdämons war. Er befand sich in der geheimen Nebenhöhle und bückte sich dort, wo die magische Flasche nach der Befreiung Kelts verschwunden war. Und er hatte richtig kalkuliert. Das magische Gebilde war nicht wirklich vergangen. Kelt hatte damals einen Irrtum begangen. Er hätte das Behältnis erst endgültig verschwinden lassen können, wenn es durch Joanna geschlossen war. Ich erinnerte mich deutlich an das, was ich darüber wußte. Kelt war zu voreilig gewesen in seiner Furcht, die Hexe könnte sich durch David Marshais Zureden, der von vornherein gegen die Befreiung gewesen war, anders besinnen. So hatte er die Flasche unsichtbar werden lassen. Der gläserne Korken, aus der Hand der Hexe geglitten, lag am Boden. David Marshai ließ das Gebilde durch seine magische Kraft sichtbar werden. Und Kelt vermochte nichts dagegen zu tun. Dann nahm David den Pfropfen und schickte sich an, die Fla97 �
sche zu verkorken. »Ahhh!« schrie Kelt dumpf und langanhaltend. Sein Gesicht verzerrte sich zur schaurigen Grimasse. Er war durch die Manipulationen Davids gezwungen, zu der Flasche zurückzukehren, und konnte sich nicht wehren. Er verflüchtigte sich, raste als eine Art Rauchwolke auf den Flaschenhals zu. Jetzt hätte ihn nur Joanna vor der Verbannung retten können. Doch sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Ich hatte nämlich den Schavall auf die Reise geschickt. Das Dämonenauge flog auf sie zu. Ein Donnern ließ die Erde erbeben. Staub rieselte von den Wänden. Die Fackeln drohten zu verlöschen. Ich erschrak und wurde mir mit einem Male bewußt, in welcher Falle ich im Grunde genommen steckte. Die Höhle war nur auf magischem Wege zugänglich, und ich war dabei, diesen Weg mir selber zu verbauen – mit den Kräften, die der Schavall hier unten mobilisierte. Einen Moment war ich abgelenkt. Als ich wieder nach vorn sah, war die Hexe nicht mehr zu sehen. Der Schavall lag neutral am Boden, und ich konnte ihn einstecken. Damals hatte ich fest angenommen, die Hexe hätte ihr Ende gefunden. Erst später hatte ich die trübe Erfahrung machen müssen, sich geirrt zu haben. Dadurch, daß ich abgelenkt gewesen war, hatte ich es gar nicht richtig mitbekommen, daß Joanna davongekommen war. Ich lief zu der Wand, durch die David Marshai verschwunden war. Sie hatte sich geschlossen, und ich hätte zuviel Zeit gebraucht zu öffnen, mußte jedoch sofort aus der Höhle heraus. Das tat ich dann auch in fliegender Hast. Nachdem ich das magische Tor in die Freiheit durchschritten hatte, erschütterte der Boden erneut. Das Haus, das der getarnte 98 �
Zugang war, stürzte krachend zusammen. Ich betrachtete die hochschießenden Staubwolken und dachte an Joanna, David und Kelt. Die bösen Mächte hatten zu diesem Zeitpunkt Joanna bereits völlig beeinflußt. Außerdem gab es ein Komplott gegen mich – das Komplott der sieben Geister. Joanna hatte damit bereits in Verbindung gestanden. Von David Marshai hatte jede Spur gefehlt. Ich mußte annehmen, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilte – daß er den herabstürzenden Gesteinsmassen zum Opfer gefallen war. Ich hatte keine Möglichkeit gehabt, mich näher mit dieser Ungewißheit zu beschäftigen, denn das Komplott hatte mich in Atem gehalten. Die Verschwörer hatten versucht, die Flasche mit dem Urdämon wieder an sich zu nehmen. Es war mir gelungen, über sie zu siegen, und auch Kelt wurde endgültig das Opfer meines Schavans. Die Hexe entrann mir allerdings auch ein zweites Mal. David Marshai rundete die Geschichte ab. »Wie gesagt, ich besitze die Fähigkeit, durch feste Materialien zu gehen. Meine magischen Kräfte waren sehr gewachsen, nachdem sie nicht mehr von einem anderen ständig absorbiert wurden. Ich ließ die Flasche mit dem darin verbannten Kelt einfach liegen und begann meinen Weg durch die Gesteinsmassen. Es bereitete mir zwar keine besonderen Mühen, aber der Weg war ziemlich weit, und ich wäre beinahe an Sauerstoffmangel erstickt, denn atmen muß ich wie jeder normale Mensch auch. Mittels meiner Extrasinne erfuhr ich, daß auch Joanna davongekommen war. Ich mußte jetzt das Schlimmste befürchten, denn ich hatte sie in den entscheidenden Sekunden nicht nur im Stich gelassen, sondern durch meine Aktion, Kelt betreffend, in tödliche Gefahr gebracht. Beinahe wäre sie dem Schavall zum 99 �
Opfer gefallen. Es war klar, daß sie sich an mir rächen würde. Deshalb verließ ich das Land und tauchte in Deutschland unter. Instinktiv zog es mich nach Saarbrücken, denn ich war einmal durch puren Zufall mit einem Saarländer bekannt geworden. Es war in London gewesen. Er hatte dorthin einen Wochenendtrip unternommen.« »Und dieser Saarländer hieß Felix Kühn«, vermutete ich. »Ja«, antwortete er. »Ich wollte Felix Kühn besuchen, denn es war anzunehmen, daß Joanna nichts um seine Person wußte. Ich hatte ihn jedenfalls nie erwähnt. Nach seinem Besuch hatte ich ein paar Briefe mit ihm gewechselt, aber die Verbindung war mit der Zeit eingeschlafen. Und jetzt mußte ich die Erfahrung machen, daß sich viel ereignet hatte. Felix Kühn war Insasse der Strafanstalt Lerchesflur. Ich besuchte ihn des Nachts, da es mir wie gesagt keine Mühe bereitet, durch feste Wände zu gehen. Er war sehr erschrocken. Ich beruhigte ihn. Felix Kühn berichtete mir, warum man ihn eingesperrt hatte – wegen Mordes. Obwohl er darauf bestand, daß es in Wirklichkeit nur ein Unfall gewesen wäre. Er sei also unschuldig. Ich las in seinen Gedanken wie in einem aufgeschlagenen Buch und stellte fest, daß er die Wahrheit sprach. Das veranlaßte mich zu einem wahnswitzigen Plan. Ich tauschte meine Identität mit Felix Kühn! Es fiel mir nicht schwer, die Einwilligung des nur allzu willigen Felix Kuhns zu erhalten. Ich sog den größten Teil seines Wissens in mich hinein, verdrängte meine wahre Identität und nahm das Äußere von Felix Kühn an, denn auch das lag in meiner Macht. Ich kann meine Erscheinung jederzeit verändern. Ich tat ein übriges, indem ich Felix Kühn zur Flucht verhalf. Ich weiß nur noch, daß sich der Mann ins Ausland absetzte – für immer. Seine Befreiung verlangte soviel Energien, daß ich total 100 �
erschöpft war. Man mußte mich sogar ärztlich behandeln. Tage später erwachte ich wie aus einem bösen Traum. Jedoch der Plan war gelungen. Ich war nunmehr Felix Kühn. Einen David Marshai gab es nicht mehr.« »Und wie kam es zur gegenwärtigen Situation?« »Ja, ich verbannte mein eigenes Ich, um nicht von der Hexe geortet zu werden. Sie traute aber dem Gerücht nicht, daß ich in der Versammlungshöhle mein Ende gefunden hatte. Schließlich wußte sie am besten, welche Fähigkeiten in mir stecken. Sie gab die Suche nach mir nicht auf. Dabei bediente sie sich einer ganzen Reihe von Tricks – wieviel sie davon auf Lager hat, haben Sie inzwischen selber feststellen können. Ihrer Phantasie sind offenbar keine Grenzen gesetzt. Und einer der Tricks führte schließlich zu ihrem Erfolg.« »Wie sah dieser aus?« fragte ich gespannt. Jetzt würde ich endlich alles erfahren, würde sich das Geheimnis lüften – obwohl dadurch natürlich noch nicht viel gewonnen war, denn noch immer war die Hexe Joanna eine ständige Bedrohung, und sie würde gewiß einen Weg finden, den Schutz des Schavalls zu umgehen. Es war nur eine Frage der Zeit. Auch wenn sie sich des einfachen Mittels bediente, Killer anzuheuern, die auf magische Dinge nicht ansprachen. »Joanna sorgte unter anderem dafür, daß das folgende Titelbild auf einem Geister-Krimi erschien: Sie selbst mit einem Reagenzglas in der Hand. Ich war darin gefangen – geschrumpft auf Daumengröße, was wahrscheinlich meine Unterlegenheit ihr gegenüber postulieren sollte. Ich arbeitete als Felix Kühn in einer Kolonne von Gefangenen, die die wöchentliche Auslieferung an Druckerzeugnissen für die Einzelhändler vorsortieren. Das war mein Verhängnis. Der Roman fiel mir in die Hände. Das Bild ließ die verdrängte Erinnerung gewaltsam zum Vorschein kommen.« »Sie befürchteten nach dem Vorgang, die Hexe habe Sie nun 101 �
geortet. In einem unachtsamen Augenblick wäre es ihr gelungen, Ihrer habhaft zu werden – bei den Fähigkeiten, die sie inzwischen zusätzlich erworben hatte. Deshalb riefen Sie mich an – als Felix Kühn.« David Marshai bestätigte. »Die drei zwielichtigen Gestalten, die ich Ihnen schickte, Mr. Täte, waren meine Verbindungsleute. Bessere fand ich leider nicht. Sie wurden von der Hexe abgeworben und brachten Sie in Kleinblittersdorf beinahe um.« »Jetzt, da alles erläutert ist, bleibt nur noch die Frage offen, wie wir uns der Hexe erwehren. Außerdem sind meine Freunde die Gefangenen des Buches der Weisheiten.« »Was ist das?« David Marshai kannte das mystische Buch noch gar nicht. Er hatte zwar gemerkt, daß die Hexe eine neue Waffe besaß, wußte jedoch nicht welche. Ich klärte ihn darüber auf. Er erschrak zutiefst. »Dann sieht es schlimmer aus, als ich gedacht habe«, sagte er. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Auf die Dauer wird der Schavall kein wirksamer Schutz gegen sie sein.« »Da haben Sie allerdings recht.« Ich schaute in die Runde. »Hoffen wir, daß uns die Hexe nicht belauscht!« Dann beugte ich mich über den Tisch und begann, meinen Plan darzulegen. Die Sache war an sich nicht dazu geeignet, jemanden vom Stuhl zu reißen, aber sie würde hoffentlich zum Erfolg führen. Es war unsere einzige Chance. An die unglücklichen Freunde, die in der Sphäre des magischen Buches gefangen waren, mochte ich gar nicht denken. Ich konnte im Moment nichts für sie tun. Mir waren die Hände gebunden, und wenn ich nicht aufpaßte, würde die Hexe mir 102 �
den Garaus machen. Wie gesagt, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den geeigneten Weg dazu fand. Und genau das war es, worauf mein eigener Plan aufbaute. * David Marshai war zwar alles andere als begeistert davon, hatte jedoch nichts Besseres entgegenzusetzen. Der Atem des Gangsters ging keuchend. Er legte auf das herannahende Monster an und schoß. Doch die Kugel konnte dem Wesen nichts anhaben. Der Gangster sprintete davon. Nach allen Richtungen liefen sie. Es ging um ihr Leben, und deshalb verloren sie den Kopf. Don Cooper standen die Haare zu Berge. May Harris krallte sich haltsuchend an ihm fest. Sie blieben, wo sie waren. Flucht wäre sinnlos gewesen. Das Ungeheuer wurde schneller. Es hatte Pseudoebene entwickelt, auf denen es sich rasch fortbewegen konnte. Es war Zufall, daß es sich zuerst an den falschen Felix Kühn wandte. Es preschte hinter ihm her. Schreiend ergriff er die Flucht. Das ganze Magazin feuerte er auf das Wesen ab. Es blieb zu hoffen, daß die entmaterialisierenden und im Diesseits wieder rematerialisierenden Kugeln keinen Schaden anrichteten. Das Wesen zeigte sich unbeeindruckt. Als das Magazin leergeschossen war, wart der falsche Kühn die Waffe weg. Sie löste sich im Fluge auf. Und dann hatte ihn der Tod erreicht und fiel über ihn her. Die anderen schrien. May Harris und Don Cooper mußten sich abwenden. Sie blickten noch einmal in den Abgrund hinunter. Da waren 103 �
die wallenden farbigen Nebel, deren Vorsprung im Verborgenen lag. Sie wirkten giftig und warnten vor einem eventuellen Abstieg, der an dieser Stelle ohnedies unmöglich erschien. Aber die Gefahr durch das amorphe Geschöpf war hautnaher. Einer der Verbrecher warf die nutzlose Waffe von sich und wagte es, über den Rand des Plateaus zu klettern. Er rutschte langsam tiefer. Dann waren nur noch seine Hände zu sehen. Aber die Füße fanden an dem glatten Felsen keinen Halt. Sein Griff löste sich. Er brüllte voller Todesangst. Die Gravitation dieser Daseinsebene siegte und riß ihn in den Abgrund hinunter. »Wir müssen es trotzdem versuchen«, keuchte Don Cooper. Er zog May Harris mit sich. Haarscharf an der Kante des Plateaus gingen sie entlang. Das vom Hauptteil abgespaltene Wesen hatte den Leichnam des falschen Felix Kühn inzwischen zu den sich auftürmenden Felsen gebracht. Dann kroch es erneut auf die flache Ebene. Der einzige der drei Verbrecher, der noch am Leben war, rannte so schnell er konnte. Er war dem Wesen am nächsten und wurde auch prompt von ihm aufs Korn genommen. Auch May Harris und Don Cooper rannten. Sie hetzten am Abgrund entlang, um eine Stelle zu finden, an der man den Abstieg wagen konnte. Es schien aussichtslos zu sein. Sie achteten nicht auf die Schreie des Gangsters, die plötzlich abbrachen, liefen weiter. »Da!« rief May Harris und streckte den Arm aus. Tatsächlich. Eine kleine Felsnase, die aus dem Grat hervorsprang. In langen Zeitabständen niedergegangene Regenmassen hatten Furchen hineingegraben. Das war die Chance, die ihnen der Verfasser des magischen Buches gelassen hatte. Sie nahmen sie sofort wahr. May kletterte zuerst. Das amorphe Wesen war schon unter104 �
wegs zu ihnen. Don hielt Mays Arm und half ihr beim Abstieg. Die patschenden Schritte näherten sich ihnen. Don zwang sich eisern zur Ruhe. Nur jetzt keine Panik! sagte er sich. May fand Halt und stieg tiefer. Jetzt war Don Cooper an der Reihe. Er warf keinen Blick zurück, wußte die tödliche Gefahr nahe. Wenn er sich nicht beeilte, würde sie ihn ereilen. Dennoch suchte er pedantisch den Fels ab, probierte er erst, bevor er sich einem kleinen Vorsprung anvertraute. Langsam, viel zu langsam, glitt er tiefer. »Don«, hörte er Mays Stimme weiter unten. Sie klang seltsam hohl. »Don, da ist eine Felsnische! Da finden wir Schutz.« Das Monster hatte den schmalen Grat erreicht. Es hatte keine Sehorgane, schien jedoch Don Cooper zu wittern. Ungeachtet der Gefahr sprang es vor. Das war sein Verhängnis. Es raste an Don Cooper vorbei, gewann immer mehr an Geschwindigkeit und verschwand lautlos in der Tiefe. Schließlich hatte er es geschafft. Er kauerte sich neben May Harris in die Felsennische. »Das war mehr als knapp«, keuchte er. May war zu keiner Antwort fähig. Die Nische gehörte zu einem vertikal verlaufenden Einschnitt. Hier konnten sie nicht ewig bleiben. Sie mußten dem Einschnitt folgen. Nachdem sie ihre Erschöpfung einigermaßen überwunden hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. Der Abgrund wirkte wie ein Magnet. Er zog und zerrte an ihnen, zeigte sich als verhängnisvolle Verlockung. Wind kam auf, pfiff ihnen um die Ohren, machte ihre Finger klamm. 105 �
Sie bissen die Zähne zusammen, schoben sich mühsam voran. Don Cooper hatte keine Ahnung, welche Strecke sie zurückgelegt hatten. Im letzten Drittel war es immer weiter abwärts gegangen. In der steilen Wand gab es plötzlich eine Öffnung – das Ende eines Höhlenganges. Dort mußten sie hinein. Die Öffnung war fast mannshoch. Stockfinster war es darin. Sie krochen hinein, blieben erst einmal ein paar Minuten keuchend liegen. Ein Kreischen ließ sie zusammenzucken. Sie wandten sich um, hielten Ausschau nach dem Grund des Getöses. Das Kreischen wiederholte sich. Es klang überlaut in ihren Ohren. Und dann sahen sie in weiter Ferne einen gigantischen Vogel. Er war es, der die Töne von sich stieß. Er flog auf mächtigen Schwingen genau auf sie zu, würde sie bald erreicht haben. »Mein Gott!« entfuhr es May Harris. »Hat denn das Grauen kein Ende?« Sie krochen auf allen vieren weiter. Das Kreischen gellte in ihren Ohren. Das Knarren lederartiger Schwingen mischte sich hinein. Wieder blickte Don Cooper über die Schulter. Die Augen des Vogels glühten. Sie fixierten die beiden menschlichen Eindringlinge. Leises Piepsen wurde hörbar. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Es wiederholte sich. War das der Grund für den Zorn des Dämonenvogels? May Harris schrie auf. Der Riesenvogel hatte sein Nest erreicht. Er verdunkelte den Eingang. Nein, sie würden keine Chancen gegen ihn haben. Ehe sie auch nur den Versuch machten, sich zur Wehr zu setzen, hatte er sie in Stücke zerhackt. Doch dann zog er sich zurück. Jetzt klang sein Kreischen weh106 �
mütig, verloren. Er drehte ein paar Runden. »Gottlob«, stöhnte May Harris. »Kein Grund zur Zuversicht!« warnte Don Cooper. »Der Vogel ist verstört. Er weiß offenbar nicht so recht, was er mit uns anfangen soll. Wir sind ihm zu fremdartig. Aber wenn er seine Scheu überwunden hat und seine Beschützerinstinkte siegen, kehrt er zurück. Dann ist es aus mit uns. Um seine Brut wird er unter allen Umständen kämpfen.« May Harris wußte, daß Don recht hatte, und schaute gehetzt umher, ohne jedoch die Finsternis mit ihren Blicken durchdringen zu können. »Hoffentlich gibt es einen Ausgang aus der Höhle!« »Das müssen wir herausfinden«, sagte Don Cooper lakonisch und ging voraus. Die Höhle erweiterte sich. Das ängstliche Piepsen wurde lauter. Dunkle Schemen bewegten sich um sie herum. Aber sie waren nicht gefährlich, hatten im Gegenteil Angst vor den beiden Eindringlingen. Don stieß sich den Kopf an einer Wand. Daran tastete er sich entlang. Als er schon glaubte, es gäbe keinen Durchlaß, erreichte er einen solchen. »Komm«, rief er in die Dunkelheit hinein. »May, es geht weiter!« Der Gang war niedrig. Sie hasteten ihn entlang. Kantige Mauervorsprünge rissen ihnen die Haut auf. Der Boden stieg an – einmal steiler, einmal weniger steil. Der Gang verlief schnurgerade. Das nächste Kreischen war so nahe, daß Don und May ihre Schritte beschleunigten. Sie blickten zurück. Glühende Augen starrten sie an. Der Gang war für die Masse des Vogels sehr eng. Aber er arbeitete sich voller Haß vorwärts, rückte näher und näher, war schneller als die Fliehenden. 107 �
Don hätte viel darum gegeben, um etwas sehen zu können. Blind liefen sie weiter. Er stieß sich ein zweites Mal den Kopf. »Paß auf!« warnte er keuchend. »Hier wird es niedriger!« Immer mehr verengte sich der Gang. Und dann waren sie am Ende angelangt. Sie saßen in der Falle. Der Fluchtweg erwies sich als Sackgasse. »Mark!« schluchzte May Harris auf. Doch er konnte ihr nicht helfen. Er wußte auch gar nicht, wie sehr sie eigentlich in der Patsche steckten. »Es ist die Rettung!« rief Don Cooper enthusiastisch aus. »Rettung?« echote May Harris. Er hatte recht. Die glühenden Augen näherten sich nicht mehr. Der Atem des Untiers erreichte sie zwar noch, doch der Vogel konnte sich nicht durch die Öffnung zwängen und mußte den Rückzug antreten. »Er – er wird auf uns warten. Hier werden wir verhungern und verdursten!« weinte May Harris. Auch Don Cooper war mit den Nerven am Ende. Aber die Hoffnung hatte er noch nicht aufgegeben. »Abwarten!« riet er. Die Geräusche, die der Vogel verursachte, entfernten sich immer mehr, bis sie fast verstummten. Das Piepsen der Brut wurde hörbar. Es blieb für eine Weile das einzige, was die beiden vernahmen. »Ich werde nachsehen, was sich tut«, entschied Don Cooper. »Nein!« »Es bleibt uns keine andere Wahl. Wir dürfen uns nicht auf Mark Täte verlassen. Wer weiß, mit welchen Gefahren er zu tun hat. Die Hexe ist gefährlich. Auf uns allein gestellt, müssen wir selber sehen, wie wir klarkommen.« Don kroch den Gang hinunter. Immer wieder hielt er an und lauschte. Wenn er sich nicht irrte, wurde das Piepsen leiser – bis 108 �
es ganz verstummte. Was hatte dies zu bedeuten? Der Weg war wesentlich kürzer gewesen, als sie anfangs gedacht hatten. Die Angst hatte ihn endlos lang erscheinen lassen. Ohne Schwierigkeiten erreichte Don Cooper das Nest. Es war ganz offensichtlich leer! Von dem Vogel keine Spur mehr. Don Cooper begriff. Das Untier hatte die einzig mögliche Konsequenz gezogen. Es hatte die fremden Eindringlinge nicht vernichten können. Deshalb hatte es seine Brut in Sicherheit gebracht. Möglich war natürlich, daß er wiederkäme. Don Cooper mußte die Zeit nutzen und nach einem Ausweg aus dem Höhlengang suchen. Sonst waren sie hier zum Tode verurteilt – genau wie es May Harris vorausgesagt hatte. Bei ihrer Flucht hatten sie nicht auf die Gangwände achten können. Don holte es jetzt nach. Er tastete sie ab. Es blieb nicht ohne Erfolg. Auf einmal stießen seine Hände ins Leere. Eine Abzweigung! »May!« schrie er aus Leibeskräften. »May, komm hierher!« Sie antwortete auf seinen Ruf, und wenig später war sie heran. »Was ist los?« »Hier geht es weiter!« Sie folgte ihm in die Ungewißheit. Der Seitengang führte abwärts. Immer wieder gab es Abzweigungen. Don Cooper und May Harris hielten sich jedoch stur geradeaus. Ohne zu wissen, wie lange sie unterwegs gewesen waren, war der Weg plötzlich zu Ende. Sie traten ins Freie. Aber war es wirklich die ersehnte Freiheit? Sie lauschten gebannt. Im Labyrinth rumorte es. Krächzen wurde laut. Der Vogel! Er war zurückgekehrt, um seine Feinde zu bekämpfen. Und er würde bald hier sein! 109 �
May und Don liefen weiter, stießen gegen ein Hindernis. Don fuhr mit den Händen darüber. »Verdammt, weißt du, wo wir gelandet sind?« »Wo?« fragte May bang. »In der Tropfsteinhöhle! Es gibt noch Überreste.« Sie hasteten weiter. Der Vogel war ihnen dicht auf den Fersen. May Harris und Don Cooper gelangten in die gigantische Höhle, in der sie schon einmal gewesen waren. Große Pfützen am Boden zeugten noch davon, was sie hier hatten erleben müssen. Das Untier zwang sie dazu, ihre verzweifelte Flucht fortzusetzen. Sie wußten, daß sie nur noch einer retten konnte: Mark Täte. Aber konnte er das wirklich? * Wir befanden uns mit dem Mietwagen unterwegs. David Marshai hatte das Steuer übernommen. Er kannte sich in Saarbrücken sehr gut aus. Über die Saaruferstraße fuhren wir in Richtung Gersweiler. Aber das war nicht unser Ziel. »Wir müssen an einen Ort, an dem nur wenig Menschen sind«, hatte David Marshai gesagt. Er kannte einen solchen Ort, wie es schien. Wir hätten auch Saarbrücken ganz verlassen können, um vielleicht in den Bliesgau oder in den Hochwald zu fahren. Doch hatten wir keine Zeit zu verlieren. Die Sache mußte zum Abschluß gebracht, eine Entscheidung herbeigeführt werden. Jede Sekunde war kostbar und entschied vielleicht über Leben und Tod von May Harris und Don Cooper, die sich in einer 110 �
Sphäre des Grauens befanden. Nur wenn ich die Hexe besiegte, war ihnen zu helfen. Das war die Voraussetzung. Bei den Saarbrücker Molkereibetrieben bogen wir links ab. Rechter Hand war das Messegelände. Geradeaus ging es zum Deutsch-Französischen Garten, der gegenüber der Saarbrücker Stadtwald begann. Dorthin wollten wir! Schräg gegenüber des Haupteingangs zum berühmten Deutsch-Französischen Garten führte ein Weg hinauf zur Eisenbahnbrücke, über die man direkt in das Waldgebiet gelangte. Das Schild mit dem Hinweis, daß die schmale asphaltierte Straße nur für die Forstwirtschaft zugelassen war, fehlte nicht. David hielt sich ausnahmsweise einmal nicht daran. »Hoffentlich ist kein Zöllner in der Nähe. Der Wald gehört nämlich zum Zollgrenzbezirk. Streifenbeamte sind ständig unterwegs.« »Warum sollten wir nicht einmal Glück haben«, sagte ich zerknirscht. Wir fuhren mit dem Wagen weiter, bis wir vor einer Schranke stoppen mußten. »Wenn wir uns auf der Straße halten, die hier an der Schranke rechts vorbeiführt, gelangen wir zur Saarbrücker Radrennbahn. Bei Veranstaltungen sind die asphaltierten Wege für den öffentlichen Verkehr freigegeben und dienen auch als Parkmöglichkeiten während der Messezeit.« Das waren Davids Erklärungen am Rande. Wir stiegen aus und schlugen uns seitlich in die Büsche. Erst auf einer kleinen Lichtung hielten wir. Die Sonne schien über uns durch die Baumwipfel. »Das Tageslicht schwächt Joanna«, sagte David Marshai, »während die Kraft des Schavalls ungebrochen bleibt. Das gleiche gilt 111 �
leider auch für das Buch der Weisheiten, wenn alles zutrifft, was du mir darüber berichtet hast.« Er zog ein kleines Säckchen aus der Tasche. Es war mit Kreide gefüllt. Damit schüttete er einen magischen Kreis, den er mit allerlei Zeichen versah. Wir setzten uns mitten hinein. David kramte noch andere Dinge aus seinen Taschen hervor. Es stellte sich heraus, daß er ein wahres Waffenarsenal mit sich herumschleppte – konventionelle Waffen! Er drückte mir einen Revolver in die Hand. »Geladen!« warnte er. Auch ein paar Handgranaten fehlten nicht. Er bemerkte meinen erstaunten Blick und lachte humorlos. »Es könnte sein, daß die Hexe wieder eine Gruppe von Gangstern anheuert. Dagegen müssen wir gewappnet sein. Es gibt für Joanna allerdings auch noch andere Möglichkeiten. Beispielsweise den Hinweis bei der Polizei, daß wir mit einem gewissen Felix Kühn gemeinsame Sache machen. Es könnte unangenehm für uns sein. Sobald wir getrennt werden, schützt mich nicht mehr der Schavall. Er tut es ohnedies für mich nur nebenbei mit, indem er um Sie einen Schutzschirm legt, der mich mit einbezieht.« Ich nickte ihm zu. »Alles bekannt. Ich habe diese Möglichkeit auch in Betracht gezogen. Deshalb mein Plan. Wir müssen der Hexe einfach zuvorkommen.« Das waren unsere letzten Worte. Wir warteten auf die Dinge, die da noch kommen würden. Und sie kamen. Es waren erst wenige Minuten vergangen, als sich der Himmel verdunkelte. Eisige Luft wehte über uns hinweg, raubte uns fast den Atem. David Marshai stand auf und vollführte ein paar theatralische 112 �
Gesten mit den Armen. Dabei murmelte er Beschwörungen. Der Kreidestrich begann zu zischen wie eine ganze Schlangengrube. Er glühte auf. Im nächsten Moment stieg ein Feuervorhang daraus hervor. Ich befühlte den Schavall. Er war nur leicht erwärmt, reagierte also kaum auf die Vorgänge. David Marshai bediente sich somit ausschließlich der Weißen Magie. Ich beobachtete neugierig. Es schien, daß ich von dem Magier noch eine ganze Menge lernen konnte. Zum erstenmal befaßte ich mich mit der Frage, wie es im Innern dieses Wesens aussah, das eigentlich längst das reine Menschsein hinter sich gelassen hatte. War es positiv oder negativ? Solidarisierte er sich ausschließlich nur deshalb mit mir, weil er sich von mir Hilfe und Unterstützung versprach? Oder tendierte er mehr zum Guten als zum Bösen? Seine umfangreichen Kenntnisse der Weißen Magie sprachen eigentlich nur für ihn, doch hatte das letztlich nichts zu bedeuten. Die Entscheidung, in welche Richtung er sich entwickelte, war gewiß schon gefallen. Ich verdrängte die Gedanken daran und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Joana lauerte in der Nähe. Das war klar. Sie hatte erste Zeichen gesandt. Die Hexe hatte beschlossen, die Herausforderung anzunehmen. Noch trat sie nicht offen in Erscheinung, weil sie mißtrauisch war. Sie ahnte, daß wir uns einen Plan zurechtgelegt hatten, doch mußte für sie alles so aussehen, als gäbe es keine Bedrohung. In der Tat war sie am Zuge, und sie besaß den überlegeneren Part. Ich durfte nur hoffen, daß der Haß, den sie gegen uns empfand, sie allzu große Vorsicht vergessen ließ, und daß mein Wis113 �
sen um das Phänomen Buch der Weisheiten umfangreicher war als ihr Wissen. Heiseres Gelächter klang zu uns herüber. »Was sollen die Kinkerlitzchen, David?« fragte eine weibliche Stimme. Sie schien von überall und nirgends zu kommen. David reagierte gar nicht darauf. Das magische Feuer bildete eine hohe Mauer um uns herum. Über uns schlug es zusammen. Dort, wo es den Wald berührte, geschah nichts. Es war nur gefährlich für Wesen der Finsternis. Da bildete sich plötzlich eine Lücke, wie von Geisterhand geschaffen. Ein Schemen erschien darin. Deutlich zeichneten sich die Umrisse der Hexe ab. »Wie du siehst, ist es eine Kleinigkeit für mich, euren Schutz zu durchdringen.« Ein Blitz zuckte aus ihren Fingerspitzen, raste auf David zu, ohne ihn erreichen zu können. Der Schavall begann zu leben. Ich öffnete das Hemd und löste die Kette. Auf die offene Handfläche legte ich ihn. Kaum war das geschehen, wuchs er, bis er die Größe eines kleinen Balls hatte. Unverwandt war das Auge auf das Schemen gerichtet. Die Hexe zog sich wieder zurück. Der Schavall begann zu pulsieren. Das war das äußere Zeichen, daß die Entscheidung tatsächlich bevorstand. Die Hexe mobilisierte unglaubliche Kräfte. Noch wurden sie von ihr gezügelt und warteten darauf, loszuschlagen. David Marshai zitterte am ganzen Körper. Ich konnte nicht behaupten, daß es mir besser ging. In den nächsten Minuten würde es sich entscheiden, ob wir mit heiler Haut davonkamen oder ob die Hexe über unseren Leichen triumphierte. Wütendes Heulen stieg über den Feuervorhang, der plötzlich 114 �
in sich zusammenfiel. Meine Augen weiteten sich. Die Hexe hatte sich anscheinend verfünffacht. Sie standen im Kreis, hatten uns umzingelt. Ich konnte zwischen ihnen keinen Unterschied feststellen. Das war neu. Der Schavall löste sich von meiner Hand, schwebte empor. Es hatte den Anschein, als wäre sogar er verwirrt – falls man das bei ihm überhaupt sagen konnte. Es war wahrscheinlich ein Fehler, wenn man ihm die Eigenschaften eines denkenden Wesens zusprach, obwohl er sich oft genug so gab. »Ihr habt einen Fehler gemacht«, sagten die fünf identischen Hexen im Chor. Sie hoben synchron zueinander die Arme. Abermals zuckten Blitze aus den Fingerspitzen. Sie wurden vom Schavall aufgesaugt und konnten uns nicht schaden. Nein, so würde sie uns nicht beikommen. Ich wartete auf die Teufelei, die sie sich ausgedacht hatte. Die Schwierigkeit meines Planes bestand darin, daß ich nur ahnen konnte, was sie zu tun gedachte. Und trotzdem mußte ich darauf aufbauen. War der Plan dadurch nicht schon von vornherein zum Scheitern verurteilt? Plötzlich erschien das Buch der Weisheiten über unseren Köpfen. David Marshai schaute erschrocken empor. Langsam öffnete sich das Buch. David Marshai erinnerte sich meiner Worte und schlug die Hände vor das Gesicht. Jetzt wußte ich definitiv, was die Hexe vorhatte. Ich betrachtete den Schavall. Er hatte sich meinem Einfluß entzogen. Prompt wandte er sich dem Buch der Weisheiten zu. Die Hexe wußte mehr, als ich befürchtet hatte. Es war ihr 115 �
bekannt, daß der Schavall eigens als Gegenwaffe zu dem Buch der Weisheiten hergestellt worden war. Und wenn sich der Schavall dem Werk zuwandte, waren David Marshai und ich für eine winzige Zeitspanne schutzlos. Darauf wartete die Hexe nur. Mein Plan begann. Das Buch hing offen über uns. »Hände runter!« schrie ich David zu. Er gehorchte und schaute gleichzeitig mit mir nach oben. Ein furchtbarer Sog erfaßte uns. Wir verloren den Boden unter den Füßen. Der Schavall raste gemeinsam mit uns zu dem Buch der Weisheiten hinauf. Schemenhaft sah ich zwei Gestalten durch die tanzenden Buchstaben: May Harris und Don Cooper. Sie rannten um ihr Leben, von einem Schauergeschöpf verfolgt, das sie in den nächsten Sekunden einholen würde. Die Hexe begriff, daß es nicht so lief, wie sie es gewünscht hatte. Sie begann zu rasen und strahlte ihre vernichtenden Energien ab. Hätte sie den Bruchteil einer Sekunde früher reagiert, hätte ihre Aktion Erfolg versprochen. Wir hatten jedoch das furchtbarste Werk magischer Kunst praktisch schon erreicht, um von ihm verschlungen zu werden. Die Hexe mußte, um ihre Energien auf uns als Ziel auszurichten, ebenfalls in das aufgeschlagene Werk blicken. Was dadurch mit ihr geschah – dagegen war selbst sie machtlos, denn der Schavall war und blieb die einzig wirksame Gegenmacht zu dem Buch der Weisheiten! Die fünf Duplikate wurden angesaugt, schössen wie Raketen in die Höhe, um sich am 116 �
gemeinsamen Gipfelpunkt zu vereinigen. Plötzlich waren wir allesamt in einer gigantischen Höhle. Fluoreszierende Lichter jagten über die fernen Wände und die Decke. Die Höhle wirbelte um uns herum, verschwand. Wir standen auf einer weiten Ebene, aber auch diese kippte unter uns weg, machte einem Hochplateau Platz. Die gesamte magische Welt wurde sichtbar. Eine irre Szenerie spulte sich vor unseren Augen innerhalb von wenigen Sekunden ab. Immer wieder spielte die Höhle eine Rolle, und wir erblickten May Harris und Don Cooper, die momentanen Helden der betreffenden Story. Bis uns eine Riesenfaust packte und durchschüttelte. Ich glaubte, mich im rotglühenden Innern des Schavalls zu befinden, der uns jedoch wieder ausspuckte – geradewegs auf die Lichtung mit dem magischen Kreis. Das magische Buch war verschwunden. Der Schavall schwebte in unserer Mitte. Wir waren zu dritt: David Marshai und ich gemeinsam mit Joanna, der Hexe. Sie hatte bewiesen, welche Macht sie besaß, als sie sogar das Buch der Weisheiten für ihre Zwecke einspannte. Aber die Falle, die sie damit für uns konstruierte, war ihr letztlich selbst zum Verhängnis geworden. Das erkannte sie jetzt. Sie sprang auf und wandte sich zur Flucht. Ich griff nach dem Schavall, der kaum in meine Hand paßte, und warf ihn hinterher. Noch im Fluge blies er sich auf wie ein Ballon. Und dann war Joanna, die Hexe, verschwunden. Diesmal für immer! David und ich sahen uns an. Irrte ich mich oder schimmerten in seinen Augen Tränen? Er hatte die Hexe einst geliebt und 117 �
diese Liebe nicht vergessen können – was auch immer geschehen war. * Ich erwachte wie aus einem Alptraum… Gemeinsam gingen wir zu dem Opel. »Was ist jetzt mit May Harris und Don Cooper?« fragte David flach. Ich zuckte die Achseln. »Sie sind aus der Sphäre befreit. Wir müssen sie suchen und finden.« »Soll das bedeuten, daß das Buch der Weisheiten von Schavall vernichtet wurde?« Ich griff nach dem Amulett, das wie ein normales Schmuckstück wirkte und wieder an seinem Platz unter dem Hemd hing. »Nein, es ist ihm leider nur möglich, eine einzige Story zu löschen. Das Buch der Weisheiten beinhaltet also immerhin noch drei dieser entsetzlichen Geschichten. Wehe dem, der es zu lesen versucht. Für ihn wird Wirklichkeit, was geschrieben steht!« David Marshai schauderte es. Er klemmte sich hinter das Steuer. Ich betrachtete ihn von der Seite. Wenn ich ehrlich war, wurde ich nicht aus ihm klug. Auf welcher Seite stand er? May Harris und Don Cooper glaubten, ihr letztes Stündchen habe geschlagen. Der Vogel hatte sie fast erreicht. Er breitete seine lederartigen Schwingen aus. In dieser gigantischen Höhle konnte er sich das durchaus leisten. Und dann brach plötzlich das Inferno über sie herein. Plötzlich waren da Mark Täte, David Marshai und die Hexe. Alles wirbelte um sie herum. Der Boden kippte weg. Sie verloren die Ori118 �
entierung. Auch wurden sie aus der Höhle geschleudert, segelten über ein Land, das tausend Grauen für sie bereithielt. Nebel hüllte sie ein. Als er sie wieder entließ, lagen sie im Gras. In der Nähe gurgelte Wasser. Erstaunt erhoben sie sich. Ein Fluß, nur wenige Schritte von ihnen entfernt. War es die Saar? Sie liefen einen sanften Hang empor zur Straße. Hier warteten sie. Was blieb ihnen anderes übrig? Minuten später fuhr ein Opel genau auf sie zu. Er hielt. »Mark!« rief May Harris aus. Sie rannte auf die Beifahrerseite zu und riß den Wagenschlag auf. »Ich weiß jetzt, wo die beiden sind«, hatte David Marshai auf einmal gesagt. »Ich kann sie orten. Wir müssen in Pachtung Kleinbittersdorf.« Unterwegs sprachen wir kein Wort miteinander. Und dann konnte ich May endlich in die Arme nehmen. Sie hatte viel durchgemacht und sah mitgenommen aus. Don Cooper auch. Sie waren beide erschöpft. David Marshai betrachtete uns lächelnd. Dann wandte er sich ab und ging davon. Ich blickte ihm nach. »Du laßt den Magier einfach gehen?« erkundigte sich Don Cooper erstaunt. Ich nickte gedankenverloren. »Ich hoffe inbrünstig, daß er auf der richtigen Seite steht und nicht unser Gegner ist. Alles spricht dafür. Aber wenn ich mich in ihm täuschen sollte – soll ich ihn einfach umbringen?« Don Cooper klopfte mir auf die Schulter. Er verstand mich. Wir waren gestartet. Saarbrücken blieb unter uns zurück. Noch einmal schwor ich, in dieses schöne Land an der Saar eines Tages zurückzukehren – unter besseren Vorzeichen. Im Moment hielt mich nichts mehr. Zuviel Schlimmes hatte ich erlebt. Den 119 �
anderen erging es ebenso. Das Unglaubliche an der ganzen Sache war, daß kaum einer der hier lebenden Menschen mitbekommen hatte, für welche Ereignisse die Stadt und ihre Umgebung der Schauplatz gewesen waren. Ich bedauerte es nicht. ENDE
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