Buch Ein Dämon nutzt einen Moment der Schwäche, um den mächtigen Zauberer Elminster in die Hölle zu entführen. Mit Hilf...
57 downloads
1080 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch Ein Dämon nutzt einen Moment der Schwäche, um den mächtigen Zauberer Elminster in die Hölle zu entführen. Mit Hilfe von Peinigungen und hypnotischen Kräften versucht er, an das geheime Wissen seines Gefangenen über die Magie und die Göttin Mystra heranzukommen. Aber auch der geschwächte Eiminster verfügt noch über eine besondere Waffe: seine Gewitztheit. Er beginnt, seinen Kerkermeister mit spannenden Geschichten aus seiner Vergangenheit abzulenken und hinzuhalten ... Autor Ed Greenwood hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die Fantasy-Leser und FantasyRollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario.
Ed Greenwood
Im Bann der Dämonen Die Legende von Elminster 4
Ein Roman aus den Vergessenen Welten
Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger
b
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Forgotten Realms®/The Temptation of Elminster« bei Wizards of the Coast, Inc., Renton, U. S. A. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 2. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 8/2003 Copyright © 1999, 2003 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved Licensing by Hasbro Consumer Products FORGOTTEN REALMS and the Wizards of the Coast logo are registered trademarks owned by Wizards of the Coast, Inc., a subsidiary of Hasbro, Inc. All Wizards of the Coast characters, character names, and distinctive likenesses thereof are trademarks owned by Wizards of the Coast, Inc. This material is protected under the Copyright laws of the United States of America. Any reproduction or unauthorized use of the material or artwork contained herein is prohibited without the express written permission of Wizards of the Coast, Inc. U. S., CANADA, EUROPEAN HEADQUARTERS ASIA, PACIFIC & Wizards of the Coast, LATIN AMERICA Belgium Wizards of the Coast, Inc. P. B. 2031 P. O. Box 707 2600 Berchem Renton, WA 98057-0707 Belgium +1800-324-6496 +32-70-23-32-77 Visit our Website at http://www.wizards.com Published in the Federal Republic of Germany by Goldmann Verlag, München Deutschsprachige Rechte beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Beekman Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck Titelnummer: 24239 Redaktion: Cornelia Köhler Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler V B. · Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24239-8 www.blanvalet-verlag.de
Für Page und Mike. Die wunderbarsten Abenteuer sind die, welche man mit einem anderen teilt. Sorgt dafür, dass eure zu den längsten und großartigsten gehören.
Allen sei kundgetan: Die Weisheit und die besonderen Fähigkeiten von Rob King haben diese Geschichte viel pfiffiger und besser ausfallen lassen, als irgendetwas anderes das vermocht hätte.
Hausschatz der Reiche Erwartet Euch nicht schon im Alltag genug Hölle, dass Ihr sie auch noch in Büchern und Zaubern suchen müsst? Dass Ihr Euch deswegen sogar mit den sonderlichsten Magiern einlasst? Resaugiir Rabendarr, ein reicher Kaufmann aus Amn, im Gespräch mit seiner Tochter – aus dem Stück: KÜHNE HERZEN GEBROCHEN, von Nargustarus Grithym (alle Rechte bei: Athkatla) confirmis maledictus, flammis acribus addictus etiam sanato vulnere cicatrix manet
Studenten der Geschichte der Reiche sollten erfahren, dass diese Geschichte über Elminsters Pein ins Jahr 1372 DR fällt, dem Jahr der Wilden Magie. Die Erinnerungen auf diesen Seiten schildern Ereignisse, welche, soweit das feststellbar ist, an folgenden Tagen stattfanden: 6
– »Der Tag, an welchem die Magie starb« (und die damit verbundenen Erinnerungen, welche ihnen vorangehen in Kapitel zwei, außer der Stelle, an welcher Khelben über Tiefwasser fliegt, ein Vorfall aus dem Jahre 1351 DR) Mitte Kythorn des Jahres 1358 DR, dem Jahr der Schatten. – »Die hilfreiche Hand« (die Erinnerungen in Kapitel vier) vom 17. Marpenoth im Jahre 1357 DR, dem Jahr des Prinzen. – »Mögen die Zauberer erscheinen« (die Erinnerungen in Kapitel fünf) im Alturiak des Jahres 1365 DR, dem Jahr des Schwertes. – »Eine Nacht in Tiefwasser« (die Erinnerung des Mirt in Kapitel sechs) vom 6. Eleint des Jahres 1321 DR, dem Jahr der Ketten. – »Die Nacht kommt zu Tamaeril« (die erste Erinnerung in Kapitel sieben), »Auch Resengar« (die zweite Erinnerung in Kapitel sieben) und »Die Pflicht einer gehorsamen Tochter« (die Erinnerung in Kapitel neun) alle von Anfang Flammenherrschaft des Jahres 1355 DR, dem Jahr der Harfe. – »Eine Überraschung für Laurlaethee« (die Erinnerung in der Mitte von Kapitel acht) vom Nachmittag des 4. Tarsakh im Jahre 261 DR, dem Jahr der Auffliegenden Sterne. – »Mit einer Spur von Herzstahl« (die Erinnerung in Kapitel elf) von Anfang Mirtul des Jahres 1369 DR, dem Jahr des Handschuhs. – »Der Harfner mit den leeren Händen« aus der Nacht des 12. Uktar im Jahre 778 DR, dem Jahr des Erwar7
teten Energienetzes. – »Wenn Sembianer eine Teepause machen« (die Erinnerung im Kapitel dreizehn) vom Nachmittag des 4. Elesias im Jahre 1364 DR, dem Jahr der Welle. (An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Nouméa Hellschön in keinerlei Verwandtschaftsverhältnis zu Nouméa Drathchuld steht, welche zu jener Zeit Magisterin war.) – »Eine kleine Drachenart« (die Erinnerung im Kapitel vierzehn) vom 16. Ches des Jahres 1356 DR, dem Jahr des Wurms. – »Die Weisheit unserer Weisen« (die Erinnerung im Kapitel fünfzehn) von Ende Mirtul des Jahres 1360 DR, dem Jahr des Türmchens. – »So sitzet doch nicht ganz allein auf Thalons Thron aus kaltem Stein« (die Erinnerungen der Laeral am Ende des Kapitels sechzehn und am Anfang des Kapitels siebzehn) von Mitte Kythorn des Jahres 1357 DR, dem Jahr des Prinzen. (An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Laeral um Laeral Rythkyn handelt, welche von manchen »Laeral von Lautwasser« genannt wird, einer Harfnermagierin, welche mit Laeral Arunsun Silberhand von den Sieben nur den Namen gemein hat, aber in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu ihr steht. – »Die Tränen der Göttin« (die Erinnerung am Ende des Kapitels neunzehn) von Ende Eleint des Jahres 1371 DR, dem Jahr der Unangeschlagenen Laute. – »Die Srinschee spielt mit dem Feuer« (die erste Erinnerung der Srinschee im Kapitel zwanzig) vom Mor8
–
–
–
–
gen des 9. Nightal des Jahres 241 DR, dem Jahr der Narreteien des Flusspferdgreifen. »Küsse und Verdammungen« (die zweite Erinnerung der Srinschee im Kapitel zwanzig) vom Frühabend des 30. Mittsommer des Jahres 666 DR, dem Jahr des Strengen Gerichts. »Ein Narr verdient einen Narren« (die dritte Erinnerung der Srinschee im Kapitel zwanzig) vom 14. Hammer des Jahres 907, dem Jahr des Wartens. »Die Ankunft des Schattens« (die Erinnerung am Ende des Kapitels einundzwanzig) vom 6. Flammenherrschaft des Jahres 1294 DR, dem Jahr des Tiefen Mondes. »Narren als Ihre Helden« (die Erinnerung im Kapitel zweiundzwanzig) vom 22. Eleint des Jahres 1246 DR, dem Jahr des Brennenden Stahls.
9
Anfänge Erinnerungen sind etwas Wunderbares. Dennoch vermögen sie zu sengen wie das heißeste Feuer, welches wütend seine Träger verzehrt, oder sie schneiden so grausam wie Klingen. Ich vermag eine Erinnerung in einen Edelstein einzuschließen, welchen ich in die Hand nehmen und weitergeben kann, und gleichzeitig bleibt sie doch in meinem Gedächtnis. Erinnerungen gleichen langsam schwindenden Pfaden zu im Laufe der Zeit überwucherten und verloren gegangenen Lieblingsorten. Was ist ein Mensch denn schon anderes als ein Bündel von Erinnerungen? Gibt es einen reicheren Schatz für die Alten als den Vorrat ihrer angesammelten Erinnerungen, welchen sie durchstöbern können, um sich daran zu wärmen und zu erfreuen? Und gibt es ein abscheulicheres Verbrechen, als einem Menschen seine Erinnerungen zu entreißen? Nur meine Küsse sollten in der Lage sein, ihm dies anzutun – und auch nur dann, wenn Mystra dies als notwendig erachtet. Aber ein Unhold namens Nergal wagte es, meinem Mann dies zuzufügen. 10
Ich, Alassra, ließ Nergal dafür den gebührenden Preis zahlen und wurde deswegen verdammt – aber das kümmert mich nicht, und ich würde es immer wieder tun. Ich wage alles und werde deshalb sterben. Narren aus Thay und anderen Orten kennen mich wegen meiner Mordzauber und meiner Raserei. Oft überkommt es mich, und die Menschen nennen mich ›verrückt‹, wo sie doch Worte wie ›tollkühn‹ oder ›von Blutdurst überwältigt‹ verwenden sollten. Doch ich muss zugeben, dass ich mich an der Zerstörung erfreue, aber gleichzeitig nähre und verteidige ich, und ich zeige Freundlichkeit. Hier habe ich beides getan und somit allen, welche über die von mir so sehr geliebte Freundlichkeit lesen, den Grund dargelegt, weshalb ich diesem Mann namens Elminster mein Leben ebenso freimütig wie meinen Körper selbst dann zu Füßen legen würde, wenn er über so wenig Magie verfügte wie ein Dorftrottel. Manche werden behaupten, dass ich Geheimnisse aufgezeichnet habe, welche gewöhnliche Augen niemals hätten erblicken sollen, und jenen antworte ich zweierlei: ›Habe ich das wirklich?‹ und ›Das ist mir gleichgültig!‹. Manche haben gemeint, die Heilige Mystra und andere unter den Göttlichen würden mich für diese Handlung zerschmettern – und dennoch stehe ich noch immer hier, und bin nicht willens, Buße zu tun. So kommt denn, und lest Geheimnisse. Beherzigt die Geschichte, welche ich niederlegte, und lernt – oder 11
schert euch nicht darum, wendet euch ab und schreitet wehrlos durch den Rest eurer ohne jeden Zweifel kurzen Tage. Ihr könnt frei wählen. Ich bin die Königin des Sturms, und ich drohe niemals. Die Sturmkönigin macht lediglich Versprechungen.
12
1. Felsen und ein warmer Ort
Es gibt keine größere Gotteslästerung als diese: Für alle Götter wie auch die Menschen gilt ein oberstes Gebot, und keinem lebendigen Wesen dieser oder einer anderen Welt ist es gestattet, das zu tun, was hier geschieht – nämlich den Stoff, aus welchem wir alle gemacht sind, in Stücke zu zerfetzen und in Toril nur zerrissenes, kriechendes Nichts übrig zu lassen. Nur klaffende, weinende Wunden, in welche sich alle Königreiche ergießen, um anschließend in die kalte, nagende Leere zu stürzen ... Angesichts all der selbstsüchtigen, eigensinnigen und achtlosen Narren, welche über die Jahrhunderte Zauber wirkten, war es ein Wunder, dass dies nicht öfter geschah. Dieser Gedanke spendete jedoch nur wenig Trost. Die Welten brüllten. Weiß glühend ergossen sich alles verschlingende Sturzbäche der Macht aus dem Netz, fuhren knurrend rings um den taumelnden Mann umher und zerrten an seinen Gewändern, seinen gebrechlichen Gliedern und an seinem Bart, während ihn ein brausender Luftstrom vor sich her wirbelte. Etwas, bei dem es sich um die grünen Wipfel von Schattental handeln mochte, drehte sich auf die wider13
sinnigste Weise hoch über seinem Kopf. Unter seinen in Stiefeln steckenden Füßen – oder doch über ihm? – erstreckte sich ein blutroter Himmel ohne Sonne. Er hatte ihn schon ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen und verspürte nicht das geringste Bedürfnis, ihn jemals wieder zu sehen. Streifen giftigen Gases zogen wie schmutzige Wolkenfetzen über diese purpurrote Kuppel. Sie wirbelten durcheinander und bildeten schließlich eine Form, welche wie ein Paar riesiger, auf ihn niederstarrender Augen wirkte; Augen, welche hinweggeblasen wurden, bevor sie sich auf ihn ausrichten konnten, nur um sich gleich darauf neu zu formen, wieder und immer wieder. Unter dem rubinfarbenen Glühen breitete sich eine Landschaft aus wie aus einem Albtraum mit nackten Felsen und feurigen, Funken sprühenden Flüssen, aus welchen Flammen leckten. Nur halb erkennbare Schemen drängten sich schliddernd durch die Schatten. Berge schienen sich nachgerade in den rubinfarbenen Himmel zu krallen. Das Land der Zähne, wie Azuth es einst angesichts der endlosen gezackten Felsen durchaus passend genannt hatte. Das Gefilde des Willkommens, das Königreich der Schrecken, welches zahllose Sterblichen das Leben gekostet hatte. Er wirbelte über Awernus dahin, der ersten der Neun Höllen. »Mystra«, stöhnte der dahintreibende Mann. Er erweckte all die Magie in seinem Körper zum Leben und 14
versammelte sie in seinen Fingerspitzen, wo sie sich prickelnd bereithielt. Ob ihn die Herrin des Energienetzes nun hörte und ihm zu Hilfe kam oder nicht, für Elminster Aumar würde das Leben, welches sich vor ihm erstreckte, wenig erfreulich sein. Der Alte Magierfürst würde all seine Zauber verwenden müssen, um diesen Riss zwischen den Welten zu heilen – um der Liebe zu Toril willen, welches seine Zuneigung so selten erwiderte. Und wenn er sich an diese Aufgabe machte, würde er verbrannt und vernichtet und im Falle des Versagens vielleicht sogar in Stücke gerissen werden. Selbst wenn der alte Zaubermeister Erfolg hatte, würde er möglicherweise am Ende in die Hölle von Awernus eintauchen, seiner Zauber beraubt und ohne die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Dennoch zweifelte er keinen Augenblick an der Pflicht, welche er zu erfüllen hatte. Über ihm durchpflügten bereits dunkle und mit Fledermausschwingen bewehrte Schatten die Luft und näherten sich mit bedrohlichen Flügelschlägen dem Riss, um sich hindurchzudrängen oder ihn weiter zu öffnen, bevor es dem Zauberer noch gelang, ihn zu schließen. Der Riss konnte nur von dieser Seite und nicht von den angenehmeren Himmeln über Toril aus verschlossen werden – und wenn Elminster sich mit aller Kraft dieser Aufgabe widmete, wäre all seine Magie so schnell erschöpft, dass er ein für alle teuflischen Augen weithin 15
sichtbares, hell scheinendes Leuchtfeuer abgeben würde. Diese Augen beobachteten ihn. Oh ja. Elminster bemerkte, dass sich auf einem weit entfernten Berg etwas Riesiges, Dunkles und Drachenflügeliges erhob. Das Wesen spreizte die pergamentartigen Flügel und zog, als es sich schwerfällig in das Meer aus Blut erhob, einen endlos langen, mit Schuppen bedeckten Schwanz hinter sich her. Das Ungetüm erhob sich und wandte sich in seine Richtung. In Elminsters Nähe zuckten prasselnde Blitze aus den Säumen des Risses. Glitzernde schwarze Teufel mühten sich, ihn zu vergrößern ... wobei sie ohne jeden Zweifel dem Befehl unsichtbarer Teufel weiter unten gehorchten. Der dahinsausende Zauberer sah den blauen Himmel von Toril ein letztes Mal. Dann durchbohrten die blendend hellen Klauen eines mächtig zuschlagenden Blitzes die Teufel. Schmale, obsidianfarbene und purpurrote Körper wanden sich in Todespein, während sie im Feuer zuckten, und ihr Blut verkochte noch in roten Flammen, als ihre verbrannte Asche schon auf die gefühllosen Felsen unter ihren Füßen niederregnete. »Zur Hölle mit Euch allen«, murmelte der alte Prinz bitter. Er ballte die Hände zu Fäusten und zog das silberne Feuer in seinem Inneren zusammen, wobei er sich alle Mühe gab, so wenig wie nur irgend möglich davon hier freizusetzen. Wenn sich der Riss schloss, würde er höchstwahr16
scheinlich die Verbindung mit dem Energienetz und Mystra verlieren und nicht in der Lage sein, seine magische Kraft wiederzugewinnen. Silbernes Feuer verzehrte die Ringe und die Armschützer und sogar die Robe, welche er trug. Seltsame Gesänge und ein wütendes Knurren dröhnten in seinen Ohren, als sich Zauber auflösten, durch ihn hindurchflossen und schließlich mit glühenden, blauweißen Flammen seine Hände umhüllten. Die rasenden Feuer seiner Zauber summten mit tröstlicher Macht, während sie zischend und spuckend stärker wurden. Die Kleider des Alten Zauberers hingen in Fetzen. Uralte metallene Bänder um seine Finger fielen ab, zerbröselten zu Staub und waren auch schon vergangen. Sein Hut flammte in einer blauen Lohe auf, welche auf seine langen Zöpfe niedersank. Er rief ihre Zauber auf. Ein Dolch in einem seiner Stiefel zerbröckelte, dann der Stiefel selbst. Elminster sagte seiner Lieblingspfeife ein stummes, liebevolles Aufwiedersehen, bevor sie in die Asche fiel. Noch während sie sich taumelnd drehte, verwendete Elminster winzige Stöße seiner kostbaren Magie, um seinen Fall zu lenken, sich in der Luft herumzudrehen und wieder zurück auf den Riss zuzustürzen. Die Narbe wuchs und spuckte bösartige Blitze in alle Richtungen über den dunklen Himmel von Awernus. Strahlen schossen in gewölbten Bahnen über die blutige Gruft wie ein wütender Regen von Sternschnuppen, die im Fall vergehen. 17
Tief unter ihm schauten viele rot glitzernde Augen zu der tödlichen Pracht auf. Ein Blitz krallte sich ganz in seiner Nähe in die Luft, und der hagere Alte Zauberer sandte aus seinen Fingerspitzen blaues Feuer aus, um zumindest einen Teil des Blitzes einzufangen und dessen rasende Energie für seine Aufgabe nutzbar zu machen. Der Blitz pflückte ihn vom Himmel wie eine Stechmücke in einem Sturm und wirbelte ihn davon. Elminsters Zähne klapperten, seine Haare standen ihm scheinbar endlos zu Berge, und der heisere Anfang eines Schreies gefror ihm in der Kehle. In diesem Griff gefangen, konnte der Zauberer von Schattental nicht einmal einen Finger rühren, während ihn das Feuer schwarz verbrannte. Eine anschwellende, sengende Kraft zwang seine Arme und Beine in die steife Form eines Sternes und schleuderte den Zauberer schließlich über den Himmel. Als er wieder sehen konnte, tropften winzige Blitze von seiner Nase. Der Riss schimmerte wie ein helles, weit entferntes Feuer im roten Himmel. Seine Flammen wurden plötzlich von einer schwarzen, grinsenden Gestalt mit grellen Augen und Hörnern auf dem Kopf überdeckt, die mit ausgestreckten Klauen durch die Luft raste, ohne Zweifel in der Absicht, festgebannte Zauberer zu zerfleischen. »Tharguth«, murmelte Elminster. Er rief sich ein altes Zauberbuch ins Gedächtnis, in dem die Namen für solche Teufel verzeichnet standen – er hatte es hier mit Abischai zu tun, denn er sah einen zweiten und einen 18
dritten im Kielwasser des ersten heranbrausen. Dann blieb ihm keine Zeit mehr zum Nachdenken; der Abischai schoss wie ein zum Zuschlagen bereiter Hammer auf ihn zu. Im Herannahen durchharkte er mit gierigen Klauen die Luft, und den giftigen Schwanz trug er aufgerollt, um jederzeit zustechen zu können. Elminster blickte in die triumphierenden Augen des Teufels. Er fühlte einen warmen Schwall und den nach Essig stinkenden Geruch von Haut, als der Teufel seine Kiefer aufriss. Das Ungeheuer reckte den Kopf, um dem Zauberer die Kehle aufzureißen. Elminster lenkte in Blitzesschnelle ein Feuer auf die sengenden Klauen und den Kopf, schickte sie ins Nichts, und der Teufel taumelte weg in die felsige Dunkelheit tief unter ihnen. Der zweite Abischai kam zu rasch heran, als dass der Zauberer die Richtung hätte wechseln können. Elminster drehte sich von einer die Luft durchharkenden Klaue weg und schickte einen winzigen blauweißen Strahl seiner Magie in den heulenden Rachen des dritten geflügelten Teufels. Dessen Schädel explodierte mit Getöse. Sein dahinschießender Körper krümmte sich, und das Ungeheuer griff stumm vor Todespein krampfhaft in die Luft, während es an Elminster vorbeiraste. Dem alten Magier stand nur noch ein einziger Flugzauber zur Verfügung. Elminster befürchtete, die Magie, welche sich seiner bemächtigt hatte, könne diesen ver19
biegen oder zerstören, deshalb rief er ihn mit unendlicher Behutsamkeit auf. Der Prinz fügte ein weiteres winziges Quäntchen von Macht hinzu, welches ihm eine größere Geschwindigkeit verschaffte, als der Flugzauber allein ihm hätte verleihen können. Er musste so schnell wie möglich zu der Spalte zurückgelangen. Auch ohne sich umzuwenden, nahm er das zornige Schnauben wahr, welches ihm mitteilte, dass der zweite Abischai sich umgewandt hatte und hinter ihm herraste. Inzwischen füllten Tharguth den Himmel – blaue und grüne und sogar die größeren, viel grausameren roten Abischai. Ihre Augen glühten wie Paare rubinroter Flammen, als sie sich in die Lüfte schwangen, um den Zauberer zu jagen. Ihre wütenden, hämischen Schreie schwollen zu einem Gebrüll an, welches das Donnern des Risses übertönte, lauter und immer lauter. Elminster Aumar war zwar nicht der geringste unter Mystras Auserwählten, aber keinesfalls ein bedeutender oder entschlossener Mann des Krieges. Wie ein winziger blauweißer Stern sauste der alte Zaubermeister über den Himmel von Awernus. Dunkelrote Drachen schlängelten sich jetzt durch das Gewimmel aus Teufeln und stürzten sich wie große Katzen auf diesen Schwarm lebenden Futters, um hungrig ihre Reißzähne in die Beute zu schlagen. Kleine, mit Stacheln besetzte Teufelsungeheuer, Spinagons, fuhren durch die Luft und schossen pfeilschnell hierhin 20
und dorthin, wobei sie unter den Tharguth hinwegtauchten. Elminster beobachtete, wie etwas Geflügeltes, Hungriges, das beinahe schneller flog, als er den Kopf drehen konnte, den Abischai auf seinen Fersen vom Bauch bis zur Kehle aufschlitzte. Sein Blick fiel für einen Moment auf das Land tief unter ihm. Dieses sich windende rote Band konnte nur ein Strom aus Blut sein. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch gleich darauf wieder von dem raschen Schlag der unglaublichen Flügel abgelenkt. Der fliegende Mörder verlangsamte seinen Flug, bis er schließlich in der Luft stand und Elminster anschaute. Ihre Blicke trafen sich. Der Prinz von Athalantar sah sich einer einzelnen Teufelin gegenüber, deren gefiederte Schwingen die Luft durchpflügten. Sie war schlank, anmutig und tödlich, von dunkler Farbe und schöner als jede sterbliche Frau: Eine Erinnye, zweifellos eine Spionin eines großmächtigeren Teufels, welcher tiefer in den Abgründen der Neun Höllen hauste. Du liebe Güte, man schien ihn hier wirklich zu mögen. Awernus bot vermutlich wenig Unterhaltung, wenn schon ein einsamer menschlicher Zauberer so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Oder doch nicht. Er verbannte alle stolzen Gedanken aus seinem Kopf. Ohne jeden Zweifel lockte der Riss all die Teufel nach oben. Elminster beobachtete, wie immer mehr der Ungeheuer mit den Fledermausflügeln hilflos über den 21
Himmel taumelten und von Blitzstrahlen eingefangen wurden, welche dort, wo zwei Welten aufeinander prallten und sich ineinander verkrallten, aus der Sturzflut von Macht zuckten. Ein weiterer Strahl schoss auf ihn zu, und Elminster machte sich bereit. Er streckte die Hände aus, zwischen denen eine blauweiße Kette von Magie hin und her kroch, und tauchte mit wie rasend pochendem Herzen mitten in sie hinein. Mit einem wortlosen Schrei trank er die Kraft in sich hinein, bis sie heiß und erstickend in ihm aufstieg. Er sah sich gezwungen, sich aus ihrem Fluss in den rubinroten Himmel zurückzuziehen, wo er zitternd und bebend durch die Luft trieb. Dieses Mal wurde er nur ein kleines Stück weit zurückgetrieben, und seine Gliedmaßen leuchteten hell vor Energie. In der Ferne versuchten geflügelte Teufel so wie er, die Macht des Strahls in sich hineinzutrinken, stürzten aber in ihr Verderben, als der Strahl sie mit einem kurzen, rot glühenden Aufflammen verzehrte. Ein Drache, der damit beschäftigt war, Tharguth in Stücke zu reißen und sie zu verschlingen, bemerkte Elminster und flog in einem weiten Kreis auf den Zauberer zu. Er stürzte sich wie eine riesige Wand aus schuppigem Fleisch auf ihn, wobei er Flammenstöße ausspie, welche zwar den Teufeln wenig anhaben, einen sterblichen Mann aber bei lebendigem Leib rösten und in den 22
Untergang stürzen konnten. Elminster ging in einen Sturzflug über und trank das Drachenfeuer in sich hinein. Er biss die Zähne zusammen und ertrug unbeugsam den kurzen, aber heftigen Schmerz, bevor er dessen Hitze mit seiner eigenen gesammelten Magie bezwang. Keuchend gewann er die Oberhand. Der Alte Zauberer war so angefüllt, dass er kurz vor dem Explodieren stand. Von der Anstrengung, eine solche Machtfülle zu halten, zitterte sein ganzer Körper. Elminster fühlte sich nicht länger als ihr Gefäß, sondern wie ihr Herz, und rang nur deshalb mit ihren Spannungen und Strömungen, um sich nach eigenem Belieben bewegen zu können, ohne von ihrem Wüten zerrissen zu werden. Oder von grausamen Kiefern. Der große rote Drache, dreimal so groß wie alle, welche er je auf Toril zu Gesicht bekommen hatte – einschließlich des alten Larauthor, welcher den Himmel wie ein sich bewegender Berg ausgefüllt hatte – stürzte sich mit weit aufgerissenem Maul auf ihn. Elminster warf die Arme nach hinten und ließ winzige Flammenstöße aus seinen Fingern schießen, welche ihn hoch, vorwärts und außer Reichweite des Lindwurms schleuderten, mochte sich der auch noch so krampfhaft verdrehen. Das Ungetüm krallte in seinem Bemühen, so schnell wie möglich die Richtung zu wechseln, wild in die Luft. Vergeblich schnappten seine Kiefer nach Elminster, und der Drache schlug so hart mit seinen Flügeln, dass 23
die Luft wie unter einem Donnerschlag erbebte. In einem Dreieck von Strahlen aus dem Riss gefangen, versteifte sich der Lindwurm, und seine Schuppen zerschmolzen und lösten sich in Rauch auf. Der Schmerz erfasste ihn so heftig, dass er nicht einmal mehr einen Todesschrei ausstoßen konnte. Seine Augen gingen in Flammen auf, und aus seinen schwarzen Augenhöhlen und den lose baumelnden Kiefern floss Rauch. Der Lindwurm stürzte wie ein Stein in die gezackte Finsternis tief unten. Nichts von alledem brachte Elminster zu seiner Aufgabe zurück, den sich immer mehr ausweitenden Riss zu heilen, welcher sich wie ein weinendes Auge in den Himmeln von Awernus abzeichnete. Elminster rief sich den halb vergessenen Fetzen eines zweideutigen Liedes ins Gedächtnis zurück, während er sich auf seine eigenen Flügel aus Zauberflammen verließ. Fröhlich, aber falsch singend raste er auf sein Schicksal zu. Strahlen stachen auf ihn ein und drohten ihn zu erreichen. Er spann Ketten knurrender Magie um sie herum und schwang sie in brüllenden, den Himmel erschütternden Bögen um sich herum. Die Strahlen fielen in Richtung ihrer Quelle zurück – eine rasende Flut, welcher er sich anschloss. Während der Zaubermeister kopfüber in die blendende Helligkeit stürzte, streckte er die Hände aus. Alle Geräusche erstarben in diesem widerhallenden Gebrüll. Elminster verwandelte sich in einen rasenden 24
Pfeil inmitten der mächtigen Wogen der Macht. Die Energieschübe rollten schwerfällig über ihn hinweg, ein ungeheures Chaos von Strömungen, welche den alten Mann anstießen, an ihm zerrten und drohten, ihn in einen Wirbel aus zerschmetterten Knochen und blutigem Brei zu verwandeln. Als sengende Kräfte seine Fingerspitzen wegbrannten, sandte er ein Zauberfeuer aus, um sie zu spalten und ihrer Herr zu werden. Gleichzeitig stürzte er sich auf eine Stelle des Risses, wo Toril anfing. Auf hohen Wellen der Macht reitend zerrte und riss und wob der Alte Zauber, um den blauen Himmel wieder zusammenzuflicken. Irgendwo hinter ihm schrien Teufel, als sie auseinander oder in Fetzen gerissen wurden. Ihr Gebrüll drang kaum an Elminsters Ohren. Der Alte Zauberer starrte hungrig auf die Welt, aus welcher er sich selbst mittels einer Mauer aussperren musste, wenn er sie denn retten wollte. Elminster blickte sehnsüchtig auf Schattental nieder, ein kleines grünes Juwel tief unter ihm, aber dann schwang er sich über den Himmel und flickte zähneknirschend dessen ausgefranste Ränder zusammen, wobei er sich der wogenden Macht bediente. »Die Barden könnten niemals die rechten Worte dafür finden«, keuchte der alterfahrene Zauberer. Rote und blaue Himmel verschoben sich, glitten hin und her und kämpften um die Vorherrschaft hoch droben. Der Zauberer schoss an der rasenden Linie entlang. 25
Übelkeit erregende Macht durchfuhr ihn wie das Schwert, welches einst binnen eines einzigen eisigen Moments in seine Kehle eingedrungen und gleichzeitig aus seinem Rücken herausgefahren war ... Dies war vor langer Zeit geschehen, und damals hatte erheblich weniger auf dem Spiel gestanden. Eine Erinnerung unter viel zu vielen, die ihn immer wieder dazu verführten, unter ihren Schatten einherzuwandeln. Das Angebot schien umso lockender, als Müdigkeit den Alten Magier zu überwältigen drohte und die Erschöpfung, welche er dieser Tage empfand, wie ein schwerer, nicht abzuwerfender Umhang auf seinen Schultern lastete. Von einem Moment auf den anderen hatte er seine Aufgabe erfüllt. Energien sprangen hin und her, um das zu vollenden, was der Eindringling begonnen hatte, und sie stellten das wieder her, was zerschmettert worden war, bis das hell strahlende Toril vor seinen Augen verschwand. Das Gebrüll des Himmels erstarb, und Elminster fiel wie ein vergehender Stern in die tiefe, rubinfarbene Düsternis von Awernus. Er hatte es vollbracht. Zwar fühlte der Alte Magier sich jetzt benommen und erschöpft, aber so viel wusste er immerhin. Er hatte Toril gerettet und seinen eigenen Untergang besiegelt. »Meinen Dank, großmächtiger Elminster«, sagte er mit schwarzem Humor zu sich selbst und prostete sich mit einem nicht vorhandenen Kelch zu, während die 26
schwarzen Fänge der Felsen tief unter ihm auf ihn zurasten. »Das schöne Faerun hat den größten Sieg erlebt – obwohl niemand davon weiß oder sich auch nur darum kümmert. Willkommen sei der Misthaufen, der auf mich wartet.« Mit einer letzten Anstrengung seiner erschöpften Willenskraft verwandelte sich Elminster in einen Steinklumpen und drehte sich auf die Seite, so dass sein Fall mit einem tiefen Eintauchen in das enden würde, was vielleicht ein See aus Blut sein mochte. Seine warmen, lauen Fluten sollten seinen Sturz auffangen. Das verwesende Fleisch, welches seine Ufer auskleidete, würde den Menschenmagier verstecken. Vielleicht konnte er unbemerkt dort liegen bleiben, bis er genug Kraft zurückgewonnen hätte, um – Nach einem solchen Himmelssturz schlägt selbst ein Stein mit der Wucht eines Schmiedehammers auf einer Wasseroberfläche auf. Der brutale Aufprall auf der Oberfläche ließ Elminster aufkeuchen – hätte ihm denn irgendein Organ zum Keuchen zur Verfügung gestanden. Wärme blubberte an ihm vorbei, während er trudelnd in den warmen, feuchten Tiefen versank und langsamer wurde, als ... Etwas Dunkles, Schlangenähnliches wand sich aus den roten Tiefen und schnappte nach ihm. Mit dem brennenden Biss einer Viehtreiberpeitsche wickelte sich ein Tentakel um ihn herum ... und dann wurde der Alte wieder nach oben gezogen. 27
Nun, in dieser Hölle konnte man kaum damit rechnen, dass einem das Böse eine kleine Pause gönnte. So sollte denn die Marter beginnen. Mystra behüte und bewahre mich. Bitte. Elminster fuhr tropfend aus dem blutroten Wasser. Unbekannte Magie wütete um ihn herum und drang mit kleinen, betäubenden Stichen in ihn ein. Er veränderte sich unter ihrem bezwingenden Stachel, trieb dahin, entfaltete sich und wurde ... wieder er selbst, ein Mensch mit Armen, Beinen und – Augen. Augen, die selbst dann noch schwammen, als ihm Grunzer, ein dröhnendes Ächzen und eine schrille Symphonie von Schreien mitteilten, dass ihm Ohren wuchsen. Dann drehte sich plötzlich die ganze Welt, erbebte und kam mit erschreckender Klarheit zum Halten. Elminster stand barfuß auf warmem, zerklüftetem Fels. Er hatte Füße und Beine ... und seinen eigenen alten, hageren Körper bis hin zu seinem Bart. Er befand sich in einer kleinen Bodensenke inmitten einer endlosen Einöde aus Felsgestein, und um ihn herum kräuselten sich übel riechende Ströme aus Gasen, welche seufzend an ihm vorbeistrichen und ihm die Beine verätzten. Auf den Felsen wuchsen einzelne verkrüppelte Bäume, deren nackte, dornige Äste wie hoffnungslose Finger in den blutroten Himmel stachen. Ganz in der Nähe schoss eine Flamme hoch, raste kurz über die versengten Felsen und fiel dann wieder in sich zusammen. Elminster Aumar wurde bewusst, dass etwas in den 28
tiefen Schatten am anderen Ende der Kluft stand. Es bewegte sich vorwärts, wobei es um die zahlreichen Felszähne herumschritt. Blicke aus flammengelben Augen senkten sich mit der Kraft einer zuschnappenden Schlange in die seinen und hielten ihn gefangen, während sich ihr Besitzer langsam näherte. Er bedachte den Alten Zauberer mit einem Lächeln, welches alles andere als erfreulich wirkte, gleichzeitig aber vielerlei düstere Verheißungen enthielt. Augenbrauen hoben sich, spiegelten die Form der gebogenen Hörner darüber wider, und eine leise zischende Stimme fragte beinahe sanft: »Erkennt Ihr mich nicht, kleiner Kriecher von einem Zauberer? Heutzutage ziehe ich eine großartigere Gestalt vor.« Magie ringelte sich um Elminsters Kehle und erstickte jede Antwort, welche der Zauberer hätte geben mögen. Das Lächeln des Teufels verbreiterte sich. »Gefällt Euch mein kleiner Klauenbann? Nichts, was an die großmächtigen Zauber heranreichen könnte, welche Ihr natürlich zu weben gewohnt seid, aber mir reichen sie ... ja, sie reichen.« Der Teufel mit den gebogenen Hörnern drehte den Kopf und lächelte, wobei seine feuerfarbenen Augen Elminster immer noch durchbohrten wie die Zinken einer riesigen Gabel. »Erkennt Ihr mich immer noch nicht, Alter Zauberer? Ihr müsst wahrlich erschöpft sein.« Elminster starrte den stämmigen Teufel an und fragte sich, wann er denn, zumindest in den Augen dieser 29
unheiligen Kreatur, zu einer Art Fachmann für das Teuflische geworden sein mochte. Ein menschenähnlicher nackter Teufel hielt ihn gefangen, dessen Haut so glatt wie das Fell eines Otters wirkte und grau gesprenkelt schimmerte, durchsetzt mit Braun und dunklerem Grau. Der Höllenfürst hob sich kaum von den im Schatten liegenden Steinen von Awernus ab, welche sich rings um sie herum erhoben. Ein paar Schuppen glitzerten auf dem Hals und den Fußgelenken des Ungeheuers. Aus seinem beinahe menschlich aussehenden Kopf wuchsen zwei gekrümmte Hörner. Was auf den ersten Blick wie ein eng um die Schultern des Teufels gezogener Umhang gewirkt hatte, erwies sich bei näherem Hinsehen als ein Halskragen aus Tentakeln. Ein Tentakel schoss vor, schlängelte sich wie ein rachsüchtiger Aal durch Fetzen dahintreibender Dämpfe über gut dreißig Fuß oder mehr auf Elminster zu und schloss sich um seine nackten Schultern. Die Augen, welche den Zauberer immer noch mit ihren Blicken festnagelten, glühten jetzt in einem etwas stärkeren Rot. »So wisset denn«, erklärte der Teufel mit nachgerade grotesk wirkender Förmlichkeit und deutete eine kleine Verbeugung an. Sein Tentakel zwang den verwirrten und erschöpften Zauberer dazu, diese Bewegung nachzuvollziehen, »dass Ihr Gast von Nergal seid, dem allermächtigsten unter den ausgestoßenen Fürsten der Hölle.« Sein Lächeln verbreiterte sich, und seine Augen glüh30
ten jetzt so rot wie alte Kohlen. »Ihr dürft mich begrüßen.« Elminster kämpfte um Worte, aber seine ausgedörrte, verkrampfte Kehle gehorchte ihm nicht. Nergals Grinsen wurde selbstgefällig und verzerrt. »Widersetzt sich der Körper gar ein wenig, großer Zauberer? Wie traurig. Ihr werdet bereits festgestellt haben, dass meine ärmlichen, dürftigen Zauber dazu gedient haben, Euch in Eure wahre Gestalt zurückzuzwingen, und meine sanften Klauen habt Ihr ebenfalls gespürt.« Er spreizte die Krallen, wohl um seinen Worten mehr Wirkung zu verleihen. »Diese stellen sicher, dass alle Magie, welche Ihr wirkt oder freisetzt, abgesaugt wird, um meine Macht über Euch zu verstärken. Oh, Ihr mögt sie nicht sehen, aber Ihr seid gebunden. Und so soll es bleiben, solange es mir gefällt. Ihr seid in Zauberbanne eingewickelt, welche mit meinem Geist verbunden sind: Es wird Euch niemals gelingen, unbemerkt zu entkommen.« Nergals Lippen kräuselten sich spöttisch, und er fügte hinzu: »Niemandem ist es bisher gelungen, meinen Willen zu brechen, Elminster, aber Ihr seid eingeladen, es zu versuchen. Für jedes fühlende Wesen stellt die Wiedergewinnung der Freiheit ein erstrebenswertes Ziel dar – was für eine Zeitverschwendung!« Wieder erbebte der Boden, und eine Flamme schoss bis hoch über ihre Köpfe in den Himmel und versengte einen kleinen, vor einer Sturmbö dahinwirbelnden Teufel. 31
Nergals Grinsen wurde noch breiter, als er jetzt den Tentakel zurückzog. Die Erschütterung im Felsen unter seinen glühend heißen Füßen ließ Elminster taumeln, und beinahe wäre er zu Boden gestürzt. »Erstrebenswert«, wiederholte der Teufel hämisch, »aber wie schon gesagt, nahezu unmöglich. Ihr seht, dass ich viel Zeit damit zugebracht habe, Eure Heldentaten zu beobachten, alter Zauselbart. Und ich habe Verwendung für Euch. Ganz gewiss.« Die Tentakel des Teufelsfürsten wanden sich plötzlich über seinen Schultern, und das unheimliche Grinsen wurde noch stärker. »Ihr seht, dass Ihr Euch jetzt in meinem anheimelnden kleinen Tal befindet, Menschlein.« Und mit demselben einladenden Lächeln ließ Nergal einen Tentakel vorschnellen und riss Elminster den rechten Arm aus.
32
2. Die warme Gnade eines Teufels
Nichts ist wichtiger als Schmerz. Gar nichts. Schmerz versengt und frisst das Leben selbst, fordert alle Aufmerksamkeit und schleudert selbst Zauberfürsten in die schrecklichste Verzweiflung. Diesem speziellen Zauberfürsten waren über seinen Schmerz hinaus nur wenige Dinge bewusst. Elminster wusste nur, dass er torkelte und vergeblich nach seiner zerrissenen, entsetzlich brennenden Schulter zu greifen versuchte, während Tentakel nach ihm schlugen und ihn mit träger Schadenfreude herumwirbelten. Nach und nach nahm er mehr wahr. Die gequälten Felsen von Awernus umrahmten ihn von allen Seiten und stachen wie die schwarzen Finger einer Leiche in den blutroten Himmel. Ganz in der Nähe schrie jemand – ein rauer, heiserer und endloser Laut höchster Qualen, ein einsamer Fanfarenstoß der Todespein inmitten von Nergals heulendem Gelächter. Scharfe Steine zerschnitten Elminsters Fußsohlen. Aber durch die Todesschmerzen hindurch, welche ihn Übelkeit erregend und erschöpfend durchschossen, fühlte der alte Mann dies kaum. Langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass er selbst es war, der da schrie. 33
»Der klare Verstand«, bemerkte der Teufelsfürst angelegentlich, »hält sich länger, wenn ein paar Stimmübungen erlaubt sind. Man mag diesen Zustand bei den meisten der eher überflüssigen Sklaven für weithin überschätzt halten, aber in Eurem Fall lege ich Wert darauf, dass er noch ein Weilchen länger erhalten bleibt. So singt denn.« Tentakel drängten sich heran, pflügten forschend unter menschliche Haut ... Elminster versteifte sich und versuchte, noch lauter zu schreien als zuvor, als ihn Klauen aus Schmerz durchbohrten. Sein Schrei erstarb, da er fast an dem Blut erstickte, welches sein empörter Magen in einem Schwall auswürgte. »Nicht einmal ein Dolch, um mir zu trotzen?«, höhnte Nergal. »Nicht ein Fünkchen von einem Zauber, um mich zum Rülpsen zu bringen? Das nenne ich wirklich große Zauberkraft!« Elminster Aumar sackte auf die Knie und musste feststellen, dass ihn die Tentakel um seine Beine in einer halb aufrechten Stellung hielten und er gebrochen und mit schlaffen Gliedern in der Luft direkt über den Felsen hing. Die Tentakel strafften sich erneut, und Elminsters verbliebener Arm brach an drei Stellen gleichzeitig. Zerborstene Knochen standen vor, als Elminsters Arm auf unmögliche Weise verdreht wurde – Knochen, die für die tränenden Augen des Alten Zauberers wie bluttriefende Dolche aussahen, während sein Gefangenenwärter Elminsters Gliedmaßen spielerisch einmal 34
hierhin, einmal dorthin zwang. »Nicht ein einziger schwacher, um sich schlagender Bann? Nicht ein einziger Ring, der gegen mich erweckt wird?« Der Teufel ließ seinen spöttischen Worten weiteren Schmerz folgen, und die Ringe wurden von Elminsters verbliebener Hand gezwungen, zusammen mit den Fingern, an denen sie steckten. »Ihr enttäuscht mich, weithin berühmter Zauberer. Ich habe mehr erwartet. Viel mehr.« Elminster würgte und bemerkte den Tentakel nicht, welcher seine Nase in blutige Stücke zerschmetterte, genauso wenig wie denjenigen anderen, welcher über seine Brust kroch und überall wie ein Rasiermesser die Haut aufschlitzte. Saugarme machten sich an den Riegeln gewisser aufblitzender magischer Dinge zu schaffen, welche Mystra vor Jahrhunderten im Fleisch des Zauberers hinterlassen hatte. Sie flammten blendend hell auf und bewirkten, dass der Teufel vor Schmerz und Furcht zischte, bevor seine Tentakel sie hinwegschleuderten. Ein Stoß erschütterte die Felsen unter Elminsters Füßen, und gleich darauf folgte ein zweiter. Nergal stieß ein Lachen aus, das auf so etwas wie Erleichterung schließen ließ. »Hübsche Schmuckstücke unter Eurer Haut – meine Güte, was für ein hoch geschätzter Sklave Ihr gewesen seid. Ich sollte mich geschmeichelt fühlen, jemanden so Wichtigen zu Gast zu haben. Selbst wenn es sich um etwas Altes, Schwaches, Splitterfasernacktes handelt, 35
kaum der Mühe wert, es zu foltern. Zitternd wie ein Lemure – und ungefähr genauso fröhlich.« Tentakel schüttelten Elminster, während rote Augen aufflammten. »Schaut mich an, Menschlein – und beherzigt Folgendes!«, bellte Nergal. »Ich bin Euer Verhängnis, und noch Schlimmeres. Ihr werdet meine Klaue sein, mit der ich Faerun aufreiße, wenn ich Euch erst passend vorbereitet habe. Es bleiben nur noch ein paar Dinge zu tun übrig, welche ich zuerst erledigen muss. Ich werde Euch den Bart bis auf ein Büschel ausreißen, damit mir etwas bleibt, mit dem ich Euch herumschleudern kann, anschließend werde ich das ausreißen, was Euch zum Mann macht –« Hilflos schrie Elminster noch schriller und noch lauter. »Ich bin Nergal, alter Narr, und ein rechtmäßiger Prinz der Hölle. Deshalb beherzigt meine Worte. Zu mir kommen nur wenige Besucher, welche stolze Ansprachen zu würdigen wissen, und deshalb werdet Ihr jedem einzelnen meiner Worte lauschen. Meine Zauber halten Euch bei Bewusstsein, ganz egal, wie viel Schmerz Euch heimsucht. Ich bin Eures Gewinsels herzlich überdrüssig geworden, und das schneller als ich dachte. Und deshalb schweigt still.« Elminster stellte fest, dass er schwieg, obwohl sich seine Kehle mitten in einem Schrei zusammengekrampft hatte. Sein Körper krümmte sich vor Schmerz bei dem Versuch, Blut auszuspeien. Nergal bedachte den Alten Zauberer mit einem fröh36
lichen Lächeln. »Das ist besser«, gurrte der Teufelsfürst, als spräche er zu einem Lieblingskind. Er richtete sich auf, wobei sich seine Tentakel wie das Rad eines Pfaus spreizten, und sprach nun mit der stolzen Würde eines Königs auf seinem Thron: »Obwohl ich ausgestoßen und an diesen Ort verbannt wurde, bin ich dennoch der Mächtigste unter allen – ja, ich übertreffe sogar Tiamait den Vielmäuligen –, welche Awernus als ihre Heimat bezeichnen.« Er reckte siegesgewiss das Kinn. »Zu stolz und zu geschickt, um der herrschenden Schlange zu dienen, aber zu mächtig, um getötet zu werden. Dispater ist nicht größer als ich, auch Baalzebul nicht ... und deshalb bin ich nützlich. Asmodeus mag meiner Dienste bedürfen.« Tentakel hoben ihre zerbrochene Last beinahe liebevoll hoch. Menschliche Haut fiel in Fetzen nieder, als Nergal das, was von Elminster noch übrig war, zu sich heranzog, so dass sich die beiden über eine geringe Entfernung in die Augen starrten. »Und an diesem Tag«, fuhr der ausgestoßene Teufel hämisch und mit leiserer Stimme fort, »wird es mir eine ganz besondere Freude sein, dem Fürsten von Nessus in seiner Stunde der Not zu trotzen. Ihm mit genug Macht zu widerstehen, um seinen Thron zu zerschmettern und über seine knirschenden Gebeine hinweg Krieg in die Hölle zu bringen. Und Ihr, kriechender Mensch, stellt meinen Weg zu einigen der Waffen dar, welche ich benötige.« Tentakel zogen sich zusammen, und Elminster spuck37
te, ohne sich dagegen wehren zu können, Blut. »Ich-ugh! Uh! Arrgh!«, War alles, was er herausbrachte, wobei er versuchte, durch das erstickende Blut in seiner Kehle nach Luft zu schnappen. Dann war die ihm zugestandene Zeit verstrichen, und Stille schnürte mit eisigem Griff seine Kehle zu. »Ich freue mich, dass Ihr mir so eifrig zustimmt«, schnurrte Nergal. »So hört mir zu und lernt, mein kleines Werkzeug. Ich bin auch nur einer von denen, welche, seien sie nun groß oder Mitleid erregend, in den Schatten von Awernus herumkriechen und auf den Tag warten, von dem wir alle wissen, dass er kommen wird.« Der Fürst verschränkte die Arme vor der Brust. »Teufelsfürsten mögen getötet werden, aber es ist nicht einfach, uns für immer zu vernichten. Der Fürst von Nessus muss einiges von seiner Macht verschwenden, um ein solches Verhängnis über uns zu bringen. Er tat dies bereits, ja – aber nur als Strafe für das allertödlichste Treiben, das man ihm gegenüber an den Tag legen konnte.« Er legte eine Kunstpause ein, so als stünde er kurz davor, ein gewaltiges Geheimnis zu offenbaren. »Wenn nämlich Teufelsfürst und Teufelsfürstin einander beilagen und Nachwuchs hervorbrachten, den sie gleich vor den Augen des Asmodeus verbargen, um einen Teufelsfürsten zur Hölle zu bringen, von dem der Fürst der Tiefe nichts wissen sollte.« Tentakel pressten Elminster auf einen Felsgrat nieder. Unnachgiebige Spitzen stachen in rohes Fleisch. 38
Elminster wölbte den Rücken und wand sich in äußerster Todespein. Ein Tentakel hob behutsam Elminsters Kopf, so dass er seinen Körper anschauen konnte ... und die blutigen Felsstacheln, welche aus dem glitzernden Durcheinander seiner Organe heraussprossen. Der alte Zaubermeister starrte darauf, zu sehr von Schmerz überwältigt, um sich an seine Erinnerungsfetzen von Mystras Gesicht klammern zu können. Nergal erhob sich jetzt bedrohlich über seinem Gefangenen und erklärte beinahe heiter, als erzählte er einem sich dem Schlaf widersetzenden Kind eine phantastische Geschichte. »Luzifuge war nichts als ein winselndes Etwas, als Asmodeus ihn verschlang – im wörtlichen Sinne, indem er seine Zähne zu Fängen heranwachsen ließ. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Glitschige Tentakel pflückten den Alten Zauberer von den Felsen – bei den Göttern, was für ein alles zerreißender Schmerz! – und hielt ihn wieder vor Nergals Gesicht in die Höhe. Die Augen des Teufelsfürsten glühten flammend rot. »Er bedachte Luzifer und Batna mit der endgültigen Verdammnis, weil sie dieses Kind bekommen hatten«, fügte Nergal erregt hinzu, »und richtete sie hin, während Baalzebul, Luzifers grimmigster Feind, dabei zusah. Dann riss er Baalzebul aus seinem Palast und schleuderte ihn als Sklaven durch sämtliche Höllen – nur um uns allen zu zeigen, dass er einen Fürsten und eine Fürstin der Hölle zu Nichts verbrennen und gleich39
zeitig einen weiteren teuflischen Unedlen martern konnte. Jeder bekam von ihm, was er verdiente, und das trotz ihrer Gegenwehr. Er übergab Malbolge an Baalzebul, um Luzifer im letzten Augenblick vor dem Tod zu quälen – und entriss es ihm später wieder, um einen anderen zu der Größe zu erheben, welche eigentlich mir gebührt hätte!« Nergals Tonfall steigerte sich zum Gebrüll, und brutale Tentakel schüttelten Elminster wie eine Lumpenpuppe. »Und es wird mir gehören, als ein kleiner Teil dessen, was ich einst besitzen werde.« Der Zorn in Nergals Stimme schwand, als der Teufelsfürst hinzufügte: »Und nachdem Ihr in meine Klauen gefallen seid, wird dies nun eher geschehen als davor.« Sein vielzähniges Grinsen verbreiterte sich. »Ich sollte Mystra danken. Jahrelang hat sie sich an Euch zu schaffen gemacht und Euch im Gegenzug zu jemandem geformt, welcher sich einmischt ... und das alles, um Euch für mich nützlich zu machen. Ihr seht, alter Elminster, dass Ihr zu guter Letzt wichtig sein werdet. Was sagt Ihr dazu?« Trotz des erstickenden Blutes gelang es dem Zauberer, bebende Worte hervorzuwürgen. »Meine Nützlichkeit lässt nach ... je mehr Ihr ... meinen Körper zerstört.« Nergal warf den Kopf in den Nacken und brach in brüllendes Gelächter aus, während sich Tentakel zu geschickten Pfeilen schleimigen Fleisches verlängerten und vorwärts schossen. 40
Elminster knirschte mit den Zähnen und schüttelte in dem vergeblichen Versuch, ihnen auszuweichen, den Kopf. Stattdessen stieß der Teufelsfürst die Tentakel ungehindert durch Elminsters Nasenlöcher, nach unten und hinein in den Rachen des Zauberers. Der alte Magierfürst spürte Klauen, ein furchtbares Reißen – und dann floss noch mehr Blut. Der Teufel warf das blutige Stück Fleisch, das einst Elminsters Zunge gewesen war, beiseite, verpasste dem Zauberer einen Schlag, der ihm den Kopf herumwarf, und stillte gleichzeitig das hervorquellende Blut, welches Elminster zu ersticken drohte. »Ihn zerstören? Wozu braucht Ihr eine Zunge, wenn wir uns doch mittels Gedanken verständigen können. Ich kann Euch die Augen ausstechen und jedes einzelne Eurer Organe herausreißen – meinethalben sogar Eure gepfefferte und gesalzene Leber fressen – und Euch dann mittels meiner Magie wieder zusammenflicken. Ihr seid dumm, Mensch! Wir befinden uns in der Hölle, und an diesem Ort können Teufelsfürsten alles bewerkstelligen!« Mit Erfolg kämpfte Elminster darum, eine Augenbraue ungläubig heben zu können. Die Augen, welche in die seinen starrten, flammten wütend auf, und Tentakel erhoben sich zu einem bedrohlichen Fächer. Erhoben sich, schossen vor und sanken dann wieder zurück. Nergal bedachte seinen Gefangenen mit einem Nicken, welches reumütiges Bedauern ausdrückte, und lächelte dazu eisig. 41
»Nun, so lasst es uns denn folgendermaßen ausdrücken: Alles, was ein anderer Teufelsfürst nicht in der Lage ist zu verhindern, was?« Die Tentakel setzten Elminster ab und lehnten ihn gegen einen Felsen so scharf wie Glassplitter. Der Alte Zauberer rutschte ein Stück nach unten, winselte trotz all seiner anderen Schmerzen auf und mühte sich in eine sitzende Stellung. Nergal bewegte sich vor und zurück, und sein Stelzen erinnerte sowohl an eine Katze wie auch an eine Schlange. »Von uns Ausgestoßenen gibt es ein Dutzend, und acht von uns verfügen über genug Macht, um zum Beispiel jemanden wie Mammon herauszufordern, wenn es sich dabei um einen Kampf Mann gegen Mann ohne den Einsatz von Armeen handeln würde. Untereinander empfinden wir alles andere als Freundschaft, und Asmodeus weiß, dass unsere gegenseitige Achtung auf Grimm beruht. Wir lauern als Rivalen in den Höhlen und Felsschluchten von Awernus und schmieden unsere persönlichen Verschwörungen gegen die herrschenden Teufel – und weichen den Streifen aus, denn selbst Stechmücken haben die Macht, ihre Opfer zu schwächen und zu ärgern.« Der Teufelsfürst mit den Tentakeln kam kurz vor seinem zusammengebrochenen Gefangenen zum Halten und ragte dunkel und riesig vor dem Zauberer auf. Aus seinem Fleisch schossen Widerhaken und Klauen wie die Flossen kreisender Haifische, und sie breiteten sich hungrig bis in die Spitzen seiner Halskrause 42
aus Tentakeln aus. Zähne, welche lang genug zu sein schienen, um als Fänge bezeichnet zu werden, blitzten auf, als der Ausgestoßene ein alles andere als erfreuliches Lächeln aufsetzte. »Menschen und Teufel unterscheiden sind in mancher Hinsicht gar nicht so sehr voneinander, und deshalb werdet Ihr wissen, wonach wir Ausgestoßenen hungern: nach Macht. Wir suchen allezeit danach, bewaffnet mit unserer Magie. Teufel mit eigenem Willen vermögen so bereitwillig nach Magie zu greifen und sie anzuwenden, wie Menschen atmen. Und wir haben etwas, das den Fürsten der Neun niemals zur Verfügung stehen wird, nämlich freie Zeit. Mit meiner Zeit und meiner Zauberkraft beobachte ich Euer an Zauberei reiches Toril.« Nergal kreuzte die Arme, auf welchen eine glitzernde Ansammlung kleiner, zwinkernder, menschlich wirkender Augäpfel schwamm, und richtete ihr mannigfaltiges Starren auf Elminster aus. »Wesen der Macht beschäftigen mich, von den kümmerlichen Meistern Eurer Diebesgilden über die Drachen und Lurche, die lebenden Toten von Faerun, die über höchstens ein Zehntel der Zauberkraft verfügen, welche sie zu haben glauben.« Mit einem Grinsen, welches menschliche Kiefer gesprengt hätte, nahm der Teufelsfürst sein Hin-und-herWandern wieder auf. »So benutze ich meine Zauber dazu, die Faeruner auszuspionieren, welche über Macht verfügen. Viel43
leicht erweisen sie sich eines Tages als nützlich. Euch habe ich über einen langen Zeitraum beobachtet, Elminster Aumar. Lange Zeit habe ich gedacht, Ihr wärt der Schlüssel. Nicht, weil Ihr auch nur halb so mächtig seid, wie Ihr glaubt, oder auch nur der würdige Gegner im ehrlichen Kampf gegen ein Spinagon ... Sondern weil Ihr mein Schlüssel seid, um an Mystras Macht über die Zauberkunst zu gelangen. Durch Euch wirkt sie in sehr starkem Maße, und ihre Macht könnte, wenn man sie denn passend umformt, die Hölle bis in ihre Grundfesten erschüttern ... und ich gewönne die Herrschaft über alle Magie und in gewissen Maß auch über diejenigen, welche sie wirken.« Wieder lachte Nergal. »Dieser Tumult über Shade weckte gerade zur rechten Zeit meine Aufmerksamkeit und sorgte dafür, dass Ihr mir in die Klauen gefallen seid. Um die Macht dieser Dame zu erlangen, welcher Ihr dient, oder mich zumindest der Fähigkeit zu bemächtigen, sie aufzurufen und zu beherrschen, muss ich nur noch Euren Willen brechen.« Tentakel schabten Elminster von dem Felsen und hielten ihn mit lässiger Leichtigkeit in der Luft. Ein einzelner Tentakel stieß auf ihn nieder und ließ das linke Auge des Alten Zauberers wie ein rohes Ei zerplatzen. Nach einem kurzen Aufruhr schwimmender Helligkeit konnte Elminster wieder sehen – wenn auch undeutlich und durch einen Nebel aus Blut. »Seht Ihr? Ihr könnt nicht einmal von mir umgebracht werden«, gurrte Nergal so zärtlich wie ein Liebhaber dicht vor Elminsters Gesicht. 44
»Wenn es mir gelingt, Euren Geist zu verstehen, werde ich Macht über das silberne Feuer, all Eure kleinen Zauberbanne und Lieblingszauber erlangen, zudem noch über den gesamten Vorrat Eurer Erinnerungen. Und Letzterer ist der Schlüssel zur Herrschaft über Toril mittels Zauberkraft. Ich werde Toril zu meinem eigenen Königreich formen, zu einer Hölle, welche weit über das Maß der Hölle hinausgeht, wie sie jetzt besteht.« Finger so heiß wie rot glühendes Eisen packten Elminsters Wangen. Die gegabelte Zunge des Teufelsfürsten schoss hungrig vor, und er beugte den Kopf, um den hilflosen Zauberer zu küssen. Die Tentakel schienen sich plötzlich zu Ketten zusammenzuziehen, welche Elminster jede Bewegungsfreiheit raubten. Nergals Lippen schienen aus Eis zu bestehen, und eine sengende Kälte raste durch Elminsters zerstörten Mund und seine zertrümmerte Nase. Er versuchte, etwas zu murmeln und vor seinem Bedränger zurückzuweichen, ohne jedoch das Geringste ausrichten zu können, bis ihn der Teufelsfürst mit einem hämischen Grinsen losließ. »Schmeckt meinen Gedankenwurm, Magierfürst. Einen Zauber, welchen ich selbst entwickelt habe, um Euch Eure Erinnerungen zu nehmen und zu lernen, wie Ihr Mystras Macht anruft und benutzt. Ich werde erfahren, was Ihr über Dinge und Wesen in Faerun wisst, welche über Macht verfügen, auf dass ich mich ihrer bemächtige und sie selbst nutze. Selbst45
verständlich wird jede Erinnerung, welche ich gewinne, für den weisen alten Elminster verloren sein. Zuletzt wird von Euch nichts weiter übrig bleiben als ein kriechender, sabbernder Idiot, welcher sich nur noch daran erinnern kann, einst mächtig gewesen zu sein ... einst, bevor Ihr Nergal begegnet seid.« Der Teufelsfürst brach in brüllendes Gelächter aus, und vorschnellende Tentakel berührten Elminster hier und da und schickten kleinere Zauber durch ihn hindurch, bis der nackte, erschöpfte Mann wieder stehen konnte. Mit einem schlurfenden Taumeln, welches ihn vor Schmerz aufkeuchen ließ, versuchte er zu entkommen. Tentakel peitschten sein immer noch rohes Fleisch und zwangen ihn dazu, sich zu bewegen. Elminster versuchte verzweifelt, aus der Reichweite der grausamen Tentakel zu gelangen, wobei er eine blutige Spur hinterließ. VORWÄRTS, befahl Nergals spöttische Stimme tief in seinem Geist. DIE WUNDER VON AWERNUS WARTEN. ICH BEHERRSCHE EUREN GEIST UND WERDE SEHEN, WAS VOR MIR FLIEHEN ODER SICH VOR MIR VERSTECKEN WILL ... UND ICH WERDE IN EUREM INNEREN LEBEN ALS ÜBERRASCHUNG FÜR JENE, WELCHE EUCH ÜBEL WOLLEN. SO WANDERT DORTHIN, WOHIN ES EUCH GELÜSTET, MÄCHTIGER ZAUBERER. Elminster erschauerte. Zwar mochte er nicht länger zerbrochen sein, aber der Schmerz von hunderten kleinerer Verletzungen hielt ihn noch immer in seinen Klauen. Die Fähigkeit, seine Zauberkraft zu nutzen oder mit Mystra in Verbindung zu treten, stand ihm offenbar 46
nicht länger zur Verfügung. Alles, was er tat, würde dem Teufelsfürsten enthüllt, der in seinem Geist saß. In dem Augenblick, in welchem ihm der Teufel auch die letzte seiner Erinnerungen raubte, würde der Alte Zauberer verloren sein ... und mit ihm ganz Toril. Ihm stand es frei, die Hülle seines Körpers kreuz und quer über ganz Awernus zu schleppen, falls man denn von Freiheit sprechen mochte. Er hatte bereits genug von Nergals forschenden Gedanken verspürt, um zu wissen, dass der Teufel, welcher sich seiner bemächtigt hatte, Spaß daran fand, einen Geist zu zerstören. Der alte Zaubermeister stolperte davon und bewegte sich, ohne das Geringste zu spüren, einen nackten Felsgrat hinauf. Während er so vor sich hin taumelte, erbebte der Boden unter seinen Füßen, und eine heiße Flamme schoss in den Himmel. Sie jagte einen wild mit den Flügeln schlagenden Abischai schreiend in die Flucht. Die scharfen Felsen schnitten in seine Füße, und er winselte vor Schmerz, aber schließlich erreichte er die Spitze des Felsgrates und schaute über ein Ödland aus Felsen. Dort draußen schlichen Spinagons und Abischai umher und knurrten sich an. Weiter hinten dräute eine hohe Klippe, auf der sich Teufel versammelten. EIN SUCHTRUPP. WERFT EUCH ZU BODEN. Elminster blieb bewegungslos stehen und schaute einmal in diese, dann in jene Richtung. Der richtige 47
Augenblick war gekommen, um Nergals Griff zu überprüfen. Ohne Warnung überschwemmte Übelkeit seinen Körper, als ob sich ein Aal oder eine Schlange in seinem Inneren krümmte. Der Prinz von Athalantar stürzte auf unnachgiebigen Stein und prallte aufgrund der Wucht seines Sturzes einmal zurück. GEHORCHT, GROSSER ZAUBERER. DENKT DARAN, DASS ES ERHEBLICH SCHMERZHAFTERE MITTEL GIBT, EUCH ZU ZÄHMEN. Elminster erschauerte. Bei seinem Sturz war er mit den Händen zuerst in ein Dickicht aus Dornen gefallen. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, als er sich damit abmühte, die Stacheln aus seinem Fleisch zu ziehen, und er fragte sich, wie irgendetwas in diesem öden Reich aus Fels zu überleben vermochte. Was aßen Teufel? Vielleicht einander, aber wie pflanzten sie sich in ausreichender Zahl fort, um die Ernährung dieser Haufen von ... DER SPIRALZAUBER ERNÄHRT UNS. Der was? EINES DER KLEINEN GEHEIMNISSE DER HÖLLE: DER ZAUBER WANDERT MAL HIERHIN, MAL DORTHIN. ER WURDE VON NIEMANDEM GEWIRKT. ES HAT SIE SCHON IMMER GEGEBEN, KLEINE STRUDEL ZUSCHNAPPENDER ZAUBER, WELCHE WASSER, LEBEWESEN UND DINGE AUS ANDEREN EBENEN STEHLEN UND SIE DANN ÜBER EINE SPALTE IM FELSRINNEN LASSEN. DIE SPIRALZAUBER LIEFERN UNS NAHRUNG. UND SCHÄTZE. Elminster seufzte, schüttelte den Kopf und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Es gelang ihm, sich auf Hände und Füße zu kämpfen, dann spürte er wieder das prickelnde Gefühl. Elminster fiel nach vorn und 48
aufs Gesicht und kratzte mit blutenden Fingern an dem Felsgestein. BLEIBT UNTEN UND BEWEGT EUCH SO WEITER. Damit war jeder Gedanke ans Gehen hinfällig. Elminster seufzte, was wie ein heiseres Krächzen klang, und begann zu kriechen. Ein Feuerball raste über den Himmel, und der Boden erbebte von neuem. Er stand auf den windumtosten Zinnen einer Burg, welche nicht länger existierte, und beobachtete, wie sich etwas in dem von Schnee bedeckten Garten tief unter ihm rührte, um sich dann plötzlich zu erheben. Das Ding entledigte sich einer dicken Schicht Schnees, streckte eine schuppige Klaue aus – Hinein in eine dunkle, trübe beleuchtete Halle, wo Gerippe zusammengesunken in hohen Sesseln mit bogenförmigen Lehnen hockten, während ein blasser Schimmer über ihre knöchernen Finger huschte, als die Zauberbanne in den Ringen, welche sie trugen, endgültig erstarben und Zauber freisetzten, welche gewirkt worden waren, bevor Alaundo geboren wurde ... Die forschende Kraft in seinem Geist gab nach, und er befand sich wieder auf Awernus. Ein zorniges Brüllen hallte durch seinen Geist. BEI DEN SENGENDEN FEUERN! IN EUREM GEIST ... HERRSCHT VOLLKOMMENE UNORDNUNG! Elminster stellte fest, dass er wild grinste, und er versuchte, einen fest umrissenen, klaren Gedanken zu der in seinem Inneren herumwandernden Empfindung zurückzusenden. 49
Selbstverständlich. Ich bin ja auch ein Zauberer. Ohne ein weiteres Wort traf ihn ein Schlag, welcher aus der Dunkelheit seines eigenen Geistes stammte. Seine Wucht ließ Elminster taumeln, und er wusste nicht, ob die Feuchtigkeit, welche er fließen spürte, nun Blut oder Tränen sein mochte. Er schrie unwillkürlich oder versuchte es zumindest, und schüttelte einen Kopf, den er nicht besaß ... Verzweifelt floh der alte Magierfürst unter den tröstlichen Schutzmantel ganz tief in seinem Inneren, drehte einen Fels nahe seinem Herzen um und wärmte für einen ganz kurzen Augenblick seine Hand an dem Silberfeuer, welches sich darunter verbarg. Dann fühlte er sich wieder ruhig und erhob sich in der samtenen Dunkelheit seines Geistes, schritt weiter voran, teilte Schleier, bis er wieder den blutroten Himmel von Awernus sah. Nahe dem Horizont erblühte ein weiterer Feuerball. WAS HABT IHR GETAN? DAS FEUER – IHR HABT MYSTRAS FEUER BENUTZT! GEBT ES MIR! Schweigend kroch Elminster weiter und versuchte, über die Felskante zu gelangen, bevor ihn das schreckliche Bedürfnis überwältigte, zurückzublicken und in Nergals glühendes Gesicht zu schauen. Der ausgestoßene Teufel stand mit überkreuzten Armen da, und seine Augen loderten wie Flammen. Seine Tentakel erhoben sich zitternd rings um seinen Kopf, zum Zustoßen bereit. BEUGT EUCH MEINEM WILLEN, MENSCH! brüllte die Stim50
me in Elminsters Kopf. ZEIGT MIR, WIE IHR DAS SILBERFEUER HERAUFBESCHWÖRT!
Elminster kroch weiter, wieder blind für den Anblick, welchen Awernus bot, und zwang sich den Gedanken an alles verhüllende Dunkelheit ins Gedächtnis, von Nächten, in welchen er düstere Waldwege entlangstolperte, an Momente, welche er, in triefend feuchten Gräbern herumwandernd, vergeudet hatte ... Hinter ihm flammte Helligkeit auf, dann folgte schrille Katzenmusik. Nergal kam heran, krallte durch Elminsters Erinnerungen, riss eine nach der anderen beiseite, bis er das entdeckte, was er in den dunklen, labyrinthartigen Tiefen eines Zauberers suchte, welcher dazu verflucht war, nichts zu vergessen. Fahnen loderten auf in einer Schlacht unter hellem Sonnenlicht, vor langer Zeit ... Elminster, welcher Steine zur Seite schob und sie herumdrehte, um das darunter befindliche Feuer zu enthüllen – das Feuer rauchenden Drachenblutes, welches Augenblicke zuvor in einem Zauberduell vergossen worden war, das – NEIN! NICHT DIESE ERINNERUNG! ICH MEINE DAS SILBERFEUER, ERBÄRMLICHER WURM! Silberfeuer. Es rann durch seine Finger, vermischt mit Tränen auf einem anderen Schlachtfeld, und er hielt eine sterbende Elfenfrau in den Armen. Ihr Kopf war zurückgesunken, und ihre wunderschöne Kehle arbeitete, als silbernes Feuer aus ihr herausquoll wie glühender Rauch, welcher niedersank und von ihren Fingerspitzen auf das Gras rings um sie beide schwebte, aufleuchtete und verschwand ... 51
JA! MEHR DAVON! ZEIGT MIR, WIE DAS SILBERFEUER BENUTZT WIRD!
Rasendes Silberfeuer, welches hungrig in die Höhe schoss ... JA! ZEIGT MIR MEHR! ZEIGT ES MIR! Silberne Flammen tosten über hundert ungläubige Gesichter und heulende Schädel, als Augen zischend schmolzen, Hände sich inmitten des brüllenden Feuers vergeblich nach Hilfe suchend ausstreckten und schlanke, anmutige Finger mit langen Nägeln sich um nichts schlossen ... EIN MORDEN? MITTELS MYSTRAS FEUER? ZEIGT ES MIR! Obwohl ich den Gedanken daran, etwas von meiner Geliebten zu verlieren, kaum ertrage, kann ich ohne ihre Erinnerung an Orlugrym leben, jawohl ... ZEIGT ES MIR, ZAUBERER! ZEIGT ES MIR! Wirbelnde, knurrende Spiralen silberner Flammen um tausend Türme, taumelnde Drachen und das grimmige, königliche Gesicht einer Frau ... (chaos im geist lichtet sich) Sie verschwand in einem Wirbel aus Röcken. Der Rote Zauberer lächelte. Wie ein eifriger Schatten trat er hinter der Säule hervor. Die Simbul mochte zwar eine halbe Welt entfernt sein, doch diese ihre Schülerin würde ausreichen. Oh ja. Wieder hörte Elminster dieses leise Seufzen in seinem Geist. Es erinnerte eher an ein leises Flattern, bei52
nahe an eine Liebkosung, und glich in keiner Weise dem Tasten eines den Geist zerreißenden Zauberbannes, welchen er erkannt hätte. Nein, hier handelte es sich um etwas ganz anderes. Etwas, das sich ... zufrieden anfühlte. Jetzt zog es sich zurück und verschwand. Eine Untersuchung, die dieses einsame, davoneilende Mädchen in dem dunklen Gewand ausgesendet hatte? Ganz bestimmt nicht. Sie hatte nicht einmal innegehalten oder Anzeichen von Vorsicht gezeigt ... oder irgendein Bewusstsein für das, was um sie herum geschah. Die Maid strebte eilig und mit nachdenklich hochgezogenen Augenbrauen über den engen Flur von ihm weg, wobei sie die Arme um ihren Körper geschlungen hatte. Zweifellos erfüllte die Schöne einen Auftrag, welcher ihr wichtig erschien. Ihr Auftrag glich bestimmt in keiner Hinsicht dem seinen, welcher darin bestand, etwas aus den persönlichen Gemächern der Hexenkönigin von Aglarond zu stehlen. Nun, warum sollte dies nicht das Gewand sein, welches die Schülerin am Leibe trug? Auf Orlugryms Gesicht zeichnete sich ein aalglattes Lächeln ab. Sie sah hübsch aus, diese Schülerin. Er konnte zuerst seinen Spaß mit ihr haben. Er hob eine Hand und murmelte einen anderen Zauberspruch als den, welchen er eigentlich hatte anwenden wollen. Vor ihm erstarrte die Schülerin und gefror mitten in der Bewegung, wobei die Röcke ihres Gewandes leise zurückschwangen. »Umdrehen«, befahl er ihr leise und trat auf sie zu. 53
»Bietet Euch mir an.« Smaragdgrüne Augen blickten gleichermaßen erstaunt wie erschrocken in die seinen. Er erwartete einen Schrei oder einen rasch geschleuderten Zauberbann, aber sie schaute ihn nur stumm und aus großen Augen an, schluckte erkennbar und glitt auf ihn zu. Die junge Frau hob im Herannahen den Kopf, und ihre zitternden Finger nestelten an den Bändern ihres Mieders herum. »J-Ja«, murmelte sie, als ihre Körper sich berührten. »Jaaaa.« Orlugryms Lächeln verfestigte sich, als sie sich in der Hüfte zurückbeugte, das schwarze Tuch wegzog und ihm ihre nackten Brüste enthüllte. Seine Augen senkten sich auf ihre weiche Haut – und sahen, dass sie silbern schimmernd aufglänzte. Silber, welches ihn plötzlich blendete. Er taumelte zurück und fand sich Auge in Auge mit einem Gesicht wieder, welches zu schmelzen und zu zerfließen schien, und er sah Haar, welches sich wie ein Schlangennest wand ... und rote Augen, welche er kannte ... so wie alle Roten Zauberer. »Warum so unbeständig, Orlugrym?«, fragte die Simbul leise und ohne jede Spur von Spott. »Noch vor einem Augenblick wart Ihr Eurer Absichten so sicher, und in Eurem Geist gab es keine Pläne außer Eurem kühnen Überfall. So beweist denn Eure Tapferkeit. Umarmt mich. Nur wenige unter Euresgleichen können sich dessen rühmen. Kommt her zu mir.« Orlugrym zitterte, als er seinem Verhängnis ins Ge54
sicht blickte. Schlanke Arme breiteten sich aus, um seine eigenen zu umfangen. Tödliche Lippen teilten sich, während sie sich auf die seinen zubewegten. »Alles, was Ihr im Leben tun müsst, Orlugrym, wenn Ihr es behalten wollt, besteht darin, Euch selbst treu zu bleiben – falls Ihr denn wisst, wer Ihr seid.« Ihre Körper berührten sich, und seine Welt verwandelte sich in ein brüllendes, rasendes Flammenmeer aus verzehrendem Silber, welches hochschoss und alles erfasste. Orlugryms letzte Erinnerung zeigte ihre Lippen, welche körperlos inmitten des Silberfeuers auf ihn zutrieben, sich begierig teilten und ... Elminster seufzte. Dies waren Alassras Erinnerungen, welche sie mit ihm geteilt hatte, und keineswegs seine eigenen. Aber sie zu verlieren und sich dessen bewusst zu sein, schmerzte doch. Die Erinnerung floh seinen Geist, und der Zaubermeister wusste nicht länger, dass er sie geteilt hatte. Lange zuvor hatte er dieses benommene Gefühl der Leere schon einmal gespürt, vor langer Zeit, und wo befand sich diese Erinnerung? Ach, hier war sie auch schon. Teufelsfürst, ergötzt Euch an der Vorstellung. Silberne Flammen und treibende Finsternis wie Umhänge, welche von trägen, nicht länger von der Sonne beschienenen Wogen bewegt werden ... WAS? Elminster konnte das Erstaunen... nein, die Verblüffung in Nergals Stimme geradezu spüren. Verwirrung. Ja, liefert ihm Verwirrung über zauberi55
sche Angelegenheiten und silbernes Feuer und Mystra selbst ... Mystra, ja, drei Schnipsel göttlicher Erinnerung, welche in seinen eigenen Geist geträufelt war in einem Augenblick geteilter Leidenschaft. Erinnerungen an Khelben und an silbernes Feuer ... Brüllendes, gefräßiges Silberfeuer ... JA. SILBERNES FEUER! DIE GEHEIMISSE DES SILBERNEN FEUERS! BEUGT EUCH MEINEM WILLEN, ELMINSTER AUMAR! ENTHÜLLT ALLES! Dunkelheit wurde hinweggeblasen wie die umfangreichen schwarzen Gewänder des Zauberfürsten von Tiefwasser, welche sich hinter ihm aufblähten. Er glitt wie eine unbeholfene Aaskrähe über den Türmchen, Zinnen und Dächern der stolzen Stadt dahin. Sein grauweißer Bart kräuselte sich im Wind, so schnell schoss der Fürst dahin. Seine Augen glitzerten so hart wie Dolchspitzen, während er nach einem weiteren Aufblitzen der Magie suchte, welche tief unten missbraucht wurde. Er zuckte die Achseln und sank wie ein rachsüchtiger Pfeil auf einen vertrauten Turm nieder: den Schwarzstabturm. Dort wartete Laeral, und in ihren Augen würde der Glanz aufschimmern, welcher ihm allein vorbehalten blieb ... Eine andere Nacht, Jahre später ... In Tiefwasser lagen Khelben und Laeral im Bett und hielten einander in den Armen. Sie sprachen ruhig über die Dinge, welche am Tag erledigt werden mussten, 56
und Pläne, welche es zu schmieden galt. Sie schauten zu den sommerlichen Sternen über ihren Köpfen hoch. Der Zauberfürst von Tiefwasser hegte einige Empfindlichkeiten, und eine davon betraf die gewölbte Decke des Schlafgemachs. Tausend Sterne funkelten darauf, ein genaues Abbild des klaren Nachthimmels darüber, selbst wenn Nebel, Schnee oder Wolken den richtigen Himmel allen Blicken entzogen. Beide fühlten sich heute Nacht ruhelos. In ihren Körpern begann es zu jucken, ein Kribbeln überlief alle beide und wollte nicht aufhören. Khelben runzelte die Stirn, als ein besonders hartnäckiges Jucken seinen Körper erfasste. Beide murrten verstört und kratzten sich heftig. »Heute Nacht bewegt sich viel Macht«, meinte er und starrte hoch in die Dunkelheit. »Mystras Macht – oder Zauberkunst, welche sie beeinflusst. Was denkt Ihr darüber?« »Irgendetwas geschieht mit unserer Herrin, dessen bin ich mir gewiss«, stellte Laeral fest. »Seht nur uns beide an.« Sie griff nach seiner Hand zwischen ihren beiden Leibern und hielt sie hoch. In der Dunkelheit schimmerten ihre bloßen Arme in einem gespenstisch blauen Widerschein. Während sie noch hinsahen, schien das Licht zu pulsieren, heller zu werden, wieder zu verblassen und dann wieder zuzunehmen. Die Regungen in ihren Körpern spiegelten die Veränderungen des Scheines wider. 57
»Sollten wir vielleicht versuchen, mit der Herrin zu sprechen?« Khelben verhielt sich selten unentschlossen, aber in diesem Moment fühlte er sich unsicher und verwirrt. Die Fürstin schüttelte den Kopf, wobei ihr das lange, lockige Haar schwungvoll über die Schultern floss, als sei es lebendig und von der erwachenden Zauberkunst im Inneren der Frau bewegt. »Nein«, antwortete sie, »denn wir würden ihren Willen vielleicht zu einer gefährlichen Zeit stören. Sie wird uns berühren, sollte sie uns brauchen.« Laeral schürzte die Lippen und neigte den Kopf zur Seite, wobei ihr nachdenklicher Blick auf ihm ruhte. »Aber wenn wir nun mit meinen Schwestern oder Elminster in Verbindung träten?« Khelben zuckte die Achseln. »Vielleicht wäre das gut. Aber ich zweifle nicht daran, dass sie ebenfalls fühlen, was wir spüren, und wenig mehr wissen. Vielleicht wäre es auch gefährlich, wenn wir in Verbindung stünden und die Herrin unsere Macht aufriefe oder welche in uns hineinfließen lassen würde. Ich weiß nicht, was wir tun können ... nie zuvor habe ich einen solchen – Aufruhr von Zauberkunst verspürt.« »Ich auch nicht«, stimmte ihm Laeral leise zu und nahm ihn fest in ihre Arme. Sie hielten einander unter dem Sternenhimmel wie zwei verirrte Kinder, welche sich gegen die Kälte zusammendrängen, und warteten. Manchmal können selbst Zauberfürsten nichts anderes tun als abwarten. 58
Tanzendes Silberfeuer, ein kleiner Kreis in der Dunkelheit über einem stillen Teich mitten in einem Wald, in welchen noch nie zuvor ein Mensch einen Fuß gesetzt hat... HÖRT AUF, SPIELCHEN MIT MIR ZU TREIBEN, MENSCH! Der Zorn in Nergals Geist-Stimme übertraf das Erstaunen des Teufels. WIE KOMMT ES, DASS IHR MIR ERINNERUNGEN ZEIGT, WELCHE UNMÖGLICH DIE EUREN SEIN KÖNNEN? Teuflische Gedanken rasten durch Elminsters Geist, dunkel und wild. WIE KÖNNT IHR ÜBERHAUPT VON SOLCHEN DINGEN WISSEN? Aus Nergals sich windenden Gedanken klang Furcht, so kalt wie Stahl. Einen Augenblick darauf pflügte der Teufelsfürst wie ein Drache durch Elminsters Geist, welcher nichts als Angriff und Morden im Sinn hat, ganz gleich, welches Chaos daraus entstehen mag. Durchgänge zerbarsten, Decken stürzten ein ... SAGT ES MIR, ZAUBERER! EURE ZUNGE VERMAG ZU LÜGEN, DESHALB HABE ICH SIE EUCH GENOMMEN, ABER HIER KÖNNT IHR EUCH NICHT VOR MIR VERSTECKEN ODER MICH TÄUSCHEN! SAGT ES MIR! Als Nergal herankam, glühte alles in hellen Blitzen blutrot auf. Elminster wurde undeutlich bewusst, dass er Blut auf die Felsen spie, über welche er kroch. Der Schmerz ließ seine Vorstellung von dem heranstürmenden Drachen aufschimmern und wieder verblassen, aufschimmern 59
und verblassen. Der Schmerz. Er ließ sich in den Schmerz hineinfallen und sank dankbar immer tiefer, als tauche er auf den Grund eines kühlen Gewässers. Der Drache verfolgte ihn, streckte die Klauen aus und riss die Kiefer auf ... Elminster taumelte tiefer in seine Erinnerungen, schrie bedeutungslose Worte, als sei er von Sinnen, und wickelte sich in eine Rüstung, welche aus seinen eigenen Schreien gemacht war. WERDET MIR BLOSS NICHT VERRÜCKT, MAGIER! WAGT ES NICHT, VERRÜCKT ZU WERDEN! Tief im Herzen seiner Schreie musste Elminster grinsen. Ich darf es nicht wagen, verrückt zu werden, wie? Oder was meint er? Eine scharfe Stichelei aus einer anderen Welt kam zu ihm wie ein helles Glitzern. Der Alte Zauberer nahm sie in die Arme, während er immer tiefer taumelte und der Drache auf seinen Fersen herandonnerte: Nur einer von uns beiden wird diesen Raum lebendig verlassen, und das werde nicht ich sein.
60
3. Der Tag, an welchem die Magie starb
Über dem Küchentisch in Elminsters Turm in Schattental tanzte flackernd eine Flamme zwischen zwei Zauberinnen. Beide runzelten zitternd vor Anstrengung die Stirn. Die Flamme nährte sich von schierer Luft. Ihr lebhaftes Blau mischte sich mit Purpur und ein wenig Grün, und sie schien verlöschen zu wollen, obwohl die Simbul und Jhessail, welche sich über den Tisch beugten, ihr Möglichstes taten. Beiden Frauen rann der Schweiß über Wangen und Kinn. Die Luft zwischen der Königin von Aglarond und der erheblich weniger in der Zauberkunst bewanderten Ritterin von Myth Drannor knisterte vor heraufbeschworener Magie. In der Nähe saß die Bardin von Schattental und starrte ruhig in die Flamme der Weissagung. Elminsters Schreiber, Lhaeo, sah, eine vergessene Kanne kalten Tees in den Händen, von einer Ecke des Zimmers aus zu. Der Getreue konnte einen langen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als sich das Gesicht der Bardin erhellte. Ohne den Blick von der Flamme zu heben, erklärte 61
Sturm Silberhand: »Die Frau dort – ja, das ist Scharantyr, und sie lacht und jagt hinter jemandem her.« Jhessail runzelte die Stirn. »Sie lacht und –? Wen sollte sie umherjagen und dabei lachen?« »Elminster«, antworteten Lhaeo und die Simbul tonlos und wie aus einem Mund. Auf den Gesichtern der beiden zeichnete sich ein wissender Ausdruck ab, und Jhessail prustete los. Alle im Raum mussten ebenfalls lachen – einschließlich eines schwachen, geisterhaften Kicherns, welches aus der leeren Luft zwischen Sturm und der Simbul erklang und von ihrer gespenstischen Schwester Sylune stammte. Mitten in all der Fröhlichkeit verlor Sturm die Verbindung. Sie breitete hilflos die Arme aus, als die Flamme in eine dahintreibende Wolke blitzender purpurner und blauer Funken zerbarst, die sich in nichts auflösten. Die junge Frau schüttelte den Kopf, seufzte und setzte sich zurecht, wobei sie sich erschöpft die Schläfen rieb. »Gut gemacht, ihr beiden«, sagte sie, »wenn man bedenkt, wie unzuverlässig die ganze Zauberkunst geworden ist.« »Wir drei«, berichtigte die Simbul. »Sylune hat den Brennpunkt beigesteuert.« Sturm lächelte, als kühle Lippen über ihre Wangen streiften. »Meinen Dank, Schwester«, sagte sie in die leere Luft. »Wo sind sie?«, fragte Jhessail und lehnte sich vor, um ihr eine Karaffe hinzuschieben. 62
Die Bardin zuckte die Achseln. »Irgendwo südwestlich von hier, mehr im Süden, glaube ich. Vielleicht in Kormyr. In der Nähe müssen Berge sein, und unter Umständen befinden sie sich in einer Burg oder sonst einer befestigten Anlage.« Die Simbul runzelte die Stirn. »Im Hochtal? Oder der Donnerspalte?« Sturm blickte sie an und zog ebenfalls die Augenbrauen hoch. »Nein, Schwester. Ihr müsst nicht das Wagnis eingehen, selbst nach ihnen Ausschau zu halten. Die Zauberenergie könnte Euch jederzeit verlassen, und Ihr würdet unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie lenken. Wir müssen hier sitzen bleiben und abwarten – wenigstens für dieses Mal.« Schaerl verzog das Gesicht. »Wenn Ihr eine Dame des Hofes seid, und das gilt sogar für Schattental, dann verbringt Ihr eine Menge Zeit damit, herumzusitzen und abzuwarten.« Illistyl bedachte sie mit einem raschen Blick. »Ich werde daran denken, wenn das nächste Mal Wäsche gewaschen werden muss. Ich könnte beizeiten ein zweites Paar Hände gut gebrauchen.« Sturm stieß ein Schnauben aus. »Genug, ihr beiden. Wir müssen die Sicherheit des Tales im Auge behalten. Überall im Norden verbreiten sich Gerüchte über heftige Stürme und Erdbeben, von Göttern, welche über die Erde wandeln, und ungezügelte Magie, welche losgelassen wurde. Viele der Harfner sammeln sich um mich. Was auch immer geschehen mag, Ihr könnt sicher sein, dass die 63
Zhentarim und andere – Mulmaster oder vielleicht gar Maalthiir von Hillsfar – das allgemeine Chaos ausnutzen und in den Krieg ziehen werden. Wir müssen bereit sein.« Alle starrten sie an, ausgenommen Illistyl, die sich zu Jhessail umwandte und bissig meinte: »Und Ihr sehntet Euch nach ein wenig Aufregung in diesem Sommer, nicht wahr? Und Ihr musstet diesen Wunsch auch noch laut aussprechen, was? Ihr –« Jhessail seufzte, wählte einen Apfel von passender Größe aus einer Fruchtschale auf dem Tisch und stopfte ihn mit einer schnellen, unerwarteten Bewegung in Illistyls Mund. Ihrer Schülerin gelang es noch, ein beleidigtes, gedämpftes Quietschen auszustoßen, bevor alle um den Tisch Versammelten erneut in herzhaftes Gelächter ausbrachen. SPIELT NICHT MIT MIR, ZAUBERLEIN! ALSO BELIEBT ES EUCH EIN WEITERES MAL, MIR EINE ERINNERUNG AUS DER ZEIT ZU LIEFERN, IN WELCHER IHR VERSCHOLLEN WART – WIRKLICH SEHR ERHEITERND! WIEDER EINE ERINNERUNG, WELCHE NICHT EURE EIGENE SEIN KANN, SONDERN EINE, DIE IHR MIT ANDEREN DIENERN DER MYSTRA TEILT! WLE SEID IHR AN SIE GELANGT? Dunkle Augen, so groß wie der ganze nächtliche Sternenhimmel und voller Geheimnisse, schauten herab ... die Herrin der Mysterien, ganz die seine ... Elrninster lächelte angesichts dieser Erinnerung, verlangsamte seinen Sturz und schwebte dann unbeweg64
lich mitten in der von Sternen durchwirkten Dunkelheit. Über ihm hielt Nergal ebenfalls wie eine riesige dunkle Klaue inne. Er lächelte dünn, während er seinen Zorn bezwang. Nun, sollte der erbärmliche Menschenzauberer doch seine Spielchen spielen. Jedenfalls noch für einige wenige Augenblicke. Also stammten die Erinnerungen von Mystra. Genau wie das Silberfeuer. Gut, Elminster sollte sich ruhig an mehr erinnern, was die Göttin anbetraf. Die Geheimnisse, nach denen der zukünftige Herrscher aller Höllen trachtete, würden unabwendbar enthüllt werden, lauerten sie doch gewissermaßen hinter der nächsten Ecke. Dieses hier, zum Beispiel ... Sterne fielen am nächtlichen Himmel über Schattental ... und die Menschen im weit entfernten Tiefwasser sahen die gleichen Sterne, während sie eher erstaunt als beunruhigt auf ihren Balkonen standen und flüsternd auf einen Turm über der Stadt zeigten, in welchem es einen hohen Raum mit einer Decke über dem Bett gab, auf der sich durch wunderbare Magie ein Himmel voller Sterne in der Unendlichkeit verlor ... Mit einem frisch geschnittenen Bündel duftender Kräuter in der Hand ging Sturm durch ihre Küche. Sie erstarrte und murmelte einen unterdrückten Fluch. 65
Die junge Frau war in schrecklicher Eile. Die letzte Bitte eines sterbenden Harfners hatte für eine Verzögerung gesorgt, Zaubersprüche vermochten die Zubereitung eines guten Eintopfgerichts nicht zu beschleunigen, und die braven Frauen des Tals würden bald ihre Kinder bringen, welche sich auf einen Abend mit Geschichtenerzählen freuten. Die Kleinen erwarteten, dass die Bardin von Schattental sie in einem netten Kleid empfangen würde und nicht in blutbefleckter Lederrüstung, welche erst unlängst von Schwertstreichen aufgeschlitzt worden war. Warum war ihr gerade jetzt die Erinnerung an die Suche nach Elminster ins Gedächtnis geschossen? Alassra und Jhessail hatten sie sehr bedrängt, das würde sie so schnell nicht vergessen, aber warum gerade jetzt? Sie runzelte die Stirn. Zwar stand sie hier allein in der Dunkelheit, aber an diesem Ort war sie nie wirklich allein. »Schwester?«, fragte sie die leere Luft. Sylunes Berührung kam wie die sanfteste aller Brisen. Sie spürte sie auf ihrer Wange und an der Schulter. Ja, erklang die geisterhafte Stimme in ihrem Kopf, ich habe mich gerade an die gleiche Nacht erinnert, und ich frage mich nach dem Grund. »Oh, mein Liebster« flüsterte Laeral mit bebender Stimme. Sie hielt Khelben in der sternendurchwirkten Dunkelheit ihres Schlafgemachs fest umklammert. »Ich konnte seinen Schmerz fühlen. Welch ein fürchterli66
cher Zustand, ganz der Zauberkunst entblößt zu sein!« »Ich stimme Euch zu.« Laeral spürte, wie sich der Zauberfürst von Tiefwasser in ihren Armen versteifte. Mit eiserner Selbstbeherrschung unterdrückte er einen Schauder. Um ihre Befürchtungen zu besänftigen, bewegte er sich mit eben der freundlichen Stärke, welche sie so sehr an ihm liebte. »Ich wünsche niemandem ein solches Schicksal, nicht einmal jemandem, der die Gewänder von Thay oder der Schlangen von Manschun trug, aber dennoch, meine Liebste, hat ihn unsere Herrin auserwählt. Von uns allen ist er der stärkste. Schon zuvor wütete mächtige Zauberkunst gegen ihn und richtete großen Schaden an – und er weilt bis zum heutigen Tag hier, um uns darüber zu berichten.« »Wenn es in den Königreichen irgendeinen Zauberer gibt, Welcher Mystras Macht halten und am Leben bleiben kann, um zu sehen, wie die Bürde weitergegeben wird – und der außerdem die Gier zu bezwingen vermag, sie zu beherrschen, und bei diesem Versuch auch nicht von ihr beherrscht wird – dann ist das Elminster von Schattental.« Khelben erschauerte und blickte mit weißem Gesicht Laeral an. Seine Augen wirkten vor Angst riesengroß und dunkel. »Meine Aufgabe wird darin bestehen, so viel von seiner Macht aufzunehmen wie nur möglich – und all die Stärke aufzubringen, die ich zu sammeln vermag. Wenn ihn die Kunst überwältigt und er sich in einen 67
ebenso wilden und grausamen Schurken verwandelt wie Manschun, dann wird es meine Pflicht sein, ihn zu vernichten.« Sie hielten sich in dem großen Bett fest in den Armen und weinten gemeinsam. Weder Khelben noch Laeral vermochten Worte des Trostes zu finden, die nicht hohl geklungen hätten. Nergal rührte sich. VERSUCHT IHR, EURE FREUNDE ZU WARNEN, ELMINSTER? GLAUBT IHR WIRKLICH, SOLCHE ERINNERUNGEN VERMÖGEN SIE zu ERREICHEN UND SIE ÜBER EURE GEFANGENSCHAFT AN DIESEM ORT ZU UNTERRICHTEN? GEBT ES AUF, IHR NARR – NICHTS VERLÄSST EUREN GEIST, ES SEI DENN DURCH MICH: ICH BIN DAS KLAFFENDE MAUL, DAS PORTAL, WELCHES VERSCHLOSSEN BLEIBT. VERZWEIFELT IN MEINER DUNKELHEIT UND ERGEBT EUCH. GEBT MIR EURE GEHEIMNISSE, KLEINER ZAUBERER, BEVOR ICH DIE GEDULD VERLIERE UND ALLES ZERREISSE AUF DER SUCHE NACH DEM, WAS ICH BEGEHRE. Silberne, fließende Flammen ... JA! MEHR DAVON! ZEIGT ES MIR, KRIECHENDER MENSCH! NERGAL BEFIEHLT ES! MEHR, ODER ICH SCHNAPPE MIT KLAUEN DER FURCHT NACH EUREM KLAREN VERSTAND! Kalte Furcht beim Wirken von Zauberbannen, Furcht, den Verstand zu verlieren ... JA! DESHALB ERGEBT EUCH BESSER! ERGEBT EUCH NERGAL! Die flackernde Flamme der Furcht in einem dunklen Raum, wo Magie in schlanken Fingern aufprasselte und versagte ...
68
Illistyl holte tief Luft und nahm sich erneut den Zauber vor. Nichts geschah – zum wiederholten Mal. Ihre Hände bebten. Niemals zuvor hatte ihre Zauberkunst versagt. Nun gut, sie hatte versagt, ein- oder zweimal, aber der Fehler hatte immer bei ihr gelegen, und mehr Sorgfalt oder beharrlicheres Üben hätten zum Erfolg geführt. Aber jetzt handelte es sich um etwas Unbezähmbares, um eine Unzuverlässigkeit eines jeden ihrer Zauber. Der kalte, metallische Geschmack tiefer Furcht erfüllte ihren Mund. Es gab hier keine Simbul, und das halbe Tal lag zwischen ihr und Sturm – und hier stand Illistyl Eibenbaum ganz allein in einem kalten, düsteren steinernen Raum im Verdrehten Turm. »Was geschieht denn bloß?«, fragte sie ihre Umgebung, wobei sich ihre Brust vor Angst immer heftiger hob und senkte. »Was haben wir getan, dass unsere Magie versagt?« Die Tür des Raumes erbebte unter einem donnernden Klopfen, und der Rahmen drohte nachzugeben, bevor die Tür aufgestoßen wurde. »Oh ihr Götter, schaut herab!«, schalt Jhessail und fegte in das Zimmer wie ein rachsüchtiger Wind, wobei ihr die Röcke um die Fesseln schlugen. »Müsst Ihr unbedingt die Zauberkunst verulken? Jeder zweite unter den Wachen unten ist gerade seiner Schnallen und jedes einzelnen Stückes Metall, welches er am Körper trug, verlustig gegangen, und jetzt kriechen sie in ihren Stiefeln und ihrem Unterzeug herum und schämen sich ganz schrecklich!« 69
Illistyl schaute die Sprecherin an und brach in Lachen aus ... das jedoch sogleich in Tränen überging und sich dann wieder in Gelächter verwandelte. Jhessail legte die Arme um die schmalen Schultern ihrer Schülerin, drückte deren Kopf an ihre Schulter und presste das Mädchen fest an sich. »Aber, aber, mein Kätzchen«, flüsterte sie beruhigend. »Schattental steht immer noch rings um uns herum, also fasst Euch. Es könnte schlimmer sein.« Illistyl tat einen bebenden Atemzug. »Wie denn?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Ich kann nicht einmal den einfachsten Zauber zustande bringen.« Jhessail seufzte. »Nun«, meinte sie bitter, »alle Magie kann uns im Stich lassen, und die Götter könnten durch die Königreiche wandeln, und –« Illistyl, welche die Arme um Jhessails Taille gelegt hatte, klammerte sich fest an ihre Lehrerin. »Sagt so etwas nicht«, zischte sie ihr ins Ohr. »Denkt nicht einmal daran! Ich habe Angst. Angst.« Jhessail Silberbaum hielt die jüngere Zauberin sanft in den Armen und meinte: »Wir alle haben Angst, Kätzchen. Inzwischen sogar die Götter. Wenn ich weinte, pflegte Elminster mir zu sagen: ›Geht eine kurze Zeit mit Furcht Euren Weg. Lernt sie kennen, und Ihr erfahrt mehr über Euch selbst.‹« Illistyl schluchzte zur Antwort und klammerte sich noch fester an die ältere Frau. »Er ist auch verschwunden! Jhessail, wo mag er nur sein?« 70
Jhessail spürte, wie ihre Augen feucht wurden. »Das weiß ich nicht«, flüsterte sie. Die beiden Frauen hielten einander in der Dunkelheit umfangen. Mit einer Stimme, die nicht ganz sicher klang, erklärte Jhessail: »Wir alle fürchten uns. Und das sollten wir auch, wenn wir wissen, was geschehen ist, und unsere Sinne beieinander haben.« Illistyl löste sich aus der Umarmung und starrte ihre Lehrerin aus nassen Augen an. »Ihr glaubt, dass Zauberer bei Verstand seien? Ihr müsst verrückt sein!« Jhessail lachte so laut, dass sie sich an Illistyl festhalten musste, und die beiden Frauen kicherten für eine ganze Weile. Dann vernahmen sie die hastigen Tritte von Stiefeln, und Mourngrym stürmte in den Raum, gefolgt von Fackelträgern und Wachen. »Um was geht es denn nun schon wieder, ihr Frauen?«, verlangte er zu wissen, wobei er das gezückte Schwert in der Hand hielt. »Um die – Vernunft von Zauberern«, japste Jhessail. »Eine ... lächerliche Angelegenheit, wie es scheint.« »Das habe ich mir auch schon oft gedacht«, antwortete der Fürst von Schattental und steckte das Schwert in die Scheide. »Aber mit Elminster oben im Turm habe ich es nie so recht gewagt, es auch auszusprechen.« Illistyl nickte. »Und jetzt ist er verschwunden, und wer weiß, wo er sich aufhalten mag ...« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Mourngrym schaute sie an. »Ich fürchte mich so 71
sehr, mein Mädchen, dass meine Blase meine Stiefel bis zum Rand füllen würde, bliebe ich zu lange still stehen. Wenn Ihr vernünftig wärt, dann würdet Ihr ebenfalls solche Furcht verspüren.« Anschließend fragte er sich, weshalb das Gelächter der beiden Damen so wild klang. MEINE GEDULD IST NICHT UNERSCHÖPFLICH, MENSCHLEIN. GLAUBT IHR, EUER SCHICKSAL AUFSCHIEBEN zu KÖNNEN, INDEM IHR MIR SOLCHE DINGE ZEIGT? DAS AUFSCHLIESSEN UND WIRKEN VON MYSTRAS MACHT IST DAS, WONACH ICH SUCHE, NICHT DIESE SZENEN VOM VORABEND DES WAHNSINNS, ALS MAGIE VERSAGTE, GANZ GLEICH, WIE SEHR DIES EUCH BETROFFEN HABEN MAG. Ich versuche, alles zu enthüllen, Nergal, ich tue mein Bestes. Viel von dem, was geschah, als die alte Mystra dahinschwand und ihre Kräfte an mich weitergab, auf dass ich sie trüge, liegt in diesem Wirrwarr verborgen. Und nur zu dieser Zeit verstand ich, was ich wirkte. Das müsst Ihr mir glauben. IHR MACHT EINEN SOLCHEN GLAUBEN MEHR ALS SCHWIERIG. HALTET MICH WENIGER LANGE HIN. »Fürst?« Darthusk hielt in seinem Schwung erst in dem Augenblick inne, als seine Schwertspitze eben Mourngrym Amkathras Kehle berührte. Der Fürst von Schattental trat zurück und runzelte die Stirn. Er schüttelte den Kopf, als wolle er seine Gedanken von irgendetwas befreien, und starrte dann ins Leere. 72
Darthusk hob die Hand zu einem wortlosen Signal. Alle im Raum versammelten Wachen hielten in ihren Schwertübungen inne, verstummten und blickten ihren Herrn besorgt an. Handelte es sich um eine Art ZhentTrick, oder –? Mourngrym schüttelte sich noch einmal und griff nach dem Stück Stoff, welches ihm als Gürtel diente, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. »Seltsam«, meinte er gepresst und hob wieder seine Klinge, »aber – es hat so lebensecht ausgesehen. Unsere beiden Zauberinnen, welche so sehr lachten, dass sie zu Boden fielen. Ich ging ins Zimmer, um nachzuschauen, was der Lärm bedeutete, und da, da ...« Erstaunt schüttelte er noch einmal den Kopf und meinte: »Verzeiht mir, Darthusk. Ich – Zauberei. Seltsam wie immer.« »Verstehe, mein Fürst«, erwiderte der Wächter, und die beiden hoben die Schwerter, um erneut die Klingen zu kreuzen. »Magie ist immer seltsam. Ich stelle sie mir als ein Schwert vor, welches an beiden Enden brennt – und so sowohl denjenigen verletzt, welcher es schwingt, als auch den Gegner. Ich wundere mich, dass nicht mehr Zauberer in Flammen aufgehend und schreiend in die Neun Höllen hinabfahren!« Mourngrym hielt wieder mitten in der Bewegung inne und bedachte Darthusk mit einem Stirnrunzeln. »Was habt Ihr – ach, auch egal.« Er schlug sein Schwert auf die Klinge des Wachpostens. Sie hieben jetzt mit aller Macht aufeinander ein, und der Funken schlagende Klang von Stahl erhob sich wieder rings um 73
sie herum. Mourngrym schüttelte den Kopf und knurrte: »In Flammen in den Neun Höllen, jawohl. Ich muss Magie anwenden, aber muss ich ihr auch trauen? Niemals!« Der Blick des Fürsten und des Wachpostens trafen sich über ihren klirrenden Schwertern, und beide Männer grinsten und riefen wie aus einer Kehle: »Niemals!« (ärger und enttäuschung wie eine flamme ... ja, wie eine flamme, die in der hölle brennt und in deren herzen ein allzu gewitzter magier festsitzt) WAS IST DAS, MENSCHLEIN? WAS BEDEUTET DIESER GEDANKE AN EINE FLAMME, WELCHEN IHR VOR MIR ZU VERBERGEN TRACHTET? GLAUBT IHR, FEUER KÖNNE MIR SCHADEN ZUFÜGEN? Äh, nein. Niemals. ALSO, KEIN AUSWEICHEN MEHR! ZEIGT UNS MEHR DAVON! DORT GAB ES WACHEN, JA, MIT GEZÜCKTEN SCHWERTERN, UND LICHT – NUN? (ein hastiger wirbel von bildern.) Helligkeit, eine lange Flucht von sich öffnenden Türen, Wachen, welche, die blanken, blitzenden Klingen in Händen, vorsichtig auseinander wichen, um uns durchschreiten zu lassen ... Vorwärts, in das Licht ... ES WIRD AUCH HÖCHSTE ZEIT. Das entfesselte blauweiße Licht der Kunst, der Macht Mystras ... ZEIGT ES MIR! 74
Blauweiß und wabernd ... in einem Turm aus Stein, wo ein alter Mann einsam dasaß und Zauberbanne wirkte ... Nie zuvor war der Zauber schief gegangen. Denn es handelte sich um eine einfache Angelegenheit, nämlich das Heraufbeschwören von Licht. Sicher, für einen Bauernjungen mochte es schon wundersam erscheinen, dort einen Schimmer zu erzeugen, wo sich vorher keiner befunden hatte – und ein blutiger Anfänger in der Zauberkunst durfte stolz auf sich sein, wenn es ihm zum ersten Mal gelang. Aber im Wirken des eigentlichen Zaubers lag ja wirklich nichts Schwieriges oder Außergewöhnliches. Taern ›Donnerschlag‹ Hornklinge, Harfner und Magier der Palastzauberwache in Silbermond stand unvermittelt auf und setzte sich sogleich wieder, wobei er verwirrt die Stirn runzelte. Er rief sich noch einmal ins Gedächtnis, was er getan hatte, und sah in aller Deutlichkeit die sauberen, sorgfältigen und genauen Schritte vor sich. Nein, der Harfner hatte keinen Fehler begangen. Der Zauber hätte gelingen müssen. Der Magier wirkte einen Entdeckungszauber und spürte, wie dieser von ihm fortwaberte. Keine Felder oder Hindernisse, abgesehen von jenen, welche sich immer an diesem Ort befanden, stellten sich seiner Erkundung in den Weg. Die Vorhersagezauber arbeiteten tadellos, was bewies, dass keine Magie angebracht worden war, welche 75
alle Kunst aufsaugen oder zurückweisen würde. Alles schien wie immer zu sein, und die Fackeln flackerten in ihren Haltern wie sonst auch. Und dennoch hatte sein Zauber versagt. Entweder hatte jemand, den man weder sehen noch auf eine andere Weise entdecken konnte, des Harfners Kunst gestohlen oder irgendwie zerstreut – was ihm nicht sehr wahrscheinlich erschien –, oder irgendetwas war Mystra zugestoßen ... Oder etwas hatte sich an der Stellung geändert, welche er in ihren Augen einnahm ... oder Taern wurde verrückt. Wenig verlockende Aussichten, eine wie die andere. Mit Händen, die nur ein bisschen zitterten, kniete sich Taern in der Zauberkammer mit den Steinwänden nieder und betete zu Mystra, wobei sich seine Lippen inmitten des grauen Bartes flehentlich bewegten. Er fühlte sich, als habe sich ein schwarzer Abgrund unter ihm geöffnet, und er wäre zu hilflos, um zu verhindern, dass er hinein und in die Vergessenheit stürzte. Was hatte er getan? Was war mit ihm geschehen? Der Harfner lag immer noch auf den Knien, als sich eine der Geheimtüren der Kammer öffnete – diejenige Tür, welche zu den Gemächern von Alustriel führte, der Hochfürstin von Silbermond. Taern Donnerschlag verspürte eine solche Empörung, dass er weder aufblickte oder gar seine Gebete unterbrach, selbst dann nicht, als sich eine schmale Hand niedersenkte und auf seine Schulter legte. Der Magier unterbrach sein Tun erst, als er verwundert die vor Kummer fast erstickten freundlichen Worte 76
hörte, welche jetzt an sein Ohr drangen. »Beendet Eure Gebete mit einem Dank und einem Lebewohl an unsere Herrin, Taern«, sagte Alustriel. »Denn sie ist für immer von uns gegangen.« Taern blickte verblüfft auf und sah die Tränen, welche ungehindert über die Wangen der Königin von Silbermond rannen. Eine blauweiße Aura der Macht spielte über ihr langes Haar und schoss aus ihren überquellenden Augen. »Fürstin?«, fragte Taern und hob die Hände zu ihr hoch. »Was wollt Ihr damit sagen?« Alustriel nahm seine Hände in die ihren, und Taern fühlte ein Prickeln von Macht. Sie verfügte über große Zauberkunst, mehr als er je zuvor gespürt hatte. »Euer Zauber ist nicht durch Euer Zutun fehlgeschlagen. Er ging, zusammen mit aller Kunst, welche in Faerun wirkte, in dem Atemzug verloren, als Mystra verschwand.« »Mystra ist – tot? Vernichtet?« »Vernichtet, jawohl.« Alustriel kniete sich neben ihm auf die Steine, wobei ihr langes Gewand leise raschelte. »Und weil Ihr gerade hier unten seid, Donnerschlag, könnt Ihr in mein Gebet an Azuth um Führung und Geleit der Lebenden einstimmen.« »Die lebendigen Magier? Solche wie Ihr und ich?« Taerns Gesicht schimmerte leichenblass; der Abgrund umgab ihn von allen Seiten, und nur die Hände, welche die seinen umklammert hielten, bewahrten ihn vor dem Versinken. Hände, welche blauweiß glühten. Alustriel lächelte unter Tränen und meinte leise: »Für 77
einen Zauberer, ja. Für den, welcher jetzt Mystras Macht hält. Sie verbrennt ihn innerlich, und wir alle müssen darum beten, dass er nicht der Versuchung erliegt, sie anzuwenden. Und für den, welcher nach ihm kommt, den einen, welcher wachsen und sich erheben muss, um Mystras Platz und ihre Macht zu übernehmen. Sie werden unsere Gebete nötig haben, genauso wie jede Hilfe, die wir in den vor uns liegenden Tagen geben können.« Taern wünschte sich verzweifelt, sich nicht so alt und müde zu fühlen, da die Tage seiner größten Machtfülle bereits hinter ihm lagen. Keiner seiner Schüler war schon bereit. Nicht einer würde in irgendeiner zukünftigen Schlacht nützlich sein. Alustriel umschlang ihn mit den Armen und küsste seine Stirn. »Friede, Taern. Die Macht der Herrin hat mich berührt; bis sie schwindet, vermag ich Euren Geist zu lesen. Ihr habt wohl getan, und es ist eher Eure Weisheit als die Macht der Zauberkunst, welche wir in den vor uns liegenden Tagen brauchen werden.« Taern spürte, wie von der Stelle aus, die sie mit ihren Lippen berührt hatte, Macht durch ihn hindurchfloss, aufrüttelnd und beruhigend zugleich. Er starrte seine Königin verwundert und von Ehrfurcht erfüllt an und wünschte sich erneut, nicht so alt zu sein. Alustriels Blick hielt den seinen in einem unbeirrten, langen Starren gefangen. Der Harfner verfärbte sich plötzlich und hob die Hände an seine brennenden Wangen. Wenn sie seine 78
Gedanken lesen konnte ... Dann füllte sich Taerns Herz mit Liebe, denn sie ergriff eine seiner Hände und hob sie zu ihren Lippen, ohne ihn auszulachen. NOCH
MEHR
LIEBELEIEN. TUT IHR MENSCHEN
DENN NICHTS
ANDERES?
Doch. Wir schmieden Pläne, kämpfen und üben Verrat – beinahe ebenso tatkräftig wie Teufelsfürsten. MACHT EUCH NUR JA NICHT ÜBER MICH LUSTIG, ELMINSTER AUMAR. IHR SEID IN MEINEN HÄNDEN! ICH MUSS NUR DIE FINGER SCHLIESSEN, UND IHR SEID NICHT MEHR, SONDERN FÜR IMMER VERSCHWUNDEN. Versprechungen, nichts als leere Versprechungen. GLAUBT NICHT, IHR KÖNNTET WORTFECHTEREIEN MIT MIR BETREIBEN WIE MIT EINEM GLEICHRANGIGEN. MEINE GEDULD LÄSST WIRKLICH ALLMÄHLICH NACH. ZEIGT MIR MEHR VON DER GÖTTLICHEN MACHT – SOFORT! Schmerz! Schmerz mitten in Awernus, erzeugt von einem Tentakel, welcher zur Klaue wurde und in die Brust des dahinkriechenden Mannes fuhr, so dass er sich versteifte und in Todespein aufkeuchte, während frisches Blut hervorsprudelte ... und dann sank er zurück und keuchte vor Erleichterung, als die sich zurückziehenden Klauen die Wunde heilten, die sie geschlagen hatten. Der nackte alte Mann fiel nach vorn aufs Gesicht, zitternd vor Schwäche und Schmerz ... Schwäche und Götter und Magie ... ERGEBT EUCH, KLEINER MENSCH! 79
Ah, Schwäche in der Magie unter den Göttern. Ja, daran sollte er sich erinnern ... »Ich schäme mich, dies zu sagen«, flüsterte Nouméa so leise, dass menschliche Ohren ihre Worte nicht verstanden hätten, »aber ich bin froh, dass die Herrin nicht mich ausgewählt hat. Ich hätte ihr und uns allen gegenüber versagt.« Sie stand in einer dunklen Höhle, welche nur durch das Licht einer langen, schlanken kegelförmigen Säule silbergrauen Lichtes erhellt wurde. Die Säule antwortete hallend mit einer Stimme, welche nur in ihrem Geist erklang. Deshalb wurdet Ihr auch nicht auserwählt. Die Herrin ist – war – weise. Aber schämt Euch nicht, Tochter. Unterschiedliche Naturen erzeugen unterschiedliche Schicksale für alle von uns. »Was nun, Fürst?« Der silberne Kegel flackerte kurz auf. Wir fahren fort wie bisher. Niemand muss erfahren, was geschehen ist. Das erscheint mir am klügsten. »Am klügsten?« Ich bin weder allumfassend weise noch allwissend, Magisterfürstin. Ich kann nur dann ganz sicher sein, wenn ich den Geist von Elminster berührt habe. Das mag sich als notwendig erweisen, wenn ihn die Macht, die er auf sich genommen hat, verbiegt und zu zerstören droht. Kommt jetzt mit mir, damit wir von Geist zu Geist mit dem alten Magier sprechen. Verschmelzt mit mir. Die Magisterin starrte den Kegel überrascht an. »Verschmelzen, Fürst Azuth?« 80
Tretet auf die Stelle, welche ich jetzt einnehme, und bleibt ganz in der kegeligen Form. Das ist alles, was mir seit dem Fall noch übrig geblieben ist. Ich muss bereit sein, Euch abzuschirmen, falls unser Elminster ... verändert wurde. Nouméa erschauerte. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass irgendetwas dazu führen konnte, dass in der Stimme eines Gottes Furcht mitschwang – ganz besonders nicht, wenn es um ihren allwissenden, unerschütterlichen Lehrer ging, den Herrn aller Zauberkunst. Eilig machte sie einen Schritt nach vorn und tauchte – begleitet von einer plötzlichen, erschreckenden Kälte – in den silbrigen Kegel ein, welcher alles darstellte, was von dem Ehrwürdigen Einen noch geblieben war. Gleich darauf dehnte sich auch schon sein Geist wie eine sich auseinander ringelnde Schlange aus und schoss über weite Strecken in Richtung des sich leicht neigenden Steinturms in Schattental. IHR VERFÜGT ÜBER ALLE MÖGLICHEN SCHLICHE, NICHT WAHR? EIN KRUG, DER VOR TÄUSCHUNG BEINAHE ÜBERQUILLT. BEINAHE SO TEUFLISCH WIE UNSEREINER. IHR WISST GANZ GENAU, DASS ICH NACH DEM SUCHE, WAS EUCH ÜBER MYSTRAS MACHT IM GEDÄCHTNIS GEBLIEBEN IST, NICHT WAHR? NICHT WAHR? (sengendes feuer) (schmerz) Gewiss. (schmerz der einen erzittern lässt) DANN ZEIGT MIR ETWAS, DAS SIE IN EUREM GEIST HINTERLASSEN HAT – ODER ICH WERDE ALLEN ERNSTES 81
DARANGEHEN, EUREN
VERSTAND
AUSEINANDER ZU REISSEN UND
ZU ZERFLEISCHEN, WEISER ALTER EMINSTER!
Wie Ihr befehlt, Fürst Nergal. ERDREISTET IHR EUCH ETWA, MICH ZU VERSPOTTEN? (wild ausschlagende feuerstöße) (schmerz) Ich doch nicht, Fürst. Bei allen Göttern, ich doch nicht. Tränen strömten vom Himmel, tropften aus den dunklen, wachsamen Augen der Herrin aller Mysterien in der Nacht, bevor ihre Kräfte schwanden, und sie konnte nur beobachten, was geschah, als alle Magie versagte, überall in ganz Faerun ... Ein warmer, leuchtend heller Tag brach an – aber nichts in den Königreichen war auch nur annährend in Ordnung. In Chessentia schrie der Szeptanar wütend auf, als drei seiner Hochmagier darum kämpften, die unbeherrschbaren Veränderungen unter Kontrolle zu bekommen, welche ihre Kunst über gewisse Damen des Hofes gebracht hatte. Zwar war der Szeptanar daran gewöhnt, dass seine adligen Begleiterinnen durch Magie verändert wurden und ihre Haut in exotischen Tönen färben ließen und sich mit etwas Neuartigem schmückten – Schuppen oder Schlangenschwänzen, Klauen oder gar papierdünnen Flügeln. Aber an diesem Morgen waren die Zauber fürchterlich schief gegangen. Sie brachten Veränderungen zu82
stande, gewiss, Umwandlungen, die anhielten, schneller und schneller erfolgten und die Damen in monströse Wesen verwandelten, welche aufgrund des Schmerzes und der Anstrengung, die ihre Verwandlung begleiteten, schrien, bellten oder gurgelten. Die mächtigsten unter den Zauberern des Szeptanar schleuderten gleichermaßen verwirrt wie hastig einen Zauber nach dem anderen und wirkten jeden einzelnen Spruch, welchen sie kannten. Aber keine Magie der Welt vermochte die grausigen Verwandlungen aufzuhalten. Zudem trafen Gerüchte ein, nach denen die Götter durch die Königreiche wandelten, und im Lauf des Tages wurden sie immer genauer. Allmählich ergriff den Szeptanar echte Furcht. »Fürstin?« Taerns Stimme klang rau vor Sorge, und er erhob sich halb von seinem Stuhl unter der Lampe. Umgeben von zauberischem Glühen badete Alustriel in einem Teich, dessen Wasser mit Ölen parfümiert war, welche taube Diener herbeigebracht hatten. Gerade eben hatte sie sich versteift und ein Keuchen ausgestoßen. Sie saß kerzengerade in einem Ring eilig auseinander strebender Wellenkreise und griff sich an den Kopf, als sei darin ein Feuer ausgebrochen. »Fürstin!« Taern schrie beinahe. »Geht es Euch gut?« Alustriel hob eine Hand, um seinen Schrei zu unterbrechen, und fragte dann: »Taern, ist Euch eben gerade eine Erinnerung durch den Kopf geschossen? An uns 83
beide vielleicht in der Nacht, als die Magie zu entschwinden schien?« Taern schüttelte den Kopf, und seine Augen schimmerten riesig und dunkel. »Die Nacht, in welcher ich Mystras Macht in Euch spürte?«, flüsterte er, ungeachtet der lauschenden Diener und des leisen, wortlosen Gemurmels, das sich unter ihnen erhob. »Ich werde diese Nacht niemals vergessen, Fürstin. Aber um die Wahrheit zu sagen: Sie kommt mir jetzt vor Augen, während Ihr davon sprecht, aber davor habe ich nichts davon im Gedächtnis gehabt. Ich habe nur an die Rechnungsbücher und Gelder gedacht, über die wir gerade sprachen.« »Nichts, was Azuth oder den Magister oder das ferne Chessentia betroffen hätte?« Taern schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Herrin«, erklärte er mit vor Verwunderung tiefer Stimme. »Warum sollte ich?« »Ihr habt Recht«, meinte die Zaubererfürstin und ließ sich in den Teich zurücksinken, bis dessen Wellen an ihrer atemberaubend wohlgeformten Kehle plätscherten. »Und warum sollte ich?«, wiederholte sie. (sich drehende bilder in der blutroten glut der hölle) In Aglarond verbot die Simbul den Gebrauch von Magie gegen die Angreifer aus Thayan. Sie gab ihren Männern 84
bekannt, sie sollten sich stattdessen lieber auf ihre eigenen Schwerter verlassen. Als die Roten Zauberer, welche den Schlag gegen Aglarond anführten, den Versuch unternahmen, Blitze gegen die Männer der Simbul zu schleudern, brachte der Zauber nichts weiter als einen Schauer niederfallender Blumen, Kristallkugeln und Schlamm zu Wege. Am Ende versuchte ein Roter Zauberer, in einem gestohlenen Boot der Angreifer, dem er die Fähigkeit zum Fliegen verleihen wollte, zu entkommen, aber seine Kunst verwandelte das Gefährt unerwartet in alten, krümeligen Käse, und das Gebilde zerbröckelte unter den Füßen der Insassen. Sie versanken in den kalten Fluten des Meers von Dhurg. Nur wenige tauchten wieder auf, um dann gleich der Umarmung der von der Simbul gewirkten Zauberketten teilhaftig zu werden. In Silbermond brachte ein einfacher Zauber, welcher die Winkel eines dunklen Kellers hätte erleuchten sollen, den ganzen darüber befindlichen Turm zum Einsturz. Bei dem verblüfften Erzeuger des Zaubers handelte es sich um niemand anderen als die Hochfürstin Alustriel persönlich. In Tiefwasser ging der Streich eines Zauberlehrlings schief, bei dem eigentlich ein Hund zu dem Zweck verzaubert werden sollte, als Liebesbote vorübergehende hübsche Mädchen einzufangen und zu dem einsamen Zauberwirker zu bringen. Alle, die von dem Hund berührt wurden, verwandelte sich in eine andere Kreatur 85
– Schlange oder Hahn oder Tausendfüßler. Als eine Maid zu einem zischenden Lindwurm wurde, floh der Hund in Todesangst. In der Nähe befindliche, von der Gefahr aufgeschreckte Zauberer wirkten Banne, um das Ungeheuer zu töten. Aber die magischen Sprüche ließen stattdessen einen Feuerregen aus dem Himmel niederfallen und graue Steingebäude hellrosa und durchsichtig werden (sehr zur Freude des Besitzers des einen, denn es handelte sich um ein erstklassiges Bordell), und sie bewirkten, dass sich zahlreiche Löcher in den Straßen auf taten. Der Lindwurm entkam und flog zur Spitze von Berg Tiefwasser. Dort oben wurde die verzauberte Maid durch Khelben Schwarzstabs Zauber in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt, nämlich in die einer verängstigten adligen Dame. Aber auch seine Zauberkunst verdrehte und verbog sich. Anstelle von Kleidern trug die fassungslose Edle ein leuchtend blau gefärbtes Federkleid. In Kalimport fochten zwei weibliche Sklaven zur Unterhaltung ihrer grausamen Besitzer, welche eine Wette abgeschlossen hatten, mit Stachelketten bis auf den Tod gegeneinander. Beide waren geschwächt, keuchten und stolperten, und Schweiß perlte von ihren eingeölten Körpern wie Stränge von Juwelen. Ein zuschauender Zauberer beschloss, der Sklavin seines Herrn mit einem geheimen Zauber zu helfen. Seine listige Kunst, welche die Frau um ein Weniges hätte schneller machen sollen, verwandelte sie jedoch 86
stattdessen in einen wütenden roten Drachen. Im Nu hatte dieser die Sultane, den unglücklichen Zauberer und viele ihrer Diener verschlungen oder zerschmettert. Dann rief sie die andere Sklavin zu sich auf ihren Rücken, und die beiden flogen nach Norden, in Richtung der Marschierenden Berge. Überall in den Königreichen lief die Magie aus dem Ruder. Sogar in Hochtal, inmitten des Chaos schwächer werdender Magie, fanden schicksalsträchtige Veränderungen statt. Vielleicht wollten die Götter es so, vielleicht handelte es sich um ein absichtliches Wirken von Mystra ... vielleicht steckte dahinter aber auch nichts anderes als purer Zufall. Heladar Langspeer blieb keine Zeit, dies herauszufinden. HELADAR LANGSPEER? WAS SCHEREN MICH MENSCHLICHE KRIEGER IN DEN SCHWEINESTÄLLEN, DIE MAN DIE REICHE VON TORIL NENNT? UND ABGESEHEN DAVON, WAS SCHERTE SICH MYSTRA UM IHN? Sie war – ist – eine Göttin. Mystra kümmerte sich um ihre Gefolgsleute. Wenn Ihr nicht das Verlangen spürt, Euch um diejenigen zu kümmern und am Leben zu halten, welche Ihr beherrscht, dann könnt Ihr nicht darauf hoffen, jemals mehr als ein Ausgestoßener oder ein bloßer Eroberer zu sein, Nergal. Niemals ein Herrscher. Niemals für alle Zeit, die es braucht, bis welche Welt oder Ebene auch immer, die von Euch unterjocht wurde, benötigt, einen Weg zu finden, sich von Euch zu befreien. 87
BELEHRT MICH NICHT, WINSELNDER MENSCH. (ein brutaler mentaler blitzstrahl) ICH DENKE NICHT! (schmerz keuchen hilflosigkeit ein sich windender sklave des schmerzes) UND WAS KRÄHT IHR JETZT, ELMINSTER? BEDIENT IHR EUCH IMMER NOCH ÜBERLEGENEN SPOTTES? ZEIGT MIR DIE NÄCHSTE ERINNERUNG, WELCHE MYSTRA EUCH GAB, KEINE SPIELEREIEN, KEINE VERZÖGERUNG! HER DAMIT! AUF DER STELLE! (dunkles aufblitzen) Ein dunkler, grell aufleuchtender Kopf ... Eine schwarze, treibende Kugel inmitten rasender Schatten ... Schatten, welche vor dem Fackellicht auseinander wichen, eine alte steinerne Gruft und ein Raum, welcher für beides keine Verwendung hatte ... Khelben seufzte und lehnte sich zurück, wobei er die Kristallkugel im Auge behielt, welche dreimal so groß war wie sein Kopf. Ihre glatte Oberfläche schimmerte so dunkel und leblos wie der Tod. Dann kam als Antwort ein Seufzer wie von einer Frau. Rings umher blitzte und blinkte die Wölbung der Zauberkammer vor Sternen – so wie immer, unabhängig von der Tageszeit und dem Wetter außerhalb des Schwarzstab-Turmes. Er schüttelte langsam den Kopf und starrte wieder in die leere Kristallkugel. »Nichts.« Laeral legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. 88
»Macht Euch keine Sorgen, mein Fürst. Der Fehler liegt nicht bei Euch. Die Magie scheint überall in den Königreichen verrückt zu spielen.« Khelben Arunsun erhob sich und schritt in der Kammer auf und ab. »Daran liegt es nicht, Liebste. Meine Zauberkunst, so glaube ich, lässt mich nicht im Stich. Ich habe Lhaeo erreicht, den Schreiber des Alten Zauberers, aber der weiß nicht, wo Elminster sein mag.« Khelben zuckte die Achseln. Er vermutete – hoffte –, dass eine Spurenleserin der Ritter von Myth Drannor den Alten Magier begleitete, eine gewisse Scharantyr. »Ich kann sie nicht erreichen, und um die Wahrheit zu sagen, erinnere ich mich kaum an sie. Wir sind uns nur ein paarmal begegnet, und auch nur in Gegenwart ihrer Begleiter, welche ich viel besser kenne.« Laeral glitt hinter ihn und streichelte seine Schultern. »Ich rechne mit keinem besseren Ergebnis als diesem, und es würde mich sehr überraschen, wenn Ihr mir allen Ernstes versichertet, dass es Euch gelungen wäre. Wir können es nur weiter versuchen und die Hoffnung nicht aufgeben.« Sie musterte ernst den Mann, der ihr Fürst war, ihre Liebe und ihr Gebieter. »Ihr brütet über tiefer gehenden Sorgen, Fürst – da gibt es noch etwas Schlimmeres. Ich würde es gerne erfahren, so Ihr dies wollt.« Khelben drehte sich um und nahm sie ohne die Spur eines Lächelns in die Arme. Hinter ihm fiel ein Stern über die dunkle, endlose Leere der Kammer. »Ich habe versucht, Azuth und auch die Herrin zu er89
reichen, welche ich beide spüren konnte. Sie sind hier, in den Königreichen, und sie sind mit uns. Azuths Macht brennt nur trübe, so wie ein Glühen, wo einst ein Feuer loderte, und es gelingt mir nicht, ihn zu erreichen. Seine Macht hat abgenommen, während er sie nutzte; er hilft geringeren Wesen, so wie er es seit eh und je tat und, wie ich fürchte, auch immer tun wird, bis nicht mehr von ihm übrig ist als ein Flüstern und eine Erinnerung.« Der Blick aus Laerals dunklen, wunderschönen Augen begegnete dem seinen. »Aber das ist immer noch nicht das, was Euch wirklich Sorgen macht. Ist es die Herrin?« Khelben erwiderte ihren Blick und nickte grimmig. »Sie ist eine Gefangene. Magie hält sie gefangen und trinkt von ihrer Macht – Magie, wie ich sie nie zuvor gespürt habe und die ich bis jetzt nicht verstehe.« Entsetzt starrte Laeral ihn an. »Wer in ganz Faerun verfügt über genug Macht, um die Große Mystra gefangen zu halten?« Khelben lächelte bitter. »Nun, natürlich ein anderer Gott.« ALSO LIEFERT IHR MIR SCHON WIEDER FREUNDE, DIE SICH ÜBER EURE ABWESENHEIT SORGEN MACHEN. WIE RÜHREND. NUN DENN, SCHLAUER ZAUBERER, GEBT MIR EINE ANDERE VON MYSTRAS ERINNERUNGEN, IN WELCHER WIR DIESE FREUNDE VON EUCH DABEI BEOBACHTEN KÖNNEN, WIE SIE ZAUBER WIRKEN, UM EUCH ZU FINDEN. VIELLEICHT KOMMEN WIR JA BEI ALL DEN SPIEGELFECH90
TEREIEN AUS VERQUEREN UND AUFEINANDER STOSSENDEN
ERINNERUNGEN WEITER, WELCHE EUCH SO SEHR BEGEISTERN ... Wie Ihr wünscht. VERSPOTTET MICH NICHT, ZAUBERER! (ein schlag mit der geistpeitsche) Ich spotte niemals, Teufel. (ein neuer schlag) (schmerz erstaunen) IHR WAGT ES? Nein, Fürst Nergal. Aber Mystra tut es. (verwirrung furcht) SIE BEOBACHTET EUCH ... BEOBACHTET DURCH EUCH? Nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber sie ist dazu in der Lage, wenn Ihr sie zum richtigen – entschuldigt, zum falschen – Zeitpunkt stört. Dann wird sie erscheinen, und all Eure Anstrengungen werden zunichte gemacht. (furcht zorn) NEIN, AN DIESEM ORT KANN SIE KEINE MACHT ÜBER MICH HABEN. IN DER HÖLLE REGIEREN TEUFEL. Selbstverständlich. Ein netter Thron, fällt mir gerade ein. (rote flammen der wut) UND IHR BEHAUPTET, NIEMALS ZU SPOTTEN, MENSCHLEIN? Niemals. Versucht, Euch dies ins Gedächtnis zu schreiben. (dunkles aufblitzen) ENTHÜLLT EURE ERINNERUNGEN, ELMINSTER AUMAR. Die Götter allein wissen, wo sie sich gerade befinden«, sagte Sturm leise. »Ich glaube, Elminster ist nach Wes91
ten gewandert – aber er könnte durch ein Dutzend geheimer Türen geschlüpft sein. Mit einem einzigen Schritt hätte er die andere Seite Faeruns erreicht haben können ... oder sogar eine andere Ebene.« »Ein heiter stimmender Gedanke«, bemerkte Schaerl spöttisch. »Soll ich Mourngrym sagen, er müsse ein Dutzend unbekannter, nicht sichtbarer, aber gänzlich ungeschützter Tore von der Verteidigung des Tales überprüfen lassen, weil einfallende Armeen hindurcheilen könnten?« »Langsam, Mädchen«, beschwichtigte Jhessail sie und tätschelte ihr den Kopf. »Nehmt noch ein wenig von dem Feuerlöscher.« Sie schob die Karaffe mit dem rubinroten Likör über den Tisch. Illistyl griff schweigend nach dem Gefäß, als es aus ihrer Reichweite zu gelangen drohte, und wurde von einer erhobenen Braue Jhessails belohnt. Neugierig runzelte sie ebenfalls die Stirn. »Aber meine Damen«, seufzte Sturm und nahm die Füße vom Tisch. »Müssen wir fauchen und spucken wie kleine streitsüchtige Kätzchen?« Illistyl zuckte die Schultern. »Aber das haben wir doch immer so gehalten«, bemerkte sie mit leicht boshafter Ernsthaftigkeit. Schaerl kicherte. Einen Atemzug später stimmten die anderen mit ein. Die Fürstin von Schattental hatte spät am Abend, als die meisten Männer im Verdrehten Turm bereits in ihren Betten lagen, die beiden Zauberinnen in Sturms Bauernhaus gebracht. Der Nachmittag wäre eine 92
passendere Zeit für eine dieser scharfzüngigen Sitzungen gewesen, aber sie hatten sich alle zu ruhelos gefühlt, um schlafen zu können, und sich zufällig getroffen, als sie, in ihre Nachtgewänder gehüllt, barfuß durch den Turm gewandert waren. Sturm Silberhand hatte ebenfalls wach gelegen, als sie gerufen wurde. Als die drei Frauen sich dem Bauernhaus näherten, hatten sie gehört, wie Sturm leise auf jemanden einredete, aber als sie dann durch die offene Tür traten, saß die Bardin allein da, und eine Laute lag müßig auf ihrem Schoß. Sie hatten ein oder zwei Lieder gesungen, Gerüchte über die Ereignisse im Tal ausgetauscht und zum Schluss über Elminsters plötzliche Abwesenheit gesprochen. Illistyl hatte überrascht festgestellt, dass in Sturms Augen ungeweinte Tränen standen. Die Bardin hatte wenig gesagt und war auch dabei geblieben, aber ihre Traurigkeit lag wie ein Schatten im Raum, welcher über alle fiel. Illistyl fühlte ihn so deutlich wie die anderen, konnte sich aber keinen Weg vorstellen, ihn zu verscheuchen. Ihr Blick zuckte zum Ende des Tisches, um dort Sturms wissenden Augen zu begegnen. Illistyl konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Sturm, was stimmt hier nicht? Ich würde Euch gerne helfen, aber ich weiß nicht einmal –« Sie brach mitten im Satz ab, als eine Fledermaus so groß und dunkel wie ein Umhang schwerfällig durch die offene Tür hereinflog, tief über dem Tisch kreiste und sich dann in der Luft vor der Feuerstelle krümmte 93
und wand. Einen Augenblick darauf hatte sie sich auch schon in eine hoch gewachsene, hagere Frau in schwarzen, in Fetzen hängenden Gewändern verwandelt. Ihr Haar und ihre Augen zuckten wild hin und her, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Ausdruck wilden Stolzes aus, als sie auf sie zuglitt. »Schwester!«, begrüßte Sturm sie mit einem Willkommenslächeln. »Möchtet Ihr ein wenig Feuerlöscher mit uns trinken?« Die Simbul schüttelte sich wie eine aufgeschreckte Katze. »Später«, beschied sie ihrer Schwester und setzte sich an den Tisch. »Nachdem ich versucht habe herauszufinden, was wir beide wissen wollen.« »Alle, die wir hier versammelt sind«, gab Sturm leise zurück. »Ich habe zwei zuverlässige Männer nach ihnen ausgeschickt. Zwei Harfner.« Auf der anderen Seite des Zimmers schienen die Saiten ihrer Harfe leise zu vibrieren. Die Simbul schaute eine nach der anderen ernst an, nickte einer jeden zu, neigte, ohne innezuhalten, den Kopf und schickte sich an, die Worte ihrer Zauberkunst zu flüstern. In dem Raum entstand eine starke Spannung. Die Kerzenflammen schrumpften zu aufmerksamen, stetig glühenden, stecknadelkopfgroßen Pünktchen zusammen. Die Simbul saß schwarz und unbeweglich in der Mitte der sich zusammenballenden Macht. Ihre Schultern bebten. Sie keuchte, und die Kerzen flammten 94
wieder auf und flackerten wie zuvor. Der Raum wirkte irgendwie heller – aber, wie es Illistyl durch den Kopf schoss, als sie in das verzweifelte, trostlose Gesicht der Simbul blickte – er erschien weder sicherer noch wärmer. Die Hexenkönigin von Aglarond schaute sie der Reihe nach an und erklärte einfach: »Ich brauche Euer aller Hilfe. Gebt mir Eure Hände, und ich versuche es noch einmal.« Ohne Zögern beugten sich die um den Tisch versammelten Frauen vor. Die Karaffe mit dem Likör stand wie eine rote Flamme vor ihnen. Die Simbul schloss die Augen, erschauerte erneut und schickte sich an, ihren ganzen Willen zu sammeln. Wie schon zuvor erfüllte Dunkelheit den Raum. »Denkt nach«, murmelte sie, »denkt an Scharantyr. Ruft Euch ihr Gesicht vor Augen, ihre Stimme, die Art, wie sie sich bewegt. Sie ist unser Schlüssel, denn Elminster ist vor suchender Magie verborgen.« Gehorsam dachten alle an Scharantyr. Jhessails Augen schlossen sich, ihr Gesicht nahm einen ruhigen Ausdruck an. Illistyl und Schaerl erschauerten beide und kniffen vor Anstrengung die Augen zusammen. Da sie mit der Simbul verbunden waren, konnten sie spüren, wie die Hexe ihre Macht in sich einsog, sich ihre Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte einverleibte. Macht erfüllte wirbelnd den Raum. Dann sandte die Simbul ihre suchenden, forschenden Gedanken aus, welche eine lange Strecke zurücklegten. Wie der Angelhaken eines Fischers fiel sie in eine Leere des Su95
chens, wohin ihr die mit ihr Verbundenen nicht folgen konnten. Nach einer langen, spannungsgeladenen Stille schüttelte sich die Simbul wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt. »Wir brauchen mehr. Alles ist verdreht, alles ist wild geworden. Sylune ... bitte?« Drei Paar erstaunter Augen sahen, wie sich Sturms Finger von denen der Simbul lösten. Aus der rauchigen Luft zwischen ihnen schienen schimmernd zwei schmale, kaum wahrnehmbare Hände zu wachsen, die in gespenstischer Stille Gestalt annahmen und von denen eine jede eine lebendige Hand ergriff. Ein sanftes Flüstern erklang. »Ich bin hier. Versucht es jetzt, Schwestern.« Schaerl, Jhessail und Illistyl schauten einander für einen kurzen Moment aufgeschreckt an und starrten dann auf die nur halb sichtbare geisterhafte Gestalt, welche zwischen Sturm und der Simbul stand. Sie schlossen die Augen und tauchten in die Suche nach Scharantyr ein. Eine Ewigkeit verstrich. Die Kerzen brannten nieder. Die Frauen atmeten wie eine einzige Person tief ein und aus. Unter ihnen bewegte sich Toril mit Ehrfurcht gebietender Langsamkeit gleichmäßig weiter. Dann hörten sie jemanden wimmern, und der Kreis brach auseinander. Sturm fühlte nur noch Luft zwischen ihren Fingern, und die Simbul fiel schwer und mit dem Gesicht voran auf den Tisch und brachte die Karaffe zum Wackeln. 96
»Sturm?«, fragte Schaerl ängstlich und erhob sich halb. »Ist sie –?« »Erschöpft«, antwortete die Bardin von Schattental kaum hörbar und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Genau wie ich auch. Sie wandte einen Zauber an, den nur wenige kennen – glücklicherweise, denn sonst würden binnen kurzem in halb Faerun Zauberer herumlaufen, welche nur halb bei Sinnen wären.« Jhessail bewahrte die Karaffe vorm Umstürzen und hielt sie wortlos Sturm hin. Diese starrte das Gefäß für ein oder zwei Atemzüge verständnislos an, dann griff sie entschlossen danach, entkorkte sie und trank einen großen Schluck. Als sie den Korken wieder aufpfropfte, war das Gefäß deutlich leerer. »Sturm«, fragte Illistyl ruhig und mit beinahe fester Stimme, »war das –?« »Unsere Schwester Sylune«, antwortete Sturm ebenso ruhig. »Ja. Sie war es, und was wir taten, hat ihr mehr Schaden zugefügt als einer von uns.« Sie musterte die anderen aus dunklen Augen und fügte hinzu: »Also wisst Ihr es jetzt. Bürdet Euch das Gewicht eines anderen Geheimnisses auf um des Wohlergehens des Tales willen.« Drei ernste Augenpaare erwiderten ihren Blick, und drei Köpfe nickten in stummem Einverständnis. Die Simbul rührte sich. Die Wange auf den Tisch gepresst, fragte sie: »Ist noch ein wenig von dem Feuerlöschergebräu übrig?« Als das Gelächter verklungen war, traute sich Illistyl, ihre weichen, hilfreichen Hände auf die vielleicht 97
mächtigste lebende Zauberin von Faerun zu legen, ihr beim Aufstehen zu helfen und ihr die von Schweißperlen glänzende Stirn abzuwischen. Die Simbul dankte ihr mit einem wortlosen Lächeln, schaute alle an und meinte: »Nun, Ihr wisst, dass wir versagt haben. Und es gibt einige noch schlechtere Neuigkeiten.« Jhessail und Sturm blickten die Zauberin aufgeschreckt an. »Berichtet«, sagte die Fürstin von Schattental knapp. »Alle Zauberkunst in den Königreichen läuft aus dem Ruder«, antwortete die Simbul ohne Umschweife. »Überall und bei allen, die sie anwenden. Wir können sie entfesseln, aber nicht steuern. Die Energie entgleitet uns, schlägt zu, aber die meiste Zeit bleibt sie ganz aus. Die Magie ist außer Kontrolle geraten, und wir vermögen sie nicht zu bremsen.« Furcht verzerrte ihre kalkweißen Züge, dann entspannte sich ihr Gesicht wieder. Sie langte nachdenklich nach der Karaffe. »In ganz Faerun«, fügte sie hinzu, »kann sich kein einziger Magier, Zauberfürst oder Zauberer mehr auf seine Sprüche verlassen.« Illistyl, Schaerl und Jhessail wechselten Blicke. Illistyl und Schaerl sprachen dann gleichzeitig und stellten beide die gleiche Frage: »Im Namen aller Götter, warum?« Sturm blickte in die Flamme der am nächsten stehenden Kerze und antwortete leise: »Die Götter sind der Grund. Sie wurden allesamt hernieder in die Königreiche verbannt, wo sie sich behaupten und genauso 98
kämpfen und sich anstrengen müssen wie wir. Mystra befindet sich unter ihnen. Und aus diesem Grund ist Elminster weggegangen.« »Hierher verbannt?« Illistyl brachte nur ein Flüstern zustande. »Von wem? Wer verfügt über solche Macht?« Sturm hob die Hände. »Die ältesten Schriften kennen ihn als den Obergott. Heutzutage nennen ihn jene, welche überhaupt von ihm wissen, den Verborgenen.« Sie lächelte. »Wenn Ihr ihn je trefft, so könnt Ihr ihn ja nach seinem wahren Namen und seinen Zielen fragen – eine Menge von Seelen, seien sie nun sterblich oder göttlich, würde das gerne wissen.« Illistyl holte tief und zitternd Luft. Dann lächelte sie. »Ich werde mich gleich an die Arbeit machen.« Ihre Hände bebten, als sie nach der Karaffe griff. Der Inhalt hatte sich stark verringert, als sie das Gefäß wieder absetzte. Schaerl schüttelte den Kopf. »Langsam, Mädchen, sonst müssen wir Euch zum Turm zurücktragen.« Illistyl hob eine Augenbraue. »Wer, Frauenzimmer, wird wen tragen?« Jhessail erhob sich. »Kommt, Ihr Damen«, sagte sie. »Wir haben in dieser Nacht genug Unheil angerichtet. Sturm braucht ihren Schlaf, selbst wenn wir darauf verzichten können.« Sturm warf der Zauberin einen dankbaren Blick zu, den Jhessail auffing. Daraufhin schob sie ihre Gefährtinnen sanft hinaus in die Nacht. Als die Kerzen erstarben, setzten sich die Schwestern 99
eine nach der anderen an den Tisch, blieben reglos sitzen und schauten in weite Fernen. Endlich bewegte Sturm die widerstrebenden Lippen. »Habt Ihr etwas gesehen oder gespürt, als Ihr nach Scharantyr suchtet? Habt Ihr überhaupt irgendetwas gespürt?« »Nein«, antwortete die Simbul und starrte auf ihre leeren Hände nieder. »Nichts. Ich war wie der schlechteste Schüler, den ich je hatte – allein, voller Zweifel und hilflos in der Dunkelheit.« »Ich sah drei Dinge, Schwester«, erklang die unheimliche Stimme, welche sie nicht wieder zu hören erwartet hatten. »Feuer und Tränen und schließlich Sterne – hoch droben, wie es schien, obgleich sie alle durcheinander gewürfelt waren. Unsere Sterne.« Sturm hob den Kopf. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Sylune«, sagte sie leise, »meinen Dank. Dann sind sie nicht tot.« »Noch nicht«, erwiderte die Stimme von Sylunes Geist trocken. »Noch nicht.« Sturm erstarrte über ihrem Kessel und ließ beinahe ihr Messer fallen. »Da ist es wieder«, flüsterte sie. »Schwester, was geschieht da?« Sylune glitt für einen Augenblick wie ein silbriger Schatten durch das Licht des Feuers, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwand. »Ich weiß es nicht, aber ich habe durch Gedankenverbindung mit Jhessail und Illistyl gesprochen, und beide sind ruhelos – ohne jedoch den Grund zu kennen. Könnte es sich um ein Zeichen der Herrin handeln?« 100
Die Bardin von Schattental runzelte die Stirn. »Sie ist nie zuvor so im Verborgenen geblieben.« Die gespenstische Gestalt ihrer Schwester lächelte und verschwand. Sturm fand sich allein vor dem glänzenden Kupferkessel wieder. Sie starrte ihn an. »Und diese Angewohnheit hindert sie daran, jetzt so zu sein. Darüber werden wir später nachdenken. Fürs Erste solltet Ihr Eure Gewänder anlegen, Fürstin der Harfe – Eure ersten Gäste kommen gerade auf dem Weg zu Euch den Pfad hoch.« Sturm Silberhand trocknete sich die Hände ab, fluchte herzhaft, als sie bemerkte, dass sie dazu ihr Gewand benutzt hatte, und zog es sich dann, nass, wie es war, über den Kopf. Anschließend schmückte sie schelmisch lächelnd ihr Mieder mit einem blühenden Kräuterzweiglein. Später, um der Liebe Mystras willen! Anscheinend musste dieser Tage alles auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden ... ÄRGER, KLEINER ZAUBERER? GERADE JETZT? IN EUCH LODERT EINE FLAMME DES ZORNS, WELCHE VIEL STÄRKER IST ALS ZU DEM ZEITPUNKT, ALS ICH EUCH ZUM ERSTEN MAL ZÜCHTIGTE UND BAND! WESHALB? Später, Teufel. Ich werde es Euch später erklären. NEIN, GEFANGENER, IHR WERDET ES MIR JETZT ERZÄHLEN! (schmerz) 101
(schreie die in schluchzer übergehen bilder welche durcheinander wirbeln) JETZT BRECHT MIR BLOSS NICHT ZUSAMMEN, KÜMMERLICHER MENSCH! ICH BIN MIR GEWISS, DASS IHR VIEL STÄRKER SEID! HEUCHELEI UND KRIECHEREI SIND ETWAS FÜR DIE TEUFEL, DIE ICH ZERTRAMPLE – VON EUCH ERWARTE ICH SOFORTIGEN GEHORSAM! AUGENBLICKLICH UND VOLLKOMMEN! HÖRT IHR MICH?
Khelben hob abrupt den Kopf. »Habt Ihr das gehört? Dieses Brüllen, welches wie ein weit entfernter Befehl klang?« »Befehl, mein Arunsun?«, gurrte Laeral beinahe spielerisch in sein Ohr. »Nein, aber ich sage Euch eins: Zuckt noch einmal mit dem Kopf, während meine Schere so nahe ist, und ich schneide Euch nicht das Haar ab, sondern Euer Ohr!« Mit einem gereizten Stirnrunzeln schnippte Khelben mit zwei Fingern, und die glitzernde Schere fuhr senkrecht in die Höhe. Laeral blickte sie missbilligend an, wie sie so in ihrer Hand bebte, und dann auf ihren fürstlichen Gefährten. »Soll ich später weitermachen?«, fragte sie trocken. »Der Zauberfürst von Tiefwasser ist damit einverstanden, sich mit einem nur zur Hälfte geschorenen Kopf in die Stadt zu begeben?« »Der Zauberfürst von Tiefwasser«, erwiderte Khelben langsam, wobei er ins Leere blickte, »macht sich Sorgen 102
und weiß nicht warum. Nehmt dieses Ding weg, Liebste, vergesst alle Zauber und fühlt. Fühlt einfach nur. Irgendetwas ist verkehrt.« Die Schere fiel klappernd auf einen Tisch, und die schimmernden Leuchtkugeln, die überall um sie herum durch den Raum trieben, blinkten auf und erloschen, während sie in Richtung Boden sanken. In der plötzlichen Dunkelheit konnte Khelben Laeral wie eine Statue dastehen sehen. Ihre Augen glitzerten, als sie beide ihren Geist ausstreckten und nach dem suchten, was auch immer Khelbens Gedanken so leise und flüchtig gestreift haben mochte. Und dann flog die Tür auf, und eine aufgeregte Schülerin stand im Rahmen. Ihre Gestalt zeichnete sich dunkel vor dem Licht ab, welches aus dem Gang hinter ihr ins Zimmer fiel. »Fürst und Fürstin«, brach es aus ihr heraus, »ich bitte um Vergebung! Oh, habt Ihr gerade –?« »Haare geschnitten?«, fragte Laeral ruhig, während überall im Raum die Leuchtkugeln wieder hell aufglommen. »Ja.« Ihr Lächeln verriet nur einen Hauch von Bitterkeit, als sie fragte: »Nun, Kareece, welche Neuigkeiten erschüttern die Königreiche und verlangen nach unserer sofortigen Aufmerksamkeit?« Ich höre, Teufel. Bei Mystra, und wie ich höre. RUFT SIE NICHT AN, ELMINSTER! ICH KENNE
INZWISCHEN
103
EUER SPIEL. IHR HALTET GEWISS ZAUBER BEREIT UND VERSUCHT, IHR EUCH AN IHRE AUSLÖSER ERINNERT. VERSUCHT SOLCHERLEI NUR, SO VIEL IHR WOLLT – IHR WERDET SCHEITERN, GLAUBT ES MIR – ABER DENKT AN EINES: MEINE GEDULD IST NICHT GRENZENLOS! (ein geistiger peitschenschlag schmerz) JA, ERINNERT EUCH WEITER, ZAUBERLEIN! Länger, meine Erinnerungen müssen länger sein – aber jede, die ich mir ins Gedächtnis rufe, ist für immer verloren ... JA, EINE JEDE GEHT AUF MICH ÜBER UND IST FÜR ALLE ZEITEN FÜR EUCH VERLOREN! JETZT SIND WIR GAR NICHT MEHR SO MÄCHTIG, WAS? (ein hallender stürm teuflischen gelächters) Ja, ich habe bessere Tage gesehen – und Nächte. Viel bessere Nächte. SIE ZU ERWECKEN, INDEM
104
4. Die Liebe zu einer Göttin
Der Gestank war unbeschreiblich. Knochen und Blut – Blut, welches aus dem Boden heraufquoll und in Bächen über die scharfkantigen Felsen rann, während darüber faulige Gase umhertrieben. Eine Gestalt bewegte sich inmitten der Dunstfetzen: Ein einsamer, nackter Mensch kroch wie eine zertretene Krabbe ziellos und unter Schmerzen eine Hügelflanke hinunter. Elminsters von Dutzenden rasiermesserscharfer Felsen zerschnittene Fingerstümpfe bluteten, aber die geistigen Peitschenhiebe trieben den zitternden Mann vorwärts, ohne dass er das Ziel gekannt hätte. Stechmücke nach Stechmücke landete auf seinem bebenden Fleisch, labte sich ausgiebig an seinem Blut und hinterließ ihre Eier unter der Haut des Zauberers. Mit nur einem verbliebenen Arm hatte der Alte Magier keine Möglichkeit, die Quälgeister zu vertreiben. Er konnte sich nur stöhnend auf den Rücken wälzen. Doch so gelang es ihm, eine der summenden und brummenden Stechmücken zu zerquetschen, aber die anderen erhoben sich in einer Wolke und stürzten sich auf seinen Bauch, noch bevor er sich wieder herumwälzen konnte. 105
Vor ihm fiel der Boden ab, und Elminster erblickte eine Senke, bedeckt mit zerborstenen Felsbrocken, in der eine Schlucht klaffte, aus welcher dunkel brodelnder, fedriger Rauch quoll. Maden so lang wie drei Männer fielen wie sich windende Schlangen aus diesen dahintreibenden Wolken, plumpsten auf die Felsen und glitten davon. Die meisten schienen in der Lage zu sein, festzustellen, wo sich das meiste Blut befand, und wanden sich dorthin, wo sich bereits eine blasse, formlose Masse bewegte. Schwach glitzernde Lemuren fraßen Maden, welche sich in einer kleinen Grube ringelten. Die hungrigen Biester bemerkten anscheinend nicht, dass sich weitere Maden in ihre eigenen Hinterteile gruben. Ein wahrhaft wenig begeisternder Anblick – aber Elminster scherte sich ohnehin kaum darum, welche Richtung er in diesem Land des Todes und der Grausamkeit einschlug. An allen Ecken und Enden lauerten Gefahren. Feuerstöße erblühten über weit entfernten Bergkämmen, und ab und zu stiegen Spinagons und schlimmere Kreaturen auf und durchmaßen mit rauschenden Flügelschlägen die Luft über der Schlucht, wobei sie hungrig auf die Kämpfe tief unter ihnen starrten. Weiter unten erhob sich etwas in die Luft, das wie ein Spitzengewebe aus verschiedenen Kiefern und Klauen und Augen wirkte, ergänzt durch Stränge violetten Fleisches. Ein mit Widerhaken bewehrter Speer fuhr nach oben, und das Wesen schwang sich mit dessen Hilfe 106
brutal zu einem Teufel auf dem Boden hinunter. Das daraufhin ausbrechende Getümmel währte indes nur kurze Zeit, dann erhob sich das seltsame fliegende Ding wieder in die Luft, größer und schwerer als zuvor. Das Ungetüm flog höher, kreuzte dabei Elminsters Weg und bog in seine Richtung ab, um dann in einem raschen Sinkflug niederzuschweben, wobei seine Mäuler mit den vielen Zähnen an die Vorderseite der Höllenkreatur glitten. Das Monstrum stürzte in Windeseile mit weit klaffenden Kiefern auf sein Opfer zu, welches nirgendwohin entkommen konnte. Der Alte Zauberer beobachtete das Wesen grimmig. Würde Nergal seine Macht dadurch beweisen, dass er den Mann verteidigte, dessen Körper er so schrecklich zerschmettert hatte? Oder würde er zulassen, dass Elminster auseinander gerissen und verschlungen wurde? Würde der Teufelsfürst nur den Kopf des Zauberers retten? Das Ungeheuer mit den vielen Mäulern schwebte tiefer und kam immer näher, wobei ihm Fäden grünen Schleims aus den Mäulern troffen. Sein Blick aus Dutzenden schwarzgoldener Augen traf den des Zauberers, und jedes einzelne davon glitzerte vor hungriger Erwartung. Nun, die Antwort würde nicht lange auf sich warten lassen ... ICH GEHE ÜBER DIE ERINNERUNGEN, WELCHE IHR WIE SCHILDE VOR MIR HOCHHEBT, VOR UND ZURÜCK, ELMINSTER, UND DENNOCH FINDE ICH NICHTS IN DEM, WAS ICH SEHE. Wo 107
GEHEIMNISSE DES SILBERNEN FEUERS VERBORGEN? Wo BANNE UND DIE ZAUBERBÜCHER UND DIE VERSTECKTEN RINGE UND ZEPTER, ALLES, WAS VOR DER MACHT GLÜHT, NACH WELCHER ICH SUCHE? NUN? Der Teufelsfürst stöberte weiter und riss mit seinen Klauen Erinnerung um Erinnerung zur Seite. Ungeduldig bahnte er sich seinen Weg durch die dunklen, gewölbten Höhlen von Elminsters Erinnerungen. SIND DIE SIND DIE
Eine Elfenkönigin steht auf dem Scheitel einer Klippe. Die Fetzen ihres schwertzerhauenen, blutgetränkten Gewandes flattern in der abendlichen Brise. Während sie grimmig über das vom Sonnenuntergang beleuchtete Land blickt, umfasst sie die breiten, von einer Rüstung bedeckten Schultern eines grimmigen Zwerges. Er klammert sich an sie und drückt weinend sein Gesicht an ihren Bauch. Seine blutige Kriegsaxt baumelt an einer Schlaufe von seinem haarigen, müden Arm ... AH! IHR VERFÜGT ÜBER JAHRHUNDERTE SOLCHEN ABFALLS. WAS KÜMMERN MICH LÄNGST ZU STAUB ZERFALLENE STERBLICHE UND IHRE KÖNIGREICHE? Eine junge Magierin mit blitzenden Augen freut sich über ihren ersten gelungenen Zauber. Ihr Gesicht leuchtet so hell wie eine Lampe. Sie zieht den bräunlich verwelkten, skelettartigen Körper ihres Lurchmeisters in eine begeisterte Umarmung und bedeckt seine zerbröckelnden Lippen mit Küssen ... 108
IHR HABT IMMER EIN AUGE FÜR SCHÖNHEIT, WAS? FÜR MICH IST SCHWÄCHE SCHÖNHEIT – EINE LÜCKE, DURCH DIE MAN DRINGEN KANN, EIN GUTES MITTEL, EINEN FEIND ZU PACKEN, WELCHEN ICH BENUTZEN WILL. JAAAA ... Krieger mit grimmigen Gesichtern stützen sich auf ihre Äxte und Breitschwerter. In ihren Augen blitzt die nackte Drohung, während sie beobachten, wie Zauberer vorbeiziehen, unter ihnen Elminster. Ein Schwertträger rührt sich zu auffällig. Ein grünes, glühendes Siegel erwacht direkt vor dem knurrenden Krieger und friert ihn mitten im Schwung ein. Die Zauberer gehen fort, und die Krieger blicken finster und schweigend drein ... Nergal wanderte hierhin und dahin, durchstöberte staubiges Dunkel, wo kleine Dinge hin und her schossen und große schliefen. Der Teufel knurrte, während er vordrang. Elminsters lauerndes Bewusstsein stahl sich vor ihm davon, duckte sich hier, kroch dort in Gedankenschatten und zog Erinnerungen wie schützende Spinnweben hinter sich her. ANTWORTET MIR, MENSCHLEIN! GLAUBT IHR, IHR KÖNNTET EUCH IN EUREM EIGENEN GEIST VERSTECKEN? Eine Welt entfernt schnappten Kiefer und Klauen reißend und beißend zu. Elminster schrie oder versuchte es zumindest, und fiel zurück, als roter Schmerz in den dunklen Gewölben seines Geistes aufflammte. 109
Nergal gab ein Geräusch von sich, welches auf Ungeduld und Überraschung schließen ließ, und Linien blauen Feuers rasten hier und dort durch das Dunkel. Überall erklangen Töne und Echos von etwas, bei dem es sich um Knurren oder Schreie handeln mochte. Dann waren die Klauen und Kiefer verschwunden. Undeutlich fühlte Elminster, wie er auf scharfkantigen, teilnahmslosen Felsen zusammenbrach. ANTWORTET
MIR,
ELMINSTER! FOLGT MEINER AUFFORDERUNG, VERFLUCHTER NARR! Verflucht bin ich tatsächlich. Ich krümme mich hier, während meine Erinnerungen aus mir fließen wie Wasser, welches mir durch die Finger rinnt und verschwindet, für immer verschwindet ... DA HABT IHR RECHT. WEINT UND WEHKLAGT, ZAUBERER! WEINT UND WEHKLAGT. (ein plötzliches tasten in seinem geist zupackend wie ein Schraubstock dessen backen sich schließen) ABER ZUERST ZEIGT MIR, WIE MYSTRA DIESE ERINNERUNGEN MIT EUCH TEILT. WIE KAMEN SIE IN EUREN GEIST? WIE? ZEIGT ES MIR! ZEIGT ES MIR AUGENBLICKLICH! Dunkle Augen, die in Träumen schwimmen. Bilder strömen herein und wecken einen Alten Magier. Er sitzt kerzengerade vor Überraschung in seinem Schlafgemach, während ihm blauweißes Feuer aus den Augen strömt. Die Flammen spiegeln sich in den Augen der Gestalt wider, die neben ihm liegt – die lächelnde Sturm in früheren Zeiten, später die feurige Hexenkönigin 110
von Aglarond. Ihr Haar schwingt wie silberne, nach einem Feind lechzende Klingen um ihre schmalen Schultern, weil ... JA, JA. FRAUEN, WELCHE DIE EUREN WAREN UND DIE IHR AM LEBEN GELASSEN HABT! LASST MICH EIN, ZAUBERER! ICH WILL NICHT EUER GESICHT SEHEN, NACHDEM IHR GEIST DEN EUREN BERÜHRT HAT! ZEIGT ES MIR! (blendendes blauweißes feuer) AAAAH! IHR WAGT ES? (peitschenschlag im geist roter schmerz schwarze todespein niedertröpfelndes purpurrot Vernichtung) HÖRT MIT EUREM GEHEUL AUF! GLAUBT IHR, IHR WÄRT DER EINZIGE VON SICH SELBST ÜBERZEUGTE STERBLICHE, DESSEN GEIST ICH ANGEZAPFT HABE? (zögerliche heilung) NA ALSO. UND JETZT HÖRT MIT EUREN SPIELCHEN AUF, SONST BEKOMMT IHR SCHLIMMERES ZU SCHMECKEN. Keine Spielchen. Ihr verlangtet Mystras Gedankenberührung zu spüren, und ich zeigte Euch genau das. Das niemals sterbende Feuer. SIE KOMMT NUR IN EUREN TRÄUMEN? UND IHR SEHT DIE ERINNERUNGEN, WELCHE SIE HINTERLÄSST, ERST DANN, WENN SIE GEGANGEN IST? BAH! HÜTET EUCH, MICH ZU BETRÜGEN! SIE MUSS SICH AUF UNMITTELBAREM WEG ENTHÜLLEN, SONST LIESSE SIE EUCH JA OHNE JEDE HANDHABE ZURÜCK. Ja, und so hält sie es auch meistens. Wenn wir von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen, erhalte ich Bilder des Augenblickes und keine Erinnerungen, die es wert wären, geteilt zu werden. 111
NIEMALS MEHR? WIRKLICH NIEMALS? (ein flüchtiger blick) AHA! (wirre rasch vorbeirasende bilder) HA! WAS IST DAS? (ein schwinden immer noch im griff des teufels nach unten in eine helligkeit von mystra, vor langer langer zeit im land von elminsters jugend ...) Augen, in denen Tränen schwammen, starrten in die seinen. Elminster rang nach Luft, als Lippen, welche wie Feuer und Eis brannten, seine Kehle küssten, zu seiner Schulter weiterwanderten und sanft zubissen. Silbernes Feuer floss aus der Wunde und vermischte sich mit der blauweißen Flamme, welche aus ihrem Haar, ihren Händen loderte und ohne Unterlass, einem königlichen Mantel gleich, hinter ihr herwallte. Sie schwebten wie ein blauweißer Stern hoch in der Luft über Athalantar. Als sie aufeinander zurollten, erhaschte Elminster einen kurzen Blick auf die flackernden Lichter der Laternen tief unter ihnen. »Deine kecke Zärtlichkeit, Elminster – ach, ich könnte sie auf ewig in mich hineintrinken. Gib sie mir, mein Auserwählter, gib sie deiner Mystra.« »Mit Entzücken«, brummte Elminster. Er war jung, seine Augen glänzten, und er war gefügig. Während sie mitten im Feuer dahinwogten, flössen Erinnerungen in seinen Geist, welche nicht von ihm selbst stammten. Bilder wirbelten umher, krachten gegeneinander und rasten in ein wildes Durcheinander aus umstürzenden Türmen und Drachen, die sich im 112
Kampf darin verbissen. Die Erde bebte. Felsen verschoben sich. Hochmütige Magier wirkten Zauber, welche den Himmel hell aufleuchten ließen ... So, IHRE ERINNERUNGEN TRÖPFELN ALSO IN EUREN GEIST, WENN IHR VERBUNDEN SEID? SIE MUSS DIES MIT ABSICHT TUN, SONST WÜRDET IHR EINER WAHRHAFT SCHWACHEN GÖTTIN DIENEN. (tränen ein fall aus dem licht in die dunkelheit verloren und allein) OH, HÖRT DAMIT AUF! IHR MÖGT EINE GÖTTIN GELIEBT HABEN UND AM LEBEN GEBLIEBEN SEIN, ABER WENN IHR MIR WIDERSTAND LEISTET, WERDET IHR STERBEN. ZEIGT MIR MEHR VON DEM SILBERFEUER, WELCHES IN EUCH FLIESST! JA! JA! (ein weiterer brutaler vorstoß in seinen geist welcher klare erinnerungen durchbohrt) (weinen schimmernde tränen Unterwerfung) Hoch über Myth Drannor schimmerten ruhige sommerliche Sterne. Elminster schwebte nachdenklich über den nächtlichen Himmel dahin und schaute auf die großartigen, glühenden Türme der Stadt nieder. Sie würden bald fallen, wenn dem Betrug, dem übertriebenen Stolz und der gefährlichen Einmischung der Familie Starym nicht bald begegnet würde. All diese Schönheit würde verloren gehen ... So wie zuvor Netheril, erklang eine durchdringende Stimme in den Tiefen seines Geistes. Blauweißes Feuer liebkoste die Luft um ihn herum. Das ist der Weg aller Dinge, kostbarster unter meinen Auserwählten. 113
»Heilige Mystra«, flüsterte Elminster. Das Feuer nahm einen tieferen, dunkleren Farbton an, verwandelte sich in eine blauschwarze Ansammlung winziger Sterne – ihre allerper-sönlichste Erscheinungsform. »Ich schätze mich überglücklich, dich zu sehen. Wie war ich bis jetzt traurig und einsam.« Ich auch. Diese Augen, in welche er für alle Zeiten eintauchen wollte, öffneten sich vor ihm in der Luft und saugten ihn in sich hinein. Lasse uns einander Trost spenden mit dem Körper und dem Geist. Silbernes Feuer entfaltete sich in dem dahintreibenden Mann, breitete sich in immer rascher aufflammender Erregung aus und vereinigte sich mit der gewaltigeren Flamme, aus welcher es geboren worden war. Sterne umspielten schlanke Arme und Lippen und verschwanden in einem Schweif dunklen Triumphes, als der Fluss der Bilder einsetzte. Geist traf auf Geist. Silbernes Feuer blühte auf und schoss hin und her, schneller und immer schneller. Mit einem Entzückensschrei, der wie ein stolzer Trompetenstoß klang, schrie Elminster Aumar seinen eigenen Namen hinaus, auf dass er an ihm hafte ... ja, ja, ja, es kam, es kam ... (feuer weiß und stürmisch allüberwältigend steigert sich zu heller blendender glorie) Von einem Moment auf den anderen war das Feuer vergangen, und Elminster wand sich auf den Felsen 114
unter einem blutroten Himmel. Ein rauer, wortloser Schrei zerriss die Luft der Hölle hinter ihm. Geringere Teufel stoben hinauf in die Luft wie Fledermäuse, die in der Dämmerung aus einer Höhle quollen. Sie flogen in Richtung des in Todespein ausgestoßenen Schreis, eifrig darauf bedacht, den Sturz des Mächtigen zu sehen. Schwach und von Übelkeit überwältigt rollte sich der einarmige Mann in eine Felsspalte. Dort zerrte er die aschfarbenen Knochen eines vor langer Zeit gefallenen Teufels über sich. Ein grotesker gehörnter Schädel starrte ihn mit seinem ewigen Grinsen an. Wäre das Schicksal gerecht oder die Gnade Mystras mit ihm, so hätte er jetzt keinen Nergal, der ihn vor den Klauen vorbeiziehender Baatezu schützen würde. Ja, so weit war es gekommen – er frohlockte angesichts der Aussicht, ungeschützt und allein in der Hölle von Awernus zu liegen. Elminster schloss die Augen, wickelte sich in diesen bitteren Gedanken und stieg erneut in die dunklen Gewölbe seiner Erinnerungen hinab, um dort Nergal zu suchen. Der ausgestoßene Teufel hatte bereits bewiesen, dass er ein brutaler Kerl war und über kaum mehr Scharfsinn verfügte als irgendein schlauer Söldner in Faerun. Wenn ihm bereits die schlichte Erinnerung an Mystras Gedankenberührung solche Schmerzen verursachte, dann mochte der Teufel schwach genug sein, dass Mystras Auserwählter sich trotz seiner Schwäche 115
und Erschöpfung seinem Griff entwinden konnte. Vorsichtig schlich Elminster durch seinen Geist und suchte nach dem Ort, an welchem nichts als eine purpurrote Ruine übrig geblieben war – dem Teil seines Geistes, der für immer verschwunden war. Die Ruine breitete sich aus ... Da, inmitten von blutrotem Glühen und zerrissenen Erinnerungsfetzen, fand er Nergal. Riesige, grau gesprenkelte Schultern mit Stacheln, Tentakel, steif vor immer noch spürbarem Schmerz, große krallenbewehrte Hände, welche blindlings umherfuchtelten ... (schmerzen beim zorn der neun welche schmerzen) Das also war es, was Göttinnen einem zufügen konnten ... und verräterische Zauberer ... Vorsichtig kniete Elminster sich nieder. Er rief einen winzigen Hauch des Silberfeuers auf. Mit einer Fingerspitze zeichnete er eine Linie auf den ausgetretenen, staubigen Stein. Die Linie rauchte, als er sich seinen Weg über den Boden seiner Erinnerungen ätzte und dabei noch mehr Erinnerungen aufrief, als wolle er sich von seinem erschauernden Gefangenenwärter fern halten. Um diese Säule von Dingen herum, welche man am besten vergaß, und diese da, die Bedauern enthielt, dann schnell diesen dunklen Weg hinunter, geschickt und leise ... WAS GESCHIEHT DA? STERBLICHER, WAS TUT IHR DA? Nun durch diese Kammer, ohne zu antworten, und ganz rasch über die Treppenstufen dahinter nach un116
ten, vorbei an bebenden Wänden zur Linken, hinter denen sich der Teufelsfürst regte... WAS TUT IHR? Antworte nicht, sondern renne, wobei Silberfeuer in einem hellen, zerfleischenden Schweif hinter dir her weht, noch mehr Treppenstufen hinunter. Jetzt nach links und durch die Säulen gewunden bis zu dem Torbogen dahinter ... zum Teufel, dort vorn scheint Licht auf, rot und hell, und er wartet ... Schließe die Hände über dem Silberfeuer, zwinge es nieder, sinke in die Steine, werde dunkel und still, eine Statue in dieser Halle voller Statuen. Eine unter vielen, kalt und stumm. Sei Stein. Sei nicht da. Sei verloren, und sei vergessen. Teufelsfürsten kommen schliddernd herangetrampelt. Ein langsames Rutschen und dann schwere, aber nicht eilige Schritte. Er kommt. Schritte. Näher. Sei Stein. Langsam kommt er heran. Langsam und sorgfältig. Sind wir jetzt doch misstrauisch geworden, Allermächtigster von ganz Awernus? Schritte, das Scharren von Klauen auf Stein. ELMINSTER, STEHT AUF. ICH KENNE EUCH. Steinerne Stille. Schmerz wird auf alle Fälle kommen, so sei aus Stein und lass ihn vor Zorn blind werden. 117
(eiskaltes stochern langsam scharf und wohlüberlegt das mitten in sein ziel trifft) (sich krümmen vor alles verzerrendem schmerz) JA. BETRÜGT MICH NICHT. KLEINE KRIECHENDE KREATUR DES SILBERFEUERS. NERGAL DURCHSCHRITT BEREITS STOLZ DIE HÖLLE, ALS ATHALANTAR NOCH NICHT GEBOREN WAR. (schmerz schmerz schmerz) (grimmige befriedigung nergals forderung hallt durch einen zerstörten geist ein sterblicher zauberer krümmt sich speichel tropft aus seinem mund er erhebt sich auf awernus wie ein grinsender idiot löst sich von seinen knochen) Ein Abischai tauchte auf. Er streckte die Krallen aus und riss das vor Zähnen strotzende Maul auf, und seine schwarzen Flügel verhießen den sicheren Tod ... Rotes und purpurnes Feuer erblühte zwischen den klaffenden Kiefern des Teufels, und sein Kopf explodierte, woraufhin feuchte Fäulnis auf Elminster niederregnete und ihm Awernus rings um ihn herum wieder voll und ganz ins Bewusstsein brachte. Er stand in der Spalte, in der er sich hatte verstecken wollen. Der kopflose Körper des Abischai fiel schwer auf die Steine vor dem Zauberer, und seine Muskeln versuchten noch immer zu fliegen. Dahinter schoss ein riesiger Drache schwarz und schrecklich durch den Himmel. Wie ein inmitten einer Schule von Silberflossen umherschießender Hai schnappte er nach fliehenden Spinagons. Feuer erhob sich von der Wand einer zu seiner Linken gelegenen schwarzen Klippe – 118
EIN ABISCHAI WENIGER, DER MEIN SPIELZEUG ZERREISSEN SEID DANKBAR, ZAUBERER, DASS ICH EUCH NOCH NICHT GETÖTET HABE. Ich habe Euch nicht angegriffen. Ihr eignet Euch meine Erinnerungen an, und sie sind, was sie sind. Ich kann sie nicht ändern. Ihr habt gefühlt, was ich fühlte. WAHRLICH EINDRUCKSVOLL. KEIN WUNDER, DASS IHR AUFSTEHT UND MIR TROTZT. Elminster bemühte sich mit äußerster Vorsicht darum, still und leise zu bleiben, und zwar sowohl in seiner Spalte wie in seinem Geist. EINE VERBINDUNG DER GEISTER UND FREIGEBIG GETEILTE ERINNERUNGEN! AUF DIESE WEISE WIRD EURE ERGEBENHEIT IMMER WIEDER AUFS NEUE GEFESTIGT, ZUMAL SIE EUCH HÖCHSTES ENTZÜCKEN LIEFERT, BIS IHR NACH DER GÖTTLICHEN BERÜHRUNG SÜCHTIG SEID UND ALLES TUN WÜRDET, UM SIE WIEDER ZU VERSPÜREN! Elminster neigte den Kopf. Ja, das ist eine Art, die Dinge zu betrachten. (grimmiges grinsen) KÖNNT IHR NICHT EINFACH SAGEN, DASS ICH RECHT HABE, ZAUBERLEIN? Mystra würde das ganz anders beurteilen, meinte Elminster mit so viel innerer Würde, wie er aufzubringen vermochte. (Das Bild von überkreuzten Armen, aufgerichtetem Körper, erhobenem Kinn) SIE HAT SICHERLICH TROTZ IN EUCH HERANGEZÜCHTET ODER EUCH AUFGRUND DIESER EIGENSCHAFT AUSERWÄHLT. WAS EUCH BEIDE ZU NARREN MACHT. (plötzliches stochern im geist) KÖNNTE.
119
(winseln) (hell aufblitzendes bild auf bild auf bild) SO, UND JETZT KEINE WEITEREN VEREINIGUNGEN MIT JENER, WELCHE MYSTRA IST. Gemeinsamer Gedanke: Was bedeutet, dass nicht die Spur einer Verbindung bleibt, die es Mystra erlaubt, durch ihren Auserwählten hindurch Schaden in der Hölle anzurichten. (erleichterung) UND JETZT, KLEINER MANN, LASST UNS ZU DEM SILBERFEUER GEHEN. (scharfer schmerz dann taubheit) Elminster wand sich in seiner Spalte. Eine Made, größer als er selbst, hatte ihre Fänge in seine linke Schulter gegraben. Ihr glitzernder Körper wogte über seinen Brustkorb, als sie sich einen Weg in seinen Köper grub ... Sich vor Schmerz krümmend versuchte er, nach ihr zu greifen, aber jetzt erklang überall um ihn herum Nergals Gelächter. VON MADEN DURCHDRUNGEN? DAS PASST ZU EUCH, VERRÄTERISCHER STERBLICHER! NUN, JETZT HERAUS AUS DIESER SPALTE UND GEKROCHEN! JA, GENAU SO! Elminster stellte fest, dass er wieder taumelnd über die zerborstenen Felsen lief, wobei ihn das Gewicht der um ihn gewickelten und sich hungrig ihren Weg durch ihn nagenden Made zum Stolpern und Schwanken brachte. MEINE MAGIE WIRD EUCH AM LEBEN HALTEN, VEREHRTER GAST. ABER ICH BEDAURE, EUCH MITTEILEN ZU MÜSSEN, DASS IHR LEIDEN WERDET. 120
(ein anf all von gelächter) KEINE ANGST, ICH WERDE EUCH AM LEBEN ERHALTEN. MEINE ERKUNDUNGSREISE DURCH EUREN GEIST WIRD WEITERGEHEN, UND ZWAR NOCH VIEL VORSICHTIGER ALS BISHER, UND IHR WERDET EINEN KLEINEN SPAZIERGANG DURCH DIE HÖLLE MACHEN. (schmerz schmerz welcher sich scharf auf ihn stürzte sich ausbreitende pein und eine made die nagte und sich in ihn hineinfraß) HOCH MIT EUCH, ZAUBERLEIN! IST MAGIE NICHT EINE WUNDERBARE SACHE? NUN LASST UNS NACH EUREN FRÜHEN JAHREN SUCHEN, GESCHÖPF DER MYSTRA, UND DORT ABENTEUER BESTEHEN. ZEIGT MIR EINE FRÜHE ZEIT, ALS IHR MIT ANDEREN ARBEITETET, SO DASS ICH FESTSTELLEN KANN, WIE MYSTRAS HAND EUCH FORMTE! (die gesichter von freunden die zinnen von burgen ein von wolken verhangener mond eine dunkle gasse und ein gezücktes schwert ...) NA ALSO! ZEIGT ES MIR, ELMINSTER! (wieder andere zinnen andere gesichter von denen eines herantrieb ein bärtiger fetter zauberer welcher mit gerunzelter stirn und im bewusstsein seiner wichtigkeit dahinstolzierte) JA, DAS IST GENAU RICHTIG! ZEIGT ES MIR! Hört mich an, Vangerdahast. Um der Liebe der Herrin willen, der wir beide dienen, hört mich an. LASST DIESES GEDANKENGEMURMEL SEIN, MAGIER! ZEIGT ES MIR! (bilder wirbeln blendend hell auf und entfalteten sich) 121
»Hier durch, A-allerehrwürdigster Zauberfürst«, sprach der einer Maus ähnelnde Hüter der Grüfte mit bebender Stimme. »Ja, ja, ja«, antwortete Vangerdahast gereizt, denn er hatte vor langen Jahren höchstpersönlich seinen Teil an Schutzzaubern auf die Halle der Schriftrollen und Hauptbücher gelegt, und unter den Hofbeamten war er der Einzige, welcher häufig ihren Inhalt zu Rate zog. Er verfügte über eine klare Vorstellung, wo sich eine solch riesige und zentrale Halle befinden mochte. Als ob er nicht gerade jetzt wichtigere Sorgen hätte – Er hielt inne, erstarrte und öffnete angesichts dessen, was er vor sich sah, sperrangelweit den Mund. Einen Augenblick später schloss er ihn wieder ... viel zu spät, als dass dies der Aufmerksamkeit des Hüters entgangen wäre. Der kleine Mann getraute sich nicht so recht, das Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen, aber er konnte nicht verhindern, dass man das seinen plötzlich triumphierend funkelnden Augen ansah. »Lasst uns allein«, schnappte der Königliche Zauberer kurz angebunden, »und schließt die Tür hinter Euch.« Er verschwendete keine Zeit darauf, hinter dem davoneilenden Höfling her zu blicken, und bewegte keinen Muskel, bis die riesigen, schweren Bronzetüren krachend ins Schloss gefallen waren ... und bis er allein mit dem Ding war. Dem Ding, das nicht hätte hier sein dürfen. Seine Vorgänger mit den Generationen von Kriegs122
zauberern unter ihrem Befehl und einige wenige zu Besuch weilende Magier, welche solches Vertrauen verdienten, hatten Bann auf kriechenden, flackernden Bann auf die Wände, Decken und Böden der Halle und der sie umgebenden Kammern gelegt. Sie hatten Verteidigungszauber gewirkt, welche eigens dazu dienen sollten, jede neue Methode des Ausspionierens, des von der Stelle Bewegens oder einer anderen Art des Zugriffs zu vereiteln. All diese Zauberbanne wurden über die Jahrhunderte hinweg immer zahlreicher und formten inzwischen ein solch vertracktes Netz, dass es keinem lebenden Menschen gelingen mochte, es ohne monatelange Anstrengung und nicht unerhebliche persönliche Gefahren zu entwirren. Vangerdahast selbst hatte die bestehenden magischen Banne mit verschiedenen subtilen Irreführungen belegt, um mit Ausnahme der Anwender von Wunschzaubern alle an der Nase herumzuführen. Er hatte zudem weitaus weniger subtile Rückschlagbanne gewirkt, welche eindringende Zauber verdrehten, so dass ihre alles zerschmetternden Rückstöße bei ihrem Erzeuger Lähmung und Schwachsinn hervorriefen und sie in alle Richtungen explodieren ließen, sofern ihnen nicht ein geheimes Schlüsselwort vorausgeschickt wurde. Der Hofzauberer verspürte die nicht gelinde Versuchung, ein magisches Geschoss auf das Ding zu schleudern, welches sich jetzt vor ihm aus dem Boden erhob, selbst wenn jeder seiner Schläge zu ihm zurückkom123
men würde. Der Königliche Magier stieß den Atem aus, von dem er bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass er ihn anhielt. Er tat ein paar vorsichtige Schritte zur Seite und starrte das Geheimnis an, welches in der Halle aufgetaucht war. Die verkrümmte Hand eines Menschen – mit langen Fingern und der Ringe beraubt, welche schmale weiße Bänder in seinem Fleisch hinterlassen hatten, sowie einigen wenigen schwarzen Haaren auf dem Rücken – erhob sich aus dem glasglatten Marmor des Bodens. Die vierzig Fuß im Quadrat messende Marmorplatte wog viele Tonnen. Es schien so, als sei der Besitzer der Hand in dieser Platte eingeschlossen, denn die Hand wirkte nicht wie abgehackt. Vangerdahast verspürte das plötzliche Bedürfnis, ihr einen kräftigen Tritt zu verpassen, um sich dessen zu vergewissern, aber Königliche Magier von Kormyr werden nicht alt und fett, indem sie dumme Handlungen vollbringen. Deshalb begnügte er sich damit, in der Halle umherzuspähen, bis er sicher sein konnte, dass sich sonst nichts von der Stelle bewegt hatte oder fehlte. Er umkreiste die Hand, welche sich nicht im Geringsten gerührt hatte, ohne danach klüger zu sein. Der Königliche Zauberer verließ die Halle. Er befahl dem ängstlichen Hüter und den draußen in einem Kreis versammelten Purpurdrachenwächtern mit den steinernen Mienen in aller Strenge, den ganzen Flügel des Palastes zu durchsuchen und sich dann so weit wie 124
möglich zurückzuziehen, und zwar in die Kammer des Dreisten Narren. Danach stand er still da und wartete ab, bis die Geräusche ihres folgsamen Abzuges verklungen waren. Vangerdahast sprach ruhig ein einziges Wort aus und erweckte solcherart Wächterzauber, welche ihm alle versteckt lauernden Spione enthüllen würden. Ohne die mindeste Überraschung erfuhr er dann, dass sich im Umkreis kein einziger Eindringling aufhielt. Nachdem er sich vergewissert hatte, auf einer bestimmten Kachel des Bodens zu stehen, berührte er eines der Glieder einer versteckten Kette um seinen Hals und sprach dann ein Wort aus, von dem er gehofft hatte, es niemals wieder benutzen zu müssen. Plötzlich stand ein großer Mann im schwarzen Umhang auf der nächsten Fliese. Er strich sich über den Bart und schaute alles andere als glücklich drein. »Ja?«, schnappte er kurz und knapp. Vangerdahast verbeugte sich leicht vor seinem Gast. »Ich bitte um Vergebung, Fürst Khelben. Seid willkommen im königlichen Palast von Kormyr in Suzail.« »Es mag seltsam genug erscheinen, Vangerdahast«, brummte Khelben, »aber ich weiß, wo sich der königliche Palast befindet. Ich werde sogar die Entschuldigung annehmen. Die Ehre Eurer Gastfreundschaft überwältigt mich, und sie wird dies umso mehr tun, wenn Ihr die Gründe für meine Vorladung vor mir ausbreitet.« Einer seiner Mundwinkel kräuselte sich nach oben. »Eine einigermaßen befriedigende Antwort mag vielleicht sogar Laerals Zorn über mein abruptes Ver125
schwinden besänftigen. Achtet auf das ›vielleicht‹, und antwortet entsprechend.« Als sich ihre Blicke trafen, holte Vangerdahast tief Luft. »Wir stehen außerhalb der Halle der Schriftrollen und Bücher. Ihr habt Eure Hand im Spiel gehabt, als einige der immer noch wirksamen Verteidigungszauber geschmiedet wurden. Etwas ist nun aber dort drinnen erschienen; ich setze meine Hoffnung darauf, dass Ihr es erkennen und sein Erscheinen erklären könnt.« Der Schwarze Stab hob eine dunkle Augenbraue, drehte den Kopf und starrte die massive Doppeltür an. Dann vollführte er mit einer Hand eine Drehbewegung. Ein Augenblick sirrender Stille folgte, dann zerbarsten die Türen mit einem an- und gleich darauf wieder abschwellenden Donnergetöse in Einzelteile, von denen Staub hochwirbelte. Der Lärm der niederfallenden Metallteile wurde augenblicklich von dünner Luft direkt über den Bodenkacheln geschluckt, auf welchen die beiden Männer standen. »Wie –?« »Einer der Zauber, welche ich vor langer Zeit wirkte. Keine Tür in diesem Plast kann mir widerstehen.« Jetzt war Vangerdahast an der Reihe, die Stirn zu runzeln. »Oh? Warum habt Ihr das getan?« Khelben zuckte die Achseln. »Wir alle haben unsere Wege, Dinge zu tun.« Er deutete über den spiegelnden Boden der Halle hinüber zu der menschlichen Hand, welche auf so unmögliche Weise aus dem glatten Marmor wuchs. »Dies zum Beispiel ist Elminsters Werk.« »Was?«, stieß der Königliche Magier hervor. »Seid Ihr 126
dessen sicher?« Khelben begab sich zu einer bestimmten Stelle des Bodens und murmelte ein Wort. Die Luft schimmerte für einen Augenblick, und er hob eine Hand und schob sie in das helle Leuchten. Als die Helligkeit verschwand, hielt der Zauberfürst von Tiefwasser eine große und reich verzierte Karaffe in der Hand. »Ohne jeden Zweifel. Ich habe diesen Zauber schon früher einmal gesehen. Jemand löste eine seiner Fallen aus – welche vielleicht an einer Stelle angebracht war, wo er sich mit der Simbul trifft.« »Hm, das da ist ein Roter Zauberer«, vermutete Vangerdahast. »Beziehungsweise das war einer.« Khelben nickte und nippte am Inhalt der Karaffe, ohne sich um ein Glas zu kümmern. Vangerdahast schaute die Karaffe alles andere als glücklich an. Wie viele weitere verborgene Überraschungen mochte das Netz der Halle noch bereithalten? Er fragte mit einigem Zögern: »Und wie werden wir diese ›Erscheinung‹ wieder los?« Khelben leckte sich über die Lippen und erhob von neuem die Karaffe. »Ich hege keinen Zweifel daran, dass Ihr wisst, wie Ihr ihn anzurufen habt«, erwiderte er. »Selbst wenn Ihr das nicht wollt.« Vangerdahast gab ein Winseln von sich, als habe ihn ein Schlag getroffen. Er zog sich widerstrebend durch den Eingang zurück, den jetzt keine Tür mehr schützte, hob eine Hand und murmelte ein paar Worte. Khelben beobachtete den Zauberer mit einem kaum 127
merklichen Lächeln. Einen Augenblick darauf glomm ein Ring aus Licht auf den Fliesen des Bodens auf. Und einen Moment später stand eine Gestalt in seiner Mitte. Sie war groß und schlank – man hätte behaupten können, sie sei knochig, denn ihre Rippen zeichneten sich deutlich sichtbar ab. Ungebändigtes Silberhaar wirbelte um sie herum wie ein Nest aufgescheuchter Schlangen. Sie blickte den Mann an, der sie hergerufen hatte. Vangerdahast schluckte. Die zornigen Augen der Simbul, Hexenkönigin von Aglarond, blitzten kaum drei Schritte von seinem Gesicht entfernt. Sie trug keine Kleider und wirkte alles andere als erfreut. »Vangerda–«, setzte sie mit gefährlich tiefer, leiser Stimme an. Blaue Funken magischen Feuers sammelte sich über ihrer linken Handfläche, als die Zauberin sich umwandte und die Halle musterte. Der Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich mit einem Mal. Jauchzend vor Freude eilte sie mit lautlosen Schritten barfüßig über den Boden zu der Stelle, wo die Hand aus dem Marmor ragte. Sie beugte sich vor, um darauf niederschauen zu können, und beide Männer starrten sie an, schauten beiseite, räusperten sich und drehten sich dann wieder zu ihr um. Die nackte Zauberin klatschte in die Hände und zischte erfreut: »Adrelgus, ja! Dumm genug, mich töten zu wollen!« Sie wirbelte herum und beäugte die beiden Zauberer, 128
stemmte die Hände in die Hüften und sprudelte hervor: »Das ist es also, was Elminster meinte, als er von einem ›feinen und kleinen Geschenk‹ sprach, welches sich mir ›entgegenrecken‹ würde!« Wieder klatschte die Großmagierin in die Hände, dann murmelte sie etwas. Die Hand verschwand urplötzlich, und der marmorne Boden schimmerte so glatt und unberührt, als sei sie nie da gewesen. Die Simbul bedachte die Zauberer mit einem fröhlichen Winken, warf ihr Haar in einer geradezu trotzig aufreizenden Geste nach hinten und schnalzte mit den Fingern – und dann war auch sie verschwunden. Die beiden Männer starrten hilflos auf die Stelle, wo sie gestanden hatte, räusperten sich wieder und drehten sich langsam um, um einander anzublicken. »Solltet Ihr je gefangen werden«, meinte Khelben in betont trockenem Ton, »dann sorgt dafür, dass dies nicht durch eine Frau geschieht ... oder wenigstens nicht durch diese.« Vangerdahast starrte unwillkürlich auf die Stelle am Boden, wo sich die Hand befunden hatte. Die glatte Fläche bot keinen Hinweis darauf, dass dort jemals ein Roter Zauberer festgesessen hatte. »In wie viele Paläste, Grüfte und Burgen in Faerun, welche ihre Besitzer für sicher halten«, fragte er matt, »vermag man so leicht eine Bresche zu schlagen?« Khelben lächelte, wobei sich allerdings nur einer seiner Mundwinkel kräuselte. »Oh«, antwortete er dann leise, »Ihr wärt überrascht.«
129
NEIN, NEIN! (aufwallen von wut) NICHT DIE ZAUBERER, WELCHE IHR UNTERRICHTET ODER MIT IN EUER BETT GENOMMEN HABT! DIE FRÜHEN TAGE, so BEFAHL ICH EUCH! BAH! WENN MYSTRA EUCH NICHT HERANZÜCHTETE ODER SCHUF, DANN WÄHLTE SIE EUCH AUS! NEHMT MICH MIT BIS IN DIE ZEIT VOR EURER GEBURT ZU WELCHEN ERINNERUNGEN SIE EUCH AUCH IMMER EINGAB, WAS EUER AUSERWÄHLTSEIN ANBETRIFFT ... UND LASST UNS DEN GRUND DAFÜR SEHEN. DUMMER ZAUBERER. Der Königliche Zauberer von Kormyr schaute hinauf in die Augen der Königin Filfawril und stellte fest, dass sie genauso zornig blitzten, wie er erwartet hatte. Meinen Dank, o ihr zuschauenden Götter. »Ihr tatet recht daran, nach mir zu schicken, Hoheit«, begann er ernst. Die Königin nickte mit erstarrtem Gesicht, dann zeigte sie auf die Türwächter, ihre Hofdamen, zwei hinter Vangerdahast stehende Kriegszauberer und schließlich zur Tür. »K-königliche Hoheit?«, wagte eine der Wachen zu fragen, worauf er einen finsteren königlichen Blick und eine gebieterische Geste in Richtung der Tür erntete. Dies reichte, um alle dazu zu bringen, eilig und wortlos den Raum zu verlassen. Vangerdahast stand reglos da und blickte die Königin 130
an, während er darauf wartete, dass der Strom von hastigen, stillen Körpern endlich verschwand und er mit der Herrscherin allein war. »Hoheit?«, fragte er und bemühte sich erst gar nicht, seinen Seufzer zu unterdrücken. »Vangerdahast«, antwortete die Königin und stieß ihrerseits einen ärgerlichen Seufzer aus, »nennt mich Faeril oder Fee oder meinethalben auch ›dumme Nuss‹, aber hört auf, mich anzustarren, als habe ich eigenhändig das Königreich ins Verderben gestürzt! Was mögt Ihr angestellt haben, das vielleicht sogar noch wichtiger sein könnte als die Aufdeckung einer Verschwörung gegen den Thron?« »Königliche Hoheit«, sagte er, trat vor und umklammerte ihre Hand, »das weiß ich nicht. Eurem Ruf folgend befand ich mich auf dem Weg hierher, als – als mir etwas einfiel.« Die Königin sprach kein Wort, sondern hob nur ungläubig eine Augenbraue. Vandergahast bedachte sie mit einem schiefen Lächeln und fügte hinzu: »Ich bin noch nicht ganz dem Altersschwachsinn anheim gefallen, Faeril. Es handelte sich um eine zweifellos wichtige Erinnerung – an den Zauberer Khelben und die Königin von Aglarond, hier in diesen Hallen – und ich kann mir nicht erklären, weshalb sie in mein Gedächtnis zurückkam. So plötzlich und so lebendig – und alles spielte sich so deutlich vor mir ab, als ob ich es wirklich miterlebe.« Die Augen der Königin verengten sich zu Schlitzen. »Khelben und die Simbul – hier? Wann genau ist das 131
geschehen?« Vangerdahast seufzte. »Hoheit«, antwortete er, »das ist kein Bestandteil der gegenwärtigen Verrätereien. Ich erkläre es Euch später, sobald Ihr offen gelegt habt, was auch immer an Plänen zurzeit geschmiedet wird. Ist zufällig Fürstin Kessemer maßgeblich daran beteiligt?« Filfawrü starrte ihn an. »Wie kommt es, dass Ihr davon wisst?« Der Königliche Magier hüstelte. »Hoheit«, rief er ihr nachsichtig ins Gedächtnis, »ich bin Zauberer.« Das wütende Blitzen kehrte in die Augen der Königin zurück, und dieses Mal in voller Stärke. »Ihr habt es gewusst und mich nicht davon unterrichtet?« Vangerdahast gab sich große Mühe, weder zu seufzen noch die Augen zu verdrehen. »Hoheit«, begann er vorsichtig ... »Ssssso, Königin von Aglarond, immerhin ssstreunt Ihr in meiner Reisssweite herum! Ein kleiner Fehler, aber isss fürchte, essss issst Euer letsssster!« Die großen Fledermausflügel des hämisch grinsenden Teufels streiften sie, als sie vom Himmel taumelte. Sie fiel hart auf Felsen. Die grausamen Krallen Dutzender lachender Teufel hielten sie gefangen und fuhren erbarmungslos in ihr Fleisch, bevor sie sich erheben konnte, und entblößten sie – gerade im richtigen Mo132
ment, als die Peitsche des großen Ungeheuers niedersauste. Mystra! Welch ein Feuer! Im Griff der Teufelsdiener gefangen, vermochte sich die schreiende und schluchzende Simbul nicht einmal unter dem schneidenden Schmerz zu krümmen. Klauen verfingen sich in ihrem Haar und ihrer Kehle und zerrten ihr den Kopf zurück, so dass sie nach hinten gebogen wurde. Ihre von Blut durchtränkte, von der Peitsche zerfetzte Vorderseite drehte sich dem Himmel zu, der ebenfalls eine blutrote Färbung aufwies. »Nun, wie mag wohl eine von den Göttern berührte Sssterbliche sssmecken, frage isss misssss«, gurrte der große Teufel und streckte einen unfassbar langen schwarzen Arm nach ihr aus. Ausgebreitet wie ein Adler und vollkommen hilflos vermochte die Simbul nur zu stöhnen, als sich die riesige, klauenbewehrte Hand um ihren Brustkorb schloss und grausam zudrückte. Nägel gruben sich in ihr Fleisch. Die Klauen des Teufels brannten heiß. Sie konnte hören, wie ihr verbrennendes Fleisch zischte, und der Geruch verursachte ihr größere Übelkeit als der neue Schmerz. Irgendwie brachte sie einen Schrei zustande: »Nein! Nein! Neiiiin!« Ihr Schrei ließ Kristalle und Edelsteine in der Dunkelheit überall um sie herum summen und klingen. Keuchend starrte Alassra Silberhand auf die Decke ihrer eigenen Schlafkammer. 133
Keine Teufel, kein blutroter Himmel ... sie lag allein in ihrem Bett und schlug in Schweiß gebadet um sich. Ihre Hände hatten sich in den schweren, mit Goldfäden durchwobenen Seidenstoff gekrampft, auf welchem sie lag, und ihren Körper umgab nichts als Luft – kühle Luft. Und dennoch schien sie in Flammen zu stehen, heiß und brennend, als ob ein Fieber in ihr raste – Nein, das Feuer loderte in ihrer Brust! Die Simbul keuchte das Wort hervor, welches die Decke zum Glühen brachte. In dem Licht begutachtete sie ihren Körper von oben bis unten. Sie sah überall Blut, getrocknetes Blut... aber nicht genug, um die schreckliche Narbe auf ihrer Brust zu verbergen. Es handelte sich um eine tiefe Verbrennung – ein Brandzeichen, welches sie für immer tragen würde, sofern nicht Magie es verbannte. Die Verletzung sah ganz danach aus, als stamme sie von riesigen, langen Klauen mit scharfen Krallen. Keuchend vor Zorn, Furcht und Schmerz setzte sie sich auf und fuhr mit einer Hand über ihr gequältes Fleisch. Ja, die Wunde war echt. Ihre Kiefer verkrampften sich zornig, bevor ihre Hände zu zweien der Edelsteine zuckten, welche in die Bettseiten eingelassen waren. Magie entflammte in den Steinen. Das Berühren des ersten Edelsteins verriet ihr, dass kein Übel in ihr lauerte, und sie ließ den zweiten seine heilende Wirkung ausüben. 134
Da der Schmerz jetzt abebbte, vermochte sie leichter zu atmen. Die Königin von Aglarond warf den Kopf in den Nacken, wobei sich ihr Haar wie geschmeidige Schlangen um ihre nackten Schultern wand. »Tharammas von Thay und sein Albtraumzauber! Das muss es sein!« Der heilende Edelstein erlosch mit einem Aufblitzen, und dann tappten nackte Füße über den Boden. Gebieterisch und zornig ausschreitend stampfte die Simbul abgedunkelte Korridore entlang, wobei sich Türen beinahe unterwürfig vor ihr öffneten. Schläfrige Wachen schreckten auf, nahmen vorsichtshalber Stellung ein und wagten es nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen, als ihre Herrin vorbeiwütete. Ringe und Stöcke und Gewänder und Umhänge wirbelten auf die Königin von Aglarond zu und kleideten sie an, als wolle sie in eine Schlacht ziehen. Ein geknurrtes Wort ließ durch Zauberbanne verschlossene Türen am Ende eines Korridors auffliegen, und eisiges Mondlicht floss herein. »Nun«, erzählte sie wild dem kalten Nachtwind, als sie auf den mit Mondlicht überfluteten Balkon hinaustrat, »dieses Mal weiß ich wenigstens, welcher Rote Zauberer nicht lange genug leben wird, um die Dämmerung zu sehen!« Zauber funkelten über ihre schlanken Finger. Die in reiche Gewänder gehüllte Königin zerschmolz zu einem wütenden Schatten. Der bebte für einen Moment unter dem Mond, dann wirbelte er mit dem Wind in östliche Richtung davon und verschwand in der Nacht. 135
Winde fingen an zu heulen, in der Ferne zuckten Blitze, und irgendwo grollte Donner. Fast schien es, als ducke sich ganz Faerun und gar das Universum selbst unter der flammenden Wut der sich zutiefst verletzt fühlenden Königin. Erst der Rote Zauberer, dann die Hölle, schwor sie sich voller Ingrimm. Noch fester stampften ihre Füße über den Steinboden, und so kam sie ihrem Ziel immer näher. (inmitten des wütens der hölle sinkt ein alter magier mit einem seufzer zurück und schaut in seine leere gebrochene hand) Ja. Ein dummer Zauberer, in der Tat.
136
5. So lasst denn Zauberer hier sein
»Wenn Ihr so gütig sein wollt, Zaubererfürst«, murmelte die Dienerin, drehte sich in einem Wirbel aus goldenem Stoff und weißer Seide um und zeigte auf eine nach oben führende Seitentreppe, deren Belag einen höheren Flor aufwies als die Läufer, über welchen sie bislang geschritten waren, und der auch weniger staubig aussah, »so folgt mir bitte.« Der müde dahinschlurfende Kriegszauberer richtete sich aus seiner üblichen gebückten Haltung auf und neigte dann den Kopf mit einem argwöhnischen Blick, von dem er vielleicht glaubte, dass es sich um ein freundliches Lächeln handelte. Seine Hand beschrieb eine großartige Geste, die besagte, dass sie vorangehen solle. Die Dienerin trug einen ernsten Gesichtsausdruck zur Schau, während sie anmutig ihre Röcke zusammenraffte und die Treppe hinaufschwebte. Der knochige alte Zauberer beobachtete sie. Hatte nicht Vangerdahast die junge Frau als seine neueste Schülerin aufgenommen? Und sie stammte aus der Familie der Kronensilber ... ICH SEHE ZAUBERER, ABER KEINEN ELMINSTER UND AUCH KEIN SILBERFEUER. AUSSERDEM VERSTECKT IHR DAHINTER ETWAS
137
VOR MIR.
ICH
WARNE
EUCH
VON NEUEM,
MENSCH: MEINE GEDULD
IST
NICHT UNERSCHÖPFLICH.
Ich erscheine noch früh genug, Fürst Nergal – und noch dazu mit Geheimnissen der Magie. (hohnlächeln) IHR KLINGT WIE EIN KAUFMANN, WELCHER EINEN HANDEL ABZUSCHLIESSEN VERSUCHT. IHR SOLLTET VERSUCHEN, MICH ZU ERFREUEN, WURM. Ich bin bestrebt, Euer Verlangen zu erfüllen. Jederzeit und allerorten. UND ICH BIN BESTREBT, MICH DAVON ZURÜCKZUHALTEN, EUER ERBÄRMLICHES LEBEN ZU BENDEN. JEDERZEIT UND ALLERORTEN. Eine Kronensilber, war sie das nicht? Hmmm. Als ob ihn das auch nur die Bohne fesselte. Trotzdem war es lange Jahre her, seit eine Jungfer, welche so schön war wie diese, so eifrig eine Palasttreppe vor dem alten Kriegszauberer hochgeeilt war. Damals hatte es sich um eine andere Dame gehandelt, inzwischen zu Staub zerfallen, und um einen anderen Turm. Bolifar Geldert verdrängte diese Erinnerung und ließ nicht zu, dass einer der Diener, welche so eilig und schweigend an ihm vorbeihuschten, sein Seufzen hörte. Bolifar arbeitete fleißiger, sorgfältiger und härter als die meisten älteren Kriegszauberer von Kormyr. Die Arbeit trug ihren Lohn in sich selbst und steigerte seine Bedeutung an diesem Ort. 138
Er hatte lange genug in vergangenen Triumphen geschwelgt. Erinnerungen allein halten nicht warm und überschütten einen auch nicht mit Bequemlichkeiten, so wie es der beruhigende Griff eines Lieblingsdolches oder die aufbrausende Macht eines Zaubers zustande bringt. Jetzt war er an der Reihe, die enge Treppe hinaufzusteigen. An ihrem oberen Ende befand sich ein angelehntes bogenförmiges Tor aus schwerem Eisen. Die Stäbe waren so dick wie die Unterarme des Zauberers und mit stumpfen Stacheln beschlagen, die ganz so wirkten, als seien sie vor langer Zeit eigens dazu gemacht worden, Drachen zurückzuhalten. In dem dahinter liegenden Quergang wartete die Dienerin. Sie strengte sich an, nicht verängstigt zu wirken, während sie vor zwei unruhigen Panthern zurückwich. Die Tiere zogen und zerrten an den rasselnden Ketten, welche sie gefesselt hielten, so dass diese sich bis zum Äußersten strafften, und leckten sich die Mäuler, während sie die Dienerin anstarrten. Das andere Ende einer jeden Kette endete in den starken, haarigen Händen eines lächelnden Mannes. Mit seinen dunklen Augen, dem Ziegenbart und dem grausamen Gesicht sah der Meister der Königlichen Bestien ebenso gefährlich aus wie die beiden Riesenkatzen, welche er spazieren führte. Bolifar bedachte ihn mit einem langsamen, bewussten Lächeln und erhielt zur Antwort ein kaum merkbares Heben der Augenbrauen. 139
Die Beleidigung überraschte den Zauberer keineswegs, aber er würde Vangerdahast trotzdem davon unterrichten. Es stand einem Bändiger von Katzen nicht an, sich für höherrangig zu halten als einen alten Kriegszauberer. Die Treppe kreuzte die Halle, in der die Panther zusammengeduckt mit den Schwänzen peitschten. Die großen Katzen beäugten den knochigen alten Zauberer weit weniger hungrig als seine Führerin mit den wohl gerundeten Kurven. Die Dienerin stieg den nächsten Abschnitt der Treppe hoch, und man konnte ihr die Erleichterung deutlich von der anmutigen Biegung ihres Rückens ablesen. Bolifar Geldert folgte ihr, wobei er seinen Tornister mit dem Schreibgerät ein wenig fester als üblich an sich presste. Er achtete darauf, nicht zu hastig zu laufen, selbst dann nicht, als er das Kettengerassel hörte, welches verkündete, dass der Meister die Fesseln gelöst hatte. Der erste Panther, der es wagen würde, seine Klauen oder Zähne in den Kriegszauberer zu senken, würde auch der letzte sein. Im nächsten Korridor, welchen die Treppe kreuzte, gab es keine wilden Tiere, sondern nur lautlos umherhuschende Diener und ein paar steif salutierende Wachen. Ihr Götter, hatte er nicht nach einer Kammer mit einer Tür zum Abschließen gebeten, irgendwo in den wenig benutzen, abgelegenen oberen Gängen? Am Ende der letzten Treppe befand sich nichts wei140
ter als eine geschlossene Tür. Metall rasselte, als die Dienerin ihren Schlüssel im Schloss drehte. Ihre Berührung erweckte den Glühstein auf dem Türschild zu purpurrotem Leben. In seinem rubinfarbenen Licht drehte sie sich um und drückte Bolif ar einen Schlüssel in die Hand, welcher noch die Wärme ihres Mieders ausstrahlte. Ohne ein weiteres Wort schlüpfte sie an ihm vorbei die Treppe hinunter und war auch schon verschwunden. Nachdenklich schaute Bolifar ihr nach. Ohne Eile drehte er sich dann um, stieß die Tür auf und tat einen Schritt in die dahinter wartende Dunkelheit. Diese Kammer in der Spitze des Turmes mochte ihm zwar unbekannt sein, aber sie wies starke Wachzauber auf und lag abseits – genau der Ort, den er für das Verfassen seines Berichts brauchte. Vangerdahast hatte lange genug gewartet – erheblich länger, als sein Geduldsfaden reichte. Was der Meisterzauberer Geldert bislang über mögliche Verräter der Krone in den Familien des niederen Adels von Kordallar herausgefunden hatte, würde in klugen Worten niedergelegt werden müssen. Der alte Donnerzauberer schritt gewiss schon in seinen Gemächern auf und ab und grollte wie ein Sturm auf der Immersee. Bolifar lächelte die warme, abwartende Dunkelheit reumütig an. Vangerdahasts Groll würde bald noch düsterer werden. Der alte Kriegszauberer befand sich 141
hier am Ende von viel zu vielen Treppen – und nicht etwa in seinen gewohnten Amtsräumen im königlichen Palast –, weil er vermutete, dass einige seiner Kriegszauberergenossen an der Verschwörung des Hauses Kordallar beteiligt waren. H A,
ERBÄRMLICHE INTRIGEN, VERGLICHEN MIT DENEN HIER IN
DER
HÖLLE,
ABER ICH KANN SPÜREN, DASS
MAGIE
NAHE IST
–
UND IMMER NÄHER KOMMT. FÜHRT MICH JETZT BLOSS NICHT AN DER NASE HERUM!
Das habe ich nicht vor. Diese Erinnerungen entfalten sich gerade erst ... Vangerdahast stellte fest, dass er schon wieder gähnte. Bedächtig langte er nach der nächsten Kerze und löschte ihre Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Schmerz weckte ihn auf. Während sich der Rauch ungestört nach oben kräuselte, trat er zurück und musterte den Raum mit einem Blick. Die große, schlanke Gestalt saß zusammengesunken und still da. Sardyl hockte geduldig in ihrem gewohnten Sessel und war eingenickt. Es war spät. Die Zeit war verstrichen – viel zu viel Zeit. Die Kammerjungfern kicherten bestimmt schon seit einer ganzen Weile bei dem Gedanken, dass die persönliche Botin und Schreiberin des Königlichen Zauberers so spät und schon so lange mit ihm eingeschlossen war. Als ob die Fürstin Sardyl Kronensilber Vangerdahast nicht voll und ganz traute ... fast genauso umfassend, 142
wie er ihr traute. »Wacht auf, mein Mädchen«, sagte der Alte schließlich und strich ihr mit einem Finger erheblich sanfter über die Wange, als die Kammerjungfern dies dem alten Donnerzauberer zugetraut hätten. Sardyl erwachte blinzelnd und schaute mit einer stummen Frage in den Augen zu ihm auf. Vangerdahast nickte ungeduldig, denn er ärgerte sich über Gelderts Trägheit. »Ja, holt ihn her«, grollte er. Dann drehte er sich um und schritt erneut im Raum auf und ab. Er nahm die Schreibtische mit den Bergen von Folianten und Pergament nicht wahr, sondern dachte sehnsüchtig an sein immer verlockender erscheinendes Bett und sein immer stärker werdendes Bedürfnis zu schlafen. »Gebt ihm nicht noch mehr Zeit. Ich will von ihm haben, was auch immer er jetzt vorzuweisen hat«, fügte er hinzu und gähnte eins ums andere Mal. Ohne ein Wort erhob sich seine Schreiberin, räkelte sich wie eine Katze und schickte sich an, den Meisterzauberer Geldert aus dem Turmzimmer zu holen, in welches sie ihn früher am Tag geleitet hatte. Der an seinem Schreibtisch stehende Vangerdahast drehte sich um und schaute ihr nach. Zwar mochte die Fürstin Sardyl Kronensilber nicht über genug Zauberbanne verfügen, um eine gute Wächterin abzugeben, aber sie war erfreulicherweise stiller und taktvoller als ein Dutzend seiner ältesten Kriegszauberer – und sie war zudem noch erheblich vertrauenswürdiger. 143
Hmmm. Vertrauen. Eine rare Ware in Kormyr. HA, HA! KOMMT DA ETWA GLEICH EIN WENIG LUST INS SPIEL? (im geiste hochgezogene augenbrauen) Teufel, Ihr lasst mich prüde aussehen – und das ist, so fürchte ich, eine Leistung. Ein Zauber verschloss immer noch die Tür am Ende der Treppe. Sardyl zog eine anmutig geschwungene Augenbraue hoch und hob erneut die Hand. Dabei spürte sie das leichte Prickeln, das ihr mitteilte, dass sie sich nicht getäuscht hatte. »Bolifar«, rief sie leise, da sie wusste, wie klein das Turmzimmer hinter der Tür war. Sie erhielt keine Antwort. Sardyl zuckte die Achseln, warf einen raschen Blick die Treppe hinunter, um sicherzugehen, dass keine Wache zuschaute, und drehte die Hand in einem raschen Kreis, während sie die Worte eines Zaubers murmelte, welchen nur wenige kannten, selbst unter den Kriegszauberern kaum einer. Der Schlosszauber erstarb in einem kleinen Blitz, und sie drehte den Türring und trat ein. Die Lampe war entzündet, und ihr weiches Licht beschien warm und ruhig die Kammer mit dem Teppich, dem Stuhl, dem Tisch und der Landkarte an der Wand. All diese Gegenstände sowie die Lampe selbst standen an ihren gewohnten Plätzen – aber in der ganzen Kammer gab es nicht die geringste Spur von Bolifar Geldert, seinem Schreibgerät und seiner Tinte, seinem 144
Pergament und dem Tintenlöscher oder seinem Tornister. Im ganzen Raum gab es keinen einzigen Winkel zum Verstecken. Sardyl hob den Blick und musste feststellen, dass die Decke ebenso leer war, wie sie sein sollte. Sie trat zwei vorsichtige Schritte in die Kammer hinein. Dann drehte sie sich langsam um, musterte jeden Winkel und streckte die Hand aus, ohne jedoch etwas zu berühren. Die Fenster waren fest verschlossen und ihre soliden Läden von innen verriegelt, und im ganzen Turmzimmer fand sich kein Hinweis auf irgendetwas Ungewöhnliches. Genauso wenig wie ein Hinweis auf Bolifar Geldert. Die Fürstin Kronensilber presste die Lippen zusammen und zog sich eilig zur Tür zurück. Von dort aus schickte sie einen Magiesuchzauber in die Kammer – und fand doch nur das, was sich schon vorher darinnen befunden hatte: die alten, vielschichtigen Zauber der Karte. Erhaltungszauber aus einer lange vergangenen Zeit, als sie noch nicht geboren war, vielleicht schon vor der Geburt ihrer Großmutter gewirkt. Aber während sie so dastand, fühlte sie irgendwie, dass sie nicht allein war. Sardyl wich einige Schritte zurück und webte einen weiteren Zauber, welcher unsichtbare Wesen aufspüren sollte. Als auch diesmal ein Ergebnis ausblieb, erbleichte sie 145
und verzog grimmig das Gesicht. Sie versiegelte das Türschloss wieder mit einem Zauberbann, um es zu sichern. Dann änderte sie ihren Zauber mit einem Fingerschnippen, so dass er sich von dem eines anderen Zauberers unterschied, und ging zurück zu Vangerdahast. OH, DER ANFLUG EINES GEHEIMNISSES! ZEIGT MIR MEHR! Natürlich. »Wenn das, was die Fürstin Kronensilber erzählt, der Wahrheit entspricht«, sagte der Weise ein wenig ungnädig und rieb sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen, »dann wurde ich mehrere hundert Treppenstufen hochgescheucht, um gar nichts zu sehen.« Er tat zwei unruhige Schritte den Korridor entlang, wandte sich dann um und begutachtete den letzten Treppenabschnitt. An dessen Ende stand der mächtigste Magier von Kormyr und blickte finster die verschlossene Tür an. Der Weise platzte heraus: »Gibt es keine Spur von ihm? Ich meine – kann sich der Mann nicht selbst irgendwohin begeben haben? Allein in diesem Flügel des Palastes gibt es über tausend Räume –« Der Königliche Zauberer wandte sich um und bedachte den Hofweisen mit einem unverwandten Blick. »Alaphondar«, meinte er dann tonlos, »wir wissen unsere Arbeit zu tun. Ich hätte Euch nicht als Zeugen herrufen lassen, ohne zuerst selbst nach dem Mann zu suchen. Falls er sich noch in Faerun aufhält und am 146
Leben ist, würden ihn meine Zauber aufspüren. Es sei denn, er ist durch einen magischen Schild abgeschirmt.« Er drehte den Kopf in Richtung der dritten anwesenden Person. »Ist dies Euer Siegel, mein Mädchen?« »Das ist es, mein Fürst«, antwortete Sardyl leise und strich mit den Fingern über den Ring an der Tür. »Soll ich es aufbrechen?« Vangerdahast runzelte die Stirn. »Nein. Überlasst das mir.« Er vollführte eine kleine Handbewegung, welche, wie jedermann im Palast wusste, bedeutete, dass alle zurücktreten sollten, und wirkte einen Zauber, den weder der Weise noch die Schreiberin jemals zuvor gesehen hatten. Sie hörten ein magisches Grollen, welches von der anderen Seite der Tür wegrollte, dann ein leise pfeifendes Echo, als habe das Geräusch die Wand getroffen und sei dann bebend zurückgeschossen. Darauf folgte nichts als Stille. Sardyl und Alaphondar blickten den Königlichen Zauberer an. Vangerdahast stand da mit zur Seite geneigtem Kopf und lauschte angestrengt in die sich immer länger ausdehnende Stille. Nach einer langen Zeit trat er schließlich vor und stieß die Tür auf. Das Turmzimmer sah genauso aus, wie Sardyl es verlassen hatte. Alaphondar runzelte die Stirn. »Wer entzündete die Lampe?« 147
»Ganz ohne Zweifel Bolifar«, antwortete die Schreiberin. Der Weise schaute Vangerdahast an, als erwarte er von ihm eine andere Antwort, aber der Königliche Zauberer beachtete ihn nicht weiter, sondern eilte zu den verschlossenen Fensterläden. Er bewegte für einen Augenblick die Hände über sie hinweg, bevor er die Hebel der Schlösser betätigte und die Läden weit aufstieß. Lange nicht berührtes Holz ächzte und leistete für einen Augenblick Widerstand, während Staubwolken vom Fensterbrett aufwirbelten und dem Zauberer ins Gesicht stiegen. Vangerdahast nieste wie ein in einem Gewitter brüllender Bulle. Der Weise und die Schreiberin gesellten sich zu dem Meister der Kriegszauberer am Fenster. Sie schauten gemeinsam auf das hundert Fuß tiefer gelegenen Pflaster des Burghofes und sahen die von Lampenlicht beschienenen Gesichter überraschter Wächter, welche zu ihnen hochstarrten. Vangerdahast gestattete es den Wachen, einen ausführlichen Blick auf sein Gesicht mit den tränenden Augen zu werfen, schwieg aber. Diese Läden waren seit längerer Zeit nicht mehr geöffnet worden. Für den Fall, dass irgendetwas durch das Fenster in die Kammer hinein- oder hinausgelangt wäre, hätte man ihn unverzüglich benachrichtigt. Der Königliche Hofzauberer nickte säuerlich. Er hatte nicht damit gerechnet, dort unten Blut zu sehen oder etwas, das von dem Dach des Turms unter ihm baumel148
te, und seine Erwartungen hatten sich bestätigt. Der Magier beförderte seinen gedrungenen Körper in den Raum zurück und drehte sich um, wobei er sich langsam hin und her wiegte wie ein schwer beladener Wagen, der um eine enge Biegung manövriert wird. »Gibt es irgendetwas«, fragte er Sardyl schroff, »das sich verändert hat, seit Ihr den Raum vorhin begutachtet habt? Irgendetwas, und sei es nur eine Kleinigkeit oder ein Eindruck?« Die wohlgeformte Fürstin Kronensilber wandte sich mit mehr Anmut um als der stämmige Zauberer. Sie kräuselte Nase und Brauen. »Der Teppich ... der sieht anders aus. Irgendwie ... abgewetzter.« Sie zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Aber wie ist das möglich?« Keiner der beiden Männer antwortete ihr. Vangerdahast beugte sich bereits über den verdächtigen Teppich, nahm eine Falte in die Hand und zog das Gewebe hoch, um den nackten Steinboden darunter zu begutachten. Alaphondar ließ sich auf die Knie nieder und bohrte und stieß beinahe ärgerlich auf der Suche nach einem Spalt an den bislang verborgenen Steinplatten herum, welcher sich teilen, oder nach etwas anderem, das sich zur Seite bewegen würde. Nach einigen ergebnislosen Versuchen seufzte er, straffte den Rücken und schaute Vangerdahast an. »Nun, o Meister alles Gewirkten?« Der Königliche Zauberer hielt sich nicht damit auf, über den misslungenen Scherz zu lächeln. 149
»Wie ein Fürst aus Obarskyr einmal über eine weitaus größere Gabe als diese anmerkte«, gab er grimmig zurück, »ist dies nur ein Teppich. Von der Sorte muss es im Palast mehr als vierzig geben. Gewebt in Wheloon vor achtzig Jahren oder mehr. In großen Mengen gekauft im Jahre 1306, als man den Löwenturm baute und alle Möbel hochschaffte. Hier herrschte damals eine ganz schöne Unordnung.« Vangerdahast spürte die Blicke seiner Begleiter, erwiderte ihr Starren und fügte hinzu: »Ja, ich war im Jahr 1306 hier. Das Wetter war schön in diesem Jahr – so wie in den fünf vorangegangenen. Ich erinnere mich noch gut daran. Und ich wäre Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr Eure Verblüffung auf etwas anderes richten könntet und mir jede Bemerkung über den Schwachsinn von Zauberern ersparen würdet.« Sardyl seufzte. »Geheimgänge?« Ihr Meister bedachte sie mit einem müden Blick. »Ihr habt zu viele fantastische Romane gelesen, meine Liebe.« Alaphondar, der die gleiche Frage hatte stellen wollen, schloss hörbar den Mund. Der Königliche Zauberer bedachte den Weisen mit einem müden Blick und vollführte eine die ganze Kammer umfassende Geste. »Schaut Euch um. Die Steine sind massiv, und es gibt nichts, womit man sie heben oder senken könnte, weder an der Decke noch auf dem Boden. Und in den Wänden ist kein Platz für geheime Türen oder Gänge. 150
Die Kurve, die ihr vor Euch seht, ist deshalb vorhanden, weil es sich bei den Wänden um ebendie Mauern handelt, welche die Außenseite des Turms bilden.« Eine seiner Hände fuhr zu einer Gürteltasche, zögerte sichtlich und griff dann hinein. Als der Zauberer die Hand wieder hervorzog, glitzerte eine kleine Kristallkugel zwischen seinen Fingern. Er murmelte ein Wort über die Kugel, und plötzlich blitzte und blinkte Licht in ihren Tiefen. »Gespeicherte Zauberei?«, fragte Alaphondar und beugte sich vor, um einen besseren Blick erhaschen zu können. Vangerdahast nickte. »Sie enthalten jeweils nur einen Zauber – und noch dazu einen, welcher nur einmal an einem bestimmten Ort wirkt. Sobald ich diesen hier aufgerufen habe, wird sich ein anderer Zauber der gleichen Sorte niemals wieder erfolgreich in dieser Kammer manifestieren.« »Und es ist ein ...?« Der Königliche Zauberer ließ die Frage des Weisen unbeantwortet, während er zum Fenster schritt und die Läden schloss und verriegelte und dabei den Anwesenden den Rücken zukehrte. »In einem Augenblick«, kündigte er an, »sollten wir ein Abbild sehen, eine Person. Wenn Ihr könnt, so sagt mir ihren Namen – und behaltet die Gestalt im Gedächtnis, falls Euch dies möglich ist.« Er spürte Sardyls fragenden Blick, ohne ihn jedoch zu erwidern, und fügte hinzu: »Mein Zauber wird das Bild der letzten Person heraufbeschwören, welche mit151
tels Verschiebungszauber in diesen Raum oder aus ihm hinaus gelangt ist.« Während er sprach, flammte die Kugel in einem lebhaften goldenen Licht auf und zerbarst in winzige Scherben, welche ihm unter melodischem Klirren aus den Fingern rieselten. Einen Augenblick darauf schimmerte die Luft in der Mitte der Kammer und schien für einen Moment zu zerfließen, bevor sie plötzlich neblig trüb wurde. Graue Fäden kräuselten sich, wurden länger und sehr plötzlich scharf und deutlich erkennbar. Sie schauten auf eine Frau, oder eher auf das blasse, flackernde Bild eines weiblichen Oberkörpers, während sich der Rest der Gestalt in Nebel verlor. Die Schöne wirkte entschlossen, sogar eifrig, als sie ihre schlanken, nackten Arme hob und die Finger in einem äußerst anmutigen Zauber bewegte. Dann war sie auf einmal verschwunden, und die Versammelten sahen nichts als zwei verblassende Funken von Sternenlicht. Sardyl brauchte eine ganze Weile, bis ihr einfiel, dass die Frau abgesehen von ihren Ringen und einem Halsband vollkommen nackt gewesen war. Es dauerte einige weitere Augenblicke, bevor sie hörte, wie Vangerdahast auf eine für ihn außergewöhnliche Weise schluckte. Sardyl wusste, was dieser Laut bedeutete, und wandte sich rechtzeitig um, um den Gram in Vangerdahasts weicher gewordener Miene zu sehen. Der Königliche Zauberer sah genau nach dem aus, 152
was er war: Ein alter Mann, der gegen die Tränen ankämpft. Sie erhaschte diesen kurzen Moment, dann verhärtete sich sein Gesicht wieder. Er starrte sie auf eine Weise an, welche man nur als trotzig bezeichnen konnte. Ohne ein Wort legte sie ihm tröstend eine Hand auf die Schulter – Alaphondar hätte eine solche Geste niemals gewagt – und in ihrem Blick stand ihre Frage zu lesen. »Amedahast«, stieß er barsch hervor, »Hochzauberin von Kormyr, unter der Regierung von Draxius. Vor langer, langer Zeit diente ihr dieser Raum als persönliche Kammer. Seit ihren Lebzeiten hat hier niemand mehr Verschiebezauber benutzt. Und wenn man bedenkt, dass die Wachen nichts gemeldet haben, so bedeutet das auch keine Überraschung.« Der Zauberer machte ein paar Schritte in Richtung Wand, starrte auf die Landkarte und berührte ein winziges, in einer Ecke angebrachtes Monogram. »Ja, hier ist ihr Kennzeichen. Sie hat diese Zeichnung angefertigt ... vor mehr als siebenhundert Sommern.« Alaphondar blickte sich noch einmal in der Kammer um und schüttelte den Kopf. Nein, sie bot wirklich nicht genug Platz, dass man irgendetwas vor ihnen hätte verstecken können. »Wenn sich der vermisste Bolifar in diesem Raum aufgehalten hätte«, sagte er mit Bedacht, »und nicht direkt die Treppe hinunterging, nachdem Ihr ihn verlassen habt, dann verschwand er vielleicht als Gespenst 153
durch das Fenster.« Vangerdahast schüttelte den Kopf. »Keine Löcher in den Läden und keine Ritzen, durch die Luft dringen könnte. Habt Ihr den Staub bemerkt, als ich sie aufstieß? Nein. Etwas Dunkleres ist hier geschehen. Ich kann das spüren.« Seine Schreiberin nickte ebenfalls. Sie konnte es ebenfalls spüren, genauso stark wie bei ihrem ersten Besuch. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Kammer. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden ... Alaphondar zuckte gereizt mit den Achseln und meinte: »Ich bin reif für mein Bett. Ich habe Euer Nichts gesehen, und morgen habe ich viel zu viel zu tun, als dass ich hier noch länger gähnend herumstehen könnte. Die Götter mögen Euch einen ruhigen Schlaf schenken – aber bei meinem Leben, den habt Ihr nicht verdient.« Der Weise wandte sich zur Tür und verließ den Zauberer und seine Schreiberin, woraufhin sich die beiden anschauten. In stillem Einverständnis runzelten beide die Stirn, drehten sich um und schickten sich an, die Kammer noch einmal nach dem abzusuchen, was sich darinnen befinden musste. Angesichts seiner versagenden Künste gab Vangerdahast ein ungeduldiges Knurren von sich und wob seufzend noch einmal einen Suchzauber, der dieses Mal die Karte und die Lampe mit einschloss. Er lehnte sich gegen die Wand. Die Karte enthielt ein vielschichtiges Gewebe alter Zauber, anders als die Lampe samt ihrer Flamme. Der Teppich enthielt nichts 154
weiter als die Magie lange vergangener Zeiten. Es sah ganz so aus, als sei Bolifar Geldert einfach aus diesem Raum verschwunden. Einfach so, obwohl das unmöglich schien. ›Unmöglich‹ bedeutete Vangerdahasts Erfahrung nach immer Magie. »Die Sehnsucht des Weisen nach seinem Bett erscheint mir jetzt noch vernünftiger als zuvor«, sagte er leise. »Kommt, Mädchen. Lasst uns die Kammer mit einem Zauber verschließen und dann gehen. Wir haben morgen früh genug Zeit für eine vermutlich fruchtlose Suche.« Sardyl nickte und gab keine Antwort, aber das hielt sie schließlich immer so. IHR
MAGIER. ABER BEVOR DIESE SACHE ZU ENDE GEHT, WERDET IHR VANGERDAHAST EINE LEKTION ÜBER MAGIE ERTEILEN, NICHT WAHR? ODER IST EIN WENIG VON DIESEM HIER NOTWENDIG? (ein schlag mit der gedankenpeitsche roter schmerz wie flammen in dem gewölbe der dunkelheit) Wenn Ihr dies bleiben lasst, Nergal, wird es sich eher vor Euch entfalten! (teuflisches knurren als Warnung) (frische bilder flackern auf) SCHEINT BISLANG KEINE
ROLLE
ZU SPIELEN,
Zwischen großen Gemälden und Wandteppichen zierten Streifen polierten Kupfers die Palastwände. In dem Metall spiegelte sich das warm schimmernde Licht der Lampen und beschien die Wachen, welche sorgfältig 155
darauf achteten, sich nicht zu rühren, obwohl sie alles genau im Auge behielten. Die Männer standen paarweise entlang der Wände aufgereiht und verzogen keine Miene, als der Königliche Zauberer seine Schreiberin bis zu der Tür ihres Gemaches begleitete. »Versucht ein wenig zu schlafen«, empfahl er ihr grimmig und so leise, dass nur sie ihn hörte. »Wir haben morgen früh mehr als genug Zeit, um uns über Bolifars Schicksal Sorgen zu machen. Und vergesst nicht, Euch magisch abzuschirmen.« Sardyl nickte und verbeugte sich vor ihm. Sie wirkte blass und den Tränen nahe, und ihre Augen schimmerten dunkel. Nach einem weiteren Moment des Schweigens legte ihr Vangerdahast tröstend eine Hand auf die Schulter. Die Fürstin Kronensilber entzog sich ihm sanft und verschwand in ihrem Gemach. Der Königliche Zauberer stand da wie eine Statue und lauschte, während seine Schreiberin die Tür schloss und von innen verriegelte. Kaum einen Atemzug später hörte er den winzigen singenden Ton, welcher ihm mitteilte, dass sie drinnen ihren magischen Schild errichtet hatte. Vangerdahast nickte der geschlossenen Tür grimmig zu und wirkte selbst einen Zauber. Als er sich umdrehte, um den langen Weg zurück zu seinen eigenen Gemächern anzutreten, bemerkten die überraschten Wachen ein faustgroßes Auge, welches hinter dem Rücken des Zauberers herschwebte und für ihn Ausschau hielt. 156
Das heraufbeschworene Auge bemerkte auf dem Weg nichts Verdächtiges, und nichts Ungewöhnliches geschah, als der Königliche Zauberer seine vertrauten Gemächer betrat, seine eigenen Wächterzauber errichtete, schließlich in seine innerste Zauberkammer vordrang und sich an seinen Arbeitstisch setzte. Ohne sich damit aufzuhalten, eine Lampe zu entzünden, wob er einen mächtigen Zauber, der Bolifar Geldert aufspüren sollte. Der Bann aber zeigte ihm nur Finsternis und versagte vollkommen. Mit gerunzelter Stirn starrte Vangerdahast auf die vergehende Asche und die Rauchfäden nieder, die einmal sein Zauber gewesen waren. Der alte Mann seufzte zum wahrscheinlich hundertsten Mal in dieser Nacht und eilte zu einem Wandschrank, welchen er selten öffnete. Ein verdeckter Gegenstand wartete darin. Der Zauber auf der Tür des Wandschrankes spendete genug trübes rotes Licht, dass er die Abdeckung herunterzerren und zur Seite schieben konnte. Ein schiefer, abgestoßener Sprechender Stein auf einem Sockel kam zum Vorschein. Er bestand aus Felsgestein und glich in nichts den polierten, glänzenden Kugeln, welchen die eher der Mode folgenden Zauberer von Sembia und Kalimschan den Vorzug gaben. Aber gerade jetzt kümmerte es Vangerdahast nicht im Geringsten, wie der Stein aussah. Sechs Wachen, deren Verstand nicht von Magie umnebelt war, hatten übereinstimmend ausgesagt, Bolifar sei diese Treppen hi157
naufgestiegen – und nicht wieder heruntergekommen. Die Antwort auf die Frage nach seinem Verbleib lag irgendwo dort oben in dem kleinen Turmzimmer verborgen, beinahe mit Gewissheit versteckt von einer Magie, welche älter und größer war als seine eigene. Um herauszufinden, um was es sich handelte, musste der Königliche Magier von Kormyr mit jemandem sprechen, der sich an Amedahast zu ihren Lebzeiten erinnerte – wie sie gesprochen, gedacht und gelebt hatte. Der Zauberer seufzte wieder einmal und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. Ob es ihm gefiel oder nicht, er konnte nur an eine lebende Person denken, welche, falls die Götter wohlgesonnen waren, sich gut genug an sie erinnern konnte ... Ein Teppich in der Ecke flackerte auf, schlug Wellen und fuhr vom Boden hoch wie eine Art bedrohliches Ungeheuer. Erschöpft blinzelte Vangerdahast ihn kurz an, dann wirbelte er von dem Sprechenden Stein weg, griff sich einen Zauberstab von seinem Arbeitstisch und richtete ihn grimmig auf die wogende Teppichsäule. Der Teppich blinzelte vorwurfsvoll zurück und fiel dann in sich zusammen, um einen großen, hageren Mann mit weißem Bart zu enthüllen, welcher ein fadenscheiniges Gewand trug. Mit einer Hand auf der Hüfte und einer erhobenen Augenbraue beobachtete er Vangerdahast. Selbst ein Steinbrucharbeiter in den westlichsten Winkeln von Kormyr hätte den Besucher erkannt: Vor 158
dem Königlichen Zauberer stand der Alte Magier von Schattental, Elminster Aumar. »Eure Schutzzauber bedürfen Eurer Aufmerksamkeit«, meinte Vangerdahasts einstiger Lehrer trocken. »Ich hätte ohne Mühe durch sie hindurchgelangen können, zumal ich diesen Teppich schon zuvor auf diese Weise benutzte.« Vangerdahasts Augen verengten sich. »So, habt Ihr das? Warum?« Elminster hob die andere Braue. »Um Amedahast zu besuchen, müsst Ihr wissen«, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns. »Euer Teppich lag neben ihrem Bett.« Der Meister der Kriegszauberer verdrehte die Augen. »Das hätte ich wissen müssen«, schnappte er und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Vangerdahast hielt inne, holte tief Luft, bezwang den Ärger, der immer in ihm aufstieg, wenn er Elminsters leichtes Lächeln vor sich sah, und fügte rau hinzu: »Wir – ich – bedürfen Eurer Hilfe. Es gab da ein Verschwinden.« »Ein Erbe? Die Kronjuwelen? Azouns zweitliebste Schamkapsel? Oder betrifft es wieder einmal junge Damen?« Vangerdahast bedachte Elminster mit einem finsteren Blick. »Ich spreche von einem Kriegszauberer«, erwiderte er ruhig. »Einem guten Mann. Kommt.« Ohne sich nach dem Teppich oder dem Sprechenden Stein umzublicken, ging er eiligen Schrittes in Richtung Tür. Elminster zuckte die Achseln und folgte ihm. 159
WEG BIS ZUR ZAUBEREI, KLEINER MAGIER. WAS FÜHRT IHR IM SCHILDE? Ich versuche, mir für Euch Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, Teufel. Es gibt deren viele, die in der Tiefe begraben sind. Aber es gibt auch genug Magie in dieser einen. Passt auf und schaut zu. EIN
LANGER
Bei seiner zweiten Runde durch den kleinen Raum beugte sich Elminster vor und schnüffelte. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch umher wie ein kleiner Junge, der im Spiel einen lauernden Wolf darstellt. Er schnüffelte beharrlich weiter, während sein Bart über den Boden strich, und kniff die Augen zusammen. »Habt Ihr viel Ärger mit Ratten?«, fragte er in Richtung der Steine. »Die hier herumlaufen? Nein. Oder meint Ihr tote Ratten in den Wänden?« Vangerdahast beobachtete den umherkriechenden Zauberer mit gerunzelter Stirn. »Hinter dieser Mauer ist nichts als Luft ... warum fragt Ihr? Was könnt Ihr riechen?« »Verfaultes Fleisch. Zerfall. Sehr schwach.« Da Elminster mit seiner Umherkriecherei fertig war, sprang er auf die Füße und fragte in scharfem Ton: »Das Mädchen sagte, der Teppich habe sich verändert?« Vangerdahast nickte. Elminster erwiderte das Nicken, während sich ein kaum merkliches grimmiges Lächeln auf seinen Lippen 160
abzeichnete. »Kein Zweifel, kein Zweifel.« Die Augen des Zauberers aus Kormyr verengten sich. »Was wisst oder vermutet Ihr?« »Ein Fallensteller auf dem Boden, welcher den Teppich über ihm auffraß, zusammen mit Eurem Kriegszauberer und all seinen Papieren. Seine Knochen, die Tintenflaschen und so weiter werden bald aus ihm heraustreten. Lauerungeheuer sind in der Lage, einen solchen Gestank abzusondern.« »Ein Fallensteller? Den hätte ich gefunden«, behauptete der Königliche Zauberer von Kormyr säuerlich und wedelte mit einer Hand in Richtung Boden, »und gerade jetzt befindet sich da nichts. Ich habe mir alle Mühe gegeben sicherzustellen, dass dieser Teppich nichts anderes ist als ein Teppich. Spinnt einen anderen Traum, Alter Zauberer.« »Der Mörder legte ihn hier herein, bevor Euer Bolifar ankam, und nahm ihn wieder weg, nachdem das Mädchen aus der Kammer rannte, um nach Euch zu suchen.« »Jemand, der Lauerbiester wie Teppiche umherträgt oder sie dazu bringt, ihm wie ein Hündchen zu folgen? Ihr überschätzt meine Leichtgläubig–« Vangerdahast unterbrach sich mitten im Satz und sperrte den Mund auf. Die Farbe wich langsam aus seinem Gesicht. »Kaulgetharr Drell«, sagte er ganz langsam. »Meister der Königlichen Biester. Er verfügt über einen Fallensteller: Den habe ich Metzgerabfälle verschlingen 161
sehen. Wenn er die richtigen Zauber anwendet, folgt der ihm wie ein Jagdhund.« Elminster lächelte und breitete die Arme aus. »Nun habt Ihr des Rätsels Lösung«, meinte er dann leutselig. »Ich habe eigene Arbeit, welche auf mich wartet, daheim in Sch–« Als er eben eine langfingrige Hand hob, bellte Vangerdahast: »Wartet!« Der Alte Magier hob wieder eine Augenbraue, und der Zauberer aus Kormyr fügte eilig hinzu: »Meine Schreiberin Sardyl hat diese Tür mit einem Zauberbann verschlossen. Drell konnte nicht so einfach –« Der Rest von Farbe wich aus seinem Gesicht. Plötzlich wirkte Vangerdahast sehr alt und genauso gelblich und brüchig wie zerbröckelndes Pergament. »Sardyl«, murmelte er. »Ist sie auch daran beteiligt?« Elminster zuckte die Achseln. »Vielleicht ... aber das muss nicht unbedingt der Fall sein. Auf diesem Weg sind der Fallensteller und sein Meister jedenfalls nicht hereingelangt.« Er winkte in Richtung der Karte an der Wand. »Dies ist eines von Amedahasts Portalen. So wie alle ihre Karten. Habt Ihr das nicht gewusst?« Vangerdahast starrte ihn mit offenem Mund an. »Man kann durch sie hindurch auch sehen und hören«, erklärte Elminster mit einem verzerrten Lächeln. Während er sich zu der Karte herumdrehte, krümmte er die Finger, so dass seine Hände wie die zupackenden Klauen einer alten Hexe wirkten. Er schien zu winken oder etwas Unsichtbares zu sich herzuziehen. 162
Die Karte schimmerte. Aus ihr heraus stolperte ein Mann in einem üppig verzierten offenen Hemd und ledernen, mit Quasten geschmückten Stiefeln und Kniehosen. Das Gesicht des Neuankömmlings hatte sich in einem Knurren verzerrt, und er stürzte sich auf Elminster. Ein Arm – derjenige, welcher einen glitzernden Dolch hielt – hob und senkte sich blitzschnell. Seine Dolchstöße, welche dumpf wie das Galoppieren von Hufen dröhnten, trafen den Alten Zauberer wieder und immer wieder. Elminster hob die andere Braue. »Seid Ihr fertig?«, fragte er in aller Ruhe, während er zusah, wie die Klinge in seine Brust herein- und wieder hinausfuhr, ohne mehr Schaden anzurichten als harmloser Rauch. Der Messerstecher erstarrte. Die Klinge fiel aus seinen zitternden Fingern, traf die Spitze seines Stiefels und setzte klirrend ihren Weg bis zur nächsten Wand fort. »Baerune Kordallar«, sägte Vangerdahast mit Unheil verkündender Stimme direkt hinter dem Ohr des Mannes. »Ergebt Euch, und sprecht die Wahrheit, oder Euch erwartet ewig währende Pein, nachdem Ihr in ein Tier verwandelt worden seid.« Der bewegungslose Adlige vermochte nur die Augen zu bewegen. Elminster tat beinahe träge einen Schritt nach vorn, berührte Kordallars Stirn mit einem seiner langen Finger und murmelte: »Drei andere, die ebenfalls diese Züge tragen – dar163
unter eine Frau. Seine Sippe. Und ein grausamer Mann mit fein geschnittenem Gesicht und einem Kinnbart. Zwei weitere, einer aus Arabel, der andere aus Marsember, welche zwar ehrgeizig, aber bislang nur in geringem Maße beteiligt sind und später übertölpelt werden sollen. Die Verschwörung entsprang den Gedanken der Frau, aber dieser Kerl hier sollte das wichtigste Werkzeug sein. Der Plan sah vor, dass er die Prinzessin Alusair heiraten und dann den Tod über ihre älteste Schwester Tanalasta bringen sollte.« Vangerdahast gab ein Knurren von sich, welches als leises Rumpeln begann und mit seinem wachsenden Zorn immer lauter wurde. In Baerunes Augen trat ein verzweifelter Ausdruck. Mit zuckendem Gesicht kämpfte er sichtbar um Worte, brachte aber nur wimmernde Töne zustande wie ein Hund, welcher einen Maulkorb trägt. »Wie viele Verschwörungen gegen den Thron hat es im Laufe des letzten Zehntages gegeben?«, fragte Elminster beinahe heiter. »Jetzt muss ich aber wirklich gehen.« Vangerdahast holte tief Luft und antwortete einfach: »Danke. Und damit stehe ich ein weiteres Mal in Eurer Schuld.« Er hob eine Braue. »Wie konntet Ihr über die Karten Bescheid wissen?« Elminster lächelte. »Wäre ich ein Edelmann«, erklärte er seinem ehemaligen Schüler milde, »würde ich darüber Schweigen bewahren. Amedahast war ... sehr 164
schön. Ich werde mich um Euren Pantherbändiger kümmern, bevor ich gehe; diese Karte führt zu ihrem Gegenstück in seinen Gemächern, genauer gesagt in den hintersten Ankleideraum.« »Das vermögt Ihr durch die Karte hindurchzusehen?«, fragte der Königliche Magier von Kormyr neugierig. Er trat vor, um Amedahasts Zeichnung von dem Königreich genauer zu betrachten. Im Kielwasser des Zauberers wurde der hilflose Baerune Kordallar mitgerissen. Er hing immer noch steif und aufrecht stehend in der Luft, ohne mehr bewegen zu können als seine Augen. Und das tat er denn auch ausgiebig. »Nein«, antwortete Elminster freundlich. Er trat vor und schmolz in die Karte hinein. »Ich erinnere mich daran, wo das Gegenstück zu hängen pflegte. Dieses Ankleidezimmer gehörte nämlich mir.« Der letzte Blick, welchen Vangerdahast von dem Alten Magier von Schattental erhaschte, zeigte ihm nicht dessen leichthin winkende Hand, sondern das alte spöttische Grinsen des letzten Prinzen von Athalantar. So wie immer. ICH SCHAUE MICH UM UND SEHE KEINE MYSTRA UND AUCH KEIN SILBERFEUER. NUR NOCH MEHR GEWITZTHEIT EINES GEWISSEN ELMINSTERS. (rot glühender zorn verebbt) UND DENNOCH SEID IHR DER AUSERWÄHLTE DER GÖTTIN UND MÜSST EINIGE IHRER GEHEIMNISSE IN DER FINSTERNIS EURES
GEISTES VERBERGEN. ENTHÜLLT MIR DAS, NACH DEM ICH SUCHE, 165
ODER STERBT.
Nun, wir alle müssen eines Tages zugrunde gehen. So tötet mich doch, wenn Ihr Euch so sehr um mein gegenwärtiges Wohlergehen sorgt. ICH WERDE EUCH DIE TRÖSTUNGEN DES TODES ZUTEIL WERDEN LASSEN, AUSERWÄHLTER DER MYSTRA, WENN DAS SILBERFEUER DAS MEINE GEWORDEN IST. UND WENN IHR DARAUF VERZICHTET, MICH ZU ERBOSEN, DANN MAG ES VIELLEICHT SOGAR EIN SCHNELLER TOD FÜR EUCH SEIN. Mein Dank sei Euch gewiss. FAHRT ENDLICH FORT, STERBLICHER! (gedankenpeitsche) (schmerz taumeln nagende maden nagen ... aaarrggggg) (heilendes läuterndes feuer welches maden röstet) NA ALSO. NICHTS LEBENSWICHTIGES. FAHRT FORT. »Vangerdahast«, murrte die Prinzessin in der glänzenden Rüstung und zog sich ihre Panzerhandschuhe über, »Ihr solltet wirklich einen guten Grund haben. Ich muss losreiten und mich an einem kleinen Verrat beteiligen, und –« Der Königliche Magier hob eine buschige Augenbraue. »Glaubt Ihr etwa, Ihr teiltet mir Neuigkeiten mit? Alusair, wo ist Euer Verstand geblieben. In Eurer Schamkapsel, so wie bei allen, welche mit Euch reiten?« Die Prinzessin starrte ihn an und musste kichern. »Gut gesprochen, Zauberer. Und jetzt denkt bloß nicht daran, einen Witz nach dem anderen über das zu machen, was eine widerspenstige Prinzessin wohl in ihrer Schamkapsel mit sich tragen mag, ja? Mutter hat 166
in letzter Zeit genug ertragen müssen.« Vangerdahast bedachte sie mit einem ernsten Blick, als er sich ihr näherte. »Das weiß ich sehr wohl. Im Gegensatz zu gewissen ach so bedeutenden jungen Mädchen habe ich ihr Trost gespendet.« Alusair verdrehte die Augen. »Vangie«, sagte sie und gebrauchte dabei bewusst einen Spitznamen, den er hasste, »die Königin ist stärker als jeder einzelne von uns. Sie braucht Trost ungefähr genauso wie ein Drache neue Schuppen. Nun, wozu braucht Ihr mich? Oh. Was tut Ihr da?« Der Königliche Magier von Kormyr hatte ihre Halspanzerung aufgeschnallt und beiseite geschoben, und seine dicken Finger beschäftigten sich gerade mit den Schnüren des schützenden Wamses darunter. Alusair zog eine Braue hoch. »Also wirklich, Zauberer! Habt Ihr niemals gelernt, wie man eine Dame hofiert? Ein Blick, ein paar honigsüße Worte, vielleicht noch ein Glas Wein für die Maid –« »Alusair Nacacia«, knurrte Vangerdahast, »benehmt Euch! Zum Teufel – schaut selbst nach, entblößt Eure Kehle und fischt den Anhänger heraus, welchen ich Euch gab.« Missbilligend beäugte er den Doppelbug ihres Brustpanzers mit den zwei Spitzen und rieb sich den Ellbogen, welchen er sich an dem darauf prangenden scharfkantigen Purpurdrachen gestoßen hatte. »Euer Brustpanzer lässt mir für eine solche Aufgabe viel zu wenig Platz.« Die Stahlprinzessin bedachte ihn mit einem schiefen 167
Lächeln. »Das soll er auch nicht. Manche der Männer, welche mir zu nahe kommen, benutzen Schwerter und Dolche, habt Ihr das vergessen?« »Ha«, grummelte der Zauberer. »Das sind ja auch die klügeren.« Alusair brach in schallendes Gelächter aus. Vangerdahast sah sich veranlasst, über ihre Schulter hinweg einen ernsten Blick auf die Purpurdrachen zu werfen, welche ins Zimmer spähten, um nachzuschauen, warum ihre Kriegerprinzessin ihre Rüstung zur Seite hielt und ihre Kehle dem Königlichen Magier darbot. »Dieses hier«, erklärte Vangerdahast, während er einen neuen Anhänger neben dem alten befestigte, »wird Euch vor einigen recht bösartigen Zaubern schützen, mit denen, wie ich befürchte, unsere derzeit neueste Bande von Verrätern Euch zu fällen trachtet. Es ist ... es ist ...« »Zauberer?«, rief Alusair und streckte eine Hand aus, um ihn zu stützen. Niemals zuvor hatte sie Vangerdahasts Gesicht so grimmig und aschfahl zugleich gesehen. Von einem Moment auf den anderen sah er verängstigt aus und alt. Verängstigt und ... beschämt. »Vangie«, murmelte sie und schüttelte ihn, während sie in seine Augen blickte. »Was ist los? Was bekümmert Euch?« Mit einem Knurren riss sich der Königliche Magier von ihr los. »Ich – nichts, über das Ihr Euch den Kopf zerbrechen müsstet. Es betrifft eine Angelegenheit unter Zauberern.« 168
»Oh, ich verstehe. So wie bei einem Ritter, welcher, von zwei Schwertern durchbohrt, in eine Halle stolpert. Ist das dann auch eine Angelegenheit unter Rittern?« »Alusair«, stieß Vangerdahast mühselig hervor, und tiefer Kummer stand ihm deutlich sichtbar ins Gesicht geschrieben, »lasst mich. Bitte. Ihr könnt mir nicht helfen. Niemand kann das.« Alusair starrte ihn an, klopfte ihm wortlos auf den Arm, wandte sich um und verließ den Raum. Er hörte, wie sie im anschließenden Gemach murmelte: »Jalance, seid so freundlich, das hier wieder für mich zuzuschnüren. Und seht dieses Mal zu, dass Eure Finger an den Schnüren bleiben, ja?« Einige Männer lachten, und der alte Magier hörte sie davongehen. Er stand allein in der Mitte des Gemachs und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Mystra schütze mich«, flüsterte er, »aber ich kann nicht. Ich bin alt. Selbst auf der Höhe meiner waghalsigen Jugendjahre hätte ich in Awernus bestenfalls fünf Atemzüge lang überlebt. Mein Platz ist hier in Kormyr, wo man mich noch für eine kleine Weile braucht. Oh, Heilige Mystra und Fürst Azuth, vergebt mir. Elminster, vergebt mir.« Er schaute sich mit wilden Blicken in dem verlassenen Raum um, und dann blitzte kurz ein Bild vor ihm auf, welches mit dem verblassenden Eindruck der zweiten Erinnerung verwoben war: Die scharf aufragenden Felsen der Hölle ragten wie schwarze Zahnstummel in einen blutig roten Himmel. Auf dem Boden kroch ein zerbrochenes Wesen dahin, 169
welchem die scharfen Enden von Knochen aus den Gliedern spießten. Das zottelige, sabbernde Gesicht mit den eingesunkenen Augen, auf welchem sich Schweiß und Blut mischten, kannte er. Es handelte sich um das Antlitz seines alten Lehrers Elminster. Der Alte Magier von Schattental saß im Pfuhl der Hölle gefangen, und seine Zauberkraft war verschwunden oder lag in Fesseln. Er versuchte jedoch, eine Gedankenverbindung zu denen aufzubauen, von denen er sich Hilfe erhoffte. Das musste alles sein, was ihm noch geblieben war. Vangerdahast durchmaß kopfschüttelnd mit zwei schnellen Schritten den Raum. Diese Augen ... ganz bewusst verbannte er das Bild aus seinem Kopf. Der Anblick, dessen war sich der Magier gewiss, stammte ursprünglich von einer geringeren Höllenkreatur, welche gerade Elminster beobachtet hatte, und war ihm auf magische Weise entrissen und zu dem Königlichen Zauberer von Kormyr geschickt worden. Das bedeutete, dass Elminster vielleicht bereits tot war, halb verschlungen von der Kreatur. Dennoch sollte er versuchen, irgendetwas zu tun, um dem Alten, der sich so gerne einmischte, zu Hilfe zu kommen. Er sollte ... sollte was? »Mystra, Mutter aller Magier« flüsterte er die Worte eines uralten Gebetes, »was soll ich tun?« Ihm antwortete nichts als Schweigen. »Was soll ich tun?« Sein Schrei erhob sich zur Zimmerdecke und brachte aufgeschreckte Diener und Purpurdrachen auf den Plan. 170
Als sie in den Raum eilten, hallte darin immer noch Vangerdahasts Pein nach. Aber der Königliche Magier war verschwunden.
171
6. Noch ein heißer Tag in Awernus
Ihm kam es so vor, als würde er schon eine Ewigkeit hier herumkriechen. In immerwährendem Schmerz durchquerte er die Hölle. Und das mit einem Teufelsfürsten im Kopf, welcher in seinen Gehirnwindungen herumtrampelte. SOWAS DUMMES. ICH BEKOMME VON EUCH WEDER DEN NUTZEN NOCH DIE ZERSTREUUNG, WELCHE ICH ERWARTET HABE ... ODER DIE MAN MIR VERHEISSEN HAT. ZEIGT MIR MEHR! ZEIGT MIR, WAS EUCH GEFORMT HAT, KLEINES WESEN AUS DEM SILBERFEUER. SPUTET EUCH, EHE ICH DEM DRINGENDEN WUNSCH NACHGEBE, ES MIR HIER EIN WENIG LUSTIGER ZU MACHEN! (geistwurm stößt zu gedanken brennen stößt herab zieht sich enger zusammen) (kreischt schafft Wirrwarr von bildern heult als ihm bewusst wird dass er nicht fort kann) Ein Mann mit grimmiger Miene und ganz in Schwarz läuft müde durch einen vor Feuchtigkeit tropfenden Wald. Seine Rechte liegt auf dem Schwertgriff. Er hat den Umhang fest um sich gewickelt. Der wird von einer Brosche in Form einer silbernen Rose zusammengehalten. 172
Von Zeit zu Zeit wirken seine wachsamen und alles erspähenden Augen wie flüssiges Silber. JA! MEHR SILBER! BEGEBT EUCH FLIESST UND BRENNT! ZEIGT ES MIR!
ZU DEM
SILBER,
WELCHES
Eine Anstecknadel in Form einer silbernen Harfe steckt an der Brust eines Läufers und hüpft auf und ab. Er rennt durch verschattete Dunkelheit, in welcher dicht hinter ihm Hunde heulen und Jäger fluchen ... VERSUCHT NICHT, EUCH MIR ZU ENTWINDEN, ZAUBERLEIN! ZEIGT MIR, WIE DIE SILBERNE MAGIE ARBEITET, STATT MIR NUR JEDES VERDAMMTE SILBERSTÜCK VORZUFÜHREN, IN WELCHEM SICH AUCH NUR EINE SPUR MAGISCHER ENERGIE BEFINDET! EUER VERSTAND IST WIE EINE RIESENBIBLIOTHEK, IN WELCHER MAN JEDEN EINZELNEN BAND VOLLSTÄNDIG IN FETZEN GERISSEN HAT! UND JETZT GLAUBT IHR, MIR EINE HAND VOLL PERGAMENTSCHNIPSEL NACH DER ANDEREN INS GESICHT WERFEN ZU KÖNNEN! ZEIGT MIR ENDLICH, WIE SILBER UND ZAUBERENERGIE VEREINT WIRKEN! LOS! ICH WILL ES SEHEN! Ein schwarzer, dünner Gehstock mit Silbergriff hängt lose in der Hand des dicken Magiers mit dem Vollbart. Seine Lider hängen schwer herab, und er seufzt, während er durch die Hallen mit den glänzenden Marmorböden watschelt. Der Zauberer kommt an vielen Fenstern vorbei, deren obere Drittel Bilder von einem lilafarbenen Drachen im Anflug zeigen. Den lilafarbenen Drachen von Kor173
myr hat man hier verewigt. »Ehrwürden Vangerdahast«, ertönt eine angenehme Stimme von oben, »die Königin hat eine Aufgabe für Euch. Eile ist geboten.« Der Magier hält vergeblich nach der unsichtbaren Sprecherin Ausschau, beschleunigt aber dennoch seine Schritte. DOCH
NICHT DIESEN ALTEN
NARREN! ÜBER
DEN WACHE ICH
LÄNGST SELBST!
Ein anderer bärtiger Mann in wallenden Gewändern, größer und grimmiger dreinschauend als der erste, läuft durch einen Raum mit mehreren Bettreihen. Etliche junge Frauen ziehen sich hier hastig an, und der Raum wird von einem Gewirr von Kleidern, Bändern, hohen Stiefeln und Strumpfbändern beherrscht. Der Bärtige hat kein Auge dafür, aber er gibt knappe Befehle von sich, welche eindeutig an die Mädchen gerichtet sind. Und dabei läuft der Mann weiter, den Blick fest auf eine kleine blaue Kugel gerichtet, welche vor ihm durch die Luft schwebt. Langsam und gleichmäßig gleitet sie fort, an einen anderen Ort. KHELBEN VON TIEFWASSER IST MIR AUCH KEIN UNBEKANNTER! WIE LANGE WOLLT IHR MICH NOCH ABLENKEN, ELMINSTER? ODER HABT IHR TATSÄCHLICH VOR, SCHON WIEDER MEINE ZEIT zu VERSCHWENDEN? GEWISS STEHT EUCH WIRKLICH DER SINN 174
NACH NEUER BESTRAFUNG UND FOLTER, ODER?
Die beiden bärtigen Gesichter weisen einen durchaus ähnlichen verwirrten und empörten Ausdruck auf, als sie gemeinsam einen Brunnenschacht hinunterwirbeln, welcher alle Farben des Regenbogens aufweist. Eine schlanke Frauenhand greift fest und mit unbeirrbarem Selbstbewusstsein durch das blaue Mondlicht, um die von schwarzem Stoff verhüllte Schulter von Khelben Schwarzstab Arunsun zu berühren. Der Magier erstarrt unter dieser Berührung. Erstaunen und Besorgnis wechseln sich auf seiner Miene ab. Die Hand löst sich in einen Schwarm kleiner Sterne auf, welche schwimmen, tanzen und sich umeinander drehen, bis sie einen Kreis von neun Gestirnen bilden. Khelben fällt andächtig auf die Knie, und sein Blick bleibt wie gebannt bei dem Sternenkreis. Die neun Sterne rasen so schnell, bis aus ihnen sieben geworden sind. Und aus den sieben wird einer. Und bei diesem einen handelt es sich um keinen Stern mehr, sondern um ein einzelnes, schwarzblaues Auge. Darin sausen viele Punkte umher und durcheinander. Das Auge zwinkert einmal keck und ist dann verschwunden ... NEIN! NEIN! UND NOCHMALS NEIN! KEIN WORT MEHR ÜBER MYSTRA! ICH WILL MICH NICHT LÄNGER ÜBER SIE BELEHREN LASSEN! 175
ABER WARTET MAL, WAS IST DAS DENN DORT DRÜBEN? WAS IHR DA HINTER DIESER FLUT VON WAHLLOS ZUSAMMENGEWÜRFELTEN BILDSCHNIPSELN, WELCHE EINZIG DEN ZWECK VERFOLGEN, MICH ZU VERWIRREN? ZEIGT MIR SOFORT, WORAN IHR DA GERADE DENKT! (bilderflut wird beiseite gewischt) AHA! SCHON VIEL BESSER! LASST EUCH GESAGT SEIN, HUND VON EINEM GEFANGENEN, ICH ALLEIN ENTSCHEIDE, WAS ICH ZU SEHEN WÜNSCHE! (helle landschaft breitet sich aus) DAS SIEHT JA WIRKLICH BEMERKENSWERT AUS! ZEIGT MIR MEHR! ICH WILL ALLES DAVON SEHEN! VERBERGT
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt: Die Kompanie der Wölfe wolle in die Stadt einreiten! Der Wolf selbst werde sich an ihrer Spitze zeigen, frisch von den Siegen über die Armeen von Amn. In der Schlacht beim fernen Sechs Trompeten und am Ufer des Gewundenen Wassers hatte er sie geschlagen. Hinter dem grimmigen Kriegshauptmann würden Packpferd um Packpferd erscheinen, schwer beladen mit Geschmeide, Geld und anderer Beute aus seinen weiten Feldzügen: Kalischitische Seide, Gewürze, Wein und dazu die eigenartigsten Dinge, welche man hier sein Lebtag noch nicht gesehen hatte. Die Krieger der Wolf-Kompanie würden in die Stadt einreiten, um zu feiern, zu zechen und ihr Geld unter die Leute zu bringen! Um gefallene Freunde, vergossenes Blut und allerlei Entbehrungen zu vergessen. 176
Ein Freudentag für die Mädchen, welche gern die Schänke »Zum Scharlachroten Pantoffel« aufsuchten. Mirt der Erbarmungslose, der tausendmal tausend Feinde erschlagen hatte, wählte für seinen Triumphzug den üblichen Weg vom Südtor durch die verwinkelten Gassen des Hafenviertels, vorbei an den Schatten der Burg Tiefwasser bis zu dem Ort, welchen die Krieger für gewöhnlich aufzusuchen pflegten: die ebenso alte wie verrufene Spelunke »Zum Scharlachroten Pantoffel«. Der Kriegsmann führte einen stolzen Zug von Kämpfern an. Ihnen wie auch ihren Pferden sah man an, dass sie einiges durchgemacht hatten. Vor zwei Tagen noch hatten die Männer dem Tod ins Angesicht geschaut. Der Wolf hockte geduldig in seinem Sattel, während man die Verwundeten zu den Mietschwestern im Südlazarett brachte. Er schickte drei seiner vertrauenswürdigsten Offiziere los, um frische Rösser und Verpflegung zu besorgen. Andere machten sich auf den Weg, für die Reisigen in der Kompanie Unterkünfte zu besorgen. Von den berittenen freien Bürgern konnte man schließlich nicht erwarten, sich zu den Gemeinen ins Quartier zu legen. Erst als all dies geschehen war, stieg Mirt von seinem Zelter und betrat steifbeinig und mit knarrendem Lederwams die trübe Schankstube des Gasthofs, um sich an seinem ersten Humpen Wein zu laben. BAH! PFUI! IGITT! NOCH MEHR LIEBE UND ZÄRTLICHKEIT! NUR WEIBISCHE SCHWÄCHEN! IST DAS ALLES, WAS DIESES ZAUBER-MÄNNLEIN ZU BIETEN HAT? ICH VERGEUDE HIER NUR MEINE ZEIT, UND ... ABER MOMENT 177
MAL! DAS KANN UNMÖGLICH AUS EUREN ERINNERUNGEN STAMMEN! WAHRSCHEINLICH HAT MYSTRA EUCH DAS EINGEGEBEN ... WENN ICH DIESER SPUR FOLGE, FINDE ICH SICHER ANDERE HINTERLASSENSCHAFTEN DER GÖTTIN. UND DANN, WENN MÖGLICH, STOSSE ICH VIELLEICHT DOCH NOCH AUF ETWAS BRAUCHBARES! NESSUS, STEH MIR BEI! Der »Scharlachrote Pantoffel« war in Tiefwasser wohl bekannt, der Stadt, welche sich die »Prächtige« nannte. Hier fanden sich vornehmlich die Freudenmädchen ein, die nicht zu den obersten Preisgruppen zählten, dafür aber in ausreichender Auswahl. Junge und alte Dirnen, fette und dürre, natürliche Schönheiten und grell geschminkte Exotinnen, kurzum für jeden Geschmack war etwas dabei, und sei er auch noch so ausgefallen. Die Damen der Nacht jedoch, die von reichen Kaufmännern gern die »Exklusiven« genannt wurden, verkehrten in solchen Stadtvierteln, in welchen es nicht ganz so derb zuging wie am Hafen. Die meisten Leser werden es schon ahnen: Der »Scharlachrote Pantoffel« genoss bei den meisten Bürgern nicht gerade einen erstklassigen Ruf. Als der Tag sich dem Ende zuneigte und die Dämmerung wie ein Katze durch die Gassen schlich, erschienen sie auf den Straßen: die Schönen vom Gunstgewerbe. Einzeln, in Paaren oder zu dritt schlenderten sie durch die Straßen. Wie duftende Schatten stahlen sie 178
sich überall in der Hafengegend aus ihren Kammern. Selbst aus ferneren Stadtvierteln strömten sie in erstaunlicher Anzahl hierher. Immerhin hatte es sich schon in der ganzen Stadt herumgesprochen, dass die Kompanie mit »reicher Beute« heimgekehrt sei. Mit Parfüm, Pelzen, Seidenkleidern, Satinballen und den beliebten Delvies. In der Schänke floss der Wein bereits in Strömen, und die Helden aus zahlreichen Schlachten wurden lauter und lauter. DIE MENSCHEN VERBRINGEN FURCHTBAR VIEL ZEIT MIT GELAGEN UND FEIERN ... VERMUTLICH WÜRDE ICH ES JA AUCH SO HALTEN, WENN AWERNUS NICHT EIN ORT WÄRE, AN DEM MAN LEICHT SELBST ZU EINER MAHLZEIT WIRD, WENN MAN SICH ZU EINER SOLCHEN NIEDERLÄSST. Die kampfgestählten und narbengesichtigen Krieger lachten, johlten, brüllten und würfelten. Einige von ihnen, sei es vom vielen Wein mutig geworden, von der Unbekümmertheit der Jugend angetrieben oder schlicht aus drängendem Gelüst heraus stiegen auf die Tische, um mit den Tanzmädchen die Hüften zu wiegen. Andere verschwanden schon schummrige Stiegen hinauf oder in düstere Seitengässchen, noch ehe die Nacht so richtig hereingebrochen war. In einer Ecke dieses Tohuwabohus saß jemand ganz ruhig und aufmerksam da. Es war dies derjenige, welchen sie den Wolf nannten, und ihm genügte die Gesellschaft einer Weinflasche. Die auffordernden Rufe, die scheinbar zufälligen Berührungen und die schamlo179
sen Zurschaustellungen der Mädchen beachtete der Anführer nie. Diejenigen, welche mit ihm am Tisch saßen, ließen solche Verlockungen indessen keineswegs unbewegt. Mit jeweils einem knappen Nicken entließ Mirt nacheinander die meisten von ihnen von seinem Tisch. Für eine gewisse Frist durften sie ihre Pflichten vergessen und sich dem allgemeinen lockeren Treiben anschließen. Der stämmige Hauptmann der Kompanie saß wachsam wie ein Falke am Tisch, und seine Hand entfernte sich in keinem Moment zu weit vom Dolchgriff. Mochten noch so viele Schöne vor ihm erscheinen, er zog keine von ihnen zu sich heran. Seine Lider zuckten nicht öfter als ein paar Male. Und so verging die Nacht. Bald stellten sich auch die Stammkunden ein, wollten sie sich doch das große Gelage und die Spielleute nicht entgehen lassen. Noch mehr Bier und Wein flossen. Auch andere fanden den Weg in die Schankstube: Soldaten von der Stadtwache, Herumtreiber, Neugierige und Seeleute. Die meisten blieben an den Wänden stehen und sahen staunend und neugierig dem Treiben zu. Wenn ein Blick den Anführer traf, starrte Mirt hart zurück. Kaum dass er einem oder zweien der Neuankömmlinge zunickte. Einen Gruß sprach er nie. Nun trafen auch die weniger kecken Straßenmädchen ein, sie schlüpften durch die Tür und blieben dann halb erschrocken und halb verwirrt stehen. Nur langsam überwand die Hoffnung auf Gewinn ihre 180
Ängstlichkeit. Schon wurden die ersten von ihnen auf die Tanzfläche gerissen, um sich dort einige Male zu drehen. Andere sahen sich dem Blick eines hübschen Freiers gegenüber und zogen sich mit ihm aus dem Lokal zurück. Die meisten standen aber eine ganze Weile an den Wänden und blickten sehnsüchtig und schmachtend drein. Während er ruhig und gleichmäßig seiner Weinflasche zusprach, betrachtete Mirt sie alle der Reihe nach. Natürlich mit ausdrucksloser Miene. Denn gleich ob alt oder jung, ob drall oder dürr, ob groß oder klein, er hatte sie alle schon gehabt. Und das mehr als einmal. Irgendwann im Lauf des Abends würde er sich für die eine oder andere entscheiden. Um wen es sich dabei handelte oder warum es diese und keine andere sein würde, wusste er jetzt noch nicht zu sagen. Bislang hatte noch keine seinen Pulsschlag beschleunigt. Aber er hatte es ja nicht eilig, und die Nacht währte noch lange. Wölfe sind immer auf der Jagd. Doch dann bemerkte Mirt mit wachsender Erregung eine Neue unter den Freudenmädchen. Sie bewegte sich mit der Anmut einer wirklichen Herrin und glitt fast unbemerkt hinter einer Schar lauter und schon leicht angetrunkener Dirnen in den Schankraum. Der Wolf entdeckte sie vor allem deswegen, weil sie sich nicht so auffällig wie die anderen zurechtgemacht hatte. Die junge Frau trug ein schlichtes graues Kleid. Sie 181
trug keine Schminke, führte keine losen Reden und stellte sich auch nicht aufreizend in Positur. Mirt sah noch einmal zu ihr hin, und dabei trafen sich ihre Blicke. Im ersten Moment schien sein Interesse an ihr sie zu erschrecken. Doch dann blickte sie ebenso kühl und gelassen zurück. Der Anführer betrachtete die Unbekannte genauer. Die Schöne übertraf die meisten der anderen Mädchen an Jahren, und sie ... Sie trat beiseite, als ein Krieger sich an ihr vorbeischob. Die Dirne hatte eine Adlernase, wie man sie sonst eher im Gesicht eines Mannes vermutete. Aber die graugrünen Augen machten das alles wieder wett. Sie schaute sich gelassen um, aber nicht so, als widere das Treiben hier sie an oder als wolle sie einen möglichen Freier abschrecken. Sie wirkte neugierig ... und es gab da noch etwas anderes, das sie aber hervorragend hinter ihrer unlesbaren Miene zu verbergen wusste. Ohne noch einen weiteren Moment zu zögern, erhob sich der Hauptmann. Auf dem Weg zu der merkwürdigen Schönen berührten ihn viele weiche Hände. Er missachtete sie alle ebenso wie die unverblümten Aufforderungen, gleich ob sie mit rauchiger oder mit lauter und schriller Stimme erfolgten. Schon nach wenigen Schritten hatte Mirt die Gruppe Frauen erreicht, welche sich noch etwas schüchtern an die Wand drückte. Einige mochten sich wirklich nicht so recht getrauen, aber die anderen kokettierten nur damit. Von Ersteren 182
mochten manche noch zu jung für solche nächtlichen Vergnügungen sein, während andere sich von den viel wagemutigeren Freudenmädchen einschüchtern ließen. Die Frau mit der Adlernase, auf welche der Hauptmann es abgesehen hatte, hatte bislang weder einen Mann angesprochen, noch hatte sich jemand ihr genähert. Die Dirnen in ihrer Nähe hielten sie ohnehin für ein Eheweib oder eine Geschäftsfrau, welche nur hierher gekommen sei, um einen bestimmten Mann zu finden, aber nicht um sich mit ihm die halbe oder ganze Nacht zu vergnügen. Deswegen setzten auch viele von ihnen eine verblüffte Miene auf, als der Anführer sich ausgerechnet ihrer Gruppe näherte. In den meisten der Dirnen keimte Hoffnung auf. »Das ist Mirt«, tuschelte mindestens ein Dutzend dieser Mädchen einander zu. »Der Wolf. Der große Kriegsheld!« Die einen zupften ihr Haar zurecht, und die anderen zogen den Rock noch ein wenig höher, um ein wohlgeformtes Bein noch besser zur Geltung kommen zu lassen. Nur die Frau in Grau tat nichts dergleichen und sprach auch kein Wort. Etwas flackerte kurz tief hinten in ihren Augen auf, aber ihre Miene blieb die gleiche. Die anderen Dirnen machten nacheinander Platz, als den Einzelnen bewusst wurde, dass sie nicht gemeint waren. Dann blieb er vor der Frau mit der Adlernase stehen, schob den Daumen der einen Hand in seinen Gürtel, zog eine Augenbraue hoch und sah sie schweigend an. 183
Eine solche Dirne fiel selbst in dem »Pantoffel« durch ihr Alter auf. Mirt hatte sie jedenfalls noch nie zu Gesicht bekommen. Ebenso schweigend wie er nickte die Schöne nur einmal kurz. Der Wolf trat zu ihr und nahm sie am Arm, so als seien sie beide alte Freunde und gerade in Piergeirons Palast zu Gast. Man hätte in diesem Moment nicht glauben mögen, dass er und sie nur in einer heruntergekommenen Spelunke dem ältesten Gewerbe der Welt nachgingen. Das Amulett, welches an Mirts Hals hing, regte sich nicht und blieb kühl. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass hier keine Magie im Spiel war. »Welche Richtung?«, fragte der Hauptmann nur, als die beiden hinaus auf die vom Mond beschienene Straße gelangten. Aus den Schatten näherten sich finstere Gestalten, hielten aber rasch inne, als sie das Schwert in der Scheide erkannten, welches der Mann in der anderen Hand trug. »Hier entlang«, erhielt der Wolf zur Antwort, »es ist nicht weit.« Sie liefen wortlos über die Straße auf die Burg zu, die bald hoch über ihnen aufragte. Mirt hatte es nicht eilig. Dieses Rätselspiel fing an, ihm Spaß zu machen. »Wie viel, meine Dame?«, fragte er so freundlich und unbewegt wie möglich. »Ich bin keine Dame«, beschied sie ihn, und: »Zwei Goldstücke. Das eine vor meiner Tür, und das andere morgen früh.« 184
Der Hauptmann zog beide Brauen hoch. »Ihr scheint noch nicht allzu lange diesem Gewerbe nachzugehen«, bemerkte er nur, und es klang weder wie ein Vorwurf noch wie ein Kompliment. »Ist Euch der Preis vielleicht zu hoch?«, bekam er in frostigem Tonfall neben sich zu hören. Die Schöne hielt nicht einmal inne. Der Wolf zuckte die Achseln. »Nein, darum geht es nicht«, entgegnete er. »Ihr spracht vom Morgen. Und bis dann ist es noch lange hin ... für einen einzigen Galan.« »Ihr habt Recht, Herr, ich betreibe dieses Geschäft noch nicht sehr lange.« Mirt blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Sie wollte ihm entweichen, aber er hielt sie am Arm fest. »Habt Ihr es Euch vielleicht anders überlegt, Herr?«, fragte die Frau mit der Adlernase. Der Wolf schüttelte den Kopf, hob eine Hand und winkte in die Richtung, aus welcher sie gekommen waren. Die beiden Männer, die ihnen gefolgt waren, winkten zurück und verzogen sich. Der eine hob zum Ehrengruß sein Schwert. »Nein, habe ich nicht«, antwortete der Anführer schließlich und setzte sich wieder in Bewegung. »Sie folgen uns jetzt nicht mehr.« »Ihr seid mir keine Rechenschaft schuldig«, sprach seine Nachtgefährtin. »Wir sind übrigens da. Euer Goldstück, bitte, oder?« Wortlos öffnete der Hauptmann die Hand des Arms, welcher sich um den ihren gelegt hatte. Darin glänzte das gewünschte Goldstück. 185
UND IHR MENSCHEN
NENNT UNS TEUFLISCH?
WENIGSTENS
MACHEN WIR NIEMANDEM ETWAS ÜBER DAS BÖSE VOR, WELCHES WIR BETREIBEN!
Wie bitte? Ausgerechnet Nergal will mir weismachen, in der Höllegäbe es weder Lug noch Trug? Keinerlei böswillige Täuschungen? Na, na, na! DA IST JA AUCH UNSER KLEINER GEHEILTER ERWACHT! TJA, DANN GENIESST MAL DIE REISE! ICH MACHE MICH JETZT WIEDER AUF DEN WEG DURCH EUER GEDÄCHTNIS. AUCH WENN MIR ENTFALLEN IST, KLEINER MANN, WAS ICH DORT EIGENTLICH WOLLTE! Oho, dann wirkt mein Zauber also. (schnauben ein geistiger peitschenhieb stöhnen vor schmerzen teuflisches lachen) DUMMER IDIOT! DUMMES MENSCHLEIN! JETZT ZEIGT MIR, WAS IHR NOCH ZU BIETEN HABT! »Immer noch wach, Herrin?«, fragte Mirt einige Stunden später sanft in die Dunkelheit hinein. Sie wandte sich von dem Fenster ab, durch welches sie bis eben beobachtet hatte, wie der Mond über den Hafen segelte. Die Frau mit der Adlernase legte etwas Langes und Dünnes ab, das im Mondlicht glänzte, und kehrte ins Bett zurück. »Ja«, antwortete sie ihm nun ebenso leise und schlüpfte unter die Decke. Der Wolf legte einen Arm um sie und zog sie zu sich heran, um sie zu wärmen. Nach einer Weile entspannte sich die Schöne, blieb aber weiter an ihn gekuschelt. Mirt strich ihr über das lange Haar, welches ihr bis über die Schultern fiel. 186
»Wie nennt man Euch, edle Herrin?«, wollte der Hauptmann wissen. »Nalitheen«, antwortete sie mit eigenartig angespannter Stimme. »Und ich heiße Mirt«, stellte er sich vor, was sie nach einem Moment kichern ließ. »Das hat die Hälfte der Mädchen getuschelt, als Ihr zu uns gekommen seid«, lachte sie. Nalitheen lag immer noch reglos an seiner Seite, um sich an seiner Wärme zu laben. »Man nennt Euch den Wolf«, fuhr sie fort. »Und sagt, Ihr hättet Tausende erschlagen. Eigentlich hätte ich mir Euch etwas ... barbarischer vorgestellt.« Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Warum denn das? Ich betreibe das Kriegsgewerbe, und wenn man mich erzürnt, schlage ich eben hart zu ...« Er hustete und starrte in die Nacht. »Einige meiner Männer mögen grausam sein, das will ich gar nicht abstreiten, und das wird sich auch nie vermeiden lassen. Andere unter meinen Kriegern prahlen gern und geben an. Aber das liegt daran, dass sie noch zu jung sind und es nicht besser wissen.« »Einige von denen waren schon bei mir zu Gast«, merkte die Schöne der Nacht an, ohne das jedoch wie einen Vorwurf klingen zu lassen. »Diejenigen, welche schon einige Erfahrungen im Kampf gesammelt haben«, meinte Mirt, »werden Euch nie schlecht behandeln. Das Schönste und Beste, was eine Frau nämlich einem Krieger geben kann, ist ein sicherer Ruheplatz. Da kann er tief und fest schlafen 187
und sich ausruhen, ohne ständig befürchten zu müssen, dass ihm jemand einen Dolch zwischen die Rippen stößt.« »Das ist mir bekannt«, entgegnete Nalitheen, »denn mein Gatte war auch Soldat. Vor zwei Sommern ist er bei Dolchfurt gefallen. Er hieß Borold und stand im Dienst von Tiefwasser. Man hat ihm ein ehrenvolles Begräbnis bereitet. Mein Mann wurde von Söldnern erschlagen, welche man ausgesandt hatte, die Silberbarren der Stadt zu rauben, welche Borold bewacht hat. Jeder einzelne Wächter wurde von den Söldnern niedergemacht, und die Fürsten waren sehr wütend darüber ...« Ihre Stimme war immer leiser geworden, und nach einem Moment des Schweigens fügte sie verbittert hinzu: »Aber vor allem wegen dem Verlust des Silbers.« Mirt lag ganz still da und starrte in die Finsternis. Ein Frösteln von Traurigkeit gesellte sich zum Gewicht der älteren Sorgen, welche sich tief in ihm eingegraben hatten. Die Wolf-Kompanie hatte das Silber geraubt – damals, als sie im Sold der Kaufleute von Amn gestanden hatte. Und wenn Borold an jenem Tag die Wachtruppe befehligt hatte, hatte Mirt höchstpersönlich ihn erschlagen. Er erinnerte sich dunkel an einen kräftigen Mann mit buschigen Koteletten und Augenbrauen. Ein guter Kämpfer, der vor seinem Ende Mirt noch das Schwert in den Arm hatte bohren können. Der Hauptmann hätte jetzt gern darüber geredet, un188
terließ das aber. Nalitheen hatte so verbittert geklungen. Und außerdem ergriff sie jetzt schon wieder das Wort. »Männer, welche das Schwert schwingen, machen sich keine Vorstellung davon, wie viele Frauen deswegen hungern oder für immer allein bleiben müssen. Eine ganze Menge der Mädchen in dem ›Pantoffel‹ weiß nicht, ob ihr Mann sie verstoßen hat oder in einer Schlacht gestorben ist ...« Traurig fügte sie nach einem Moment hinzu: »Und die meisten von ihnen werden das auch nie erfahren.« »Wie kommt es dann, dass Ihr über Borolds Schicksal Kenntnis erlangtet?«, fragte der Wolf verwundert. »Man hat es mir berichtet. Soldaten aus dem Palast teilten es mir mit, als man mich dorthin bestellte und mir den noch ausstehenden Sold meines Mannes aushändigte ...« Nalitheen seufzte: »Jetzt fragt mich aber nicht, woher die Palastwachen davon erfahren haben wollen. Ich weiß nicht einmal, ob sie mich wissentlich belogen haben. Sie händigten mir vierzig Silberstücke aus. Vierzig Silberstücke für das Leben meines Gatten.« »Aber aus welchem Grund«, wollte Mirt jetzt mit sanfter Stimme wissen, »verkauft Ihr Euch dann? Liegt das vielleicht, und verzeiht mir, dass ich frage, an dem zweiten Grund, welchen Ihr eben vorbrachtet, der Einsamkeit nämlich?« Die Dirne zuckte die Achseln. »Ich habe zwei Töchter, und die müssen etwas zu essen bekommen. Was mich persönlich angeht, so ist mir alles einerlei. Seit Borold von mir gegangen ist, schert mich nichts mehr ... 189
Früher glaubte ich oft, ihn rufen zu hören. Dann käme er so wie immer und singend die Straße heraufgelaufen ... Aber heute weiß ich, dass so etwas nie der Fall sein wird. Nie mehr in diesem Leben.« Beide schwiegen jetzt für eine Weile. Dann fragte der Wolf noch einmal, aber mit rauerer Stimme: »Doch warum müsst Ihr Euch verkaufen?« Nalitheen drehte sich in seinem Arm, um ihn trotz der Dunkelheit ansehen zu können. »Was bleibt mir denn sonst?«, erwiderte sie nur. Nach einem Moment fügte sie hinzu: »Ich kann leidlich kochen, gewiss, aber auf dieser Seite des Flusses gibt es hundert mal hundert Menschen, die besser kochen können als ich. Bei Handlangerdiensten bin ich nicht unbedingt geschickt zu nennen, und ich verfüge über zu geringe Körperkräfte, um auf der Straße Güter auf- oder abladen zu können, zu was für einem Lohn auch immer. Alle anderen Gewerke in dieser Stadt unterstehen den Zünften, und ich bin zu arm, um mich bei einem Meister als Lehrling zu verdingen. Von dem bisschen Lohn, welcher ein Lehrling bekommt, lassen sich keine zwei jungen Mädchen durchfüttern. Selbst dann nicht, wenn ich selbst die ganze Zeit über hungern würde.« Mirt strich ihr mit zwei Fingern über die Seite. »Mich deucht, Ihr könntet jetzt schon etwas mehr Speck auf den Rippen ansetzen.« Nalitheen kicherte. »Das hat Borold auch immer gesagt. Aber im Ernst, ich war nie ein gute Esserin.« »Ich will mich ja auch nicht beschweren, ganz gewiss 190
nicht«, versicherte Mirt ihr, und darüber mussten sie beide lachen. Danach sagte er nichts mehr und fing wenig später an zu schnarchen. Die Schöne der Nacht blieb in seinen Armen liegen, starrte noch ein wenig in die Dunkelheit und schlief dann zu ihrer eigenen Überraschung ein. IHR MENSCHEN GEBT EUCH WIRKLICH BEI JEDER GELEGENHEIT EUREN FLEISCHLICHEN GELÜSTEN HIN! WENN IHR WENIGER ZEIT UND MÜHE DAFÜR AUFWENDEN WÜRDET, EUCH BEI IRGENDWEM INS BETT HINEINZUSCHMEICHELN, BLIEBE EUCH MEHR GELEGENHEIT ZU SCHLACHT UND PLÜNDERUNG! Danke für den Hinweis, Nergal, aber wie der Zufall es will, ist das einigen in Faerun auch schon aufgefallen. (schnauben) OFFENBART MIR MEHR, ZAUBERLEIN! MEINE GEDULD HAT SEIT DEM MOMENT STARK NACHGELASSEN, AN WELCHEM ICH EUCH GEFANGEN GENOMMEN HABE. Ob Ihr mir das nun glaubt oder nicht, aber das ist mir ebenfalls nicht entgangen. (teuflisches grinsen schon setzt der bilderstrom sich wieder in bewegung) Als Mirt erwachte und auf dem Lager herumrollte, war draußen die graue Dämmerung angebrochen. Neben ihm lag niemand mehr. Der Wolf hielt sofort nach seinem Schwert Ausschau und legte es aus alter Gewohnheit neben sich. Dann verließ er flugs das Bett, kleidete sich rasch und schweigend an, wie es seine Art war, und streckte sich 191
mehrmals nach Katzenart. Bevor der Wolf seine Morgenübungen beendet hatte, kehrte Nalitheen mit zwei dampfenden Krügen zurück. Dem Geruch nach zu urteilen, mussten sie Ochsenzungensuppe enthalten. Die Schöne blieb unvermittelt stehen, als sie ihren Liebhaber angezogen erblickte. Sie lief barfuß und hatte sich eine Decke umgeworfen, die früher einmal recht wertvoll gewesen sein musste, nun aber einige Flicken aufwies. Die Decke hatte sie sich am Bauch zusammengebunden, aber darüber und darunter klaffte der Stoff recht freizügig auf. Nalitheen reichte ihm einen der Krüge, verzog den Mund, als wolle sie lächeln, und ließ sich dann auf der Bettkante nieder. Sie zog die Decke fester um sich zusammen. »Dann wollt Ihr also fort?«, fragte die Frau schließlich und hob den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Etwas Eigenartiges lag in ihren Augen. Mirt nickte langsam. »Ich muss. Die Truppe zieht heute Nachmittag weiter, nachdem wir genug Vorräte gekauft haben, um für die nächste Zeit versorgt zu sein.« Er trank einen Schluck von der Suppe und nickte anerkennend. »Danke übrigens, das kommt mir jetzt wirklich gerade recht.« »Nehmt es als Dank für Eure Freundlichkeit letzte Nacht«, entgegnete sie und sah ihn immer noch an. Der Wolf begegnete ihrem Blick. Doch nach einem Moment leerte er den Krug auf einen Zug und erhob 192
sich. Ein Goldstück rutschte aus seiner Hand in das Gefäß und klapperte darin, als er es auf den Tisch stellte. »Da wäre noch eine Sache, wenn Ihr so freundlich sein möchtet«, sagte der Hauptmann. Nalitheen hob den Blick über den Rand ihres Kruges und sah den Mann an, während sie den Rest ihrer noch warmen Suppe schlürfte. »Zeigt mir Eure Töchter«, sagte Mirt, und es klang fast so, als würde er darum bitten. Die Dirne starrte ihn für einen Moment an und schien den Krug in der Hand ganz vergessen zu haben. Dann nickte sie und führte den Wolf zu einem Vorhang in der hinteren Ecke der Kammer. Dahinter befand sich eine Tür, und die war abgeschlossen. Nalitheen drückte Mirt das Ende des Vorhangs in die Hand und bückte sich. Unter einer Bodendiele befand sich ein schmaler Schlüssel, und der passte genau ins Schloss. Die Tür ging weit nach innen auf, und nun ließ sich eine Leiter erkennen, die hinauf ins Halbdunkel führte. Die Frau winkte dem Wolf zu, ihr zu folgen, und stieg langsam und vorsichtig die Leiter hinauf. Der Hauptmann tat, wie ihm geheißen. Die Sprossen knarrten hörbar unter seinem Gewicht. Die Leiter endete in einem kleinen Raum unter dem Dach. Draußen zeigte sich am Himmel rosiges Leuchten vom ersten Tageslicht. Große und dunkle Augen sahen ihn fragend an. Zwei verschlafene Mädchen mit zerzaustem Haar hatten sich 193
halb auf ihrem gemeinsamen Bett erhoben. »Naleetha und Boroldira«, stellte die Mutter sie ihm vor, und als Mirt sich zu ihr umdrehte, stand sie mit einem Dolch in der Hand hinter ihm. Die Härte in ihrer Stimme spiegelte sich in den Fingerknöcheln wider, welche sich weiß um den Messergriff krampften. Die scharf gewetzte Spitze war genau auf den Wolf gerichtet. »Der gehörte Borold«, erklärte die Dirne ihm und nickte in Richtung der Klinge. Mirt sah ihr lange und schweigend in die brennenden Augen. Dann kehrte er der Frau den Rücken zu und wandte sich den beiden Mädchen in dem Bett zu. »Meine Damen«, grüßte er sie höflich und verbeugte sich, als habe er zwei Edelfräuleins bei Hof vor sich. »Ich bin Mirt der Wolf und erbitte Eure huldvolle Vergebung dafür, Euch in Eurem Schlummer gestört zu haben. Naleetha und Boroldira, seid versichert, dass es mir ein großes Vergnügen gewesen ist, Eure Bekanntschaft gemacht zu haben.« Er lächelte ihnen zu und drehte sich wieder zu ihrer Mutter um. Das Lächeln lag immer noch auf seinen Lippen. »Danke«, sagte der Hauptmann nur, schritt an ihr vorbei, als sei kein Dolch vorhanden, und stieg ohne Anzeichen von Eile die Leiter hinunter. In der Kammer angekommen schritt er, gefolgt von Nalitheen, hinaus, marschierte die Treppe hinunter und gelangte zur Haustür. Als der Wolf sich noch einmal umdrehte, stand die 194
Frau auf der untersten Stufe, zitterte am ganzen Leib und hielt immer noch den Dolch in der Hand. Tränen glitzerten feucht in ihren Augen. »Steckt das Messer wieder ein, meine Dame«, forderte Mirt sie sanft auf. »Dazu besteht doch nun wirklich kein Anlass mehr.« Nalitheen schüttelte langsam und voller Hilflosigkeit den Kopf. Dann ließ sie die Klinge zu Boden fallen. Mit gesenktem Haupt starrte sie auf den Stahl. Das Haar fiel ihr herab und verdeckte ihr Antlitz. »Wie lange wisst Ihr es schon?«, fragte der Hauptmann. »Sie haben mir schon damals im Palast gesagt, wer meinen Borold erschlagen habe«, flüsterte die Frau stockend. Dann hob sie den Kopf und starrte ihn wütend durch ihren Tränenschleier an. »Sie verrieten mir, dass Mirt der Erbarmungslose ihn auf dem Gewissen habe. Seitdem warte ich auf Euch. Zwei lange Jahre habe ich jede Nacht allein in meinem Bett gelegen, mir die Augen ausgeweint und mich gefragt, ob Ihr mir jemals so nahe kommen würdet, dass ich Euch diesen Stahl in den Leib bohren könnte.« »Und was jetzt?«, fragte der Wolf unbewegt und hielt ihrem Blick stand. »Die letzte Nacht hat alles verändert«, schluchzte Nalitheen, senkte wieder das Haupt und lief auf der letzten Stufe auf und ab. Irgendwann blieb sie stehen und schrie: »Und wie lange wisst Ihr es schon? Wer ich bin und dass Ihr – dass Ihr meinen Mann getötet habt?« 195
»Seit letzter Nacht«, antwortete Mirt ihr wahrheitsgemäß. »Als Ihr mir berichtet habt, auf welche Weise er ums Leben gekommen ist.« »Und Ihr seid dennoch geblieben?« »Ich hatte doch bezahlt«, antwortete er, fügte aber nach einem Moment hinzu: »Nein, das war jetzt nicht nett. Ich habe Euch mein Leben anvertraut, Nalitheen, letzte Nacht und vorhin wieder.« Der Hauptmann zog sein Schwert. Ganz langsam. Die Frau zuckte zusammen, wich aber nicht vor ihm zurück. Mit dem Blick auf sie gerichtet, kippte Mirt die Scheide um und schüttelte sie, bis ein Stoffsäckchen herausplumpste. Im Innern desselben klirrte es nach vielen Münzen. Der Wolf reichte ihr das Geld. »Dies ist für Euch«, sprach er und schloss ihre Finger um die Silberstücke. »Für Euch und für Naleetha und Boroldira. Tut mir Leid, aber das muss für den Anfang reichen. Doch ich kehre zurück, und dann bekommt Ihr mehr. Darauf sollt Ihr mein Wort haben.« Die Dirne sah ihn nur an, verzog keine Miene und ließ sich auch sonst nicht anmerken, was in ihr vorging. Aber das Geld hielt sie fest. Mirt küsste die Frau auf die Stirn, schob das Schwert in die Scheide zurück und nahm seinen Umhang vom Haken. »Gott segne Euch ob Eurer Großzügigkeit«, flüsterte Nalitheen und klang sehr müde. Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und lehnte sich an den Türrahmen. 196
»Dankt mir nicht zu früh«, entgegnete der Wolf von Tiefwasser wild entschlossen, »denn ich komme gewiss zu Euch zurück.« Damit lief er hinaus auf die Straße, auf welcher es eben Tag wurde. ACH, DAS GEHT EINEM WIRKLICH ZU HERZEN! ICH FÜRCHTE, WIR BEKAMEN EBEN EIN LEHRBEISPIEL FÜR DIESES FALSCH VERSTAN-
MITGEFÜHL ZU HÖREN, WELCHES DIE MENSCHEN »EHRE« ODER TREUE! ODER IRGENDEINEN ANDEREN RÜHRSELIGEN FIRLEFANZ. KEIN WUNDER, DASS SIE SICH IN IHREM LABYRINTHARTIG VERWORRENEN VERSTAND NIE ZURECHTFINDEN! WIE JA AM GERADE GESCHILDERTEN BEISPIEL ERSCHRECKEND DEUTLICH WURDE! DOCH SÄUMET NICHT, MEIN GEFANGENER ZAUBERER, MICH DÜRSTET NACH NEUER UNTERHALTUNG! DENE
NENNEN!
»Ihr beleidigen mich, Ihr Schwein von einem Kaufmann!«, schimpfte der Kalischite, und sein Akzent klang genauso schwer wie die ihn umgebende Duftwolke. Welzraedo Hlaklawarr von Kalimport brachte zwar mindestens ebenso viel Körpergewicht auf die Waage wie der schnaufende Mann vor ihm, der sich in einem Sessel fläzte und die Füße auf den Tisch gelegt hatte. Aber Welzraedo war erheblich besser gekleidet als sein Gegenüber. Mit wippendem spatenförmigem Bart feuerte der Kalischite eine Breitseite ausgesucht gehässiger Beleidigungen ab, ehe er sich in ehrabschneidender Weise über Mirts Stammbaum, seine leibliche Reinlichkeit und seine augenfällige Ähnlichkeit mit einem 197
Kamel ausließ. »Und nun haben bitte die Güte«, beendete Welzraedo seine Ausführungen, »Euch von dieser Sitzgelegenheit zu entfernen, welche Ihr ungerechtfertiger Weise besetzt haltet. Der einzige rechtmäßige Besitzer dieses Möbels sein nämlich ich, Welzraedo Hlaklawarr von Kalimport, Erster Finger des Maskierten Wesirs, wenn es belieben.« Mirts Antwort bestand im Wesentlichen aus einer Wiederholung des dröhnenden Rülpsers, welcher schon beim ersten Mal den Gesandten beleidigt hatte. Dann betrachtete er angelegentlich seine Fingernägel, ohne sich aus dem Sessel oder von dem besten Tisch in der »Tapferen Trappgans« zu rühren. Diesen Fingernägeln erklärte er nun: »Ei der Daus, da hatte unsere gute Tante selig wohl doch Recht, Senf und Quitten in derselben Soße vertragen sich anscheinend wirklich nicht. Wenigstens nicht in meinen Gedärmen. Doch nun zügelt Euch, meine lieben inneren Organe, denn es will uns so scheinen, als übe schon unsere bloße Anwesenheit wenig zuträgliche Wirkung auf die geistige Gesund gewisser Besucher aus Kakerlaktitten oder Kaltverschnitten so ähnlich aus. Zu dumm, dass ich mir diesen Namen nie merken kann, aber –« Der Gesandte unterbrach diese launigen Betrachtungen mit im Wutschrei. Im selben Moment riss er eines der Dutzend oder mehr tückischen Messer aus seinem Gürtel, welche dort in schmucker Reihe nebeneinander steckten. 198
Der Arm des Gesandten bewegte sich so flink, dass man den einzelnen Bewegungen kaum folgen konnte und nur auf und nieder flirrende Seide ausmachte ... Aber nur für einen Moment, dann krachte Welzraedos Arm nämlich schwer, hart auf die Tischplatte. Der ausladende Hintern des Gesandten und seine goldenen Stiefelchen ragten über den Kopf in die Höhe – so hart hatte der Stiefel von Mirt dem Geldverleiher den Stuhl des Kalischiten getroffen. Mit einem Mal war es in dem Wirtshaus mucksmäuschenstill, und man hörte nur das Schmerzstöhnen und das Atemringen des Gesandten. Mirt pflückte geradezu gelangweilt das Messer aus Welzraedos Hand und schob mit der Klingenspitze dem Kalischiten den Turban vom Kopf. Mit viel Umsicht und unter genauem Zielen ließ er dann eine Karaffe Feuerwein auf die Halbglatze seines Gegenübers niedersausen. In Folge dieses Treffers zuckte Welzraedo einmal mit Armen und Beinen. Er rollte zur Seite und blieb dann reglos liegen. Die Zunge rutschte ihm aus dem Mund und er kam halb auf der Tischkante zu liegen. Der Geldverleiher hob den Kopf und sah die sechs Soldaten in ihren prächtigen Uniformen an, welche dem Gesandten als Ehrengeleit zur Verfügung standen. Mirt lächelte freundlich, während seine Finger mit Welzraedos Wurfmesser spielten. »Wie überaus bedauerlich«, meinte der Geldverleiher dann, »aber der edle Gesandte scheint das Bewusstsein verloren zu haben ... vermutlich die schlechte Luft in 199
diesem Raum. Ich fürchte, mit meinen bescheidenen Mitteln werde ich dem kaum Abhilfe schaffen können. Vielleicht sind die Herren ja so freundlich und schaffen seine Erste Fingerschaft an einen anderen Ort, welcher dazu geeignet ist, ihn rasch und vollständig wieder zu sich kommen zu lassen, oder?« Die Wächter starrten Mirt wütend an und legten die Hände auf den Griff ihrer Kurzschwerter. Dann fiel ihnen das Dutzend zerlumpter Männer auf, welche an den Tischen ringsum hockten und ihre Waffen bereithielten. Oder sich mit einigen Flaschen als Wurfgeschosse versorgt hatten. Finstere Kampfeslust loderte in ihren Augen, und selbst die Bedienmädchen waren stehen geblieben, vermutlich um sich mit ihren Krügen auf die Störenfriede zu stürzen. Um wen es sich dabei handelte, daran ließen ihre giftigen Blicke in Richtung der Ehrensoldaten keine Zweifel aufkommen. Dann verbeugte sich der größte unter den Wächtern, welcher außerdem den längsten Schnurrbart trug, vor Mirt. »In gewisser Weise habt Ihr Recht, Kaufmann, und Euer Vorschlag dürfte das Vernünftigste sein. Wir tragen unseren Herrn also an einen anderen Ort, wo er die nötige Muße zur Erholung finden wird. Zum Dank für Eure Fürsorge wollen wir Euch in unsere Gebete einschließen und uns Euer Gesicht einprägen – für spätere Gelegenheiten.« Der Geldverleiher setzte zur Antwort ein wintereisiges Lächeln auf und sprach: »So wie ich die euren, meine Herren. Wir mögen zwar unterschiedliche Götter 200
verehren, aber beide belohnen inbrünstig vorgetragene Gebete ... und deswegen, dessen bin ich mir sehr gewiss, werden wir uns schon bald wiedersehen. Baut darauf, meine Herren, dass ich für dieses Treffen gerüstet sein werde.« Der lange Wächter und der Geldverleiher starrten sich verbissen an, als wollten sie bereits auf diesem Weg eine Entscheidung erzwingen. Dann zog der Soldat den Gesandten aufreizend langsam vom Tisch und ließ ihn in die Arme seiner Kameraden fallen. So verließ das Ehrengeleit die Schankstube. Während die Vorderen Welzraedo trugen, bewegten sich die beiden Letzten rückwärts hinaus und hielten die Zecher mit harten Mienen davon ab, ihnen zu folgen. Die Gäste gaben ihnen dann auch durch verschiedene Fingergesten zu verstehen, dass sie den Soldaten eine glückliche und angenehme Reise wünschten – Gesten, welche man allerdings auch anders verstehen konnte. Und kurz darauf verkündete lautes Klirren und Klappern von der Straße, dass die wahren Wünsche der Gäste in Erfüllung gegangen waren. Schwer atmend und so strahlend wie die aufgehende Sonne stürmte Beldrigarr Steinschild von der Stadtwache wenig später in die Schänke. »Haben die Kalischiten hier drinnen für Ärger gesorgt?« Ein Dutzend unschuldigster Mienen schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein, hier hinein habe sich noch nie ein Kalischite verirrt. Der Hauptmann der Stadtwache lachte noch breiter. 201
»Ausgezeichnet. Das habe ich mir auch schon gedacht. Zwei von diesen Störenfrieden haben gerade unmittelbar vor meinen Augen versucht, einen Dienstjungen niederzustechen. Gut, dass wir gleich eingeschritten sind. Diesen Gesandten suchen wir übrigens schon seit längerem: Seit er im ›Sonnenuntergangssegel‹ Falschgeld in Umlauf gebracht hat!« Der Wirt der »Trappgans« fluchte schrecklich und griff in eine Schüssel, welche er unter der Theke aufbewahrte. Er beförderte eine Hand voll Münzen ins schummrige Licht und betrachtete sie argwöhnisch. Steinschild schüttelte den Kopf, grinste und setzte sich gegenüber von Mirt an den Tisch. »So, so, alter Wolf, ich hätte mir ja gleich denken können, Euch hier anzutreffen, und ... He, was ist Euch denn über die Leber gekrochen?« Der Geldverleiher, im ganzen Hafenviertel als einer der größten Raufbolde berüchtigt, hatte die Stirn in Falten gelegt und schüttelte den Kopf. Ein düsterer Ausdruck breitete sich auf seiner Miene aus. Das Messer des Kalischiten fiel ihm aus der Hand und landete klappernd auf der Tischplatte. Der Wachhauptmann fuhr davor zurück, als handele es sich bei der Klinge um eine wütende Viper. »Ist der Stahl vergiftet?«, fragte er düster, und sein Blick raste zwischen Mirt und dem Dolch hin und her. »Aber nein«, wehrte der Geldverleiher ab. »Nein, mir ist nur gerade etwas in den Sinn gekommen.« Er tippte sich mit einem vernarbten Finger an den Kopf und murmelte: »Und zwar genau hier.« 202
»Zauberei!«, brüllte Steinschild und sprang wütend auf. »Na wartet, diese Kalischiten finden sich innerhalb von zwei Atemzügen in Ketten wieder. Dann wollen wir mal sehen, was diese sauberen Herrschaften –« »Nein«, erwiderte Mirt rau, »das kommt nicht von den Kalischiten. Ich glaube auch nicht, dass sie überhaupt von Nalitheen und ihren Töchtern wissen ...« Er runzelte noch heftiger die Stirn und meinte besorgt: »Am besten mache ich mich gleich auf den Weg und sehe nach ihnen. Vielleicht befinden sie sich ja in einer Notlage und die Götter haben mir gerade ein Zeichen gesandt ...« Der Geldverleiher stand auf und warf dem Wirt ein paar Goldstücke zu. »Lasst überall die Luft aus den Krügen!« Die Zecher ließen ihn auf dem Weg aus der Schänke hochleben, aber das vermochte ihn kaum aufzuheitern oder auch nur auf andere Gedanken zu bringen. Er legte seine Hände auf weiche Schultern. Langes silberfarbenes Haar wehte, und kalte Augen blickten hochmütig in die seinen. »Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung davon, wie ungeheuer töricht das war, Elminster von Schattental?«, fuhr ihn die Königin von Aglarond an. Der Zorn in ihrer Stimme glich einem erhobenen Fallbeil. »Ich hätte Euch versehentlich erschlagen können!« »Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht«, ant203
antwortete der uralte Magier, »törichte Dinge zu tun und mich immer wieder in Gefahr zu bringen. Warum also jetzt noch damit aufhören? Auch wenn eine wunderschöne Edle mich deswegen tadelt ...« Das zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. »Ihr versteht es, wie ein Thayaner zu schmeicheln«, bemerkte die Simbul, und aus ihrem Mund klangen diese Worte wie Messerstiche. »Bitte um Vergebung, Herrin«, entgegnete Elminster in aller Bescheidenheit, »aber das habe ich den Thayanern beigebracht. Leider konnte ich sie nicht auch noch Weisheit lehren; denn sonst wären sie gewiss nicht so dumm, einer so mächtigen, leidenschaftlichen und klugen Königin wie Euch mit Gewalt zu drohen!« Das lange Silberhaar zuckte im Takt zu der hart ausgestoßenen Entgegnung: »Und wenn ich Gewalt nun liebe, alter Mann?« »Dann überschüttet mich damit«, erwiderte der Magier. Er breitete die Arme aus, und sein vielfach geflickter wie auch mit Flecken übersäter Umhang blähte sich auf. »Mystra, meine Herrin, hat mich in einen alten Amboss verwandelt, um die Schläge von vielen auszuhalten. Gebt mir Euer Schlimmstes, Edle!« Ein plötzliches Lächeln wie silbernes Mondlicht erfüllte den Raum. »Ich glaube, ich werde jetzt großen Spaß haben«, erklärte die Simbul der Luft. Die Königin nahm ihre Krone ab und warf sie in die Ecke – wo diese auch, sich mehrfach überschlagend, landete. Als sie sich dem Magier dann näherte, zog sie eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch. »Was darf 204
es denn nun sein, Prinz, mein Schlimmstes oder mein Bestes?« »Gewährt mir die Gnade, Herrin, das von Fall zu Fall selbst zu entscheiden«, antwortete er mit einer Stimme, welche ebenso rauchig klang wie die ihre. ZAUBERLEIN,
HABT IHR AUCH NUR DEN
HAUCH EINER AHNUNG, PAARUNGSSPIELCHEN DER MENSCHEN IN MEINEN OHREN ANHÖREN? ALSO, WENN EIN PFERD SIE UMGESTOSSEN HÄTTE, WELCHES UNTER EUREM ZAUBER STÜNDE? ODER WENN IHR SIE EBENSO VERSEHENTLICH UNTER EINER KARRENLADUNG ODER VERDORBENEM OBST BEGRABEN HÄTTET? UND WENN IHR HERNACH IHREN GEBALLTEN ZORN ERTRAGEN MÜSSTET ... NUN, SO ETWAS WÜRDE ICH VIEL LIEBER HÖREN: ABER DIESES GANZE SÜSSHOLZGERASPEL ... GLAUBT JA NICHT, EINEM TEUFEL SEI FREMD, WELCHEM ZWECK SO ETWAS DIENT! IMMERHIN VERBRINGEN WIR EINEN GROSSTEIL UNSERER ZEIT DAMIT, MENSCHEN AUF SOLCHE WEISE zu VERFÜHREN! AUSSERDEM ÜBERRASCHT ES MICH NUN WIRKLICH NICHT IM MINDESTEN, DASS IHR HINTER ALLEM HER SEID, WAS EINEN ROCK TRÄGT! WELCHER ALTE KNACKER VON ZAUBERSMANN TÄTE DAS WOHL NICHT? ICH SPÜRE, WIE MEINE UNGEDULD WIEDER ANWÄCHST. HÖCHSTE ZEIT FÜR EIN PAAR NEUE BESTRAFUNGEN, ODER? HABE ICH BEREITS ERWÄHNT, DASS IN DER HÖLLE EIGENTLICH ALLES MIT SCHMERZEN VERBUNDEN IST? WIE FURCHTBAR LANGWEILIG SICH DIE
»Ganz Faerun verbeugt sich vor der Schönheit der ... der Königin von Aglarond!«, sprach der Königliche Kämme205
rer von Tantras mit hörbarem Stocken und einer Schweißschicht auf der Stirn. Redete man die Simbul mit »Hexenkönigin« an, oder sollte man so etwas tunlichst vermeiden? Oder wollte sie mit »Simbul« angesprochen werden? Bei allen Göttern, wie verhielt man sich in der Gegenwart einer Dame richtig, welche in einem Moment sanft wie ein Kätzchen schnurrte und im nächsten wie ein Furie tobte, auf dass die Grundmauern der Burg erbebten? Die Königin ruhte auf ihrem Thron und trug ein einfaches Gewand, das an der Seite von der Schulter bis zum Gürtel offen stand. Weiter unten fiel der Stoff von ihren unvergleichlichen und langen Beinen und entblößte sie in ihrer ganzen Schönheit bis hinab zu den wohlgeformten, bloßen Füßen. Die Aussichten reichten vollkommen, um den Gesandten von Tantras deutlich erkennen zu lassen, dass diese weithin gefürchtete Herrscherin nicht eine Unze Fett zu viel am Körper trug. Wenn sie sich träge bewegte, vermochte er, das ganze Spiel ihrer Muskeln und Sehnen zu bewundern, bis hinab zu ... Beim Heiligen Stein! Schirme meine Gedanken ab! »Ein geziemender Wunsch bei Hof«, sprach die Simbul leise und nur gerade so laut, dass der Gesandte sie verstehen konnte. Dann fügte sie im normalen Tonfall hinzu: »Eure Gedankengänge beleidigen mich nicht, dessen sollt Ihr gewiss sein, aber ich bin etwas in Eile und würde es begrüßen, wenn Ihr die Formalitäten ein wenig straffen 206
könntet. Nur zu, teilt mir also das Begehr mit, das Tantras an dieses, mein schönes Reich zu richten wünscht. In einfachen, knappen Worten, bitte, Eure Exzellenz.« »Was ... äh ... ich ... will sagen ...«, begann der Gesandte, und wie nicht anders zu erwarten, huschten Verärgerung und dann offener Zorn über das Antlitz der Königin. Der Kämmerer erbleichte, und seine Lippen zuckten so sehr, als habe er jegliche Gewalt über sie verloren. Ein langer, schlanker Finger krümmte sich zur Kralle und sauste wie eine Sense durch die Luft, so als wolle er den Gesandten hinwegmähen. Der Gesandte wurde sich in diesem Moment bewusst, dass ihm womöglich nur noch ein paar wenige Atemzüge Leben vergönnt sein könnten. Die Höflinge von Aglarond, welche sich an den Wänden des Thronsaals drängten, verfielen einer wie der andere in angespanntes Schweigen. Und gleichzeitig beugten sich alle vor, um sich nur ja nichts von dem entgehen zu lassen, was sich ohne Zweifel gleich ereignen würde. Der Kämmerer aus Tantras wimmerte einmal, fragte sich verzweifelt, wohin er fliehen könnte, und wusste doch nur zu gut, dass er damit erst recht zum Untergang verdammt wäre, und dann – Dann war unvermittelt alles vorüber. Die Simbul hob den Kopf, starrte ihn kurz verächtlich an, verfärbte sich vor Wut und ließ die Flammen in ihren Augen auflodern. 207
Von einem Moment auf den anderen erhob sie sich dann und ließ den bibbernden Gesandten stehen. Mit raubtierhaften Bewegungen verschwand sie über den Streifen freier Fläche, welcher ihren Thron umgab. Mit ihren Händen schlug die Hexe nach der Luft. Was ging hier vor? Während dieser Trottel vor sich hin stotterte und zitterte, hatte sie etwas tief in ihrem Innern berührt – etwas in den Tiefen ihres Verstands aufgespürt. Eigentlich nur den Hauch einer Berührung, aber dafür umso verstörender. Alles in ihr verkrampfte sich, und das silberne Feuer flackerte unregelmäßig. Wenn so etwas geschah, kündigte sich in der Regel etwas Schreckliches an. Immer schon hatten solche Momente sie dann mit großer Rastlosigkeit erfüllt. Am liebsten hätte sie sich dann sämtliche Kleider vom Leib gerissen und sich in die Lüfte erhoben. Um über den Himmel zu eilen und ein ums andere Mal ihre Gestalt zu verändern: vom Drachen zum Falken, vom Lindwurm zum Pegasus, bis sie das gefunden hätte, was sie so beunruhigte. Aber was konnte das sein? Wonach würde sie im Flug durch die Himmel Faeruns Ausschau halten? Alassra Silberhand stand schweigend und reglos da, während es ihr am ganzen Körper heiß und kalt herunterlief. Sie ballte die die Linke und die Rechte so fest zu Fäusten, dass sich die langen Fingernägel in die Handflächen bohrten und Blutstropfen rannen. Die Königin starrte auf den Boden, als solle sich ihr Blick hindurchbrennen. 208
Aus den Reihen der Höflinge ertönte Stöhnen und sogar ein schriller Schrei, als von der Bodenplatte, auf welche sich der Blick Alassras vornehmlich richtete, erste Rauchfäden aufstiegen. Der Königliche Kämmerer von Tantras machte sich so klein wie möglich, weinte leise vor sich hin und gab sich redlich Mühe, dennoch eine halbwegs gute Figur abzugeben. Natürlich gelang ihm das nicht, dafür hatte ihn die nackte Angst auch zu sehr im Griff. Außerdem sah man ihm zu deutlich an, dass er am liebsten laut geschrien hätte und fortgelaufen wäre – und mit beidem nicht mehr bis zum Erreichen seines Schiffes aufgehört hätte. Dass ihm dabei schwer bewaffnete Wachsoldaten, verschlossene Tore und anderes im Weg stünden, störte ihn offenbar wenig, denn jeden Moment könnte ihn die Hexenkönigin in einem nicht mehr zu beherrschenden Wutanfall zermalmen und zu Staub zermahlen. Nicht ohne Grund nannte das Volk diese Explosionen auch »Irrsinns-Anfälle«. Seine Furcht schien ansteckend zu wirken, denn auch bei den Höflingen zeigten sich nun hie und da besorgte bis ängstliche Mienen. Als der Gesandte sich von so viel Erschrecken umringt sah, ging es endgültig mit dem Kämmerer durch. Er stieß ein Heulen aus wie eine Todesfee, welche einen Brunnenschacht hinuntersaust, und raste, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Tür. Als sein Schrei unfassbar schrill klang, drehte sich die Simbul um, schaute nach ihm – und erstarrte erst recht. 209
Im ganzen Thronsaal hielt sich bis auf ihre treuesten Vasallen niemand mehr auf. Und selbst die drängten sich zitternd an der Tür – und starrten sie mit schlotternden Knien an. »Was soll denn das nun schon wieder – Ach so ...«, die Hexenkönigin behielt den Rest des Satzes lieber für sich, als sie in einem der hohen und schmalen Spiegel an den Thronsaalwänden ihr Abbild entdeckte. Silberne Flammen schlugen ihr aus Augen und Mund, und blaue Blitze schossen aus ihren Fingerspitzen. »Mystra«, rief sie laut genug, damit alle es hören konnten, obwohl sie doch eigentlich Zwiesprache mit der Göttin führte, »das ist nun wirklich kein Spaß mehr. Entweder tut sich irgendwo etwas Entscheidendes und versucht, mich zu erreichen ... Oder ich verliere endgültig den Verstand, wie man es mir landauf, landab nachsagt ... Nun, wie dem auch sei, Elminster wird mich sicher bald über alles Notwendige aufklären.« Die Simbul lachte, bis ihr ganzer Körper bebte, und winkte den Getreuen an der Tür zu, dass sie sich wieder beruhigen sollten. »Ich werde mich daran gewöhnen müssen, ihn immer öfter zu brauchen«, verkündete die Hexe. »Ein Schwäche, welche ich nicht länger vor der Welt und mir selbst verbergen kann.« Sie wandte sich an ihre Zauberinnen: »Thorneira! Phaeldara! Bringt mir diesen kreischenden Narren aus Tantras zurück. 210
Beruhigt und säubert ihn, bis er sich wieder sehen lassen kann! Schafft alle Gesandten herbei, legt mir die Verträge und Händel vor, welche von mir geschlossen und geschlichtet werden sollen. Nun ist keine Zeit für Muße und Gelage!« Mit unsicherem Lächeln verzogen sich die Vasallen, um den Wünschen der Herrin Genüge zu tun. Als alle fort waren und sie sich allein im Thronsaal befand, warf die Simbul einen prüfenden Blick auf ihre Handflächen. Keine Blitze züngelten dort mehr, aber das Feuer loderte immer noch unter der Oberfläche und würde beim kleinsten Anlass wieder aufflammen. Wer oder was steckte hinter diesen beunruhigenden Berührungen? Und dieser Ruf ... wie aus allerweitester Ferne und fremd wie ein Hornsignal aus der Hölle. Die Hexenkönigin von ganz Aglarond kehrte zu Thron und Pracht zurück – wo die Karaffe mit dem Minzewasser auf einem Eisbett ruhte. Wenn es sich mit dieser Berührung ebenso verhielt wie mit all den anderen Kümmernissen, welche sie ihr Leben lang wie Geißeln plagten, durfte die Hexe sich auf eines gef asst machen: Wenn sie sich nicht jetzt darum kümmerte, würde das Fremde mit unerschütterlicher Sicherheit zurückkehren. Nur um sie dann noch härter zu treffen. Und auch genau in dem Augenblick, in welchem sie es am allerwenigsten gebrauchen konnte.
211
Elminster warf den Kopf in den Nacken und schrie wie am Spieß, als die Kobolde ihm die Fingernägel ausrissen und dann Stücke aus den blutigen Fingerenden bissen. STERBLICHE, WELCHE GLAUBEN, SIE KÖNNTEN BEDENKENLOS MEINE ZEIT VERPLEMPERN, SOLLTEN SICH DARAUF GEFASST MACHEN, FÜR SOLCHE ENTBLÖDUNGEN HART BESTRAFT ZU WERDEN! Nergals Gedankenbotschaft endete mit einem Seufzer – vielleicht handelte es sich dabei aber auch um ein Gähnen. Der Zorn des Unholds hatte diesmal nur kurz inmitten von Elminsters Gedächtnis gewütet. Diesem lief jetzt zwar immer noch Blut aus den Ohren und der Nase, und ein widerlicher Geschmack stieg ihm in die Kehle, aber ansonsten hatte er von dieser Folter lediglich Kopfschmerzen zurückbehalten. Dafür hatte er in keinem Moment das Bewusstsein verloren und stets gewusst, wer er war und wo er sich gerade aufhielt. Ja, Nergal verweigerte ihm eine solche Gunst. Das endlose Gemetzel, das Kennzeichen von Awernus, setzte sich ununterbrochen vor ihm fort. Elminster und der Schwarm Kobolde wälzten sich gemeinsam über eine Felsfläche. Die vielen Flecke und abgenagten Knochen ließen keinen Zweifel daran, dass diese Stelle gern als Festplatz genutzt wurde. Von dieser Höhe aus hatte der Magier einen ausgezeichneten Überblick auf diesen Landstrich mit seinen 212
versengten, zerschmetterten und sonst wie misshandelten Felsen. Drei Drachen zogen über den blutroten Himmel und wurden von einer Schar geflügelter Teufel verfolgt. Während Erstere die kleineren Feinde verschlangen, bissen Letztere größere Stücke aus den Lindwürmern heraus. ALS NÄCHSTES WERDEN DIE KLEINEN SICH ÜBER EURE ZEHENNÄGEL HERMACHEN! UND DANACH ÜBER EURE HÄNDE UND FÜSSE! ICH VERMUTE, SELBST DES GEWALTIGEN ELMINSTERS HANG ZUM UNGEHORSAM WIRD SICH ETWAS ABKÜHLEN, SOBALD ER ERST EINMAL EINE WEILE AUF ROHEN UND BLUTIGEN STÜMPFEN HERUMGEKROCHEN IST! Der Magier machte sich gar nicht erst die Mühe, die nötige Willenskraft zu einer Antwort aufzubringen. Denn insgeheim arbeitete er gerade daran, einen Mahlstrom von Erinnerungen zusammenzuspinnen. Dieser war darauf angelegt, seinen Quälgeist zu täuschen und zu der Annahme zu bewegen, dass sein Opfer kurz davor stünde, endgültig den Verstand zu verlieren. Darunter wollte Elminster das heilende Silberfeuer strömen lassen, mit welchem er sich sehr vorsichtig selbst behandelte. Bislang war es dem Prinzen gelungen, die Erleichterung und Erlösung der Selbstheilung unter seinen anderen Gedanken verborgen zu halten. Nergal durfte ja auch nichts davon erfahren, sonst hätte er sofort fieberhaft nach dem Heilbann gesucht 213
und sich über ihn hergemacht. In diesem Moment wuchs etwas Riesiges, Schwarzes und ganz furchtbar Anzuschauendes über den Felsrand heran. Die Kobolde ließen augenblicklich von Elminster ab und flohen mit ängstlichem Gekreische. Nackt und die blutigen Hände wie zur Abwehr erhoben erwartete der Magier das Höllenungeheuer. Bald trennten sie nur noch die giftigen Dämpfe von Awernus. Langsam breitete sich ein grausames Lächeln über einem Maul mit gefährlichen Reißzähnen aus, und dunkle Augen leuchteten voller Vorfreude. Bei den Neun, es will mit mir spielen. Vermutlich mich langsam und Stück für Stück zerreißen. Mit einem einzelnen trägen Flügelschlag hob sich der mächtige Teufel über den Felsrand, und sein Schwanz schlug wie der einer aufgebrachten Katze. Leicht wie eine Feder landete der Unhold dann unmittelbar vor Elminster. Nergal!, schrie der Prinz und legte alle Angst in seine Stimme. Eilt mir zu Hilfe, rasch! Sonst wird Euer Lieblingsspielzeug vergangen sein, zusammen mit Silberfeuer, Erinnerungen und allem anderen. Und derjenige, welcher dieses Untier geschickt hat, wird dann auch erfahren, welche Ränke Ihr geschmiedet habt! Rot brennende Wut entfachte sich im hintersten Teil seines Geists, und dann hörte er: IHR WAGT ES – OH! REDET WIRR, MENSCHLEIN, ZITTERT UND KREISCHT! UND DANN BEWEGT EURE HAND, ALS WÜRDET IHR EINEN ZAUBER 214
WIRKEN!
ABER
UM ALLER
TEUFEL
DER
HÖLLE
WILLEN, FLIEHT
NICHT!
Momente zerdehnten sich zu Ewigkeiten, während Elminster all diesen Befehlen eiligst und bereitwilligst nachkam. Nergal schob sich derweil durch den geschundenen Geist seines Opfers voran – ständig blitzte und leuchtete es zwischen den Säulen seiner Verstandeshallen. Der Quälgeist sammelte seine Kräfte, um sich gegen eine Auseinandersetzung zu wappnen, und Elminster bekam mehr zu sehen, als eigentlich für ihn bestimmt war. Schwärzester Zorn durchtoste den Magier, beruhigte ihn und verlieh ihm Kraft und Stärke. Wut darüber, so sehr benutzt zu werden, stählte ihn zusätzlich. Nicht um einfacher Rache willen wollte der Magier aus Schattental Nergal vernichten, sondern wegen der vielen Erinnerungen, welche der Erzdämon ihm bereits verwüstet und gestohlen hatte. Dieser Teufel hatte entschieden zu viel über entschieden zu viele Bewohner Faeruns erfahren, um weiter sein Unwesen treiben zu dürfen. Ein Nergal, welcher nicht an die Kette gelegt wurde, konnte damit wichtige Männer und Staatenlenker ganz in seinem Sinne beeinflussen und unter seine Knute zwingen. Und damit ganze Reiche beherrschen! Der Teufelsfürst durfte also nicht weiter bestehen (irgendwie brachte der Prinz es nicht fertig, seinen Quälgeist als Lebewesen anzusehen), bevor noch jemand 215
von all dem erführe, was er in Elminsters Gedanken gelesen und zusammengeraubt hatte. Aber wie ließe sich dieses Vorhaben bewerkstelligen? Diese Frage erhob sich noch drängender in Elminster, als das Ungeheuer vor ihm zuschlug. Magie so gewaltig, dass sie dem Zauberer Übelkeit bereitete und ihn taumeln ließ, wurde von Nergals triumphierendem Gelächter begleitet. Und dieses Lachen trieb Elminsters blutigen Speichel in die Gurgel des geflügelten Teufels, wo dieser sogleich explodierte. Der Magier bog sich unfreiwillig nach hinten und fühlte sich, eingehüllt in einen Schild aus Höllenzauber, in die Lüfte erhoben und davongetragen. Der Feind zerplatzte Stück für Stück, und mit jeder neuen Explosion vergrößert sich der Triumph des Erzdämons über den unglückseligen Angreifer. Zauberbann um Zauberbann donnerte herab und zerschmetterte die Felsfläche, auf welcher Elminster eben noch gestanden hatte. Bis von dem geflügelten Teufel nur noch Asche übrig geblieben war. Elminster taumelte unversehrt aus dem Getümmel. Und nur ein Gedanke beherrschte ihn: Nergal muss vernichtet werden! Aber wie?
216
7 Die Nacht kommt zu Tamaeril
Keuchend und vor Schmerzen kaum noch in der Lage zu denken, wand sich der erst halb geheilte Elminster wie ein Wurm und fand kaum noch die Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben ... BITTE SEHR, VON MIR AUS, DANN FALLT DOCH AUFS GESICHT! WAS KÜMMERT ES MICH, WENN IHR EUCH DIE NASE AUFSCHLAGT? ABER WAGT ES JA NICHT, ZAUBERLEIN, MICH NOCH LANGE WARTEN ZU LASSEN! IHR LEBT NUR NOCH WEGEN DER ERINNERUNGEN, WELCHE IHR BISLANG VOR MIR ZURÜCKGEHALTEN HABT! ALSO, WEITER! GLAUBT ABER BLOSS NICHT, DASS IHR MIR NOCH EINMAL AUF DER NASE HERUMTANZEN UND MICH IN DIE IRRE FÜHREN KÖNNT. EINS MUSS ICH EUCH LASSEN, IHR HABT ES BISLANG HERVORRAGEND VERSTANDEN, MICH EINES ZU LEHREN: DIE UNGEDULD! (mehrere bilder gehen ineinander über bewegen sich wie schwarze tücher, durch welche ein kräftiger wind fährt) Der vierte Tag des Flamerule im Jahr der Harfe war angebrochen. Am klaren Nachthimmel über der Stadt Tiefwasser funkelten die Sterne wie winzige, gar weit 217
entfernte Fackeln und beleuchteten das samtschwarze Firmament. Eine warme Brise schlich sanft an den Türmen und steinernen Löwen der Dächer entlang. Auf einem bestimmten Balkon hatte man die Türen aus Kupfer und Bein offen gelassen, um diesen Wind hereinzulassen. Jetzt regte sich etwas auf dem Balkon – eine kaum wahrnehmbare Bewegung am Geländer. Ein Schatten erhob sich, löschte auf einer größeren Fläche die Sterne aus und glitt dann sanft in den lichtlosen Raum hinter den offenen Türen. Ein aufmerksames Wachauge schwebte unhörbar im Dunkel des Himmelbetts. Es bemerkte den Schatten und spähte genauer dorthin, um trotz der Düsternis mehr als ein menschliches Auge wahrnehmen zu können. Der Eindringling trug graues Leder, Gesichtsmaske und Handschuhe und dazu ein langes und schmales Schwert in der Rechten. Mondlicht spiegelte sich mal stärker und mal schwächer auf der Klinge wider, während der Fremde das leere Schlafgemach in dieser und jener Richtung vorsichtig durchstöberte. Offenbar suchte er etwas Bestimmtes. Dann blieb er stehen. Das Gewünschte befand sich offenbar nicht hier. Jetzt lehnte sich der Maskierte an eine Tür und lauschte. Einen Moment später zog er sie leise auf und starrte in die Dunkelheit. In der Kammer hingen Kleidungsstücke an Haken. Sie wirkten wie schlafende Fledermäuse in einer Höhle. 218
Der Einbrecher schloss leise die Tür und durchquerte den Raum noch einmal, um zur nächsten Kammer zu gelangen. Ein gewisses Prickeln ging von diesem größeren Raum aus. Ein Art von Spannung, welche sich verstärkte, als der Fremde einen Finger auf die Tür zubewegte. Ohne größere Kraftanstrengung stieß er sie mit der Fingerkuppe auf. Unmittelbar hinter der Schwelle führte eine breite Treppe in eine gewaltige Halle mit hohem Kuppeldach hinab. Auch dort herrschte weitgehend Dunkelheit. Nur an einer Stelle ließ sich ein stahlblaues Glühen ausmachen. Kein Wunder, denn hier stand ein Wächter in voller Rüstung und mit einem breiten Schwert in den Händen. Er kehrte dem Eindringling den Rücken zu. Da stand ein Wächter? Nein, der schwebte eher: Keine Füße verbanden die Beinschienen mit der steinernen Stufe, und kein Fleisch bedeckte die Stellen zwischen dem Eisenhandschuh, der Armschiene und den Schulterklappen. Mondlicht strahlte matt zwischen dem Helm und dem hohen Kragen und der festen Rückenplatte. Hinter dem Eindringling verstärkte sich das Licht der silbernen Nachthimmelskugel. Langsam drehte sich der Helm des Wächters herum, ebenso langsam hob sich das Breitschwert. Mit einem leichten Frösteln zog der Fremde den Finger von der Tür, damit sie wieder ins Schloss fallen konnte. Vorsichtig wich er ein paar Schritte zurück und 219
wartete dort mit seiner eigenen Klinge in der Hand. Schweigen breitete sich wieder im Schlafgemach aus, und der Einbrecher ließ noch einmal den Blick durch die Kammer schweifen. Er beugte sich zur Seite, um selbst aus dieser Entfernung unter das große Bett spähen zu können. Nein, darunter regte sich nichts. Also hatte sich dort auch kaum jemand versteckt. Der Fremde lauschte angestrengt, vernahm aber nicht mehr als weit entfernte Musik, welche von der Nachtbrise herangetragen wurde. Nichts wie fort, sagte er sich. Mit drei raschen Schritten floh der Maskierte auf den Balkon zurück und verschwand dort in den Nachtschatten. Andernorts gab es sicher mehr Blut zu vergießen. DIESE ERINNERUNG SOLLTE MIR BESSER EIN PAAR NÜTZLICHE ZAUBERTRICKS ZEIGEN, WURM VON EINEM MAGIER! DAS WIRD NÄMLICH HÖCHSTE ZEIT! SONST BRENNE ICH NÄMLICH EUREN GEIST WIE EINE FACKEL AB UND HABE SOLCHE ZEITVERSCHWENDUNG ENDLICH HINTER MIR! Ihr sollt Eure Zauberei erhalten, Nergal. Und auch Blut und Grausamkeit – in solchen Mengen, dass selbst jemand wie Ihr zufrieden gestellt werden dürfte. VERSUCHT IHR, MICH ZU VERLOCKEN – ODER ZU UMGARNEN? (schweigen) NICHT SO SCHÜCHTERN, MENSCHLEIN: JETZT GEHT ES UM DIE WURST: ENTWEDER DIE RICHTIGEN ERINNERUNGEN, ODER IHR STERBT AUF DER STELLE! (bilder wirbeln in hülle und fülle heran) 220
Gelächter drang von unten an ihr Ohr. Worte, aus zu großer Entfernung gesprochen, vermochten es nicht, ihre Abwehrzauber zu durchbrechen. Selbst dann nicht, wenn es sich bei ihnen um Zeichen handelte, den einen oder anderen Bann auszulösen. Tamaeril versuchte dennoch, etwas in dem Gemurmel zu verstehen. Anscheinend waren die Bediensteten heute Nacht recht fröhlich aufgelegt. Die Edle erhob sich schon, um zur Tür zu huschen, diese leise zu öffnen und zu lauschen. Aber dann ließ sie sich wieder auf ihrem Sessel nieder und lächelte matt. Hatte sie in ihrem langen Leben nicht schon genug Klatsch und Tratsch zu hören bekommen? Getuschel in Gassen? Gerede und Geprahle auf den verschiedenen Basaren? Kalte Für- und Widerrede in den Geschäftsräumen des vornehmen Hauses, in welchem sie das Licht der Welt erblickt hatte? In den vergangenen neun Wintern hatte Tamaeril mehr hochmögende Worte durch den geschlossenen Helm eines Fürsten von Tiefwasser zu hören bekommen – wenn sie zu Gericht saß und ihr Name wie auch ihr Gesicht geheim gehalten wurden. Vielleicht waren ja nur die Jünglinge aus der Familie Klingensemmer früher als gewöhnlich von den Vergnügungsschiffen und den von Laternen beleuchteten Tanzgärten im Nordviertel zurückgekehrt. Wenn die jungen Burschen so zeitig von den nächtlichen Vergnügungen nach Hause zurückgekehrt waren, würden sie jetzt sicher hinter den Kammerzofen und 221
anderen jungen Dienerinnen her sein. Spätheimkehrer ließen sich gern in einer Sänfte bis in die Flurhalle tragen. Für gewöhnlich besorgten das Bedienstete der Klingensemmer. Dort stellte man sie dann ab, damit sie in Frieden weiterschnarchen konnten oder all den in jugendlicher Torheit zu viel genossenen Wein wieder von sich gaben. In früheren Zeiten, als das jeweilige Familienoberhaupt ein strengeres Regiment geführt hatte, hätte man den Jünglingen solch zügelloses Treiben nicht durchgehen lassen. Aber der Lauf der Zeiten wandelt alles, und dieser hatte auch die strengen Brüder, Onkel und Vettern davongetragen – und auch Tamaerils Gemahl. Die jungen Leute heute lachten mehr als ihre Vorfahren, und sie legten auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Sie kümmerten sich auch nicht so sehr darum, immer mehr Gold anzuhäufen, sie hielten nicht an den alten Werten fest, und die alten Fehden scherten sie erst recht nicht. Und so drehte die Welt sich immer weiter. Wer war Tamaeril denn schon, dass sie dagegen einschreiten sollte? Und überhaupt, wie? Nun, sie war eine Dame von Stand und gehörte einer der führenden Familien von Tiefwasser an – auch wenn nur wenige außerhalb ihrer Sippe jemals ihr Gesicht gesehen hatten ... Aber das Rad der Zeit hatte sie aufs Altenteil verbannt – in einer der von Abwehrzaubern geschützten und versperrten Kammern. 222
Und ihr stand die Rolle einer Ratgeberin zu, und auch Lob und Tadel zu gewähren, stand ihr zu. Doch sowohl das eine wie das andere wurde von den Jüngeren nur selten ernst genommen. Die gealterte Edle lehnte sich in ihrem Sessel zurück und dachte an die Bälle und Verehrer, welche sie zu ihrer Zeit genossen hatte ... Sie griff nach dem hohen und schlanken Glas, welches neben ihr auf dem Beistelltisch stand. Das Kerzenlicht spiegelte sich auf den Silberflächen. Tamaeril hob das Glas mit einer altersfleckigen Hand und betrachtete nachdenklich ihr grauhaariges Abbild auf der Oberfläche. Vor vier Nächten hatte Mirt ihr erklärt, ein letztes Mal auf Abenteuer ziehen zu wollen. »Noch einmal die alten Würfel werfen«, hatte er gesagt. Auf seinem Fürstenthron zu sitzen, hatte ihn immer schon mit Unrast erfüllt. Immer wieder hatte er geäußert, gern noch einmal ausreiten zu wollen. Doch nie zuvor hatte die Edle in seiner Stimme so viel Eifer und Erregung vernommen. Vielleicht war es ihm diesmal ja wirklich Ernst damit ... Hinter dem Glas tauchte mit einem Mal ein kaltes weißes Licht auf, obwohl dort eigentlich nur Finsternis hätte herrschen dürfen. Die Edle stellte ihren Wein ab, um besser hinschauen zu können. Ein Oval von weißem Licht zeigte sich mitten in der Luft und dehnte sich rasch aus. Seine Ränder flackerten, so als habe Tamaeril einen Flammenkranz vor sich. 223
Doch sie spürte überhaupt keine Wärme. Ein Tor vielleicht? Ein Portal, durch das sich große Entfernungen von einem Moment auf den anderen überwinden ließen? Durch welches man womöglich sogar auf eine andere Ebene gelangte? Das konnte nur Gefahr bedeuten, und überhaupt, wie vermochte ein solches Tor sich hier, vorbei an ihren Schutzzaubern aufbauen? Tamaeril stellte ihr hohes Glas endgültig auf den Beistelltisch zurück und machte sich daran, aus dem Sessel zu kommen. Ihre Rechte näherte sich dem Zierdolch an ihrem Gürtel. Aber sie war mittlerweile viel zu alt und damit viel zu langsam. Auf jeden Fall nicht schnell genug für die glänzende Klinge, welche nun aus dem gleißenden Lichtkranz schoss und, angetrieben von einer behandschuhten Hand, in Tamaerils Leib gestoßen wurde. Der Stahl drang geräuschlos und mit entsetzlicher Leichtigkeit in sie hinein. Sein Kuss war so kalt, dass der Edlen der Atem stockte. Ohne es so richtig begreifen zu können, entdeckte sie, wie sich die Klingenspitze hinter ihr in die Rückenlehne des Sessels bohrte. Tamaeril starrte auf das verhüllte Antlitz ihres Mörders. Nach seinem Geruch und seiner Figur zu schließen, musste es sich bei ihm um einen Mann handeln, und um einen jungen dazu. Der Fremde trug von Kopf bis Fuß graues Leder, und das Lächeln, mit welchem er sie bedachte, kündete von 224
blankem, kaltem Hass. Jetzt ließ der Fremde das Schwert los, welches die Edle an ihrem Sessel festnagelte. Dann griff er mit der Schwerthand in den Handschuh der anderen. Dort funkelten mehrere silberne Gegenstände. »Erkennt Ihr mich denn nicht, Herrin Tamaeril?«, fragte er mit einer falschen freundlichen Stimme, welche die alte Frau in ihrem ganzen Leben noch nie gehört zu haben glaubte. »Das verwundert mich, Euer Durchlaucht. Nein, eigentlich nicht, denn man stößt doch immer wieder darauf, dass Frauen überhaupt nichts wissen. Je höher ihr Stand, desto weniger Ahnung haben sie.« Nach einem Moment fügte der unheimliche Fremde in beißendem Tonfall hinzu: »Aber Ihr seid ja nicht irgendeine beliebige Edle, sondern eine Fürstin. Eine Herrin von Tiefwasser, und ich habe immer wieder gehört, dass diese nun wirklich alles wüssten.« Die Schwerthand näherte sich mit einem der silbernen Gegenstände ihrer Brust und langte über die Klinge hinweg. Von der Einstichstelle breitete sich kreisförmig die Lähmung des Todes aus. Hilflos sah die alte Frau zu, wie die Hand ihr eine Anstecknadel an die Brust heftete. Eine kleine silberne Harfe. Eine Harfe? Der Fremde befestigte sie vorsichtig und geschickt an ihrem Gewand. Tamaeril musste über die Ironie dieser Situation lächeln, obwohl ihre Kräfte doch rasch abnahmen. 225
Das austretende Blut erreichte nun ihren Schoß, lief ihr an den Beinen hinab und ruinierte endgültig ihr Lieblingsgewand. »Warum lächelt Ihr, Herrin Tamaeril?«, fragte die falsche freundliche Stimme, doch diesmal mit einem verärgerten Unterton. »Belustige ich Euch vielleicht?« Die alte Frau schluckte und stellte dabei fest, dass ihr die Stimme endgültig versagte. Ihr Mörder schien sich aber schon wieder im Griff zu haben. Er trat einen Schritt von ihr zurück, betrachtete sie, überprüfte eingehend den Sitz der Anstecknadel und schien endlich mit seinem Werk zufrieden zu sein. »Wisset, Herrin, dass Ihr als Buße für all die Schande sterben müsst, welche Ihr meiner Familie angetan habt. Zugegeben, Ihr selbst habt Euch nicht selbst damit abgegeben. Aber als Herrin hättet Ihr dieses Treiben leicht unterbinden können. Doch habt Ihr dies versäumt und unterlassen. Deshalb habt Ihr den Tod verdient. Euer Sterben geht rascher vonstatten, als ich es mir gewünscht habe, das will ich nicht verhehlen, aber ich lerne ja noch, wie man die Rache am besten zubereitet. Ein Gericht, welches, wie Ihr wisst, kalt genossen werden muss.« Der Rächer trat auf sie zu und streckte eine Hand aus. »Man sagt, Ihr sollt einmal sehr schön gewesen sein«, bemerkte der Fremde mit einem anerkennenden Nicken und nahm ihr Glas. Die Neige schwenkend kehrte er zum kalten Feuer des Tors zurück. Dort meinte er: »Ihr seid immer noch recht hübsch anzuschauen. Vor allem jetzt, da die Farbe 226
in Euer Gesicht zurückgekehrt ist. Verzeiht bitte wegen Eures Gewands ... Aber es wäre Euch auch sicher nicht lieb, wenn eine andere es trüge, nachdem Ihr Euch von dieser Welt verabschiedet habt ...« Der Mann sah ihr unvermittelt ins Gesicht und fügte mit schneidender Stimme hinzu: »Keine von niederem Stand oder gar Unfreie soll sich im besten Kleid der Herrin Tamaeril auf der Straße zeigen dürfen!« Er nippte an ihrem Wein und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich warte selbstverständlich hier, bis Ihr alles ausgestanden habt. Gibt es irgendetwas, worüber Ihr noch reden möchtet?« Die Alte hockte hilflos auf ihrem Sessel und spürte, wie ihre Kräfte sie immer mehr verließen. Ein abenteuerlustiges Blutrinnsal lief ihr kalt über den Fußknöchel ... Reden ... worüber sollte sie noch reden? War sie des Sprechens nicht längst müde geworden? Was hatte der Mann eben gesagt? Aber als Herrin hättet Ihr dieses Treiben unterbinden können ... Sie hatte doch nie wirkliche Macht besessen. Aber ich lerne ja noch, wie man die Rache am besten zubereitet ... Dieser Mann würde so viele Edelleute umbringen, bis er alles gelernt hatte. Die meisten Edlen besaßen mehr Zauberkräfte oder mehr Erfahrung im Umgang mit Waffen als sie, aber die Mehrheit von ihnen war alt oder ziemlich beschäftigt – oder beides. 227
Wenn sie nach des Tages Mühen in ihr Gemach zurückkehrten, das mit besonderen Abwehrzaubern und zusätzlich von treuen Soldaten gesichert wurde, fielen sie gern in tiefen Schlaf und ließen es an der nötigen Wachsamkeit mangeln. Wie viele von ihnen würde der Rächer noch töten, ehe man ihm endlich das Handwerk legen konnte? Zur Antwort ertönte eine leise Stimme in ihr: »Wer sagt denn, dass man ihn überhaupt aufzuhalten vermag?« Ein letztes Abenteuer, so hatte Mirt gedrängt. Tamaeril selbst hatte sich aber nicht darum gerissen – und dennoch hatte die Schicksalsherrin sie auserkoren. Für den letzten Moment, wie auch für ein Abenteuer. Die alte Frau lächelte in sich hinein, auch wenn sich hinter ihren Augen bereits die Ermattung des letzten Schlafs breit machte. Tamaeril besaß noch einige Banne, aber keiner davon reichte aus, dem Fremden oder überhaupt irgendwem Schaden zuzufügen. Aber sie musste diese Zauber einsetzen: Um Mirts, Durnans und all der anderen willen. Selbst für den jungen und immer so ernsten Piergeiron. Die Frau bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Gleichzeitig richtete sie im Innern ihre Kräfte zu einem unhörbaren Befehl. Eine Tür, hinter ihrem Sessel, welche sie nicht sehen konnte – welche sie wohl auch nie mehr erblicken würde – öffnete sich kurz darauf wie von selbst – bewegt allein von der Kraft Tamaerilens Willen. »W-Wer ...«, brachte die Edle schließlich leise hervor, 228
als das Blut nicht mehr so heftig aus ihren Rippen sprudelte. Der Maskierte setzte noch einmal das Glas an die Lippen. Tamaerils Nachthund roch das Blut, den Fremden und die ungewohnte Angst seiner Herrin. Sofort kam er durch die offen stehende Tür hereingetrabt. Das Warnknurren und das Schlachtbellen lösten sich noch aus der Kehle des Hundes, als er schon das Maul weit aufriss und dem Eindringling an die Kehle sprang. Borguls Vorderpfoten drücken den Arm des Mannes herunter, welchen dieser rasch hochriss, um die Reißzähne abzuwehren. Die beiden stürzten vor Tamaeril zu Boden. Sie hob eine Hand, um an dem Schwert zu ziehen, welches sie an den Sessel fesselte. Aber ihre Rechte zuckte nur ein paar Male und sank dann wieder herab. Halb ohnmächtig sammelte die Edle noch einmal all ihre Willenskraft und richtete diese auf den kristallenen Stöpsel ihrer Karaffe. Er regte sich tatsächlich. Nur ein winziges Stück, aber immerhin. Den Göttern sei Dank! Borguls Kiefer schlossen sich um das Glas und hielten sich nur einen kleinen Moment zu lange damit auf. Während er und der Maskierte gemeinsam über den Boden rollten, nutzte dieser den Augenblick, zischte nur ein Wort, und mehrere Lichtlein flackerten auf. Der Nachthund erstarrte und regte sich nicht mehr. Der Mann, welchen er eigentlich hätte töten sollen, befreite sich von ihm und stand auf. 229
Schwer und wie erstarrt lag der Riesenhund auf dem Boden, als der Rächer sich schwer atmend vor der alten Frau aufbaute: »Haltet Ihr noch weitere Schoßtiere bereit, Euer Durchlaucht? Oder sonst noch wen, welchen ich vor Euren Augen erschlagen soll? Antwortet, oder ist Euch inzwischen die Sprache ausgegangen?« Tamaeril sah ihn mit müden Augen an. »Junger Mann«, entgegnete sie nach einem Moment mit rasselnder Stimme. Das Atmen bereitete ihr große Mühe, weil immer mehr Blut in ihre Lunge floss. »Ich würde wirklich gerne ... wissen, wer Ihr ... seid und ... warum ... warum ...« Der Rest ihrer Worte ging in einem Hustenanfall unter. Rote Tränen drangen ihr in die Augen, und sie musste den Kopf senken. Dennoch konnte sie die Antwort des Rächers hören: »Ich soll Euch meinen Namen nennen? Obwohl mich hier die Befriedigung erwartet, Euch sterben zu lassen, ohne die Wahrheit erfahren zu haben? Aber, alleredelste Herrin, Ihr habt sicher Verständnis dafür, wenn ich Euch diesen letzten Dienst schuldig bleiben muss. Seid jedoch meines ausdrücklichen Bedauerns versichert.« Bei den letzten Worten lachte er so gehässig, dass es der alten Frau kalt den Rücken hinunterlief. Sie zwang sich dazu, ihn noch einmal anzusehen und mit trüben Augen zu betrachten. Gleichzeitig bewegte sich der kristallene Stöpsel immer weiter. Ihr blieb vermutlich nur ein winziger Moment, ehe der Fremde ihn entdeckte. Tamaeril zwang sich dazu, nicht einmal zu dem 230
Stück hinzusehen. Dann brachte sie sich dazu, sich noch einmal in Krämpfen zu schütteln. Das fiel ihr nicht allzu schwer, brachte aber große Schmerzen mit sich. Dann verdrehte die alte Frau den Kopf, als winde sie sich in Qualen ... Dabei wagte sie einen Blick auf den Stöpsel. Tatsächlich, da schwebte er fort vom Tisch auf den Gong zu, mit dem sie sonst ihre Diener rief. Nur noch wenige Fingerbreit davon entfernt ... Ihr Götter, steht mir bei! Als sie sich gerade wieder zu dem Rächer umgedreht hatte, ertönte der Gong. Der Fremde lächelte nur. »Nur zu, Euer Durchlaucht, ruft Eure Knechte und Mägde herbei. Lasst sie alle erscheinen. Ich wünsche mir Augen, welche Zeuge Eures Leidens werden, und mich dürstet nach neuen Opfern, welche ich mit meinen Zauberkünsten erschlagen kann!« Er lachte laut und schallend. »Ich möchte aus meiner Rache so viel Vergnügen wie möglich gewinnen. Vielen Dank, dass Ihr mir dabei so entgegenkommt!« Etwas raschelte hinter ihm. Mit seinem gewohnten dünnlippigen Lächeln wirbelte er herum, und aus seiner Hand flog eine Salve magischer Geschosse auf den Singvogel zu, welcher gerade in seinem Käfig erwacht war. Das Tier zerplatzte, und der Rächer summte ein fröhliches Lied, als die schweren Schritte der Magd auf der Treppe draußen ertönten. Tamaeril hob eine Hand und sprach die Worte eines Banns, welchen sie selbst geschaffen hatte. Ihr allererster Zauber, den sie vor langer Zeit unter der Anlei231
tung eines gewissen Elminster gewirkt hatte ... Der kostbare Teppich rückte unvermittelt unter den Füßen des Vogelmörders. Er stolperte, versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, und taumelte in Richtung Portal. Die andere Hand der alten Frau fand den Weg zu dem Stahl, welcher in ihrer Brust steckte. Als der Rächer wieder fest auf dem Boden stand, war ihm die Heiterkeit vergangen. »Jetzt reicht es aber, blöde alte Kuh!« Er stürmte auf sie zu und riss ihr die Klinge aus dem Leib, wobei er sie wenig behutsam in der Wunde drehte. Die Edle schrie, spuckte Blut und kippte vornüber. Ihre Linke, welche sich auf dem Schwert befunden hatte, fand rasch, mehr oder minder durch Zufall, eine neue Aufgabe. Zitternd schlossen sich die Finger um das Amulett an ihrem Hals. Nur wie durch Watte bekam Tamaeril mit, wie der Rächer sich in Richtung des Tors zurückzog. Die vorher verschlossene Tür zu ihrer Kammer flog auf, und gleich darauf ertönte der erschreckte Schrei ihrer Magd. Rufe und stampfende Schritte folgten dem. Das Amulett glühte matt, blaugrün und beruhigend. Sogar die Schmerzen ließen nach, als Tamaeril in das Licht schaute und sich darin verlor. Die alte Frau spürte die magischen Haken nicht mehr, welche sich in ihren alten und zu nichts mehr zu gebrauchenden Körper bohrten und sie auf dem Stuhl in eine sitzende Stellung zurückversetzten. Mit allerletzter Kraft bewirkte die Edle ihren letzten 232
Bann ... Während das Leben sie floh, flüsterte sie eine Warnung an ihren Freund und Mitstreiter: »Mirt, hütet Euch vor dem Maskierten ... Der zieht durch das Land, um Hochwohlgeborene zu töten ... Besitzt eigene Zauberkraft ... und hat mich auf dem Gewissen ...« Und nachdem sie ihre letzte Aufgabe erledigt hatte, ergab sich Tamaeril, die älteste Herrin von Tiefwasser, der Umarmung des Todes. Der Kristallstöpsel zerplatzte, als er zu Boden fiel. Für einen Moment kehrte dann Stille in das Gemach der alten Frau ein. Dann fing Tamaerils Lieblingskatze mit ihrer durchdringenden Totenklage an. Irgendwo in der Hölle versinkt der gefallene Mensch hungrig, elend, ausgedörrt und ausgekühlt in willkommenes Vergessen. Er liegt ausgestreckt auf Felsen, welche sein eigenes Blut getränkt hat ... FALLT MIR JETZT JA NICHT IN OHNMACHT, HINTERHÄLTIGER SCHURKE! WIR WOLLEN DEN GEDÄCHTNISWURM NOCH EINMAL ZUSAMMEN GENIESSEN, JA, MEIN LIEBER? ALSO, IHR WOLLTET MIR JETZT ENDLICH ETWAS MAGIE VORFÜHREN ... NACHDEM IHR IN ALLER AUSFÜHRLICHKEIT DAS STERBEN SÄMTLICHER HOHER HERREN IN TIEFWASSER VOR MIR AUSBREITEN MUSSTET! (gedankenpeitsche schlägt zu geistzangen zerquetschen wild schon fließen neue bilder) Mirt der Geldverleiher, den man früher einmal den Erbarmungslosen genannt hatte, sah sich in dem ver233
dunkelten Arbeitszimmer des Zauberers um und schluckte. »Ihr Götter, womit quält ihr uns«, knurrte der Mann, und das Schwert mit der breiten Klinge glänzte bereits in seiner behaarten Faust. »Wo soll das noch enden, wenn jetzt schon die Herren von Tiefwasser in ihren eigenen Gemächern in ihrem Blut schwimmen? Selbst dann, wenn sie über Zauberkräfte verfügen?« Seine Blicke fuhren wie zornige Falken in alle Ecken des Raums. Während seine Wut sich noch steigerte, hielt er plötzlich wie von selbst die Wurfaxt in der Hand, welche eben noch im Gürtel gesteckt hatte. »Bleibt dicht hinter mir, Mädchen«, ermahnte Mirt seine Begleiterin. »Ich vermag Euch nicht zu beschützen, wenn ich Euch nicht erreichen kann. So oder so ähnlich sprach ein glattzüngiger Fürst noch, bevor ich sein Gehirn durchs Zimmer verteilte ... Jetzt habe ich doch wirklich vergessen, wo das stattgefunden hat. Bei den Göttern, ich bin wirklich alt geworden!« »Nein, Herr«, widersprach Asper ihm sanft. Sie hielt ihr eigenes schlankes Schwert schon bereit, stellte sich mit ihrem Rücken an den von Mirt und schaute sich ebenfalls wachsam in dem Raum um. »Erinnert Euch lieber an Randal Morns Ballade: ›Man ist nur so alt wie der, welcher einen fühlt.‹« Der Geldverleiher knurrte, musste dann aber doch schmunzeln. »Ja, ja, der Spruch ist mir natürlich bekannt. Aber jetzt schweigt stille, während wir uns hier 234
etwas umsehen. Wenn irgendein Hirsch vorhat, mich anzugreifen und aufzuspießen, möchte ich ihn gern vorher hören.« Sie standen Rücken an Rücken in dem trüben und verheerten Raum des alten Resengar, welchen man überall nur Weißbart nannte (bis auf seine Lehrlinge, die hinter seinem Rücken nur als »alter Glatzkopf« von ihm tuschelten). Er war einer der Fürsten von Tiefwasser und einer von Mirts Freunden gewesen. Deswegen ging sein Tod dem Geldverleiher auch so nahe. Kaum eine Handbreit von Mirts alten und abgewetzten Stiefeln lag Resengar da. Seine Augen starrten gebrochen auf das Sternenmuster an der Decke. Er hatte die Arme erhoben, als wollte er noch einen Feind abwehren, und sein Mund stand ungläubig auf. Unter dieser Öffnung hatte jemand eine zweite in der Brust des alten Magiers geschaffen. Eindeutig ein Schwertstich, aus dem immer noch Blut auf die Felle am Boden rann. Als Asper auf ihn hinunterblickte, erwartete sie schon halb, jeden Moment wieder das trockene Hüsteln des Meisters zu hören, seinen Bart wieder wackeln zu sehen und seine Entschuldigung dafür zu vernehmen, dass er wohl kurz eingenickt sein musste. Doch von Resengar kamen nur Schweigen und Stille. Der Bart wackelte nicht, die Augen würden nie mehr etwas sehen, und aus seinem Munde bekam man kein Hüsteln mehr zu hören. Mirt hatte den etwas linkischen und umständlichen alten Magier immer gemocht. Nach Durnan war er ihm 235
unter den Herren von Tiefwasser der Liebste gewesen. Er hatte sich schon darauf gefreut, heute Abend alte Geschichten auszutauschen und dazu noch älteren Wein zu trinken ... Und belustigt zu verfolgen, wie der alte Zausel die junge Asper allzu sehnsüchtig anstarrte. Wie er ihr ein aufs andere Mal artige Komplimente machte und wie er dann übergangslos vom vielen genossenen Wein einschlief ... Woraufhin die beiden ihn dann in aller Stille zu verlassen pflegten; denn so waren bislang alle ihre Abende verlaufen. Aber seit dem letzten Besuch hatte jemand Resengar mitten in seinem gemütlichen Arbeitszimmer niedergestochen – in der Kammer, welche dem Zauberer immer am heiligsten gewesen war. Hier befanden sich alle seine Zaubergerätschaften ... Auch seine Schutzzauber waren hier angebracht. Jemand hatte sie überwunden oder umgangen oder ... wie auch immer. Er hatte eine silberne Anstecknadel am Revers des Weißbarts zurückgelassen. Sie stellte einen Harfner dar. Resengar hatte nie seine eigene Rune getragen, geschweige denn irgendwelche anderen Zeichen. So etwas wie einen silbernen Harfner hatte er also nie besessen. Irgendjemand würde für diesen Mord bezahlen. Und zwar mit seinem eigenen Blut, wenn Mirt der Erbarmungslose Gelegenheit dazu erhielte. Ihm war gar nicht bewusst geworden, dass er grim236
mig vor sich hin sprach, bis Asper unvermittelt entgegnete: »Natürlich, Herr, stehe ich auch weiter fest an Eurer Seite und werde ebenso diese Angelegenheit bis zum Ende mit Euch durchstehen.« Mirt drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. Die junge Frau bemerkte Tränen in seinen zornigen alten Augen. Sein wütender Blick traf ihren verständnisvollen. Da schüttelte er den Kopf und wandte rasch das Gesicht ab. »Also gut«, knurrte er, »dann wollen wir uns mal gründlich umsehen. Wir finden bestimmt keine Hinweise, wenn wir hier nur herumstehen und langsam Wurzeln schlagen.« Asper lächelte und nickte, während ihr Herr sich in Bewegung setzte und die dunklen Ecken der Kammer durchstöberte. So wie er jetzt seine Waffen hielt, konnte man immer noch erkennen, dass er einmal eine kämpferische Löwennatur gewesen sein musste. Eisenharte Muskeln hatten zu ihrer Zeit in so mancher Schlacht die Axt geschwungen oder geworfen oder das Schwert gezückt, mit ihm Hiebe verteilt und Wunden gestochen. So manche gegnerische Rüstung, so manche feindliche Knochen hatten das zu spüren bekommen. Zumindest erzählten es die alten Säufer in den Gasthöfen so. Früher hatte man ihn Mirt den Erbarmungslosen genannt, und wenn er mit seiner Kompanie ausritt, war 237
stets die Furcht mitgereist. Seine Truppe hatte WolfKompanie geheißen, und er selbst war der Grund dafür gewesen, weswegen sie diesen Namen getragen hatte. Seine Krieger siegten ebenso zuverlässig wie sie plünderten. Blutbäder oder Gemetzel hatten sie kaum angerichtet – höchstens unter denjenigen, welche ihnen nicht das bezahlen wollten, was ihnen nach erledigter Arbeit zustand. Oder den Wolf hintergehen wollten. Solche Betrüger jagte er dann, bis er sie gestellt hatte. Und das hatte ihm den Beinamen »der Erbarmungslose« eingebracht. Niemand kann den Jahreszeiten entgehen, heißt es in einem Sprichwort, oder sich auf Dauer ihren langsamen, aber umso festeren Krallen entziehen. Den Wintern ist es gleich, wie viel Lebenskraft sie den Menschen rauben. So war aus dem Wolf der alte Wolf geworden. Mirt war alt und grau geworden – und furchtbar reich. Die Menschen fürchteten seinen Namen bald nicht mehr, und er ritt auch nicht zu neuen Kriegszügen aus. Das Geld, das er sich mit seinem Schwert verdient hatte, lieh er anderen in der Stadt Tiefwasser und verlangte keine Wucherzinsen dafür. Wer ihn aber bei diesen Geschäften betrügen wollte, musste die unliebsame Erfahrung machen, dass sein Schwert noch lange nicht gealtert war, dass der Wolf in all den Jahren doch eine Reihe Kniffe gelernt hatte und dass er sich auch den einen oder anderen Zaubertrick angeeignet hatte. 238
Wenn ein ehrlicher Schuldner seine Raten nicht bezahlten konnte, lieh Mirt ihm noch mehr und verlangte dafür einen gewissen Anteil an diesem oder jenem. Auf diese Weise sorgte er dafür, dass viele alte Kriegskameraden ein anständiges Grab erhielten. Ohne eine solche Förderung ihres ehemaligen Hauptmanns wären viele alte Soldaten in den Winterstürmen elendig verhungert oder erfroren. Mirt erteilte ihnen im Sterben seinen Segen, sprach auch an ihrem Grab das Gebet, kam für alle Kosten auf und übergab den Nachkommen das, was der teure Verblichene zurückgelassen hatte. Wenn ihm irgendwelche Anteile des Verstorbenen gehörten – sei es ein Hof, eine Werkstatt oder ein Schiff –, so kaufte er dieses Gut den Erben ab und fügte es seinem eigenen Besitz hinzu. Auf solch geduldige und fürsorgliche Weise wurde Mirt der Geldverleiher immer reicher und reicher – und schuf sich mehr Feinde, als ihm lieb sein konnte. Aber die Menschen liebten ihn auch, und das kann ja nun nicht jeder Geldverleiher von sich behaupten. Schließlich wurde er sogar zu einem der Herren von Tiefwasser – zum Lohn für viele kleinere und eine ziemlich große öffentliche Wohltat. Die heimatlosen und gefallenen Mädchen der Stadt fanden stets im Graugreifen-Haus freundliche Aufnahme. Bei diesem Bauwerk hatte es sich früher um die Kaserne von Mirts Söldnerkompanie gehandelt. Der Geldverleiher bedachte das Heim mit reichlichen Mitteln, damit gute Frauen und Pflegerinnen eingestellt 239
werden konnten, welche sich um die Erziehung, Aufbringung und Ausbildung der jungen Frauen kümmern sollten. Mirt selbst kam für die Kosten einer Lehrstelle in dem von ihnen gewünschten Beruf auf und versorgte sie mit einer Mitgift, wenn jemand sie zur Frau nahm. »Mirts Mädchen« zeigten sich auf den Straßen der Stadt stets in einer Tracht, wie sie sich auch eine nicht eben arme Bauersfrau leisten konnte. Wenn die Mädchen das siebzehnte Lebensjahr abgeschlossen hatten, erhielten sie die Erlaubnis, sich ihr eigenes Gewicht in Gold und Silber auszahlen zu lassen und mit dieser Grundlage in der großen weiten Welt ihr Glück zu versuchen. Einige blieben aber auch im Graugreifen-Haus. Andere baten ihren Wohltäter, ihnen eine Lehre als Schmiedin, Kriegerin oder Schiffskapitänin zu bezahlen. Der alte Wolf erwies sich als jemand, dessen Herz so groß war wie seine Truhen tief; denn er erfüllte allen Mädchen ihre Berufswünsche. Wenn Mirt auf seine alten Tage brummig, knurrig und aufbrausend wurde, so sahen alle jene, welche ihn besser kannten, darüber hinweg und schätzten sich weiterhin glücklich, sich seinen Freund nennen zu dürfen. Der Wolf legte im Alter auch deutlich zu, und das rührte, wie nicht anders zu erwarten, von dem vielen guten Wein und den zu reich gedeckten Tafeln her. Aber er hängte nie seine Waffen weg, und auch das wache Auge und der scharfe Witz blieben ihm erhalten. Asper betrachtete ihren Herrn nun – seine Falten 240
und Fältchen, die Bartstoppeln, den runden Bauch und das wehende und schon ziemlich grau gewordene Haar. Sie bemerkte auch den schwelenden Zorn in seinen Augen, während er mit gezücktem Schwert durch die Kammer stampfte. Und für all das zusammen und noch viel mehr liebte sie ihn erst recht. Die junge Frau liebte ihn schon seit langer Zeit – genauer seit dem Tag vor etlichen Jahren, an dem der Wolf die Straße heruntergelaufen kam. Die ganze Stadt brannte lichterloh, und seine Soldaten plünderten und erschlugen alle Einwohner. Mirt sah das kleine Mädchen Asper und riss es hoch, damit es nicht von einem reiterlosen Pferd niedergetrampelt würde. Die hart gesottenen Krieger hatten schon etwas erstaunt dreingeblickt, als ihr Hauptmann, der große und erbarmungslose Mirt, sich um ein weinendes Kleinkind kümmerte. Der Kriegsmann hatte Asper an seine stoppelige Wange gedrückt, während er mit der anderen Hand dem Roß in die Zügel griff. Im nächsten Moment hatten sich die Finger des Wolfs in der Mähne verkrallt, und der Mann hatte sich zusammen mit dem Mädchen in den Sattel geschwungen und war zur Stadt hinausgeritten. Noch in derselben Nacht und auch an vielen folgenden Nächten hatte Mirt sich eine Frau für sein Lager genommen. Doch er hatte jeden Tag die Zeit gefunden, seine gestohlene Tochter zu baden und mit ihr zu schmusen, sie dann ins Bett zu bringen und ihr Geschichten zu erzählen oder mit rauer Stimme Lieder zu singen. 241
Die Kleine konnte sich nur noch an »Asper« erinnern, mehr hatte sie von ihrem Namen nicht behalten. Und so war und blieb sie für Mirt eben Asper. Wenn er in die Schlacht ritt, band er sie sich auf den Rücken. Dazu wickelte der Wolf sie in dickes Leder und schützte sie unter einem großen Schild, der ihm von Schulter zu Schulter reichte. Der hielt zwar alle Hiebe und Stiche von ihr ab, aber nach dem Kampf war das Mädchen halb taub und voller blauer Flecke. Mirt fütterte sie mit Stutenmilch und ließ sie so viel Wein, Obst und Käse haben, wie sie von seiner Fingerspitze saugen konnte. Später bekam Asper Brot und halb rohes Fleisch – und auch ein paar Tropfen von dem feurigen Wein, welchen Mirt in einem halben Dutzend Städte geraubt hatte. Schlachtvernarbte Krieger mit lauten Stimmen kitzelten die Kleine und zeigten ihr, wie man ein Messer wirft, wie man verschiedene Knoten bindet und wie man mit dem Finger in der Asche eines Lagerfeuers malt. In rund hundert Lagern nächtigte das Mädchen, und es lachte viel. Aber noch mehr liebte Asper den Mann, der sie immer wieder zum Lachen brachte. Die Jahre gingen ins Land, und Mirt zog nicht mehr ganz so oft hinaus in den Krieg und führte seltener die Klinge. Dennoch konnte Asper irgendwann die Schlachten nicht mehr zählen, zu welchen sie mitgenommen wurde – und welche sie bewusst wahrnahm. Sie bemerkte nur, dass sie immer trauriger wurde, weil nach jedem Feldzug einer mehr aus den Reihen 242
derjenigen fehlte, welche sie so in ihr Herz geschlossen hatte. Das Mädchen musste miterleben, wie der eine oder andere ächzend und stöhnend verging. Und wieder andere sah sie nur noch entstellt oder mit verzerrten Gliedmaßen reglos am Boden liegen. Die Zeit machte auch vor Mirt nicht Halt, und er wurde nicht nur älter, sondern auch langsamer. So kam der Tag, welcher kommen musste: Der Wolf kehrte ins laute und lebendige Tiefwasser zurück, um für immer hier zu bleiben. Diesmal sollte nicht aller Gewinn versoffen und verhurt werden. Diesmal ging es nicht darum, neue Kämpfer für die Kompanie anzuwerben. Auch Asper wuchs heran, und Mirt ließ es sich immer noch nicht nehmen, ihr Kleider und weiche Pantoffel zu kaufen. Und eines Tages hatte er ihr etwas umständlich ihr eigenes Zimmer gezeigt, in dem ein Himmelbett stand. Der Wolf hatte die Kleine auch festgehalten, wenn sie, heulend von einem Albtraum oder weil sie sich so allein fühlte, zu ihm in sein Gemach kam. Aber dann hatte er ihr auch erzählt, dass es keinen Grund gebe sich zu fürchten, und sie in ihre Kemenate zurückgetragen. Irgendwann gefiel es dem Wolf auch, sie seine Tochter zu nennen. Asper wusste heute, dass sie das erste Mirt-Mädchen gewesen war – auch wenn der Wolf sie in erster Linie als seine Tochter und erst in zweiter als seine Gefährtin ansah. 243
Wenn es ihr irgendwie möglich sein würde, wollte sie ihn nie verlassen. Asper wäre auch ohne Zögern für ihn in den Tod gegangen, wenn es den Göttern jemals so gefallen sollte. Und die junge Frau hätte auch alles auf sich genommen – wirklich alles –, um die Tränen verschwinden zu lassen, welche sie jetzt in seinen Augen sah. Aber Resengar lag tot da, und selbst Asper vermochte nicht, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Mirts ärgerliches Stampfen durch das Arbeitszimmer endete, als er neben seinem alten Freund auf die Knie fiel. Sorgfältig untersuchte er das Blut, die Wunde und den Körper des Leichnams. Vorsichtig nahm er die silberne Anstecknadel an sich. Asper konnte danach nichts mehr sehen, weil die Flut ihrer eigenen Tränen ihr die Sicht nahm. Ein starker und so vertrauter Arm legte sich um ihre Schultern. »Kommt schon, Mädchen, nun lacht mal wieder«, ertönte die raue Stimme des Wolfs neben ihrem Ohr. »Erinnert Euch, wie verzückt der alte Resengar Euch immer angestarrt hat. Und wie er Euch den kleinen Kunstgriff gezeigt hat, auf welchen er so stolz gewesen ist und bei dem ein Kranz von Sternen entsteht ... Wenn Mystra an ihren treuen Gefolgsmann Resengar denkt, werden ihr auch solche Dinge ins Gedächtnis kommen... und dann lächelt sie ganz bestimmt ...« Obwohl Asper gar nicht so richtig danach zu Mute war, musste sie jetzt doch lächeln. 244
Ach, Mirt, dachte sie, die Götter sind mir gnädig gestimmt, haben sie mir doch Euch zum Vater und zum Herrn gegeben, und vielleicht eines Tages auch noch zum Gemahl! »Nein!«, flüsterte der Wolf in diesem Moment tonlos. »Nein, ihr Götter, nicht Tamaeril!« Das Mädchen fuhr herum, weil eine düstere Vorahnung sie beschlich, und blinzelte ihre Tränen fort. »Tamaeril!« Der alte Hauptmann brach plötzlich in Tränen aus und wirkte wie ein Feldherr, welcher seine wichtigste Schlacht verloren hat. Axt und Schwert hingen wie vergessen in seinen Händen. »Herr?«, fragte Asper leise und vorsichtig. Mirt starrte aber weiter in die Schatten, als wäre seine »Tochter« überhaupt gar nicht vorhanden. Dann drehte er sich langsam zu ihr um, als müsse er aus einer anderen Welt zurückkehren und das kostete ihn gewaltige Anstrengungen. Er wirkte wie ein vom Schicksal Gezeichneter, als er ihr düster erklärte: »Tamaeril ist tot!« Neuer Zorn flammte in seinen Augen auf, und er reckte trotzig das Kinn. »Irgendjemand tötet die Fürsten von Tiefwasser«, fügte er mit brodelnder Stimme und einem gefährlichen Ausdruck im Blick hinzu. Jetzt fuchtelte der alte Wolf mit der Klinge, als müsse er einen Feind abwehren. »Jemand, welcher sich darauf versteht, Schutzzauber zu umgehen, selbst unüberwindliche ... Jemand, welcher zu den Harfnern gehört, oder aber für einen solchen gehalten werden möchte ... 245
Aber bei diesem Fremden könnte es sich auch um eine Frau handeln ... oder um ein Illithid ... oder etwas viel Schlimmeres. Ich weiß über ihn, sie oder es nicht mehr, als dass er eine Maske trägt.« Mirt schüttelte sich, als erwache er aus einem langen Schlaf, und schritt mit kräftigen Schritten zur Tür. »Kommt, Mädchen!« »Wohin gehen wir denn?«, fragte Asper, während sie aus dieser Kammer des Todes lief. »Wir wollen Piergeiron finden. Die Herren müssen gewarnt werden.« Der alte Hauptmann lief die ausgetretenen Steinstufen zum Ausgang hinunter und dann weiter durch die dunkle Seitengasse dahinter mit ihren vielen Schatten. »Tamaeril?«, fragte Asper leise. »Sprecht Ihr etwa von der Herrin Tamaeril Klingensemmer?« Die junge Frau deckte ihrem Liebsten wieder den Rücken, während dieser vor der Öffnung in die Hocke ging und durch den Türschlitz in die Nacht hinausstarrte. »Eben diese. Sie konnte mir noch eine Gedankenbotschaft zukommen lassen, bevor sie starb.« Er trat die Tür auf und hielt die Axt nach draußen, um welche er seinen Umhang gehängt hatte. Niemand stürzte sich darauf, und alles blieb still. Nicht einmal die Schatten regten sich. Der Wolf zuckte die Achseln, zog den Umhang wieder um seine Schultern und kroch hinaus in die Nacht. »Jetzt hurtig«, forderte er Asper auf. »Haltet den Kopf unten.« »Herr«, flüsterte sie dringlich, »sollten wir nicht erst 246
nach Hause zurückreiten und uns rüsten? Um mit mehr Waffen, Gefährten und Magie loszureiten? Ihr seid schließlich nicht irgendwer, sondern einer der Fürsten der Stadt. Nicht auszudenken, wenn Euch etwas zustieße!« Mirt grinste nur breit. »Die Götter haben wohl ein Einsehen. Weil mir in der letzten Zeit so langweilig ist. Dieses Abenteuer möchte ich nicht missen, Mädchen. Wenn das Wesen, welches Fürsten von Tiefwasser tötet, weiß, dass ich ebenfalls zu diesen Herren gehöre, wird es mich suchen. Soll es nur, weil ich nämlich gefunden werden möchte ... Denn wenn es mich aufgespürt hat, bedeutet das doch auch, dass ich es ebenfalls gefunden habe.« Seine Schwertspitze hob sich ein wenig und wirkte wie eine zum Zuschlagen bereite Schlange. »Wie leicht zu begreifen sein dürfte, ist es mir gerade jetzt ein überaus großes Bedürfnis, diesen Mörder der Fürsten zu stellen.« Der Wolf sprach leise, so gefährlich leise, dass Asper ein wenig fröstelte. Im nächsten Moment war Mirt schon verschwunden, als hätte die Nacht ihn verschluckt. Die junge Frau presste die bebenden Lippen aufeinander, hob ebenfalls ihr Schwert und folgte ihm auf seinem Weg. Eigentlich wie immer.
247
8 Neue Foltern Elminster stolperte wieder bei vollem Bewusstsein über spitze Steine und mitten hinein in einen roten Nebel der Schmerzen. Allem Anschein nach krabbelte, kroch und taumelte er schon ewig durch dieses Land; mit brennenden Eingeweiden und den Kopf voller widersprüchlicher Gedanken über Pläne und Vorhaben auf der einen und ungewollten Erinnerungen auf der anderen Seite. Letztere löste der Teufelsfürst aus, welcher wie ein erschöpfter Fledermäuserich mit zerfetzten Flügeln in seinem Geist hing. EUER VERSTAND IST GRÖSSER ALS BEI JEDEM ANDEREN MENSCHEN, WELCHER MIR BISLANG UNTERGEKOMMEN IST, überlegte Nergal, und seine Geistesstimme klang wieder so einschmeichlerisch samtig wie früher. Doch das übertünchte nur die Grausamkeit, welche dieser Bestie in Wahrheit eigen war. DIESES AUSRÄUMEN IN EUREM KOPF KÖNNTE NOCH ENDLOS SO WEITERGEHEN, UND ICH BIN ES JETZT WIRKLICH LEID. Der Magier richtete sich auf, damit er sich gegen einen Stein lehnen konnte, dessen Oberfläche dick mit altem, schwarzem Blut verklebt war. Die aufgeschlagenen Schädel von Teufeln knirschten unter seinen Füßen. 248
Ja, und? DESWEGEN, WIDERSPENSTIGER MAGIER, IST ES JETZT AN DER ZEIT, IM GROSSEN STIL DURCH EUREN VERDREHTEN VERSTAND zu PFLÜGEN, antwortete Nergal mit einer Stimme, die wie ein scharfes Schwert in Elminsters Geist schnitt. ICH TRETE DIE BILDER MIT FÜSSEN, WELCHE IHR MIR ZUR GEFÄLLIGEN ANSICHT AUSBREITET, DENN SIE SIND NUR DAZU ANGELEGT, MEINE ZEIT ZU VERGEUDEN! MICH SCHEREN LANGE ZURÜCKLIEGENDE ABENTEUER ODER ELEND KLEBRIGE LIEBESGESCHICHTEN NICHT DAS KLEINSTE BISSCHEN, DENN ICH WILL AN MYSTRAS MACHT GELANGEN!
LEUGNET ES NICHT, ZAUBERLEIN, IHR HABT DIESE MACHT DER GÖTTIN SELBST GESCHWUNGEN! UND VON EUREN BLOSSEN ERINNERUNGEN AN DIESE MOMENTE VERMAG ICH SCHON AUSREICHEND ZU LERNEN! ALSO, ELENDER WURM, GEBT ES MIR! UNTERWERFT EUCH UND KRIECHT, LOS! Verzeiht, aber müsste es nicht heißen: Unterwerft Euch oder kriecht? Ihr werdet Euch, so fürchte ich, schon für eines von beiden entscheiden – arrrghghgh! (dunkle lanzen stechen grelle schmerzen beißen durcheinander purzelnde erinnerungen sausen in die höhe und stürzen ab kreischen und kreischen inmitten teuflischen gelächters das anschwillt um alles andere endlich zu übertönen) KLEINER WURM, DAS HÄTTE ICH VON ANFANG AN MIT EUCH TUN SOLLEN! (geistespeitsche ungebremstes schreien) JAWOHL! VON ANFANG AN! WARUM NICHT GLEICH SO? (gleißendes wirbelndes Wirrwarr von zerrissenen er249
innerungen gedankenfetzen und herumfliegenden fitzeln) ... über die Felder sah sie ihn davongehen, eine graue, gebeugte und zerlumpte Gestalt. Wenig später war er verschwunden. Sie schüttelte sich wie frierend, seufzte dann und wandte sich ab. (bilder fliegen durcheinander fallen und vergehen sind auf immer verloren und vergessen vergangen im kielwasser von nergals räche) Der Krieger blickte hinab auf die Geier, welche sich rund um die Leichenberge versammelten. Er stützte sich auf seinen Speer. Weit breiteten die Toten sich von der Anhöhe aus, auf welcher der Krieger stand. Noch über die Hügel hinweg und bis in die dahinter liegende Ebene hinein. Hundert mal hundert Seelen und mehr hatten an diesem Tag ihre Körper verlassen. Dawalaer dachte an das Heulen und Zähneknirschen, welche die Nachricht von dieser furchtbaren Schlacht in den Tälern auslösen würde – auch wenn ihre Seite doch den Sieg errungen hatte. Zu viele Männer würden nie mehr nach Hause kommen. Zu viele von ihnen waren auf immer gegangen. Ja, es würde ein großes Jammern in den Hütten der Talbewohner ausbrechen. Dawalaer seufzte und warf noch einen Blick auf die Leblosen vor ihm. 250
»Aber irgendwann werden sie auch diesen Schmerz vergessen haben«, meinte der Krieger dann. »Und dann wird irgendwann und irgendwo ein neues Blutbad anheben.« BAH! IGITT! EUER GEDÄCHTNIS IST DIE REINSTE SENKGRUBE FÜR SOLCHE KITSCHIGEN UND ZU TRÄNEN RÜHRENDEN BLLDER! WAS SOLL ICH MEINE ZEIT MIT DEN ZÄHREN DER SCHWACHEN UND DUMMEN MENSCHEN VERPLEMPERN? (stücke von erinnerungen werden abgebrochen und als Splitter fortgeschleudert) WIE VERMÖGT IHR IMMER NOCH DAS ZU VERBERGEN, WONACH MICH VERLANGT? WO MAGIE DOCH EURE MACHT UND EUER LEBENSWERK DARSTELLT! WIE IST DAS MÖGLICH? WAS BEFÄHIGT EUCH DAZU? (rote augen starren durch die finsternis zerschmetterter kammern erinnerungsfetzen bedecken den boden wie glasscherben oder zerrissene spinnweben) MYSTRA! JA GENAU! EURE GÖTTIN BESCHÜTZT EUCH! (teuflische äugen erglühen wie Scheiterhaufen) ZEIGE DICH, ELENDE GÖTTIN! (dunkelheit stille herabsinkender staub) ZEIGE DICH ENDLICH, DU FEIGES LUDER! (finsternis erinnerungsfetzen legen sich seufzend nieder) ELMINSTER AUMAR, ZEIGT MIR SOFORT MYSTRA! OFFENBART MIR ERINNERUNGEN AN EURE GÖTTIN! ZEIGT SIE MIR! (sich zusammenziehen zusammenbrechen vor schmerzen keinen gedanken mehr fassen können) Aber gern ... 251
»Die Starym neigen nun einmal dazu, sich in ihrem übergroßen Stolz wie Narren aufzuführen«, sagte die Herrin Laurlaethee Schaurlanglar ruhig, »aber in einem haben sie Recht: Diesen stinkenden Bären von Menschen zu gestatten, sich in unserer Mitte breit zu machen, dient allein dem Zweck, uns zu verhöhnen und in den Untergang zu führen. Aus diesem Grunde habe ich Euch auch hierher gebeten, Ihr Spielzeug der Srinschee. Der Mondwein, welchen Ihr eben so genießerisch getrunken habt, war mit genügend Srindrym versetzt, um ein Dutzend dieser überehrgeizigen menschlichen Zauberlein umzubringen.« Der Mann, welchen sie Elminster nannten, warf drei kurze Blicke um sich: einen nach links, einen nach rechts und einen hinter sich. Dann schlich er einen Schritt beiseite und spähte wie zufällig hinter einen Wandvorhang. Er bewegte sich so anmutig, dass ihn jeder für einen jungen elfischen Krieger gehalten hätte. Die Elfenedle lachte glockenhell. »Wir sind hier ganz allein, Todwunder. Mir stand nicht der Sinn nach Zeugen, und ich brauche auch keine Wachsoldaten, welche mich vor den Zuckungen eines sterbenden Wilden zu schützen hätten. Denn ich gehöre einer stolzen Kriegerfamilie an und weiß mich sehr wohl selbst zu wehren.« Elminster warf einen vorsichtigen Blick nach unten auf die ebenso schöne wie zerbrechlich wirkende Elfin 252
auf dem Thron. Laurlaethee musste selbst unter ihresgleichen als außerordentlich zierlich gelten. Wenn sie stand, würde sie Elminster wohl nur bis zum Bauch reichen. Saphirhelle Augen blickten kühl und ohne das geringste Anzeichen von Furcht zurück in die seinen. Der Menschenmagier lächelte sie dennoch freundlich an. »Und aus welchem Grund habt Ihr solches getan?« »Hass«, entgegnete die ältliche Herrin und erhob sich mit erstaunlicher Behändigkeit und Anmut. »Hass auf Euch und Euresgleichen. Auf Untiere wie Euch, welche das lieber stehlen, was selbst zu ersinnen an Geist ihnen mangelt. Wenn die Srinschee, die alte Vettel, nicht vor Fleischeslust von Sinnen wäre, würdet Ihr Euch immer noch damit abplagen müssen, auch nur das leiseste Glühen an Euren Fingerspitzen hervorzurufen. Doch plagte Euch diese Beschwernis nicht zu lange, denn ehe Ihr Euch versehen hättet, würdet Ihr schon als Trophäe an der Speerspitze eines Kormanthianers baumeln.« »Ich sollte Euch wohl für so viel Offenheit dankbar sein«, entgegnete Elminster. »Da Ihr aber in mir nur einen räudigen Straßenköter seht, erwartet Ihr von mir sicher auch weder Sitte noch Anstand. Deswegen nehme ich mir die Freiheit, Euch nach mehr von diesem köstlichen Wein zu fragen. Für meinen Geschmack tut das Srindrym ihm durchaus gut.« Die saphirblauen Augen blitzten. »Diese Schlampe schützt Euch!« 253
Der junge Mann verbeugte sich artig vor ihr. »Ganz recht, Herrin, das tut sie.« »Diese elende Verräterin!«, giftete sich die Elfenedle und schritt zu einer Ecke, wo sich Kristallkugeln aller Größen langsam drehten und dabei sphärische Musik erzeugten. »Sobald die anderen erfahren haben, dass sie –« »Herrin, der Anstand gebietet mir, Euch davor zu warnen, etwas Törichtes zu tun«, erklärte Elminster ihr und hob dazu seine Stimme etwas. »Ihr scheint dem Eindruck zu unterliegen, ich würde von der Srinschee sprechen. Aber das tue ich mitnichten. Die Herrin weiß weder von unserem Treffen hier, noch hat sie mich zu dieser Gelegenheit mit irgendwelchen Schutzbannen ausgestattet. Meinen Schutzzauber habe ich höchstselbst geschaffen.« Nur wenig kann der vollkommenen Schönheit eines Elfengesichts etwas anhaben. Zu dem Wenigen gehört es, wenn sie den Mund zu einem verächtlichen Lächeln verziehen. »Ihr scheint mich tatsächlich für einfältig zu halten, Affenmensch«, erwiderte die Elfe mit hässlich gewordenen Zügen. »Woher solltet Ihr eigene Zauber beherrschen? Das erbärmlich Wenige, welches Ihr an Magie kennt, habt Ihr gestohlen, durch Betrug oder durch schamlose Schmeicheleien an Euch gerafft! Wer sollte denn diese Verblendete sein, welche Euch beschützt, wenn nicht eine von uns?« »Die herrliche Mystra, die Göttin, welcher ich diene«, antwortete Elminster ruhig und mit einem Blick, als 254
könne sein Gegenüber ihm trotz aller Zauberkünste nicht den geringsten Schrecken einjagen. »Pah!« Laurlaethee spuckte Gift und Galle. Sie blieb hinter ihren Kristallen stehen und starrte ihren Gast mordlüstern an, wollte sie ihn doch über ihren Kristallkugeln erschlagen. Diese beleuchteten das Gesicht der Herrin von unten und verliehen ihren Zügen etwas Teuflisches. »Alle Zauberei entstammt von den höheren Wesen, welche wir verehren – den Wahren Göttern eben! Wenn dieses Weibsbild von Euch, diese Mystra, auch nur über ein Quäntchen Macht verfügt, dann allein aus dem Grund, weil sich dahinter eine der Gottheiten verbirgt, welche in Wahrheit auf das Engste mit ihrem auserwählten Volk verbunden ist. Euch unreinen Würmern zeigen sie sich da wohl irgendwie lieber in Gestalt irgendeiner Mystra!« »Aber wenn dem so ist«, entgegnete der Menschenmagier mit einem Lächeln in den Augen, welches sich jedoch nicht auf seinen Lippen fortsetzte, »und meine Zauberkunst über die Eure triumphiert hat, würde das doch wohl Folgendes bedeuten: Die Zaubermächtige Göttin, welche wir im Grunde beide verehren, wenn auch unter verschiedenen Namen, hat mittlerweile mich statt Eurer auserwählt.« »Haltet Euren ungewaschenen Mund, Ihr abstoßendes Schwein!«, kreischte die Herrin. »Fallt auf der Stelle um und sterbt! Wie könnt Ihr es wagen, die Luft meines Palastes und dazu auch noch meine Ohren mit einer solch widernatürlichen Bemerkung zu verpesten?« 255
Laurlaethee verkrampfte die Finger zu einer Krallenhand, und im nächsten Moment sprühte die Luft rings um Elminster Funken und gefror dann – aber er lächelte nur müde und schritt weiter auf seine Gastgeberin zu. Die Herrin erstarrte und verlor alle Farbe aus dem Gesicht, während ihre Augen sich vor Schreck weiteten. Seufzen ertönte aus der Luft, welche den Menschen nun umgab, und die Elfenedle wich einen Schritt vor ihm zurück. Der letzte Prinz von Athalantar trat um die Kristallkugeln herum und näherte sich weiter der Elfin. Wütend bewegte sie ununterbrochen die flinken Finger, bewirkte Banne und zischte Beschwörungen. Überall sausten nun kleine silberne Speere durch die Luft, und um ihn herum ringelten sich nur schemenhaft sichtbare Drachen ... und dennoch ließ Elminster sich nicht davon beirren. »Zurück mit Euch, Ihr Tier, das Ihr von Sinnen seid!«, schrie sie schrill in unüberhörbarer Furcht. »Bleibt zurück, sonst ... sonst ...« Ein Ring an ihrem Finger blinkte und verschwand. Im nächsten Moment griffen Hände aus der Decke und aus dem Boden nach dem Menschenmagier. Doch sie zerfielen zu Staub, ehe sie ihn zu erreichen vermochten. Laurlaethee presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Weitere Ringe fingen an zu leuchten, und sie schrie eine Formel. Dann fuhr sie mit der Linken über den Handteller der Rechten. Der Dornzacken 256
an einem Ring schlitzte die Haut auf. Ein rasch gezischter Befehl der Zauberin verwandelte die Blutstropfen, welche sie in die Luft schleuderte, in Feuerbälle. Diese blieben bedrohlich zwischen ihr und ihrem Feind in der Luft hängen. Der Menschenmagier jedoch ließ sich auch davon nicht aufhalten. Lächelnd trat er zwischen die brennenden Blutstropfen und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie zerplatzten. Die Herrin hatte sich mittlerweile in eine Ecke zurückgezogen, und ihr Mund zitterte vor Angst. Ihre nächste Beschwörung ließ den ganzen steinernen Raum erbeben und krachen. Dieser Bann raubte ihr deutlich sichtbar die Kräfte und ließ sie von einem Moment auf den anderen um Jahre altern. Doch auch dieser Zauber verpuffte wirkungslos an dem näher kommenden Menschen. Die an den Schultern angebrachten Klingen mähten durch den Blumenschmuck an einer Wand, denn die Letzte aus dem Geschlecht der Schaurlanglaner zitterte am ganzen Körper. Doch jetzt atmete sie tief durch und schloss die Augen. Sie musste nicht mit eigenen Augen sehen, was ihr nächster Zauber bewirkte. Und sie wollte das auch gar nicht mitbekommen. Kaum wagte die Elfenedle darüber nachzudenken, dass es tatsächlich so weit hatte kommen müssen. Laurlaethee wusste genau, wohin sie schlagen musste, aber sie hätte nie geglaubt, dass sich das so eiskalt anfühlen würde. 257
Kalt, so furchtbar kalt sprudelte das Blut, und dann ... plötzlich Triumph! Wärme, ein um sich greifendes Lied und inbrünstige Begeisterung, wie die Edle sie schon seit Jahren nicht mehr verspürt hatte ... Seit die Hände ihres längst verblichenen und längst begrabenen letzten Liebsten Touor sie noch einmal fest an seine Brust gezogen hatten ... Die Herrin blinzelte, bis ihre Lider sich geöffnet hatten – und starrte in die Augen des verhasstesten aller Menschen; und diese befanden sich auch noch nur eine Handbreit von den ihren entfernt. Seine Rechte ruhte auf ihrer Brust, und die Zauberkraft, welche sie heilte und wiederherstellte, strömte aus seinen Fingerspitzen. Diese Finger bewegten sich jetzt über ihre Haut bis hinab zum Handgelenk, schlossen sich unsagbar sanft und nahmen ihre Finger gefangen. Elminster beugte ein Knie und küsste die Fingerspitzen der Elfin. »Herrin«, begann er, mit ihr auf Augenhöhe, und klang ernst, »ich bin hierher gekommen, um eine Freundin zu finden, nicht aber, um eine Feindin zu zerschmettern ... Spielt es denn wirklich eine Rolle, wen wir verehren, wenn wir nur einander Gutes tun? Ich hoffe, jetzt vernünftig mit Euch reden zu können ... und dass Ihr nie wieder in die Verlegenheit geratet, das hier gegen mich einsetzen zu wollen.« Elminster erhob sich behände und ließ etwas in ihre Hand fallen – die Ehrenklinge, welche sich von ihrem 258
Blut rot verfärbt hatte. Noch während Laurlaethee hinsah, verschwand die dunkelrote Kruste und löste sich in Rauch auf. Darunter trat der silberhelle Stahl so klar und glänzend wie vor ihrem Selbstmordversuch zum Vorschein. Die Elf in schloss die Hand um den Dolch und schämte sich ihres Zitterns. Aber Elminster stand ganz ruhig vor ihr. Sie hätte ihn ganz leicht mit einem Stoß ihrer Klinge niederstrecken können, aber er traf keinerlei Anstalten, sich davor zu schützen, und schaute ihr nur in die Augen. Laurlaethee hielt es nicht mehr aus, schleuderte den Dolch von sich und schluchzte, wie sie in ihrem ganzen Leben noch nicht geweint hatte. Die Tränen strömten so reichlich, dass sie nichts mehr sehen konnte. So bekam die Elfenedle nur vage mit, dass ihr ungeliebter Gast sich von ihr abwandte, durch den Raum schritt, sich von den Resten ihrer mächtigen Banne nicht aufhalten ließ und auf den Balkon hinaustrat, von dem er vorhin erschienen und vor sie getreten war. Dort blieb der Menschenmagier stehen, drehte sich zu der Herrin um und hob eine Hand zum Gruß ... und dies in der althergebrachten Weise, wie Jüngere früher Älteren ihren Respekt erwiesen hatten. Nach dieser Geste fügten sich all ihre Zauber, welche Elminster vorhin zerbrochen hatte, wieder zusammen und umtanzten die Edle singend und hell. Wieder erbebte die Kammer unter dem Ansturm so mächtiger Banne, aber Elminster behielt die Gewalt über sie, packte sie einen nach dem anderen zusam259
men und ließ sie dann mit einer schlichten Handbewegung im Nichts verschwinden. Im nächsten Moment steckte auch wieder der Ring an ihrem Finger. Das vergossene Blut kehrte in Laurlaethee zurück, und all ihre Zauberenergie war mit einem Mal unverbraucht wieder da, erfüllte sie von neuem mit ihrer Macht. Die Letzte ihres Geschlechts keuchte fassungslos. Niemand vermochte einen solchen Bann zu wirken. Nie hatte sie von solcher Zaubergewalt gehört! »Mystra zeichnet sich vor allem durch eine Eigenschaft aus – durch Güte und die Bereitschaft zu vergeben«, flüsterte der Menschenmagier. Doch seine Worte erreichten ihr Ohr, als hätte er sie hinausgebrüllt. »Fürchtet Euch nicht, Herrin Schaurlanglar. Weder sie noch ich tragen Euch etwas nach. Deswegen freut Euch Eures Lebens.« Damit verließ Elminster sie. Die alte Elfenfrau hob eine Hand, um sich die letzten Tränen von der Wange zu wischen. Zum ersten Mal seit einem Jahrtausend – nach langen Jahrhunderten einsamen Stolzes – fühlte sie sich wieder von Staunen erfüllt. Laurlaethee drehte den Kopf, um in den einzigen Spiegel zu schauen, welchen dieser Raum enthielt. Lange stand sie so da und versuchte, das zu verarbeiten, was sie in dem Glas zu sehen bekam. Die Elfenedle wirkte im Spiegel tatsächlich jünger! Vorsichtig, so als könne sich alles als Spuk erweisen, drehte sie sich mal nach links und mal nach rechts. 260
Alle Falten waren verschwunden, und sie sah jünger, größer und gesünder aus ... Laurlaethee warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals; und es war ihr vollkommen gleich, dass diejenigen, welche sie nun hören konnten, sie für verrückt halten mussten. Ungeduldig riss sie etwas später an ihren Kleidern, bis sie alles abgelegt hatte, und trat splitternackt auf den Balkon hinaus. Dort roch sie an der Karaffe mit dem Mondwein, und wie nicht anders zu erwarten, erwies sich auch dieser als von allem Gift gereinigt. Die wieder jung gewordene alte Frau schüttelte den Kopf und lächelte. Dann lehnte sie sich auf die Brüstung und sah den Vögeln zu, wie die hin und her flatterten und ihre schönsten Lieder sangen. Ein kühler Wind kam auf, schlich aus den Schatten heran und schob sich auf den Balkon. Aber die Elfenfrau blieb stehen und ließ sich nicht im Mindesten davon stören. Sie fror nicht, denn Staunen legt sich wie ein warmer Mantel um einen. IRGENDWELCHER
BLÖDSINNIGER
STREIT
UM IRGENDWELCHE
NICHTSNUTZIGEN GÖTTER! UND NATÜRLICH SCHON WIEDER WUNDERSCHÖNE WEIBER UND GROSSE GEFÜHLE! BEIM HERRN DER
FINSTERNIS,
WIE DAS EINEM NAHE GEHT
... SO
SEHR, DASS
EINEM DIE GALLE DAVON HOCHSTEIGT!
BEI
DEN
FEUERN
UND
SCHWEFELGRUBEN, MENSCHLEIN, IHR
TREIBT EIN BÖSES SPIEL MIT MIR!
261
ABER
ICH VERMUTE, DAS WAR NICHT
EUER
TUN!
VIELMEHR
STECKT MYSTRA DAHINTER, WELCHE DURCH EUCH WIRKT!
WENN MAN DIE SACHE ALSO GENAU BEDENKT, STELLT SIE SICH DAMIT SELBST BLOSS UND GEHORCHT MEINEM BEFEHL AN EUCH!
Ihr seid ein wahrer Geistesriese. SCHWEIGT! SOLLTE MICH EINMAL DER DRANG ÜBERKOMMEN, VON DEN GLANZLOSEN PERLEN EURER WEISHEIT ZU NASCHEN, WERDE ICH EUCH DAS FRÜH GENUG WISSEN LASSEN. DOCH WILL ICH EUCH EINE GNADE GEWÄHREN: IHR ENTGEHT DER NÄCHSTEN FOLTER, WENN IHR MIR JETZT GLEICH VORFÜHRT, WIE IHR EINEN ZAUBER WIRKT. DIES IN ALLER OFFENHEIT UND IN EINER WEISE DARGEBOTEN, WIE SIE SICH MIR ALS NÜTZLICH UND DIENSTBAR ERWEISEN WIRD. DIE DAZU NÖTIGE BANNENERGIE STELLT EUCH GEWISS MYSTRA ZUR VERFÜGUNG. UND ICH RATE EUCH GUT, ZEIGT MIR ETWAS SINNVOLLES, ETWAS SELBST FÜR MICH BEEINDRUCKENDES – UND NICHT IRGENDEINEN FIRLEFANZ WIE DIE VERSTÄRKUNG VON DER BLUMEN DUFT ODER DERGLEICHEN! Euer Wunsch ist mir Befehl. EUER LOSES MUNDWERK WIRD EUCH UNWEIGERLICH WIEDER IN SCHWIERIGKEITEN BRINGEN, IHR TROTTEL VON EINEM BANNSCHLEUDERER! JETZT NICHT LÄNGER GESÄUMT! TUT WIE EUCH BEFOHLEN! (bunte bilder fließen wie sterne die man einen brunnenschacht hinunterwirft ihr fall beschleunigt sich und dabei gewinnen sie an helligkeit und glanz ... dann werden sie langsamer ... und immer langsamer ... während ein leuchtender punkt aufsteigt und alle anderen überstrahlt)
262
Die Linie aus blauem Feuer fuhr in die Türen und versiegelte sie. Uralte Zauberei umschloss die Burghalle, mochte sie auch noch so sehr in Trümmern liegen, vor der Welt Faerun. Hier kamen seit vielen Jahrhunderten die Mächtigsten der Mächtigen zum Zweikampf zusammen. Bei ihren Bannwettstreiten waren die Steine zerschmolzen und verglast und hatten verzweifelte Strahlungen umschlossen. Zurück blieben stets der Gestank der Furcht und die prickelnde Anspannung der zum Zuschauen gezwungenen, gebundenen und hilflosen Geister. Ein Lächeln zeigte sich auf der Miene des großen und unglaublich dünnen Herausforderers. Es enthielt jedoch weder Freude noch Freundlichkeit. »Habt Ihr etwa geglaubt«, zischte der Lurch siegesgewiss, »ich wäre allein erschienen?« Ein Stalaktit hinter und über der knochigen Schulter des Untoten trübte sich und verwandelte sich in eine sich drehende Kugel, in welcher sich unzählige Augenpaare befanden. Diese schwebte los, Tentakel hingen von ihr herab, und Mäuler schnappten an Auswüchsen. Aus einem der Schatten flog ein Ungeheuer mit Fledermausflügeln heran und schwang ein Schwert mit einer Klinge aus schwarzem Feuer. Ebenso zeigte sich eine Riesenschlange, glitt heran und hob ihren übergroßen, auf grausame Weise schön anzusehenden, menschenähnlichen Kopf. Nicht weit von ihr tauchte eine Elfin mit obsidi263
anschwarzer Haut auf. Um ihre schlanken Handgelenke drehten sich zauberisch angetriebene Dolche. Diese Wesen schritten, glitten oder schwebten durch die mitgenommene Halle, um den einsamen Gegner niederzuzwingen – einen Menschen, der nicht ganz so groß und erst recht nicht so dürr war wie der Lurch. Dieser besaß auch nicht gerade die mit Muskeln bepackte Gestalt eines Kriegers, und das waffenähnlichste an ihm schien seine scharfe Adlernase zu sein. Der Mensch zog eine Augenbraue hoch. »Ich muss schon sagen, da habt Ihr Euch wirklich ein paar feine Bettgefährten angelacht«, bemerkte er so gelassen wie bei einem Thekengespräch. »Wie Ihr zusammengefunden habt, also diese Geschichte würde ich zu gern hören.« Er ließ sich auf einem Steinklotz neben sich nieder, klopfte seine staubigen Stiefel gegen einen anderen Felsen und zog seine Pfeife aus der Tasche. »Nun, wie steht’s damit?« Der Untote starrte ihn an: »Habt Dir vollkommen den Verstand verloren?« Aber der Zauberer schüttete aus seinem Beutel Tabak in den Pfeifenkopf und drückte den mit dem Daumen fest. »Das mag durchaus sein«, antwortete er gut gelaunt. Der Tod näherte sich ihm von mehreren Seiten, schlich sich heran, um ihn zu umzingeln. »Doch das verwundert Euch sicher kaum, oder?« Der Lurch hielt sich jedoch nicht mit einer Antwort auf, sondern schrie: »Vor Mystra und den Magiern der Arkane verlange ich für den Sieger dieses Zweikampfes 264
das Recht, sich alle Kräfte und Fähigkeiten des Unterlegenen aneignen zu dürfen. Mit anderen Worten: Mir gebühren Eure Mächte. Und nun, greift an!« Obwohl es sich um schwere Verstöße gegen die Spielregeln in Burg Bannunter handelte, Verbündete heranzuführen oder es beiden Seiten zu ermöglichen, ihre Forderungen vor Kampfbeginn zum Ausdruck zu bringen, zündete der Mensch seine Pfeife an und sog daran, um den Tabak richtig zum Brennen zu bringen. Auch der Umstand, dass blanke Mordlust in den Mienen der Ungeheuer zu lesen stand, verleidete ihm das ruhige Pfeiferauchen nicht. Als der erste Angriffszauber ihn traf – ein greller Blitz, welchen der Todestyrann schleuderte –, erstrahlte die ganze Halle in freundlichem blauweißen Licht, und eine jubelnde weibliche Stimme begleitete das Leuchten mit einem wortlosen Gesang. Ungeheuer-Gliedmaßen gingen darunter in Flammen auf. Das Untier mit dem schwarzen Schwert zerschmolz zu einem Wirrwarr von dunklen Flammen und tanzenden Schwertsplittern. Die Riesenschlange platzte wie eine Wurst auf, die zu lange kocht, und zerstob dann zu Staub. Langsam schlossen sich die Augen des Allessehers eines nach dem anderen. Als dann auch der letzte seiner Verbündeten zu nichts vergangen war, krächzte der fassungslose Lurch: »Wie ... was ... woher ...« »Mystra lässt Euch lieb grüßen«, erklärte sein Gegner, der während dieses Gemetzels keinen Finger gerührt 265
hatte und seelenruhig seine Pfeife rauchte. Er blies dem Untoten jetzt einen Rauchring entgegen und sandte die Frage hinterher: »Darf ich Euren freundlichen Worten entnehmen, dass Ihr nun bereit seid, mir die Geschichte zu erzählen, wie es zu diesem eigenartigen Bündnis gekommen ist?« Der Lurch brüllte aus Leibeskräften, und dieses Geschrei enthielt genauso wenige Worte wie vorhin Mystras Gesang. Schwarze und rote Flammen zuckten aus seinen fleischlosen Händen und rasten quer durch die Halle auf den Mann mit der Pfeife zu. Elminster sah völlig gelassen zu, wie die Feuerbälle näher rasten. Als sie ihn dann trafen, ruckte und zuckte er wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Pfeife flog ihm aus dem Gesicht und an die Decke. Doch als der Menschenmagier dann den Mund wieder öffnete, quoll ihm Rauch über die Lippen, und er sprach: »Mystra wird das gebührend belohnen.« Der letzte Prinz von Athalantar schloss den Mund wieder. Nach einem Moment öffnete er ihn wieder, und heraus schoss das gesamte blauweiße Feuer, über welches Faerun verfügte. Die Flammenwand verschlang die eine Hälfe der Halle zusammen mit dem heftig herumspringenden Lurch. Und das alles im Bruchteil eines Moments. Blauweißes Licht, so tödlich und doch so freundlich. ARRRGHHH! AUAUAUAUAUAUAUAUAUA! ARRRGHHH! (sich windend um sich schlagend mit rot glühenden vor schmerz geweiteten augen bibbernden hörnern 266
springt und hüpft er heftig herum windet sich in quälen und stirbt langsam bis von seinem schreien nur noch seufzen zu hören ist) (vorsichtiges sich umschauen schleicht er sich aus den schatten um sich inmitten dieses haufens die rauchenden Überreste aus der nähe anzuschauen welche in seinen erinnerungen eine so herausragend schreckliche rolle gespielt hatten und mittendrin die ausglühende gestalt eines teufelsfürsten) AUTSCH! AUA! VERDAMMT! TUT DAS WEH! (langsameres herumrollen die erstarrten krallen eingezogen tastendes bewegen zerrissene tentakel welche wie von selbst in die höhe schnellen als die schmerzen unvermittelt ausbleiben) BEI DEN SÜSSEN FEUERN VON NESSUS! Nergal? WENN ICH JE ANNEHMEN MÜSSTE, ZAUBERLEIN, DASS IHR MIR DAS MIT ABSICHT ZUGEFÜGT HABT, WÜRDE ICH EUCH GENÜSSLICH EIN GLIED NACH DEM ANDEREN ABREISSEN UND EURE RESTE DANN ZERMAHLEN! Ich habe Euch doch nur das gezeigt, was Ihr unbedingt sehen wolltet. Ihr wart so sehr dahinter her, dass Ihr mich mit aller Macht dazu gezwungen habt! JA, DAS HABT IHR GETAN, GEWISS! ABER IHR HABT MIR DENNOCH NICHTS VERWERTBARES GEZEIGT! UND SOLCHE URGEWALT DONNERT NUR SELTEN HINAUS, WENN ICH MEINEN MUND ÖFFNE! Ach, das würde ich so aber nicht sagen ... LACHT IHR JETZT NUR, MENSCHENWURM! ICH VERSPRECHE EUCH, DASS DIE NÄCHSTEN FOLTERN SCHON FÜR EUCH 267
BEREITSTEHEN! SIE KOMMEN EHER ZU
EUCH, ALS EUCH LIEB SEIN
DÜRFTE!
(aus den ruinen schieben sich tentakel nach oben bleiben zitternd stehen und bewegen sich dann forschend weiter das licht wird heller als sie ihre suche fortsetzen) SO SCHMECKT ALSO DAS FEUER EINER GÖTTIN! BEDENKT MICH RUHIG MIT WARNUNGEN, WENN ICH ERNEUT DAVOR STEHE, EINE ÜBERRASCHUNG BEREITET ZU BEKOMMEN! Aber, werter Herr Teufel, woher soll ich denn wissen, was für ein so erfahrenes Wesen, wie Ihr es seid, noch eine Überraschung darstellen könnte? WIRKLICH NICHT? EHRLICH GESAGT, ICH AUCH NICHT! (grimmiges gedankenlachen) TJA, DANN WERDEN WIR DAS EBEN ZUSAMMEN LERNEN MÜSSEN ... Spinagons schwärmten und purzelten aus dem blutroten Himmel. Sie stürzten sich auf ein hünenhaftes Wesen, stachen mit ihren Gabeln darauf ein und stießen mit ihren Füßen zu. Der Klotz richtete sich zur vollen Größe auf und verscheuchte die Sprungteufel mit zwei Rundumschlägen seiner Tentakel. Dazu dröhnte er: »Wer wagt es ...« Kreischend sausten die Spinagons aus der Senke und flohen schwatzend und voller Panik. Nergal starrte ihnen hinterher und bekam nur einen dieser Plagegeister zu fassen. Seine Tentakel rissen langsam und genüsslich ein Stück nach dem anderen aus dem unglücklichen und laut schreienden Spinagon – 268
... bis ein Tentakel sich um das Maul des Quälteufels legte, zudrückte und ihm den Kiefer brach. Das dämpfte das Kreischen doch erheblich, und Nergal nickte zufrieden. Gleich ob ein Widersacher die Spinagons geschickt hatte oder diese hirnlosen Jäger aus eigenem Antrieb hier erschienen waren, er sollte ihr Auftauchen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Zu lange hatte Nergal sich der Freude hingegeben, in den Erinnerungen eines Menschen herumzustöbern. Damit hatte er sich verwundbar gemacht, denn nicht alle Bewohner von Awernus waren mit ausreichend Verstand gesegnet, um es sich lieber zweimal zu überlegen, ehe sie einen Teufelsfürsten angriffen. Da könnte schon der eine oder andere dem Einfall nachgeben, sein Glück zu versuchen und sich über einen verwundeten und sich windenden Nergal herzufallen. Gar nicht erst zu reden davon, was sich dieses erbärmliche, krabbelnde Wesen Elminster erfrechen würde. So ganz allein inmitten von Rauchwolken und ekligem Gewürm, das sich nur wenige Schluchten weiter befand, konnte es Nergal durchaus blühen, ernst zu nehmenden Gegnern wie Tasnya, Oomrith, Skeldagon oder einigen anderen ähnlicher Güte über den Weg zu laufen. Also war Obacht dringend geboten. Der Teufelsfürst zog über das Land voller Erdspalten und suchte nach einer Stelle, an welcher er sich besser zu verteidigen vermochte. 269
Die fand er auch, nur lagerte dort eine Bande Nupperibos. Nergal schenkte ihnen sein schönstes Lächeln, bei welchem man seine verschiedenen Reißzähne besonders deutlich erkennen konnte. Grunzend nahmen die kleinen Widerlinge die Stummelbeine in dieDer Hand. Teufelsfürst konnte sich hier endlich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung widmen – nämlich die dunklen Höhlen von Elminsters Gedächtnis zu erforschen. Er kehrte zurück zur Jugend des Magiers, welche dieser in Hastarl verbracht hatte. Und dort erwartete ihn wieder die ganze lange Ochsentour über den quälend langen und endlosen Strang von Erinnerungen an jede einzelne Begegnung mit der Göttin Mystra. Bei allen hatte der Jüngling wieder etwas mehr gelernt, sich magische Fertigkeiten erworben und das alles dann tief in seinem Gedächtnis verborgen. Und diese Kunststücke und Banne würden Nergal gehören, wenn es denn irgendwann einmal so weit sein würde. Diabolisches Gelächter hallte von den Wänden der Höhle wider, in welche sich der mit Tentakeln bewehrte Teufelsfürst zurückgezogen hatte. Diese Laute erfüllten auch die misshandelten Kammern hinter den Augen des Alten Magiers. Nergal fuhr seine Dornen und Stacheln aus, damit Wesen mit plötzlichem Appetit auf Elminster sich eines Besseren besannen. Sie streckte die trägen Glieder aus, welche hellrot glänzten. Ursache dafür waren die ausgeweideten und halb 270
zerrissenen Lemuren, welche das schüsselrunde Bett ausfüllten. »Aha«, murmelte die Gesättigte, und kleine Flämmchen blitzten zwischen ihren Lippen auf und tanzten auf den Warzen ihrer prachtvollen Brüste. »So, so, Nergal hat sich also ein neues Spielzeug zugelegt. Allem Anschein nach ein so aufregender Fang, dass er darüber sogar seine üblichen Jagden und gewohnheitsmäßigen Grausamkeiten vergisst. Solch ein Spielzeug will Tasnya auch haben!« Sie rollte verzückt über die Leichen der Lemuren, wich aber den rasiermesserscharfen Mäulern der LandNeunaugen aus, deren Bisse ihr sonst so viel lustvolle Schmerzen bereiteten. Teufelinnen knieten erwartungsvoll am Fuß des Lagers. Tasnya bedachte eine davon mit einem Blick, aus dem Feuer loderte. Die Erinnye mit dem menschähnlichen Oberkörper leckte sich die vollen Lippen und zeigte voller Vorfreude auf einen wichtigen Auftrag ihr zierliches Gebiss. Die Teufelsfürstin enttäuschte ihre Sklavin nicht, auch wenn ihre Stimme mit Spott angefüllt war. »So fliegt denn aus, getreue Sressa«, befahl sie der Erinnye, »und schaut Euch an, was Nergal so alles treibt. Plagt und belästigt den Teufelsfürsten, wie Ihr es so meisterlich versteht, und wenn es Euch möglich ist, stibitzt ihm den gefangenen Menschen, welchen er in seinen Besitz gebracht hat. Den bringt Ihr dann zu mir. Aber unverletzt, das bitte ich mir doch aus. 271
Tasnya hat nämlich reichlich Verwendung für sterbliche Zauberer ... ... fast so viel wie für wutschnaubende Teufelsfürsten, welche hierher zu mir gestampft kommen, um den vermeintlichen Besitz wieder an sich zu bringen!«
272
9 Wer meuchelt die großen Fürsten von Tiefwasser
Vielgliedriges, gequältes Krabbeln ... (bilder von einem dicken schnaufenden mann und einer jungen frau die nächtens durch eine Stadt rennen) IHR WOLLT MIR ABER AUCH NICHTS ERSPAREN, WAS? ICH HOFFE FÜR EUCH, ELMINSTER, DASS MICH AM ENDE DIESER GESCHICHTE DIE SEHR LEBENDIGE ERINNERUNG AN WIRKLICH NÜTZLICHE MAGIE ERWARTET! SONST WERDE ICH EUREM GEDÄCHTNIS ZU EIN PAAR BILDERN VON HEFTIGEM SCHMERZ VERHELFEN, DIE SICH GEWASCHEN HABEN! UND JETZT ERZÄHLT MIR NICHT, SOLCHE DROHUNGEN HÄTTET IHR SCHON ÖFTER VON MIR GEHÖRT! (schweigen) WAS IST, ZAUBERLEIN? Ich befolge nur Eure Wünsche, Herr, und folglich schweige ich. EURE SEELE IST STELLENWEISE SO SCHWARZ WIE DIE EINES TEUFELS, WAS? (schweigen und sinniges lächeln) NUN MACHT ENDLICH WEITER, MENSCH, WIR HABEN NICHT EWIG ZEIT! »Wir gehen durch den Tunnel«, brummte Mirt, »denn ich habe jetzt keine Lust, mit irgendwelchen Höflingen Artigkeiten auszutauschen.« 273
»Hat Euch denn jemals solche Lust befallen?«, entgegnete Asper belustigt. Der alte Wolf schnaubte nur. Sie waren eine ganze Weile durch finstere Sträßchen und Gassen gelaufen, da blieb ihm erst einmal nicht genug Luft für einen Schwatz. So verhielt der Geldverleiher sich ungewohnt schweigsam. Asper hörte sein Schnaufen, während er vor ihr hereilte. Sein Atem pfiff unablässig durch die Nacht. Der alte Wolf hielt sein Schwert recht achtlos in der Rechten und bewegte sich mit beachtlicher Geschwindigkeit. Die junge Frau behielt derweil all die dunklen Schatten der Nacht im Auge und bereitete sich die ganze Zeit über auf einen heimtückischen Angriff vor, von welchem sie dennoch hoffte, dass er ausbliebe. Ihr väterlicher Freund und Lehrmeister legte sich hingegen keinerlei Zurückhaltung auf und stampfte durch die Dunkelheit, als habe er nichts und niemanden zu fürchten. Mitunter erinnerte er Asper an einen wütenden Stier, so wie er um den Teil des Bergs Tiefwasser herumlief, auf welchem sich die gleichnamige Burg erhebt. Ohne einen Moment innezuhalten, ging es durch verwinkelte Gassen, über Unrathaufen und durch Hintergärten, in welchen oft genug Wäsche hing. Der Wolf gab sein eigentümliches Knurren von sich, das an- und abschwoll, ihm seinen Beinamen eingebracht hatte und jeden Schlimmes ahnen ließ, welcher sich dem Krieger in den Weg stellen wollte. So hielt Mirt es nämlich immer. 274
Polternden Laufes überquerten sie die Perlenstraße und hätten beinahe eine Wache auf Streife über den Haufen gerannt. Der Wolf wich im letzten Moment in eine Seitenstraße aus, und Asper tauchte unter den ausgestreckten Armen eines Soldaten hindurch, um ihrem Führer zu folgen. Auf die Anrufe der Wachen konnte sie natürlich nicht näher eingehen. Mirt nestelte derweil an seinem Gürtel herum. »Hier«, knurrte er und schob ihr den Griff seines Schwerts in die Hand. »Haltet das mal!« »Diese lieblichen Worte höre ich mindestens dreimal täglich«, schnaufte Asper, warf einen Blick über die Schulter und sah die Soldaten der Streife heranstürmen. Das sah ihrem Herrn mal wieder ähnlich. Ausgerechnet in einem solchen Moment musste er seine Blase entleeren. Doch da fuhr Mirt mit einem Grollen herum, wie es jedem Wolf zur Ehre gereicht hätte, und stürzte sich auf die Fußknöchel des Wachoffiziers. Das Protestgeschrei des Unglücklichen nützte ihm wenig, denn Mirt stieß ihn wie eine Puppe hoch und schleuderte ihn gegen seine nachfolgenden Kameraden. Die Soldaten krachten mit einem klatschenden Geräusch zusammen, bei dem die junge Frau zusammenzuckte. Der Wolf wandte sich schon wieder seiner Begleiterin zu. In der einen Hand hielt er jetzt die Seidenschnur, welche er sich für gewöhnlich um den Bauch wickelte. An deren Ende war nämlich ein Schlüssel befestigt, welchen er in seinem Gemächteschutz aufbewahrte. 275
Er lehnte sich gegen eine Wand, an der sich äußerlich nichts Auffälliges feststellen ließ. »Ha!«, knurrte Mirt einen oder zwei Momente später. Ein einzelner Mondlichtstrahl traf den Schlüssel, als der alte Wolf ihn losließ und dieser am Schnurende pendelte. »Kommt schon, Mädchen!«, raunzte er seine Begleiterin an. »Hinein mit Euch!« Ohne ihre Anwort abzuwarten, trat er einen Speer beiseite, mit dem der nächste Wächter nach ihm stechen wollte. »Rasch, wir haben keine Zeit, uns mit diesen Trotteln hier aufzuhalten!« Er packte den Speerschaft, ruckte heftig daran und brachte den Wächter so dazu, mit der Stirn gegen die nächste Wand zu prallen. Asper duckte sich schon, um durch den Eingang zu verschwinden. Mirts Finger wanderten kurz über ihre Schulter, als er ihr durch die Öffnung folgte. Dann trat er die Hand des benommenen Soldaten beiseite, weil sie so unglücklich dalag, dass sich die Tür nicht mehr schließen ließ. »Vielleicht später mehr«, erklärte er seinem Gegenüber mit breitem Grinsen. Der Soldat konnte ihn nur hilflos anstarren, als der Geldverleiher ihm seine verfärbten Zähne zeigte und dann die Tür schloss. »Wo sind wir hier?«, fragte Asper leise, aber umso dringender. Mirt grinste, als er antwortete: »In Schyrrhrs Haus. Und jetzt bleibt Ihr hier stehen, Mädchen, und rührt Euch nicht vom Fleck, während ich eine Lampe suchen gehe.« 276
Der alte Wolf nahm ihr sein Schwert so geschickt aus der Hand, als könne er auch in dieser Finsternis ausgezeichnet sehen. »Dazu besteht kein Anlass«, ließ sich eine kühle Stimme aus der Dunkelheit vernehmen, »ich habe schon etwas vorbereitet.« Nun öffnete sich eine weitere Tür, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Neben einer Laterne in vielleicht vier Schritten Entfernung zeigte sich eine unter einer Kapuze verborgene Gestalt. »Seid Ihr das, Mirt?« »Ganz recht, Herrin.« Asper spürte, wie der Wolf seinen Mund zu einem breiten Lächeln verzog. »Wie ich sehe, arbeitet Euer Überwachungszauber immer noch vorzüglich.« Vor ihnen stand eine große und wunderschöne Dame – in Hausschuhen und einem smaragdgrünen Nachtgewand, in welches goldene Fäden eingewirkt waren. Die Frau hielt die Laterne in der einen und so etwas wie einen Zauberstab in der anderen Hand. Asper erkannte, dass das Nachtgewand hervorragend auf die Farbe ihrer Augen abgestimmt war. Die Edle, denn nur um eine solche konnte es sich handeln, lächelte heiter. »Und Ihr habt Euch wieder Eurer Schelmereien besonnen, alter Wolf?« Mirt schob sich ohne jedes falsche Schamgefühl den Schlüssel in den Gemächteschutz zurück. »Mädchen, ich möchte Euch jetzt eine Dame vorstellen. Vor Euch steht die Herrin Schyrrhr. Ihr habt Euch sicher schon das eine oder andere Mal bei Hof gesehen, wenn auch noch nie aus nächster 277
Nähe. Deswegen hoffe ich inständig, dass wir auf alle Etikette verzichten können. Schyrrhr, wir haben es furchtbar eilig und müssen dringend in den Palast.« Die Edle zog beide Augenbrauen hoch. »Folgt mir«, meinte sie dann nur und führte die beiden durch etliche Türen und endlich eine enge Wendeltreppe hinab. »Wenn Ihr es nicht wärt, Mirt«, sprach sie leise, als die kleine Gruppe in einen feuchten und kalten Gang gelangte, »würde ich Euch niemals hier durchlassen. Innerhalb des Palastes steht es nämlich nicht unbedingt zum Besten.« »Außerhalb auch nicht«, brummte Mirt und starrte auf ihr bronzefarbenes Haar, als könne er kraft seines Willens die Gedanken der Schönen bloßlegen. »Die Wachstreife ist uns bis hierher gefolgt.« Schyrrhr kicherte hell. »Auf eines kann man sich bei Euch immer verlassen, alter Wolf: Wenn Ihr erscheint, wird es nie langweilig. Verzeiht, Asper, ich wollte Euch nicht zu nahe treten.« »Das habe ich auch keineswegs so verstanden, Herrin«, erwiderte die junge Begleiterin Mirts. Die Treppe endete in einem mit Steinplatten ausgelegten Tunnel. Schyrrhr nahm eine Laterne aus einem Regal, in welchem sich ein Dutzend oder mehr davon befanden, und drückte deren Griff Asper in die Hand. Mit einem bezeichnenden Seitenblick auf Mirt erklärte sie: »Er vergisst sie nämlich immer irgendwo.« Sie lächelte die junge Frau an: »Nun sputet Euch. Der Segen der Götter über Euch!« »Und auch über Euch, Herrin«, entgegnete Asper. 278
Schyrrhr winkte ihnen zum Abschied zu und ging dann den Weg zurück, welchen sie gekommen waren. »Ich werde die Soldaten in die Irre schicken«, versprach die Herrin den beiden von der Treppe aus. »Tamaeril Klingensemmer und der Zauberer Resengar haben heute Nacht ihr vorzeitiges Ende gefunden, meine Dame«, teilte Mirt ihr brummig mit. »Seid also bitte auf der Hut.« »Das bin ich doch immer.« Schyrrhr drehte sich auf der ersten Stufe um. Ihre Augen strahlten jetzt besonders grün. »Berichtet mir mehr darüber, sobald Ihr Gelegenheit dazu findet.« Die Edle kehrte den beiden den Rücken zu und war einen Moment später schon nicht mehr zu sehen. Mirt nickte und meinte zu seiner Begleiterin: »Sie ist ein braves Mädchen. Zweifellos verwöhnt sie heute Nacht wieder einen Gesandten oder einen ähnlich wichtigen Mann, der ihr, während er ihrem Wein und ihren Reizen erliegt, allerlei Dinge anvertraut, welche er eigentlich dringend für sich behalten sollte.« Asper sah ihn fragend an. »Ich nehme stark an, dass Ihr ebenfalls das eine oder andere Mal einen Krug Wein oder auch zwei bei ihr geleert habt – natürlich ohne irgendwelche Geheimnisse preiszugeben.« Mirt grinste. »Sie ist Piergeirons beste Spionin«, entgegnete er dann, »und sich für gewisse Dienste nicht zu vornehm, wenn Ihr versteht, was ich meine. Aber wenn Piergeiron noch einmal heiraten sollte, würde es mich nicht wundern, Schyrrhr vor den Priestern an seiner Seite zu sehen.« 279
Der Wolf grinste wieder und setzte sich in Bewegung, um den Tunnel zu durchschreiten. »Passt nun gut auf. Der Boden ist nicht gerade sehr eben.« Mirt schnaufte und verfiel in eine Art Dauerlauf. »So haltet doch die Laterne höher, Mädchen ... und betet zu Tymora, dass wir rechtzeitig anlangen!« JETZT HABE ICH ABER WIRKLICH LANGE GENUG GEWARTET! NICHT DAS KLEINSTE ANZEICHEN VON MAGIE! ZAUBERLEIN, IHR SOLLTET WIRKLICH ETWAS GROSSES FÜR MICH BEREITHALTEN! DENN BISLANG VERSCHWENDET IHR NUR MEINE ZEIT! Herr, habt Ihr denn heute noch andere Verpflichtungen, welche keinen Aufschub dulden? (grunzen und ein geistiger hieb) (schmerzen bei denen einem hören und sehen vergehen) (zähne gefletscht zu grimmiger Zufriedenheit) Torgent war ein ziemlich alter Mann, und da verwunderte es schon, dass man ihm die Wache über den Herrn anvertraute. Sein Schnurrbart hatte alles Grau verloren und leuchtete mittlerweile weiß, und seinen hängenden Schultern merkte man die Last der vielen Jahre an. Aber der Mann hielt sich immer noch aufrecht, trug stolz seinen Wappenrock, und niemand hatte ihn jemals auf einer Wache auch nur gähnen gesehen. Seine drei Untergebenen hätten nicht einmal zusammen die Anzahl seiner Jahre erreicht; dennoch blieb es Torgents alten Ohren vorbehalten, als Erste die 280
verdächtigen Geräusche zu hören: Das sanfte Kratzen von Ledersohlen auf den Steinfliesen unten im Tunnel. »Aufgemerkt, Burschen!«, fuhr er die drei Jungen an. »Da kommt jemand!« Die Soldaten nahmen ihre bereits gespannten Armbrüste auf. Der alte Anführer zog sein Schwert und hielt den Schild schützend vor sich. Dann stellte er sich so hinter das mit Dornen bewehrte und mit Eisen beschlagene Tor, dass er jeden gleich angehen konnte, welcher sich hindurchwagen sollte. Die große und mächtige Stadt Tiefwasser rechnete mit seinem Schutz, und er war sich dieser Verantwortung voll und ganz bewusst. »Bleibt stehen und erklärt Euch. Sprecht die Wahrheit, und lasst nichts aus!«, sandte er den althergebrachten Wach-Anruf in den Tunnel. Seine Stimme dröhnte durch den Gang, und aus dem vielfachen Widerhall schälten sich zwei Gestalten: die eine rundlich und schnaufend, die andere hingegen schlank und beweglich. Beide Neuankömmlinge hatten ihr Schwert gezogen. »Torgent, ich bin es, Mirt von Tiefwasser! Mit meiner Gefährtin Asper!«, rief der alte Wolf, als er der Wachstreife ansichtig wurde. Mit rasselndem Atem erreichten die beiden das Tor. »Wir müssen unbedingt sofort mit Piergeiron sprechen. Befehlt also Euren Burschen, die Armbrust zu senken und das Tor so hurtig zu öffnen, wie sie es nur gelernt haben!« 281
»Mirt! Seid mir willkommen, alter Wolf!«, lachte Torgent und legte Schwert und Schild ab. Das Tor knarrte und klirrte, als beide Gruppen es mit vereinten Kräften und von außen wie von innen hochhievten. »Redet Ihr mir nicht vom Alter, junger Spund«, brummte der ehemalige Hauptmann, als er unter den Dornen des Tors hindurchrutschte und dann Torgents Hand ergriff. »Wo hält sich Piergeiron denn zu dieser Stunde auf?« Der Soldat setzte sofort eine betroffene Miene auf, vergaß darüber aber nicht, der Dame auf die Füße zu helfen und sich vor ihr zu verbeugen. »Herrin Asper«, grüßte er sie, ehe er sich wieder besorgt an den Wolf wandte. »Der Fürst hält sich aller Wahrscheinlichkeit nach im inneren Ratszimmer auf. Das wird nämlich stark bewacht ... Ach, ich bin froh, dass Ihr gekommen seid. In der letzten Zeit ist der gnädige Herr nämlich kaum noch er selbst.« Die anderen Soldaten murmelten zustimmend, und dann ließ man gemeinsam das Tor wieder herab. »Den ganzen Tag behält der Fürst seine Rüstung an und lässt sogar die meiste Zeit das Visier heruntergeklappt. Unser Herr hat immer schon mit Worten gegeizt, aber seit einigen Zehntagen redet er kaum noch. Wir bekommen von ihm nur ›ja‹ oder ›nein‹ und ›der Nächste‹ beziehungsweise ›genug‹ zu hören. Ach, Mirt, es wäre mir wirklich lieb, wenn Ihr uns wissen lassen würdet, was ihm fehlt.« Der Wolf nickte mit äußerst grimmiger Miene. 282
Mit einem leisen Schaudern erkannte Asper, dass der Herr wieder wie damals aussah, so wie sie ihn im Gedächtnis hatte: Als tapferer Hauptmann im Sattel, wie er vom Verrat eines tethyrianischen Edlen erfuhr und finstere Rache schwor. Die Klinge in Mirts Hand zuckte leicht, und einer der Soldaten griff bei diesem Anblick ganz aus Gewohnheit zu seinem eigenen Schwert. »Sobald ich etwas erfahren habe«, versprach der Wolf, »berichte ich Euch darüber. Seid bedankt, Torgent, ich kenne den Weg.« Damit setzte sich der alte Hauptmann wieder in Bewegung und stampfte fort. Asper hielt sich wie stets an seiner Seite, lief aber deutlich leichtfüßiger. Torgent nahm wieder seinen Standort am Tor ein und lächelte grimmig. »Bei meinem Schwert, Burschen, jetzt werden wir etwas zu sehen bekommen. Wir bekommen die Lösung für dieses ganze Rätsel! Der Mann, welchen wir gerade erlebt haben, pflegt dort weiterzumachen, wo andere aufgeben. Hier wird es sicher für eine Weile drunter und drüber gehen, oder ich müsste mich schon ganz gewaltig irren!« Torgent lehnte sich ans Tor und pfiff ein fröhliches altes Marschlied. Die jüngeren Soldaten sahen einander an, zuckten die Achseln und grinsten sich schließlich eins. Immer wieder sandte einer von ihnen den Verschwundenen einen verstohlenen Blick hinterher. Keiner der drei Burschen hatte bislang eine Bemerkung über die große Schönheit der Frau an der Seite des 283
Wolfs fallen gelassen. Und das würden sie auf absehbare Zeit auch nicht tun. Denn dazu wirkte der alte Torgent einfach ein wenig zu aufgebracht. ZAUBERKÜNSTE, ELMINSTER! WANN BEKOMMEN WIR ENDLICH ETWAS MAGIE ZU SEHEN? Bald, werter Herr Teufel, bald schon. NICHT SCHON WIEDER DIESE ALTE LEIER! ICH HABE EURE AUSREDE BEREITS SO OFT GEHÖRT, DASS ICH SIE SINGEN KANN! Wenn Euch so an Musik und Gesang gelegen ist, lieber Nergal, wollt Ihr doch sicher auch die ganze Ballade hören, nicht wahr? (empörtes schnauben) FÜHRT IHR MIR NUR EURE ERINNERUNGEN VOR! AUF EURE BALLADEN MAG ICH GERN VERZICHTEN! Sie nahmen zunächst den ersten und dann den zweiten Geheimweg. So konnten sie auch eine Begegnung mit anderen Wächtern oder Bediensteten vermeiden. An einigen Stellen ließ es sich aber nicht vermeiden, sich den Soldaten zu zeigen. Doch Mirt war hier überall bestens bekannt. Er kannte alle Parolen, und spätestens sein Siegelring mit dem Wappen von Tiefwasser öffnete den beiden alle Türen auf dem Weg zur Inneren Ratskammer. Dort angekommen erwarteten sie Soldaten mit gezückten Waffen. Diese wichen keinen Fingerbreit vor den beiden zur Seite, während ihr Offizier hineinging, um die Neuankömmlinge anzukündigen. 284
Der Mann brauchte sehr lange, ehe er zurückkehrte. Als der Offizier dann wieder vor ihnen stand, sprach er unangenehm kühl. »Seine Durchlaucht, Fürst Piergeiron, wird Euch beide empfangen. Auch wenn Ihr etwas ungelegen kommt. Nun legt Eure Waffen ab und folgt mir.« Mirt zuckte die Achseln und gürtete sein Schwert ab. Er trug einige Dolche am Leib. Asper reichte ihre Klinge dem nächsten Wächter mit dem Griff voran. »Was für ein herzlicher Empfang«, brummte der alte Wolf und begegnete dem stahlkalten Blick des Offiziers mit der Glut seines Ärgers. Wenn Mirt kein Fürst von Tiefwasser gewesen wäre, hätte er kaum eine Möglichkeit besessen, überhaupt zu dem Ersten Fürsten vorzudringen. Wahrscheinlich wussten diese Soldaten hier nicht so genau, wen sie eigentlich vor sich hatten. Und wären seine Freunde keine Fürsten, lägen sie jetzt nicht in ihrem Blut. Und die Warnung an Piergeiron wäre auch nicht notwendig. Seine Laune war deshalb so tief wie der Kellergang gefallen, durch welchen sie eben gekommen waren, als er in das Halbdunkel des Inneren Ratsraums trat. Vor ihm saß Piergeiron in voller Rüstung unter der einzigen Lampe in der Kammer. »Ihr dürft Euch zurückziehen!«, entließ Mirt den Hauptmann kurz und knapp. Aber der Führer der Wache beachtete ihn nicht und dachte vermutlich: Was bildet sich dieser aufgedunsene Geldverleiher eigentlich ein? Hält er sich am Ende für 285
den Fürsten aller Fürsten von Tiefwasser? Piergeiron winkte den Offizier nun wortlos fort, und Mirt gab Asper ein Zeichen, den Ersten Fürsten nicht aus den Augen zu lassen. Kaum hatte der Wachführer die Kammer verlassen, geriet der alte Wolf in Bewegung. Ein Messer erschien von irgendwoher in seiner Hand und flog schon quer durch den Raum in die Glockenschnur, welche sich gerade vier Zoll von der Hand des Piergeiron entfernt befand. Asper keuchte. Der Wolf stürmte aber schon auf den Ersten Fürsten zu, packte dessen Visier mit beiden Händen und riss es hoch und krachte mit dem Ersten Fürsten zu Boden. »Hab ich mir’s doch gedacht!«, knurrte er, als er in entsetzte braune Augen blickte. »Wer seid Ihr, und was habt Ihr mit Piergeiron angerichtet?« Ohne die Antwort abzuwarten, rief er seiner Begleiterin zu: »Haltet seine Hand fest, Mädchen, und über seinen Kopf. Passt auf, dass er kein Messer zückt!« Aber der Fremde unter ihm wehrte sich nur schwach. Einen Moment später hatte Mirt ihm den Helm losgeschraubt und riss ihn dann mit derbem Ruck und wenig Rücksicht vom Kopf des Schurken. Darunter kam das Gesicht eines Mädchens zum Vorschein, das noch nicht einmal Aspers Alter erreicht hatte. »Also da brat mir doch einer einen Storch! Ihr seid Aleena, stimmt’s?«, knurrte der Wolf, hielt schon einen neuen Dolch in der Hand und drückte dessen Spitze an 286
den Hals der jungen Frau. »J-ja, die bin ich«, antwortete das Mädchen. Sie hatte alle Farbe aus dem Gesicht verloren, und ihr Unterkiefer zitterte. Dann reckte sie plötzlich das Kinn und starrte den Mann grimmig an: »Seid Ihr der – habt Ihr meinen Vater erschlagen?« Ihre Stimme klang tief und mächtig wie die eines Hünen in den mittleren Jahren; eben ganz wie die von Piergeiron. Den beiden klang es eigenartig in den Ohren, aus einem so zarten Körper eine solche Stimme zu vernehmen. Mirt verdrehte die Augen, stieg von dem Mädchen und winkte Asper zu, sie ebenfalls loszulassen. »Nein, natürlich nicht«, brummte der Wolf. »Aber was ist denn geschehen? Rasch, Mädchen, berichtet es mir! In dieser Nacht sind schon mehrere Fürsten von Tiefwasser getötet worden! Was ist mit Eurem Vater, und warum tragt Ihr seine Rüstung? Piergeiron würde nie zustimmen, Euch in dieselbe zu stecken, um Euch als Köder für die Klinge einzusetzen, welche ihn bereits einmal verfehlt hat!« Aleena nickte traurig. »Der Herr Vater befindet sich leider in einem Zustand, in welchem er weder bei etwas zustimmen noch es verbieten kann. Er liegt in tiefem Schlaf im Schwarzstab-Turm. Vor drei Nächten wäre es beinahe jemandem gelungen, ihn zu meucheln!« Mirt lief zornesrot an. »Warum hat uns niemand davon in Kenntnis gesetzt? Wie geht es ihm?« Das Mädchen zuckte die Achseln, und Tränen traten 287
ihr in die Augen. »Er lebt. Laeral hat ihm sieben kräftige Heiltränke eingeflößt. Dabei hat mein Vater doch früher schon einen Stich oder einen Hieb abbekommen, und das mehr als einmal. Er ist nur ... bei den Göttern, ach, Mirt!« Sie warf sich dem Wolf an die Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf. Mirt klopfte ihr unbeholfen auf den Rücken und wandte sich Hilfe suchend an seine Begleiterin. Asper besorgte die erstbeste Weinkaraffe, welche ihr in die Augen fiel, und füllte ein Glas mit der darin enthaltenen Flüssigkeit. Mirt bedachte sie mit einem dankbaren Blick und hielt Aleena dann das Glas an die Lippen. Aber die schüttelte nur heftig den Kopf. »Nein, nein, davon hatte ich heute Abend schon genug«, erklärte sie, ohne dass der Tränenstrom nachließ. Der Wolf zuckte die Achseln und labte sich selbst an dem Trunk. »Ich hatte solche Angst«, schluchzte die Halbwüchsige. »Da habe ich hier gesessen und darauf gewartet, dass die Mörder zurückkehren würden, um ihr Werk zu vollenden ... Dabei wage ich es nicht einmal, dieses Schwert hier in die Hand zu nehmen, denn es ist Vaters heilige Klinge. Davon abgesehen bekomme ich sie nicht einmal gehoben ... kein Gedanke daran, sie so zu führen, wie es die tapferen Krieger vermögen ...« Asper schob Mirt behutsam mit einer Schulter fort und hockte sich dann neben das Mädchen, um sie in 288
die Arme zu nehmen. Auch wenn die Rüstung sich recht kalt und hart anfühlte. Aleena blinzelte die junge Frau an, um sie besser erkennen zu können. »Verzeiht, Herrin«, sagte sie zerknirscht, »aber es ist doch nicht recht, vor Fremden zu weinen. Ich bin Aleena, die Tochter des Piergeiron. Darf ich auch Euren Namen erfahren?« Mirts Begleiterin lächelte sie aufmunternd an. »Man nennt mich Asper, und der Wolf ist mein Mann. Wir sind gekommen, um Euren Vater zu warnen. Denn heute Nacht sind mindestens zwei der Fürsten von Tiefwasser ermordet worden. Die Herrin Tamaeril Klingensemmer ist die eine von beiden. Sie konnte uns aber noch eine Warnung zukommen lassen ... des Inhalts, dass ein maskierter Mann sie gemeuchelt hat. Auf irgendeine Weise muss es ihm möglich sein, an Abwehrzaubern vorbeizukommen. Einige Zeit vorher ist der Zauberer Resengar in seinem eigenen Arbeitszimmer umgebracht worden ... Wisst Ihr vielleicht von weiteren Fällen?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich weiß doch noch nicht einmal, wer zu den Fürsten der Stadt gehört und wer nicht. Laeral sagte mir nur, dass ich Mirt vertrauen könne, ehe sie mich hierher schickte.« Der alte Wolf hielt die bereits halb geleerte Karaffe in der Hand und starrte die Kleine fassungslos an. »Laeral hat Euch hierher geschickt? Was ist das denn für eine Narretei?« Aleena reckte ihm wieder das Kinn entgegen. »Herr«, 289
entgegnete sie dann leise, aber bestimmt, »ich erfülle damit meine Pflicht gegenüber Tiefwasser so, wie Ihr die Eure erfüllt. Der Thron durfte nicht verwaist dastehen, sonst hätten die Mörder oder ihre Hintermänner gleich geschlossen, dass ihre schändliche Tat von Erfolg gekrönt worden sei ... Und wie wäre es dann der Stadt der Pracht ergangen? Heere wären herangezogen gekommen, ganze Flotten hätten unseren Hafen heimgesucht, und wir würden genau das Gemetzel erleben, welches wir bislang vermeiden konnten!« »Ihr habt gerade und auch eben schon von Mördern gesprochen«, bemerkte Mirt mit gerunzelter Stirn. Das, was Aleena sonst noch von sich gegeben hatte, schien ihn wenig zu scheren. »Wie viele Männer haben denn Euren Vater angegriffen?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das weiß hier niemand so ganz genau. Der Herr Vater kam auf jeden Fall mit einem Gedankenbeförderungsring, welchen Khelben ihm vor langer Zeit gegeben hat, zu uns in die Burg Schwarzstab. Deren Besitzer Schwarzstab ist schon seit neunzehn Tagen unterwegs, die Ebenen abzuschreiten, um dort das eine oder andere zu erledigen. Worum es sich dabei handelt, entzieht sich ebenfalls meiner Kenntnis, weil sich niemand die Mühe gemacht hat, mich darüber aufzuklären. Nun denn, Laeral und ich haben meinen Vater versorgt. Als wir alles getan hatten, was wir für ihn tun konnten, forderte Laeral mich auf, die Rüstung des 290
Fürsten anzulegen und mich auf den Thron zu setzen; denn ich besäße die rechte Körpergröße. Ich habe mich einverstanden erklärt, und dann haben wir uns daran gemacht, den Panzer zu reinigen. Zum Schluss hat Laeral mich noch mit einem Bann bedacht.« Ein leises Lächeln huschte kurz über ihre Lippen. »Wenn ich aus der Rüstung spreche, höre ich mich ganz wie mein Vater an. Man hat mir gesagt, dass das für die Eingeweihten recht komisch sein muss.« Mirt grinste. »Wenn Ihr das Visier geschlossen habt, wird es sich jeder zweimal überlegen, ehe er Euch zu nahe kommt. Aber erzählt mir mehr. Wie soll es weitergehen?« Aleena breitete die gepanzerten Arme aus. »Woher soll ich das wissen? Ich bekomme nachts kein Auge zu, weil ich mich so um Vater sorge. Dann geht es mir furchtbar nahe, wenn ich entscheiden soll, wer aufgeknüpft wird, wer in einem Fall schuldig gesprochen werden muss oder wer wem wie viel an Entschädigung zu zahlen hat ... Ach, ich weiß nicht, wie mein Vater oder wie überhaupt ein Fürst so etwas Tag für Tag zu leisten vermag ...« Sie verzog die hübsche Nase. »Außerdem stinke ich in diesem Eisenzeug hier wie ein Schwein. Nicht mehr lange, dann werden alle, die Vater besser kennen, merken, dass an diesem strengen Geruch etwas nicht stimmt!« Mirt und Asper sahen sich an und grinsten. »Ja, nun 291
da Ihr den Helm nicht mehr auf dem Kopf habt, bemerken wir ihn auch«, sagte der Fürst und nickte dann den beiden Mädchen zu. »Dann sollten wir uns besser auf den Weg zur Burg Schwarzstab machen und mit Laeral reden«, meinte seine Begleiterin Asper. »Denn hier kommen wir jetzt nicht so recht weiter.« Aleena lächelte ein wenig verlegen: »Wie seid Ihr mir denn so rasch auf die Schliche gekommen?« Der Geldverleiher grinste breit: »Nun, mir fiel gleich die Art auf, wie Ihr dagesessen habt. Und wie Ihr den Wachhauptmann entlassen habt. Dann wäre Eurem Vater gleich aufgefallen, dass ich zur Begrüßung keinen lockeren Spruch von mir gegeben habe. Und vor allem dank dem, was Torgent uns mitgeteilt hat.« »Wer ist denn das?« »Ein Soldat aus der Palastwache. Heute Nacht hat er an Schyrrhrs Tunneltor Dienst. Wenn Ihr jemals einen Freund oder Beschützer brauchen solltet, Herrin, findet Ihr keinen besseren als ihn. Sucht nur nach einem älteren Mann mit weißem Schnurrbart ... Torgent meinte also, der Erste Fürst würde in der letzten Zeit nur noch wenig reden und zeige sich nur noch in geschlossener Rüstung. Für ihn stand fest, dass hier etwas nicht stimmt. Er hat es zwar nicht ausgesprochen, mir aber recht deutlich zu verstehen gegeben, dass seiner Meinung nach ein anderer in Piergeirons Rüstung stecke ... Das Volk ist nicht so dümmlich, mein Fräulein, und die Menschen lassen sich nicht alles vormachen!« 292
Er zuckte die Achseln. »Na ja, wenn ich mich geirrt hätte, hätte ich auf die zwei oder drei Gefallen zurückgreifen müssen, welche Euer alter Herr mir noch schuldet. Und seid versichert, junge Dame, es gehört nicht zu meinen Angewohnheiten, mich Frauen auf solche Weise zu nähern.« »Das ist mir neu«, bemerkte Asper mit hochgezogenen Brauen. »Aber im Ernst, verläuft nicht ein Tunnel von hier zur Schwarzstab-Burg, durch welchen wir rascher dorthin gelangen können?« »Aber natürlich«, antworteten Mirt und Aleena wie aus einem Munde und kicherten gemeinsam darüber. »Folgt mir«, forderte der dicke, schnaufende Geldverleiher seine Begleiterin auf. »Hier geht’s lang.« Mirt marschierte schon in Richtung einer bestimmten Säule los. Piergeirons Tochter runzelte die Stirn. »Dort, meint Ihr? Ich dachte immer, der Tunneleingang befinde sich –« »Vertraut mir nur, junge Herrin«, wandte der alte Hauptmann sich grinsend an sie. »In diesem Palast hier finden sich solche und solche Wege. Ich wette, Ihr würdet gern die Gelegenheit wahrnehmen, dem alten Sauertopf da draußen vor der Tür einen Schrecken einzujagen, oder?« Er grinste noch breiter. »Wenn der Mann feststellen muss, dass Ihr einfach so verschwunden seid, setzt bestimmt für einen Moment sein Herz aus.« Aleena schüttelte den Kopf, folgte dem Geldverleiher aber. »Vater hat mich einmal vor Euch gewarnt, aber 293
ich hatte mir niemals ausgemalt –« »Das geht allen so, die mich noch nie erlebt haben«, entgegnete Mirt leise, während er einzelne Wandstellen abklopfte und sich daraufhin die Öffnung zu einem Geheimgang zeigte. »Zieht den Kopf ein, meine Damen.« Einer hungrigen Maus, welche in einer Ecke der Kammer lauerte, blieben nach dem Schließen der Geheimtür nur drei Atemzüge – dann erfüllte sich die Luft mit einem Flackern und Wirbeln. Goldfarbene Flammen rasten um das Gebilde herum und aus demselben heraus. Und aus dem Ganzen sprang eine Gestalt mit verhülltem Gesicht und einem gezückten Schwert in der Hand. Sie schaute sich in dem halb dunklen und unerwartet leeren Raum um und zuckte die Achseln. Dann kehrte der Maskierte in den Flammenkranz zurück. Feuer und Leuchten vergingen, bis nur noch Finsternis in der Thronkammer herrschte. Die Maus wagte sich aus ihrer Ecke, weil der Fremde ja durchaus etwas Essbares zurückgelassen haben konnte. Aber das war leider nicht der Fall. Langsam und betrübt sagte sich der kleine Nager, dass nichts mehr so geblieben war wie früher. Aber offenbar ging es auf der Welt nun einmal so zu ... BEIM FÜRSTEN DER FINSTERNIS, ELMINSTER, wo BLEIBT DIE TEUFELVERDAMMTE MAGIE? (schweigen nur der gedankenwurm bohrt sich weiter durch schwarze gedächtnisgewölbe)
294
»Hier weiter«, verkündete Mirt schwer atmend und stapfte vorgebeugt auf die angegebene Stelle zu. »Dieser Tunnel öffnet sich nämlich zum –« »Ganz recht und fein beobachtet. Umso mehr Gefahren für jemanden, welcher sich Fürst von Tiefwasser nennen darf. Aber leider ist Faerun nun einmal kein sittsames Lyzeum für höhere Töchter.« Die Stimme ertönte völlig unerwartet und wirkte mit ihrer Fröhlichkeit erst recht befremdlich. Dazu klang sie auch noch ziemlich nahe an Mirts Ohr. Aber der alte Wolf war schneller, als man ihm nach seinem Äußeren zutrauen wollte. Er hielt schon das Schwert in der Hand, drehte sich in die richtige Richtung und duckte sich mit einem grimmigen Knurren. Der Attentäter fluchte lästerlich. Sein feiner Stahl sauste heran und zerhackte nur Luft. Mirts kräftigere Klinge folgte diesem Stahl auf dessen Rückweg und traf auf Leder und Fleisch. Der Gegner stöhnte vernehmlich. Der Wolf zog seine Waffe zurück, so rasch, dass sie einen Blutfaden hinter sich herzog, und schlug dann den Degen seines Gegners nach unten. Beide rangen jetzt eine Weile miteinander. Während der Gegner versuchte, seine Klinge wieder hochzubringen, mühte Mirt sich damit ab, sie weiterhin unten zu halten. Schließlich holte der Geldverleiher mit der freien Hand aus – welche gleichwohl die Kerze hielt – und schlug in die Richtung, in der er die Wunde des Attentäters vermutete. 295
Sein Gegner stöhnte noch tiefer und prallte zurück, womit Mirt Gelegenheit erhielt, sich aus dem Gang in den dahinter beginnenden Raum vorzuwagen. Asper, die sich hinter Aleena befand, rief seinen Namen. Halb ängstlich und halb ärgerlich. Der Wolf knurrte zur Antwort: »Ich lebe noch und tanze zur Abwechslung einmal mit einem Mann. Zumindest vermute ich das, denn er trägt eine Maske.« »Aber ich bin doch an der Reihe!«, beschwerte sich seine Begleiterin. »Ihr habt doch den letzten schurkischen Mordbuben erschlagen, welcher es auf uns abgesehen hatte. Oder solltet Ihr das bereits vergessen haben?« »Unsinn«, gab der Geldverleiher zurück und schwang sein Schwert mit aller Kraft, um einen Hieb seines Gegners zu parieren. Seine breitere Klinge traf die dünnere an der rechten Stelle und versetzte ihr einen solchen Schlag, dass sie gegen die Steinwand prallte und der Maskierte das bis hinauf in den Oberarm spüren musste. Sein Gegner, der von Kopf bis Fuß eingehüllt war, schwang seinen Degen, als wolle er einem Feuer Luft zufächeln, und zog sich dann stolpernd in den Gang zurück, aus welchem heraus er angegriffen hatte. Kaum hatte der Maskierte den erreicht, drehte er sich um und gab tüchtig Fersengeld. Mirt stampfte ihm hinterher und dankte den Göttern im Stillen dafür, dass dieser Gang hier nicht so niedrig war. Er konnte aufrecht laufen. »Wer verbirgt sich hinter der Maske?«, rief Asper, die 296
ihrem Mann schon hinterhereilte. Aleena klapperte und klirrte ein Stück hinter ihnen. In der viel zu großen Rüstung vermochte sie sich nur unbeholfen zu bewegen. »Das habe ich noch nicht herausfinden können!«, gab Mirt zurück und watschelte die ersten Stufen einer kurzen Treppe hinunter, deren unteres Ende sein verwundeter Gegner bereits erreicht hatte. »Aber er weiß offenbar, wer ich bin, welche Ämter ich bekleide und wie ich zu finden bin ...« Der Wolf wandte sich an den Attentäter und rief ihm hinterher: »He da, elender Schurke, nennt Euren Namen! Eine Dame wünscht, ihn zu erfahren!« Schnaufend krabbelte der Maskierte auf allen vieren durch eine Kammer und sprang durch einen Steinbogen mitten in einen Abwasserkanal. Mirt setzte ihm nach, ohne einen Moment zu zögern. Doch da tauchte ein Stück voraus ein grelles Licht auf. Der Wolf bekam gerade noch mit, wie sein zur Gänze in Leder gekleideter Freund durch einen Ring aus kalten weißen Flammen verschwand. Auch als von dem Attentäter nichts mehr zu sehen war, drehte sich das Feuerrad weiter. Das Gebilde befand sich kaum mehr als eine Handbreit von der Wand entfernt. Bei den Göttern, schon wieder ein Tor! Mirt bremste so gut es ging ab, beachtete die vorwitzige Ratte nicht, welche herantrippelte, um zu überprüfen, ob die Stiefel des Mannes ein geeignetes Abendessen abgeben würden. Dann sah er sich in der Kammer 297
um, in welcher er jetzt gelandet war. Rohre ergossen ihren stinkenden Inhalt auf den Boden. Rinnen trugen diesen an einer Seite des Raums davon. Die gewölbte Decke zeigte eine spinnennetzartige Ansammlung von Sprüngen und Rissen. Allem Anschein nach gab es nur eine Möglichkeit, diesen Raum zu verlassen – und der führte durch den kalten weißen Flammenring. Jetzt fand der Geldverleiher Zeit für die Ratte, welche bereits an seinem Stiefel Probe kostete. Mirt warf noch einen Blick auf das Tor und ließ dann sein Schwert hinabsausen. Die Klinge sauste einen Moment später wieder hoch, als nämlich Asper in die Kloake drang. Sie wich dem Stahl mit knapper Not aus, auch wenn der Wolf ihn sofort wegriss. Aber damit gelangte die junge Frau unmittelbar vor das kalt brennende Tor. »Ihr hättet aber nicht auf mich warten müssen«, grinste sie ihren Mann an und nickte in Richtung Tor. »Da sich hier nur ein einziger Ausweg bietet, hätten wir uns kaum verlieren können, oder?« Aber der Geldverleiher hielt das Schwert so vor die junge Frau, dass diese nicht weiterkonnte. Gleichzeitig legte er warnend einen Finger auf den Mund. Dann spießte Mirt mit der Schwertspitze die Ratte auf und schleuderte sie in den Feuerring. Ein Blitz entlud sich, etwas brutzelte, und ein Geruch erfüllte die Kammer, welcher Aleena, welche jetzt erst klappernd und scheppernd die Kloake erreichte, würgen und zurückweichen ließ. 298
Dann hob die Tochter des Ersten Fürsten beide Hände, um unbeholfen das grelle Licht aus dem Flammenring abzuwehren. Aber mit dem Blitz schien er seine Kraft aufgebraucht zu haben. Der Feuerkranz schrumpfte zusammen, leuchtete noch einmal kurz heller und war kurz danach vergangen. Zurückblieben nur eine kleine Qualmwolke und der Gestank von einer gebratenen Kanalratte. »Das hätte uns auch geblüht!«, brachte Aleena zwischen zwei Würgeanfällen hervor. Asper aber schüttelte nur den Kopf. Wenn die Angst in sie gefahren sein sollte, ließ sie sich nichts davon anmerken. Nur Ärger zeigte sich auf ihrer Miene, als sie sich in der Kammer umschaute. »Der Kerl könnte im Abflusskanal nebenan stecken«, schimpfte Mirts Frau, »oder in der tiefsten Grube der Hölle. Wir werden es wohl nie erfahren ...« WIE
WITZIG,
ELMINSTER,
ICH LACHE SPÄTER DARÜBER!
UND
JETZT MAGIE, BITTE!
Irgendwo in Tiefwasser fiel ein Arzneifläschchen klappernd auf den Tisch. Dem folgte ein zufriedener Seufzer. Noch einen Moment später hob eine behandschuhte Hand eine silberne Harfnernadel auf. Grinsend bewegte der Maskierte die Finger, und Flammen entstanden aus dem Nichts, um sich im Kreis zu drehen. Der Ledergekleidete beugte sich in den Feuerring und war schon verschwunden.
299
GUT,
DAS WAR
MAGIE,
UND DIESE
ERINNERUNG
HAT
EUCH
EBENSO MYSTRA EINGEGEBEN, ABER ICH HABE IMMER NOCH NICHT DAS BEKOMMEN, WAS ICH ERSTREBE! LANGSAM AN, WIRKLICH ALBERN ZU WERDEN!
DAS GANZE FÄNGT NUN, ZAUBERLEIN,
KOMMT ENDLICH ZUR SACHE!
Die Geschichte nähert sich ihrem Höhepunkt, mein finsterer Fürst ... (bunte bilder wirbeln herbei) Die Stunde vor der Morgendämmerung wurde für Durnan immer schwieriger, je mehr Jahre er zählte. Bibbernd stand der Wirt in der Kälte da und zog sich für einen neuen langen, langen Tag an. Das »Gähnende Portal« stellte sein Heim und den Mittelpunkt seines Lebens dar. Er liebte es wirklich von ganzem Herzen, aber zu gewissen Zeiten – vor allem in diesen frühesten Morgenstunden – wünschte er sich weit, weit fort von hier. Zum Beispiel an einen paradiesischen Ort, an dem es verboten war, dass Gastwirte vor der Mittagsstunde aufstehen mussten. Also erst dann, wenn die schmerzenden alten Füße und Schienbeine von der kräftigen, freundlichen Sonne schön aufgewärmt worden waren ... Wenn ein anderer schon längst die Feuer in den Kochstellen entzündet hatte ... Wenn bereits eine leckere Mahlzeit auf ihn wartete ... Wenn ... Der hohe und schrille Schrei ließ Durnan fast wieder aus seiner Hose springen. Das war Tamsil gewesen, aus dem Schankraum un300
ten im Erdgeschoss. Der Wirt stieß die Kleidungsstücke, welche er noch nicht angelegt hatte, mit einem Fuß aus dem Weg, hob fluchend sein Schwert vom Boden auf, schwang sich nach draußen, stieß sich am Türrahmen und tauchte in das Dämmerdunkel ein. Während seines Sturmlaufs die Treppe hinunter gelang es ihm, sowohl die Schwertscheide mit beiden Händen zu schütteln, bis der Gurt abgefallen war, wie auch die ganze Zeit über wie am Spieß zu brüllen – um den Unhold abzuschrecken, welcher seine Tochter so hatte schreien lassen. Als er schlitternd und auf nackten Sohlen die Kurve vom Flur in den Schankraum nahm und Schwert in der einen und Dolch in der anderen Hand schwang, musste er verwirrt feststellen, dass sich hier unten keine Feinde tummelten, welche es zu verjagen galt. Stattdessen hoben Tamsil und ihre Mutter den Kopf und starrten den Wirt mit großen Augen und furchtsamer Miene an. Seine Frau hielt eine doppelläufige Armbrust in den Händen, deren Sehnen immer noch summten. Durnan schloss daraus messerscharf, dass beide Bolzen erst vor kurzem abgefeuert worden waren. Aber kein Schurke lag durchbohrt und in seinem Blut auf dem Boden. Dafür bot sich den Augen des nur mit einer Hose bekleideten Wirts der Anblick von reichlich zerschmettertem Steingut und dazwischen Blut. »Fehlt Euch auch nichts?«, fragte er seine beiden Lie301
ben ebenso streng wie besorgt. »Aber wo steckt denn der«, Durnan deutete auf die Bescherung am Boden, »welcher das hier verursacht hat?« Mhaere lächelte unsicher. »Wieder weg. Ein maskierter Mann erschien ... mit einem Schwert in der Hand ... und ...« Sie atmete vernehmlich und zitternd ein, und das verriet dem Wirt, dass seine Frau längst nicht so ruhig war, wie sie sich den Anschein zu verleihen bemühte. Aber jetzt atmete Mhaere dreimal tief durch und sprach dann so gefasst weiter, als rede sie über das Wetter. Na ja, fast ... »Er war ganz allein. Und vollkommen in Leder gekleidet. Und ich habe ihn noch nie gesehen. Ein großes Ei aus Flammen entstand einfach in der Luft. In der Form eines Rieseneis. So wie bei einem Spiegel, wie ihn die vornehmen Damen benutzen. Und die Flammen waren weiß und ganz kalt. So gar nicht heiß, nicht einmal warm ... Naja, der Fremde stieg aus diesem Feuerei. Und griff sofort Tamsil an. Aber das kluge Ding hat gerade Wasser getragen. Die Scherben von dem Krug könnt Ihr noch auf dem Boden erkennen. Und das hat sie ihm ins Gesicht geschüttet, die Gute!« Durnan betrachtete das Schlachtfeld und nickte. Nach einem Moment meinte er: »Und dann hast du gewitzt hinter die Theke gegriffen, wo die gespannte Armbrust liegt, und beide Bolzen auf den Feuermann abgefeuert.« »Und ihn in die Brust und in die Schulter getroffen!«, 302
triumphierte Mhaere. »Da ist der Halunke dann gleich in seinen Feuerring zurückgesprungen. Und der ist verpufft. Einfach so! Und mit ihm war auch er verschwunden!« Durnan stapfte nun wie ein eingesperrter Panter in der Schankstube auf und ab, bis er auf etwas trat, das auf dem Boden lag. Er bückte sich, hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn näher. »Der Fremde scheint etwas verloren zu haben, als Ihr ihn in die Flucht geschlagen habt.« Er hielt die silberne Harfnernadel hoch, damit die beiden sie sehen konnten. »Herr Vater!«, flehte Tamsil mit ihrer hohen und klaren Stimme, »ich will diesen Mann nie-, nie-, niemals wiedersehen. Wie können wir ihn daran hindern, uns noch einmal heimzusuchen?« »Es gibt nur einen Weg, einen Feind davon abzuhalten, einem Schaden zuzufügen«, murmelte der Wirt und betrachtete die Silbernadel zwischen seinen Fingern. »Ich muss ihn aufspüren und umbringen.« DONNERWETTER, ELMINSTER, MYSTRAS ERINNERUNGEN HABEN ES ABER IN SICH! EUER TORIL WILL MIR ALS ORT ERSCHEINEN, AN WELCHEM ICH ERGÖTZUNG FINDEN KÖNNTE! ABER BISLANG IST MIR IMMER NOCH KEINE MAGIE ZUTEIL GEWORDEN! DABEI STREBT ALLES IN MIR IMMER NOCH NACH IHR! WAS GEDENKT IHR DAGEGEN ZU TUN?
303
10 Harfner jagen im Mondschein
Die Magierfürstin von Tiefwasser beugte sich über die silberne Harfnernadel auf ihrem Tisch. Diese war von einem Kranz sanft leuchtender Zauberbanne der Herrin umgeben, welche jetzt leise sprach: »Na bitte, gleich haben wir’s ...« Gehorsam explodierte die Nadel. Blitze sausten wie hungrige Raubtiere durch die Kammer, die Welt verwandelte sich in grelles Weiß, und Laeral wurde davongeschleudert, ohne dass sie etwas hätte dagegen unternehmen konnte. Der alte Wolf kroch aus seinem umgestürzten Sessel, als der Lichtspeer, welcher eigentlich Aleena hätte vernichten sollen, stattdessen in eine Kohlenpfanne fuhr. Diese kippte langsam auf den Sessel zu, und Mirt verdoppelte seine Anstrengungen ... Doch ehe er sich aufgerappelt hatte, prallte Laeral mit voller Wucht gegen den Unglücklichen und schleuderte ihn in das Tohuwabohu zurück. Er und sie kugelten gemeinsam über den Boden, vorbei an kurz aufflackernden und rasch wieder erlöschenden Feuern, und rollten dann aus. Begraben unter einer Kohlenpfanne, zerschmetterten Möbelstücken und einer schwergewichtigen Zauber304
fürstin, welche vor Schmerzen jammerte und schniefte, blieb dem Geldverleiher nicht viel anderes möglich, als an die Decke zu starren. Dort schwebte immer noch die gleißend helle Lichtkugel – Laerals Abwehrschirm. Nachdem diese den Großteil der freigesetzten Banne aufgesaugt hatte, ließ ihre Helligkeit allmählich nach, und sie wurde an einigen Stellen schon wieder für das menschliche Auge unsichtbar. Mirt konnte langsam auch wieder andere Dinge an der Decke erkennen. Wie zum Beispiel das halbe Dutzend verrußter Stellen, welche davon kündeten, dass hier auch schon früher Versuche mit feindlicher Zauberenergie angestellt worden waren. Der Wolf wusste nicht so recht, ob ihn diese Erkenntnis erleichtern sollte. Aber er tröstete sich mit der Gewissheit, dass Burg Schwarzstab immer noch stand. »Ihr Mädchen?«, fragte der ehemalige Hauptmann der Wolfskompanie gewohnt knurrig, »ist mit euch alles in Ordnung?« Wie um seine Worte zu unterstreichen, bemühte er sich, unter der Zauberin und den Trümmern hervorzukriechen. Ein dreifacher Frauenchor antwortete ihm mit Stöhnen und Schimpfwörtern. Eine dieser Stimmen ertönte von oberhalb seiner Brust. Mirt packte die Herrin auf ihm fest, aber nicht grob, rollte sie von sich herunter und hatte es mit einem Mal nicht mehr so schwer, sich von allem zu befreien und wieder auf die Füße zu kommen – beinahe. »Was ist denn geschehen?«, fragte der Hauptmann in 305
die Runde. »Die Anstecknadel enthielt eine magische Falle«, antwortete Laeral schwer atmend, schob sich von Mirts Hand und rappelte sich ächzend und schnaufend auf. »Diese war allein zu dem Zweck dort angebracht, jeden zu vernichten, welcher sich mit Zauberei der Nadel näherte. Kein echter Harfner würde so etwas jemals tun. Jemand versucht hier, uns mächtig in die Irre zu führen und glauben zu machen, Mitglieder dieses Bundes hätten Resengar auf dem Gewissen.« Der ehemalige Söldnerführer nickte grimmig. »Das hätte ich mir ja eigentlich denken können.« Mirt schaute sich um, weil er feststellen wollte, wie die beiden Mädchen die Explosion verkraftet hatten. Er hielt noch nach Asper und Aleena Ausschau, als die kniende Fürstin neben ihm lautlos vornüberkippte und aufs Gesicht fiel. Kaum hatte ihr Körper den Boden berührt, stiegen schon Flammen aus ihm hoch. Der Wolf stieß einen gewaltigen Fluch aus und rief die anderen zu Hilfe. Während er die Herrin herumdrehte, rannte Asper schon zur Tür hinaus, und kurz darauf ertönte vom Gang draußen Alarm. Nur die kleinste Flasche an seinem Gürtel enthielt Wasser, und das träufelte Mirt der Frau aufs Gesicht. Dann verrieb er die Tropfen auf Nase und Wangen, um die Flammen zurückzuhalten. Grünlich gelbe Feuerzungen leckten überall an Laerals Körper hoch – schienen wie aus dem Nichts mal 306
hier und mal da aufzutauchen. Natürlich konnte es sich bei so etwas nur um einen Feuerbann handeln – und dafür sei Mystra, die Göttin der Zauberei, in Dreiteufelsnamen gebenedeit. Dieses verwünschte Feuer widerstand allen Bemühungen, es zu löschen. Die Flammen sprangen zwar nicht auf ihn über, aber dennoch war Mirt heilfroh, als die Kammer sich mit den Lehrlingen der Burg füllte. Die Buben stießen ihn unsanft beiseite, und dann nahm er nur noch ein Wirrwarr von Zaubersprüchen, gebellten Befehlen und neugierigen bis argwöhnischen Blicken wahr. Wenig später stellte man fest, dass dem Geldverleiher nichts Ernstliches fehlte, und schob ihn in die hinterste Ecke ab. In rascher Folge gesellten sich dort Asper und Aleena zu ihm, ebenso unfreiwillig. Dort hieß man die drei, sich auf Stühle zu setzen, sich nicht vom Fleck zu rühren und nun ja nicht die Heilbemühungen zu behindern. Das klang dann auch deutlich mehr wie ein Befehl als wie eine Bitte. Aber den beiden jungen Frauen und dem alten Wolf stand im Moment ohnehin nicht der Sinn nach Tatendrang. Halb benommen hockten sie auf ihren Stühlen und warteten geduldig ab, bis das betäubte Gefühl und das anschließende Prickeln in ihren Gliedern nachließen. Dennoch ahnten die drei, dass sie sich in absehbarer Zeit hochnotpeinlichen Fragen würden stellen müssen, welche sich vor allem um den Kern drehten, was drei 307
unangemeldete Besucher so spät in der Nacht noch bei der Herrin Laeral zu suchen gehabt hätten. Immer mehr Stühle und Geräte wurden von den jüngeren Lehrlingen hereingeschafft. Und mitten in all dem Durcheinander erschien plötzlich ein großer Mann humpelnd in dem Raum. Aleena sprang sofort auf und eilte, so weit es ihre schwere Rüstung zuließ, scheppernd auf den Neuankömmling zu. »Sachte, sachte, Aleena!«, warnte Piergeiron mit vor Schreck geweiteten Augen, als das Mädchen sich anschickte, ihre eisenbewehrten Arme um ihn zu schlingen. Schon wimmelte es vor Lehrbuben mit grimmigen Mienen, welche die Fürstentochter erbarmungslos zurückrissen. Piergeiron nutzte die Gelegenheit, sich mit wackligen Beinen dem nächstbesten Stuhl zu nähern. Seine Züge wirkten angespannt, und welche Schmerzen er leiden musste, zeigte die bleiche Gesichtsfarbe des Fürsten an. »Nun, junger Löwe, was gibt es zu vermelden?«, fragte der Wolf und sah den Ersten Fürsten von Tiefwasser geradewegs an. Der Mann besaß Augen von eigentümlich grünlicher Farbe, und deren Fremdartigkeit schien sich noch zu verstärken, als er endlich den Stuhl erreichte, sich darauf fallen ließ und atemlos antwortete: »Dass ich es überleben werde ... vielleicht!« Seine Tochter hatte sich zwischenzeitlich ihren Häschern entziehen können, und diesmal gelangte sie zu 308
ihrem Vater. Sie ließ Küsse auf ihn herabregnen, während er sich mit beiden Händen an den Armlehnen festhielt und mehrmals zusammenzuckte. »Ich fühle mich ... so schwach wie ... ein neugeborenes Kätzchen«, schnaufte der Erste Fürst und winkte seine ungestüm rücksichtslose Tochter auf ihren Platz zurück. Dann wandte er sich an die Runde der Sitzenden: »Würden die zuschauenden Götter nun die Freundlichkeit besitzen, mich darüber zu erhellen, was hier eigentlich vor sich gegangen ist? Ich würde mich auch damit begnügen, das von einem von euch zu erfahren.« Mirt hob eine Hand, um die Mädchen daran zu hindern, ihm bei der Antwort zuvorzukommen. Dann schaute er nach links, wo ein Zauberlehrling wachsam neben ihm stand. Ein kurzer Blick in die anderen Richtungen belehrte den Geldverleiher, dass auch die anderen drei Sitzenden mittlerweile mit einem solchen Beobachter geschmückt waren. Der grimmigen Miene dieser Lehrlinge nach zu schließen, müsste man sie aber wohl eher »Aufpasser« nennen. »Wie geht es der Herrin Laeral?«, fragte der Wolf nun seinen Beistand. »Das kann ich Euch nicht sagen, Herr –«, antwortete der junge Zauberlehrling mit eiskalter Stimme. Doch dann verstummte er unerwartet und schaute entsetzt drein ... Eine lange und schlanke Hand legte sich nämlich von 309
hinten auf seinen Arm. Deren Besitzerin folgte dichtauf und bedachte den jungen Mann mit einem Blick, welcher es ihm ratsam erscheinen ließ, fortan den Mund zu halten. »Auch ich werde vielleicht überleben«, erklärte die Fürstin Laeral der Runde mit einem schiefen Grinsen. »Ein geschickt versteckter Zauber unter den HarfnerFallen – oder sagen wir lieber, den angeblichen Harfner-Fallen.« Sie bedachte den neu dazugestoßenen Piergeiron mit einem freundlichen Blick und wandte sich dann an den ehemaligen Söldnerhauptmann: »Ich glaube, Ihr wolltet gerade auf die Worte des Ersten Fürsten eingehen, nicht wahr?« Mirt nickte und sah dann Piergeiron mitten ins Gesicht: »Edler, berichtet uns alles, woran Ihr Euch noch erinnern könnt, ehe Euch schwarz vor Augen wurde. Was ist in den letzten Minuten geschehen, in welchen Ihr noch bei Bewusstsein wart?« Der Reichsfürst atmete lange und rasselnd ein und aus, starrte nachdenklich an die verrußte Decke und meinte endlich: »Ich wurde von einem Bann verzaubert ... ... Mit dem bedachte mich jemand, welcher unerwartet und unangemeldet zu mir kam ... Nicht an den Wachen vorbei, sondern wundersamerweise gleich zu mir ... Nach dem, was ich noch in seinem Geist lesen konnte, handelte es sich bei ihm um einen Mann voller Wut ... und Erregung ... 310
Er zwang mich dazu ... ihm die Namen, Gesichter und Aufenthaltsorte ... aller Fürsten von Tiefwasser ... preiszugeben ...« In der Runde der Sitzenden und ihrer Aufpasser verkrampfte man sich empört. Eine Anspannung lag jetzt über dem Kreis, welche man mit Händen greifen konnte. »Dann hat er mir ... voller Hohn dafür gedankt ...«, fuhr Piergeiron langsam fort, als käme ihm die Erinnerung nur ein Wort nach dem anderen. »Er hatte die ganze Zeit hinter mir gestanden ... trat jetzt dazu aber um mich herum ... und verbeugte sich auch noch vor mir ... Er schwang die Arme, dass es eine Art hatte, und tat auch sonst sehr patzig. Insgesamt ein rechtes Zerrbild von einem Höfling ... Im nächsten Moment zog er ein Schwert hinter seinem Rücken hervor ... und durchbohrte mich damit. Dieser Fremde trug eine Maske, aber ich weiß nicht, wer er war. Selbst wenn er die Larve abgenommen hätte, hätte ich ihn wohl nicht erkannt ... Jedenfalls, er stieß mir den Stahl ... in den Leib, und –« Aleena schrie vor Empörung und Furcht. Der Erste Fürst lächelte sie beruhigend an, ehe er fortfuhr: »Die Klinge durchstieß mich ... und bohrte sich in die Rückenlehne meines Stuhls ... Das muss den Bann irgendwie gebrochen haben ... Ich brüllte ihn an ... er riss die Klinge heraus und versuchte, mich in den Hals zu stechen ... Aber da hatte ich schon meine eigene Waffe gezogen –« 311
Aleena hielt ihm das Schwert schon nebst Scheide und mit dem Griff voran entgegen. Wieder dankte Piergeiron ihr mit einem Lächeln und legte die Klinge vor sich auf die Knie. »Doch ein Zweikampf schien nicht nach seinem Geschmack zu sein ... Er schleuderte mir also einen Zauber ins Gesicht ... lauter kleine Energielanzen, welche wie Messer gestochen haben ... und ist dann in den Nebenraum geflohen Die Blitze haben mich auf die Knie gezwungen ... und so konnte ich ihm nur auf allen vieren folgen ... Als ich das Nachbarzimmer erreicht habe ... habe ich gerade noch einen Fuß von ihm gesehen, der durch ein Tor verschwunden ist.« »Ein eiförmiges Tor, umgeben von einem Feuerring?«, fragte Asper gleich eifrig. »Mit goldfarbenem Feuer? Und ist das Tor vergangen, nachdem der Fremde dadurch verschwunden war?« Piergeiron sah sie eigentümlich an. »In der Tat. Ganz genau so hat es sich verhalten. Kennt Ihr den Mann am Ende etwa?« Mirts Begleiterin bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, und sein Lächeln verwandelte sich in eines der Verlegenheit. »Verzeiht mir bitte, Herrin, eine so flapsige Bemerkung war nicht einmal meiner würdig ... und schlimmer noch, eine Beleidigung für Euch. Ich fürchte, nicht nur mein Körper, sondern auch mein Humor hat unter dem Zauberangriff des Fremden gelitten.« »Seht Euch das hier einmal an, Reichsfürst«, wandte sich Mirt in seiner gewohnt brummigen Art an ihn. 312
Gleichzeitig winkte er einen der Zauberlehrlinge zu sich heran. Doch der schenkte ihm nur einen Blick, als sei er noch nie so beleidigt worden. Erst Laeral musste ihm bedeuten, dass er der Aufforderung des Geldverleihers nachkommen möge. Der alte Wolf bedankte sich bei dem Zauberlehrling mit einem zuckersüßen Lächeln und riss ihm dann die silberne Anstecknadel aus der Hand. »Unser Freund versteht sich bestens darauf, einer Freundschaft das Letzte abzuverlangen«, bemerkte er und hielt dem Ersten Edlen die Nadel entgegen. Der Reichsfürst von Tiefwasser starrte auf das silberne Ding. »Ja, wirklich, ich bin mit den Harfnern immer gut Freund gewesen«, bemerkte er langsam und verzog dann das Gesicht. »Oder sollte ich sagen, wir sind die längste Zeit gut Freund gewesen?« »Jetzt reicht es aber endgültig«, grollte Mirt und sah Laeral an. »Schafft sofort Elminster in den Palast. An einen Ort jenseits Eurer Abwehrzauber. Und nehmt uns dorthin mit, damit wir mit ihm reden können. Rasch, die Zeit drängt!« So flink wie ein junges Dienstmädchen nickte die Magierfürstin von Tiefwasser und watschelte dann aus dem Raum. Die Zauberlehrlinge starrten der Herrin fassungslos hinterher und blickten dabei auch immer wieder auf den Geldverleiher. »Elminster ...«, flüsterte einer von ihnen mit erstickt ehrfürchtiger Stimme. 313
NA, WAS WART IHR DOCH FÜR EIN TAUSENDSASSA! DER RETTER FÜR ALLE LEBENSLAGEN, WAS? ZU DUMM NUR, DASS ICH NOCH NICHTS VON ALL DER MAGIE ZU SEHEN BEKOMMEN HABE, UM WELCHER WILLEN MAN EUCH so RÜHMT! (gedankenpeitsche) (schmerz) (gedankenpeitsche) (grässlicher schmerz) (gedankenpeitsche) BLÖDER MENSCH! GLAUBT IHR ETWA, ICH WÜRDE EWIG GEDULDIG HIER HERUMSITZEN UND MICH VON EUCH ÜBERTÖLPELN LASSEN?
(gedankenpeitsche) Eine halbe Welt weit entfernt, genauer in einem Grabgewölbe tief unter Myth Drannor, erstrahlte ein leuchtender Ring von gespenstischen Gestalten wie ein Kranz mannshoher Kerzen kalt und weiß im Halbdunkel. Zwei nicht leuchtende Menschen, ein Mann und eine Frau, standen furchtlos in ihrer Mitte. Elminster hob seinen Stab und sprach zögernd. »Ich fürchte, das muss jetzt reichen. Ihr habt mir den Kopf mehr als genug mit alten Zaubern und verlorenem Wissen angefüllt. Da seid Ihr doch bestimmt längst nicht mehr mit den bloßen Gerüchten zufrieden, welche ich Euch im Tausch dafür erzähle.« »Nichts da, Mensch«, entgegnete der Grabnorner, welcher ihm gerade am nächsten stand, rasch. »Ihr beiden seid die einzigen Besucher, welche uns Nach314
richten aus der Welt der Sterblichen bringen ... die Einzigen, welche sich noch an uns erinnern. Selbst unsereins wird die Zeit mitunter zu lang.« Damit wandte er sich an Sturm Silberhand und fügte rasch hinzu: »Ehe ich’s vergesse zu erwähnen, meine Dame, es war einfach wunderbar, wieder Lieder zu hören. Meine Teure, Ihr besitzt eine wunderbare Stimme!« »Wie wahr!«, seufzten etliche andere Gespenstergestalten im Gleichklang. Die Bardin von Schattental schenkte ihnen allen der Reihe nach ein Lächeln und entgegnete: »Dafür muss ich Euch wirklich danken, darf ich doch nicht einmal hoffen, jemals so wundersüß wie ein Elfensänger von Kormanth–« »Ach, meine Dame«, wandte ein anderer der Grabwachengeister ein und winkte ab, »wir vermögen jederzeit dank unserer Zauberkräfte ein Lied, gleich welches, an unsere Ohren zurückzuholen, welches jemals zu uns gesungen worden ist. Wonach wir uns aber sehnen, sind neue Weisen, von einem noch lebenden Sänger, welcher auch noch hier vor uns auftritt ... und ganz allein für uns seine Kunst zum Besten gibt. Eure Freundlichkeit wird uns viel Freude bescheren, und danach haben wir noch sehr lange so viel miteinander zu erzählen ...« Unerwartet tauchten sprühende Funken vor Elminsters Stirn auf. Der Magier erstarrte und schwankte. Man sah seinen Zügen an, dass er Schmerzen litt. »Was ist geschehen?«, rief einer der Grabnorner und 315
hob die Hände, welche plötzlich grell und gefährlich leuchteten. »Können wir Euch irgendwie helfen?« Elminster verdrehte die Augen und schüttelte sich. »Nein, meine Freunde. Eine neue Gefahr ist aufgetreten. Wir kommen zu Euch zurück, sobald es uns irgendwie möglich ist. Bis dahin, gehabt Euch wohl.« Blaue Funken schwammen vor Sturm Silberhand in der Luft. Ihr blieb kaum die Zeit, sich darüber zu erschrecken, da war sie auch schon darin eingehüllt. Die Welt verwandelte sich in blaues Leuchten, durch welches die Bardin endlos fiel. Plötzlich berührten ihre Stiefel einen unebenen Boden. Die blauen Funken vergingen, und an deren Stelle trat der Geruch von Meer und Dung, von faulenden Früchten und einem Kochfeuer. »Eine Seitengasse unweit von Piergeirons Palast«, erklärte Elminster seiner Begleiterin, als deren Hand an den Griff des Dolches in ihrem Gürtel fuhr. »Wir befinden uns jetzt in Tiefwasser. Laeral hat mit ihrer magischen Fernstimme zu mir gesprochen.« »Und was wollte sie?«, fragte die Bardin, stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich um die eigene Achse, um sich einen Überblick zu verschaffen. »Höchste Zeit, Mädchen, Euren Suchbann einzusetzen. Versetzt Euch zu jeder Harfnernadel in der Stadt, an welcher jemand herumgefuhrwerkt hat. Vor allem dann, wenn er andere Zauber draufgebunden hat. Aber Obacht, dabei stoßt Ihr höchstwahrscheinlich auf einen Mann, der sich viel zu gut mit Klingen auskennt. Versucht also, am Leben zu bleiben, bis ich mich 316
mittels Gedankenkraft zu Euch versetzt habe.« Er küsste die verwirrt blinzelnde Sturm auf die Stirn, ließ sie dann mit ihrer fragenden Miene stehen und schritt über das unebene Pflaster zum Palast. Der großartige und kühn errichtete Eingang desselben kam dem letzten Prinzen von Athalantar eigenartig vor – und er stieß auch rasch darauf, was ihn hier so störte: Kein Volk trieb sich hier herum. Aber Elminster fand die Türen zum Flügel mit den Privatgemächern versperrt vor – von zwei Riesen, welche mit ihren geschlossenen Helmen und ihrer blitzblank geputzten Rüstung wie Statuen wirkten. Der Alte Magier ließ sich davon jedoch nicht ins Bockshorn jagen und spazierte munter auf die beiden starr dastehenden Wächter zu. Er griff auch beherzt nach dem Riegel – und hätte beinahe seine Rechte verloren, weil im selben Moment die Klingen von zwei Hellebarden herabsausten. Die Spitze der einen Stangenwaffe folgte Elminster, während dieser sich langsam und vorsichtig ein Stück weit zurückzog. Der Wachsoldat am anderen Ende der Waffe erklärte barsch: »Niemand darf ohne ausdrückliche Erlaubnis hinein!« Elminster seufzte gequält. »Ich glaube, diese ausdrückliche Erlaubnis besitze ich. Und nun, meine Herren, tretet bitte beiseite für Elminster von Schattental. Ich habe es nämlich eilig – und das aus gutem Grund!« »Ihr seid also Elminster?« Die Zweifel waren deutlich durch das geschlossene Visier zu hören. »Dann bin ich der Großwesir und Großmächtige We317
sir von ganz Vorder- und Hinterkalimschan!«, rief der zweite Wachsoldat. »Wer seid Ihr wirklich?«, fragte der erste, und beide Männer richteten jetzt ihre Hellebarde auf den Fremdling. »Und wie seid Ihr überhaupt bis hierher gekommen?« Sein behelmter Kopf ruckte vor, als wolle er Elminster argwöhnisch beäugen. »Von denen, welche uns nicht von Angesicht bekannt sind, stehen nur wenige auf unserer Passierliste – sehr wenige. Ich glaube kaum, dass Ihr zu diesen gehört.« Der Mann trat zwei Schritte zurück und stand dann an einer Stelle, wo er den Alarmgong ohne Mühe mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte. »Also, nun erklärt Euch!« »Ich bin wirklich derjenige, welchen man Elminster nennt«, entgegnete der Mann mit dem Zottelbart leise und beharrlich, »und ich besitze einen Passierschein, welcher mich berechtigt, mich überall in dieser Stadt frei zu bewegen ... Fürst Ahghairon von Tiefwasser hat ihn mir vor ziemlich langer Zeit ausgefertigt.« »Ha!«, machte der zweite Wachsoldat und warf den Kopf in den Nacken, als wolle er laut loslachen. »Ihr erwartet doch wohl nicht, dass wir Euch solch blühenden Unsinn glauben!« »Mir ist es ziemlich gleich, was Ihr glaubt und was nicht«, erwiderte der Alte mit milder Stimme. »Solltet Ihr mich aber hier noch lange aufhalten, so verspreche ich Euch Folgendes: Ich sende Euch schon vorab dort318
hin, wo Ihr ohnehin enden werdet. So viel Dummheit, einen Erzmagier aufhalten zu wollen, gehört wirklich bestraft!« Jetzt warf sich der zweite Wächter in die Brust und lachte triumphierend: »Nicht einmal Elminster würde es wagen, einem Beglaubigten Wachmann von Tiefwasser zu drohen! Ihr habt Euch verraten. Elen–« Er begleitete seine Worte mit einem derben Hellebardenstoß. Doch gerade, als der Soldat glaubte, den alten Trottel zu treffen, veränderte sich ringsum die ganze Welt. Irgendwo fanden sich die beiden Beglaubigten Wachsoldaten an einem anderen Ort in staubiger Dämmerdüsternis wieder. Sie sahen einander über den Rand ihrer Hellebardenklingenblätter an ... dann einander über die Schulter ... und einen oder auch zwei Momente später schlotterten ihnen vor Furcht die Knie. Beide hatten nämlich ziemlich rasch erkannt, wo sie hier gelandet waren – in der Trophäenhalle. Und die führte zur Heldenhalle, der Abteilung für gefallene Helden ... In der Totenstadt von Tiefwasser! Elminster schritt durch die hohen Säle und Gänge. Wut und Magie krachten und funkelten rings um ihn herum. Der letzte Prinz trieb Wächter und Höflinge auseinander, als seien sie Staub und er kehre diesen Palast aus. Je weiter der Erzmagier vorankam, desto älter wurden die Wächter. Nach einiger Zeit konnten sich die Ersten an ihn erinnern. Dann grüßten sie hochachtungsvoll. 319
Aber wenn ihm dann doch Soldaten jegliche Ehrbezeugung verweigerten, schnarrte er ihnen nur »Piergeiron« entgegen. Das bewog sie zur Umkehr, und sie traten beiseite und öffneten ihm bereitwillig die Türen. »Nein, Herr, das vermag ich nicht«, erklärte Laeral gerade. »Hier finden sich zu viele Zauber. Bannschicht liegt auf Bannschicht, zum Teil hundertfach. Und viele davon sind so alt, dass niemand sich mehr an ihre Zusammensetzung erinnert!« Sie sah sich in der Runde um: »Wenn ich ihm doch nur einen Sucher anlegen könnte. Einen von der Sorte, wie sie kaum ein Magier zu brechen vermag. Dann –« Alle fuhren herum, als Elminster unvermittelt zwischen sie trat. Eine kleine Gruppe hatte sich mit angespannten Mienen um eine einzelne Lampe versammelt und steckte hinter dem Schutz eines Kreises von Zauberlehrlingen aus der Burg die Köpfe zusammen. Laeral, Mirt, Piergeiron und Durnan nickten dem Neuankömmling zu. Asper verbeugte sich und sprach ehrfürchtig: »Seid uns willkommen, Fürst Elminster.« Nach dieser Begrüßung starrten Aleena und Durnans Gemahlin nebst Tochter den Prinzen von Athalantar an, als sei dem plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen – und als spuckten beide Feuer. »Vielleicht kenne ich eine Lösung dafür«, kam Elminster gleich zur Sache, »doch wir müssen rasch handeln. Ich habe Sturm als Lockvogel ausgesandt. Sie schwebt in großer Gefahr.« Der Alte Zauberer schaute die Anwesenden der Reihe nach an: »Jeder, der Mut genug hat, in den Kampf zu 320
ziehen, und dieser Bedrohung ein Ende setzen will, stelle sich jetzt zu mir, fasse mich an und halte diese Verbindung aufrecht. Ihr Lehrlinge, zurück in den Turm mit euch!« Die Nachwuchszauberer scharrten mit den Füßen, bewegten sich aber nicht vom Fleck. Da drehte Laeral sich zu ihnen um und gebot streng: »Bitte gehorcht dem Fürsten Elminster. Und zwar ohne Widerrede und auf der Stelle.« Der Prinz wartete nicht ab, ob sich jemand von ihnen verabschieden wollte oder ob die Zaubereranwärter stockend und mürrisch oder geschwinde den Raum verließen. Stattdessen erzeugte er ein kurzlebiges Bannfeuer. Die Kammer wirkte mit einem Mal viel leerer als vorher. Nur Mhaere und Tamil blieben zurück und sahen Durnan fragend an. Denn der stand ganz allein bei der einzelnen Lampe. »Ihr seid nicht mit den anderen gegangen?«, fragte Mhaere ihren Gatten und runzelte die Stirn zum Zeichen dafür, den Grund dafür nicht einmal erahnen zu können. Der alte Kämpe schritt zu seiner Frau und legte einen Arm um sie und um seine Tochter. »Und Ihr habt Eure Armbrust zurückgelassen«, entgegnete er ohne Vorwurf in der Stimme. »Was wäre wohl geschehen, wenn der Mörder hierher gesprungen wäre, nachdem wir alle fortgeflogen waren?« Mit der freien Hand zog Durnan sein Schwert. 321
Die Klinge funkelte im Lampenlicht. »Was immer auch über diese Welt kommen mag, ich werde Euch nicht verlieren! Niemals, wenn ich es irgendwie verhindern kann!« IGITT! WAS FÜR EIN SCHMONZES! DIESER MANN IST JA WOHL NICHT MEHR BEI SINNEN! ER HAT GANZ OFFENSICHTLICH DEN VERSTAND VERLOREN! WELCHER TROTTEL KÄME DENN SCHON AUF DEN IRRWITZIGEN EINFALL, SICH FREIWILLIG EINE SCHLINGE UM DEN HALS ZU LEGEN UND SEIN LEBEN NACH ANDEREN AUSZURICHTEN! LIEBE NENNEN DAS DIE MENSCHEN, NICHT WAHR? ZU RECHT REIMT SICH DARAUF HIEBE! Nur Menschen sind zu solcher Narretei fähig, Nergal. So sind wir nun einmal, und so bleiben wir. Genau so wie Ihr eine Ausgeburt der Hölle seid ... HALTET ENDLICH DEN DUMMEN SCHNABEL, ZAUBERLEIN, WELCHES IHR EUCH IN MEINER HAND BEFINDET! UND FAHRT UM DES HASSES DES TEUFELS WILLEN FORT! Von einem Moment auf den anderen ereichten sie einen anderen Ort. Ein dunkles und kaltes Gewölbe, in welchem es streng nach Staub und moderndem Stein roch. Sie waren unter der Erde gelandet! Piergeiron klopfte einmal fest auf seine Rüstung und erschreckte seine Tochter damit sehr. Zu ihrer Überraschung fing der Stahl jetzt an zu leuchten. Ein weiches blaues Schimmern ging von den Platten aus. Zusammen mit Laerals Leuchtfeuer konnte die kleine Gruppe nun mehr erkennen. 322
Sie standen in einer Halle mit hoher Decke. Bis auf den herabsinkenden Staub schien dieser Ort nichts Bemerkenswertes zu enthalten. Aber von ihm gingen etliche Seitengänge aus, welche ins Dunkel hineinführten. Das Leuchten, welches von Laerals Händen ausstrahlte, steigerte sich unvermittelt zu gleißender Helligkeit. Die Magierfürstin von Tiefwasser hob ihre Hände und legte sie Piergeiron auf den Kopf. Der Erste Fürst schluckte, erzitterte und taumelte von der Frau fort. Laeral drehte sich daraufhin um die eigene Achse und fiel auf die Knie. Aleena beugte sich sofort vor, um die Vertraute aufzufangen. Aber Asper war schneller und kam ihr zuvor. »Herrin?«, fragte sie gefasst. »Mir geht es bald wieder gut«, versicherte Laeral ihr. »Piergeiron muss jetzt für eine Weile bei besten Kräften und vollkommen gesund sein. Da habe ich ihm meine Stärke verliehen. Für eine Weile werde ich mich wohl ein bisschen geschwächt fühlen.« »Aleena, bleibt bitte bei ihr«, forderte Asper das Mädchen auf. »Beschützt sie, so gut es geht, und wenn hier jemand mit einer Maske vor dem Gesicht auftaucht, schreit Ihr, was Eure Lunge hergibt!« Die Fürstentochter sah der Reihe nach den Geldverleiher, den Alten Magier und ihren Vater an. Nachdem alle drei ihr zugenickt hatten, kniete sie sich neben die Magierfürstin hin – und seufzte erleichtert auf. Mirt klopfte dem Ersten Fürsten auf die gepanzerte 323
Brust. »Ich glaube, Ihr wisst, wohin es uns verschlagen hat, was?« Piergeiron blickte auf ein Wappen, welches über einen der Ausgänge in den Sturz gemeißelt war, und antwortete leise: »Ich glaube ja ... und ich meine, auch den Grund dafür zu kennen, warum wir an diesen Ort hier gelangt sind.« Er atmete ein, um mehr über seine Vermutung zu äußern, als ein gellender Schrei Mirts aus den fernen Tiefen des bewussten Ganges heranhallte. Asper setzte sich wie stets voller Ungestüm als Erste in Bewegung. Piergeiron hatte sie jedoch bald eingeholt und leuchtete ihr den Weg, indem er seine geweihte Klinge zum Strahlen brachte. Elminster schlug sich trotz seines Alters wacker, und so blieb der dicke Mirt schnaufend ein ganzes Stück weit zurück. Sie ließen den Gang hinter sich, rannten durch zwei Säle voller Staub und Spinnweben, durchquerten einen dritten, in welchem eine furchtbar erschrockene Spinne hastigst vor den Heranstampfenden davontrippelte. In der vierten Kammer erwartete die Retter Licht, welches zwischen gebogenen Säulen entsprang. Darin zeigten sich die Silhouetten von zwei in Leder gekleideten Gestalten. Die eine davon trug eine Maske. Blut glänzte auf dem Schwert des Mörders, welches aus Sturms Rücken ragte. Aufgespießt rang sie darum, ihren Peiniger zu erreichen. Der Miene der Frau nach zu schließen, litt sie entsetzliche Schmerzen. 324
Jetzt bemerkte der Maskierte die Ankunft der vier und hob die Linke. Die vielfarbigen Flammen eines bereitstehenden großen Zaubers züngelten darin. »Sssambranath!«, begann der Attentäter mit lauter und klarer Stimme. Dieser erste Teil seines Banns legte fest, welcher Teil der Kammer eine ganze Wolke von Blitzspeeren ausspucken würde. »Naerth!«, fuhr der Maskierte nun fort und kam nicht weiter. Denn Sturm spuckte ihm einen Schwall ihres Blutes ins Gesicht, und das brachte den Mann zum Würgen. Elminsters Begleiterin hatte sich inzwischen so weit vorgearbeitet, dass der Schwertgriff ihre Brust berührte. Trotz ihrer vergehenden Kräfte hieb sie nach der Maske ihres Feindes. Der Attentäter schüttelte heftig den Kopf und duckte sich so weit von ihr fort, wie es ihm nur möglich war, ohne das Schwert loszulassen. Das gelang ihm auch ganz gut, nur war sein vorbereiteter Zauberbann damit dahin. Elminster wurde nicht von solchen Unbilden gepeinigt. Keuchend kam er hinter einer Säule zum Stehen, wartete, bis er wieder bei Atem war, und wirkte dann behutsam einen Zauber. Der Raum erfüllte sich mit Schimmern und Schweigen. Elminster schritt an der mitten im Sprung erstarrten Asper vorbei und erreichte die beiden Kämpfenden, welche der Schwertstahl miteinander verband. Mit der gleichen Umsicht bewirkte der letzte Prinz 325
seinen nächsten Zauber. Dann berührte er Sturm Silberhand, um die Auswirkungen des Banns auf sie zu lenken. Endlich legte Elminster ihr seine Hände auf die Schultern, zog an ihr und spürte, wie die Schwertklinge hinausglitt. Widerstandslos rutschte ihre Brust auf der Schneide zurück, und ihre Augen sahen nichts, und ihre schmerzverzerrte Miene veränderte sich nicht. Elminster zog und zog und spürte mit ihr den Stahl aus ihrem Fleisch fahren. Je länger er diesen uralten Illuskan-Zauber aufrechterhielt, desto stärker spürte Elminster Sturms Schmerz. Dennoch wusste der Alte Magier, dass er noch lange nicht das Ausmaß ihres Leidens erreicht hatte. Er selbst hatte die Bardin in diese Not gesandt, und sie war stets die rebellischste seiner drei Töchter gewesen – seit er sie damals, vor vielen hundert Jahren aufgezogen hatte. Bei den Göttern, er hatte schon ganz vergessen gehabt, wie weh dieser Zauber tun konnte! Der alte Prinz biss die Zähne zusammen, bekam die Bardin von Schattental frei und stützte und trug sie auf unsicheren Beinen ein paar Schritte weit fort. Und vorbei an der Statue, in welche sein Bann den alten Wolf verwandelt hatte. Mirt war mitten im Heranstürmen erstarrt und trug in jeder Hand eine Klinge. Aber er hielt die Arme weit ausgestreckt, um im Lauf nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. 326
Hinter dem Geldverleiher hielt Elminster an, ging in die Knie und knurrte lang anhaltend, um die Schmerzen zu unterdrücken, welche seine Hände zum Zittern brachten. Mystra, liebe Göttin, wie oft hatte er das schon für seine dritte Tochter getan? Und wie oft sie für ihn? Auf Sturms durchbohrter Brust legte der Prinz all das zurecht, was er für die Heilung benötigte. Als das Werk vollbracht war und Elminster bereits mit den Zähnen klapperte, hob er den alten Zauber auf. Übergangslos verwandelte sich die Kammer wieder in einen Ort des Gelärmes und des Rennens. Die Schmerzen waren vergangen – zumindest die, welche Elminster hatte ertragen müssen. Er ließ es geschehen, als Sturm seine Hand halb zerdrückte, ihn anstarrte und ihm mit den Augen die lodernden Feuer ihrer Schmerzensqualen zeigte. Doch dann atmete der Alte Magier tief ein und unterdrücke ihren bevorstehenden gellenden Schrei mit einem eisernen Befehl. Als Asper, Piergeiron und Mirt auf den Maskierten einstürmten, gebot Elminster ihnen mit einer Stimme laut wie eine Schlachtfanfare: »Tötet ihn nicht! Jetzt noch nicht!« BEI
NESSUS! EINE GANZE HALLE VOLLER SCHWATZHAFTER MENSCHEN! BEKOMME ICH GLEICH ZU SEHEN, WIE SIE STERBEN? ELNER NACH DEM ANDEREN? Nein, aber dafür dürft Ihr ihren Worten lauschen, welche mächtige Magie bewirken. Und ich spreche von wirkDEN
FEUERN
VON
327
lich mächtiger Magie! AHA! BEIM ÜBERFRIEREN AUCH LANGSAM ZEIT!
VON
AWERNUS,
DAS WURDE ABER
Hilflos hing der Mann über ihnen in der Luft. Die Maske hatte man ihm längst abgenommen. Die Glieder ausgestreckt hing er wütend und hilflos in dem Erstarrungsbann, mit welchem Elminster ihn belegt hatte. Und langsam fielen ihm keine Beleidigungen mehr ein, welche er denen da unten entgegenschleudern konnte. Das entsprach einer gewissen ausgleichenden Gerechtigkeit, denn denen da unten gingen auch langsam die Fragen aus, welche sie ihm noch stellen konnten. Seine bisherigen Antworten – die meisten hatte er voller Stolz und Trotz hinausgeschleudert, natürlich mit wüsten Beschimpfungen garniert – offenbarten, dass es sich bei ihm um Amril Zoar handelte. Dem Spross einer Familie, welche vor langer, langer Zeit verbannt worden war. Amril hatte sich gerüstet, um all die Fürsten von Tiefwasser mit den Zaubern und dem verzauberten Schwert zu vernichten, welche er von einem Mann erhalten hatte, der eine silberne Harfnernadel trug. Dann hatte der junge Mann sich überlegt, wie er seinen Plan erfolgreich abschließen könnte, ehe besagte Fürsten sich gegen ihn zusammenschließen und ihn gemeinsam zur Strecke bringen würden. Jahrelang hatte er dieses überlegt und jenes verworfen, bis seine Helfer durch Zufall auf ein Buch stießen. Dabei handelte es sich um das verschollene Werk von 328
Ahghairon, dem sagenhaften Gründer von Tiefwasser. In dieser Schrift stand unter anderem zu lesen, wie man die Feuerringtore erschuf. Bei diesen kurzlebigen Portalen handelte es sich jedoch um nicht mehr als die Schatten von gewissen uralten, verborgenen Toren, welche Halaster Schwarzmantel in die Keller des frühen Tiefwassers geschafft hatte. Diese »Portalschatten« konnten nur in einem gewissen Abstand zu den ursprünglichen Portalen gewirkt werden. Aber, und das war der besondere Kniff daran, damit ließen sich immer noch die meisten der heutigen Abwehrzauber und sonstigen magischen Verteidigungseinrichtungen umgehen. Mirts Augen glitzerten, als er diese Neuigkeiten hörte. Sobald Amril sich im Übergang mit »seinen« Toren ausreichend geübt hatte, legte er die Harfnernadel seines väterlichen Freundes an und begann damit, einen Fürsten von Tiefwasser nach dem anderen vom Leben zum Tod zu befördern. Mirt schaute jetzt zu dem Schwebenden hinauf und meinte grimmig: »Gut. Das reicht. Bringen wir ihn um. Wir können mittels einiger Zauber seine Leiche weiter befragen, um alles Wissenswerte über seine Verwandtschaft zu erfahren. Und die erschlagen wir dann ebenfalls mit Kind und Kegel.« »Nein!«, krächzte eine Stimme hinter ihnen. Sturms Züge wirkten noch bleich und spitz, aber sie schritt schon wieder so behände und geschwind heran, als sei sie nie von einem Stück scharfen, kalten Stahls gebis329
sen worden. »Ich will mehr über diesen Mann mit der silbernen Harfnernadel erfahren!«, erregte sich die junge Frau. »Wer hat Amril alles über Magie beigebracht?« Elminster schaute wieder zu dem Attentäter hinauf. »Was ist aus Eurem Lehrmeister geworden? Und wer war er überhaupt?« Der Mann starrte ihn erst finster an und meinte schließlich mit bitterer Stimme: »Seinen Namen habe ich leider nie erfahren. Er ist von einem Ritter aus Tiefwasser erschlagen worden. Der kam in unsere Gegend gezogen, um meinen Vater zu töten – und mich gleich mit ... Der Mörder hat meinen Vater gefunden, aber der Harfner rettete mir das Leben – indem er sein eigenes hergab.« Elminster ließ die Hände sinken, und der Gefangene sank, so wie er war, ein ganzes Stück herab. Immer noch hielt ihn der Bann gefangen, als er schließlich reglos zwei bis drei Fuß über dem staubigen Boden hing. Mirt trat in grimmigem Schweigen vor, hob seine Axt und sah Piergeiron fragend an. Der Erste Fürst von Tiefwasser nickte. »Für uns. Für die Stadt, für Tamaeril und für Resengar!« Der Geldverleiher holte mit der Axt aus – als eine ganz in Leder gekleidete Gestalt zwischen ihn und den Attentäter sprang. »Nein!«, schrie Sturm mit erhobenen Händen. Tränen standen ihr in den Augen. »Tötet diesen Mann nicht! In 330
seinen Augen hat er für eine ehrenhafte und gerechte Sache gestritten. Und einen Rachefeldzug begonnen, wie er für einen Mann allein kaum durchzuführen ist. Ich möchte ihn für die Truppe der Harfner haben!« Der alte Söldnerhauptmann sah sie wie eine Verrückte an. Sein Blick fuhr kurz zu Amrils Schwert, das immer noch in der Lache von Sturms Blut auf dem Boden lag, und dann zurück auf die Bardin von Schattental. »Warum?«, fragte der alte Wolf dann nur. »Dieser Mann hat seine Sache als edel und gerecht angesehen. Wie können wir uns dann als etwas Besseres dünken?« Mirt schaute jetzt erst recht zweifelnd drein. Ein dumpfes Geräusch wie ein Knurren blieb in seiner Kehle stecken ... Doch dann ließ er die Axt sinken und trat einen Schritt zurück – um sich vor Elminsters Begleiterin zu verbeugen. »Mich deucht, junge Herrin«, erklärte er grimmig, »dass dieser Jüngling dort etwas zu gern Klingen in fremde Körper steckt. Aber genug davon. Ich habe selbst das Töten über ...« Der Geldverleiher schüttelte den Kopf. »Sorgt aber dafür, von ihm das alte Buch des Ahghairon zu bekommen ... und ich hätte es auch nicht gern, wenn einer seiner Vettern, Gefolgsleute oder Bluthunde eines Nachts, wenn ich gerade im Bett liege und süß vor mich hin träume, durch ein Feuertor steigt und mich abmurksen will.« Die junge Frau nickte. »Wenn er von seinem Vorha331
ben nicht ablassen will«, versprach sie Mirt, »wird er durch meine Hand den Tod finden.« »So soll es geschehen«, sprach Piergeiron rasch, als wolle er die Angelegenheit so rasch wie möglich zum Abschluss bringen. »Bringt ihn mir aber weit genug von Tiefwasser fort.« Der Erste Fürst starrte auf das, was er schon die ganze Zeit zwischen den Fingern drehte, und es kam ihm so vor, als sehe er den kleinen Gegenstand zum ersten Mal. »Eine silberne Harfe«, bemerkte Piergeiron leise und nachdenklich. »Dabei habe ich immer geglaubt, die Harfner trügen einen silbernen Mond und eine silberne Harfe als Abzeichen.« »Meine Mutter hatte einen silbernen Mond im Wappen ... aber sie und ihre Familie kamen ja auch aus der Stadt Silbermond«, bemerkte Sturm leise. »Aber da sollten wir wohl besser einen richtigen Harfner fragen. Mirt, was könnt Ihr uns dazu sagen?« Der alte Wolf lächelte, legte einen Arm um Asper und grollte: »Der Harfner trägt natürlich das Zeichen der Harfe. Ein Mond gehört nicht notwendigerweise in sein Wappen. Denn wie heißt es im Wahlspruch dieser Gruppe: ›Harfner jagen im Mondenschein‹.« WIR BEKOMMEN DEN EINEN ODER ANDEREN SILBERSTREIF DER MAGIE ZU SEHEN, ABER NIEMALS DAS SILBERNE FEUER, NACH WELCHEM ICH STREBE! UND AUCH NICHTS ANDERES, DAS ICH MIR ANEIGNEN ODER SONST WIE ZUNUTZE MACHEN KÖNNTE! ICH BIN 332
ES MÜDE, MICH MIT EINEM SOLCHEN
TROTTEL
ZAUBERER EUCH JETZT
VON
HERUMPLAGEN ZU MÜSSEN ... DESWEGEN WERDE ICH GAR NICHTS ANTUN!
VERFALLT ABER NICHT AUF DEN WAHNWITZIGEN GEDANKEN, ICH HÄTTE EUREN UNGEHORSAM VERGESSEN UND IHR KÄMT UNGESTRAFT MIT EUREM LÄCHERLICHEN TROTZ DURCH. EHER ALS EUCH LIEB SEIN KANN, WERDET IHR NÄMLICH SCHON GANZ ANDERS DARÜBER DENKEN! Mirt schaute zur Decke hinauf, welche sich im Mondlicht silbern gefärbt hatte, blinzelte und keuchte heiser: »Nein! Bei allen Göttern, bitte nicht!« Der Geldverleiher war immer noch angezogen, und der Schwertgriff befand sich unter seiner geballten Faust ... Von Amril Zoars Klinge tropfte noch Sturms Blut ... Der alte Wolf hatte schon fast ganz vergessen, wie es dazu gekommen war, aber jetzt kehrte die Erinnerung wie eine Flutwelle in sein Bewusstsein zurück. Und mit ihnen das Gesicht Elminsters ... in einem furchtbar zugerichteten Zustand. Ein verzweifelter, unsteter Geist, kaum mehr als ein Schatten seiner selbst, der flehte und bat ... dazu ein grässlich misshandelter Körper ... und das in einer stinkenden Steinwüste unter einem roten Himmel... Dabei konnte es sich nur um Awernus handeln. »Wenn ich mich bereit fühle, nach einem Platz zum Sterben Ausschau zu halten«, erklärte Mirt seinem Schwert, als er es hervorzog und das Mondlicht betrachtete, welche die ganze Länge der Klinge in Besitz 333
nahm, »werde ich mich nicht unbedingt in der Hölle umsehen. Das wollte ich nur einmal klarstellen!« Grunzend rollte er sich aus dem Bett, steckte die Füße in die Stiefel, stieß einige Male nach, bis sie ganz nach unten gelangt waren, und stampfte durch den Flur. Damit betrat er einen Weg, von dem es vielleicht keine Rückkehr gab. Aber der alte Wolf wollte verdammt sein, wenn er von dieser Erde abtrat, bevor er nicht gesehen hatte, was – Asper, welche im Halbdunkel wie eine bleiche Flamme wirkte, stürmte nackt aus ihrer Kammer. Offenbar war ihr noch nicht in den Sinn gekommen, sich zu kämmen. Dafür hielt sie in der einen Hand ihr Schwert und in der anderen ein Paar Stiefel. »Einbrecher?«, rief sie und wäre bei dem Versuch, sich Mirt in den Weg zu stellen, beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert. »Wozu sonst sollte der Herr selbst auf den Beinen sein?« »Schlimmer als Einbrecher, Mädchen. Elminster hat gerufen. Er braucht mich.« »Was ist geschehen?« »Er sitzt in der Hölle fest, in immer währenden Qualen«, antwortete der alte Wolf. »Wohin ich mich früher nie gewagt habe!« »Nein, Mirt!«, schrie Asper und verlor die letzte Farbe aus dem Gesicht. »Ihr dürft nicht dorthin! Nicht in die Hölle! Ihr kämt nicht einmal in die Nähe Elminsters, da hätten die Teufel Euch schon mit ihren Klauen zerfleischt und ... und ...« 334
Die junge Frau warf ihre Stiefel in eine Ecke und hängte sich an seinen Arm. »Kein Freund ist es wert, sein Leben für ihn zu geben ... Erst recht nicht dann, wenn man ihm mit seinem eigenen Tod nicht den geringsten Nutzen bereitet!« Mirt sah sie streng an, und seine Augen leuchteten wie zwei lodernde Fackeln. Er wollte die junge Frau von sich abschütteln, doch das erwies sich als gar nicht so einfach. Ihre Finger hingen an seinem Arm wie Eisen an einem starken Magneten. »Das mag aus Eurer Sicht stimmen«, brummte der Geldverleiher. »Da Khelben und Laeral fortgezogen sind und nur die Götter allein wissen mögen, wohin sie sich gewandt haben, steht mir nur noch eine Waffe zur Verfügung, mit welcher sich Teufel in Stücke hauen lassen!« Tränen liefen Asper übers Gesicht. »Was redet Ihr denn da?« Der alte Wolf schob das Kinn vor, befreite seinen Arm, packte sein Schwert fester und schritt zur Treppe. »Halaster Schwarzmantel. Ich muss ihn finden. In Unterberg. Und ihn davon überzeugen – Ha! Was für ein Ansinnen! –, sich seinen Weg hinab in die Hölle zu kämpfen, dort den letzten Prinzen von Athalantar zu befreien und zu mir heraufzubringen. Und das ohne Säumen und Zögern. Denn nur so dürfte es möglich sein, dass noch ein bisschen Leben in Elminster steckt, sobald er hier angelangt ist.« Mirt kicherte vor sich hin, aber das klang überhaupt nicht nach einem Heiterkeitsausbruch. 335
»Nein, Mirt, nicht!«, kreischte Asper, biss sich in die Hand und fing dennoch an zu schluchzen. »Das könnt Ihr nicht! Das dürft Ihr nicht! Elminster muss verrückt geworden sein! Ihr –« »Ich muss!«, brachte er sie zum Schweigen. »Ob ich überlebe oder zugrunde gehe, ich muss zu ihm. Wenn ich meinen besten und ältesten Freunden nicht beistehe, wer bin ich dann noch? Und wofür habe ich dann gelebt?«
336
11 Alte Teufel, neue Listen
Bloße und dornige Äste von verkrüppelten Bäumen ragen wie verzweifelte Arme in den blutroten Himmel. Elminster Aumar sandte ihnen seine Seufzer ... Wenigstens konnte er sich wieder bewegen und auf einer der letzten Stationen auf seiner unwiederbringlichen Reise zum Tod noch einige neue Eindrücke sammeln. So viel unerwartete Gnade und Freiheit schenkte ihm tiefen und umfassenden Trost. Der Alte Magier krabbelte auf aufgeschürften Knien, und sein Körper strotzte vor öligen grünschwarzen Stacheln. Elminster hoffte, sie würden auf die hiesigen Teufel wenigstens halb so unappetitlich wirken wie auf ihn. An die Blutspur, welche er hinterließ, mochte der letzte Prinz von Athalantar lieber gar nicht erst denken. Zweimal schon hatte er anhalten und herumrollen müssen, um Maden zu zertreten, welche an seinen Füßen nagten. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er darüber hinaus innegehalten, gewürgt und sich übergeben hatte, weil das, was er hier zu sehen und zu hören bekam, unglaublichen Brechreiz in ihm auslöste. 337
Zurzeit schlugen die verschiedenen Teufel sich gleich über ihm am Himmel und zerfleischten und zerrissen sich auf die unbeschreiblichste Weise. Mit besessener Gründlichkeit oder gründlicher Besessenheit weideten sie Augenhöhlen aus und rollten Eingeweide auf. Dass dabei etliches auf die Felsen am Boden klatschte, störte sie nicht im Geringsten. Ja, sie schauten nicht einmal nach unten, und das empfand der Alte Magier als Segen. So kroch Elminster weiter und immer weiter. Innerlich belustigte es ihn, was für einen abstoßenden Anblick er bieten musste. Immerhin war er vor Zeiten einmal eine junge Frau mit rabenschwarzem Haar und samtweichen Hüften gewesen; da durfte er sich jetzt nicht beschweren, wenn das Schicksal ihn auch einmal in ein abstoßendes Etwas verwandelte. Auch würden die Felsen hier unten ja doch keinem alten Narren von Zauberer Gehör schenken, welcher sich nur über sein verändertes Aussehen beschwerte. Genauso wenig wie den Klagen und Flüchen der anderen Unglücklichen. Jetzt bebte der Boden unter der Wucht einer unterirdischen violetten Explosion. Elminster versuchte, sich lieber nicht vorzustellen, zu welchen Todesfallen sich Höhlen nach solchen Erschütterungen entwickeln mussten ... Ein neuer zischender Feuerball raste schon über den Himmel. Der Alte Magier konnte sich an den zehn Fingern ausrechnen, dass ihm hier unten das Glück nicht mehr 338
lange treu sein würde. In diesem verwüsteten Landstrich, welcher nur aus Felsen, Feuer und giftigen Gasen zu bestehen schien. Und in dem sich Teufel auf der Suche nach Essbarem herumtrieben, von dem es hier viel zu wenig gab. Wo aber auch Streifen ihre Runde gingen und sich erbarmungslos auf jeden stürzten, der ihnen als Störenfried erschien – also eigentlich jeden, welcher nicht in ihrer Truppe Dienst tat. In der Ferne sauste eine Kompanie Abischai im geordneten Sturzflug auf eine Gruppe Nupperibos hinab, um sie mit ihren Speeren zu Tode zu stechen. Nein, sein Glück würde nicht ewig währen und eher früher als später aufgebraucht sein. Oder sogar noch früher. Denn als Elminster zum ungefähr eintausenddreihundertsiebenundzwanzigsten Mal abrutschte und mit dem Bauch auf rasiermesserscharfen Steinen landete, so dass ihm ein lautes »Uff!«, entfuhr, sah er vor sich einen Schweif mit breiter Spitze und allerlei Dornenauswüchsen aufsteigen. Dieses glänzend schwarze Gebilde besaß die Ausmaße seines Kopfes und konnte nur zu einem riesigen Körper gehören. Elminster konnte gerade noch rechtzeitig das Gesicht in die spitzen Steine pressen, als der messerscharfe Schwanz auch schon dicht über seinem Hinterkopf hinwegfegte. Und ihm einen Hieb versetzte. Der Schlag hallte in Elminsters Schädel wider, und er erhob sich auf wackligen Beinen. Der Schweif hatte ihm 339
die Kopfhaut aufgerissen; dies aber dergestalt, dass ihm das Blut über den Nacken rann ... und nicht über Stirn und Augen. Was für ein Glückstreffer! Diesen sarkastischen Gedanken pflegte er in seinem Bewusstsein, damit Nergal nichts von dem mitbekam, was er jetzt beabsichtigte. Er setzte nämlich ein Quäntchen Silberfeuers dazu ein, die Blutung zu stillen. Dann hob er den Kopf, um festzustellen, wer oder was ihn gerade verwundet hatte. »Oho!«, schnurrte ein Wesen, bei welchem es sich nur um einen weiteren ausgestoßenen Teufelsfürsten handeln konnte. Jetzt schob es sich ganz aus der Mulde zwischen den Felsblöcken. »Wen haben wir denn da?« Drei lange und sehnige Schlangenschwänze lösten sich von den Steinen, um welche sie sich geringelt hatten. Sie vereinigten sich in einem Körper mit obsidianschwarzer Haut. Dieser zeigte sich als weiblicher Oberkörper mit üppigen Formen. Aus den Schultern wuchsen jedoch zwei Fledermausflügel: schwarz auf der Unter- und rubinrot auf der glatten Oberseite. Ein gehörntes Haupt krönte einen zu langen Hals, und aus dem Mund zischelte eine gabelartig gespaltene Zunge. Aber darüber hinaus wirkte das Wesen durchaus menschlich und sehr anziehend. Zu dumm nur, dass es sich bei den Fingern, welche die Bestie jetzt nach dem Alten Magier ausstreckte, mehr um gekrümmte Krallen handelte – lang und gebogen wie ein Adlerschnabel. 340
Die drei Schweife flogen nach oben und klatschten dann auf die Felsen herab. Gleichzeitig und zu dem Behuf, den Teufel wellenartig voranzubewegen. Der wackelnde Kopf kam dem des Elminster somit recht nahe. Dunkelbierbraune Augen, in deren Tiefen Flammen loderten, starrten in die ebenso müden wie hellgrauen des Menschen. Wunderschöne rote Lippen verzogen sich zu einem belustigten Lächeln. »Ein banngeschlagener Mensch, wenn ich mich nicht irre? Da frage ich mich doch, warum man ihn so zugerichtet hat. Nun will ich doch gleich einmal feststellen, um wen genau es sich bei Euch handelt, ehe ich mir Euch zum Abendbrot brate... ... oder aber zu meiner Zerstreuung in einen angenehmer anzuschauenden Burschen verwandle.« Die Schlangenteuflin richtete sich ein Stück weiter auf, zischelte und flatterte in wohligem Schauer mit ihren Flügeln. Dann schickte sie einen Gedankenspeer in Elminsters Bewusstsein und stieß dort natürlich auf Nergal. (rubinrote sonne erstrahlt weitet sich schlangen bewusstsein dringt tiefer ein) (tentakel bewehrter riese dreht sich um sieht nach dem störenfried sammelt seine kräfte) »Ja, schau, ja, sieh mal einer an. Ihr seid ja ein richtig großer Zauberer ... und wie viele Erinnerungen Ihr besitzt ... Sowohl unterhaltende wie auch überaus nützliche ... Man muss nur die richtige Stelle im Gedächtnis 341
finden ... Doch halt! Hier finde ich eine Verschmutzung in Eurem Geist, einen Schmutzfleck, welcher mir doch irgendwie bekannt vor–« MALACHLABRA! »Nergal!« STERBT, SCHLANGENHURE! »Nein, es ist an Euch, von den Würmern gefressen zu werden, Ihr Popanz von einem großmächtigen Fürsten!« (gedankenspeer abgewehrt hinterlässt fürchterliche schmerzen) Elminster schrie, als Wände zusammenfielen, Decken herunterkamen und ganze Räume einstürzten ... (geistespfeile schnellen eins zwei drei heran – werden abgewehrt fliegen zu ihrer quelle zurück) Der Alte Magier schrie immer noch ... »Menschlein, man kennt mich als Malachlabra, die Herzogin der Hölle und die Tochter des Antivaters! Schlagt Euch auf meine Seite, und ich befreie Euch von diesem Tentakel-Unhold!« (gedankenspeer trifft auf gedankenspeer großer blitz markerschütternder schmerzensschrei) Elminster schwankte wie ein Rohr im Wind, während in seinem Geist die Speere und Pfeile hin und her flogen. »Mensch, ich ... Oha! Euer Name ist Elminster! Elminster Aumar. Ihr müsst zu mir kommen! Sputet Euch, sagt Euch von ihm los, und schlagt Euch auf meine Seite!« Herbeigleitende Abischai eilten sich kreischend und 342
fauchend, aus dem Weg zu kommen, als die Tochter des Antivaters sich zur vollen Größe erhob und Feuerkometen mit einer Macht ausspuckte, dass sie über ganz Awernus hinwegströmten. Gleichzeitig bohrte die Herzogin der Hölle eine grausam lange Kralle in das widerwärtige Untier, welches jetzt zu ihren Füßen lag. Dessen gellende Schreie gingen in hustenartigem Bellen unter. Selbst die Maden schreckten vor dem verbrennenden, zerplatzenden und nasse Gase ausstoßenden Opfer der Herzogin zurück. Weit entfernt erbebte der Boden wieder, und Malachlabra stieß einen Triumphschrei aus. Sie lachte immer noch und hatte sich hoch in den Himmel aufgerichtet, welchen sie mit ihren Klauen zerfetzte – als Nergal ihr seine Antwort erteilte. Der rote Himmel flackerte, regnete violett herab und rollte für einen Moment zu den Rändern zurück. Und das dabei entstehende Loch spuckte gewaltige Kugeln aus purpurfarbenem, tosendem Feuer aus. Sie prasselten von allen Seiten auf die Höllenherzogin ein. Und sobald sie die Schlangenteuflin trafen, explodierten sie. Zuckende Klauen schnellten wie Peitschen oder schwer wie Pflugscharen an Elminster vorbei. Steine regneten auf ihn, und er drohte, in den glitschigen Fleischklumpen der Herzogin zu ertrinken. Herausgerissene und abgesprengte Stücke aus ihrem Leib tanzten noch eine ganze Weile dort in der Ferne, wo die Wucht der Explosion sie hingeschleudert hatte. 343
Wo Malachlabra eben noch gestanden hatte, zeigte sich jetzt nichts mehr bis auf rauchende, durcheinander gewirbelte Felsen und natürlich schwarzer und blutiger Schleim – welcher buchstäblich alles bedeckte. Als Nergals Lachen durch Elminsters Geist dröhnte, erbebte das abartig verunstaltete Wesen aus Zähnen und verdrehten Gliedmaßen. Doch wenigstens hörte es darunter auf, sich immer weiter zu verändern. Verdreht und schnaufend wand sich der geschundene Alte Magier zwischen den mit Blut besudelten Steinen. Maden reckten ihm überall ihre hungrigen Mäuler entgegen. Gelblich weiß und voller glänzendem Schleim bissen sie zu. Elminster war so sehr in der Dunstwolke seines Leidens gefangen, dass er von ihrem Fressen und Beißen nichts mitbekam. AHA, KLEINER MANN, IHR VERMÖGT ALSO, NACH BELIEBEN EURE GESTALT ZU VERÄNDERN? DANN HÄTTEN WIR DA JA EIN WEITERES GEHEIMNIS, WELCHES IHR MIR AUSHÄNDIGEN WERDET! VERLASST EUCH DRAUF, AM ENDE HALTE ICH SIE ALLE IN HÄNDEN! EINES WILL ICH EUCH ABER ZUGESTEHEN, BEIM ZUGEFRORENEN STYX! IHR MACHT ES EINEM WIRKLICH NICHT LEICHT! MAN MUSS EUCH GANZ UND GAR AUSEINANDER REISSEN, EHE MAN DAS LETZTE EURER GEHEIMNISSE ERRUNGEN HAT! (durch ströme von blut schiebt sich das tentakelwesen unaufhaltsam voran durch viele dunkle und zerschmetterte räume sucht es das leuchtende geheimnis der gestaltverwandlung) Das silberne Feuer verging unmerklich, und nur 344
noch Tropfen erschienen dort, wo ganze Ströme erwünscht gewesen wären. Mit immer noch schmerzverzerrtem Gesicht wand Elminster sich weiterhin am Boden und schlug nach Maden. Nergals Gedankensucher bohrte sich tiefer und tiefer in sein Bewusstsein, und dabei wandelte sich der veränderte Körper Elminsters zurück. Sein lang gezogener Oberkörper mit den tiefen Rissen bildete sich wieder zu einer Brust, und daraus wuchsen auch wieder menschliche Arme. Der Alte Magier stöhnte und schickte ein wenig Silberfeuerregen über die Maden, welche sich an ihm gütlich taten. Die Beißer, welche davon getroffen wurden, fielen auf der Stelle tot herab. Elminster brach stöhnend zusammen. Soll Nergal doch glauben, dass ich selbst die Gestaltveränderung bewirkt habe und nicht Malachlabra. Hauptsache, er lässt sich davon ablenken und bemerkt das Silberfeuer nicht ... (ein großer gehörnter köpf dreht sich ruckartig nach links und nach rechts schaut überall hin während er sich immer weiter zu der stelle in der gedankenweit vorankämpft wo die roten flüsse verschwinden – während er stampft und späht ziehen die tentakel blutige spuren) »Stirb, teuflischer Magier!« Speere bohren sich wie Flammenzungen in seinen Rücken. Elminster will einen Fluch von sich geben, welcher sich aber nur in einem Blutschwall äußert. 345
Speerspitzen stechen in ihn, während er Blut spuckt, schieben ihn zwischen die Zinnen und stoßen ihn hinab in die Leere – dem stinkenden Burggraben entgegen. Jubel brandet hier und dort auf, als sie ihn fallen sehen. Aber bevor er unten aufschlägt, verwandelt sich die Begeisterung in Entsetzen und Geschrei. Denn Elminster wird dort nicht so landen, wie man es für ihn vorgesehen hat. Der Ring an seinem Finger hat seine Arbeit getan. Seine Knochen fühlen sich jetzt wie Gummi an, sein Körper erscheint ihm weich, unwirklich und ungesund ... Der Magier fällt nicht mehr, er schwebt. Und er verwandelt sich immer noch, während er um Atem ringt. Elminster starrt auf das Wasser und die ekelhafte Schicht, welche darauf schwimmt. Beides kommt ihm immer näher und näher. Als er nur noch eine Mannslänge vom der Brühe entfernt ist, hat sich die Verwandlung des schwarz gekleideten Mannes abgeschlossen. Aus ihm ist ein schwarzer Stern geworden. Die dunkle Strahlung hält kurz vor dem Eintauchen einen Moment wie erstarrt an, und die Zuschauer tuscheln aufgeregt miteinander. Der Stern aber schwebt zur Seite davon, so als ob ihn eine Brise erfasst hat, blinzelt noch einmal und ist dann nicht mehr zu sehen.
346
Schwarze Teiche blubbern und verbreiten üblen Schwefelgestank. Wespen landen auf den Köpfen von Untertauchenden, von Gefangenen, welche man durch Zauberkraft dort hineinversetzt hat. Die grausamen Insekten haben ihren Stachel tief in das Fleisch der Unglücklichen gebohrt, sondern ihr Gift ab und saugen dafür Blut aus. Um sich schlagend und Schaum schlagend, sinken die Gefangenen immer tiefer. Ein plötzliches Beben wirbelt die Brühe auf. Stößt Brustkörbe von Riesen voller schwarzen Schleims nach oben. Zusammen mit Gebilden, welche so sonderbar geformt sind, dass man sie nicht wieder erkennen kann. Sie alle fliegen in hohem Bogen aus dem Sumpf. Aus der Mitte des Strudels aber steigt eine Wolke aus Rot und Schwarz auf. Zuerst dreht sie sich rasend schnell um sich selbst. Wird dann aber immer langsamer. Bleibt schließlich ganz stehen. Und offenbart sich als – »Malachlabra, die Herzogin der Hölle und Tochter des Antivaters!«, murmelte die zuschauende Tasnya. Sie verscheuchte ihre Fernsicht mit einer lässigen Handbewegung. Die ferne Teufelin sollte keine Gelegenheit erhalten, ihre Beobachterin zu erahnen. »Ihr seid eine so halsstarrige Närrin«, tadelte Tasnya. »Schon beinahe so schlimm wie Nergal.« Sie lächelte, weil sie so geschickt war, und rollte sich auf die Seite, um einer Erinnye die Kehle durchzubeißen. 347
Die anderen fingen an zu wimmern und wichen vor dem Gemetzel zurück. Die Teufelchen jedoch, welche über Tasnya schwebten, ließen keinen Moment in ihrer Arbeit nach. Sie peitschten die Teufelin so, wie sie es ihnen befohlen hatte. Und das mit den kleinen Stachelpeitschen, welche die Herrin selbst angefertigt hatte. Bei den Neunen, wie liebte sie doch den Schmerz! SCHON WIEDER VERSUCHT IHR, MENSCHLEIN, MICH HEREINZULEGEN! FÜR WIE BLÖDE HALTET IHR MICH EIGENTLICH, WAS? (schweigen) JA, IHR SOLLTET EUCH JETZT AUCH LIEBER NICHT BEMERKBAR MACHEN! FEUER UND BLUT! WIE HABT IHR JEMALS ETWAS IN DIESEM PFUHL VON EINEM GEIST FINDEN KÖNNEN? VON JEDER VERKNÜPFUNG GEHT EINE SEITENVERBINDUNG AB! BEI JEDER ERINNERUNG FINDET MAN ZWEI ODER DREI ANDERE, WELCHE SIE ÜBERLAPPEN! DABEI TANZT IHR DIE GANZE ZEIT WIE EIN KLÄFFENDES TEUFELCHEN VOR MIR HERUM UND HALTET MIR EINEN KNOCHEN HIN, WÄHREND ICH IN WAHRHEIT NACH EINEM GANZ ANDEREN SUCHE! SOBALD ICH EURE GEHEIMNISSE ERST EINMAL ALLE AUFGESPÜRT HABE, WIRD ES MIR EIN GANZ BESONDERES VERGNÜGEN SEIN, EUCH LANGSAM UND SCHMERZHAFT ZU TODE ZU BRINGEN! DANN REISSE ICH ORGANE AUS EUCH HERAUS, VON DENEN IHR GAR NICHT WUSSTET, DASS IHR ÜBER SOLCHE VERFÜGT! 348
(schweigen durchzogen von verhaltener belustigung) JA, JA, ICH WEISS, IHR MACHT EUCH ÜBER UNS TEUFEL LUSTIG, IHR KLEINER MENSCHENWURM, WEIL WIR UNSERE DROHUNGEN OFFEN UND BRUTAL AUSSTOSSEN! OHNE SPRACHLICHE FEINHEIT UND OHNE STILEMPFINDEN! ABER ICH WILL EUCH ETWAS SAGEN! WENN MAN ERST EINMAL VOR RASENDEN SCHMERZEN NICHT ANDERS KANN, ALS SICH DIE SEELE AUS DEM LEIB ZU BRÜLLEN, BLEIBT EINEM KEINE GELEGENHEIT MEHR, SICH ÜBER ANDERE ZU BELUSTIGEN! NICHT MEHR ALLZU LANGE, DANN WERDET IHR DAS AM EIGENEN LEIB HERAUSFINDEN DÜRFEN! UND JETZT WILL ICH ENDLICH MEHR VON EUREN ERINNERUNGEN SEHEN! ALSO, WORAUF WARTET IHR NOCH? Dampfende Suppenteller reihten sich vor ihnen auf dem knorrigen Küchentisch. Rechts von jedem Teller stand ein Krug mit heißem Apfelwein. Aber die beiden Frauen mit dem silbernen Haar achteten weder auf das eine noch das andere – waren sie doch viel zu sehr damit beschäftigt, über den neuesten »Herzstahl«-Roman aus Sembia zu kichern. »›Mit blitzenden Augen«, verkündete eine zitternde Stimme, welcher man anhörte, dass sie jeden Moment in Prusten ausbrechen würde, schleuderte sie Dweomer, welche grell aufleuchteten, auf die Erscheinung aus der Anderwelt in ...‹« Die andere Frau stöhnte vor Abscheu und Tadel, ehe sie einen halben Atemzug später ihrer Schwester ins schallende Gelächter folgte. Sturm, welche nicht nur das Buch in den Händen 349
trug, sondern darüber hinaus gegenwärtig auch noch den Titel einer Gemeindevorleserin, bekam ihren Heiterkeitsausbruch als Erste wieder in den Griff. Sie schüttelte sich das lange Haar aus dem Gesicht, beobachtete die auf und ab wackelnden Schultern ihrer Schwester einen Moment lang und meinte dann streng: »Genug mit diesem Herumgealbere, wie haben noch den Großteil dieses epischen Meisterwerks vor uns!« »Eine Mieder sprengende Saga um gebrochene Herzen und flammende Zauber!«, zitierte Sylune und prustete schon wieder los. »Wo kühn geführte Degen dem Bösen mitten ins Herz stechen – und alle Keuschheitsgürtel aufschlitzen, welche ihnen dabei in die Quere kommen!« Sturm sah sie tadelnd an. »Nein, das steht hier nicht«, widersprach sie mit gespielt ernsthafter Miene, welche jedoch durch ihre zuckenden Mundwinkel zunichte gemacht wurde. »Es heißt dort nämlich ›und die auf dem Weg dorthin den einen oder anderen Keuschheitsgürtel aufschlitzen‹, also da bin ich mir vollkommen sicher.« Die Gemeindevorleserin machte sich aber nicht die Mühe, an der entsprechenden Stelle nachzusehen. Sylune gab zur Antwort nur einen neuen Kicheranfall von sich, vergrub schließlich das Gesicht unter den Händen und gab ihrer Schwester durch Zeichen zu verstehen, dass sie unbedingt fortfahren solle. Sturm bedachte sie mit einem tadelnden Blick, rückte dann die reich verzierte und randlose Dienstbrille auf ihrer Nase gerade (dieses Stück erhielt man für die Dau350
er der Amtsausübung; den Grund dafür hatten die beiden Schwestern aber schon vor Jahrhunderten vergessen) und räusperte sich schließlich vernehmlich. Sylune besann sich ihrer Zuhörerpflicht und setzte sich gerade hin. Ihre Augen tränten noch, und sie starrte lieber angestrengt an die Decke, als ihrer Schwester jetzt noch einmal, und sei es nur durch Zufall, ins Gesicht zu blicken. Sturm verfolgte diese Anstrengungen mit einem leisen Lächeln, legte sich das Buch dann wieder zurecht und fuhr fort vorzulesen. »›Der edle Hengst, unter dessen blauschwarzem Fell sich die Muskeln bewegten, wieherte so laut wie eine altehrwürdige Tempelglocke, als der vornehme Ritter in seiner glänzenden Rüstung sich mutig über den bauchhohen Rand der modernen Balkonbrüstung schwang, das zierliche Spalier mehr hinunterbrach als -stieg, dabei ein Getöse veranstaltete, als würde er in den übel riechenden Dunghaufen krachen und endlich auf dem Sattel mit dem hohen Hinterzwiesel landete – allerdings mit dem Gesicht zum breiten Hinterteil des strammen Rosses. Das laute Klappern des geschundenen Metalls und das jaulende Kreischen des heldenhaft gesprungenen Ritters hielten sich in etwa die Waage, bis schließlich die menschliche Stimme über das unbelebte Metall die eindeutige Oberhand gewann ... Wie dem auch sei, das getreue Schlachtross erschrak über das unerwartete Getöse noch mehr als das unerwartet gekommene, zusätzliche Gewicht auf seinem starken Rücken. Es stellte sich auf die kräftigen Hinter351
beine, hätte damit den hilflosen Sir Taen beinahe erneut aus dem hohen Sattel geworfen und stürmte dann in gestrecktem Galopp an der gesamte Länge des luxuriösen Schlafzimmers vorbei. Die entsetzte Prinzessin fuhr gerade rechtzeitig aus ihrem weichen Bett hoch, um mit eigenen Augen zu sehen, wie ...‹« »Aufhören!«, krächzte Sylune, welche vor Lachen kurz vor einem Erstickungsanfall stand. Der Schaukelstuhl unter ihr ächzte und stöhnte, als er immer schneller vor und zurück musste, als solle er mit dem Pferd aus der Geschichte Schritt halten. Sturm verfolgte mit einiger Heiterkeit, wie der Schaukelstuhl sich tatsächlich in Bewegung setzte und Stück für Stück die Stangen von Sylunes Mieder gefährlich nahe an die Tischkante heranführte – und noch eine Handbreit weiter. Die Frau hörte nicht auf zu lachen. Selbst dann nicht, als der Schaukelstuhl wie ein Katapultarm nach vorn schnellte und Sylunes Kinn mit dumpfem Knall auf dem Löffel landete. Dieser schoss daraufhin wie eine Rakete hinauf unter die Decke. Sturm wartete darauf, dass der Löffel wieder nach unten kam, fing ihn dann mit geschickten Fingern auf und bemerkte: »Würdet Ihr bitte die Güte haben, nicht mit dem Besteck zu jonglieren? Wir befinden uns hier schließlich nicht an der Tafel des Königs!« Das brachte ihre Schwester natürlich noch mehr zum Lachen. Sie warf sich ungestüm nach hinten, und ihr Schaukelstuhl verstand dies als Aufforderung, sei352
nem Namen Ehre zu machen. Also schaukelte er – und zwar heftigst! Sturm verdrehte die Augen, seufzte und erklärte der Decke ihres Gutshauses: »Es heißt zwar, fragen kostet nichts, aber ich fürchte, das jetzt könnte einfach zu viel erfordern ... insofern jemand versteht, was ich meine?« Die Decke schien verstanden zu haben, denn etwas Kleines und Leichtes schwebte nun von oben herab, segelte zwischen den staubigen Querbalken hindurch und schien in all dem Gelärme seinen Halt verloren zu haben. Sturm fing das kleine Etwas auf ... und starrte dann auf ihre Handfläche. Ein Papierfrosch, welchen einer ihrer Harfner-Lehrer vor drei Sommern gefaltet hatte. Offenbar hatte er irgendwann die Lust daran verloren und ihn hinauf unter die Decke geschnippt. Während sie den geschickt gefalteten und geknickten Frosch betrachtete, fiel alle Heiterkeit von ihr ab, und darunter zeigte sich nur noch Traurigkeit. Letzten Winter hatten sie die alten Knochen dieses Harfners oben im Teschen-Hinterland begraben. Mehr als dieser kleine Frosch hier war nicht von ihm übrig geblieben. »Schwester«, sagte die Vorleserin jetzt leise, und ihre gute Laune war vollständig verflogen, »ich muss gehen. Alustriel kann Euch den Grund dafür nennen.« Sturm hob den Blick von dem Frosch und sah Sylune an. Der Kopf ihrer älteren Schwester kippte langsam nach vorn, Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel, und ihre Augen waren leer. 353
Und im nächsten Moment landete sie mit dem Gesicht in einem der Suppenteller. Die jüngere streckte einen ihrer langen Arme aus und bekam zu spät den Haarschopf ihrer Schwester zu fassen. »Nicht in meine Suppe! Wie oft soll ich Euch das noch sagen?« Aber die ausgelassene Stimmung von vorhin ließ sich nicht wieder beleben. Sturm zog Sylune in eine sitzende Stellung hoch, setzte den Papierfrosch so behutsam ab, als handelte es sich dabei um eine unbezahlbare Kostbarkeit, und seufzte tief. Dann nahm sie ihre abgelegte Schürze und wischte der älteren die Suppe aus dem Gesicht. Nach ihrer leeren Miene zu schließen, nahm Sylune nichts mehr von ihrer Umgebung wahr. Sturm nahm den verlassenen Körper ihrer Schwester auf, so als wiege er kaum etwas, und trug ihn hinauf in ihre Kammer. Die Bardin von Schattental betrachtete ihre Schwester, seufzte und schob dann den neuesten »Herzstahl«Roman zwischen die leblosen Hände, damit sie ihn an ihre leblose Brust pressen konnte ... Nur für den Fall, dass Sturm nicht anwesend wäre, wenn Sylune in ihren Körper zurückkehrte. Dann begab sich die jüngere Schwester wieder nach unten und ging gleich weiter, um vor das Haus zu treten und einen langen Blick auf das Tal zu werfen, welches sie so sehr liebte. Auf dem Weg hinaus nahm sie ihren Krug Apfelwein 354
vom Tisch mit. Beim Trinken fragte sich die Vorleserin, wie viel Zeit ihr wohl noch bliebe, bis man auch sie aufrief, in den Krieg zu ziehen ... NEIN! NEIN! AUFHÖREN! DAS WAR JA SCHON WIEDER DIE REINE ZEITVERSCHWENDUNG! SCHÖNE MENSCHEN, DIE EDLE DINGE TUN – ODER AUCH NICHT! ABER WAS HABE ICH DAMIT ZU TUN? WAS SCHEREN MICH SOLCHE TUGENDBOLDE? ICH WILL MAGIE, VERDAMMTER KERL! VERWÜNSCHTER MENSCH! WIE KÖNNT IHR ES IMMER NOCH WAGEN, MIR ZU TROTZEN? WAS GIBT EUCH DEN MUT DAZU? (knurren wird aber mit aller kraft unterdrückt) NEIN, NICHTS DA! ICH LASSE MICH JETZT NICHT DAZU HINREISSEN, EUCH ZU ZERFLEISCHEN! NOCH EINMAL WILL ICH IN EURE GEDANKEN EINTAUCHEN. DOCH DIESMAL SUCHE ICH NACH PERSONEN, WELCHE IHR ZWAR ACHTET, MIT DENEN IHR EUCH ABER NICHT SO RECHT GEMEIN GEMACHT HABT! MAL ÜBERLEGEN ... WAS KÖNNTE EURE ACHTUNG MEHR ERRINGEN ALS UNVERGLEICHLICHE MACHT? WIE ZUM BEISPIEL MAGIE, MIT WELCHER SICH GANZE KÖNIGREICHE BEZÄHMEN LASSEN? DAS WÄRE NATÜRLICH AUCH DIE ART VON MAGIE, WIE ZU BESITZEN SIE MIR VORSCHWEBT! (rote augen brennen gelangen in dunkle räume reißen alle bilder hernieder welche sich hier finden lassen schleudern sie beiseite suchen nach mehr dringen immer tiefer ein) »Ed-edle Königin!«, rief die junge Frau mit zitternden Lippen, während ihre Miene sich in eine Maske des Entsetzens auflöste. Sie bibberte jetzt am ganzen Kör355
per, aber nicht vor Kälte, und war vor Schrecken so gelähmt, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Wie gern hätte die junge Frau sich jetzt woanders aufgehalten. Möglichst weit fort davon, hier in den königlichen Gärten zu knien und der Königin von Aglarond Blumen anzubieten. Ihre Mutter aber starrte sie mit einem Gesicht so weiß wie eine Wand an. Die Simbul hatte die Stirn in Falten gelegt und blickte missmutig drein. Und immerhin war sie die Hexe, welche die Roten Zauberer mitten entzweizureißen vermochte, dazu Türme zum Einsturz zu bringen und Berge einzuebnen. Der Unmut zeigte sich immer noch auf den Zügen der Hexe. Ihre Haare richteten sich auf und zuckten auf Rücken und Schultern der Simbul hin und her, als besäßen sie ein Eigenleben. Nein, jedes einzelne Haar schien zum Leben erwacht zu sein, und das allein zu dem Zweck, kleine Mädchen zu Staub zu zerblasen, welche es gewagt hatten, Blumen aus dem königlichen Garten anzubieten. Ein leiser Schluchzer riss die Hexenkönigin von Aglarond in die Wirklichkeit zurück. Und ihr Blick fiel auf die wilden und gefangenen Augen des Mädchens, welches dieses Geräusch verursacht hatte. Ein Frösteln befiel die Königin. Nie wieder durfte irgendetwas geschehen, was kleinen Mädchen einen solchen Schrecken einzujagen vermochte. Die Hexe setzte das freundlichste Lächeln auf, zu 356
welchem sie fähig war, ging vor der Kleinen in die Hocke und gab ihr einen kurzen königlichen Kuss auf die zitternde Stirn. »Vielen Dank. Ihr seid in meinem königlichen Garten stets willkommen.« Die Simbul erhob sich, zog das immer noch furchtsame Mädchen mit sich hoch und warf dann einen Blick über die Schulter, um die Mutter der Kleinen zuversichtlich anzulächeln. Die Höflinge, welche das alles verfolgt hatten, lösten sich sichtlich aus ihrer Schreckensstarre. Das kleine Mädchen riss sich von der königlichen Hand los und rannte wie ein Kaninchen auf der Flucht zu den Sicherheit gewährenden Röcken ihrer Mutter. Neben der Simbul stand wieder ihr ältester Leibwächter, und der durfte sich die Kühnheit herausnehmen, sie leise darauf aufmerksam zu machen: »Euer Majestät, Ihr hattet soeben unmutig das Gesicht verzogen.« »Ganz recht«, bestätigte die Hexenkönigin, »denn mir war eine unliebsame Erinnerung gekommen.« »Verstehe«, entgegnete der Leibwächter und trat einen Schritt von ihr zurück, wie es eigentlich seine Pflicht war. Eine Zauberin, welche hunderte von Roten Zauberern in Schlachten vernichtet hatte, in welchen keine Seite der anderen etwas schenkte – und das über viele Jahre hinweg –, besaß sicher mehr als nur ein paar grimmige Erinnerungen, welche ihr ungebeten zu Bewusstsein kamen. Doch die Königin von Aglarond runzelte erneut die 357
Stirn, als sie sich wieder in Bewegung setzte und weiter durch den Garten spazierte. Und dieser neuerliche Missmut rührte von etwas anderem als früheren Zweiund Mehrkämpfen her. Die Erinnerung, welche ihr eben gekommen war, stammte nämlich nicht von ihr. Die Simbul hörte immer noch das Kichern und Prusten ihrer beider Schwestern, die sich über einen albernen Liebesroman ausschütteten ... Dieses Bild war neu für die Hexenkönigin. Flüchtig und sich bereits auflösend versank es in jemandes anderen Gedächtnis ... aber in wessen? Wessen Geist hatte den ihren berührt? Wessen Geist war es gelungen, zwar nur kurz, aber dennoch spürbar zu dem ihren vorzudringen? Wessen Geist? Wessen? Wessen? Wessen?
358
12 Der Harfner ohne Das Einfachste und Selbstverständlichste, was sie jetzt hätte tun müssen, wäre gewesen, sich über das kalte steinerne Sims zu schwingen und in Nacht und Regen hinauszustürzen. Bis hinab in den Burghof ... Alustriel hielt sich an der Brüstung fest, klammerte sich mit zitternden Fingern daran, deren Knöchel alle Farbe verloren hatten. Ja, warum tat sie es eigentlich nicht? Aus Stolz. Einem kleinen, aber hartnäckigen Gefühl, welches sich als letzte Sperre zwischen ihr und den Tod unten auf dem Burghof legte. Ein solches Ende käme rasch, wäre aber unehrenhaft. Eine Schande, ganz recht, und genau die wollte Irlar ihr auch bereiten – mit seinem höhnischen Lächeln und seinen honigsüßen Worten. Alustriel warf noch einen Blick in die Tiefe. Die Nacht verbarg jetzt die Steine vor ihr, welche sie so viele Stunden lang angestarrt hatte. Mittlerweile wäre es noch einfacher. Jetzt in der Dunkelheit und ganz allein. Erst am Morgen würde man sie finden – zerschmettert und tot auf dem Burghof. »Ja, sie ist gesprungen«, würde ihr Onkel dann sagen. Aus dem Mundwinkel ausspucken, den Kopf schütteln 359
und sich abwenden ... und den Dienern das Zeichen geben, sie aufzulesen und zum Verbrennen vorzubereiten. »Nein, ich will nicht, dass er so von mir denkt«, sagte sich Alustriel im Stillen. Sie wandte sich von der Nacht ab und starrte auf ihre wartenden Gemächer. Irlar würde bald zu ihr kommen. Der immerzu lachende junge Fürst mit dem spöttischen Funkeln in den Augen. Irlar, der sie zur Frau nehmen würde. Nicht aus unsterblicher Liebe – auch wenn er seiner Braut alle Aufmerksamkeiten eines liebenden Gatten zuteil werden lassen würde, wenigstens in dieser Nacht –, sondern wegen der Ländereien und sonstigen Reichtümer, welche ihm dieser Ehebund einbrächte. Wenn sich jemand für seine Nichte interessierte, sollte er sie auch ganz und gar nehmen. Um den Schritt dorthin zu versüßen, hatte der Onkel sich nicht lumpen lassen. Onkel Thamator. Die Menschen nannten ihn den Wolf, und wenn er in Rage geriet, wagte niemand, ihn anzusehen. Alle kannten ihn als furchtlosen Krieger, keiner war ihm auf dem Schlachtfeld gewachsen, und als gestrengen Mann. Auch wusste jedermann, dass er zu den Harfnern gehörte. Alustriel erinnerte sich nur mit Widerwillen an ihre letzte Begegnung mit dem Onkel ... sie beide in seinen Gemächern, nach einem Fest, hatten sie Wein getrunken. Zum ersten Mal war die junge Frau mit solchen 360
Dingen in unmittelbare Berührung gekommen. Bernsteinfarbenes Feuer hatte ihre Kehle wie eine dünne, wohl gewürzte Soße gewärmt. Da hatte sie den Mut gefunden, ihn in ihrer ganzen Unschuld und dem Eifer der Jugend zu fragen, wann sie denn endlich zu einer Harfnerin werden würde. Thamator musterte sie aus Augen wie aus farblosem Glas. »Mädchen, ich habe meine Gattin für die Harfner gegeben. Meine Frau und meinen Sohn, welcher noch nicht geboren war und zusammen mit ihr starb. Zu viele Gefährten, als man noch zählen könnte, sind den beiden auf ihrem Weg gefolgt ... Diesen starken rechten Arm hier habe ich den Harfnern gegeben, und er gehört ihnen schon seit dreißig Wintern. Ich habe ihnen selbst mit meinem Schwert Freunde überlassen, wenn sich das als notwendig erwiesen hatte ... Und was, mein Kind, so frage ich Euch, habt Ihr den Harfnern anzubieten?« Er sprach die letzten Worte voller Verbitterung und hielt mit seinem Zweifel an ihr nicht hinterm Berg. Alustriel stand entsetzt und mit bleicher Miene da. Sie wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Und damit überkam sie die Scham. Der Onkel bemerkte, wie die junge Frau immer stärker errötete, betrachtete dieses Schauspiel für einen Moment, wobei er ihr auch ungeniert ins Gesicht starrte, und fuhr dann fort: »Ihr seid ja nicht einmal eine Kriegerin. Aber Ihr besitzt eine gewisse Schönheit, das lässt sich nicht verhehlen. Allerdings kommt Schönheit 361
unter den Menschen nicht so selten vor, dass den Harfnern diese Eigenschaft allein schon von großem Wert sein könnte. Auch glaubt Ihr nicht, dass ein Gott der rechte sei und über allen anderen stehe. Somit entfällt für Euch auch die Möglichkeit, als Priesterin aufzutreten – zumindest nicht als gute. Ihr vermögt zu schweigen und still zu sein, was Euch als Diebin auszeichnen könnte; doch dann gebricht es Euch wiederum an Körperkraft und Schnelligkeit. Und Ihr vermögt erst recht nicht, so geschickt und mit so unschuldsvoller Miene zu lügen, dass Ihr Eure Umgebung leicht täuschen könntet.« Der Herr von Blauturm schritt immer aufgebrachter in der Kammer auf und ab, bis er plötzlich vor der jungen Frau stehen blieb und sie streng ansah. »Also habe ich gutes Geld dafür bezahlt, Euch zu einer Magierin ausbilden zu lassen. Der Zauberer Thurduil meinte nämlich, Ihr wieset eine eigene Geschicklichkeit im Umgang mit dieser Energie auf ... Acht Jahre hat Eure Ausbildung gedauert! Acht Jahre, in denen meine Börse immer leerer wurde. In denen ich alle Arten von Münzen ausgehändigt habe, darunter auch viele Goldstücke! Und was habe ich dafür erhalten? Dass Ihr einen Diener zum Niesen bringen könnt! Ein Streich, meine Liebe, welchen sogar ich zu vollbringen vermag! Und zwar mit einer Prise Pfeffer! Vermutlich hat Gaerd Euch noch weitere solcher Kunststücke beigebracht. Aber die Schuld liegt ja nicht 362
bei ihm, denn er ist doch der Meister ...« Thamator sah sie jetzt so durchdringend an, als wolle er sie mit seinem Blick durchbohren. »Und da erkühnt Ihr Euch zu fragen, wann man Euch endlich in die Reihen der Harfner aufnähme?« Sein beißender Spott traf sie wie ein Hieb. Aber die junge Frau konnte den Blick nicht von ihm wenden. Selbst dann nicht, als er sich auf seinem Sessel niederließ und gefährlich leise hinzufügte: »Geht mir für eine Weile aus den Augen. Ihr seht Eurer Mutter zu ähnlich, als dass ich mir so törichte Fragen vollkommen unvoreingenommen von Euch anhören könnte ...« Er verzog das Gesicht, und man konnte nicht erkennen, ob aus Schmerz oder Überdruss. Einen Moment huschte ein Schatten über seine Züge, und danach wirkte sein Antlitz wieder so glatt und unbewegt wie Stein. Alustriel fuhr herum, stolperte hinaus und wischte sich vergeblich die Tränen fort, welche ihr ungehemmt über die Wangen rannen. Vor zwei Tagen war Irlar an der Spitze einer Gesellschaft vornehmer junger Männer mit wippenden Degen an den Seiten herangeritten gekommen. Als er beim Onkel um ihre Hand anhielt, hatte der es nicht für nötig erachtet, seine Nichte um ihre Meinung zu fragen ... sondern lediglich eine Magd mit dem Auftrag zu ihr geschickt, sie möge sich sputen – und das vor dem gesamten Haushalt. Alustriel fingen immer noch die Wangen an zu glühen, wenn sie an diese Demütigung denken musste. 363
Ausgerechnet Irlar! Derselbe junge Herr, welcher einmal auf einem Schildbraten-Fest vor ihr ausgespuckt und dazu gezischt hatte: »Hinfort von mir, Unreine! Ihr seid von Hexengeblüt! Eine Harfnerin!« Das hatte die junge Frau ihm bis heute nicht vergessen können. Und seinen nach außen hin harmlosen, in Wahrheit aber mit Widerhaken versehenen Fragen während der Abendgesellschaften nach zu schließen, spürte man überdeutlich, dass sich seine Einstellung seit damals nicht geändert hatte. Wenn sie doch nur schon den silbernen Mond und die Harfner-Nadel hätte tragen dürfen, die Abzeichen dieser Vereinigung, von welcher der Onkel ihr eben erklärt hatte, die Nichte sei ihrer nicht würdig. Dann hätte der Junker sich längst wie jemand verkrochen, dem ein Geist begegnet ist. Oder wenn sie sich darauf verstünde, ausreichend Zauberkraft zu entwickeln, um Irlar jedes Mal fortzuwehen, wenn er sich ihr näherte! Dann würde die Angst schon bald die Gier nach den Gütern des Onkels übertreffen. Aber sie war ja viel zu schwach, eine Trophäe, welche sich nicht wehren konnte – und das schien ihrem Bräutigam nur zu bewusst zu sein. Und damit nicht genug – Irlar hatte heute Abend noch einen drauf gesetzt, an dem die junge Frau länger zu knabbern hatte. Beim Wein und einer Sangesdarbietung hatte der Bräutigam ihr angekündigt, heute Nacht, wenn das ganze Haus schliefe, zu ihr zu kommen. Dann wolle er 364
eine Kostprobe von dem erhalten, was ihm mit der Eheschließung zukommen würde. Und Irlar hatte hinzugefügt, wenn sie noch zögere, solle sie sich doch von ihren magischen Kräften beschützen lassen. Alustriel hätte ihm am liebsten ihre Wut ins Gesicht geschrien. Sie fühlte sich wie ein gefangenes Tier! Wie eingesperrt im Käfig des Försters! Nur winzige Siege blieben ihr noch möglich. So hatte die junge Frau zu seinen Sticheleien geschwiegen und in der Hoffnung würdevoll gelächelt, dass ihn das irgendwann entmutigen würde. Aber dann hatte er nur laut und rau gelacht und sich dann während der Feier nicht mehr um sie gekümmert, als verabscheue er sie weiterhin so wie damals. Ließ sich überhaupt irgendetwas von ihrer Magie verwenden? Alustriel betrachtete ihre langen, schlanken Finger, welche im trüben Licht grau wie Knochen aussahen. Nur matt drang einiges Fackellicht aus den Kammern, welche ihrem Gemach gegenüberlagen. Die junge Frau konnte Menschen zum Niesen bringen. Irlar hatte eine dumme Bemerkung darüber gemacht, und danach hatte Alustriel sich geweigert, ihm dieses Kunststück vorzuführen. Sie vermochte auch, aus dem Nichts Töne zu erzeugen, aber nur auf recht eingeschränkte Weise. Am ehesten gelang es ihr, eine einzelne Harfensaite wiederzugeben, und das Ton für Ton. Auf diese Weise konnte sie ein ganzes Lied »spielen«, und dies auch lauter oder leiser, jedoch nur so, wie sie die Melodie im Gedächtnis hatte. 365
Alustriel hatte auch gelernt, ein Geräusch in ihrer Nähe zu erzeugen und von ganz woanders erklingen zu lassen – bis hin zu einem Ort in etwa hundert Schritten Entfernung. Gaerd hatte ihr erklärt, dass sie noch keine Harfnerin sei, und deshalb vorgeschlagen, letzteren Zaubertrick noch eine Weile für sich zu behalten ... zumindest so lange, bis sie sich noch andere Banne angeeignet habe, welche alles in einen anderen Rahmen stellen würden. Das hatte Alustriel ihm zugesagt. Vor knapp zehn Tagen war es der jungen Frau unter der freundlichen Anleitung des Meisterzauberers gelungen, einen großen blauen Funken aus einem ihrer Finger zu einer Geldmünze fliegen zu lassen, welche einige Schritte entfernt auf einem Tisch lag. Das hatte bei der jungen Frau nur ein Prickeln ausgelöst, aber keinerlei Schmerzen ... Dummerweise vermochte sie einen solchen Funken jedoch nur zu erzeugen, wenn sie freudig erregt war, vor etwas große Angst hatte oder sonst wie aufgeregt war. Nun denn, wahrlich keine Ansammlung von beeindruckenden Zauberkünsten. Mehr stand ihr aber leider nicht zur Verfügung … Die junge Frau drehte sich im Dunkeln um und betrat die kleine Kammer, in welcher sie ihre Zaubergeräte und sonstigen Hilfsmittel aufbewahrte. Im Grunde nur allerlei harmloses Zeugs. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus schloss sie die Linke um ein Fläschchen voller Eisenspäne. Das ließ sie dann in einer der Taschen in ihren Röcken ver366
schwinden. Vielleicht konnte sie Irlar damit blenden. Aber den kleinen, Edelstein besetzten Dolch, welcher neben dem Fläschchen auf einem Tischchen lag, nahm sie nicht an sich. Lieber nicht. Irlar würde ihn ihr ohne die geringste Anstrengung aus der Hand winden und ihr dann damit das Gesicht zerschlitzen. Oder aber das Spielzeugmesser laut lachend in die nächste Ecke werfen. In diesem Moment kratzte es an der Tür zu ihrem Gemach. Der Bräutigam war wohl gekommen, seine Drohung von vorhin wahr zu machen. Irlar hatte sich den Bane-Anbetern angeschlossen. An einem Finger trug er ein Brandzeichen – genau unter dem Ring, welchen er immerzu drehte. Heute Nacht wollte er seine zukünftige Braut mit in den Tempel seines Götzen nehmen, auf dass sie dort der Mystra abschwöre, sich dem Bane anschließe und auf immer aller Magie entsage. Und sobald das erledigt wäre, würde er sie ohne Zweifel auf dem dunklen Altar zum Beischlaf zwingen, damit er das Kind, welches er dabei zeugte, dem Düsteren Gott weihen könnte. Mit einem Mal wurde es Alustriel so kalt, dass sie mit den Zähnen klapperte. Sie biss sich auf die Unterlippe, zwang sich äußerlich zur Ruhe und kehrte so ruhig und gefasst wie nur möglich in den Hauptraum ihres Gemachs zurück. Ihrem Schicksal entgegen. Der Onkel mochte keinen Grund haben, jemals stolz auf sie zu sein, aber wenn er sich von ihr verabschiedete, sollte er in ihr wenigstens kein Dummchen mehr 367
sehen, das zu rein gar nichts taugte. Alustriel hörte ein leises Geräusch, einem Seufzen nicht unähnlich, und wusste gleich, dass es von einer Klinge stammte, welche die Glockenschnur durchtrennte – damit die junge Frau keine Hilfe rufen oder das ganze Haus alarmieren konnte. Sie setzte eine möglichst gefasste Miene auf und stellte sich zur Tür hin. Dann zwang Alustriel sich dazu, die kleine Öllampe hochzudrehen, welche vor ihr auf dem steinernen Fenstertisch stand. Im plötzlichen Lichtschein entdeckte sie ihren Zukünftigen, wie er den zierlichen Messingbolzen an ihrer Tür zurückschob. Seine Miene der Verblüffung verwandelte sich in eine der Vorfreude, als er erkannte, dass seine Braut allein war. »Das trifft sich vortrefflich, meine Alustriel«, begrüßte er sie mit leisem Spott und starrte sie voller Eifer an. Er gierte geradezu darauf zu sehen, wie sie sich nun verhalten würde, von Angst und Schrecken geplagt. Tatsächlich stiegen Panik und starke Übelkeit in der jungen Frau auf. Sie starrte so wie er zurück und vermochte es, äußerlich weiterhin ruhig zu erscheinen. Aber darüber hinaus verzichtete sie lieber aufs Reden. Zu sehr stand zu befürchten, dass ihre Stimme sie verraten hätte. Irlar erkannte in ihrem Verhalten jedoch Unsicherheit und trat siegessicher einen Schritt näher. »Ich bitte Euch«, erklärte er, »ist mein Heiratsantrag denn wirklich so abscheulich für Euch? Oder etwas so 368
Bedeutungsloses, dass Ihr keinen weiteren Gedanken daran verschwenden müsst?« Alustriel zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr innerlich zum Heulen zu Mute war. Sie wollte ihn mit einem überlegenen Lächeln aus der Fassung bringen, aber das gelang ihr nicht. Er grinste nur darüber und fühlte sich überhaupt nicht unsicher. Warum auch? Die junge Frau konnte sich nicht gegen ihn zur Wehr setzen, und sie beide wussten das. Langsam drehte sie die Öllampe wieder herunter. In der Finsternis, die nun wieder das Gemach beherrschte, gewann die junge Frau ihre Fassung zurück. »Willkommen, mein Herr«, fand Alustriel endlich auch ihre Stimme wieder, wenn auch nur zu einer der Höflichkeitsphrasen, welche man ihr in ihrer Kindheit eingetrichtert hatte. »Ich hatte so sehr gehofft, von Euch willkommen geheißen zu werden!« Er klang nicht nur spöttisch, sondern auch ehrlich begeistert. Mit einem Schritt erreichte er seine zukünftige Braut. Er schlang die Arme um sie und küsste sie leidenschaftlich und wie ein stolzer Eroberer. Alustriel zog sich einen Schritt vor ihm zurück, und er folgte ihr sogleich – sorgte dafür, dass sich ihre Körper ständig aneinander pressten. Ihr wachsender Ärger darüber sorgte dafür, dass ihr Herzschlag und ihr Atem schneller gingen. Irlar las daraus körperliche Erregung, und seine Hände wanderten über ihren Körper. Erreichten schon ihre Hüften und 369
ihre Brüste. Sie zog sich immer weiter in Richtung ihres Bettes mit dem hohen Himmel zurück. Grimmige Entschlossenheit ließen sie noch heftiger atmen, was Irlar als kochende Leidenschaft missverstand. Schon lagen sie beide auf den Schlaffellen. Mit geschlossenen Augen und Lippen, welche an den seinen festgewachsen zu sein schienen, steuerte sie ihre Gedanken überaus behutsam darauf, einen Harfenton zu erzeugen. Er durfte nicht falsch klingen ... Da! Der Bräutigam erstarrte auf der Schönen, als er den Ton hörte. Er klang weit fort und gedämpft, so als spiele jemand in einem Nebenraum auf dem Instrument. Doch langsam wurde die Melodie lauter. Alustriel hielt Irlar mit gespielter Leidenschaft an sich fest, während sie gleichzeitig ihren schwachen Zauberkräften das Letzte abverlangte. Der unsichtbare Harfenspieler schien Schritt für Schritt näher zu kommen ... bis der Bräutigam schließlich seine Lippen von den ihren löste und ihre Arme festhielt, damit sie ihn nicht länger umschlingen konnte. »Wer ... wer ist das?«, verlangte er zu erfahren und schüttelte die junge Frau. »Mein Onkel«, antwortete sie leise und mit falschem Erschrecken, so als sei ihr gerade erst aufgegangen, was sich dort tat. »Er kommt durch den Geheimgang. Wenn er etwas mit mir bereden will, spielt er die Harfe, und so bin ich ... vorbereitet.« Mit einem Fluch rollte Irlar von ihr herunter und zog 370
seinen Dolch. Alustriel ergriff sofort die Gelegenheit beim Schopf, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals klopfte, und griff sich in die Röcke, bis sie das Fläschchen gefunden hatte. Der junge Edle drehte sich hierhin und dorthin. »Woher wird er kommen?«, herrschte er seine Braut an. Alustriel hatte das Fläschchen schon entstöpselt und schleuderte ihm den Inhalt ins Gesicht. Dann streckte sie einen Finger nach seinen Augen aus und verstärkte ihren Zauberwillen darauf. Der Drang stellte sich ein, welchen sie immer beim Zaubern verspürte. Etwas prickelte, und ein blauer Funken sprang von ihrer Fingerspitze mitten in Irlars Augen und brachte dort die Eisenspäne zum Prasseln. Der Bräutigam brüllte vor Schmerzen und rieb sich heftig die Augen. Sie spürte, wie sein Dolch immer wieder in ihre Richtung schnitt. Während er in der Dunkelheit nach ihr stach, zuckte sie bald hierhin und bald dorthin zurück, immer am Rand des Bettes entlang. Wie stets, wenn sie diesen Zauber gewirkt hatte, fühlte sie sich danach ausgelaugt und leer. Endlich schwang sie sich aus dem Bett und lief auf wackligen Beinen durch die dunkle Kammer. Zusätzlich behinderten sie die vielen Röcke, und dann konnte sie ja auch nicht sehen, wohin Irlar gerade stach. Laute Verwünschungen ausstoßend rannte er herum und kam seiner widerspenstigen Braut immer näher. Der junge Edelmann vermutete nämlich richtig, dass die junge Frau sich auf dem Weg zur Tür befand, und 371
bewegte sich stechend und hackend auf diese Stelle zu – die hatte er sich nämlich eingeprägt. Spät wurde sich Alustriel bewusst, dass sie es niemals schaffen könnte, rechtzeitig vor ihm durch den Ausgang zu schlüpfen und auch noch hinter sich abzuschließen. Deshalb lief sie um den Tisch herum, richtete ihre Willenskraft wieder auf den Harfenzauber und ließ die Saite erklingen. Deren Töne kamen immer näher. Irlar brüllte immer noch, aber sein Geschrei klang nun nicht mehr nur wütend, sondern im zunehmenden Maß auch ängstlich. Die junge Frau betete gerade zu Tyche, als sie mit dem Schienbein gegen einen niedrigen Beistelltisch stieß. Sie geriet ins Stolpern und fing sich mit beiden Händen auf der Tischplatte auf. Rasch erkannte sie den Vorteil dieser neuen Wendung, riss die Tischplatte hoch und hielt sie wie einen Schild vor sich. Dass dabei eine Karaffe mit Minzwasser und zwei Trinkhörner auf den Boden purzelten, nahm sie billigend in Kauf. Der Edeling stürmte nun gegen die Geräuschquelle an und hieb umso wilder mit der Klinge um sich. Doch er rutschte auf einem Trinkhorn aus und riss beide Arme hoch, um sein Gleichgewicht zu bewahren. Alustriel trat mit einem Bein vor; denn so wie sie es bei den Axtkämpfern ihres Onkels gesehen hatte, wollte sie ihr Gewicht als zusätzliche Waffe einsetzen. Dann ließ sie den kleinen Tisch mit aller Wucht auf die Hand hinabkrachen, welche die Klinge führte. 372
Knochen krachten, und Irlar gab einen gellenden Schrei von sich. Sein Dolch prallte klirrend von der hinuntergestürzten Karaffe ab und landete irgendwo auf dem Steinboden. Der Edelmann stürzte sich auf seine Braut und bekam mit der gesunden Hand den Beistelltisch zu fassen, welchen die junge Frau immer noch festhielt, als hinge ihr ganzes Leben davon ab. Irlar ruckte nur einmal daran, und schon hatte er ihn ihr entwunden. Er schleuderte das Stück fort, und es platzte krachend an der gegenüberliegenden Wand auseinander. Alustriel lief schon wieder geduckt vor dem Mann davon, aber diesmal hatte sie keinen so guten Einfall mehr und geriet in Verzweiflung. »Ihr Luder!«, schimpfte er reichlich ungehalten seiner Braut hinterher. »Dafür bringe ich Euch um!« Alustriel kannte diesen Mann bereits gut genug, um zu wissen, dass das von ihm nicht als leere Drohung gemeint war. Seine schöne Vorstellung, die baldige Braut zu entführen und mit ihr vorn auf dem Sattel zum nächsten Bane-Tempel zu preschen, war endgültig zunichte gemacht. Eine solche Scharte ließ sich nur noch mit ihrem Blut auswetzen. Irlar krachte ebenfalls gegen einen Tisch, brachte dadurch Figürchen und Ziervasen zu Dutzenden ins Schwanken, stieß ihn aber nicht um. Im Gegenteil, das gute Stück diente ihm nun dazu, sich wieder aufzurichten. 373
Alustriel hörte, wie eine Vase doch noch umkippte, träge über die Tischplatte rollte und dann über den Rand fiel. Nun zog sie mit aller Kraft am Riegel ihrer Kammertür. Dabei entstand ein hässliches Quietschen, und das löste bei ihrem Verfolger erneut Geschrei aus. Als hätte eine innere Stimme sie gewarnt, zog die junge Frau im selben Moment den Kopf ein. Und richtig, einen knappen Atemzug später zerplatzte eine Parfümflasche ziemlich genau auf der Höhe ihres Gesichts an der Wand. Scherben und ein unangenehm schwerer Duft regneten auf die Fürstentochter herab. Ehe sie darüber nachdenken konnte, knallte eine zweite Flasche gegen die Wand. Kurz darauf eine dritte. Und so ging es nun in einem fort. Mitsamt ihren hinderlichen Röcken schlich Alustriel an der Wand entlang und suchte nach einer Waffe ... oder einer Deckungsmöglichkeit, um diesen mörderischen Geschossen zu entkommen. Aber tief in ihrem Innern wusste sie mit bestürzender Gewissheit, dass sie weder das eine noch das andere finden würde. Ein Rauschen und Pfeifen in der Luft verriet der jungen Frau trotz der Finsternis, dass Irlar ihre Reitpeitsche entdeckt hatte. Eine bedrückende Vorstellung! Sie musste sich unbedingt von diesen Röcken befreien. Mit zitternden Fingern riss und zerrte Alustriel an den Bändern und Stoffen. Die junge Frau duckte sich 374
tief und biss sich auf die Unterlippe, um kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. Irlar schlug planmäßig und gründlich mit der Peitsche durch die Dunkelheit. Keuchend näherte er sich ihr und würde sie unweigerlich über kurz oder lang aufgespürt haben. Als er sich auf der richtigen Spur befand, gelang es der Fürstentochter, ihren letzten Rock loszuwerden. Die Geräusche, welche dabei entstanden, blieben ihrem Verfolger natürlich nicht verborgen. Mit einem Triumphschrei sprang er auf Alustriel zu. Sie drehte sich auf dem Boden, riss den Stoff hoch und hielt ihn gespannt zwischen den Händen, um damit die Peitsche abzufangen. Der Riemen sauste herab, und sie spürte mit einem Mal einen brennenden Schmerz am Arm. Schon raste die Peitsche zum nächsten Hieb heran, und wieder ... und wieder. Es regnete Schläge auf die junge Frau, aber zu ihrem Glück und auf Grund der Dunkelheit und der gefährlichen Erregung Irlars trafen nur die wenigsten davon wirklich. Alustriel rollte bald hierhin und bald dorthin, krabbelte über ihre kostbaren Teppiche und zwängte sich in Lücken – doch sie vermochte ihrem Peiniger nicht zu entkommen. Da fanden ihre Finger den Tisch und hielten ihn zwischen sich und die Peitsche. Die Schläge des Riemens hörten sich dumpfer an, und das hörte Irlar natürlich. In seiner Raserei trat er jetzt nach der jungen Frau. Traf sie so lange im Gesicht 375
und an der Brust, bis sie vom Tisch abgelassen hatte. Danach ging es wieder mit dem Auspeitschen weiter. Irlar grunzte schon, weil er die Anstrengung in den Armen spürte. Schluchzend erreichte Alustriel den großen Tisch. Wieder traf das Leder nicht sie, sondern das Holz. Die junge Frau kroch ganz darunter und sammelte die Reste ihrer Kräfte und ihres Willens, um einen neuen Zauber zu bewirken. Ein paar Momente später nieste Irlar irgendwo über ihr in der Dunkelheit. Alustriel kicherte vor Begeisterung. Wieder überkam sie der Drang, und ihr Peiniger musste wieder niesen. Dabei ruderte er so mit den Armen, dass er keinen zielgerichteten Peitschenhieb mehr ausführen konnte. Die Fürstentochter stemmte sich von unten gegen den Tisch, stieß ihn um und warf sich dagegen. Die Platte krachte gegen Irlar und brachte ihn zu Fall. Er polterte zwischen die Möbel und verlor dabei die Peitsche. Alustriel tänzelte aus der Reichweite seiner Arme und Beine und lief dann zur Kammertür – ihrer letzten Fluchtmöglichkeit. Voller Hoffnung zog sie am Türbolzen, doch viel zu hastig und im falschen Winkel. Der Messingstab verkantete sich und wollte sich bald weder vor- noch zurückbewegen lassen. Als die junge Frau einen Blick über die Schulter warf, erkannte sie Irlar vor dem Schein, welcher durch das Fenster fiel. Er beugte sich gerade über den Steintisch 376
und wollte die Öllampe aufdrehen. Das durfte nicht geschehen, sonst wäre die Fürstentochter ein für alle Mal verloren. Im Licht konnte Irlar sie nach Belieben im Zimmer herumjagen. Seine Augen mussten sich von dem Eisenspananschlag erholt haben, denn seine Hand griff zielsicher nach dem kleinen Rädchen. In ihrer Not stürmte Alustriel mit klopfendem Herzen gegen ihn, um ihn über den Haufen zu rennen. Sie erreichte ihn just in dem Moment, in welchem er sie im Aufscheinen erkennen konnte. Irlar schlug ihr mit der Hand an die Stirn, und sie drehte sich um die eigene Achse. Aber ihre Hände hatten die Öllampe ergreifen können und schleuderten sie zum Fenster hinaus. Wieder lagen ihre Gemächer in vollkommener Dunkelheit da. Dummerweise befand sie sich zu nahe am Fenster. Irlar konnte ihre Silhouette vor dem schwachen Fackelschein ausmachen, welcher von außen hereindrang. Der Heiratswillige holte mit der gesunden Hand aus und versetzte ihr einen Kinnhaken, der sich gewaschen hatte. Alustriel drehte sich darunter um die eigene Achse. Tränen schossen ihr in die Augen, und ihr drohten die Sinne zu schwinden. Solche Schmerzen hatte die junge Frau noch nie erlebt. Sie befürchtete, der Unterkiefer sei ihr gebrochen. Mit einem letzten Rest Bewusstsein erkannte sie, dass er die Rechte nach ihr ausstreckte, um sie zu erwürgen. Wie lange spielten sie beide hier schon in der Dun377
kelheit Katz und Maus? Eine halbe Ewigkeit, oder noch länger? Mit dem Mut der Verzweiflung drehte sie sich zu ihm herum und beschloss, nicht länger vor ihrem Verfolger zu fliehen. Sie unterlief seinen ausgestreckten Arm und rammte ihm ihren Kopf in den Bauch. Irlar stöhnte und kippte nach hinten – gegen die Fensterbank. Die junge Frau hob seinen Fuß, schlug ihm in den Unterleib, trat ihm auf die Zehen – und das alles gleichzeitig, bis sie sich mit einem Mal allein in ihrem Gemach aufhielt. Dafür ertönte wenige Momente später von unten vom Burghof ein knirschender Aufprall. Der Edeling schlug auf den Steinen auf, flog noch einmal auf und blieb dann verdreht liegen. Nicht lange darauf hörte Alustriel die Wächter rufen. Unten auf dem Hof flammten mehrere Fackeln auf und näherten sich dem zu Tode Gestürzten. Die junge Frau hielt sich für eine Weile an der Fensterbank fest, um wieder zu Atem zu kommen und die Wächter zu beobachten. Dann riss sie sich zusammen und wandte sich kurz entschlossen zur Tür. Das Lied des Harfners erklang als fröhliche Weise und schwoll immer machtvoller an. Alustriel lief, begleitet von ihren Klängen, auf ihr Ziel zu, und ihr jetziges äußeres Erscheinungsbild interessierte sie nicht mehr. Erst ging es einen langen Flur entlang, dann durch eine schwere Tür, nun flugs abgebogen – und schon stand sie vor der Kammer ihres Onkels. 378
Als sie eintreten wollte, öffnete sich die Tür wie von selbst. Thamator trat mit gezücktem Schwert heraus. »Wer ist da?«, rief er herausfordernd und spähte in das Dunkel auf dem Flur. Die Musik schwebte um ihn herum auf und ab. »Ich möchte immer noch Harfnerin werden«, entgegnete Alustriel und wunderte sich selbst am meisten über die Festigkeit in ihrer Stimme. »Wer, Ihr, Mädchen? Müsst Ihr mich denn unbedingt zu dieser späten Nachtstunde mit solchen zauberischen Taschenspielertricks wecken? Habt Ihr denn nichts Vernünftigeres zu tun?«, grollte der Onkel. Alustriel hörte seiner Stimme an, dass die Melodie ihn an früher, genauer gesagt an einen bestimmten Menschen von damals erinnerte. Das Schwert in seiner Hand fing an zu leuchten, und im wachsenden Schein erkannte sie, wie sein Mund offen stand und sich nicht wieder schließen wollte. Thamator starrte auf ihre zerfetzte Kleidung, auf den blutig geröteten Stoff und auf die Striemen, welche ihre Haut wie ein Zickzackmuster überzogen. Nach einer Weile trat er vor und betrachtete sie genauer, weil er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. »Was, im Namen aller Götter, ist Euch denn zugestos...« Das Getrampel mehrerer heraneilender Stiefelpaare unterbrach ihn. Eine schwankende Fackel kam um die Ecke geschwebt, deren Licht sich auf Helmen und 379
Speerspitzen widerspiegelte – und auf ängstlichen Gesichtern. »Herr!«, rief einer der Wächter angespannt. »Der junge Fürst ... Irlar ... er weilt nicht mehr unter uns! Tot liegt er auf dem Burghof ... ganz so, als sei er aus einem Fenster gestürzt!« »Ganz recht«, bestätigte Alustriel, als alle erst einmal verblüfft schwiegen, »das ist er.« Sie achtete nicht weiter auf die Soldaten, welche sich fassungslos um sie drängten, und fuhr fort: »Er wurde nämlich gestoßen.« Nun sah sie ihrem Onkel offen ins Gesicht und erklärte weiter: »Mir stand nicht der Sinn danach, eine Braut Banes zu werden – und das auch noch vor meiner Hochzeitsnacht.« Damit kehrte sie allen den Rücken zu und ließ sie mit neu gefundener Würde stehen. Erst als sie ein ganzes Stück fort war, fing ihr Onkel an, wie noch nie in seinem Leben zu fluchen. Und diese Verwünschungen hallten ihr noch hinterher, als sie schon längst wieder ihr Gemach erreicht hatte. Alustriel war nicht entgangen, dass unter seinem Ausbruch ganz anderes mitschwang: Erstaunen und auch etwas Befriedigung. Am besten fragte sie jetzt Gaerd, was man tun musste, um Harfner zu werden. Sie musterte sich kritisch, zuckte die Achseln und setzte die schmerzenden, striemigen Beine in eine andere Richtung in Bewegung. Warum sollte ihr Onkel der Einzige bleiben, welcher heute Nacht zur Unzeit aus dem Bett geworfen wurde? Als sie an der Tür des Zauberers klopfte, öffnete die 380
sich gleich, und Gaerd lächelte sie an. Verschlafen zwar, aber unzweifelhaft freudig. Der Magier hielt eine Kristallkugel in der Hand, und in der erblickte Alustriel zu ihrem Schrecken das offene Fenster ihres Gemachs – und zwar von innen ... Gaerd bedeutete ihr, auf einem freien Stuhl Platz zu nehmen, und betrachtete die junge Frau voller Stolz. Als die Fürstentochter saß, erkannte sie auf dem Tisch vor sich eine silberfarbige Harfe, welche eine leise Weise erklingen ließ. Ganz von selbst und ohne dass jemand die Saiten anschlug. Ein Lächeln breitete sich auf Alustriels Mund aus, als sie in der Musik ihre Melodie wiedererkannte.
381
13 Ein überraschter Nergal Mitten aus einem grässlichen Traum erwachte Elminster und erkannte, dass er sich überhaupt nicht in einem Traum befand. Nein, er fiel oder schwebte wirklich durch eine rote und schwarze Wolke fauligen Rauchs. Feuer prasselten und zuckten wie Blitze darin. Helles Licht raste von Zeit zu Zeit heran und durchstach ihn ... Elminster fiel durch Nergals Geist! NA, ENDLICH WACH, MENSCHENWURM? WEGEN EUCH HABE ICH SCHON WIEDER EINEN HAUFEN ZEIT VERGEUDET! VIELEN DANK DAFÜR! (geistesblitze fahren in den menschenmagier bis dieser sich vor schmerzen windet nergal schickt aus spaß an der freude noch ein paar gedankenspeere hinterher) WIE MIR DAS GEFALLEN HAT? WIRKLICH ANRÜHREND. (triefender sarkasmus) DAS GEQUÄLTE FRAUENZIMMER TÖTET DURCH PURES GLÜCK IHREN BEDRÄNGER UND ERHÄLT DANACH IHRE BELOHNUNG VON DER GÖTTIN! (schlägt die flache hand an die wange als könne er ein solches wunder nicht fassen) NUN HÖRE, MENSCHENWURM, ICH HABE NUN ENDGÜLTIG DIE GEDULD MIT EUCH VERLOREN! BEREITET EUCH ALSO DARAUF 382
VOR, ZERRISSEN VON
EUREN
zu
WERDEN! ICH BIN ES GRÜNDLICH LEID, MICH
DUMMEN KLEINEN
SPIELCHEN
FOPPEN ZU LASSEN!
JETZT SUCHE ICH MIR SELBST ALLE NÜTZLICHEN ERKENNTNISSE EUREM GEDÄCHTNIS ZUSAMMEN, UND DAMIT IST ES DANN UM EUCH GESCHEHEN! STERBT, IHR ACH SO GROSSMÄCHTIGER ZAUBERER! (in hohem hellen bogen rasen die gedankenspeere heran prasseln wie feuerregen auf ihn nieder platschen hoch um ihn vollständig zu bedecken sie verzehren den heulenden taumelnden vergehenden menschen ganz und gar) GEBT MIR, WAS ICH SUCHE, NARR! ÜBERLASST MIR, WAS ICH VERLANGE! (ein hell lodernder flammenkranz schließt sich wie eine henkerschlinge um das gliedlose vergehende wesen elmins-ter) GEBT MIR DAS SILBERFEUER! AUS
In der Tiefe, wo die Sterne endlos tief fallen, hob sich ein Kopf. Sein blauschwarzes Haar wogte in einer langen Welle. Die Sterne legten die Stirn in Falten. »Da stimmt doch etwas nicht ...« Das Netz zuckte noch einmal zusammen, und Mystras Augen flammten mit einem Mal silberfarben auf. »Elminster, alter Schurke, was hast du nun schon wieder angestellt?« Sie streckte einen Geistesfühler nach der schalkhaf383
ten Wärme und der frechen Jungenhaftigkeit aus, welche ihre Berührung stets mit einem Zwinkern und einer liebevollen Berührung umfingen ... und fand nichts. »ELMINSTER?« Erschrocken rief sie ihre Kräfte zusammen und suchte jetzt gründlich nach ihrem Schützling. Sie fand ein schmerzendes Bewusstsein ... silbernes Feuer, das auslief ... in der Hölle! Ihr Lehrmeister, die Wurzel eines Großteils ihrer Zaubermacht und ihre festeste Verbindung zu der Mystra, welche vor ihr gewesen war ... ... befand sich in der allergrößten Gefahr! »NEIN!« Gleißende Helligkeit flammte zwischen den Sternen auf, und die Tiefe erbebte. In ganz Faerun explodierten die Altäre der Herrin Aller Mysterien in blauem Feuer. Die Flammen verzehrten nichts und versengten auch keine Hand, welche ihnen zu nahe kam. Aber sie sorgten dafür, dass alle Gläubigen von einem Moment auf den anderen erwachten und von einer seltsamen Rastlosigkeit erfasst wurden. Weiters leisteten Schlösser an Zauberbüchern keine Dienste mehr, und letztere öffneten sich daraufhin wie von selbst. Buchstaben glühten auf und hinterließen auf den Seiten wie mit Spinnenbeinen Spiegelbilder ihrer selbst. Drachen grunzten und knurrten, schwenkten die Köpfe nach links und nach rechts und suchten grimmigen Blickes nach Feinden und Erscheinungen. 384
Auf einer Lichtung im Niewinterwald trieb die junge Zauberin Dethaera Despaßtschon verwirrt im Griff ihres ersten Magiefeuer-Rituals. Sie schwebte hoch über den erstaunten Köpfen ihrer Mitgläubigen und schluchzte vor Schreck und Verwunderung, als sich ein unbekannter und machtvoller Bann nach dem anderen in ihrem Geist entfaltete. In den grünen Weiten im tiefsten Myth Drannor brach ein bereits schief stehender, einsamer Turm krachend endgültig in sich zusammen. In Tiefwasser starrte eine junge Frau hinauf zur Burg Ahghairon und schritt einfach so durch die bis dahin undurchdringlichen Sperren rings um den Turm. Ja, die Türen öffneten sich für sie wie von selbst. Neugierig ging das Mädchen hinein ... – und seitdem nicht wieder heraus. In Luskan schimpfte einer der Oberzauberer der Arkane-Bruderschaft gerade einen tollpatschigen Lehrling aus und drohte ihm die schlimmsten Strafen an, als er unvermittelt anstelle seines alten einen Löwenkopf erhielt. Einfach so. Erschrocken und zugleich immer noch erzürnt riss er das Maul auf – und brachte nur ein Brüllen zustande. Damit war er von einem Moment auf den anderen alle zauberischen Fähigkeiten los, denn wie sollte er jetzt noch einen Bann sprechen? In Suzail war Vangerdahast gerade in einem kaum bekannten Geheimgang des Palastes vom Purpurfarbenen Drachen munter an der Harfner-Spionin vorbeigeschritten, die sich kaum wirklich versteckte, als er 385
plötzlich innehielt und erstarrte. Die Spionin hätte beinahe instinktiv eine Hand ausgestreckt, um ihn zu stützen, als er sich jählings nicht mehr weiter bewegte ... Doch da marschierte der knurrige alte Zauberer auch schon wieder weiter und schlug hastig die Tür hinter sich ins Schloss. Die Kammer, in welche er nun geraten war, enthielt einen Stuhl, einen Schreibtisch einen Garderobenständer für Umhänge und dergleichen und einen Spiegel. Vangerdahast lehnte sich an den Schreibtisch und konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, warum sein Blut ins Kochen geraten war. Zufällig fiel sein Blick in den Spiegel. Das Gesicht, welches ihm dort entgegenblickte, hatte nichts mit dem seinen gemein. Es gehörte einer Frau und besaß Augen, die ihm gleichzeitig weise und von berückender Jugend erschienen. Der alte Zauberer atmete heftiger und blinzelte ... und der Spiegel zersprang in tausend Scherben. Vangerdahast wandte sich mit grimmiger Miene ab. Er wusste jetzt, dass der Zeitpunkt endlich gekommen war. In Awernus raste ein Feuerball auf eine Gruppe von verrußten Felsspitzen zu, als wolle sie in deren Mitte zerplatzen. Doch kurz davor schwenkte sie zur Seite ab und hielt an. Eine große, schlanke Frau trat heraus und leuchtete so hell wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms. In mindestens hundert Schluchten und auf mindestens zehnmal so vielen Berghängen hoben Teufel die Köpfe und erstarrten. In großen Scharen erhoben sie 386
sich in die Lüfte, schauten nach der Reisenden und bekamen eine Menschenfrau zu sehen, welche ganz allein mitten in der Luft dastand. Sie war mindestens so groß wie ein Dutzend Teufel und trug ihr langes blauschwarzes Haar wie einen Umhang. »Wo ist er?«, dröhnte ihre Stimme durch ganz Awernus. Die Generäle der höllischen Heerscharen zuckten zusammen und stöhnten. Ihre Untergebenen wanden sich wie unter großen Schmerzen. Diejenigen Teufel, welche gegen die Menschenfrau flogen, verließ der Mut. Schwarze Peitschen trieben sie weiter an. Aber die Reisende betrachtete sie einfach unaufgeregt und rührte keinen Finger, um sie abzuwehren. Dreizack, Speer, Lanze und Feuerdolch durchstießen die Fremde, als bestünde sie aus Luft, und vermochten nicht mehr, als Löcher in ihr Gewand zu reißen. Doch wo sich eigentlich entblößte, blutende Haut zeigen sollte, war bloß Nachthimmel, an dem sich hier und da Sternbilder erblicken ließen. Dafür blitzten die Augen der Herrin jetzt silberfarben auf. »Wo ist er?«, verlangte sie schon deutlich ungehaltener zu erfahren. »Was habt Ihr mit ihm angestellt?« Nun kamen auch die Drachen. Sie flogen rasch, mit weit aufgerissenen, hungrigen Mäulern und ohne Umschweife auf die Frau zu. Diese Ungeheuer wurden von Teufelsfürsten angetrieben, und diese wiederum geboten über Heerscharen von tausenden und abertausenden Teufeln. Deren Gewimmel schwärzte die ganze 387
blutrote Tiefe des Firmaments. Mystra warf nun einen zornigen Blick auf diejenigen, welche sie mit Waffen und Geschossen angriffen. Schon vergingen sie in kleinen Wölkchen silbrigen Rauchs. Dann setzte auch die andere Seite Zauberenergien ein. Die Göttin wehrte alle Banne ab und schleuderte sie auf die Urheber zurück. Weitere Teufel vergingen darunter. Zu hunderten starben sie auf immer, wurden ausgelöscht, als hätte es sie niemals gegeben. Unter den zusammenströmenden höllischen Legionen erzitterte ganz Awernus, und die Teufelsfürsten in den tieferen Ebenen der Hölle blickten erschrocken nach oben und gaben neue Befehle. Aus den Klippen von Awernus erschienen Pechsatane und führten Armeen von geflügelten Teufeln in die Schlacht. Die ganze Unterwelt geriet in Aufruhr. Blitze zerteilten den Himmel, die rauchenden Berge spuckten Feuer, und inmitten von einer Million und mehr Teufeln vernichtete die Göttin mit ihren Schlägen und grimmigen Blicken. Bald waren die Feinde rings um die rasende Mystra herum drei Reihen tief getötet, zu Lande wie auch in der Luft. Die Flugteufel fielen wie ein schwarzer Regen auf Awernus herab, bedeckten die Gipfel mit ihren zerschmetterten Gliedern und verstopften die Blutgewässer. 388
Grässlich misstönende Fanfaren erschallten, und dunkelste Streitwagen entstiegen den Himmeln. Aus deren zahnbewehrten Mäulern ergossen sich Horden von geflügelten Untieren – von schrecklich anzusehenden Hydren, welche man auf diesen Ebenen der Hölle nur höchst selten zu Gesicht bekam. Mystra wehrte sich nach allen Richtungen gleichzeitig und erschlug die Ungeheuer reihenweise. Wie eine helle Silberflamme erstrahlte sie aus dieser Flut aus schwarzrotem Tod. Die Luft selbst zerriss darunter und regnete wie Glasscherben rings um die Göttin zu Boden. Spalten und Ritzen zeigten sich im Himmel. Als sie durch diese unter und hinter sich das helle und schöne Faerun erkannte, wusste Mystra, dass sie sich zurückziehen musste. Andernfalls ginge ihr Toril verloren. Wie ein Sturmgewitter durch die Hölle zu fahren – und dabei Elminster wieder an sich zu bringen – hatte eben bis zu einem anderen Tag und einer anderen Gelegenheit zu warten. Wie schon der getreue Auserwählte vor ihr richtete die Göttin nun ihr ganzes Bemühen darauf, die Spalten zwischen Toril und Awernus zu schließen. Doch anders als der Menschenmagier entschlüpfte Mystra durch den letzten Riss und schloss ihn dann hinter sich. Und sie hinterließ der Höllenwelt ein Abschiedsgeschenk ... Nach ihrem Abgang färbte sich der Himmel gleißend silbern, und dieses Leuchten steigerte sich zu einem Blauweiß. Im ganzen Land fiel nun alles, was teuflischen Ursprungs war und flog vom Himmel und schlug 389
zerfetzt am Boden auf. Das dicke schwarzrote Blut verflüssigte sich zusätzlich und ertränkte das Land. Mystra erfuhr nie, dass sie mit ihrer undurchdachten Rache beinahe den Mann ersäuft hätte, welchen zu retten sie überhaupt erst nach Awernus gekommen war. Kurz vor dem Untergang der Flugteufel hatte sich nämlich eine Erinnye aus dem Himmel auf den blindlings dahinkriechenden Menschenmagier gestürzt und ihre Flügel um ihn gewickelt. Nur Momente später war das Untier zerplatzt, hatte Elminster aber noch gegen alle Unbilden abschirmen können. Der Getreue der Göttin erhob sich unversehrt, stand auf wackligen Beinen da und sah noch, wie das letzte Silberglühen verging. »Mystra, Herrin ...«, flüsterte der letzte Prinz von Athalantar ergriffen. »All dies hast du ... für mich vollbracht?« Weinend fiel er mitten zwischen den gemetzelten Teufeln auf die Knie. So weit das Auge reichte, erfüllte sich die Luft mit dunklen Explosionen. Zahllose Schwefelteufel erschienen aus Nessus, stürmten voll des Zorns von Asmodeus heran, um die Eindringlinge zu vernichten, welche jedoch nicht mehr den Himmel erfüllten. Die Hölle erbebte in ihrem tiefsten Innern, die Flammen schossen wieder hervor, und der Himmel färbte sich für die nächste Ewigkeit blutrot. 390
Azuth ... In der treibenden Finsternis glitt der Fürst der Magien wie eine leuchtende Schlange von einer Rune zur anderen. Er bewegte sich über eine Fläche, bei der es sich nicht um eine Ebene handelte, sondern vielmehr um ein Gebilde, welches aus den vielen Zaubern und Bannen der Kerzenburg entstanden war. Die Zeichen ragten wie die Kunstwerke eines Bildhauers in eine Leere hinein. Der Magier schürte bei dieser Rune das Feuer, formte ein Stück weiter das Stück selbst unwesentlich, aber wirkungsvoll um, veränderte bei einer dritten die Zauberenergie und sorgte insgesamt dafür, das Gewebe von Toril selbst zu erhalten und zu stärken ... ... und natürlich die Zauberer drunten zu lenken und zu leiten. Natürlich ohne dass sie etwas davon mitbekamen. Dennoch zum Besten des Höheren. Während er wie ein Gebilde von Feuer und Magie dahintrieb, sprach eine Stimme in seinem Blut so leise, dass der Herr der Banne zuerst glaubte, er habe sich das nur eingebildet. Höchster, ich habe ein Begehren an dich ... Jetzt erkannte Azuth sie deutlicher und wusste, dass Mystra sich ganz in der Nähe aufhalten musste. Mit ihrer Gedankenstimme rief sie ihn und suchte ihn. »Große Edle, ich höre dich. Sprich, womit kann ich dir dienen?« Die Leere erfüllte sich nun mit gleißendem Silberfeuer. Ein blauweißes Strahlen breitete sich wie eine Welle, welche das ferne Ufer sucht, über dem Horizont aus. 391
Zwei Augen, dunkel und voller Sterne wie eine warme Sommernacht, betrachteten den Höchsten von einer Stelle aus, welche er leicht berühren könnte. Dazu müsste er nur die Hand ausstrecken. Azuth widerstand jedoch dem plötzlichen Sehnen, die Göttin in die Arme zu nehmen und die Früchte ihrer Liebe zu genießen. Dieses Gefühl überkam ihn bei jedem ihrer Treffen wie eine Sturmflut und entstand daraus, dass ihre Zaubermacht nach der seinen rief. »Großer Anführer«, sprach die Göttin leise, »unser bester, liebster und mächtigster Auserwählter, der Zauberer Elminster, sitzt in Awernus fest, und die ganze Hölle hat sich gegen mich erhoben. Wir müssen den Ärmsten unbedingt von dort herausholen. Doch wie sollte das jetzt noch möglich sein?« Erschrocken nahm Azuth die Form eines jungen Magiers mit weiß schimmernden Gewändern und großen dunklen Augen an und sprach dann: »Bist du dir auch ganz sicher? Aber natürlich bist du das.« Ein Blitz zuckte, und in dem vertraute Mystra ihm alles an, was ihr zugestoßen war. Auch ihre Geistverbindung mit Elminster ... und wie schwach sich der mächtigste der Auserwählten gefühlt habe. Azuth legte die Stirn in tiefste Falten, und Mystra fragte schließlich: »Was hältst du davon?« Der Gott wirkte zutiefst bekümmert. »Großmächtige Herrin«, antwortete er. »Wo sich die ganze Hölle in Aufruhr befindet, wäre eine gewaltsame Befreiung sicher der falscheste Weg. Auch ein heimlich vorgetragener Vorstoß kommt für die nächste Zeit wohl nicht in Frage. 392
Wenn Elminster lange genug durchhält, könnte es mit einer kleinen, raschen Unternehmung gelingen ... Aber bedenke eines, und sei dir dessen die ganze Zeit über gewiss: Wen immer wir auch zur Rettung des Auserwählten aussenden, wir werden ihn kaum jemals wieder verwenden können. Selbst wer körperlich aus der Hölle herauszufinden vermag, lässt oftmals seinen Verstand dort zurück.« OOH! WIE FURCHTBAR! EURE MYSTRA VERMISSTE EUCH! SIE WOLLTE IHR SCHOSSHÜNDCHEN WIEDERHABEN! ABER SELBST GÖTTINNEN IST DER EMPFANG IN DER HÖLLE OFT ZU HEISS! DESWEGEN IST MYSTRA LIEBER GEFLOHEN! UND DAS MIT LEEREN HÄNDEN! JETZT WIRD DIE GÖTTIN EUCH NATÜRLICH NIEMALS ZURÜCKBEKOMMEN! IHR SEID MEIN! MEIN, MEIN, MEIN, IHR KLEINER AN MICH GEBUNDENER MENSCHENMAGIER! IHR GEHÖRT MIR GANZ UND GAR! AUCH WENN DIE KÜMMERLICHEN ÜBERRESTE EURES VERSTANDS IMMER NOCH RÄNKE SCHMIEDEN UND VERGEBENS VERSUCHEN, GEWISSE DINGE VOR MIR GEHEIM ZU HALTEN! VIEL IST EUCH JA NICHT MEHR GEBLIEBEN, ODER, MIT DEM IHR MIR WIDERSTEHEN KÖNNT? DANN WOLLEN WIR JETZT EINMAL FESTSTELLEN, OB WIR AUF FOLGENDE WEISE DEN DECKEL VON EUREN MAGIEERINNERUNGEN ZU LÖSEN VERMÖGEN: ZEIGT MIR DOCH, WIE IHR ZAUBERSCHÜLER UNTERRICHTET!
393
Glas zerplatzte in tausend Scherben und noch mehr verschiedenen Farben durch den Raum. Elminster legte eine schützende Hand über seine Teetasse. »Sterbt, elender Zauberlehrling!« Die Zauberin im Fenster verschoss einen Blitz aus ihren klauenartigen Händen. Die beiden beschimpften sich und forderten sich heraus. Dazwischen sausten gezackte Feuerlanzen und Ströme von Funken durch die Kammer. Mitunter kam das magische Gewitter ziemlich nahe an Elminster heran. Aber nie näher als einen Fuß von seiner Nasenspitze entfernt. Mehr getrauten die zwei sich doch nicht. Ruhig und gelassen verfolgte der Erzmagier, wie die beiden wieder Aufstellung nahmen. Dann winkte er der rothaarigen Zauberschülerin zu, deren Zauberbann wieder einmal sie selbst traf – und sie kreischend zum Fenster hinausbeförderte. »Lhaeo!«, rief der Lehrmeister wie selbstverständlich nach draußen. »Schon wieder kommt eine durchs Fenster geflogen. Die übereifrige Thayanerin, wie nicht anders zu erwarten.« »Danke, aber das ist mir schon selbst aufgefallen«, antwortete ihm eine verärgerte Stimme von draußen. »Schon wieder mitten in die Rosen! Warum müssen sie immerzu in meinen schönen Rosen landen? Hier stehen felderweise Lilien und Kräuter, welche sie meinethalben versengen können! Aber nein, dafür kommen für die feinen Damen und 394
Herren natürlich nur meine Rosen in Frage. Mit Begeisterung plumpsen sie mitten hinein, um dann beim Aufstehen ebenso unbekümmert wie umständlich und unbeholfen noch mehr Schaden anzurichten!« »Ihr seid diesmal an der Reihe, das alles zu flicken und wiederherzustellen«, erinnerte Elminster ihn überfreundlich und steckte dann den Daumen in seine Teetasse, um das Getränk ausgiebig umzurühren. »Wisst Ihr, ich muss das hier nicht tun«, schimpfte der Gärtner. »Eigentlich habe ich das auch gar nicht nötig. Drüben in Woonlar könnte ich ein ganzes Kupferstück im Monat verdienen und müsste dafür nur Gräber ausheben und zuschütten.« »Und noch ein Stück weiter, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen wärt Ihr sicher längst König«, murmelte Elminster. »Das habe ich gehört!«, beschwerte sich Lhaeo. »Führt mich nicht in Versuchung. Hier sieht es vielleicht aus. Überall Scherben, geköpfte Rosen und rauchende Blätter! Dabei kommt heute Nachmittag ein ganzes Schock sembianischer Fräuleins zum Tee. Nein, und abermals nein! Könnt Ihr es mir nicht etwas einfacher machen und mich erschlagen?« »Da bliebe mir ja für morgen gar kein Spaß mehr«, erwiderte Elminster. »Ihr aus den besseren Schichten könnt doch immer nur an Euch selbst denken und habt nicht das leiseste Mitgefühl für arme alte Zauberer, welche sich geistig und körperlich dabei zerschlissen haben, jahrtausendelang wieder und wieder die ganze Welt zu retten ...« 395
»Bei den Göttern, es gibt ja wohl nichts Schlimmeres als einen wichtigtuerischen alten Trottel von Zauberer. He, Mann, Ihr habt schon die Hälfte der Sandwiches in Euch hineingestopft! Dabei sind die Damen noch gar nicht erschienen!« »Damit wollte ich Euch doch nur meiner Wertschätzung versichern!«, gab Elminster in leicht beleidigtem Tonfall zurück. »Wo Ihr Euch doch so viel Mühe damit gegeben habt, die Krusten abzuschneiden. Wer außer mir könnte das eher zu würdigen wissen?« Lhaeos Gesicht erschien jenseits der gezackten Scherben im Fensterrahmen. »Und damit hätten wir da eine weitere Eurer Unarten! Immer wenn Euch der Sinn danach steht, verzieht Ihr Euch in eine dieser ›Anderwelten‹, um da eine weitere verrückte Idee aufzuschnappen! Also wirklich, da verlangt Ihr von mir, die vollkommene, mit Ei glasierte Kruste von meinem köstlichen Brot abzuschneiden! Wer kommt denn nur auf so einen Unfug? Dabei sind die Scheiben schon so dünn, dass man durch sie hindurchspucken kann! Sagt mir mal bitte, welche Barbaren so etwas tun? Auf welcher Eurer Reisen in welche gottverlassene Gegend hat man Euch das beigebracht?« »Ich hoffe doch sehr, das ›hindurchspucken‹ war nur als bildlicher Vergleich gemeint«, gab der Alte Zauberer mit tadelndem Unterton zurück und zog vorwurfsvoll eine Braue hoch. »Seid Euch da mal nicht so sicher«, belehrte ihn Lhaeo eines Schlechteren. »Als mir dieses Bild einfiel, 396
musste ich es doch wenigstens einmal ausprobieren, oder?« Elminster gab mit ungläubiger Miene ein würgendes Geräusch von sich und starrte auf den gelichteten Berg krustenfreier Sandwiches vor ihm, als handelte es sich dabei um ekliges Gewürm. Lhaeo sah ihn verächtlich an, weil er so offensichtlich auf seinen kleinen Scherz hereingefallen war. »Euer Weg hat Euch sicher noch nicht sehr oft in eine Küche geführt, oder?« In diesem Moment öffnete der dickleibige Kupferfrosch auf dem Schrankbord ein Auge sowie das Maul, räusperte sich und gab dann ein feierliches »Dong!« von sich. »Die Fräuleins sind da«, stöhnte der Gärtner. Er fuchtelte mit einer Hand herum, murmelte etwas, und alle Scherben drinnen wie draußen erhoben sich in die Luft, kehrten in den Fensterrahmen zurück und formten eine Scheibe, in welcher sich nicht der kleinste Sprung ausmachen ließ. Elminster sah ihn mit spöttischem Grinsen an. »Da will wohl jemand vor den jungen Damen eine kleine Schau abziehen, oder?« Ein Geräusch wie ein »Phh!« ertönte, und man hätte schwören können, es sei von der Fensterscheibe gekommen. Der Alte Zauberer ging darauf nicht weiter ein, sondern hob zwei Finger, malte damit ein Zeichen in die Luft und rief dann: »Ich bitte euch, tretet ein, edle Jungfern. Betrachtet mein bescheidenes Heim als Ort der 397
Erfrischung und Hort der Entspannung. Und stört euch nicht an seiner unwürdigen Einrichtung. Wenn ihr durch mein Haus schreitet, mögt ihr bitte nur eines im Gedächtnis behalten: Solange ihr nichts anfasst, kann euch auch nichts Schmerzen bereiten. Der Tee wird in dem Raum gereicht, dessen Tür jetzt blau leuchtet.« Blauer Nebel wallte für einen Moment am anderen Ende des Raums auf, und dann schwang die Tür weit auf. Etwas Gewaltiges, in Spitze Gewandetes und allem Anschein nach mit drei Paar Brüsten Gesegnetes rauschte durch das Blau, bevor der Alte Zauberer die Zeit gefunden hatte, sein freundlichstes Lächeln aufzusetzen. »IHR seid gewiss DER GROSSE ELL-MINN-STAH! Was für eine EHRE! Was für ein außerordentliches Vergnügen, Euch PERSÖNLICH kennen zu lernen! Meine Freundinnen in Selgaunt werden platzen vor NEID! Einen echten ERZMAGIER in LEBENSGRÖSSE, wie er mitten in seinem Arbeitszimmer im Kreise seiner Gläser voller Frösche, Schädel und sonstigen Arbeitsgeräte dasitzt! Sieh sich einer nur die ganzen BÜCHER an! Und die komischen Hüte! Nicht wahr, Mädels, das ist ganz furchtbar AUFFREGENNT!« Die jungen Damen antworteten gehorsam und im Chor: »Ja, großmächtige Herrin.« Aber die großmächtige Herrin wartete gar nicht ab, 398
sich das anzuhören, sondern schnatterte schon weiter: »Ihr müsst unbedingt erfahren, EDLER HERR, dass wir einen unglaublich langen Weg zurückgelegt haben, nur um Euch zu sehen! Und ich habe nur die vornehmsten unter meinen vornehmen jungen Damen ausgewählt, mich zu begleiten. Nicht einmal im Traum würde es mir einfallen, Euch etwas anderes als das Beste vorzusetzen. Ich bin mir sicher, dass Euch die Fräuleins sehr gefallen werden, welche meine kleine Lehranstalt hervorbringt. Wenn ich so kühn sein darf, so etwas von mir selbst zu behaupten. Mädchen! Mädchen!« Sie klatschte in die Hände. »Trödelt da nicht an der Tür herum. Tretet ein, tretet ein, damit der GROSSE ELMINSTER euch in Augenschein nehmen kann!« Die Teetasse, welche vor dem Zaubermeister stand, murmelte: »Die hört sich an wie ein Sklaventreiber, den ich einmal in Tharsult erleben durfte.« Die Stimme der Tasse hörte sich verdächtig wie eine blecherne Nachahmung von Lhaeo an. Elminster aber lächelte die Besucherinnen an und sprach: »Großmächtige Dame Kalabrista, nach einer SOOOOO LANGEN und ANSTRENGENDEN REISE müsst Ihr ja halb VERHUNGERT sein.« Die Teetasse prustete, aber der Altmeister ließ sich davon nicht beeinträchtigen und fuhr fort: »Ihr müsst UNBEDINGT eintreten und werdet natürlich in meinem BESTEN SESSEL sitzen. Ach, und STÄRKT Euch doch bitte an diesen FRISCHEN Sandwiches hier, und nehmt 399
auch von dem LEICHTEN Beeren-Magenlikör. Ich vermute, auch die Fräuleins werden nichts gegen eine kleine Stärkung haben, oder?« Noch bevor der Zaubermeister geendet hatte, machte es sich die Großmächtige mitsamt ihrem Zelt von einem Kleid und ihrer riesigen Hochfrisur bereits zwischen den rosafarbenen Seidenkissen auf dem vergoldeten Sofa bequem. Letzteres hatte bis heute Morgen noch ahnungslos als halb verfaulter Pilz im Wald draußen am Harmerberg vor sich hin gemodert. Kalabrista schaufelte die Brote schneller auf ihren silbernen Teller, als Regentropfen vom Himmel fallen. Eine zierliche Karaffe mit dem Magenlikör schwebte sanft vom Schrank heran und füllte das Kristallglas zur Linken der Großmächtigen Dame – was sie zu einem gezierten Kichern veranlasste. Vier ebenso junge wie hübsche Fräuleins rauschten in ihren Seidengewändern herein, vollführten einen Knicks und scharten sich dann um die vier Stühle, welche am weitesten von ihrer Lehrerin entfernt aufgestellt waren. Die Schönheit dieser jungen Damen war ebenso äußerlich aufgetragen wie die Goldschicht auf den Möbeln. Aber bei zwei von ihnen glaubte der Erzmagier, einen spöttischen Unterton im Lächeln auszumachen. Alle vier verströmten jetzt gepflegte Langeweile und äußere Lässigkeit. Die hübschen Fräuleins hatten sich für offenherzige Gewänder entschieden, wohl zu dem Zweck, einander auszustechen. Dennoch stand zu befürchten, dass sie sich in diesen luftigen Kleidchen 400
leicht eine Erkältung holten. Während vor Elminster Perlen glitzerten, reich verzierte Schühchen trippelten und mit viel Geschmeide bestückte Ohrringe schaukelten, konnte er sich nicht gegen Erinnerungen an Tharsult wehren. »So tretet doch näher, ich bitte euch, meine Edelfräuleins. Nicht so schüchtern. Große Männer haben keine Zeit für schüchterne Mädchen! Mein HOCHVEREHRTER Elminster, diese Sandwiches sind an Köstlichkeit nicht zu ÜBERBIETEN! Seit vielen Wochen ist mir so etwas WOHLMUNDENDES nicht mehr über die Lippen gekommen. Ihr müsst mir unbedingt verraten, wie Ihr sie ZUBEREITEN lasst!« »Aus grüngelben Nacktschnecken, meine Liebe!«, antwortete der Großmagier mit dem allerfreundlichsten Lächeln. »Die werden mit einer Paste aus zerstampften Baumregenwürmern gefüllt, und das Ganze würzt der Koch mit Pfeffer und einem Spritzer Zitrone.« »Aha«, entgegnete die Großmächtige Dame blass und zögernd. Ihr Gastgeber legte rasch eine Hand über seine Teetasse, um deren Bemerkungen schon im Vorfeld zu ersticken. Vier zierliche, schlanke Hände hielten mitten in der Bewegung inne, blieben einen Moment in der Luft hängen und wurden dann langsam zurückgezogen. Fortan wollten die Teller mit dem Imbiss sich nicht weiter leeren. Der Alte Magier zog die Brauen hoch: »Aber diese kleinen Happen sind nicht nur GESUND, sondern auch 401
schmackhaft. Die Vornehmen in Tiefwasser reden von nichts anderem. Und wenn die Götter Euch gewogen sind und Ihr einen wirklichen Glückstag erlebt ...« Er beugte sich unvermittelt vor, stieß mit der Rechten wie ein Raubvogel auf eine Feldmaus herab und klappte bei einem Sandwich die obere Brothälfte zurück. Und tatsächlich krabbelte da ein Baumregenwurm mitten aus der grüngelben Paste. Rasch bedeckte Elminster sie wieder mit der Brotscheibe, schob sich das Sandwich hurtig in den Mund und biss so fest zu, dass es knirschte. » ... dann findet Ihr einen, der noch LEBT! Bei allem, was recht ist, nichts lässt sich damit VERGLEICHEN!« Während er sich derart begeisterte, schob sich der grüngelbe Kopf des Wurms aus seinem Mundwinkel, schaute erst nach links, dann nach rechts und schien dann zu dem Schluss zu gelangen, dass es hier draußen nichts Interessantes gebe – denn er verschwand wieder im Mundwinkel. Der alte Meistermagier kaute, schluckte dann alles hinunter und lächelte wie ein Lausbube. Dieser kleine zauberische Taschenspieler-Trick verfehlte wirklich nie seine Wirkung. »Ich würde ... würde es für ratsamer halten«, erklärte die Herrin Kalabrista nun mit zitternder Stimme, »wenn wir unseren Gastgeber nicht über Gebühr mit unserem Besuch belasten. Wohlan denn: Männer von großem Einfluss in Sembia – und das gebrauche ich nicht als bloße Floskel, denn ich spreche hier von Männern mit unglaublicher 402
Macht und noch mehr REICHTUM – schreiben schon seit JAHREN ihre Töchter in meiner Anstalt ein. Es gilt, diejenigen zu fördern, welche von den Göttern mit einer gewissen BEGABUNG für die Magie gesegnet worden sind. Ich darf mir an dieser Stelle schmeicheln, solche Begabung mit erfahrener Hand zu FÖRDERN und herauszubringen, und dies ohne Zuhilfenahme von SCHWARZEN ALTÄREN, mitternächtlichen Feuern oder zerstoßenen, äh, Regenwürmern ... Mit anderen Worten, ich erfreue mich der vollkommenen SICHERHEIT, dass diese jungen Damen hier meine BESTEN Schülerinnen darstellen und deswegen wohl keinen führenden Magier enttäuschen dürften. Einige sehr, sehr HOCH STEHENDE Herren haben mich INSTÄNDIG gebeten, die Fräuleins vor Euch zu führen, auf dass Ihr sie prüft und GUTHEISST!« »Das war weise von Euch gehandelt«, erklärte Elminster mit einem Lächeln. »In meinen Augen sind alle vier ganz ausgezeichnet.« »Ehrlich? Ohne sie über – das heißt, ihre magischen Fähigkeiten leuchten Euch so hell entgegen?« »Das tun sie, großmächtige Herrin«, bestätigte der Alte mit einem huldvollen Lächeln und legte die Finger der Rechten auf die Öffnung der Teetasse – diese gab nämlich Erstickungsgeräusche von sich. »Ganz ohne Frage tun sie das«, erklärte er dann noch einmal. »Besäßet Ihr nicht eine so geschickte HAND darin, die jungen Damen so zu formen, dass ihnen großer Ruhm gewiss ist, hätte der Glanz ihrer Zaubermacht 403
sicher längst SELBST EUCH geblendet. Nehmt bitte meine Entschuldigung dafür entgegen, werte Fräuleins, über euch hier wie über VIEH zu reden oder MÖBELSTÜCKE oder EDLE STOFFE ... Aber was mich viel mehr interessiert, ist nicht euer Geschick darin, euch Zaubersprüche anzueignen und dienstbar zu machen, sondern euer Denken und euer Sinnen, euer Trachten und euer Herzensadel. Vielleicht sollten wir damit beginnen, heute und hier voneinander zu lernen und zu –« Glasscherben, welche in tausend verschiedenen Farben funkelten, regneten ins Zimmer. Seufzend legte Elminster nun schon zum dritten Mal die Hand über die Teetasse. »Sterbt, dreimal verwünschter Zauberling!« Eine Magierin stand im geborstenen Fenster, hatte die klauenartig zusammengezogenen Hände vorgestreckt und verschleuderte Blitze. Die Lichtspeere fauchten durch die Kammer, verbreiteten natürlich gleißende Helligkeit, versprühten auch tüchtig Funken und trafen allesamt etwas, das sich nur eine Unterarmlänge vor Elminsters Nasenspitze befand. Worum es sich dabei handelte, ließ sich nicht genauer feststellen. Der Alte Magier sah ganz gelassen zu, wie die Blitze die größte Verheerung auslösten. Sie prallten vor seinem Gesicht wie an einem Hindernis ab, sausten zurück und fuhren zwischen die Damen, welche kreischend auseinander liefen! Die Herrin Kalabrista kämpfte sich wie von Sinnen 404
an der Rückenlehne ihres Sessels hoch, welcher unter solcher Belastung natürlich nach hinten kippte und damit der Welt ein ganzes Meer von Seidenunterwäsche und perlenbestickten Unterröcken aus Gaze vorführte. Endlich krachten die Lichtspeere gegen die Rote Zauberin, welche sie geschleudert hatte. Sie zerplatzten aber, ohne Schaden anzurichten, am Abwehrschild der Hexe. Diese knurrte siegessicher und warf Feuerkugeln hierhin und dorthin. Darunter fing eine gewisse Teetasse an zu tanzen, verwandelten sich Möbel in Pilze zurück und riss der Frosch die Augen weit auf und fragte: »Gong?« Binnen dreier Atemzüge hatte sich der ganze Raum geleert. Elminster lehnte sich in seinem Sessel zurück, hielt schon wieder ein Sandwich in der Hand und verfolgte mit mildem Interesse, wie die letzte der jungen Sembianerinnen in der Tür innehielt. Erbleicht und von Kopf bis Fuß zitternd zog die Schöne einen Zauberstab aus ihrem Strumpfhalter, biss die Zähne zusammen und zischte ein Wort, welches den Stab augenblicklich zum Leben erweckte. Ein weißer Energiestrahl jagte durch die Kammer, umgab die thayanische Magierin für einen verrückten Moment mit Feuer und ließ dann die rote Zauberin mitsamt ihrem Abwehrschild, dem Fensterrahmen und allem, was sich sonst noch in der Nähe befand, hinaus in den Garten explodieren! Ein ziemlich großes und rauchendes Loch blieb in der Wand zurück. 405
Das Fräulein starrte fassungslos auf das, was es dort angerichtet hatte, und seine Augen füllten sich mit heißen Tränen. Von draußen schimpfte jemand ächzend: »Schon wieder meine Rosen?« »Habt Ihr Euch etwas getan, Lhaeo? Wer hätte denn auch ahnen können, dass dieser junge Brausekopf hier einen Zauberstab mit Allesfresser-Feuer dabei hat?« »Das bin ich nicht gewesen«, stellte Elminsters Sekretär gleich richtig. »Ich war vielmehr die Teetasse. Diesmal hat Euch wirklich ein roter Zauberer heimgesucht. Beziehungsweise eine rote Zauberin.« Beide Brauen im Gesicht des alten Mannes wanderten die Stirn hinauf. »Zwei an einem Nachmittag? Wenn das so weitergeht, werde ich bald Eintritt verlangen.« Er drehte langsam den Kopf, bis er das Fräulein ansehen konnte: »Ihr seid doch Nouméa Schönblond, nicht wahr?« Als die junge Dame nickte, fuhr er fort: »Wo habt Ihr bloß einen Zauberstab mit alles verzehrendem Feuer her? Diese Dinger sind nämlich nicht sehr sicher.« Nouméa starrte ihn einige Herzschläge lang an, bis sie ihre Stimme wiederfand. »Nicht sicher? Sagtet Ihr wirklich ›nicht sicher‹? Nachdem Ihr uns Euren Lehrling auf den Hals gehetzt habt, damit er uns mit Funken und Blitzen erschrecke? Also, wie könnt Ihr es wagen, uns so zu ängstigen? Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so sehr gefürchtet, Ihr ... Ihr ... Ihr ...« Elminster grinste breit, und mit einer ähnlichen Mie406
ne zeigte sich auch Lhaeo, als der jetzt im herausgesprengten Fenster erschien. »Ihr seid in Ordnung«, erklärten beide Männer im Chor. »Ihr werdet es noch weit bringen. Nun setzt Euch zu uns, legt die Füße hoch und lasst Euch ein Sandwich munden. Keine Bange, sie sind nur mit Senf, Käse und Gurken zubereitet. Nun kommt schon, wir drei haben jetzt eine Menge zu bereden.« Nouméa starrte die beiden noch fassungsloser als vorhin an. Dann setzte sie sich auf einen der Pilze, legte die Füße in goldenen Schuhen mit hohen und spitzen Absätzen auf den Tisch, dass es krachte, und fragte mit einer hochgezogenen Augenbraue: »Was ist? War hier nicht vorhin die Rede von einem Magenlikör?«
407
14 Ein teuflisch gutes Geschäft
Die Tentakel zogen sich zusammen, und der Kopf des Teufels riss vom Rumpf. Aus dem Hals spritzte schwarzes dampfendes Blut, während der Körper des Spinagons wie bei einem Veitstanz zuckte. Der abgetrennte Schädel kullerte derweil zwischen den Felsen davon und starrte ungläubig in die Welt. Gelangweilt wandte sich Nergal ab. Selbst Höllenwesen zu metzeln, bereitete ihm keine Befriedigung mehr. Awernus befand sich in dunkler Aufregung. Die Generale der Schwefelteufel ritten auf ihren Drachen hierhin und dorthin. Legionen von Kornugons folgten ihnen wie ein Mann. Dazwischen stampften Osyluthe mit ihren Stachelschweifen umher und steckten ihre Nase überall hinein. Dreimal hatte er einem Angriff mit letzter Not entgehen können, indem er dann behände seine Gestalt veränderte und sich auf seine hervorragenden Schauspielerfähigkeiten verließ. Aber früher oder später würde er sich in den falschen General verwandeln, und dessen Soldaten würden dann dem echten Bescheid geben. Mindestens ebenso übel wie diese Aussicht erschien ihm die hohe Wahrscheinlichkeit, hier unten einem 408
Spion des Herrn der Lügen über den Weg zu laufen ... einem Markgrafen, Oberherzog der Halbkanzler, welcher ausgesandt war, sich einen Eindruck von dem zu verschaffen, was eigentlich in Awernus vor sich ging. Und das alles nur wegen eines alten und schwachen, aber durchaus nicht mundfaulen Menschenmagiers, der immer noch erfolgreich dem Bemühen Widerstand leistete, seinen Geist nach etwas Nützlichem abzusuchen. Eines Sterblichen, der gerade durch Awernus taumelte und sich unweigerlich früher oder später Ärger einhandeln würde. Und wenn Elminster Ärger bekam, dann auch Nergal. So lange er sich im Geist des Menschen befand, bestand zwischen ihnen eine Verbindung, welche sogar ein Amnizu aufspüren konnte. Am besten schlug er diesen Wurm jetzt windelweich, legte ihn dann in Ketten und verlieh sich anschließend das Äußere eines der Schwefelteufel, welchen er selbst erschlagen hatte. Gorkor, Jarleil oder Tharthammon ... Ja, Letzterer erschien Nergal als die beste Wahl. Bei Tharthammon hatte es sich um einen langsamen, sauertöpfischen und schweigsamen Riesen gehandelt, welcher selbst die meisten Schwefelteufel überragte. Sogar von den großen Herzögen wagte es kaum einer, Tharthammon anzugehen, wenn dieser wieder einmal schlechte Laune hatte. Also Schluss mit den Tentakeln und her mit großen, geschwungenen Flügeln und einem Oberkörper, aus 409
welchem man vier Nergals hätte machen können. Höchste Zeit auch, den herumirrenden Geistsklaven heimzurufen. Verdammter, verdrehter, faerunianischer Schweinehund! HE DA, WURM! WIE GEFÄLLT ES EUCH IN DER LIEBLICHEN HÖLLE? (schuldbewusstes wirbeln von silber – silbernes feuer?) WAR DAS GERADE SILBERNES FEUER? (sanftes verglühen) Charmant wie immer, nicht wahr? OH! IHR KÖNNT MICH ALSO WIEDER SEHEN? Mir läuft das Blut nicht mehr über die Augen, wenn Ihr das meint. (knurren) IHR TRAMPELT SCHON WIEDER AUF MEINEM GEDULDSFADEN HERUM! Eine Erinnye kam herbeigeflogen und hat mich geheilt. Schaut in meinen jüngsten Erinnerungen nach, wenn Ihr mir nicht glaubt. WAS? DAS GIBT’S DOCH WOHL GAR NICHT! (kratzen im geist große hast bilder fliegen wie im rausch vorüber erst aufmerksames schauen dann fluchen wie man es selbst in der hölle nicht jeden tag zu hören bekommt) ELMINSTER, HALTET EIN! HÖRT AUF DAMIT, HERUMZUZIEHEN! SUCHT EINE HÖHLE ODER EINE ERDSPALTE, EUCH DARIN ZU VERKRIECHEN! DORT BLEIBT IHR, BIS ICH ZURÜCKKEHRE, UM 410
EUCH WIEDER ZU ÜBERNEHMEN! Wie schade, dann muss ich ja auf das Vergnügen Eurer Gesellschaft verzichten ... EURE ZUNGE WIRD NOCH EINMAL DER STRICK SEIN, AN WELCHEM MAN EUCH AUFHÄNGT! SUCHT IHR EUCH NUR EIN VERSTECK UND BLEIBT DORT, BIS ICH MICH WIEDER MELDE! EUER HERUMGETRÖDEL HAT NICHT GERADE MEINE BEGEISTERUNG GEWECKT, DAS KANN ICH EUCH ABER VERSICHERN! IHR WISST GENAU, WONACH ICH SUCHE, DOCH IHR ZEIGT MIR NUR DIESE SCHÖNE ODER JENE! IST SCHNÖDE FLEISCHESLUST DENN ALLES, WAS EUCH BEWEGT UND UMTREIBT? Nein, aber sie gehört zu meinen Lieblingsfreizeitbeschäftigungen. (knurren) SCHON WIEDER DIE FLINKE ZUNGE, DIE EINMAL EUER UNTERGANG SEIN WIRD! (nachdenkliches schweigen) MIR WILL ES SO ERSCHEINEN, ALS HÄTTE ICH ES GANZ FALSCH ANGEFANGEN, EUREN GEIST NACH ERINNERUNGEN AN DEN GEBRAUCH VON ZAUBERKRAFT ABZUSUCHEN. DIE MENSCHEN SCHEINEN OFFEN UND AUF GERADEM WEGE AN ALLES HERANZUGEHEN ... ABER ES WÄRE DOCH VORSTELLBAR, DASS IHR MAGIER UNS VIEL ÄHNLICHER SEID, ALS WIR UNS VORSTELLEN KÖNNEN: IHR MISCHT EUCH AM LIEBSTEN IN DINGE EIN, DIE EUCH NICHTS ANGEHEN, ODER? IHR WICKELT EURE GESCHÄFTE LIEBER AUS DER FERNE UND ÜBER AHNUNGSLOSE MITTELSMÄNNER AB, WAS? UND IHR – Oh, ich verfüge über eine große Sammlung von Beispielen, wie ich mich in anderer Leute Angelegenheiten ein411
gemischt habe. Jahrhundertelang könnte man sich damit beschäftigen. (knurren fluchen) WARUM ÜBERRASCHT MICH DAS NICHT? ALSO, FANGEN WIR AN! (gedankenpeitsche grimmig dreinblickende äugen bewegen sich gewaltsam voran schreie werden nicht weiter beachtet bilder rasen vorüber) Fackelschein glitzerte auf malvenfarbenem Schleim, als sich ein mit Tentakeln bewehrter Schädel herumdrehte. »Na, was haben wir denn da?« »Mhulker«, entgegnete Baergrim hinter ihm barsch. »Ihr seid es also schon wieder ... zum wievielten Mal eigentlich? Dieses Wesen in Euch hat Euch doch nicht übernommen, oder?« »Mein Gast hat ... gewisse Bedürfnisse«, erwiderte der Magier mit dem Geistzüchtigerhaupt verstimmt. »Hattet Ihr es aus einem bestimmten Grund so eilig, die Treppe dort herunterzukommen und tiefer in Unterberg zu sterben? Oder behagt Euch diese Umgebung hier schon eher?« »Ich habe gewiss keinen Grund, irgendwohin zu eilen, um dort sterben zu können. Nein, wirklich nicht«, beschied ihn der Krieger säuerlich. »Vielmehr wollte ich Euch nur ins Gedächtnis zurückrufen, dass es sich bei diesem Anwesen hier um das Lager von Halaster dem Wahnsinnigen handelt. Und an einem solchen Ort verhält es sich nur selten mit etwas so, wie es von außen erscheint. 412
Ich meine, stellt Euch doch nur einmal folgende Frage: Wenn ein solches Weib wie das dort schon sehr lange angekettet verschmachtet, warum ist dann nicht bereits viel eher ein Untier erschienen, sie zu verschlingen?« Der Zauberer schob sich schwer atmend durch den Perlenschnüre-Vorhang, welcher einen Bogengang abtrennte. Dahinter gelangte er in eine Kammer, in welcher eine angekettete Frau ausgestreckt auf einem Podest lag. Große Angst sprach aus ihren weit aufgerissenen Augen. Ihre untere Gesichtshälfte lag unter einem breiten Lederknebel verborgen. »Meinen Gast verlangt es nur nach ihrem Gehirn«, erklärte der Zauberer. »Ihr mögt den Rest haben, wenn ich mit ihr fertig bin.« Baergrim blieb mit einigem Abstand zu der Folterbank stehen, auf welcher die Gefangene lag, und tauschte warnende Blicke mit den beiden anderen Kriegern aus. Mit dem kleinen und dunkelhäutigen Eltragar und der schmalen Frau in dem zerschlissenen und vielfach geflickten Lederanzug. Bei Letzterer, mit Namen Mheriyam, handelte es sich um eine stets unruhige Diebin. Sie hielt in jeder Hand mehrere Dolche, und vor Furcht war ihr alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Gemeinsam verfolgten die drei Klingen, wie der Zauberer näher schritt. Das Podest war von einem Kreis leuchtenden grünen Staubs umgeben, welchen jemand auf den Boden gestreut hatte. 413
Zeichen in der gleichen Farbe hatte man auf die Arme der Frau gemalt. Der Magier hatte für den Leuchtkreis nur einen verächtlichen Blick übrig, schritt einfach darüber und erreichte ohne Schwierigkeiten die Folterbank. Als er sich über die Gefangene beugte, zeigte sich ein erstes Lächeln auf seiner Miene. Die Frau warf den Kopf nach links und nach rechts. Diese ruckartigen und von Panik erfüllten Bewegungen brachten ihre Ketten zum Klirren. Doch sie mochte sich noch so viel winden und auch den Rücken durchbiegen, sie konnte den Tentakeln nicht entkommen, welche sich jetzt nach ihr ausstreckten. »Mhulker!«, rief der Krieger plötzlich. »Tretet sofort zurück. Der Knebel bedeckt ihren Mund und ihre Nase! Also atmet sie nicht – und ist deswegen kein Mensch!« Im nächsten Moment sahen die Klingen nur noch wirbelnde Tentakel, ratternde Ketten und zuckende Lichter – gefolgt von einer aufschießenden Stichflamme. Als das blendende Licht vergangen war und die drei Krieger wieder freie Sicht hatten, stockte ihnen vor Entsetzen der Atem. Mheriyam stieß einen schrillen Schrei aus! Mhulkers Beine und Unterleib taumelten rückwärts vom Podest fort – und über Letzterem befand sich nichts mehr außer herabregnender Asche. Die Klingen sprangen wie ein Mann auf, aber keiner von ihnen wagte es, sich der Folterbank zu nähern. Als die Überreste des Magiers zu Boden sanken, verwoben 414
sich die Wolke aus grellem Licht und der wirbelnde Rauch über dem Podest unvermittelt zur Gestalt eines Menschen. Ein bartloser, nicht mehr junger Mann mit langen weißen Haaren und zerknitterten braunen Gewändern stand nun über der Folterbank. Seine grimmige Miene wurde auch dann nicht sanfter, als er die Arme vor der Brust zusammenfaltete. Dafür bedachte er die drei Krieger mit einem besonderen Lächeln. »Halaster!«, heulte Mheriyam schrill, »Halaster Schwarzmantel!« Die Kriegerin drehte sich wie von der Tarantel gestochen herum und rannte, was ihre Beine hergaben. Baergrim und Eltragar musste das nicht zweimal gesagt werden. Sie liefen schon um die Wette, stießen sich an den schroffen Steinwänden und kämpften sich keuchend und stolpernd voran. Kaltes, grausames Lachen folgte ihnen sehr lange durch die Gänge, durch welche sie zu fliehen versuchten. Als der Widerhall von rasch stampfenden Stiefeln verklungen war, formte der wahnsinnige Zauberer einen seiner Arme um und verlieh ihm ein weiblicheres Aussehen. Dann kostete es ihn nur einen kurzen Blick, um dieses Gliedmaß erneut mit einer Kette an die Wand zu binden. Jemand Neues kam, und die alten Täuschungen hatten sich doch stets als die besten erwiesen. Wenige Minuten später lag wieder eine Frau angeket415
tet und ausgestreckt auf der Folterbank. Erneut blickten Augen flehentlich über den Rand des Knebels hinweg, welcher ihr wieder Nase und Mund bedeckte. Halaster hatte immer schon gern einen kleinen Hinweis gegeben. Wer wirklich etwas auf dem Kasten hatte, könnte dahinter kommen, dass hier etwas nicht stimmte – und so zumindest eine Möglichkeit erhalten, sein Leben zu retten. Die Angekettete drehte den Kopf und starrte mit wachsender Wut auf den Eindringling, welcher sich durch den Vorhang aus Perlenschnüren geschoben hatte. Der Frechling besaß doch tatsächlich die Tollkühnheit, sich das Äußere des Wahnsinnigen verliehen zu haben. Ein bartloser, nicht mehr junger Mann mit langem weißen Haar, grimmigem Blick und zerknitterten braunen Gewändern lehnte am Eingang und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich nehme an, ich habe Halaster Schwarzmantel vor mir, oder?« Der Wahnsinnige gab sich nicht die Mühe, seine Tarnung als Gefangene abzulegen, als er unfreundlich entgegnete: »Richtig, und wer seid Ihr?« Mit der Frage sandte er gleichzeitig einen Bann aus, welcher den Fremden seiner Verkleidung beraubte und ihn quer durch die Kammer an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Ein dicker und wenig ansehnlich ausschauender Mann rutschte dort vor Schmerzen stöhnend zu Boden. Halaster rollte sich von der Folterbank, nahm wieder 416
sein wahres Äußeres an und schritt zu der Wand, um dort Tod zu verbreiten. Aber zuerst wollte er noch erfahren, warum dieser Narr sich sein Aussehen verliehen hatte. Und dann, ja dann, würde er sich selbst eine Freude bereiten ... Blaue Blitze zuckten bereits fauchend um seine Rechte, als Halaster vor dem sich vor Schmerzen windenden Mann stehen blieb. Das Gesicht hatte er doch schon irgendwo einmal gesehen ... »Mirt? Ihr seid Mirt aus Tiefwasser! Bei allen Launen Mystras! Was führt Euch denn hierher?« Der Wahnsinnige hielt seine Blitze jetzt so, dass der alte Kaufmann gar nicht anders konnte als sie zu sehen, und sprach leise: »Ich habe Euch eine Frage gestellt, und es ist sehr unhöflich, darauf nicht zu antworten. Also verratet es mir rasch, sonst seid Ihr des Todes. Ich habe keine Lust, hier tatenlos herumzustehen, bis Ihr Euch für einen Angriff gesammelt habt.« Der alte Wolf spuckte Blut. »Ich habe Euch gefunden. Wusste ich’s doch, dass ich Euch aufspüren würde!« Seine Augen verwandelten sich in blauweiße Flammen, und er erhob sich ... schwebte immer weiter nach oben ... und verwandelte sich in eine Frau. Ein weiblicher Körper schälte sich aus dem, was Halaster vorhin für zerknitterte braune Gewänder gehalten hatte. Der Zauberer hob die Hand mit den Blitzen und knurrte: »Wer oder was seid Ihr?« »Du darfst mich Mystra nennen«, teilte sie ihm freundlich mit. Und dennoch rollten diese Worte mit solcher Macht durch den Raum, dass es Halaster bis in 417
die tiefsten Tiefen seiner Seele traf. Im nächsten Moment war er zitternd auf die Knie gefallen, und Tränen standen ihm in den Augen. Eine feste und glatte Hand berührte ihn, und starke Energie erfüllte den Mann, welche die dunklen Vorhänge beiseite schob, welche über seinem Geist lagen. Dankbar, voller Ehrfurcht und blinzelnd sah der Zauberer die Göttin an. »Danke mir nicht«, teilte ihm die Göttin aller Zauberkräfte mit, »denn dazu bleibt uns keine Zeit. Wir müssen nämlich etwas bereden.« »Was denn?« »Ich brauche jemanden, der rasch etwas für mich erledigt«, erklärte ihm Mystra. »Eine sehr schwierige Aufgabe, welche nur einem wahrhaft Wahnsinnigen gelingen kann.« Der Zauberer sah sie mit einem Lächeln an, dem nichts von der gewohnten Grausamkeit anhaftete. »Wenn ich sie erledigt habe und immer noch lebe, wirst du mir dann meine geistige Gesundheit zurückgeben?« »Sofern es mir möglich ist.« »Wirst du mich mit ausreichend Zauberenergie ausstatten, damit ich diese Arbeit vollbringen kann?« Die Göttin nickte. »Das will ich. Du wirst dreimal so viel Macht und mehr erhalten, wie du jemals geschmeckt und eingesetzt hast.« »Ich glaube, gerade das hat mich ja in den Wahnsinn getrieben«, flüsterte Halaster und fuhr dann lauter fort: »Ich will es tun.« Mystra sah ihn eigenartig an. »Willst du denn nicht 418
zuerst wissen, wofür ich dich benötige?« Der Zauberer zuckte die Achseln. »Nein, aber sag es mir trotzdem.« »Ich möchte, dass ein Magier aus den Neun Höllen zurückgebracht wird. Und zwar so lebendig und heil, wie es dir nur möglich sein wird. Er gehört dem Geschlecht der Menschen an, und es handelt sich bei ihm keineswegs um einen Bewohner der Unterwelt.« »So will ich es versuchen. Welchen Namen trägt der Mann denn?« Ein Gesicht, ein Name und ein Geheimname tauchten in Halasters Geist auf. Er taumelte zurück und presste sich die Hände an den Kopf. »Elminster?«, rief der Zauberer dann. »Aber, Göttin, gehört dieser denn nicht zu den deinen?« »Ja, das tut er«, nickte sie. »Genauso, wie du bald auch.« »A-aber, Göttin, ich bin von Schar berührt worden«, flüsterte der Wahnsinnige kaum hörbar. Mystra schüttelte ungeduldig den Kopf. Kleine, blinkende Sterne lösten sich aus ihren langen, fließenden Locken und schwebten durch die Kammer. »Das weiß ich doch. Berühre mich.« Schwarzmantel schluckte. Aber dann erhob er sich und streckte vorsichtig eine Hand nach der Herrin aller Magie aus. Ungeheure Energien durchströmten ihn, und darüber erschrak er sehr. Ein Kreischen entfuhr ihm, als er darunter erblindete. Und er hatte das Gefühl, mit vollster Wucht gegen eine Wand gekracht zu sein. 419
Dann befand Halaster sich inmitten blauweißen Feuers, welches tosend und sengend die ganze Welt und mehr erfüllte. Jetzt lachte der Zauberer, beglückt über die Macht, welche ihn durchraste. Er ritt auf ihr davon, weiter und immer weiter, überquerte endlose Ebenen, tiefe Leeren und vorbei an Schattenwesen, welche nach ihm griffen. Und bald war es ihm gleich, ob er die Energie ritt oder sie ihn ... WAS HABEN WIR DENN HIER? VIEL VOLK, IRGENDEIN FEST, ZAUBERBANNE ... HM, DAS KÖNNTE DOCH ETWAS FÜR MICH SEIN ... Obwohl die Stundengläser erst neun geschlagen hatten, war das Fest bereits in vollem Gang. Lachen, Gesang mit Wonne, aber furchtbar falsch vorgetragen, und Freudenrufe hallten von der hohen Decke wider und verwoben sich zu einem dichten Gelärme. Die Kapelle hatte längst aufgegeben, gegen dieses Getöse anzuspielen, und die Mehrheit der Musikanten hatte sich in den Schlangen vor den Getränkeständen eingereiht. Noch lauter als ihre flotten Melodien ertönte nun das Klirren der Kelche auf dem gefliesten Boden. Fürst Sabrast Windfluss verfolgte in einer Mischung aus Belustigung und Abscheu, wie Bedienstete eine sinnlos betrunkene Edle auf einem riesigen Silbertablett aus dem Saal trugen. 420
Eines Tages würde die junge Habichtin es gelernt haben, sich mit Rotwein voll laufen zu lassen und dabei dennoch die Form zu wahren. Heute Nacht war es dafür offensichtlich noch zu früh – dabei hatte sie doch so fleißig geübt. Neben Sabrast seufzte sein guter Freund Andemel und meinte: »Was für eine Verschwendung von gutem Wein. Dabei stünde ihr Grün doch viel besser.« Der Fürst verzog das Gesicht. »Wäre es Euch denn lieber, wenn sie so viel guten elfischen Pfefferminzlikör in sich hineinschütten würde? Der Rote kommt schon um sechs Goldstücke die Flasche. Das ist teuer genug, der Elfengrüne aber –« »Verzeiht, Freund«, unterbrach ihn Andemel Graeven mit einem listigen Grinsen, »aber wahrer Adel kümmert sich keinen Deut um so niedere Dinge wie Kosten und Preise.« »Wenn wir uns wie wahrer Adel aufführen würden«, entgegnete der Fürst, »wären wir in einem Monat und einem Tag pleite ... Ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Apanage der Krone ausliefe.« Doch dann grinste auch Windfluss. »Allerdings ist es gewiss jammerschade, dass nicht auch gewöhnliche ehrliche Kauf leute von der Krone ganze Wagenladungen voll Gold erhalten, um ihren Launen und Grillen nachzugehen.« Andemel ging voraus und öffnete dem Freund den Vorhang zu ihrem Lieblings-Alkoven. Bei den Göttern, dachte er dann angesichts des Anblicks, welcher sich ihm bot. 421
Beide Säulen, welche die gewölbte Decke trugen, hatte man entfernt, und dafür eine Büste von Azoun aufgestellt! Hörte man denn niemals damit auf, im Palast ständig alles umzubauen? Und das von den Steuergroschen der Bewohner von Kormyr – welche unglücklicherweise dafür arbeiten mussten, ein Einkommen zu haben? Wahrscheinlich nicht. Andemel zuckte die Achseln und wandte sich wieder an den Fürsten. »Und wen in ganz Suzail würdet Ihr denn als ›ehrlichen Kaufmann‹ bezeichnen?« »Mein Fehler«, antwortete Sabrast in gespielter Zerknirschung. »Sagen wir lieber ›gewöhnliche Niedriggeborene‹.« Sein Freund nickte heftig. »Das hört sich schon besser an. Doch seid versichert, mein Bester, dass ich einem hochmütigen Edelmann so allerlei zu vergeben bereit bin, solange ihn seine Eitelkeit dazu zwingt, immer wieder so prachtvolle Feste abzuhalten wie dieses hier –« Er schwieg für einen Moment, weil etwas seine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Habt Ihr vorhin die Schöne mit dem lodernden Gewand gesehen? Als die künstlichen Flammen erloschen waren, sind mir beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen! Wie hat sie es bloß geschafft, die Smaragde so lange am Leib zu tragen? Ich meine, ich hätte sie eben dort drüben erspäht. Vielleicht frage ich sie später einmal, ob sie nicht Lust habe, sich den neuen Baumgarten der Graevens anzuschauen.« 422
»Ihr mögt ja ein alter Wolf sein«, erklärte ihm der Fürst, »aber sie ist noch älter.« »Wie das?«, entfuhr es Andemel. »Ihr sprecht von Zauberei? Dabei sieht sie keinen Tag älter aus als zwanzig!« »Ganz recht, dafür zeichnet Magie verantwortlich. Die hat Euch auch davon abgehalten, ihren Bart zu bemerken, nicht wahr?« »Bart? Ihr redet in Rätseln, Freund. Was habt Ihr getrunken?« »Ausgezeichneten Feuerwein, danke für die Nachfrage.« Windfluss schritt durch den Vorhang und brachte eine ganze Platte mit Austern in Knoblauchbutter an sich. Der Kellner, welcher diese Köstlichkeit getragen hatte, machte zwar ein verdutztes Gesicht, verzog sich dann aber rasch und wortlos. »Andemel, Ihr seid dieser Edlen mit dem lodernden Gewand schon einmal begegnet. Und wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr danach einen Zehntag lang geflucht und Euch geschüttelt. Freund, bei der von Euch so lüstern beäugten Schönen handelt es sich in Wahrheit um den Zauberer Elminster!« »Wie bitte? Sabrast, Ihr treibt einen Scherz mit mir ... Oh nein, bei allen Göttern!« »Was glaubt Ihr denn, woher er so gut mit all unseren Gerüchten vertraut ist? Glaubt Ihr denn, er sitzt tagelang vor seiner Kristallkugel, wo es doch viel mehr Spaß macht, sich unters Volk zu mischen und bei diesem oder jenem in den Gedanken zu lesen?« »Aber ... aber ... aber ...« Andemel Graeven schüttelte 423
sich schon wieder; doch diesmal, weil er erst den Schreck verdauen musste, beinahe die holde Gunst eines der ältesten und gefürchtetsten Magier von ganz Faerun erstrebt zu haben. »Aber ...« Wieder trug ein halbes Dutzend Bediensteter eine Riesenplatte vorbei, auf der sich statt einer köstlichen Speise ein ebenso fettleibiger wie schnarchender Edelmann befand. Das Metall der Platte ächzte unter dieser Last noch lauter als die Träger. Ein behaarter Arm hing über dem Rand herab. Der könnte Fürst Biester gehören ... oder doch eher Fürst Hirscher; denn niemand sonst bei Hof kam ihm an Dickbäuchigkeit gleich. Windfluss zog die Vorhänge vor dem Alkoven zu. »Igitt! Ich bin es wirklich leid, besoffene Edelfräuleins zu sehen. Da muss ich nicht auch noch verfolgen, wie man den dicksten Mann des Landes zu Bett trägt!« Er schüttelte sich und meinte dann: »Manchmal frage ich mich, wie dieses Königreich es von einem Tag zum nächsten schafft ... Vor allem, wenn man mit anhören muss, dass Leute wie Biester bei Hof den Ton angeben. Doch jetzt genug davon. Ihr habt mich hierher gelockt, Andemel, weil es etwas gäbe, das von allergrößtem Interesse für mich wäre. Ich darf wohl hoffen, dass es sich dabei um etwas Aufregenderes handelt, als Elminster in einem lodernden Kleid zu sehen!« Graeven machte es sich in den Kissen des weichsten Sessels bequem und legte die Beine in den Stiefeln mit Silberspitze auf einen auf Hochglanz gebrachten Beistelltisch. 424
»Ich kann mich nicht erinnern, Euer Hochwohlgeboren, Euch mit allzu vielen Tricks hierher locken zu müssen. Doch im Ernst, Windfluss, da gäbe es eine Angelegenheit von einiger Wichtigkeit, welche ich mit Euch bereden möchte. Die Rede ist von einem Gegenstand, den ich gerade erworben habe. Man nennt ihn den ›Schild vor Gottes Stirnrunzeln‹.« »Was für ein sonderbarer Name. Aber rasch, worum handelt es sich denn dabei?« Andemel bediente sich von der Austern-Platte. »Wenn man Euch eine wertvolle Fracht raubt, mit Wagen, Fuhrknechten und allem ... oder wenn Euch ein Lagerhaus mit allem abbrennt, was sich darinnen befindet, dann, so heißt es doch, betrachten Euch die Götter mit einem Stirnrunzeln. Baerusin unternimmt es nun, einen Monat lang oder auch nur einen Zehntag oder wie lange es Euch beliebt, bei den Göttern für Euch Fürsprache zu halten. Und das für den bescheidenen Beitrag von fünfzig Goldstücken. Wenn besagter Wagen verschwindet oder besagtes Lagerhaus bis auf die Grundmauern abbrennt, entschädigt Baerusin Euch mit einigen tausend Goldstücken für den Verlust. Somit wäre er Euer Schild, Euer ›Schild vor Gottes Stirnrunzeln‹. Wenn alles gut geht, behält er die fünfzig Goldstücke, welche Ihr ihm gegeben habt. Und glaubt mir, Baerusin verfügt über sehr viele Mitarbeiter, welche sorgfältigst darauf achten, dass Eurer Fracht oder Eurem Lagerhaus nichts zustößt.« 425
Sabrast dachte angestrengt nach. »Im ersten Moment hören sich die fünfzig Goldstücke wie blanker Wucher an. Doch wenn man bedenkt, wie teuer Wächter geworden sind ... Vor allem dann, wenn man ihnen immer mehr bezahlen muss, damit die böse Konkurrenz sie nicht mit noch höheren Summen auf dumme Gedanken bringt ... Wie dem auch sei, ein Schild ist nie billig, und wenn dieser Schild versagt, kommt das nicht mich, sondern Baerusin sehr teuer zu stehen.« Andemel nickte angeregt. »Ganz genau. Aus eben diesen Gründen habe ich für mein Geschäft einen Schild vor dem Stirnrunzeln Gottes besorgt, welcher mir für die Frist von –« Der Alkoven-Vorhang wurde aufgerissen, und ein Gesicht schaute zu den beiden herein, auf welchem vor allem die neuesten Modetorheiten – Bärtchen, Schnurrbärtchen und viele goldene Ringe – auffielen. »Aha!«, rief der Neuankömmling entzückt und einen Herzschlag bevor ein offensichtlich überforderter Diener ihn anmelden konnte: »Herr Raurild Sarpath!« Raurild drehte sich zu ihm um und gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er sich verziehen solle. Der Diener gehorchte jedoch erst, nachdem ihm das in Aussicht gestellte Goldstück ausgehändigt worden war. Nun stolzierte Sarpath in den Alkoven und zog die Vorhänge hinter sich zu. »Andemel! Bei allen Göttern! Ihr lebt? Und tausendmal Dank an Tymora für das, was ich eben hören musste. Gestern Abend soll ja Euer ganzes Geschäft abgebrannt sein! Da befürchteten wir na426
türlich, dass Euch, nun ... aber da Ihr jetzt so lebendig vor mir steht?« Andemel starrte zerfahren in alle schattigen Ecken des Alkovens und suchte dort nach Gucklöchern mit verdächtigen Augen darin. Zu seinem großen Glück ließ sich dort nichts dergleichen entdecken. »Nicht so laut!«, zischte er dann. »Bei Oghma, wir wollen doch bei der Wahrheit bleiben. Das Feuer ist nicht gestern Nacht, sondern heute Abend ausgebrochen ... und zwar vor genau einer Stunde.« Der Fürst wandte das Gesicht ab, grinste in sich hinein und füllte sein Glas mit Wein. Mit rotem natürlich. »Raurild«, fragte Andemel gerade, »Ihr seid wirklich noch recht spät unterwegs. Hat Eure bessere Hälfte Euch doch einmal Ausgang gewährt?« Sarpath verzog das Gesicht. »Ja, wie Ihr seht. ›Ist sicher gut fürs Geschäft, aber trinkt nicht zu viel‹, so lauteten die Worte meines Weibes. Und deswegen stehe ich nun hier vor Euch.« »Eure Gemahlin entscheidet also für Euch, ob Ihr zu einem Fest des Fürsten gehen dürft oder nicht!«, fragte Andemel in gespielter Fassungslosigkeit. »Nun ja, irgendwie, eigentlich schon«, stammelte Raurild, fasste sich aber rasch wieder. »In einer Ehe muss man halt teilen können, und so überlasse ich alle kleinen und unwesentlichen Entscheidungen meiner Gattin. Ehrlich gesagt, sie besteht sogar darauf und überlässt alle gewichtigen und bedeutenden Dinge mir.« Fürst Windfluss drehte sich zu den beiden um, zog eine Braue hoch und fragte: »Darf ich erfahren, was das 427
für gewichtige und bedeutende Dinge sein könnten?« Der Angesprochene lächelte unsicher. »So aus dem Stegreif vermag ich Euch da jetzt nichts zu nennen. Versteht, Euer Hochwohlgeboren, wir sind erst sechzehn Sommer miteinander vermählt, da hat es naturgemäß noch keine bedeutenderen und gewichtigeren Angelegenheiten gegeben.« Sabrast und Andemel prusteten gleichzeitig los. Als der Fürst sich wieder etwas beruhigt hatte, goss er Raurild auch ein Glas ein und reichte es ihm. Doch kam der nicht einmal dazu, daran zu nippen – ... denn im selben Moment wurden die Vorhänge schon wieder aufgerissen, und unheilvolle Stille senkte sich über das bislang so heitere Trio. Das Schweigen der drei rührte vermutlich ursächlich von den schwer bewaffneten Purpurnen Drachen her, welche die Vorhänge nun aufhielten. Zwei Hauptleute standen mit glänzenden Streithämmern neben einer ebenso hageren wie öligen Gestalt – und bei der handelte es sich um den obersten Steuereintreiber von Suzail. Die Streithämmer der Hauptleute vermochten nicht nur furchtbare Wunden zu hinterlassen, sie konnten auch Zauber abwehren oder abwenden. Nur die fähigsten und selbstredend die treuesten Soldaten des Königreichs durften sie schwingen. Präzeptor Immult Murauwyn besaß das dünnlippigste Lächeln im ganzen Reich, wie er jetzt unter Beweis stellte. »Oho, Herr Sabrast Windfluss«, sagte er leise, »was für eine Freude, Euch endlich von Angesicht zu 428
Angesicht gegenüberzustehen. Da Suzail so blüht, wächst und gedeiht, fällt es nicht leicht, Euch anzutreffen. Aber man hatte mich ja diesbezüglich vorgewarnt, und ich musste feststellen, dass diese Warnungen durchaus nicht übertrieben waren. Doch genug davon, nach langem begegnen wir uns ja endlich doch noch. Ich darf Euch die herzlichen Grüße der Krone überbringen, verbunden mit dem Wunsch, mir gleich die sechsunddreißigtausend Goldstücke zu überlassen, welche Ihr der Königlichen Schatzkammer von Kormyr noch vom letzten Jahr schuldig seid, Herr Sabrast!« Als Windfluss bemerkte, wie sehr er plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand – vor allem dessen von Andemel und Raurild –, verlor er doch ein wenig von seiner ansonsten gesunden Gesichtsfarbe. »Ich fürchte, ich muss gestehen«, entgegnete der Fürst dann aber geschmeidig, »nur selten solch gewaltige Summen mit mir herumzutragen. Das liegt natürlich auch an diesen neuen eng sitzenden Hemden. Die gewähren nur wenig Raum ... erst recht nicht für einige tausend Goldstücke, wie Ihr gewiss verstehen könnt.« Der Präzeptor hielt den Zeitpunkt für eine kleine Aufzählung gekommen. »Herr Sabrast Windfluss, meine Mitarbeiter konnten Euch mit nicht ausreichender Menge an Goldstücken in Eurer Villa in der Wendehelm-Straße aufspüren. Genauso wenig wie in Euren Stallungen im Sarangar-Weg oder Eurem Stadthaus in der Ambelgasse. Und auch nicht in Eurer Geschäftsverwaltung in der Werwar-Straße. 429
Auch in Eurer kleinen romantischen Liebeslaube im Westkirchenweg oder in dem hübschen Häuschen, welches Ihr so angenehm für Eure Geliebte in der Hellsterngasse eingerichtet habt, haben meine Mitarbeiter umsonst gestöbert ...« »Ähem!«, räusperte sich der Fürst vernehmlich, um weitere Geheimnisse zu übertönen. »Weiters das hübsche Häuschen, welches Ihr so kuschelig für Eure zweite Geliebte am Undelmring einzurichten beliebtet –« »Ähem! Ähem! Ähem!« Windfluss lief rot an, sei es wegen der Erstickungsgefahr, sei es wegen der peinlichen Situation. Dann räusperte er sich noch einmal und krächzte: »Einen Moment mal, ich muss doch sehr bitten –« »Und nicht zu vergessen Euren Landsitz in Graueichen, Euer Segelboot – sollte man nicht treffender von einem ›Segelschiff‹ sprechen –, welches am Immermond angetäut liegt, und selbstredend Eure Jagdhütte an der Mündung des Wasserspeiermauls.« Der Steuereintreiber legte eine kleine Pause ein und tat so, als müsse er nachdenken. »Ehe es mir entfällt, da gibt es ja auch noch das schnuckelige kleine Häuschen für Eure dritte Geliebte in Streitweg.« Nach einem triumphierenden Nicken fuhr Murauwyn überfreundlich fort: »Die Hafenlisten von Suzail verzeichnen im laufenden Jahr das Auslaufen von sechzehn Eurer Schiffe. Von diesen sechzehn sind dann zwanzig wieder in die Häfen Suzails eingelaufen. Wenigstens zwei der Schiffe, welche an den Docks zu 430
Eurer Bereicherung ihre Fracht löschten, trugen denselben Namen und hatten auch die gleichen Frachtpapiere. Doch in ihren Maßen und in ihrem Alter unterschieden sie sich doch arg voneinander. Kollegen von anderen Verwaltungsbehörden der Krone melden uns, dass das Hauptbuch von Marsember, in welchem die Einzelheiten der Fahrten und so weiter Eurer Flotte verzeichnet stehen, auf höchst rätselhafte Weise verschwunden sei. Leider war es diesen Kollegen bislang nicht möglich, Eure ausgeladenen Frachten zu untersuchen. Jammerschade, denn dann könnten wir noch etwas auf die Summe draufschlagen, welche ich Euch eingangs nannte. Dummerweise haben sie auch nichts über Euer sonstiges finanzielles Gebaren herauszufinden vermocht, welches Ihr in der Vergangenheit getätigt haben werdet und welches für die Finanzbehörde ebenfalls von Interesse sein dürfte. Deswegen spreche ich hier und jetzt auch nur über die Steuern auf Euren Landbesitz, welchen ich vorhin aufzuzählen mir die Freiheit genommen habe. Allerdings will ich nicht verhehlen, dass meine Kollegen mir melden, Ihr würdet allein in dieser Stadt hier zwei Dutzend Anwesen besitzen. Nicht eingerechnet weit über hundert Höfe im Umland. Verratet mir bitte, Herr, wie es kommt, dass Ihr über mehr als genug Grundstücke verfügt, um mit Leichtigkeit jede Forderung der Krone erfüllen zu können – gleichzeitig aber hartnäckig zu vergessen scheint, Azoun das zu geben, was Azouns ist?« 431
Andemel und Raurild hatten sich bei dieser erstaunlichen Auflistung von unerhörtem Reichtum immer weiter nach oben gezogen. Jetzt betrachteten sie ihren Gastgeber eigentümlich und warteten gespannt darauf, was Sabrast vorzubringen hatte. Weniger aus Misstrauen als vielmehr aus gesunder Vorsicht und auch, um sich als erhaben über jeden Verdacht zu erweisen, sorgten sie für einige Schritte Abstand zu Windfluss. Schließlich wollte man sich nicht vor dem obersten Steuereintreiber mit einem möglichen Steuersünder gemein machen. So stand der Herr des Hauses Windfluss schließlich ganz allein auf dem farbenfrohen thayanischen Teppich. Er näherte sich einer der kürzlich umgesetzten Säulen in diesem Alkoven, lehnte sich dagegen und fand sein Lächeln wieder. »Wie mich deucht, mein lieber Murauwyn«, erklärte er nun so gelassen, als sei er die Ruhe selbst, »seid Ihr mir noch nicht auf die Schliche gekommen, was meine vierte, meine fünfte und meine sechste Geliebte angeht. Genauso wenig wie bei meiner ›Trödel & Firlefanz‹Andenkenkette mit Niederlassungen in ganz Sembia und erst recht nicht den Unternehmungen und finanziellen Abenteuern meiner nicht eben klein zu nennenden Familie. Mein ältester Sohn Falorian zum Beispiel arbeitet mit aller Kraft daran, seine eigene Schifffahrtslinie in Selgaunt in Gang zu bringen. Mein zweiter Sohn, Arastor, ist auf dem besten Wege, der größte Baumeister von 432
Westtor zu werden. Und mein Jüngster, Bralzaer, hat soeben in Impiltur seine eigene Söldnerkompanie ins Leben gerufen. Sie nennen sich Bralzaers Brutale Basilisken. Aber ich habe ja auch noch sechs Töchter. Die sitzen samt und sonders in Sembia und tragen jeden Tag drei bis vier neue Kleider, um reiche sembianische Junggesellen anzulocken. Mein armes kränkelndes Weib, und von dem werdet Ihr gewiss gehört haben, lässt sich jede Arznei kommen, von welcher man bei den Menschen und Halblingen jemals gehört hat, um endlich ein Mittel gegen ... ja, wohl gegen das Leben zu finden. Habt Ihr auch nur den Hauch einer Ahnung, wie viele Goldstücke diese Bande jeden Tag auszugeben in der Lage ist?« Dann lächelte der Fürst breit und fügte hinzu: »Sie alle bekommen von mir keinen roten Heller. Warum sollte ich also Euch irgendetwas geben?« Das angespannte Schweigen, welches nun einsetzte, wurde nur durch ein Schnauben Raurilds gestört, der ein Kichern nicht vollständig zu unterdrücken vermochte. Der Steuereintreiber bedachte ihn dafür mit einem vernichtenden Blick, ehe er sich wieder an den unbußfertigen Fürsten wandte und ihn eisig anstarrte. »Herr Sabrast«, hob der Präzeptor an, »die Art und Weise, wie Ihr Eure Familie behandelt, gehört mitnichten zu den Belangen der Krone. Ganz im Gegensatz zu Eurem Unvermögen, die fälligen Steuern zu entrichten. 433
Ich darf Euch an dieser Stelle verraten, dass dieses Unvermögen die Krone mit größter Sorge erfüllt. Um Euch eine Vorstellung vom Ausmaß dieser Sorge zu geben, darf ich Euch Folgendes mitteilen: Der Königliche Zauberer von Kormyr hat mir ausdrücklich die Erlaubnis erteilt, alles von Eurem Besitz an mich zu bringen, was mir wert genug erscheint. Und dies so lange und in einem Ausmaß, bis die ausstehenden Schulden beglichen sind. Zusätzlich dürft Ihr Euch darauf einstellen, einen Monat lang mit Euren bloßen Händen beim königlichen Straßenbau zu schuften. Denn wie Euch bekannt sein dürfte, lautet so die Strafe für jeden Schuldner, welcher keinen roten Heller sein Eigen nennt. Zu überzeugend erschien uns nämlich Eure Darbietung eines völlig mittellosen Mannes. Wundert Euch also bitte nicht, wenn wir Euch daher nun auch als einen solchen behandeln.« Sabrast löste sich von der Säule und bedeckte wie beiläufig mit der einen Hand die Ringe, welche er an der anderen trug. In verbindlichem Tonfall fragte er dann: »Und wenn ich mich weigere, meinen Besitz und meine Person Euren Forderungen zu unterwerfen?« Die zweite Säule im Alkoven verdrehte sich nach diesen Worten und verschwamm. Streithämmer legten sich schützend vor den obersten Steuereintreiber, und die Purpurnen Drachen zogen ihre Waffen. Doch rasch beruhigten sich die Soldaten und ihre Hauptleute wieder, als sich aus der Säule die unver434
kennbare Gestalt von Vangerdahast löste, dem Königlichen Zauberer von Kormyr. »Sabrast Windfluss«, erklärte der rundliche Magier ruhig und gelassen, fast feierlich, »seid Euch bewusst, was geschieht, wenn Ihr es wagen solltet, einen Bann gegen einen von uns oder uns alle zu schleudern. Oder wenn es Euch einfallen sollte, die Waffe dort gegen einen von uns oder uns alle zu erheben. Dann verbringt Ihr ein Jahr als Kröte in den Dunggruben des königlichen Palastes. Natürlich zusätzlich zu dem einen Monat Straßenbau.« Aber noch während Vangerdahast sprach, ging die Säule, an welcher der Fürst eben noch gelehnt hatte, in Rauch auf. Einen Moment später ging daraus eine wunderschöne junge Frau hervor, welche ein Gewand aus lodernden Smaragden trug. Den Purpurnen Drachen blieb die Luft weg, und ihnen fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als die Edelsteinflammen eine nach der anderen erloschen und darunter ein Körper zum Vorschein kam, welcher von Kopf bis Fuß mit einer Tätowierung vom königlichen Wappen Kormyrs bedeckt war. Die junge Frau warf Andemel eine Kusshand zu, löste sich dann auf und stand einen Moment später als bärtiger alter Mann mit Hakennase und in einem einfachen grauen Gewand da. »Elminster!«, riefen die Soldaten verdutzt, als sie den Erzmagier erkannten. »Nur eine weitere Säule des Palastes«, erklärte ihnen der Zaubermeister aus Schattental kalauernd. »Ich freue 435
mich, Euch zu sehen, Vangerdahast, örtliche Wachen und brave Kaufleute von Kormyr. Ist das hier eine private Feier, oder kann man noch mitmachen?« Vangerdahast bedachte ihn mit einem Blick so scharf wie eine Schwertklinge. »Elminster?«, fragte er gefährlich leise, »was hat Euch denn hierher verschlagen?« »Die Begleichung von Sabrasts Steuerschulden. Mit Zins und Zinseszins, und einem kleinen Hintergedanken, wie Ihr noch bemerken werdet. Und ebenso trieb mich der freundliche Rat an Euch hierher, Gnade vor Recht ergehen zu lassen und den Ärmsten vor der Strafarbeit zu bewahren.« Der Präzeptor öffnete den Mund, um etwas zu sagen, sah dann aber doch nur Rat suchend Vangerdahast an. Der Hofmagier fragte leise zurück: »Und welche Hintergedanken haben Euch zu all dem bewegt?« Im nächsten Moment umgab ein helles bernsteinfarbenes Leuchten die Azoun-Büste in der Ecke, und aller Blicke richteten sich darauf. Das Götterabbild zwinkerte den Menschen zu, verwandelte sich für einen flüchtigen Moment in eine Harfe und verging dann in einem Regen von Goldmünzen und kleinen Schatullen voller Edelsteine. »Fürst Sabrast mag ja ein Tunichtgut sein, aber ich bin ihm, ebenso wie viele Bürger Kormyrs, zu großem Dank verpflichtet. Vor allem für eine Reihe von unterstützenden Maßnahmen, welche auf Euren lieben Freund zurückzuführen sind.« Alle sahen Vangerdahast deutlich an, dass er kurz vor 436
dem Explodieren stand. »Und wenn ich mich einfach weigere, Eure Zahlung anzunehmen? Ha! Was wollt Ihr dann unternehmen?« »Naja«, entgegnete der Alte Meister gedehnt, »dann würde ich mich wohl gezwungen sehen, meinen Schutz über gewisse Schätze hier im Palast aufzuheben. Ich fürchte, diese würden dann ihre wahre Gestalt zu Tage treten lassen ...« »Wollt Dir mir etwa drohen?«, entfuhr es einem aufgebrachten Hofmagier. Elminster verzog das Gesicht, als habe man ihn noch nie so gründlich missverstanden. »Bei der sanften Gunst der Heiligen Mystra, niemals!«, gab der Mann aus Schattental sehr freundlich zurück. »Bei meinen Worten handelte es sich vielmehr um einen wohlmeinenden freundlichen Rat ... Diesmal über gewisse Folgen auf bestimmte Handlungen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Nein? Nun, bedenkt bitte, dass einige Schätze beim Erwachen aus so langem Schlaf gewiss ein wenig ungehalten sein werden.« »Ungehalten? Erwachen? Mitten im Palast des Königs? Elminster, habt Ihr uns sozusagen Ungeheuer ins Nest gesetzt?« »Aber woher denn? Kann man es mir denn zum Vorwurf machen, wenn die unterschiedlichsten Könige von Kormyr einen gewissen Blick für wertvolle oder besonders schöne Dinge hatten? Und ist es meine Schuld, wenn andere langsamer als die Könige von Kormyr waren, diese Schätze zu bergen 437
und in ihr Haus zu tragen?« »Elminster Aumar!« Man merkte dem Hofzauberer an, wie sehr er sich zusammenreißen musste. »Genug der dunklen Anspielungen! Verratet uns lieber, welche Untiere wir uns in unseren Hallen zu vergegenwärtigen haben!« Der Alte nahm wieder die Gestalt der kurvenreichen und fast nackten Schönen an, zog für die Soldaten einen Schmollmund und antwortete dann mit heller Unschuldsstimme: »Äh, mit Drachen.« Sie legte die Spitze des Zeigefingers in den Mund. »Drachen?« »Ja, aber nur drei ... oder waren es vier? Und die gehören nicht einmal zu der großen Art.« Die junge Frau nutzte das entsetzte Schweigen, welches nun einsetzte, um dem Hofmagier eine Hand auf den Arm zu legen und leise hinzuzufügen: »Dann laufe ich jetzt los und berichte dem Kanzler, dass Ihr Fürst Sabrasts ein wenig verspätete, dafür aber umso großzügigere Zahlung angenommen habt, ja?« Vangerdahast schluckte, schloss die Augen und krächzte: »Wein ... ich brauche Wein ... ganz viel davon!« Die Herrin der Smaragdflammen glitt durch die Vorhänge und schnippte kurz mit den Fingern. Aus dem Nichts erschienen Weinschläuche und ergossen sich auf den Hofmagier. Dennoch konnte man den alten Mann aus Schattental nicht unbedingt dafür verantwortlich machen, dass Kaufmann Raurild versuchte, den dritten Weinschlauch 438
abzufangen – und dieser dabei aufriss und den Tapferen einnässte. Folgerichtig traf der vierte Schlauch den für einen Moment blinden Raurild auf den Kopf, zerplatzte und ließ es auch auf Präzeptor Murauwyn und alle anderen herabregnen, welche bisher verschont geblieben waren. Natürlich sandte Elminster ihnen nur Rotwein. Den teuren Roten. BEI ALLEM, WAS UNGERECHT IST! WIE VIELE VON DIESEN EBENSO GESCHICHTCHEN HABT IHR DENN NOCH AUF LAGER? MENSCHLEIN, ZAUBERLEIN, WIE KANN MAN NUR JAHR UM JAHR MIT so VIEL UNSINN VERGEUDEN? (eine wütende salve von gedankenblitzen) (der menschenzauberer schreit in die zerrissene und zerbrochene dunkelheit hinein in die tropfende träge stille) (das löst teuflische Zufriedenheit aus) UNNÜTZEN WIE NICHTIGEN
439
15 Halaster kommt fauchend gelaufen
Schwarze Krallen schlossen sich erbarmungslos um zitterndes weißes Fleisch. DAS HABT IHR NUN DAVON! WARUM MÜSST IHR AUCH IMMER VERSUCHEN, MICH AN DER NASE HERUMZUFÜHREN? Muskelbepackte Arme zerrten und rissen an dem Gebilde, bei dem es sich einmal um einen Menschen gehandelt haben mochte, packten es und schüttelten es so heftig durch, dass einige der blutverschmierten Gliedmaßen abfielen. (wimmern) HA! IHR SEID MIR JA VIELLEICHT EIN HOCH GEPRIESENER ZAUBERMEISTER! (ein bann blitzt eine durch magie entstandene kette rasselt) (brutzeln von bratendem fleisch heulende schreie) DAS HAT DOPPELT WEHGETAN, WAS? JA, GANZ RECHT, ICH VERMAG ZAUBER ZU BEWIRKEN UND ZU VERSCHLEUDERN! VIEL BESSER ALS SO MANCHER STERBLICHE! SEHT NUR HIN! RICHTIG, IHR BESITZT JETZT EUER EIGENES HALSBAND! UND EURE EIGENE LEINE! BRAVER HUND, BRAUCHT MIR NICHT ZU DANKEN! (lachen) Was ... was habt Ihr mit mir angestellt? EUCH IM WAHRSTEN SINN DES WORTES AN DIE LEINE GELEGT! 440
UM
ANDERE
TEUFEL DARAN ZU HINDERN, STÜCKE AUS EUCH ... ODER SCHLIMMERES MIT EUCH ZU
HERAUSZUFRESSEN BETREIBEN!
Wie, es gibt noch Schlimmeres? (trockenes lachen) ABER NATÜRLICH! WENN IHR AUF EINER KOSTPROBE BESTEHT, SO ... NEIN, NEIN! VON SOLCHEN DINGEN SOLL MAN GAR NICHT ERST REDEN! VOR ALLEM NICHT, WENN KLEINE VORWITZNASEN WIE IHR DER HÖLLE IHRE GEHEIMNISSE ENTLOCKEN WOLLEN! STERBLICHER, VERRATET MIR DOCH, WELCHES SPIEL IHR HIER BETREIBT? (kichern) Wollt Ihr das schon länger wissen, oder ist Euch das gerade erst eingefallen? Für einen Moment trat Stille ein. Bedrohliche Stille. Sie befanden sich jetzt auf einem rauchenden Höhenzug in Awernus, und nach einem halben Dutzend Herzschlägen fing Nergal an laut zu lachen. MENSCHLEIN, ICH BEFÜRCHTE FAST, ICH WERDE EUCH NOCH VERMISSEN ... Wie, Ihr wollt mich verlassen? Wo wir uns doch noch kaum kennen gelernt haben? (geistiges schnauben) IDIOT! SIEH AN, DIE ZAUBERER HABEN TATSÄCHLICH AUCH EINMAL EINEN SCHERZBOLD HERVORGEBRACHT! IHR SEID JETZT ABER EIN HUND UND HABT ZU GEHORCHEN. WENN IHR FOLGSAM DEN GANZEN WEG MIT MIR GEHT, HEILE ICH EUCH VIELLEICHT EIN WENIG! SCHLIESSLICH MÖCHTE ICH NICHT, DASS IHR ZU VIEL BLUT VERLIERT UND UNS SO 441
UNERWÜNSCHTE AUFMERKSAMKEIT EINBRINGT!
Wo soll es denn hingehen? WOANDERS HIN! (brüllendes gelächter) JETZT DÜRFT IHR EUCH GERN EUER TEIL DENKEN, MEIN NEUNMALKLUGES ZAUBERLEIN! GLAUBTET IHR ETWA, MENSCHEN SEIEN ALS EINZIGE WESEN DER MAGIE FÄHIG? ICH KENNE ZUM BEISPIEL EINEN BANN, MIT WELCHEM MAN EINEN DÄMON HUNDERT JAHRE LANG IN EIN SCHWERT VERWANDELN KANN! WIR HIER NENNEN SO ETWAS ›KLINGEN DES UNTERGANGS‹! UNGEFÄHR EIN DUTZEND VON IHNEN BEWEGEN SICH ZURZEIT DURCH EUER ACH SO GELIEBTES TORIL! ALLESAMT ZUSAMMEN MIT BESITZERN, WELCHE KEINE AHNUNG DAVON HABEN, WAS SIE DA IN HÄNDEN HALTEN! HABT IHR IN DER LETZTEN ZEIT IRGENDWELCHE SCHWERTER GESTOHLEN, ZAUBERLEIN? Ah, wie lange reicht ›in der letzten Zeit‹ zurück? (brüllendes lachen) ELMINSTER, ELMINSTER, ELMINSTER; IHR BRINGT MICH NOCH UM DEN VERSTAND! Das meint Ihr doch wohl sicher nur im übertragenen Sinne, oder? WAS? ACH SO, JA NATÜRLICH! NATÜRLICH! KLEINE MENSCHLICHE MISTKRÖTE! Geräuschlos bewegte sich jetzt hinter dem Teufelsfürsten eine Felsnadel ... krümmte sich wie ein dunkler Finger. Nergal übergoss den zitternden Menschen in seinen Händen kurz mit etwas Heilfeuer. Dann setzte er seine 442
Willenskraft ein und verfolgte, wie seine Zauberfähigkeiten den dürren Magier langsam in ein Geschöpf der Hölle verwandelten. In einen Nupperibo, ein aufgedunsenes, schmutziges und gelbweißes Wesen. Mit einem leisen Lächeln ließ er Elminster dann los, so dass der würgend und strampelnd am Stachelhalsband der dornenbewehrten Leine zu hängen kam. Frisches Blut floss, als der neue Körper des Gefangenen gegen die Dornen stieß. Nergal rüttelte die Kettenleine, bis Elminster gegen einen Felsen krachte. Der Alte Magier hielt sich krampfhaft an der Leine fest, damit er sich beim nächsten Schwung nicht den Hals brach. So tanzte der Prinz von Schattental auf Leben und Tod hin und her, während der Teufelsfürst sich darüber vor Lachen schier ausschütten wollte. Im nächsten Moment beugte sich die Felsnadel blitzschnell vor und stach wie eine Speerspitze in den Schwefelteufel hinein. Nergal brüllte. Durchbohrt und in Flammen stehend schlug der Teufelsfürst um sich, drosch vergeblich in die Luft, breitete wie im letzten Aufbäumen die Flügel aus und taumelte und hüpfte hierhin und dorthin. Irgendwann gelang es ihm, sich selbst von der Felsspitze loszuziehen. Die Klippe flammte mehrfach blauweiß auf, und das versetzte den Schwefelteufel regelmäßig in gellendes Kreischen. Als Nergal sich endlich von dem steinernen Speer be443
freit hatte, wirkte er deutlich kleiner als vorher und konnte sich auch nur auf recht wackligen Beinen voranbewegen. Dann kam es in seinem Bauch zu mehreren Explosionen – Magie, welche der Fels in seinen Eingeweiden abgelegt hatte. Blut, Fleischfetzen und abgerissene Innereien spritzten in alle Richtungen. Zitternd und vorgebeugt sank Nergal immer weiter in die Knie. Als er stöhnend auf dem Steinboden von Awernus lag, war von ihm nur noch ein unansehnliches Tentakelwesen übrig geblieben. Der Stein aber, welcher vorhin in einer so überraschenden Attacke den Teufelsfürsten gefällt hatte, bewegte sich schon wieder. Seine Spitze beugte sich so weit vor, bis sie den Boden berührte. Die Spitze gewann an Gestalt, brach ab und unternahm ihren ersten Schritt in die Hölle – kühn und zögernd zugleich. Ein bartloser weißhaariger Zauberer stand wenig später vor dem angeketteten Haufen, welcher von Elminster übrig geblieben war. Seine Augen blitzten blauweiß, und er wob ein Netz in der gleichen Farbe um den Unglücklichen am Boden. Als das Netz die Dornenkette erreichte, knisterte es wütend an ihr entlang und erlosch. Halaster fluchte und hob gleich die Hände, um es mit einem anderen Bann zu versuchen. Der Weißhaarige war aber gerade mal die ersten drei Worte des Zaubers weit gekommen, als sich von einer Höhe hinter ihm eine Steinlawine löste. 444
Die Brocken regneten auf den Alten hinab, und er stolperte mit einem überraschten Schrei vornüber. Als die Steine den Boden von Awernus berührten, blieben sie liegen und regten sich nicht mehr. Halaster lag unter ihnen begraben. Man konnte ihn nicht mehr sehen, und er konnte sich nicht mehr rühren. »Menschlein, in der Hölle habt Ihr niemals mehr als einen Schlag!«, höhnte Nergal, als er jetzt mit feuerroten Augen auf dem Kamm des Höhenzugs auftauchte. Seine Tentakel hielten weitere Felsbrocken. »Da solltet Ihr Euch schon bemühen, das Beste daraus zu machen! Doch das steinerne Grab, welches er geschaffen hatte, hob sich jetzt einige Male wie eine atmende Brust und flog dann auseinander. Eine blauweiße Flamme schoss tosend und brüllend heraus. Der Teufelsfürst verzog ärgerlich das Gesicht und sandte ihr schwarze und rubinrote Feuerstöße entgegen. Diese fraßen sich in die Steine, welche daraufhin in abertausende von Splittern zerplatzten. Der Wurm, in welchen sich Elminster verwandelt hatte, schlängelte sich wie in Panik davon. Glühende Steinsplitter verfolgten ihn aber, schnitten ihn auf und drangen zischend in seine Haut ein. Die blauweiße Flamme erhob sich wie eine Dolchklinge inmitten von Nergals Zauberfeuern. Dann explodierte sie unvermittelt in einen Regen von Blitzen, welche den Schwefelteufel enthaupteten. »Ha!«, höhnte ein Gesicht, welches aus dem Ende eines Tentakels herauswuchs. »Glaubt Ihr etwa, Zauber445
lein, so leicht könntet Ihr mir etwas anhaben? Wartet nur, ich zeige Euch, wie man einen Grellblitzbann verschleudert!« Blitze von der doppelten Länge und Anzahl rasten auf Halaster zu. Der Boden, auf welchem der Magier stand, löste sich unter den unablässigen Salven auf, und er selbst wurde in die Luft geschleudert. Doch dann vergoss der Agent Mystras weißblaues Feuer und sank auf die Felsen zurück – mitten hinein in das kochende, flüssige und rotschwarze Gestein. Eine Wolke von Magie schützte ihn, und er richtete sich gerade auf. »Ich bin gekommen, Teufel, Euch den Garaus zu machen«, schleuderte Halaster seinem Gegner entgegen und hob die Hände, in welchen bereits Blitze zuckten. »Wie eigenartig, das Gleiche habe ich mit Euch vor!«, gab Nergal zurück.« Zur Verstärkung seiner Tentakel ließ er sich Skorpionschwänze wachsen. Halasters Zauberwaffe bestand aus einem Netz von silbernen Lanzen, welche von Blitzen zusammengehalten wurden und mit Weihwasser bekränzt waren. All dies fuhr auf den ausgestoßenen Teufel herab, und der brüllte, wie nie zuvor ein Höllenbewohner geschrien hatte. Nun platzte vor Halaster der Höllenboden auseinander, und dunkle und rauchende Teufelsgebeine schossen empor, um den Wahnsinnigen Magier so zu durchbohren, wie dieser es eingangs bei Nergal bewerkstelligt hatte. Halaster schrie heiser und versuchte sich von dem zu 446
befreien, was wie ein Tentakel seines Gegners wirkte. Nur endete dieses Glied hier in einem langen und schmalen Knochendolch. Der Teufelsfürst erholte sich langsam von dem Angriff des bartlosen Zauberers. Er brachte sogar ein kurzes und hässliches Lachen zustande, bevor er seinen aufgespießten Feind in die Luft warf. Der Knochenspieß erwies sich als doppelt so lang wie sein Opfer. Die Spitze war Halaster in den Unterleib gefahren und hatte sich von dort durch Gedärme und Lunge gebohrt, bis sie dem Zauberer im wahrsten Sinn des Wortes zum Hals herausgekommen war. Sein Kopf konnte sich nicht mehr gerade aufrichten und hing zur Seite. Blauweiße Flammen schlugen an mindestens einem Dutzend Stellen aus seinem geschundenen Körper. Gleichzeitig suchte der Wahnsinnige mit brechendem Blick nach Elminster. »Tut mir ... Leid«, krächzte Halaster. »Wenigstens habe ich ... es versucht.« Eine Stichflamme schoss empor und trug den weißhaarigen Magier von der Tentakelspitze, bis sie nackt und leer gen Himmel ragte. Feuer wirbelte als Kugel durch die Luft, und Nergal hieb mit den Krallen danach, sie zu zerfetzen. Doch der Ball verkleinerte sich immer mehr und wurde umso heller. Halaster purzelte wie eine Marionette darin umher, der man die Schnüre durchgeschnitten hatte ... Dann blitzte die Kugel noch einmal auf und war endlich ganz 447
verschwunden. Elminster und der verstoßene Höllenfürst starrten beide gleichermaßen überrascht auf den unvermittelt leeren blutroten Himmel. Danach suchten beide ebenso im Gleichklang mit den Blicken die geschwärzten Felsen nach tanzenden blauweißen Punkten oder anderen Hinweisen auf den Verbleib des bartlosen Zauberers ab. Doch nichts dergleichen ließ sich entdecken. Nergal fing leise an zu lachen und steigerte sich immer mehr hinein. Zuerst aus schierer Erleichterung, dann aus ungebärdigem Triumph. SO ENTFLEUCHTE EURE LETZTE HOFFNUNG, MENSCHLEIN? DÜRFEN WIR MIT WEITEREN
RETTUNGSVERSUCHEN
ODER
RECHNEN?
GEWISS GIBT ES DOCH NOCH DEN EINEN ODER ANDEREN MAGIER, EUCH EINEN RIESENGEFALLEN SCHULDIG IST, ODER? GROSS GENUG, UM HIERHER ZU KOMMEN UND SEIN LEBEN ZU WAGEN? (überdrüssiges schweigen) DACHTE ICH ES MIR DOCH! DANN WILL ICH DOCH NOCH EINMAL IN EUREN so ARG MITGENOMMENEN GEIST EINDRINGEN, AUF DASS IHR MIR NOCH EINIGE VON EUREN ABENTEUERN ZEIGT! ABER DIESMAL BITTE ICH MIR BEGEGNUNGEN MIT HERRSCHERN, ZAUBERERN UND HELDEN AUS! UND KEINE LÜSTERNEN DIRNEN MEHR, WELCHE REIN ZUFÄLLIG DES WEGS GEZOGEN KOMMEN! MICH INTERESSIERT ALLEIN DIE MAGIE, VERSTANDEN? DIE MAGIE! (gedankenpeitsche roter schmerz rasches herandringen von bunten bildern die aber wieder verblassen und sinken bis sie erneut aufsteigen sich zu einem ganzen zusammenfügen) WELCHER
448
»Herr«, sprach die Simbul, und Tränen glitzerten in ihren Augen, »ich kann nicht länger bleiben. Diese Narren in Thay entblöden sich nicht, mich schon wieder um mein Land bringen zu wollen. Deswegen muss ich unverzüglich dorthin zurück.« Elminster lächelte. Die Sängerin Sturm Silberhand hockte ganz in der Nähe und wetzte gedankenverloren die Schneide ihres alten und in vielen Schlachten erprobten Langschwerts. Nur sie und die Simbul kannten den Magiermeister lange genug, um die Traurigkeit hinter seinem Blick zu erkennen. »Aber natürlich«, entgegnete der Mann aus Schattental. »Solche ... Angelegenheiten dulden nun einmal keinen Aufschub.« Er trat mit überraschender Behändigkeit auf die Simbul zu und umarmte sie. Die Morgensonne strahlte hell und klar durch den Wald von Schattental. Blattschatten lagen wie Tupfer auf den ansteigenden Hängen von Harpers Höhe. Sturms Klinge spiegelte die Sonnenstrahlen wider, als sie die Waffe in der Hand drehte und den Mund hielt. Mit seiner tiefen und alten Stimme murmelte Elminster etwas in das Haar der Simbul, und sie flüsterte etwas zurück. Diese Worte waren für niemand anderen bestimmt, und Sturm achtete darauf, dass sie nicht zufällig doch etwas mitbekam. So entsprach es nämlich ihrem Wesen. Die beiden Erzmagier drehten sich nun halb zu der Kriegerin hin, als sie endlich auseinander gingen. 449
Sturm bemerkte den Glanz eines großen blauen Edelsteins, welchen Elminster der anderen in die Hand legte. »Dies ist ein besonderer Stein«, hörte Sturm den Alten sprechen und wusste, dass diese Worte nun auch für sie bestimmt waren. »Er wird Euch dorthin führen, wo ich mich gerade aufhalte ... für den Fall, dass Ihr mich einmal ganz dringend sprechen müsst ... Und nun brecht auf. Nach so vielen Jahren fällt mir ein Abschied immer noch nicht leicht.« Die Simbul nickte, ließ den Stein in einer Tasche ihres Gürtels verschwinden und küsste den Alten, dass es eine Art hatte. Dann wandte sie sich wortlos ab und schwang sich in die Lüfte. Ihre schwarzen Gewänder verwandelten sich und schlugen auf und ab ... und einen Moment später zog ein schwarzer Falke auf hurtigen Schwingen der Sonne entgegen, bog nach einer Weile nach rechts ab und war wenig später nicht mehr auszumachen. Der alte Zaubermeister stand sehr lange Zeit schweigend und regungslos da ... starrte auf den Punkt, an welchem er sie zuletzt gesehen hatte. Als die Vögel in den Wipfeln ihr Gezwitscher wieder aufnahmen, schob Sturm die geschärfte Klinge in die Scheide zurück und trat zu ihm. Schweigend fassten sich die beiden alten Freunde an den Händen und machten sich daran, gemeinsam den Pfad hinunterzulaufen. Nach einem Dutzend Schritten oder mehr fragte Elminster. »Würde es Euch etwas ausmachen, Mädchen, 450
wenn ich meinen Tränen freien Lauf ließe?« Sturm küsste ihn sanft auf die Wange. »Aber nein, selbstverständlich nicht. Ich glaube sogar, Ihr solltet viel öfter weinen.« »Ihr seid unverbesserlich gefühlsduselig«, entgegnete er in gespieltem Tadel. »Da können wir beide uns ja die Hand geben«, erwiderte sie und legte ihm einen tröstlichen Arm um den Rücken. Er grummelte etwas vor sich hin, befreite sich aber nicht von ihr. Sturm musste ihn gar nicht erst ansehen, um zu ahnen, wie feucht seine Wangen geworden waren. DA
NOCH MEHR KITSCH, SÜSSE WORTE UND FRAUENGESCHICHTEN! WEINT NUR, KLEINER ZAUBERER, WEINT NUR, DENN ICH BEFÜRCHTE, DASS SOLCHE ERINNERUNGEN EUCH TROST SCHENKEN – AUCH WENN ICH MIR BEIM BESTEN WILLEN NICHT VORSTELLEN KANN, WIE SO ETWAS VONSTATTEN GEHEN MAG. WENN MICH WEGEN SO ETWAS ÜBERHAUPT IRGENDWELCHE GEFÜHLE ÜBERKÄMEN, DANN ALLENFALLS WUT! WIE VIEL ZEIT IHR DOCH MIT DEN WEIBERN VERGEUDET HABT! LEGT SIE EINFACH FLACH, UND DANN NICHTS WIE WEITER! DANN WÜRDET IHR EURE UMGEBUNG AUCH MIT ALL DIESEM LIEBESUNFUG VERSCHONEN KÖNNEN! DENN SO ETWAS WIE LIEBE GIBT ES IN WAHRHEIT GAR NICHT! Nun, für Teufel gewiss nicht. Aber ich bin kein Teufel, Nergal. OHO, ABER IHR SEID AUF DEM BESTEN WEG, EIN SOLCHER ZU WERDEN, ELMINSTER! DAS SOLLTET IHR MIR BESSER GLAUBEN! KANN MAN JA WIRKLICH SEINE
UHR
NACH STELLEN!
451
Euch glauben? Verlangt Ihr so etwas noch öfters von mir? (teuflisches kichern) WEITER, ZAUBERLEIN, IHR VERSCHWENDET WIEDER EINMAL NUR EURE UND MEINE ZEIT! GEBT ES ENDLICH AUF, IHR NARR! NIEMAND WIRD MEHR ZU EURER RETTUNG ERSCHEINEN! ZEIGT MIR ENDLICH, WONACH MICH VERLANGT! ODER WENIGSTENS DAS, WAS IHR SO TREIBT, WENN IHR NICHT GERADE WEINT, KÜSST, HERZT UND UMARMT! Ganz wie Ihr wünscht. (bunte bilder sinken wieder herab und herab) Sie war jung, schlank und sehr schön. Tarth schluckte und versuchte, nicht zu offenkundig hinzustarren. Silbergraues Haar fiel in Wellen ihre Kopfseiten hinab, legte sich sanft über ihre Arme, umschmeichelte die schlanke Taille und erreichte endlich die langen, sehr langen Beine. Die Schöne ruhte auf dem langen Ast eines sehr alten Indulholzbaumes, rauchte eine Tonpfeife und betrachtete ihn schweigend und nachdenklich. Sie hatte sehr große blaugrüne Augen mit goldenen Punkten darin. »Äh ... seid mir gegrüßt«, begann Tarth umständlich und stützte sich auf seinen Wanderstab. Er hatte alte Zaubersprüche aus vergessenen Gräbern auf dem Drachengrund gestohlen. Dabei hatte er die gefährlichsten Orte betreten, unheimliche und staubige Gewölbe gesehen ... doch nie zuvor war er einer so schönen Mondelfin so nahe gekommen. 452
Vorsichtig verbeugte er sich und setzte ein zögerndes Lächeln auf. Sie erwiderte sein Lächeln, und das auf die allerbezauberndste Weise. Tarth hätte in diesen unglaublichen Augen versinken können. Rechtzeitig räusperte er sich. »Ich bin weit und lange gereist, schöne Dame, um hierher zu gelangen. Könnt Ihr mir bitte sagen, wo genau ich die Burg des Weisen Elminster zu finden vermag?« Die Elfenmaid nickte. »Jenen Pfad dort hinauf und am Teich vorbei«, gab sie ihm mit rauchiger und leicht belustigter Stimme Auskunft. Dann kicherte die Elfin. Tarth vermochte sie nur voll hilflosen Staunens anzuschauen. Schließlich streckte sie einen wunderbaren langen und schlanken Arm aus. »Dies ist seine Pfeife. Ich habe sie mir, nun ja, ausgeborgt. Wärt Ihr wohl so freundlich, sie für mich zurückzubringen?« Der junge Mann nickte. Die Mondelfin aber verschwand, dass man ihr mit den Augen kaum folgen konnte. Schon war sie mit dem Laubwerk verschmolzen, und er blieb allein zurück und hielt die noch rauchende Tonpfeife in der Hand. Tarth betrachtete sie für einen Moment, als könne sie ihm Antwort auf seine Fragen geben, starrte dann noch einmal ebenso durchdringend wie vergeblich zwischen die Wipfel, zuckte die Achseln und setzte sich in der angegebenen Richtung in Bewegung. Du
LETZT
DOCH
NOCH EINIGE MAGISCHE GEHEIMNISSE OFFENBAR WERDEN?
ODER
BÖSE
GÜTE! SOLLTEN
MIR ZU SCHLECHTER
453
WOLLTET IHR MICH NOCH EINMAL HEREINLEGEN UND TISCHT MIR WIEDER EINES EURER LANGWEILIGEN ROMANTISCHEN
ABENTEUER
AUF?
(schweigen) EURE SCHMERZEN TUT MIR ABER LEID!
SIND NOCH NICHT VERGANGEN?
NA,
DAS
Der schmale Pfad bog vor Tarths ausgetretenen Stiefeln von der Hauptstraße durch Schattental ab. Kein Runenstein oder sonstiges Zeichen wies auf die Bedeutung dieser Abzweigung hin. Aber die genaue Wegbeschreibung, welche er erhalten hatte, ließ keinen Zweifel offen. Lange Zeit stand der Zauberer ganz allein da und folgte mit dem Blick dem Verlauf der verwitterten Steinplatten und betrat sie endlich. Der Weg führte zwischen zwei eingestürzten Häuschen vorbei und über eine Wiese zu dem gewaltigen und hoch aufragenden Felsen Alter Schädel. Friedlich lag hier zur Linken ein Teich. Vögel sangen, und Eichhörnchen riefen ihre Gefährten. Tarth Hornholz, den manche auch unter dem Namen »Donnerstab« kannten, lief vorsichtig und beinahe furchtsam weiter den Gartenweg entlang. Allmählich konnte er erkennen, was ihn am Ende des Pfads erwartete: ein schwerer steinerner Turm mit leichter Schlagseite nach links. Der junge Zauberer hielt seinen Stab wie eine Waffe und hoffte, ihn nicht benutzen zu müssen. In der letzten Zeit schienen seine Kräfte nämlich immer mehr 454
nachzulassen. An seiner anderen Hand schimmerte der Verlorene Ring von Murbrand. Tarth hoffte auch, dass er ebenfalls nicht gezwungen sein würde, dessen Kräfte herbeizurufen. Trotz tagelanger Versuche und Untersuchungen hatte er noch immer nicht herausgefunden, wie man den Reif dazu brachte, irgendetwas zu tun. An der Stelle, wo ein Pfad voller Moos und niedergetretenem Gras vom Steinweg abzweigte und auf den Teich zulief, lag ein großer flacher Stein – mit völlig glatter Oberfläche, als hätten sich im Lauf vieler Jahre sehr viele Wanderer auf ihm niedergelassen, um einen Moment zu verschnaufen. Zurzeit hatte eine lange, gebogene Tonpfeife darauf Platz genommen, welche der zum Verwechseln ähnlich sah, die Tarth in der Hand hielt. Sie brannte, und Rauchfäden stiegen in die Morgenluft hinauf. Aber von einem Raucher war weit und breit nichts zu sehen. Der junge Mann starrte argwöhnisch darauf. Ob es sich bei dieser einsamen Pfeife um eine Falle handelte? Oder lag dort der alte Meisterzauberer selbst und hatte sich die Gestalt einer Pfeife gegeben, um allzu aufdringlichen Besuchern und Eindringlingen zu entgehen? Er lief um sie herum und betrachtete sie von allen Seiten. Dann zuckte Tarth die Achseln. Er war schon aus so vielen gefährlichen Lagen mit heiler Haut herausgekommen, dass es auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr ankam. Außerdem handelte es sich bei dem Ding doch nur 455
um eine Pfeife, oder? Der Zauberer hoffte es wenigstens und streckte behutsam eine Hand nach ihr aus. Der Ton fühlte sich warm, fest und glatt an, und Tarth hätte beinahe erschrocken seine Hand zurückgerissen. Während seine Fingerspitzen prickelnd an dem Material lagen, wartete er vorsichtshalber ab. Ein Vogel flog vorbei, doch ansonsten tat sich nichts, und die Minuten dehnten sich immer länger. Schließlich hob der Zauberer vorsichtig die Pfeife von dem Stein und sah sich rasch nach allen Seiten um. Aber keine furchtbare Gefahr stürmte auf ihn zu, und eigentlich hatte sich gar nichts geändert. Er betrachtete die beiden Pfeifen. Die zweite unterschied sich in nichts von der, welche die Elfin ihm gegeben hatte. Zwei Tonpfeifen, die von alleine rauchten. Tarth trug die beiden Stücke vorsichtig und weit vor sich her, um den Rauch nicht einatmen zu müssen, und setzte sich wieder in Richtung Burg in Bewegung. Schließlich gelangte er vor eine Tür, auf der kein Schild noch sonst etwas verriet, was sich dahinter verbarg. Tarth klemmte sich den Stab unter die Armbeuge, nahm die beiden Pfeifen in die eine Hand und streckte die andere nach dem schweren Ring aus, um damit anzuklopfen. Seine Finger hatten ihn noch nicht berührt, als die Tür schon von allein und geräuschlos aufschwang. Der junge Zauberer fuhr sofort einen oder zwei 456
Schritte zurück und bemühte alle Sinne. Doch nachdem sich ein paar Atemzüge lang nichts getan hatte, näherte er sich wieder der Tür, blieb aber vor der Schwelle stehen und spähte misstrauisch in die Dunkelheit dahinter. »Steht nicht so lange bei geöffneter Tür da. Das bringt einem nur die Fliegen ins Haus!«, ertönte eine befehlsgewohnte Stimme von innen. »Herein, nur herein mit Euch! Tretet ein, Zauberlehrling, und entledigt Euch der Last, welche Euch hierher und vor mich geführt hat!« Tarth schluckte und trat einen Schritt vor. »Wowoher wisst Ihr, dass ich mich mit der Magie befasse?«, fragte er blöderweise. Bevor er sich daran hindern konnte, waren die Worte schon seinen Lippen entschlüpft. »Weil das in übermannsgroßen Buchstaben auf Eurer Stirn geschrieben steht! Woher denn sonst?«, lautete die Antwort. »Ist Euch das denn noch nie aufgefallen?« Dem folgte ein Grunzen, und dann meinte der unsichtbare Unbekannte: »Hm ... Ihr scheint mir auch ein Abenteurer zu sein. Solche Menschen achten nämlich am wenigsten auf ihre Umgebung. Herrschaftszeiten! Worauf wartet Ihr denn immer noch? Tretet ein, tretet ein! Das ist gar nicht so schwer, wie gemeinhin angenommen wird. Dazu müsst Ihr nur mit dem zweiten Fuß das anstellen, was Ihr gerade eben mit ersterem unternommen habt. Vorsichtshalber solltet Ihr Euch dabei auf Euren Wanderstab stützen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. So jetzt mutig mit dem zweiten Fuß am 457
ersten vorbei, und schon ist die kühne Tat vollbracht.« Tarth befolgte die Ratschläge und gelangte in eine düstere Kammer. An den Wänden stapelten sich bis unter die Decke Pergamentrollen und dicke, in Leder geschlagene Bücher. Auf einem Stapel besonders schwerer Wälzer hockte ein alter Mann in wehenden Gewändern und mit zotteligem Bart. Ein Luchsauge starrte auf den Neuankömmling und ließ ihn nicht aus dem Blick. In einer Hand hielt der Alte einen Vogel und schien ihn zu schützen. Der kleine gefiederte Kerl starrte Tarth ebenfalls an. Nach einem Moment tschilpte er einmal ungnädig. Der Bewohner dieser Kammer streckte die andere Hand aus: »Meine Pfeifen, wenn ich bitten darf«, verlangte er. »Allem Anschein nach seid Ihr Aelrue begegnet.« Als hätte er seine Sprache verloren, reichte Tarth ihm wortlos die beiden Stücke. Dabei berührten ihn kurz die Finger des Alten, und Tarth spürte für einen winzigen Moment rohe, ungezähmte Zauberenergie. Ehrfurchtsvoll stand er wie angewurzelt in diesem überfüllten Raum. Währenddessen sprach der Alte leise mit dem Vogel, und das in einer Sprache, welche der junge Mann nicht verstand. Der Piepmatz tschilpte wieder kurz, erhob sich von der Hand des Alten und flog in die Finsternis im hinteren Teil der Kammer davon. Als der Vogel fort war, schien sich der Alte seines Besuchers zu erinnern. »Eine Tasse Tee?«, fragte er etwas 458
zu brummig. »Ihr seht halb vertrocknet aus.« Ohne die Antwort abzuwarten, rief er nach hinten: »Lhaeo, Tee bitte. Für zwei!« Er zeigte auf ein altes Fass, auf dem sich einige Landkarten mit Eselsohren befanden. Sie zeigten Thay und die Alleröstlichsten Lande. Die zauberische Tinte, mit welcher man sie gezeichnet hatte, leuchtete matt im Halbdunkel. »Schiebt die einfach beiseite, und setzt Euch auf das Fass«, forderte der alte Mann ihn im Befehlston auf. »Wir fangen am besten gleich an. Wer keine Zeit nutzt, spart auch keine ein. Also, wie heißt Ihr?« Tarth nannte ihm eben diesen, seinen Vornamen und schaute sich nach einer freien Stelle um, wo er die Landkarten ablegen könnte. Aber die ließ sich nicht so leicht entdecken. Sein Gastgeber seufzte schließlich vernehmlich, winkte mit einer Hand, und die Karten lösten sich aus Tarths Händen, schwebten davon und entschwanden hinter einigen Pergamentstapeln. Im selben Moment erloschen die beiden Pfeifen. Sie hatten die ganze Zeit über neben der Schulter Elminsters in der Luft gehangen. Jetzt flogen sie ebenfalls nach hinten, wo man sie nicht mehr ausmachen konnte. Tarth ließ sich hastig auf dem Fass nieder und lehnte den Wanderstab an seine Schulter. Der Alte nickte. »Und mich nennt man Elminster von Schattental«, stellte er sich vor. »Und was führt Euch zu mir, junger Freund?« 459
Der Zauberlehrling schluckte, versuchte aber gleichzeitig, nach außen hin furchtlos und welterfahren zu erscheinen. »Ich suche nach einem Lehrer, welcher meine Kenntnisse in den Zauberkünsten ausbaut und vollendet«, brachte er sein Begehr vor. Als Elminster ihm nicht gleich die Tür wies, wagte er fortzufahren: »Wenn Ihr Euch dazu bereit erklärtet und meine Bezahlung ausreichend fändet, würde ich gern alles von Euch erfahren, was sich in einem Mond erlernen lässt.« Der weltberühmte Magier zog beide Brauen hoch und betrachtete den Jüngling lange und kühl. Seine Augen waren von einem leuchtenden Graublau, und Tarth fühlte sich bald unter einem solch prüfenden Blick unbehaglich. Der Lehrling wagte es aber nicht, den Kopf wegzudrehen. Endlich nickte Elminster langsam. Einen Moment später entdeckte Tarth eine dampfende Tasse Tee, welche leise aus der Dunkelheit heranschwebte, an seiner Nase vorbeiflog und auf seiner Hand landete. Tarth schloss seine zitternden Finger um sie. »Ihr habt von Bezahlung gesprochen«, ließ sich die befehlsgewohnte Stimme wieder vernehmen. »Würde es Euch unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten, junger Freund, die eine oder andere Zahl ins Spiel zu bringen?« »Oh, äh, wie wäre es damit?« Tarth streckte seine Hand aus: »Der Verlorene Ring des Murbrand!« Zwar stellte sich Stille ein, aber das von dem Jüngling 460
erwartete allgemeine Staunen blieb aus. Elminster betrachtete den Besucher aus klaren graublauen Augen, und aus der Finsternis über ihnen schwebte eine weitere Tasse Tee herab – genau in die wartende Hand des Zaubermeisters. Der alte Mann würdigte sie keines Blickes, sah dafür aber unentwegt den Jüngling an ... so als erwarte er mehr. Tarth beschloss, die Gesprächsleere mit einer Flut von Worten zu füllen. »Dieser Reif stellt einen der größten Schätze der verlorenen Magie Myth Drannors dar! Er wird in den alten Liedern der Barden besungen, und im ganzen Reich erzählt man sich in Märchen und Sagen davon! Eine echte Gelegenheit, wie sie so bald –« »Ein Gegenstand, dessen Kräfte zu beherrschen Eure Zauberfähigkeiten bei weitem übersteigen dürfte«, unterbrach Elminster ihn trocken. Tarth starrte ihn an wie ein Kind, dessen Lieblingsspielzeug kaputtgegangen ist. »Na ja, gut, irgendwie schon«, gestand er ein. Dann hellte sich die Miene des Lehrlings wieder auf: »Aber es war ganz schön schwierig, daran zu kommen ... und meine Zauberkräfte reichen immerhin aus, um zu erkennen, dass es sich bei diesem Ring um einen äußerst energiegeladenen Zaubergegenstand handelt ... Eigentlich um den mächtigsten, der mir je untergekommen ist!« Elminster nickte. »Da habt Ihr Recht.« Mehr sagte er nicht, betrachtete dafür seinen möglichen Schüler über den Rand seiner Teetasse. 461
Schweigen legte sich wieder zwischen die beiden und zog sich endlos lange hin. Schließlich legte Tarth die Hände auf die Oberschenkel und fragte: »Nun?« Er hatte es nämlich irgendwie mit der Angst zu tun bekommen. Die Augen des Erzmagiers wirkten immer finsterer, bedrohlicher und verärgerter. Der junge Mann machte sich klar, dass Elminster ohne viel Federlesens den Reif an sich reißen und Tarth Hornholz völlig vernichten könnte. Das würde einem solchen Zauberer sicher nicht viel ausmachen ... Jetzt schaute Elminster etwas belustigt drein. Vielleicht vor Vorfreude darauf, einen jungen Mann zerreißen und zerschmettern zu können? Sah so die Fratze des Todes aus? »Reicht Euch der Ring als Lohn?«, hörte Tarth sich fragen und konnte nicht fassen, so ruhig und geschäftsmäßig zu klingen. »Ja ... und nein«, erhielt er zur Antwort. »An sich ist der Reif Bezahlung genug, sogar mehr als genug. Aber ich will ihn nicht haben. Behaltet ihn nur.« Die Spur eines Lächelns ließ sich unter Bart und Schnurrbart erahnen. »Vielleicht besitzt Ihr eines Tages so viel Zaubermacht und seht Euch in der Lage, den Reif zu benutzen. Womöglich geratet Ihr sogar in eine Gefahr, in welcher Euch gar nichts anderes übrig bleibt, als ihn einzusetzen.« Tarth warf einen längeren Blick auf den Ring an seiner Hand und erinnerte sich an den Moment, an welchem er ihn von dem zerbröckelnden Knochenfinger 462
des Toten gezogen hatte. Der Rest vom vormaligen Reifbesitzer hatte zertrümmert und kaum noch so recht auszumachen unter einem ziemlich großen Steinbrocken gelegen – tief unten in einer staubigen und von Spinnweben verseuchten Grabkammer in Myth Drannor. Der junge Mann hatte sich den Ring angesteckt, aber nie wirklich damit gerechnet, ihn länger behalten zu können. Deswegen verwunderte es ihn umso mehr, dass der weltgrößte lebende Zauberer ihn nicht haben wollte. Er schluckte unbehaglich und misstrauisch und fragte dann: »Was wollt Ihr denn anstatt als Bezahlung haben?« »Zum Lohn dafür, Euch zu unterrichten?«, entgegnete die tiefe und ruhige Stimme. »Euren Stab natürlich.« Der Jüngling erstarrte und vergaß für einen Moment das Atmen. Dieser Stecken, ein einfacher, vom vielen Greifen glatt polierter Wanderstab, war sein wertvollster Besitz. Tarths erster Lehrmeister hatte ihn ihm damals im weit entfernten Amphail geschenkt. Der alte Nerndel hatte sie mitunter nicht mehr alle so recht beieinander gehabt, und seine Zauberkünste hatten auch schon bessere Tage gesehen, vor allem, weil er gern etwas vergaß. »Diesem Stab wohnt große Macht inne«, hatte er damals in einem Moment seltener Geistesklarheit gesprochen. »Hütet ihn wohl. Vielleicht wird er Euch eines Tages mehr Glück bescheren als mir.« 463
»Meinen Stecken?«, rief der junge Mann jetzt entsetzt, und der Magen rutschte ihm in die Knie. »Nein, nein, von dem kann ich mich nicht trennen. Niemals. Und ich will es auch gar nicht. Nehmt etwas anderes, denn den Wanderstab bekommt Ihr nicht.« »Wenn Ihr den Weg zur Tür zwischenzeitlich vergessen haben solltet«, entgegnete der Alte trocken, »so darf ich Euch versichern, dass sie immer noch dort steht, wo sie sich bei Eurem Eintreffen befunden hat. Und wenn Euch immer noch Zweifel plagen, vertraut ganz Euren Füßen. Die finden den Weg auch allein.« »Nein, nein, nein«, erschrak Tarth. »Bitte, nennt einen anderen Preis, verlangt etwas anderes von mir ... Jetzt bin ich doch schon so weit gekommen ...« Der Jüngling schüttelte den Kopf und beugte sich vor. »Bitte, ja? Meinetwegen verpflichte ich mich auch für eine gewisse Dienstleistung. Einem Zauberlehrling zum Lohn für seine Ausbildung den Stab abnehmen zu wollen, kann ja wohl nicht recht sein ... Was würdet Ihr überhaupt mit einem solchen Wanderstab anfangen wollen, großer Elminster?« »Viel wichtiger erscheint mir die Frage«, erwiderte der alte Mann aus Schattental, »inwieweit der Stecken Euch nützen kann, mein Freund.« »Was meint Ihr damit?« »Euer Stab verliert doch immer mehr an Saft und Kraft, je öfter Ihr ihn benutzt ... oder stimmt das etwa nicht?« Nach ein paar erschrockenen atemlosen Momenten nickte der junge Mann langsam und widerwillig. 464
»Und auch Ihr selbst, Tarth Hornholz, verliert immer mehr Zauberenergie, und zwar in dem Maße, in welchem Ihr Euch auf sie verlasst.« Der junge Mann verzog das Gesicht. »Woher kennt Ihr meinen Nachnamen?« Elminster grinste. »Vor einiger Zeit hat mir ein Freund – der junge Nerndel, na ja, für Euch war er sicher der alte Nerndel – erzählt, dass er jemanden zu seinem Nachfolger und Zaubererben bestimmt habe, einen klugen und fähigen jungen Mann. Er bat mich, nach Euch Ausschau zu halten, weil unsere Wege sich bestimmt eines Tages kreuzen würden. Und dann sollte ich mich ein wenig um Euch kümmern.« »Dann werdet Ihr mich also unterrichten?«, fragte Tarth, und die Hoffnung stieg so ungestüm in ihm auf, dass sie wie ein Kloß in seiner Kehle festsaß. »Ja, als Gegenleistung für einen bestimmten Dienst.« »Mit anderen Worten, ich darf meinen Stab behalten?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich könnte ja zum Beispiel von Euch verlangen, junger Freund, den Stab zu zerstören. Mir drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass Ihr Euch zu sehr auf ihn verlassen habt. Wie sonst hättet Ihr die Gefahren Myth Drannors überstehen können? Oder jenen Reif dort gewinnen, welchen Ihr so stolz herumzeigt? Nein, junger Freund, es wird höchste Zeit, Euch auf Eure eigenen Fähigkeiten zu besinnen und deren Gebrauch zu erlernen – und zwar ohne Krücken wie Stäbe oder Ringe. 465
Der Dienst, welchen ich als Lohn von Euch verlange, wird in einem einfachen Ritual bestehen, das Ihr gleichwohl peinlich genau durchzuführen habt. Nur so lässt sich Euer Stab nämlich zerstören.« »Und wenn ich mich weigere?« »Dann solltet Ihr gleich wieder gehen«, erwiderte der alte Mann milde. »Und all die Straßen beschreiten, auf welche Euch Eure munteren Füße führen ... bis zu Eurem Ende, das unweigerlich kommen wird. Sei es in Gestalt eines Strauchdiebs, welcher rasch mit einem geworfenen Stein bei der Hand ist, sei es in Form eines verschlagenen Kobolds, welcher Euch im Schlaf überfällt. Kein Mann, der so offen solche Macht herumzeigt, kann jemals wirkliche Freunde gewinnen. Auch darf er niemandem über eine längere Frist trauen. Solltet Ihr Euch nicht besinnen, werdet Ihr zu rasch Euer Grab finden, junger Freund. Denn der Neid wird über kurz oder lang jemanden gebären, welcher Euch Eure großen Schätze abzunehmen trachtet.« »Bislang bin ich noch ganz gut mit allem zurechtgekommen«, widersprach der Jüngling trotzig. »Ich kann auch ganz gut auf mich selbst aufpassen.« »Wirklich?«, fragte Elminster zurück. »Welche Verteidigungsmaßnahmen habt Ihr denn eingerichtet, bevor Ihr Euch so kühn in die Reichweite meiner Zaubermacht begeben habt?« Tarth schwieg hartnäckig. Doch in seinem Innern breitete sich wieder Furcht aus. Die Augen des alten Mannes leuchteten im Dunkeln. Er beobachtete ihn wieder. 466
Schließlich gab der junge Mann sich geschlagen und schüttelte den Kopf. »Ich besitze zur Verteidigung nicht mehr als die Banne, welche ich bei mir trage.« »Und natürlich den Wanderstab«, fügte Elminster spitz hinzu. »Trinkt einen Schluck, junger Freund, sonst wird Euer Tee kalt. Erklärt Ihr Euch nun einverstanden, oder wollt Ihr mich gleich verlassen?« »Wenn ich den Stab zerstöre«, entgegnete Tarth und bemühte sich, nicht in dessen Richtung zu schauen, »versprecht Ihr mir dann, mich zu einem mächtigen Zauberer auszubilden und mich hernach frei meiner Wege ziehen zu lassen?« Elminster nickte. »Ja, das schwöre ich. Doch bedenkt, mein Freund: Nur durch die Zerstörung des Stabs werdet Ihr die Freiheit des Geistes und des Handelns gewinnen. Nur dadurch vermögt Ihr wahre Macht und Glück zu gewinnen.« Tarth nickte langsam, während ihm der tiefere Sinn dieser Worte offenbar wurde. »Dann haben wir eine Abmachung.« Einen Moment später fügte er hinzu: »Ich muss mich für einige Tage zu meinen Gefährten begeben. Danach kehre ich zu Euch zurück.« Der Alte Magier nickte. »Natürlich, und achtet darauf, dass Euer Anteil an der Beute nicht zu klein ausfällt«, lächelte er. Tarth lächelte schief zurück und leerte seine Tasse. »Vielen Dank für den Tee«, sagte er und erhob sich. Aus der Ruhe gebrachter Staub umwirbelte ihn wie eine Wolke. 467
»Der Tee gehört zu den geringsten Dingen, welche ich für Euch tun kann«, erklärte ihm der alte Mann, »und für die Ihr mir danken solltet.« Er winkte mit dem kleinen Finger, und die beiden Tassen kehrten in die Finsternis über ihren Köpfen zurück und verschwanden dort. Der junge Mann nickte unsicher und machte sich auf den Weg zur Tür. Etwas schneller, als er beabsichtigt hatte. Sie öffnete sich wie von selbst für ihn, was nicht gerade zu seiner Beruhigung beitrug. Seufzend schritt der Jüngling nach draußen und bemerkte natürlich nicht, wie Elminster seinem Rücken zulächelte. (seufzer) IHR GEHÖRT NICHT ZU DENJENIGEN, WELCHE GERN RASCH ZUR SACHE KOMMEN, WAS? Wenn man zu sehr hudelt, kommt oft nur Murks dabei heraus. Ich wette, in der Hölle ist das nicht anders, oder? WAS FÜR EIN PFIFFIGER BESSERWISSER MEIN KLEINER SKLAVENHUND DOCH IST! ACHTET DARAUF, DASS IHR EUCH MIT EURER SCHARFEN ZUNGE NICHT EINMAL SELBST DEN MUND AUFSCHNEIDET! (schweigen bilder strömen heran tanzen fast schon spöttisch auf und ab) Jemand klopfte an Sarlins Tür. Der Oberste hörte das und erhob sich rasch. In der letzten Zeit war nicht alles zum Besten gelaufen, und nur wenige Goldstücke hatten den Weg in seine Schatztruhe gefunden. 468
Tarth Hornholz stand draußen. Mit gebräuntem Gesicht und einem auffälligen Ring am Finger. Irgendwie wirkte der junge Mann deutlich älter als bei ihrer letzten Begegnung. Offenbar hatte Tarth sich zwischenzeitlich auf »Abenteuerreise« begeben. »Was wollt Ihr hier?«, fragte Sarlin nur. Tarth betrachtete den bösartigen alten Zauberer ganz gelassen und antwortete: »Es geht um ein Geschäft. Und diesmal keine Tricks, verstanden?« Sarlin lächelte nicht über solche Worte, sondern nickte. »Worum geht es denn genau?« Der Jüngling hielt ihm seinen Stab entgegen, ein kräftiges, gerades, glattes und dunkles Stück. »Ich möchte, dass Ihr mir einen zweiten wie diesen hier anfertigt.« Der alte Magier zog eine Braue hoch. »Das könnte Jahre dauern. Habt Ihr denn –« »Nein, er muss nicht mit Zauberkräften versehen sein«, stellte Tarth rasch klar. »Na ja, sagen wir, er muss einen Dweomer enthalten ... und er sollte in der Lage sein, auf Befehl zu leuchten und wieder zu verlöschen. Kurz gesagt, ich brauche eine genaue Nachahmung dieses Stabs. Sie muss so gut sein, dass selbst der beste Zauberer der Welt den Unterschied nicht feststellen könnte.« Sarlin zog die zweite Augenbraue hoch. »Das kostet aber eine Kleinigkeit.« Der Jüngling nickte. »Ich will Euch das hier dafür geben.« Er streckte die Hand mit dem Reif aus. »Das ist der Verlorene Ring des Murbrand.« Sarlin beugte sich vor und betrachtete das Stück. 469
»Abgemacht«, meinte er dann. »Abgemacht«, sagte auch Tarth. Der alte Zauberer streckte eine Hand aus, und der Jüngling legte den Ring hinein. Sarlin hielt sich den Reif vors Auge, drehte ihn herum und las die Zeichen, welche Murbrand vor Zeiten dort eingeritzt hatte. Ohne Zweifel war dies sein Ring – oder alle Bücher über alte Schätze und dergleichen irrten sich. Sarlin hielt einen wirklichen Ring der Macht in Händen und konnte sich nur mühsam davor bewahren, vor Aufregung zu zittern. Aber schiere Gier war nicht seine Art. Er zog wieder die Augenbrauen hoch und gab den Ring zurück, wenn auch mit einem leichten Zögern. »Der Stab muss sehr wertvoll für Euch sein.« »Fast so wertvoll wie der Reif«, nickte der junge Mann. »Zumindest für den, welcher sich auf den Umgang damit versteht.« Der Alte grinste. »Und Ihr wisst natürlich, wie man mit einem solchen Gegenstand umzugehen hat?« Er streckte wieder die Hand aus: »Gebt mir den Stab jetzt und den Ring später, wenn ich fertig bin, als Ausgleich für zwei Stecken. Kommt in vier Morgen wieder her.« Tarth zog die Stirn kraus. »So rasch wollt Ihr damit fertig sein?« Sarlin zuckte die Achseln. »In meinem Gewerbe bin ich ein wahrer Meister, und das solltet Ihr eigentlich wissen.« 470
Der Jüngling nickte. »Ja, das seid Ihr. Dann gilt der Handel also?« Der Alte nickte ebenfalls, vielleicht ein wenig gierig. »Abgemacht.« UND
MAGIE ... SONST MIT REICHLICH SCHMERZEN, MAGIER. JETZT ENDLICH
BEZAHLT IHR DIE
ZECHE
»Seid Ihr bereit, Junge?«, fragte Elminster freundlich. Tarth nickte mit ausdrucksloser Miene. Der Alte Zauberer hob eine Hand. »Dann beginnt.« Der Jüngling stand in dem Kreis, welchen Elminster tief im Wald von Schattental vorbereitet hatte. Auf einem großen, flachen Stein lag der Stab des jungen Mannes. Daneben befand sich ein scharfes Messer. Tarth trat jetzt vor und stellte sich an den Stein. Kalter Schweiß lief ihm plötzlich über Stirn und Hals. Den wachsamen Blick des weltbesten Magiers spürte er wie ein schweres Gewicht am Rücken. Der Zauberlehrling atmete tief durch, zuckte die Achseln und fing dann so mit dem Ritual an, wie sein Herr es ihm beigebracht hatte. Zuerst sprach man einen Zauberbann, welchen man langsam und deutlich sprach: Tarth betonte jede Silbe besonders und nahm nun vorsichtig das Messer zur Hand. Dabei fiel sein Blick auf den Stecken. Dunkel, glatt und hart lag er dort, sein vertrauter, zuverlässiger und wertvoller Begleiter, welcher ihm schon in Arabel den Beinamen »Donnerstab« beigebracht hatte. 471
Anfangs hatte man ihn aus Spott damit belegt, doch Tarth hatte dafür gesorgt, dass der Name Achtung und sogar Schrecken auslöste. Doch wenn Elminster nun seinen Willen bekam, würde das alles bald Vergangenheit sein. Der Jüngling seufzte wieder, verscheuchte mit großer Anstrengung den Missmut in sich, erhob den Dolch und begann den Gesang. Anfangs mit heller und leichter Stimme ... Das Licht spiegelte sich auf der Klinge wider und blitzte dort gelegentlich auf. Der Jüngling hob die andere Hand, hielt sie an die Schneide. Entschlossen ritzte er seine freie Handfläche auf, denn das Ritual erforderte Blut. Ein kaltes Prickeln entstand auf seinem Handteller, als das Blut aus der Wunde quoll. Tarth trat einen Schritt zurück und stieß den Dolch bis zum Heft in den Boden. Nun flüsterte er einen neuen Zauber und nahm dann den Gesang wieder auf. Als er erneut vor dem flachen Stein stand, tropfte ihm das Blut schon von den Fingern. Behutsam, und ohne im Singen innezuhalten, streckte er die aufgeschnittene Hand aus und ließ die Tropfen auf den Stecken fallen. »Ihr seid zu mir gekommen«, hatte Elminster ihm erklärt, »die Weisheit der alten Magier zu erwerben. Doch das allein reicht nicht. Auch das Blut der Helden ist verlangt, um die Freiheit zu gewinnen. Deswegen werdet Ihr auch ein wenig Blut opfern müssen, Zauberlehrling.« 472
Tarth spürte jetzt wieder, wie der alte Mann ihn beobachtete, während er das Holz mit seinem Blut benetzte. Alle Tropfen, welche auf dem Stein oder dem Boden landeten, blieben dort liegen. Diejenigen aber, welche auf den Stab fielen, verschwanden sofort in dem Holz. Elminster hatte ihn auch dringend ermahnt, zu keinem Moment mit dem Gesang aufzuhören, ganz gleich, was auch geschähe. Tarth gehorchte, selbst dann, als der Stab vor ihm auf dem Stein zu glühen begann. Ein rotgoldenes Leuchten breitete sich langsam auf der gesamten Länge des Steckens aus, nahm ständig an Helligkeit zu und strahlte schließlich weiß. Nun trat der junge Mann einen Schritt zurück, wie Elminster es ihm aufgetragen hatte, und sang kräftiger und lauter. Ohne auf seine Hand sehen zu müssen, wusste er, dass der Schnitt aufgehört hatte zu bluten. Zauberkräfte heilten bereits seine Wunde. Der Stab erhob sich nun etwa zwei Finger weit vom Stein, begann im Schweben zu summen und leuchtete immer noch heller und heller. Das Ritual verlangte nun Tarths Tränen. Er betrachtete seinen alten hölzernen Gefährten, gedachte all der Abenteuer, welche sie in den letzten paar Jahren gemeinsam bestanden hatten. Erinnerte sich daran, wie oft er ihn in der Hand gehalten hatte, wo sie überall eingedrungen waren oder sich eingeschlichen hatten ... Das alles würde nun vorbei sein. Tarth vermisste ihn jetzt schon. Die Erinnerungen drängten zuhauf in sein Bewusst473
sein, und sein Gesang drohte zu stocken. Ja, er würde seinen Stab wirklich vermissen. Tränen drangen ihm wie von selbst in die Augen, und er bekam einen Kloß im Hals, als er an das angenehme Gefühl dachte, wenn er den Stab in der Hand gehalten hatte. Seine Magie war ihm immer wie ein Schild gegen alle Unbilden erschienen. Wie gut hatte er sich nach so manchem Gerangel angefühlt. Manchmal hatte Tarth seinen Stab als eigenes Lebewesen angesehen, als eigene Persönlichkeit. Die Tränen rannen ihm jetzt nur so aus den Augen. Er stellte sich wieder, wie Elminster es ihn gelehrt hatte, an den Stein, damit seine Tränen das glühende Holz benetzen konnten. Als Antwort darauf fing der Stecken an zu pulsieren. Sein Summen schwoll an, und er richtete sich langsam und majestätisch auf, bis er von dem Stein abstand. Die Luft rings um den Stab herum begann zu glühen, bis eine helle Aura ihn umgab. Tarth sang immer weiter, staunte nicht schlecht und fühlte Hoffnung in sich. Immer noch pochend erhob sich der Stecken weiter. Das Licht brannte hell und dann trüb, hell und trüber, hell und dunkel ... Hinter seinem Lehrling stand Elminster und runzelte die Stirn. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah genauer hin. Der Helldunkelwechsel des Stabes erfolgte nun immer rascher, und im gleichen Maße verging sein helles Summen. Dann erschlaffte er und zerfiel ... regnete als Asche auf den Stein herab. 474
Tarths Gesang endete ebenfalls, wenn auch etwas überraschend. Nach einem Moment völliger Stille drehte er sich zu seinem Lehrmeister um: »Sollte es das etwa gewesen sein? Mir erscheint das als einzige Verschwendung!« Elminster aber lächelte bitter. »Die Verschwendung, mein junger Freund, liegt ganz allein bei Euch. Indem Ihr nämlich den Ring für so wenig hergegeben habt.« Er bewegte kurz die Finger, und über der Steinplatte zuckte ein Blitz nieder. Danach hing ein dunkler und glänzender Stab dort in der Luft, welcher dem Jüngling recht bekannt vorkam. Das war sein Stab, der echte, welchen er in einer Zelle im nächsten Mystra-Tempel zurückgelassen hatte, versehen mit den stärksten Abwehrbannen, welche er kannte. Jetzt starrte er den Stecken fassungslos an. »Das ist Euer richtiger Stab, mein junger Held«, erklärte Elminster nachsichtig. »Mit Ehrlichkeit kommt man immer am weitesten, selbst in der Zauberei. Aber diese Lektion kann man sich nur selbst beibringen. Fangt damit an, sobald Ihr Euch alt und reif genug dazu fühlt.« Während der alte Mann sprach, sank der Stecken herab und legte sich auf den Stein. Das Messer löste sich aus dem Erdreich und gesellte sich zu dem Holz. Elminster breitete die Arme aus, sah den Jungen fragend und eindringlich an und verschwand dann von einem Moment auf den anderen. Nur leere Luft blieb dort zurück, wo er eben noch gestanden hatte. 475
Tarth starrte auf die farnbestandene Höhe, auf welcher sein Lehrmeister bis vorhin gestanden hatte. Dann drehte er sich langsam um die eigene Achse. Und fing an zu zittern. Er befand sich ganz allein auf dieser Lichtung. Der Pfad, über welchen der Jüngling hierher gefunden hatte, führte einladend fort zwischen hohe Bäume, Stille und Dunkelheit. Tarth schluckte, als sein Blick über den Weg wanderte. Sein Mund trocknete aus, und er tat einen raschen Schritt auf den Pfad zu. Dort blieb er stehen und drehte sich um. Sein Stab lag immer noch auf der Steinplatte. Einen Moment lang schwankte der Jüngling, dann rannte er zurück und brachte den alten Freund an sich. Das vertraute Gewicht wieder zu fühlen, verlieh ihm große Sicherheit. Er spürte es auch sofort: Dies war der echte Stecken, sein alter Kumpan ... den Elminster hierher gezaubert hatte. Tarth hielt ihn einen Moment wie eine Waffe, als müsse er einen unsichtbaren Feind abwehren. Dann sprang er los und rannte den Waldweg hinunter. Unterwegs fielen ihm die Abschiedsworte des alten Mannes wieder ein. Dass man sich eine solche Lektion nur selbst beibringen könne ... dass man damit beginnen müsse, wenn man sich alt und reif genug dazu fühle ... Der Jüngling blieb ruckartig stehen und atmete schwer. Der Stab in seiner Hand fühlte sich schwer an. Schweißtropfen liefen ihm über die Augen. Tarth blinzelte, bis er wieder sehen konnte, und 476
schaute sich wild nach allen Seiten um. Aber hier hielt sich niemand auf, um ihn zu beobachten. Und bis auf sein eigenes Keuchen hörte er auch keine Geräusche. Der junge Mann versuchte, sich an die Worte des Zaubers zu erinnern, welcher ihn im Zeitraum eines Augenaufschlags von einem Ort zum nächsten beförderte, und tatsächlich fiel er ihm wieder ein. Doch er verbannte den Spruch aus seinen Gedanken, betrachtete seinen Stab eingehend und kehrte dann nicht mehr so rasch, aber umso entschiedener zu der Lichtung mit der Steinplatte zurück. Das Messer lag noch auf dem Altar. Aber außer ihm hielt sich niemand an diesem stillen Ort auf. Tarth trat wieder in den Kreis. Sein eigener Atem kam ihm unerträglich laut und rasselnd vor. Er hob den Stab, betrachtete ihn liebevoll, spürte seine Wärme und seine Stärke. Dann seufzte der Jüngling. Er brauchte sehr lange, um den Stecken loszulassen, nachdem er ihn auf den Stein gelegt hatte. Mit weißen Lippen stand Tarth Hornholz noch länger ganz allein am Rand des Kreises. Schließlich fand er die Kraft, stellte sich an den Stein und begann wieder mit dem Zauberspruch, mit welchem das Ritual eingeleitet wurde. Als er das Messer nahm, sah er Elminster wieder hinter ihm auf der Farnanhöhe auftauchen. Der alte Mann lächelte und nickte ihm anerkennend zu. Nun erhob sich der Stecken von neuem. Diesmal 477
strömten Tarths Tränen so reichlich, dass er den Stab kaum noch ausmachen konnte. Das Gefühl eines großen Verlustes bemächtigte sich seiner, und er spürte, dass etwas von ihm gerissen wurde. Dieses Gefühl schwoll immer heftiger an, je stärker das Holz pochte. Wieder richtete sich der Stecken auf dem Stein auf, und sein Singen klang Tarth betäubend laut in den Ohren. Plötzlich verging das Holz in gleißender Helligkeit. Der Jüngling schrie und brach den Gesang ab. Er fiel auf die Knie, kroch auf allen vieren zum Kreisrand und darüber hinaus ... (knurren) WIE LANGE NOCH, ZAUBERLEIN? WIE LANGE NOCH WOLLT IHR MICH AUF DIE FOLTER SPANNEN? Kühle Luft strich über seine Stirn, und sanfte Hände berührten ihn. Zwei, drei ... hatte der Alte Zaubermeister sich zusätzliche Hände wachsen lassen? Tarth blinzelte und erblickte über sich einen strahlend blauen Himmel und dazwischen tanzende Blätter. Er lag offenbar auf unebenem Boden auf dem Rücken. Der Duft von Tee drang ihm von ganz in der Nähe in die Nase. »Na, da seid Ihr ja wieder bei uns, Junge?«, ertönte die dunkle Stimme des alten Elminsters neben ihm. Der Jüngling drehte den Kopf zur Seite und öffnete den Mund, um sich zurückzumelden ... ... und vergaß gleich fassungslos, was er eigentlich 478
sagen wollte. Der Zaubermeister saß auf einem Stein und hielt seine Teetasse in der Hand. Er trug eine Flickenweste aus Baumwolle, die bis zu den ausgetretenen alten Stiefeln reichte. Neben ihm hockte eine schlanke Dame mit grauen Augen, welche Tarth mit einiger Neugier betrachtete. Sie hielt zwei Tassen Tee in der Hand und trug nicht mehr am Leib als Elminsters Umhang. »Erfreut, Euch kennen zu lernen«, begrüßte die Schöne den Jüngling mit ebenso sanfter wie tiefer Stimme. Der alte Mann grinste und wandte sich an seinen Lehrling: »Tarth Hornholz, ich möchte Euch Euren Stab vorstellen.« Er deutete mit großartiger Geste auf die Dame an seiner Seite: »Dies ist die Dame Nimra Neunhand. Der Name bezieht sich auf einen ihrer Lieblingszauber.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Junger Freund, Ihr habt der Edlen in den vergangenen Jahren viel von ihrer Stärke abgezapft. Deswegen musste ich ihr einiges von Eurer Kraft geben, ehe Ihr sie noch vollkommen zugrunde gerichtet hättet.« Er sah die beiden an und fuhr dann fort: »Jetzt haben wir aber genug Zeit verplempert. In meiner Burg erwartet euch Abendbrot ... falls ihr den Weg dorthin finden solltet. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ihr beide euch eine Menge zu erzählen habt.« Der alte Mann grinste wieder, als er Tarths immer noch fassungslose Miene bemerkte. »Na hört mal, mein Junge«, überzog er den Jüngling mit mildem Spott, »als 479
Zauberer erhält man nicht jeden Tag die Gelegenheit, sich mit seinem Stab über Gott und die Welt zu unterhalten. Nur zu, Ihr seid doch sonst nicht auf den Mund gefallen.« Damit winkte Elminster noch einmal und war auch schon verschwunden. Ohne ein Wort der Anrede hielt Nimra Neunhand dem jungen Mann eine Tasse hin. Er nahm sie vorsichtig, achtete peinlich darauf, sich nicht zu bekleckern, und räusperte sich. »Äh, ganz meinerseits«, grüßte er zurück, und dann breitete sich langsam ein jungenhaftes Lächeln auf seinen Zügen aus. Du BÖSE GÜTE! LIEBESGEDÖNS,
DOCH NICHT SCHON WIEDER IRGENDWELCHES ODER?
IHR
MENSCHEN
SEID
WIRKLICH
UNVERBESSERLICH!
Einige Stunden später an diesem ereignisreichen Tag saß Tarth wieder mit dem alten Zauberer zwischen dessen staubbedeckten Schriften zusammen. »Wie lange kennt Ihr sie schon?«, wollte der Zauberlehrling wissen und zeigte nach oben. Die Dame Nimra ruhte schon längst in Elminsters Schlafgemach über dieser Kammer. »Die Edle Neunhand wurde vor über siebenhundert Wintern von einem Rivalen in Myth Drannor in Euren Stab verwandelt«, antwortete der Magier von Schattental langsam und überlegte stets zwischen den einzelnen Sätzen. »Wir haben sie nie befreit, denn durch ihre Verbannung als Stecken wurde eine Reihe von grausamen 480
Geschöpfen freigesetzt, welche zuvor von ihr bezwungen worden waren ... Diese Wesen suchten überall nach ihr und hätten sie irgendwann sicher aufgespürt und gefressen – wenn Nimra nicht als Stück Holz durch die Welt gekommen wäre. So gesehen hatte ihre Verwandlung auch etwas Gutes. Denn eine bessere Tarnung hätte die Edle niemals finden können!« »Was ist denn aus diesen Unholden geworden«, wollte der junge Mann wissen, »die so lange hinter ihr her waren?« »Ach, sie haben im Lauf der Jahre allesamt ihr Ende gefunden«, antwortete der Alte Magier. »Nerndel hat mehr als einen von ihnen erschlagen.« »Mein alter Lehrmeister? Wie ist er denn eigentlich in den Besitz des Stabes gelangt?« Jetzt lächelte Elminster breit. »Er war der Rivale, welcher sie verwandelt hat. Nerndel hoffte, wenn er sie nach einer gewissen Frist wieder befreite, würde sie seinem Liebeswerben nachgeben. Aber ich habe einige Banne auf den Stecken gelegt. Einer davon bewirkte, dass ich bei Bedarf immer sofort erfuhr, wo die Edle sich gerade befand. Ein anderer verhinderte, dass die Zauberverwandlung rückgängig gemacht werden könnte. Ich wollte verhindern, dass Nimra wieder sie selbst würde, solange noch einer ihrer Feinde unter den Lebenden weilte. Auch habe ich einiges an den Zaubern herumgefuhrwerkt, mit welchen Nerndel die Dame gefangen 481
gesetzt hat. Deswegen seid Ihr auch auf Gedeih und Verderb mit ihr verbunden, mein junger Freund.« »Mit ihr verbunden?« Tarth verstand überhaupt nichts mehr. »Ganz recht. Nimra schuldete Nerndel sechs Dienste. Der erste bestand darin, ihn zum Meisterzauberer auszubilden. Im zweiten verlangte Euer Lehrmeister von ihr, ein bestimmtes Ritual durchzuführen. Im Verlauf desselben verwandelte sie sich in den Stab. Aber zu dem Zeitpunkt hatte sie den ersten Dienst noch nicht vollständig erledigt. Mit anderen Worten, solange sie die Zauberausbildung nicht abgeschlossen hat, kann sie sich auch nicht aus dem Netzwerk der Banne befreien, welches Nerndel über sie gelegt hat. Und da Ihr Nerndels Erbe seid, darf und muss die Edle die Ausbildung bei Euch beenden.« »Bei mir?«, entfuhr es dem Jüngling. »Und was geschieht danach?« Elminster zuckte die Achseln. »Das liegt ganz allein bei Euch. Nimra hat Euch in den letzten Jahren gedient, freiwillig gedient, obwohl sie Euch kaum kannte ... Nun ich glaube, sie mag Euch. Wer weiß, in naher oder ferner Zukunft mögt Ihr vielleicht noch richtig zusammenfinden.« »Zusammenfinden«, wiederholte Tarth, als hätte er ein Wunder geschaut. Er blickte an die Decke und fragte: »Aber wie soll ich sie behandeln? Was sage ich zu ihr? Soll ich von ihr verlangen, mir die Dienste zu er482
weisen, die noch übrig geblieben sind? Aber was wird sie dann von mir denken? Muss ich da nicht befürchten, dass sie sich wehrt, mich sogar angreift?« Der alte Mann lächelte milde und breitete die Arme aus. »Auf all diese Fragen könnt Ihr Euch nur selbst eine Antwort geben ... Aber ich meine, Ihr habt doch schon bewiesen, dass Ihr auch allein durchaus in der Lage seid, den richtigen Weg zu finden.« Tarth starrte ihn an, dann zogen sich seine Augen zusammen. »Ihr habt Euch einverstanden erklärt, mich einen Mond lang die Zauberkunde zu lehren. Also teilt mir alles mit, was ich wissen möchte.« Elminster nickte. »Ja, ich habe mich bereit gefunden. Doch ich fürchte, in dieser Angelegenheit vermag ich Euch keine große Hilfe zu sein. Schlimmer noch, Tarth, ich kenne die Antworten auf Eure Fragen nicht.« »Aber man sagt Euch doch nach, der weiseste unter allen lebenden Weisen zu sein, und das auf so gut wie allen Wissensgebieten!«, wandte der Jüngling ein. »Ihr sollt auf jede Frage die Antwort kennen!« Die beiden hörten leichte Schritte auf der Treppe. Tarth drehte sich um und starrte die schöne Nimra an, welche ihn anlächelte. Wenn der Jüngling in ihre klaren blauen Augen blickte, verlor er sich vollkommen darin. »Nur Narren wissen alle Antworten«, entgegnete Elminster leise. Er zog sich still zurück und ließ die beiden jungen Leute allein. Hinter ihm senkte sich der leicht aufgewirbelte Staub. »Also, junger Meister Tarth«, erklärte ihm die Herrin, 483
nachdem sie auf dem Sitz Platz genommen hatte, auf welchem sich bis eben der Erzmagier befunden hatte, »jetzt wisst Ihr es. Ihr müsst allein die Antworten auf Eure Fragen finden. Und mit diesen Ergebnissen werdet Ihr leben müssen. Aber eben darum geht es am Ende ja auch im Dasein eines Zauberers.« Der Jüngling nickte und räusperte sich. »Äh, ja, gut ... schön, Euch wieder zu sehen.« Sie lachte silberhell. WIE? DAS SOLL EURE MÄCHTIGE ZAUBERKUNST GEWESEN SEIN? DAMIT HABT IHR WIRKLICH ZU HEFTIG AUF MEINER GEDULD HERUMGETRAMPELT, IHR VERNAGELTES ZAUBERLEIN! WIE GEFÄLLT ES EUCH, WENN ICH DAS HIER MIT EURER KETTE MACHE? UND WENN ICH SIE GLEICHZEITIG AUCH NOCH IN FLAMMEN AUFGEHEN LASSE? NA? EINFACH TOLL, WAS? (schreien unbeherrscht wild wie ein tier geht langsam in verebbendes wimmern über) NEIN, NEIN, SO EINFACH KOMMT IHR MIR ABER NICHT DAVON! EIN WENIG HEILUNG, DAZU EIN LEICHTES STÄRKUNGSMITTEL, UND SCHON SEID IHR WIEDER WACH GENUG FÜR DIE NÄCHSTE LADUNG GRAUSAMER FOLTER! HIER, BITTESEHR! (donnerndes teuflisches gelächter dazu schriller werdende schreie)
484
16 Um der Liebe eines alten Magiers willen
Tentakel zogen und zerrten wütend an dem schmutzigen, nackten und angeketteten Haufen, bei dem es sich doch in Wahrheit um einen Menschen handelte ... Erst nach einer Weile zogen sie sich eher widerwillig wieder zurück. ICH WEISS IMMER NOCH NICHT so RECHT, WARUM EINIGE EURER ERINNERUNGEN, WELCHE IHR MIR GEZEIGT HABT, FÜR MYSTRA VON DAUERHAFTEM INTERESSE SEIN SOLLTEN ... ODER SELBST FÜR EUCH, WENN WIR SCHON DABEI SIND. WARUM BEHALTET IHR SOLCHE ERINNERUNGEN IM GEDÄCHTNIS, ELMINSTER? ODER PFLANZT MYSTRA DORT NUR DAS EIN, WAS SIE EUCH SEHEN LASSEN WILL? ANDERS GEFRAGT: SIND DAS EURE ECHTEN ERINNERUNGEN ODER DINGE, WELCHE IHR GERN SEHEN MÖCHTET? Aus Liebe und Gnade gewährt die Herrin, welcher ich diene, mir Erinnerungen an Ereignisse, deren Zeuge ich nicht werden konnte, über welche ich aber dennoch dringend Bescheid wissen möchte. Die Taten und Abenteuer des Mirt gehören zum Beispiel dazu. Denn ich will seinen Charakter besser verstehen, handelt es sich bei ihm doch um einen der wichtigsten Harfner. AHA! VERSTEHE! SO WIE ICH EUCH AUS DER FERNE 485
BEOBACHTE, VERFOLGT IHR AUCH DAS TREIBEN ANDERER.
(knurren) ICH WILL EUCH NICHT VERHEHLEN, MENSCHLEIN, DASS GEWALTIGER ZORN IN MIR AUFSTEIGT, WENN ICH EUREN GEIST DURCHPFLÜGE, EINE ERINNERUNG NACH DER ANDEREN AUSGRABE UND DOCH NICHTS VON DEN ERINNERUNGEN AN DIE MAGIE ENTDECKE, NACH WELCHEN ICH SUCHE! NACH WELCHEN ICH SOGAR STREBE! ICH KOMME MIR SCHON VOR WIE JEMAND, DER UNTER ALLEN STEINEN, AUS DENEN SICH AWERNUS ZUSAMMENSETZT, NACH EINEM GANZ BESTIMMTEN SUCHT! (schnaufen und zischen) ABER IRGENDWO MÜSSEN DIESE ERINNERUNGEN VERBORGEN LIEGEN! DA BIN ICH MIR GANZ SICHER! SONST KÖNNTET IHR NÄMLICH NICHT DERJENIGE SEIN, WELCHER IHR SEID! VIELLEICHT STELLT MYSTRA JA DEN SCHLÜSSEL DAR ... ICH KANN MIR EIGENTLICH NICHT VORSTELLEN, DASS SIE WÄHREND IHRES KURZEN AUFENTHALTS HIER EINE VERBINDUNG MIT EUCH HERSTELLEN UND EUCH VERÄNDERN KONNTE ... SO ETWAS HÄTTE MIR NICHT VERBORGEN BLEIBEN KÖNNEN! ALSO LIEGT IHR DARAN, DASS DIE ERINNERUNGEN ERHALTEN BLEIBEN, WELCHE IHR IN EUCH TRAGT ... WENN ICH AUF DIE STOSSE, WELCHE SIE EUCH EINGEGEBEN HAT, FINDE ICH DORT SICHER AUCH DEN GROSSEN SCHATZ! AUF DENN, ZEIGT MIR EINE ERINNERUNG VON MYSTRA! MIR IST GANZ GLEICH WELCHE, DENN MITTLERWEILE VERMAG ICH DEN UNTERSCHIED ZU ERKENNEN! UND DANN WERDE ICH DER SPUR FOLGEN, WELCHE IHR FÜR MICH ZURÜCKGELASSEN HABT! ABER OBACHT! WENN IHR SIE ZU LANG UND ZU VERTRACKT ANLEGT, SCHENKE ICH EUCH SCHMERZEN, WIE IHR SIE NOCH NICHT KENNEN GELERNT HABT! 486
FÜHRT MICH ZU DEM, WONACH ICH SUCHE, UND ES SOLL EUCH WOHL ERGEHEN!
DAS IST DOCH EIN ÜBERZEUGENDER HANDEL, ODER? Sicher, wie könnte man dem widerstehen? EUER TONFALL GEFÄLLT MIR NICHT! VERGESST BLOSS NICHT, DASS IHR IN MEINER HAND SEID! ZUR NOT AUCH IM WORTWÖRTLICHEN SINNE! DESWEGEN STELLE ICH HIER DIE BEDINGUNGEN ... UND BESTIMME AUCH DIE STRAFEN! PRÄGT EUCH DAS BESSER GUT EIN! Oh, ein solcher Fehler würde mir wohl kaum unterlaufen. Das dürft Ihr mir ruhig glauben. MENSCHLEIN, WAGT IHR ES ETWA, EUCH ÜBER MICH LUSTIG ZU MACHEN? Das würde mir niemals in den Sinn kommen, Teufel. Das verspreche ich Euch! (knurren) DANN WILL ICH EUCH AUCH EIN VERSPRECHEN GEBEN: SOBALD ICH DAS BEKOMMEN HABE, WONACH ICH SUCHE, WIRD EUER LEIDEN ENDLOS SEIN! WAGT IHR ES JETZT VIELLEICHT, MIR NOCH EINMAL MIT EINEM VERSPRECHEN ZU KOMMEN? Eigentlich nicht. Wenigstens im Moment nicht. (ein ungeheuer finsterer teufelsblick herumwirbeln erneut in die schwärzeste tiefe hinabtauchen bilder wie verlorene sterne ausstreuen) Ein grauer Himmel spannte sich über Aglarond ... wie Schiefer, und kein Wölkchen bewegte sich darauf ... 487
alles glatt und eintönig wie auf einer Panzerplatte. Die Simbul hatte nur einen verdrossenen Blick dafür übrig, während sie auf ihrem Lieblingsbalkon saß. Zum wiederholten Mal stellte sie einen Kelch ab, in welchem sich ein Zaubergebräu befand. Bann um Bann hatte sie in dem vergeblichen Bemühen in die Flüssigkeit gesandt, um ihr den Geschmack eines Weines zu verleihen, welchen Elminster aus dem untergegangenen Myth Drannor zaubergerettet hatte. Das Mieder, welches sie trug (und sonst recht wenig), glühte zum wiederholten Male auf, und das verriet ihr, dass der Seneschall endgültig keine Lust mehr hatte, Gesandte und Höflinge noch länger hinzuhalten. Die Nachmittagsaudienz sollte endlich beginnen. Also erhob sich die Simbul, kehrte in ihr Gemach zurück, zog im Gehen eine Robe vom Haken und legte sie an. Dabei handelte es sich um ein dunkelrotes und goldenes Stück, das mit mehreren ineinander verwobenen Drachen geschmückt war. So ein Kleid passte besser zu jemandem, der mit solchem Zierrat mehr anzufangen wusste. Doch so zuckte die Hexenkönigin von Aglarond die Achseln, lief durch einen Gang, welcher der Öffentlichkeit nicht zugänglich war, und sprang über ein Treppengeländer. Der Wächter, der hier stand, wusste aus Erfahrung, dass er sich in solchen Fällen nichts anmerken lassen durfte. Die Simbul landete nur wenige Fingerbreit von einer schlafenden Katze entfernt auf einem Sofa und lief weiter, ohne sich von dem wütenden Zischen und Fau488
chen des Tiers beeindrucken zu lassen. Endlich schritt sie über den Teppich zu der Seitentür, welche in den Thronsaal führte. Ohne Schärpe drohte die Robe, immer weiter aufzugehen. Der Wächter, welcher hier stand, diente ihr schon sehr lange. Sein Blick wanderte über die Simbul. Nur einen winzigen Moment betrachtete er ihre Nacktheit. Dann stellte er seine Hellebarde zur Seite und öffnete seinen Schwertgurt. Nachdem er ihn ausgezogen hatte, beugte er ein Knie und reichte ihn der Simbul. Sie bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln und zog ihn hoch und herum. »Umgürtet mich!«, flüsterte sie ihm zu, und während sie ihn noch einmal drehte, legte er ihr den Gurt an. Die Hexenkönigin salutierte vor ihm, stieß dann die Tür zum Thronsaal weit auf und war für ihn nicht mehr zu sehen. Erst jetzt bückte sich der Soldat, um seine Hose hochzuziehen. Die Robe der Simbul wurde nun von seinem zweitbesten Schwertgurt zusammengehalten. Während er daran dachte, fiel ihm ein, dass die Hexenkönigin von Aglarond nun nicht nur mit einer Schwert- und einer Dolchscheide durch den Thronsaal stolzierte, sondern auch mit einem Beutel voller Würfel, einem Stück Käse an einer Schnur (mit welchem er seine Lieblingsmaus aus ihrem Loch zu locken pflegte) und einer Tasche, welche sein bestes Kartenspiel enthielt – das mit den nackten Thay-Schönen auf der Rückseite ... diejenigen, welche noch drei Atemzüge lang in der Luft zu sehen waren, wenn man die betref489
fende Karte ausspielte. Grinsend sagte sich Thaergar von den Türen, dass die Königin bestimmt in Gedanken lachen würde, wenn sie das mit den Karten herausfände. Den Göttern sei Dank dafür. Er hoffte, dass sie darüber lachen konnte ... So habe ich gerufen, doch meine Freunde sind nicht gekommen – oder können mich durch die Legionen der Hölle nicht erreichen. Ich bin verloren. Dabei ist es doch eigentlich höchst grausam von mir, nichts weiter als schnöde Eitelkeit, andere zu mir herabziehen zu wollen. Dabei könnten sie doch friedlich und zufrieden in Toril weiterleben und so dem Guten dienen, wie ich das getan habe. Nein, ich muss diese Schlacht allein schlagen. Und eine Schlacht ist unvermeidlich, denn ich werde nicht friedlich untergehen. Beim Kampf Geist gegen Geist darf ich natürlich niemals hoffen, gegen Nergal bestehen zu können; denn er vermag meinen Willen zu einem Nichts zusammenschrumpfen zu lassen. Indem er mich grässliche körperliche Schmerzen spüren lässt. Bei ihm handelt es sich um einen raschen, kühnen und selbstbewussten Geist – den eines eigensinnigen Kindes, wenn der Vergleich erlaubt ist. Aber er fühlt sich dem Schatz meiner Erfahrungen und Erinnerungen unterlegen. Denn in seinen vielen Jahren hat er die gleichen Dinge wieder und wieder und wieder 490
getan ... und dabei weit weniger gesehen und erlebt als ein gewisser alter Menschenzauberer. Dessen ist er sich natürlich bewusst. Allein aus diesem Grund lebe ich ja immer noch. Für ihn bin ich mehr als ein Spielzeug, mit dem zu befassen er gerade Lust hat oder nicht. Auch bin ich ihm wertvoller als eine Trophäe, wie sie die anderen Teufel nicht besitzen. Und Nergal sieht in mir mehr als einen bloßen Köder, mit welchem er seine Feinde anzulocken und dann zu zerschmettern vermag. Für ihn bin ich eine Schatzkammer, welche er liebend gern plündern möchte. Ich bin der Born all der Magie, nach der ihn so sehr verlangt. Gleichzeitig bin ich aber auch die Quelle von Dingen, die er gerne hätte, obwohl er das niemals zugeben würde. Für die Erinnerungen an Aufregungen und Schönheit, an Schrecknisse und Freundlichkeiten. Kurzum an das, was das Leben ausmacht – und was ihm vollkommen versagt ist. Wenn ich ihm davon etwas bieten kann, zwingt er mich, weitere Erinnerungen zu finden ... und zwar von der gleichen Art. Obwohl er genau weiß, dass dort weder Zauberwissen noch silbernes Feuer noch andere Geheimnisse der Mystra zu finden sein werden. Aber gerade diese Bilder haben ihn süchtig gemacht. Ich würde sie ihm ja freiwillig überlassen, um einem Teufelsfürsten der Hölle etwas Menschlichkeit zu verleihen, um wenigstens einem Höllenbewohner so etwas wie Verständnis für das Leben auf Toril einzugeben. Aber das geht nicht wegen seines Geistwurms, der mir 491
alles, was ich gebe, entreißt und aus meinem Kopf entfernt! Deswegen kann es zwischen uns beiden nur Krieg geben. Eine Auseinandersetzung, welche Elminster niemals gewinnen kann, auch wenn er unbedingt obsiegen muss. Mit jeder gezeigten Erinnerung wird Elminster ein Stück ärmer und leerer. Umso mehr ähnelt er einer bloßen Hülle. Umso mehr wird er wie Nergal. Je weniger Elminster wird, desto mehr wird Nergal. Irgendwie muss es mir gelingen, ihn durch, hinter oder mit meinen Erinnerungen zu bekämpfen. Zumindest bei denen, welche er in sich aufsaugt. Es muss mir gelingen, mich in seinen Geist einzuschleichen und ihn dort zu bekämpfen. Doch um dies zu bewerkstelligen, muss ich das übergeben, was ich bislang so tapfer und fest vor ihm zurückgehalten habe. Alles, Mystra ... nein ... Warum eigentlich nicht, sagt das Mädchen zu dem Matrosen. Am Ende wird Nergal ja doch alles aus mir herausgesogen haben. Ich kann ihn nicht daran hindern. Ich vermag ihn nur ein wenig zu steuern, nämlich durch das, was ich ihm überlasse ... und wann ich das tue. Meine Schlacht und mit ihr die kleine Aussicht auf Sieg, welche mir vielleicht bleibt, liegt nur darin – nämlich im Muster dessen, was ich preisgebe. Haben nicht genau das gefangene Frauen bei den Männern getan, welche sie ergriffen hatten? Haben solche Frauen nicht ebenso danach gestrebt, ihn dadurch zu beherrschen, wie viel von sich sie ihm gewährten und vor 492
allem, wann sie sich ihm hingaben? Ich aber bin mit noch größerer Schwäche bewaffnet und gewappnet. Dann soll es eben so sein. Ich werde meinen Feind willkommen heißen und lasse die Schlacht die entscheidende Stufe erreichen. Doch vorher sollte ich noch etwas gründlicher darüber nachdenken. Ich brauche also mehr Zeit ... So will ich Nergal dann eine weitere Erinnerung vorsetzen, welche die Göttin mir eingegeben hat. Während er sich daran ergötzt, ziehe ich mich auf meinen Feldherrenhügel zurück. Um mich mit meinen Generälen zu beraten. Die auch alle Elminster sind. Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam wenn schon nicht zu einer Lösung, so doch zu einer Entscheidung finden ... Phaeldara stand vor dem Thron und ließ den Blick über die wie üblich glitzernde Menge schweifen. Perlen glänzten in den wallenden Locken ihres lilafarbenen Haars. Sie richtete sich zur vollen, erhabenen und dunklen Größe auf und ließ ihre Stimme vernehmen. »Ihr Herren und Damen, Geduld ist eine Tugend, welche von uns mehr gehegt und gepflegt werden sollte. In besonderem Maße in diesem Palast. Ich habe daher –« »Was denn, was denn, geliebte Schwester?«, unterbrach die Simbul sie. »Haben die Herren und Damen etwa vergessen, welche anderen Aufgaben mich be493
schäftigen ... oder wie rastlos ich bin?« Sie klang heiter und leutselig – und sie überhörte die Seufzer des Überdrusses, welche aus mehreren Ecken des Thronsaals zu vernehmen waren. Mit einem erleichterten Lächeln drehte Phaeldara sich zu ihrer Schwester um und umarmte sie. »Wohl kaum«, flüsterte sie ihr dabei ins Ohr, »auch wenn das sicher auf einige rot gewandete Narren in Thay zutrifft. Geht Euren alten Zauberer für ein paar Tage besuchen ... und stillt Eure verschiedenen Hunger.« Die Hexenkönigin grinste. »Verlegt Ihr Euch neuerdings darauf, mich unter die Haube zu bringen, Schwesterherz? »Aber nein«, erwiderte die Zauberin mit grimmigem Ausdruck in den Augen und in der Stimme. Die Simbul verstand das durchaus zu Recht als Warnung. »Vernehmt dies«, fuhr die Schwester jetzt fort. »Heute Morgen, nachdem Ihr Lorn Thorwim mit dem Silbertablett ins Land der Träume geschickt hattet, habe ich versucht, Elminster mit meiner Gedänkenstimme zu erreichen ... Ich wollte ihn bitten, Euch hier zu besuchen ... doch ich konnte ihn nicht erreichen!« Die Hexenkönigin erstarrte. Phaeldara fuhr einen Schritt zurück, als der Blick ihrer Schwester leer wurde. Die Luft rings um sie herum fing an zu knistern. Daraus erwuchs fast so etwas wie ein Gewitter, als die Herrscherin von Aglarond immer mehr Zauberenergie für ihre Geistessuche nach Elminster aufwandte. Kleine silberfarbene Blitze zuckten. Überall im Saal entstand Gemurmel, sei es aus Stau494
nen, aus Furcht oder auch aus Ärger über die weitere Verzögerung. Aber kaum einer verstand, was dort vorn am Thron eigentlich vor sich ging. Und es kam noch verwunderlicher ... Das Schwert und der Dolch, mit denen die Hexenkönigin sich zu ihrer Audienz umgürtet hatte, fingen an, in der Scheide zu qualmen. Die Schnalle verschwand plötzlich unter einem Funkenregen und war dann vergangen. Der Gürtel fiel herab, landete mit einem Rums auf dem Boden und wurde von einer Robe fortgeweht, die ihr nachfolgte. Und dem jagte ein Mieder hinterher. Die Beherrscherin von Aglarond stand splitternackt vor ihrem Hofstaat. Nur die zuckenden Blitze, welche um und über sie rasten, bedeckten ihre Blöße. »O Göttin, nein!«, hörten die Versammelten die Hexe schließlich stöhnen. Dann verzog sie ihr Gesicht und bat flehentlich: »Ach, Mystra, darf ich?« Langes Silberhaar schlug auf ihre nackten Schultern ein, als sei im Thronsaal ein Sturm ausgebrochen. Der stolze Kopf der Simbul wurde in den Nacken geworfen, und sie starrte mit leeren Augen an die Kuppeldecke. Einige Momente später erloschen die Blitze und das Prasseln, und die Funken zogen sich wie eine Welle bei Ebbe zurück. Die Simbul regte sich langsam, so als sei das Leben erst jetzt in sie zurückgekehrt. »Thorneira! Ewenyl! Zu mir, herbei, herbei! Seneschall, ruft mir den Maskierten! Schwesterherz, ich brauche Eure Perlen, jede einzelne davon!« Die hoch gewachsene Zauberin fuhr sich schon mit 495
ihren langen Fingern durch das lilafarbene Haar und förderte ganze Hände voll Perlen zu Tage. Von jeder einzelnen ging spürbar die Macht von Bannen aus. »Hier, Euer Majestät«, stammelte die Zauberin, welche sich von der Aufregung hatte anstecken lassen. Die Hexenkönigin sammelte sie alle ein, hielt sie vorsichtig, beugte sich vor, um Phaeldara auf die Wange zu küssen, und hielt doch die ganze Zeit über die Anwesenden im raubvogelhaften Blick. »Dieser Mann dort!«, zeigte die Simbul auf einen in der Menge. »Ewenyl, erschlagt ihn! Bei ihm handelt es sich um einen thayanischen Spion!« Ohne sich damit aufzuhalten, wie ihr Befehl befolgt wurde, vollführte sie schon eine Vierteldrehung und zeigte auf einen anderen: »Jener dort ist gekommen, einen Rivalen mit falschen Anschuldigungen aus dem Weg zu räumen. Entzieht ihm sofort alle königlichen Privilegien.« Damit wandte sie sich an ihre Schwester: »Phaeldara, der Thron gehört wieder Euch, aber wenn die thayanischen Gesandten mit etwas zu viel Begleitschutz anrücken, macht dem Maskierten den Thron frei und bittet ihn, in meinem Namen zu sprechen. Ihr selbst begebt Euch zu den Raschemen und holt deren Gesandte hierher, auf dass sie Zeugnis ablegen können über das, was hier geschieht.« »Euer Majestät, Ihr wollt doch nicht etwa dem Thron entsagen?«, erkühnte sich ein Höfling zu fragen. Sein Kopf flog mit lautem Knall zur Seite, und dieses Geräusch übertönte sogar das Zischen und Prasseln der 496
thayanischen Zauber und der Abwehrschilde, welche Ewenyl dagegen errichtete. Die Wange des vorlauten Höflings leuchtete so rot, als habe er gerade eine kräftige Ohrfeige erhalten. Die Hexenkönigin bedachte ihn nun mit einem ausgesprochen feindseligen Blick und gab gefährlich leise und kalt eine Erklärung ab. »Allen sei hiermit kundgetan: Thorneira, Thalance, Phaeldara, Ewenyl und der Maskierte sprechen zu aller Zeit für mich und an meiner Statt. Genauso werden sie es auch jetzt, während meiner nicht zu lange währenden Abwesenheit, halten. Gehorcht ihnen deswegen so eifrig und ergeben, wie Ihr das bei mir tun würdet.« Die Simbul musste gar nicht erst ein drohendes »Sonst ...« hinzufügen. Alle im Saal hatten sie gehört, und die Wange des Höflings, der für eine bloße Frage schon unbeherrscht gezüchtigt worden war, leuchtete immer noch für jeden sichtbar rot. Falls es doch Einwände oder Fragen gab, so gingen die jetzt im Getöse der Türen unter, welche an allen Seiten des Saals mit einem Knall aufflogen. Während die Wächter noch erschrocken an ihre Posten zurückkehrten, flogen bereits alle möglichen Gegenstände durch die Öffnungen: Gürtel, Strumpfbänder, Stiefel, Unterwäsche, Brustplatte, Ringe, Ketten und Zauberstäbe, die vor Zaubermacht blinkten. Überall im Saal krachte und zischte es vor Energie – und die Höflinge krabbelten auf allen vieren hinter ihre Hexenkönigin, weil sie sich dort etwas Sicherheit versprachen. 497
Bloß und schön streckte die Herrscherin von Aglarond die Arme aus, und schon sausten ihre magischen Kleider heran und legten sich ihr an. »Ich ziehe aus, einen Mann zu retten, welcher mehr wert ist als ihr alle«, verkündete sie den Anwesenden in einem ganz anderen Tonfall; fast so als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Und natürlich viel, viel wertvoller als ich.« Mit einem Auflodern von silbernen Flammen und blauweißen Sternen löste sich die Hexenkönigin in Luft auf und war nicht mehr zu sehen. Die Türen öffneten sich, und die Zauberin Phaeldara schritt königlich heraus. Thaergar von den Türen nahm Haltung an und setzte eine ausdruckslose Miene auf. Zu seiner Überraschung vollführte die Regentin vor ihm eine Vierteldrehung und schaute ihm unmittelbar ins Gesicht. »Ich glaube, das hier gehört Euch«, erklärte sie streng und hielt ihm sein Kartenspiel hin. Das kleine Stück Käse, noch ein Stück kleiner geworden und seiner Schnur verlustig gegangen, ruhte auf dem tätowierten Bauch von Salambra, der Wölfin von Surthay, wie ihm gleich auffiel. Der Soldat rührte sich nicht, weil er nicht wusste, wie er sich jetzt verhalten sollte. »So nehmt es doch, Mann!«, befahl Phaeldara, und ihre Stimme klang, als stünde sie kurz vor einem Tränenausbruch. So etwas hatte er noch nie bei ihr erlebt. 498
Erschrocken sah Thaergar ihr ins Gesicht und entdeckte gleich die Tränen in ihren Augen. »Nehmt die Karten und betet für Eure Königin«, flüsterte die Zauberin und drückte ihm das Spiel in die Hand. Verdattert nahm er die Spielkarten entgegen. Phaeldara rannte sofort los und lief den Flur hinunter. Die Rockschöße flatterten wie Wäsche an der Leine im Sturmwind hinter ihr her. Der Wächter schaute ihr noch einen Moment hinterher und seufzte dann. Das schien mal wieder einer dieser Tage zu werden ... Einen Moment verharrte er noch in seiner Stellung, dann tat er zwei Schritte, bückte sich und schob gleich darauf das schnurlose Stück Käse ins Mauseloch. Vielleicht würde er ja bald fortgerufen werden, um für Aglarond in die Schlacht zu ziehen ... und nie mehr auf seinen Wachtposten zurückkehren. NA, WAS HABEN WIR DENN DA? Fürst Nergal, Ihr scheint Euch ja bester Stimmung zu erfreuen. ENDLICH ENTDECKE ICH MAGIE! NUN SCHWEIGT, WÄHREND ICH MICH DORT HINEINSTÜRZE UND MICH GENAUESTENS UMSEHE! (bilder leuchten hell) Die kriechenden und sich ständig wandelnden Feuerrunen auf der letzten Seite schienen mit ihr zu spielen, 499
sie herauszufordern und zu verspotten. Laeral Rythkyn wurde auch »Laeral von Lautwasser« genannt, um sie nicht mit der Laeral zu verwechseln, welche man als die Magierin von Tiefwasser kannte. Sie hatte mit ihrer üblichen Geduld den zerbröckelnden Band studiert, und ihre Erregung wuchs mit jeder neuen Seite und mit jedem neuen Tag. Geduld und Gründlichkeit hatten ihr dazu verholfen, zu einer der jüngsten mächtigen Magierinnen im Norden zu werden. Geduld und Gründlichkeit kamen ihr vor allem beim Lesen zugute, wenn sie sich daran übte, einen neuen Zauber in dem betreffenden Buch zu verstehen, zu erfassen, zu wiederholen, zu beherrschen und schließlich zu verbessern. Jede Seite in diesem alten Werk enthielt nur einen neuen Bann, und ein jeder davon war Laeral vollkommen neu. Sie alle ließen sich hervorragend gebrauchen. Einige von ihnen wirkten in ihrer Zusammensetzung, ihrer Sprache oder ihren Zutaten schon etwas eigenartig – eben richtig altmodisch. Je weiter sie in dem dickleibigen Wälzer vorankam, desto deutlicher erkannte Laeral, dass jeder neue Zauber sich als machtvoller als der vorangegangene erwies. Die allerletzte Seite war in flammendem Rot geschrieben. Bannbehandelte Runen erwarteten die junge Zauberin hier, welche sich verschoben, wenn man sie betrachtete. Dann konnte man sie nicht mehr entziffern. Doch etwas später zwinkerten sie einem schon wieder zu. 500
Hier musste ein wirklich ganz besonderer Zauber aufgeführt sein. BEIM BARTE DES ASMO- ÄH, ICH MEINE NATÜRLICH, BEI DEN KLAUEN DER KLAUH-DIYA! SOLL ICH ENDLICH DOCH NOCH ECHTE MAGIE VORGEFÜHRT BEKOMMEN? Schweigt, Teufel, sonst verpasst Ihr das Beste am Ende noch! (knurren) ZEIGT ES MIR! ZEIGT ES MIR! Das Zauberbuch hatte in einem eingefallenen Grab in einem der Keller unter Immerlund gelegen, und das offenbar schon sehr lange. Laeral war darauf gestoßen, als sie ihren HarfnerFreunden dabei half, in den dunklen und mit Spinnweben verhangenen Gängen Gespenster zu jagen und zu vernichten. Doch zunächst hatte der Wälzer den ganzen Winter unbeachtet auf dem Tisch in Laerals Arbeitszimmer zubringen müssen. Die Zauberin hatte ihren Lehrling ausbilden müssen. Blaskyn musste nämlich die Angriffszauber erlernen. Nur die Kenntnis derselben würde ihm dazu verhelfen, in einem Zweikampf zu bestehen. Der junge Mann hatte sich sehr geschickt angestellt. Man durfte von ihm erwarten, seine eigenen Beschwörungen und Anrufungen zu entwickeln und sie nach seinem Vermögen zu verfeinern. Bald würde Blaskyn so weit sein, auf eigenen Beinen 501
zu stehen und die Welt als ausgebildeter Zauberer zu durchwandern. Zu diesem Behuf hatte Laeral ihm aufgetragen, sich mit den notwendigen Aufgaben zu befassen, dank derer man sich darin übte, das notwendige Feingefühl für die Entwicklung und Bewirkung eines eigenen neuen Zaubers zu erwerben. Bis der Jüngling so weit war, wollte sie einen Blick in dieses dicke Buch auf dem Arbeitstisch werfen. Und bei der Lektüre merkte sie rasch, dass sie sich mit dem Inhalt hervorragend selbst üben konnte. ENDLICH NAMEN
UND
ORTE! UND MAGIE! JA,
ES SIEHT
TATSÄCHLICH DANACH AUS! SO FAHRT FORT, MENSCHENMAGIER, SO FAHRT FORT!
(bilder entfalten sich) Laeral starrte wieder auf die Runen. Ungefähr zum vierzigsten Mal an diesem Tag versuchte sie, die Zeichen zu enträtseln. Sie legte die Stirn in Falten und nagte ganz in Gedanken an der Unterlippe. Blaskyn hatte gesagt, die Runen sähen aus wie kleine hüpfende Flammen, und da musste die Zauberin ihm Recht geben. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung beugte Laeral sich über die entspannt schnurrende Katze neben ihr und zog das kleine, zerlesene Handbuch aus dem Regal. Sie suchte nach einem bestimmten Zauber aus ihrer eigenen Schülerinnenzeit. Ja, da war er ja. Im Grunde nicht mehr als ein zauberischer Kunstkniff, den auf dieser Seite von Tiefwasser 502
mindestens ein halbes Hundert Magier kannte. Unter der Zuhilfenahme einer Kerze, eines Lagerfeuers oder einer Fackel ließen sich damit aus Flammen Bilder oder Worte erschaffen. Laeral zischte aufgeregt vor sich hin, schob sich einen bestimmten Schutzring über den Finger, bewirkte den Zauber und richtete ihre ganze Willenskraft auf die letzte Seite des Buches. Die Runen kamen tatsächlich langsam zum Stillstand. Dann verharrten sie wie erstarrt. Und endlich verzogen sie sich zu klarer und eindeutiger Schrift. Abgefasst in Alt-Gemein oder Thorass stand jetzt dort zu lesen: So sitzet doch nicht ganz allein Auf Thalons Thron aus kaltem Stein Es sei denn, dies sei Euch genehm Euch schmückt des Zaubers Diadem So sitzet dort die Nacht zur Gänze Dehnt lustvoll Eures Zaubers Grenze Übertrefft dann aller Magier Geist Seien sie auch noch so weitgereist Laeral verzog den Mund. Nicht gerade die geschliffensten Reime, vor allem zum Ende hin. Und auch in anderer Hinsicht ein bemühter Reim: Dem war sie schon einige Male im Norden begegnet, sowohl in Sagensammlungen wie auch in Sachverzeichnissen. Nur schien diese Aufzeichnung hier älter als alle anderen zu sein, welche sie bislang gelesen hatte. Und 503
warum hatte sich jemand die Mühe gemacht, einen so verbreiteten Spruch so raffiniert zu verbergen? Auch enthielt diese Fassung einen recht deutlichen Hinweis, welcher in allen früheren gefehlt hatte. Eine Angabe darüber, wo der Thron zu finden sei. Wenn sie es recht deutete, irgendwo im Hochforst, unweit von Alander, bei den Verlorenen Gipfeln. Wie dem auch sei, der Zeitpunkt schien gekommen zu sein, wieder auf Abenteuerreise zu gehen. ICH KANN NUR FÜR EUCH HOFFEN, NICHT SCHON WIEDER MEINE ZEIT ZU VERSCHWENDEN, MENSCHLEIN! MIR IST SÄMTLICHER SINN FÜR ZERSTREUUNGEN UND ABLENKUNGEN JEGLICHER ART VERGANGEN! AUCH ALLEN ANDEREN FORMEN VON UNTERHALTUNG BIN ICH INZWISCHEN ABHOLD! Herr, alles dürfte Eures Interesses wert sein ... oder müsst Ihr vielleicht fort und habt es eilig? (grummeln ohrfeige teuflisches lächeln) »Verratet mir doch wenigstens, wo Ihr hingehen werdet«, forderte Blaskyn sie mit einem entwaffnenden Lächeln auf. »Dann weiß ich wenigstens, wo ich nach Euch suchen muss, wenn Elminster der Großmächtige oder ein König oder sonst wer kommt und sich nach Euch erkundigt.« Laeral lächelte über den Eifer ihres Lehrlings. Wenn sie sich sein Betragen in den letzten Wochen ins Gedächtnis rief, hatten sich während ihrer Abwesenheit am ehesten die hübschen jungen Dinger in Lautwasser Sorgen zu machen. Die Sicherheit ihrer Burg spielte da 504
nur eine zweitrangige Rolle. Dann musste Laeral lächeln. Eigentlich unterschied sie nur ihr großes magisches Vermögen von den anderen hübschen jungen Mädchen. Ohne das wäre sie nur eine weitere von denen gewesen; denn dass sie nicht unansehnlich war, hatte sie schon von mehreren Seiten zu hören bekommen. Aber sie vertraute Blaskyn nun schon seit Jahren, und bislang hatte der junge Mann sie noch nie enttäuscht. »Ich mache mich auf, lebende Legenden zu jagen, junger Freund.« »Was frage ich auch so dumm?«, entgegnete er und verbeugte sich vornehm wie ein Höfling in Silbermond. Die Zaubermeisterin zog die Nase kraus. »Ich suche nach Thalons Thron. Dabei handelt es sich um einen steinernen Hochsitz, welcher der Sage nach von dem alten Erzmagier Thalon errichtet worden sein soll ... in jenen längst vergangenen Tagen, als man Myth Drannor noch nicht erschaffen hatte.« Der Lehrling legte den Kopf schief. »So viele haben diese Sage schon gelesen und sich auf die Suche gemacht. Glaubt Ihr denn wirklich, dass noch irgendetwas von ihm übrig geblieben ist?« Laeral zuckte die Achseln. »Als Magier strebt man schließlich ständig nach neuem Wissen«, zitierte sie einen der alten Lehrsätze. Blaskyn seufzte. »Mir will es so scheinen, als ließe sich dieser Grundsatz hervorragend dazu verwenden, ungestraft die Nase in anderer Leute Angelegenheiten 505
zu stecken«, meinte er dann und richtete den Blick unschuldig an die Decke. Seine Lehrmeisterin grinste breit. »Auch in gewisse andere Dinge, was? Wie zum Beispiel beim Mondspaziergang in Fräuleinbegleitung am Wychmoon-Hügel?« Der Jüngling errötete bis hinter die Ohren. Er sah sie prüfend an, als wolle er feststellen, wie viel seine Lehrmeisterin genau wisse, und beruhigte sich dann rasch wieder. »Wo wir schon beim Thema sind«, meinte er dann in gespielter Nachdenklichkeit, »erwähnt der Vers nicht etwas von wegen, man solle nicht allein auf kaltem Thrones Stein sitzen?« Laeral schüttelte gleich den Kopf. »O nein, junger Herr Blaskyn, Ihr werdet mich nicht begleiten. Wenigstens dieses Mal nicht.« Sie trat zu der geschwärzten Plattenrüstung, welche in einer Ecke an der Wand lehnte. Wenn der Stahl nicht so verstaubt gewesen wäre, hätte das gute Stück richtig beeindruckend ausgesehen. »Ich brauche Euch nämlich dringender hier«, erklärte die Zauberin ihrem Lehrling jetzt, nahm den schweren Helm vom Stützhaken und reichte ihn Blaskyn. »Und zwar hier vor Ort. Ihr sollt Euch im Dorf um die Wahrnehmung meiner Interessen kümmern und die Ohren aufhalten. Alles, was Neuigkeitswert hat, sollt Ihr für mich sammeln und aufbewahren.« Laeral schob ihm den alten Helm in die Hände. Der Jüngling starrte erst auf die Kopfbedeckung und blickte dann seine Herrin fragend an. »Der Helm des Versteckens«, erklärte die Zauber506
meisterin ihm. »Bei dem Rest der Rüstung handelt es sich lediglich um eine Ansammlung von Stahl, wenn auch meisterhaft von einem Plattner angefertigt.« Letzteres entsprach nicht ganz und gar der Wahrheit, aber welcher Zauberer gab schon freiwillig gleich alle Geheimnisse preis? »Der Helm schützt Euch vor aller Form von Magie. Auch vor solcher, welche in Euren Geist eindringen will. Und er verbirgt Euch, wenn Ihr Euch selbst auf die Suche nach Zauberenergie begebt. Mit ihm auf dem Kopf vermögt Ihr Euch in Schatten zu hüllen und für fast alle nach Euch Ausschau haltenden Augen unsichtbar zu werden. Setzt den Helm unbedingt auf, wenn sich ein mächtiger Feind nähert. Wenn Euch Euer Leben und Eure Zaubererausbildung lieb sind, junger Freund, verbergt Ihr Euch in solchen Fällen. Versteckt Euch, aber fordert den Gegner nicht zum tödlichen Kampf heraus. Die Zauberbücher, welche ich Euch bislang vorgelegt habe, mögt Ihr nach Herzenslust benutzen. Die anderen, nun, die könnt Ihr ohnehin nicht finden.« Blaskyn lächelte und nickte. »Selbstredend. Ich habe ohnehin noch genug damit zu tun, all die Sprüche auszuprobieren, welche Ihr mir bereits zur Verfügung gestellt habt. Ihr braucht Euch also überhaupt keine Sorgen zu machen, dass ich sofort überall in der Burg herumschnüffle, kaum dass Ihr zum Tor hinausgeritten seid.« Lächelnd fügte er hinzu: »Und auch nicht am Tag oder in der Woche danach ...« 507
Dann setzte der Jüngling wieder seine Unschuldsmiene auf und fragte wie nebenbei: »Solange ich die oberen Stockwerke abgeschlossen halte und die Türen dort mit Abwehrzaubern sichere, darf ich doch wohl Besucher empfangen, nicht wahr? Natürlich nur solche, welche sich nicht auf die Zauberkünste verstehen ...« Laeral zog wieder die Nase kraus: »Aber doch hoffentlich nur eine auf einmal. Und bitte keine Saufgelage! In einem Haus der Magie kann Volltrunkenheit nämlich die entsetzlichsten Folgen haben ... mögen sie mitunter auch noch so Aufsehen erregend sein.« Blaskyn nickte wieder, und diesmal wirkte er durchaus ernsthaft. »Ich muss Euch noch einmal fragen, Herrin: Haltet Ihr es wirklich für geboten, diese Reise ganz allein anzutreten?« Laeral lachte. »Aber ich bin doch nicht ganz allein. Schließlich nehme ich das hier mit.« Sie deutete auf die Rute, welche neben ihrem Stuhl auf einem Kissen lag. »Das gehört zu den wertvollsten Dingen in meinem Besitz. Ohne sie gehe ich niemals auf Reisen.« Der Lehrling schüttelte den Kopf. »Aber Ihr wart es doch, die mich Folgendes gelehrt hat: Wenn ein Zauberer zu sehr auf die Magie von Gegenständen baut, er sich selbst zu sehr vertraut!« Laeral sah ihm ins Gesicht und antwortete sanft: »Vertraut Euren eigenen Zauberkünsten während meiner Abwesenheit nicht zu sehr. Hütet Eure Taten und achtet auf Eure Worte, Freund Blaskyn, denn die Zauberkunst allein hilft Euch nicht, alle Klippen des Lebens zu umschiffen.« 508
»Ein neuer Lehrsatz!«, stöhnte der Jüngling. »Ihr solltet lieber gleich aufbrechen, Herrin, ehe ich noch einschlafe!« Die Zaubermeisterin beließ es bei einem tadelnden Blick. Dann rollte sie das Pergament auf, dessen Zauber sie zu dem gewünschten Berg befördern sollte. Er erhob sich genau dort, wo der Dessarin aus dem Hochforst strömte. »Ich bin bestimmt nicht lange fort«, bemerkte die Herrin zur Beruhigung. (Zu wessen eigentlich, seiner oder ihrer eigenen?) Blaskyn grinste. »Verloren ist der Magier, welcher sich zu sehr auf Pläne verlässt, denn die Launen der Götter haben noch jeden von ihnen verbogen.« Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, weil er ihr diesen oft vorgehaltenen Lehrsatz endlich zurückgeben konnte. Laeral bedachte ihn mit einem weiteren strengen Blick, ehe sie sich auf die Zauberreise begab. GRUNDSCHLECHTER! JETZT BEKOMME ICH AUCH NOCH DIE MERKSÄTZE DER MENSCHEN AUFGETISCHT! ICH HOFFE DRINGEND, ZAUBERLEIN, DASS DAS NOCH ZU ETWAS SINNVOLLEM FÜHRT! Selbstverständlich. ›SELBSTVERSTÄNDLICH‹? MEHR HABT IHR DAZU NICHT ZU SAGEN? KÖNNTE ES SEIN, DASS DER ACH SO ZUNGENFERTIGE ELMINSTER AM ENDE SEINER KLUGEN SPRÜCHE ANGELANGT IST? Abwarten und Tee trinken. (finsterer blick aus roten augen scheren schieben sich heran) 509
WENN IHR HIER ETWA EINE HINTERLIST PLANT ... (schweigen bilder die sich sorgfältig ausbreiten) Im Dämmerlicht ragte die Turmruine wie eine aufrecht stehende schwarze Klinge aus dem dunklen Baumkreis auf. Laeral betrachtete sie länger und aufmerksam. Dann wirkte sie einen weiteren Zauber. Sobald der sie umgab, setzte sie sich in Bewegung und näherte sich den zusammengefallenen und überwachsenen Säulen, welche einst die beiden Flanken des Eingangs zum Burghof gebildet hatten. Auf dem angekommen, gewahrte die Zauberin hauptsächlich dicke und knotige Baumwurzeln, welche die Bodenfliesen hochgehoben und beiseite geschoben hatten. Keine Vögel sangen in den Wipfeln, und überhaupt lag über allem der starke Eindruck, dass hier irgendwo der Tod lauere. Laerals Abwehrschirm verriet ihr, dass in unmittelbarer Nähe keine zauberischen Fallen warteten ... Doch wenn hier immer noch ein Ungeheuer sein Unwesen trieb – die meisten Zauberer ließen gewohnheitsmäßig eine Burg von einem Untier bewachen –, müsste es sich jeden Moment bemerkbar machen. Und jetzt wuchs der moosbedeckte Fels unmittelbar hinter dem Eingang mit atemberaubender Geschwindigkeit. Laeral nutzte den Fluchtzauber, mit welchem sie sich ebenfalls versorgt hatte, um sich von hier fortzutragen. 510
Sie sauste hoch in den Himmel hinauf und hielt dann mitten in der Luft an, um dort zu schweben und hinabzuschauen. Während die Zaubermeisterin sich vom Erdboden entfernte, öffnete das Ungeheuer die Augen und betrachtete den Eindringling ohne wirkliche Überraschung und eher müde. Auch entsprach der Kopf nicht den Vorstellungen von einem grässlichen Haupt, sondern wirkte wie der einer schönen Frau, auch wenn er eine grüngraue Gesichtsfarbe besaß. Doch wies dieser Frauenkopf die Größe von Laeral auf und ruhte außerdem auf einem langen Schlangenleib. Die Zauberin hatte eine Naga vor sich, beziehungsweise unter sich. »So hübsch und noch so jung«, bemerkte das Ungeheuer. »Und Ihr kommt trotzdem zum Sterben hierher, Mädchen?« »Keineswegs«, widersprach Laeral äußerlich gelassen, während sie sich im Innern darauf vorbereitete, sofort zuzuschlagen. »Wer hat Euch hier eingesetzt, und was habt Ihr nun mit mir vor? Habt Ihr am Ende gar etwas gegen mich oder mein Eintreten einzuwenden?« »Thalon hat mich eingesetzt, diesen Ort zu hüten und mit meinen Zauberkräften all diejenigen zu erschlagen, welche sich nicht darauf verstehen, mich mit Magie abzuwehren.« Während die Schlange dies sprach, glitzerten ihre Augen. Der Bolzen, welcher sich nun aus dem Maul des Rie511
senwurms löste, erwies sich auch für eine Zaubermeisterin als zu schnell. Sie konnte ihm nicht ausweichen, und ihr Abwehrschild knisterte und prasselte vernehmlich. Aber Laeral vergeudete keine Zauberenergie auf einen Zweikampf. Sie drehte sich und tauchte im Sturzflug auf die dunklen und anscheinend wartenden Fenster der Burg zu. Hinter ihr zischte die Naga fast traurig: »Ihr werdet nicht das antreffen, was Ihr Euch erhofft, sobald Ihr den Thron gefunden habt.« Man hätte beinahe aus ihrem Tonfall schließen können, dass sie Laeral mochte. Doch der Zaubermeisterin blieb kaum Zeit, sich darüber zu wundern. Irgendwie gewarnt bremste sie ihren Flug ab, näherte sich viel langsamer dem ersten Fenster und stieß gegen eine ebenso unsichtbare wie feste Wand. Wäre sie nur ein wenig schneller geflogen, machte sich Laeral beim Zurückweichen klar, hätte sie sich an diesem Hindernis vermutlich den Hals gebrochen. Vorsichtig stieg die Zauberin höher und näherte sich dem nächsten dunklen Fenster ... und danach einem dritten. Aber alle waren mit der unsichtbaren Absperrung gesichert. Nur zeigten ihre verschiedenen Abwehrschilde deren Vorhandensein nicht an. Dennoch waren diese Hindernisse ganz ohne Zweifel vorhanden. Eine einzige Ausnahme zeigte sich in der gesamten Fensterfront. Doch in der Öffnung erstrahlte magische Energie so gleißend hell, dass man auch mit einem 512
halben Dutzend Angriffszauber kaum dagegen angekommen wäre. Laeral landete wenig später auf dem Boden und schritt vorsichtig auf die einzige Tür zum Turm zu. Von der war eigentlich nur noch die Öffnung vorhanden, denn das Blatt lag wie herausgerissen davor auf den Steinfliesen. Offene Finsternis erwartete sie dort, aber keinerlei Magie. Jedenfalls keine, welche von ihren Abwehrzaubern erfasst wurde. Also eine gute Gelegenheit, hier die Heldin zu spielen, sagte sich die Zaubermeisterin. Kommt Zeit, kommt Held, erschien gleich die erste Zeile aus einer Ballade in ihrem Bewusstsein. Und gleich dahinter die zweite Zeile: Und mit ihr die Muße, sich zum Narren zu machen. Seufzend trat die junge Frau in die Finsternis. Ihre Füße wirbelten Staub auf, und der hing auch schwer in den Spinnweben, welche sich in buchstäblich jeder Ecke spannten. Überall Dunkelheit, Kälte und Stille. Laeral erhob sich wieder in die Lüfte, doch diesmal nur ein Stück. Gerade genug, dass ihre Stiefel einige Fingerbreit über den Staubschichten laufen konnten. Wenn Tymora ihr gnädig war, würde sie auf diese Weise bis an ihr Ziel gelangen. Sanft leuchtende Lichtpunkte bildeten nun Laerals Gesellschaft. Sie schweb-lief von einer Kammer in die nächste, blieb aber ständig auf der Hut. In einem Raum erwartete sie ein sehr großer Stein513
block, der offensichtlich aus der Decke gebrochen und herabgestürzt war. An einer Ecke ragten die vergilbten Gebeine eines menschlichen Gerippes hervor. Die Arme waren noch ausgestreckt, und der Mund stand zum letzten ewigen und stummen Schrei auf. Laeral flog vorsichtig, aber so rasch wie möglich darüber hinweg. Ein Stück weiter stieß sie, wie eigentlich zu erwarten, auf ein Loch. Am Grund lagen mehrere Skelette verdreht und zerbrochen auf Dornen. Staub bedeckte die freien Stellen auf den Eisenstangen. Mit solchen Fallen hatte die Zaubermeisterin gerechnet. Sie nahm sich vor, noch behutsamer vorzugehen. Mit einem mulmigen Gefühl fragte sie sich, wo die Fallen gegen fliegende Eindringlinge zuschlagen würden. Und wenig später gewahrte sie die vierseitigen Pfeilspitzen, welche wie die Stachel einer Pflanze aus der Seite eines hölzernen Durchgangs ragten. Auch dort hingen einige Tote, vornehmlich Gerippe, an welchen sich noch einige Fleischfetzen befanden. Laeral hielt vor diesem Bogen an, nahm den Umhang ab und warf ihn in den Durchgang. Ein klackendes Geräusch ertönte, und schon schoss ein Bolzen aus einer geheimen Öffnung, drang durch den Stoff und fuhr an der gegenüberliegenden Wand zu seinen Gefährten ins Holz. Die Zaubermeisterin brachte den Umhang wieder an sich, schwebte weiter vor dem Durchgang in der Luft und schwang den Stoff ein zweites Mal hinein. Aber kein zweiter Bolzen rauschte heran. 514
Laeral wickelte sich den Umhang wie einen Panzer um den Unterarm, hielt diesen voraus und flog rasch in den Durchgang hinein. Die Klinge, welche sich von der Mitte der Decke löste, verfehlte sie quietschend. Vermutlich war diese Waffe schon zu sehr verrostet. Die junge Frau atmete erleichtert aus, als sie diesen Durchgang des Todes hinter sich gebracht hatte. Das wäre geschafft ... Aber wie lange konnte es noch dauern, bis sie in die Falle geriet, welche ihr sämtliche mitgeführten zauberischen Gegenstände nahm? Falle blieb Falle. Ganz gleich, ob man von ihrem Vorhandensein wusste oder nicht. In beiden Fällen waren sie auf rasches Töten angelegt. Wenigstens sind mir die Merksprüche noch nicht ausgegangen, sagte sich Laeral mit schiefem Grinsen. BEI
FEUERN VON NESSUS! MEHR ALS SINNSPRÜCHE HAT ZAUBERMEISTERIN WIRKLICH NICHT ZU BIETEN, WAS? MENSCHLEIN, MENSCHLEIN, ICH WARNE EUCH ZUM LETZTEN MAL: BEKOMMT DIESE GESCHICHTE NOCH EINE SINNVOLLE WENDUNG, ODER NICHT? (schweigen) (langsam anschwellendes teuflisches knurren augen die sich zu lodernden flammen entwickeln) DEN
DIESE
Als die Falle kam, schlug sie so hart und wirksam zu, wie Laeral das erwartet hatte. Die Räume im Erdgeschoss erwiesen sich, bis auf die 515
Skelette, samt und sonders als leer – und selbst diesen hatte man aus irgendeinem Grunde alles genommen, was sie bei sich getragen hatten: Waffen, Kleidung und Sonstiges. Der Weg nach unten erwies sich als versperrt. Von Trümmern und Schutt, welche kein Durchkommen zuließen. Doch nach oben führte eine Treppe mit freien Stufen. Auf der untersten hatte jemand einen Totenschädel abgestellt, welcher jeden Besucher herausfordernd angrinste. Die Zaubermeisterin bedachte den Totenschädel mit einem abfälligen Blick und schwebte die Stufen hinauf. Sie hielt die Rute vor sich, um damit Klingen und Bolzen abzuwehren. Die Stiege machte eine Biegung, und hinter der Kurve fand sich Laeral unvermittelt in einem Gewirr von vorschnellenden, herabsausenden und zupackenden Händen wieder. Knochenhände und Tierklauen zerrten am Haar, am Gesicht und am Körper der jungen Frau. Sie rissen, schnitten und entwanden, was ihnen unterkam. Laeral warf sich nach links, um mit einer Schulter gegen die Wand zu prallen. Dort drehte sie sich, bis sie mit dem Rücken zu dieser Seite gewandt schneller flog. Knochenhände brachen knirschend unter ihrem immer wieder anstoßenden Rückgrat und den Schultern und fielen schlaff herab. Während sie eine Hand mit ihrer Rute in der Luft erschlug, befreite sie sich gleichzeitig von einer weiteren, 516
welche sich würgenderweise um ihre Kehle schloss. Sie brach und zerschnitt Finger, bis sie sich gegen eine andere Hand zur Wehr setzen musste, welche sich über ihre Stirn schob und Finger in ihre Augenhöhlen bohrte. Wütend stieß sie auf die Stufen hinab, um die Hände loszuwerden, welche an ihren Beinen hingen und wie kalte Spinnen darauf herumkrabbelten. Dann bemerkte sie rechtzeitig die neue Gefahr. Jeder, der hier zu Fuß eingedrungen wäre, würde auf ähnliche Weise versucht haben, sich von den Händen an den Beinen zu befreien. Und so hatte man die nächste Falle entsprechend aufgebaut. Vor der nächsten Stufe drehte sich Laeral in der Luft um die eigene Achse und schnellte über sie hinweg. Mit einer Stiefelspitze streifte sie jedoch den Stein, und schon schnellten mehrere Reihen Eisenspitzen hoch. Die Zaubermeisterin spürte, wie eine davon ihren Arm berührte – und dort einen Widerhaken hinterließ. Böse knurrend riss sie sich einen anderen Widerhaken aus der Kopfhaut. Ein ganzes Büschel Haare ging ihr dabei verloren. Laeral schleuderte beides weit von sich und drehte sich in der Luft. Jetzt musste sie auch noch ihre Beine von »Wandernden Klauen« befreien, wie man diese Spielart von Knochenhänden nannte. Schon seit ewigen Zeiten benutzten Zauberer solche Waffen als Hüter ihrer Burgen. Laeral fragte sich besorgt, ob all die Wunden, welche diese Klauen ihr zufügten, irgendwann einmal verheilt sein würden. 517
Wenigstens folgten sie ihr nicht. Als sie die letzte Klaue aus ihrem Oberschenkel gezogen hatte, flog sie, so rasch sie konnte, weiter. Knochenhände ragten klappernd aus den Wänden, konnten die junge Frau aber nicht mehr aufhalten. Vor ihr gähnte ein neuer Türbogen. Als die Zaubermeisterin hindurchsauste, schnitten zwei Klingen heran – eine von oben und eine von der Seite. Laeral drehte und wand sich, versuchte verzweifelt, den Schneiden zu entkommen, und geriet tüchtig ins Schwitzen. Wieder rettete sie der Rost, doch dafür fand sie sich vor einer Salve Bolzen wieder. Sie bückte sich, tauchte unter den Geschossen hinweg und kam mit lediglich einem Streifschuss davon. Fast hätte dieser Bolzen sie erwischt, aber eben nur fast ... Die junge Frau flog die Wendeltreppe weiter hinauf, bis sie in eine große, hohe und vollkommen dunkle Halle gelangte. Hier hielt sie wieder inne und schwebte erst einmal abwartend über der letzten Stufe. Auf ihren Befehl tanzten einige Lichtpunkte durch den Saal und offenbarten ihr die hohe, gewölbte Decke, die Teppiche an den Wänden und den dichten Staub auf dem Boden. Wie Glühwürmchen flogen sie die Halle in ihrer gesamten Länge, Breite und Höhe ab. In dem großen Raum befand sich nichts. Bis auf die zerfallenen, fadenscheinigen Wandteppiche, welche viel zu oft nur noch in Fetzen herabhingen ... Und bis auf einen Steinsitz, welchen man ohne viel 518
Schnickschnack aus einem einzigen Felsen gemeißelt und gebrochen hatte. Halb verborgen hinter einem dünn gewordenen Vorhang stand ein Regal, auf dessen Brettern jemand menschliche Totenschädel ordentlich aufgereiht hatte. Ohne Zweifel handelte es sich dabei um eine neue Falle. Die Zauberin befahl den Lichtpunkten, zu ihr zurückzukehren, und überlegte, welche Gefahren sie dort vorn wohl erwarten mochten. Noch ehe sie entschieden hatte, wie sie nun vorgehen würde, erschienen rings um sie herum ohne Vorwarnung Lichtstrahlen. Dann ertönte hinter ihr eine dunkle, aber unangenehm rasselnde Stimme: »Seid gegrüßt, Zauberlehrling. Wer seid Ihr? Und welchem Herrn dient Ihr?« Laeral drehte sich einmal um die eigene Achse und löste dabei die Stangen des Energiekäfigs aus. Vielleicht etwas zu hastig, denn sie plumpste auf die Stufen. Doch schon rappelte sie sich wieder auf, um nach ihrem Feind zu schauen. Ein großer, hagerer Mann stand dort. Zur Hälfte ein Skelett, also ein Lurch, ein lebender Leichnam, welcher einen schwarzen Umhang mit Kapuze trug. Zwei weiße Flammen bewegten sich dort in schwarzen Löchern, wo sich bei den Lebenden die Augen befanden. Er lächelte, während sich seine Lippen bewegten, ohne jedoch einen Ton hinauszulassen. Seine dürren Finger bewegten sich mit der Selbstverständlichkeit langjähriger Übung und Erfahrung. Laeral seufzte. Sollte man denn alles an diesem Ort 519
als abgedroschenen Witz verstehen? Die Zauberin zog einen kleinen Gegenstand aus ihrem Gürtel. Das silberne Stück trug die Form eines Schilds und wuchs rasch an, bis es ihre ganze Hand bedeckte. Gerade noch rechtzeitig. Der Bann des Lurchs jagte heran, wurde aber von dem silbernen Schild abgelenkt. Dieser summte von dem Treffer und leuchtete auf. Schon kam der nächste Blitz, und der löste den Schutzschild restlos auf. So viel Energie steckte in dem Lichtgeschoss, dass Laeral nur noch auf ihre bloßen Finger starren konnte. Der Untote bewegte sich derweil langsam und zielstrebig die Treppe hinauf und missachtete die Zauber, welche die junge Frau ihm entgegenschleuderte. Laeral floh in den nächsten Raum. Bei allem, was ihr bislang hier in der Burg begegnet war, hatte es sich um kaum mehr als das gehandelt, womit Zauberlehrlinge sich von Generation zu Generation immer wieder aufs Neue gegenseitig gruselten. Aber vielleicht war dieser Ort ja so alt, dass diese alten Geschichten zu seiner Zeit noch neu und originell gewesen waren. Womöglich hatte man damals noch gar keine anderen Waffen gekannt. Wieder meldete sich die rasselnde Stimme. »Ihr schweigt, hübsche Maid? Ein Zauberschild zerschmettert von nicht mehr als einem Schlafbann und einem kleinen Zusatz – und von Euch keinerlei Gegenangriff? Nicht einmal ein böses Wort? So viel Schweigen sieht einer Magierin aber gar nicht ähnlich!« 520
Der Lurch hob eine Hand und schleuderte einen gegabelten Blitz auf die junge Frau. Diese schoss auf die eine Zacke zu und sprang darüber hinweg. Die Haare standen ihr zu Berge, als der Tod unter ihr vorbeizischte. Hart kam Laeral wieder auf und musste erst wieder zu Atem kommen. Den Untoten schien es kaum zu überraschen, dass sein Angriff fehlgeschlagen war. »Ihr seid doch wohl nicht nur des Thrones wegen gekommen?« Auch jetzt bedachte ihn die junge Frau nicht mit einer Antwort, sondern hob sich ihren Atem lieber für die Gegenwehr auf. So musste sie einen weiteren Angriffsbann zunichte machen, welcher den Versuch unternahm, sie durch Gedankensprung weiter in die Kammer hineinzubefördern. Und gleich darauf brachte ein weiterer Zauber ihre Augen zum Tränen. Für einige Momente sah sie alles nur noch verschwommen, dann hatte sie auch diese magische Waffe bezwungen. Einen Moment später hüllte sie ein Kreis von tosenden Flammen ein. Der scharfe Gestank von verbranntem Haar drang ihr in die Nase; aber der Körperschild, ohne welchen sie nie auf Reisen ging, hielt, und so erlitt sie keine schwereren Verletzungen. Doch der Schild flackerte schon. So stark war er noch nie belastet worden. Laeral rollte sich rasch ab, um aus dem Schussfeld zu kommen, und die hungrigen Flammen zuckten tatsächlich wirkungslos davon. 521
Dafür wurde sie wieder von knochigen Händen gepackt. Die junge Frau hatte das Gefühl, als würden ihr die Zauberkräfte wie Haut von den Knochen abgezogen. Rasch errichtete sie einen Schild aus kaltem Feuer um sich. So wie sie jetzt musste sich auf einem Jahrmarkt eine Zielscheibe am Schießstand fühlen. Der Untote rückte schon wieder gegen sie an, und Laeral griff in ihr Mieder. Dort befand sich eine Scheide, und in der steckte der einzige Zauberstab, welchen sie bei sich hatte. Wütenden Blicks beschoss sie daraufhin den Lurch mit magischen Geschossen. Jeder Blitz traf, doch der uralte Magier kam weiter näher heran, als sei nichts geschehen. Die junge Frau feuerte eine zweite Salve ab, und die Einschläge lagen dicht an dicht auf dem schwarzen Umhang. Ohne die Miene zu verziehen, hob der Gegner eine Knochenhand und nahm die Eindringlingin mit ähnlichen Blitzen unter Feuer. Kurz darauf verspürte sie an fünf verschiedenen Stellen grässliche Schmerzen, verbunden mit einem bohrenden Brennen. Sie schrie und schüttelte sich unter der Heftigkeit der zu ertragenden Pein. Während sie auf die Knie fiel, setzte der Lurch seinen Vormarsch fort. »Euer Name, Magierin!«, herrschte er sie in leicht spöttischem, trockenem Tonfall an. Laeral verweigerte auch jetzt die Antwort. Sie biss die Zähne zusammen und zog einen Dolch aus ihrem Stiefel. Im Knien schleuderte sie ihn und schickte ihm einen selbst entwickelten Bann hinterher. 522
Während das Messer durch die Luft wirbelte, hüllte ihre Zauberkraft ihn ein. Im Flug wuchs die Klinge und dehnte sich auf Schwertlänge aus. Glänzender Stahl sauste sich überschlagend durch das Dunkel und traf den Untoten endlich an der Schulter. Knochen zerschmetterten, Staub wirbelte auf, und ein Skelettarm fiel herab. Als er auf dem Boden landete, zerplatzte er in gelbliche Splitter. Doch auch das hielt den Lurch nicht auf. »Wenn das so weitergeht«, teilte er ihr im Plauderton mit, »werde ich den Thron nicht mehr verteidigen können ... und dann habt Ihr gewonnen.« Laeral verdrehte die Augen. War sie denn hier in einem Ammenmärchen gelandet? Doch dann musste die junge Frau hastig zur Seite springen, weil der Untote sie schon wieder mit Blitzen eindeckte. Im Fallen wirkte die Magierin einen Gegenzauber. Der Lurch drehte sich um die eigene Achse, und sein Knochenarm verwandelte sich für einen Moment in ein Bündel Schlangen, ehe er diesen Zauber abgewehrt hatte. Dann grinste er die junge Frau mit seinen Zahnlücken an und beschoss sie mit neuen Blitzen. Diesmal antwortete Laeral schneller und zog einen Ablenkschirm hoch. Noch mitten in der Luft drehten die Blitze um und kehrten zu ihrem Schöpfer zurück. Der Uralte bewegte rasch die Finger, aber mit einer Hand brauchte er doppelt so lange. Als die blauweißen Feuer den Lurch trafen, hatte er seinen Gegenzauber 523
noch nicht zu Ende gewirkt. Er zuckte und wand sich unter den Feuerstößen, sank auf die Knie und streckte den Arm aus. »Sehet, der Thron!«, rief der Untote noch mit hohler Stimme, fiel dann auseinander und landete als Knochenhaufen auf dem Boden. Die Flammen in seinen Augen erloschen. Das war fast schon zu einfach gewesen, sagte sich Laeral und trieb mit einem Fegezauber den Knochenhaufen auseinander. Viel zu schön, um wahr zu sein. Aber da lagen die Knochen, kreuz und quer im Raum verteilt. Wie sollten die ihr noch gefährlich werden? Aber die Magierin zog ein weiteres zauberisches Werkzeug aus ihrem Gürtel. Das wuchs in ihrer Hand zu einem mächtigen Hammer an. Den ließ sie von einem Dienstzauber zu den Knochen des Untoten tragen. Zuerst durfte der Hammer den Schädel des Lurchs zertrümmern. Kein Schrei. Kein Flehen. Keine Gegenwehr. Die junge Frau entrollte eine kleine Schriftrolle und zauberte mit ihrer Hilfe tanzende Lichter. In deren Schein schaute sie sich gründlich um. Voller Misstrauen und ungutem Gefühl. Aber die Stille beherrschte weiterhin ungeschmälert den Raum. Vorsichtig näherte Laeral sich nun dem Thron. Der blieb leer, unbesetzt und stumm. Die junge Frau setzte wieder ihre Zauberkräfte ein, und der Hammer flog zu dem Herrschersitz. Unter Laerals Anleitung klopfte er einmal darauf. Dann schlug er auf alle Bodenfliesen, welche den Thron umgaben. 524
Nichts tat sich. Die junge Frau schlug so lange mit dem Hammer, bis dessen Energie aufgebraucht war und er sich auflöste. Immer noch beherrschte Stille ungeschmälert den Raum. Seufzend schickte die junge Frau einen Aufspürzauber los. Sie konnte sich leicht ausrechnen, dass der über, neben und auf dem Thron Dutzende von Bannzaubern aufdecken würde. Vermutlich lagen sie dort aus Platzgründen übereinander gestapelt. Aber nichts dergleichen. Laeral trat noch ein Stück näher und besann sich dann darauf, ihren letzten Flugzauber einzusetzen. Gut möglich, dass hier eine Falltür lauerte. Sie schwebte auf den Thron zu, und dann fiel die Decke herab.
525
17 Viel Feuer in der Hölle DAS
SPASS, MENSCHLEIN! ICH MÖCHTE GERN SEHEN, WIE DIE GESCHICHTE AUSGEHT! GANZ GLEICH, OB SIE MAGIE ENTHÄLT ODER NICHT! Ganz wie Ihr wünscht. (bilder tauchen auf) MACHT WIRKLICH
Laeral lag auf Stein, neben Stein und unter Stein. Die Decke hatte sich in mehrere Teile gespalten, welche allesamt auf den Standort der jungen Frau niedergegangen waren. Nur langsam legte sich der Staub. Grässliche Schmerzen meldeten sich von ihrem rechten Bein und von der linken Wade. Die herabstürzenden Steine hatten ihr wohl übel mitgespielt. Der Widerhall des Einsturzes rollte in weit entfernten, noch nicht aufgespürten Ecken aus. Offenbar war Laeral ein halbes Dutzend Herzschläge lang, oder länger, ohne Bewusstsein gewesen. Über ihr türmten sich die Steine auf, lehnten aneinander und bildeten einen Kegel. Allein diesem Umstand verdankte die junge Frau ihr Leben. Wären alle Steine herabgeregnet, hätten die Bruchstücke sie bestimmt vollständig zerquetscht. Aber was nicht war, konnte ja noch kommen. 526
Durch die Lücken zwischen den Trümmern konnte Laeral im Schein ihrer Lichtkugeln den leeren Thron ausmachen. Die junge Frau zwang ihre Lichter, schwächer zu leuchten. Ein mühseliger und zeitraubender Vorgang, da doch die Schmerzen in den Beinen keinen klaren Gedanken zuließen. Danach blieb sie erschöpft liegen und biss sich auf die Unterlippe. Laeral lag hier fest, war vollkommen hilflos und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Die Steine hatten sie nicht erschlagen. Was die junge Frau eben noch für einen Glücksfall gehalten hatte, erschien ihr nun als viel größeres Unheil, erwartete sie doch ein qualvolles Ende inmitten dieses Steinhaufens. Die Zauberin fragte sich dumpf, wie viel Zeit ihr wohl noch blieb. Nur eine falsche Bewegung, und schon würde sie die Erfahrung erwarten, dass Magier genauso leicht von Steinen erschlagen werden konnten wie normale Sterbliche. Bitte, Mystra, gewähre mir ein rasches Ende! Laeral raffte ihre schwächelnde Willenskraft zusammen, um ihrem weit entfernten Lehrling einen letzten Gruß zu senden, verbunden mit dem Hinweis, wo sie ihre allergeheimsten Zauberbücher und Schätze aufbewahrte. Die Anstrengung kostete sie das letzte Licht. Frierend lag sie eingeklemmt in vollkommener Düsternis da und verschnaufte ein paar Momente, um danach mit der Geistesbotschaft fortfahren zu können. Da erfüllte ein Geräusch die staubige Kammer. 527
Ein kaltes, aber vertrautes Lachen. Licht strömte in den Raum, doch das stammte nicht von der Zauberin, sondern von jemand anderem. In der neuen Helligkeit erkannte Laeral ihren Blaskyn. Er trat gerade aus einem Schatten und trug den Helm des Verbergens im Arm. Der Lehrling schaute in ihre Richtung und grinste. Rasch schloss die junge Frau die Augen und ließ nur winzig schmale Schlitze offen. Reglos lag sie da, um den Jüngling über ihren Zustand zu täuschen. Blaskyn hatte sich von Anfang an auf den Umgang mit Energieblitzen verstanden. »So also meine Lehrzeit ihr Ende findet«, triumphierte der junge Mann. »Und der Thron des Meisters aller Zaubermeister mir gebühret.« Er schritt an seiner ehemaligen Herrin vorbei auf den Thron zu und trug dabei das jungenhafte Lächeln zur Schau, das Laeral so gut an ihm kannte. Dann blieb er unvermittelt stehen und drehte sich um. »Sie verließ mich mit der Rute, ihrem kostbarsten magischen Gegenstand«, murmelte der Jüngling, und schon bewegten sich seine Hände gewandt und geschickt wie bei einem alten Erzmagier. Laeral schloss die Augen ganz und bebte innerlich vor Wut. Der Jüngling verstand sich weit besser auf die Beherrschung der Magie, als sie je mitbekommen hatte. Seit wie vielen Jahren täuschte er sie schon? Jetzt spürte sie, wie über ihr ein Stein nach dem anderen abgetragen wurde. Ganz ohne Zweifel räumte ihr ehemaliger Lehrling sie durch Geisteskraft fort. Sanft 528
lösten sich ungeheure Gewichte von der jungen Frau und verursachten dabei kaum ein Geräusch. Bald waren auch die Brocken verschwunden, welche sie einklemmten. Mit eisernem Willen widerstand die Zauberin dem Drang, sich bequemer hinzulegen und so die Schmerzen in den Beinen etwas zu lindern. Aber das durfte sie natürlich nicht. Für Blaskyn musste sie tot erscheinen, sonst würde er ihr rasch das Leben nehmen. Laeral spürte, wie ihr die Rute aus den Fingern gerissen wurde. »Die scheint ja heil geblieben zu sein. Wie überaus erfreulich.« Seine Stimme ertönte von ziemlich nahe. Er musste sich gerade über sie beugen. Laeral behielt die starre Miene großer Schmerzen bei. »Oho, da sind ja auch noch ihre Ringe.« Sie fühlte, wie er ihr die Reife einen nach dem anderen von den Fingern streifte. Dann seufzte ihr ehemaliger Lehrling angewidert, als er das viele Blut auf den Ringen bemerkte. Geschickte Finger wanderten nun über ihren Körper und fanden die Messer in den Stiefeln, die Scheide im Mieder und darin natürlich den Zauberstab. Doch da bemerkte Blaskyn vorwurfsvoll: »Kaputtgegangen. Zu dumm. Dann muss ich mich wohl damit begnügen.« Blaskyn griff nach dem Schmuckstück, das sie um den Hals hängen hatte, und zog daran. Die Schnur zerriss sogleich. »Was das wohl sein mag. Irgendetwas Magisches, so 529
viel steht fest.« Laeral blieb auch dann noch ganz still liegen, als seine Hände den Rest ihres Körpers abtasteten. Alles Zauberische, welches ihr noch geblieben war, bestand in ein paar Sprüchen, die sie im Kopf gespeichert hatte. Dazu ein magischer Gegenstand, ein einzelner Ohrring welchen sie in ihrem Haar versteckt hatte. Der junge Mann würde ihn allzu bald finden und seine ehemalige Lehrmeisterin dann für tot zurücklassen. Seine Finger gelangten an die Stelle, wo ihr Bein gebrocher war. Die harte Stelle interessierte ihn, und er stach dagegen weil er dort ein geheimes Versteck vermutete. Unsägliche Schmerzen durchströmten die Zauberin, und sie konnte sich nicht daran hindern, zu zittern und zu wimmern. Eine harte Hand riss ihr Kinn hoch und schüttelte ihrer Kopf, bis sie die Augen öffnete. Und in die kalte Miene ihres ehemaligen Lehrjungen starrte. »Wir leben also noch, was?«, lächelte Blaskyn. »Fein. Ihr werdet gewiss noch lange genug leben, um mir zu erzählen, wo Ihr all Eure Schätze und magischen Gegenstände versteckt habt. Und vielleicht findet sich danach noch Gelegenheit zu ... etwas anderem sehr Schönen.« Laeral stöhnte, und noch mehr, als er zuerst ihr verletztes Bein streichelte und dann rasch verschob. Die losen Enden des gebrochenen Knochens schabten aneinander. Die Zauberin wollte laut schreien, brachte aber nur 530
ein Schluchzen zustande. Darüber musste Blaskyn kichern, und dann stieß er seine alte Lehrerin brutal zwischen die Steine zurück. Laeral sah nur noch roten Nebel vor ihren Augen. Erst nach einer Weile nahm sie den Schatten ihres ehemaligen Lehrlings wahr, wie der sich auf den Thron zubewegte. Dort verbeugte er sich wie ein Höfling vor seiner Lehrmeisterin und ließ sich dann mit triumphierender Miene auf dem Herrschersitz nieder. Sein Gesicht veränderte sich und schien vor weißem Feuer zu glühen. Im selben Moment verschwand das Lächeln in seinen Zügen spurlos. Milchweißes Strahlen ging von dem Thron aus, gewann zusehends an Stärke. Laeral verfolgte, wie kaltes weißes Feuer über Blaskyns Körper raste. Sein Fleisch schrumpfte zusammen, seine Haut sackte überall ein, und an mehreren Stellen kam bloßer Knochen zum Vorschein. Er schrie wie am Spieß. Ihr und sein Blick trafen sich, und einen Moment später gingen Blaskyns Augäpfel in Flammen auf. Danach verblasste das Weiße darin und zog sich zu sehr kleinen glühenden Lichtpunkten zusammen. Als seine Lippen verbrannten und auch das Zahnfleisch darunter, schrie er kaum noch verständlich: »Laeral! Herrin! Helft miiiihhhhrrrr ...« Zähne flogen aus seinem verformten Mund, und sein Schrei ging in ein Röcheln über. Er schüttelte und verdrehte sich, doch aus irgendeinem Grund schien es ihm unmöglich zu sein, den brennenden Thron zu verlassen. 531
Schweigen erfüllte den Raum. Was einmal ihr Lehrling gewesen war, rührte sich nicht mehr. Ob er schon tot war, konnte die Zauberin nicht erkennen. Vielleicht hatte er nur das Bewusstsein verloren. Jetzt gestattete sich die junge Frau, sich bequemer hinzulegen. Während sie behutsam die Beine verschob, fragte sie sich, ob Blaskyn wirklich gestorben war. Kaum einen Moment später richtete sich der zusammengesackte Leib auf dem Thron auf. Der lippenlose Mund bewegte sich und versuchte, Worte zu formen. Vergeblich zuerst, doch dann hörte Laeral: »Gut ... ja ... wunderbar. Ein wirklich guter, brauchbarer Körper ... Viel besser als der von der Frau ... Sie hat ihm zwar nur erschreckend wenig Magie beigebracht, aber er wird seinen Zweck erfüllen.« Das, was früher einmal der Jüngling Blaskyn gewesen war, erhob sich jetzt ungelenk. Laerals Rute, Dolche und sonstigen entwendeten Besitztümer fielen zu Boden. Die Ringe rollten weiter und waren bald in der Dunkelheit verschwunden. Viel zu rasch nach ihrem Geschmack tauchte das zusammengeschrumpfte Gesicht über der jungen Frau auf. KÖSTLICH! GANZ WUNDERBAR! DAS IST JA MINDESTENS SO GUT WIE DIE STÜCKE, WELCHE DIE EDLEN VON TIEFWASSER BEI IHREN RAUSCHENDEN FESTEN AUFFÜHREN! Und was noch besser ist, bei dem hier handelt es sich um die Wirklichkeit. So? KÖNNT IHR DAS DENN AUCH BEWEISEN? 532
Ich habe volles Vertrauen zu Mystra und muss ihr deswegen die Beweisführung überlassen. (schnauben murren) NA JA, DANN WERDE ICH MICH DEM WOHL ANSCHLIESSEN MÜSSEN, SONST BEKOMME ICH JA NIE MAGIE VON EUCH ZU SEHEN! ALSO FAHRT FORT! Aber gern. »Dieser junge Narr wollte Euch erst ausfragen und dann erschlagen«, schnarrte die kalte Stimme. Sie klang mehr nach dem Lurch statt nach dem Lehrjungen. Aber den hatte die Zauberin doch vorhin vernichtet. »Ich bin Thalon, und ich habe nicht vor, Worte damit zu verschwenden, Geheimnisse hervorzulocken und Falschheit und Betrug zu enttarnen«, fuhr der Untote fort. »Meine Klauen werden Euch dort, wo Ihr liegt, zerfleischen und zerkochen. Danach werde ich Euch wie eine Mahlzeit verspeisen und auf diese Weise alles erfahren, was Ihr wisst.« Er nickte in Richtung des Bords. »Euer Schädel findet dann seinen Platz neben den anderen dort im Regal ... in Gesellschaft anderer junger Narren, welche es nach Macht und Zauberkünsten gelüstete. Und die deshalb Magier hierher begleitet haben, von wegen ›zu zweit reist es sich doch angenehmer‹ und ähnlichem Unsinn.« Das eingefallene Gesicht erschien über ihr, und hohle Augen betrachteten sie bedauernd. »Im Lauf der Jahre habe ich die stärksten und gesündesten unter ihnen behalten. Sie durften mir mit ihrem Körper dienen. Meist handelte es sich bei ihnen um die Magier ... 533
Aber Euer Körper ist zu beschädigt und auch sonst nicht so brauchbar wie der Eures verblödeten Lehrlings.« Während er sprach, bewegten sich seine Klauen über ihren Körper. Skelettdürre Finger rissen ihre Kleider auf und zogen Steine von ihr. Trockene Knochen betatschten und begrabschten sie überall und schoben Zweige und Äste unter ihre Gliedmaße und ihren Hintern. Während sie diese Behandlung über sich ergehen lassen musste, wurde sie auch noch von den brennenden Augen, welche einmal Blaskyn gehört hatten, erbarmungslos angestarrt. »Der junge Einfaltspinsel begehrte auch noch Euren Körper«, teilte ihr der Untote fast schon heiter mit. »Aber mich plagen solche Gelüste nicht. Euer Fleisch ist mir wertvoller, wenn ich es koche und verschlinge ... Wie lange das schon her ist ... Ich hoffe, von der Arundun-Soße ist noch etwas übrig und genießbar.« Thalon wandte sich von ihr ab und beugte sich schon nach einem Moment hinab. Dann hob er etwas auf und drehte sich mit einem wölfischen Grinsen zu Laeral um. »Der Narr hatte keine Ahnung, wozu so etwas gut ist.« Er legte sich die Schnur mit dem Anhänger um den Hals. »Vielen Dank, liebe Freundin. Auch wenn nur noch eine Kugel übrig geblieben ist ... Jahrzehnte müssen vergangen sein, seit ich zum letzten Mal eine Geschosshalskette getragen habe. Mehr noch, Jahrhunderte ... aber das braucht Ihr gar nicht so genau zu wissen.« Der Lurch verließ sie und marschierte zur Treppe. 534
Mit jedem Schritt wurden seine Bewegungen fester und kräftiger. »Lauft nicht weg, ich bin gleich wieder da!«, rief er der Magierin über die Schulter zu und begeisterte sich sehr über seinen grausamen Scherz. Laeral gestattete sich erst jetzt zu schluchzen und von den Schmerzen zu zittern, welche Thalon in ihr ausgelöst hatte, als er das verletzte Bein hin und her bewegte. Aber der Untote hatte sie auf einen Einfall gebracht. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie sich an den Armen hoch und drehte sich. Als sie eine Hand frei bewegen konnte, zog sie damit den verborgenen Ohrring aus dem Haar. Ihre letzte Zauberwaffe. Rasch schloss sie die Hand darum und legte sich dann umständlich wieder so auf den Scheiterhaufen wie vorhin. Als Nächstes vernahm sie ein ebenso sonderbares wie grässliches Geräusch. Es dauerte eine Weile, ehe sie die näher kommenden Laute erkannte: Der Lurch summte fröhlich ein Liedchen vor sich hin. Danach dauerte es nicht mehr lange, ehe seine weiße, verzerrte Miene wieder über ihr auftauchte. Nun spürte sie, wie etwas Kaltes und Klebriges auf sie tropfte. Thalon leerte gründlich den Inhalt einer Kristallflasche über sie und sorgte dafür, dass alle Körperstellen gleichermaßen bedeckt wurden. »Arundun-Soße«, teilte der Untote ihr jauchzend mit. »Dank der Zauber in der Flasche hat sie sich ausge535
zeichnet gehalten. Die Reste werde ich an einem sicheren Ort aufbewahren. Fürs nächste Mal.« Er zwinkerte ihr zu. »Wenn ich wiederkomme, Laeral, geben wir beide uns einen Kuss. Ich fürchte, es wird Euer letzter sein; denn ich werde Euch mit meinem Atem Drachenfeuer einflößen, und dann werdet Ihr verbrennen ... Seufzen die Sänger und Barden heute immer noch von heißen und brennenden Küssen? Nun, diesen Ausdruck habe ich in die Welt gebracht ... obwohl seine ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil verkehrt zu sein scheint.« Thalon schwieg für einen Moment. Er beugte sich zwar noch über seine »Mahlzeit«, war mit seinen Gedanken aber offenbar ganz woanders. »Mich deucht, eine ganze Menge von mir ist heutzutage in den Reichen vergessen. Aber mit diesem ausgezeichneten jungen Körper hier und mit Eurem Wissen darüber, wer wo wann welche Magie bewirkt, werde ich all das zu ändern wissen. Ein Zauberer wird mich zum nächsten führen, bis ich all ihr Wissen sozusagen verschlungen habe. Dank Euch, Laeral, dafür, mir das alles zu ermöglichen. Das ist, wenn ich so sagen darf, wirklich ganz zauberhaft von Euch.« Die junge Frau hatte größte Mühe, die Augen offen zu halten; denn eine von den Schmerzen ausgelöste bleierne Müdigkeit bemächtigte sich ihrer. Thalon aber schien auf etwas zu warten. Als das nicht von ihr kommen wollte, fragte er enttäuscht: »Wie, keine Tränen? Kein Betteln und Flehen? Ich hätte 536
schon gedacht, dass Ihr das alles nicht widerspruchslos über Euch ergehen lassen würdet ...« Laeral lächelte ihn an, bis sie die Hand mit dem Ohrring hochgerissen hatte. »Dann will ich Euch mal nicht enttäuschen!«, zischte sie unter Schmerzen und fügte flüsternd hinzu: »Alababad!« Damit schleuderte sie das kleine Schmuckstück, welches sich in eine metallene Faust von der Größe einer Kinderhand verwandelte, und diese drehte sich im Flug. Sie traf den Lurch an der Brust, und unter der Wucht dieses Boxhiebs flog der Untote ein Stück weit zurück. Sie verfolgte, wie Thalon ins Taumeln geriet und wie die Eisenhand sich um den Anhänger an der Halskette schloss, seit vielen Jahren ihr wertvollster Zaubergegenstand. Die junge Frau richtete ihren Willen auf die Eisenhand und drehte den Kopf weg. HA! HA! HA! JETZT RÄCHT SIE SICH AN IHM! WEITER! ICH WILL MEHR DAVON! NATÜRLICH HABE ICH MEIN GANZES LEBEN DAMIT VERBRACHT, DEN MENSCHEN UND ANDEREN SOLCHE DINGE VORZUMACHEN! LOS, MENSCHLEIN! Sie hatte die Augen geschlossen, damit der Blitz, welcher ihr das Gesicht und die Seite versengte, ihr nicht auch noch die Augäpfel verschmorte. Das Energiegeschoss ließ über ihr die Decke erbeben und brachte auch die Trümmer rings herum zum Wackeln. So etwas wie winzige Speere bohrte sich in die Seite der Zauberin, und von zusätzlichen Körperstellen ka537
men jetzt Schmerzen. Nach einigem Nachdenken kam Laeral zu dem Schluss, dass es sich bei den Speeren nur um Knochensplitter von Blaskyn handeln konnte – oder von dem, was noch von ihm übrig geblieben war. Die junge Frau blieb ganz still liegen. Das Beben verging, ebenso ihr Zittern. Dank den Gottheiten Tymora und Mystra vermochte sie noch zu atmen. Wie zur Antwort auf ihre Ruhe ertönte nun ein dünner und vergehender Schrei der Wut und Enttäuschung, schwoll im Takt zum abebbenden Widerhall der Explosion an und ab und verstummte endlich ganz. Jetzt ist es an Euch, Schmerz und Verzweiflung zu durchleiden, dachte die junge Zauberin grimmig, bevor dunkles Vergessen sie umfing. WAS? IHR
WOLLT MIR VORENTHALTEN, WIE SIE EIN
TRIUMPHGEHEUL ANSTIMMT? WIE SIE IHREN GEFALLENEN GEGNER IM STERBEN VERHÖHNT UND MISSHANDELT? ACH, DIE MENSCHEN SIND SOLCHE VERWEICHLICHTEN JAMMERLAPPEN! Nur Geduld, Fürst Nergal, wartet es einfach ab ... (grummeln dann widerwilliges schweigen) Viel später wurde sie von Kälte und Schmerzen geweckt. Ihr erster Blick richtete sich auf den Thron. Immer noch ging ein feines weißes Leuchten von ihm aus. Aber von dem Lurch war nirgends mehr etwas auszumachen. Das Nächste, wonach sie Ausschau hielt, ließ sich jedoch entdecken. Und zwar am Fuß des Throns. Sie knirschte mit den Zähnen, als sie herumrollte, wobei ihr gebrochenes Bein sie wie ein nutzloses An538
hängsel behinderte. Laeral befürchtete, die Schmerzen niemals überstehen zu können – zumal nun auch noch die Äste des »Kochfeuers« in sie stachen. Wenigstens taten ihr die Klauenhände nichts mehr an. Nur wenn sie über solche kroch, piekste das ganz fürchterlich. Laeral schluchzte und schrie abwechselnd. Langsam kam sie auf dem staubigen Boden voran, fragte sich aber dennoch, ob sie ihr Ziel jemals erreichen mochte. NUN,
WENN
MYSTRA EUCH
DAS ALLES EINGEGEBEN HAT, DANN
DOCH BESTIMMT ZU EINEM ZWECK! UND DARAUS FOLGT, DASS DIE JUNGE ZAUBERIN DAS ABENTEUER ÜBERLEBT, ODER?
Gebt der Geschichte doch bitte ihre Zeit, sich zu entwickeln, Herr Teufel. Gut Ding will Weile haben, sagt man bei uns. Und mit etwas Geduld macht das Ganze auch viel mehr Spaß. SPASS? (schnauben) JETZT KANN ICH WIRKLICH NICHT MEHR DARAN ZWEIFELN, MICH IM KOPF EINES MENSCHEN zu BEFINDEN. Hattet Ihr vorher etwa Zweifel daran? Tatsächlich verging unmessbar viel Zeit, ehe Laeral vor dem Thron anlangte und die Stelle erreichte, wo ihre Rute lag. Ihre schwachen Finger schlossen sich um das Rohr. Zogen die Kappe an einem Ende ab, worauf ein Bronzedeckel zum Vorschein kam. Noch etwas später kam das ganze Fläschchen frei. Die Zauberin zog den Stopfen mit den Zähnen heraus 539
und ließ sich dann gierig die kühle und süß schmeckende Flüssigkeit in die Kehle rinnen. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Ihr ganzer Körper schien sich zu entspannen. Dankbar blieb Laeral liegen, damit der Heilzauber ungestört seine Wirkung tun und ihr neue Kraft geben konnte. Als die junge Frau sich etwas besser fühlte, nahm sie sich das zweite Ende der Rute vor, bis ein zweites Fläschchen herausfiel. Dessen Flüssigkeit trank sie ebenso rasch. Kaum hatte Laeral auch das zweite Heilmittel getrunken, streckte sie mit bloßen Händen und zusammengebissenen Zähnen ihr gebrochenes Bein. Die Schmerzen rasten, aber nur für kurze Zeit, dann gingen sie in ein dumpfes Pochen über. Damit hatte sie Gelegenheit, sich nochmals mit ihrer Rute zu befassen. Sie schüttelte das Rohr, bis einige zusammengerollte Stücke Pergament herausfielen. »Wahrlich mein wichtigster Schatz«, murmelte die junge Frau und fügte noch leiser hinzu: »Blaskyn, warum musstet Ihr nur ein solcher Narr sein?« Sie las das oberste Blatt zuerst. Er enthielt den Heilzauber, und den wandte sie bei sich selbst an. Als Laeral sich wieder vollkommen geheilt fühlte, zauberte sie sich ein neues Licht, um mit der Untersuchung der Burg fortfahren zu können. Laeral steckte alle Zauber ein, welcher sie dabei habhaft werden konnte. Nur dem Thron kam sie lieber nicht zu nahe. Leider fand sie kein einziges Zauberbuch und vermu540
tete, dass Thalon die fraglichen Folianten unter seinem Herrschersitz versteckt hatte. Also kehrte sie dorthin zurück. Die junge Frau betrachtete den steinernen Stuhl, welcher ganz den Eindruck machte, als warte er nur auf sie. Schweigend schien er sie zu locken. Auch dem leisen Leuchten konnte man kaum widerstehen, wenn man zu lange draufschaute. Aber Laeral schüttelte den Kopf und setzte ein dünnes Lächeln auf. Wenn sie diesen Thron nicht zerstörte, würde der vermutlich eines Tages einen Feind aussenden, sie zu vernichten. Aber Thalons Lebenswerk endgültig den Garaus zu machen, sollte einem anderen Tag vorbehalten bleiben. Laeral entrollte das letzte Pergament aus der Rute. Es enthielt einen Fernreise-Zauber, welcher sie rasch nach Hause bringen würde. Ohne sich von ihrem Feind zu verabschieden, sprach die junge Frau den Zauber und verließ so diese Burg. MENSCHLEIN, WANN BEKOMME ICH DENN ENDLICH MAGIE ZU SEHEN? (schweigen) NA SCHÖN! NA SCHÖN! DANN ZEIGT MIR AUCH NOCH DEN VERDAMMTEN REST! (grummeln) Als Laeral Lautwasser wieder in ihrem Arbeitszimmer stand, nun nackt und verschmutzt, ihres Lehrlings und 541
etlicher ihrer Zaubergegenstände beraubt, lächelte sie versonnen. »Große Einsicht sei Euch gewährt, und Weisheit jenseits aller Magie«, so hatte es geheißen, und so hatte es sich auch für die junge Frau erfüllt. Die Zauberin hatte Einsicht erhalten, nämlich die, was unbeherrschbare Macht und fanatische Besessenheit bei einem Erzmagier anrichten konnten. Laeral seufzte und schleuderte ihr Bündel mit einem Fußtritt durchs Zimmer. Dies bestand im Wesentlichen aus den Überresten ihrer Kleidung, in welche sie die gefundenen Zaubergegenstände eingewickelt hatte. Im Augenblick befand sich das Allerwichtigste in ihrem Leben ein Stockwerk tiefer, am Ende ihres Gartens. Der Bach nämlich, in dessen klarem Wasser sie sich den Dreck, den Schweiß, die Knochensplitter und all die andern unappetitlichen Dinge abwaschen konnte, welche unter der Lieblingssoße Thalons begraben lagen. Das Zeug klebte wie harter Leim an ihr, und nur die Götter mochten wissen, woraus es sich zusammensetzte. Die junge Frau setzte sich in Bewegung und erreichte das Treppengeländer, hinter dem ihre Umhänge lagerten. Doch an denen schritt sie achtlos vorüber und näherte sich lieber ihrem Schreibtisch mit der überladenen Oberfläche und den vielen Fächern, in welchen sie ihre Pergamentrollen aufbewahrte. Manchen von ihnen sah man an der Dicke der Staubschicht an, dass sie schon seit Jahren nicht mehr he542
rausgezogen worden waren. Nun erinnerte Laeral sich einer Rolle, von welcher sie nicht geglaubt hätte, sie jemals wieder in den Fingern zu halten. Auf dem Weg zu einer anderen Treppe, welche zum Garten führte, fing sie an, den Text zu lesen. Das Pergament zerschmolz zwischen ihren Fingerspitzen, und an seiner Stelle erschienen tanzende Leuchtpunkte. Dieses Licht würde ihr zum Baden ausreichen. Die junge Frau flüsterte das magische Wort, welches ihr die Gartentür öffnete. Mit einem Krug Wein im Arm – mit dem Rebensaft wollte sie sich die ölige Soße abwaschen – trat sie hinaus in die Nacht und stürzte sich in die Fluten. Sie brauchte einen neuen Lehrling. Aber darum konnte sie sich immer noch morgen kümmern ... Orliph von den Harfnern hatte ihr doch eine Namensliste gegeben, wo hatte sie die bloß hingelegt? Über ein Dutzend Namen mit entsprechenden Angaben befanden sich darauf, und einiges davon klang recht viel versprechend. Dann fiel es ihr wieder ein. Laeral schnippte mit den Fingern, und mitten aus der schwarzen Nacht segelte geschwind eine Schriftrolle heran, entrollte sich selbstständig vor ihrem Gesicht und drehte sich dann so, dass das Licht der Leuchtkugel in einem lesefreundlichen Winkel auf den Text fiel. Die junge Frau schrubbte und räkelte sich in dem kühlen Wasser, gab leise Laute der Zufriedenheit von sich, als immer mehr von dem klebrigen Zeugs von ihr wich. 543
Sie schüttelte das nasse Haar, wandte sich dem ersten Namen zu und erstarrte vor Furcht, während es ihr eiskalt den Rücken hinablief. Laeral hatte das Gefühl, schon wieder die Klauen aus der Burg an ihrer Haut zu spüren. Sie war sich sicher gewesen, hier ein gutes Dutzend Namen, wenn nicht mehr, aufgelistet zu finden. Doch jetzt fand sich hier nur ein einziger. In flüssiger und klarer Handschrift, die noch recht neu zu sein schien, stand dort lediglich »Thalon« zu lesen. Nach dem ersten Schrecken verzog die Zauberin den Mund. Jetzt reichte es ihr endgültig. Der Thron musste zerstört werden. Und zwar gleich morgen. HA! IHR
VERWEIGERT MIR SCHON WIEDER DIE ERFÜLLUNG WÜNSCHE! WAS IST AUS EUREN VERSPRECHEN GEWORDEN, MIR ZAUBERSPRÜCHE VORZUFÜHREN? WANN BEKOMME ICH ZU SEHEN, WIE MAN SIE WIRKT, BEWIRKT UND VERSCHLEUDERT? GENUG JETZT VON DIESEM ANDEREN VOLK! IHR HABT SEHR VIELE DIE ZAUBERKUNST GELEHRT, UND ICH WEISS, DASS MYSTRA EUREN WERDEGANG ÜBERWACHT HAT. UND MEHR ALS EINMAL HILFREICH EINGESCHRITTEN IST! DESWEGEN ZEIGT MIR JETZT, WAS SIE GESEHEN HAT ... (bilder verschieben sich blitzen auf fliegen zur seite machen raum um den sucher tiefer hineindringen zu lassen) MEINER
544
Die Abischai hockten auf den spitzen Felsen, welche die Senke umstanden, und bewachten den Wirbelzauber. Dieser hier hatte schon lange nicht mehr gewirbelt – nicht einmal gespuckt. Die großteils neuen Banner an den Speeren der Abischai verkündeten, dass diese Senke zum Reich des Großen Tiamait des Vielköpfigen gehörte. Die meisten Soldaten blickten nach außen und ließen auf der Suche nach dem Unheil, welches unweigerlich kommen würde, den Blick über die rauchenden Höhen schweifen. Nur die wenigsten von ihnen, vornehmlich die älteren Rotfelle, blickten nach innen, auf das sich drehende Chaos des Wirbelzaubers. Manche nannten die Wirbelzauber die »Augen der Hölle«. In Wahrheit handelte es sich bei ihnen eher um blindlings zustoßende Klauen, welche alles an sich rissen, was ihnen unterkam: Lebewesen, Edelsteine, zauberische Gegenstände, Wasser oder was immer der Teufel, welcher beim Bannwerfen sein Ende gefunden, sich am meisten gewünscht hatte. Wirbelzauber packten gern Dinge von anderen Welten und spien sie in die Hölle. Sie versorgten Awernus und schenkten ihm einen ständigen Strom an Unterhaltung und Erheiterung – aber auch an Schwierigkeiten. Magier, von denen noch niemand je gehört hatte und bei denen man nicht wusste, wie man sich gegen sie verteidigen sollte, kamen öfter durch die Wirbelzauber, als es den Höllenbewohnern lieb sein konnte. Und gelegentlich auch Wesen, welche sich zu weh545
ren verstanden und hier unten viel verheerten, bis man sie endlich überwinden konnte. Seit seiner Entdeckung hatte dieser Wirbelzauber hier immer wieder einmal blökende Schafe und nasse, glänzende Fische ausgespuckt. Ersteren drehte man gleich den Hals um, bevor sie davonlaufen und irgendwo Unfug anstellen konnten. Allerdings ließen die Wächter gelegentlich ein solches Schaf etwas zappeln, nur um es dann jagen zu können. Schließlich handelte es sich bei diesem Loch um keines von der Art, welche der Hölle zerbröckelnde Steine, sonderbare verfaulende Dinge oder haufenweise Magie, über die man so gut wie nichts wusste, bescherte. So mancher unter den Rotfellen hätte es lieber gesehen, wenn dieser Wirbelzauber hier auch einmal etwas Gefährliches für sie gehabt hätte. Selbst Schafe auf die grausamste und abartigste Weise auszunehmen verlor mit der Zeit erheblich an Reiz. Aber die Abischai erwarteten von diesem Loch schon gar nicht mehr, mal so etwas wie einen leuchtenden Kometen oder eine blauweiße Flamme in die Luft zu spucken – und erst recht nicht an dessen Spitze einen weiblichen Menschenkopf mit schwarzen Kohlen als Augen und Haaren wie silbernem Feuer. Die Simbul wusste nur zu gut, dass ihre Zauberstäbe – unter dem Strich nicht mehr als bloße Holzstäbe –, im sengenden Rauch und wandernden Feuer von Awernus vermutlich nicht allzu lange halten würden. Deswegen zog und feuerte sie, zog und feuerte, und 546
umwob die Stäbe mit einem Zaubernetz. So feuerten sie weiter, nachdem die Magierin sie losgelassen hatte, um den nächsten Stab zu ziehen. Die Abischai zerplatzen in tausend Teile, ehe die Wächter begriffen, wie ihnen geschah oder was das Loch ihnen diesmal bescherte. Ihre Mörderin flog hoch am Himmel und niedrig über den felsigen Höhen hinweg und bewegte sich in Form einer zauberischen Rauchwolke. Hinter der Simbul kullerten Abischai-Brocken unter den brennenden Überresten der Banner zwischen den Felsen davon und lösten sich weiter auf. Elminster, mein Liebster, wo steckt Ihr? Sie erhielt eine wortlose Antwort mit der Warnung, von einem Teufel besessen zu sein, dessen diabolischer Geist gerade neugierig würde und sich bereits suchend umsähe ... damit brach die Verbindung ab. Aha, also irgendwo in der Richtung. Die Simbul hatte noch nie viel davon gehalten, sich an den Gegner anzuschleichen. Aber selbst sie musste einsehen, dass es doch ein wenig zu heiß hergehen würde, wenn die vereinten Heerscharen der Hölle hinter ihr her wären. Schließlich war sie nicht mehr als ein glimmendes Stück Kohle, ausgestoßen aus dem Glutmeer, welches Mystra darstellte. Und immerhin hatte die Hölle selbst diese Göttin bereits einmal zum Rückzug gezwungen. Hart und schnell zuzuschlagen, barg für die Simbul die einzige Aussicht auf Erfolg. Außerdem war sie immer schon am liebsten so vorgegangen. 547
Feuerbälle blitzten am Horizont auf und zogen ihre Bahn, bildeten helle Lichtpunkte am ansonsten roten und sternenlosen Himmel. Als die Magierin hinsah, flatterte ein Gebilde wie ein Drache unbeholfen hinter einen Berggipfel. Jetzt sackte der Boden deutlich unter ihr ab und öffnete sich zu einem Abgrund mit scharfkantigen Wänden. Ein Schwarm Spinagons jagte dort hinunter, so rasch ihre zerfetzten Flügel sie trugen. Denn ein Rudel schwarzer Abischai war hinter ihnen her. Lange Schwänze wanden sich, Schwingen schlugen mit der Macht der Verzweiflung, und Klauen fuhren hinab ... aber die Retterin Elminsters ließ sich weder vom einen noch vom anderen aufhalten. Ohne auch nur abzubremsen, floss die Magierin mitten in dieses Tohuwabohu hinein. Die zerrissenen und versengten Ungeheuer, welche sie zurückließ, wurden gleich von anderen Teufeln endgültig vernichtet. Der Essiggeruch, welcher den aufgerissenen Abischaileibern entstieg, und der Schwefelgestank vom Teufelsblut drangen der Simbul scharf in die Nase, als sie über eine Felslinie raste, aus welcher Klauen hervorschnellten. Riesenteufel standen auf Felsspitzen, welche das zerschundene Land überragten – gewaltige und schreckliche Baatezu mit mehrfach geteilten Fledermausflügeln. Als sie die Menschenmagierin entdeckten, eröffneten sie sogleich heulend die Jagd. Die mächtigsten unter ihnen sausten an der Spitze heran, um das Privileg wahrzunehmen, den ersten Schlag auszuführen. 548
Aber die Hexenkönigin verlangsamte ihren Flug auch jetzt noch nicht. Sie behielt ihren Kurs unbeirrt bei, als einer der Höllenfürsten genau auf sie zueilte. Seine schwarzen Flügel verdeckten den Himmel zur Gänze, und er breitete die Arme weit aus. Die Schnauze hatte er aufgerissen, und seine Zahnreihen verliehen ihm ein grinsendes Aussehen. Die Simbul schleuderte ihm einen ihrer Zauber entgegen – einen grellen Blitz, welcher seine Brust nur an der Oberfläche aufritzte, und ließ ihn über so schwächliche Magie Hohn lachen. Er lachte immer noch schallend, als die Simbul den Blitz per Willenskraft tiefer versenkte, so dass er ihm nicht mehr die Haut ritzte, sondern die ganze Brust zerfetzte. Der Blitzstrahl riss ihn mitten entzwei! Der Unterkiefer des Teufels flog einem Kornugon ins Gesicht, und der Rest des Schädels verschwand im weit aufgerissenen Maul eines anderen Höllenungeheuers. »Ich würde ja gern noch etwas zum Spielen bleiben«, spottete die Hexenkönigin, »aber im Moment habe ich leider zu viel zu tun. Vielleicht ein anderes Mal.« Im Vorbeifliegen ging ein Regen stinkenden, dampfenden Blutes auf sie nieder. Die Simbul sandte einen weiteren Gedankensucher aus und fand beide ... ihren Geliebten und ein finsteres Unwesen, welches sie voller Grimm erwartete. Sie brach die Verbindung rasch ab, ehe er einen seiner Geistesblitze auf sie schleudern konnte. Die Hexenkönigin drehte sich in der Luft und flog in einer scharfen Kehre auf dem Rücken weiter. Sie würde 549
nun bald die Stelle erreichen, an welcher der betagte Magierfürst von Schattental festgehalten wurde. Wenn es ihr gelänge, nur noch ein wenig schneller durch den stinkenden Sud der Höllenatmosphäre zu sausen, würde sie vielleicht sogar noch rechtzeitig kommen ... DAS WILL MIR NICHT GEFALLEN! Nergal beendete seinen Zugriff auf Elminsters Geist und hob den Kopf, um den Blick über den blutroten Himmel schweifen zu lassen. Sein Opfer lag wimmernd und orientierungslos auf dem Boden von Awernus und sah sich hilflos dem Gelärme und den üblen Gerüchen an diesem Ort ausgesetzt. »Da eilt sie heran«, knurrte der Höllenfürst, »und Orochal konnte nicht einmal ihren Flug verlangsamen. Welcher Art von Weibern pflegt Ihr beizuliegen, Zauberlein? Sie vermag einen Schwefelteufel zu zerreißen, ohne einen Moment innezuhalten!« Von Elminster, der wie ein Häufchen Elend dalag, erfolgte zur Antwort nur ein blasiges Stöhnen. Nergal starrte für einen Moment auf ihn hinab und schaute dann wieder in den Himmel, wo ein kleines schwarzes Etwas heranhuschte und immer näher kam. Immer näher! Fluchend hob der Höllenfürst die Klauenhände und wirkte einen so gewaltigen Zauber, dass ihm darunter 550
die Knie zitterten. Diese Abwehr setzte sich aus einer ganzen Folge von Bannen zusammen. Das Weben derselben kostete ihn einiges von seiner Kraft und auch etwas von dem wertvollen Geheimnis, welches er schon seit langer Zeit in sich hütete: Eine Kugel aus zusammengepresstem Bergkristall, welche einen Tropfen Blut von einem gewissen anderen Teufel enthielt. Doch trotz dieser Anstrengung lächelte Nergal, verschwand in einer Schwefelwolke und tauchte in einer anderen Gegend von Awernus wieder auf. Der Zauber bewirkte aber auch, dass Elminster Aumar woanders hingetragen wurde. Nämlich in den Schoß desjenigen Teufels, von dem Nergal einen Blutstropfen aufbewahrte. Zwei Atemzüge später stieß die Simbul wie ein awernusianischer Feuerball vom Himmel, verschleuderte Blitze im Dutzend und zerschmetterte damit doch nicht mehr als bloß den Felsen, auf welchem sich bis eben noch ihr Feind befunden hatte. Damit lösten sie allerdings eine mächtige Explosion aus, und die hätte unter normalen Umständen ausgereicht, jeden Angreifer zu zerfetzen. So aber wurde die Hexenkönigin nur wieder zurück in den Himmel geworfen. Nachdem sie sich von diesem Schlag erst einmal erholt hatte, lächelte sie grimmig. Die Hexenkönigin wusste jetzt nämlich, was geschehen war. Ihr Feind hatte Elminster in die eine Richtung verschickt und sich selbst in eine ganz andere befördert – sei es, um sich 551
vor ihr in Sicherheit zu bringen, oder sei es, um dort eine Falle für sie aufzubauen. Aber das sollte sie jetzt nicht weiter beunruhigen. Seit dieser Teufelsfürst Elminster nicht mehr in seiner Gewalt hatte, scherte seine Schuppenhaut sie nicht mehr. Die Foltern, welcher er an ihrem Liebsten verübt hatte, zu rächen, dazu war auch noch an einem anderen Tag Zeit. Zuerst und zuvörderst wollte sie den Alten Magier sicher heimbringen. Ihre Geistsuche hatte wieder Erfolg, und sie erfuhr den neuen Standort ihres Geliebten. Mit einiger Willenskraft beendete die Hexenkönigin von Aglarond ihr Taumeln nach der Explosion, wendete ein weiteres Mal in der Luft und spurtete in die neue Richtung davon. Überall in Awernus hielten die Teufel in ihrer Beschäftigung inne und ließen alles stehen und liegen, um sich dieses neue Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Tasnya bog über ihrem Bett aus Blut den Rücken durch. Dieses finstere und äußerst bewegliche Wesen besaß viele dornenbewehrte Brüste. Die Abischai, welche mit ihr ringen mussten, schrien zuverlässig, wenn sie von einem ihrer langen und gebogenen Sporne aufgespießt wurden. Der Schrei ging regelmäßig in ein Heulen über, dessen Rhythmus Tasnya das Blut ihrer Opfer noch köstlicher munden ließ. »Sieh mal einer an«, sagte sie jetzt. »Was haben wir 552
denn hier?« Das hilflose Wesen, mit welchem Nergal sich längere Zeit vergnügt hatte, war unvermittelt vor ihr gelandet. Was sollte sie damit? Das Ding entlockte ihr kaum einen zweiten Blick. Tasnya schleuderte den Menschen per Zauberkraft gegen die nächsten Felsen. Ohne Zweifel hatte Nergal sein Spielzeug mit magischem Sprengstoff oder anderen Fallen versehen. Schon einen Moment später raste ein Blitz aus Oberweltfeuer über den Himmel, und mittendrin saß eine zornbebende Erzmagierin. Die Herrin der Foltern drehte sich langsam auf ihrem Bett herum. Kreischende und wimmelnde Scharen von Abischai bedeckten sie wie ein bluttriefender Umhang. Die Höllenfürstin hob träge eine Hand und zog mit dem Zeigefinger mehrere Kreise in die Luft. Aus dem Blut, welches sie umgab, löste sich daraufhin das gefährliche Blutfeuer, raste hinauf zu der heranstürmenden Hexenkönigin und drohte, sich wie eine Schlinge um sie zu legen, sie in einer Art Spirale zu fesseln und dann straff anzuziehen. Die Simbul wich dem Blutfeuer zunächst aus, musste noch einmal wegtauchen, und Tasnya lächelte siegesgewiss. Die Höllenfürstin sandte der Angreiferin einen hässlichen Bann mitten ins Gesicht. Der Bann traf mit Ersterem zusammen, und es kam zu einem furchtbaren Knall. Der Boden bebte, und Blutspeere rasten in alle Richtungen davon – sie durchbohrten Abischai und trafen auch Nergals bereits 553
schrecklich gepeinigtes Opfer. Aber immer noch stürmte die Hexenkönigin heran. Tasnya zog eine Augenbraue hoch und setzte sich in ihrem Blutbad aufrecht hin. Sie erwartete ihre Feindin und ließ zu deren Empfang die Dornen wachsen, bis die etwa Speerlänge erreicht hatten. Kein Zauber würde jemals ihre eigenen Abwehrbanne durchbrechen können. Das Blutfeuer umschloss die Hexenkönigin und hielt sie in Verpuppung gefangen – damit sie der Höllenfürstin nicht mehr zu entkommen vermochte. Wenn es zum Zweikampf zwischen den beiden käme, würde die Menschenfrau mit ihrem verletzlichen Körper gegen den Höllenleib Tasnyas ankommen müssen. »Brust um Brust, Biss um Biss und Klaue um Klaue«, murmelte die Höllenfürstin gierig. Sie konnte das Vergnügen dieses Kampfes kaum abwarten – und freute sich ebenso auf das Aufeinanderprasseln großer Mengen von Magie. Die Luft selbst rauschte, als die Simbul von Aglarond immer tiefer auf die wartende und sich immer mehr begeisternde Tasnya hinabstürzte. Zauber um Zauber flog der Hexenkönigin entgegen und wurde von deren eigener Abwehr abgefangen. Blutflammen umtosten die Erzmagierin feucht und glänzend, umhüllten sie wie ein Tunnel und zwangen sie so genau auf die wartenden Dornenspitzen hinab. Die wütende Königin flüsterte hektisch vor sich hin und wehrte sich mit dem einzigen Mittel, das ihr noch 554
übrig blieb. Ohne auf abgebrochene Fingernägel und blutende Finger zu achten, schnallte sie Bänder und Gurte auf, drehte sie an Schrauben und zog und zerrte sie, wo es etwas zum Ziehen und zum Zerren gab. Sie entledigte sich ihrer Rüstung mit einer Geschwindigkeit, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Metall klirrte und knirschte, als sie Beinschienen, Brustplatten und andere Rüstungsteile vor sich zu einem Schild verwob. Ein ineinander verschränktes Chaos aus Stahlteilen raste auf die Sporne zu und fing umso stärker an zu glühen, je mehr Zauber die Simbul hineinsteckte. Dann kam es zum Zusammenprall, und die Hexe kreischte laut. Ein Dorn von ihrem Leibesumfang stieß durch das Rüstungsgewirr und riss ihr die Seite auf. Nackt und blutend krachte die Hexenkönigin gegen Felsen, wurde von ihnen zurückgeworfen und stieß gegen noch härtere Klippen. Sie flog und rollte hilflos hin und her und biss die Zähne zusammen. Der letzte ihrer Zauber versagte, und das brennende Blut, welches die Teufelin gegen sie gesandt hatte, regnete zischend und ätzend rings um sie herum in die Felsen. Hinter ihr hörte man seit einiger Zeit nichts mehr von der Teufelsfürstin. Allem Anschein nach war von ihr nicht mehr als ein Becken mit versengtem und brennendem Blutmatsch übrig geblieben. Über das, was sich noch an Knochen blicken ließ, machten sich die Reste der Rüstung her, hieben und stachen darauf ein und ließen nicht ab, bis nichts Le555
bendiges mehr vorhanden war. In ihrem Rausch schlugen die Metallteile dann mit ihren Spitzen auf den Felsen selbst ein. »Sie wird sich irgendwohin verkrochen haben«, murmelte die Hexenkönigin, »um wieder neu zu erstehen. Vorausgesetzt, sie kennt so mächtigen Zauber.« Aber noch durfte die Simbul sich nicht der Versorgung ihrer Wunden hingeben, denn Elminster würde die Amulette, welche sie am Hals und unter ihren Brüsten trug, sicher dringender benötigen als sie selbst. Falls er hier irgendwo zu finden wäre ... An der Stelle, wohin Tasnya ihn geschleudert hatte, befand sich nichts mehr außer einer Blutlache. Auf die rollten schon Maden und anderes Gewürm zu, um sich darin zu baden. Die Simbul seufzte: »Wenn es einen schon mal in die Hölle verschlägt, sollte man auch dafür sorgen, dass sich möglichst viele später an diesen Besuch erinnern.« Die mutigsten unter den Flugteufeln trieben sich jetzt am Rand des Schlachtfelds herum, um besser sehen zu können. Die Hexenkönigin wirkte derweil einen Zauber, welcher ihr die immer noch unermüdlich hackenden und stechenden Rüstungsteile zurückbringen würde. Vielleicht würde es ihr gelingen, die einzelnen Teile wie einen schützenden Tunnel um sich herum anzubringen. Dann könnte sie weiterfliegen und sich auf alle Feinde stürzen, welche sich ihr in den Weg stellten. Auf der anderen Seite hatte die Simbul es auch nicht übermäßig eilig, als Blutpfütze zu enden, die von einigen Höllenfeuern am Leben gehalten würde. 556
Sie betrachtete die Berghöhen und die Teufel mit ihren Fledermausflügeln, welche in langen Reihen darüber trieben. »Asmodeus«, erklärte die Hexenkönigin von Aglarond der Luft, »was würdet Ihr zu einem Handel sagen? Ihr überlasst mir den Mann, um dessentwillen ich hierher gekommen bin – und zwar lebendig, an Geist und Seele unbefleckt und körperlich unversehrt – und ich erschlage dafür ein Dutzend der Teufelsfürsten, welche Ihr hier nicht mehr sehen möchtet. Na, was haltet Ihr davon? Abgemacht?« Das tiefe Grollen, welches nun durch die Felsen unter ihren bloßen und blutigen Füßen donnerte, hörte sich für sie wie ein belustigtes Schnauben an. Als das Rumpeln die Berghöhen erreichte, schlugen die Flugteufel wie ein Mann mit den Schwingen und rasten in alle Richtungen davon. Die Simbul fühlte sich mit einem Mal ganz allein in der Hölle, sammelte ihre Zaubergeräte und Rüstungsteile zusammen und zuckte die Achseln. Beim Bücken nach einem spitzen Stück Eisen meinte sie: »Na ja, wenn Ihr es Euch noch etwas überlegen wollt ...« HO! HO! HO! DA HABT IHR EUCH ABER EINE FEINE GELIEBTE ANGELACHT, IHR MENSCHENWURM! WARTET NUR, BALD SOLLT IHR EINE UNFREUNDIN VON MIR BEKOMMEN ... ABER ERST WILL ICH MICH NOCH EINMAL IN DIESE KÖSTLICHEN ERINNERUNGEN STÜRZEN ... 557
(schrilles schreien) HA! HA! HA! MIT EINEM MAL MACHT ES KEINEN SOLCHEN SPASS MEHR, MICH ZU FOPPEN UND AN DER NASE HERUMZUFÜHREN, WAS? ICH SCHEINE JA ENDLICH IN DIE SCHICHTEN ZU GELANGEN, WELCHE IHR SO LANGE VOR MIR VERBORGEN HALTEN WOLLTET! JETZT SIEH SICH EINER MAL DAS HIER AN ... (dröhnendes teuflisches gelächter)
558
18 Die Hölle erhebt sich Ein Spinagon purzelte vom Höhenzug, und von seinem Schädel war nur noch eine verbrannte, leere Hülle übrig geblieben. Rauch quoll noch aus den Höhlen, in welchen sich einmal die Augen befunden hatten. Nergal wollte keine Spuren hinterlassen. Außerdem hatte dieser in seinen Dienst gepresste Spion hier seine Aufgabe erfüllt. Der Spinagon hatte beobachtet, wie das Wesen, welches er für einen Schwefelfürsten gehalten hatte, einem dunklen Feuerball gleich vorübergeflogen war. Und zwar ohne Einsatz der Flügel! Die hatte er angewinkelt gehabt! Die Simbul mochte ja genau darauf achten, ihre Rüstung mit den scharfen Klingenteilen gut zu verbergen, aber offenbar war es ihr entgangen, dass ihre Fortbewegungsart in der Hölle einiges Aufsehen auslöste. Offenbar schien es ihr auszureichen, nicht von jedem herumstreifenden Abischai angegriffen zu werden. Zurzeit war die Hexenkönigin unterwegs, den ausgestoßenen Teufel Harhoring anzugreifen, der unwissentlich das unwillige Bündel namens Elminster in Empfang genommen hatte. Nergal hatte seinen Gefangenen dazu gezwungen, die 559
Gestalt eines alten und verkohlten teuflischen Oberschenkelknochens anzunehmen. Auf diese Weise ließ sich der Menschenzauberer nämlich leichter in dem Beinhaufen verstecken, in welchem Harhoring sich häuslich eingerichtet hatte. Der zukünftige oberste Herr der Hölle hielt es für geboten, den Fürsten der Knochen nichts von seiner Anwesenheit wissen zu lassen; zumindest so lange nicht, wie er mit Elminsters Geist verbunden war. Dumpf brütend fragte der Höllenfürst sich gerade zum wiederholten Male, warum er eigentlich seine Zeit damit verschwendete, nützliches Wissen aus dem Erzmagier herauszupressen. Wie schon so oft hatte er auch beim jüngsten Versuch nur sinnlose Nettigkeiten zu sehen bekommen, welche unwichtigen Personen erwiesen worden waren. Von wirklich großen Geheimnissen der Magie hingegen keine Spur. Besaß dieser Elminster denn einen unerschöpflichen Vorrat an belanglosen Erinnerungen? Wie lange sah sich eigentlich ein Sterblicher in der Lage, einen ausgewachsenen Teufelsfürsten an der Nase herumzuführen? Zum mittlerweile dritten Mal hatte Nergal versucht, mit Wucht und Gewalt zu einer Erinnerung vorzustoßen, in welcher es darum ging, wie Elminster selbst einen Zauber wirkte; wie er Zauberkunststücke lehrte oder beigebracht bekam; wie er einen magischen Gegenstand ausprobierte oder in einem geheimen Versteck aufspürte. 560
Der Geist des Menschenmagiers hatte sich ihm ergeben und sämtlicher Widerstand war zusammengebrochen, ganz so, wie man es unter dem Zorn eines Teufelsfürsten erwarten durfte. Doch immer dann, wenn Nergal mit den Bestrafungen und Folterungen innegehalten, wenn er schon geglaubt hatte, endlich etwas gefunden zu haben, hatte er doch nur wieder mit leeren Händen dagestanden. Wie gelang das seinem Gefangenen nur immer wieder? An seiner körperlichen Verfassung konnte das nicht liegen, die war eher kümmerlich zu nennen. Elminster verfügte auch über keine verborgene Magie, bis auf das Silberfeuer, das ihm irgendwo tief im Innern eingepflanzt worden war. Diesen Menschen hatte es hier unten in der Hölle mindestens ein Dutzend Male zerrissen, und jedes Mal hatte ihn ein Heilzauber wieder zusammengeflickt. Gar nicht erst zu reden davon, wie oft Nergal ihn verwandelt und mit Behinderungen versehen hatte. Und dennoch wehrte er sich immer noch. Tief in seinem Geist, in welchem der Höllenfürst so viel herumgetrampelt war, regte sich immer noch Widerstand. Jede Erinnerung, welche Elminster mehr oder weniger freiwillig preisgab, war ihm danach auf immer verloren. Dennoch scherzte der Mann weiter, verfolgte seinen Peiniger mit Hohn und Spott ... und hatte seine geistige Gesundheit noch nicht verloren. Nun gut, so weit geistig gesund, wie ein Teufel das bei einem Menschen beurteilen konnte. 561
Bei allen Feuersbrünsten, Nergal würde nicht aufgeben. Nach allen Anstrengungen, nach so vielen Mühen durfte er sich doch nicht mit nichts zufrieden geben! Ihm würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als Elminsters Geist gründlichst auseinander zu nehmen. Stück für Stück, Erinnerung für Erinnerung. All die vielen Jahre, die am Leben zu bleiben diesem verrückten alten Zaubermeister irgendwie gelungen war. Nergal würde auf die geheimen Magiestellen stoßen, sich diese aneignen und so zum mächtigsten Höllenfürsten aller Zeiten aufsteigen. Sollte die Simbul ruhig all seine Rivalen erschlagen, einen nach dem anderen, und damit viel Zeit vergeuden. Die würde er dazu nutzen, einen neuen Geisteswurm in den Kopf ihres Liebsten zu setzen. Die Hexenkönigin würde eine Menge Arbeit vor sich haben, wenn sie ihren herzallerliebsten Elminster als sabbernden Idioten zurückerhielt. Nergal wob den neuen Zauber mit besonderer Umsicht und würde den alten erst in dem Moment auflösen, in welchem er den neuen ansetzte. Nun musste er nur noch in Elminster zurückkehren, ohne dabei von der Simbul oder Harhoring bemerkt zu werden. Der Höllenfürst atmete erleichtert aus, als endlich wieder die vertraute Dunkelheit in seinem Geist zu sehen war. Er hatte es geschafft und befand sich wieder in Elminster! Dabei entging Nergal jedoch, dass sein Gefangener in dem winzigen Moment, in welchem er nicht von dem 562
Höllenfürsten übernommen gewesen war, wie rasend das silberne Feuer eingesetzt hatte. Zumindest in rein körperlicher Hinsicht war der Menschenmagier vollständig wiederhergestellt. Zwar fühlte er sich noch erschöpft und etwas zerschlagen, aber körperlich fehlte ihm nichts. HEIL EUCH, ELMINSTER, ERZMAGIER VON SCHATTENTAL! grüßte Nergal spöttisch. Heil Euch, Nergal, Fürst der Hölle, erfolgte die Antwort im gleichen Tonfall. Gleich flammte wieder der Zorn wie loderndes Feuer im tentakelbewehrten Körper des Teufelsfürsten auf. Aber er zwang sich zur Ruhe und ließ sich dann noch tiefer in den Geist seines Gefangenen hinabsinken. Diesmal so sanft und zärtlich wie ein Liebhaber und nicht so grob und verheerend wie ein wütender Höllenfürst. DANN WOLLEN WIR NOCH EINMAL VON VORN BEGINNEN, SCHWEIN VON EINEM MENSCHLEIN! (gedankenpeitsche schmerzen boshaftes teuflisches grinsen helle bilder werden auf die seite gestoßen krallen graben tiefer schleudern alles unwichtige fort) OHO! WAS HABEN WIR DENN HIER? (eine bilderflut bricht herein) Die schwarzen Augen des Kanzlers glänzten. Als er sich zu ihr umdrehte, wirkte er wie einer der Raben auf den Zinnen. »Wir haben mehr Lügen von Euren Lippen gehört, als uns lieb sein kann, edle Dame«, sprach er mit Kälte in der Stimme. »Jetzt sprecht die Wahrheit zu mir und säumet nicht damit, sonst bleibt mir wohl 563
nichts anderes übrig, als meine Zeit nie wieder mit Euch zu vergeuden.« Im nächsten Moment gruben sich seine Finger in ihr Haar und zogen und rissen so hart daran, dass Silaril unweigerlich in die Knie ging. Seine Ringe fühlten sich an ihren Wangen kalt an, und das Schwert, welches er aus der Scheide zog, verursachte in ihren Ohren ein grässliches Geräusch. »Ich habe jetzt endgültig genug davon, Edle, wie Ihr die Wahrheit verdreht. Selbst meine Geduld stößt einmal an ihre Grenzen.« Eine scharfe Stahlschneide drückte gegen ihre Haut, aber sie zwang sich, weiterhin ruhig zu bleiben. Ihre Miene blieb auch äußerlich gelassen, aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Brust sich schneller hob und senkte – und dabei den Arm berührte, welcher sie festhielt. Der Kanzler erkannte ihre Furcht und lächelte ebenso überlegen wie kalt. »Jetzt werde ich die Wahrheit von Euren hübschen Lippen hören. Solltet Ihr Euch weigern oder es vorziehen, weiterhin Falschheit zu verbreiten, wird Euer Körper ein paar unumstößliche Wahrheiten von diesem Stahl hier zu schmecken bekommen. Ich habe nun endgültig genug von all Euren dummen Spielereien!« DA FRAGE ICH MICH DOCH, WAS DAS DENN GEWESEN SEIN SOLL? ZU DUMM, DASS DIE ERINNERUNG HIER ABBRICHT! DER REST IST WOHL VERLOREN GEGANGEN! 564
WIR ERZMAGIER
SIND NÄMLICH SO UNGEHEUER GEWALTIG,
MÜSST IHR WISSEN, DASS SELBST DANN, WENN WIR BESONDERS VORSICHTIG SEIN WOLLEN, SCHON EINMAL DAS EINE ODER ANDERE KAPUTTGEHEN KANN ...
WIE
ZUM
BEISPIEL
MENSCHLICHE
ZAUBERLEIN,
WELCHE SICH
FÜR SAGENHAFT SCHLAU HALTEN!
Ich verstehe, edler unterdrückerischer Fürst, worauf Ihr hinauswollt. Schwebt Euch denn jetzt etwas Bestimmtes vor, mit dem meine Erinnerungen Euch ergötzen könnten? NEIN, ZAUBERLEIN, ICH HABE MICH LANGE GENUG VON EUCH FÜHREN LASSEN, UND IHR HABT MICH ÜBER EINE ENDLOSE STRASSE GELENKT, WELCHE NIE ANS ZIEL, SONDERN IMMER NUR IN DIE IRRE FÜHRTE. VON NUN AN WERDE ICH SELBST DORT NACHSEHEN, WO MIR ETWAS LOHNEND ERSCHEINT! ICH GLAUBE, ICH KANN GANZ GUT AUF EURE FÜHRUNG VERZICHTEN! WAHRSCHEINLICH STOSSE ICH SO AUCH VIEL EHER AUF DAS, WONACH ICH EIGENTLICH SUCHE, UND DAS OHNE DUMME WIDERWORTE VON EINEM MENSCHLEIN, DESSEN LEBEN AM SEIDENEN FADEN HÄNGT! (schweigen) (gehässiges grinsen) (fließende bilder) Irgendwo im Steinland. Manschun hob den Kopf und schaute zurück auf den Weg, welchen er gekommen war. Kalte Ruhe erfüllte ihn. Rings um ihn herum roch es durchdringend nach 565
faulendem Fleisch. Seine Nase zuckte unter dem Gestank. Kurz erinnerte er sich seiner ersten schrecklichen Erfahrung mit Zombies ... damals, weit fort, in der Grabkammer ... Seitdem hatte er diesen eigenartigen Geruch nie vergessen können. (teuflisches seufzen die nächsten bilder fliegen in hohem bogen fort andere werden zerfetzt) ALSO GUT, VERSUCHEN WIR ES EINMAL HIERMIT. Der Totenschädel beobachtete alles und nickte von Zeit zu Zeit wissend ... WIE? DANACH KOMMT GAR NICHTS MEHR? (neue bilder tauchen vor stolz leuchtend auf) Der andere Allesseher drehte ein paar Augenstiele in die Richtung seines Kameraden. »Können wir Manschun auch dann besiegen, wenn er sich in der Lage sieht, Zauberfeuer zu verschießen?« Der erste Augentyrann hüpfte leicht auf und ab. Diese Geste konnte als Achselzucken verstanden werden, gebrach es ihm doch an Schultern. »Seht doch nur, wie leicht er jetzt unserem Willen gehorcht«, erklärte er voller kalter Verachtung. »Ein mächtiger Tyrann und ein großer Zauberer, zumindest in den Augen der Menschen. Doch wie wir wissen, blenden ihn Gelüste, Misstrauen und Verfolgungswahn ... die Gier nach Macht, die Sucht nach Erfolgen und 566
Anerkennung. Er ist ein beschränktes Wesen mit einem verdrehten Geist. Selbst Zauberfeuer wiegt all diese Nachteile niemals auf.« »Da muss ich Euch zustimmen«, entgegnete der zweite Allesseher. WIRKLICH ERHEITERND, ELMINSTER VON SCHATTENTAL! ICH VERMUTE, DAS SOLLTE EINE WARNUNG AN MICH SEIN, WAS? DANN WILL ICH EUCH EINMAL ETWAS SAGEN: WENN IHR NICHT ENDLICH DAMIT AUFHÖRT, EUCH IN MEINE SUCHE EINZUMISCHEN UND SIE ZU BEHINDERN, SOLL EUCH DAS LACHEN RASCH VERGEHEN! JETZT ZEIGT MIR EINEN VON DEN SIEBEN! SOFORT! AM LIEBSTEN STURM! (zangen wie stahlklauen packen zu dunkler wille stößt angetrieben von wut hart herab) (schmerzen) (befriedigtes grunzen) (noch mehr schmerzen) ZEIGT MIR ALLES, ZAUBERLEIN! Mondlicht betonte den großartigen Anblick einer bloßen Schulter, als Sturm Silberhand sich auf einen Ellbogen stützte und eine feste Hand auf Elminsters Mund legte. »Hört endlich damit auf, dummes Zeug zu plappern, und schlaft.« Sie klang nicht unfreundlich, und ihre Hand rutschte auf seine Brust, um ihn auf den Rücken zurückzustoßen. 567
Er atmete scharf ein, um anzuzeigen, dass er versucht hatte, etwas sehr Wichtiges von sich zu geben. Jetzt ersetzte ihr Mund die Hand, und sie schob ihm ihre Zunge in den Mund. Dann sagte sie: »Schlaft endlich ein. Lasst Euch auch von meinen Verlockungen nicht davon abhalten.« Das kam Elminster wie eine gute Idee vor. Taub und ohne wirkliche Wahrnehmung trieb er durch ein Meer aus Chaos, welches seinem misshandelten und gemarterten Geist alle Schmerzen vorenthielt. Er fand eine dunkle Höhle, in welche noch kein Störenfried eingedrungen war. Die hier abgelegten Erinnerungen lagen unter Staub und Spinnweben, als seien sie schon ewig nicht mehr abgerufen worden. Dort rollte Elminster sich zusammen und ließ Awernus von sich abfallen, wie es vorher schon Toril getan hatte. NEIN! SO GEHT DAS ABER NICHT! IHR KÖNNT EUCH DOCH NICHT SCHLAFEN LEGEN, WENN ICH KOMME! DAS GEFÄLLT MIR ABER GAR NICHT, MENSCHLEIN! WOLLT IHR MIR ETWA JEDEN EINZELNEN KUSS – UND NOCH UNAPPETITTLICHERE DINGE – VORFÜHREN, WELCHEN IHR IN EUREM ÜBERLANGEN, LANGWEILIGEN UND JÄMMERLICHEN DASEIN BEKOMMEN HABT? DANN VERSCHERZT IHR ES ABER GEWALTIG MIT MIR! (brennende hiebe der gedankenpeitsche schmerzausbrüche zerfetzte erinnerungen die durcheinander wirbeln) NUN, WIE DENKT IHR EUCH DAS, ZAUBERLEIN? ANTWORTET MIR GEFÄLLIGST! 568
(schmerzen sich winden keuchen größte Schwierigkeiten mit der gedankenstimme zu sprechen) Jede Erinnerung, welche ich Euch zeige, Fürst Teufel, ist mir für immer verloren. Euch also alles bis zur letzten kleinen Begebenheit zu zeigen, wäre nicht gerade ein Anzeichen für geistige Gesundheit. UND IHR HALTET EUCH FÜR JEMANDEN, WELCHER SICH GEISTIGER GESUNDHEIT ERFREUT? (schweigen) ICH WARTE! (trotziges schweigen) (teuflisches lachen das durch alle Gänge des gemarterten geists dröhnt von den wänden widerhallt) »Aber das ist doch lächerlich!«, schimpfte Rathan, als sie die Treppe hinunterrannten. Leder krachte und Panzerung rasselte. »Den Turm rauf und den Turm wieder runter! Warum können diese feigen Idioten nicht wie früher vors Tor gezogen kommen und ihr Begehr vortragen? Das würde meinen geschwollenen Füßen viel besser tun!« »Erinnert mich daran, wenn wir unten sind, dann werde ich es ihnen gern ausrichten!«, entgegnete Torm fröhlich. »Ich vermute, es handelt sich bei dem allen nur um ein dummes Missverständnis. Sobald erst einmal alle über Eure Hühneraugen Bescheid wissen, wird das fortan die allergrößte und vornehmste Sorge sämtlicher Banditen und sonstigen Banden sein, welche aus Zhent zu einem Überfall in unser Tal gezogen kommen.« Rathan antwortete ihm darauf mit Wutgebrüll und 569
griff im Laufen an die Flasche Feuerwein, welche er am Gürtel hängen hatte. Sie tanzte aber so wild auf und nieder, dass er sie erst drei Treppenwendungen später zu fassen bekam und den Stopfen herausziehen konnte. Endlich konnte er die Flasche ansetzen, und just in diesem Moment stieß er sich den Ellenbogen an einem vorspringenden Mauerstein. Nun brennt Feuerwein ganz furchtbar in den Augen. Und die übergewichtigen Priester der Göttin des Schicksals kennen bei der Ausübung ihrer Pflichten nur Feuereifer ... So kam es, dass Rathan zum einen nichts mehr sah und sich zum anderen viel zu schnell bewegte. Und statt sich am Geländer festzuhalten, versuchte er lieber, den Stopfen wieder in den Flaschenhals zu drücken, damit nicht noch mehr von dem guten Feuerwein verschüttet wurde. Rein nach Gefühl bewegte der Geblendete sich weiter und sprang dorthin, wo seiner Erfahrung nach die Treppe ihre Fortsetzung fand. Leider irrte er sich da gewaltig. Die Wand, gegen welche der Priester krachte, erwies sich als erbarmungslos hart und schien ihre Freude daran zu haben, Rathan ein Dutzend blauer Flecke zu verpassen. Ähnlich unangenehme Überraschungen hielten die Stufen für ihn bereit, auf welchen er als Nächstes landete. Unzählige Füße hatten sie glatt getreten und ihnen eine abschüssige Neigung verliehen. Der große und runde Rathan schrie vor Schmerzen, 570
als er vom Geländer abprallte, wieder gegen die Wand schlug, von der zurückgeworfen wurde, erneut irgendwo gegenlief, immer mehr die Stufen hinunterschlidderte und kurz davor stand, endgültig das Gleichgewicht zu verlieren. Als er unfreiwillig drei Stufen gleichzeitig hinter sich brachte und mit der Stirn an die Wand knallte, war er längst von oben bis unten mit Feuerwein überschüttet. Von da an konnte der Priester nur noch wie eine Kugel hilflos nach unten rollen. Tymora ermutigte ihre Jünger durchaus, ein Wagnis einzugehen, aber Rathan Zeltrabe gehörte weder zu den Drahtigen noch den Draufgängern. Seine Rüstung wirkte beeindruckender auf das Auge als auf das Schwert – oder als auf festes Mauerwerk. Sein Absturz die Treppe hinunter begann mit einem erschreckten Schrei und setzte sich mit einem Holterdiepolter fort. Dann steigerte es sich zum Getöse verbeulter Rüstung, und dazu gesellte sich das Klatschen eines fetten Körpers auf bloßem Stein. Und zur Untermalung diente das heilige Wutgeschrei eines Mannes, der zumindest ahnt, was das Schicksal für ihn bereithält. Und das alles an einem Ort, an dem man eher schweigendes Hinnehmen oder klaglose Würde vermuten würde. Torm gehörte nicht zu den Langsamen im Lande, weder was seinen Geist noch was seine Beine anging. Aber er vermochte in dieser beengten Umgebung keine Wunder zu vollbringen. 571
Sein verzweifelter Sprung, um dem heranpolternden Unheil zu entgehen, wurde von den Wänden, der Decke und den Stufen doch erheblich eingeschränkt. Und so sprang er unausweichlich zu kurz, um sich vor einem Zusammenstoß mit seinem Freund zu bewahren. Torm fiel von der Decke herab und landete auf dem gepanzerten Knäuel, welches die Treppe hinunterkullerte. Alle Flüche, mochten sie auch noch so einfallsreich sein, konnten den Priester nicht davor bewahren, nun ebenfalls mit lautem Getöse die Stufen hinunterzurollen. Tymora lächelte, und so nahm das Schicksal wieder eine neue Wendung ... Ein Hauptmann der Garde von Zhent schritt stolz in den Vorraum. Die Armbrüste seiner Soldaten hatten die wenigen Verteidiger am Tor in die Flucht geschlagen, welche sie durch die Küche antraten. Der Anführer brauchte nur einen Blick auf diesen Ort zu werfen, um genau zu wissen, was jetzt getan werden musste. »Tür dort öffnen!«, schnarrte er nach draußen, wo kreischende Frauen, lärmende Soldaten und donnernde Pferdehufe vorbeistürmten. Gehorsam kamen seine Männer herbeigerannt, öffneten die Tür und warteten mit gezücktem Schwert und gespannter Armbrust. Eine Wendeltreppe zeigte sich hinter der Öffnung, aber keine Verteidiger. Als die sich nach einer Weile immer noch nicht blicken ließen, wagte sich der mutigste unter den Soldaten vor und spähte in das Halbdunkel. »Was denn, was denn?«, schnarrte der Hauptmann. 572
»Da ist etwas ...«, meldete der Mutige und legte langsam die Stirn in Falten, ehe er fortfuhr: »So eine Art Krachen ... ein Poltern ...« »Was für ein Krachen? Was für ein Poltern?«, erregte sich der Anführer. Rathans grün und blau gestoßener Körper schoss um die letzte Biegung, prallte von einer besonders harten Stufenkante ab und raste mit der Wucht einer gepanzerten Lawine in den Vorraum. Der Priester stieß den Hauptmann wuchtig gegen die Wand, als werfe er ein Ei an dieselbe. Die Soldaten aus Zhent liefen in alle Richtungen auseinander, als danach ein wütendes Stöhnen ertönte. Dann rann Blut die Wand hinab, und der Soldat neben der Tür meldete: »Diese Art von Poltern, Herr Hauptmann!« Mit vorgehaltener Armbrust näherte er sich dem Wirrwarr aus Panzerplatten, Kettenhemden und sich auf und ab senkendem Fleisch. Der kleinere und nicht gar so heftig schnaufende Haufen, als welcher sich Torm den Blicken darbot, rollte jetzt durch die offene Tür und riss den Soldaten von den Beinen. Dieser schoss erschrocken die Armbrust ab, und der Bolzen traf einen seiner Kameraden. Der brach sofort zusammen, und sein Schädel knallte laut auf den Boden. Torm wurde von Rathans Körper zum Stehen gebracht, und beide verhedderten sich zu einem keuchenden und schimpfenden Knäuel. »Was sagen Eure Hühneraugen denn jetzt, Ihr alter Poltergeist?« 573
Die Antwort des Priesters bestand aus einer lauten Abfolge äußerst lebhafter Beleidigungen, welche auch vor der vermuteten Abstammung seines Freundes nicht Halt machten. Die Göttin des Schicksals ließ sich nicht blicken, und so blieb es Torm überlassen, unter all diesen Schmähungen schmerzlich das Gesicht zu verziehen. DAS
WAR
JA
MAL
WIRKLICH
BEEINDRUCKEND!
NICHT
WAHNSINNIG ERREGEND ODER GAR NÜTZLICH, ABER WENIGSTENS BEEINDRUCKEND!
(bilder tauchen auf) »Meine ganze Hoffnung besteht darin, Herr, dass Ihr nie dahinter kommt«, antwortete Tessaril mit bedrücktem Blick. Während sie sprach, kam es weiter im Inneren zu einem lauten Getöse. NOCH
›HOLTERDIEPOLTER‹? UND DANACH BESTIMMT FLEISCHESBEGIERDEN! SCHON WIEDER EINE LÜSTERNE SCHÖNE! DIESMAL EINE MIT AUGEN WIE RAUCH! HM, DA IST JA NUR EIN WINZIGER REST ÜBRIG ... WAS HABEN WIR DENN HIER? MOMENT MAL, DAS IST DOCH NICHT SCHON WIEDER DIESELBE MAID, ODER? EINMAL
WIEDER
NUR
»Nein«, sagte Tessaril, »wir warten. Möchte jemand noch etwas essen, ehe wir Burg Zhentil erobern?« SCHON
WIEDER BLOSS EIN
SCHNIPSEL! DABEI
KÖNNTE ICH
SCHWÖREN, DASS DA EBEN NOCH MEHR GEWESEN IST ...
574
Wenn Ihr behutsamer mit meinen Erinnerungen umgehen würdet, Herr Teufel, bekämt Ihr vermutlich auch mehr zu sehen. Natürlich ging diese Erinnerung noch ein Stück weiter, aber der Rest ist nun unrettbar verloren ... Weil Ihr immer so grob sein müsst! SAGT MIR NICHT, WAS ICH ZU TUN ODER ZU LASSEN HABE, IHR WURM! NERGAL WÜHLT SICH DURCH EURE ERINNERUNGEN, WIE ES IHM BELIEBT! (gedankenpeitsche schmerzen rascher fließende bildfolgen) Sie kicherten, bis der Königliche Magier von Kormyr eine Braue hochzog und ungläubig fragte: »Und dieses kleine Mädchen heißt Schandril?« »Ja, ganz richtig. Sie wusste nicht, dass niemand es wagt, Manschun in seinem eigenen Bau anzugreifen. Deswegen ist sie einfach gegen ihn losgezogen.« SCHON
WIEDER EINE
KLEINE
MIT
ZAUBERFEUER! IHR
BESITZT
DOCH AUCH SO ETWAS, NICHT WAHR?
(schweigen) ELMINSTER? ELMINSTER! EL-MINS-TER! Oh, tut mir Leid, der Herr, aber ich litt gerade so furchtbare Schmerzen, dass ich nichts hören konnte. IHR KOMMT EUCH WOHL SEHR SCHLAU VOR, WAS, IHR WICHT? ABER KEINE BANGE, ICH KOMME AUCH OHNE EURE HILFE ZURECHT – UND ERST RECHT OHNE EURE ACH SO GESCHEITEN BEMERKUNGEN! (wieder wirbeln bilder heran) LASST DEN QUATSCH! ICH WILL ECHTE ERINNERUNGEN VON 575
EUCH
SEHEN!
EINEM
ENDE,
ETWAS EINDEUTIGES MIT EINEM ANFANG UND DAS MIR VON NUTZEN SEIN KANN! ETWAS ERHELLENDES UND WESENTLICHES ÜBER EINE DER SIEBEN SCHWESTERN! ZUM BEISPIEL, WIE SIE ZUR MACHT GEKOMMEN SIND! JA, SOLCHE ERINNERUNGEN WILL ICH VON EUCH VORGEFÜHRT BEKOMMEN, UND DAS EIN BISSCHEN FLOTT, WENN ICH BITTEN DARF! STURM HAT DOCH LETZTES MAL EINEN GANZ VIEL VERSPRECHENDEN ANSATZ GEBOTEN! JA, ICH WILL STURM SEHEN. DIE SCHLAMPE IST DOCH SEIT DER EINEN ODER ANDEREN WEILE EURE GELIEBTE, NICHT WAHR? ZEIGT MIR STURM ... UND DANACH EINE DER ANDEREN SIEBEN SCHWESTERN! Ganz in der Nähe wogte ein Haufen von Soldatenkörpern aus Zhent, bewegte sich immer weiter und auf und ab. Und darunter kroch eine schnaufende und verwundete Sturm hervor ... JA! JA! GENAU DIE WOLLTE ICH SEHEN! UND JETZT KOMMT AUCH NOCH MEHR! SEHT IHR, ICH MACHE GAR NICHT ALLES KAPUTT! ICH VERMAG AUCH AUFZUPASSEN! Schweigen senkte sich über die Menge der Gefallenen. (knurren) NA GUT, ICH HABE SIE DOCH WIEDER ZERSTÖRT! KEIN GRUND FÜR EUCH – MOMENT MAL! WAS IST DAS DENN? DOCH NICHT SCHON WIEDER DIESES LUDER SCHANDRIL! 576
»Ihr müsst den Harfnern beitreten, Mädchen«, erklärte Elminster ernst. Schandril starrte ihn mit Zauberfeuer in den Augen an und erwiderte: »Ich muss? Warum das denn?« Der Alte Magier zuckte die Achseln. »Irgendwo müsst Ihr ja lernen, wie man nicht immer wieder so etwas wie hier anrichtet«, antwortete er und zeigte mit einer weiten Handbewegung auf die rauchenden Trümmer rings um sie herum. JA UND? IHR SEID IHR LEHRMEISTER, ICH WEISS, ABER WAS HABE ICH DAVON? (bilder werden von krallen aus dem weg geräumt wirbeln durcheinander) »Ich kann mich nicht damit aufhalten, Banne an sie zu verschwenden. Knüpft sie doch auf, den Bürgern der Stadt zur Mahnung und zur Ergötzung.« »Werdet Ihr dabei wie üblich vom Balkon zusehen, Euer Hochwohlgeboren?« »Nein, ich habe noch eine Menge Arbeit zu erledigen, und eine befohlene Hinrichtung sieht doch so aus wie die andere. Das Leben hält für mich eine ganze Reihe von Dingen bereit, welche mir größeres Vergnügen bereiten ... weitaus größeres Vergnügen!« WAS SOLLTE DAS DENN JETZT? Manschun, ein Magier, welcher bestimmt über mehr List und Verstand verfügt, als viele ihm zugestehen wol577
len, war gerade in seiner Rolle als finsterer Herrscher über die Burg Zhentil zu bewundern. Das ist allerdings schon ein Weilchen her. UND WAS SIND DAS DORT FÜR HANSWURSTE UND POSSENREISSER? DIE SIND MIR SCHON FRÜHER IN EUREN ERINNERUNGEN AUFGEFALLEN. Eine Gruppe Abenteurer, die Ritter von Myth Drannor. UNTERHALTEN DIE SICH GERADE ÜBER MAGIE? Sie unterhalten sich am liebsten über Wein, Weib, Gesang, Reichtümer und Magie. Euch erwartet also eine Chance von eins zu fünf. NA JA, DAS IST DOCH NICHT SCHLECHT! IHR HABT MIR SCHON SCHLIMMERE EINSÄTZE ZUGEMUTET! (das gewünschte bild schiebt sich vor wird größer und heller) Torm hüstelte. »Ähem«, begann er dann wenig gewandt. »Bei allen Göttinnen und Göttern, welche uns zuschauen, ihr edlen Damen und Herren, seid fröhlich und erfreuet euch. Dies ist ein bedeutender Tag, da beißt die Maus keinen Faden ab. Rathan der Gewaltige reitet wieder aus, und ich begleite ihn. Vor mehr Jahren, als meine Hände Finger haben, bin ich zum ersten Mal losgestürmt, mit dem Schwert in der Hand (und leider wog es in meiner Rechten schwer wie Blei), um diesen Priester über Euch zu bringen. Ihr seid wie ein Mann gegen seine Predigten aufgestanden, so wie es Eurer Art und Eurer Lebensweise entspricht. 578
Certes, das wärmt mir das Herz, und deswegen lade ich Euch ein weiteres Mal in das hungrige und grässlich anzusehende Maul des Ungeheuers ein. Bei den Göttern, welchen auch immer –« »Verschont mich mit Euren wohlgesetzten Worten«, unterbrach Rathan ihn. »Von uns beiden bin ich es, der sich aufs kluge Reden versteht!« »Nicht mit einer so leeren Flasche, denn ›geleert‹ hat nichts mit ›gelehrt‹ zu tun«, entgegnete Torm, wenn auch aus sicherer Entfernung. (teuflisches schnauben) WIE DROLLIG! WIE POSSIERLICH! GIBT ES NOCH MEHR VON DIESEN BEIDEN? (zunächst schweigen dann ein bild das sich durch die anderen nach vorn schiebt) »Bei allen Furien und Wasserspeiern, Ihr verdammter Kerl!«, rief Torm in gespieltem Zorn. »Ich habe ein Brautbett bestellt und Euch gut dafür bezahlt! Aber Ihr habt mir nichts davon gesagt, dass ich meine eigene Braut mitbringen müsse! In Tiefwasser wird sich doch wohl für sechs Goldstücke eine Maid auftreiben lassen, welche für eine Nacht die Verlobte sein und einem das Bett wärmen will!« Rathan bedachte den ergrimmten Gastwirt über die Schulter seines Freundes mit einem beschwichtigenden Blick. Dann fügte er halblaut, aber für beide verständlich hinzu: »Tapfere Klinge meines Herzens, Ihr scheint da etwas zu vergessen: Wir befinden uns hier in Tiefwasser, und da mag Euer Ansinnen falsch aufgenom579
men werden.« Der Wirt, weit davon entfernt, sich davon beruhigen zu lassen, baute sich jetzt vor Rathan auf und grunzte: »Entweder Ihr bezahlt für Euer eigenes Bett, oder Ihr macht Euch mit dem Gedanken vertraut, für diesen feinen Herrn hier die Braut zu spielen.« Der so Angesprochene runzelte die Stirn, sah seinen Freund fragend an, und dieser entsetzte sich sogleich: »Nein! So etwas nicht! Niemals!« Der Wirt fuhr herum, um nach dem anderen zu sehen. Rathan hob derweil seine Kriegskeule auf Schulterhöhe und ließ sie auf den Hinterkopf des Gasthofbesitzers krachen. Der Mann brach wie ein Sack Kartoffeln zusammen, und Rathan stand mit einer Miene über ihm, als habe er mit dem allem überhaupt nichts zu tun. »Wenn wir ihn in den Stall tragen«, erklärte er Torm, »könnte ich mir Euer Bett nehmen, und Ihr bekämt dann seins und noch eine Braut dazu!« »Nein, nein, so geht das nicht«, widersprach der Freund. »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich habe seine Gattin gesehen. Die sollten wir gleich mit in den Stall legen, in die hinterste Ecke –« Er unterbrach sich, als Rathan ihm hektisch Zeichen gab, welche er nicht zu deuten vermochte, und fragte verständnislos: »Was gibt’s denn –« Weiter kam er nicht, denn eine Bratpfanne fällte ihn. Rathan zuckte mitfühlend zusammen. In dem winzigen Moment, bis der schwergewichtige Tymora-Priester seihen rundlichen Leib herumgewuchtet und schnau580
fend die Flucht angetreten hatte, sagte er sich, dass Wut doch selbst eine vierhundert Pfund schwere und mit Warzen überreich gesegnete Wirtsfrau irgendwie verschönern konnte ... Da er an das Kampfgewicht seiner Gegnerin nicht heranreichte, gelang es ihm recht mühelos, sich aus der Reichweite ihrer Bratpfanne zu halten und langsam zurückzuziehen. Den ganzen Weg bis zur Pferdetränke, wo er dann leider unglücklich ausrutschte ... HA! HA! HA! DIESE BEIDEN TROTTEL SIND JA EINFACH ZU KOMISCH! ICH WILL MEHR VON IHNEN! LOS, HABT IHR NOCH ETWAS VON IHNEN FÜR MICH? Ja, Herr, aber woanders, bei meinen Erinnerungen an Schattental. Nur ein kleines Momentchen Geduld ... NEIN. Habe ich da richtig gehört? DIE BELUSTIGUNG KANN NOCH WARTEN! ICH LASSE MICH DOCH NICHT VON EUCH DURCH JEDE HINTERGASSE EURES GEDÄCHTNISSES HERUMFÜHREN! FAST WÄRE ES EUCH GELUNGEN, MICH HEREINZULEGEN, ZAUBERLEIN, ABER EBEN NUR FAST! JETZT SCHWEIGT STILLE! ICH MACHE MICH NÄMLICH ALLEIN AUF DIE SUCHE! (wölken von flatternden bildern leuchten auf vergehen daraus wird eine bestimmte abbildung herausgesucht und hervorgehoben) Der König von Kormyr stand am Schlachtfeld und schüttelte mit geschürzten Lippen und grimmiger Mie581
ne langsam den Kopf. »Mein zukünftiger Weg liegt nun klar und deutlich vor mir«, erklärte er dem Mann an seiner Seite. »Eine gerade und schmale Straße, welche ohne Umwege ins offene Grab führt.« Der Königliche Magier von Kormyr hüstelte vornehm und bemerkte verhalten: »Mein König, der Pfad, welchen Ihr vor Euch abgezeichnet zu sehen glaubt, ist der, welcher jedes Lebewesen erwartet. Königen bleibt es lediglich vorbehalten, diese Straße etwas länger nicht wahrnehmen zu wollen als wir Übrigen. Das hat vermutlich etwas mit den vielfältigeren Ablenkungen zu tun, welche einer Majestät zur Verfügung stehen.« »Aha«, entgegnete Ahoun, »verstehe. Nun, ich sehe einfallende Armeen, Drachen, welche die Dächer von Burgen abreißen, und Todesbanne, welche aus dem Himmel regnen. Meint Ihr das mit ›vielfältigeren Ablenkungen‹?« Vangerdahast nickte. »Das und die Gemälde auf so manchem Himmelbett.« Der Magier tat so, als würde er das seinen Fingernägeln erklären. Wenn der Blick Seiner Majestät nur ein klein wenig durchbohrender gewesen wäre, wäre Vangerdahast jetzt auf der Stelle tot umgefallen. Aber dann sagte sich der Magier, dass Elminster das gewiss nicht gutgeheißen und erklärt hätte, Vangerdahast habe sich für den Ausweg des Feiglings entschieden. AHA! DEN
HABT IHR ALSO AUCH AUSGEBILDET!
DA
FRAGE ICH
MICH DOCH, BEI WEM IHR SELBST IN DIE LEHRE GEGANGEN SEID
582
–
ABGESEHEN VON DER GÖTTIN NATÜRLICH, WELCHE EUCH SO VERHÄTSCHELT. ES WÄRE GANZ REIZEND VON EUCH, WENN IHR EINIGE VON DIESEN ERINNERUNGEN MIT MIR TEILTET.
Wenn Ihr darauf besteht, will ich mal sehen, was sich einrichten lässt – OH NEIN! IHR VERSUCHT ES WOHL IMMER WIEDER, MENSCHLEIN! BLEIBT SCHÖN DA, WO IHR EUCH GERADE BEFINDET, UND ICH SUCHE SELBST! DAS SCHONT MEINE NERVEN UND ERSPART EUCH EINE MENGE SCHMERZEN! HABT IHR VERSTANDEN? Euer Wunsch ist mir Befehl, Herr Teufel. (teuflische Zufriedenheit bilder die ungeordnet auftauchen dann in langer reihe vorüberziehen) »Das Leben ist doch wie eine sich windende Made, nicht wahr?«, bemerkte der Erzmagier. (teuflische Verwirrung) WIE? SOLL DAS SCHON ALLES GEWESEN SEIN? WER HAT DENN DA GESPROCHEN? ELMINSTER? Aber nein, Fürst Nergal, das war nur ein weiterer dieser eingebildeten alten Zauberer, aber keinesfalls ich. DAS WEISS ICH SELBST, EINFALTSPINSEL! ICH MEINTE NICHT, OB IHR DAS GEWESEN SEID, SONDERN HABE EUCH LEDIGLICH BEIM NAMEN GENANNT, UM MEINER BITTE UM ANTWORT MEHR NACHDRUCK ZU VERLEIHEN! Ach so. Na ja, ich habe nur stillschweigend dagesessen und Euch in aller Ruhe selbst suchen lassen. (wütendes knurren) EUCH WERDE ICH DEN SPASS NOCH AUSTREIBEN, IHR LUFTIKUS! 583
Ach, das habt Ihr doch schon mehrfach getan und wart nie mit dem Ergebnis einverstanden. Wenn Ihr immer nur leere Drohungen ausstoßt und nie etwas wirklich bis zu Ende bringt, wie wollt Ihr da jemals die Hölle beherrschen? VORSICHT, ELMINSTER! WENN IHR MICH VERSPOTTEN WOLLT, VERBRINGT IHR EINE EWIGKEIT VOLLER ENDLOSER FOLTER! In gewisser Weise tue ich das doch längst, Herr Teufel. Denkt doch lieber nach, bevor Ihr solche Drohungen ausstoßt. Mit Prahlereien macht Ihr mir keine Angst. (knurren gedankenpeitsche platzende gedankenblitze grässliche schreie todesqualen teuflische befriedigung bilder die vorüberwirbeln wie glimmende kohlen welche von einem tosenden feuer auffliegen) »Heilige .... tanzende ... Kobolde«, sprach Asper langsam und mit unsicherer Stimme. UND WAS WAR DAS? TANZENDE KOBOLDE? ACH, SPIELT JA AUCH KEINE ROLLE! DAS HABT IHR NICHT UMSONST GETAN! DAFÜR WERDET IHR MIR NOCH BEZAHLEN! DAS SCHWÖRE ICH EUCH BEI ALLEM – OH! DA GEHT’S JA SCHON WEITER! Hörner von Mannsgröße fuhren in den blutroten Himmel hinauf. Die leicht gebogenen, tückisch aussehenden Spitzen waren einander zugeneigt, und jeden Sporn hatte man mit Reihen von verkohlten SpinagonSchädeln behangen. 584
Der Kopf unter diesem Hörnerwald erinnerte an einen Riesenziegenbock, und die glänzenden schwarzen Augen verrieten wache Intelligenz. Zu seinem Unglück zeigten sich in Harhorings Gesicht aber auch die Furchen des Schmerzes, welche ihm der Fluch des Asmodeus zugefügt hatte. Nun kam es in der Hölle nicht unbedingt selten vor, dass man sich die Ungnade des Allertiefsten einhandelte, aber nur wenige trugen dieses Mal mit seiner endlosen Folter. Dieser Gehörnte war aber der einzige unter den Gepeinigten, welcher sich überall hinbewegen konnte und so den Anschein von grenzenloser Freiheit erweckte. Doch in Wahrheit gründete sich diese Freiheit auf Pein, auf den Schmerz, mit welchem Asmodeus unablässig an sich erinnerte. Würmer, die Harhoring nicht zerquetschen konnte, weil sie aus seinen eigenen Eingeweiden erwachsen waren, fraßen unaufhörlich an ihm und bohrten in seinem ständig wachsenden Bauch Graben um Graben. Blut und Eiter tropften, rannten oder flossen aus den Wunden, welche die Würmer hinterließen. Harhorings Klauen und Flüche fuhren wie Rauch durch die Nager. Nur botmäßige andere Teufel und gefangene Untiere vermochten, die Würmer zu vernichten und so den Zerfallsprozess etwas aufzuhalten, welcher Harhoring jeden Tag mehr schwächte. Wenn er also am Leben bleiben wollte, blieb nichts anderes übrig als fortgesetztes unmäßiges Essen und die verzweifelte Suche nach immer neuer Zauberei. 585
Dabei wusste er genau, dass Asmodeus ihn beobachtete und sich an seinem Anblick ergötzte, und aus diesem Grunde zeigte sich Harhoring nur selten anders als in gereizter Stimmung. Der Ziegenbockteufel befand sich gerade wieder in einer solch düsteren Laune. Er hockte oben auf einer Felsnadel, an deren Wänden seine verschiedenen Körperflüssigkeiten klebrig hinabrannen, und zerriss hungrig einen Drachen. Den hatte er mittels eines Zaubertricks dazu verleitet, mit höchster Geschwindigkeit gegen eine Bergwand zu fliegen. Dreimal hatte er seitdem Schwefelherren abwehren müssen, welche das Herz oder das Gehirn des Untiers beanspruchten. Und seitdem war Harhoring es auch müde, Spinagons und Abischai von Fleischbröckchen oder Schuppen zu verjagen, welche bei seinem gierigen Schlingen durch die Gegend geflogen waren. Zum ersten Mal seit etlichen Tagen konnte er wieder ein solches Festmahl zu sich nehmen. Die nächste größere Störung würde daher nicht mehr lange auf sich warten lassen. Der Drache war sperrig und unhandlich. Wenn Harhoring ihn also verspeisen wollte, musste er an Ort und Stelle bleiben. Und das bedeutete, dass seine Feinde ihn mit Leichtigkeit aufspüren konnten. Der Ziegenbockteufel hatte zu diesem Zweck ein paar magische Fallen aufgestellt, und beim Essen schaute er sich ständig wachsam um. In der Hölle überlebte man Fehler nur selten. Aha! Da kam schon etwas herangesaust ... 586
Rauschte einfach heran, ohne zu schleichen oder sich zu tarnen. Sauste einfach wie ein dunkler und schweigender Pfeil aus Teufelsfleisch durch Awernus. Der Höllenfürst mit der Dornenkrone besaß scharfe Augen, und die setzte er jetzt auch ein. Er erkannte den Angreifer nicht, was nur Folgendes bedeuten konnte: Entweder handelte es sich um einen neuen Feind, oder um eine alten, welcher sich eine neue Verkleidung hatte einfallen lassen. Auf den ersten Blick sah der Gegner wie ein Schwefelfürst aus, aber er flog, ohne die Flügel zu benutzen ... hatte die sogar angezogen, was den Eindruck eines heranfliegenden Pfeils nur noch verstärkte. Und noch etwas Eigenartiges fiel an diesem Fremden auf. Anscheinend besaß er unzählige Beinchen, welche sich unaufhörlich bewegten, so dass die Luft rings um den Teufel sich in ständiger wirbelnder Strömung befand. Harhoring schenkte dem Anstürmenden eines seiner breitesten Lächeln. Zur Feier des Tages zeigten sich noch allerlei Drachenreste zwischen den Zähnen. Dann sandte er ihm seinen ersten Zauber entgegen. Verwobene Säurekrallen durchfurchten die Luft, und als der Feind mit diesem Gitter in Berührung kam, zischte und kochte es. Ein paar Rüstungsteile bekamen offenbar die Hauptmasse davon ab. Sie lösten sich vom Ganzen und taumelten nach unten, während die Säure sich immer tiefer durch sie fraß. Jetzt erkannte der Ziegenbockteufel auch, dass es sich bei dem Gegner um eine Frau zu handeln schien, 587
genauer gesagt um eine Menschenfrau, welche außer ihrem langen Haar keinerlei Bekleidung trug. Ihr Haar war wirklich außerordentlich lang und anscheinend so mit eigenem Leben erfüllt wie die Tentakel eines Jagdtintenfisches. In den Locken befanden sich offenbar Zauberstäbe, Ringe und andere magische Gegenstände. Die Locken schienen sogar in der Lage zu sein, diese zu bewegen! Und auf den Gehörnten zu richten! Harhorings zweiter Bann traf die Angreiferin. Dieser erschuf Sterne voller langer Stacheln, welche in alle Richtungen abstanden. Nach dem Aufprall explodierten sie und verschickten ihre Dornen wie ein Sprenggeschoss. Die fast Nackte blutete gleich aus zahllosen Wunden, sah aus wie gespickt, wand sich und stürzte doch aus dem Himmel. Bei allen Pechfeuern, sie würde genau in die noch dampfenden Eingeweide des Drachen fallen! Wenn sie nun den Absturz überlebte und sich zur Wehr setzte? Was würde dann von seinem Festmahl übrig bleiben? Mit einiger Besorgnis und gleichzeitig gehöriger Vorfreude erschuf er mittels seiner Zauberkräfte einen Bluthaken, warf den aus und zog hart daran. Der Haken würde sich in die Frau bohren, ihr zu den bereits zahllosen schweren Wunden eine weitere hinzufügen, und sie vor Harhorings Füße ziehen. Und so geschah es. Der Haken bohrte sich in das weiche Fleisch, und die Frau warf den Kopf in den Nacken. Sehnen dick wie Stricke traten an ihrem Hals vor, als sie todwund ihre Schmerzen in den blutroten Him588
mel schrie. Doch was war das? Statt sich weiter gegen den Haken zu wehren, sprang sie plötzlich auf den Ziegenbockteufel zu. Ja, sie stürmte richtiggehend gegen ihren Peiniger an, und ihre Miene wurde so grimmig wie die des Gehörnten. Magie blitzte auf und umwaberte die Zauberin, während sie immer schneller auf Harhoring zuraste. In deutlich größerer Besorgnis als vorhin zauberte der Ziegenbockteufel recht spät brennende Krallen, um damit seine rasiermesserscharfen Klauen zu verstärken. Die Flammenkrallen entstanden gerade erst, als die Hexe mit glühenden Fäusten voran in seine Brust fuhr. Der Gehörnte erlebte Schmerzen, wie er sie seit der Bestrafung durch Asmodeus nicht mehr hatte verspüren müssen. Er brüllte, und vor seinen Augen wurde alles rot. Der Herr der Knochen schrie, als seine Feindin durch ihn hindurchfuhr. Hilflos zuckend schob er sie fort, um sich von ihr zu befreien, und löste damit nur noch grässlichere Pein aus. Die Frau hatte mit ihrer Zauberkraft die Hände in glühende Gabeln mit einem Widerhaken verwandelt. Während die Spitzen tief in das Teufelsfleisch eindrangen, riss der Haken die Wunde immer weiter auf. Und dann trat eine der Spitzen am Rücken wieder hinaus. Zitternd und um sich schlagend überschüttete Harhoring die Feindin mit seinem Blut, und seine Augen vergossen Flammen, als er die Frau von sich fortschob. 589
Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm dann schließlich, die beiden Gabeln mit den Haken aus sich herauszureißen. Die Hexe jagte ihm daraufhin beide Widerhaken in die entblößten Eingeweide und ließ sich nach unten fallen. Er sprang brüllend auf, und das grub die Haken noch tiefer ein. Als sie tiefer fiel, riss sie den Ziegenbockteufel herum. Um sich schlagend stürzte der Gehörnte von der Felsnadel. Auf dem Weg nach unten quollen immer mehr von seinen Eingeweiden aus den Löchern in seinem Bauch. Die Würmer schaukelten aufgebracht aus ihren Bohröffnungen und starrten der verschwundenen Mahlzeit hinterher. Als der Gehörnte in all seiner Hilflosigkeit auf dem Felsboden aufkrachte, verfluchte er die Hand des Asmodeus, weil diese Ausgestoßenen verbot, einen Teufel zu sich zu rufen und zum Dienst zu zwingen. Bei allem Blut von Awernus, er könnte jetzt wirklich einen dienstbaren Teufel gebrauchen. Wieder wirbelte die Luft, und die Gabeln mit den Widerhaken verwandelten sich in Hände zurück. Die Frau wickelte sich die Innereien Harhorings um einen Unterarm und wob mit der freien Hand einen Zauber. Der Ziegenbockteufel lag hilflos auf den Felsen und versuchte, sich trotz der gebrochenen Knochen aufzurichten. Er musste jetzt ganz dringend einen Abwehrzauber wirken ... 590
HARHORING KEIN ERNST ZU GEGNER! HMM ... BEVOR ASMODEUS IHM DAS ANGETAN HAT, HIELT ICH IHN IMMER FÜR EINEN DER STÄRKSTEN UNTER UNS AUSGESTOSSENEN ... KOMMT, ZAUBERLEIN, HÖCHSTE ZEIT FÜR EUCH, EINE ANDERE ECKE VON AWERNUS KENNEN zu LERNEN! (gedankenwurm gibt ruhe zauber wird gewirkt dunkle magie steigt mit macht auf) SIEHT
GANZ SO AUS, ALS SEI
NEHMENDER
Blauweißes Feuer raste über die Eingeweide des Ziegenbockteufels. Erhielt von der unerbittlichen Hexe immer neue Nahrung. Richtete den hilflosen Gehörnten mehr und mehr zugrunde. »Wo steckt er, Teufel?«, fuhr die Simbul ihn an. Der Tod näherte sich erbarmungslos dem Gehörnten. »Was habt Ihr mit meinem Mann angefangen?«, schrie die Hexenkönigin. Wut und Verwirrung mischten sich im Blick Harhorings. Irgendwie gelang es ihm, einen Arm in ihre Richtung zu bewegen und einen letzten Zauber auszustoßen. Das, was der Gehörnte dann von sich gab, klang auch nicht wie eine Antwort auf ihre Frage – Doch dann erreichte ihn ihr Blutbann. Die Explosion riss den Ziegenbockteufel buchstäblich auseinander, angefangen von den mächtig breiten Schultern bis hinab zu den schmalen Füßen. Seine Körperflüssigkeiten bespritzten alle Felsen im Umkreis. Die Simbul stand da, von oben bis unten in schwarzen Höllennektar getaucht. Und jetzt regnete es auch noch Teufelsgulasch. 591
In dem Aufklatschen der Fleischstückchen war vom Seufzen der Hexe nichts zu verstehen. Die Spur war erloschen, und sie stand wieder ganz allein in der Hölle. Elminster hatte es erneut in eine andere Ecke von Awernus verschlagen. »Irgendwer scheint ein großes Interesse daran zu haben, dass jede Menge Teufel beseitigt werden«, sprach sie laut und überdrüssig. »Sicher gibt es dafür wirksamere Wege, als ihnen eine einzelne Zauberin entgegenzustellen. Selbst wenn es sich dabei um eine von meiner Güte handelt.« Die Simbul betrachtete ihre blutbedeckten Glieder. Ein paar vereinzelte Rüstungsteile schwebten immer noch darum. Die Hexe schüttelte den Kopf und fügte die Teile zu dunklen Schwingen zusammen. Die langsamere Art des Reisens würde genügen müssen, wenn ihr daran gelegen war, mit ihren dahinschwindenden Zaubermitteln auch die nächste Schlacht zu überstehen. »Hölle, erbebe noch mehr, ich komme!«, murmelte die Simbul und stieß sich in den blutroten Himmel ab. Schlitzartige Augen zogen sich noch mehr zusammen. »Habt Ihr das gesehen?«, fragte eine raue Stimme. »Klar«, antwortete der nächste Schwefelteufel. »Noch ein feindlicher Einfall, hinter dem mehr steckt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Unter normalen Umständen hätte es einer Men592
schenzauberin überhaupt nicht möglich sein können, jemanden wie Orochal zu besiegen. Ganz zu schweigen von Tasnya der Wollüstigen, und gar nicht erst zu reden von dem tödlichen Jäger Harhoring. Drei sind jetzt in den ewigen Flammen vergangen, von denen eigentlich keiner hätte gehen dürfen.« »Völlig richtig. Ruft unsere Truppen zusammen. Ganz Awernus soll brennen. Und heute Abend steckt diese Menschenhexe an meinem Bratspieß und winselt um ihr Leben!« »Ganz wie Ihr furchtbar befehlt«, entgegnete der Erste, verbeugte sich und flatterte schon hastig davon. Seinen Bewegungen haftete Schnelligkeit, aber wenig Anmut an. Doch erfreut sich sportliche Eleganz in der Hölle nur eines eher vernachlässigbaren Ansehens. Ein Feuerball stieg aus der Kohlenpfanne auf. Dazu ertönte ein Dröhnen so scharf und hart wie von einem Gong. Überall fuhren gehörnte Köpfe herum. »Habt Ihr das eben gesehen?«, fragte eine so mächtige Stimme, dass darunter der Boden bebte und die Zuhörer vor Angst schlotterten. »Ja, fürchterlicher Herr«, zischten sie alle mehr oder weniger im Chor und warteten angespannt und bang, was jetzt kommen würde. »Dann zu den Waffen«, forderte die Stimme jetzt nur. »Macht mir keine Schande.« 593
Noch zischendere und fauchendere Feuerbälle erhoben sich aus der Kohlenpfanne, und überall entstand Gelärme, als die Gehörnten aufsprangen, um sich auf den Weg zu machen und den Befehl zu befolgen. ICH
MUSS SCHON SAGEN,
EURE
KLEINE
HEXENKÖNIGIN
SORGT
HIER IN DER HÖLLE JA FÜR EIN GERÜTTELT MASS AN AUFREGUNG.
SOGAR DIE TIEFSTEN UND MÄCHTIGSTEN WERDEN LANGSAM AUF SIE AUFMERKSAM! ÜBERALL ZIEHT MAN ARMEEN ZUSAMMEN! FURCHTBARE ZAUBER HOLT MAN AUS DEN VERSTECKEN ... ... UND DAS ALLES STIMMT NERGAL FRÖHLICH! Mit anderen Worten, menschliche Schoßhündchen werden wieder gebraucht ... WAS HABE ICH DOCH FÜR EINEN GESCHEITEN SKLAVEN! LANGWEILIG WIRD MIR NIE, VERWÖHNT MICH DOCH ZUVERLÄSSIG ELMINSTER MIT SEINEN GEISTREICHEN BEMERKUNGEN, SEINEN FALSCHEN ANKÜNDIGUNGEN UND VERSPRECHUNGEN UND SEINEM IMMER WÄHRENDEN SPOTT FÜR DIE TROTTEL, MIT WELCHEN ER ES ZU TUN HAT!
ICH KÖNNTE EUCH IM ZEITRAUM EINES AUGENAUFSCHLAGS ZU BLUTIGEM MATSCH ZERQUETSCHEN, GESEGNETER KERL! Nicht zum ersten Mal vernehme ich solche Drohung, und doch wird sie nie in die Tat umgesetzt. Könnt Ihr mir vielleicht den Grund dafür nennen? WEIL KEIN ANDERER TEUFEL IN DER GANZEN HÖLLE EINEN MENSCHEN IN SEINER GEWALT HAT, WELCHER SO NEBENBEI EINER GÖTTIN DIENT UND AUCH NOCH EINE SPUR IHRER MACHT IN SICH TRÄGT! ANDERE TEUFEL MÜSSEN SICH DAMIT ABMÜHEN, AUSSERHALB DER HÖLLE ZU UMSCHMEICHELN, ZU DROHEN ODER SITTLICHE 594
VORSTELLUNGEN ZU BEEINFLUSSEN, UM ES ZU ETWAS ZU BRINGEN! ABER ICH HABE EUCH, BESITZE EUCH MIT LEIB UND VERSTAND! OFFENSICHTLICH BESITZT IHR MACHT UND VERSTAND – UND AUS ALL DIESEN GRÜNDEN SEID IHR MIR SEHR NÜTZLICH! TROTZDEM GELINGT ES MIR EINFACH NICHT, ETWAS BRAUCHBARES AUS EUCH HERAUSZULOCKEN! DAS HEISST, NOCH IST MIR DAS NICHT GELUNGEN! Und was noch? ICH WARTE NICHT MEHR LANGE! ENTWEDER UNTERWERFT IHR EUCH, ODER IHR STERBT DEN GRÄSSLICHSTEN TOD, WELCHEN ICH MIR NUR AUSDENKEN KANN! DAS HEISST, NUR DANN, WENN MALACHLABRA EUCH NICHT VORHER IN DIE FLNGER BEKOMMT! (wortlose frage dazu eine hochgezogene augenbraue) JA, GANZ RECHT! SIE HAT UNSEREN KLEINEN ZWEIKAMPF UM EUCH ÜBERLEBT! SEITDEM ZIEHT SIE ES VOR, SICH VERSTECKT ZU HALTEN ... AUS FURCHT VOR DEM MÄCHTIGEN NERGAL NATÜRLICH! DA ERSCHEINT ES MIR DOCH SINNIG, MICH ZU IHR ZU BEGEBEN! ODER BESSER NOCH, IHR ZWEI KLEINE GESCHENKE ZU SENDEN, ERHALTEN DIE DOCH BEKANNTLICH DIE FREUNDSCHAFT! ICH SPRECHE NATÜRLICH VON EUCH UND EURER KLEINEN HERZENSDAME! (abgehacktes dann lautstarkes teuflisches lachen)
595
19 Aufruhr in der Hölle In dem Durcheinander aus stinkenden Tümpeln und zerklüfteten Felsen rings um den Blutsee wimmelte es von herumkrabbelnden Maden. In diesen Steinen wohnte aber noch etwas anderes, etwas Zerbrochenes und Formloses. Etwas Dunkles und Hilfloses, das vielleicht auf den Namen Elminster geantwortet hätte, wenn es noch einen Mund besessen hätte. Der Magier aus Schattental wagte es nicht, sich sofort selbst zu heilen. Nur ganz langsam konnte er dies vonstatten gehen lassen. Wenn Elminster ganz hilflos in den dunklen Schatten dalag, strömten gern die Maden herbei, um ihn hungrig auszusaugen und aufzufressen. Das finstere Wesen, welches sich in dem Blutsee tummelte, hatte von Elminsters Ankunft noch gar nichts mitbekommen. Aber es war ja auch viel zu beschäftigt damit, einen eigenen Zauber zu entwickeln. Dabei ging es um eine schwebende Kugel, welche hellen Schein und leises Klingeln aussandte. In ihrem Innern ließen sich dunkle Gestalten erkennen, welche verschwammen, zusammensackten und sich in Rauch auflösten. Die Teufelin, welche dieses Gebilde geschaffen hatte, 596
zischte jetzt verärgert. Mit gerunzelter Stirn sandte sie aus ihren gebogenen Klauen noch mehr Zauberenergie in die Schwebkugel. »Wirke für mich, arbeite für Malachlabra«, flüsterte die Teufelin begierig und spähte eifrig in das Innere. »Was soll das denn!«, regte sie sich wenig später wieder auf. »Ich habe dir befohlen, mir den Menschenzauberer zu zeigen! Und nicht das Innere meiner Höhle!« Ein Grollen hallte an Steinwänden entlang bis zum Blutsee. Wut flammte wie Feuer in den dunkelbraunen Augen der Teufelin auf, als sie den Kopf hob und in den Gang schaute, durch den sie ihr Versteck zu erreichen pflegte. Auf dem Boden lagen noch die Knochen des Drachen verstreut, welcher sich irrigerweise eingebildet hatte, dieses hübsche Plätzchen hier gehöre allein ihm. Das Geräusch verging und kehrte nicht wieder. Mit einem ärgerlichen Grunzen drehte sich die Tochter des Dispater in dem dampfenden Blut um, ließ sich auf dem Bauch treiben und schlug müßig mit ihren drei Schlangenschwänzen auf den dicken Saft, um kleine Wellen zu erzeugen. Wieder blickte sie aufmerksam in das Innere ihrer Schwebkugel. Schatten zeigten sich darin, und erneut bekam die Teufelin zerklüftete Felsen, dampfendes Blut und eine lange und obsidianschwarze Gestalt zu sehen, welche ganz entspannt in dem See trieb und in dieselbe Kugel schaute – 597
... welche jetzt Funken sprühend zerplatzte, wie das zauberische Gegenstände nun einmal zu tun pflegen, wenn sie ihrer selbst ansichtig werden. Malachlabra, die Herzogin der Hölle und Tochter des Dispater, bedachte diesen Vorfall mit einem abschätzigen Knurren. »Sind meine Zauber etwa zu schwach? Oder gibt es hier jemanden oder etwas, das meine Magie verdreht? Die Kugel des Sehens hat mich doch vorher nicht im Stich gelassen.« Ihre Fledermausflügel flatterten, als sie sich rastlos in dem Becken drehte. Schlankes obsidianschwarzes Fleisch tauchte aus dem Blutrot auf. Die dicke, sämige Flüssigkeit tropfte träge von den hohen, festen Brüsten und rann hinab zu den runden Stellen, wo die Schlangenschwänze aus dem breiten Becken wuchsen. Malachlabra besaß den Körper einer äußerst kurvenreichen Menschenfrau – auch wenn man unter den Menschen den äußerst beweglichen und biegsamen Schlangenhals vielleicht als etwas zu lang empfunden hätte. Und die Hörner, welche ihr aus den Schläfen wuchsen, hätten auch den gutgläubigsten Menschen ins Zweifeln gebracht, ob er es hier wirklich mit einer Menschenfrau zu tun hatte. Gar nicht erst zu reden von der gespaltenen Zunge, welche jetzt langsam über die Lippen leckte und einige Male vorschnellte – wie sie es immer tat, wenn ihre Besitzerin darüber nachsann, wie sie zu Nergal zurückgelangen könnte. 598
Nergal der Brutale und der Dumme. Der sich stets zu viel auf seine Macht und seinen Verstand einbildete. Nergal der Spion, der immer ein offenes Auge für das Treiben der anderen hatte – um im entscheidenden Moment eine Schwäche auszunutzen oder jemanden sonst wie dazu zu bringen, seinen Wünschen zu Willen zu sein. Und schließlich Nergal der Größenwahnsinnige, der sich einbildete, doch eigentlich der rechtmäßige Nachfolger von niemand Geringerem als dem gefürchteten Asmodeus selbst zu sein! Wartet nur, dachte die Teufelin, wenn ich Euch in die Finger bekomme ... Mit einem Mal kam etwas aus dem Gang herangeflitzt und löste sich ohne Vorwarnung in ein Dutzend blau strahlender Pfeile auf. Die Energiepfeile rasten aus nächster Nähe heran. Der Schlangenteufelin blieb keine Zeit mehr, sich nach demjenigen umzuschauen, welcher sie da unter Beschuss nahm. Denn schon trafen die Magiebolzen auf, durchströmten Malachlabra mit unangenehmer Kälte und schnitten peinvoll in sie ein. Jetzt kamen von hinten auch noch Steine und Brocken, welche ein Zauber auf sie schleuderte. Unter dieser doppelten Wucht ging die Teufelin im See unter, und die dicke Flüssigkeit nahm ihr jede Sicht. In ihrer Verzweiflung fiel ihr nicht mehr ein, als mit den drei Schwänzen um sich zu schlagen. Hierhin und dorthin teilte sie aus und traf doch nur leere Luft. Bei den Feuern von Nessus, die Schmerzen und die 599
Demütigung wurden ihr unerträglich. Wutschnaubend tauchte sie wieder auf und reckte die Krallen, um jeden zu zerreißen, welcher sich ihr draußen entgegenstellte, und sei es – Eine Menschenmagierin? Die Frau stand dort mit simplen, angelegten Fledermausflügeln, welche wie selbst gebastelt aussahen, zwischen den Blut bespritzten Felsen. Ihre Finger bewegten sich bereits in kniffligen Gesten, und sie schrie mit blitzenden Augen: »Ich kann seine Nähe doch fühlen! Was habt Ihr mit ihm angestellt, Ihr Teufelin?« Die Magierin wartete die Antwort gar nicht erst ab. Der Bann, welchen sie gerade gewirkt hatte, sandte eine neue Salve Energiebolzen gegen Malachlabra. Die Teufelin kreischte, als das blauweiße Feuer sie umraste, wand sich und verbog sich zu den unmöglichsten Stellungen. In ihrer Verzweiflung arbeitete sie an einem Fluchtzauber und konnte sich doch nur schlecht und kaum dauerhaft darauf besinnen. Als sie den Bann endlich wirkte, schluchzte sie aus vollem Halse und wusste nicht, wie sie die Schmerzen noch länger ertragen sollte. Aber wenigstens war sie der Magierin entkommen – Und befand sich einen Moment später wieder auf der qualmenden Oberfläche von Awernus, nicht weit von ihrer Höhle, von der sie gerade eben geflohen war ... Zitternd riss Malachlabra sich zusammen, schob Hass, Wut und Schmerzen beiseite und versuchte, sich auf die Frage zu besinnen, wie sie eine solche unglaub600
liche Gegnerin besiegen könnte. Wie hatte es überhaupt einem Menschen gelingen können, zu ihr vorzudringen? Nach der dritten Salve der Energiepfeile lag die Schlangenteufelin mit dem Gesicht auf den Felsen, sah nur noch einen roten Schleier vor sich und klammerte sich verzweifelt an die Reste ihres Bewusstseins. »Wir beide sind noch nicht fertig miteinander, Teufelin!«, hörte sie die Menschenfrau wütend schnarren. »Ich weiß nicht, was mit Euch ist, aber ich habe noch das eine oder andere vorzubringen.« Die Klinge, welche sich nun durch Malachlabras Hinterkopf bohrte, fühlte sich kalt und hart an. Bevor das Schlangenwesen schreien konnte, drang die Spitze auch schon aus ihrer Nase hinaus. Der Stahl zwang ihren Unterkiefer nach unten, traf den Stein und schlug einen Funken heraus. Die Teufelin nahm all ihre Willensreste zusammen, verpflanzte ihr Bewusstsein in diesen Feuerfunken und ließ sich von ihm davontragen. »Sterbt, Teufelin!«, schrie Alassra Silberhand. Das Zauberschwert zerschmolz ihr in den Händen und hinterließ nur Schmerzen. Die Simbul sprang zurück, als vor ihr eine mächtige Flammensäule aufstieg und den ganzen Boden ringsum erbeben ließ. Unglaubliche Hitze zwang die Hexenkönigin dazu, immer weiter zurückzuweichen. Malachlabras Schlangenkörper zerfiel vor ihren Augen, schrumpfte immer mehr zusammen und war schließlich zur Gänze verschwunden. 601
Hinter Alassra stieg eine neue Flammensäule in den Himmel und ließ die Spitze eines ihrer Flügel zerschmelzen. Unwillkürlich ächzte die Hexe, als der Schmerz einsetzte. Hastig wirbelte sie herum und murmelte den Zauber, welcher ihre Schwingen vollständig verschwinden lassen würde. »Werft einen Blick nach oben, Menschlein, ehe Ihr sterbt!«, verlangte eine kalte Stimme. Zum ersten Mal entschloss sich die Hexenkönigin zu gehorchen. Ein Schwefelfürst von einer Größe, wie Alassra noch keinen gesehen hatte, schwebte über ihr am blutroten Himmel. Zwei weitere flogen an seiner Seite. Vom Horizont näherten sich ganze Schwadronen Erinnyen, und am Boden kam es überall zu Explosionen, als herbeibefohlene Kampfteufel aus dem Untergrund heraufstiegen. Sie marschierten mit grausamem Grinsen auf die Hexe zu. Einer dieser Teufel bewegte sich ruckartig und zuckend. Im Gehen wuchs er in die Höhe, und aus seinen Beinen entwickelten sich drei Schlangenschwänze. Der Oberkörper nahm die Formen einer Menschenfrau an. Eine neue Flammensäule fauchte ganz in der Nähe aus dem Boden und schüttelte die Hexenkönigin derbe durch. Am Rand der Senke, in welcher sie stand, erschien eine ganze Armee von glitzernden, unförmigen und stöhnenden Wesen mit Glotzaugen: Lemuren, der geistlose lebende Abfall der Hölle, welcher noch weniger 602
Wert besaß als die Maden. Entsetzen stand auf den Gesichtern dieser Wesen geschrieben, aber in ihren Augen fand sich nur Finsternis. Sie griffen mit missgebildeten Armen nach Alassra. Hinter diesen niederen Geschöpfen knallten Peitschen, und dann konnte man auch die Aufseher erkennen: Abischai, welche mit gierigen Blicken auf die nackte Menschenfrau inmitten der Flammen starrten. Während sich die Flügel der Simbul langsam in nichts auflösten, fiel sie auf die Knie, streckte die Arme aus und legte die Handgelenke übereinander – zum Zeichen, dass sie sich bedingungslos ergeben würde und bereit sei, in die Sklaverei zu gehen. »Na, das war doch gar nicht so schwer«, meinte der Schwefelfürst dazu. »Ihr bleibt jetzt hübsch in dieser Stellung, Menschenfrau, während ich Euch in Ketten lege.« Winzige Funken entstanden zwischen den Handgelenken der Hexenkönigin – genau dort, wo sich die Metallplättchen in ihrer Haut berührten. Nach ihrem Sieg über Tasnya hatte Alassra ihre Armschienen auf diese Weise umgewandelt und die letzte verbliebene Energie ihrer verbrannten Kleidung dort hineingelegt. Nun war der Moment gekommen, die dort enthaltenen Kräfte freizusetzen – zu einem der gewaltigsten Zauber, welchen sie je gewirkt hatte. Die Königin von Aglarond verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Ihre Magiekräfte waren schon reichlich aufgezehrt, und gleichzeitig stand sie einer 603
unübersehbaren Schar von Feinden gegenüber. Höchste Zeit, den Blutring einzusetzen. Sie zitterte und sah den Schwefelfürsten, welcher sich gerade siegesgewiss zu ihr herabsenkte, um Gnade heischend an. Er ließ die Stachelkette klirren, an welcher noch altes Blut von früheren Opfern klebte. Die Simbul richtete ihren Willen gegen entfernte Wesen, und ihre Zauberkräfte ergriffen von diesen Besitz. Im nächsten Moment tauchte etwas in der Luft vor dem Schwefelherrn auf: Etwas Rundes und Schwebendes, an welchem vor allem das breite Maul mit den vielen Zähnen auffiel. Nebst einem großen Auge, vor Wut weit aufgerissen, und darüber prangte ein kleiner Wald von Augenstielen. Der Riesenteufel hielt kurz inne und betrachtete den Knirps. Dann tat er ihn als bloße Sinnestäuschung ab. Allesseher verschlug es nur selten in die Hölle, und wenn doch, dann kamen sie nicht weit. Der Allesseher aber richtete seine Augenstiele auf den mächtigen Teufel, und dieser rief: »Allerliebst, Menschlein!« Und genau in diesem Moment traf ihn die Magie des Augentyrannen. Der Abstieg des Schwefelfürsten verlief etwas unregelmäßig. Dann blieb er mitten in der Luft stehen und konnte sich nicht mehr vom Blick der Augenstiele lösen. Er erstarrte, lief dunkelschwarz an, fiel wie ein Stein das restliche Stück hinab und zerschellte am Boden in zahllose Trümmerteile. 604
Aber damit hatte die Hexe erst einen ihrer unzählbaren Feinde ausgeschaltet. Schon schwärmten die Lemuren über die Ränder und rutschten die Senkenhänge hinab. Hamatula stapften zwischen die Feuer, und neue Schwefelherren zeigten sich am Himmel. Doch da tauchten auch einige Menschen auf, und zwar neben der Simbul. Zwei Magier schauten sich erschrocken um und erblickten die Legionen der Hölle. Sofort rissen sie Zauberstäbe aus ihren Gürteln. Die beiden schienen einander nicht zu bemerken und auch die Hexenkönigin nicht zu sehen, sondern nur die Scharen von Teufeln, welche überall heranschwärmten. Zwischen den beiden schloss Alassra die Augen und forderte den Allesseher auf, sich um die zwei Schwefelfürsten zu kümmern, welche mit dem ersten erschienen waren. Dann überlegte sie sich, wen sie noch zu Hilfe rufen könnte. Den Drachen? Jawohl, den Drachen! Jahrzehnte voller Wagen, Schweiß und mühseliger Kleinarbeit waren nötig gewesen, den Blutring zu erschaffen. Jedes Wesen, welches mit ihm verbunden war, musste dazu einen Tropfen Blut der Hexenkönigin in sich tragen. In einer Zyste, in Narbengewebe oder im Körperfett, ganz gleich, wo Alassra ihn im Verlauf einer blutigen Schlacht hineinbefördert hatte. Wenn die Königin diese Höllenschlacht überleben sollte, würde es sie vermutlich Jahrhunderte kosten, 605
den Blutring wieder aufzubauen. Natürlich war solches im Moment eine mehr als müßige Überlegung ... Erinnyen sausten in ganzen Trauben auf sie herab. Rabendrin vom Zhentarim von den Roten Zauberern jammerte bei diesem Anblick laut. In seiner Verzweiflung schrie er einen Bann hinaus, welcher eine der Flammensäulen in einen Säure-Geysir verwandelte. Fächerartig breitete sich die ganze ätzende Flüssigkeit am Himmel aus und regnete dann auf die kreischenden Angreifer herab. Rechts von der Simbul erblickte Kaladras Yarlamm zwar, was sich mit einem Mal am Firmament tat, konnte aber nicht erkennen, wer solches ausgelöst hatte. Aber die Idee gefiel ihm, und so ließ er von dem Blitz ab, welchen er gleich gegen einen der Teufelsfürsten schleudern wollte, und machte sich daran, eine Flammensäule in seiner Nähe in eine ähnliche Waffe zu verwandeln. Und das tat auch dringend Not, denn einige Hamatula befanden sich nur noch einige Schritte von ihm entfernt. Der Zauberbann eines Schwefelfürsten versetzte ihm einen harten Stoß. Er taumelte zurück und geriet zwischen die Arme eines Kampfteufels. Der riss ihm mit einem einzigen Hieb seiner Klauen die Kehle und das Gesicht vom Kopf. Einen Moment später zerplatzte der Schwefelfürst, welcher sich über die Augenstiele des Allessehers hermachen wollte, im Abwehrzauber desselben. 606
Doch der Augentyrann kam nicht mehr dazu zu triumphieren, denn schon verging auch er in einem Wirbel von spritzendem Blut, einstechenden Dolchen und schrillen Schreien. Der letzte Schwefelherr, welcher noch unter den Nachwirkungen des ersten Blitzes litt, welcher der Rote Zauberer ihm entgegengeschleudert hatte, wirbelte hilflos durch die Luft. Nachdem er sich mehrmals gedreht hatte, hatte er sich wieder gefangen und konnte nun sein ganzes hasserfülltes Augenmerk auf die Frau richten, welche da nackt mitten im allgemeinen Getümmel kniete. Diese Menschenmagierin war schuld an all dem Aufruhr in der Hölle, und man hatte ihnen befohlen, sie in Ketten abzuführen – wenn es sich nicht vermeiden ließ, auch in blutüberströmten Einzelteilen (Schwefelfürst Garauder bevorzugte eindeutig letztere Möglichkeit). So setzte der Teufelsfürst jetzt zu einem Sturzflug an, der ihn zur Gurgel der Hexenkönigin befördern sollte, wo er ihr den Garaus machen wollte. In seinem Eifer bemerkte er den Drachen nicht, welcher hinter ihm mitten aus der Luft auftauchte. Das Ungeheuer riss das Maul weit auf und ging sofort an die Verfolgung des Schwefelfürsten. Seine scharfen Zähne beförderten alle Pläne und Hoffnungen Garauders unter einem Meer von Blut ins Reich des Vergessens. Keuchend und furchtbar erschöpft steuerte Alassra den Drachen nun in die Reihen der Erinnyen und ließ ihn dort dreimal Tod und Vernichtung verteilen. Dann 607
landete das Ungeheuer und rollte über die Verwundeten und Gestürzten hinweg. Die Hamatula taumelten blind weiter voran, und die Lemuren schrien, wenn sie von dem Drachen zerstört wurden. Die Hexenkönigin von Aglarond erhielt einen Moment der Atempause und stellte erschrocken fest, wie wenig magische Energie ihr noch geblieben war. Sie war zu schwach, um sich hier noch länger behaupten zu können. Liebster, möge Mystra Euch verteidigen ... Alassra erhielt keine Antwort auf ihre Bitte, aber dann erreichte ein mattes Flackern ihr Bewusstsein, welches hinter einem großen und dunklen Geist hervorlugte. Die Hexenkönigin erkannte gleich den Verursacher dieses Flackerns. Tränen überkamen Alassra Silberhand und überwanden auch ihren stahlharten Willen. »Elminster!«, schrie sie durch Schluchzen und Weinen, »haltet nur noch ein Weilchen durch! Ich komme wieder!« Der Zauber, welcher sie aus Awernus hinauswirbeln sollte, setzte nun dank Mystras Hilfe ein. Normale Zaubermeister hätten es niemals vollbringen können, sich selbst aus der Hölle hinauszubefördern. Dazu bedurfte es schon der Hilfe eines Gottes. Mit den letzten Resten ihrer Zauberenergie riss die Simbul den Drachen und den verbliebenen Magier mit sich aus der Unterwelt. 608
Die beiden hatten es nicht verdient, in der Hölle zu Tode gequält zu werden. Elminsters Schicksal sollte ihnen erspart bleiben. HA! DAS IST JA MAL WIEDER EIN BEEINDRUCKENDER BEWEIS FÜR MENSCHLICHE TREUE GEWESEN! BLOSS WEIL EURE BETTGESPIELIN SICH GERADE NICHT DANACH FÜHLT, BRICHT SIE EURE BEFREIUNG AB UND LÄSST EUCH IM STICH! DIE KÖNIGIN DER HEXENSCHLAMPEN FLOH LIEBER ZURÜCK INS HELLE TAGESLICHT! DASS IHR KLEINER ELMINSTER NUN WEITER DEN PEINIGERN DER HÖLLE AUSGESETZT IST, SCHERT SIE EINEN FEUCHTEN KEHRICHT! EUCH KANN NUN NIEMAND MEHR HELFEN, ZAUBERLEIN! JEDER WEITERE WIDERSTAND IST SINNLOS, UND ÜBER KURZ ODER LANG WERDET IHR MIR ALLES ZEIGEN, WAS SICH NOCH IN EUREM GEDÄCHTNIS BEFINDET! UND DANN FLEHT IHR MICH AN, EUCH ENDLICH DIE ERLÖSUNG DES TODES ZU SCHENKEN. IHR WERDET UM GNADE WINSELN UND DENNOCH WISSEN, WIE VERGEBLICH ALL DIESES BETTELN IST, DENN FÜRST NERGAL WAR IMMER NUR EINES: EUER UNTERGANG! (wildes teuflisches lachen) DOCH BIS ES so WEIT IST, MENSCHLEIN, DÜRFT IHR MIR ETWAS VON EURER MAGIE ZEIGEN – ICH MÖCHTE MIR ABER ETWAS NÜTZLICHES AUSBITTEN! ANDERNFALLS WERDE ICH EUCH EIN GLIEDMASS AUSREISSEN UND ES VERSPEISEN, DAMIT EUCH DIE SCHMERZEN NOCH LANGE BEWAHRT BLEIBEN. ALSO, FRISCH ANS WERK! Gern, aber Ihr müsst Geduld aufbringen und sie Euch bis zu Ende anschauen, damit Ihr auch alles richtig verstehen könnt ... OH, ICH VERSTEHE NUR ZU GUT! WIEDER UND WIEDER HABT 609
IHR VERSUCHT, MICH HEREINZULEGEN UND ZU FOPPEN! STÄNDIG VERSPRECHT IHR MIR GROSSE ENTHÜLLUNGEN, WOLLT MIR ZEIGEN, wo ERINNERUNGEN AN MAGIE VERBORGEN LIEGEN, ODER KÜNDIGT AN, JETZT VORZUFÜHREN, WIE MAN DIESEN ODER JENEN ZAUBER WIRKT ... DOCH STATTDESSEN LANGWEILT IHR MICH MIT EUREN LIEBESABENTEUERN, MIT MORALPREDIGTEN ODER MIT ANDEREM HOHLEN MIST! GEBT MIR ENDLICH MAGIE – DANN SOLLT IHR LEBEN! BETRÜGT MICH NOCH EINMAL – UND STERBT AUF DER STELLE! DAS DÜRFTE DOCH NICHT ZU SCHWER ZU VERSTEHEN SEIN, ODER? Nein, überhaupt nicht. Dann wollen wir damit beginnen, wenn die Nacht über Tamaeril gekommen ist. IST MIR GANZ GLEICH! ENTSCHEIDET EUCH NUR FÜR DEN RICHTIGEN WEG, ZAUBERLEIN! EURE JÜNGSTE BEGEGNUNG MIT MYS-TRA WÄRE DOCH EIN VIEL VERSPRECHENDER ANFANG! DAVON ABGESEHEN DÜRFTE DIESE DARBIETUNG DIE LETZTE GELEGENHEIT FÜR EUCH SEIN, EUER LEBEN ZU VERLÄNGERN! (bilder drehen sich spiralförmig strahlen schon von unten entfalten oben angekommen ihre ganze glorie) Das kleine Muster blinkender Lichter bewegte sich zu seiner rechten Wange, um dort in der Luft zu schweben. »Ich muss gestehen, Elminster«, sprach die Göttin, »dass du mir mehr als nur ein flüchtiges Unbehagen bereitest.« »Das merkt man dir deutlich an«, entgegnete der Alte Zauberer, ohne in seinem magischen Flug innezuhal610
ten. »Ich kann dich nur bitten, Herrin, alles Zögern hintanzustellen. Sorge dich bitte nicht um meine Gefühle, sondern sprich frei von der Leber weg. Du kannst mich nicht verletzen.« Die Lichtlein kamen ihm noch etwas näher und blinzelten. »Also schön. Du bist der Geliebte derjenigen, welche vor mir diesen Namen trug und die damit verbundene Macht besaß. Meine Vorgängerin beabsichtigte, dass du mich anleiten und lehren solltest. Und genau das hast du ja auch getan, sogar vorbildlich. Denn die stolze und willensstarke, aber ungebildete Mitternacht ist nicht mehr.« Die Lichtlein befanden sich nun ganz dicht an seinem Kopf und strichen wie flüchtige Liebkosungen über seine Haut. »Dennoch verwirrst du mich immer noch, flößt mir Ehrfurcht ein ... und erschreckst mich. Ich fühle mich sogar ein wenig von dir zurückgestoßen ... Mir steht nicht der Sinn danach, mir einen Körper zu erschaffen und mich in solcher Form zu dir zu gesellen, wie meine Vorgängerin es oft genug getan hat. Gewiss, ich habe das schon versucht und dich geliebt, aber in all die Erregung und Freude mischt sich doch immer das Gefühl, von ihr genau beobachtet und beurteilt zu werden. Genau so ergeht es mir, wenn du mich ansiehst, Elminster. Dann fühle ich mich ebenfalls bewertet, denn in ihrem Dienst bist du alt und weise geworden, und von ihr stammt der Großteil deiner Erinnerungen. 611
Die alte Art erweckt Widerwillen in mir. Der magische Webstuhl dreht sich, und andere Magie gesellt sich dazu und macht sich in Toril breit. Ich bin eben nicht die alte Mystra, sondern ich ... Ich fühle mich gedemütigt von dem, was du alles für mich getan hast ... und für die, welche mir vorangegangen ist. Wenn du dich in Gefahr befindest, erwacht sie in mir. Dann geht mir das Herz über vor Liebe zu dir, und ich eile heran, dich zu retten und zu beschützen; denn dann bist du mir wertvoller als alle anderen. Versteh mich nicht falsch, Elminster, ich möchte, dass du immer mein bester und treuester Diener bist, nein, mehr noch, mein bester und treuester Freund. Aber ich erkenne auch, wie sehr der lange Dienst für Mystra dich im Lauf der Jahrhunderte verändert hat. Vertrauen zu dir zu fassen, fällt mir leider immer schwerer. Ich glaube daher, es wäre einfacher für mich, dir all die großen Geheimnisse zu nehmen und auch alle Erinnerungen an meine Macht. Niemand soll sie in späteren Zeiten von dir erlernen können ... und dann hätte ich auch nicht mehr das Gefühl, von dir oder den anderen so streng beurteilt zu werden. Versteh bitte, dass ich das einfach tun muss.« Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden, und sie hörten nur den Wind vorbeiwehen. Als Mystra wieder die Stimme erhob, klang sie so ängstlich wie eine Mutter, der wohl bewusst ist, dass sie ihr liebstes Kind mit dem verletzen wird, was sie jetzt zu sagen hat. 612
»Was löst es in dir aus, wenn du so etwas hören musst?« Elminster starrte in die Nacht und antwortete: »Ein wenig Trauer. Nein, eigentlich mehr Erleichterung. Ich bin dir nicht böse, und ganz gewiss will ich mich nicht dagegen wehren. Vor langer, langer Zeit habe ich geschworen, mit aller Kraft der Mystra zu dienen. Dabei hätte ich zu jenem Zeitpunkt König von Athalantar werden können ... Wenn ich diesen Schwur breche, bleibt nichts von mir übrig. Mir standen mehr Jahre zur Verfügung als jedem anderen Menschen, um zu sehen, zu hören, zu riechen und zu schmecken. Und gleichfalls hatte ich mehr Gelegenheiten zu bedauern und zu bereuen. Wenn du aus einer Notwendigkeit oder auch nur aus einer Laune heraus beschließt, mich vollkommen vom Angesicht der Welt zu tilgen, so will ich es zufrieden sein. Ebenso, wenn dich der Wunsch befällt, mich in einen Stein zu verwandeln und mich ein halbes Jahrtausend in diesem Zustand zu belassen. Wenn es dich also glücklich macht, mir alle wichtigen Erinnerungen zu nehmen, bereitet es mir Freude, dir mein Gedächtnis zu öffnen. Alles, was du wünschst, will ich erfüllen. Voller Eifer und voller Liebe.« Er lächelte sie lange an, ehe er hinzufügte: »Also tu mir dein Bestes an, meine Herrin, denn nie hast du mir etwas anderes angetan.« Nie zuvor hatte Elminster einen Schwarm von Licht613
lein weinen gehört. Aber so etwas wird einem Zauberer auch nur höchst selten beschert.
614
20 Gebete und Verschwörungen
Nergal der Mächtige fühlte sich nicht glücklich. Rastlos lief er in den Schatten unter seinem Lieblingsplatz auf und ab und fragte sich die ganze Zeit, welch üblen Streich ihm sein menschlicher Geistsklave diesmal spielen wollte. Die Göttin sollte ihm wirklich gesagt haben, sie wolle ihm alles nehmen, was möglicherweise für einen gierigen Teufelsfürsten von Bedeutung sein könnte? Wozu sollte das denn nützlich sein? Auf der anderen Seite, warum machten sich Teufel die Mühe, runzlige alte Edeldamen in der Stadt Tiefwasser in Versuchung zu führen? Wie viel brauchbare Magie hatte ihm die Gefangennahme Elminsters bislang eingebracht? Er hielt sich mittlerweile wieder in einer ganz anderen Ecke von Awernus auf. In der Höhle war es dem Teufel doch zu brenzlig geworden. Eine ganze Armee trieb sich dort herum. Wie leicht hätte er von einem der Teufelsoldaten entdeckt werden können. Oder gar von Malachlabra, die um Haaresbreite ihrem Ende entkommen war? Elminster hatte der Teufelsfürst wieder freigegeben. Der stolperte jetzt irgendwo herum, im Moment einen 615
steilen und felsigen Hang hinab, was immer ihn auch dazu trieb. Nergal behielt ihn die ganze Zeit über unter strenger Beobachtung und wusste daher, dass der Alte Magier sich wieder selbst heilte. Elminsters Hilflosigkeit und Schwäche waren nur gespielt. Irgendwie verstand er es nämlich sehr gut, an das Silberfeuer in sich zu gelangen. Nergal hatte noch nicht herausfinden können, wie ihm das möglich sein sollte ... Zwei Abischai sprangen von einem Höhenzug, fingen einen Spinagon im Flug und zerrissen ihn zwischen sich. Gähnend wandte sich der Ausgestoßene der Hölle davon ab und marschierte wieder unter dem Felsüberhang auf und ab. Dieser schreckliche kleine Zaubermeister zwang Nergal wieder zu einem Geistzweikampf. Schon wieder lockte er seinen Peiniger mit nützlicher Magie‹. Bei meiner linken Arschbacke! Diesmal wollte Nergal der Spur in den Erinnerungen bis zu ihrem Ende folgen. Hartnäckig wie ein Höllenhund. Das würde eine unangenehme Überraschung für den alten Zausel werden. Vielleicht würde der in diesem Moment seine innere Abwehr vernachlässigen, und dann könnte Nergal endlich zu dem vorstoßen, wonach es ihn so sehr verlangte. Anders ließe sich das wohl auch kaum bewerkstelligen. Nergals Versuche, Elminsters Geist ohne dessen Führung zu durchstöbern, waren samt und sonders 616
kläglich gescheitert. Kein Wunder! Im Geist eines Menschen herrschte auch Unklarheit wie in einer Sickergrube! Die Sterne blinkten weich und endlos an der Decke über ihr. Das war natürlich auch seine Schöpfung. Ein weiterer Bann, nach dem sie ihn hatte fragen wollen, und was sie doch immer wieder vergaß. Noch ein Zauber und eine Erinnerung, welche im Falle seines Untergangs auf ewig verloren sein würden. Die Simbul lag allein in der obersten Kammer im Turm seiner Burg in Schattental und starrte unglücklich hinauf auf die Sterne, bis das ganze Geblinke unter den Tränen der Hexenkönigin zu einer milchigen Fläche verschmolz. »Mystra, bitte erhalte ihn«, flüsterte Alassra in die Dunkelheit. »Bewahre ihn, o Göttin, wenn du nur das Geringste für mich übrig hast ...« Irgendwie war sie auf den Knien vom Tisch bis hierher gekrochen, hatte die kalten Steinplatten gar nicht gespürt und die Felle, die hier als Teppiche dienten, an die Wand geschoben. Zwei alte und dicke Kerzenstummel klebten hier in ihrem eigenen geschmolzenen Wachs auf dem Boden ... Beleg für ein früheres Gebet an die Göttin. Elminster musste sich dort einmal nackt und auf Knien an Mystra gewandt haben. Ganz so, wie die Hexenkönigin sich jetzt wieder an 617
die Göttin wandte. Schluchzend zündete Alassra Silberhand die Stummel wieder an. Mit ihrer Zauberkraft. Als die Flammen einen Moment später züngelten, hielt die Hexenkönigin den Kopf darüber, so dass die Tränen aus dem linken Auge in die linke Flamme und die aus dem rechten Auge in die rechte Flamme fielen. Dazu betete sie inbrünstig: »Mutter Mystra, Herrin über alle, welche Magie bewirken, hör mein Gebet, denn ich will dich um etwas bitten. Alles, was du von mir verlangst, will ich erfüllen. Wirklich alles, und ich unterwerfe mich dir mit meinem Leben, meiner Magie, meinem Königreich, meiner Gesundheit, meiner Schönheit, meinem Witz. Das alles sollst du haben und noch viel mehr, wenn du mir nur genug Zauberkraft verleihst, um Elminster diesmal zu retten. Mystra, ich flehe dich an, gewähr mir diese Bitte!« Im nächsten Moment gingen die Kerzen völlig geräuschlos aus, ohne dass ein Zugwind zu spüren gewesen wäre. Nicht einmal Rauch stieg von den Dochten auf. Der Simbul dagegen standen die Haare zu Berge, als neue Energie in ihr erwachte und sie durchströmte. In der Dunkelheit wirkte das blaue Licht noch eindringlicher, und das kam in Form einer Flamme aus Alassras Mund. Sie steckte jetzt so voller Zaubermacht, dass ihr Atem Feuer gefangen hatte! Kriegerin der Sieben, sprach die Göttin, und ihre Stimme ertönte von überall her gleichzeitig, ich bin hier, 618
habe mich nach deinem Ruf sofort auf den Weg gemacht. Nun vernehme, was du jetzt anfangen sollst ... Vorn bewegte sich etwas zwischen den Felsen und den verkrüppelten Bäumen. Deren Äste waren wieder und wieder von vorbeiziehenden Teufeln gebrochen worden, sei es aus Langeweile oder aus Übermut. Seitdem wuchsen den Bäumen von oben bis unten Dornen. Elminster war wieder vollständig hergestellt. Aber er schlurfte dennoch vornübergebeugt weiter, als litte er an Schmerzen und Entkräftung. Und wenn ein Teufel vorüberflog, sackte der Meistermagier in völliger Leblosigkeit zusammen. Der Mann aus Schattental wusste nur, dass er sich noch in Awernus aufhielt, aber nicht genau wo. Seiner Vermutung nach befand er sich jedoch ziemlich weit von allen ihm bekannten Höllentoren entfernt. Bei diesen Portalen handelte es sich in der Regel um schwer bewachte Festungen. Zwei davon erhoben sich in der Ödnis von Awernus. Die eine hinter einem Blutfall – einem Wasserfall aus Blut – irgendwo draußen an der Arkan-Spalte, und die andere oben auf der TabiraFelsnadel. Einer alten Sage nach hatte man an Letzterer einmal eine ungehorsame Erinnye aufgespießt. Noch im Sterben hatte sie um Gnade gefleht. Ihre Gebeine hingen heute noch an den bloßen Klippen. 619
Wenn man durch das Tor nach draußen wollte, musste man diese Knochen berühren und dabei die rechten Worte sprechen. Wenigstens erinnerte sich Elminster noch an diese Worte. Nun blieb ihm, der aller Zaubermacht und magischen Kniffe verlustig gegangen war, nichts anderes übrig, als den Blutfall oder die Felsspitze zu finden und sich dort nicht von den Wächtern festnehmen zu lassen. Und natürlich dafür Sorge zu tragen, unterwegs nicht irgendeinem Teufel in die Hände zu fallen. Vor ihm bewegte sich immer noch etwas zwischen den Felsen. Auf den ersten Blick hätte man das für eine Frau halten können. Aber Frauen pflegten nicht vier Meter groß zu werden. Eine so rote Haut hatte auch keine, und ebenso wuchsen ihnen nicht Pferdeköpfe aus der Brust. Diese Schädel fletschten die Zähne und schnappten nach Elminster, als die Riesenfrau hinter den Klippen vortrat und ihm den Weg versperrte. Sie bewegte sich auf wohlgeformten Beinen, welche in gespaltenen Hufen endeten. An ihrem Hinterteil hing ein gebogener Schwanz mit gefährlichen Stacheln. Die Fledermausflügel hatte sie hinter dem Kopf zu einem Sonnensegel aufgerichtet, und ihr Gesicht wirkte durchaus menschenähnlich, wären da nicht die Reißzähne und die pupillenlosen weißen Augen gewesen. Die Höllenstute sprach mit dunkler, rauchiger Stimme, und sie hob warnend die Arme, aus denen ganze Reihen von tückischen Haken wuchsen. 620
»Wer oder was seid Ihr?« »Genau das, wonach ich aussehe«, antwortete der Zaubermeister, »nämlich ein Mensch.« Die Teufelin betrachtete ihn mit noch größerem Interesse und leckte sich viel sagend mit einer Sägezunge über die Reißzähne. »Nein, nein«, wehrte Elminster ab und sammelte das ihm verbliebene Silberfeuer. Gut möglich, dass er es gleich benötigen würde »Dazu würde ich Euch nicht raten. Ich gehöre nämlich Nergal, und jeder Angriff auf meine Person wird ihn sofort auf den Plan rufen. Die paar Mund voll rohen, geschmacklosen Menschenfleischs dürfte das doch nicht wert sein, oder?« Die Stute zischte vernehmlich, als sie den Namen des verstoßenen Höllenfürsten hörte, und zog sich hinter die Felsen zurück. Elminster machte sich wieder auf den Weg. Kaum war er an den Felsen vorbei, fragte die Teufelin: »Besitzt Ihr denn keine Magie?« Der Zauberer aus Schattental drehte sich langsam zu der Teufelin um, breitete hilflos die Arme aus und fragte zurück: »Nein. Sehe ich denn für Euch so aus?« »Ich habe Hunger«, entgegnete die Stute. »Nergal wird schon über Euren Verlust hinwegkommen.« Und damit sprang die Teufelin ihn an. Elminster ließ sich auf alle viere fallen, spannte die Muskeln an und sprang der Stute wie ein Frosch aus dem Weg. Die Stute landete mitten in einer Gruppe Klippen und kam schliddernd und fluchend zum Stehen. 621
Der alte Zaubermeister sah sich um. Der Hang bot nur wenig Deckungsmöglichkeiten. Eigentlich gar keine bis auf die Klippen und verkrüppelten Dornenbäume, zwischen denen die Stute gesteckt hatte. Er hüpfte und lief darauf zu. Bald hörte er hinter sich Flügel rauschen, ließ sich wieder fallen und kroch dann behände hinter einen spitzen Felsen. Die Teufelin verfehlte ihn wieder. Ihre Hände griffen ins Leere, und sie keifte: »Bleibt endlich stehen, Mensch, dann gewähre ich Euch einen wenig schmerzensreichen Tod!« »Na, das ist ja mal ein Angebot, welchem man kaum widerstehen kann«, entgegnete Elminster spöttisch und wich ein weiteres Mal ihren Händen aus. »Oho, knapp daneben ist auch vorbei, leider!« Wutschnaubend sprang die Stute in die Luft, um ihn mit der nächsten Landung zu erwischen. Elminster aber kroch bereits ins Lager der Teufelin, einen Spalt zwischen zwei Felsen, wo der Boden mit abgenagten alten Knochen übersät war. Ein paar Steine bildeten darüber eine Art Dach. Sobald sie ihm in die Höhle hineinfolgte, würde es für ihn bestimmt keinen Ausweg mehr geben, welchen sie nicht blockierte. Dennoch drang er in das finstere und stinkende Loch ein. Mit einem schrillen Triumphlachen faltete die Stute die Flügel zusammen und schob sich in ihr Lager. »Jetzt habe ich Euch«, schnaufte sie. Elminster hatte sich so tief in die Höhle zurückgezo622
gen, wie die unregelmäßig aufeinander liegenden Steine es nur zuließen. Das einzige Licht in dem Bau kam von ihren weißen Augen. Sie bewegte sich auf ihre sichere Beute zu, und die Pferdekopfbrüste schnappten schon nach ihm. Zusätzlich breitete die Teufelin noch die Arme aus, als wolle sie verhindern, dass er ihr seitlich entschlüpfte. »Ich möchte Antwort auf eine Frage, welche ich eigentlich gleich hätte stellen sollen«, sagte der Menschenmagier. »Wer seid Dir denn?« »Marane werde ich gerufen«, entgegnete sie, ohne im Näherkommen innezuhalten. »Marane die Hungrige.« Elminster spannte alle Muskeln an und beugte sich vor. Er durfte das silberne Feuer nur kurz einsetzen, damit Nergal, der bestimmt mit seinem Geist nach ihm suchte, nicht gleich auf ihn aufmerksam würde. Deswegen musste der Mann aus Schattental die Stute so nahe wie möglich herankommen lassen. So nahe, dass sie sich schon berührten ... Und gleichzeitig darauf achten, dass die Teufelin nicht mit ihren Reißzähnen und den schnappenden Pferdeschädelgebissen schneller sein würde. Ein Stein rollte unter seiner Hand weg, und er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Marane zischte wieder, aber keine scharfen, spitzen Zähne drangen in Elminsters Fleisch. Als der Zaubermeister den Kopf hob, erblickte er vor sich einen matten Schein und etwas weiter hinten noch einen. In diesem Licht sah er die Stute, wie sie sich bückte, den Stein aufhob und wieder an Ort und Stelle 623
anbrachte. »Was war das denn für ein Schein?«, wollte Elminster wissen und tat ganz erstaunt. Gleichzeitig ging er in die Hocke. Seine Schulter streifte eines der Beine der Teufelin. »Der stammt von magischen Gerätschaften«, antwortete sie kurz angebunden. »Die habe ich im Lauf der Jahre anderen Opfern abgenommen. Zu schade, dass Ihr keine Zaubergeräte mit Euch führt. Aber jetzt genug davon!« Marane griff mit einer Hand nach ihm. Fingernägel wie Klauen gingen davon aus. Elminster legte eine Hand auf ihren Schenkel und sandte einen Stoß Silberfeuer aus. »Soll mir recht sein«, brummte er kühl, als ihr ganzer Körper bebte und zuckte, bis sie senkrecht in die Höhe sprang und mit dem Kopf gegen die Steine krachte. Rauch stieg aus ihrem Maul auf. Sie drehte sich um die eigene Achse, und ihre Augen wurden leer. Elminster prägte sich das Bild von ihren Klauen, welche nach ihm griffen, tief ins Gedächtnis ein. Er zwang sich dazu, nicht an das zu denken, was er nun unternahm, und schaute auch in eine andere Richtung, damit er sich nicht durch das verriet, was seine Augen sahen. Der Zaubermeister zog und zerrte an den Steinen, bis einer nachgab. Dann schob er eine Hand in die Lücke und griff nach dem kalten Licht. Er ertastete einige Gegenstände, und einer davon fühlte sich wie ein Zauberstab an. Elminster zog ihn 624
heraus und erfuhr von der Magiezeichnung, mit welchen Worten man sich seiner bedienen konnte. Beim näheren Abtasten erkannte der Magier in dem Stück einen Blitzeschleuderer und dankte gleich Mystra und auch Tymora für diesen Fund. Er schob der Stute den Stab ins Maul, wappnete sich für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte, wieder mit Silberfeuer, und verschoss einen Blitz. Weißblaues Gleißen jagte durch den Bau der Teufelin. Gliedmaßen schlugen unbeherrscht und ungelenkt um sich, und der Gestank von gebratenem Teufelsfleisch erfüllte die Höhle durchdringend. Elminster begann zu würgen, und Marane sank und schrumpfte immer mehr zusammen. OHO! SIEH MAL DA! ECHTE MAGIE! DIE MUSS ICH HABEN! Nergals Gedankengebrüll ertönte ohrenbetäubend laut. Elminster lächelte grimmig und schaufelte jetzt mit beiden Händen in den magischen Geräten jenseits der Öffnung herum. Ein Wirrwarr von Befehlen, magischen Bedeutungen und entfesselter Energie überspülte ihn, und er bemühte sich, sich nicht davon ablenken zu lassen, denn er suchte doch ... wonach eigentlich? Nach etwas Nützlichem! Ringe, welche Feuer spuckten; Zauberstäbe, welche Fleisch von den Knochen schmolzen; oder Armschienen, welche ... zum Beispiel... oder aber ... Genau das hier bewirken! Mit zitternden Fingern griff der Zaubermeister nach dem Gegenstand und hielt ihn fest, als sei er das Aller625
feinste auf der Welt. Dann legte er eine dünne Silberfeuerwolke über seinen Geist, damit Nergal seine Gedanken nicht lesen konnte. Ja, dieses Zepter würde die Aufgabe auf das Allerbeste lösen. Dieser kleine Stab war nur so lang wie seine Hand, aus dunklem Holz angefertigt und wunderbar verarbeitet. Ein Künstler der Unterwelt hatte das Zepter hergestellt, der Schattenmeister Telamont Tanthul, und das vor sehr langer Zeit. Mit diesem Gerät ließ sich eine Hand zu dreien vervielfältigen, oder ein Bein zu dreien, oder jedes andere Körperteil, welches auch immer man sich wünschte. Die einzige Einschränkung war, dass es sich um ein Körperteil aus Fleisch und Blut handeln musste. Damit ließen sich Armeen noch stärker machen oder Verstümmelte heilen. Rasch schob sich Elminster nun aus dem Lager, hielt seine Gedanken weiterhin unter der Schicht aus Silberfeuer verborgen und vergrub das kleine Zepter unter einem Stein bei einem Baum, welchen er sich leicht einprägen konnte. Danach zog der Mann aus Schattental sich in den Bau zurück und vertrieb sich das Warten damit, die anderen magischen Gegenstände und Maranes scharfe Zähne in Augenschein zu nehmen. Mit einem Begeisterungsschrei landete Nergal draußen vor der Höhle. Elminster löste den Nebel aus Silberfeuer auf und 626
sandte seinem Peiniger aufgeregte falsche Gedanken: Das sollte jetzt wirklich reichen! Wenn der alte Nergal nur seinen Kopf hier hereinsteckt, zerblase ich ihn gleich zu Asche! Kein Teufel in ganz Awernus könnte dieser Macht hier widerstehen! Jetzt, da ich all mein Silberfeuer in sie gegossen habe, bin ich unbesiegbar. Ich vermag alles, ich – bei den Göttern! Nergal tauchte groß und gewaltig an der Spalte auf und sandte ein ganzes Rudel um sich schlagender Tentakel hinein. Sie hieben zwar blindlings in die Finsternis, aber binnen Sekunden hatten sie Elminster gegen den Stein geschleudert, ihn daran entlanggerollt, ihn beinahe besinnungslos geprügelt und dann nach draußen ins Licht gezerrt. Geblendet und von einem Tentakel so fest umwickelt, dass er kaum noch Luft bekam, lag er dann auf dem Felsboden da und hörte am Klappern und Klirren, dass der Höllenfürst drinnen wie von Sinnen alles einsammelte, was auch nur entfernt nach Magie roch. MENSCHLEIN, MENSCHLEIN, ICH KÖNNTE EUREN NICHTSWÜRDIGEN SCHÄDEL WIE EIN STÜCK FALLOBST ZERQUETSCHEN! NENNT MIR NUR EINEN GUTEN GRUND, WARUM ICH DAVON ABSTAND nehmen sollte! Das Silberfeuer in mir würde dabei explodieren und Euch mit in den Untergang reißen. WAGT ES JA NICHT, MICH SCHON WIEDER HINTERS LICHT – EHRLICH? Großes Ehrenwort! Am besten haltet Ihr Euch von mei627
meinem Hals und Kopf fern. DAS WILL ICH GERN TUN! versprach der Höllenfürst und zog die Tentakel enger um den Oberkörper seines Gefangenen zusammen. Nur das Silberfeuer bewahrte den Zaubermeister davor, vor Schmerzen das Bewusstsein zu verlieren. Nur verschwommen stellte er fest, dass Nergal ihm beide Arme auf Höhe der Ellenbogen abgerissen hatte. Nur gezackte Knochenenden ließen sich dort noch ausmachen, von denen Blut troff. Er sammelte alles Silberfeuer in sich, um sich ausreichend Stärke zu verleihen, und täuschte dann einen Wutanfall vor. Brüllend sprang er auf, trat um sich und ruderte mit den Halbarmen durch die Luft. Dazu verspritzte er einiges Silberfeuer auf Nergal, so dass dieser schmerzhaft zusammenzuckte und zurückwich. Elminster folgte ihm und stach die Knochenspitzen seiner Armstümpfe in die offenen Wunden des Höllenfürsten. Wieder und wieder wie ein Kleinkind, das ebenso ausdauernd wie sinnlos mit einem Stock auf etwas einschlägt. Nach einem Moment erkannte Nergal, was in seinen Gefangenen gefahren war. Er grinste und verpasste dem Menschenmagier einen Backenstreich, welcher ihn einige Meter weiter auf den Felsboden schickte. Gleich nachdem er ausgerollt war, sprang Elminster wieder auf und brüllte und tobte weiter. »Dummer Zauberer!«, lachte der verstoßene Höllenfürst. 628
Hinter dem Vorhang aus Silberfeuer aber dachte Elminster: Selber Dummkopf! Er hatte die Armspitzen tief genug in die Wunden Nergals gestoßen, um dort kleine Knochensplitter zu hinterlassen und tief zu vergraben. Der Teufel mochte seine Wunden ruhig ausheilen lassen, die Splitter würden ihm erhalten bleiben. Das mag zwar nicht so wirksam sein wie Alassras Blutring, überlegte der Alte Magier, aber auch so seinen Zweck erfüllen. Er löste den Vorhang über seinem Geist wieder auf, und im nächsten Moment hätte ihn die Wucht von Nergals Gedankenstimme beinahe von den Beinen gerissen. WIEDER FLÜSTERT IHR! WAHRSCHEINLICH BEGEISTERT IHR EUCH WIEDER EINMAL ÜBER EURE LISTIGKEIT! ABER DAMIT IST ES VON JETZT AN VORBEI! ENDGÜLTIG! DIESE ERINNERUNG HIER, JENE DORT UND AUCH DIE DA DRÜBEN VERRATEN MIR, WELCHE ZAUBER ICH WIRKEN MUSS, UM EUCH AM LEBEN ZU ERHALTEN! WENN ICH ES RECHT ÜBERBLICKE, KANN ICH DAMIT ZUM BEISPIEL DAS HIER BEDENKENLOS TUN ... (tentakel schlingen sich um den bereits ächzenden Oberkörper drücken fest zu bis das fleisch zerreißt) (schreie unsägliche schmerzen) Ihr Teufel! Ihr Satan! Arrgghh! Bei allen Göttern, bitte nicht! SO IST ES RECHT, JÄMMERLICHER BURSCHE! FLEHT UM GNADE! FLEHT MICH ZUM HERZERWEICHEN AN – DAMIT ICH EUCH UMSO UMFASSENDER NICHT BEACHTEN KANN! HA! HA! HA! HA! 629
(endloses teuflisches gelächter unterbrochen von prusten triumphgeschrei während die einen tentakel sich immer fester zusammenziehen die anderen auf den gefangenen einprügeln als wollten sie ihn zu brei schlagen) Ein großer Teufel, der sich wieder in der Gestalt eines Schwefelfürsten zeigte, beugte sich mit finsterer Miene über die versengten und kaum noch zuckenden Reste dessen, was einmal ein Mensch gewesen war. Unwillig knurrend sandte Nergal seine Tentakel aus, die Reste Elminsters zusammenzusuchen und zusammenzufügen. Nach einer kurzen Weile besaß der Zaubermeister wieder so etwas wie einen Körper, aber was für einen! IHR SOLLT WEITERLEBEN, DÄMLICHES ZAUBERLEIN! FAST HÄTTE ICH EUCH IN STÜCKE GERISSEN! DABEI SEID IHR DOCH MEIN LIEBLINGSSPIELZEUG! UND IHR GEHÖRT MIR! ANDERE TEUFEL HABEN SO ETWAS FEINES NICHT! AUSSERDEM HALTE ICH EUCH FÜR, NA JA, ICH WILL NICHT UNTERTREIBEN, FÜR INTERESSANT! ICH WEISS GENAU, WAS IHR TREIBT! WIEDER UND WIEDER HABT IHR MICH LISTIG AUF EINE FALSCHE FÄHRTE GELOCKT, UND ICH HABE MICH VON DEN SCHATTEN IN EUREM GEIST TÄUSCHEN LASSEN! GROSSZÜGIG HABT IHR MIR DAS GEZEIGT, WAS VÖLLIG UNWESENTLICH UND BELANGLOS IST! ABER DAS, WONACH ICH STREBE, HABT IHR ERFOLGREICH VON MIR FERN GEHALTEN! DOCH DIESE SPIELCHEN SIND VON NUN AN VORÜBER! AUS UND VORBEI! 630
VERSUCH VON EUCH, MICH NOCH EINMAL NASE HERUMZUFÜHREN, ZERHACKE ICH EUREN GEIST IN WINZIGE STÜCKCHEN UND SETZE DIE NICHT WIEDER ZUSAMMEN! ICH HABE DIE MEISTEN EURER BANNE NUN IN MEINEN BESITZ GEBRACHT, UND IHR KÖNNT MIR NICHT MEHR WIDERSTEHEN. VON NUN AN SUCHE ICH ERINNERUNGEN DARAN, WIE IHR MAGIE GEGEN WICHTIGE PERSONEN EURES REICHES EINGESETZT HABT! DABEI KÜMMERN MICH NICHT SO SEHR ZAUBERER UND ÄHNLICHES, SONDERN HERRSCHER UND RATGEBER, AUF DEREN STIMME MAN HÖRT! (schnauben) ALSO WIE BEI MIR! (der gedankenwurm bohrt sich tief und tiefer hinab) BEI
DEM BLOSSEN
AN DER
»Interessant«, sagte die Srinschee leise und zog mit den Fingerspitzen an der Linie seines Kinns entlang. »Die meisten aus meiner kormanthianischen Verwandtschaft fürchten nichts so sehr wie den Spott ihrer Sippenältesten. Am zweitmeisten den Verlust ihrer Reichtümer, und auf Platz drei steht, dass ihnen ihre magischen Fähigkeiten abhanden kommen könnten. Ihr aber habt am allermeisten Angst davor, Eure Freunde im Stich zu lassen oder sie an den Tod zu verlieren. In Eurer Weisheit seid Ihr reifer als die meisten Elfen in dieser Stadt. Und Ihr wirkt auch viel trauriger als alle, welche ich vor Euch kennen gelernt habe. Denn Ihr habt bereits mehr Freunde und Verwandte an den Tod verloren als alle jungen Leute in Kormanthor, welche in Eurem Alter sind. 631
Nur wir Älteren kennen das Gewicht der Tränen, welche Ihr vergossen habt und immer noch vergießt. Doch darüber hinaus entdecke ich noch mehr in Euch: eine Stützsäule der Macht, welche schon immer da gewesen ist und Euch stets vor den Stürmen des Lebens gewarnt hat.« Ihre Hand sank in den Schoß ihres außerordentlich kunstvoll gewobenen Kleides, und sie zog einen kleinen Dolch aus der dort verborgenen Scheide. Nun richtete die Srinschee den Blick fest auf ihn und murmelte: »Vergebt mir. Ich will Euch nicht angreifen, aber ich muss es einfach wissen.« Sie suchte eine Stelle auf der Oberseite seines Unterarms und zog dort mit der Messerspitze eine Linie. Blut drang aus dem Riss in der Haut – und auch ein paar Funken. Die alte Frau flüsterte unhörbar etwas vor sich hin und streckte den Zeigefinger nach der Wunde aus. Silbernes Strahlen entströmte dem Mann und ließ die Srinschee heftig zurückfahren. Mehr noch, Flammen umzuckten sie. Elminster legte rasch eine Hand auf den Schnitt und entschuldigte sich ein ums andere Mal. Matt erhob sich die alte Frau. Rauch stieg an mehreren Stellen von ihr auf, und das kostbare Kleid war vollkommen zerfetzt. »Nein, Mensch«, ächzte sie, »die Schuld liegt ganz allein bei mir. Schließlich habe ich einen Zauber gewirkt, mit welchem ich aus der Wunde, die ich Euch beigebracht habe, Euer Silberfeuer stehlen wollte. Mystra 632
wohnt in weit stärkerem Maße in Euch, als ich das vorher für möglich halten wollte!« WIE? DAS GEHÖRE
WAR SCHON WIEDER ALLES? DIESE
BEGEBENHEIT
ZU
UND IHR TUT SO, ALS EUREN KOSTBARSTEN
ERINNERUNGEN? WARTET NUR, FREUNDCHEN! WLE GEFÄLLT ES EUCH, WENN
ERINNERUNGEN AUS EUREM GEDÄCHTNIS PFLÜCKE? NEIN! NEIN! IHR BRAUCHT GAR NICHT ZU JAMMERN UND ZU SCHREIEN! DASS ES SO WEIT GEKOMMEN IST, HABT IHR GANZ ALLEIN EUCH SELBST ZU VERDANKEN! DANN WOLLEN WIR MAL SEHEN, WAS WIR HIER HABEN! ICH EINFACH SO
Elminster schaute von seinem Buch auf und runzelte die Stirn. Was war denn nun schon wieder los? Ein Lichtpunkt war plötzlich aufgetaucht, schwebte in der Luft und wuchs an. Der Magier sprang auf, stieß sein dickes Buch beiseite und zückte seinen neuesten und mächtigsten Zauberstab mit den Abwehrbannen. Das Licht hatte mittlerweile fast Mannshöhe erreicht und strahlte blendend hell. Der goldene Schein schien ohne Mühe durch alle seine Abwehrschilde hindurchzuleuchten. Ja, tatsächlich, es kam von einer Klinge. Einer schlanken, schönen und verzauberten Elfenklinge, welche auf einem zarten Arm ruhte ... Die Srinschee! »Oluevaera!«, rief der Magier. »Seid Ihr das wirklich?« 633
Er schaltete den Zauberstab in seiner Hand aber nicht ab. Man konnte ja nicht wissen. Die kleine Elfenfrau lächelte ihn an, aber er bemerkte, dass Schatten ihre Miene verdüsterten. »Nur Ihr dürft mich so nennen, Elminster. Und es tut gut, diesen Namen wieder zu hören.« Sie ließ das Schwert los und lief zu dem Menschen. Die Klinge blieb in der Luft hängen. Goldenes Licht bewegte sich wie Rauchfäden von ihrer Spitze. Die Elfin lag schon in Elminsters Armen. »Ist das das Schwert der Herrschaft?«, fragte der Menschenmagier. Sie betrachtete ihn mit Tränen in den Augen, und er vergaß alles um sich herum. »Haltet mich fest«, bat sie mit einer Stimme, als würde sie jeden Moment anfangen zu schluchzen. »Haltet mich fest und küsst mich! Küsst mich, verdammter Kerl! Mögen Mystra und all die stolzen Elfen doch zugrunde gehen. Sie alle, überall!« Als Elminster den Kopf senkte und seine Lippen auf die ihren drückte, rannen ihr die Tränen schon ungehemmt über die Wangen. Er hob sie zu sich hoch und hielt sie fest, und sie küsste ihn mit fordernder und verzweifelter Leidenschaft. Ihre kleinen Hände legten sich auf seine Schultern, krallten sich dort fest. Nach den Lippen vereinte sich auch ihr Geist. Der ihre aufgewühlt wie ein schwarzes Meer, über welches ein Sturm hinwegfegt ... Der seine fragend, wärmend und alles gebend, um 634
ihre Not zu lindern. Elminster schmeckte Blut im Mund, weil Oluevaera ihn gebissen hatte. Jetzt warf sie den Kopf in den Nacken und zitterte am ganzen Leib. »Hört mir zu«, zischte sie. »Lauscht mir gut, denn Hast treibt mich voran und mit ihr Göttinnen, welche nichts mit der Euren gemein haben. Furchtbare Zaubermacht könnte mir auf dem Fuße folgen!« Der Menschenmagier grinste: »Wie ich gehört habe, habt Ihr immer schon ein aufregendes Leben voller Verschwörungen und Geheimnisse geführt. Aber sprecht, und ich will Euch genau zuhören.« Sie lächelte wild und verpasste ihm eine Ohrfeige. Damit schien ihre düstere Stimmung gebrochen zu sein, und sie flüsterte: »Ich muss für einige Zeit fort. Vielleicht für eine sehr lange Weile. Gut möglich, dass Dir mich nie wieder seht und mich erst recht nie mehr so halten könnt. Deswegen sollt Ihr dies erfahren: Mystra hat mir eine Gunst gewährt. Dank derer vermag ich zu jedem Zeitpunkt, durch das Silberfeuer zu Euch zu sprechen. Wenn es singt, braucht Ihr mich nur zu rufen, und schon komme ich. Jetzt küsst mich noch einmal, verdammter Mensch! Und sei es der letzte Kuss, welchen ich –« (ein geistiger schlag) (Verwirrung Unordnung bilder welche wie die scherben eines zerbrochenen spiegeis davonwirbeln trübe werden) 635
DAS
IST ALSO DAS KLEINE
GEHEIMNIS,
WELCHES
IHR
DIE
GANZE ZEIT VOR MIR VERSTECKT HABT? DASS IHR IMMER WIEDER DIE
GELEGENHEIT GENUTZT HABT, EUCH MIT EURER ELFENHURE
ZU UNTERHALTEN?
AUF
WEISE HABT IHR EURE FREUNDE IN DIE HÖLLE EINIGE HABEN SICH WIRKLICH EINEN SCHLAUEN PLAN EINFALLEN LASSEN! ANDERE ABER WAREN VERBLENDET UND DUMM GENUG, DURCH GANZ AWERNUS ZU STÜRMEN, UM MICH IRGENDWO AUFZUTREIBEN! IM MOMENT ROTTEN SIE SICH WOHL SCHON WIEDER ZUSAMMEN, UM MICH ZU VERNICHTEN, WAS? IST ES NICHT SO, MENSCHENWURM? Nein, Fürst Nergal! Hört mich an! Ich vermag nicht länger, mit der Srinschee zu sprechen! (argwöhnische blicke) Seht doch selbst, das ist die Wahrheit! Schaut nur hin! OH?! SIE IST TOT, ODER? Das entzieht sich meiner Kenntnis, jahrelang haben wir miteinander Verbindung aufgenommen, wenn wir uns einsam fühlten. Ach, jahrzehntelang, jahrhundertelang ... Bis Mystra mir ihre Macht übertragen hat. Viele Dinge sind dabei in mir zerstört worden ... und die Möglichkeit, mit der Srinschee zu sprechen, gehörte leider dazu. So lange sie nicht zu mir kommt und einen Zauber wirkt, welcher alles übertrifft, was mir bekannt ist, besteht für mich keinerlei Möglichkeit, mit ihr auch nur ein Wort zu wechseln. FAST TUT IHR MIR LEID, MENSCHLEIN! ABER NUR FAST! (Verwirrung wut daraus folgend völlige verständnislosigkeit) DIESE
GERUFEN!
636
WARUM
HABE ICH DAS JETZT GESAGT?
WIESO
LAG MIR
DARAN, EUCH DAS WISSEN ZU LASSEN?
(schweigen und lächeln hinter vorgehaltener hand) NEIN, ELMINSTER, ICH WERDE NICHT ALT UND WEINERLICH! SOLCHE GEFÜHLE HABEN MICH NOCH NIE GEPLAGT! ICH BIN IMMER NOCH HINTER ALLEM MAGISCHEN WISSEN HER! HINTER GEDANKEN UND ERINNERUNGEN, WELCHE MIR HIER IN DER HÖLLE NÜTZLICH SEIN KÖNNEN! DAS WISST IHR AUCH GANZ GENAU, UND DESWEGEN WERDET IHR MIR JETZT NOCH MEHR ZEIGEN! Natürlich, denn genau das habe ich doch die ganze Zeit getan: Euch die Anwendung und die Auswirkung der Magie vorgeführt. QUATSCH! IHR SEID EIN NOCH SCHLIMMERER HAARSPALTER ALS AMNIZU! MENSCHLEIN, DAMIT MACHT IHR EUCH BEI MIR NICHT UNBEDINGT BELIEBT! Ein weiterer Moment, auf den ich stolz sein kann. Mittlerweile besitze ich schon eine ganze Sammlung davon. WELCHEN WERT HAT DENN EINE SOLCHE SAMMLUNG, IHR ACH so ZUNGENGEWANDTER STERBLICHER, WENN IHR EUCH AN KEINEN DIESER STOLZEN MOMENTE ERINNERN KÖNNT? UND AUCH AN NICHTS ANDERES MEHR? IN KÜRZE WERDE ICH AUCH DAS KLEINSTE FITZELCHEN AUS EUREM GEDÄCHTNIS GEHOLT HABEN ... UND DANN DARF DER GEWALTIGE ELMINSTER DEN REST SEINER JÄMMERLICHEN TAGE STOLZ SEIN AUF REIN GAR NICHTS! Ermüdende Drohungen. (geistiges gähnen) Aber das erinnert mich an etwas ... (geistiges aufleuchten erinnerungen fliegen vorbei 637
bis zu einem bestimmten moment finden und herausziehen) »Halueve Starym«, meinte der Mann in Schwarz unwirsch, »haltet Ihr das für klug?« Der Elf mit den drei prasselnden Kohlenpfannen, welche vor ihm in der Luft schwebten, drehte sich unwillig um. Seine Augen blitzten vor Zorn, und er gab spöttisch zurück: »Oho, der Mensch, welcher ganz Kormanthor in den Untergang getrieben hat, will mir etwas über Klugheit beibringen. Was habt Ihr auf dem Herzen, Schlächter des Feenvolkes?« »Also gut«, begann Elminster Aumar mit nachsichtiger Stimme und trat einen Schritt vor, »dann will ich zu Euch über Narretei reden, der Euren, um ganz genau zu sein. Niemand kann so recht bei Trost sein, der Teufel heraufbeschwört, damit sie ihm zu Diensten seien. Und ein noch viel größerer Narr ist derjenige, welcher glaubt, er könne ihr Herr und Meister sein!« IHR SPRECHT DAVON, SICH DIE FEUER DER HÖLLE DIENSTBAR ZU MACHEN? NUN, DAS IST BEI FRÜHEREN GELEGENHEITEN DURCHAUS SCHON GELUNGEN! Aber klar doch. Und seitdem? FAHRT FORT, ZAUBERLEIN! Halueve Staryms spöttische Miene verfinsterte sich zu einer der Wut. »Kommt Ihr mir nicht mit Narretei, 638
Mensch! Macht lieber, dass Ihr von hier fortkommt, solange Ihr noch über Beine verfügt, die Euch tragen können! Wisset, dass ich Euch des Nachts, wenn Ihr im Schlaf liegt, Teufel schicken kann, welche Euch langsam die Haut vom Leib ziehen, schön langsam, Glied um Glied.« Er setzte jetzt ein giftiges Lächeln auf und fuhr schon fort: »Und irgendwann werdet Ihr schlafen müssen, nicht wahr, Ihr schwächlicher, kümmerlicher Mensch.« Obwohl der Elf nicht einmal einen Finger hob, um einen Bann zu weben, tauchte eine Flammenlinie zwischen den beiden Zauberern auf und umschloss Halueve. »Trollt Euch, Mensch. Eure Zauberkünste sind so jämmerlich, dass ich Euch in jedem Moment zerquetschen kann. Und wenn Ihr in Zukunft noch einmal meinen Geduldsfaden überstrapazieren solltet, werde ich mich auch nicht länger zurückhalten. Verschwindet jetzt, auf der Stelle, so lange ich noch gut gelaunt bin!« Magische Energie breitete sich ungebeten in Elminster aus, und kurz tanzten silberne Funken vor seinen Augen. Er nahm alle Kraft zusammen. Flieht nicht, Liebster. Er hat einen Bann über Euch gelegt, welcher sich von Euch ernähren wird, von Eurem Fleisch, Eurem Blut wie auch von Eurem Geist. Deswegen bleibt einfach stehen und tut nichts anderes, als Euch mit Euren eigenen Zaubern zu verteidigen. Dann wird das silberne Feuer nicht Euch, sondern ihn in den Untergang treiben. 639
Behaltet die Kohlenpfanne ganz rechts im Auge. Bei ihr handelt es sich in Wahrheit um einen Beobachtungsteufel. ›Oluevaera!‹, rief der letzte Prinz von Athalantar in Gedanken erfreut. ›Seid Ihr das wirklich?‹ Nur mit Mühe und Not. Sie schenkte ihm ein Lächeln und mehr: Nehmt diesen Kuss, ehe ich mich wieder auflösen muss ... Ein Angriffszauber schlug bei ihm ein und zerstörte das angenehme Gefühl der Srinschee-Lippen. Der Bann schlug gegen seinen Abwehrschild, und beide lösten sich auf. Der Menschenmagier bedachte seinen Gegner mit einem frostigen Lächeln. »Du liebe Güte, da betreibt Ihr einen solchen Aufwand, und ich stehe immer noch hier. Vielleicht steckt in Euren Zaubern doch nicht so viel Wucht, wie Ihr gern glaubt. Wem macht Ihr eigentlich mehr vor, Euch selbst oder mir? Habt Ihr denn noch nicht genug aus mir herausgesaugt, um etwas Besseres zustande zu bringen?« Der Elf kreischte vor Wut, riss die Arme hoch und zog die Finger wie Krallen zusammen. In seiner Raserei schleuderte er einen Zauber, welchen selbst ein Anfänger in einer solchen Lage unterlassen hätte. Der ganze Raum krachte und bebte, als es mächtig in Elminster zog. Silbernes Feuer strömte aus ihm hinaus und brachte dem Starym den Untergang. Elminster zielte mit seinem ersten eigenen Angriffszauber sorgfältig auf die am weitesten rechts stehende Kohlenpfanne. Sein Treffer bewirkte, dass rings um ihn 640
herum die Burg zusammensackte und zerfiel, bis nichts mehr von ihr übrig geblieben war. Und dazu ertönte ein lang gezogener Schrei, welcher ebenso wütend wie entsetzt klang ... NA ENDLICH! DIESE KLEINE ERINNERUNG HAT MICH IN EURE JUGEND ZURÜCKGEFÜHRT! UND IN IHR GING ES TATSÄCHLICH UM SEHR VIEL MAGIE! EINES HABE ICH JETZT WOHL GELERNT: WENN IHR EUCH MIT MYSTRA IM BUNDE FÜHLT, FÜRCHTET IHR NICHT EINMAL BEOBACHTUNGS- UND ANDERE TEUFEL! Ach wisst Ihr, Fürst Nergal, in den ersten fünfhundert Jahren meines Lebens haben sich solche Ängste gänzlich aufgebraucht. Heutzutage habe ich eigentlich gar keine Furcht mehr übrig. DARUM KÜMMERN WIR UNS SPÄTER NOCH, MENSCHLEIN! GEWISS, GEWISS, DAS WIRD NICHT VERGESSEN! IHR KÖNNT EUCH SCHON DARAUF FREUEN!
641
21 Rache heiß genossen Und so kam es, dass die Gruppe der Abenteurer die dunkle und widerhallende Kammer tief im Underberg betrat und sofort wieder verließ, ehe der dort herrschende Wahnsinn von ihnen Besitz ergreifen konnte. Sie beleuchteten mit ihren Fackeln den Mann, der sich mitten in dem Felsenraum ganz allein aufhielt und vor sich hin bellte und winselte – dann flohen sie so rasch und so leise, wie ihnen das nur möglich war. Halaster hatte alle Zauberkraft, welche Mystra ihm verliehen hatte, dabei aufgebraucht, seine Wunde zu schließen. Unter normalen Umständen wäre er an ihr gestorben. Der lange Knochensporn hatte seine Eingeweide zum Teil durchbohrt und zum Teil zerquetscht. Und schlimmer noch, Nergal hatte seine Zauber mit einem Fluch belegt. So überlebte der Herr von Underberg zwar die schwere Verwundung, besaß danach aber keine Magie mehr, um Nergals Tücke zu begegnen. Ein Tag oder mehr war vergangen, da wälzte Halaster sich auf dem kalten und staubigen Steinboden. Er vermochte einfach nicht, den ständigen Wandlungen Einhalt zu gebieten, welche seinen Körper befielen. Da 642
wuchsen ihm in einem Moment Fledermausflügel, dann Schuppen, später ein Schweif und endlich Krallen. Sie kamen, begleitet von großer Übelkeit, vergingen wieder und kehrten nach einer Weile zurück – ohne sich von den Schreien und Flüchen des wehrlosen Magiers beeinträchtigen zu lassen. Dornen, Hörner und Brüste sprossen gerade aus seinem Bauch, zogen sich dann zusammen und wanderten schließlich über Halasters Körper. Inmitten all dieser verheerenden Unordnung schwor sich der Zaubermeister, in die Neun Höllen zurückzukehren. Er würde den Teufel Nergal so lange foltern, bis dieser ausgelöscht war, und sollte es Halaster selbst das Leben kosten (und auch ganz gleich, ob das Elminster recht war oder nicht). Nach endlosen Tagen und Stunden endete die Pein. Halaster Schwarzmantel lag keuchend und in Schweiß gebadet auf dem Boden, starrte in die staubige Dunkelheit und verzichtete darauf, einen Blick auf seine jetzt restlos zerlumpten Kleider zu werfen. »Rache«, versprach er ganz ruhig und zwang das letzte Zittern aus seinen Gliedern. »Die Rache soll jetzt beginnen.« Doch erst einmal blieb der Magier noch eine ganze Weile entkräftet liegen; selbst dann, als ihn am ganzen Körper fröstelte. Im Liegen rief Halaster sich alles ins Gedächtnis zurück, was Nergal getan und gesagt hatte. Sein genaues Aussehen, seine Eigenheiten und seine Verhaltensweisen. 643
Und welche Zauber bei einem solchen Teufel die verheerendste Wirkung zeigen würden. Ebenso geduldig und gründlich ging er in Gedanken auch alle Auswirkungen und Nachteile eines jeden einzelnen Zaubers durch – und bei welcher Gelegenheit man ihn am ehesten in Awernus einsetzen sollte. Nach einer Ewigkeit lächelte der Zaubermeister kalt und verriet der Dunkelheit: »Allem Anschein nach würde Halaster Schwarzmantel auch einen guten Teufel abgeben.« Dann verging ihm das boshafte Grinsen, und demütig wandte er sich an die Göttin: »Herrin Mystra, ich brauche nun alle Hilfe, welche ich von dir bekommen kann. Die Aufgabe, welche ich für dich erledigen soll, übersteigt doch all meine gegenwärtigen zauberischen Fähigkeiten. Am besten unterhalten wir uns einmal in aller Ruhe darüber.« Der Steinboden unter ihm strahlte plötzlich Wärme ab, und in dem Magier selbst entstand ein Prickeln. Mit einem Mal waren aller Schweiß und aller Schmutz von ihm abgewaschen, und er fühlte sich gesund, gestärkt und kräftig. Fast hätte er meinen mögen, warme und mütterliche Arme hätten sich um ihn gelegt. Halaster ließ sich dazu hinreißen, etwas zu tun, was ihm sein ganzes Leben noch nie in den Sinn gekommen war. Er schnurrte, legte sich auf die Seite, zog die Beine an, steckte den Daumen in den Mund und schlief seelenruhig ein. 644
Im warmen Traum, an welchen er sich hernach nicht mehr erinnern konnte, saugte er an einer Mutterbrust, erklärte er Mystra alle seine Bedürfnisse und legte ihr seine Gedanken bloß. Von ihr erhielt er dafür alle Zauber, welche er benötigen würde, und die strategische Weisheit, welcher ein Magier-Feldherr bedurfte. Einmal schwebte er auf dem Rücken an endlosen Reihen von brennenden Kerzen vorbei, welche immer neu vor ihm aus der Dunkelheit auftauchten. Ihre Flammen wärmten ihn, verbrannten ihn aber nicht ... Und dann stand Halaster unvermittelt in einem Raum tief unten im Underberg, welchen er nur selten aufsuchte: eine kleine Kapelle, welche der Mystra geweiht war. Er war hellwach, aber allein. Auf dem leeren Steinaltar, vor welchem er stand, züngelten zwei Flammen, doch keine Kerzen verliehen ihnen Nahrung. Schwarzmantel fühlte sich stark, und Magie raste wie loderndes Feuer durch ihn hindurch. So viel Energie hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht verspürt. Alle Banne, welche er sich vorher überlegt hatte, standen hell und klar in seinem Bewusstsein – und dazu auch noch ein paar unbekannte, welche aber einen interessanten Eindruck machten. Der Zaubermeister trug ein schwarzes Gewand und dazu passend Gürtel und Stiefel. Sämtliche Stücke ohne Verzierung, dafür aber von der allerfeinsten Machart 645
und von tadellosem Sitz. Auch hatte jemand seiner Haut die Zeichen und Tätowierungen genommen und seinen Fingern die Ringe. Ebenso war sein Bart ordentlich getrimmt. »Herrin«, sprach er zum Altar, »sei zutiefst bedankt. Dein Wille soll geschehen.« Er wandte sich ab und ging die neun Schritte, nach denen er den heiligen Ort hinter sich gebracht hatte. Dort blieb Halaster stehen, denn er wollte mit einem Zauber gleich mitten in die Hölle fliegen. Der Magier dachte an ein bestimmtes Ziel in Awernus, versetzte sich aber noch nicht dorthin; dennoch verging sofort um ihn herum die Welt in blauweißem Licht. Er hatte das Gefühl, endlos tief zu fallen. Da er aber außerhalb des Strahlens nichts sehen konnte, vermochte er weder Fallgeschwindigkeit noch -richtung zu berechnen. Als der blaue Nebel endlich von ihm abfiel, stand er eine Handbreit über einem schwarzen Stein mitten in der Luft. An einem Ort von verrußten Klippen und herumwimmelnden Spinagons. Unter einem blutroten Himmel. Halaster schritt aus der Luft und betrat damit Awernus. Er hatte das geisterhafte Wölkchen weder gehört noch sonst wie bemerkt, das ihm vom Altar bis hinab in die Hölle gefolgt war. Das immer noch unsichtbare Bündel schaute sich hier um und war noch wütender als der Zaubermeister. Die Hexenkönigin von Aglarond kehrte in die Hölle zurück! 646
Ein gebrochener Mann wanderte ziellos über die Steinfelder von Awernus. Blut und andere Säfte tropften aus seinen Armstümpfen. Gelegentlich geriet er ins Straucheln, und in solchen Momenten schossen schwarze und rote Flammen aus seinen Augen. Spinagons und Abischai erschraken dann gleichermaßen vor ihm und flohen ihn. Selbst die Lemuren und die Maden nahmen Abstand davon, sich diesem Menschen zu nähern. Manchmal klappte sein Unterkiefer herab, und dann gab er murmelnd den Widerhall der mächtigen Gedankenstimme wieder, welche in seinem Kopf dröhnte. Andere Male grunzte und quiekte er wie ein Schwein oder tirilierte wie ein Vogel. Die niederen und niedersten Teufel ließen ihn vollkommen in Ruhe. Ihnen stand nicht der Sinn danach, die Pein eines anderen zu teilen. Die bloße Hülle dessen, was Elminster einst gewesen war, schleppte sich zurück zu einem Ort voller Felsen und verkrüppelter Bäume, wo Nergal selbst noch die Knochen Maranes abgenagt und seinen Geistsklaven wiederholt gegen die Klippen geschleudert hatte. Langsam und unglaublich unmerklich bewegte sich das silberne Feuer in Elminster. Es verdeckte die einen Erinnerungen, erschuf dafür neue und ließ diese wie Blätter im Herbstwind vor dem Höllenfürsten auf und ab tanzen. Und wirklich stürzte sich Nergal jedes Mal mit Begeisterungsgebrüll darauf. So bekam er auch nichts 647
davon mit, als sein Sklave einen Stein beiseite schob, das herausnahm, was darunter verborgen lag, und sich dies hinter dem linken Ohr ins Haar steckte. Das bloße Gefühl dieses Gegenstands an seiner Kopfhaut verlieh ihm Stärke und Selbstbewusstsein. Nachdem er den Gegenstand an sich gebracht, welchen er früher dort versteckt hatte, nahm er gleich wieder seine anscheinend ziellose Wanderung auf. Dabei handelte es sich um ein Zaubergerät, welches der Schattenmeister Telamont Tanthul, ein Bewohner der Hölle, geschaffen hatte. Mit diesem ließen sich Gliedmaßen verdreifachen, und diese dann wieder dreimal wachsen und so weiter und so fort. Ganze Armeen ließen sich auf solche Weise aufstellen. Aber der Gegenstand vermochte auch, Verstümmelte wieder mit allem zu versehen. Dazu reichte ihm schon ein kleiner Rest des abhanden gekommenen Glieds. Elminster verbarg diese Gedanken gleich unter einer Schicht Silberfeuer. Zu seinem Glück war Nergal ohnehin gerade vollauf damit beschäftigt, einen höchst lebendig wirkenden Erinnerungsstrang immer weiter zu erkunden, welchem er schon die ganze Zeit über folgte. JA,
JA, MEIN KLEINER
MENSCH,
ICH SPÜRE, DASS WIR EINER
WIRKLICH GROSSEN SACHE AUF DER SPUR SIND! ENDLICH LOHNT SICH ALLER AUFWAND!
VORWÄRTS! ZEIGT
MIR MEHR!
FAST
KÖNNTE ICH GLAUBEN,
DAS SILBERFEUER IN EUCH BRODELE SCHON!
648
»Schrecklicher Herr Geryon«, begann der jüngste und ehrgeizigste unter all seinen Schwefelfürsten und zeigte auf ein Schimmern an einem fernen, mit Felsen übersäten Hang, »seht nur, dort!« Der Oberherzog lächelte für sich selbst; denn der Helm, welchen er heute trug, zeigte den anderen Teufeln nur einen winzigen Ausschnitt seiner Lippen. »Seid bedankt, Albitur. Der erste Angriff gebührt Euch.« Sein kräftiger, mit Dornen versehener Schwanz zuckte. Die älteren und erfahreneren Höllenfürsten zogen sich lieber heimlich einen oder zwei Schritte zurück. Geryon war entweder erregt oder zornig. Wenn man noch etwas leben wollte, hatte beides gleich schreckliche Folgen. Wenigstens bedeuteten die Befehle, welche der Herr von Nessus ihnen gegeben hatte, nicht, dass sie wieder Jahre warten mussten – oder gar eine Ewigkeit. Der Große Asmodeus hatte erklärt, der Menschenmagier Halaster befände sich wieder auf dem Weg hierher. Seine Göttin habe ihn mit so viel Zaubermacht ausgestattet, dass er eine echte Bedrohung für die Hölle darstelle. Natürlich, unterhalb einer gewaltigen Bedrohung tat Asmodeus es nicht. Dennoch schien diesmal wirklich mehr an der Sache zu sein. Albitur erhob sich in die Lüfte und brauste wie ein Sturmwind los. Er scharte die Kornugons und Schwefelfürsten seiner Armee um sich und brach auf. Die höllischen Heerscharen flogen durch eine Senke, 649
angefüllt mit giftigem Rauch, und überquerten einen Höhenzug, auf dessen Grat Felsnadeln wie Riesenzähne aufragten. Dahinter stürzten die Teufel und ihre Hilfstruppen sich auf die einzelne menschliche Gestalt. Kein Laut kam ihnen über die Lippen, und man hörte nur den Wind durch ihre Flügel rauschen. Vierzig Teufel und mehr gegen einen einzelnen Zaubermeister, aber keiner in der Umgebung von Geryon hätte sich zu früh gefreut oder eine Wette auf den Ausgang dieses Kampfes abgeschlossen. Denn wer vermochte schon die Anzahl von Teufeln gegen die Hilfe einer Göttin exakt aufzurechnen? Der Zaubermeister sah den Tod aus dem Himmel fallen. Er hob die Arme und bewegte die Hände zu kniffligen Gesten. Teufel sausten herab, und Blitze zuckten aus ihren Reihen heraus. Rings um den Menschenmagier schlugen sie in den Felsboden ein und verwandelten sich in hohe Flammen. Albitur wollte Halaster offenbar in einer Feuerwand einschließen. Unvermittelt tauchten in der Luft über den Teufeln kopfgroße Steine auf, welche nun wuchtig auf die Angreifer hinabregneten. Die Teufel stürzten ab, und die meisten kamen mit bereits gebrochenen Knochen hart auf. Mehreren schlug ein solcher Stein den Schädel ein. Traf es einen Kornugon, so blieb von dessen Haupt nicht mehr als eine Schicht roten Matsches auf dem Hals übrig. 650
Halaster stand inmitten der Blitzsalven da. Die Einschläge schienen ihm aber nichts anhaben zu können, sondern ihn im Gegenteil zu bestärken. Nun rasten die Teufel heran und hieben mit ihren Stachelschwänzen nach ihm. Sie gerieten mitten in eine Wolke von kleinen Silberhänden, welche sie zwickten, würgten und prügelten. Jede Berührung hinterließ verbranntes Teufelsfleisch. Manche wurden auch geblendet und stürzten kreischend auf die Felsen. Sie rollten dort hin und her, schlugen um sich und lockten Schwärme von Maden an. Mehrere Feuerwände bildeten sich bereits um Schwarzmantel, und einer Explosion gelang es, ihn von den Füßen zu werfen. Durch die Flammen stürmten die muskelbepackten Schwefelfürsten mitsamt ihren Kornugons heran und ließen ihre Peitschen auf den Unglücklichen niedersausen. So wütend und unbeherrscht schlugen sie zu, dass sie mehrere Male statt Halaster einander trafen und dann für eine Weile von dem grausamen Spiel ablassen mussten, um einander zu entwirren. Tretend, schlagend und beißend schwärmten die Kornugons über Schwarzmantel, sodass man von ihm schon nichts mehr sehen konnte. »Jeden Moment haben sie ihn in tausend Teile zerrissen«, bemerkte ein hoher Teufel im Gefolge des Oberherzogs. Doch bevor die behaarte Hand von Fürst Geryon hochfahren und den Schwätzer mit einer Geste zum 651
Schweigen bringen konnte, schoss ein blendender silberheller Blitz aus dem Knäuel. Die Teufel, welche nicht von ihm getroffen wurden, flohen kreischend über den Himmel davon. Die anderen kippten einfach auf den Rücken. Von ihrer Asche würde nie wieder eine Bedrohung ausgehen. »Quarlegon«, befahl der Oberherzog. Der Genannte stieg sofort wie ein Höllenhund, den man von der Leine gelassen hat, zum Himmel auf. Überall stießen sich seine Kornugons von den Felsen ab und schlossen sich ihm an. Quarlegons Legion zählte schon sechzig Teufel. Sie drangen von allen Seiten auf den Menschenmagier ein und senkten sich wie ein Netz über ihn. Ihr Anführer stürzte sich aber nicht allen voran ins Getümmel, sondern blieb ein Stück zurück, um das Schlachtfeld zu überblicken und seinen Truppen genaue taktische Anweisungen zu geben. Halaster betrachtete eine Weile den geordneten und planvollen Anflug der Höllenwesen – und sandte ihnen dann einen Kettenblitz entgegen. Aber der zischte nur und erlosch vor den Magie abweisenden Schilden der Fürsten. Quarlegons Rechte sauste wie ein Fallbeil nach unten, und seine Soldaten stürzten sich wie ein Mann auf den Feind. Der Menschenmagier wob und webte hektisch Zauber, um den Angriff abzuwehren. Doch Geryon und sein Gefolge zuckten längst zusammen, ehe Schwarzmantel seinen ersten Bann geschleudert hatte. 652
Die Luft rings um die Schar der Fürsten geriet für einen Moment ins Wabern, und an den Spitzen ihrer Hörner, Ohren und Finger entstand ein verstörendes Prickeln. »Was war denn das?«, schrie einer von ihnen und brauchte noch eine Weile, ehe sein Schütteln abgeklungen war. »Echte, gewaltige Magie«, antwortete ihm ein alter und vernarbter Schwefelfürst. »So wie von der Hand unseres Herrn Asmodeus.« Einige der Jüngeren senkten, als dieser Name fiel, das Haupt und woben Abwehrzauber. Die restlichen aber standen nur da und betrachteten nachdenklich Halaster. »Nein, von dem kam das nicht«, meinte einer von ihnen schließlich, und die anderen nickten. Wie ein Mann hieben und stachen die Angreifer auf den Menschenmagier ein und zogen sich gleich darauf wieder in den Himmel zurück. Blutend und schwankend blieb Schwarzmantel zurück, doch er kam nicht dazu, sich zu erholen. Nach einem Schwenk sammelten sich die Teufel wieder und fielen schon erneut über ihn her. Als sie sich zum zweiten Mal von ihm lösten, vermochte Halaster sich kaum noch auf den Beinen zu halten. Ein Arm hing ihm mehrfach zerrissen und nicht mehr zu gebrauchen von der Schulter. Jedes Mal, wenn er zu stürzen drohte oder einen Hustenanfall erlitt, ertönte aus den Reihen der Gefolgschaft des Oberherzogs Kichern. 653
Der dritte Angriff löste einen Blitz des Silberfeuers aus. Doch der schoss wesentlich schwächer als vorhin hinauf. Nur ein halbes Dutzend Teufel stürzte enthauptet ab. Aber ein ganzes Dutzend von ihnen ergriff in Panik die Flucht. Die restlichen senkten sich zum vierten Angriff auf den Menschenmagier, und als sie wieder von ihm abließen, stand Halaster nicht mehr auf. Die Teufel rings um Geryon machten schon Witze darüber, als blauweißes Strahlen das ganze Schlachtfeld überschwemmte. Teufel stoben auseinander und flohen fast schon ungeordnet. Mit ihrem aufgeregten Flügelschlag gerieten sie sich gegenseitig in die Quere. Immer mehr Blitze flogen aus dem blauweißen Licht, und jeder davon war ein Treffer. Binnen weniger Sekunden waren weitere zwei Dutzend Teufel erledigt. »Von wem kommt das?«, keuchte ein Schwefelfürst. »Findet das heraus«, befahl Geryon barsch. »Los, Perstur! Agamur!« Gehorsam machten auch diese beiden sich unverzüglich auf den Weg. Sie bewegten sich mit ihren Truppen um den neuen, noch nicht genau erkannten Feind herum, statt sich wie ihre Vorgänger blindlings darauf zu stürzen. Eine blauweiße Blitzwolke verbarg den neuen Gegner vor ihren Blicken. Funken sprühende Hände wuchsen daraus hervor und hoben den gebrochenen Körper des stöhnenden Halaster sanft vom Boden. Weißes Licht hüllte ihn ein und leuchtete bald so 654
grell, dass alle Teufel den Kopf abwenden mussten. Als sie wieder hinsahen, war von dem Menschenmagier nichts mehr zu sehen. »Ob das schon wieder die Göttin ist?«, vermutete einer der Schwefelfürsten. Die Blitzwolke zog sich ein Stück zurück, und Quarlegons verbliebene Streitmacht umzingelte sie, aber sehr, sehr vorsichtig. Um wen es sich bei diesem neuen Feind auch handeln mochte, er zeigte sich nun als aufrecht stehende blauweiße Flamme. Und die schien wenig Wert darauf zu legen, umzingelt zu werden. »In dieser Gestalt habe ich Mystra von Toril bereits gesehen«, verkündete der alte Teufel mit den vielen Narben knurrend. Dreimal entschwand oder sprang die ovale Flamme aus dem Ring der Teufel. Und dreimal rückten sie nach, um den Gegner von neuem zu umzingeln. Dann hatten die Teufel das Feuer eingeschlossen. Hinter der Flamme ragten Felsnadeln von einem Hügelkamm, und an der Seite verlief eine kleine Rinne bis zu einer Höhle. »Ist das nicht der Bau, in welchem früher Barbathra gehaust hat?«, fragte einer der Schwefelfürsten. Der alte Vernarbte und Geryon nickten gleichzeitig, und der Oberherzog antwortete: »Yarsabras wohnt dort jetzt.« Als wäre das sein Stichwort gewesen, stürmte der hundeköpfige Ausgestoßene aus seinem Bau und hatte seine unzähligen Klauen ausgefahren. Wie ein Wall von 655
spitzen Haken trieben sie heran. Der geheimnisvolle Feind duckte sich plötzlich und wich mit einer Behändigkeit aus, wie man sie sonst nur bei Elfentänzern zu sehen bekam. Yarsabras hingegen konnte seinen Sturmlauf nicht mehr abbremsen und raste den angreifenden Teufeln entgegen. Er wollte sie nicht bekämpfen, und sie ihn eigentlich auch nicht. Ausgestoßene waren zwar nicht beliebt, aber hier handelte es sich um etwas ganz anderes. So traf Hieb auf Klaue und Klaue auf Teufel. Die blauweiße Flamme sprang leicht in die Höhe und sandte Blitze in das Getümmel. Aber der Kampf währte nicht lange. »Das ist eine Frau«, ließ der Vernarbte sich wieder vernehmen, denn er hatte für einen winzigen Moment die Hände sehen können, welche den Blitzzauber woben. Geryon nickte. »Ihr habt immer schon gute Augen gehabt, Grimwold. Haben wir es mit einer Göttin oder einer Sterblichen zu tun?« Der Alte runzelte die Stirn. »Eher sterblich, würde ich sagen. Sie bleibt nämlich ziemlich unten. Götter neigen dazu, sich ganz oben zu zeigen, damit sie auf alle anderen herabblicken können.« Der Oberherzog nickte zustimmend. »Wie eigenartig«, bemerkte ein anderer aus dem Gefolge. »Vorhin hat sie die Blitze ausgesandt, um die unseren zu erschlagen. Wie Pfeile trafen sie Teufel und vernichteten sie. Aber jetzt feuert sie die Blitze so ab, als 656
wolle sie Quarlegons Schar lediglich auf Abstand halten ... Was bezweckt sie damit?« Die anderen schauten hin und nickten verwirrt. »Vielleicht will sie ein Tor öffnen«, meinte einer. »Deswegen haben wir uns hier versammelt«, entgegnete der Oberherzog. »Wenn ich den Befehl gebe, rufen wir alles an Truppen zusammen, was wir kriegen können, und bringen mit dieser Streitmacht das Tor in unsere Gewalt, um es zu besetzen und zu zerstören!« »Nein!«, erwiderte Grimwold plötzlich und wirkte gleich neben Geryon einen Zauber. Alle anderen wichen zurück, erwarteten sie doch, dass der Oberherzog ihn für solch eine Unverschämtheit auf der Stelle niederstrecken würde. Aber der tat erst einmal nichts. Der Alte ließ nun seine Stimme vernehmen, und dank des Verstärkungszaubers war sie sogar auf dem Schlachtfeld zu verstehen: »Quarlegon! Bewegt Eure Getreuen! Führt sie zu der Rinne! Sofort! Wenn Ihr Euch nicht sputet, seid Ihr des Todes!« »Was bei allen Feuern des Nessus ist über Euch gekommen, altes Schabehorn?«, rief einer der Jüngeren entgeistert. »Ja, was hat das zu bedeuten?«, wollte auch ein anderer wissen. Die Teufel auf dem Schlachtfeld drehten sich verwirrt um, und Quarlegon starrte das Gefolge um den Oberherzog fragend an. »Ja seht Ihr es denn nicht?«, schrie Grimwold und zeigte mit einer Kralle aufgeregt nach vorn. »Das da!« Ihnen blieb kaum die Zeit, sich umzuwenden und 657
dorthin zu schauen. Da raste schon etwas aus dem Himmel auf die Teufel zu – genauer auf die Höllenbewohner, welche auf dem Hang standen. Ein gewaltiges Etwas stürmte von weit her durch Awernus. Eine dunkle und steinerne Hünenfaust, groß wie eine Hügelkuppe oder gar ein Berggipfel. Der Riesenbrocken wendete leicht, um dann genau auf den Hang zuzusausen. »Bei allen Feuern vom Himmel!«, entfuhr es einem der Schwefelfürsten. »Das Ding fliegt ja auf sie –« »Das war der magische Wirbel, welchen wir vorhin gespürt haben«, bemerkte Geryon äußerlich ganz ruhig. Er legte dem alten Vernarbten eine stark behaarte Hand auf die Schulter. »Immerhin habt Ihr sie eben gewarnt.« Der Fels traf so hart auf, dass ganz Awernus erbebte und es die zuschauenden Höllenfürsten von den Füßen oder Hufen riss. Ein gewaltiger Donnerschlag folgte im selben Moment, bei dem man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Der Stein prallte ab, kam noch einmal auf, rollte ein ganzes Stück weit und brach dann in mehrere Teile auseinander. Drei davon rasierten die Felsnadeln auf dem Höhenzug ab und zermalmten dann die Reste von Quarlegons Streitmacht. »Na ja«, meinte ein ausgesucht blöder Kornugon, welcher sich nicht weit von dem Höhenzug befand, »wenigstens hat der Stein auch den Eindringling erschlagen. Nichts kann uns jetzt noch –« Im nächsten Moment war von ihm schon nichts mehr übrig. 658
Blauweißes Feuer zertrümmerte den Riesenbrocken noch weiter und sandte ein burggroßes Stück in die Luft, um es dann aus großer Höhe auf den Standort der verbliebenen Streitkräfte hinabstürzen zu lassen. Binnen eines Augenblicks hatte sich das Heer des Oberherzogs in Rauch aufgelöst. Geryon und Grimwold sahen sich an, aber keiner von ihnen bewegte sich auch nur ein Fingerbreit fort. »Sie ist weitergezogen«, bemerkte der Alte dann. »Das war ihr letzter Schlag gegen uns.« Sein Anführer nickte und faltete die muskelbepackten Arme vor der Brust zusammen. »Wenn ich mich nicht völlig irre, ist sie jetzt auf der Suche nach Nergal und seinem menschlichen Sklaven.« Grimwold seufzte. »Sollen wir die höllischen Heerscharen zusammenrufen?« Der Oberherzog lächelte verächtlich: »Nein. Soll Nergal, wenn er sich schon für den rechtmäßigen Herrn der Hölle hält, doch selbst versuchen, eine Armee aufzustellen und eine Schlacht zu schlagen. In Awernus ist schließlich alles möglich.« Der Vernarbte lächelte über dieses ebenso alte wie vieldeutige Höllensprichwort. So standen die beiden noch eine ganze Weile auf ihrem Feldherrnhügel beisammen und ließen sich von der Brise durchwehen. Der Wind trug den Geruch des Todes heran ... Die alten Teufel atmeten ihn tief ein und erinnerten sich der guten alten Tage von Blut, Schlacht und Folter.
659
Die Simbul allein oben auf einer geschwärzten Felsnadel, welche sich irgendwo in Awernus erhob. Ihr langes Silberhaar flatterte im Wind, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Die Hexenkönigin hatte sich vorhin ziemlich verausgabt, als sie den Berggipfel herausgerissen und durch die halbe Hölle geschleudert hatte, um ihre Feinde zu zerschmettern. Und kurz davor hatte sie den armen Halaster, der endgültig dem Wahnsinn verfallen zu sein schien, aus der Unterwelt geholt und zurück nach Toril geschafft. Aber selbst tausend Teufel erschlagen zu haben statt bloßer hundert nützte ihr wenig, solange sie Nergal nicht erwischte. Zurzeit befanden sich ihre Suchzauber schon wieder auf dem Weg, um in den Schluchten und Höhen von Awernus nach einer Spur von diesem Teufel und seinem Gefangenen zu suchen. Da! Ohne einen Moment zu zögern, feuerte die Simbul einen Energiebolzen ab. Blaues Feuer raste erneut über Awernus dahin ... Hier bin ich, Teufel, hier unten in der Hölle. Diesen hübschen Gruß sendet Euch die Königin von Aglarond, die Hexe mit der zarten Haut und den feinen Zügen.
660
Überall krachte und toste blaues Feuer. Nergal taumelte hilflos durch die Luft. Sein ganzer Körper stand in Flammen. GRÄSSLICHE FLAMMEN!, brüllte er mit seiner Stimme und in Gedanken. Im Purzeln wob er Magie ... und krachte dann auf den Boden. Sein Fortbeförderungszauber wirkte noch. Im nächsten Moment fanden sich Elminster und er an einem ganz anderen Ort wieder. In einer dunklen und tropfenden Höhle, die keine von den Zerstörungsspuren aufwies, wie man sie sonst in Awernus überall antraf. (geistesklauen fassen hart zu) ZAUBERLEIN, ZEIGT MIR WEITERE LEBENDIGE ERINNERUNGEN, UND LASST NICHTS AUS! WAS IMMER VORHIN VERSUCHT HAT, UNS ZU VERNICHTEN, VERMAG UNS HIER NICHT ZU ERREICHEN! Da würde ich an Eurer Stelle aber nicht drauf wetten. HABE ICH ABER LÄNGST, MENSCHLEIN, MIT EUREM LEBEN ALS EINSATZ! (achtung in gleichem maße unverständnis bilder schweben aber dennoch heran) Elminster blickte von den Seiten auf, auf welchen Schriftzeichen in Dunkelblau und Kupfer leuchteten. Seine Züge strahlten Milde aus, doch der Blick in seinen Augen glich dem des Metalls vor ihm. »Die Stunde ist spät ... und die Kerzen sind schon heruntergebrannt. Euer eigenwilliger Witz tönt hart in meinen uralten Ohren. Deswegen erhebt Euch ohne weitere Verzögerung.« Torm nickte, lächelte freundlich und schwang sich 661
hinauf auf einen Haufen Pergamentrollen. Staub umhüllte ihn wie ein schattiger Umhang. Oben angekommen setzte er eine ähnliche Leidensmiene auf, wie Elminster sie zu zeigen pflegte, stützte das Kinn mit einer Hand und äffte den Tonfall seines Meisters nach: »Ich habe das eine oder andere von Bedeutung mitzuteilen, werter Freund, deswegen lasst uns etwas Zeit dem gemeinsamen Gespräch widmen.« JETZT SOLL ICH WOHL BEEINDRUCKT SEIN UND MIR SAGEN, DASS ICH ETWAS WESENTLICHES GELERNT HABE? UND ICH GEHE WOHL RICHTIG IN DER ANNAHME, DASS ICH IN DIESER KLEINEN SCHARADE VON EINER ERINNERUNG EUCH SPIELTE, WÄHREND IHR ALS TORM AUFTRATET? NUN, ZAUBERLEIN, EUER KLEINER PLAN IST AUFGEGANGEN, UND IHR SEHT MICH BEEINDRUCKT! DAS ERGEBNIS DIESER REGUNG WIRD EUCH, SO STEHT ZU BEFÜRCHTEN, WOHL WENIGER GEFALLEN! VOR EINER WEILE SIND MIR EINIGE ERINNERUNGEN VON EUCH AUFGEFALLEN, VON WELCHEN ICH ERFUHR, DASS EURE MYSTRA EUCH DIE AUFGABE ÜBERTRAGEN HAT, DIE SIEBEN SCHWESTERN zu UNTERRICHTEN! DAS WERDE ICH MIR JETZT ANSCHAUEN – BESSER GESAGT DAS, WORAN IHR EUCH NOCH ERINNERN KÖNNT –, UND SO DURCH SIE LERNEN, WAS IHR IHNEN BEIGEBRACHT HABT! (helle bilder rauschen heran) NEIN, NEIN! ICH WILL KEINE VORAUSWAHL, WELCHE IHR GETROFFEN HABT! DIESMAL WERDE ICH IN EUREM GEDÄCHTNIS GRABEN, BIS ICH DAS GESUCHTE GEFUNDEN HABE! ICH MÖCHTE 662
NÄMLICH MEHR ALS NUR DAS ZU SEHEN BEKOMMEN, WAS IHR FÜR GEEIGNET HALTET!
WENN EUCH MEINE SUCHE SCHMERZEN ODER PEIN BEREITEN SOLLTE, DANN ERINNERT EUCH DARAN, WELCHEM NEUNMALKLUGEN
ÜBERGESCHEITEN IHR
SOLCHE
VORSICHTSMASSNAHMEN zu
VERDANKEN HABT!
Das ist kein kluges Vorhaben, Teufel, aber jemand wie Ihr wird ja immer erst durch Schaden klug. ICH DANKE FÜR EURE RÜHRENDE SORGE, SKLAVE! VERGESST NICHT, AUF ALLEN VIEREN ZU KRIECHEN! (gedankenpeitsche zusammenzucken taumeln tentakel die ungeduldig auf den boden trommeln während ihr besitzer tiefer und tiefer eindringt) Ich habe so wenig übrig behalten, dass ich kaum nachdenken kann ... und mich erst recht nicht daran erinnere. Da ist nicht mehr viel in mir. Ich bin so gut wie leer ... Alles hat dieser Teufel in sich aufgesogen. Damit bin ich ... fast gar nichts mehr ... Bin heruntergeschmolzen auf die allerletzten Erinnerungen. Alles andere hat der Teufel mir genommen. Meine Zaubersprüche sind ebenso fort wie das in Jahrhunderten aufgebaute Gedächtnis für Namen und Gesichter. Selbst die peinlichen Momente, an die ich mich nie so gern erinnert habe, sind fort. Alles ist mir genommen, bis hinab zu den am tiefsten vergrabenen und längst vergessenen Dingen. Bis auf meine letzten Geheimnisse. Ihr Götter, so anstrengend viele Jahre liegen hinter mir, und dennoch bin ich noch immer nicht bereit, allem zu entsagen und in die ewige Finsternis hinüberzugleiten. 663
Elminster, Ihr wart immer ein ziemlich selbstsüchtiger Hund! Mystra, verlass mich nicht. Erhalte mich. Bewahre mich. Bitte. (bilder leuchten auf) Der alte Mann aus Schattental hat mit einem Mal einen trockenen Mund. »Bei den Göttern, wie schön sie ist!«, entfuhr es ihm ungewollt. Seine Kristallkugel zeigte ihm eine große und schlanke Frau in schwarzem Leder und roter Seide, die allein den Weg entlangschritt. Ihr mitternachtsschwarzes Haar, welches wie ein Wasserfall lockig herabfiel, glänzte in der Sonne. Weiß und glatt leuchtete ihre Haut, und ihr Antlitz ... Er besaß nicht genug Worte, ihre Züge auch nur annähernd zu beschreiben. Hoffnung erwuchs in ihm, und die ließ er sich ein wenig in seinem Herzen ausbreiten. Schließlich war er so lange allein gewesen ... Sein Blut geriet zunehmend in Wallung. Ihr dürft sie lieben, müsst das sogar, aber verliert Euch bloß nicht in ihr. Denn eine wie sie wird Euch nur betrügen und im Stich lassen ... Die Srinschee sprach in diesen Zeiten nur noch selten zu ihm. Dabei hatte er ihr so viel zu sagen. Er musste ganz dringend mit ihr reden, nur ... Elminsters Hände umschlossen den Stab. »Sie will es also auch?«, murmelte er. »Worauf warte ich dann noch?« Nein, nein, mein Lieber, Ihr müsst ihr den ersten Schritt 664
überlassen. Mystra legt die ganze Geschichte in Eure Hände, und ich glaube, dort ist sie auch bestens aufgehoben. Liebt sie, und lehrt sie, aber verliert nicht Euer Herz an sie. Ihr dürft sie dazu bringen, Euch zu bewundern; denn das wird Euch die Sache sicher erleichtern, wenn sie Euch stehen lässt, um in die Welt hinauszuziehen und ihren eigenen Weg zu gehen. »Woher wisst Ihr das alles?«, platzte es aus dem alten Mann heraus, und er schlug mit der Faust hart auf den Tisch. Der gehörnte Schädel auf dem polierten Holz klapperte, und sogar die schwebenden Metallteile, die früher einmal eine Krone gebildet hatten, klingelten ganz unheimlich. Später, mein Lieber. Denn die Dame ist eben eingetroffen. »Ich ... Bei den Neun Höllen, Nergal verlangt ...« HA! IHR HABT EURE EIGENEN BÜCHER GELESEN, NICHT WAHR? »Tod und Vernichtung allen forsch heranschreitenden Möchtegern-Lehrlingen! « Die Frau mit den rabenschwarzen Haaren schob unbekümmert die Tür auf, bevor Elminster ihr Bild aus der Kristallkugel verscheuchen konnte. Ihr Blick fiel natürlich sofort darauf, und mit einem leisen Lächeln näherte sie sich ihm. Als sie ihn erreichte, verschränkte sie die Arme vor ihrem in jeder Hinsicht sehenswerten Busen und sah dem Zauberer mit dem Anflug eines leidenschaftlichen Versprechens in die Augen. 665
»Ich habe gehört, Ihr sucht einen Lehrling?« Ihre Stimme war reine Musik. Elminster strich sich über den Bart und versuchte, verwundert dreinzuschauen. »Aha? Und wie hat solches Hörensagen den Weg zu Eurem Ohr gefunden?« »Mystra hat es mir gesagt«, antwortete sie so selbstverständlich, als käme die Göttin regelmäßig zum Tee bei ihr vorbei. »Ihre Stimme ertönte aus dem Altar, an welchem ich letzte Nacht gebetet habe.« Der alte Mann aus Schattental betrachtete sie mit dem Anflug eines Grinsens. »Ja, wenn das so ist, bleibt mir natürlich keine andere Wahl. Allerdings schwebte mir diesmal ein mürrischer und männlicher Zwerg vor, und weniger eine«, er seufzte tief, »weitere junge und überaus schöne Menschenfrau. Aber wenn Mystra so entschieden hat ... Wie heißt Ihr denn, mein Fräulein?« »Symgharyl Maruel«, antwortete sie frisch heraus, zögerte dann aber, errötete leicht, warf nun jedoch den Kopf in den Nacken und erklärte stolz: »Auf Zauberertreffen nenne ich mich allerdings Schattine. Auf der letzten Veranstaltung habe ich Eure Krone aus Feuerbällen gesehen, Edler Elminster, und die hat mich sehr beeindruckt.« »›Edler Elminster‹, sagt Ihr? Ich hoffe nicht, dass Ihr Euch das zur Angewohnheit macht. ›Alter Mann‹ passt viel besser zu mir, und auch ›alter Langbart‹ wäre mir genehm. Nun denn, Lanscharra, wie soll ich denn Euch nennen, wenn wir, einmal angenommen, zehn oder zwölf 666
Sommer als Lehrmeister und Schülerin miteinander verbringen müssten?« Alle Farbe floh ihr Gesicht, sie musste schlucken, und sie senkte den Kopf. Leise fragte sie dann zurück: »Woher kennt Ihr meinen wahren, aber geheim gehaltenen Namen?« Der alte Langbart schenkte ihr ein Lächeln, das nichts als Freundlichkeit enthielt. Dazu breitete er in aller Unschuld die Arme aus: »Wisst Ihr, Mystra spricht gelegentlich auch zu mir.« HÖRT DAS DENN NIE AUF? WEIBER, WEIBER, WEIBER! WENN IHR NICHT SELBST EINMAL EINE FRAU GEWESEN WÄRT, MÜSSTE MAN GLAUBEN, DIE LÜSTERNHEIT HÄTTE EUCH VÖLLIG DAS GEHIRN VERNEBELT! ICH HABE NOCH IMMER KEINE MAGIE ZU SEHEN BEKOMMEN, MENSCHLEIN! UND ICH HOFFE, IHR GEBT EUCH NICHT SOLCH FROMMEM SELBSTBETRUG HIN, DASS EURE WEIBERGESCHICHTEN MEINE GUTE LAUNE FÖRDERN KÖNNTEN, ODER? Auf Toril ist Mystra Magie. UND WAS SOLL DAS JETZT SCHON WIEDER HEISSEN? ICH ... OHO! MOMENT MAL! DAS WILL ICH JETZT ABER SEHEN, ZAUBERLEIN! Mit dem größten Vergnügen.
667
22 Die endgültige Leerung von Elminster
Die Stimme, welche er so liebte, schien rauchig aus dem Feuer aufzusteigen. »Warum Aglarond? Seid Ihr es müde geworden, immer wieder dieselben Orte heimzusuchen, altes Schwert der Mystra?« Der schwarz gekleidete bärtige Mann, welcher bislang auf und ab geschritten war, blieb jetzt so unvermittelt stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. »Oluevaera?«, rief er erregt. »Lehrerin?« »Die eine wie auch die andere.« Flammenzungen loderten auf. »Ich fühle mich ein wenig einsam, Prinz von Athalantar! Die Jahre ziehen ins Land, und ich sitze Nacht für Nacht da und warte ... aber Ihr zeigt Euch nie.« Elminster wäre beinahe ins Feuer hineingesprungen und breitete schon die Arme aus, obwohl es doch nichts zu umarmen gab. Der Feuerschein tanzte vor seinem Gesicht, als er sich über den offenen Kamin beugte. Tränen fielen aus seinen Augen und verzischten in den Flammen. »Ihr verbrennt Euch noch die Stiefelspitzen«, merkte die Srinschee an, klang jetzt aber nicht mehr so spielerisch. »Tretet zurück und hört auf zu heulen, sonst muss ich gleich mitweinen!« 668
Nur widerwillig gehorchte der Mann aus Schattental, ließ das Feuer aber in keinem Moment aus den Augen. »Wie ist es Euch gelungen, zu mir vorzudringen?«, fragte er verwundert. »Ihr habt mich gerufen – gerade eben, in Eurem Gemurmel: ›Bei dieser Mörderin muss es sich um eine Magierin handeln, welche der Srinschee ebenbürtig ist!‹ Na, da musste ich doch vorbeischauen! Wer könnte mir denn ebenbürtig sein?« Elminster grinste, schritt wieder auf und ab und fuchtelte mit den Armen. »Nun, ich fürchte, der Vergleich ist gar nicht so weit hergeholt. Gesandte bekämpfen sich im Palast von Aglarond mit tödlichen Bannen, und diese Nachwuchs-Seneschallin, die Simbul, von der man vorher nie gehört hat, schleudert sie alle mit ihren Zaubern nieder. Schon drei Mal! Ist das denn zu fassen?« Er rannte aufgeregt weiter, lief sogar aus dem Zimmer, hielt aber im Flur inne und kehrte um. »Rote Zauberer lassen sich nicht so leicht beeindrucken, aber diesem geheimnisvollen Mädchen gelingt das sozusagen mit links. Statt die Unterwerfungsurkunde ihres Reichs zu unterzeichnen, unterschreibt die Großkönigin Ilione einen Beistandsvertrag mit Thay. Damit sind die beiden Mächte so etwas wie Verbündete geworden. Überall unter den Magiern redet man von dieser unbeherrschten Frau und ihren tödlichen Zaubern. Sie nennen die Namen von Ilbrul dem Widderhorn, der behauptete, von Netheril selbst entsandt zu sein; sie 669
nennen Englezaer und die Bannjäger Ammarask und Brastimeir den Kühnen, welche allesamt von dieser Frau im Kampf besiegt und erschlagen worden sind! Ich bin wirklich der Ansicht, dass Aglarond zu stark geworden ist. Diese Simbul muss aufgehalten werden.« »Eure Aufzählung der von ihr Getöteten ist vollständig, wohl wahr, aber, mein tapferer Löwe, hat es nicht einmal eine Zeit gegeben, als Ihr starke Zauberinnen bewundert habt? Oder ist Eure Erinnerung an Kormanthor und die glorreiche Zeit von Myth Drannor verblasst?« »Keineswegs. Aber Mystra verlangt von mir, die Magie zu fördern – und nicht untätig danebenzustehen, wenn ein Zauberer, gleich ob Mann oder Frau, in seinem Ehrgeiz einen Magier nach dem anderen erschlägt.« »Warum habt Ihr Euch dann nicht längst in Zorn und Rache gewandet und Verheerung über Aglarond gebracht? Warum habt Ihr die Simbul noch nicht zerstampft? Fürchtet Ihr Euch am Ende vor ihr?« Elminster schnaubte. »Ich mag ja gelegentlich ein Narr sein, aber ein Angsthase bin ich noch nie gewesen! Das Einzige, wovor ich mich fürchte, ist, das Falsche tun zu können. Tatsächlich habe ich mich schon einige Mal entschlossen, gegen diese Simbul vorzugehen, aber wenn ich dann kurz davorstehe, vernehme ich Mystras Stimme. Sie flüstert mir zu: ›Sieh erst ganz genau hin.‹« »Ja und?« »Ich hatte mich in der letzten Zeit um zu viele andere magische Belange zu kümmern und auch sonst Dienste 670
für Mystra zu erledigen. Doch nun bin ich der Ansicht, dass diese Simbul es zu toll getrieben hat und man sie nicht länger übersehen darf. Natürlich will ich zuerst, wie die Göttin es verlangt, einen genauen Blick auf ihre Taten werfen.« »Das hört sich für mich so an, als wärt Ihr bereits zu dem Schluss gelangt, dass diese Seneschallin sterben muss, mein Schwert der Mystra. Aber glaubt besser nicht, dass das so einfach sein wird. Befürchtet Ihr nicht für einen Moment Niederlage und Tod durch die Kräfte dieser ganz außerordentlichen Zauberertöterin? Diese Frau scheint mir so gefährlich zu sein, dass sie selbst Euch bezwingen könnte!« Der Prinz von Athalantar breitete die Arme aus. »Überall und zu jeder Zeit könnte mich jemand überwältigen und töten, und was würde das meinem Leben für eine Bedeutung verleihen? Vermutlich bin ich aber wirklich nichts und nur als winziges Rädchen im Getriebe der Dienste anzusehen, welche ich anderen erwiesen habe.« Die Flammen formten sich zu einem Lächeln, und das kannte er nur zu gut. Sofort stiegen ihm wieder Tränen in die Augen, und ein Kloß schnürte ihm die Kehle zu. »Ich kann nicht mehr lange bleiben, Liebster, deswegen hört mir gut zu: Wenn Ihr nach Aglarond zieht, macht Euch auf die schlimmste Zauberschlacht Eures Lebens gefasst. Wenn Ihr geht, dann mit einem wachen Verstand. Und macht Euch auf einige Überraschungen gefasst.« 671
Asche und Funken stiegen auf, und das Feuer ging aus. Die Kammer lag in Dunkelheit da. UND so HABT IHR EINIGE ÜBERRASCHUNGEN ERLEBT UND EUREN TEIL DAZU BEIGETRAGEN, DAS ACH SO SCHÖNE FAERUN IN EINEN HORT DER FREUDE FÜR ALLE MAGIER WEIT UND NAH ZU VERWANDELN ... BLA, BLA, BLA! ICH SEHE NUR IMMER NOCH NICHTS VON DER ZAUBERKUNST, WELCHE MIR VERSPROCHEN WURDE! (bunte bilder schweben noch rascher heran) »Gerüchte, Lieber Edler Elminster, verbreiten sich so rasch wie kläffende Köter. Die Wahrheit hingegen schleicht ihm wie eine stumme Schnecke hinterher.« Der Mann aus Schattental nickte und seufzte: »Ein hübscher Vergleich, Thauntar. Aber diese Magier sind nun einmal erschlagen worden, und ihre Anzahl hat eine erstaunliche Größe erreicht.« Der einäugige Krieger zuckte in seiner schlecht sitzenden Rüstung die Achseln und erwiderte: »Ich versuche ja, die Wahrheit zu erkennen, so wie die Herrin, welcher wir beide dienen, es mir beigebracht hat, aber ich fürchte, dass Ihr mehr zu hören bekommen habt, als die Wahrheit allein zu bieten vermag. Der Vertrag zwischen den beiden Mächten dient nicht der gemeinsamen Kriegsvorbereitung. Vielmehr handelte es sich bei ihm um einen Nichtangriffspakt. Aglarond geht es um nicht mehr und nicht weniger als sein Überleben. Und das scheint ihm durch diesen Vertrag für die nächsten paar Jahre gesichert. Und Thay 672
gewinnt dadurch die einmalige Gelegenheit, ohne auf Widerstand zu stoßen einzusickern und sich auszubreiten. Auf lange Sicht wird Thay sich Iliones Reich ohne größere Kosten und Kraftanstrengung einverleiben können.« Der Alte Zauberer zuckte nur die Achseln. Thauntar hob einen rostroten Handschuh, um anzuzeigen, dass er noch mehr zu sagen hatte. »Diese Vereinbarung kam auch erst zustande, nachdem die Hexe, welche die Simbul genannt wird, drei Gesandte aus Thay getötet hatte, die in Aglarond auf Besuch weilten.« »Ach, und was mag diese Frau wohl dazu bewogen haben? Wollten diese Thay sich nicht in ihr Tanzkärtchen eintragen, oder sind sie sonst wie frech geworden?« »Welcher Thay verhält sich nicht frech und aufdringlich, wenn er sich im Ausland aufhält? Aber nein, Herr, die Sache verhält sich natürlich vertrackter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Wie sich im Nachhinein herausstellte, handelte es sich bei diesen Gesandten samt und sonders um Magier, welche planten, sich im Palast festzusetzen und dann jeden zu ermorden, dessen sie habhaft werden konnten.« »Und ich habe gehört, dass diese Simbul jeden Zauberer tötet, welcher ihr über den Weg läuft ... Auf ihr Konto gehen mittlerweile so viele tote Magier, wie man es in einem so kurzen Zeitraum kaum für möglich halten will.« »Die Simbul, Herr, und hört mir jetzt bitte genau zu, 673
tötet nur Feinde von Aglarond.« »Ich bitte Euch, selbst Magier aus Kormyr?« »Heute Abend triff eine Gesandtschaft aus der Stadt Chessentia ein. In diese sollen sich auch Spione aus Thay eingeschlichen haben. Und so hat selbst Kormyr, wenn auch unwissentlich, thayanischen Schlangen Unterschlupf gewährt!« Elminster runzelte die Stirn. »Ich danke Euch für Eure Auslassungen, weiser Krieger Thauntar. Mein Entschluss steht nun fest. Ich werde ausziehen und mir diese Töterin der Thay mit eigenen Augen ansehen.« »Das wäre sicher das Beste«, stimmte der Krieger zu. Die beiden Männer nickten sich zu und umarmten sich. Nachdem sie sich auch noch auf die Schulter geklopft und sich zugewinkt hatten, gingen sie auseinander: Der eine in einem Funkenflug und der andere im Marschtritt den Hügel hinan. ICH
VERMUTE,
IHR
HABT DIESEN STÄMMIGEN
KRIEGER
AUCH
GELIEBT.
Nein, aber Mystra hat das getan. UND? Nichts und, er ist später gestorben. HA! DA HAT SIE JA GANZ UMSONST ZEIT UND GEFÜHLE AUFGEWENDET! Nicht unbedingt, denn die Göttin betrachtet Menschen nicht als ihre Werkzeuge, sieht sie nicht allein unter dem Gesichtspunkt, wie sie ihr bei diesem oder jenem Vorhaben nützlich sein können. Für Mystra sind Menschen so etwas wie Blumen, wel674
che sie in ihrem Garten hegt und pflegt. Jedes neue Jahr zeigt sich der Garten in schönerer Pracht und bietet noch bessere Möglichkeiten. (teuflisches schnauben klauen schieben erinnerungen wie spinnweben beiseite schmerzen suchen den ächzenden zauberer heim) HÖRT ENDLICH DAMIT AUF, MEINE ZEIT ZU VERSCHWENDEN, ZAUBERLEIN! Der Mund von Mehrspiele zitterte in unverhohlener Angst, als die schlanke Frau mit den wilden Haaren und dem malvenfarbenen Gewand ihm mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass sie mit einer friedlichen Verhandlung einverstanden sei. Um die Hüfte hatte sie sich lediglich eine Schärpe, aber keinen Gürtel gebunden, und Waffen trug sie auch keine bei sich. Selbst ihre Füße standen bloß im weichen Gras auf dem Burghof. »Aglarond heißt Euch willkommen«, erklärte sie dem Mund nun mit einem leicht belustigten Lächeln. Ihr wilder Haarschopf bot sich in weißer Pracht dar, aber ihre Augen bildeten dunkle Rätsel. »Alle unsere wahren Freunde sind hier immer gern gesehen.« Hinter Mund mit seinem vielen Geschmeide und einer Unzahl von Ringen, seinem goldenen Gewand und seinem assyrischen Bart verblassten die anderen Mitglieder und Agenten der Gesandtschaft. Dafür betrachteten sie die Frau umso eindringlicher. Einige von ihnen zeigten offen, wie unbehaglich sie sich in ihrer Gesellschaft fühlten. Andere umklammer675
ten ihren Waffengriff oder ihren Talisman. Vielen brach der Schweiß aus. Die Frau aber bedachte sie alle, wie sie da standen, mit einem warmen, fast mütterlichen Lächeln und führte sie dann die letzten Biegungen des Wegs entlang. Sehr edel und vornehm wirkte die Dame, und so mancher hielt sie auf den ersten Blick für die Königin, dabei war sie doch noch in der Lehre. Nur die wenigen Lichtpunkte, welche ihr wie eine Kielwelle folgten, verrieten dem Eingeweihten das Ausmaß ihrer Zauberfähigkeiten: Die Pünktchen bildeten einen Schild, der jeden niederstrecken würde, welcher sie hinterrücks anzugreifen wagte. Niemand in der ganzen Gesandtschaft hegte den geringsten Zweifel daran, dass diese Warnung ihnen galt. Sie verstanden jetzt auch, warum man sich überall im Land zuraunte: »In Aglarond wagen es nicht einmal die Blätter, ohne ausdrückliche Genehmigung der Simbul vom Baum zu fallen.« Der Weg schlängelte sich zwischen Teichen voller Seerosen hindurch. Kleine und bunte Fische, welche man hier Sonnensilber nannte, sprangen in Scharen aus dem Wasser und fingen Mücken und andere Insekten. Nachdem die Besucher schattige Gartenhänge hinter sich gebracht hatten, gelangten sie vor einen Seiteneingang zum Palast. Die Simbul schenkte ihnen wieder das warme Lächeln, als sie die Gesandtschaft hineinwinkte und diese einer nach dem anderen eintraten. 676
Hinter ihnen schritt die Seneschallin über die Schwelle und verbrannte gleich einige Männer aus der Gruppe zu Asche. Die Überlebenden schrien und rannten durcheinander. Elminster, der aus seinem Versteck hinter einem Baum zugesehen hatte, rief leise eine Beschwörung. Ein Abbild seiner selbst entstand, und das setzte er mitten vor dem Eingang in die Luft. »Mörderin!«, fuhr er die Simbul an. »Dreht Euch um und seht Eurem Untergang entgegen. Zu lange habt Ihr Schwächere abgeschlachtet, jetzt sollt Ihr Euch mit einem Ebenbürtigen messen!« Noch bevor sie herumgefahren war, sauste schon eine gleißende Silberlanze auf das schwebende Abbild zu. Hätte es sich dabei um den echten Elminster gehandelt, wäre es jetzt um ihn geschehen gewesen. »Sterbt, elender Knecht von Thay!«, zischte sie mit blitzenden Augen. »Ich bin kein Freund des Reiches Thay«, erwiderte der schwarz gekleidete, bärtige Mann, der jetzt vor der Hexe schwebte. »So lange Ihr Thayens Werk verrichtet, seid Ihr für mich auch ein Thayaner«, gab sie verächtlich zurück. »Alle Feinde Aglaronds sind in ihrem Herzen Thayaner, ganz gleich, wie sie sonst auftreten mögen.« Elminster sah sie an wie ein verstocktes Kind. Als sie fertig war, sprach er: »Tretet endlich vor und stellt Euch zum Kampf, heimtückische Mörderin, welche nur aus dem Hinterhalt zuschlägt.« 677
»Ich habe lediglich vermutliche Spione und Unruhestifter in den Palast der Großen Königin eingeladen«, entgegnete die Simbul und warf einen Blick über die Schulter. Hinter ihr husteten und taumelten die Überlebenden. Die Seneschallin hatte sie mit einem Rauchbann bedacht, und der würde sie noch eine Weile beschäftigt halten. »Diese dort unterstehen jetzt meiner Verantwortung«, sprach die Simbul mit Blick auf die restlichen Mitglieder der Gesandtschaft. »Ich suche mir selbst die Gelegenheiten aus, wann und wo ich mit jemandem kämpfe. An Herausforderungen von irgendwelchen dahergelaufenen Wichtigtuern habe ich kein Interesse. Deswegen trollt Euch, Mann!« Zur Antwort lächelte Elminster sie überfreundlich an. Dann drehte er sich halb, ohne seine Feindin jedoch aus den Augen zu lassen, hob einen Arm und spreizte die Finger. Helle Bolzen sausten aus den Kuppen. Ein Turm des Palasts flog auseinander, und seine Trümmer regneten in den Garten. Die Seneschallin vergaß für einen Moment, den Unterkiefer wieder hochzuklappen. Elminster lächelte noch breiter, hob den anderen Arm und köpfte eine Reihe von drei Kaminen. Die Simbul kochte vor Wut und hob beide Arme über den Kopf. Aus den verschränkten Fingern donnerte ein gewaltiger Blitz auf das Abbild zu. Das Energiegeschoss toste auf den falschen Elminster 678
zu und schleuderte ihn widerstandslos fort. Das Geisterbild raste heulend durch den Garten – und übertönte damit den überraschten Schmerzensausruf des alten Mannes von Schattental, als der hinter seinem Baum vor Pein zitterte. »Ha!«, rief die Simbul triumphierend. Zur Antwort darauf flammte der Turm neben dem Palasteingang auf, und der Seneschallin platschte unvermittelt kochende Lava vor die Füße. »Stellt Euch zum Kampf, oder verliert Euren Palast Stück für Stück«, teilte ihr die Türglocke mit, welche sich gleich neben ihrem Ohr befand. Mit schrillem Kreischen wirbelte die Simbul herum und löste die Glocke in Staubkörner auf. Der nächste Turm krachte polternd in sich zusammen, und ein Soldatenhelm rollte heran und fragte neugierig: »Verzeiht, junge Frau, geht es hier vielleicht um eine Wette, wer zuerst Iliones Thron verwüsten kann?« Helle Flammen schlugen aus den Augen der Simbul, und ihr Haar wogte wie in einem Sturm. Sie erhob sich in die Lüfte und streckte die Arme aus. »Zeigt Euch, mein Feind!«, schrie sie, und rings um sie herum summte und knisterte es vor zusammengeballter Energie. »Zeigt Euch, Ihr Schlange!« Ihre Worte waren noch nicht ganz verklungen, da füllte sich der Himmel schon mit Energiestreifen, welche sich zu einem großen Netz zusammenfügten – und dort, hinter einem Baum, wurde ein Mann sichtbar, welcher in aller Seelenruhe einen Bann wob. Die Simbul bewarf ihn mit den Tränen des Todes, ei679
nem Zauber, welcher eine Art Vorhang bildete, und dieser verhinderte, dass man sich durch Gedankenkraft an einen anderen Ort zu befördern vermochte. Nun schnippte sie mit den Fingern, und schon eilte aus ihrem Gemach der Gürtel mit ihren Zeptern herbei. Doch noch während sie ihn umlegte und die Schnalle schloss, zerschnitten helle Energiescheren ihren Vorhang in mehrere Teile. Die so frei gewordene Zauberkraft ballte sich ohne das Zutun der Seneschallin zusammen und raste durch die Luft. Ein solcher Energieball krachte in die Häuser am Fuß des Hügels. Ein mächtiger Rumms ertönte, und dann breiteten sich dort überall Flammen aus. Die Simbul heulte und zeterte bei diesem Anblick. Während sie ihre Wut hinausschrie, wühlte sie mit zweien ihrer Zauberstäbe den Boden unter den Füßen des Feindes auf, so dass er kopfüber durch den Garten purzelte. Nur wenige Erzmagier hätten es gewagt, diese beiden Zepter gleichzeitig und zusammen zu benutzen. Die Magie, welche diesem Paar enteilte, versengte der Simbul die Finger. Überschüssige Energie breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus und drohte, sie zu ersticken. Barfuß sprang die Hexe durch die Luft, jagte ihrem Gegner hinterher und kreischte: »Tragt Euer Zerstörungswerk woanders hin, sonst, und das schwöre ich Euch, kette ich mich an Euch und werfe mich mit Euch ins Herz von Tiefwasser oder in die innerste Kammer von Kerzenburg!« Die Energienadeln, welche sie wie Dutzende von Pin680
zetten zwickten, hielten plötzlich in ihrem Tun inne, und einen Moment später ertönte die Stimme ihres Herausforderers. »Einverstanden. Wo treffen wir uns?« »An Grommors Reißzahn!«, fauchte die Simbul. »Kennt Ihr den Ort?« »Dann bis gleich, heimtückische Mörderin«, erfolgte die gut gelaunte Antwort, und schon sausten Energiebolzen auf ihren Umhang herab. Die Welt der Seneschallin verwandelte sich in ein ohrenbetäubendes Tohuwabohu, in welchem sie inmitten von tanzendem weißem Feuer zu ertrinken drohte. Ein paar vertraute Worte rissen sie aus dem tobenden Feuerring und schleuderten sie über das halbe Meer der Gefallenen Sterne hin zu Grommors Reißzahn. Die Simbul pflegte an diesem Ort ihre wildesten Magien auszuprobieren oder allein oben auf der Spitze zu liegen und die Sterne zu betrachten. Aber heute empfing sie kein Kuss der kühlen Brisen bei Sonnenuntergang – dafür fand sie sich inmitten einer warmen, schimmernden und abgeschotteten Kuppel aus reiner Magie wieder. Bei Mystra! Dieser Mann besaß eine erstaunliche Fixheit! Bei diesem Gebilde handelte es sich um eine Zweikampfkuppel aus dem alten Myth Drannor. So etwas hatte die Simbul erst einmal in ihrem Leben zu sehen bekommen, und damals – Aus dem Boden unter ihr wuchsen unvermittelt steinerne Speere. Deren obere Enden öffneten sich wie Blüten zu mehreren Spitzen und stachen von allen Sei681
ten nach der Hexe. Die Seneschallin schrie sofort eine Beschwörung, mit welcher die Spitzen wieder im Boden verschwinden sollten. Einige der Speere stachen sie aber noch in die Beine, und sie plumpste hart auf ihr Hinterteil. Der Fels unter ihr bebte jetzt von einer fernen Explosion. Anscheinend musste ihr Feind sich ebenfalls der Steinspeere erwehren. Sie lächelte grimmig und benutzte ihr herausströmendes Blut für einen Zauber, welcher sie um den Stein herum und zu einem anderen Menschen trug, der ebenfalls blutete. Während sich alles um die Simbul herum drehte, öffnete sie ein Medaillon an ihrem Gürtel und zerdrückte den winzigen Kristall, welcher sich darin befand. Magie umsummte sie wie das Schwingen einer Bogensehne. Die Energie umschloss die Seneschallin und wob einen Käfig. In dessen Mitte stand sie ihrem Herausforderer Nase an Nase gegenüber. Innerhalb dieser Glocke war keine Magie möglich. Die beiden starrten sich eine Weile lang an. Der Käfig hatte auch einen der wenigen Bäume am Reißzahn mit eingeschlossen, und dessen dornige Äste knarrten, während die Glocke sich immer enger zusammenzog. Nicht mehr lange, dann würden hier Splitter durch die Luft sausen. Die Simbul stieß ein Zepter mit spitzem Ende in Elminsters Rippen. Er trat sie in den Unterleib, und sie flog von ihm fort und hoch. Das Zepter löste sich aus der Wunde und zog eine Blutspur hinter sich her. Ihre Hand krachte gegen einen Felsen, und die dolchartige 682
Waffe entglitt ihren Fingern. Ihr Gegner fing das Zepter geschickt wie ein Jongleur auf. Sie ließ sich fallen, kam schwer auf und ging ächzend in die Knie. Er hüpfte auf ihren Rücken. Die beiden rollten ineinander verkrallt über den Boden, und der summende Energiekäfig rückte immer enger zusammen. Die Simbul sah, wie das spitze Zepter heransauste, um ihr die Gurgel durchzuschneiden. Verzweifelt riss sie eine Hand hoch, um sich dagegen zu schützen. Die Spitze durchbohrte ihre Linke und trat aus deren Rücken wieder heraus. Mystra! Was für Schmerzen! Vor Wut und Pein schluchzend trat und schlug die Hexe wild um sich. Sie hoffte, ihren Bedränger auf diese Weise abzuschütteln, um dann den Käfig zu verlassen und den Feind endgültig einzusperren. Und – Das Gewicht auf ihr löste sich von einem Moment auf den anderen in Luft auf. Kälte durchströmte sie, und das spitze Zepter verging in einem Rauchfaden. Elminster stand da und starrte auf das silberne Feuer, welches sich über den Handrücken der Simbul ausbreitete. Ihre Wunde schloss sich. Die Hexe schüttelte sich und wedelte mit der Hand, als ließen sich so die Schmerzen vertreiben. »Wie? Ihr dient ebenfalls Mystra?«, entfuhr es ihm völlig verwundert. Sie schaute ihn unter den Strähnen ihres nun silbern leuchtenden Haars an, welche wie Schlangen wogten. »Natürlich«, antwortete die Simbul, als hätte sie nie eine einfältigere Frage gehört, »wer tut das denn nicht?« 683
23 Feuer in der Hölle Widerhallende Dunkelheit in einem leeren Irrgarten ... Ich habe solche Angst, dass ich gar nicht nachdenken kann ...Wo ist denn nur mein Verstand abgeblieben? Was ist aus meinen Erinnerungen geworden? Wo bin ich? Nichts scheint von alledem übrig geblieben zu sein – nur meine Angst. Ich fühle mich so allein und fürchte mich vor allem. Ich treibe durch Dunkelheit und Kälte. Alle Helligkeit ist entwichen. Und deswegen habe ich Angst. NA ENDLICH! SILBERNES FEUER! ABER DAS KANN DOCH NOCH NICHT ALLES SEIN! HAT EURE GÖTTIN EUCH ETWA JEDES NOCH SO KLEINE GEHEIMNIS GENOMMEN, WELCHES NUR IRGENDWIE MIT DEM ZU TUN HABEN KÖNNTE, NACH DEM ICH SUCHE? ICH WERDE EURE KNOCHEN IN STÜCKE SCHLAGEN UND DIESE ZU STAUB ZERMAHLEN! ICH LASSE EUCH EINE HALBE EWIGKEIT LANG VOR SCHMERZEN SCHREIEN! ICH FOLTERE EUCH FURCHTBAR, LASSE EUCH ABER AM LEBEN, DAMIT IHR ALLES BEWUSST DURCHLEIDET! ICH BLENDE EUCH UND SETZE EUCH AUS, AUF DASS DIE LEMUREN EUCH FRESSEN UND DANN WIEDER ERBRECHEN, DAMIT DER NÄCHSTE SICH AN EUCH GÜTLICH TUN KANN! ICH WERDE EUCH – ACH, ZUM HIMMEL! MENSCHEN! Hier bin ich! Hier drüben, Nergal! Meine Knochen habe ich noch, aber sonst ist nichts von mir übrig. Überhaupt 684
nichts. Der Teufel hat gewonnen. WAS HABT IHR DENN ANDERES ERWARTET, ZAUBERLEIN? (strahlt über das ganze gesicht) EURE NICHTSWÜRDIGE GÖTTIN MAG MIR JA DAS SILBERFEUER STIEBITZT
HABEN
UND
AUCH
IHRE
ANDEREN
GROSSEN
GEHEIMNISSE, ABER ICH HABE DAFÜR EURE ERINNERUNGEN BEKOMMEN! JAHRHUNDERTE UM JAHRHUNDERTE ERINNERUNGEN DARAN, WO BANNE UND ZAUBER VERBORGEN LIEGEN, WIE MAN SIE WIEDER ERWECKT UND WO MAN DIE TORE FINDET! ZWAR WAGE ICH ES NICHT, MICH SELBST NACH FAERUN ZU BEGEBEN UND MICH DORT AN DER SCHLECHTIGKEIT ZU ERGÖTZEN UND MICH MEINES ZAUBERREICHTUMS ZU BEDIENEN. ABER WIE VIELE TROTTEL WERDE ICH UNTER DEN MENSCHEN FINDEN, WELCHE VOR MIR IM STAUB KRIECHEN WERDEN? AUSGESTATTET MIT EUREM WISSEN UND ALS ERBE DER VIELEN GEFALLEN, WELCHE MAN EUCH ÜBERALL SCHULDIG IST, KANN ICH EUER SCHÖNES TORIL NACH BELIEBEN AUSPLÜNDERN UND MIR IMMER MEHR MAGIE DAVON BESORGEN! ENDLICH! ENDLICH! DIE HÖLLE WIRD VOR MIR ERBEBEN! (bilder von awernus wirbeln vorüber) FANGEN WIR DOCH GLEICH DAMIT AN, EUER KLEINES LIEBESSPIELZEUG ZU DEMÜTIGEN UND ZU VERNICHTEN! JA, ICH SPRECHE VON DER HEXE, WELCHE GEKOMMEN IST, IHREN ELMINSTER ZU RETTEN! (magie strömt wie eine flutweile aus nergal dröhnendes teuflisches gelächter felsnadeln regnen auf eine einsame menschliche gestalt hinab) H A! H A! H A! (ein kopf schaut nach oben silbernes haar windet sich schlangengleich blitze krachen lassen steine zerplatzen) 685
Zwei Augen glühten inmitten des hochfliegenden Gerölls und Staubs wie Feuer. Ein leises Zischen breitete sich über halb Awernus aus. »Aha, Teufel, da seid Ihr ja. So genießt nun das, was ich Euch zu schmecken gebe.« Energie raste so rasch und gleißend heran, dass Nergal verwirrt grunzte. Seine Schwingen schlugen in plötzlicher Dringlichkeit ... ... und schon explodierte die ganze Hölle! Der Teufelsfürst wirbelte hilflos durch die kreischende Luft und hielt einen zerschmetterten Menschen in der Krallenfaust. BEI ALLEN FEUERN! DIE HAT JA SAGENHAFTE KRÄFTE! NA JA, DANN MÜSSEN WIR UNS EBEN AUCH EIN WENIG MEHR MÜHE GEBEN.
Betrachtet sie noch ein wenig länger. Selbst in ihrer Wut strahlt sie so viel Anmut aus. Eine erstaunliche Frau ... JA, JA, WIRKLICH ALLERLIEBST! ABER WAS TUT IHR DA EIGENTLICH, MENSCHLEIN? WIE KOMMT IHR DAZU, IN MEINEM KOPF ZU FLÜSTERN, WO DOCH – Wieder ein donnerndes Inferno. (teuflisches schmerzensgeschrei zwei körper welche wieder herumgewirbelt werden lodernde äugen die sie aus silberfeuer anstarren) DAS REICHT MIR JETZT ABER! WIR SETZEN UNS AB! SOLL SIE DOCH DIE HALBE HÖLLE UMKRAMEN, EHE SIE UNS WIEDER AUF DIE SPUR KOMMT! Rote Blitze hüllten sie ein und vergingen, dann fanden sie sich an einem anderen Ort in Awernus wieder. 686
Nergals Klauenhand legte sich auf Elminsters Schulter. Aus dem Nichts erschienen eine Kette und ein eiserner Kragen. Das rote Blitzen erschien wieder. »Nicht weit hinter uns«, murrte der Teufel. »Sie sprengt alles in die Luft, was ihr im Weg steht. Wir ziehen einfach von einem meiner Feinde zum nächsten. Von mir aus kann ganz Awernus in Trümmer gehen.« Er lachte gut gelaunt, und schon fand er sich mit seinem Gefangenen andernorts wieder. Zu ihren Füßen quoll roter Rauch. Nergal drehte sich halb bewundernd und halb erschrocken um. »Teufel fallen zerschmettert aus dem Himmel«, murmelte der Fürst. »Nicht mehr lange, dann wird Er von Nessus darauf aufmerksam werden. Dann möchte ich aber nicht in der Haut von Eurer kleinen Gespielin stecken.« Wieder Blitzen und dann Finsternis. Elminster steckte bis zum Hals in einer Grube voller Unrat. Sein Kragen drohte, ihn zu ersticken. Die daran befestigte Kette bewahrte ihn aber davor, in dem Schlamm zu ertrinken. ENDLICH
WIEDER ETWAS
RUHE! WO
WAREN WIR VORHIN
STEHEN GEBLIEBEN?
ACH JA! WIR GERIETEN GERADE VON EINEM BANNZWEIKAMPF IN DEN NÄCHSTEN! ABER DAS WILL WIR IMMER NOCH BESSER GEFALLEN ALS WIEDER HINTER DEN SCHÜLERINNEN HER ZU SEIN! SO ETWAS ERSCHEINT MIR DOCH EIN WENIG HOHL UND
687
ABGESCHMACKT ANGESICHTS EINER RASENDEN GÖTTIN, WELCHE DIE GANZE HÖLLE IN SCHUTT UND ASCHE LEGT!
Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten, aber mir kommt es so vor, als würdet Ihr in diesem Fall ein etwas feineres Urteilsvermögen benötigen. (verächtliches schnauben hieb mit der gedankenpeitsche) FÜR EURE UNGLAUBLICH WITZIGEN BEMERKUNGEN HABE ICH JETZT WIRKLICH KEINE ZEIT, ZAUBERLEIN! (ein neues bild wird angeboten) WAS SOLL DENN DAS? DAS LIEGT JA MITTEN IN MIR! WIE KOMMT IHR DAZU – Ich stecke tief in Euch, Teufel. Ihr wolltet alles von Elminster haben, jetzt bin ich in Eurem Kopf. ICH ... ICH ... ICH ... Betrachtet sie doch, Fürst Nergal. So viel Pracht, so viel Größe, allein schon, wie sie den Kopf in den Nacken wirft, wie selbstbewusst sie sich wütend in der Hölle umschaut, wie furchtlos sie nach uns sucht ... Seht sie doch einmal mit meinen Augen. Wie kann man eine so helle Klinge brechen oder überhaupt nur biegen? Diese Frau könnte alles für Euch sein! Eure Kriegsgeißel der Hölle, die alle niedermäht, welche gegen Euch stehen. Eure Gespielin, welche Euch mit ebensolcher Leidenschaft liebte, wie sie jetzt Tod und Vernichtung ausschüttet! BEI DER ZUNGE VON ASMODEUS! MENSCH, BEINAHE GELINGT ES EUCH, DASS ICH MIR WÜNSCHE ... Erinnert Euch an ihre Lippen. Oder an ihr silbernes Haar, wie es erst schlägt und dann verwöhnt ... 688
O JAAAH ... Erinnert Euch an ihre Umarmung, an ihre geflüsterten Verheißungen, an ihr ... JA! JA! JA! SIE IST DIE RICHTIGE FÜR MICH! GENAU SIE! Und jetzt schaut Euch doch noch einmal die Erinnerung daran an, wie wir – Energie toste wieder heran, die Hölle rings um uns bebte und quiekte, und die Zepter, welche die Simbul sich ins Fleisch gestoßen hatte, verkochten mit dem letzten Rest ihrer Zauberenergie und waren verschwunden. Die Hexe zitterte und fiel inmitten von herumliegenden Teufelskadavern und zerschmetterten steinernen Zitadellen auf die Knie. Wir wollten die Arme nach ihr ausstrecken, um sie an uns heranzuziehen, sie geborgen zu halten und sie zu heilen ... Der Kopf hebt sich, und die Augen entflammen wieder. »Ihr?« Das Grollen der Hexe steigert sich zu einem Schrei, mit dem gleichzeitig rohe und ungezähmte Energie aus ihrem Mund strömt. Nergal erlebt starke Schmerzen. ARRGGHH! NESSUS WIRD EUCH DAFÜR ZERQUETSCHEN, IHR LUDER! ICH – – liebe Euch. Liebe Euch mehr als alle Feuer der Hölle. JA! (tödlicher blitzbolzen wird weit geschleudert) J- NEIN! BEI ALLEN GEBOGENEN ZÄHNEN! MENSCHLEIN, WAS TUT IHR MIR DA AN? RAUS MIT EUCH! VERSCHWINDET AUS MEINEM KOPF! Der nächste Bann der Simbul ließ lodernde Flam689
mendolche in einer prasselnden Kaskade auf teuflische Muskeln und Sehnen herabregnen. Wie eine Tänzerin wirbelte die Hexenkönigin nun umher, um tödliche Energie in die Kehlen der Teufel zu stopfen, welche jetzt von allen Seiten über die zerbrochenen Felsen von Awernus heranströmten, um sich auf die Feindin zu stürzen. Schwarzes und rotes Fleisch zuckte und wand sich. Schreie vereinten sich zu einem Chor des Wehklagens. Nergal bibberte und musste sich an einem Felsen festhalten. Die Schmerzen raubten ihm den Atem. ICH VERMAG NICHT, SIE zu VERNICHTEN! DAFÜR IST SIE VIEL ZU HELL UND ZU WUNDERSCHÖN! DABEI MUSS ICH SIE HABEN! ICH MUSS SIE BESITZEN! ALASSRA! HIER BIN ICH! LIEBSTE! Der Fürst All Dessen Was Aus Den Tiefen Der Hölle Kommt sprang in die Luft, und seine Tentakel verwandelten sich in starke Flügel oder in Arme, die Schönste willkommen zu heißen. KÖNIGIN MEINES LEBENS, HIER KOMME ICH – Der Energiestoß, welcher nun aus der Simbul fuhr, war so stark, dass es selbst sie von den Füßen riss. Im Fallen schickte sie ihren Willen auf den Strahl. Das Silber drang wie eine Lanze in ihn ein, und ihr Wille sollte seinen Geist zerreißen! Mit einem Blick auf das unter ihr liegende Awernus stieg die einzelne Menschenfrau hoch in den Himmel hinauf. Das Haar umwehte sie wie ein Feuerkranz. Überall in der Hölle wimmerten und winselten, brüllten und flohen Teufel. In der Ferne explodierten Berggipfel in Feuer und Rauch. 690
Silbernes Feuer krachte in heiße Dunkelheit und breitete sich dort aus. »Elminster, sehet, ich bin gekommen!« Ich lebe, und ich liebe Euch. Ich stecke in diesem Teufel. Alles, was von mir übrig geblieben ist, befindet sich in ihm. Mystra, Ihr seid einfach großartig! (belustigtes lachen) »Habt Ihr denn etwas anderes erwartet?« Nergal schrie und brüllte, während das silberne Feuer in ihm brannte. Die Simbul kannte kein Erbarmen mit ihm, versengte und verbrannte ihn, verwandelte ihn in eine leere Hülle und ließ ihn nur deswegen noch am Leben, weil ihr Elminster in ihm festsaß. Doch ihr Liebster wurde schwächer und verging mit dem Feuer. Nein, verlasst mich nicht! VERLASST MICH NICHT – WAS FASELE ICH DENN DA? RAUS MIT EUCH, MENSCHENWURM! HINFORT AUS MEINEM GEIST! IHR VERPESTET MICH, IHR – MACHT ENDLICH, DASS IHR FORTKOMMT! Nergal sammelte all seine Macht, vereinte sie zu einer schwarzen und roten Woge und sandte die gegen die Hexenkönigin, um deren Wut zu überrollen. (bilder wirbeln außer rand und band helligkeit prasselt wie die scherben einer zerbrechenden glasscheibe dazwischen mit ihnen erinnerungen tränen lachen) Alles strömte in das bedauernswerte Wesen in der Senkgrube. Ein nackter Mensche schrie und würgte, während die Hölle rings um ihn hinfortgeweht wurde. NUN SEID IHR DRAN, HEXE! 691
Rote und schwarze Energiebolzen schossen aus dem großen geflügelten Teufel und durchfurchten den blutroten Himmel wie kratzende Finger. Sie schlugen ein, und als der Rauch sich gelegt hatte, stand die Schönste immer noch da. Alassra verzog höhnisch die blutigen Lippen: »Mehr vermögt Ihr nicht, Teufel?« Schlanke Finger streckten sich nach ihm aus, und Feuer schoss aus den Kuppen ... wenn auch nicht mehr ganz so übermächtig. Als die blauen und weißen Hammenzungen ihn trafen, gellte Nergals Schrei laut auf. (hektische rote blitze und flucht) DAS NIMMT JETZT ABER LANGSAM FORMEN AN, WELCHE MIR ÜBERHAUPT NICHT MEHR GEFALLEN! WO BLEIBT ASMODEUS, WENN MAN IHN MAL BRAUCHT? WARUM SIND DIE HEERSCHAREN DER HÖLLE NOCH NICHT HERANGERÜCKT? SOLL ES DIESER HEXE DENN GESTATTET WERDEN, UNS ALLE ZU TÖTEN? BEI DEN FEUERN DER HÖLLE! DURCH EUCH VERMAG SIE, MICH ANZUGREIFEN! (ein gedankenblitz dunkel und gewaltig wird ausgesandt tost durch die abgründe) (wird durch die finsternis zurückgeschickt um nergal zu treffen) Wimmernd und zitternd rollte der Tentakelteufel durch die Dunkelheit, und seine Kette schmolz dahin. »Tut mir Leid«, meinte der verschmutzte und nackte Mann neben ihm. Er hob die Stümpfe, bei denen es sich 692
einmal um Arme gehandelt hatte. »Aber wir beide waren zu nah aneinander gekettet. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.« Mit einer verstohlenen Bewegung griff der Mann aus Schattental sich ins Haar und berührte das, was dort verborgen lag. Dazu sprach er mit kalter und klarer Stimme in Gedanken: Beim Willen Thanthuls und nach meinem Bedürfnis, meine Knochensplitter dort drüben sollen wieder sein wie früher – und das sofort. Der verstoßene Höllenfürst konnte gerade noch einen fragenden Blick auf seinen Geistessklaven werfen, als auch schon die winzigen Armsplitter, welche Elminster in ihm hinterlegt hatte, zu ganzen Gliedmaßen anwuchsen. Nergal platzte auseinander. (lied verrückte musik wild und kreischend rotes feuer starrende ungläubige teufelsaugen welche in die finsternis entrücken ins vergessen entfleuchen) Allein und verstümmelt sank Elminster irgendwo in einer Höhle tief in Awernus auf die Knie und fing an, bitterlich zu weinen. Der Geist, welcher den seinen fast eine Ewigkeit lang beherrscht und geritten hatte, war verstummt und verschwunden. Niemals fällt es leicht, etwas zu verlieren, das man so lange gekannt hat. (roter um sich schlagender schmerz langsam und unter 693
foltern treibt er zurück endlich wieder dem licht entgegen) »Bei allen Feuern«, flüsterte Nergal so matt und schwach, wie er sich stets fühlte, wenn er sich aus Rauch und Essenz wieder zur Ganzheit zusammensetzte. Triefäugig sah der Teufel sich in der mit Kot gefüllten Höhle um und erblickte den kleinen und runden schwarzen Stein, welcher immer dort auftauchte, wenn er mal wieder dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte. Schon wieder hatte Nergal kostbare Zauberenergie verschwendet – und das nur wegen törichter Unachtsamkeit. »Diesmal hätte es aber leicht ins Auge gehen können«, krächzte er vor sich hin, weil er noch nicht wieder kräftig genug war, um laut zu knurren. »Wie soll ich jemals die Hölle regieren, wenn ich immer noch den Fehler begehe, die Menschen zu unterschätzen?« »Wie wahr, wie wahr.«, ließ sich hinter ihm eine Frauenstimme vernehmen. Der rechtmäßige Prinz der Hölle (zurzeit leider verstoßen) fuhr so rasch herum, wie es seine gummiweichen Beine zuließen. Und starrte in die lächelnde Miene der Hexenkönigin von Aglarond, welche kaum eine Armeslänge vor ihm in der Luft schwebte. Ihr Grinsen ähnelte zunehmend dem eines Wolfes, und ihre Augen verwandelten sich in dunkle Flammen. »Sterbt, Teufel! Für immer!«, zischte sie. Weihwasser, angereichert mit blauweißem Feuer 694
und silbernen Flammen, ergoss sich wie eine Sturmwelle über ihn. Das Letzte, was Nergal zu hören bekam, und ihm blieb wirklich nichts erspart, war die Stimme der Hexe. »Das ist für das, was Ihr meinem Liebsten angetan habt. Ich wünschte, ich könnte Euch wieder und wieder und wieder vernichten!« Eine dunkle, schuppige Hand stellte den Kelch ab, welcher im Halbdunkel grün blubberte und qualmte. »Wie überaus unterhaltend«, bemerkte Asmodeus von seinem Thron aus zusammengeketteten lebenden Teufelinnen, und man sah ihm seine Belustigung deutlich an. Müßig streckte der Herr von Nessus eine Hand aus, überwand magische Abwehr und griff tief in etwas hinein. Als er seine Hand gefüllt hatte, warf er das Geschöpfte nach Awernus, damit es dort die erschöpfte und schluchzende Menschenfrau vernichte. Ihr Bild waberte vor ihm ... Gerade drückte sie den gebrochenen armlosen Körper eines Mannes an sich. Die beiden befanden sich in einer versteckten Höhle, und die Hexe richtete ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, den Geliebten mit ihrer Lebenskraft zu stärken. Asmodeus lächelte zufrieden. Was für eine Ironie des Schicksals ...
695
In der bodenlosen Weite der dahinziehenden Sterne nahm Mystra den heulenden Mann von ihrer Brust. Sie drehte Halaster so, dass er den lächelnden Teufelsfürsten sehen konnte, wie der sich die Hand mit Dunkelfeuer gefüllt hatte. Dann flüsterte die Göttin dringlich: »Jetzt!« Halaster Schwarzmantel erstickte sein Schluchzen, das sich wie eine Mischung aus Wolfsgeheul und schrillem Kreischen anhörte, und richtete sich zur vollen Größe auf. Nun ließ er die Augen funkeln und befahl mit donnernder Stimme: »Asmodeus, verbeugt Euch! Ich gebiete es!« Der Herr der Hölle drehte sich verdutzt um, und über die Weiten, die Leeren und das dahintreibende Chaos trafen sich ihre Blicke. Mit leisem Lächeln sprach der wahnsinnige Zauberer nun das eine Wort, welches die Göttin ihm eingeflüstert hatte. All sein Irrsinn und all seine Tobsucht vereinten sich mit diesem Wort, und gemeinsam tosten sie Asmodeus entgegen und fuhren in seinen wohlgeformten Körper. Der Oberherr verdrehte die Augen, und sein Mund verzerrte sich. Goldenes Feuer rann aus seinen Öffnungen, und er öffnete die Lippen zu einem erstaunten Schmerzensschrei. Das Feuer dieses gewaltigen Zaubers wütete im Geist des Asmodeus ... Als Mystra die Verbindung zwischen ihr und Nessus schloss, blinzelte Asmodeus verwirrt und nahm noch 696
einen Schluck aus seinem Kelch. Was hatte er noch einmal zu tun vorgehabt? Irgendetwas Lustiges ... Mystra setzte den schwarz gewandeten Zauberer ab – wie eine Puppe legte sie ihn in sein Bettchen tief im Underberg. Sie tätschelte seinem Schutzdrachen den Kopf und kehrte dann in die unendlichen Weiten zurück – in die wartenden Arme von Azuth. Während sie gemeinsam dahintrieben, meinte die Göttin seufzend: »Ach, ich liebe es, wenn alles gut ausgeht.« Azuth, welcher sie gerade küssen wollte, hielt einen Moment inne, runzelte die Stirn und meinte: »Das könnte sich in der Zukunft als große Schwierigkeit erweisen.« In Awernus erstarb die schwarze Flamme, welche alles darstellte, was von Nergal übrig geblieben war. Ein Lemure schnüffelte und flog hungrig auf den Geruch zu. Die Wut, welche sich hier ausgetobt und die Felsen ein weiteres Mal geschwärzt hatte (als ob ihnen das nicht schon oft genug widerfahren wäre), war verraucht. Für den Moment jedenfalls.
697
24 Kurze Aufregung in Aglarond
»Darf ich vorstellen«, verkündete der Maskierte mit belustigtem Tonfall und führte die anmutige junge Dame vor, »Thorneira Thalance, die zurzeit Geruhende Kronträgerin von ganz Aglarond und Ringsherum.« Phaeldara, die auf dem Thron saß, hob den Kopf. »Nein, ist sie nicht, nicht einmal für drei Atemzüge. Hat die Gekrönte Furie nicht erklärt, dass wir uns von nun an nur noch Regent zu nennen haben? Und all diese Titel abschaffen sollen, welche nur dazu angelegt sind, Herolden und Gesandten den Schweiß auf die Stirn zu treiben und die Zunge zu verdrehen?« »Ganz recht. Aus eben diesem Grund gebrauche ich sie ja«, entgegnete der Maskierte kichernd. »Nur drei Atemzüge wollt Ihr gewähren? Bei meiner rechten Wade! Ihr hättet Euch schon nach dem ersten erheben sollen!« Die Höflinge und Gesandten, welche entlang den Wänden saßen, beugten sich allesamt vor, um nur ja nicht auch nur eine lustige Bemerkung oder nur eine Nuance derselben zu verpassen. Phaeldara erhob sich tatsächlich zur vollen Größe und ansehnlichen Gestalt und bemerkte im Plauderton zu Ewenyl, welche ganz in der Nähe auf einem Sofa 698
schwebte: »Ist jemals einer Dame so schreiendes Unrecht zugefügt worden?« Die vierte Teilzeit-Regentin schenkte ihr erst einmal das allerunschuldigste Lächeln, hob dann eine Hand mit gespreizten Fingern, so als wolle sie eine ganze Liste aufzählen, und entgegnete schließlich: »Lasst mich einen Moment nachdenken. Also, da hätten wir zunächst einmal –« Blitz und Donner schüttelten den Thronsaal durch. Die Kronenträger ließen von ihrem Geplänkel ab und drehten sich zu den keuchenden und tuschelnden Gesandten und Höflingen um. Was die Regenten dort zu sehen bekamen, ließ auch ihnen das Wort im Halse stecken bleiben. Die Hexenkönigin von Aglarond stand unangekündigt mitten im Raum. Nackt wie am Tag ihrer Geburt. Bloß, voller blauer Flecke und sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Ihre Haare hoben und senkten sich, als besäßen sie ein Eigenleben und wollten alles und jeden im Saal im Auge behalten. Die Augen der Simbul funkelten wie schwarze und tödliche Sterne. Auch sonst ließ sie sich nichts davon anmerken, als Kleidung nur Ruß, Dung und getrocknetes Blut zu tragen. Mit beiden Armen hielt sie einen abgemagerten, bärtigen und zerrissenen alten Zausel, der anstelle von Armen nur noch Stümpfe aufwies. Er konnte sich kaum aufrecht halten und stand schief wie eine Marionette da. Jeder im Saal konnte 699
sofort erkennen, dass nur die Arme der Hexe ihn davon bewahrten, auf dem Boden zusammenzubrechen. Nun griff sie in sein Haar und zog seinen Kopf auf ihre Schulter. Dann erst fand sie die Zeit, die Regenten mit einem Lächeln zu begrüßen. »Um es kurz und knapp zu machen«, erklärte sie den erstaunten Gesichtern. »Wir sind wieder da.« Wie zur Antwort darauf erwachte hinter ihr explosionsartig schwarzes Feuer zum Leben. Die Höflinge fingen an zu schreien, und als sich nun auch noch Schwefelgestank dazugesellte, fielen die ersten in Ohnmacht. Grinsende Teufel entstiegen dem schwarzen und gelben Rauch. Höllenbewohner mit langen Hörnern, Fledermausflügeln, Hauern und Schuppenhaut. Schrecklich anzuschauende Gestalten, welche die Krallenhände ausstreckten, als wollten sie die Simbul und den Mann in ihren Armen packen. »Geryon, der Oberherzog der Hölle schickt uns«, verkündete der Teufel an der Spitze, »um euch beide dem Tod zuzuführen. Natürlich nicht, ohne euch vorher gehörig gefoltert zu haben.« Die Hexenkönigin flüsterte etwas vor sich hin, und unter den gespaltenen Hufen der Teufel rasten Blitze hervor bis unter die Decke – und sausten wieder herab. Kreischen ertönte, und danach nichts mehr. Auch dem Auge bot sich wenig bis auf ölig schwarzen Rauch, welcher von zerfallenden Teufelskörpern aufblakte. Die Simbul lächelte. Die nächste Kompanie Teufel marschierte aus dem Feuer, lächelte aber nicht mehr ganz so überlegen. 700
»Glaubt ihr denn wirklich«, herrschte die Hexe sie an, »dass ihr mich hier, in meinem eigenen Haus, einfach so ergreifen könntet? Ihr habt wohl vergessen, dass ich hier nicht allein gegen euch antreten muss!« Sie hob eine leere Hand, und in der erschien eine blauweiße Flamme. Hinter ihr hoben die Regenten ebenfalls eine Hand – mit kleinerem, aber immer noch deutlich sichtbarem Feuer. »Und Ihr scheint in Eurer Arroganz vergessen zu haben, Hexenluder«, rief ein Höfling und hob beide Hände, um die Magie darin anzuzeigen, »dass Eure Feinde niemals allein stehen!« »Ganz recht«, meldete sich ein anderer zu Wort und hob auch die Hände: »Für Thay!« »Für Thay!«, ertönte es nun gleich aus mehreren Ecken. »Sollen die Königin und Aglarond gemeinsam zum größeren Ruhme Thays verrecken!« Mit wutentbrannter Miene riss ein Höfling einen Dolch aus seinem Gürtel und stieß ihn seinem Nachbarn in den Hals, hatte dieser sich doch gerade als Roter Zauberer zu erkennen gegeben. Nun erscholl überall Gebrüll und das Krachen von Zweikämpfen. Die Tür flog auf, und Thaergar stürmte mit neuem Schwertgurt herein. Für einen Moment starrte er mit offenem Mund auf den Tumult. Dann fuhr er herum und schleuderte einen seiner Dolche auf den Gong, um so Alarm zu geben. Im nächsten Moment schwang er das Schwert über den Kopf und stürzte sich ins Getümmel. Doch rote Flammen, welche einfach aus der Luft erschienen, 701
schleuderten ihn hart zu Boden. Zornig, aber bewegungsunfähig musste der Wächter mit ansehen, wie ein riesiger Teufel aus einer Wolke Dunkler Magie stieg. Er hielt einen Dreizack in der einen und eine Stachelpeitsche in der anderen Hand. Schon beugte er sich über Phaeldara, der ersten unter den Regenten. »Was für ein Leckerbissen!«, freute sich der Teufel. Thaergar und Phaeldara starrten auf den Schwefelfürsten, die Roten Zauberer und die Schwärme von Unterteufeln. Und sie schauten deren tödliche Energie, welche überall einschlug und Verheerung verbreitete. »Was für ein Mist!«, riefen dann beide wie aus einem Munde. Die Luft über dem Tisch schimmerte. Blaue und weiße Funken zeigten sich und wirbelten umeinander herum, bis sie eine Kugel bildeten. Diese strahlte so hell, dass ein Kopf hochfuhr und dessen Augen verwirrt und erschrocken darauf starrten. Dann flog ein Stuhl krachend um, und ein Mann durchquerte mit einer Geschwindigkeit, welche man ihm in seinem Alter kaum noch zugetraut hätte, den Raum. Er riss einen Schild und zwei rostige Kurzschwerter von der Wand. In seinen Händen verwandelten sie sich in einen Zauberstab und ein Zepter. Beide richtete der Königliche Magier von Kormyr auf die wirbelnden Lichtlein und rief drohend: »Wie bei 702
allen Launen der Heiligen Mystra konnte das hier hereingelangen?« Wie zur Antwort perlten die Funken zum Boden, und aus ihnen entstand eine Frauengestalt: Eine Elfin von kleiner Gestalt, aber unvergleichlicher Schönheit. Auf den ersten Blick hätte man sie für ein neunjähriges Kind halten können. Aber wenn man ihre Augen sah, entdeckte man darin das Alter und die Weisheit einer Göttin ... oder wenigstens einer Auserwählten Mystras. Vangerdahast ließ Zepter und Zauberstab sinken. »Wwer seid Ihr?« »Die meisten nennen mich die Srinschee, aber das spielt jetzt keine Rolle, denn wir beide werden dringend benötigt – im Thronsaal von Aglarond!« »Wo? Und warum?« »Weil Elminster sich dort seiner Haut wehren muss wie nie zuvor. Außerdem bittet Mystra uns darum.« Sie streckte eine Hand aus. Der Alte starrte sie für einen Moment an. Dann breitete sich eine geradezu unverschämte Freude auf seinem Gesicht aus, und schon lief er der Kleinen frisch wie ein junger Mann entgegen: »Ja, ich mache mit!« Die Menschen im Thronsaal schrien, rannten durcheinander und zückten ihre Waffen. Banne trafen sie, und Teufel hieben auf sie ein. Doch auch die Höllensoldaten brüllten und brachen sterbend zusammen. Energiestrahlen und Blitze rasten in die Reihen der 703
kreischenden Höflinge, und diejenigen, welche sich über die Roten Zauberer hergemacht hatten, mussten als Erste ihr Leben lassen. Inmitten des Tohuwabohus ließ ein Serviermädchen alles fallen, als ein Teufel ihr in den Ausschnitt griff. Sie ballte eine Hand zur Faust, holte weit aus und schlug dem Zudringlichen ins feist grinsende Gesicht. Der verging in blauweißem Funkenstieben. »Das ist jetzt aber wirklich etwas übertrieben!«, meinte ein Roter Zauberer, als die Magd in neu erwachter Kampfeslust über den nächsten Teufel herfiel. Der Rote Zauberer hob einen Finger, und Mädchen und Unhold verschwanden gleichzeitig. Sterne regneten auf den Boden, und dort, wo sie die Fliesen trafen, tauchte sofort jeweils ein verwundert blinzelnder Mensch auf, den man in diesem Getümmel bislang vermisst hatte. Khelben Schwarzstab, einer von ihnen, erschlug gleich mit einem Blitz drei Teufel. Der Fürstmagier von Tiefwasser ließ seinem Zorn über dieses Durcheinander freien Lauf. Er warf seinen Stab in die Luft. Der drehte sich dort und fing so manchen der Blitze und Banne auf, welche durch den Saal sausten. Mit einem Mal hatte sich der allgegenwärtige Rauch weit genug verzogen, dass die Anwesenden die Hexenkönigin wieder ausmachen konnten. Sie kniete noch immer auf dem Boden und hielt Elminster fest. Gerade hob sie eine Hand und schickte silbernes Feuer zu ihren Schwestern. Diese fingen ihren betreffenden Strahl auf, verstärk704
ten ihn und schleuderten ihn durch den Saal. Jeder Teufel, welcher damit in Berührung kam, verging augenblicklich. »Sehet!«, rief die Hexenkönigin und zeigte auf die wabernde Luft über Khelbens Stab. Die dort gefangenen Banne und Zauber wurden in ein leuchtendes Spinnennetz umgewandelt. Rasch wuchs dieses Gebilde an und füllte fast schon den ganzen Raum unter der Decke. Wie eine Spinne huschte die Srinschee über die Energiefäden. Bald würde man sie nicht mehr ausmachen können, weil das Netz jetzt schon unerträglich hell strahlte. »Unser Feind!«, entfuhr es jetzt der Hexenkönigin, und sie zeigte auf eine Stelle, wo sich die Schatten sammelten. Dort entstand ein ähnliches Gewebe, ein Netz aus Finsternis, welches wie ein Spiegelbild des Weißleuchtenden wirkte. Darunter zeigten sich Magier mit Zauberstäben und Stecken, welche im Chor »Schar! Schar!« sangen. »Das Gegenstück zum Netz!«, rief ein Höfling. »Aber wie kann so etwas denn bestehen?« Sein Nachbar lächelte tückisch, legte ihm einen langen Tentakel um den Hals und brach ihm das Genick. »Warum denn nicht?«, höhnte er dann. Beide Netze prallten nun gegeneinander, und überall im Saal starben Menschen und Teufel in dem Maße, wie das eine ein Stück weit über das andere triumphieren konnte. 705
Mit fürchterlicher Macht bekämpften sich die beiden, und nun griffen auch die Hilfstruppen auf beiden Seiten ein. Drei Teufel fielen gleichzeitig über die Simbul her und versuchten, ihr den Kopf abzureißen. Ein vierter schob ihr seine Krallenhand in den Mund, um sie daran zu hindern, Zauber auszustoßen. Der zitternde, verdreckte Mann, welchen die Simbul bis eben gehalten hatte, lag vergessen auf den Fliesen. Erst ein gewaltiges Donnern ließ ihn wieder zu Bewusstsein kommen. Er betrachtete kurz das Banngefecht und schüttelte angewidert den Kopf. Der Mann kroch fort und kam an Erschlagenen und Trümmern vorbei, welche von der Decke gefallen waren. Die Schar-Jünger schickten rings um den Kriechenden schwarze Blitze in den Boden und überschütteten ihn mit Steinsplittern. Er schien gar nichts davon mitzubekommen und setzte seinen Weg unerschütterlich fort. Diese Umgebung hier erinnerte ihn immer mehr an Awernus. »Haltet ihn auf!«, brüllte ein Obermagier der Schar, als er Elminsters ansichtig wurde. Aber die Warnung erfolgte zu spät – zumindest für diejenigen, welche der Seite des Bösen anhingen, obwohl das doch eigentlich Geschmacksfrage ist. Der Mann vom Schattental, der als Schafhirte angefangen hatte und beinahe König von Athalantar geworden wäre, erreichte eine silberne Pfütze, welche Mystra für ihn abgelegt hatte. Mit letzter Kraft ließ er das Gesicht hineinfallen. 706
Ein übermächtiges Brüllen erfüllte den Saal, und ein jeder hielt in seiner Bewegung inne. Blitze verzuckten, Banne erstarben, Hände sanken herab. Unfassbare Energie entwickelte sich und vereinte sich in Elminster: Mystras Göttlichkeit, welche sie für diesen Kampf ihrem Auserwählten überließ. Er wirkte unbeeinträchtigt und unbeschädigt, und weißblaues Leuchten umrahmte ihn. Feuerstrahlen schossen aus seinen Fingern und funkelnden Augen und streckten sie alle nieder: Teufel wie Schar-Jünger, Rote Zauberer wie Malaugrym. Binnen weniger Augenblicke waren sie alle niedergemacht. Danach zeigte der uralte Magier mit beiden Händen auf das Schwarze Netz, und darauf ergossen sich nun blauweiße und silberne Feuer. Eine Explosion erfolgte, welche vom Palast nur noch rauchende Asche übrig ließ. Elminster blickte mit derselben Ergriffenheit wie alle anderen auf das Zerstörungswerk. Vollkommene Stille breitete sich unter dem nun deutlich sichtbaren freien Himmel aus. Nun stürzten die letzten Reste des Dachs nach unten, und überall polterten Steine herab. Wenn die hinzugerufenen Zauberer nicht Banne und Blitze gegen die Trümmer geschleudert hätten, um sie abzuwehren, wäre es auch um die Überlebenden geschehen gewesen.
707
Der Himmel verdunkelte sich im Dämmerschein, bevor sich tiefer Friede über den staubbedeckten Thron von Aglarond senkte. Verschwunden waren die Leichen, die Höflinge, die Magier und die von Mystra zur Hilfe Entsandten. Nur der freie Himmel zeigte sich noch, und dem Thron blieben zur Gesellschaft lediglich die Dachund Steintrümmer. Und doch herrschte hier auch noch Leben: Die Simbul und Elminster lagen sich in den Armen. Drei Regenten knieten ein Stück weit entfernt und erwarteten geduldig die Befehle der Königin. Die vierte Regentin wurde vermisst. Doch man zwang sich, nicht an sie zu denken. Später würde Zeit genug sein, sie zu betrauern. »Meine große Liebe«, sprach die Hexenkönigin, »als ich glauben musste, Euch verloren zu haben ...« »Ganz ruhig«, flüsterte Elminster und küsste sie auf Nase und Stirn, »wir haben auch dieses Abenteuer überstanden. Doch vernehmt dies, Gebieterin meines Herzens: Ich gelobe feierlich, von nun an mehr Zeit mit Euch zu verbringen. Soll Faerun sich doch um sich selbst kümmern. Es wird schon zurechtkommen, auch ohne dass ich mich ständig einmische.« »Diesem Schwur will ich mich gern anschließen«, verkündete die Hexenkönigin. »Das hört man gern«, rief eine Stimme aus den Trümmern. Phaeldara lag zusammen mit Thaergar unter einem Stück Dach begraben. Nur das Schwert und der Schild des Wächters hatten sie davor bewahrt, davon zer708
quetscht zu werden. »Wollen wir nur hoffen, dass ihr beide ihn auch einhaltet!« »Ganz ... meine ... Meinung«, ächzte Thaergar. Die drei anderen Regentinnen hörten die Totgeglaubten und schrien so laut durcheinander, dass Elminster und die Simbul erschrocken herbeigelaufen kamen. Während die Trümmer durch Zauberkraft fortgehoben wurden, glaubten die beiden Eingekeilten ein Geräusch zu hören, das nicht so recht dazu passen wollte. Ein helles Lachen nämlich, das gleichzeitig aus weitester Ferne und ganz aus der Nähe ertönte – und nur von einer Göttin stammen konnte.
709
Glossar Abischai: Unterteufel. Alaphondar: Hofweiser in Kormyr. Alassra Silberhand: Name der Simbul, Hexenkönigin von Aglarond. Aleena: Tochter des Piergeiron. Allesseher: ein Ungeheuer, auch Augentyrann genannt. Alusair Nacacia: Prinzessin, welche ein wenig prinzessinnen-haftes Benehmen an den Tag legt. Alustriel: Hochfürstin und Königin von Silbermond. Amedahast: vor Hunderten von Jahren Hochzauberin von Kormyr. Amril Zoar: Attentäter, welcher es auf die Adligen von Tiefwasser abgesehen hat. Asmodeus: der Oberteufel. Asper: Gefährtin des Mirt. Awernus: eine der Neun Ebenen der Hölle. Hier spielt sich auch der Großteil der Geschichte ab. Azuth: Gott der Magie, auch Fürst der Magien genannt. Baerune Kordallar: ein Verschwörer, der sich unversehens an einem ganz anderen Ort wieder findet als erwartet. Bolifar Geldert: Kriegszauber, welcher spurlos verschwindet. Dispater oder Antivater: einer der ganz Großen in der 710
Hölle. Elminster Aumar: uralter und mächtigster Zauberer, auch bekannt als Prinz von Athalantar. Man bezeichnet ihn auch gerne mit dem Titel Alter Zauberer oder Alter Magier. Erinnye: weibliches Höllenungeheuer. Filfawril: Königin von Kormyr, auch Faeril genannt. Geryon: Offiziersteufel des Asmodeus. Grimwold: Offiziersteufel des Asmodeus. Halaster Schwarzmantel der Wahnsinnige: mächtiger Magier, der auf Grund seines Wahnsinns als nahezu unbesiegbar gilt. Harfner: eine geheimnisumwitterte Gruppe von Freunden und Helfern des Elminster. Harhoring: ausgestoßener Oberteufel, dem Nergal einen schlimmen Streich spielt. Illistyl: Schülerin von Jhessail. Immult Murauwyn: Steuereintreiber in Kormyr. Mar: Fürst, den Alustriel heiraten soll. Jhessail Silberbaum: Zauberin und Ritterin von Myth Drannor. Kalabrista: sucht mit ihren Schülerinnen Elminster heim. Kaulgetharr Drell: Meister der Königlichen Biester in Kormyr. Khelben Schwarzstab Arunsun: mächtiger Zauberfürst, gehört dem Bund der Harfner an. Laeral Rythkyn: Zauberin, auch Laeral von Lautwasser genannt. Laeral Silberhand von Tiefwasser: Magierfürstin, Gefähr711
tin von Khelben. Schwester von Sturm und der Simbul. Land-Neunauge: Höllenungeheuer. Laurlaethee Schaurlanglar: Elfenedle und Zauberin. Lemur: Unterteufelart. Lhaeo: Schreiber des Elminster. Lurch: untoter Zauberer, der sich künstlich mit Magie am Leben erhält. Malachlabra: Herzogin der Hölle und Tochter des Antivater, die Schlangenteufelin. Nergal spielt ihr übel mit. Mirt der Erbarmungslose: auch der Wolf genannt. Früher Anführer einer Söldnerkompanie, heute Mitglied bei den Harfnern. Ist auch als Geldverleiher tätig. Mourngrym: Fürst von Schattental. Mystra: Göttin der Zauberei. Geliebte und Förderin des Elminster. Myth Drannor: die sagenhafte, aber untergegangene Hauptstadt des größten Elfenreiches, welche allen Rassen und Völkern eine Heimstatt sein wollte. Nergal: Höllenfürst und Teufel, der mit seinen Oberen aneinander geraten ist und deswegen verstoßen wurde. Er bemächtigt sich des Elminster, um mit dessen Hilfe wieder an die Macht zu gelangen. Nouméa Schönblond: Edelfräulein, welches Elminster einen Besuch abstattet. Nupperibo: Unterteufelart. Orochal: Ziegenbockteufel, einer der verbarmten Großen in der Hölle, welchem von Nergal übel mitgespielt wird. 712
Phaeldara: eine der Hofzauberinnen der Hexenkönigin von Aglarond. Piergeiron: Erster Fürst und Reichsverweser von Tiefwasser. Sabrast Windfluss: Adliger, welcher der Krone viel Geld schuldet. Sardyl Kronensilber: Fürstin, Zauberin und Schreiberin des Vangerdahast. Schaerl: Fürstin von Schattental. Scharantyr: Spurenleserin der Ritter von Myth Drannor. Simbul, die: Hexenkönigin von Aglarond und ungeheuer mächtige Zauberin, welche mit richtigem Namen Alassra Silberhand heißt. Sie ist die Freundin und Geliebte des Elminster. Schwester von Laeral und Sturm. Spinagon: Unterteufelart. Srinschee, die: mächtige Zauberin aus dem Elfenreich. Ihr wahrer Name lautet Oluevaera Esteilda. Starym: Elfenfamilie mit abgrundtiefem Hass auf Elminster. Sturm Silberhand: Bardin aus dem Schattental. Schwester von Laeral und der Simbul. Sylune: gespenstische Zauberin. Schwester von Laeral, Sturm und der Simbul. Taern ›Donnerschlag‹ Hornklinge: Harfner und Magier. Tamaeril Klingensemmer: ein Opfer des falschen Harfners. Tarth Hornholz: ein Lehrling des Elminster. Tasnya: Oberteuflin, auch die Wollüstige genannt, gegen welche die Simbul antreten muss. 713
Thayaner: die Nachbarn und traditionellen Feinde von Aglarond. Thorneira: eine der Hofzauberinnen der Hexenkönigin von Aglarond. Vangerdahast: mächtiger Königlicher Hofzauberer in Kormyr. Freund und Verbündeter des Elminster. Yarsabras: hundeköpfiger verbannter Oberteufel, der mitten in die Endschlacht hineingerät.
714